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German Pages [320] Year 1999
V&R
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
Herausgegeben von Adolf Martin Ritter
Band 74
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1999
Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit
Ausgewählte Aufsätze
von Wolfgang Sommer
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1999
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Sommer, Wolfgang: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der frühen Neuzeit: ausgewählte Aufsätze / von Wolfgang Sommer. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 74) ISBN 3-525-55182-7
© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen.
Vorwort Dieser Band vereinigt Aufsätze mit Themen aus Politik, Theologie und Frömmigkeit, die sachlich und zeitlich auf das deutsche Luthertum in der Frühen Neuzeit ausgerichtet sind. Die historische Forschung zur Politik- und Sozialgeschichte, zur Kirchen-, Theologie-, Literatur- und Frömmigkeitsgeschichte der Frühen Neuzeit befindet sich schon seit längerer Zeit in einer besonders produktiven Phase, wobei die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu intensiven Diskussionen über neue Perspektiven in der Wahrnehmung dieser Zeit geführt hat. Auf eine solche, auf gegenseitige Anregung und Ergänzung angelegte Diskussion im Rahmen schwerpunktmäßig unterschiedener Forschungsansätze sind diese Beiträge zum historischen Verständnis des Luthertums in der Frühen Neuzeit konzipiert. Sie verleugnen nicht das Hauptinteresse der kirchen- und theologiegeschichtlichen Erforschung der lutherischen Orthodoxie. Aber indem sie den jeweils konkreten historischen Ort des individuellen und gesellschaftlichen Lebens im geschichtlichen Wandel herauszustellen und zu reflektieren versuchen, stehen Aspekte der Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum vor allem des 17. Jahrhunderts sowohl in ihren gedanklichen wie lebensweltlichen Zusammenhängen im Zentrum des Interesses. Die lutherische Orthodoxie - noch immer wird dieser Begriff mit toter Gelehrsamkeit und rechthaberischer Polemik in Zusammenhang gebracht, obwohl in der Forschung dieses von der Geschichtsschreibung Gottfried Arnolds (um 1700!) gezeichnete Bild längst als langlebiges Mißverständnis herausgestellt wurde. Klarheit und Redlichkeit in den gedanklichen Grundlagen des christlichen Glaubens und das unablässige Drängen und Suchen nach der Lebens- und Erfahrungsgestalt des Glaubens als einer unaufgebbaren, spannungsvollen Einheit - dieser Grundzug des orthodoxen Zeitalters erweist sich in unserer Gegenwart mit unaufdringlicher, aber heilsamer Aktualität. Zusammen mit dem Forschungsinteresse möchten diese Aufsätze einen bescheidenen Beitrag zur Begegnung mit der Tradition lutherischer Theologie und Frömmigkeit leisten, die für viele ein völlig unbekanntes Land geworden ist. Deshalb ging das Bemühen auch auf eine möglichst quellennahe Darstellung. Die Auswahl der Beiträge richtete sich nach dem leitenden Gesichtspunkt, unter dem hier auf das Luthertum der Frühen Neuzeit geblickt wird: Es sind vor allem Predigten und Erbauungsschriften, die als Hauptquelle der Aufsätze
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Vorwort
dienen. Für den Druck wurden sie noch einmal durchgesehen und mit Ergänzungen und Nachträgen der inzwischen erschienenen Literatur versehen. Herrn Kollegen Adolf Martin Ritter danke ich herzlich, daß er diesen Band in die Reihe der Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte aufgenommen hat. Für die Hilfe bei der Vorbereitung des Buches bin ich Frau Brigitte Kanzok sehr dankbar. Die Druckvorlagen hat in bewährter Souveränität Frau Andrea Siebert angefertigt. Ihr gilt ebenso mein herzlicher Dank.
Neuendettelsau, März 1999
Wolfgang Sommer
Inhalt
Vorwort
Die Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes in Luthers Auslegung des 101. Psalms Die Schrift Luthers in der älteren und neueren Lutherforschung 13 - Charakter und Aufbau der Schrift 17 - Das geistliche und weltliche Regiment 21 - Davids geistliches Regiment 31 - Grundsätzliche Reflexion über die beiden Regimente 35 - Das weltliche Regiment Davids 43 - Luthers Hofkritik 47 - Davids geschichtliches Regiment 51 - Die Unterscheidung der beiden Regimente und das Königspriestertum Davids 53
Christlicher Glaube und Weltverantwortung Martin Luthers Beziehungen zu seinen Landesherren Luther auf dem Wormser Reichstag 1521 55 - Luthers Stellungnahmen zum Bauernkrieg 1525 59 - Luthers Ablehnung einer Bündnispolitik 61 - Luther und Friedrich der Weise 63 - Luther und die Kurfürsten Johann und Johann Friedrich 67 - Luther und Kurfürst Johann 69 - Luther und die Mansfelder Grafen 71 - Luther und seine Landesherren 73
Die Stellung lutherischer Hofprediger im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft Forschungslage zu den Hofpredigern 75 - Hofprediger in Dresden 79 - Politische Funktion der Frömmigkeit 81 - Polykarp Leyser d.Ä. 83 - Martin Geier 85
Gottesfurcht und Fürstenherrschaft Das Verständnis der Obrigkeit in Predigten der Hofprediger Justus Gesenius und Michael Walther
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Inhalt
Die Bedeutung Helmstedts im Rahmen der lutherischen Obrigkeitskritik 93 - Regentenpredigten des Gesenius 95 - Walthers Predigten über den Propheten Daniel 103 - Regentenpredigten Walthers 107
Johann Reinhard Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
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Biographisches zu Hedinger 113 - Hedinger an der Universität Gießen 1 1 7 Antrittspredigt in Stuttgart 121 - Weitere Veröffentlichungen Hedingers 123 - Die Bibelausgaben Hedingers 129 - Theologisches Profil Hedingers 133
Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs beim Friedensfest in Nürnberg 1650
137
Von Münster 1648 bis Nürnberg 1650 139 - Lebensgang Dilherrs bis zu seiner Nürnberger Wirksamkeit 141 - Dilherrs Amtsantritt in Nürnberg 143 — Deutung des Krieges 145 - „Lehre von den Begräbnissen" 147 - Friedensund Dankfeste außerhalb Nürnbergs 149 - Friedenspredigten neben Dilherr 151 - Dilherr und Rist 153
Luther - Prophet der Deutschen und der Endzeit Zur Aufnahme der Prophezeiungen Luthers in der Theologie des älteren deutschen Luthertums
155
Heilsgeschichtliche Deutung Luthers 157 - Sammlungen von Luthers Prophezeiungen 159 - Basilius Fabers Eschatologie 165 - Das „Prognosticon" des Christoph Irenaeus 167 - Wirkungsgeschichte der Prophezeiungen Luthers 169 - Sauberts Aufnahme der Prophezeiungen Luthers 171 - Dilherrs Aufnahme der Prophezeiungen Luthers 173 - Rückblick auf die Tradition der Lutherprophezeiungen 175
Der Untergang der Hölle Zu den Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der lutherischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts Überblick über das Höllen Verständnis in der Theologiegeschichte 179 — Meyfarts eschatologische Trilogie 183 - Von der lutherischen Orthodoxie zum Pietismus 189 - Johann Wilhelm Petersen 191 - Lutherische Spätorthodoxie und frühe Aufklärung 195 - Johann Ernst Schubert 197 - Johann August Eberhard 201 - Anstöße aus der Theologiegeschichte für die Gegenwart 205
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Inhalt
Gottes Odem in der Schöpfung Zum Bild der Natur bei Johann Arndt und Jakob Böhme
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„Vier Bücher" als vier Offenbarungsweisen Gottes 207 - Verbindung von göttlicher Offenbarung und biblischer Naturwissenschaft 209 - Der Himmel als Gleichnis für die Allgegenwart Gottes 211 - Die Natur als große Apotheke Gottes 213 - Die Leiden in der Natur und die Schuld des Menschen 215 - Naturbetrachtungen in den Psalterpredigten 217 - Späthumanismus und Paracelsismus in Görlitz 219 - Böhms Naturerfahrung 221 - Gott und die Natur bei Böhme 223 - Arndt und Böhme 225
Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten in Braunschweig-Lüneburg
227
Arndt als „seltsamer Lutheraner" 229 - Arndts Berufung nach Celle 231 Die Lüneburger Kirchenordnung von 1619 233 - Bedeutung der kirchenleitenden Wirksamkeit Arndts 235 - Die politische Funktion der Arndtschen Frömmigkeit 237
Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt im Dienst einer Erneuerung der Frömmigkeit
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Frühe Wirkungsgeschichte Arndts 241 - Sauberts Bildungsgang 243 - Sauberts Vesperpredigt „Geistliche Flämmlein" 245 - Weigelianer in Nürnberg 247 - Saubert und Konrad Dieterich 249 - Sauberts Information über Arndts Wahres Christentum 251 - Kriterium für die rechte Arndtlektüre 253 - Sauberts „Seelenarznei" 255 - Sauberts Abweisung der Kirchenkritik Christian Hoburgs 259 - Zusammenfassender Rückblick 261
Johann Arndt und Joachim Lütkemann zwei Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur
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Zur Erforschung der Erbauungsliteratur 265 - Wolfenbütteler Hofkultur 267 - Eschatologisches Denken in der lutherischen Orthodoxie vor Spener 269 Philipp Nicolai und Johann Arndt 271 - Zur „Mystik" Johann Arndts 273 Lütkemanns „Vorschmack göttlicher Güte" 277
Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Rückblick und Ausblick auf die Diskussion in der gegenwärtigen Forschung
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Bibliographische Nachweise Ortsregister Personenregister
Inhalt
Die Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes in Luthers Auslegung des 101. Psalms Über Luthers Auslegung des 101. Psalms urteilte noch Julius Köstlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Unter den klassischen Schriften des deutschen Mannes Luther gebührt dieser Schrift eine der ersten Stellen unter denjenigen, welche auf den hier vorliegenden Gegenstand sich beziehen, die erste."1 Die verhältnismäßig umfangreiche2, in sich geschlossene Psalmauslegung, die Luther im Jahre 1535 in Wittenberg bei Hans Lufft drucken ließ3, wurde hier also noch zum „klassischen" Zentrum von Luthers Schriften gezählt. Und im Zusammenhang mit Luthers zahlreichen Äußerungen zum „weltlichen Stand" bzw. weltlichen Regiment in seinem Gesamtwerk soll dieser Auslegung des 101. Psalms sogar der erste Rang zukommen. Dieses Urteil steht in einem erheblichen Kontrast zu der Einschätzung, die in der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts dieser Psalmauslegung Luthers zuteil geworden ist. Nicht nur gegenüber der Wertschätzung bei Köstlin/Kawerau, sondern gegenüber der Bedeutung, die der Auslegung des 101. Psalms durch Luther im ganzen älteren Luthertum zukam4 bis zur Lutherfor1 2
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J. Köstlin, Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften. 5. neubearbeitete Auflage, fortgesetzt von G. Kawerau, 2. Bd., Berlin 1903, 297. In der WA umfaßt sie immerhin über 60 Seiten und ist somit erheblich umfangreicher als die Obrigkeitsschrift von 1523 oder die Kriegsleuteschrift von 1526: WA 51, 200264 und die in WA 53 mitgeteilten Fragmente aus Luthers Handschrift, 659-678. Der Erstdruck erschien in 2 Ausgaben, wobei die zweite Ausgabe sich von der ersten nur dadurch unterscheidet, daß die Bogen Α und Β neu gesetzt sind, ab Bogen C bleibt der Satz gleich. Das Impressum hat jeweils das Jahr 1535. Vgl. WA 51, 199 und J. Benzing, Lutherbibliographie Nr. 3194 und 3195. In den älteren Ausgaben von Luthers Werken bis zur Erlanger Ausgabe ist die Auslegung des 101. Psalms stets aufgenommen, s. WA 51, 200. J. Mathesius rühmte schon diese Auslegung als „den schönen Hofpsalm, welches ist der 101., den D. Kreuziger für die gelehrteste und weiseste Schrift (Luthers) in deutscher Sprache hielt" (Dr. Martin Luthers Leben. In siebzehn Predigten dargestellt von M. Johann Mathesius, Berlin 1883, 110). Über Melanchthons zustimmendes Urteil s. den Brief Georg Helts an St. Roth vom 17.3.1535 (Auszug in WA 51, 198). Veit Ludwig von Seckendorff sagt zu dieser Schrift Luthers, sie sei eine herrliche Auslegung des 101. Psalms, „mit grossem Nutzen und Vergnügen zu lesen, besonders den Fürsten und Herrn, welche er mit grosser Freymündigkeit, aber auch sehr christlich und gründlich, die Wahrheit sa-
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Die Auslegung des 101. Psalms durch Martin Luther
schung im 19. Jahrhundert, kommen die nur sehr gelegentlichen Hinweise auf diese Schrift in unserem Jahrhundert einer faktischen Vergessenheit gleich. Dies ist um so auffälliger, als die durch Karl Holl und die dialektische Theologie während und nach dem Ersten Weltkrieg heraufgeführte sog. Lutherrenaissance eine erneute und vertiefte Zuwendung zu den Problemkreisen von Luthers Staats- und Obrigkeitsverständnis sowie seiner Sozialethik zur Folge hatte.5 Auch die schon vor dem Ersten Weltkrieg zwischen Karl Müller und Karl Holl begonnene und seitdem lebhaft weitergeführte, noch längst nicht beendete Diskussion um die Anfänge des landesherrlichen Kirchenregimentes6 hat die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Obrigkeit und Kirche bei Luther in zahlreichen Untersuchungen aufgegriffen.7 Eine eingehendere, vor allem die Gesamtkonzeption berücksichtigende Hinwendung zu Luthers Auslegung des 101. Psalms ist in der Vielzahl der zentralen Monographien und Aufsätze zum Problem Luther und die Obrigkeit jedoch nicht zu finden.8
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get, was ihr Amt sey [···]" (Ausführliche Historie des Luthertums und der heilsamen Reformation [...], Leipzig 1714, 3. Buch, § XLV, 1402f.). Auffallend ist jedoch, daß Luthers Auslegung des 101. Psalms im 16. Jahrhundert nur einen einzigen Nachdruck erlebte: Jena 1559 (Christian Rödingers Erben). Zur Zeit Luthers hatte man an dieser Schrift offenbar nur ein geringes Interesse, erst in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde dies anders. Es sollen hier nur pars pro toto genannt werden: H. Jordan, Luthers Staatsauffassung, München 1917; P. Joachimsen, Luther und die soziale Welt. In: Martin Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 6, München 1923; Th. Pauls, Luthers Auffassung von Staat und Volk, Bonn 1925; K. Holl, Der Neubau der Sittlichkeit und Die Kulturbedeutung der Reformation. In: Ges. Aufs. z. KG I, Luther, Tübingen 6 1932, 155-287; 468-543. S. auch den Sammelband „Luther und die Obrigkeit, hg. von G. Wolf, Darmstadt 1972, mit Auswahlbibliographie, 469-482. K. Müller, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit nach Luther, Tübingen 1910; K. Holl, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, zuerst in: ZThK 1911, Ergänzungsheft 1, Wiederabdruck in: Ges. Aufs. z. KG I, Luther, Tübingen 6 1932, 326-380. Es sei nur genannt: G. Müller, Luthers Zwei-Reiche-Lehre in der deutschen Reformation. In: Causa Reformationis. Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1989, 417-437. S. auch die Aufsätze in dem Sammelband „Luther und die Obrigkeit" (Anm. 5). Das gilt sowohl für die älteren wie auch neueren Untersuchungen zum sog. alten Luther. So findet sich z.B. bei K. Matthes, „Luther und die Obrigkeit. Die Obrigkeitsanschauung des reifen Luther in systematischer Darstellung" (München 1937) kein Hinweis auf seine Auslegung des 101. Psalms. Aber auch das Lutherjubiläum 1983, das in biographischer Hinsicht dem älteren Luther wieder mehr Aufmerksamkeit schenkte gegenüber der lange Zeit vorherrschenden Thematik des jungen Luther, hat bisher keine neue Zuwendung zu dieser Lutherschrift gebracht. In dem Sammelwerk, Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, hg. von H. Junghans, Berlin 1983, wird auf Luthers Auslegung des 101. Psalms nur in einer kurzen Anmerkung verwiesen (S. Bräuer, Luthers Beziehungen zu den Bauern, Bd. Π, 878, 81). Knappe, instruktive Darstellung dieser Lutherschrift bei M. Brecht, Martin Luther, Bd. 3: Die
Die Schrift Luthers in der älteren und neueren Lutherforschung
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D i e s gilt auch für die umfangreiche Diskussion, die unter d e m Begriff „Zweireichelehre" 9 in unserem Jahrhundert geführt wurde und wird. D i e Vielzahl der Untersuchungen hat sich bei dieser Thematik v o r w i e g e n d an den Schriften Luthers z w i s c h e n d e m Wormser Reichstag 1521 und d e m Augsburger Reichstag 1 5 3 0 orientiert, vor allem an der Obrigkeitsschrift v o n 1523 und den Bauernkriegsschriften. 1 0 W i e sich die Unterscheidung und Zuordnung der beiden R e i c h e bzw. Regimente hinsichtlich der Problemlage nach d e m Augsburger Reichstag 1530 in der T h e o l o g i e des sog. „alten" Luther 11 niedergeschlagen hat und in welcher Beziehung sie zu derjenigen in seinen Werken vor und nach d e m Bauernkrieg steht, ist noch kaum eingehender untersucht worden. W e n n auch i n z w i s c h e n längst Übereinstimmung darüber besteht, daß Luthers sog. Zweireichelehre keine v o n d e m j e w e i l i g e n konkreten zeitgeschichtlichen Entstehungshintergrund ablösbare systematische Definition darstellt, so hat sich diese Erkenntnis doch noch viel zu w e nig in der Fülle der Arbeiten zur Thematik der Zweireichelehre durchgesetzt. 1 2 S o sehr die Unterscheidung und Zuordnung der beiden R e i c h e b z w . R e g i m e n t e i m Zentrum der T h e o l o g i e Luthers und im e n g e n Zusammenhang
Erhaltung der Kirche 1532-1546, Stuttgart 1987, 15f. In den Lutherbibliographien der LuJ seit 1990 findet sich keine den 101. Psalm insgesamt betreffende Arbeit. 9 Zum kontextualen Bedingungszusammenhang, der zur Herausbildung des Terminus „Zweireichelehre" zwischen 1922 und 1938 führte, siehe den Aufsatz von K. Nowak, Zweireichelehre. Anmerkungen zum Entstehungsprozeß einer umstrittenen Begriffsprägung und kontroversen Lehre. In: ZThK 78, 1981, 105-127. 10 Vgl. die Bibliographie bis 1969 in dem Sammelband: Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen. Hg. von Heinz-Horst Schrey, Darmstadt 1969, 557-566 und die Literatur in Auswahl bei B. Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und Werk, München 2 1982, 207f. Im Lutherjahrbuch 1985, das die Referate und Berichte des 6. Internationalen Kongresses für Lutherforschung, Erfurt 1983, enthält, bemerkt B. Moeller zur vieldiskutierten Thematik „Luther und die Gesellschaft", er habe „den Eindruck, der Jubiläums-Luther des Jahres 1983 wird vorwiegend als Autor der Zweireichelehre ins Gedächtnis der Nachwelt eingehen" (225). 11 Solche Einteilungen bleiben gewiß stets fragwürdig. Die Begriffe „junger", „mittlerer" und „alter" Luther erhalten jedoch eine gewisse Berechtigung durch die Gliederungen der größeren neueren Lutherbiographien: M. Brecht, Martin Luther, Bd. 1-3, Stuttgart 1983ff.; H. Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Das Jahrzehnt zwischen dem Wormser und dem Augsburger Reichstag. Aus dem Nachlaß hg. von K. Bornkamm, Göttingen 1979; Leben und Werk Martin Luthers von 1526-1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. Hg. von H. Junghans, Bde. 1 und 2, Berlin 1983. Vgl. auch die Biographie von W. von Loewenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982. 12 Es liegt wohl in der Natur der Sache, daß die kirchengeschichtlichen Beiträge dieser Einsicht im ganzen besser entsprochen haben. So vor allem die Arbeiten von F. Lau, Luthers Lehre von den beiden Reichen, Berlin 1952 und H. Bornkamm, Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie, Gütersloh 1958, 5 1969; Ders., Der Christ und die zwei Reiche. In: Luther. Gestalt und Wirkungen, Gütersloh 1975. SVRG 188, Jg. 80,81 und 82,1, 255-266.
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Die Auslegung des 101. Psalms durch Martin Luther
mit ihren anderen Themen steht, so wichtig ist doch zu ihrem Verständnis der jeweils recht verschiedenartige zeitgeschichtliche Kontext.13 Für die Problemlage während und nach dem Augsburger Reichstag 1530 kommt vor allem neben den Wochenpredigten über Mt 5-7 14 und der Hohelied· Vorlesung15 den zwei längeren Psalm-Auslegungen Luthers über den 82.16 und 101. Psalm besondere Bedeutung zu.17 Nur wenige Untersuchungen zur Zweireichelehre Luthers haben sich dieser Psalmauslegung als Quelle angenommen. Es sind vor allem die Arbeiten von Franz Lau: .„Äußerliche Ordnung' und .Weltlich Ding' in Luthers Theologie"18 und „Luthers Lehre von den beiden Reichen"19. Auch die Arbeit des Schweden Gustav Törnvall, „Geistliches und weltliches Regiment bei Luther"20, hat die Auslegung Luthers über den 101. Psalm herangezogen. In der Geschichte der Darstellung von Luthers Zweireichelehre in unserem Jahrhundert nehmen diese Werke gewiß eine wesentliche Bedeutung ein, die den Gang der Diskussion kritischweiterführend beeinflußten. Allerdings konnte die konkrete zeitgeschichtliche Bezugssituation in Luthers Auslegung des 101. Psalms hier nicht näher in den Blick treten, da sich diese Untersuchungen auf eine breite Quellenbasis stützen und ein Gesamtbild von Luthers Weltverständnis und theologischem Denken im Rahmen seiner Zweireiche- bzw. Zweiregimentenlehre darzustellen versuchen. Luthers Stellung zur Obrigkeit ist in erheblichem Maße von den konkreten Personen bestimmt, die für ihn Obrigkeit verkörpert haben. Eine ganz besondere Bedeutung kommt hierbei den drei sächsischen Kurfürsten zu, in deren Regierungszeit der längste und wichtigste Teil von Luthers Leben und Werk fällt. In den wechselseitigen Beziehungen zwischen Luther und den sächsischen Kurfürsten hat sich seine Auffassung von den Rechten und Pflichten eines gottesfürchtigen Regenten herausgebildet, wobei die ehrfürchtig-distanzierte Beziehung zwischen Luther und Kurfürst Friedrich dem Weisen
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S. auch B. Lohse, Luthers Theologie, Göttingen 1995, 334-336. WA 32, 299-544. WA 31 Π, 586-769. W A 311, 183-218. WA 51, 200-264. Göttingen 1933. S. Anm. 12. In den verschiedenen Arbeiten von P. Althaus zur Zweireichelehre Luthers finden sich ebenfalls Hinweise auf Luthers Auslegung des 101. Psalms, so in: Luthers Lehre von den beiden Reichen im Feuer der Kritik, LuJ 1957, 4 0 - 6 8 und bei W. Joest, Das Verhältnis der Unterscheidung der beiden Regimente zu der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. In: Reich Gottes und Welt (Anm. 10), 196— 220. 20 Studien zu Luthers Weltbild und Gesellschaftsverständnis. In: FGLP 10, Π, München 1947.
Die Schrift Luthers in der älteren und neueren Lutherforschung
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auch seine spätere Haltung gegenüber den Aufgaben des weltlichen Regimentes maßgeblich bestimmte.21 Hinter Luthers Auslegung des 101. Psalms steht besonders das langjährige und enge persönliche wechselseitige Verhältnis zwischen Luther und Johann Friedrich als Kurprinz und Kurfürst. Der Zusammenhang von Luthers Obrigkeitsverständnis in Form einer konkreten Beratung für Johann Friedrich, der 1532 an die Regierung kam, und seiner Zweireiche- bzw. Zweiregimentenlehre, die im Mittelpunkt der Auslegung steht, kann gerade an dieser Schrift Luthers deutlich wahrgenommen werden. Jedoch ist in den bisherigen spärlichen Hinweisen auf diese Psalmauslegung das Thema der beiden Reiche oft gar nicht als das Grundanliegen Luthers herausgestellt. Das zeigt schon die inhaltliche Zusammenfassung bei Köstlin/Kawerau22, der in der ausführlichen Schilderung des Unwesens am Hof und den kritischen Ratschlägen Luthers für das weltliche Regiment das Besondere dieser Psalmauslegung gesehen hatte. Wo diese Schrift im Rahmen der Darstellungen der Theologie Luthers erwähnt wird, taucht sie sodann bei der Thematik seiner Geschichtsauffassung auf. So z.B. bei Heinrich Bornkamm und Hans-Walter Krumwiede.23 Für die Verbindungslinien, die zwischen Luthers Zweireichelehre und seiner Geschichtsauffassung besteht, ist die Auslegung des 101. Psalms gewiß eine wichtige Quelle. Neben der Weimarer Ausgabe ist Luthers Auslegung des 101. Psalms in unserem Jahrhundert noch in zwei weiteren Ausgaben erschienen: in der Münchener Lutherausgabe und in der gesonderten Ausgabe von Luthers Psalmen-Auslegung, die von Erwin Mülhaupt herausgegeben wurde.24
21 Für die persönliche Korrespondenz zwischen Luther und den sächsischen Kurfürsten s. das Werk von H. Kunst, Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater seiner Landesherrn und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens, Stuttgart 1976. Als Quellengrundlage für seine Untersuchung dienen ihm im wesentlichen Luthers Briefe. Zu ihnen bemerkt er: „Sie werden in der reformationsgeschichtlichen Literatur auf eine erstaunliche Weise vernachlässigt, selbst da, wo sie Entscheidendes zur Erhellung beitragen können, etwa bei der umfangreichen Diskussion der Lehre Luthers von den zwei Reichen" (13). 22 S. Anm. 1. 23 H. Bornkamm, Gott und die Geschichte nach Luther, Theologie und Verkündigung. Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen, Lüneburg 1946 und H.-W. Krumwiede, Glaube und Geschichte in der Theologie Luthers. Zur Entstehung des geschichtlichen Denkens in Deutschland, Berlin 1952. Aber sie kann auch ganz unbeachtet bleiben in Darstellungen über Luthers Geschichtsanschauung, z.B. bei H. Lilje, Luthers Geschichtsanschauung, Berlin 1932 und M. Schmidt, Luthers Schau der Geschichte. In: LuJ 1963, 17-69. 24 Martin Luther. Ausgewählte Werke. Hg. von H.H. Borcherdt und G. Merz, 5 Bde., München 3 1952, 297-367 und D. Martin Luthers Psalmen-Auslegung, hg. von E. Mülhaupt, Göttingen 1965, 3. Bd., 63-123. Eine Ausgabe mit ausgewählten Abschnitten und ausführlichen Einzelkommentierungen bietet R. Neubauer. In: Denkmäler der älteren deutschen Literatur, hg. von G. Bötticher und K. Kinzel, Halle 1897,
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Die Auslegung des 101. Psalms durch Martin Luther
Georg Merz hat in der Münchener Ausgabe dem Text einen allgemeinen Kommentar neben Erläuterungen einzelner Stellen hinzugefügt, der wichtige Gesichtspunkte für ein auch zeitgeschichtlich sinnvolles Verständnis knapp zusammenfaßt. 25 Ein kurzer Auszug erschien 1920 in der Zeitschrift „Luther", herausgegeben von Theodor Knolle.26 Die Schrift über den 101. Psalm ist zunächst durch die geschichtliche Situation des Thronwechsels von 1532 von Kurfürst Johann auf Johann Friedrich bestimmt. In sie gehen aber auch die vorausgegangenen langjährigen Erfahrungen ein, die Luther mit dem kursächsischen Hof unter Friedrich den Weisen und Johann den Beständigen sammeln konnte. Zur Zeit der Abfassung seiner Auslegung des 101. Psalms war es Luther möglich, alle drei Regierungen und Herrscher miteinander zu vergleichen, unter denen er in Kursachsen lebte und wirkte.27 Insofern kann Luthers Schrift über den 101. Psalm als eine wichtige Quelle angesehen werden, die seine Auffassung von den Rechten und Pflichten eines Herrschers am Beispiel Davids insgesamt darlegt. Jedoch ist hier zur Gesamtcharakteristik der Schrift ein wesentlicher Vorbehalt zu machen. Die Bezeichnungen „Regentenspiegel" und „Exempel Davids" in Beziehung auf Luthers Auslegung des 101. Psalms können leicht zu der Ansicht führen, als ginge es darin vor allem um vorbildhaft-moralische Anweisungen für den weltlichen Stand bzw. das weltliche Regiment 28 . Gerade dies aber wäre das größte Mißverständnis, das man Luthers Schrift entgegenbringen könnte. Um ein solches Mißverständnis auszuschließen, ist es notwendig, den Grundcharakter dieser Psalmauslegung Luthers von vornherein deutlich ins Auge zu fassen. Luther stellt diesen Psalm konsequent in das Licht des ersten Gebotes. Es geht ihm in allem, was er an Davids Regiment preist, um die Souveränität Gottes und sein wunderbares Handeln in der Geschichte. Das Bekenntnis zur Gottheit Gottes in seinem Wirken in Welt und Geschichte ist das große Thema dieser Schrift. David ist der Vorsänger eines solchen Bekenntnisses, Bd. ΙΠ. 3. Martin Luther. 2. Vermischte Schriften weltlichen Inhalts [...] bearbeitet von R. Neubauer, Halle 2 1900, 57-96. 25 Wie Anm. 24, 444f. 26 Th. Knolle, Allerlei Regierungsweisheiten aus Luthers Auslegung des 101. Psalms. In: Flugschrift der Luthergesellschaft, Leipzig 1920. 27 Für die Regierungszeit von Kurfürst Johann Friedrich gilt dies freilich nur eingeschränkt. Seine Haltung zur Zeit der Entstehung der Schmalkaldischen Artikel 1536/37, sodann während und vor allem nach dem Schmalkaldischen Krieg haben erst die Bewährung gebracht, mit der Johann Friedrich „Vorläufer - und Vorbild - des lutherischen Landesfürstentums (bleibt), das sich im 16. und 17. Jahrhundert bemüht, das Amt des ,Landesvaters' gemäß den Weisungen des Evangeliums zu führen." (H. Kunst [Anm. 21], 268). 28 So schon bei J. Köstlin (Anm. 1), 295.
Charakter und Aufbau der Schrift
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das in allem menschlichen Handeln allein die immer tätige und vergebende Gnade Gottes zu erkennen und zu loben vermag.29 Damit ist Luthers theologische Deutung des 101. Psalms wesentlich durch sein Geschichtsverständnis charakterisiert, d.h. durch seine Auffassung vom geschichtlichen Handeln Gottes, seinem schöpferischen Wirken im menschlichen Leben und Tun und Lassen in der Welt. Nur in Wahrnehmung dieser breiten, das Ganze des menschlichen Lebens umfassenden Thematik wird man den Ausführungen Luthers in dieser Schrift gerecht werden können. Das geistliche und weltliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten dient ihm als Paradigma für das Geschichtshandeln Gottes überhaupt, mit dem es jeder Mensch in seinem Stand zu tun hat. Als grundlegendes Interpretament für Gottes schöpferisches Handeln in der Geschichte kommt Luthers Zweireiche- bzw. Zweiregimentenlehre in dieser Psalmauslegung zum Ausdruck, durch die die ganze Schrift in ihrem äußeren Aufbau und ihrem vielgestaltigen Inhalt strukturiert ist. In der engen Verbindung von Luthers Zweireichelehre mit seinem Verständnis von Gottes Handeln in der Geschichte sehen wir das Besondere dieser Schrift. Sie akzentuiert damit aber das Thema der Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes in einer Weise, die für das Verständnis von Luthers Zweireichelehre auch in seinen zahlreichen anderen Werken von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Fragt man nach der formalen Stellung, die die Auslegung des 101. Psalms durch Luther im Gesamtrahmen seines Werkes einnimmt, so wird man sie mit Heinrich Bornkamm zu den politischen Schriften rechnen können. Ähnlich wie die Auslegung des Magnifikat ist sie damit zugleich in die Reihe von Luthers seelsorgerlichem Schrifttum eingeordnet, zu dem nach Bornkamm alle seine politischen Schriften gehören.30 Insofern mit dieser Kennzeichnung zum Ausdruck kommen soll, daß Luthers politische Schriften keine staatstheoretischen oder sozialethischen Abhandlungen darstellen, sondern Gewissensratschläge in konkreten geschichtlichen Entscheidungssituationen31, ist dies gewiß eine zutreffende Bezeichnung. Jedoch ist der Oberbegriff „seelsorgerliches Schrifttum" für die das Thema der zwei Reiche be29
In der theologischen Literatur zu Luthers Auslegung des 101. Psalms ist es vor allem G. Merz, der diesen Grundcharakter der Schrift klar herausstellt: „Alles, was David singt, ist eine Umschreibung des Ersten Gebotes. So versteht Luther den ganzen Psalm. Er zeigt uns das Regiment in der Welt als ein Regiment unter der rechtfertigenden Gnade Gottes" (in der Münchner Lutherausgabe, 5. Bd., München 3 1952, 444). 30 H. Bornkamm, Luther als Schriftsteller. In: Luther, Gestalt und Wirkungen, Gütersloh 1975, 57. 31 Schon in der Titelformulierung geben sie sich als solche zu erkennen: „Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung" (1522); „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" (1523); „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben" (1525); „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können" (1526).
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inhaltenden Werke Luthers vor Mißverständnissen zu wenig geschützt. Denn damit wird leicht der Zusammenhang übersehen, der Luthers grundsätzliche Reflexionen über das Handeln Gottes in der Welt mit seinen aus konkreten Anlässen kommenden und zu konkreter politischer Gewissensberatung führenden Darlegungen in diesen Schriften verbindet32. Einerseits zu allgemein - denn Luthers ganzes theologisches Werk kann als eine Gewissensberatung verstanden werden und zum anderen in die Gefahr einer falschen Alternative führend, die seelsorgerliche Beratung und theologische Lehre auseinander zu reißen droht, erscheint uns der Ausdruck „seelsorgerliches Schrifttum" wenig geeignet, die politischen Schriften Luthers insgesamt zu kennzeichnen. In ihnen versucht Luther auf dem Hintergrund konkreter zeitgeschichtlicher Situationen und persönlicher Erfahrungen die christliche Existenz inmitten der Weltwirklichkeit theologisch zu begründen und zu verantworten. Die Wirklichkeit der Welt ist ihm dabei stets die Wirklichkeit des in ihr handelnden, sich verbergenden, vergebenden und richtenden Gottes. Die Schöpferwirklichkeit Gottes in der Geschichte und sein erlösendes Werk in Jesus Christus ist in allen politischen Schriften Luthers das Grundthema, auch dort, wo nicht unmittelbar auf die zwei Reiche bzw. Regimente Bezug genommen wird. Die Auslegung des 101. Psalms kann somit als eine politische Schrift verstanden werden, in der das Thema der Zuordnung und Unterscheidung der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes im Zusammenhang mit Luthers Geschichtsauffassung ausdrücklich zu Wort kommt. Die Akzentuierung der Zweireichelehre dieser Psalmauslegung (und in den anderen Psalmauslegungen Luthers nach 1530) in Richtung auf eine stärkere Verknüpfung mit Luthers Geschichtsauffassung - z.B. gegenüber der Obrigkeitsschrift von 1523 - sehen wir in dem immer reichhaltiger gewordenen geschichtlichen Erfahrungshorizont begründet, in dem sich seit den frühen zwanziger Jahren die reformatorische Bewegung und nicht zuletzt Luthers eigenes Wirken bewähren und verantworten mußte. Dabei ist auffallend, daß gerade die Nähe Luthers zum kursächsischen Hof unter den Kurfürsten Johann und Johann Friedrich, d.h. seine mannigfaltigen konkreten Erfahrungen mit den Kirchenvisitationen und den Verhandlungen über die gesamtpolitische Lage, in eine theologisch-grundsätzliche Reflexion über 32 Der fehlende Blick für diesen Zusammenhang kennzeichnet auch weite Strecken der Diskussion um Luthers Zweireichelehre in unserem Jahrhundert. Hermann Diem hat in seiner Arbeit „Luthers Predigt in den zwei Reichen", München 1947 (ThExh, NF 6), bestritten, daß es sich in Luthers Zweireichelehre überhaupt um eine Lehre handle. Damit nimmt er einseitig-verengend das Verständnis von Luthers Zweireichelehre als christliche Gewissensberatung für Fürsten und Untertanen bei seinem Bruder Harald Diem auf („Luthers Lehre von den zwei Reichen, untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus", München 1938). Der lebhaften Diskussion um Luthers Zweireichelehre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dadurch eine nachhaltige Akzentuierung gegeben, die sich bis in die Gegenwart hinein auswirkt. Vgl. auch F. Lau, Luthers Lehre von den beiden Reichen, Berlin 1952, 8-20.
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Gottes Handeln in der Geschichte einmünden, die zwar der Konkretion nicht entbehrt, aber doch einen gewissen Abstand zu den gegenwärtigen Ereignissen voraussetzt. Es ist Kurfürst Friedrich der Weise, von dem Luther persönlich am weitesten entfernt war, der schon in seinen Vorlesungen über Kohelet und das Hohelied33 und nun auch in der Schrift über den 101. Psalm konkretere geschichtliche Züge erhält, nicht aber Johann Friedrich, den er in seinem doch wesentlich ihm geltenden „Regentenspiegel" mit keinem Wort erwähnt. Schwerlich wird man dies mit politischer Vorsicht und Rücksichtnahme gegenüber dem herrschenden Regiment allein erklären können. Die Anspielungen auf die gegenwärtigen Zustände sind deutlich genug und haben ihren Eindruck auf die Zeitgenossen gewiß nicht verfehlt, wie es Luther am Schluß seiner Schrift auch selbst klar ausspricht.34 Aber die theologische Interpretation der konkreten Zeitgeschichte setzte für Luther offenbar einen Abstand voraus, aus dem heraus erst die aktuelle Bedeutung der Zeitereignisse erkannt und in das rechte Licht gerückt werden kann. Dieses Licht ist das souveräne Handeln Gottes in der Geschichte. Auch Friedrich der Weise wird ja von Luther nicht als ethisches Vorbild gezeichnet, sondern als ein die Eitelkeit alles Irdischen erfahrender Regent, der sich demütig-weise unter die Führung Gottes stellte. So sieht Luther auch die Herrschaft Davids nicht im Rahmen einer Vorbild-Ethik, sondern unter dem Gesichtspunkt des immer neu in Erstaunen setzenden Eingreifens Gottes in den Lauf der Geschichte. Zu solcher admiratio, nicht imitatio, soll der ausführliche geschichtstheologische Hinweis Luthers auf die Regentschaft Davids führen, an der er das geistliche und weltliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten exemplifiziert. Nur im Licht von Gottes Geschichtshandeln will somit dieser „Regentenspiegel" verstanden sein. Auch der Aufbau der Schrift läßt diese inhaltliche Charakteristik deutlich erkennen. In der Vorrede geht Luther vom Selbstzeugnis des Psalms aus, das „Gott lobt und danckt für den weltlichen stand"35. Schon mit diesem Einsatz ist die Grundthematik der ganzen Psalmauslegung angesprochen. Es geht um das Bekenntnis zu Gottes Schöpferhandeln in seiner ganzen Schöpfung. Von zwei Seiten aus wird es mißbraucht und mißachtet. Einmal von Seiten der geistlichen Herren in der Kirche, die die alleinigen Herren auf Erden sein wollen, und zum anderen durch die „Rottengeister", die in ebenso überhebli-
33 Vgl. W. Maurer, Der kursächsische Salomo. Zu Luthers Vorlesungen über Kohelet (1526) und über das Hohelied (1530/31). In: Antwort aus der Geschichte. Festschrift für Walter Dreß, hg. von W. Sommer, Berlin 1969, 99-116: 111. 34 „Hie wil ichs beschliessen, Hoffe, ich habs gut gemacht. Gut heisse ich, wo es wenig leuten wol gefallen und viele leute ubel verdriessen wird. Das sol fast so ein gewis zeichen sein, als die krippen und windel den Hirten gewis zeichen waren. Gefeilet es aber jederman, so ists gewislich eine böse, schendliche erbeit, die ich gethan habe, Hoffe aber, ich habe mich der fahr wol benommen" (WA 51, 264, 10-15). 35 WA 51, 200, 18,19.
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eher Weise in falschem Heiligkeitsdünkel die notwendige Verantwortung in der Welt verachten. Der selbstsüchtigen Vermessenheit gegenüber dem weltlichen Stand gilt beide Male Luthers scharfe und zugleich in anschaulichhumorvoller Weise vorgetragene Kritik.36 Damit tritt wiederum die doppelte Front hervor, gegenüber der sich seit den frühen zwanziger Jahren Luthers Wirken vollzieht: die Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt und die daraus folgende Vermischung beider Gewalten in der mittelalterlichen Christenheit sowie die schwärmerische Diastase gegenüber jeglichen weltlichen Ordnungen. In dieser doppelten kritischen Absicherung der eigenen Bewertung des weltlichen Standes in Übereinstimmung mit dem Bekenntnis des Psalms setzt Luther aber nun bemerkenswerte Akzente. Mit dem „weltlichen Stand" sind die irdischen Ordnungen in der ganzen Breite des menschlichen Lebens umfaßt. Die „Rottengeister" „verdammen haushalten, ehestand, hoch und nider stand auff erden"37. Demgegenüber lehrt und tröstet dieser Psalm die Menschen an ihrem jeweiligen Ort, an den sie durch die Schöpfung Gottes gewiesen sind.38 Wenn der Psalm sich besonders an die hohen Stände, d.h. an die Regierenden richtet, so ist dies durch die geschichtliche Stellung Davids als König bestimmt. Er setzt sich selbst in seinem Stand anderen in diesen Ständen zum Exempel. Damit ist aber dieser „Regentenspiegel" nur ein besonderes Beispiel für die Verantwortung vor Gott und den Menschen in allen Ständen. Das geistliche und weltliche Regiment des gottesfürchtigen Regenten David gilt zwar durch die vorgegebene, besondere geschichtliche Situation der weltlichen Herrschaft vornehmlich den Regierenden, als solches ist es aber aller geschichtlichen Verantwortung der in der Welt Handelnden zugeordnet. Im Zusammenhang mit dem verantwortlichen Leben in allen irdischen Ordnungen kommt die besondere geschichtliche Verantwortung der Regenten zum Ausdruck.39 36
Das Singen und Beten des Psalms durch die selbstvermessenen und unwissenden Geistlichen vergleicht Luther mit der Eselin, durch die Gott mit dem törichten Propheten geredet hat. 37 WA 51, 201, 16,17. 38 Das ist nicht als „statische Ständeordnung" mißzuverstehen. Es geht um die jeweilige Verantwortung in einer existentiell-geschichtlichen Dimension. Gerade die Auslegung des 101. Psalms zeigt die ganze Dynamik in Luthers Geschichtsauffassung, die die geschichtlichen Gegebenheiten der Zeit keineswegs starr-beharrend „nur im Sein, und nicht im Werden" betrachtet. So die noch immer nachwirkende Ansicht von G. Wünsch, Der Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung, Tübingen 1921, 15; auch bei H. Boehmer, Luther im Lichte der neueren Forschung, Leipzig 5 1918, 246. Vgl. auch E. Troeltsch, Soziallehren, Tübingen 1912, I. Bd., 504. Dagegen vgl. F. Lau, Äußerliche Ordnung, 53f. 39 Ähnlich wie in der Auslegung des 127. Psalms, die in zeitlicher Nähe zu diesem „Regentenspiegel" steht (1532/33; WA 40, III, 202ff.), gehört hier zum weltlichen Regiment nicht nur das „Schwert" der Obrigkeit, sondern die Gesamtheit der irdischen Ordnungen wie Ehe, Familie, Eigentum. Das politische und häusliche Wesen gehören eng zusammen. Die Zweireiche- bzw. Zweiregimentenlehre ist in dieser Schrift wie in
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Nachdem Luther somit die beiden Hauptformen der Mißachtung des weltlichen Standes in seiner Zeit abgewiesen hat, kann er das Selbstzeugnis des Psalms in konkreter kritischer Blickrichtung auf die Regentschaft und den Hof Johann Friedrichs, jedoch im Gesamtrahmen von Gottes Handeln in der Geschichte des menschlichen Handelns, entfalten. Die Erklärung der Unerfahrenheit am Hof dient ihm dazu, in umso größerem Maße seine persönliche und gelehrte Welterfahrenheit einzubringen und wirkungsvoll einzusetzen.40 Überblickt man die Ausführungen Luthers zu allen acht Versen in der Anordnung des Psalms, so sind die Verse 1 und 5 allein schon durch ihren größeren Umfang deutlich herausgehoben.41 Durch diese beiden Verse wird die gesamte Psalmauslegung aber auch inhaltlich strukturiert. Im Vers 1 wird in der Anknüpfung an den Lobpreis Gottes durch David die alles aus Gottes Handeln empfangende Dankbarkeit gegen die selbstmächtige Vermessenheit gestellt. Die Ursünde des Menschen gegenüber dem 1. Gebot und Gottes dennoch unaufhörliches wunderbares Handeln am Menschen in seinem ihm aufgegebenen geschichtlichen Tun bilden das Grundthema, mit dem alle einzelnen Aspekte zusammengefaßt sind. Ab Vers 5 beginnt für Luther der andere Teil des Psalmes, d.h. die Zäsur, die das geistliche und weltliche Regiment Davids unterscheidet 42 Bevor er aber des näheren auf ihn und damit auf das Handeln Davids im weltlichen Regiment eingeht, ist ein Abschnitt eingeschaltet, in dem Luther grundsätzliche Ausführungen zu dem Thema der Unterscheidung der beiden Reiche bzw. Regimente macht.43 Wir sehen in diesem Mittelteil der Psalmauslegung, der in enger Verbindung mit Luthers Geschichtsauffassung steht, die inhaltliche Mitte der ganzen Schrift. Das geistliche und weltliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten ist für Luther allein dadurch ein „gut Regiment", daß Gottes alleiniges Wirken gepriesen und für seine Gabe gedankt wird. Das ist das Thema der Ausführungen Luthers zu Vers 1, die als inhaltliche Überschrift über der ganzen Psalmauslegung stehen. Damit steht das 1. Gebot vor und über allen Reflexionen Luthers in diesem Regentenspiegel, nicht anders als in allen seinen Handlungsratschlägen seit dem „Sermon von den guten Werken".
der ganzen Psalmauslegung Luthers nach 1530 in die ganze Breite des vor Gott zu verantwortenden Lebens in der Welt hineingestellt. 40 WA 51, 201, 22ff. Daß diese Unerfahrenheit am Hof nicht allzu wörtlich zu nehmen ist, machen seine Korrespondenz mit dem Hof und seine wiederholten Besuche bei und die Begegnungen mit Johann und Johann Friedrich in Torgau und Wittenberg deutlich. 41 Innerhalb der ganzen Schrift (WA 51, 200-264) gehören zu Vers 1 die Seiten 2 0 1 216, zu Vers 5 die Seiten 238-254. 42 In den Versen 2 - 4 handelt David in seinem geistlichen Regiment. In den Versen 5 - 8 in seinem weltlichen Regiment. 43 238-245, 10.
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Gleich zu Beginn wird den Regierenden die menschliche Ursünde der selbstsüchtigen Vermessenheit gegenüber dem 1. Gebot drastisch vor Augen gestellt. Die „Meister Klüglinge" pochen auf ihre eigene Vernunft und Weisheit, sie beherrschen das Feld der Politik. „Denn jnn der weit gehet es also zu, das keiner so grob oder ungeschickt ist, Er meinet, wo er im regiment were, Er wolts gar köstlich machen und lessts jm gar nichts gefallen, was andere im regiment machen." 44 Luther wendet seine eigene Erfahrung des allgemeinen Auseinanderklaffens zwischen Plan und Verwirklichung eines Vorhabens sofort auf das Hofleben an, das er zwar nicht aus persönlicher Anschauung kennt noch zu kennen wünscht, aber das aus geschichtlichen Beispielen - sowohl vergangenen wie gegenwärtigen - gut vorzustellen ist. Der Wahrheit des Wortes Gottes aus Spr. Salomos 8,14: „Mein ist beides, der Rat und die Tat" steht die allseits erfahrbare Wirklichkeit der menschlichen Vermessenheit gegenüber, die sich jedoch besonders im Regiment in Gestalt der vier Säulen des Königreichs oder Fürstentums hervortut: „Denn da sitzt der König oder Fürst für sich selbs weise und klug und hat die sache gefasset bey allen funff zipfeln. Dazu kompt denn ein Jurgist oder Jurist mit seinem buch und findet das Recht heuffig drinnen geschrieben gewis und klar, das nicht feilen kan. Darnach ein grosser Hans, dem das heubt viel zu klein ist fur grosser vernunfft und Weisheit, der findets im natürlichen recht so fest gegründet und tieff gewurtzelt, das alle weit nicht könne umbreissen. Zu letzt leuten sie zu samen, und bombt die grosse glock mit zu, das ist ein Bischoff, Prelat, Theologus, er sey selbs gewachsen oder sonst gemacht, der bringt Gottes wort und die Heilige schrifft. Hie mus der teuffei selbs weichen und die Sachen recht, billich, gut auch Göttlich dazu sein lassen."45 Mit dieser Klagepredigt über die Vermessenheit kommt gleich am Anfang der Psalmauslegung Luthers Hauptanliegen zum Ausdruck: dem Wirken Gottes in der Welt dankbar Raum zu geben. Aus geschichtlicher und persönlicher Erfahrung 46 wird die „erste lere und vermanung aus diesem Psalm" für die Regenten untermauert, „das ein Fürst odder herre lerne und wisse, das from gesin-
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WA 51, 201, 34-36. „Meister Klügel" oder „Klügling" ist ein Lieblingsthema Luthers, das er in Predigten, Auslegungen, Sendbriefen etc. vielfach streift bzw. behandelt, z.B. in der Auslegung des 117. Psalms (1530): „Denn es ist auch war, das solche halb gelehrte Leute die unnützesten leute auff erden sind. [...] Meister klügel heist man die selbigen, die das Ross am schwantz können zeymen" (WA 31,1, 226, 2; 227, 7f.), auch im Sendbrief vom Dolmetschen (WA 30,Π, 634, 6ff.). 45 203, 13-23. 46 In den in WA 53 mitgeteilten Bruchstücken aus Luthers Handschrift findet sich ein Abschnitt, in dem Luther ein persönliches Bekenntnis ablegt. Gerade mit seinem guten Recht gegen die Papisten möchte er darauf nicht pochen und alles Gott vor die Füße werfen (WA 53, 659, 5-660, 17). In der Münchener Ausgabe ist dieser Abschnitt nach dem mit „Amen" abschließenden Eingang über die Vermessenheit (WA 51, 205,7) sinnvollerweise eingefügt. Man wird diesen Abschnitt als ein nicht unwichtiges Zeugnis über Luthers Urteile über sich selbst verstehen können, vgl.
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de, trewe diener und gut regiment Gottes gäbe sey [...] und Gotte dafür dancke mit bitte, das er jm solchen schätz erhalte und bessere"47. Zu diesem Schatz eines guten Regimentes gehören auch das Recht und die Vernunft, 48 wenn sie als Gottesgaben, und nicht in vermessenem Eigendünkel gebraucht werden. Aber die Welt und die Menschen sind böse und falsch, besonders am Hof. Das Regiment eines Fürsten muß in der Finsternis bleiben, weil er mit und durch Menschen regieren muß, denen er nicht ins Herz sehen kann. Luther vergleicht das weltliche Regiment mit einem Wagen, der in der Nacht umherirrt, zuweilen umgeworfen wird und zerbricht. „Aber Christus Reich ist nicht also, der kennet alle hertzen, und welcher dem selben wil untrew sein, der betreugt sich selber und schadet seinem herrn nichts, Sondern der herr kan seines knechts bosheit zu seinem nutz und besten keren. Das kan im weltlichen Regiment, da die hertzen verborgen sind, nicht sein."49 Nach der ersten Lehre für die Regenten und noch bevor mit Gnade und Recht die beiden Hauptaufgaben des Regierens in der Welt beschrieben werden, stellt Luther eine grundsätzliche Reflexion über das Verhältnis der „beiden Reiche" an. Der erfahrbaren Weltwirklichkeit steht das Reich Christi gegenüber, in dem die menschliche Bosheit ihre zerstörerische Kraft verloren hat. Schon in der Auslegung zu Vers 1, die wesentliche Aspekte von Luthers Welt- und Geschichtsverständnis zum Ausdruck bringt, wird somit das Thema der Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche aufgenommen. Die geschichtliche Erfahrung läßt Luther vor allem die Andersartigkeit des Reiches Christi gegenüber dem weltlichen Regiment betonen, jedoch in eine Weise, die den Unterschied nicht jenseits des geschichtlichen Lebens markiert. Denn obwohl Luther mit den Metaphern „Finsternis" und „Nacht" das weltliche Regiment umschreibt, steht das Reich Christi diesem nicht als das weit- und geschichtslose Lichtreich gegenüber. Vielmehr geht es um den Unterschied des Sehvermögens bei der Herrschaft Christi und im weltlichen Regiment: Für den Fürsten bleiben die Handlungsabsichten der Menschen grundsätzlich verborgen, während Christus die Herzen kennt und durchschaut. Und doch muß in der Welt regiert werden, wenn es auch oft nur ein Tappen im Dunkeln ist. In der Aufnahme des Psalmverses versucht Luther nun, dieses Regieren in der Welt näher zu umschreiben. Mit Gnade und Recht sind die beiden Handlungsweisen bezeichnet, in denen alle Aufgaben des weltlichen Regiments zusammenkommen. Ausdrücklich betont Luther, daß es hier nicht um Gottes Gnade und Recht geht, sondern um die „wolthat gegen die fromen K. Holl, Luthers Urteile über sich selbst. In: Ges. Aufs, zur KG, Bd. I, Tübingen 1947, 381-419. 205,7-13. 204, 7f. WA 51, 205, 23-27.
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und straffe gegen die bösen" im Regiment der weltlichen Obrigkeit.50 Diese in der Geschichte des Luthertums so breit aufgenommene und weitergeführte Aufgabenbeschreibung des Amtes der weltlichen Obrigkeit51 steht bei Luther sogleich in der Dimension der rechten Verhältnisbestimmung zwischen göttlichem und weltlichem Regiment. Gnade und Recht im weltlichen Regiment sind grundsätzlich von der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes unterschieden und dürfen nicht miteinander vermischt, aber auch nicht voneinander getrennt werden. Denn wie nur im Zusammenwirken beider Handlungsweisen dem Chaos und der Tyrannei gewehrt werden kann, so ist das rechte Maßfinden zwischen Gnade und Recht in allen Dingen ohne die Gnade Gottes nicht möglich: „Masse ist jnn allen dingen gut. Da höret kunst ja Gottes gnade zu, das mans treffe." 52 Weil die rechte Mitte zwischen Gnade und Recht im menschlichen Handeln so schwer zu treffen ist, soll die Gnade den Vorrang vor der Strafe haben. Die Gründe, die Luther für die Priorität der Gnade vor der Härte des Gesetzes im Konfliktfall anführt, zeigen seine Achtung vor Gottes Schöpfung ebenso wie die Illusionslosigkeit in seinem Welt- und Menschen Verständnis: „Denn zu viel gnade kan man wider einzihen und wenigem. Aber die straffe kan nicht wider zu rücke komen, sonderlich wo es leib und leben oder glidmas betrifft. Auch kan man nicht alles böse auff erden straffen, Sonderlich die heimliche bösen tücke [...]." 53 Da der Regent doch nur das vor Augen Liegende sieht und somit nur die öffentlichen Übel strafen kann, aber auch dieses zuweilen übersehen muß, wenn aus der Bestrafung mehr Schaden als Nutzen hervorgeht54, zielen die aus der allgemeinen geschichtlichen Erfahrung gewonnenen und mit Beispielen aus dem AT angefüllten Reflexionen Luthers über das Regieren in der Welt mit Konsequenz auf die Frage nach dem rechten Handeln in der Geschichte. Sie stellt sich sofort als die Frage nach dem Handeln Gottes in ihr. Alles, was Luther nun folgend in einem langen Abschnitt über das nur staunend wahrzunehmende Handeln Gottes an seinen von ihm geschaffenen und getriebenen Wunderleuten in der Geschichte ausführt, will die Hauptlehre des Psalms unterstreichen, daß ein gutes Regiment allein Gottes Gnade ist. Bevor die einzelnen Taten Davids in seinem geistlichen und weltlichen Regiment in ihrer exemplarischen Bedeutung erkannt werden können, muß erst sein Bekenntnis wahrgenommen werden, „das ers nicht aus seiner hohen vernunfft
50 205, 28ff„ 36. 51 Vgl. vor allem die Landtagspredigten Polykarp Leysers d.Ä. über Psalm 101. S. unten 84f. 52 206, 7f. 53 206, 13-17. 54 Die Strafe hat vor allem einen pädagogischen und friedeschaffenden Sinn: „So doch alle straffe sol endlich dahin gericht sein, das sie zum schrecken und besserung der andern (wie S. Petrus und Paulus leren) und zum friede und Sicherheit der fromen geschehe" (207, 2-4).
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und weisen gedancken habe gestifft und erhalten, Sondern aus Gottes mitwircken und treiben, der jm solchs alles eingegeben und mit glück und heil gefordert und gesegnet hat"55. Der Regentenspiegel transzendiert somit von vornherein alle paränetischen Folgerungen in einer einfachen Beispielethik, vielmehr will er durch den Hinweis auf das Staunen erregende Handeln Gottes in der Geschichte zur Dankbarkeit und Demut in der realistischen Wahrnehmung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen führen. Mit prägnanten, thetischen Sätzen beschreibt Luther die Wunderleute Gottes in der Geschichte, die sein Verständnis der Geschichte Gottes mit den Menschen als ein ereignishaftes, schöpferisch-dynamisches Geschehen zeigen: „Gott hat zweierley leute auff erden jnn allerley Stenden. Etliche haben einen sonderlichen Sternen fur Gott, welche er selbs leret und erweckt, wie er sie haben wil. Die selben haben auch als denn guten wind auff erden und, wie mans nennet, glück und sieg. Was sie anfahen, das gehet fort, und wenn alle weit da wider streben solt, so mus es hinaus ungehindert. Denn Gott, ders jnen ins hertz gibt, jren sinn und mut treibt, der gibts jnen auch jnn die hende, das es geschehen und ausgericht werden mus. [...] Und nicht allein gibt er zu weilen solche leute unter seinem volck, sondern auch unter den Gottlosen und Heiden, und nicht allein jnn Fürstenstenden, sondern auch jnn Bürgern, baurn und handwercks Stenden. [...] Solche leute heisse ich nicht gezogene oder gemachte, sondern geschaffene und von Gott getriebene Fürsten oder herrn." 56 Der Unterschied zwischen den „gemachten" und „geschaffenen" Menschen liegt außerhalb jeder innerweltlichen Begründungsmöglichkeit; Grenzziehungen zwischen „heilig" und „profan", zwischen einem sog. geistlichen und weltlichen Bereich oder im Rahmen von Ständeordnungen haben hier keine Gültigkeit. Allein die schaffende Kraft Gottes, die sich dieser Menschen bedient, zeichnet sie vor anderen aus. Darum können sie sich auch nicht selber rühmen und über andere erheben, vielmehr sind sie genauso wie alle anderen der Schuld und Fragwürdigkeit alles irdischen Lebens verhaftet.57 Was Luther mit den „homines heroici"58 in der Geschichte zum Ausdruck bringen will, ist nicht das Gegenüber von übermenschlichem Genie und allgemeinmenschlicher Norm in einer Art Genieethik, sondern der Unterschied zwischen natürlichem und geschriebenem Recht im menschlichen Handeln. Das natürliche Recht oder die Vernunft und Weisheit, die der Belehrung aus den geschriebenen Gesetzen, ja sogar aus dem Wort Gottes, nicht
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215,36-216,1. 207,21-36. Vgl. 212, 35ff. Vgl. dazu F. Lau „Äußerliche Ordnung", 50ff. und die in diesem Zusammenhang angeführten weiteren Lutherzitate.
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bedarf,59 ist eine seltene Gabe Gottes, die nicht „in allen Köpfen steckt"60. Das nicht erlernte und zu erlernende Handeln der Wenigen, die aus spontaner, göttlich inspirierter Folgerichtigkeit das jeweils Angemessene tun, verläßt auch mit seinem staunenswerten Erfolg nicht die Sphäre der Eitelkeit alles Irdischen. Vielmehr wird durch die persönliche Einmaligkeit dieser Wunderleute Gottes die Vergänglichkeit und innere Fragwürdigkeit des menschlichen Handelns erst vollends deutlich. Nicht nur, weil auch sie meist ein ungutes Ende nehmen, sondern vor allem, weil Gottes Wunder sich an den Menschen nicht vererben.61 Hinter diesen Reflexionen Luthers steht die zwar unausgesprochene, aber deutliche konkret-geschichtliche Beziehung zur Regentschaft Johann Friedrichs. Hatte Luther in seinen Briefen und Tischreden z.Zt. des Thronwechsels 1532 die Weisheit Kurfürst Friedrichs als des „kursächsischen Salomo" direkt dem Eigensinn Johann Friedrichs gegenübergestellt, so wird auf sein Beispiel hier wiederum ausführlich hingewiesen und auf die vergeblichen Versuche, ihm in seiner Weisheit nachzufolgen.62 Der Eindruck auf die Situation am Hof Johann Friedrichs konnte gerade damit kaum verfehlt werden. Besonders die Not des Thronwechsels, wie sie in der Kohelet-Vorlesung zum Ausdruck kommt,63 spiegelt sich in den Sätzen wider: „Haus und hof, land und guter sind allezeit da. Aber erben oder Hausherrn und Fürsten sind nicht alle zeit gleich. Was einer gewonnen hat, das verleuret der nachfolgende. Und widerumb, ein ander nach folgender gewinnets wider, wo es Gott wil geben."64 In einer kurzen, sprichwortartigen Sentenz faßt Luther diese auch im täglichen Leben zu machende Erfahrung zusammen: „Novus Rex, Novus Lex."65 Da sich diese Wendung in zeitlicher Nähe mit der Psalmauslegung ebenfalls in einem Brief Luthers an einen Adeligen findet, in dem es um den Trost bezüglich falscher Ratgeber nach dem Regierungswechsel 59
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Die heidnischen Kriegshelden Hannibal, Alexander und Scipio stehen als Beispiele für die Wunderleute Gottes neben David und Kurfürst Friedrich dem Weisen und seinem Rat Fabian von Feilitzsch. Die von ihnen gerühmten Taten sind Werke der Vernunft, aus einer letztlich unerklärlichen Spontaneität heraus entstanden. Erst im Licht des Wortes Gottes wird das schöpferische Handeln Gottes in ihnen erkannt. Meistens bleibt aber diese göttliche Inspiration in ihrem Selbstbewußtsein dunkel, „darumb (sie) auch selten ein gut ende nemen, wie alle Historien zeugen" (207, 37ff.; 42, 208, 1). Vgl. zu der Frage, ob es besser sei, nach der Vernunft zu regieren oder nach geschriebenen Gesetzen WA Tr 4, 203. 212, 14. „Denn Gottes wunder erben nicht und sind auch nicht unser eigen noch uns unter worffen wie die güter, haus und hof. Gott will frey sein solcher wunderleute und Edel steine zu geben, wenn, wo und wem er wil" (209, 23-26). 209, 38ff. und 210, 29-37. Vgl. auch das zu Fabian von Feilitzsch und Kurfürst Friedrich Gesagte WA Tr 4, 203. Vgl.Anm. 33. 209, 10-13. 209,22,23.
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1532 geht, liegt der unmittelbare Bezug dieser Ausführungen zur Regentschaft Johann Friedrichs nahe.66 Die besondere kritische Schärfe Luthers, bei der es auch an drastischem Humor nicht fehlt,67 richtet sich gegen die „äffen" und „geuche", die die wenigen, von Gott Inspirierten in blinder Selbstüberschätzung nachzuahmen versuchen. Die auf die Person gerichtete Inspiration68 schließt jede Imitation aus, die stets nur auf das aus der Person hervorgehende Werk bezogen ist. Solche Imitation aber will die in Gottes Schöpfung gegründete Ungleichheit der Menschen negieren, weshalb Luther daraus auch nur Aufruhr und Chaos entstehen sieht. So ist gerade im Zusammenhang mit dieser dynamischen Geschichtsauffassung Luthers, die eine blinde Nachahmung innerhalb der bestehenden Ordnung wegen der Einmaligkeit der in ihnen handelnden Personen verurteilt, seine Forderung nach dem Gehorsam gegenüber den Ordnungen Gottes die notwendige Folge. So wenig statisch er von diesen selbst auch denkt, so unmißverständlich ist doch seine Auffassung von den schöpfungsmäßigen Gegebenheiten des menschlichen Zusammenlebens: „Aber nu hats Gott also geschaffen, das die menschen ungleich sind und einer den andern regirn, einer dem andern gehorchen sol. Zween können miteinander singen (das ist Gott alle gleich loben), aber nicht mit einander reden (das ist regirn). Einer mus reden, der ander hören."69 Allein im Gotteslob können sich die Menschen auf gleicher Ebene vereinen, im menschlichen Zusammenleben bleibt es immer bei dem Unterschied zwischen Regierenden (d.h. Redenden) und Regierten (d.h. Hörenden). Diese schöpfungsgemäße Grundbefindlichkeit des gemeinsamen menschlichen Lebens kommt in diesem „Regentenpsalm" in der ganzen Breite ihrer allgemeinen Bedeutung zum Ausdruck, nicht nur in bezug auf die Herrschaft der Regenten. So wie die Wunderleute Gottes in allen Ständen wirken, so regieren in der Welt jedoch vornehmlich ihre Nachahmer, die Wunderleute des Teufels 70 , die nicht nur mit ihnen gleich sein, sondern auch noch über sie hinaus ihr vermessenes Wesen treiben wollen. Mit „Doctor Spies" und „Meister Klügel" hat Luther ihnen am Hof und anderswo treffende Namen gegeben; die Nichtachtung der natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen und das Übervorteilungsstreben ist aber letztlich das Gift der Erbsünde, das alle Menschen betrifft: „Aber das ist der Teufel und plage jnn der weit, das wir jnn allen dingen an leiblicher stercke, grosse, schöne, gütern, gesicht, färbe etc. unternander ungleich sind Und allein jnn der Weisheit und Glück alle wollen gleich sein, da wir doch am aller ungleichsten unternander sind. Und das noch wol erger ist, Ein jglicher wil hierin über den andern sein. [...] 66 WA Br 6, 1955, 353f. vom 7. Sept. 1532 und 1977, 391f. vom 3. Dez. 1532. 67 213, 12-18. 68 „Denn es ligt an der person" (212, 10). 69 212, 19-22. 70 212,27.
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Es ist die gifft der Erbsunde uns angeborn und der bisse vom apffel, dadurch uns der Teufel hat klug und Gotte gleich gemacht. Daher kompts, das narren nicht wollen narren sein, Und Doctor Spies der grosseste Doctor und Meister Klügel der gröste meister ist auff erden, diese regirn jnn der weit. Gott plagt uns mit solchen leuten."71 Das illusionslose Welt- und Menschenbild Luthers hat aber nicht nur eine schöpfungstheologisch wie erfahrungsmäßig-analysierende Seite, sondern zielt wesentlich auf eine Aufforderung zum Handeln. Dem freien, immer neuen und auf die je eigene Person des Menschen gerichteten Handeln Gottes in der Geschichte kann der Mensch in seinem eigenen Handeln nur so antworten, daß er die ihm gegebenen Gaben erkennt und auszuschöpfen versucht. Die besonders von Gott inspirierten Wunderleute sollen dadurch beispielhaft wirken, daß die Spontaneität und Angemessenheit ihrer Taten zur Dankbarkeit und Demut auffordern. In diesem Sinn haben diese geschichtstheologischen Reflexionen Luthers durchaus ethischen Charakter. 72 In ihrer Allgemeinheit lassen sie auch deutlich ihre eigentliche Zielrichtung erkennen: dem neuen Regiment Kurfürst Johann Friedrichs Weisung für die ihm mögliche und von ihm zu fordernde Herrschaft zu geben. Mit Hilfe einer sprichwörtlichen Wendung gibt Luther seinem Rat, das Handeln nach den je eigenen, tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten auszurichten, einen drastisch-kritischen Ausdruck: „Wer nicht Kalck hat, der mus mit Kot mauren, Und heisst dennoch auch gemauret und den Kalck meurern nach gefolget, aber nicht gleich gut gemacht." 73 Auch auf sich selbst bezieht Luther diese sprichwörtlich-allgemeine Erfahrungswahrheit, 74 vor allem aber zielt sie auf eine sinnvolle Handhabung der Regierungsgeschäfte im Regiment.75 Schon in der Kohelet-Vorlesung taucht das Sprichwort im Zusammenhang mit den 71 72
214, 1-13. „Hie fragt sichs, Sol man denn nichts lernen oder nachfolgen guten exempeln der weisen und grossen leuten? [...] Antwort: O, wer nur wol kundte. Freilich sol man nach folgen guten exempeln jnn allen Stenden, Aber so fem, das wir nicht zu äffen werden und äffen spiel treiben" (213, 6-7, 9-11). 73 2 1 3 , 2 4 - 2 6 . 74 „Also, wenn Doctor Martinus nicht so gute Epistel kan schreiben oder predigen als S. Paulus zu den Römern oder als S. Augustinus, So ists jm ehrlich, das er das Buch auff thut und bettelt eine parteken aus S. Paulo oder aus S. Augustino und predige jnen nach. Ob ers nicht so gut macht noch jnen gleich thut, So sol er dencken, Er sey nicht S. Paulus noch Augustinus, die jm weit zuvor springen, und er jnen nach kreucht" (213, 28-34). Ein nicht unwichtiges Urteil Luthers über sich selbst! (Vgl. WA 53, 659, 5-660, 17.) 75 „Und wenn Doctor Spies nicht so weise und hoch vernünfftig sein kan als H. Friedrich oder Fabian von Feilitz, So stehets jm wol an, das er hin gehe und lasse sich leren oder lese die bücher der Rechten, die von den Helden der Weisheit gesetzt sind den klein verstendigen und schwach vernunfftigen zur lere und exempel, dem sie nach kriechen sollen, weil sie von sich selbst jnen nicht gleich nach lauffen oder springen können" (213, 34-39).
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so schwer zu verwirklichenden Regimentstugenden inmitten der verderbten Welt auf, 76 so daß man nicht fehl gehen wird, das Bekenntnis zu den eigenen, eingeschränkten Verhältnissen auf die neue kursächsische Regierung zu beziehen. Darin kommt nicht nur Kritik an der töricht-vermessenen Übersteigerung der vorhandenen Möglichkeiten zum Ausdruck, sondern damit soll auch zum nüchternen Wahrnehmen dessen, was ist, angeleitet werden, und zu einem dementsprechenden Handeln. Denn in der Welt muß regiert werden, erst recht dann - und das ist der gewöhnliche Weltlauf wenn die von Gott besonders inspirierten Wundermänner ausbleiben. Das schonungslose Urteil Luthers über die Welt als Spital, in dem alle krank sind und es besonders den Leitern, den Fürsten und allen Regierenden an Weisheit und Mut fehlt 77 , zielt nicht auf Fatalismus und Pessimismus. Vielmehr will es zu geduldigem, bescheidenen Lernen und Handeln im Regiment mit Hilfe der Rechtsbücher und allem verfügbaren politischen Erfahrungswissen anleiten, bis wieder ein von Gott erleuchteter Regent die Herrschaft übernimmt. Dann ist die Regierungsweisheit im Regiment nicht mehr eine mühsam-erlernte, kränkelnde, sondern eine kraftvolle, aus unmittelbarer Eingebung fließende Quelle, die das Land zum Blühen bringt. Über allen Zeiten und Herrschern aber steht Gottes alleiniges, nicht aufrechenbares, die Welt vor ihrem Untergang bewahrendes Wirken in der Geschichte. Nach dieser, die Souveränität Gottes im geschichtlichen Handeln der Menschen bezeugenden theologischen Grundlegung zeigt Luther an konkreten biblisch-geschichtlichen Beispielen, wie David in seinem geistlichen und weltlichen Regiment als ein Wundermann Gottes regierte. Das Beispiel seiner Regierung im geistlichen und weltlichen Stand ist der ganze Psalm.78 Die weitere Psalmauslegung ist somit in zwei Hauptteile gegliedert, die sich aus einem theologischen Doppelaspekt ergeben. Das Regieren im geistlichen Stand geschieht „im wort und dienst Gottes"79. Im weltlichen Stand betrifft es die Regelung der zwischenmenschlichen Bezüge und der irdischen Güter in Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit vor dem Angesicht Gottes. Dieser Doppelaspekt, der die ganze Psalmauslegung strukturiert und der in der Mitte der Schrift eigens reflektiert wird,80 kommt am Anfang des zweiten Teiles folgendermaßen zum Ausdruck: „Denn wie das geistlich Regiment oder ampt
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WA 20, 174, 19. „Nu ist die Welt ein kranck ding und eben ein solcher Peltz, da haut und har nicht gut an ist. Die gesunden Helden sind seltzam und Gott gibt sie theur und mus doch regirt sein, wo menschen nicht sollen wilde thier werden. Darumb bleibts jnn der weit gemeiniglich eitel flickwerg und betteley, und ist ein rechter Spital, da es beide Fürsten und Herrn und allen regierenden feilet an Weisheit und mut, das ist an glück und Gottes treiben wie den krancken an krafft und stercke" (214, 28-35 u.a.). 78 216, 15. 79 216, 13, 14. 80 S. unten 35ff.
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die leute sol über sich weisen gegen Gott recht thun und selig zu werden, also sol das weltlich regiment unter sich die leute regirn und schaffen, das leib, gut, ehr, weib, kind, haus, hof und allerley guter im friede und Sicherheit bleiben und auff erden selig sein mügen." 81 Die erste Tat in Davids geistlichem Regiment steht unter der göttlichen Bestätigung: „Deus loquitur in sanctuario suo" (Ps 60,8). In der Aufrichtung und Förderung des Gottesdienstes unter David zeigt sich die Gabe Gottes, daß das Wort Gottes in seinem Reich seinen Lauf nimmt und es vor falscher Lehre bewahrt bleibt.82 So sehr Luther diesen freien Lauf des Wortes Gottes in Davids Reich herausstellt „zum Exempel allen Konigen, Fürsten, Herrn als ein recht wunderwerck, dem sie folgen mügen, so weit ein jglicher kan" 83 , so unmißverständlich weist er sogleich darauf hin, daß die Vernunft und das natürliche Recht dazu gänzlich unfähig sind. Mit scharfen, an die Obrigkeitsschrift erinnernden Worten84 stellt er unter Berufung auf Psalm 2 die normale fürstliche Herrschaft dem von Gott selbst inspirierten Regiment als einer geschichtlichen Ausnahmesituation gegenüber: „Alle Konige und Fürsten, wenn sie der natur und der hohesten Weisheit folgen, müssen Gottes feinde werden und sein wort verfolgen. [...] Wo aber ein Konig oder Fürst oder Adel ist, die sich mit ernst (ja mit ernst, sage ich) umb Gott und sein wort annemen, die magstu wol für Wunderleute Gottes halten und seltzam wilpret im Himmelreich heissen."85 Daß das Wort Gottes nicht aus fürstlicher Vernunft gefördert werden kann, verdeutlicht Luther auch mit einem zeitgeschichtlichen Argument. In den zurückliegenden zehn Jahren ist das wiederentdeckte Evangelium so deutlich und reichhaltig gepredigt worden, daß andere Zeiten, ja auch Davids Reich dagegen zurückbleiben. Und doch halten sich so viele Fürsten noch immer von diesem offenkundigen Bekenntnis zum reinen Wort Gottes fern, weil sie von Gott nicht erwählt sind. Das entschuldigt sie aber nicht. Denn sie müssen doch das Ihrige tun, keinesfalls aber dürfen sie den Lauf des Wortes Gottes hindern.86 Die Förderung des Gottesdienstes in Davids Reich hat zur Voraussetzung, daß er auch für sich selbst und in seiner unmittelbaren Umgebung für ein Leben unter dem Wort Gottes einsteht. Das ist die zweite Tat in seinem geistlichen Regiment. Nur wenn das eigene gelebte Beispiel an seinem Hof mit seinem Gebot übereinstimmt, kann eine segensreiche Wirkung von der Regierung auf das ganze Land ausgehen. Welche heimtückischen Widerstände gegenüber einem gottesfürchtigen Regenten sich jedoch gerade hier, in 81 2 4 1 , 3 5 - 3 9 . 82 216, 22ff. 83 2 1 7 , 4 - 6 . 84 Vgl. WA 11, 267, 30-268, 14. 85 WA 51, 217, 10-12 und 25-27. 86 2 1 7 , 4 0 - 2 1 8 , 1 1 .
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der nächsten Umgebung des Fürsten, bei seinen Räten auftun, zeigt Luther in einer ausführlichen Hofkritik 87 . Mit alttestamentlichen und reichsgeschichtlichen Beispielen macht er deutlich, wie besonders fromme Herrscher ohnmächtig und blind den treulosen, falschen Räten ausgeliefert sind und sie selbst noch befördern müssen: „Es ist jnn gmein der Konige und Fürsten (sonderlich der fromen) die aller grosseste plage, das sie müssen untrewe, falsche, bose buben zum grossesten herrn im lande nicht allein leiden, sondern auch setzen und machen wie David den Ahithophel, Salomo Eder Eser." 88 Nur die von Gott selbst inspirierte Tat, nicht aber das eigene Vermögen auch der gottesfürchtigen Regenten vermag sich gegen die „Hofschranzen" durchzusetzen. In solcher geschichtlichen Einkleidung hält diese Hofkritik auch der kursächsischen Regierung unter Johann Friedrich einen aktuellen, kritischen Spiegel entgegen. Wenn Luther am Schluß betont, daß jeder nach seinem Vermögen nachfolgen solle, „Ausgenommen, das ers ja nicht besser mache denn David und solch lied ja nicht hoher singe"89, so wird er die Problematik der Thronfolge des Jahres 1532 und das Verhältnis Johann Friedrichs zu dem „kursächsischen David", Kurfürst Friedrich den Weisen, mit im Blick gehabt haben. Aus dem Wortlaut des 2. Psalmverses „Ich handle vorsichtig und redlich bei denen, die mir zugehören [...]" leitet Luther eine weitere „Wundertugend" Davids ab, der für die Psalmauslegung insgesamt und für ihre Wirkungsgeschichte im älteren Luthertum eine besondere Bedeutung zukommt. Sie lautet: „Warte des deinen, und was dir befolhen ist. Denn es ist ein gemein laster und schedliche untugend jnn aller weit, jnn allen Stenden, Wenn die gen Hofe kompt, ist sie auch nicht viel nütze, Und heisst auff Griechisch Polypragmosyne, Viel zu schaffen haben, da nichts befolhen ist, Und da lassen, da viel befolhen ist. [...] Ich wils die weil Faulwitz nennen." 90 Das Geschäftigsein in fremden Sachen versteht Luther als Frucht der Erbsünde, allen Menschen angeboren.91 Somit findet sich dieses Übel in allen drei Hauptständen, in der politia, ecclesia und oeconomia,92 insbesondere auch unter den Kriegsleuten. Aber nicht auf die allgemeine Verbreitung dieses Unwesens hebt Luther letztlich ab, sondern vor allem auf die rechte Zuordnung der Aufgaben im geistlichen Amt und bei der weltlichen Obrigkeit. Mit dem Treiben des „Junker Faulwitz" hat Luther vorrangig die verhängnisvolle Vermischung des Geistlichen und Weltlichen in den oberen Ständen vor 87 Es ist der erste zusammenhängende Abschnitt einer Hofkritik in dieser Psalmauslegung, der weitere folgen. „Und wer kan die list und bosheit des loblichen gesindes zu Hofe und auff den Empten erzelen? [...]" (219, 39-222, 8). 88 2 2 0 , 3 1 - 3 4 . 89 221, 35f. 90 222, 15-21. 91 2 2 2 , 2 1 - 2 7 . 92 Sie folgen in dieser Reihe nacheinander. 222, 28-224, 2.
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Augen, darum zeigt sich auch sein Unwesen gerade im Regiment und am Hof: „Und das ich am hohesten anfahe: Der Bapst, Bisschove und das gantze Bapstum solt wol des Euangelion und der seelen warten, So haben sie hie den faulen schelmen im rücken, müsten dafür weltlich regirn, krieg füren, zeitlich reichthum suchen, Und das thun sie gern und sind klug. Widerumb, weltliche Konige solten des regiments warten, dafür musten sie jnn der kirchen stehen, Messe hören und gantz geistlich sein, Wie sie denn jetzt sich mengen jnn des Euangelion sache, verbieten, was Gott geboten hat, als beider gestalt des Sacraments, die Christliche freiheit, die Ehe, des Bapsts exempel nach." 93 Nur ein demütiger Regent wie David, der sich des Seinen mit Fleiß und Gehorsam annimmt, kann dem Faulwitz entgegentreten. Wenn Luther auf Davids geistliches Regiment als Beispiel für Fürsten im Kampf gegen den Faulwitz hinweist, dann ist dieses schon hier in einem wesentlichen Gesichtspunkt charakterisiert und vor einem Mißverständnis zu schützen. Denn Davids Sorge um Gottes Wort, seine cura religionis, vollzieht sich im Dienst und Gehorsam gegenüber seinem Gebot, nicht als ein Herrschen und Gebieten.94 Im geistlichen Regiment eines gottesfürchtigen Regenten sind die geistlichen und die weltlichen Rechte und Pflichten nicht miteinander vermengt, ebenso nicht im weltlichen Regiment, vielmehr stehen beide Regimente im Gehorsam unter Gottes Wort, aus dem sich ohne Faulwitz das jeweils angemessene Handeln ergibt: „Gehorsam ist aller tugent krone und ehre, Aber wenn faulwitz drinnen erfunden wird, so hat sie der melthaw oder (wie es Jsaias nennet) der faulregen verderbet,95 und werden eitel Suddeler, Hümpeler, Soker draus, die viel verseumen und niemand nichts zu liebe oder danck machen noch thun können." 96 So steht hinter dieser besonderen Gabe Gottes in Davids geistlichem Regiment, daß er sich des Seinen annimmt, das Thema der Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regimentes. So wenig sich ein gottesfürchtiger Regent mit seinem geistlichen Regiment in die Befugnisse des geistlichen Amtes der Prediger einmischt, so wenig ist es diesen geboten, sich der weltlichen Regierung anzunehmen. 97 Doch auch diesen Abschnitt über den Faulwitz wird Luther nicht ohne kritischen Blick auf die neuen Verhältnisse am kursächsischen Hof geschrieben haben. In der Finanzwirtschaft geht es verschwenderisch zu: „Sie heben einen leffel und zutreten eine schüssel [...] da man einleffelt und ausscheffelt, macht grosse rechnung, da sie dem Konige einen gülden erfromet haben, der mus alle ohren und äugen füllen, wie gros rat da gestifft sey. Aber da viel
93 2 2 2 , 2 8 - 3 5 . 94 Vgl. den Abschnitt 239, 31-240, 6. 95 Es ist wohl an die Stelle Jesaja 18,4 gedacht. 96 224, 10-14. Vgl. Spr. Sal. 26, 10. 97 224, 14-24.
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tausend gülden dafür sind verfaulwitzt, da krehet kein han nach." 98 Diese Verschwendung am Hof wird in einer Tischrede aus dem Herbst 1533 dem klug-sparsamen Regiment Kurfürst Friedrichs des Weisen gegenübergestellt." Die beiden Psalmverse 3 und 4 geben Luther Anlaß, ausführlich über den Kampf des geistlichen Regimentes gegen die listigen und offenkundigen Feinde des Wortes Gottes am Hof zu handeln. Am Beispiel Davids zeigt er, wie der Gehorsam gegenüber Gottes Wort eine ständig zu erneuernde Treue und Wachsamkeit verlangt, die sich von dem persönlichen Vorbild des Regenten ausgehend auf alle Räte am Hof und schließlich auf das ganze Reich erstrecken müssen. Nur mit Hilfe einer besonderen Gabe Gottes kann es gelingen, wenn den in weltlichen Angelegenheiten so nützlichen und geschickten Ratgebern entgegengetreten wird, weil sie sich heimlich oder öffentlich gegen das Wort Gottes stellen.100 Luther läßt freilich keinen Zweifel, daß die Regierung eines frommen Regenten niemals ohne gottlose Räte sein kann,101 vielmehr weiß er, daß gerade darum „ein fromer König und Herr ein elender mensch ist, für den man wol billich beten sol"102. Mit dem Bild der Hummeln und Bienen geißelt er scharf, daß sich am Hof immer wieder die schalkhaften, unnützen Günstlinge der Fürsten gegenüber den treuen, fleißigen Ratgebern durchsetzen und sie aus ihren Plätzen verdrängen. 103 Die Sorge Luthers vor dem zu großen Einfluß der adligen Höflinge im Regiment Johann Friedrichs, wie sie sich vor und nach dem Thronwechsel 1532 in den Tischreden niederschlägt,104 bildet den Erfahrungshintergrund für diese Hofkritik. Der kritische Blick auf die eigene Regierung macht deutlich, wie gerade das geistliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten wachsam sein muß: „Denn der teuffei feyret und schlefft nicht, also mus das geistlich regiment warlich auch nicht feyren noch schlaffen, Sonst ists verloren." 105 Diese Wachsamkeit im geistlichen Regiment richtet sich nicht nur 98 99 100
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223, 30-35. Die sprichwörtliche Redensart von dem Löffel und der Schüssel war sehr verbreitet, ebenso „einleffeln" und „ausscheffeln". WA T r i , 653. „Denn es haben oft die Gottlosen von Gott viel schöner, hoher gaben und geschickligkeit zu weltlichen Sachen, der man nicht wol emperen kan im hause oder im regiment, gegen welche die fromen nicht können schüler sein. [...] Darumb, wo ein herr oder hauswirt solche nutzliche diener sol hassen und lassen, mus er gewislich ein Lewen hertz haben und ein wunder man jnn Gott sein [...]" (226, 26-29; 40-42). „Denn jnn der weit gehets also zu, sonderlich zu Herrn hofe, das wenig Naeman oder Joseph, sondern viel Ahitophel und Ziba da sind" (227, 8f.). 227, 29f. 228, 1-16. Z.B. W A Tr 2, 1564. Hier heißt es sehr ähnlich von den adligen Günstlingen in einer sprichwörtlichen Wendung, von denen erst das Jüngste Gericht befreien wird: „Inn des müssen wir leiden, das die laus im grinde sich dicke weide und im alten peltz auff steltzen gehe" (228, 31f.). 231, 15f.
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nach außen, gegenüber den falschen Räten, sondern betrifft vor allem auch die selbstkritische Hörbereitschaft der Regenten, weil fromme Diener zumeist unbequeme Ratgeber sind. „Frome diener können offt nich alles billichen, was die Herrn furnehmen und müssens widderraten. [...] Und die warheit da zu unangeneme ist, und niemand sich gern straffen lesst."106 Bei den gottlosen Königen haben die Heuchler und Lügner erst recht freies Spiel. Den alttestamentlichen Beispielen für Abgötterei stellt Luther in der Gegenwart den Kampf des Papsttums gegen Gottes Wort und Werk gegenüber.107 Besonders im Anschluß an Vers 4 übt Luther scharfe Kritik an den „Jungherrn Papisten", sie wissen um ihre Lügen und gehören somit in das Reich des Antichrists.108 Diese Papstkritik mit ihrer endgeschichtlicheschatologischen Dimensionen109 zielt aber nicht nur auf das Papsttum selbst, sondern insbesondere auf den Mißbrauch der durch Luther und die Reformation erwirkten Freiheit vom päpstlichen Zwang auf Seiten der geistlichen und weltlichen Herren: „Denn nu sie das Bepstlichen zwangs und seiner manchfeltiger betriegerey los sind worden, dencken sie auch vollend frey und los zu sein von allem Gottes gehorsam und dienst, wolten auch wol gern aller weltlichen recht und Ordnung frey sein. [...] Und süchen, ja brauchen auch solcher freiheit vom Bapst, die am aller meisten, als Bisschove, Fürsten, Thumbheren, Adel, so andere leute mit grosser gwalt unter dem Bapst halten wollen, Denn sie umb alle Bepstliche lere nicht ein strohalm geben." 110 Die so beschriebene Frivolität führt zur grundsätzlichen Kritik am „Welschen regiment", das Luther nun von der italienischen Renaissance auf Deutschland übergreifen sieht.111 Solchem Abfall von Gottes Gebot in Lehre und Leben stellt Luther wiederum das geistliche Regiment Davids als Beispiel gegenüber. Zu seinen Aufgaben gehört nicht nur die äußere Ermöglichung, sondern auch die aktive Beförderung des Wortes Gottes, worin der Kampf gegen die „Rottengeister" und Gotteslästerer eingeschlossen ist: David hat „allen fromen, trewen, rechten lerern nicht allein erleubt räum, freiheit, fried, schütz, schirm und Unterhaltung gegeben, Sondern auch allenthalben her fur gesucht, gefoddert, beruffen, verordnet und befolhen, das wort Gottes rein und lauter zu predigen
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230, 16-19. 229, 24-38. 233, 14-38. Von den „Jungherrn Papisten" heißt es: „Aber vor dem ende der weit und bis auff den Jüngsten tag mus der teuffei solche heiligen haben und Christum damit zwingen, das Jungst gericht deste ehe zu halten" (233, 36-38, vgl. auch 236, 7-19). Luther hat den Gedanken häufig vertreten, daß der Teufel das Kommen des Jüngsten Gerichts beschleunigen werde, so. z.B. in einem Brief an Staupitz vom 27.6.1522, WA Br 2, 567, 35f. 110 2 3 5 , 2 9 - 3 6 . 111 2 3 6 , 2 0 - 2 6 .
Grundsätzliche Reflexion über die beiden Regimente
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und Gotte rechtschaffen zu dinen"112. Unter Berufung auf Jesus Sirach 10,2 hebt Luther erneut auf die Notwendigkeit des persönlichen Vorbildes des Regenten bei der Förderung und Ausbreitung des Wortes Gottes ab, womit freilich auch der Wandel oder gar Abfall von dem begonnenen Werk bei der Thronfolge eine häufige geschichtliche Erfahrung ist.113 Mit einem eindringlichen Appell an alle Verantwortlichen, besonders an die Regenten, sich doch um der Jugend willen um Schulen und Pfarrer anzunehmen, endet der 1. Teil der Psalmauslegung. 114 Am Beginn des 2. Teiles seiner Homilie115 über den 101. Psalm stellt Luther die Unterscheidung und Zuordnung des geistlichen und weltlichen Regimentes in einer kurzen, zusammenfassenden und in sich geschlossenen Weise dar. Wir sehen in diesem Abschnitt die theologische Mitte und Hauptintention der Schrift. 116 Die grundsätzliche Reflexion Luthers über die zwei Reiche bzw. Regimente darf freilich nicht losgelöst von der ganzen Psalmauslegung gesehen werden, vielmehr bekommt diese gerade erst im Zusammenhang mit der konkreten Darstellung von Davids geistlichem und weltlichem Regiment, d.h. des sich darin manifestierenden Handelns Gottes in der Geschichte, ihr eigentliches Gepräge. Indem Luther hier eigens die Zäsur und die Zuordnung der beiden Teile der Schrift bedenkt, d.h. deutlich macht, wodurch das geistliche und weltliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten voneinander unterschieden und aufeinander bezogen ist, kommt - von diesem besonderen geschichtlichen Beispiel ausgehend - die Thematik des Verhältnisses der beiden Regimente Gottes in einer allgemeingültigen Dimension zum Ausdruck. Auch sonst ist der methodische Ausgang von Luthers sog. Zweireiche- bzw. Zweiregimentenlehre stets geschichtlich-konkret, nicht spekulativ-abstrakt, d.h. von den irdischen „Vollzugsorganen" des Schwertes oder Wortes bzw. der weltlichen und geistlichen „Oberkeit" ausgehend, kommt er auf das geistliche und weltliche Regiment Gottes zu sprechen.117 Das Besondere an der Auslegung des 101. Psalms ist jedoch, daß das geistliche und weltliche Regiment, wodurch Gott auf je verschiedene Weise 112 234, 18-22, vgl. auch 235, 10-15. - Diese Aufgabenbeschreibung des geistlichen Regiments durch Luther entspricht durchaus der cura religionis der weltlichen Obrigkeit im orthodoxen Zeitalter. 113 234, 3 9 - 2 3 5 , 4 . 114 237, 15-36. 115 Mit diesem Begriff kommt man dem formalen Charakter dieser von Vers zu Vers fortschreitenden Psalmauslegung wohl am nächsten. 116 238-245, 10. Man wird diesen Abschnitt zu den zentralen Texten für Luthers Zweireiche- bzw. Zweiregimentenlehre rechnen müssen, dem neben den entsprechenden Stellen aus „Von weltlicher Obrigkeit", „Ob Kriegsleute [...]" und den Wochenpredigten über Mt 5 - 7 keine geringere Bedeutung zukommt. 117 Es sei nur auf folgende Stellen verwiesen: „Von weltlicher Obrigkeit", WA 11, 249ff. und in der Kriegsleuteschrift, WA 19, 629.
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Die Auslegung des 101. Psalms durch Martin Luther
wirken will, hier in der Person Davids zusammenliegen.118 Sind damit die beiden Regimente so stark aufeinander bezogen, daß ihre Unterscheidung kaum noch faßbar wird?119 Welche Gestalt gewinnt Luthers Verhältnisbestimmung der beiden Reiche in einer Zeit, in der sich die Konsolidierung der Reformation mit Hilfe des landesherrlichen Kirchenregiments vollzieht?120 Wie sieht Luther konkret das Verhältnis von Obrigkeit und Predigtamt in der „geschichtlichen Verschwisterung der beiden Reiche in der Christenheit"121? In welchem Maße gewinnen andere Vorstellungen neben der Thematik der beiden Reiche bei Luther Gewicht, in denen er von mehreren Regimenten bzw. Ständen spricht? Insbesondere wäre hier an das Miteinander von Kirche und Welt in Form der drei Stände oder Hierarchien zu denken.122 Die Antworten auf diese Fragen haben nicht nur für das Verstehen von Luthers Auslegung des 101. Psalms erhebliches Gewicht, sondern auch für die Weiterwirkung dieser Schrift im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie. Wir wenden uns nun diesem Mittelteil der Psalmauslegung mit dem Versuch einer textimmanenten Interpretation zu. Denn nur, wenn der Gedankengang im Gesamtrahmen der Schrift fortschreitend wahrgenommen und bedacht wird, wird man die Intentionen Luthers einigermaßen aufnehmen und ihnen gerecht werden können.123 Mit einem Rückblick und Vorausblick stellt Luther die beiden Teile des Psalms, d.h. Davids geistliches und weltliches Regiment, in der von ihm vorgenommenen Zweiteilung einander gegenüber. Schon am Anfang der Ausle-
118 Auch in der Auslegung des 82. Psalms sieht Luther in ähnlicher Weise weltliche und geistliche Ordnung eng aufeinander bezogen (WA 311, 183ff.). 119 F. Lau, Luthers Lehre von den beiden Reichen, spricht bei der Auslegung des 101. Psalms von einer Schrift, „in der Luther im allgemeinen die beiden Reiche sehr eng einander zuordnet" (40, Anm. 92). Lau betont auf diesem Hintergrund den sich auch hier zeigenden, je verschiedenen Abstand der beiden Reiche von Gott, 38ff. 120 Vgl. G. Müller, Luthers Zwei-Reiche-Lehre in der deutschen Reformation. In: Causa Reformationis. Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Luthers, Gütersloh 1989, 417-437 und die älteren Arbeiten von K. Müller, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit, Tübingen 1910; K. Holl, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment. In: Ges. Aufs, zur KG I, Luther, Tübingen 6 1932, 326-380 und H.-W. Krumwiede, Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments (SKGNS 16, Göttingen 1967). 121 So eine Formulierung von F. Lau, Luthers Lehre von den beiden Reichen, Berlin 1952, 59. Vgl. W. Maurer, Die Entstehung des Landeskirchentums in der Reformation. In: Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, hg. von W.P. Fuchs, Stuttgart 1966, 69-78. 122 W. Maurer, Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte, Jg. 1970, Heft 4), München 1970. - Bei dem Abschnitt über den „Faulwitz" dienten die drei Stände zur Beschreibung der Gesamtheit der Menschen, vgl. 222, 28-224, 2. 123 Es ist ja eine allgemeine, nicht nur auf diese Schrift bezogene Problematik in der verwirrenden Fülle der Interpretationen zu Luthers Zweireichelehre, daß die Stellen aus den verschiedensten Schriften weitgehend nur atomistisch herangezogen werden.
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gung von Vers 2 hat er den ganzen Psalm in dieser Doppelheit strukturiert124, jetzt aber erhält die Einteilung erst ihre spezifische Prägung. Denn nun nennt Luther die beiden geschichtlichen Gestaltungsorte für das geistliche und weltliche Regiment Davids: die Kirche und das Rathaus. David hat mit dem Beispiel seines geistlichen Regimentes „frome Konige und Fürsten [...] recht und Christlich zur kirchen gefüret", damit sie „mit rechtem ernst und geist, die reine lere und Gottes Ordnung erhalten zu nutz der seelen Seligkeit".125 Das weltliche Regiment aber soll zeigen, „wie ein from Fürst solle unter den leuten oder unterthanen handeln, einen iglichen für des anderen gewalt und frevel schützen, zum recht helffen und dabey erhalten, und füret jn auff das rechte Rat haus" 126 . Mit diesen Formulierungen gibt Luther vor allem eine geschichtliche Ortsbestimmung für das geistliche und weltliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten. Man wird ihnen aber auch schon einen Hinweis auf das näher zu bestimmende inhaltliche Verhältnis zwischen obrigkeitlicher Kirchenpflege und Predigtamt sowie auf die allgemeine Verhältnisbestimmung zwischen der Verkündigung des Wortes Gottes und staatlicher Rechtsordnung entnehmen können. Das Hinführen zur Kirche im geistlichen Regiment versteht Luther als Erhaltung und Beförderung der reinen Lehre und der Ordnung Gottes, d.h. des rechten Gottesdienstes und des ihm entsprechenden Lebens. Ein Hineinregieren in die Kirche, d.h. die Vermischung der beiden Regimente in ihrer geschichtlichen Ausprägung, legt sich hier ebenso wenig nahe wie die kirchliche Bevormundung der im weltlichen Regiment zu leistenden Aufgaben. So ist es nicht unvermittelt, wenn Luther nach diesem Eingang einen längeren Abschnitt folgen läßt, in dem er den Unterschied der beiden Regimente scharf herausstellt.127 Seit den zwanziger Jahren hat sich diese Erkenntnis und ihre Begründung endlich allgemein verbreitet, wie Luther erleichtert feststellt: „Es ist, Gott lob, nu aller weit wol offenbar gnug, wie die zwey regiment sollen unterscheiden sein. Denn auch das werck an jm selbs solch unterscheid reichlich gnug anzeigt, wenn schon kein gebot noch verbot von Christo darüber gethan were. Denn wir sehen ja wol, das Gott die weltliche herrschafft oder konigreiche unter die Gottlosen strewet auff das aller herrlichst und mechtigest, gleich wie er die liebe Sonne und regen auch über und
124 216, 12-15. Der Blick Davids auf sich selbst und auf seine Nächsten in der je verschiedenen Verantwortung vor Gott ist dabei das gewiß vom Text des Psalms nur notdürftig zu legitimierende Einteilungsschema. Aber die Unterscheidung coram deo und coram hominibus („Christperson" und „Weltperson") ist für Luthers Zweireichelehre insgesamt grundlegend. Das hat vor allem Gerhard Ebeling in seinen zahlreichen Beiträgen zum Thema der Zweireichelehre Luthers herausgestellt. Es sei hier nur auf sein Buch „Luther. Einführung in sein Denken", hingewiesen, Tübingen 1964, 219ff. 125 238, 5-11. 126 238, 12-15. 127 238, 16-239, 30.
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unter den Gottlosen lesst dienen, Und doch kein Gottes wort noch dienst unter sie stifftet. [...] Dennoch heisst er solch weltlich regiment der Gottlosen seine Ordnung und geschepffe und lesst sie des selben misbrauchen, so ubel sie können, Dar aus man ja greiffen mus, das Weltlich reich ein anders ist und on Gottes Reich sein eigen wesen haben kan." 128 Nicht vom Schriftwort geht Luther diesmal unmittelbar aus,129 sondern von einer Wirklichkeitserfahrung, die das Handeln Gottes in Geschichte und Schöpfung reflektiert. Die von Gott geschaffene und unter seiner fortdauernden Erhaltung stehende Weltwirklichkeit ist damit in ihrer göttlichen Würde qualifiziert, auch ohne daß sie von ihm mit einer besonderen Stiftung oder Weisung bedacht ist.130 Vor allem kann diese im Schöpferhandeln Gottes gründende göttliche Würde der weltlichen Ordnungen nicht durch menschlichen Mißbrauch beeinträchtigt werden. Auf die vorfindliche Herrlichkeit und Mächtigkeit des „weltlichen Regiments der Gottlosen" hebt Luther hier insbesondere ab, im zweiten Teil der Psalmauslegung wird dieser Aspekt noch weiter verstärkt. Nur von der göttlichen Würde aus, d.h. von dem Zugehörigsein zu Gott selbst, kann das weltliche Regiment bestehen und „sein eigen Wesen haben", nie jedoch aus sich selbst heraus. In der Schöpferwirklichkeit Gottes gründet somit das Besondere des weltlichen Regimentes, in dem Gott trotz der Sünde und des Mißbrauchs seiner Ordnungen durch die Menschen weiter mit ihnen handelt.131 Damit zeigt aber auch schon die Schöpfungs- und Erhaltungsordnung Gottes in Natur und Geschichte den Unterschied an, mit dem Gott sein geistliches Reich von dem weltlichen scheidet. Denn das Kennzeichen derer, die zum geistlichen Reich gehören, ist nicht irdische Herrschaft und Macht, sondern Elend und Armut auf Erden.132 Mit einem geschichtlichen Beispiel versucht Luther das gleichzeitige Widereinander der beiden Reiche deutlich zu
128 238, 16-29. 129 Wie in der Obrigkeitsschrift WA 11, 247, 21ff. Ein sachlicher Unterschied in der Argumentation ist damit jedoch nicht gegeben. 130 Vgl. über die Göttlichkeit der Ordnungen F. Lau, „Äußerliche Ordnung", Göttingen 1933, 12ff. und die dort aufgeführten zahlreichen Belege aus Luthers Werken. 131 In seinen verschiedenen Psalmauslegungen nach 1530 betont Luther den schöpfungstheologischen Aspekt im Zusammenhang mit den zwei Reichen besonders stark, z.B. in Ps 1 und 82. Damit kommt das Positive der Erhaltung Gottes im weltlichen Regiment gegenüber der Eindämmungsordnung gegen die Sünde (Obrigkeitsschrift) stärker zum Ausdruck. E. Kinder hat auf denselben Tatbestand in seiner Arbeit über die weltliche Obrigkeit im 4. Gebot aufmerksam gemacht: „Wenn Luther die .weltliche Obrigkeit' auch sonst meist negativ als,Anti-Sünden-Ordnung' begründet, als Anordnung Gottes, die den zerstörerischen Ausweitungen der Sünde von außen her entgegen wirkt, um die Menschheit trotz der Sünde zu bewahren, so liegt doch eben darin im Grunde das Positive der Erhaltung überhaupt! Gottes .weltliches Regiment' ist [...] Gottes unter der Sünde der Menschen weitergehendes Schöpferhandeln mit ihnen" (E. Kinder, Luthers Ableitung der geistlichen und weltlichen .Obrigkeit' aus dem 4. Gebot. In: Reich Gottes und Welt [Anm. 10], 227). 132 238, 30-32.
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machen, indem er die Regierung des Kaisers Nero dem Wirken Christi durch die Apostel Petrus und Paulus in Rom gegenüberstellt133. Dabei ist allerdings die Art und Weise dieses Gegenübers zu beachten: hier Herrschaft und Macht in der Welt ohne Gotteswort - und doch nicht aus der Wirklichkeit Gottes als Schöpfer und Erhalter entlassen - , dort völlige Ohnmacht und irdisches Scheitern bis zum gewaltsamen Tod. Der dynamische Kampf und die apokalyptisch-eschatologische Perspektive, die Luthers Unterscheidung der beiden Reiche seit den frühen zwanziger Jahren insgesamt charakterisiert,134 kommt in dieser Psalmauslegung aus der Mitte der dreißiger Jahre nicht weniger deutlich zum Ausdruck: „Noch waren zur selben zeit beide Reich zu Rom, Eines regirt der Keiser Nero wider Christum, Das ander Christus durch seine Apostelen Petrum und Paulum wider den teuffei. Und zu warzeichen, das Sanct Petrus und Paulus nicht zu Rom im Reich regirten, ward der eine gecreutziget, der ander geköpfft. Nu ist das ja kein regiment anfahen auff erden sich lassen creutzigen und köpffen. Widerumb zu warzeichen, das Nero nicht regirte im Reich Christi, lies er als ein feind solchs Reichs die ubersten Fürsten des selben Reichs, Sanct Peter und Paulen hin richten, als werens seines weltlichen reichs feinde." 135 Dieses, schon für sich selbst sprechende Zeugnis für die Verschiedenheit der beiden Reiche, wie es Schöpfungswirklichkeit und geschichtliche Erfahrung anzeigen, wird freilich erst vollends klar durch das Wort Christi. Mit Lk 22,25f. und Mt 8,20 stellt Luther die irdische Ohnmacht und Schutzlosigkeit Christi und der ihm Nachfolgenden heraus.136 Der wesentliche Unterschied zwischen dem Reich Christi und dem weltlichen Regiment besteht in der Unabhängigkeit von allen innerweltlichen Sicherungen sowie in der Unver133 238, 34-239, 7. 134 Zu der theologischen Kritik an dem angeblichen Mangel an eschatologischer Spannung in Luthers Zweireichelehre haben schon F. Lau, Luthers Lehre, und P. Althaus, Luthers Lehre von den beiden Reichen im Feuer der Kritik. In: Reich Gottes und Welt (Anm. 10), 120ff., das Nötige gesagt, d.h. vor allem aus den Quellen diese Kritik zurückgewiesen. Man wird aber auch im Anschluß an diese älteren Arbeiten die eschatologische Dimension in Luthers Zweireichelehre noch viel stärker und vor allem im Kontext seines ganzen sog. reformatorischen Wirkens betonen müssen, vgl. H.A. Oberman, Martin Luther - Vorläufer der Reformation. In: Verifikationen. Festschrift für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag, hg. von E. Jüngel, J. Wallmann und W. Werbeck, Tübingen 1982, 91-119. 135 238, 38-239, 7. Der hier anklingende (aber nicht mehr!) augustinische Dualismus zeigt an, wie stark Luther auch in dieser Zeit das apokalyptisch-eschatologische Motiv in seiner Unterscheidung der beiden Reiche betont. Die erhebliche Distanz Luthers zu Augustins Weltdeutung wird aus dem vorangehenden Abschnitt über das weltliche Regiment wie aus der ganzen Schrift deutlich. Vgl. zu Augustin und Luther im Zusammenhang der Zweireichelehre E. Kinder, Gottesreich und Weltreich bei Augustin und Luther [...]. In: Reich Gottes und Welt (Anm. 10), 40-69; H. Bornkamm, Luthers Lehre von den zwei Reichen. In: ebd., 165-195: 179ff. 136 239, 8-21.
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gänglichkeit auf der einen und in der Gebundenheit an die irdischen Lebensgesetze und ihre Vergänglichkeit auf der anderen Seite. Somit legt Luther mit diesem neutestamentlichen Zeugnis den Akzent auf die eschatologische Dimension des Reiches Christi auf Erden, die auch schon durch das geschichtliche Beispiel betont wurde. Am Schluß seiner wiederholten Herausstellung des Unterschiedes der beiden Reiche bringt sich Luther selbst ins Spiel, indem er sein immer wieder neu notwendig werdendes, unentwegtes Festhalten an dieser einmal erkannten Wahrheit als einen Kampf mit dem Satan versteht. Denn der Satan ist es, der die beiden Reiche durcheinandermischt und damit Chaos in Gottes Schöpfung bringt. Wie sehr Luthers Eintreten für die Unterscheidung der beiden Reiche mit seinem Selbstverständnis als Prediger des wiederentdeckten Evangeliums zusammenhängt, dessen Ausbreitung der Satan verhindern will, macht dieser Grundzug in Luthers Denken und Wirken deutlich.137 Es ist auffallend, wie stark er sich gerade auch in diesem „Regentenspiegel" ausdrückt. In einer Zeit, in der die Kirchenvisitationen und das landesherrliche Kirchenregiment schon eine geschichtliche Wirklichkeit für die reformatorische Bewegung waren, ist offenbar der eschatologische Horizont in Luthers Kampf für eine rechte Unterscheidung der beiden Regimente nicht verblaßt.138 Auch die konkrete Auswirkung dieses Kampfes für die regierenden Herren in der klaren Anweisung der Zuständigkeiten im geistlichen und weltlichen Regiment hat nichts von ihrer Schärfe eingebüßt. So sehr Luther sich schon bei Kurfürst Johann und jetzt bei seinem Sohn Johann Friedrich für die Visitationen einsetzte139 und die Regenten damit bei ihrem Herrschaftsauftrag behaftete, nicht nur Ordnung im weltlichen, sondern auch im geistlichen Regiment herbeizuführen, so sehr geht es ihm auch jetzt nach wie vor um den Kampf gegen die satanische Vermischung der beiden Regimente: „Ich mus jmer solch unterscheid diser zweier Reich ein blewen und ein kewen, ein treiben und ein keilen, obs wol so offt, das verdrieslich ist, geschrieben und gesagt ist. Denn der leidige teuffei höret auch nicht auff diese zwey Reich jnn einander zu kochen und zu brewen. Die weltlichen herrn 137 Schon in der Obrigkeitsschrift begegnet der Gedanke, daß die Mischung der beiden Regimente das Werk des Teufels ist (WA 11, 270, 3f.). In dieser Psalmauslegung wird der Kampf des Satans gegen Gottes Wundermänner und das geistliche und weltliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten immer wieder hervorgehoben, z.B. 211, 6f.; 245, 5-10. 138 Darauf macht besonders auch H.A. Oberman aufmerksam, Martin Luther - Vorläufer der Reformation (Anm. 134), 11 Iff. 139 Zur Vorgeschichte und Geschichte des landesherrl. Kirchenregiments s. die Arbeiten von H.W. Krumwiede (Anm. 120) und H. Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens, Göttingen 1979, 4 2 5 ^ 4 2 , sowie I. Höß, The Lutheran Church of the Reformation: Problems of its Formation and Organization in the Middle and North German Territories. In: The Social History of the Reformation, hg. von L.P. Buch und J.W. Zophy, Columbus, Ohio 1972, 317-339.
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wollen ins teufeis namen jmer Christum leren und meistern, wie er seine kirche und geistlich Regiment sol fuhren. So wollen die falschen Pfaffen und Rottengeister nicht jnn Gottes namen jmer leren und meistern, wie man solle das weltliche Regiment ordenen, Und ist also der Teuffei zu beiden Seiten fast sehr unmüssig und hat viel zu thun. Gott wolt jm weren, Amen, so wirs werd sind."140 Wie verhält sich jedoch diese grundsätzliche Reflexion über den Unterschied der beiden Reiche bzw. Regimente zu dem Zeugnis des Psalms und Luthers Auslegung? Liegt nicht gerade hier, in der Person und dem Wirken Davids, das geistliche und weltliche Regiment ineinander? Indem Luther diesen naheliegenden Einwand seiner Gegner direkt aufgreift und beantwortet, kommt das theologische Hauptmotiv in seinem Denken über die zwei Reiche, ihre Unterscheidung und Zuordnung, zum Ausdruck: die Achtung vor der Gottheit Gottes und der Gehorsam gegenüber dem 1. Gebot. Über aller gegliederten Ordnung in Gottes Schöpfung, in der das Herrschen und Gebieten der Erhaltung dieser Ordnung dient, gilt es, die einzige „Oberkeit" Gottes als des Schöpfers und Erlösers anzuerkennen, der gegenüber alle Menschen in allen Ständen als „Unterkeit" im Dienst und Gehorsam einander zugeordnet und verbunden sind: „Es mus ja alle vernunfft, auch wol ein kind von sieben jaren sagen, das Gebieten und Gehorsam sein sey zweierley, gleich wie auch Herrschen und Dienen zweierley sind. Denn das Eine heisst Oberkeit, das Ander mügen wir heissen Unterkeit. [...] Nu werden wir müssen Gott unsern herrn lassen sein die einige Oberkeit über alles, was geschaffen ist, Und wir alle gegen jm sein (wollen wir nicht mit lieb, so müssen wir mit leid) eitel unterkeit, da wird (Gott lob) nicht anders aus."141 Aus dieser, die Gottheit Gottes achtenden Grundunterscheidung zwischen Gott und Menschen als creator et creatura, die dem Unterschied zwischen den zwei Reichen bzw. Regimenten Gottes gedanklich vorausliegt, kann sich nur eine gemeinsame Perspektive ohne Rangstreit untereinander ergeben: Dank, Gehorsam und Dienst gegenüber Gott als dem Herrn über alle. Weder mengt sich ein Prediger in weltliche Herrschaft, wenn er in seinem Amt die Regenten zu Gottesfurcht und Achtung seiner Gebote auffordert. Denn „das gantz geistlich Regiment (ist) nichts anders denn ein dienst gegen der Gottlichen Oberkeit [...]" 142 . Noch greift ein Fürst in die Autorität des Wortes Gottes eigenmächtig ein, wenn er zur Gottesfurcht und zum Hören dieses Wortes aufruft. Denn er ist, „nicht ein herr des selben worts, Sondern ein Diener" 143 . Die an die Adelsschrift erinnernde Herausstellung der Gemeinschaft aller an Gott Glaubenden und ihm Dienenden,144 die den Unterschied zwischen Kle140 141 142 143 144
239, 239, 240, 240, WA
22-30. 39-240, 4. lOf. 15. 6, 407, lOff.; 408, 8ff.
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rikern und Laien, zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt in der Christenheit hinter sich gelassen hat, unterstreicht Luther hier noch einmal mit deutlichen und bildhaften Worten: „Denn gegen Gott und im dienst seiner Oberkeit sol alles gleich und gemenget sein, es heisse geistlich oder weltlich, der Bapst so wol als der Keiser, der herr als der knecht, Und gilt hie kein unterscheid noch ansehen der person. Einer ist für Gott so gut als der ander. [...] Darumb sollen sie alle jnn gleichem gehorsam und gar jnn einander gemenget sein wie ein kuche und alle einer dem andern helffen gehorsam sein."145 Solcher gemeinsame und einander zugeordnete Dienst kann niemals zum Aufruhr führen. Aber das eigenmächtige Herrschen und Gebieten zerstört immer erneut die Ordnung in Gottes Schöpfung. 146 Aus dieser Ursünde kommt das Ineinanderwerfen des geistlichen und weltlichen Regiments: „Wenn die hohen geister oder nase weisen gebietlicher und herrlicher weise wollen das weltlich Recht endern und meistern, so sie desselben keinen befelh noch Oberkeit haben weder von Gott noch von menschen. Also auch wenn geistliche oder weltliche Fürsten und herrn gebietlicher, herrlicher weise wollen Gottes wort endern und meistern, selbs heissen, was man leren und predigen solle, so jnen das eben so wol verboten ist als dem geringsten bettler."147 Gerade diese zweite Art der Vermischung der beiden Regimente durch fürstliche Selbstherrlichkeit hat Luther in seinem „Regentenspiegel" besonders im Blick. Denn die Gefahr des Herrschens über das Wort Gottes und des Gebietens gegen seine ausdrücklichen Weisungen betrifft nicht nur die altgläubige, sondern auch die sich zur Reformation bekennende Obrigkeit. Die Wunderleute Gottes unter den Regenten sind zu allen Zeiten selten,148 auch in der eigenen Gegenwart und erst recht in der Zukunft. 149 Als grundsätzliche Warnung vor einer solchen Verkehrung des Regiments spricht Luther anhand seines Beispiels David von der Möglichkeit der Bevormundung des Wortes Gottes durch die weltliche Obrigkeit.150 Dies ist bei einer durch das Evangelium wieder zu ihrem eigenen Recht gekommenen Obrigkeit jedoch schon gefahrvolle Wirklichkeit: „Es ist die weit ein distel kopff, wo man den selben hin keret, so reckt er die Stachel über sich. Ehe denn unser Euangelion kam, wüste niemand von der Oberkeit (wie sie ein guter stand were) zu pre-
145 146 147 148 149
240, 17-23. 240, 23-26; 39-241, 3. 240, 28-34. Vgl. 217, 19-31. Vgl. die Vorrede zur Auslegung des 82. Psalms (WA 31 I, 189, 21-190, 36, bes. 1023) und die Predigt am 23. Sonntag n.Tr. vom 4. November 1537 (WA 45, 254, 31ff.). - Zur Aufnahme der Vorhersagen Luthers über das „Kaiserliche Papsttum" im älteren Luthertum s. die Untersuchung von M. Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte, AGP 10, Witten 1971, 53-57. 150 2 4 1 , 2 1 - 2 8 .
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digen. Nu si durchs Euangelion gepreiset und erhöhet ist, wil sie auch über Gott und sein wort sein und gebieten, was man predigen und gleuben sol. Widerumb strafft man sie, So sol es auffrur heissen."151 So ist die Wirklichkeit der Welt, in der die Vermischung der beiden Regimente niemals aufhören wird bis zum Jüngsten Tag. Und dennoch beschließt Luther diese grundsätzliche Reflexion mit der Gewißheit, an der einmal erkannten Wahrheit festzuhalten und in der Zuversicht: „Gott wird doch solchs gemenge nicht leiden [,..]." 152 Bevor die Psalmauslegung im Anschluß an Vers 5 mit der ersten Tugend Davids im weltlichen Reich fortfährt, kommt Luther eigens auf die allgemeine Bedeutung des weltlichen Regimentes in der Geschichte Gottes mit den Menschen zu sprechen.153 Nach der Hervorhebung des Unterschiedes zwischen geistlichem und weltlichem Regiment wird nun deutlich, daß solche Unterscheidung nicht zu einer Trennung des Geistlichen und Weltlichen in der geschichtlichen Wirklichkeit führen kann. Denn es ist die eine, nicht in zwei Bereiche aufzuteilende Wirklichkeit, in der Gott auf eine zweifache Art und Weise handelt: im geistlichen Regiment durch das gepredigte Wort und im weltlichen Regiment durch die Ordnungen im menschlichen Gemeinschaftsleben. 154 So sehr Luther den Unterschied in diesem Doppelaspekt immer wieder betont, so sehr geht es ihm doch stets um die göttliche Wirksamkeit in beiden Regimenten. Luthers Zweireichelehre ist insgesamt so konzipiert, „daß das weltliche Reich zu seinem Bestand eigentlich keine Christen braucht, weder unter den Oberherren noch unter den Untertanen" 155 . Aber damit sind die im weltlichen Regiment zusammengefaßten Ordnungen in der Welt nicht sich selbst überlassen, oder auch nur aus der Perspektive des christlichen Glaubens entrückt, vielmehr ist Gott als der Herr der Geschichte auch hier der entscheidend Handelnde, ohne dessen Wirken die Welt ins Chaos stürzen müßte. Daß das weltliche Regiment für Luther göttliche Wirksamkeit ist, kommt in dieser Schrift über den 101. Psalm besonders deutlich zum Ausdruck. Das ist auffallend. Denn daß gerade in dieser Psalmauslegung so ausführlich darüber gehandelt wird, legt sich weder vom Wortlaut des Psalms noch von der Grundintention in Luthers Auslegung nahe: das Regiment eines gottesfürch-
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246, 3-8. 241, 29. 241, 31-245, 12. Die zwei Grundaspekte des geistlichen und weltlichen Regiments Gottes in einer und derselben Wirklichkeit im Gesamtrahmen von Luthers theologischem Denken hat m.E. immer noch am klarsten G. Törnvall, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther, München 1947, 117ff., herausgearbeitet. Auch seine Auseinandersetzung mit Troeltschs Lutherdeutung hat nach wie vor Aktualität. 155 F. Lau, Luthers Lehre, Berlin 1952, 59.
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tigen Regenten am Beispiel Davids ausführlich darzustellen. Aber diese Darstellung ist offenbar nicht so angelegt, daß die Herrschaft eines christlichfrommen Regenten nur in den engen Grenzen eines konfessionell abgeschlossenen Landeskirchentums denkbar wäre.156 Vielmehr rückt Luther das Regiment der Heiden, ihre Vernunft, Klugheit und Erfahrung in der Welt in ein so positives Licht, daß gerade ein christlicher Fürst in der Regelung der weltlichen Angelegenheiten nicht wenig von ihnen lernen kann: „Denn Gott ist ein milder, reicher herr, der wirfft gros Gold, Silber, Reichtum, Herrschafften, Königreiche unter die Gottlosen, als were es sprew oder sand. Also wirfft er auch unter sie hohe vernunfft, Weisheit, sprachen, Redekunst, das seine lieben Christen lauter kinder, narren und bettler gegen sie anzusehen sind. Darumb wer im weltlichen Regiment wil lernen und klug werden, der mag die Heidnischen bücher und schrifften lesen."157 Luthers Achtung vor der heidnischen Weisheit, wie er sie besonders im vorchristlichen Rom vorfindet, 158 trägt nicht die Spur einer christlichen Abwertung der Welt an sich. Weil das weltliche Regiment eines christlich-gottesfürchtigen Regenten mit derselben Weltwirklichkeit zu tun hat, in der auch das Regiment der Heiden stattfindet, geht es hier wie dort um die Ordnung und Erhaltung der gemeinsamen Lebensgrundlagen. Dazu bedarf es der allgemeinmenschlichen Vernunft, der Gott als Herr der Welt und Geschichte das weltliche Regiment übergeben hat. Denn hier geht es um zeitliche und leibliche Güter, nicht um das ewige Heil der Seelen. Doch vor dieser bekannten Unterscheidung hebt Luther einen Gesichtspunkt hervor,159 bei dem das weltliche Regiment mit dem geistlichen Regiment Gottes sehr eng zusammen gesehen wird. Das göttliche Handeln im weltlichen Regiment, das sich der menschlichen Vernunft bedient, läßt dieses zu einem Vorbild der ewigen Seligkeit und des Reiches Gottes werden: „Denn Gott wil der weit Regiment lassen sein ein furbild der rechten Seligkeit und seines himelreichs gleich wie ein gauckel spiel oder larven, Darin er auch seine grossen Heiligen lauffen lesst, einen besser denn den andern, aber David am aller besten." 160 Die Geschichtsanschauung im Zusammenhang der Wunderleute Gottes, die sich hier wieder zeigt, bringt den Ganzheitsge156 In diese Perspektive rückt Luthers Auslegung des 101. Psalms im älteren Luthertum fast durchgängig. 157 242, 15-19; 36f. 158 Luther stellt das kaiserliche Recht dem geistlichen Recht gegenüber und übt scharfe Kritik an ihm, 242, 20-35. 159 Der Vorrang des Ganzheitsgesichtspunktes im Wirken Gottes vor dem Unterscheidungsgesichtspunkt bei der Übertragung des weltlichen Regiments an die menschliche Vernunft kommt auch durch das überleitende „Zwar" zum Ausdruck: „Zwar so hat Gott das weltlich Regiment der vernunfft unter worffen und befolhen, weil es nicht der seelen heil noch ewiges gut, sondern allein leiblich und zeitlich guter regieren sol, welche dem menschen Got unterwirfft" (242, 1-4). 160 241, 39-42.
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sichtspunkt zwischen weltlichem und geistlichem Regiment Gottes deutlich zum Ausdruck. Auch im weltlichen Regiment geht es um eine benedictio oder sanctitas, in der Gott seine Propheten, Apostel und Prediger hat.161 Ohne den qualitativen Unterschied zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit in der Zielrichtung des weltlichen und geistlichen Regimentes zu verwischen, ist das weltliche Regiment kein „Vorhof' für das „eigentliche" Wirken Gottes in seinem geistlichen Regiment. Eine solche Vor- oder Nachordnung beider Regimente liegt Luthers Denken fern. In beiden Regimenten bedarf es vielmehr der Wunderleute Gottes, in denen Gott selbst tätig ist, so daß sie sich nicht der eigenen Kraft, sondern nur der Gabe Gottes rühmen können.162 So können die heidnischen Helden auf dem politischen und geistigen Feld: Herkules, Alexander, Augustus oder Homer, Cicero und Äsop neben den frommen König David treten. Neben seinem weltlichen Regiment stehen die „Weltregenten" und „Weltweisen", die in dem Regentenspiegel nicht weniger zu ihrem Recht kommen, weil sich auch an ihnen Gottes Wirken in der einen Weltwirklichkeit bekundet. Auch sie sind von Gott in besonderer Weise inspiriert, ohne es jedoch zu wissen, so daß sich eine Strukturähnlichkeit der Wirksamkeit Gottes in seinem heiligen Volk und bei den heidnischen Völkern erkennen läßt: „Denn gleich wie Gott jnn seinem heiligen volck nicht alle gleich Propheten oder gelert macht noch gleich hoch begabt, So hat er auch unter den Heiden die edle steine nicht so gemein gemacht wie die kiesling auff der gassen, Sondern jnen auch selten einen feinen Held gegeben, wie er noch jmer fort also thut."163 Ist somit das weltliche Regiment aller in der Welt tätigen und Verantwortung tragenden Menschen in seiner Ganzheit herausgestellt, so rückt das weltliche Regiment der christlichen Fürsten dennoch in eine besondere Perspektive. Denn da sie zugleich Gott dienen und die Menschen regieren müssen, ist ihnen der Satan mehr als den heidnischen Regenten feind. Gottes Kraft muß darum ganz besonders in ihnen wirksam sein. Das eigentlich Cha-
161 „Und ist mein gedancken, das Gott darumb gegeben und erhalten habe solche Heidnische bücher als der Poeten und Historien, Wie Homerum, Virgilium, Demosthenem, Livium Und hernach die alten feinen Juristen [...], das die Heiden und Gottlosen auch haben solten jre Propheten, Aposteln und Theologen oder Prediger zum weltlichen Regiment" (242, 40-243, 3). Ohne auf Luthers Auslegung des 101. Psalms hierbei einzugehen, stellt G. Tömvall fest: „Es kann [...] nicht genug beachtet werden, was es für Luther bedeutet, daß geistliche und weltliche Macht zwei benedictiones oder sanctitates sind. Dies bedeutet, daß die beiden Regimente in erster Linie nicht in soziologischer Bedeutung gefaßt werden dürfen. Sie sind nicht zwei soziologische Funktionen einer höheren Einheit, sondern sie sind von einer religiösen Grundanschauung aus geprägt." „Die weltliche Ordnung hat [...] für Luther eo ipso religiösethischen Inhalt" (Anm. 154, 134). 162 244, 16-19. 163 244, 10-14. Luther übersieht bei diesen „Helden" ihre Sünden und Laster nicht, wovon aber auch die „Heiligen Gottes" nicht verschont sind (243, 26-28).
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rakteristische an dieser Argumentation Luthers ist aber nicht die größere Feindschaft des Satans gegenüber dem geistlichen und weltlichen Regiment eines christlich-gottesfürchtigen Regenten, sondern die satanische Gegenmacht gegen alle weltliche Ordnung überhaupt. Damit kommt noch einmal das weltliche Regiment insgesamt als Ordnung Gottes und göttliche Wirksamkeit zum Ausdruck: „Denn wie wol der Teufel auch der Heiden weltlich regiment feind und wider ist, So hasset er doch viel grewlicher der Heiligen Gottes regiment auff erden. [...] Und er lesst auch nimer mehr davon bis an den Jüngsten tag, da er ein mal auffhören mus."164 Erst nach diesem Aufweis des weltlichen Regimentes als göttliche Schöpfungswirklichkeit bringt Luther seine Kritik an einigen zentralen Lastern am Hof zum Ausdruck. An erster Stelle steht hier das heimliche Verleumden, das „furnemest laster und ubel zu Hofe" 165 , dessen Bekämpfung auch Davids erste Tat im weltlichen Regiment ist. Unter Anspielung auf die zeitgenössische satirische Dichtung166 und die antike griechische Literatur und Sage167 zeichnet Luther ein plastisch-humorvolles Bild von Herrschern und Hofbeamten, die den Schmeichlern und Verleumdern zum Opfer gefallen sind. Dabei kommt ihm auch die eigene Versuchung und Erfahrung zu Hilfe, denn die falsche Zunge als das Kampfmittel der Verleumder gibt es im geistlichen wie im weltlichen Regiment: „Denn ich sehe, das im weltlichen regiment auch Ketzer und Rotten geister sind, die nicht mit dem schwert (denn da sind sie viel zu verzagt), sondern mit der zungen fechten und kriegen." 168 Das „schone Ketzlin, genant Adulatio, gemalet zu Hofe, das den Fürsten und Herrn auff dem maule trumpelt"169, beschreibt Luther sowohl mit Hilfe der heidnischen Dichter wie mit biblischen Beispielen, vor allem mit dem Königtum Davids selbst. Auch David ist in seinem weltlichen Regiment von diesem Hauptlaster am Hof betroffen, weil alles Regieren in der Welt nichts anderes sein kann als das Flicken eines brüchigen, immer wieder aufreißen-
164 245,5-10. 165 247, 18. 166 „Der schändliche Niemand hats getan", 246, 23f. Die schalkhafte, neu belebte Gestalt des „Niemand", die auf den Homerischen Ούτίς zurückgeht, begegnet bei verschiedenen Schriftstellern der Zeit. Am bekanntesten ist Ulrich von Huttens Schrift „Nemo", 1518. 167 Zu 246, 30-247, 8. Momus, der personifizierte Tadel. Die hier gemeinte Erzählung steht bei dem griechischen Schriftsteller Lucian (2. Jh. p.Chr.), in der Schrift Hermotimos 20. Zu 248, 6-22: Herkules, der der Heiden David gewesen ist, d.h. ein Wundermann, der aber auch wie David seine Schwächen zeigt: der spinnende Herkules im Weiberrock, von dem Lucian „Wie man Geschichte schreiben soll" solche alte Abbildungen erwähnt, bei denen Herkules von der Omphale, Königin in Lydien, mit dem Pantoffel geschlagen wird (Pantoffelheld!). 168 247, 33-35. 169 248, 23f.
Luthers Hofkritik
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den Pelzes.170 Nicht eine höhere moralische Qualität zeichnet das weltliche Regiment Davids gegenüber anderen weltlichen Regimenten aus, sondern das Wissen um den von der Sünde beherrschten, krankhaften Zustand aller Formen menschlichen Zusammenlebens. In dieser nüchternen, illusionslosen Wirklichkeitswahrnehmung tut David das Seine, d.h. er bekämpft dort, wo er es sieht und kann, das offenkundig gewordene Übel der Verleumdung. Damit gibt er ein Beispiel für alle Regenten, das nicht seine eigene Stärke zeigt, sondern den von Gott getriebenen, hohen Mut, geht es doch besonders um die Verleumder in den höchsten Ämtern.171 Die zerstörerische Kraft der Verleumdung kommt aus seiner Wurzel, dem Neid, so daß Luther in dem Hofjunker „Neidhart" nicht ein einzelnes Laster beschreibt, sondern alle aus der menschlichen Ursünde der Selbstsucht entstehenden Folgen, „den gantzen bäum mit allen seinen esten und früchten" 172 . Einen eigenen Abschnitt in der Beschreibung des weltlichen Regimentes Davids - im Anschluß an Vers 5b - widmet Luther dem Stolz und Hochmut in den Regimenten. Sogleich nimmt er die sozialen Auswirkungen dieser Herrscherwillkür in den Blick. Die persönliche Eitelkeit ist zwar gerade auch in den höheren Ständen ein weitverbreitetes Übel, doch der Hochmut im Herrscheramt betrifft sofort die Untertanen, die unter solcher Tyrannei zu leiden haben. Am Beispiel Davids gilt es zu sehen, daß Fürst und Hofbeamte sich von selbstüberhebender Willkür fernhalten und die Demut als eine Wundertat Gottes erkannt wird. Wie sehr Luther das weltliche Regiment von personalen Beziehungen bestimmt sieht, macht ein Vergleich mit dem Hausoder Ehestand deutlich: „Es ist das weltlich Regiment gleich wie ein haus regiment oder Ehestand. Da findet man vierley unterscheid: Die erst, das sie sich beide, man und weib, lieb haben. Die ander, das sie beide ein ander feind sind. Die dritte, das der man sein weib lieb hat, und sie jm feind ist. Die Vierde, das die fraw den man liebt, und er ist jr gram." 173 Das Bild zweier aufeinander angewiesenen Menschen, die nur in gegenseitiger Liebe für- und miteinander bestehen können, bringt in seiner Übertragung auf das Verhältnis zwischen Fürst und Land die Kritik an der tyrannischen Willkür im weltlichen Regiment besonders deutlich zum Ausdruck. Für alle vier Versionen gibt Luther geschichtliche Beispiele, denn dieser Vergleich zielt auf die Beurteilung der geschichtlichen Wirklichkeit, die in der ersten Form die best-
170 „Wer einen bösen Peltz hat, der wird nicht alle locher zu pletzen, viel weniger allen newen locher wehren können. Es bleibt wol dabey, Wo ein ungesunder leib ist, das daselbs auch blättern, eiter und ander unflat auch sey. Regiment aber ist ein solcher bettler peltz und blatterichtes kind, das die bockein und masern hat. Darumb müssen drinnen etliche frome Joseph, Naeman, Nathan, Zadoch sein, die es bey dem leben und wesen erhalten, das nicht gar zu grund gehe" (249, 29-35). 171 2 5 0 , 9 - 1 5 . 172 250, 17f. 173 252, 15-19.
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mögliche und in der zweiten die schlechteste ist. Für Luthers Verständnis des weltlichen Regimentes ist aber erst die dritte und vierte Version besonders aufschlußreich. Denn hier greift er nicht nur auf die römischen Kaiser zurück, sondern zur Beschreibung des ungleichen Verhältnisses zwischen einem liebenden Fürsten und einem verstockten Land bzw. zwischen einem bösen Herrn und einem treuen Land wird auf die Wirklichkeit von Gottes eigenem Regiment und auf die unter einer tyrannischen Herrschaft leidenden Kinder Gottes verwiesen.174 Wenn auch der Fürst in seiner liebenden Fürsorge bei den Menschen keine Gegenliebe findet, so soll er dennoch darin nicht nachlassen, denn in Gottes werbender Liebe um sein Volk hat er ein Gleichnis für den Langmut des Herrn aller Herren und den endlichen Sieg der Gerechten. Nach der ersten ist diese dritte Form des Verhältnisses zwischen Fürst und Volk für Luther die allerbeste. Das weltliche Regiment rückt in dieser personalen Beziehungsperspektive wiederum ganz nahe an das Geschichtshandeln Gottes. In der vierten Version sieht Luther vor allem den übermütigen Spott einer päpstlichen bzw. bischöflichen Obrigkeit über fromme Untertanen abgebildet. Der Kampf gegen die Tyrannei im weltlichen Regiment bezieht sich insbesondere auch auf die Hofbeamten. Mit Hinweisen auf Römer 13 und das Magnifikat hebt Luther noch einmal den Dienstcharakter gegenüber Gott in allem obrigkeitlichen Handeln hervor und bekräftigt seine kritische Unterscheidung zwischen Amt und Person aus der Schrift über die weltliche Obrigkeit von 1523: „Göttlich und recht sind die ampt, beide der Fürsten und Amptleute, Aber des Teufels sind sie gemeiniglich, die drinnen sind und brauchen. Und ist ein Fürst wilpret im himel, so werden freilich auch die Amptleute oder Hofegesinde viel mehr wilpret drinnen sein."175 Wo aber finden sich die gerechten und treuen Diener, ohne die das weltliche Regiment eines gottesfürchtigen Regenten nicht bestehen kann? Im Anschluß an Vers 6 spricht Luther wieder besonders in die Situation am kursächsischen Hof Johann Friedrichs hinein. Seine Kritik am Müßiggang der adligen Hofbeamten erinnert an das Laster des Faulwitzes, das nun in der Perspektive des weltlichen Regimentes die mühevolle Arbeit in den Regierungsgeschäften bedroht. Denn anstatt sich diesen zu widmen, ist der Adel am Hof nur ailzu leicht geneigt, sich einem schwelgerischen Leben hinzugeben: „Ja, die Hof ehre, wirde, gewalt und hohe wolten sie wol gern haben, Aber die Hofe mühe und erbeit wollen sie nicht mit einem finger anrüren. [...] Die Regiment wollen nicht auff dem polster ligen und rügen oder hinder dem ofen sitzen wie ein faulfressiger, schlefferiger rüde. Sie wollen geerbeitet haben. [...] Denn Hofe gaul und Hofe maul ist gut zu sein, Aber Hof esel zu sein, ist mühe und erbeit, unlust und uberdrus. Gleich wol wo Hof Esel 174 2 5 2 , 3 1 - 2 5 3 , 19. 175 254, 10-13.
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thet, so wurde Hofe gaul und Hofe maul nicht so uberflüssig fressen, sauffen, müssig gehen und spielen."176 Die Wurzel für dieses ausschweifende, für die eigentlichen Regierungsaufgaben untaugliche Verhalten vieler Hofbeamten sieht Luther in der Erziehung der jungen Adligen.177 Mit seiner kritischen Mahnung, den Adel von früh an durch gelehrte Studien auf die Regierungsarbeit vorzubereiten, setzt er einen Maßstab für das Leben und Wirken am Hof, auf den sich viele spätere Hofprediger berufen. 178 Die Thematik der Diener im Regiment Davids gibt Luther aber nicht nur Anlaß zur Kritik an ungelehrten adligen Hofbeamten, sondern hier zeigt sich auch sehr deutlich sein Traditionsbewußtsein in der Bewertung der politischen Angelegenheiten. Die Hoffnung auf eine Verbesserung des weltlichen Regimentes durch eine Auswechslung von Personen anderen Standes bedeutet eine trügerische Hoffnung, da Ändern und Bessern stets zweierlei sind. „Eines steht jnn der menschen hende und Gottes verhengen, Das ander jnn Gottes henden und gnaden."179 Luthers tiefe Abneigung vor „Änderungen der Regimente" gründet in seinem Vertrauen auf das freie, die Welt erhaltende Geschichtshandeln Gottes. Nicht durch die Vorzüge eines besonderen Standes oder die Reformpläne der „Meister Klüglinge" kann das weltliche Regiment erhalten und verbessert werden, sondern nur durch geduldiges Ausbessern eines alten bösen Pelzes, das dem immer erneuten, nicht erlahmenden Heilen eines Kranken durch den Arzt entspricht. Daß aus solcher Sicht nicht Resignation für die Situation des weltlichen Regimentes folgt, macht Luthers ganze Psalmauslegung deutlich. Ja, er bekennt sogar mit nicht geringem Selbstbewußtsein: „Wie wol mich auch zu weilen dünckt, das die Regiment und Juristen wol auch eines Luthers dürfften. Aber ich besorge, Sie mochten einen Müntzer kriegen. Denn Gott achtet nicht so gros das weltliche Regiment als sein eigen ewiges der Kirchen Regiment, darumb ich nicht hoffen kan noch wil, das sie einen Luther kriegen werden." 180 Durch einen schwärmerischen Geist wie Thomas Müntzer, der durch Veränderung im weltlichen Regiment auf eine grundlegende Erneuerung hofft, wird gerade das stetige, konkrete Raten und Helfen unmöglich, auf das doch alle Regierungen angewiesen sind. Wenn Luther hervorhebt, daß Gott das weltliche Regiment nicht so hoch achtet wie das geistliche, dann ist doch die göttliche 176 256, 10-25. 177 „Ich hab wol offt meinen jamer gesehen, welch gar feine, wol geschaffene von leib und seele unter dem jungen Adel ist, wie die schönen jungen beumlin, Und weil kein Gartner da war, der sie zohe und verwaret, sind sie von Sewen zu wület und jnn jrem safft verlassen und verdorret. [...] Es ist aber jmer schade, das unter solchen Sewen solche feine menschen sollen zu tretten werden. Es schadet gleich wol dem gantzen Regiment, beide landen und leuten, wo die jugent verderbet wird" (256, 36-257, 4). 178 So z.B. Nikolaus Seinecker, Polykarp Leyser und Basilius Sattler. Vgl. mein Buch, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988. 179 258, 23f. 180 2 5 8 , 7 - 1 2 .
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Erhaltung der Regierungen und das Handeln Gottes an den regierenden Personen das allein Entscheidende in der Politik: „Darumb gibt er offt Weisheit und tugent einem eddel man, die er dreien Fürsten nicht gibt, Und einem Bürger, das er sechs eddel leuten nicht gibt." „Inn des mag das Regiment, der böse Peltz, ein plumps Regiment bleiben und (die Personat ungemenget) Gott befolhen lassen sein, welchen er wil erfur zihen und erheben."181 Mit Davids Kampf gegen die Lügner an seinem Hof (Vers 7) stellt Luther die alte deutsche Tugend von Treu und Glauben in den Regimenten heraus, die es zu erhalten und zu fördern gilt, weil nur auf dem Fundament des persönlichen Vertrauens und der Gültigkeit eines gegebenen Wortes ein Gemeinwesen erhalten werden kann. Aus eigener Erfahrung berichtet er von der Feindschaft und dem Zorn Friedrichs des Weisen und seines Bruders Johann gegenüber den Lügnern am kursächsischen Hof, 182 womit auch dem jetzt regierenden Kurfürsten Johann Friedrich der Weg einer auf Treu und Glauben beruhenden Politik eindeutig vorgegeben ist.183 Luther hebt damit die ältere deutsche und insbesondere die kursächsische Politik von einer durch die Grundsätze der Staatsräson bestimmten politischen Denkweise deutlich ab, die von Italien nun auch nach Deutschland einzudringen droht. Seine Kritik an den politischen Intrigen in „Welschland" und an der Kurie in Rom wirkt in der Folgezeit im Luthertum noch lange fort, wo es gilt, sich gegen die Herrschaftsansprüche des fürstlichen Absolutismus im Geist der Staatsräson zur Wehr zu setzen.184 Der letzte Vers des Psalms gibt Luther Anlaß, noch einmal die Grundintention seiner Ratschläge und Mahnungen für die Regierung eines gottesfürchtigen Regenten herauszustellen. Die Aufdeckung der Sünden der Herrschenden und der Laster am Hof will Luther nicht als Lasterkatalog verstanden wissen, dem mit einer moralischen Regimentstugendlehre begegnet werden könnte. In allem konkreten Eingehen auf die besonders am kursächsischen Hof drohenden Gefahren geht es Luther um die Totalität der Bedrohung des geistlichen und weltlichen Regiments durch Gottlose und Übeltäter, die David alle vertilgen will. Scharf stellt Luther diesen Kampf Davids heraus: „Summa, Alle, Alle, Alle Gottlosen [...], Alle ubertretter rotte ich aus. 181 255, 37-39; 257, 31-33. 182 259, 10-15. 183 Der weitere Fortgang seiner Politik im Schmalkaldischen Bund und die Katastrophe von 1547 zeigen ihn als einen Fürsten, der sich dieses Grundsatzes bewußt geblieben ist. Dagegen steht sein Vetter Moritz von Sachsen in der durch Machiavelli begründeten Politik der Staatsräson, vgl. H. Bornkamm, Kurfürst Moritz von Sachsen. Zwischen Reformation und Staatsräson. In: Das Jahrhundert der Reformation, Göttingen 1961, 225-242. 184 Hier sei vor allem auf die Regentenpredigt des Hofpredigers Joachim Lütkemann in der Mitte des 17. Jahrhunderts verwiesen, vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988, 291-314. Es ist zu vermuten, daß Luther mit dieser Kritik auch die verschiedenen Bündnispläne Landgraf Philipps von Hessen mit im Auge hat.
Davids geschichtliches Regiment
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Das ist, ich leide weder Gottlosen im geistlichen Regiment noch ubelthetter im weltlichen." 185 Dieser Kampf läßt keinen „frommen Rest" übrig, in allen Ständen ist die Sünde der Gottlosigkeit und der frevelhaften Tat gleichermaßen groß. Am Ende seiner Auslegung des 101. Psalms kommt die Hoffnung auf die neue Welt Gottes zum Ausdruck: „Aber unsers Herr Gotts rat ist der beste, das er gedenckt himel und erden jnn einen hauffen zu stossen und eine andere newe weit machen, denn diese weit taug nicht, der buben ist zu viel und der fromen zu wenig drinnen. Es wil und kan nirgent fort, wie auch das Vater unser uns leret beten."186 Mit diesem eschatologischen Gerichtsernst und in dieser nüchternen Weltbetrachtung stellt Luther nun auch den „hoffertigen, rhumrettigen" König David zur Rede.187 Wie verhält sich seine scharfe Anklage gegen falsche Lehrer und böse Regenten, die im Munde der Prediger als aufrührerisch gescholten und verdammt würde,188 zur geschichtlichen Wirklichkeit seiner eigenen Herrschaft? Die ganze Armseligkeit dieser von Ehebruch, Mord und Verrat bestimmten Regentschaft Davids hebt Luther am Schluß betont heraus, um noch einmal auf das Besondere dieses uneigentlichen „Regentenspiegels" aufmerksam zu machen: „Lieber David, kom nu daher und rühme uns dein schönes Regiment und lobe Gott dafür. Ist doch des unseligen Herodes regiment nicht viel erger anzusehen oder der Heiden jnn Griechen land."189 Nicht als moralisches Vorbild und Anleitung zu einer zu Erfolg und Sicherheit führenden Regimentsklugheitslehre ist dieser „Regentenspiegel" konzipiert, sondern als Hinweis auf die Gnade Gottes, unter der alle Regimente in der Welt stehen. An David und seinem Regiment ist in aller irdischen Schwachheit und Schuldhaftigkeit die Gnade Gottes in besonderer Weise wirksam geworden, denn David bekennt sich zu Gott als seinem Richter und gesteht seine Schuld ein. Anstelle des eigenen Rechtes und der Selbstverteidigung singt hier ein Herrscher ein Lob- und Danklied auf die Gnade Gottes, von der er alles in seinem geistlichen und weltlichen Regiment erwartet. Damit gibt David der Gottheit Gottes die Ehre und stellt sich unter das 1. Gebot, als dessen Umschreibung Luther den ganzen 101. Psalm versteht. Das Ernstnehmen des 1. Gebotes im Regiment führt weder in einen Moralismus noch in eine fatalistische Flucht aus der Welt, sondern in den Dienst in der Welt und in ein gutes Regiment, das freilich stets von Anfein-
185 260, 36-38. 186 261, 20-24; vgl. auch schon „Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien", 1519 (WA 2, [74] 80-130). 187 2 6 3 , 9 . 188 261, 29-31. Daß man diesen Kampf rechtzeitig führen müsse am Beginn eines Regiments, ist der vom 8. Vers gebotene Anlaß für Luther, darauf näher einzugehen (262, 12-263, 8). Man wird auch hier eine Anspielung auf das neue Regiment Johann Friedrichs annehmen können. 189 263, 24-26.
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Die Auslegung des 101. Psalms durch Martin Luther
düngen gefährdet ist: „Denn wer wol regirn wil oder sol, der wird den Teuffei zu gevattern haben müssen."190 So lenkt Luther an den Anfang seiner Auslegung zurück mit der Herausstellung, daß ein weltlicher Herrscher „in seligem Stande sein kann"191. In dieser Weltlichkeit der Welt, die hier vor der Gottheit Gottes steht und von ihr her ihre Rechtfertigung erfährt, kann aber nur so sinnvoll regiert werden, daß die offenkundigen Laster beim Namen genannt werden, auch wenn dies die Regierenden nur schwer ertragen. Mit aller Klarheit stellt Luther heraus: Es „hören warlich Konige und Herrn nicht gern, Hofgesinde viel ungerner, das man sie schilt und als die ungerechten und bösen strafft, weil solchs den ehren zu nahe scheinet"192. Darum rechnet er auch bei seiner ganzen Psalmauslegung damit, daß sie nur wenigen Leuten gefallen wird und viele Leute daran Anstoß nehmen werden. In der Wirkung seiner Auslegung des 101. Psalms hat sich Luther darin nicht getäuscht.193 Im Rückblick auf Luthers Auslegung des 101. Psalms stellt sich noch einmal die Frage, in welcher Beziehung sie zu seinen anderen Äußerungen über die Unterscheidung und Zuordnung des geistlichen und weltlichen Regiments steht. Wir greifen diese Frage anhand des kritischen Einwandes auf, den Luther selbst in seiner Schrift den Gegnern in den Mund legt: wie sich seine Unterscheidung der beiden Regimente mit dem Königspriestertum Davids und seiner Auslegung des 101. Psalms zusammenreime.194 Die Spannung zwischen dem Königspriestertum des Alten Testaments und seiner Regimentenlehre hat Luther deutlich empfunden. Darum hebt er im Mittelteil seiner Schrift auch so eindringlich auf den Unterschied der beiden Reiche und Regimente ab. Die Lösung dieser Schwierigkeit lag in der Einschärfung des 1. Gebotes und in der paradoxen Aussage, daß David tut, wie Gott geboten hat: „Da ist er nicht ein herr, sondern ein trewer diener seines Gottes, des ehre und herrschaft er untertheniglich sucht."195 Diese zentrale Aussage in der Schrift über den 101. Psalm steht in inhaltlicher Verbindung zu Luthers Vorrede zu Melanchthons „Unterricht der Visitatoren" von 1528.196 Danach soll der Kurfürst die Einsetzung der Visitatoren nicht in Ausübung weltlicher Herrschaftsbefugnisse, sondern als christlicher
190 264, 6f. 191 In Anlehnung an die Schrift von 1526: „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können?" (WA 19, [616] 623-662). 192 261, 35-37. 193 Am Hof Johann Friedrichs hat man offenbar sehr bald die vielen Anspielungen dieses „Regentenspiegels" erkannt und mit kritischer Distanz bedacht, s. die Einleitung WA 51, 197-199, 198. 194 239, 31-36. 195 241, 19f. 196 WA 26 (175) 195-201. Zur umstrittenen Vorreden-Interpretation und zu dem Verhältnis Vorrede - Instruktion s. H.-W. Krumwiede, Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments (Anm. 120), 91ff.
Die Unterscheidung der beiden Regimente und das Königspriestertum Davids
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Bruder aus einer allgemeinen christlichen Verantwortung vornehmen.197 In Liebe, nicht mit Zwang soll das Visitationswerk geschehen.198 Aber das schließt nicht aus, sondern gerade ein, daß die weltliche Obrigkeit schuldig ist, „darob zu halten, das nicht zwitracht, rotten und auffruhr sich unter den unterthanen erheben [,..]" 199 . Die Art und Weise der Unterscheidung und Zuordnung von Liebesamt und landesherrlicher Autorität in Luthers Vorrede zu Melanchthons Visitationsartikeln steht in Analogie zu dem Verhältnis von weltlichem und geistlichem Regiment Davids in seiner Auslegung des 101. Psalms. Schließlich sei auch noch einmal auf die Obrigkeitsschrift von 1523 hingewiesen. Daß Luther nach dem Hauptteil der Schrift, der die Grenzen der Macht weltlicher Obrigkeit absteckt, noch eigens in einem Fürstenspiegel aufzeigt, wie ein Fürst als Christ regieren kann, macht die Verbindung zur Auslegung des 101. Psalms deutlich. Alle vier Dimensionen, mit denen Luther im Fürstenspiegel von 1523 das Regiment eines christlichen Fürsten zusammenfaßt, sind in der Auslegung des 101. Psalms breit entfaltet.200 Allerdings nun in einer Weise, die die Gattung der Fürstenspiegel transzendiert. Das Regiment Davids, auf das Luther auch im 3. Teil seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit" hinweist,201 ist ihm in seiner Schrift über den 101. Psalm vor allem ein Beispiel für das Wirken Gottes in der Geschichte und für die rechte Unterscheidung und Zuordnung des geistlichen und weltlichen Regiments.
197 198 199 200 201
WA 26, 197, 20f. 26, 200, 14ff. 26, 200, 30f. WA 11,278, 18ff. 11,275, 13ff.
Christlicher Glaube und Weltverantwortung Martin Luthers Beziehungen zu seinen Landesherren
Christlicher Glaube und Weltverantwortung - das gehört bei Martin Luther untrennbar zusammen, und will doch zugleich in bestimmter Weise unterschieden sein. Um diese Zuordnung und Unterscheidung von christlichem Glauben und Verantwortung für die Welt, von Evangelium und Politik, von Kirche und weltlicher Obrigkeit bei Martin Luther soll es in den folgenden Ausführungen gehen, und zwar im engen Anschluß an die reformationsgeschichtlichen Ereignisse, vor allem im Rahmen von Luthers Beziehungen zu seinen Landesherren. 1 In diesen konkreten geschichtlichen Bezügen zwischen dem Theologen Martin Luther und den politischen Herrschern seiner Umgebung und seiner Zeit kommt das alte Generalthema des Verhältnisses von Evangelium und Welt, Religion und Politik in der Reformationszeit sehr anschaulich zum Ausdruck. Zu jeder Zeit hat dieses Verhältnis seine besondere Brisanz und Aktualität. Wie sehr es uns heute unter den Nägeln brennt, spüren Christen, die ihren christlichen Glauben in unserer Zeit ernst nehmen. Wir treffen mit diesem Thema auf einen zentralen Nerv unseres Christseins heute, aber es ist hilfreich, sich darüber Rechenschaft abzulegen, daß seit der Verkündigung Jesu und der Apostel durch die ganze Kirchengeschichte hindurch um dieses Problem stets schwer gerungen, gekämpft und gelitten wurde. Ein für allemal gültige Patentlösungen hat es hierfür niemals gegeben und kann es nicht geben. Dennoch will diese Grundfrage in den konkreten Situationen des christlichen Lebens beantwortet werden. Wir sind in dieser Herausforderung auf uns selbst gewiesen, auf unsere Wahrnehmungsfähig-
1
In der reformationsgeschichtlichen Forschung sind die Beziehungen Luthers zu seinen Landesherren nur selten ausführlicher dargestellt worden. Vgl. K. Aland, Martin Luther als Staatsbürger, Kirchengeschichtliche Entwürfe, Gütersloh 1960, 420-451; H. Kunst, Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater seiner Landesherren und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens, Stuttgart 2 1979; G. Wartenberg, Luthers Beziehungen zu den sächsischen Fürsten. In: Leben und Werk Martin Luthers von 1526-1546, hg. von H. Junghans, Bd. I, Berlin 1983, 549-572; G. Müller, Luther und die evangelischen Fürsten. In: Ders., Causa Reformationis, Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Martin Luthers, hg. von G. Maron und G. Seebass, Gütersloh 1989, 438-456.
Luther auf dem Wormser Reichstag 1521
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keit, Phantasie und Gewissensentscheidung - aber wir bewegen uns hier nicht in einem luftleeren, d.h. geschichtslosen Raum. Die christliche Gemeinde ist nicht nur die Gemeinde der jetzt Lebenden, sondern sie schließt alle an Jesus Christus Glaubenden und ihm Nachfolgenden vor uns und nach uns ein. Wir haben die Möglichkeit, auf die Christen, die vor uns gelebt haben, zu hören, an ihren Gewissens- und Glaubenskämpfen und -entscheidungen teilzunehmen und uns von ihnen beraten zu lassen. Je weniger wir von ihnen fertige, praktikable Lösungen erwarten für unsere Fragen und Probleme heute, umso größer ist die Chance, dennoch hilfreiche Weisung auf dem von uns zu gehenden Weg zu empfangen. In zwei Schritten soll das Thema „Christlicher Glaube und Weltverantwortung bei Martin Luther" entfaltet werden. Zunächst wollen wir uns am Beispiel von drei entscheidenden historischen Grundsituationen im Leben und Handeln Martin Luthers den leidenschaftlichen Protest verdeutlichen, mit dem er gegen alle Formen der Inanspruchnahme des Evangeliums zur Begründung und Durchsetzung politischer Forderungen ankämpfte: Bei seiner Entscheidung auf dem Wormser Reichstag im Frühjahr 1521, in seiner Stellungnahme im Bauernkrieg 1525 und bei dem sog. Marburger Religionsgespräch im Oktober 1529, in dem es um die Frage nach dem Verhältnis von Glaubensbekenntnis und politischem Bündnis angesichts großer innerer und äußerer Gefährdungen der reformatorischen Bewegung ging. Nur in kurzen Zusammenfassungen kann dies freilich hier geschehen - ohne Anspruch auf detaillierte Förderung der reformationsgeschichtlichen Forschung - , um allein die Grundposition Luthers in den verschiedenen Herausforderungen seiner Zeit verständlich zu machen. Im zweiten Teil wird es um das Selbstverständnis Luthers als öffentlicher Prediger gehen, um seine Vollmacht und seine Pflicht als Theologe, sich in den Streit der Welt oftmals erstaunlich tief einzulassen, aus Orientierung im Glauben und in der Verantwortung für die Welt - wir werden dies an einigen Beispielen seines Verhältnisses zu Kurfürst Friedrich dem Weisen, den Kurfürsten Johann und Johann Friedrich und den Mansfelder Grafen zu erläutern versuchen.
I. Mit der Wiederentdeckung des Evangeliums als der froh- und freimachenden Botschaft von dem „Gott für uns" in Jesus Christus, der seine Gerechtigkeit und Liebe ohne Bedingungen allen verschenkt, die sie im Glauben und Vertrauen annehmen, ist Luther Schritt für Schritt in die Dramatik der Auseinandersetzung mit Rom hineingeführt worden. Auf dem Wormser Reichstag im Frühjahr 1521 erreicht sie ihren Höhepunkt. Der von der Kirche verurteilte Ketzer steht vor dem höchsten Gremium des Reiches. Daß dieses Verhör eines von der Kirche Gebannten überhaupt möglich wurde, verdankte Luther
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Christlicher Glaube und Weltverantwortung
vor allem seinem Landesherrn, Kurfürst Friedrich dem Weisen. Wie weit die Auflösung der mittelalterlichen Einheit des Weltlichen und Geistlichen schon im Gange war, macht Luthers Zitierung nach Worms überaus deutlich. Seine Ablehnung des Widerrufs und seine Berufung auf das Gewissen hat man eine der Sternstunden der Menschheitsgeschichte genannt.2 Luthers Haltung in Worms wurde bis weit in unser Jahrhundert hinein immer wieder als großes Vorbild des Kampfes für die Gewissensfreiheit verstanden.3 Gerade mit seinem Auftreten auf dem Wormser Reichstag sind die Zerrbilder Luthers als „deutscher Heros", „Bannerträger der Neuzeit" und „nationaler Revolutionär verbunden. 4 Das Bekenntnis, das Luther vor dem Kaiser und den Ständen in Worms ablegte, ist gewiß das denkwürdige Zeugnis eines seiner Sache gewissen Mönchs, der sich gegen die höchsten Autoritäten der Zeit wendet. Aber diese Sicherheit kam aus einem durch die Heilige Schrift überwundenen Gewissen. Daß Luther auf eine Widerlegung durch Zeugnisse der Schrift und schlüssige Vernunftgründe beharrt, erinnert an seine reformatorische Erkenntnis, die aus dem unablässigen Ringen um das Verständnis des Wortes Gottes erwachsen ist. Wie sollte er dies jetzt preisgeben, wo doch sogar Christus, der nicht irren kann, vor Hannas gesagt hat: „Habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sei" (Joh 18,23).5 Von einer persönlich-mutigen Tat in Worms hat Luther später überhaupt nicht gesprochen, vielmehr hat er über sein Auftreten in Worms folgendes gesagt: „Ich habe nichts getan, das Wort Gottes hat alles gehandelt und ausgerichtet. Wenn ich Gewalt hätte anwenden wollen, ich hätte Deutschland in ein großes Blutvergießen bringen können, ja zu Worms hätte ich eine Aktion beginnen können, daß selbst der Kaiser nicht sicher gewesen wäre. Ich habe nichts gemacht, ich habe das Wort Gottes lassen handeln! Was meint ihr wohl, was der Teufel denkt, wenn man etwas mit Gewalt ausrichten will? Er sitzt in der hintersten Hölle und denkt. O, da sollen die Narren feine Aktionen machen! Aber dem Teufel wird eine Niederlage bereitet, wenn wir allein das Wort Gottes treiben. Das ist allmächtig, das nimmt die Herzen gefangen und wenn die Herzen ergriffen sind, so kommen alle Wirkungen darnach ganz von selbst zustande [...]." 6 Dieses Selbstzeugnis Luthers aus seinen Invokavitpredigten steht als Grundentscheidung über der großen Versuchung, die er in Worms zu beste2 3
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W. v. Loewenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982, 185. Vgl. etwa P. Joachimsen, Die Reformation als Epoche der Deutschen Geschichte, hg. v. O. Schottenloher, 1951, 85ff. und G. Zschäbitz, Martin Luther. Größe und Grenze, Teil I, Berlin 1967, 131ff. Mindestens ein Zug an diesem Lutherbild der Vergangenheit lebt auch in unserer Zeit noch weiter: der Held des Glaubens im Dienst der deutschen Kultur und Nation. Vgl. etwa H. Diwald, Luther. Eine Biographie, 1982. Vgl. WA 7, 867ff. und 873f. Vgl. WA 10, ΙΠ, 19,2ff.
Luther auf dem Wormser Reichstag 1521
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hen hatte. Die Versuchung bestand keineswegs nur in dem Verhör vor Kaiser und Reich am 17. und 18. April 1521, sondern vor allem in den eindringlichen Nachverhandlungen, als ein Ausschuß altgläubiger Theologen und reformfreudiger Humanisten mit Luther in Gespräche eintrat, um ihn in theologischen Fragen zum Einlenken zu bewegen, damit die drohende kirchliche und politische Spaltung in Deutschland verhindert werden könne.7 Es standen gut- und ernstgemeinte Ziele hinter diesen Gesprächen, auch Luthers Freunde und Universitätskollegen beteiligten sich daran und beschworen ihn, doch kompromißbereit zu sein und sich auf den Boden der in großer Zahl zusammengestellten Beschwerden und Reformvorschläge zu stellen, den sog. Gravamina der deutschen Nation. Hier, in den Fragen der Kirchenkritik und der politischen Reformprogramme, verlangten die Reichsstände keineswegs einen Widerruf Luthers. Die Hauptgruppen der nationalen Opposition gegenüber der Kurie in Rom, die Landesfürsten und Reichsstädte, die Ritterschaft und die humanistische Bewegung, erhofften vielmehr eine Förderung ihrer Ziele durch Luther und trugen ihm ihre Bundesgenossenschaft an. Heinrich Boehmer hat über diese Verhandlungen der reichsständischen Kommission mit Luther am 24. und 25. April 1521 bemerkt: „Luther hat in diesen zwei Tagen innerlich sicher viel mehr ausstehen müssen als bei den beiden Verhören vom 17. und 18. April. Gegenüber dem offenkundigen Übelwollen des Kaisers und der Majorität des Reichstags seinen Standpunkt zu wahren, fiel ihm nicht schwer. Aber so wohlwollenden und so ernstlich auf eine Verständigung bedachten Unterhändlern [...] standzuhalten und all die wohlgemeinten Überrumpelungsversuche abzuwehren, die sie unter der Hand gegen ihn unternahmen, das war für ihn keine Kleinigkeit." 8 Daß Luther diese „politische Lösung" ausschlug und nicht bereit war, sich auf theologische Kompromisse zugunsten nationalpolitischer Aspekte einzulassen, hat man - wo man Luther nicht als Helden feiern konnte - die „deutsche Tragödie von 1521" genannt.9 Luthers Verhalten auf dem Wormser Reichstag sei deshalb eine Tragödie, weil er sich nicht an die Spitze der damaligen Reichsritterschaft gestellt und sich nicht mit der aufkommenden Bauern- und Täuferbewegung solidarisiert habe. Wenn Luther mit diesen Gruppen sich nicht in ein Bündnis eingelassen hat, wenn er überhaupt die „politische Lösung" ausschlug, so wird man nicht behaupten können, daß er sich politisch unklug verhalten habe. Im Gegenteil: Luther erweist sich gerade in seiner realen Einschätzung der politischen Lage als politisch weitsichtig Handelnder, wenn er auch diese Haltung nicht als Staatsmann, sondern in einer bewußten Konzentration auf seine theologische Einsicht und sein Glaubensbe7
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Besonders deutlich hat dies W. Dress, Versuchung und Sendung, Gießen 1937, 25ff., herausgestellt. Vgl. M. Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 1981, 442ff. H. Boehmer, Der junge Luther, Stuttgart 5 1962, 345. K.A. Meissinger, Die deutsche Tragödie 1521, 1953, 167ff., bes. 179ff.
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kenntnis gewonnen hat. Die politisch kluge Haltung Luthers auf dem Wormser Reichstag ist eine funktionale Folge seiner Glaubensentscheidung. Sie aber hatte realpolitische Konsequenzen, wie es keinem politischen Reformprogramm seiner Zeit beschieden war: Fast alles, was Luther in seiner Adelsschrift an Reformvorschlägen im Zusammenhang einer scharfen, höchst kritischen Zeitanalyse vorgebracht hat, ist in den folgenden Jahren verwirklicht worden. Als zweite historische Grundsituation, die Luthers leidenschaftliche Ablehnung einer Inanspruchnahme des Evangeliums zur Durchsetzung politischer Forderungen folgenreich dokumentiert, sei hier auf seine Stellungnahmen zum Bauernkrieg 1525 hingewiesen. Um mehr als einen Hinweis kann es sich nicht handeln, nicht aus einer falsch verstandenen Furcht heraus, daß hier die dunklen Züge im Bilde Luthers all zu kraß hervortreten könnten, sondern wegen der Komplexität der Ereignisse selbst. Bauern, Türken und Juden - in Luthers Haltung ihnen gegenüber sieht man heute gemeinhin die menschlichen Schwachstellen im Bild des Reformators: Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Aber mit einer solchen vorschnellen apologetischen oder auch rein anklagenden Urteilsperspektive ist nicht viel gewonnen, wenn man nicht zuvor die historische Lage und die inhaltliche Motivation von Luthers Schriften zum Bauernkrieg wahrgenommen hat. Schon 1522 schreibt Luther auf der Wartburg seine Schrift: „Eine treue Vermahnung an alle Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung" 10 . Luther bezeichnet den Aufruhr als „ein besonders gewisses Eingeben des Teufels" 11 und stellt fest, es sei „kein Aufruhr recht, wie rechte Sache er immer haben mag" 12 . „Aufruhr hat keine Vernunft und geht gemeiniglich mehr über die Unschuldigen denn über die Schuldigen."13 Das ist nicht nur aus der geschichtlichen Erfahrung heraus gesprochen, sondern gründet in Luthers neu gewonnenem Glaubens Verständnis: im Aufruhr rechtfertigt der Mensch sich immer nur selbst. Es entspricht nicht den geschichtlichen Tatsachen, wenn seit Friedrich Engels Schrift „Der deutsche Bauernkrieg" von 185014 immer wieder eine verhängnisvolle Schwenkung von Luthers angeblich revolutionärer Frühzeit zum konservativen Befürworter der bestehenden Ordnung während des Bauernkrieges behauptet wird.15 Im Jahre 1523 schreibt Luther seine programmatische Schrift: „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei"16, die er Herzog Johann zueignet, dem Bruder und Nachfolger Kurfürst Friedrichs des 10 11 12 13 14 15 16
WA 8, (670) 676-687. WA 8, 681, 6f. WA 8, 680, 20f. WA 8, 680, 18f. Berlin 12 1975. Darauf macht H. Kunst (Anm. 1), 121ff., aufmerksam. WA 1 1 , ( 2 2 9 ) 2 4 5 - 2 8 0 .
Luthers Stellungnahmen zum Bauernkrieg 1525
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Weisen. Auf dem zweiten Teil, also auf der Frage nach der Gehorsamsgrenze, liegt das Hauptgewicht. Die eindeutige Ablehnung Luthers gegenüber jeglichem Aufruhr hat jetzt ein anderes „Nein" zur Folge: einer eindeutig im Unrecht handelnden Obrigkeit ist der Gehorsam zu verweigern, wie dies bei dem soeben ergangenen Verbot der Verbreitung von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments durch katholische Fürsten geschehen ist. Luthers Schriften im Bauernkrieg halten diese Markierungen fest, jedoch überstürzen sich die Ereignisse in kürzester Zeit, so daß die Lage bei der raschen Anfertigung einer Schrift schon bei deren Veröffentlichung so verändert ist, daß verhängnisvolle Mißverständnisse entstehen können. Als Luther im April 1525 seine „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben" 17 schrieb, hoffte er noch auf eine friedliche Einigung. Die schwäbischen Bauern hatten in ihren zwölf Artikeln vom März 1525 Forderungen erhoben, die durchaus gemäßigt waren. Sie hielten sich offen für Belehrung und haben die Obrigkeit und den Gehorsam gegen sie nicht in Frage gestellt. Luther nimmt in seiner „Ermahnung zum Frieden" wie ein Friedensrichter eindringlich Stellung. Noch steht er zwischen den Fronten, spricht Fürsten wie Bauern mit gleicher Deutlichkeit ins Gewissen. Gegenüber den Fürsten nimmt er die Artikel der Bauern in Schutz und nennt sie „billig und recht", so ihre Forderung nach freier Pfarrerwahl und die Rücknahme der schweren Lasten. Luthers Drängen auf Nachgeben und Zugeständnisse an die Bauern äußert er in einer Sprache, die an Schärfe nichts zu wünschen übrig läßt: „Erstens können wir niemand auf Erden für solch Unheil und Aufruhr danken, als euch Fürsten und Herren. [...] Ihr tut im weltlichen Regiment nicht mehr, als daß ihr schindet und Geld eintreibt, euren üppigen und hochmütigen Lebenswandel zu führen, bis es der gemeine Mann nicht länger ertragen kann noch mag. Das Schwert ist euch auf dem Halse; dennoch meint ihr, ihr sitzt so fest im Sattel, man werde euch nicht ausheben können. Solche Sicherheit und verstockte Vermessenheit wird euch den Hals brechen, das werdet ihr sehen."18 An den Bauern kritisiert Luther vor allem, daß sie ihre Forderungen im Namen des Evangeliums vortragen, obwohl es sich doch bei ihnen allein um weltliche Angelegenheiten handelt. Wenn sie sich eine „Christliche Vereinigung" nennen, dann wissen sie nicht was sie tun: „[...] die Christen sind nicht so allgemein, daß so viel sich auf einen Haufen versammeln sollten. Es ist ein seltsamer Vogel um einen Christen [...]." 19 Die christliche Freiheit wird ins Fleischliche verkehrt, wenn aus ihr unmittelbar der Anspruch auf politisch-soziale Freiheit abgeleitet wird. Was wissen die Bauern von dem
17 WA 18, (279) 291-334. Nicht von sich aus, sondern auf ausdrückliche Aufforderung der Bauern schrieb Luther diese Schrift. 18 WA 18, 293f. 19 WA 18, 310, 15f.
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christlichen Recht? Sind sie bereit, alle Anfeindungen auf sich zu nehmen, die der christliche Name und das christliche Recht mit sich bringen?: „Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist der Christen Recht." 20 Bei den Auseinandersetzungen zwischen Fürsten und Bauern handelt es sich um „nichts Christliches", sondern um „heidnisches oder weltliches Recht und Unrecht und um zeitliches Gut". Die drohende Katastrophe schon vor Augen, mahnt Luther eindringlich: „So laßt euch um Gottes willen sagen und raten und greift die Sache an, wie solche Sachen anzugreifen sind, das ist mit Recht und nicht mit Gewalt noch mit Streit, auf daß ihr nicht ein unendliches Blutvergießen anrichtet in deutschen Landen." 21 Diese Mahnung Luthers erging im April 1525. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen hatten schon begonnen, aber noch hoffte Luther auf einen friedlichen Vergleich, der in Süddeutschland Ende April auch tatsächlich zustande kam. 22 Doch als der Aufruhr der Bauern immer bedrohlicher wurde und Luther durch seine Reise durch Thüringen die „stürmenden Bauern" selbst erlebte, gab er Anfang Mai seine „Ermahnung" ein zweites Mal heraus, nun ergänzt durch einen scharfen Anhang: „Wider die stürmenden Bauern." 23 Freilich hielt er seine Ermahnung zum Frieden voll aufrecht, was auch im Titel zum Ausdruck kommt: „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben. Auch wider die räuberischen und mörderischen Rotten der anderen Bauern." Nachdrucke verbreiteten dann jedoch bald nur noch diesen Anhang gegen die nicht verhandlungsbereiten Bauern unter dem Titel: „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern." Die harte Sprache Luthers in dieser kurzen Schrift gegen die aufrührerischen Bauern, auf die sich die Kritik an seiner Stellung im Bauernkrieg vor allem gründet, war formuliert, als der Kampf noch keineswegs entschieden war. Nach dem grausamen Sieg der Fürsten und der totalen Niederlage der Bauern erschien sie nicht wenigen als einseitige Parteinahme Luthers. In dem „Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern" 24 rechtfertigt sich Luther nach dem Kampf und lenkt auf seine „Ermahnung" zurück. Die Bauern hätten nicht hören wollen, so „haben sie ihren Lohn dahin". Von den Herren heißt es: „Höllisches Feuer, Zittern und Zähneklappern in der Hölle wird ewig ihr Lohn sein, wo sie nicht Buße tun."25 Es bleibt festzuhalten: Der Bauernkrieg hat seine eigene Dynamik, Luthers Schriften konnten seinen Verlauf nicht beeinflussen. Aber die gewaltsame 20 21 22
WA 18, 310, lOf. WA 18, 329, 6ff. „Vertrag zwischen dem löblichen Bund zu Schwaben und den zwei Haufen der Bauern vom Bodensee und Allgäu" (WA 18, [335] 337-342, mit Luthers Vorrede, 336). 23 W A 18, 357-361. 24 W A 18, (375) 384-401. 25 WA 18,401, 9f.
Luthers Ablehnung einer Bündnispolitik
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Niederschlagung der Bauernmassen durch die fürstlichen Heere erhält doch durch Luthers Stellungnahmen Konturen, die folgenreich in die weitere deutsche Geschichte hineinwirken sollten. Luther erkennt viele Forderungen der Bauern als berechtigt an, die auf dem Verhandlungswege zu klären sind. Aber ihre Berufung auf das Evangelium ist strikt abzuweisen. An der Erhebung der Bauern hat die geistliche und weltliche Obrigkeit die Hauptschuld, den berechtigten Forderungen der Bauern gilt es nachzukommen, aber gegenüber dem Aufruhr muß die Obrigkeit mit Härte ihr Regierungsamt verteidigen. Die Bauernkriegsschriften Luthers zeigen seinen leidenschaftlichen Kampf gegen eine Vermischung der weltlichen Angelegenheiten mit dem Evangelium, das nicht als Mittel zum Zweck mißbraucht werden darf. Noch mit einer dritten historisch entscheidenden Situation sei dies kurz belegt. Nach dem Wormser Edikt kam der reformatorischen Bewegung die Gunst der politischen Umstände zugute, aber ein evtl. notwendig werdender gewaltsamer Widerstand gegen den Kaiser stand den evangelischen Ständen doch stets vor Augen. Die günstige politische Konstellation führte auf dem 1. Speyerer Reichstag 1526 zu einer Kompromißformel, die das Wormser Edikt bis zum angekündigten Konzil praktisch aussetzte und den evangelischen Ständen zur rechtlichen Absicherung ihrer Kirchenreformation diente. Doch im Frühjahr 1529 wendete sich das Blatt, und die übergroße Mehrheit der altgläubigen Stände unter der Führung Erzherzog Ferdinands versuchte mit Härte die Reformation aufzuhalten bzw. zu den alten kirchlichen Verhältnissen zurückzulenken. Das ist die Situation des 2. Speyerer Reichstages, auf dem das Wormser Edikt eingeschärft wurde und die evangelischen Stände dagegen ihre berühmte „Protestation" einbringen. Kurz nach diesem Reichstag und der sich gefährlich zuspitzenden politischen Lage für die evangelischen Stände schlossen Kursachsen, Hessen und einige Reichsstädte ein Verteidigungsbündnis. Landgraf Philipp von Hessen, der entschiedene politische Kopf unter den protestantischen Fürsten, wollte die Evangelischen in einem Bündnis zusammenführen, um für eine drohende gewaltsame Auseinandersetzung mit der kaiserlichen Gewalt gewappnet zu sein. Das Haupthindernis für eine solche Zusammenfassung der politischen Kräfte war der theologische Dissens zwischen Wittenberg und Zürich im Verständnis des Abendmahls. Deshalb wandte sich der hessische Landgraf an Zwingli, mit dem er über seine Bündnispläne bald einig wurde. Schwierigkeiten jedoch machte Wittenberg, und vor allem Luther selbst. Das Marburger Religionsgespräch im Oktober 1529, zu dem der Landgraf auf sein Schloß einlud, hat höchst dramatisch-politischen Hintergrund. Gegenüber der theologischen Wahrheitsfrage, die im Ringen um das Verständnis des Abendmahls so leidenschaftlich aufgebrochen war, waren für Luther alle politischen Bündnisprobleme unwichtig und zweitrangig. In dieser politisch gefahrvollen Stunde für die reformatorische Bewegung war Luther erneut nicht bereit, seine
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theologische Überzeugung und seine Glaubensentscheidung dem angeblich politisch Gebotenen zu opfern. Wie schon auf dem Wormser Reichstag hält sich Luther im Blick auf die bedrohte Lage der Evangelischen an den Rat Gamaliels aus der Apostelgeschichte (5,38f.): „Ist die Sache aus dem Menschen, so wird sie untergehen; ist sie aber aus Gott, so werdet ihr sie nicht dämpfen können." Luthers Ablehnung einer protestantischen Bündnispolitik hat noch einen weiteren Grund: er ist noch lange tief davon durchdrungen, dem katholischen Kaiser als der Obrigkeit Gehorsam schuldig zu sein. Mit diesen drei historischen Szenen wird eines deutlich: Die christliche Glaubenseinsicht einerseits und die politische Erkenntnis und Entscheidungsnotwendigkeit andererseits stehen im Leben und Wirken Luthers in einer tiefen gegensätzlichen Spannung zueinander. Wollte man aus diesem schon in der Reformationszeit und im Leben Luthers geschichtlich je sich anders darbietenden spannungsvollen Gegenüber von Glaube und Politik eine abstrakte Unterscheidungs- oder gar Trennungslehre ableiten, verkennt man die wesentlichen Intentionen Luthers. Von einer in bleibend gültigen Lehrsätzen ausgedrückten sog. Zweireichelehre hat Luther nichts gewußt, aber er hat sein Leben lang um die vor seinem Gewissen zu verantwortende Verhältnisbestimmung zwischen dem in Jesus Christus erschienenen und zu verkündigenden Evangelium und der politischen Welt gerungen als den beiden Regierweisen Gottes, mit denen er in geheimnisvoller Weise die Geschichte lenkt. Dabei ist er zu klaren Positionen gekommen und hat Antworten gegeben, mit denen er uns Heutige herausfordert, unsere Antworten und Entscheidungen zu suchen und zu finden.
II. Welches Selbstverständnis hatte Luther als öffentlicher Prediger des Evangeliums und welche Stellung nimmt er zu den politischen Alltagsfragen seiner Zeit ein? Wir wollen diesen Fragen anhand von einigen ausgewählten Beispielen in seinen Beziehungen zu den politischen Herrschern seiner Zeit nachgehen. 26 Die Beziehungen zwischen Luther und Kurfürst Friedrich dem Weisen 27 sind - von außen gesehen - äußerst spärlich und doch von einer ganz beson26
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Vgl. die Untersuchungen von H. Kunst, G. Müller und G. Wartenberg (Anm. 1), und A. Sames, Luthers Beziehungen zu den Mansfelder Grafen, Leben und Werk Martin Luthers (Anm. 1), 591-600. Vgl. H. Bornkamm, Luther und sein Landesherr Kurfürst Friedrich der Weise (14631525). In: Luther, Gestalt und Wirkungen. Ges. Aufs. SVRG Nr. 188, Jg. 80/81 und 82/1, Gütersloh 1975, 33-38. W. Maurer, Der kursächsische Salomo. Zu Luthers Vorlesungen über Kohelet (1526) und über das Hohelied (1530/31). In: Antwort aus der Geschichte. Festschrift für Walter Dreß, hg. von W. Sommer, Berlin 1969, 9 9 -
Luther und Friedrich der Weise
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deren inhaltlichen Bedeutung und Brisanz gekennzeichnet. Friedrich der Weise und Luther haben nie miteinander persönlich verhandelt - die Korrespondenz zwischen ihnen ging stets über Spalatin - ; nur einmal während des Wormser Reichstages hat der Kurfürst Luther vermutlich gesehen und gehört. Die offenkundige Distanz zwischen ihnen hatte einen eindeutigen politischen Grund: Nur aus der Versicherung heraus, mit Luther persönlich nichts zu tun zu haben, konnte der Kurfürst die entscheidenden Vorgänge an der Universität und in der Stadt Wittenberg decken und den nötigen äußeren Schutzraum für Luther bereithalten. H. Kunst charakterisiert die persönlichen Beziehungen zwischen Luther und Friedrich dem Weisen treffend: „Die gegenüber dem Reich und den Ständen immer wiederholte Beteuerung, der Kurfürst habe mit Luther persönlich oder gar der Reformation nichts zu schaffen, war genauso durchsichtig wie das Verhalten Luther gegenüber, zumal sie oft zu grotesken Manövern führte. Aber Friedrich hat starr an ihr festgehalten und lieber eine unglaubwürdige Behauptung auf die andere gesetzt, als sie auch nur ein Stück aufzugeben, und war damit erfolgreich." 28 Luther hat diese Politik voll gebilligt, ja den Kurfürsten darin noch bestärkt. Offenbar hat er das distanzierte Verhalten Friedrichs zu ihm selbst wie zur reformatorischen Bewegung als die richtige und einzig mögliche Haltung angesehen. Er war sich völlig darüber im klaren, daß er den Kurfürsten in nicht geringe Verwicklungen und Verlegenheiten bringen mußte, ein direktes offenes Bekenntnis Friedrichs des Weisen zu Luther und seinen Freunden hätte der reformatorischen Bewegung in ihrer Frühzeit nur geschadet.29 Luthers Verständnis für die höchst problematische politische Lage des Kurfürsten gründet jedoch vor allem in einer großen persönlichen Verehrung und Wertschätzung, die er zeitlebens Friedrich dem Weisen entgegenbrachte. Sie kommt vor allem in den Vorreden zum Ausdruck, die Luther den seinem Landesherrn gewidmeten Schriften beigefügt hat. Noch deutlicher als in den Briefen und Tischreden zeigt sich hier die persönliche Beziehung Luthers gegenüber Friedrich, und zwar in aller Öffentlichkeit. 30 Dem erkrankten Fürsten überreicht er auf Veranlassung Spalatins eine Trostschrift mit einer Anspielung auf die 14 Nothelfer,31 die mit ihrer Widmungsvorrede die persönliche Dankbarkeit Luthers bezeugt. Er wisse sich als Kurfürsten „Schuldner aus vielen Ursachen", er sei das „Haupt, in dem all unser Heil, Verwaltung
116; I. Ludolphy, Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463-1525, Göttingen 1984. 28 H. Kunst (Anm. 1), 37. 29 „Er hielt sich aus innerer Überzeugung und aus persönlicher Bescheidenheit an die Maxime, daß er als weltlicher Herrscher religiöse Fragen nicht zu entscheiden habe", H. Bomkamm (Anm. 27), 35. 30 So z.B. die Vorrede zu den Operationes in Psalmos (WA 5, 19f.). 31 „Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis" (WA 6, [99] 104—134: 104— 106).
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und Wohlfahrt steht"32. Daß Friedrich die Blüte der Universität Wittenberg, die Förderung der Künste, eine sparsame Wirtschaftsführung und die politische Wohlfahrt allein zu danken ist, kommt aus seiner Hochschätzung der Heiligen Schrift, womit er allen wahren Theologen Vorbild sei.33 So geht auf direkte Initiative des Kurfürsten auch Luthers Adventspostille zurück.34 In seiner Vorrede sagt er, daß Friedrich ihn neben der Auslegung der Psalmen zur Auslegung der Evangelien und Episteltexte aufgefordert habe, damit er von den Streitschriften wieder zum Schriftstudium hingeführt würde. 35 Auch nach dem Tod Friedrichs des Weisen hat Luther noch vielfach seiner als eines Herrschers dankbar gedacht, der in dem schweren Regieramt nicht auf seine eigene Klugheit setzte, sondern durch Schickungen und Enttäuschungen weise wurde. In seiner Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können" (1526) erscheint Friedrich als ein Fürst, der sich nicht zu einem Angriffskrieg reizen läßt,36 und in seiner Auslegung des Predigers Salomo (1526) bezieht er die Weisheit des Kurfürsten in vorbildhaft-allgemeingültiger Weise auf die Herrschaft eines treuen, frommen Regenten, in der sich die Weisheit Salomos fortsetzt. In Friedrich spiegle sich die Weisheit Salomos, so daß er jetzt der „kursächsische Salomo" sei, der das schwere Amt des Regierens nicht den adeligen Günstlingen am Hof überläßt, sondern in persönlicher Verantwortung das Regiment vor Gott und den Menschen ausübt.37 Umso erstaunlicher ist es nun, daß Luther schon sehr früh und immer erneut diesem von ihm verehrten Kurfürsten mit einem Freimut entgegentritt, der für den Umgang eines Theologen mit seinem Fürsten nicht nur für das 16. Jahrhundert höchst ungewöhnlich ist. Aus der Fülle der Ereignisse seien nur zwei Beispiele herausgegriffen. Luthers eigenmächtiges Verlassen der Wartburg und seine Polemik gegen das Allerheiligenstift in Wittenberg. Die Schutzhaft Luthers auf der Wartburg war ein politisch außerordentlich geschicktes Unternehmen Friedrichs. Aber gerade während der Wartburgzeit Luthers kommt das eigenartige Verhältnis zwischen ihm und seinem Landesherrn zu besonders dramatischem brieflichen Ausdruck. Der Kurfürst bekennt Luther offen seine Ratlosigkeit angesichts der in Wittenberg ausgebrochenen Unruhen, und Luther handelt in einer Weise, die alle politischen Rücksichten beiseiteschiebt. Im Januar 1522 kündigt er in einem Brief an Spalatin seine baldige Rückkehr nach Wittenberg an: „Die Sache selbst erfordert es so. Ich will nicht, daß der Fürst um mich besorgt sei, obwohl ich 32 33 34 35 36 37
Zitiert wird nach der deutschen Übersetzung Spalatins, Walch, X, Halle 1744, 2132. WA 5, 21, 20ff. WA 7, 463-537. WA 7, 463, 12ff. WA 19, 646, 17ff. Vgl. W. Maurer (Anm. 27), 111. Auch in seiner Auslegung des 101. Psalms denkt Luther dankbar an Friedrich den Weisen, der der „geschaffene", geschichtliche Wundermann Gottes sei (WA 51, 209f.).
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wünschen möchte, daß er entweder meinen Glauben oder ich seine Macht hätte." 38 Als das Reichsmandat erging, das alle in Wittenberg vorgenommenen Neuerungen verbot, kam die dortige Verwirrung auf den Höhepunkt. Dem aufs tiefste besorgten Kurfürsten kündigt Luther persönlich seine kurz bevorstehende Rückkehr an. Friedrich aber versucht in einer beschwörenden Instruktion Luther daran zu hindern. Er sollte sich mit seiner Rückkehr wenigstens bis zum nächsten Reichstag gedulden. Was würde geschehen, wenn man von ihm die Auslieferung Luthers verlange? Am 5. März 1522, als Luther schon die Wartburg verlassen hatte, antwortet er dem Kurfürsten und rechtfertigt seine Rückkehr. Diesen Brief hat man zu Recht als eines der großartigsten Dokumente aus Luthers Feder bezeichnet.39 Er berät seinen Landesherrn mit Ehrfurcht und ungeheuchelter Achtung sowie in der Gewißheit, daß er es nur gut mit ihm meine. Aber der Streit, der um das Evangelium in der Welt entbrennt, steht in der Hand dessen, der allein schützen kann und dem auch der Kurfürst nur mit Glaube und Vertrauen begegnen könne. Luther habe das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unseren Herrn Jesus Christus, „daß ich mich wohl hätte mögen einen Knecht und Evangelisten rühmen und schreiben" können. Der Verhandlungen in Worms und sein Aufenthalt auf der Wartburg habe er aus Demut und Gehorsam, dem Kurfürsten zulieb, auf sich genommen, aber das dürfe nicht zur Erniedrigung des Evangeliums führen. „Solches sei E.K.F.G. geschrieben in der Meinung, daß E.K.F.G. wisse, ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höheren Schutz denn des Kurfürsten. Ich hab's auch nicht im Sinn, von E.K.F.G. Schutz zu begehren." „Dieser Sachen soll noch kann kein Schwert raten oder helfen, Gott muß hier allein schaffen, ohne alles menschliche Sorgen und Zutun. Darum: Wer am meisten gläubt, der wird hier am meisten schützen. Weil ich denn nun spüre, daß E.K.F.G. noch gar schwach ist im Glauben, kann ich keineswegs E.K.F.G. für den Mann ansehen, der mich schützen oder retten könnte." Gegenüber der kaiserlichen Gewalt solle der Kurfürst gehorsam sein „und sich ja nicht wehren noch widersetzen [...], so sie mich fangen oder töten will. Denn die Gewalt soll niemand brechen als alleine der, der sie eingesetzt hat; sonst ist's Empörung wider Gott [...]." „Hiermit befehle ich E.K.F.G. in Gottes Gnaden. Wenn E.K.F.G. gläubte, würde sie Gottes Herrlichkeit sehen; weil sie aber noch nicht gläubt, hat sie auch noch nichts gesehen. Gott sei Lieb und Lob in Ewigkeit, Amen." 40 Man wird in der deutschen Geschichte lange suchen müssen, um ein ähnliches Dokument eines Untertanen gegenüber seiner Obrigkeit zu finden.
38 WA Br 2, 452,444, lOf. 39 Vgl.W. v. Loewenich (Anm. 2), 209. 40 WA Br 2, 455, 455ff.
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Eine nicht geringe Brisanz hatte auch Luthers Polemik gegen das Allerheiligenstift in Wittenberg, die vor allem dem Kurfürsten in mehrfacher Hinsicht höchst ungelegen kam. Wie schon bei seiner Forderung nach Auflösung des Wittenberger Augustiner-Klosters berührte die sich immer mehr steigernde Kritik Luthers am Allerheiligenstift sowohl öffentlich-politische wie höchst private religiöse Interessen Friedrichs des Weisen. Der Kurfürst hatte mit großem persönlichen Engagement in Wittenberg eine der größten Reliquiensammlungen der damaligen christlichen Welt zusammengetragen. Aber Luther nahm auf diese tief empfundene, in seinen Augen jedoch völlig verkehrte Frömmigkeit des Fürsten keine Rücksicht. In immer neuen Eingaben an Spalatin fordert er den Kurfürsten auf, dieses Beth-Awen, d.h. das Haus des Frevels, abzuschaffen. Die Einnahmen des Stiftes sollten zur Versorgung der Armen verwendet werden41: An den Propst Justus Jonas und die Kanoniker des Stiftes schreibt Luther, daß alles abgeschafft werden müsse, was als ein unerträglicher Greuel gegen das Evangelium bisher geduldet worden ist.42 Den Stiftsherren, die sich beim Kurfürsten über den gefährlichen Neuerer Luther beschweren, hält Luther in öffentlichen Predigten entgegen: „Was geht uns der Kurfürst in solchen Sachen an?"43, d.h. in Sachen des Glaubens? Zu Weihnachten 1524 erreicht es Luther schließlich, daß im Allerheiligenstift die neue Gottesdienstordnung eingeführt wird - ein erster Schritt zu immer weitergehenden Reformen. 44 Diese beiden Fälle, Luthers Weggang von der Wartburg und sein Kampf gegen das Allerheiligenstift, die beiden in das Feld der engen Verflechtung von Politik und Religion gehören, zeigen eines sehr deutlich: Gegenüber der zögernden und unentschlossenen Haltung des Kurfürsten, der politische Rücksichten zu nehmen hat, handelt Luther unerschrocken und kompromißlos und erreicht sein Ziel. Dabei weiß er sehr wohl, wie eng der Handlungsspielraum Friedrichs ist, sowohl im politischen wie im frömmigkeitlichen Sinne. Aber wenn es sich um Grundfragen des Glaubens und des Gewissens handelt, die es gegenüber einer Obrigkeit zu vertreten gilt, die klare Entscheidungen scheut, hat Luther in dieser beharrlichen und unmißverständlichen Art der Durchsetzung seiner Überzeugungen den einzigen Ausweg gesehen. Das ist eine Seite an Luthers Wirken, die im Verhältnis zu den sächsischen Kurfürsten sehr deutlich zum Ausdruck kommt. Aber nicht nur auf dem Gebiet, wo Religion und Politik tief miteinander verquickt sind, sondern auch auf dem Feld der sog. reinen Politik hat sich Luther mit eindeutigen Stellungnahmen hervorgetan und sich damit in den politischen Tagesstreit eingemischt. Noch während der Regierungszeit Fried-
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WA WA WA WA
Br 2, 441,405, 14ff. (22.11.1521). Br 3, 586, 34f.; 594,46f. 12, 645, 649, 8 (2). Br 3, 794, 376f.; 641, 668, 731, 760, 784.
Luther und die Kurfürsten Johann und Johann Friedrich
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richs des Weisen verordnet er bei Stellenbesetzungsangelegenheiten, beim Eintreten für Bittsteller, in Eheangelegenheiten, in Finanz- und Rechtsfragen Maßnahmen, die eigentlich dem Hof und seinen untergeordneten Instanzen vorbehalten sind - der politische Ratgeber Luther kümmert sich nicht um eine reinliche Scheidung zwischen Religion und Politik, sondern handelt nach der Zuständigkeit seines sozialen Gewissens. Der Tod Kurfürst Friedrichs des Weisen Anfang Mai 1525, kurz bevor der Bauernkrieg in seinem eigenen Land ausbrach, hatte Luther tief getroffen. Das Haupt sei von Gott hinweggenommen, doch an seiner Güte und Kraft können wir uns alle trösten, schreibt Luther an Johann, den Bruder Friedrichs, der nun die Geschicke Kursachsens als neuer Kurfürst leitete45. Auf ihn setzte Luther große Hoffnungen, während die Gegner der Reformation nach dem Tod Friedrichs des Weisen glaubten, daß diese Bewegung bald in sich zusammenfallen werde. Aber sowohl Kurfürst Johann, der aufgrund seines Bekenntnisses auf dem Augsburger Reichstag 1530 den Beinamen „der Beständige" erhielt, als auch sein Sohn Johann Friedrich, der ihm ab 1532 in der Regierung folgte und als Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige in die Geschichte einging - diese beiden sächsischen Fürsten haben sich als die wichtigsten politischen Garanten für den weiteren Fortgang der reformatorischen Bewegung erwiesen. Zu Luther wie zur Sache der Reformation hatten diese beiden Kurfürsten ein direktes persönliches Verhältnis, wie aber auch umgekehrt Luther zu ihnen. Das zeigen neben der reichhaltigen Korrespondenz zwischen ihnen vor allem die Vorreden vieler Schriften, die Luther diesen Fürsten gewidmet hat. Schon lange vor ihrem Regierungsantritt stand er in persönlicher Verbindung zu ihnen. Das gewaltige Echo, das z.B. der „Sermon von den guten Werken"46 und seine Schrift „Von weltlicher Obrigkeit"47 gefunden hatten - beide Werke hatte er Johann gewidmet mußte überall deutlich Zeugnis von diesen persönlichen Beziehungen ablegen. Umso erstaunlicher ist es aber nun wiederum, daß Luther diesen Fürsten, die dem Evangelium in durchaus echter Glaubensüberzeugung zugetan waren, stets mit entschlossener Energie und einem unerschrockenen Freimut begegnet, wenn es um die Durchsetzung des einmal für richtig Erkannten geht. Die größere innere Nähe zu ihnen hat Luther gerade immer wieder zu einer deutlichen Sprache und Kritik herausgefordert. So mahnt Luther gegenüber Kurfürst Johann energisch inmitten der Bauernkriegs wirren den weiteren Ausbau und die Reform der Universität Wittenberg an, die nicht zuletzt als Pfarrerausbildungsstätte für die reformatorische Bewegung von entscheidender Bedeutung war. Ihrem Niedergang, der in den letzten Regierungsjahren Friedrichs des Weisen eintrat, könne Luther nicht mehr länger
45 WA Br 3, 867, 496, 8ff. 46 W A 6, (196)202-276. 47 WA 1 1 , ( 2 2 9 ) 2 4 5 - 2 8 0 .
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tatenlos zusehen. Der Kurfürst und der Kurprinz sollten verhindern, daß „etliche große Hofschranzen verächtlich von Schreibern reden würden"; gerade jetzt brauche die Welt gelehrte Leute, „die mit Gottes Wort helfen, das Volk durch Lehren und Predigen zu erhalten"48. Nachdem die kursächsische Regierung dem Drängen Luthers trotz mehrfacher Verstimmungen darin entgegenkam, appelliert er sogleich an ihre Verantwortung in einem weiteren wichtigen Bereich: bei der notwendigen Visitation der Gemeinden. Der Zustand der Pfarreien dulde keinen Aufschub, alles sei hier so ungeordnet und elend, daß rasche Hilfe notwendig sei, d.h. der Kurfürst müsse tapfere Ordnung vornehmen. 49 Die Notwendigkeit der Visitation erkennt Luther aber auch für das „weltliche Regiment", d.h. für die Stadträte und Amtleute auf dem Lande. Er mahnt sie gegenüber Kurfürst Johann an, da überall berechtigte Klage über die schlechte staatliche Verwaltung geführt werde. Unbekümmert über eine evtl. zu weit gehende politische Beratung weiß sich Luther hier in Übereinstimmung mit dem Kurfürsten, dem er mit großem Vertrauen gleich am Anfang seiner Regierung begegnete. Aber erst nach dem 1. Reichstag von Speyer 1526 erschien Kurfürst Johann der Weg frei für Visitationen im größeren Stil.50 Luther, a u f s äußerste besorgt, daß der Raub der Klöster und geistlichen Stiftungen durch den Adel weiterginge, 51 dringt immer erneut bei Kurfürst Johann auf geordnete Visitationen, sonst sei es „aus mit Pfarren, Schulen und Euangelio in diesem Land" 52 . Die Visitationsordnung Johanns von 1527 sowie der „Unterricht der Visitatoren" von 1528 stehen im engen Zusammenhang mit Luthers Intentionen. In seiner Vorrede zum „Unterricht" macht er zwar unmißverständlich klar, daß er viel lieber auf das bischöfliche Visitationsamt zurückgegriffen hätte, aber da dies nicht möglich sei, habe er den Landesherrn gebeten, in Stellvertretung aus christlicher Liebe zu handeln,53 er sei nur der jetzige „Notbischof"; die Theologen, d.h. die Visitatoren, sind die eigentlichen Bischöfe und Leiter der Kirche.54 Der Kurfürst soll die Einsetzung der Visitation nicht in Ausübung weltlicher Herrschaftsbefugnisse, sondern als christlicher Bruder aus einer allgemeinen christlichen Verantwortung heraus vornehmen. 55 In Liebe, nicht mit Zwang soll das Visitationswerk geschehen.56 Aber das schließt nicht aus, sondern gerade ein, daß die weltliche Obrigkeit
48 W A B r 3 , 870,501, 13ff. 49 WA Br 3, 937, 595, 42f. (594-596). 50 Bisher wurde damit nur in den Ämtern Borna und Tenneberg begonnen. Vgl. WA 26, 178. 51 Brief vom 1. Januar 1527 an Spalatin, WA Br 4, 1067, 149-151, 150, 32ff. 52 W A B r 4 , 1081, 168, 8f. 53 WA 26, (175) 195-201, 197f. S. oben 52f. Vgl. H. Kunst (Anm. 1), 191-206. 54 W A Br 4, 1347, 597, 5f. und 1350, 603, 14f. 55 W A 26, 197, 20f. 56 WA 26, 200, 1 Off.
Luther und Kurfürst Johann
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schuldig ist, für die nötige Ordnung zu sorgen. Luthers Stellung zu den von ihm geforderten landesfürstlichen Visitationen widerspricht nicht seiner Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment.57 Wie heftig Luther reagieren konnte, wenn weltliche Instanzen in den kirchlichen Bereich einzugreifen versuchten, zeigt besonders deutlich seine Auseinandersetzung mit dem Zwickauer Rat.58 Wie bei den Visitationen Luther der entscheidend Agierende ist, der Hof und der Kurfürst die Reagierenden sind, dasselbe Bild zeigt sich auch bei den weiteren schwierigen politischen Fragen, vor die sich die kursächsische Regierung unter Johann gestellt sah. Ob es um die protestantische Bündnispolitik angesichts eines drohenden Angriffs auf die Reformation von Seiten der altgläubigen Stände geht, vor der Luther energisch warnte, oder um die Probleme des Türkenkrieges und der besonders heiklen Frage nach einem evtl. Widerstandsrecht gegenüber dem Kaiser - immer meldet sich Luther - gebeten oder ungebeten - mit seinem oft sehr unbequemen Rat deutlich zu Wort und findet auch Gehör bei seiner weltlichen Obrigkeit. Die Verbindung von dankbarem Lob der Tugenden und einem freimütigen Bekenntnis der Schwächen ist die Grundhaltung in Luthers Beziehungen zu den sächsischen Kurfürsten als seinen Landesherren. Das wird besonders deutlich in Luthers Leichenpredigten für Kurfürst Johann im Jahre 1532.59 Auch hier hat er in aller Öffentlichkeit nichts beschönigt, wenn auch die Kritik in versöhnlichem Ton vorgetragen wird. Die persönlichen Vorzüge wie Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Freundlichkeit sowie sein Bekennermut und seine Glaubenstreue in Augsburg 1530 werden ohne jede übermäßige Betonung herausgestellt. Die kritisch-mahnende Begleitung der kursächsischen Politik durch Luther setzt sich bei dem letzten sächsischen Fürsten, unter dem er lebte und wirkte, Kurfürst Johann Friedrich dem Großmütigen, konsequent fort, ja gewinnt hier noch besonders scharfe Konturen.60 Zwar stand der junge Kurprinz schon seit 1520 in einem engen persönlichen Verhältnis zu Luther und der Reformation, 61 was Luther jedoch nicht hinderte, seine mahnende Stimme gegenüber den Schwächen in der politischen Amtsführung dieses Regenten, besonders nach seiner Regierungsübernahme, deutlich zu erheben. Luthers 57 S. oben den Aufsatz über Luthers Auslegung des 101. Psalms, 53. 58 Vgl. dazu H. Kunst (Anm. 1), 207-216. 59 WA 36, 237ff. Vgl. dazu H. Kunst (Anm. 1), 101-107, der die persönlichen Beziehungen Luthers zu Kurfürst Johann anhand der Leichenpredigten im Vergleich zu denen für Kurfürst Friedrich den Weisen darstellt. 60 Vgl. meine Darstellung des Verhältnisses von Luther und Kurfürst Johann Friedrich, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, FKDG 41, Göttingen 1988, 28-37; C. Hinrichs, Luther und Johann Friedrich. In: Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht, Berlin 2 1962, 31ff. und H. Kunst (Anm. 1), 2 6 3 287. 61 Luther hatte ihm seine Auslegung des Magnificat gewidmet (WA 7, 544f.).
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Christlicher Glaube und Weltverantwortung
Sorge ging vor allem dahin, daß unter diesem Fürsten die adeligen Höflinge ein zu großes Mitspracherecht erhalten würden. Im Vergleich mit seinen Vorgängern im kurfürstlichen Amt stehe Johann Friedrich in der Gefahr des Eigensinnes und des Stolzes, der gerade dem Adel zum Vorteil gereicht. In einer Tischrede klagt Luther: „Mit Herzog Friedrich ist die Weisheit, mit Herzog Johann die Frömmigkeit gestorben, und hinfort wird der Adel regieren, weil Weisheit und Frömmigkeit hinweg sind. Mein junger Herr hat einen eigenen Sinn und gibt nicht viel auf die Schreibfeder, das gefällt ihnen wohl. Wenn er seines Vettern Weisheit und seines Vaters Frömmigkeit nur halb hätte, so möchte ich ihm wohl auch seinen Sinn halb gönnen und viel Glück dazu wünschen." 62 Kurz nach dem Regierungsantritt Johann Friedrichs schreibt Luther seine Auslegung des 101. Psalms, des Regentenpsalms Davids, die eine Fülle höchst kritischer Anspielungen auf die neue Situation am Hof enthält. Mit ihr will Luther dem Regiment unter Kurfürst Johann Friedrich einen kritischen Spiegel entgegenhalten.63 Noch ein letztes Beispiel sei hier für das Verhältnis Luthers zu den weltlichen Herren seiner Zeit kurz angeführt: seine Auseinandersetzung mit den Grafen von Mansfeld. 64 In der Grafschaft Mansfeld war Luther geboren, die Grafen von Mansfeld waren seine eigentlichen Landesherren. 65 Engere Beziehungen hatte Luther besonders zu Graf Albrecht, der sich wie sein Bruder Gebhard seit 1525 zur Reformation bekannte. Der bedeutende Kupferbergbau, der die Grafschaft prägte, hatte durch den zunehmenden Einfluß der Handelsgesellschaften die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen anwachsen lassen, die Luther durch die Geschicke seiner eigenen Familie vertraut waren.66 In Verbindung mit Erbteilungen und aufwendigen Hofdienstverpflichtungen führte diese Entwicklung bei den Grafen, die die Schmelzhütten verpachtet hatten, zu wachsenden Schwierigkeiten. Graf Albrecht verstand es jedoch, diesen wirtschaftlichen Problemen eine eigene Konzeption entgegenzustellen. Sie bestand vor allem in einer Konzentration des Hüttenund Bergwesens, bei der die verschiedenen Phasen der Kupferherstellung bis zum Verkauf in einem Unternehmen vereinigt waren. Durch diese wirtschaftlich geschickten Maßnahmen konnte er erheblich höhere Gewinne aus dem Bergbau erzielen. Bei der Verwirklichung seiner Unternehmungen ging er rücksichtslos vor, was zu nicht wenigen juristischen und sozialen Verwicklungen führte.
62 W A Tr 2, 1906 B, 259, 4ff. aus den frühen 30er Jahren. 63 S. oben 11-53. 64 Vgl. zu dieser Thematik H. Kunst (Anm. 1), 17-34 und A. Sames (Anm. 26), 5 9 1 600; M. Brecht, Martin Luther. Die Erhaltung der Kirche 1532-1546, Bd. 3, Stuttgart 1987,362-370. 65 Die Grafschaft Mansfeld betrachtet Luther als seine eigentliche Heimat. Vgl. WA Br 9, 3716, 626, 5-7; 3724, 10, 12f. und WA 10 I 1, 4, 7; 15, 86, 10-12. 66 Vgl. die ausführliche Darstellung bei M. Brecht (Anm. 7), 15ff.
Luther und die Mansfelder Grafen
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Auch in Kursachsen wurde vielfach Klage über die Gewinnsucht Graf Albrechts geführt, und Luther äußert sich in Tischreden sehr abfällig über ihn.67 Als die wirtschaftlichen Maßnahmen Albrechts zur Verdrängung verschiedener Hüttenmeister von ihren Hütten führten, die sie in Erbpacht als sog. Erbfeuer unterhielten, wendete sich Luther direkt in mehreren Briefen an den Grafen. Am 23. Februar 1542 schreibt er ihm: „Euer Gnaden fühlen selbst wohl, wie Sie bereits kalt geworden und auf den Mammon geraten sind. Sie gedenken sehr reich zu werden. Sie drücken auch, wie die Klagen gehen, die Untertanen so hart und scharf, gedenken sie von ihren Erbfeuern und Gütern zu bringen und sie schier leibeigen zu machen, was Gott doch nicht leidet, und wo ers leidet, wird er die Grafschaft bis zum Grunde verarmen lassen; denn es ist seine Gabe, die er leicht wieder nehmen kann." 68 Luther mischt sich unmittelbar in diese Sache ein, ja er setzt alle ihm nur irgend erreichbaren Instanzen in Bewegung,69 um seinen kritischen Ermahnungen gegenüber dem gewinnsüchtigen Grafen Nachdruck zu verleihen, auch an die Opfer der Enteignungspolitik des Grafen wendet er sich. Was für ein Recht nimmt Luther hier in Anspruch, wie begründet er sein Verhalten? Luthers Protest gegen die Wirtschaftspolitik Albrechts gründet in seiner theologischen Überzeugung, daß das Gewinnstreben des Grafen den Versuch darstellt, sich überheblich aus der Verantwortung vor Gott und den Menschen davonzustehlen. Der Segen Gottes lasse sich nicht mit Eigenmächtigkeit herbeizwingen. Wer alles an sich reißt, ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen zu nehmen, droht schließlich den Segen Gottes gänzlich zu verlieren. Daß er diese Überzeugung dem Grafen mit so deutlichen Worten vorhält, begründet Luther mit seiner Stellung als öffentlicher Prediger: „Dazu bin ich auch ein öffentlicher Prediger, der da schuldig ist zu vermahnen, wenn jemand, durch den Teufel verführt, nicht sehen kann, was er für Unrecht tut."70 Durch seine seelsorgerliche Verantwortung glaubte sich Luther nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet zu einem Handeln, das unmittelbar in die politischen Vorgänge hineinwirkte. An die zuständige Obrigkeit, Herzog Moritz von Sachsen, appelliert Luther, daß er unverzüglich diesem Unrecht wehren und dem Grafen vorschreiben solle, damit er gnädiger und sanfter mit seinen Untertanen umgehe.71 Und in einem scharfen Brief an die Brüder des Grafen, in dem er Graf Albrecht als vom bösen Geist überfallen bezeichnet, greift er den naheliegenden Einwand auf, den man gegen ihn erheben könne: „Was habe er mit diesen Angelegenheiten zu tun? Was 67
Er vergleicht ihn mit „Tyrannen" wie König Ferdinand und Herzog Georg von Sachsen, die mit ihrer Habsucht den göttlichen Segen aus ihrem Land vertrieben. WA Tr 3, 3812, 632, 32-633, 2. 68 WA Br 9, 3716, 628, 80-86. 69 Z.B. im Brief an Herzog Moritz von Sachsen, WA Br 10, 3723, 8f. 70 WA Br 10, 3724, 10, 13ff. 71 W A B r 10, 3723, 8, 14f.
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Christlicher Glaube und Weltverantwortung
habe er danach zu fragen? Luther antwortet: „[...] ich bin ein Landeskind in der Herrschaft zu Mansfeld, dem es gebührt, sein Vaterland und Landesherrn zu lieben und ihnen das Beste zu wünschen." 72 Diese kräftezehrende Auseinandersetzung mit den Grafen von Mansfeld war das Letzte, was Luther in seinem reichen Leben und Wirken tat. Schließlich kam es noch kurz vor seinem Tode zu einem Vertragswerk und zu einer friedlichen Einigung unter den zerstrittenen Grafen, an der Luther selbst entscheidenden Anteil hatte.
„Christlicher Glaube und Weltverantwortung bei Martin Luther" - in zwei Hauptrichtungen haben wir dieses Thema zu entfalten versucht, und zwar in enger Orientierung an den geschichtlichen Ereignissen selbst. Wir haben nur dann ein inneres Recht, uns heute auf Martin Luther zu besinnen, wenn wir ihn so konkret wie möglich aus den Ereignissen seiner Zeit und seines Wirkens heraus wahrnehmen und zu verstehen versuchen. An Schlagworten und abstrakten Thesen zum Verhältnis des christlichen Glaubens zur Welt oder zum Thema „Glaube und Politik" fehlt es in unserer Gegenwart ja wahrlich nicht. Wenn wir von unserer heutigen, gegenüber Luther und seiner Zeit so vielfach veränderten Situation herkommend, dennoch an Luther wirklich interessiert sind und mit einer Erwartung zu einer Orientierungshilfe für uns heute an ihn herantreten, so ist die nähere historische Wahrnehmung unvermeidlich. Auf diesem Wege kann uns aber gerade die verborgene Aktualität von Luthers Entscheidungen - über den Graben der Jahrhunderte hinweg zu Einsichten führen, die an Aufregungen und Beunruhigungen noch wahrlich reich genug angefüllt sind. Wir haben gesehen: Luther hat sich zeitlebens leidenschaftlich dagegen gewehrt, wenn der christliche Glaube, das Evangelium, zur Begründung und Durchsetzung politischer Forderungen in Anspruch genommen wird. Aber wir haben auch das andere wahrgenommen: in seinem Verhältnis zu den Fürsten zeigt sich, wie weit Luther aus der Verantwortung seines Glaubens heraus in den politischen Bereich hineingewirkt hat, ja wie er sich in die weltlichen Angelegenheiten erstaunlich tief eingemischt hat. Sind das Widersprüche, die im Leben und Wirken Luthers unausgeglichen nebeneinanderstehen, so daß man nur entweder den einen oder anderen Aspekt hervorheben kann, um sich dann nach eigenem Ermessen jeweils dem einen oder anderen Grundzug anzuschließen? Es wäre ein schlimmes Verhängnis, so vorzugehen, oder besser gesagt: es ist ein folgenreiches Mißverständnis und großer Schaden geworden, daß man vielfach nur auf die eine Stimme bei Luther gehört hat, in unserer jüngeren deutschen Geschichte weitgehend nur auf die erste, auf den Obrigkeitsgehorsam, während man die andere Seite bei Luther, 72
WA Br 10, 3724, 10, 12f.
Luther und seine Landesherren
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den „leidenden Ungehorsam", d.h. die Verweigerung des Gehorsams gegenüber ungerechtem Handeln der staatlichen Instanzen, nicht mehr sehen und wahrhaben wollte. Gewiß war Luther wie wir alle ein Mensch mit seinem Widerspruch, aber er mutet uns zu, den christlichen Glauben und die Verantwortung für die Welt tief aufeinander zu beziehen, ohne freilich mit irgendwelchen Illusionen, daß diese gefallene Welt jemals durch das Evangelium regiert werden könne. Bei der umfangreichen Diskussion, die in unserem Jahrhundert über Luthers Zweireiche- bzw. Zweiregimentenlehre geführt wurde, sind die Beziehungen Luthers zu seinen Landesherren kaum näher in den Blick getreten. Die Verbindungslinien zwischen Biographie und Theologie, die für das Verständnis von Luthers gesamtem Werk so überaus wichtig sind, wurden gerade auf diesem viel umstrittenen Feld seines Denkens weitgehend ausgeblendet.73 Das obrigkeitliche Amt hat in umfassendem Sinn der Erhaltung des Lebens zu dienen. Die Wahrung des Rechtes und des Friedens hat Luther während der Regierung Friedrichs des Weisen konkret erlebt und darum sein Regiment zeitlebens dankbar und lobend erwähnt. Aber wie er schon Friedrich dem Weisen in Fragen des Glaubens und Gewissens scharf entgegentreten kann, so weitet sich die kritische Beratung Luthers unter den Kurfürsten Johann und Johann Friedrich immer weiter aus. Ihr positives Verhältnis zur Reformation fordert Luther oft in der Sache wie im Ton zu schärferer Kritik heraus. In den Beziehungen Luthers zu seinen Landesherren nehmen wir einen Theologen wahr, der sich immer wieder gerade zu den umstrittenen Fragen des öffentlichen Lebens zu Wort meldet und deutlich Stellung bezieht, unbeschadet der möglichen Folgen, die dies nach sich ziehen könnte sowohl für ihn selbst, seine Freunde wie seine fürstlichen Adressaten, die er dabei nicht selten in erhebliche Bedrängnis brachte. Den politischen Instanzen seiner Zeit hat Luther nicht nur ihre Grenzen in bezug auf Gottesdienst, Glaube und Kirche aufgewiesen. Schon dort, wo das Zusammenleben der Menschen unmittelbar durch Ungerechtigkeit und Habgier bedroht ist, muß ihnen entgegengetreten werden. Das ist das Handlungsmotiv Luthers als öffentlicher Prediger, der das Evangelium mitten in die konkreten Verhältnisse seiner Zeit hinein verkündigt.
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Auch die Tatsache, daß Luther an der kurfürstlichen Universität Wittenberg als Professor wirkte, ist für seine Stellung zu Kirche und weltlicher Obrigkeit bedeutsam. Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Tübingen 1995, 334ff.
Die Stellung lutherischer Hofprediger im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft
Diese Themaformulierung schließt sich bewußt an eine zentrale Fragestellung der gegenwärtigen Frühneuzeitforschung an. Damit soll deutlich werden, daß die kirchen- und theologiegeschichtliche Forschung zur lutherischen Orthodoxie die Zusammenarbeit und sinnvolle Ergänzung mit der allgemeinhistorischen, besonders sozialgeschichtlichen Forschung zur Frühen Neuzeit wünscht und erstrebt. Das Thema „Hofprediger" fordert ja eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit geradezu heraus! In der gegenwärtigen historischen Frühneuzeitforschung findet die evangelische Pfarrerschaft als neue Sozialgruppe in der frühmodernen, bürgerlichen Ständegesellschaft verstärktes Interesse.1 Das zeigen vor allem die Arbeiten der Frühneuzeithistorikerin Luise Schorn-Schütte2 sowie die neueren, umfangreichen predigtgeschichtlichen Untersuchungen aus der Schule von Hans-Christoph Rublack.3 1 2
3
S. den Kongreßbericht von L. Schorn-Schütte über zwei Tagungen. In: ThLZ, 120. Jg., Januar 1995, 89-92. L. Schorn-Schütte, Prediger an protestantischen Höfen der Frühneuzeit. Zur politischen und sozialen Stellung einer neuen bürgerlichen Führungsgruppe in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel von Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt und Braunschweig-Wolfenbüttel. In: H. Schilling und H. Diedericks (Hg.), Städtische Eliten in Deutschland und den Niederlanden vom 16.-19. Jahrhundert, Köln und Wien 1985, 275-336; Dies., Evangelische Geistlichkeit der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung friihmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft (QFRG 62), Gütersloh 1996. Diese Studien am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sind für die kirchenund theologiegeschichtliche Erforschung der lutherischen Orthodoxie außerordentlich fruchtbar und anregend. Auch auf verschiedene Hofprediger wird in dieser Arbeit eingegangen, die durch die Zusammenschau zweier konfessionell unterschiedlicher Territorien mit Einschluß der Stadt Braunschweig die soziale und politische Rolle der Geistlichkeit im gesamten Zeitraum der Frühneuzeit vergleichend in den Blick bekommt. Vgl. M. Hagenmaier, Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614-1639 (Nomos Universitätsschriften: Geschichte; Bd. I), Baden-Baden 1989; N. Haag, Predigt und Gesellschaft. Die lutheri-
Forschungslage zu den Hofpredigern
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Dieser sozialhistorisch orientierten Zuwendung zur Geschichte der evangelischen Geistlichkeit in der Frühen Neuzeit stehen von Seiten der kirchlichen- und theologiegeschichtlichen Forschung nur wenige Untersuchungen gegenüber.4 Wenn die Zeit der altprotestantischen Orthodoxie bzw. die Zeit der Konfessionalisierung5 offenbar langsam wieder in der jüngsten kirchenund theologiegeschichtlichen sowie systematisch-theologischen Forschung an Anziehungskraft zu gewinnen scheint,6 so kann es hoffentlich demnächst zu dem so wichtigen Dialog zwischen Sozialgeschichte und Kirchen- und Theologiegeschichte in der Erforschung der Frühen Neuzeit kommen.7 Was die lutherischen Hofprediger in der Frühen Neuzeit betrifft, so muß ja noch immer das Fehlen ihrer Geschichte konstatiert werden.8 Angesichts der großen Bedeutung der Hofprediger für das kirchliche und politische Leben der frühneuzeitlichen Staaten im 16. und 17. Jahrhundert ist dies eine erstaunliche, bedauerliche Tatsache. Die kirchen- und theologiegeschichtliche Forschung hat das Thema Hofprediger seit langem völlig ausgespart, was schon die einschlägigen Lexika zeigen. Hatte noch die RGG in der 1. und 2. Auflage einen Artikel „Hofprediger"9, so schweigt die 3. Auflage. Auch die TRE oder gar das EKL haben keinen Artikel „Hofprediger". Abgesehen von einzelnen wenigen Aufsätzen und Untersuchungen aus neuerer Zeit,10 sind sehe Orthodoxie in Ulm 1640-1740 (VIEG 145), Mainz 1992; S. Holtz, Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550-1750 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 3), Tübingen 1993. 4 Vgl. den Sammelband: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hg. von Hans-Christoph Rublack (SVRG 197), Gütersloh 1992; D. Blaufuß, Johann Saubert (1592-1646), Fränkische Lebensbilder, Bd. 14, 1991, 123-140; Ders., Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650-1712). Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Hg. von W. Kühlmann und H. Langer, Tübingen 1994, 319-347. 5 Vgl. J. Wallmann, Lutherische Konfessionalisierung - ein Überblick. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 4), 33-53. 6 S. den in Anm. 4 genannten Sammelband sowie J. Baur, Lutherisches Christentum im konfessionellen Zeitalter - ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung. In: Einsicht und Glaube, Bd. 2, Göttingen 1994, 57-75. 7 Das Symposium „Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit - Ihr Beitrag zur Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft" in der Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg September 1990, war ein hoffnungsvoller Auftakt (Leitung L. SchornSchütte und W. Sparn). Die in Anm. 3 genannten Werke werden von Seiten der theologiegeschichtlichen Forschung hoffentlich noch ausführlich reflektiert. Vgl. meine Rezension zu M. Hagenmaier. In: ZBKG 61, 1992, 206-209 und J.A. Steiger, Rezension der Untersuchung von S. Holtz. In: ThLZ, 119. Jg., Nr. 6, 529-532 und M. Matthias. In: PuN, Bd. 20, 1994, 236-243. 8 Vgl. J. Wallmann, Philipp Jakob Spener. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Hg. v. M. Greschat, Bd. 7, Stuttgart 1982, 205-223, 219. 9 P. Drews, Art. Hofprediger, RGG 1 , Bd. ΠΙ, 100-102; K. Hoffmann, Art. Hofprediger, RGG 2 , Bd. Π, 1985f. 10 H.-D. Hertrampf, Hoe von Hoenegg - sächsischer Oberhofprediger 1613-1645. In: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 1969, Berlin
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Die Stellung lutherischer Hofprediger
wir immer noch auf die älteren, wenig zuverlässigen, meist biographisch ausgerichteten Arbeiten aus dem 18. und 19. Jahrhundert angewiesen, wie z.B. die „Annales Ecclesiastici" des Johannes Andreas Gleich11 oder die „Geschichte der sächsischen Oberhofprediger" von Gustav Ludwig Zeißler 12 und die historischen Arbeiten von August Tholuck.13 Für die Geschichte der reformierten Hofprediger ist die Forschungslage wesentlich günstiger, da für die Hofprediger in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert die einschlägige Monographie von Rudolf von Thadden vorliegt, die den charakteristischen Untertitel trägt: „Ein Beitrag zur Geschichte der absolutistischen Staatsgesellschaft in Brandenburg-Preußen." 14 Vergleicht man diese, wesentlich auf die Berliner Hofprediger seit 1613 konzentrierte Untersuchung von Thaddens mit den kursächsischen Oberhofpredigern in Dresden, so weit sie uns mangels einer ähnlichen, sehr zu wünschenden Arbeit zugängig sind,15 so wäre es für den ersten Blick kaum zweifelhaft, auf welcher Seite von einem Beitrag zur Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft im eigentlichen Sinn gesprochen werden kann. Angesichts der besonderen Lage des Calvinismus in Brandenburg-Preußen bildeten vor allem die Hofprediger den geistlichen Kern der neuen calvinistischen Gesellschaft, und sie waren in ihrer Stellung und in ihrem Amt, dessen Staatsverfallenheit sie offenbar nicht allzu bedrückend empfanden, in hohem Maße der Staatsräson verpflichtet. Welche wichtige Rolle die Hofprediger schon in der Politik des Großen Kurfürsten spielten, hat von Thadden deutlich gemacht, indem er die Motive für sein Ziel aufzeigt, das ganze Land mit Hofpredigerstellen zu überziehen.16 Nur auf diesem Wege konnte der reformierte Herrscher seiner Kirche trotz ihrer reichsrechtlichen Anerkennung
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1970, 129-148 und meine in diesem Band vereinigten Aufsätze sowie W. Sommer, Obrigkeits- und Sozialkritik in lutherischen Regentenpredigten des frühen 17. Jhs. In: W. Welzig (Hg.), Predigt und soziale Wirklichkeit. Beiträge zur Erforschung der Predigtliteratur (Daphnis, Bd. 10), Amsterdam 1981, 113-140. J.A. Gleich, Annales ecclesiastici, oder Gründliche Nachrichten der ReformationsHistorie, Chur=Sächß. Albertinischer Linie [...], Bd. 1, Dresden und Leipzig 1730. G.L. Zeißler, Geschichte der sächsischen Oberhofprediger und deren Vorgänger in gleicher Stellung von der Reformation an bis auf die gegenwärtige Zeit, Leipzig 1856. A. Tholuck, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17. Jahrhunderts, Hamburg und Gotha 1852; Ders., Lebenszeugen der lutherischen Kirche aus allen Ständen vor und während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Berlin 1859; Ders., Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts, Vorgeschichte des Rationalismus I, Halle 1853/54 und Das kirchliche Leben des 17. Jahrhunderts, Vorgeschichte des Rationalismus II, Berlin 1861/62. R. von Thadden, Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger, Berlin 1959. Ein verheißungsvoller Auftakt liegt jetzt vor: J. Hahn, Zeitgeschehen im Spiegel der lutherisch-orthodoxen Predigt nach dem Dreißigjährigen Krieg - dargestellt am Beispiel des kursächsischen Oberhofpredigers Martin Geier. Diss, theol. evang. (masch.), Leipzig 1990. Wie Anm. 14, 60.
Forschungslage zu den Hofpredigern
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1648 eine feste Position im Lande verschaffen. Das Gegenüber der sehr unterschiedlichen Geschichte der Berliner und der Dresdner Hofprediger im 17. Jahrhundert bietet jedoch wenig Anlaß zu konfessionsspezifischen Argumentationen. Die enge Bindung der reformierten Hofprediger an das Herrscherhaus war zunächst durch ihre völlige Fremdheit gegenüber der einheimischen Kirchenordnung bestimmt, die von dem tiefgreifenden Wandel herrührte, den die Konversion des Kurfürsten Johann Sigismund im Jahre 1613 darstellt. In Brandenburg gab es keinen sog. Philippismus, der wie in Anhalt oder Hessen den Boden für den Übergang zum Calvinismus vorbereiten konnte. Hier herrschte vielmehr bis 1613 ein strenges, konkordistisches Luthertum, und wie in den anderen lutherischen Territorien wurde die Kirchenpolitik wesentlich von den lutherischen Hoftheologen Johannes Agricola und Andreas Musculus bestimmt.17 Für die Fragen nach den in der Tat nicht unerheblichen Unterschieden in der Wirksamkeit lutherischer und reformierter Hofprediger - vor allem im Verständnis des landesherrlichen Kirchenregiments - wird man viel eher die Situation in Kursachsen unter Kurfürst Christian I. am Ende des 16. Jahrhunderts in den Blick nehmen müssen. Auch die Gegenüberstellung des calvinistischen Hofpredigers Paul Stein in Hessen-Kassel mit dem orthodox-lutherischen Basilius Sattler in Braunschweig-Wolfenbüttel führt zu interessanten Differenzierungen, wie es die Untersuchung von Luise Schorn-Schütte aufgezeigt hat.18 Die Hoftheologen der Frühen Neuzeit kommen ämtergeschichtlich von dem mittelalterlichen „capellanus" bzw. dem „caplanus aulicus" her.19 Als „Hofkapläne" bzw. „Hofbeichtväter" wirken sie auch an den katholischen Höfen weiter, wo diese Stellen vor allem von Jesuiten besetzt sind, die in der kirchlichen Hierarchie des betreffenden Landes keine Funktion hatten. In eigenen Kapiteln vereinigt, an deren Spitze ein Dekan oder Propst steht, unterstanden sie jedoch stets der Oberaufsicht des päpstlichen Stuhles. Nur an den protestantischen Höfen wurden die Hoftheologen „Hofprediger" genannt, ein Titel, der an das evangelische Bekenntnis gebunden war und außer in Deutschland nur noch in Holland und Skandinavien vorkommt. Der Hauptinhalt ihres Amtes war die Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung im Rahmen der fürstlichen Familie und der Hofgesellschaft. Darüber hinaus waren sie aber auch für die Gottesdienste zuständig, die bei allen öffentlichen Akten des frühneuzeitlichen Staates abgehalten wurden, wie Landtagseröffnungen und -beschließungen, Gedenktage, Huldigungen beim Regierungsantritt eines neuen Herrschers oder bei Begräbnissen. Gerade
17 Vgl. E. Koch, Andreas Musculus und die Konfessionalisierung im Luthertum. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 4), 250-270. 18 Prediger an protestantischen Höfen der Frühneuzeit (Anm. 2). 19 R. von Thadden, Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger (Anm. 14), 9ff.
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Die Stellung lutherischer Hofprediger
diese Landtags-, Huldigungs- und Regentenpredigten, z.T. auch die Leichenpredigten der Hofprediger, bieten die Möglichkeit eines reichhaltigen Einblicks in das politische, kirchliche und soziale Leben des frühneuzeitlichen Territorialstaates. Der meist bei der Erstellung eines neuen Hofpredigers geforderte und gewährte freie Zugang zum Fürsten war mit der Funktion eines geistlichen und politischen Ratgebers verbunden, eine Aufgabe, die an den verschiedenen Höfen je nach Persönlichkeit der Regenten und Theologen und der geschichtlichen Konstellationen recht unterschiedliche Gestalt annehmen konnte. Unabhängig von diesen Unterschieden wird man aber insgesamt für die Geschichte der lutherischen Hofprediger im 17. Jahrhundert von einem charakteristischen Wandel gerade dieser Funktion der Hofprediger nach dem Dreißigjährigen Krieg sprechen müssen. Schon im 16. Jahrhundert gelangten die Hofprediger bei den mannigfaltigen Schwierigkeiten im Aufbau bzw. Konsolidierungsprozeß der Landeskirchen zu erheblichem kirchenpolitischen Einfluß. Das Hofpredigeramt an den protestantischen Fürstenhöfen entwickelte sich zu einem maßgeblichen kirchlichen Leitungsamt, so daß das pastorale Wirken am Hof und in der Hofgesellschaft nur eine der vielfältigen Tätigkeiten darstellt, die die Hofprediger auszuführen hatten. Oft waren sie in Personalunion zugleich auch Generalsuperintendenten, so z.B. an den kleineren lutherischen Fürstenhöfen wie in Gotha oder Ansbach, 20 aber auch im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. 21 Man wird insgesamt die Verallgemeinerung wagen dürfen, daß dort, wo diese Verbindung nicht bestand, die Bedeutung des Hofpredigers erheblich hinter der des Generalsuperintendenten zurückstand, so z.B. in Braunschweig-Lüneburg zur Zeit Johann Arndts 22 oder in Coburg zur Zeit des Rektors am Casimirianum, Johann Matthäus Meyfart. 23 Am bedeutendsten Hof im lutherischen Deutschland, in Dresden, dem wir uns ausschnittweise im folgenden zuwenden wollen, haben die Hofprediger schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bis in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg quasi-landesbischöfliche Rechte ausgeübt. In Kursachsen gewannen sie darüber hinaus nicht nur kirchlich bzw. kirchenpolitisch, sondern auch theologisch maßstäblichen Einfluß. Die Reihe dieser Dresdner Hofprediger, an die auch die bedeutenden orthodoxen Theologen an der Wittenberger Universität wie Abraham Calov24 nach Ansehen und Wirkungsmöglich-
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Vgl. G. Hausmann, Laurentius Laelius. Stadtpfarrer von Ansbach und Generalsuperintendent des Fürstentums Brandenburg-Ansbach (1572-1634). Diss, theol. evang. (masch.), Erlangen 1989. 21 So z.B. Joachim Lütkemann. Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (FKDG41), Göttingen 1988, 255ff. 22 Vgl. W. Sommer (Anm. 21), 142ff. 23 E. Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987, 26ff. 24 J. Wallmann, Art. Calov, Abraham. In: TRE, Bd. VH, Berlin 1981, 563-568.
Hofprediger in Dresden
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keiten nicht heranreichten, wird von Polykarp Leyser d.Ä. eröffnet, der als Erster Hofprediger von 1594-1610 unter der Regentschaft des Administrators Friedrich Wilhelm und Kurfürst Christians II. tätig war und besonders typische Grundzüge eines lutherisch-orthodoxen Hofpredigers verkörpert.25 Ihm folgt das „geistliche Orakel" Kurfürst Johann Georgs I., der Oberhofprediger Matthias Hoe von Hoenegg (1613-1645). 26 Der bis dahin nicht übliche Titel „Oberhofprediger" war mit einer Neuordnung des Dienstes verbunden, den Hoe vor seinem Amtsantritt für die Hoftheologen erreicht hatte. Sie blieb mit Abstrichen das ganze 17. Jahrhundert hindurch erhalten und zog eine deutliche Grenze zwischen dem Oberhofprediger und den beiden anderen Hofpredigern. Von 1645 bis 1664 wirkte Jakob Weller von Molßdorf als Oberhofprediger in Dresden. In seiner scharfen Gegnerschaft gegen Calixt ist er einer der streitbarsten Hoftheologen im 17. Jahrhundert.27 Mit dem Oberhofprediger Martin Geier (1664—1680) kam ein Theologe an den Dresdner Hof, der sich in verschiedener Hinsicht durchaus von seinen Vorgängern unterscheidet.28 Da auch die neben und nach ihm wirkenden Hofprediger Johann Andreas Lucius,29 Samuel Benedikt Carpzov 30 und schließlich Philipp Jakob Spener31 in ihrer theologischen Prägung zusammenstimmen, wird man beim Dienstantritt Geiers im Jahre 1665 von einer gewissen Zäsur sprechen können, die sich in der Geschichte der kursächsischen Hofprediger beobachten läßt. Die These Schorn-Schüttes von einem Funktionswandel des Hofpredigeramtes nach dem Dreißigjährigen Krieg32 findet in den sächsischen Verhältnissen eine klare Bestätigung. Dieser Wandel hat sowohl in den tiefgreifenden Veränderungen der politisch-sozialen Ordnung nach dem Dreißigjährigen Krieg wie auch in Wandlungen der theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Situation im Verlauf des 17. Jahrhunderts seine Gründe. Auf diesen Wandel möchte ich bei der folgenden Vergleichsskizze zwischen einem lutherischen Hofprediger am Anfang und
25 26
Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 21), 11 Iff. H.-D. Hertrampf, Höe von Höenegg - sächsischer Oberhofprediger 1613-1645 (Anm. 10). 27 Während der synkretistischen Streitigkeiten hat sich Calixt wiederholt gegen Weller verteidigt. Vgl. über Weller die Darstellung von J.A. Gleich (Anm. 11), Π, 212f. 28 Vgl. J. Hahn, Zeitgeschehen im Spiegel der lutherisch-orthodoxen Predigt nach dem Dreißigjährigen Krieg (Anm. 15), 26ff. 29 Über ihn s. P. Grünberg, Philipp Jakob Spener, Bd. 1, Göttingen 1893, 216; J. Hahn, Zeitgeschehen, 35f. 30 Über ihn s. J. Hahn, Zeitgeschehen, 220-255 u.ö. 31 Vgl. P. Grünberg, Philipp Jakob Spener (Anm. 29), 207-256; E. Beyreuther, Einleitung. In: Philipp Jakob Spener, Schriften m . l , Hildesheim 1986, 91*—183*; M. Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus Bd. 1, Göttingen 1993, 329-333. 32 Prediger an protestantischen Höfen der Frühneuzeit (Anm. 2), 306. Vgl. auch J. Hahn, Zeitgeschehen, 35.
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Die Stellung lutherischer Hofprediger
in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am kursächsischen Hof in Dresden aufmerksam machen. Einige wenige Hauptaspekte zum äußeren geschichtlichen Rahmen der Dresdner Hofprediger seien zunächst erwähnt. Während die Kurfürsten Christian II. und sein Bruder Johann Georg I. trotz ihrer habsburgfreundlichen, reichstreuen Haltung in konfessioneller Hinsicht durchaus streng lutherische Fürsten waren, deren Abgrenzung gegenüber den Reformierten erheblich diejenige gegenüber den Jesuiten übertraf, so ist bei dem seit 1656 regierenden Johann Georg II. und seinem Hof eine sich immer mehr ausbreitende Stimmung konfessioneller Toleranz wahrzunehmen. Bei seinen Nachfolgern geht die Duldung schließlich in konfessionelle Indifferenz über, die in der Konversion Augusts des Starken im Jahre 1697 gipfelte. Diese veränderte konfessionspolitische Lage zeigt sich auch deutlich in der Berufung der Hofprediger. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden in Dresden ausnahmslos nur noch solche Hoftheologen eingestellt, „bei denen sich eine am praktischen Christentum Johann Arndts orientierte Frömmigkeit mit deutlich irenischen Zügen verband" 33 . Der Oberhofprediger Martin Geier ist dafür ein charakteristisches Beispiel, da seine Predigten und sein kirchliches Wirken als Superintendent in Leipzig und am Dresdner Hof sowie seine Persönlichkeit die Beziehungen zu Arndt unterstreichen, die Geier auch in einer Selbstaussage bekundet haben soll.34 In ähnlichem Geist wie Geier wirkten auch J.A. Lucius und S.B. Carpzov, und alle drei Theologen standen in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Spener. Das wirft ein bezeichnendes Licht auch auf die Berufung Speners zum Oberhofprediger in Dresden im Jahre 1686. Denn wie schon Paul Grünberg in seiner SpenerBiographie bemerkt, bedeutete die Einstellung Speners in Dresden keinen Bruch gegenüber seinen Vorgängern.35 Zwischen dem Selbst- bzw. Herrschaftsverständnis der Kurfürsten bei dem wachsenden zentralistischen Ausbau des frühneuzeitlichen Staates nach dem Dreißigjährigen Krieg und der theologischen und frömmigkeitlichen Prägung der von ihnen ins Hofpredigeramt berufenen Theologen besteht ohne Frage ein Zusammenhang. Nicht nur in Kursachsen, sondern auch an vielen anderen Höfen sind ähnliche Vorgänge zu beobachten, wie es besonders deutlich die Einstellung Joachim Lütkemanns als Hofprediger bei Herzog August in Wolfenbüttel zeigt.36 Dieter Breuer hat in diesem Zusammenhang auf die politische Funktion der Frömmigkeit im frühabsolutistischen Staat und die strukturellen Gemein-
33 J. Hahn, Zeitgeschehen, 35. 34 In seiner Geschichte der protestantischen Theologie bemerkt Gustav Frank, daß Geier gesagt habe, die entscheidenden Anstöße zu seinem Christsein habe er vom „Wahren Christentum" Johann Arndts empfangen (Bd. 2, Leipzig 1865, 33). 35 Wie Anm. 29,216. 36 Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 21), 272ff.
Politische Funktion der Frömmigkeit
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samkeiten über die Konfessionsgrenzen hinweg hingewiesen.37 Wenn diese allgemeine Beobachtung jedoch zu der These führt, daß die Hofprediger seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nur noch als „Repräsentanten individualistisch geprägter, obrigkeitlich sanktionierter Frömmigkeitsformen" bezeichnet werden, die den Untertanen mit disziplinierender Wirkung vermittelt wurden,38 so erscheint mir das außerordentlich fragwürdig. Nur im Zusammenhang mit den jeweiligen konkreten geschichtlichen Konstellationen und den individuellen Gestaltungsmöglichkeiten im Obrigkeitsverständnis der Hofprediger könnte eine solche These diskutiert werden, wofür die von Breuer benutzte Quellenbasis jedoch viel zu schmal ist. Für Kursachsen gilt jedenfalls, daß schon bei Johann Georg II., erst recht bei Johann Georg III. (16801691) von einer ausgeprägten individuellen Pietas als aktiv-gestalterischem Faktor, wie es z.B. für die Regentschaft Herzog Emsts des Frommen von Sachsen-Gotha charakteristisch ist, nicht gesprochen werden kann. Der deutlich zunehmende Rückzug der sächsischen Kurfürsten aus der Konfessionalität in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist nicht einfach gleichzusetzen mit der irenisch ausgerichteten Frömmigkeit der Hofprediger im Geiste Arndts, wenn auch bestimmte Erwartungshaltungen auf seiten der Kurfürsten eine gewisse Rolle gespielt haben dürften, wie es sich bei der Berufungspraxis der Oberhofprediger andeutet. Die Obrigkeitskritik der lutherischen Hofprediger erreicht aber gerade nach dem Dreißigjährigen Krieg einen besonderen Höhepunkt, wie die Regentenpredigt Lütkemanns in Wolfenbüttel 39 und die Obrigkeitspredigten der sächsischen Oberhofprediger Geier und Spener zeigen, wobei allerdings die Struktur dieser Kritik im Rahmen des weiterbestehenden Traditionsbewußtseins zur älteren lutherischen Theologie eine charakteristische Wandlung erfahren hat. Bevor wir einige vergleichende Strukturelemente im Obrigkeitsverständnis der Hofprediger Polykarp Leyser d.Ä. und Martin Geier herauszustellen versuchen, soll noch kurz etwas zu Herkunft, Stellung und äußerem Wirkungsradius der lutherischen Hofprediger gesagt werden, konzentriert vor allem auf den kursächsischen Hof in Dresden. In sozialer Hinsicht kommen sie meist aus dem mittleren bis gehobenen städtischen Bürgertum. Leyser war z.B. der Sohn eines Pfarrers und Superintendenten, Hoe der Sohn eines Geheimen Rates in kaiserlichen Diensten, und Geier ist der Sohn eines Leipziger Kaufmanns. Diese Herkunft ist auch für Hofprediger an anderen Höfen charakteristisch. Bevor sie ins Hofpredigeramt berufen wurden, waren sie oft 37
D. Breuer, Absolutistische Staatsreform und neue Frömmigkeitsformen. Voriiberlegungen zu einer Frömmigkeitsgeschichte der frühen Neuzeit aus literaturhistorischer Sicht. In: Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 2, Frömmigkeit in der frühen Neuzeit, Amsterdam 1984, 5-25. 38 Ders., Der Prediger als Erfolgsautor. Zur Funktion der Predigt im 17. Jahrhundert. In: Vestigia bibliae 3, Hamburg 1981, 31^*8: 33 und 35f. 39 Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 21), 291ff.
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Die Stellung lutherischer Hofprediger
schon in wichtigen kirchenleitenden Ämtern als Superintendent und Mitglied des Konsistoriums oder an der Universität als Theologieprofessor tätig und besaßen den theologischen Doktorgrad. Die Mitgliedschaft im Konsistorium war mit dem Hofpredigeramt in Dresden direkt - wie an vielen anderen Höfen - verbunden, wo sie ja auch vielfach als Generalsuperintendenten tätig waren. Bei der Berufung eines neuen Hofpredigers wirkten in Dresden auch noch nach der Mitte des 17. Jahrhunderts der Kurfürst und das Oberkonsistorium zusammen, wobei der Regent nach Einholung genauer Informationen und Ratschläge aus einer vom Konsistorium erstellten Namensliste dann schließlich seine Wahl traf. Die Stellung der Hofprediger im Rahmen des Hofstaates ist natürlich nach den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten unterschiedlich, jedoch auch z.T. nicht immer ganz klar ersichtlich. In Dresden waren die Oberhofprediger und die anderen Hofprediger - vermutlich - dem Oberhof- bzw. Hofmarschall zugeordnet und dem Einkommen nach etwa den Leibärzten gleichgestellt. Den Oberhofpredigern unterstanden alle in der Hofkapelle amtierende Personen, einschließlich der Kirchenmusiker. Dazu gehörten neben den beiden Hofpredigern der Kapellmeister - bis 1672 war dies Heinrich Schütz - , der Hofkantor, Nebenkantor und Hoforganist sowie die Hofkirchner. Nach der neuen Dienstordnung von 1613 war für den Oberhofprediger die sonntägliche Hauptpredigt reserviert. Von Altardiensten, Lesungen sowie Vespergottesdiensten waren sie dispensiert. Zur Zeit Kurfürst Johann Georgs II. waren im Zusammenhang der prächtigen Ausgestaltung der Schloßkirche im Jahre 1662 der lutherische Hauptgottesdienst und die Kirchenmusik am Dresdner Hof zu einem besonderen Höhepunkt gelangt. Unter der Kanzel der Schloßkirche saßen nicht nur die engeren Mitglieder des Hofstaates, sondern auch zum Kanzleistaat gehörende Personen wie Geheim- und Justizräte sowie offenbar auch dem Hof und der Regierung fernstehende Personen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Polykarp Leyser d.Ä. ein besonders typischer Vertreter der orthodox-lutherischen Hofprediger in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg gewesen ist. Leyser als Vorbild eines lutherischen Hofpredigers schlechthin - diese Sicht kam schon im 17. Jahrhundert mehrfach zum Ausdruck, vor allem nach 1650. Immer wieder weisen lutherische Theologen und Hofprediger auf ihn hin, und zwar auf seinen sog. „Hofpredigerspiegel", jene Grundsätze, in denen er sein Selbstverständnis als Hofprediger ausführlich darlegt. Diese Rechenschaftsablegung kam erstmals 1605 als Vorwort zu seinem Regentenspiegel heraus, den vier Landtagspredigten über den 101. Psalm.40 So sieht z.B. Abraham Calov in seiner „Christlichen Trauer- und Gedächtnis-Predigt auf den Tod Jakob Wellers" im Jahre
40
Polykarp Leyser, Regenten Spiegel/ geprediget aus dem 101. Psalm/ des Königlichen Propheten Davids [...], Leipzig 1605. - Vgl. dazu ausführlich W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 21), 122-134.
Polykarp Leyser d.Ä.
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1664 in diesen Regeln Leysers eine „völlige Schattierung des Bildes eines Ober-Hoff-Predigers" und fügt sie vollständig seiner Leichenpredigt an.41 Auch Martin Geier hat sich in seinen Dresdner Predigten mehrfach auf diesen Hofpredigerspiegel Leysers berufen. 42 Man wird in diesem Bezug auf Leyser in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Traditionsbewußtsein mit der Frühorthodoxie erkennen können, das den Hofpredigern nach dem Dreißigjährigen Krieg in ihrer veränderten, eingeschränkten Situation offenbar nicht unwichtig war. Inhaltlich geht der Hofpredigerspiegel Leysers von der Betonung der reinen Lehre in Schrift und Bekenntnis aus, die in der praktischen Konsequenz angesichts der mannigfaltigen Versuchungen und Sünden gerade am Hof zur Notwendigkeit der Strafpredigten führt. Der Verleumder-Teufel der Calvinisten und Jesuiten kann aber nichts ausrichten, „Unsere Herrschaft ist zu christlich, will Strafpredigten haben" 43 . Ausführlich weist Leyser den Vorwurf von angeblichem Reichtum im Hofpredigeramt zurück. Kirche und Schule müssen die notwendigen geldlichen Mittel haben, für die er immer wieder Eingaben macht und auch Strafgelder für notwendig hält. Freilich habe er sich niemals bei seiner Herrschaft ungebührlich eingeschlichen und stets die ehrerbietige Distanz gewahrt.44 Deutlich stellt Leyser die Unabhängigkeit des geistlichen Amtes heraus. Damit begegnet er dem vielfach erhobenen Vorwurf besonders gegen die Hofprediger, sie wollten in ihrem Amt Einfluß auf die politischen Angelegenheiten nehmen. Leyser selbst sieht sich dem Vorwurf des „Dreßnischen Bapst" ausgesetzt.45 Die Pfaffen wollen zu viel „dominieren", einen Fuß auf der Kanzel, den anderen auf der Kanzlei haben.46 Mit dem geschickten Hinweis auf die vermischten Gegenstände bei Kirchen- und Schulsachen, halb geistlich und halb weltlich, hebt er die Verantwortung der Hofprediger gerade in diesem Bereich hervor, obwohl eine geistliche Person nur mit geistlichen Sachen umzugehen habe.47 Im Zusammenhang mit der von Leyser geforderten strikten Einhaltung der überkommenen Kirchenordnungen werden ausführlich die Kämpfe vor allem mit dem
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Christliche Trauer- und Gedächtnis Predigt auf den Tod Jakob Wellers, gedruckt und verlegt bey Michael Wendt, Wittenberg 1664. Vgl. J. Hahn, Zeitgeschehen, 158f., 173-176. Vorrede zum Regentenspiegel, 8. Ebd., 23f. Ebd., 28. Ebd., 25. Leyser wendet sich gegen die Vermischung von Kanzel und Kanzlei; gerade dieser unmittelbare Bezug auf Luthers Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regimentes führt den lutherischen Hofprediger zu seinem sozialpolitischen Wirken und zur Begründung seiner politischen Predigt. Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, 130ff.
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Landadel geschildert, der sich den Anordnungen des angeblichen Dresdner Papstes, z.B. bei Kindtaufen, nicht fügen will.48 Leyser will mit diesen Regeln deutlich einen allgemeinen Maßstab für Hofprediger setzen, vor allem für junge Prediger, die bedenken sollen, „wie ein Hoff-Prediger so einen beschwerlichen, sorglichen standt habe in seinem beruff" 49 . Mit einer scharfen Kritik, wohl besonders im Blick auf calvinistische Hofprediger, beschließt Leyser seinen Hofpredigerspiegel: „Wie sol es denn denen gehen/ die so blindlingen in die Hoffpredicatur hineinplatzen/ bedencken nicht einmahl/ was für ein sorglich thun es sey/ sitzen von einer mitternacht biß zur andern/ liegen unten und oben mit der gesellschaft/ und machen es so unsöde/ daß einem die Ohren wehe thun/ der es nur höret?" 50 Dieser Geist eines selbstbewußten lutherischen Hofpredigers kommt auch in den Dresdner Regenten- und Landtagspredigten Leysers zum Ausdruck, in denen das Obrigkeitsverständnis und die Obrigkeitskritik des älteren Luthertums besonders charakteristisch zusammengefaßt sind. In direktem Bezug auf Luthers Obrigkeitsverständnis in der Obrigkeitsschrift von 1523 und vor allem in seiner Auslegung des 101. Psalms von 153551 stellt Leyser die tiefe Verbundenheit von göttlicher Würde und hoher Verantwortung des obrigkeitlichen Amtes heraus. Nur von diesem Zusammenhang aus ist auch seine erhebliche Kritik an dem konkreten Handeln der Obrigkeit zu verstehen. Leyser geht es in seiner politischen Predigt am Dresdner Hof in erster Linie um die Eigenständigkeit der Kirche und des geistlichen Amtes im frühneuzeitlichen Territorialstaat. In seinem Hofpredigeramt versucht er, mit grundsätzlicher Belehrung und konkreter Ermahnung auf die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, vor allem auf die Kirchenordnung, maßgeblich Einfluß zu nehmen. Das Instrument der Strafpredigt setzt Leyser auf der Grundlage von drei miteinander verbundenen Topoi ein: Mit dem Vorwurf der Caesaropapie, der Unterscheidung und Zuordnung des geistlichen und weltlichen Regiments und mit der Dreiständelehre. Alle drei Vorstellungsinhalte entfalten in der Predigt Leysers ihre kritische Kraft sowohl gegenüber dem Regenten wie den Hofbeamten. Die Kritik an der Obrigkeit erstreckt sich nicht nur auf das persönliche Verhalten, sondern auch auf die politische und vor allem soziale Verantwortung der Regenten und ihrer Hofbeamten. Sie entspricht dem strengen Maßstab, den Leyser für sich selbst und für alle Prediger, insbesondere für die Hofprediger, aufstellt. Die ethischen Kriterien und das Anschauungsmaterial für sein Obrigkeitsverständnis entnimmt Leyser mit der ganzen lutherischen Orthodoxie den frommen Königen des Alten Testaments. Gegenüber drei Hauptgefahren muß sich nach Leyser eine
48 Vorrede zum Regentenspiegel, 28. 49 Ebd., 39. 50 Ebd. 51 WA 51, 200-264. Vgl. den ersten Aufsatz in diesem Band, 11-53.
Martin Geier
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christliche Obrigkeit schützen: dem Eindringen der falschen Lehre in die Kirche, dem Einfluß, den ein „Machiavellisch ingenium" oder ein „Calvinischer Wirwelgeist" in der Politik gewinnen kann sowie den Gefahren eines lasterhaften Lebens.52 Indem der lutherische Hofprediger seinen Rat mit dem des Kanzlers Nikolaus Krell kontrastiert, nimmt er schon jene Unvereinbarkeit von Gottesfurcht und Staatsräson vorweg, mit der nach dem Dreißigjährigen Krieg lutherische Theologen gegen die zerstörerischen Kräfte im Herrschaftsverständnis des frühabsolutistischen Staates ankämpfen. Auch der Hofprediger Martin Geier gehört zu ihnen. Aber das Spannungsfeld zwischen Traditionsbewußtsein, realpolitischer und kirchlicher Situation und theologischen Strukturelementen im Obrigkeitsverständnis hat sich gegenüber Leyser verändert. Für die politische Situation in Kursachsen nach dem Dreißigjährigen Krieg gilt ähnliches wie für viele andere Territorien: Aufbau einer zentralen Verwaltung aufgrund einer weitgehenden politischen Autonomie und die großen Anforderungen der Nachkriegszeit. In einer Flut von Verordnungen schlägt sich dieser Erneuerungswille nieder, die alle Einfluß und Ansehen des Kurfürsten förderten. Aber die Position der Landstände war in Sachsen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch sehr gefestigt, wie die Landtage von 1657 und 1660/61 zeigen. Entwicklungsschritte zum frühabsolutistischen Staat sind dennoch deutlich, so z.B. die Versuche Johann Georgs II., mehr Einfluß auf den Geheimen Rat durch neue Mitglieder in seinem Sinn zu gewinnen. Die Residenz in Dresden wurde während seiner Regierung zu einer der bedeutendsten der Zeit ausgebaut. In kirchlichtheologischer Hinsicht ist die Persönlichkeit des Kurfürsten schillernd. Einerseits zeigt er durchaus theologische und vor allem liturgische Interessen, andererseits lag ihm offenbar sehr wenig an der Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse im Land. Erst 1670 kam z.B. nach mehrmaligen Eingaben der Stände die erste Visitation nach dem Krieg zustande. Die zunehmenden Spannungen zwischen Kirche und Obrigkeit kommen in einem Brief zum Ausdruck, den Geier an Spener als Antwort auf die Zusendung seiner „Pia desideria" geschrieben hat. Geier führt darin Klage, „daß der geistliche stand also ietzund von der weltlichen gewalt eingeschräncket stehe, daß er das wenigste nicht auszurichten vermöge, indem keine fürsten oder dero Ministri zu guten rathschlägen hülfreiche hand böten [...]" 53 . Welche inhaltlichen Strukturelemente zeigt nun auf diesem Hintergrund das Obrigkeitsverständnis Geiers? Ich stütze mich hierbei auf seine Landtagspredigt von 1666 über 2. Sam 5,Iff. 54 52
Eine Glückwünschungs Predigt/ zu unterthenigsten Ehren/ Dem Durchlauchtigsten/ hochgebomen Fürsten und Herrn/ Herrn Christiano II. [...] Gehalten von D. Polykarpe) Leysern [...] den 23. Septemb. Anno Christi 1601 in Dresden, Bb. 53 Theologische Bedencken ΙΠ, Halle 1715, 217. 54 Christliche Landtags=Predigt/ Darinnen aus dem zweiten Sam. 5,1.2 Die genaue Verwandnuß (1.) des herrschenden Haubts und (2.) der willigen Glieder/ gewiesen
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Die Stellung lutherischer Hofprediger
Zwei Grundintentionen durchziehen spannungsvoll das Obrigkeitsverständnis Geiers. Zum einen ist es der Gedanke der gegenseitigen Verpflichtung aller im Gemeinwesen vereinigten Glieder. Das altisraelitische Königtum, der Herzog-Begriff der deutschen Geschichte sowie die Metapher von Haupt und Gliedern dienen Geier zur Veranschaulichung dieser gegenseitigen Beanspruchung aller Beteiligten innerhalb einer Sozietät. Dabei rücken die Könige des Alten Testaments und die altgermanischen Herzöge eng zusammen, da sie ihre Führungsaufgaben aufgrund von vorbildhafter Leistung und Ansehen im Volk gewinnen. Ihr Vorbildcharakter bezieht sich auf weltliche wie geistliche Aufgaben. Ein Fürst hat wie David „so wohl in privat als öffentlichen/ so wohl in weltlichen als geistlichen Verrichtungen" seinem Volk voranzugehen. 55 An König David und Kaiser Theodosius ist dies beispielhaft zu sehen. Schon damit wird deutlich, daß Geier das Herrschaftsamt Davids nicht unter der Perspektive der unableitbaren Souveränität Gottes sieht wie Luther. Die geschichtstheologische Begründung tritt ganz zurück zugunsten der Legitimation Davids aufgrund seiner menschlichen Qualitäten. Ohne Reflexion auf Unterschiede zwischen weltlichem und geistlichem Amt ist David das Vorbild eines Fürsten, der sich durch seine hohen ethischen Qualitäten auszeichnet, die ihn damit zugleich aber ebenso hoch gegenüber dem Gemeinwohl verpflichten. Besonders aufschlußreich im Obrigkeitsverständnis Geiers ist die Metapher von Haupt und Gliedern im Anschluß an 1. Kor 11,3. Mit ihr versucht er einerseits, die gegenseitige Verpflichtung, die gemeinsamen Interessen und die notwendige Harmonie aller Gruppierungen im kursächsischen Staat zum Ausdruck zu bringen. Vor allem aber dient sie ihm dazu, die Obrigkeit als das Haupt von allen anderen Gliedern abzuheben. Es ist damit die zweite und dominierende Grundintention im Obrigkeitsverständnis Geiers bezeichnet. Der Gedanke des harmonischen Herrschaftsverbandes ist der Intention nach nicht relativiert, aber er entfaltet seine mögliche obrigkeitskritische Kraft nicht in Richtung einer Machtbegrenzung des Fürsten ähnlich dem Gedanken der mutua obligatio im reformierten Protestantismus,56 sondern das Haupt nimmt am Leib den obersten Platz ein, so daß die Harmonie am besten durch den willigen Gehorsam aller Glieder gegenüber dem Haupt gewährleistet ist. Dem Haupt stehen die „edelsten Verrichtungen" zu [...] „des sehens/ worden [...] den 5. Martij dieses 1666. Jahres, Meissen 1666. In: D. Martin Geier [...] Volumen Concionum Miscellanearum, Das ist unterschiedliche denckwürdige Predigten/ von sonderbaren nützlichen Materien zu gewissen Zeiten und Orten gehalten [...], Leipzig 1713. - Vgl. J. Hahn, Zeitgeschehen, 148ff. 55 Ebd., 1045. 56 Vgl. G. Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag. In: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, 157-178.
Martin Geier
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hörens/ richens/ schmeckens/ des nachsinnens/ urteilens/ gedenkens" und dient dem Leib, „daß es alle glieder desselben regiert und durch seine zunge für dieselben redet"57. Als sinnvolle Regierungsform sieht Geier darum auch das „regimen monarchicum" an. David ist ja auch zum „einzigen Haupt" des Volkes Israel proklamiert worden.58 Die herausragende Stellung des Regenten kommt bei Geier außer durch die Metapher des Hauptes am Leib auch noch im Bild des Hirten zum Ausdruck, der seine Herde hütet, d.h. umfassend für sie sorgt. Damit ist wiederum das leibliche und geistliche Wohl der Untertanen zusammengefaßt. Die sich selbst weidenden Hirten sind das Gegenbild, die „pro ratione status" das ihnen anvertraute Gut mißbrauchen.59 Im zweiten Teil der Landtagspredigt wird neben dieser grundsätzlichen Erörterung auch der reale politische Hintergrund sichtbar. Geier weist auf die beim Landtag 1657 neu bekräftigte Erhaltung der lutherischen Lehre hin, auf die Aufgaben in Kirche, Universität, Schule, Justiz und Polizeiordnung. Die hohe Verpflichtung des Regenten in allen weltlichen und geistlichen Belangen ist im Obrigkeitsverständnis Geiers nicht nur theoretischer Anspruch, sondern praktische Wirklichkeit, allerdings in nicht zu übersehender Idealisierung der realen Konstellationen. Nur an einer Stelle rückt Geier das Herrscheramt der weltlichen Obrigkeit unter Berufung auf ein Lutherwort in direkt theologischen Bezug. Gott habe den Kurfürsten in sein Regentenamt geführt, aber er kann ihn auch wieder absetzen, wenn sich dessen Zorn und die Seufzer der Untertanen zu sehr häufen. 60 Auffallend ist, daß der Bezug auf Luther nur dort stattfindet, wo es um die notwendige Erfahrung eines Fürsten, seine Uneigennützigkeit und Frömmigkeit oder um die Sorge für die Erziehung der Jugend geht. Auf die theologische Grundaussage in Luthers Auslegung des 101. Psalms, die Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regiments, geht Geier mit keinem Wort ein, obwohl ihm diese Psalmauslegung Luthers bekannt war, wie bestimmte Wendungen zeigen.61 In welcher Weise übt der Dresdner Oberhofprediger nun von diesem ethisch-anthropologisch geprägten Obrigkeitsverständnis her Obrigkeitskritik? Die Palette dieser Kritik ist ähnlich der vieler vergleichbarer Hofprediger und Theologen wie z.B. Lütkemanns oder Dannhauers. Die Hauptsorge ist, daß die kursächsische Regierung den mannigfaltigen Gefährdungen der Zeit nicht mehr in der gebotenen Weise begegnen könne. Zu den von Geier z.T. recht deutlich kritisierten, konkreten Zuständen gehören das sittenlose 57 Ebd., 1040. 58 Ebd. 59 Ebd., 1044. 60 Ebd., 1057. 61 Geier zitiert Luther vor allem nach seinem Fürstenspiegel im dritten Teil der Obrigkeitsschrift von 1523 („wie ein weltlicher Fürst Christ sein solle"). Am Ende des ersten Teils der Landtagspredigt weist er auf Davids Beschreibung im 101. Psalm hin.
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Hofleben - hier unterscheidet er sich kaum von den schon längst vorhandenen topischen Kritikmustern - , die römisch-katholischen Gesandtschaftsgottesdienste in Dresden, das Steuerwesen und die hohen Aufwendungen des Hofes für Festungsbau und Militärwesen. Besonders Geiers Kritik an den Gottesdiensten der nicht wenigen Katholiken am Dresdner Hof zeigt seinen Kampf gegen konfessionellen Indifferentismus und Synkretismus. Die konkreten Verhältnisse in Dresden stehen für die damaligen Hörer klar erkennbar hinter den obrigkeitskritischen Passagen der Predigten Geiers.62 Insgesamt zeigen die Predigten dieses Hofpredigers eine hohe Sensibilität für die Zeitereignisse, die erheblichen Raum neben den biblischen Bezügen einnehmen. Die in der Freiheit des Wortes Gottes begründete Unabhängigkeit des geistlichen Amtes führt auch Geier in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer wieder zu einer Einmischung in politische Angelegenheiten. Im direkten Bezug auf den Hofpredigerspiegel Polykarp Leysers, im Gedanken des Gemeinen Nutzens im Kampf gegen das Eindringen falscher Lehre und gegen die Staatsräson sowie in der Sozialkritik äußert sich ein Traditionsbewußtsein, das Geier mit Leyser und z.T. auch mit der Hofpredigertradition der Frühorthodoxie, z.B. Selneckers, verbindet. Aber die Unterschiede Geiers gegenüber Leyser sind nicht weniger auffällig. Die ethisch-anthropologische Ausrichtung in Geiers Obrigkeitsverständnis führt zu einem Verlust der geschichtstheologischen Dimension, wie sie vor allem Luthers Auslegung des 101. Psalms charakterisiert. Damit hängt die gravierende Tatsache zusammen, daß die Zweiregimentenlehre Luthers und die Dreiständelehre wie noch bei Leyser, bei Geier und seinen Zeitgenossen keinerlei Rolle mehr spielt, sie fällt für das Obrigkeitsverständnis völlig aus. Seit Johann Arndt und Johann Gerhard waren genügend dogmatisch-kirchenrechtliche und frömmigkeitliche Formen in der Nachfolge Melanchthons ausgebildet worden, womit die fast vollständige Übertragung der cura religionis auf die christliche Obrigkeit begründet wurde. Die umfassende Fürsorge der christlich-frommen Obrigkeit gegenüber dem Gemeinwohl bestimmte sowohl die übersteigerte Erwartungshaltung gegenüber dem Regenten wie auch die Inhalte der Obrigkeitskritik. Diese hatte in Gestalt kritischer Fürstenspiegel und z.T. drastischer Mahn- und Strafappelle gewiß kein geringes Gewicht. Aber mit dem Verlust der lutherischen Zwei-Regimenten-Unterscheidung und der nicht mehr ausdrücklichen Berufung auf die Dreiständelehre ging auch jenes Kritikpotential verloren, das aus einer prinzipiellen Sorge um die Eigenständigkeit der Kirche im frühneuzeitlichen Staat erwachsen war. An den inhaltlichen Strukturelementen im Obrigkeitsverständnis bestätigt sich nun, worauf wir schon hinwiesen, nämlich daß Geier in einer deutlichen Beziehung zu Johann Arndt steht. Auch Arndt hat in den Obrigkeitspredigten 62
Vgl. J. Hahn, Zeitgeschehen, 158-177.
Martin Geier
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seiner Evangelienpostille die Metapher von Haupt und Gliedern benutzt, um damit die umfassende Fürsorge der christlichen Obrigkeit für das Gemeinwesen zu umschreiben. 63 In der Anwendung dieses Bildes zeigt sich bei beiden der Verlust der lutherischen Unterscheidung der beiden Regimente. Aber ein charakteristischer Unterschied zwischen Geier und Arndt wird deutlich: Bei Arndt ist dieses Bild ganz in den christologischen und eschatologischen Rahmen seines Obrigkeitsverständnisses eingeordnet. Die christliche Obrigkeit steht nach Arndt im Kampf gegen das Reich des Teufels, und in diesem Kampf schafft sie die äußere Ermöglichung des sich im Inneren der Frömmigkeit realisierenden Reiches Christi. Dieser christologische und auch eschatologische Aspekt fehlt bei Geier völlig. Die Metapher von Haupt und Gliedern wird rein innerweltlich ausgedeutet, die angegebenen neutestamentlichen Stellen können ihre andersgerichtete Aussagekraft nicht entfalten. Wie ist nun dieser Befund zu beurteilen? In unserer Gegenüberstellung des Obrigkeitsverständnisses der beiden Dresdner Hofprediger Leyser und Geier sehen wir eine Bestätigung für die These zweier Hauptströmungen lutherischen Obrigkeitsverständnisses im konfessionellen Zeitalter.64 Sie stehen sich freilich nicht gegensätzlich gegenüber, sondern zeigen einen Wandlungsprozeß, in dem auch ein Traditions- und Kontinuitätsbewußtsein von der Frühorthodoxie bis zum späten 17. Jahrhundert deutlich wird. Ältere und neue, wesentlich von Arndt ausgehende Impulse kommen bei Geier und ähnlich auch bei Dannhauer oder Lütkemann zusammen, allerdings so, daß sich der Unterschied gegenüber den älteren Hofpredigern nicht übersehen läßt. Wenn Geier das christologische Strukturelement im Obrigkeitsverständnis Arndts nicht übernimmt, so bedeutet dies nicht, daß er wieder auf die ältere Strömung zurücklenkt. Die innerweltliche Deutung des Bildes von Haupt und Gliedern sowie die dualistische Umbildung der Dreiständelehre zu dem „zeitgemäßen" Ordnungsschema „Obrigkeit - Untertanen" bei Geier und anderen Hofpredigern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sehen wir als die Nachwirkung jenes Obrigkeitsverständnisses an, bei dem der christliche Fürst als der ideale Garant umfassender kirchlicher Fürsorge angesehen wurde und sich in manchen Territorien nach dem Dreißigjährigen Krieg ja auch tatsächlich als solcher bewährte. Die fast vollständige Übertragung der cura religionis auf die christliche Obrigkeit hatte freilich ein Fürstenbild vor Augen, das auch schon vor und während des Dreißigjährigen Krieges der theologischen Idealisierung unterlag, das sich aber seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht nur in der realen Politik, sondern auch im Blickwinkel der Theologen erheblich wandelte. Wenn das Ideal auch immer weniger der Wirklichkeit entsprach, so blieb 63 Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 21), 182-205: 187. 64 Ebd., 315-323:319.
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Die Stellung lutherischer Hofprediger
doch die hohe Erwartungsperspektive erhalten, die sich aber nun von der christokratischen Dimension auf die ethisch-religiöse Ebene verlagerte. Wie kurz der Schritt von einem selbstlosen christlichen Fürsten mit universalen Aufgaben zu einem universal herrschenden Politiker mit nur begrenzt konfessionellem Interesse war, konnte von dieser Sicht aus kaum wahrgenommen werden. Der aufgezeigte Wandel im Obrigkeitsverständnis der lutherischen Hofprediger im Verlauf des 17. Jahrhunderts bedeutet keineswegs Anpassung an bestehende Verhältnisse oder gar Resignation gegenüber dem frühabsolutistischen Staatsaufbau. Im Gegenteil kämpften sie mit Schärfe gegen Machiavelli und gegen die zunehmende Sittenlosigkeit des Hoflebens. Sie stehen damit in derselben Linie wie die zeitgenössische christliche Staatslehre eines Dietrich Reinkingk oder Veit Ludwig von Seckendorff. 65 Die Art und Weise, wie hier an die Dreiständelehre angeknüpft wurde, macht auch in diesen politiktheoretischen Werken die Wandlung deutlich. Dem status ecclesiasticus und dem status oeconomicus werden ausschließlich Gehorsamsfunktionen und dienende Aufgaben gegenüber dem status politicus zugewiesen. Die Erneuerung der Kirche und des christlichen Lebens wurde von einer Erneuerung der lutherischen Frömmigkeit erwartet, was durchaus mit scharfer Hofkritik einhergehen konnte. Aber das grundsätzliche Kritikpotential, das die Zweireichelehre und die Dreiständelehre bereithielten, und das bei so vielen Theologen und Hofpredigern in der lutherischen Orthodoxie lebendig war, wurde in der Folgezeit des Pietismus aufgrund neuer Herausforderungen und Akzentsetzungen nicht mehr genutzt. So könnte eine Geschichte der lutherischen Hofprediger auch in die bis heute nicht voll befriedigende Verhältnisbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus im Zusammenhang der geschichtlichen Wandlungen des 17. Jahrhunderts einige wichtige Akzente einbringen.
65
Dietrich Reinkingk, Biblische Policey, Frankfürt a.M. 1653; Veit Ludwig von Sekkendorff, Teutscher Fürsten Stat, Frankfurt a.M. 1665.
Gottesfurcht und Fürstenherrschaft Das Verständnis der Obrigkeit in Predigten der Hofprediger Justus Gesenius und Michael Walther
I.
Die geringe Beachtung und die nicht aufgearbeitete Fülle der Predigtbände des späten 16. und 17. Jahrhunderts, „damit die werthe Christenheit von mehr als hundert Jahren her fast überschwemmet worden", wie Dannhauer, der Lehrer Speners, 1661 feststellt,1 trifft insbesondere auch für die politische Predigt der lutherischen Orthodoxie zu. In der älteren theologischen Literatur findet sich nur ein recht schwankendes und wenig differenziertes Bild von der Stellung der Orthodoxie zum weltlichen Regiment einschließlich der cura religionis der Fürsten, das noch durch das Fehlen einer Geschichte des landesherrlichen Kirchenregiments zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und dem Beginn des Pietismus weiter verdunkelt ist.2 Zwar hat die territorialgeschichtliche Forschung die alte Diskussion um Entstehung, Ausformung und Praxis des landesherrlichen Kirchenregiments ein gutes Stück weitergebracht, wie die Arbeiten von Krumwiede und Deppermann zeigen,3 doch ist die theologische und kirchenpolitische Bewertung des fürstlichen Kirchenregiments innerhalb der lutherischen Orthodoxie bis hin zu Spener noch kaum im einzelnen und im Zusammenhang erforscht worden. So ist es von dieser Ausgangslage aus verständlich, daß die Arbeit von Martin Kruse „Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre
1
2 3
Evangelisches Memorial, Straßburg 1661, Vorrede, zitiert nach W. Horning, Dannhauer, Straßburg 1883, 67. Ich entnehme dieses Zitat von M. Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte, AGP Bd. 10, Witten 1971,32. Darauf macht auch M. Kruse in der Einleitung zu seiner Untersuchung, l l f . , aufmerksam. H.-W. Krumwiede, Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments in Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel (SKGNS 16), Göttingen 1967; K. Deppermann, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich ΠΙ. (I.), Göttingen 1961.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
Vorgeschichte" 4 eine breite Beachtung gefunden hat. Zielte diese Arbeit auch vorwiegend auf eine Charakterisierung von Speners Reformprogramm, ausgehend von seiner Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment, so ist sie doch über die Spenerforschung hinaus besonders durch den Aufweis einer bewegten Geschichte der Obrigkeitskritik in der lutherischen Orthodoxie des 16. und 17. Jahrhunderts bedeutsam. Kruse hat gerade auch an den Obrigkeitspredigten gezeigt, daß Spener in seiner Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment an die orthodoxe Obrigkeitskritik des 16. und 17. Jahrhunderts anknüpft. „Er nimmt das Geschichtsschema ,Papocaesarie/Caesaropapie' auf, das sich nach dem Tode Luthers gebildet hatte. [...] Er aktualisiert es noch einmal, zieht nun aber im Unterschied zu Johann Conrad Dannhauer und Johann Valentin Andreae, wie überhaupt zur Orthodoxie die Folgerung, daß auf die Mitwirkung der Obrigkeit beim intendierten Reformwerk [...] verzichtet werden müsse; denn das Lebenszeugnis weist den weltlichen Stand als heillos verdorben aus; zudem versteht er sich nicht mehr als Glied der Kirche im Sinne der Dreiständelehre, sondern begründet unter dem Schein des ius episcopale ein diktatorisches Regiment über die Kirche". Neben der jeweils unterschiedlich strukturierten Obrigkeitskritik bei Dannhauer, Andreae und Spener, wird dieses Ergebnis der Untersuchung von Kruse noch erweitert durch die Analyse der Kritik an der antichristlichen Obrigkeit bei Christian Hoburg. Kruse stellt hier fest, besonders im Blick auf Hoburgs „Christ-Fürstlichen Jugend-Spiegel" von 1645, den er den Söhnen Herzog Augusts von Braunschweig-Lüneburg gewidmet hat, daß es „im Raum des mystischen Spiritualismus offenbar keine eigenständige, grundsätzliche Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment gegeben hat, daß diese vielmehr ein Anliegen der Orthodoxie gewesen ist. Bei Christian Hoburg gab es nur eine Front: die Papocaesarie des unerleuchteten Predigerstandes." 5 An diese Untersuchung von Martin Kruse möchten sich unsere Ausführungen über das Obrigkeitsverständnis zweier lutherisch-orthodoxer Theologen und Hofprediger in der Nachbarschaft Herzog Augusts von Braunschweig-Lüneburg anschließen: Justus Gesenius und Michael Walther. Bevor darauf näher eingegangen wird, sollen die wichtigsten Problem- und Fragestellungen genannt werden, unter denen sich der Versuch einer umrißhaften Bestimmung ihres Obrigkeitsverständnisses vollzieht. Kruse hat seine Arbeit mit den gewichtigen Sätzen beschlossen: „So groß die Unterschiede zwischen Johann Valentin Andreae, Dannhauer, Hoburg und Spener sind, sie alle erscheinen doch im Vergleich zu Luther darin verwandt, daß sie aus dem Evangelium die Ordnung des Staates ableiten möchten. [...] Nicht Luthers Zwei-Reiche-Lehre, sondern vielmehr ihren Verlust wird man u.E. dafür verantwortlich machen müssen, wenn es der lutherischen Ortho4 5
S. Anm. 1. Ebd., 174f.
Die Bedeutung Helmstedts im Rahmen der lutherischen Obrigkeitskritik
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doxie im 17. Jahrhundert so schwer fiel, die veränderte Wirklichkeit des Staates theologisch zu begreifen." 6 Ein erster Fragenkomplex drängt sich hier auf: Mit welchen theologischen Argumenten, Modellen und biblischen Begründungen begegnen die beiden Hofprediger der weifischen Fürstentümer Calenberg und Lüneburg der mitten im Veränderungsprozeß befindlichen Wirklichkeit ihrer Staaten am Ausgang des Dreißigjährigen Krieges? Welche Rudimente bzw. Umprägungsformen von Luthers Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment finden sich in ihren Obrigkeitspredigten? Oder anders gefragt: Wie groß ist der Raum der Selbständigkeit und Freiheit, den sie der Kirche innerhalb des fürstlichen Regiments zuzubilligen und notfalls gegenüber absolutistischen Zugriffen des Staates auch zu verteidigen bereit sind? An diese allgemeinen Fragen schließt sich der zweite Problemkreis unmittelbar an, der die konkrete theologische und kirchenpolitische Situation der genannten Territorien in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu bedenken versucht. In der Untersuchung von Martin Kruse ist die Bedeutung Helmstedts und der calixtinischen Theologie im Rahmen der orthodox-lutherischen Obrigkeitskritik nicht berücksichtigt. Für unseren Ausschnitt kommt aber gerade ihr erhebliches Gewicht zu. Welche Stellung nimmt die calixtinisch bestimmte Theologie in diesem Fragenkomplex ein? Inwieweit und inwiefern unterscheidet sie sich in ihrer Stellung zur Obrigkeit von der anticalixtinisch-orthodoxen Theologie? Am Beispiel der beiden Hofprediger Justus Gesenius und Michael Walther wollen wir dieser Frage etwas näher nachgehen. Wir haben in ihnen zu gleicher Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft und in vergleichbaren einflußreichen kirchlichen Ämtern die Vertreter zweier sich bekämpfender theologischer Richtungen in der lutherischen Orthodoxie vor uns: Gesenius gilt als einer der bedeutendsten Calixtschüler und Walther als einer der schärfsten Kritiker des großen Helmstedter Theologen.
II. Johannes Wallmann hat in seinem Aufsatz „Zwischen Reformation und Humanismus" 7 die auffällige Tatsache hervorgehoben, „daß in dem Chor der über die absolutistische Kirchenpolitik, die ,Cäsaropapie' der deutschen Fürsten klagenden Theologen [...] die Stimme Calixts offensichtlich fehlt". In der älteren Literatur findet sich auch mehrfach die These, daß „Calixt ein
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Ebd., 175f. J. Wallmann, Zwischen Reformation und Humanismus. Eigenart und Wirkungen Helmstedter Theologie unter besonderer Berücksichtigung Georg Calixts. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1995, 61-86: 81.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
Hauptförderer des absoluten Kirchenregiments der Fürsten geworden ist" und „die Gunst der Fürsten und der Staatsmänner [...] den Anschauungen Calixts die Wege geebnet" habe.8 Wie weit die Harmonie der von Calixt bestimmten Theologie mit den Zielsetzungen beim Aufbau des absolutistischen Staates reicht, müßte sich bei dem Generalsuperintendenten und Hofprediger Gesenius ein Stück weit nachprüfen lassen, hat er doch unter Regenten gewirkt wie Herzog Georg mit seinen Söhnen Christian Ludwig und Georg Wilhelm, die an der genannten veränderten Wirklichkeit des Staates selbst tatkräftig beteiligt waren. Neben Gesenius ist für diese Fragestellung noch besonders sein Mitstreiter Brandanus Dätrius bedeutsam, der erste calixtinisch bestimmte Stadtsuperintendent von Braunschweig und spätere Generalsuperintendent und Leiter des Konsistoriums von Wolfenbüttel. 9 Als Quelle dient nur ein kleiner Ausschnitt aus den gewohnt umfangreichen gedruckten Predigtbänden von Justus Gesenius. Der Titel lautet: „Zwölff Regenten=Predigten. Bey eingenommener Erb= und Land=huldigung/ auch angetretener Landes=Regierung Derer Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten und Herrn H. Christian Ludwigen und H. Georg Wilhelms", Braunschweig 1654.10 Die Bedeutung dieser zwölf Regentenpredigten wird von Gesenius in der Dedication auffällig hervorgehoben, indem er versichert, „daß ich in diesem stück der Christlichen Lehre nichts angelegenes außließe [...] habe also die gantze lehre von Obrigkeit und Unterthanen in diesen zwölff Predigten zusammen getragen"11. Dieses zum festen Begriff gewordene, das Staatsganze zusammenfassende Gegenüber von Obrigkeit und Untertanen durchzieht in
8
Z.B. bei F. Uhlhorn, Die Bedeutung Georg Calixts für die lutherische Kirche der weifischen Lande. In: ZGNKG 32/33, 1928, 204f. Diese Beurteilung Calixts findet sich insbesondere bei kirchengeschichtlichen Darstellungen von konfessionell-lutherischer Seite am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Inwieweit das kirchenpolitische Urteil hier von dem weitgehend negativ bestimmten Gesamturteil über die humanistisch-melanchthonische Theologie Calixts beeinflußt ist, wäre kritisch zu überprüfen. 9 Wir müssen ihn hier außer Betracht lassen. Vgl. J. Beste, Abt Brandanus Dätrius und sein Einfluß auf die Braunschweigische Landeskirche. In: ZGNKG 12, 1907, 1-28. Auf eine biographische Vorstellung von Justus Gesenius soll hier verzichtet werden. Ich verweise insbesonders auf die bisher einzige und korrekturbedürftige ältere Monographie von Eduard Bratke, Justus Gesenius, sein Leben und sein Einfluß auf die Hannoversche Landeskirche, Göttingen 1883. Dazu R. Steinmetz, Die Generalsuperintendenten von Calenberg. Justus Gesenius. In: ZGNKG 13, 1908, 93ff. Zu Gesenius neuerdings: H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 1, Göttingen 1995, bes. 217f„ 220f., 260f. u.ö. 10 Gedruckt als Anhang zu Justus Gesenius, Evangelions Predigten auff die Sonn- Festund Apostel-Tage durchs gantze Jahr in drey Theile abgetheilet [...] Sampt Zwölff Regenten-Predigten [·••] Braunschweig: Christoff Friedrich Zilliger 1654, 966/870/ 238/ 230, 4. 11 Dedicatio, 3.
Regentenpredigten des Gesenius
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der Tat alle Predigten von Gesenius. Besonders das Verständnis der Untertanen in den Geseniuspredigten weist auf Seckendorffs „Fürstenstaat" hin. Denn ähnlich wie Seckendorff einen juristisch geschlossenen Untertanenverband kennt, der auch die Landstände umfaßt - so sehr ihnen in seinen Darlegungen auch noch große Bedeutung zukommt - , so faßt Gesenius alle Stände gegenüber dem Fürsten ohne weitere Gliederung im Begriff der Untertanen zusammen. 12 Ich möchte aus dem gegenseitigen Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen einige charakteristische Züge des Obrigkeitsverständnisses bei Gesenius hervorheben. Zunächst Herkunft, Inhalt und Zweck der obrigkeitlichen Gewalt. Mit der lutherischen Tradition ist die Obrigkeit bei Gesenius selbstverständlich eine Ordnung Gottes, Gottes Stiftung, Gottes Dienerin. Ähnlich wie bei Dannhauer wird die Obrigkeit von Gottes Schöpfungsordnung aus verstanden, die auch nach dem Fall ihre heilsame Ordnungsfunktion bewahrt hat. Sie ist also keine postlapsarische Notordnung.13 Diese eigene Ordnung Gottes wird sowohl alt- wie neutestamentlich begründet. Christus will, daß das weltliche Regiment auf Erden bestehen möge. Die Bestätigung der weltlichen Obrigkeit durch Christus steht bei Gesenius traditionsgemäß im Dienst ihrer Apologie gegenüber den Schwärmern, insbesondere den Wiedertäufern. „Das ist nu wider die leute/ die zwar zur Christlichen religion sich bekennen/ aber den stand der Obrigkeit und die weltliche Policey verwerffen/ und ausdrücklich sagen/ solcher stand könne von keinem Christen mit gutem gewissen geführet werden." 14 Ist so die Obrigkeit als notwendiger Schutz vor Chaos und Unordnung in Gottes Schöpferwillen aufgewiesen, so ist die Forderung des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit die notwendige Folgerung. Auf sie legt Gesenius von Anfang an durch alle Predigten hindurch ein sehr starkes Gewicht. Das Gegenüber von Obrigkeit und Untertanen verdeutlicht Gesenius mit Bildern aus der Schöpfungsordnung im altlutherisch-patriarchalischen Sinn: die Sonne über den Kreaturen, die Eltern über die Kinder, der Hirt über die Schafe, die Hausväter über die Diener, der Herr über den Knecht. So sehr es Gesenius hier auf die gegenseitige Harmonie, auf Einigkeit, Liebe und Frieden zwischen Obrigkeit und Untertanen ankommt, so wenig ist doch die auf festgelegte Verhaltensweisen erstarrte Doppelheit von Obrigkeit und Untertanen zu übersehen, die eine das weltliche Regiment stützende und stärkende Gehorsamsethik begründen muß. Die vorzüglichen Verhaltensweisen auf Seiten der Obrigkeit sind: Gottesfurcht, Güte und Gerechtigkeit, Weisheit, Tugend und Frömmigkeit; auf Seiten der Untertanen: Treue, Friedfertigkeit, Demut, Sanftmut und Geduld. Nur ein Zitat möge die in keiner
12 Zu Seckendorff s. B. Eckert, Der Gedanke des gemeinen Nutzens in der lutherischen Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts, Phil. Diss. Frankfurt a.M. 1976, 152, 165. 13 M. Kruse (Anm. 1), 123. 14 Regentenpredigten, 5.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
Predigt fehlende Demutsforderung an die Untertanen herausstellen: „Herren sind Herren/ und man soll sie Herren seyn und bleiben lassen: unterthanen aber sollen unterthanen seyn; dabey sollen sie es lassen/ und der Obrigkeit gebot und Verordnung in aller demuht respectiren und in ehren halten; und wenn ein theil weichen muß/ so sollen sie sich ihrer unterthänigkeit erinnern/ sich biegen und schmiegen und frieden zu erhalten sich mitnichten streuben und widersetzen/ sondern/ so viel immer thunlich weichen und nachgeben: Denn die ruhte ist allezeit besser die da bieget als die da bricht." 15 Gesenius überschreitet hier zwar inhaltlich nicht die Gehorsamsforderung in den Obrigkeitspredigten seiner Zeit, jedoch gibt der andere Ton ihr ein verändertes, stärkeres Gewicht. Die festgeprägte ethische Anwendung seines Denkens in Schöpfungsordnungen kommt im Verhältnis von Obrigkeit zu Untertanen weitgehend nur im Gegenüber von aktiven und passiven Verhaltensweisen zum Ausdruck. Die Tendenz zur Verselbständigung der Obrigkeit, des weltlichen Regiments gegenüber den anderen Ständen wird besonders dort deutlich, wo Gesenius auf die alte Dreiständeordnung zu sprechen kommt. Das Zweierschema von Obrigkeit und Untertanen kann nur mühsam und nicht ohne fortschreitende Einebnung des Sinnes der Dreiständelehre in jene Gliederung von drei Ständen eingebracht werden. Hält Gesenius auch gelegentlich noch an der alten Reihenfolge der göttlichen Hierarchien - ecclesia, politia, oeconomia - fest, so daß es im Kirchen- oder Lehrstand darauf ankommt, daß Gott die Ehre gegeben wird in Erkenntnis und Leben, der weltliche oder Regierstand Güte und Gerechtigkeit walten läßt und im Hausstand Treue und Glauben beieinander wohnen und das Recht im Wirtschaftsleben gewahrt wird, so zielt doch alles darauf hin, daß Obrigkeit und Untertanen danach trachten müssen, „daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen" (Ps 85). In der Huldigungspredigt über 1. Tim 2,1 - eine der wenigen neutestamentlichen Stellen, die neben Römer 13 von Gesenius besonders bevorzugt wird - herrscht das Zweierschema von Obrigkeit und Untertanen vollends über den drei Ständen. Nachdem er zuerst den Hausstand als das Fundament aller anderen Stände, sodann den Lehrstand aufführt, zu dem er auch die Jugendunterweisung in den Schulen rechnet, führt er die Obrigkeit folgendermaßen ein: „Diesen beyden Standen aber zu gute/ und zu deren beschirmung und erhaltung/ und daß darinnen was sich gebühret/ verrichtet werde/ so hat Gott noch einen Stand geordnet/ nemblich den Stand der Obrigkeit. Und weil hierdurch/ der Hauß= und Lehrstand sol und muß geschützet und geschirmet/ und in seinem wolwesen erhalten werden: so hat er auch dem Stande der Obrigkeit eine eußerliche autorität/ ansehen und gewalt dazu gegeben. [...] Von diesem Stande der Obrigkeit wie auch darneben von dero unterworffenen und Untertanen wollen wir für dießmal 15 Ebd., 19.
Regentenpredigten des Gesenius
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[...] in zweyen Stücken reden." 16 Die Predigt gliedert Gesenius in 1. Wohltaten der Obrigkeit an uns und 2. Forderungen Gottes von uns christlichen Untertanen gegenüber der Obrigkeit. An erster Stelle der obrigkeitlichen Wohltaten steht hier wie auch sonst die Beförderung der Ehre Gottes. Gesenius faßt diese wichtigste Bestimmung der Obrigkeit im Begriff der Gottseligkeit zusammen, die für ihn in der rechten Gotteserkenntnis und vor allem im frommen Handeln besteht. In Anlehnung an die in der orthodoxen Predigt vielfach herangezogene Psalmstelle (Ps 82,6), wonach die Obrigkeiten „irdische Götter" genannt werden, wird ihre göttliche Bestimmung beschrieben: „Daran ist bey Christlicher Obrigkeit nicht der geringste zweiffei/ sondern die erinnert sich/ daß sie Gott darumb Götter nennet/ und etlicher massen seines namens theilhafftig machet/ auff daß sie auch seines Göttlichen namens ehre für allen dingen suchen und befordern soll."17 Die hohe göttliche Würde impliziert ein hohes Maß von Verantwortung, das auf der Obrigkeit liegt. Man kann diese von Gesenius besonders als moralische Forderung verstandene obrigkeitliche Würde, die eine Bürde ist, in dem Satz zusammenfassen: „Denn welchem viel vertrauet ist, von dem wird Gott viel fordern." 18 Zu der göttlichen Bestimmung und Würde der Obrigkeit gehört auch die immer wiederkehrende Betonung, daß die Regenten um der Untertanen willen gesetzt sind, und nicht die Untertanen um ihretwillen.19 Gesenius leitet daraus aber nicht eine Kritik am selbstherrlichen Verhalten der Fürsten ab, sondern fordert mit Hilfe der Gleichnisbilder Hirt - Schafe, Steuermann Schiffsinsassen die ehrerbietige Haltung der Untertanen. Nach der Gottseligkeit, der Beförderung der Ehre Gottes, ist die zweite Wohltat der Obrigkeit das stille und geruhsame Leben, ihr Schutz und Schirm vor Feinden nach außen und innen. Hierin ist ihre Schwertgewalt begründet, die Bösen zu strafen und die Frommen zu beschützen. An dieser traditionellen Aufgabenbeschreibung der Obrigkeit fällt bei Gesenius ein erhebliches Maß an Sozialkritik auf, das er an den frommen alttestamentlichen Königen, ihrem Rechtsprechen bei Nichtansehen der Person, beispielhaft ausrichtet. Als dritte Wohltat nennt Gesenius die Ehrbarkeit, die obrigkeitliche Aufsicht über die Laster. Mit Lohn und Strafe wacht sie über Kleidung, Essen und Trinken, Zucht und Keuschheit ihrer Untertanen. Gottseligkeit, stilles und geruhsames Leben, Ehrbarkeit - mit diesen drei Begriffen faßt Gesenius die göttliche Bestimmung und den Inhalt der obrigkeitlichen Gewalt zusammen: „Dieß sind die endursachen/ und das ist der zweck und das ziel/ dahin die stifftung der Obrigkeit von Gott gemeynet
16 17 18 19
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
47. 48. 55. 55.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
ist."20 An den Regenten, an dem Bewußtsein ihrer göttlichen Würde und an ihrem frommen Verhalten liegt das Gedeihen des Staates. Die Harmonie zwischen Obrigkeit und Untertanen garantiert das friedliche Nebeneinanderleben in den Ständen. „Die Regenten (müssen) dahin trachten/ daß alle stände neben einander conserviret [...] werden/ soll der gantze Staat bestehen/ und es wol in ihrem Reich oder Lande zugehen."21 Die Ausführungen zu Herkunft und Inhalt der obrigkeitlichen Gewalt bei Gesenius haben gezeigt, welch große Fülle von Aufgaben und welch hohe Verantwortung er der Obrigkeit zumißt, an deren Spitze die Beförderung der Ehre Gottes steht. Es ist nun die wichtige weitere Frage anzuschließen: Wie begründet Gesenius die obrigkeitliche Kirchenpflege, d.h., wie wird das Amt der Obrigkeit in der Kirche bei Gesenius bestimmt? Überblickt man seine vielfältigen direkten und indirekten Aussagen zu diesem Kardinalpunkt der orthodoxen Obrigkeitspredigt, so deutet schon die Art der vorbildhaften Beispiele die Richtung an, in der Gesenius das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Kirche sieht. Gesenius orientiert sich hierbei ganz überwiegend und im Einklang mit dem Haupttenor der orthodoxen Obrigkeitspredigt an den frommen Königen des Alten Testaments, insbesondere David und Salomo, und den christlichen Kaisern seit Konstantin. Vornehmlich an alttestamentlichen Beispielen und an der heilsgeschichtlichen bzw. geschichtstheologischen Inanspruchnahme der christlichen Kaiser macht er sein Interesse an einer Harmonie zwischen weltlichem und geistlichem Regiment im Amt der Obrigkeit, also am theokratischen Modell, deutlich. Er berührt sich hierbei besonders mit den späteren Obrigkeitspredigten Dannhauers in seiner „Katechismusmilch". Der biblische Hauptbeleg ist auch bei Gesenius Jesaja 49,23, wonach die Obrigkeit Pfleger und Säugamme der Kirche sein soll, jene Stelle, die das landesherrliche Kirchenregiment hauptsächlich biblisch begründete.22 Die Stellung von Gesenius inmitten dieser breiten Tradition ist nur mit Hilfe genauerer Differenzierungen zu erheben. Hier kann nur auf wenige Punkte hingewiesen werden, indem einige charakteristische Wendungen ins Blickfeld treten sollen. Wie ein ferner Nachklang und wie eine unvermeidliche Versicherung erscheint bei Gesenius das Wissen um Luthers Unterscheidung der beiden Reiche. „Nu ists wol wahr/ daß ein ander stand ist der Kirchen/ und ein ander der Obrigkeit/' und sind Gottes Reiche und die weltlichen Reiche weit unter20 21 22
Ebd., 55. Ebd., 56. Zur Auslegungstradition dieser Stelle s. auch M. Kruse (Anm. 1), 19f., 127ff. Es ist interessant, daß schon Calvin Jesaja 49,23 auf die Fürsten als „Schutzherren für Gottes fromme Verehrer" bezog. Institutio, übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen 1955, IV, 20,5, 1036. In den Kirchenrechtslehren des 17. Jahrhunderts ist diese Stelle besonders von Dietrich Reinkingk und Benedikt Carpzov aufgenommen worden, im 19. Jahrhundert von Friedrich Julius Stahl.
Regentenpredigten des Gesenius
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schieden: Es kan auch Gott seine Kirche wol erhalten [...] ohn die Obrigkeit. [...] Aber nichts desto weniger hat Gott die Obrigkeit dazu verordnet/ daß sie auff die pietät und auff den rechten Gottesdienst mit sehen/ und die ehre Gottes befordern solle."23 Gesenius betont auch, daß die Obrigkeit nicht selbst das Lehramt führen, die Sakramente reichen und andere Kirchen- und Schularbeit verrichten solle; mit der Aufsicht, der Ausübung von Gerechtigkeit, mit Schutz und Schirm haben die Regenten genug zu tun. Steht Gesenius mit diesen Aussagen auch ganz in der traditionellen lutherisch-orthodoxen Fassung obrigkeitlicher Kirchenpflege, so zeigt doch die weitere Beschreibung der cura religionis der Regenten, wie weit der Bogen reicht und wie wenig er an einem eigenständigen Kirchenregiment interessiert ist. Nachdem er den Unterschied zwischen geistlichen und weltlichen Verrichtungen nur einfach voranstellt, ohne ihn näher zu umreißen, allerdings mit der für ihn bezeichnenden Begründung, um Unordnung im Staate zu vermeiden, führt er aus: „Nichts destoweniger so müssen die Oberherren/ so viel die religion und den Gottesdienst antrifft/ darauff sehen und sehen lassen/ daß es in Kirchen und Schulen recht zugehe/ daß ein jeder da seine gebührniß thue/ daß Gottes Wort und erkänntniß fleissig getrieben/ und recht gefasset/ Gott dem Herrn recht vertrauet/ er auch andächtig angebetet und gelobet/ und Christlich gelebet/ die ärgerniß verhindert und abgeschaffet/ die jugend recht erzogen/ die leute in Kirchen und Schulen gebührlich unterhalten/ und alles was dazu verordnet ist/ in seinem wolstande erhalten und verwahret/ ja so viel möglich/ verbessert werde." 24 Gehört nach diesen Worten zur obrigkeitlichen Aufsicht nicht nur die äußere Veranlassung und Ermöglichung kirchlichen Lebens, sondern insbesondere auch die innerlich-gewissensmäßige Verpflichtung auf ein christliches Handeln, so zeichnet Gesenius in einer Predigt über Römer 13 noch deutlicher das Bild vom Amt der Obrigkeit in der Kirche. Die Obrigkeit nimmt sich des Gottesdienstes, der Kirchen und Schulen mit Ernst an, sie kämpft für die Abstellung alles unchristlichen Wesens, worunter Gesenius nicht nur die Laster, sondern als Quelle allen Übels den Mißbrauch des göttlichen Namens versteht. „Wer fraget nach dem Wort und drewung Gottes/ nu es die weltliche Obrigkeit nicht straffet." 25 Das Strafamt der Obrigkeit ist so umfassend auf alle Bereiche des Lebens bezogen, daß für eine Kirchenzucht durch die Kirche selbst bei Gesenius kein Raum bleibt. Gerade auch die innerliche Überwindung der Herzen, die sonst in der Orthodoxie, z.B. bei Dannhauer, die eigentliche Aufgabe der Kirchenzucht bildet, wird bei Gesenius allein in die gütige und gnädige Hand des Regenten gelegt. Dies wird besonders auch bei der Auslegung des 101.
23 Ebd., 48. 24 Ebd., 49. 25 Ebd., 97.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
Psalms deutlich, in der die Regententugenden Davids, sein Singen von Gnade und Recht, das große Vorbild abgeben. In Anlehnung an Jesaja 49,23 vom Amt der Obrigkeit als Pfleger und Säugamme der Kirche spricht Gesenius der Obrigkeit auch zumindest das Recht der Mitwirkung bei der Besetzung der Pfarrstellen zu, das ius vocationis, um das es im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie so heftige Streitigkeiten gegeben hat.26 Die Regenten „beweisen sich nu als Diener Gottes in Kirchen und geistlichen sachen/ wenn sie das thun bey dem Gottesdienste und Kirchen=sachen/ das privatpersohnen nicht dabey thun können: wenn sie nemlich nicht zugeben/ sondern darauff sehen und sehen lassen/ daß keine untüchtige leute in der Kirche Gottes bestellt werden; und daß/ die bestellet sind ihr ampt recht aufrichten/ eine gesunde lehre und unsträfflich leben führen/ dabey aber ihren gebürlichen respect, ehre und gehorsam von ihren Pfarr=kindern/ auch ihren ehrlichen unterhalt haben/ und daß es ehrlich/ ordentlich un zur besserung in der Gemeine Gottes zugehe." 27 Es wird also gerade auf das Amt, d.h. auch die äußere Macht der Obrigkeit abgehoben, die im Gegenüber zu Privatleuten hier den entscheidenden Einfluß haben muß. Daß dieser Dienst auf Seiten der Untertanen umfassenden Gehorsam verlangt, versteht sich von selbst, wobei nur interessant ist, daß Gesenius evtl. kirchlichen Widerstand gegenüber der Obrigkeit offenbar durchaus im Auge hat. Er betont nämlich ausdrücklich mit geschichtlichen Beispielen, daß der untertänige Gehorsam für die gesamte Geistlichkeit gilt bei Beachtung nur der Regula Petri: es sei einer ein Priester oder ein Bischof oder ein Mönch im Kloster.28 Das Amt der Obrigkeit in der Kirche bei Gesenius kann mit einem Zitat zusammengefaßt werden, das aus der Predigt über den frommen und verständigen König Josia stammt. In Aktualisierung auf die zerrütteten kirchlichen Zustände am Ende des Dreißigjährigen Krieges führt Gesenius den notwendigen Kirchenaufbau durch die Obrigkeit folgendermaßen aus: „Hiezu sind nu auch die weltlichen Obrigkeiten und Regenten recht und wol befuget/ und thun damit der Priesterschafft nicht allein keinen eingrieff/ sondern eine große Hülffe/ und ihnen obliegende mächtige beforderung. Die Priesterschafft und die Kirchen= un Schuldiener haben die mittel/ auch die macht und gewalt nicht/ daß sie/ was so zerfallen/ wieder auffrichten/ und das böse auch mit zwang und eusserlicher macht und gewalt abschaffen und abstellen/ und das gute in Kirchen und Schulen mit solchem nachdruck befordern können." 29
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S. Martin Kruse (Anm. 1), 57-78. Ebd., 92. Ebd., 102. Ebd., 146f.
Regentenpredigten des Gesenius
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Das Verständnis der Obrigkeit in den Regentenpredigten des Gesenius zeigt innerhalb vieler traditionell-orthodoxer Elemente doch einige auffallende Besonderheiten. In die lange Kette der Kritik an der Caesaropapie, die sich nach einem Wort von Spener durch die gesamte Predigt der lutherischen Orthodoxie hindurchzieht, gehört Gesenius offenkundig nicht hinein. Im Unterschied zu Dannhauer, mit dem sich Gesenius in seinem Obrigkeitsverständnis mehrfach berührt, findet sich bei ihm nicht die Spur einer Kritik am bischöflichen Amt der Obrigkeit. Die Gefahr des Verlustes kirchlicher Selbständigkeit taucht bei Gesenius nicht auf. Dort, wo er behutsame Kritik an der Obrigkeit übt, gilt sie der Frömmigkeit und Tugend der Regenten, wie insbesondere seine Auslegung des 101. Psalmes zeigt.30 Die Institution, das Amt der Obrigkeit, das für Gesenius eine erhebliche Rolle spielt, wird in bezug auf die Kirche in seiner vorfindlichen Gestalt nicht in Frage gestellt. Alles kommt darauf an, daß die Regenten durch frommes, tugendhaftes und kluges Verhalten dieses Amt gewissenhaft ausfüllen. Die Harmonie zwischen Obrigkeit und Untertanen verbürgt die Wohlfahrt des Staates, wobei auf die Gehorsamsforderung gegenüber den Untertanen ein besonders starkes Gewicht gelegt wird. Weder die Caesaropapie noch ihr Umschlag in eine Papocaesarie kann hier als eine Gefahr für die Kirche auftauchen. Die Obrigkeit hat allein die Mittel, auf die Verbesserung der weltlichen und kirchlichen Zustände hinzuwirken. Als Verfasser der berühmten Katechismusschule sieht Gesenius als wichtigstes Mittel in der Hand der Obrigkeit die Katechismusinformation an, womit der innere und äußere Aufbau des Staatsganzen vornehmlich vonstatten gehen kann. „Darin liegt die Glückseligkeit der Policeyen."31 Eine eigenständige Kirchenzucht kennt Gesenius nicht. Überblickt man dieses Ergebnis, so wird man auch bei Beachtung der besonderen Struktur dieser „Huldigungspredigten" durchaus erwägen können, daß sich in ihnen ein calixtinisch beeinflußtes, sog. „mildes Luthertum" widerspiegelt.
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Die letzten vier Predigten in der Sammlung der zwölf Regentenpredigten sind dem 101. Psalm gewidmet mit dem Titel: „Vier kratze Predigten über den hundert und ersten Psalm des Königs und Propheten Davids", gehalten in Hildesheim 1641, 170230. Psalm 101 ist neben Jesaja 49,23 und Psalm 82,6 das wichtigste Schriftzeugnis, das in der Orthodoxie zur Beschreibung des obrigkeitlichen Amtes dient. Seit Luthers Auslegung des 101. Psalms zieht sich die Kette der Predigten über diesen „Hofpsalm" bis zu Gesenius. Ebd., 224.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
III. Welchen Niederschlag findet nun das streng orthodoxe, anticalixtinisch bestimmte Luthertum des Hofpredigers Michael Walther32 in seinem Obrigkeitsverständnis? Ich beziehe mich hier vor allem auf seine Predigten über den Propheten Daniel mit dem Titel „Richtige und Nothdürfftige Erläuterung deß hocherleuchten Propheten Daniels, in 113 Predigten angestellet", Ulm 1645. Schon die äußere Form der Predigt ist bei Walther eine völlig andere als bei Gesenius. Der textgebundenen, in Erläuterung und Gebrauch der Bibelstelle stets gedanklich klar gegliederten Predigtweise des Gesenius steht bei Walther eine unförmige, vielfach allegorisierende und emblematische Predigtmethode gegenüber. An seinen Danielspredigten mit ihren umfangreichen, drastischen Schilderungen des Hoflebens kann man wohl am besten sein Obrigkeitsverständnis umrißhaft ermitteln. Dieses Bild kann durch einige wenige gedruckt vorliegende Regentenpredigten ergänzt werden. Walther steht im Gegensatz zu Gesenius mitten in der polemischen Tradition der lutherischen Orthodoxie. Vor allem seine Kritik am Papsttum und an der Papocaesarie läßt ihn - hierin ähnlich wie Dannhauer - zum Vertreter und Verteidiger der Caesaropapie werden. „Darumb ist es Gottes Wort und allen jetzterzehlten bewehrten Exempeln schnurstracks zuwider/ daß man im Bapsthumb nicht zugeben will/ daß Fürsten und Herrn und andere Weltliche Personen/ die schmehlicher weiß pro laicis und für schlechte unerfahrne Idioten bey ihnen gehalten werden/ umb Glaubenssachen sich bekümmern sollen/ warum sind sie denn Custodes utriusque tabulae/ die für beyde Taf-
32 Michael Walther, 1593 in Nürnberg geboren, wurde zunächst nach Studien in Wittenberg, Gießen, Altdorf und Jena 1619 Hofprediger bei der Herzogin Elisabeth, der Witwe des Herzogs Heinrich Julius in Schöningen, ab 1622 zugleich Professor in Helmstedt. Nach dem Tode der Herzogin 1626 erhielt er eine Berufung vom Grafen Rudolf Christian von Ostfriesland nach Aurich, wo er als Generalsuperintendent und Hofprediger bis 1642 wirkte. In diesem Jahr berief ihn Herzog Friedrich nach Celle. Hier wirkte er als Generalsuperintendent und zweiter Nachfolger von Johann Arndt bis zu seinem Tode 1662. - Eine kurze biographische Darstellung seines Lebens und Wirkens findet sich bei R. Steinmetz, Die Generalsuperintendenten von LüneburgCelle. In: ZGNKG, 1915, 99-111. Siehe auch J.K.F. Schlegel, Kirchen- und Reformationsgeschichte von Norddeutschland und den Hannoverschen Staaten, Hannover 1829, Bd. 2, 482f„ 554ff.; E.L.Th. Henke, Georg Calixt und seine Zeit, Halle 1856, 1. Bd., 324ff.; 2. Bd., 1. Abtl. 37, 57; 2. Abtl. 47ff„ 132ff. und 136f.; E. Tilemann, Doktor Michael Waither, der erste lutherische Generalsuperintendent in Ostfriesland. In: Hannoversche Pastoral-Korrespondenz, 29. Jg., 1901, 249-252, 262-264, 275-277. F. Uhlhorn, Geschichte der deutsch-lutherischen Kirche, Bd. 1, Leipzig 1911, 199, 212; J. Meyer, Kirchengeschichte Niedersachsens, Göttingen 1939, 128, 131 ff. u.ö.; M. Smid, Ostfriesische Kirchengeschichte, Selbstverlag 1974, 318ff.; H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 1, Göttingen 1995, 145, 194, 224.
Walthers Predigten über den Propheten Daniel
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fein des Gesetzes wachen müssen?" 33 Der weltlichen Obrigkeit obliegt selbstverständlich das Recht und die Pflicht, sich um die Religionsangelegenheiten zu bekümmern. Die Regenten sind Wächter und Hüter über beide Tafeln des Gesetzes. „Das solten alle Fetten der Erden/ die im Stande der Obrigkeit schweben/ zu Hertzen nehmen und daraus schliessen/ daß sie müssen Custodes sein utriusque tabulae Legis Devinae/ Hüter und Wächter der beyden Taffein des Göttlichen Gesetzes/ und nicht allein achtung geben und sich bewerben/ wie Gericht und Gerechtigkeit unter den Unterthanen gehandhabet und fortgepflanzet werden möge/ auff daß die Liebe des Nechsten keinen Schiff= und Abbruch erfahre und bey den seinigen menniglich in guter Ruh verbleibe/ sondern auch/ wie dem höchsten Gott sein schuldiger Ehrendienst gerettet unnd erhalten werden könne/ welches geschieht/ wenn die liebe Obrigkeit selbst fromm und gottesfürchtig ist/ und mit ihrem löblichen Exempel den anbefohlenen und thewr erkaufften Unterthanen vorleuchtet/ wenn sie dem selig machenden Wort der Gnaden einen freyen und unverhinderten lauff in ihren Fürstenthümern/ Gebieten und Herrschaften gönnet und lesset."34 Dieses seit Melanchthon ganz traditionell-orthodoxe Verständnis der Obrigkeit zeigt aber bei Walther nirgends die Spuren der Unausgewogenheit zuungunsten der Selbständigkeit der Kirche. Das wird schon deutlich an der bei Walther neben Psalm 82 und Jesaja 49 bevorzugten Bibelstelle in der Beschreibung des Verhältnisses zwischen weltlicher Obrigkeit und Kirche, nämlich Psalm 24. Die Obrigkeit soll die Tore weit und die Türen in der Welt hoch machen, daß der König der Ehren einziehe.35 Die auch bei Walther höchste Bestimmung der Obrigkeit, nämlich die Beförderung der Ehre Gottes, verwirklicht sich nach ihm 1. durch die persönliche Frömmigkeit der Regenten, ihre Gottesfurcht, und 2. dadurch, daß sie dem Wort Gottes, „einen freyen und unverhinderten lauff in ihren Fürstenthümern gönnen und lassen". An diesen und vielen anderen Wendungen wird deutlich, daß Walther an der rechten Zuordnung bei Wahrung der je eigenen Aufgaben im Verhältnis zwischen weltlichen und geistlichen Angelegenheiten interessiert ist. Die Obrigkeit soll sich um Religionssachen kümmern, „doch auff gewisse Maß und Weiß" 36 . Das Stichwort „Ordnung" im Sinne von Gliederung ist für Walther besonders charakteristisch. In einem seiner vielen Bilder vergleicht er den je verschiedenen Zustand der Menschen in der Welt und in der christlichen Kirche mit verschiedenen Arten von Bäumen: „Die Bäum haben nicht alle einerley uhrsprung und Herkunfft/ sondern auff mancherley weiß kommen sie in einen Garten und blühen darinnen/ denn etliche werden stracks mit Stamm und Wurtzel in die Erden gesetzet/ die an-
33 34 35 36
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
489. 469. 470, 512. 489.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
dem werden von andern genommen und gepropffet/ die dritten werden aus Samen erzeuget/ wie wohl bewußt/ So kommen wir Menschen nicht auff einerley Art zur Welt/ sondern auff dreyerley: Adam hat Gott selbst gesetzt/ Eva ward gepropffet/ Wir andre alle werden aus sündlichem Samen erzeugt." 37 Drei Arten von Bäumen bilden nach ihm auch die drei Hierarchien. „So sind auch unter uns Menschen drey Hierarchiae und allgemeine Hauptstände/ der weltliche Wehr= un Obrigkeitsstand ist ein schöner/ dicker un schathaffter Baum/ der seine Zweige weit außgeust/ darunter die Unterthanen ein geruhliches und stilles Leben führen können in aller Gottseligkeit und Erbarkeit. Der heußliche Nehr= und Vaterstand ist ein trächtiger und fruchtbarer Baum/ der viel Kinder unnd Himmelspfläntzlein von sich gibt zur Seligkeit und des Göttlichen Segens überflüssig geniesset. Der Geistliche Lehr= und Kirchenstand ist ein nützlicher und holtzreicher Baum/ von dem der hocherwünschte Baw der werthen Christenheit vollführet wird unnd darinnen den Menschen gezeiget das Holtz des Lebens/ dessen Bletter zur Gesundheit der Heyden dienen."38 Alle Bäume sind von Gott geschaffen und werden von ihm gnädig erhalten, sie preisen auf ihre Weise Gott ihren Schöpfer. Im Gegenüber zu Gesenius und seinem Verständnis der Dreiständelehre kann man bei Walther viel mehr an Luthers Grundsatz erinnert werden: „Vult Deus esse discrimina ordinum", während Gesenius stärker in der Tradition der melanchthonischen Fassung steht: „Vult Deus esse consociationem." 39 Mit seiner Betonung der je eigenen Ordnung in den drei Ständen spricht Walther auch von der eigenen Kirchenordnung mit den Konsistorien, den Superintendenturen und den Pfarrdiensten. 40 Am Beispiel Belsazars übt Walther scharfe Kritik an der Bereicherung der Obrigkeit durch Kirchengut.41 Nicht den weltlichen Kammergütern, sondern den Kirchen und Schulen müsse der kirchliche Besitz auch aus der päpstlichen Kirche unmittelbar zugute kommen. Walther macht hier, wie auch sonst, einen deutlichen Unterschied zwischen der politischen und geistlichen Klugheit. Die letztere besteht in der wahren Erkenntnis des wahren Gottes. Aus ihr erwächst auch allein alle politische Regierkunst. Die Fürsten werden der geistlichen Klugheit durch persönliche Gottesfurcht und den freien Lauf der Verkündigung am besten gerecht. Mit besonderer Drastik und Ausführlichkeit schildert Walther das Hofleben 42 Es ist zwar an sich selbst ein gottwohlgefälliger Stand, aber bietet den allergrößten Anlaß und Anreiz zu allen Formen der Sünde und des La37 Ebd., 517. 38 Ebd., 519f., nach Daniel 4. 39 In Anspielung auf die Darstellung W. Elerts, Morphologie des Luthertums, 2. Bd., München 1958,49ff. 40 Ebd., 822f. 41 Ebd., 703ff. 42 Ebd., 358ff„ 846ff.
Walthers Predigten über den Propheten Daniel
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sterlebens. Im Gegenüber zu Gesenius ist hierbei auffallend, daß Walther auch Sozialkritik an der Handlungsweise der Fürsten selbst übt, während Gesenius nur die allgemeinen Zustände bedauert. Die Aussaugungspolitik am Hof, wo aus gelehrten Leuten binnen kurzem verendende Hofesel werden, wird den Fürsten direkt vorgehalten. Im Bild des großen Erntewagens und seiner Räder wird das Hofleben als Weg zum Teufel beschrieben. Außer den Hofteufeln des Geizes, Neides, der Verleumdung und des Hochmuts lauern vielfältige Gefahren wie Hurerei, Diebstahl, Üppigkeit in Essen und Trinken, denen kaum zu entrinnen ist. Die blutsaure Arbeit am Hofe läßt aus freien Christen leibeigene Knechte werden. Walther beruft sich auf Luther, der sich wie er vor dem Hofleben gefürchtet hat und betont, daß gerade der Studierte am Hof der Aussaugung durch Hofesel und Hofgäule ausgesetzt ist. Hier schlagen sich gewiß eigene Erlebnisse am ostfriesischen Hof in Aurich nieder. Die Drastik der Obrigkeitskritik weist bei Walther auf die spätere berühmte Regentenpredigt des Joachim Lütkemann hin.43 Dieses Bild der Obrigkeit, das sich in den Predigten Walthers über den Propheten Daniel zeigt, soll abschließend noch durch drei Regentenpredigten ergänzt werden, die aus der Anfangszeit seiner Wirksamkeit als Hofprediger in Ostfriesland stammen.44 In der Leichenpredigt über Graf Rudolf Christian von 1628 ergeht sich Walther über das Laster der Trunkenheit am Hof mit drastischen Worten: „Ihr Weinhelden und Bierseffer/ die ihr tag und nacht im luder liget/ und des morgens frue auffstehet auszusauffen/ was eingeschencket ist/ lasset euch doch warnen für euren zeitlichen und ewigen Untergang/ dann Homo nescit tempus suum [...] trifft euch Gott an in eurer Trunckenheit/ weh euch/ weh euch in ewigkeit/ dann keine volle Sau kommet in Himmel/ und die Trunckenbold sollen das Reich Gottes nicht ererben." 45 Die scharfe Kritik an den Hofleuten hat hier einen besonderen Hintergrund: Der Graf ist mit großem Gefolge bei einem Gastmahl, das allgemeine Trunkenheit verbreitet hatte, in einen Streit geraten, bei dem er eine tödliche Verwundung erlitten hatte. Ton und Inhalt der Leichenpredigt zeigen die selbst43
J. Wallmann hat auf sie in dem genannten Aufsatz (Anm. 7, 344-370) ausführlich hingewiesen. Vgl. auch W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988, 291-314. 44 Es handelt sich um folgende Predigten, die in dem mir vorliegenden Sammelband der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Signatur 298, 3 Theol.) zusammengebunden sind: a) „Christliche Leichpredigt/ über den nachdencklichen Heuptspruch im Prediger Salomonis am 9. cap. V. 12 [...]" (auf Graf Rudolf Christian), gehalten Aurich 1628, gedruckt Emden: Helwig Kallenbach 1628, 75 S. - b) „Gratulation und Glückwünschungs-Predigt/ Aus dem Beschluß des 47. Psalms" (bei Regierungsantritt des Grafen Ulrich), gehalten Aurich 1628, gedruckt Emden: Helwig Kallenbach 1628, 48 S. - c) „Thronus Regalis Salomonis, Oder Schrifftmeßige Erklärung des Majestetischen Prachtstuls des Allerweißesten Königs Salomonis, aus 1. Reg. 10. cap.", gehalten Aurich 1628, gedruckt Emden: Helwig Kallenbach 1628, 90 S. 45 Ebd., 53.
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bewußte Eigenart der Predigtweise Walthers: „Wie es eigentlich mit solcher Verwundung her und zugegangen/ wissen fast unsere Leut selber nicht/ die doch in so grossem hauffen dabey gewesen sind/ das macht/ das verderbliche Sauffen ist ihnen lieber gewesen/ als ihres Herrn wolfahrt/ und da sie hetten auffwarten sollen/ sonderlich zu dieser gefehrlichen zeit/ wie Dienern gebüret/ so haben sie sich zum theil/ als die Schweine/ füllen und zänckerey und stenckerey anfangen müssen. [...] Man will und begeret meinen gutmeinenden Predigten/ darinnen ich für solchen und dergleichen Lastern immer warne/ nicht zu folgen/ Ey so fahre zum Teuffei immer hin/ wer zu Gott nicht will."46 Interessant ist diese Predigt aber auch noch dadurch, daß sie uns einen Blick in das persönliche Verhältnis des Hofpredigers Walther zu seinem Regenten und damit in sein Amtsverständnis gewährt. Nachdem einige amtliche Verrichtungen in der Regierung üblicherweise lobend hervorgehoben werden, kommt Walther mit deutlichen Worten auf das Leben und den Wandel des jungen Grafen zu sprechen. In ihnen zeigt sich das Selbstverständnis eines lutherischen Hofpredigers in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das Wächter- und Strafamt des Predigers gegenüber der Obrigkeit gehört zum wesentlichen Teil seiner Amtsobliegenheiten: „In ihrem Leben und wandel ist es zwar wahr/ daß I. Gn. an vieler grosser Herrn und der meisten gemeinen leut Kranckheit eben gefehrlich danider gelegen und unziemliche excess und exorbitantzen begangen [...] also ist es fast das einige/ gewesen/ daß an I. Gn. ich ampts halben publice und privatim mit gelinden und harten Worten straffen müssen/ dann was meinem Gott und seinem Wort und meinem gewissen schnurstracks zuwider leuffet/ das kan und will ich nicht approbiren/ billichen und gut heissen/ so lang ich lebe. [...] Unterdessen muß ichs für dem antlitz Gottes und seiner theurerworbenen Gemeine auff mein gewissen sagen/ daß von einem einigen par Teuffels-Volck I. Gn. mit schmeichlerischen un fuchsschwentzerischen worten/ [...] erbärmlich verleitet und verführet worden sind [...]." 47 Walther teilt dann auch die Worte des reumütigen Grafen nach einer solchen inneren Einkehr kurz vor seinem Ende mit: „Mein lieber Herr Doctor, wie ich Jung war bey 16. 17. Jahren/ hab ich stets eine hertzliche lust zur Gottesfurcht gehabt/ wie die wissen/ so mit mir umbgangen/ bin aber leider sehr davon abgewichen/ doch will ich/ hilfft mir Gott/ wider recht fromm werden." 48 In der Glückwunschpredigt zum Regierungsantritt des Grafen Ulrich über Psalm 47,1049 äußert sich Walther summarisch zu einer gottesfürchtigen Obrigkeit, indem er das Wort „Schild" allegorisch ausdeutet. Die Regenten sind
46 Ebd., 70. 47 Ebd., 67. 48 Ebd., 68. 49 S. Anm. 44.
Regentenpredigten Walthers
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nicht Himmelsschilde, sondern Schilde auf Erden, die sich demütigen und herablassen müssen unter die gewaltige Hand Gottes.50 Die hohe Verantwortung der Regenten als Diener und Knechte gegenüber Gott stellt aber gerade ihr weltliches Amt als ein gottwohlgefälliges heraus: Walther betont unter ausführlicher Zitierung Luthers die „grosse praeminentz/ dignitet/ ehre und herrlichkeit der Regenten"51 gegenüber den Angriffen der Schwärmer und Papisten und wird nicht müde, die Notwendigkeit der Gottesfurcht im weltlichen Amt der Obrigkeit mit biblischen Beispielen zu bekräftigen. Im Gegensatz zu Gesenius und in weitgehender Übereinstimmung mit den Regentenpredigten Polykarp Leysers d.Ä. in seinem „Regentenspiegel" 52 sieht Walther aber das Schwertamt der Obrigkeit nicht als eine ursprüngliche Schöpfungsordnung an, sondern als eine Ordnung nach dem Fall: „Bald nach der Sündfluth hat er (Gott) der Obrigkeit das Schwert solenniter an die Seiten gegürtet [...]."» An 12 Edelsteinen werden die wichtigsten Regententugenden am Schild abgebildet. Geordnet sind sie durch dreifache Richtung: auf Gott, auf sich selbst und auf die Untertanen. An erster Stelle steht die Gottesfurcht. Walther polemisiert deutlich gegen die Staatsanschauung, die im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer stärker in machiavellistischen Bahnen die Gottesfurcht zur Privatsache der Fürsten erklärt: „Aber [...] wo und an welchen ort hat Gott der Herr ihnen (den Regenten) das Privilegium zugestellet/ daß sie von diesen nötigen Sachen exempt und befreyet seyn sollen? Hat er nicht die ordinantz gemachet/ daß sie seyn sollen custodes utriusque tabulae?" 54 „Der Gottlose Italiener und Religionsspötter Machiavellus mag mit seinen Epicurern lestern so lang er will/ Non requiri in Principe veram pietatem, sed sufficere illius quandam umbram et simulationem externam, denn das gehöret allen menschen zu [...]." 55 Auf die schädliche Wirkung solcher Anschauungen bezogen fährt Walther fort: „Dann wie etwa ein schedliches gifft in einen Brunnen gegossen/ alle rivulos, strömlein un bächlein/ die daraus entsprießen un herfließen/ inficiret und mit vergifftet/ also ergießet sich auch das ansteckende gifft der Gottlosigkeit von den Regenten auff die Unterthanen und beflecket sie/ worauff dann anders nichts erfolgen kan/ als endliche ruin und Untergang ihrer beyder [.. .]."56 Aus der Gottesfurcht geht die Weisheit hervor, die ebenfalls scharf von der eigennützigen Verschlagenheit der nach der Staatsräson handelnden Politiker abgehoben wird: „Es bestehet aber solche Weißheit mit nichten in ver50 Ebd., 15. 51 Ebd., 16 und 17f. 52 S. oben den Aufsatz „Die Stellung lutherischer Hofprediger", 82ff. 53 Ebd., 19. 54 Ebd., 22f. 55 Predigt über den Thron Salomos, 17. 56 Ebd., 19f.
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sutia und arglistiger Verschlagenheit/ wie heutiges tages viel Politici verschmitzt und klug genug sind auff ihr proprium commodum und des Nechsten schaden. [...] Darum bestehet die rechte Weißheit in experientia und in der erfahrung/ daß man fein von Jugend auff so wol aus Göttlichen/ als Weltlichen Historien etwas grundliches lerne [...] und achtung gebe auff die teglichen feile/ so sich zutragen/ eines mit dem anderen vernünfftig collationire und auff der Goltwag des Verstandes nach dem besten und gewichtigsten ausschlag sehe."57 Die weiteren Regententugenden sind: Mäßigkeit, Keuschheit, Großmütigkeit, Demut, Liebe zu den Untertanen, Freundlichkeit, väterliche Fürsorge für das Land, Freigebigkeit „sonderlich gegen Schulen und Kirchen, deren Nutritii sie sind"58, Sanftmut und Gerechtigkeit. Der hohe Anspruch, der mit diesem Tugendkatalog zugleich die Regentenpflichten herausstellt, kann den Hofprediger leicht zum Wächter und Strafprediger an seiner Obrigkeit werden lassen. Diese Regententugenden kehren auch in der Predigt über den Thron Salomos wieder, an dem Walther die Beschaffenheit des weltlichen Regiments ausführlich erläutert.59 Im ersten Teil „De statu" wird das weltliche Regiment „an sich selbst", in seiner Hoheit und Nützlichkeit, beschrieben, während im zweiten Teil „De personis" die großen Herren, ihre Räte und Beamten sowie die Untertanen mit ihren „eigenschafften an dem Thron Salomos abgebildet und ihres Ampts erinnert werden" 60 . Die Gottesfurcht als Ausdruck für das persönlich-fromme Leben und Regieren der Fürsten wird hier den äußerlichen Staatsgesetzen entgegengestellt: „Dann wie ein treuer Prediger mehr bauet mit seinem unsträfflichen Leben/ als mit seiner unverfälschten Lehr/ also auch die Obrigkeit mehr mit Gottesfurcht/ als mit allen Statuten und Gesetzen/ das macht/ alle ihre Ordnung ist gleichsam lex mortua, ein todes Gesetz/ ihr Leben aber ist lex viva, ein lebendiges Gesetz/ welches andere zur nachfolge krefftiglich anstachelt. Ist sie hingegen böß und Gottloß/ so müssen auch die Unterthanen zu Hoff und im gantzen Land dadurch geergert und ein gleiches zu thun veranlasset werden [,..]." 61 Nicht nur die an Johann Arndt 62 erinnernde Entgegensetzung zwischen innerlicher Frömmigkeit und 57 58 59 60 61 62
Ebd., 25f. Ebd., 43. S. Anm. 44. Ebd., 17. Ebd., 19. Michael Walther äußert sich zu Johann Arndt, der ihm durch Johann Gerhard auch persönlich näher kam, in: „Christlicher Bescheid/ auff vier practicalische Christenfragen". Hier geht er auf die Bücher vom wahren Christentum und die Psalmenpredigten Johann Arndts ein: „So halte ich gäntzlich dafür/ es sey so wol das Hertz/ als der Endzweck/ darauff solche vier Bücher gerichtet sind/ gut und unstraffbar gewesen." „Ein zartes Bienlein kehret sich nichts daran/ wann es etwa auff einem Blümlein oder Kräutlein/ ein Tröpfflein Meelthawes/ oder andere ungesunde Feuchtigkeit findet/ sondern es sauget darauß was ihm dienlich ist/ und davon es sein Honig und Honig-
Regentenpredigten Walthers
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toter Äußerlichkeit, sondern auch die der Gottesfurcht gegenübergestellte Gottlosigkeit zeigt Walther als einen Theologen in der Reihe derjenigen, die in der Verbindung von Orthodoxie und praxis pietatis der Herausforderung durch die von Westeuropa herandringenden rationalistischen Strömungen zu begegnen versuchten. Zur Gottesfurcht wird auch hier selbstverständlich die „fortpflantzung und beschutzung der Kirchen/ des Predigampts und der Schulen" 63 im Sinne von Psalm 24 gerechnet. Bei den Ausführungen über die geistlichen und weltlichen Räte ist interessant, wie Walther die Aufgaben der Theologen gegenüber der Obrigkeit beschreibt. In Anlehnung an 2. Kön 11 führt er, sich einbeziehend, aus: „In dieser schönen Histori hören wir im Geistlichen stand/ wie wir uns als freudige und mutige Lewen/ verhalten sollen."64 Zuerst gilt es, den König samt dem Volk in den Tempel zu führen, d.h. die Regierung mit Gott zu beginnen, durchzuführen und zu vollenden. Sodann dem König seine Krone aufsetzen, d.h., „daß wir die Obrigkeit mit dem Wort Gottes schmücken und lehren [...]". In der Unterrichtung der Obrigkeit durch das Wort Gottes, in dem „bund machen zwischen dem Herrn und dem Volck/ daß sie des Herrn Volck seyn/ welches geschieht durch das gebett" und in dem „bund stifften helfen zwischen dem König und dem Volck und beides Herrn und Unterthanen zur einigkeit und Verträglichkeit anhalten" und schließlich in dem Glückwunsch zu einer guten Regierung65 sieht Walther die wesentlichen Aufgaben der Geistlichen gegenüber der weltlichen Obrigkeit. Aus diesem Katalog geht nicht nur die Unentbehrlichkeit des Rates der Geistlichen bei der Wahrnehmung der amtlichen Regierungsangelegenheiten hervor, sondern auch die Notwendigkeit, die Regenten in all ihrem Tun und Lassen zu begleiten, d.h. unter Umständen auch zu warnen und zu strafen.
IV. Wir haben uns das Verständnis der Obrigkeit zweier lutherischer Hofprediger in der ersten Hälfte des 17. lahrhunderts mit Hilfe ihrer Predigten zu veranschaulichen versucht. Dabei sollten sowohl Justus Gesenius wie Michael Walther ausführlich zu Wort kommen, da ihre Predigten, insbesondere auch ihre Regentenpredigten, heute als weithin unbekannt gelten müssen. seim machen kan. Das thu man auch mit den gedachten Büchern [...]." Ebenso positiv - freilich auch die Kritik an Arndt aufnehmend - äußert sich Walther über die PsalmPostille: „[...] freylich mit Danck anzunehmen/ deß fleissigen durchlesens wol würdig." In: M. Walther, Centuria Miscellaneorum theologicorum, Ulm 1646, 191193. 63 Ebd., 22f. 64 Ebd., 41. 65 Ebd., 41ff.
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Gottesfurcht und Fürstenherrschaft
Das Ergebnis möchte ich in einigen wenigen thesenartigen Sätzen zusammenfassen. Michael Walther stellt in seinem Obrigkeitsverständnis gegenüber Gesenius den Typus der älteren orthodoxen Theologie dar, die in der Nähe zu Polykarp Leyser d.Ä. und Basilius Sattler durchaus auch noch im fortschreitenden 17. Jahrhundert ein Verständnis für die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber der weltlichen Obrigkeit aufzubringen vermag. Die Gottesfurcht als die Quelle aller anderen Regententugenden bezieht Walther sowohl auf das persönliche Leben wie auf das weltliche Amt der Regenten. Damit sind sie einem hohen Anspruch von Seiten des orthodoxen Hofpredigers ausgesetzt. In ihm sind Achtung und Würde vor ihrem hohen Amt ebenso eingeschlossen wie Warnung und Kritik. Mit dieser ganzheitlich verstandenen Regententugend der Gottesfurcht kämpft Walther konsequent gegen ein Obrigkeitsverständnis an, das sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer mehr nach der Staatsräson ausrichtet und nach ihm schließlich in der Gottlosigkeit des ganzen Staates enden muß. Mit der Betonung des Wächter- und Strafamtes der Geistlichen gegenüber der Obrigkeit sowie seinem Denken in gegliederten Ordnungen, in denen jeder an seinem Platz seinen christlichen Glauben bewähren soll, steht Walther Luther näher als Gesenius. Dies gilt auch für die Sozial- und Hofkritik Walthers, die sich nicht nur in der Form von derjenigen des Gesenius stark unterscheidet, sondern auch inhaltlich weit über sie hinausgeht. Sie kann in eine offene Anklage gegen die Person des Fürsten übergehen. Die in der älteren Calixtliteratur des öfteren festgestellte größere Anpassungsfähigkeit der calixtinisch beeinflußten Theologie an das autokratische bzw. sich zum Territorialismus hin entwickelnde Fürstenregiment kann in den Regentenpredigten des Gesenius weitgehend bestätigt werden. Neben den in der Persönlichkeit des Gesenius selbst liegenden charakteristischen Elementen wird man seine Calixtschülerschaft durchaus mit zu berücksichtigen haben, will man seine Obrigkeitspredigten insbesondere im Verhältnis Staat - Kirche im Rahmen der lutherischen Orthodoxie einzuordnen versuchen. In dem anticalixtinisch bestimmten Michael Walther haben wir einen der letzten lutherischen Hofprediger im 17. Jahrhundert vor uns, der das Wächter· und Strafamt des Geistlichen gegenüber dem Regenten ausübt.
Johann Reinhard Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
In die Geschichte der Anfänge des Pietismus im Herzogtum Württemberg gehört das Wirken eines Mannes, dessen Andenken sich in der evangelischen Kirche Württembergs bis in die Gegenwart erhalten hat: Johann Reinhard Hedinger (1664-1704). Obwohl er als Stuttgarter Hofprediger, Konsistorialrat und Propst zu Herbrechtingen nur kurze Zeit von 1699-1704 wirkte, ist sein Nachwirken in der gesamten Geschichte des württembergischen Pietismus sehr bemerkenswert. Vor allem als mutiger und unerschrockener Hofprediger ist Hedinger in den Darstellungen zur Geschichte des württembergischen Pietismus vielfach charakterisiert worden.1 Über Hedingers mannhaftes Auftreten vor Herzog Eberhard Ludwig kam es zu einer legendenhaften Überlieferung, die im 19. Jahrhundert von Christian Burk und Albert Knapp2
1
A. Ritsehl, Geschichte des Pietismus, Bd. m , Bonn 1886, 10f.; Chr. Kolb, Die Anfänge des Pietismus und Separatismus in Württemberg, Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 9, 1900, 33-93, 368-412; F. Fritz, Altwürttembergische Pietisten (Π und ΠΙ). Beilage zu der Kirchlich-Theologischen Halbmonatsschrift „Für Arbeit und Besinnung" 4, Nr. 3 und 4, Stuttgart 1950, 72-79; 98-104; Ders., Hedinger und der württembergische Hof, BWKG 40, 1936, 244-253; H. Hermelink, Geschichte der evangelischen Kirche in Württemberg von der Reformation bis zur Gegenwart, Stuttgart und Tübingen 1949, 153-207; H. Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 1969, 58-61; R. Mack, Pietismus und Friihaufklärung an der Universität Gießen und in HessenDarmstadt, Gießen 1984, 92-100 und 239-272; J. Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 1990, 123-143: 127f.; M. Brecht, Der württembergische Pietismus. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. M. Brecht und K. Deppermann, Göttingen 1995, 225-289: 228f. - In der Zeit des Nationalsozialismus erinnerte sich der bayerische Freiherr Wilhelm von Pechmann in einem Brief an Landesbischof Meiser vom 15.11.1938 an diesen aufrechten württembergischen Hofprediger. Einen solchen kritischen Wächter vermißte er in seiner Gegenwart schmerzlich (F.W. Kantzenbach, Widerstand und Solidarität der Christen in Deutschland 1933-1945, Neustadt/Aisch 1971, 263). - Zu Leben und Werk Hedingers wird demnächst von Wolfgang Schöllkopf eine größere Arbeit erscheinen. S. Ders., Im Schatten des Gatten? Christina Barbara Hedinger (1674-1743), die Ehefrau des württembergischen Pietisten Johann Reinhard Hedinger. In: PuN 24, 1998, 186— 196: 186, Anm. 1.
2
J.Chr.Fr. Burk in „Der christliche Bote aus Schwaben", 1831, Nr. 15 und A. Knapp, Altwürttembergische Charaktere, Stuttgart 1870, 5-51.
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Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Claus 3 zusammengestellt wurde. Die geschichtliche Erinnerung an den Hofprediger Hedinger konzentriert sich ganz auf das Bild des unerschrockenen, auch eine drastische Sprache nicht scheuenden prophetischen Mahners und Wächters am württembergischen Hof. Die unabhängige, nur seinem christlichen Gewissen verpflichtete Amtsführung ist in der unterschiedlichen Art der geschichtlichen Überlieferung überall der gemeinsame, beherrschende Aspekt in der Darstellung Hedingers. Aber dieser württembergische Frühpietist gibt bei näherem Hinsehen einige ungelöste Rätsel auf. Darauf wird schon gelegentlich in der Literatur hingewiesen. So beginnt F. Fritz seine Darstellung Hedingers mit der Frage nach seiner Stellung zur lutherischen Kirche seiner Zeit: „In den kirchlichen Kreisen Württembergs lebt noch die Erinnerung an den tapferen Hofprediger Hedinger. Wer mit der Kirchengeschichte Württembergs nicht unbekannt ist, kennt ihn auch als Vorkämpfer des Pietismus im Konsistorium. Daß aber ein Zeitgenosse zu dem Urteil kommen konnte, Hedinger sei in seiner kirchlichtheologischen Haltung wandelbarer als ein Chamäleon gewesen, das ist auch in Württemberg vergessen. Wie war solch ein Urteil möglich? Und wie stand in Wahrheit Hedinger zu seiner lutherischen Kirche?" 4 Am Schluß seiner verdienstvollen, aus alten Quellen schöpfenden Darstellung von Hedingers Leben und Wirken kommt Fritz zu dem Urteil: Es „bleibt für uns wie schon für die Zeitgenossen etwas Rätselhaftes in der inneren Entwicklung Hedingers vom weltfreudigen Kavalier zum weltverleugnenden Pietisten, dann zum Vorkämpfer des Luthertums gegenüber den hessischen Pietisten und endlich zum Anwalt eines separatistischen und stark spiritualistischen Pietismus in Württemberg" 5 . Auch in der neueren Literatur wird auf die Wandlungen Hedingers hingewiesen. 6 Die rätselhafte Spannung in der Haltung Hedingers ergibt sich vor allem aus den Äußerungen während seiner Gießener und seiner Stuttgarter Zeit. War Hedinger als Professor des Natur- und Völkerrechts an der Gießener Universität in einen heftigen Konflikt mit den dortigen führenden Pietisten geraten, die ihm im engsten Zusammenwirken mit der fürstlichen Regierung das Leben zur Hölle machten und ihn schließlich über drei Monate in Haft setzten, so wurde er in Stuttgart nicht nur von den orthodoxen Theologen in
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Württembergische Väter, Bd. I. Von Bengel bis Burk. Bilder aus dem christlichen Leben Württembergs von W. Claus, Stuttgart 3 1926. F. Fritz, Altwürttembergische Pietisten, 72 (Anm. 1). - Fritz nennt den Zeitgenossen Hedingers, den Geheimen Rat Jakob (von) Schröder, der, aus württembergischen Diensten kommend, ab 1698 Kanzler und Direktor des Konsistoriums in Gießen war. Ebd., 103. J. Wallmann, Pietismus (Anm. 1), 127 und M. Brecht: „Jedenfalls fällt an Hedinger auf, daß sein Standpunkt verformbar war" (Geschichte des Pietismus 2 [Anm. 1], 229).
Biographisches zu Hedinger
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Tübingen angefeindet, sondern isolierte sich auch zuweilen von der pietistischen Fraktion im Synodus unter der Führung von Johann Andreas Hochstetter (1637-1720), indem er sich Maßnahmen gegenüber Vertretern radikalpietistischer Anschauungen widersetzte. Gerade aber die fehlende Abwehr enthusiastischer und chiliastischer Anschauungen hatte Hedinger zuvor seinen Kollegen an der Gießener Universität zum Vorwurf gemacht. Will man sich bei diesen Ungereimtheiten nicht nur mit psychologischen Deutungen begnügen, 7 so verbleibt nur der Rückgang auf die Aussagen Hedingers selbst. Wir wollen im folgenden das kirchlich-theologische Profil Hedingers als Hofprediger in Stuttgart anhand einiger ausgewählter Zeugnisse zu beleuchten versuchen, wobei die Differenzierungen und verschiedenen Richtungen im Spannungsfeld zwischen Orthodoxie und Pietismus am Ende des 17. Jahrhunderts womöglich an einer einzigen Gestalt in Erscheinung treten.8 Zuvor muß der Weg Hedingers bis zum Antritt seines Stuttgarter Hofpredigeramtes in knappen Zügen verfolgt und vor allem auf die unmittelbar vorausgehenden Gießener Jahre geblickt werden, die zum Verständnis dieses „tapferen Hofpredigers" besonders wichtig sind. Johann Reinhard Hedinger wurde am 7.9.1664 als Sohn des Hofadvokaten gleichen Namens in Stuttgart geboren. Seine Mutter Christiana war die Tochter des württembergischen Hofpredigers und Prälaten von Hirsau, Johann Schübel9. Im vierten Lebensjahr verlor Hedinger seinen Vater. Die Mutter verheiratete sich mit dem Advokaten Johann Bernhard Schmoller. Ein Sohn aus dieser Ehe, Christian Gottfried Schmoller, Hedingers Stiefbruder, wurde aus dem württembergischen Kirchendienst entlassen, weil er die Bekenntnisschriften nicht unterschrieb und sich der württembergischen Kirchenordnung nicht unterwerfen wollte.10 Nach dem Besuch der Klosterschulen Hirsau und Bebenhausen wurde Hedinger in das Stipendium am Tübinger Stift aufgenommen. Seine philosophischen Studien Schloß er 1684 mit dem Magister ab, woran sich das Theologiestudium vor allem bei dem orthodoxen Theologen Johann Adam Oslander (1622-1697) anschloß. In den erbaulichen Lebensbeschreibungen Hedingers wird mehrfach betont, wie rasch er 7
F. Fritz bemerkt, „daß Hedinger je und je durch persönliche Sympathien und Antipathien stark mitbestimmt wurde und daß er sich mitunter in eine Stellung hineindrängen ließ, die seiner innersten Überzeugung kaum noch entsprach" (Anm. 1), 104. 8 Auf die verschiedenen Richtungen im frühen württembergischen Pietismus weist auch H. Lehmann (Anm. 1), 52f., hin. 9 Johann Schübel studierte in Straßburg vor allem bei Johann Schmidt, der ihn als Informator seiner Kinder in sein Haus aufgenommen hatte. Als Hofprediger in Stuttgart starb er 1671. Vgl. A. Tholuck, Lebenszeugen der lutherischen Kirche aus allen Ständen vor und während der Zeit des dreißigjährigen Krieges, Berlin 1859, 375ff. und H. Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924, 127. 10 F. Fritz (Anm. 1), 103.
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Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
bei seiner hohen und vielseitigen Begabung in seinem Bildungsgang vorankam." Nach einem nur knapp zweijährigen Studium erhielt Hedinger während eines kurzen Vikariatsdienstes 1687 den herzoglichen Befehl, den Prinzen Johann Friedrich als Reiseprediger und Sekretär auf dessen Bildungsreise durch die Schweiz und nach Frankreich zu begleiten.12 Hedinger verblieb auch die weiteren Jahre ganz im Bannkreis des württembergischen Hofes als Hofmeister reisender Prinzen und als Feldprediger. Nach dem Tod Herzog Wilhelm Ludwigs 1677, der mit der frommen Herzogin Magdalena Sibylle13 verheiratet war, übernahm der Administrator Friedrich Karl die Regierung, da der Sohn des verstorbenen Herzogs, Eberhard Ludwig, erst gut ein Jahr alt war. Mit dem Regierungsantritt Friedrich Karls begann auch im Herzogtum Württemberg die Zeit des Frühabsolutismus. Der Hof isolierte sich immer mehr vom Bürgertum, und die fürstlichen Pläne für ein stehendes Heer stießen auf den energischen Widerstand bei den Ständen. Der Ausbau der absolutistischen Herrschaft ging mit ständiger Kriegsnot einher. Während der Regierungszeit Friedrich Karls brachen die Franzosen dreimal in Württemberg ein. Diesen Herausforderungen durch die Eroberungspolitik Ludwigs XIV. von Frankreich war der württembergische Herzog-Administrator nicht gewachsen. Während seines Aufenthaltes in Regensburg fiel die Festung Hohenasperg kampflos in die Hände der Franzosen, Stuttgart war nur durch den Einsatz fremder Truppen gerettet worden. Im Frühjahr 168914 trat Hedinger eine fast dreijährige Studienreise an, die durch ein Stipendium aus dem „Kirchenkasten" und Zuwendungen von Seiten der herzoglichen Regierung finanziert wurde. Zunächst kam er nach Leipzig, um „noch ein halbes Jahr auf Vollendung seiner Studien zu verwenden"15. Die Reise ging weiter nach Norddeutschland, besonders Hamburg, sodann nach Holland. In Begleitung des württembergischen Prinzen Karl 11
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A. Knapp (Anm. 2), 9f. und C.F. Ledderhose, Hedingers Lebenslauf. In: Vorspann zu einer Neuausgabe von Hedingers Neuem Testament, Bd. 1, Basel 1863, VI. Eine Bestätigung hierfür gibt K. Müller, Kirchliches Prüfungs- und Anstellungswesen in Württemberg im Zeitalter der Orthodoxie. Aus den Zeugnisbüchern des herzoglichen Konsistoriums. In: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte, N.F., XXV. Jg., 1916,436. K. Müller weist darauf hin, daß dies „damals manchmal bei besonders ausgezeichneten Kandidaten geschah" (Anm. 11), 436. F. Fritz hat den von Hedinger verfaßten Reisebericht eingesehen und die Art des Berichtes „mit naivem Wichtignehmen" höfischer Vergnügungen als „peinlich um des bitter ernsten geschichtlichen Hintergrundes willen" bezeichnet: „[...] die Reise fiel ja in die Zeit der Hugenottenverfolgungen und der französischen Raubkriege" (Anm. 1), 72. Vgl. zur Herzogin Magdalena Sibylle A. Knapp (Anm. 2), 52-77 und M. Brecht, Herzogin Magdalena Sibylle und die Frömmigkeit ihrer Zeit. In: Schwäbische Heimat 26, 1975,21-31. In den biographischen Notizen über Hedinger differieren die zeitlichen Angaben über diese Zeit. Ich folge F. Fritz. A. Knapp (Anm. 2), 10.
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Rudolf reiste er nach England und vertrat für zwei Monate den erkrankten Hofprediger des Prinzen Georg. Nach dem Besuch von Oxford und Cambridge ging es weiter nach Dänemark und Schweden, wo Hedinger Kopenhagen, Stockholm und Uppsala besuchte. Die Rückreise erfolgte über Berlin, dort fesselte ihn eine Krankheit zwei Monate hindurch ans Krankenlager. In Berlin habe er im Hause seines Verwandten Samuel Pufendorf 16 Aufnahme und Pflege gefunden und sei nach seiner Genesung im November 1691 wieder in Stuttgart eingetroffen. Auf seiner Bildungsreise begegnete Hedinger verschiedenen bedeutenden Gelehrten, worauf besonders C.F. Ledderhose und A. Knapp hinweisen.17 In Hamburg sei Hedinger mit Abraham Hinckelmann, in Franeker mit dem berühmten Exegeten Campegius Vitringa und in Kopenhagen mit dem frommen Theologen und Liederdichter Johann Lassenius u.a. zusammengetroffen. Über eine Begegnung mit Spener wird hier nichts berichtet.18 In einer neueren Studie über Hedinger von Rüdiger Mack wird allerdings auf einen selbstgeschriebenen Lebenslauf Hedingers aus dem Jahre 1694 an den damaligen Gießener Rektor Johann Heinrich May hingewiesen,19 in dem er berichtet, er habe auf einer Bildungsreise nach Norddeutschland bei einem längeren Aufenthalt in Berlin 1691 regen Umgang mit Spener und auch mit seinem Verwandten Pufendorf gehabt. Im Frühjahr 1692 wurde Hedinger zum Feldprediger des Herzog-Administrators Friedrich Karl ernannt. Mit diesem hatte er im September desselben Jahres eine schmachvolle Niederlage gegen die Franzosen miterleben müssen, bei der viele Soldaten vor der französischen Armee geflüchtet waren und Friedrich Karl selbst in französische Gefangenschaft geriet.20 Unter Verlust seines Gepäckes gelangte Hedinger schließlich über Heilbronn nach Stuttgart zurück. Als im Februar 1693 der Herzog-Administrator aus französischer 16 So A. Knapp (Anm. 2), 11 und F. Fritz (Anm. 1), 73. 17 C.F. Ledderhose (Anm. 11), VI und A. Knapp (Anm. 2), lOf. 18 Die biographischen Anmerkungen in den erbaulichen Lebensbeschreibungen Hedingers gehen auf die Leichenpredigt zurück, die der Oberhofprediger Johann Friedrich Hochstetter am 30.12.1704 gehalten hat (Wahrer Christen hohes Glück in ihrem Leben und Sterben, Stuttgart 1705). Aber nicht nur Knapp und Ledderhose, sondern auch F. Fritz schweigt über eine Begegnung Hedingers mit Spener während seiner Bildungsreise. 19 R. Mack, Johann Reinhard Hedinger und die pietistischen Querelen in Glessen (1694— 1699). In: Ders., Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt, Gießen 1984, 240, Anm. 4. Ich konnte diesen Lebenslauf Hedingers leider nicht einsehen. 20 Bei Oetisheim am 17.9.1692. Im Zusammenhang mit dieser Niederlage gegen die Franzosen steht die Niederbrennung des Klosters Hirsau. Die Herzogin Magdalena Sibylle ordnete einen außerordentlichen Büß- und Bettag an, auf dem die „ersten landeskirchlichen Pietisten" zu emsthafter Buße aufriefen. Es waren dies die Hofprediger J.F. Hochstetter, J.W. Dieterich, der Stiftsprediger G.H. Häberlin und der Abendprediger Chr. Reuchlin. Vgl. H. Lehmann (Anm. 1), 27f.
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Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, wurde er mit einer neuen politischen Situation im Herzogtum konfrontiert. Kaiser Leopold hatte auf Antrag der württembergischen Landstände den noch nicht 17jährigen Prinzen Eberhard Ludwig für mündig und die Vormundschaft Friedrich Karls für beendet erklärt. Damit begann die Regierungszeit Herzog Eberhard Ludwigs in einer politisch und wirtschaftlich schwierigen Situation. Sie sollte gut 40 Jahre bis zum Oktober 1733 dauern. Nachdem Hedinger im Mai 1694 mit Christina Barbara, der Tochter des Stadt- und Amtsvogts von Kirchheim u.T., J.G. Zierfuß, die Ehe einging, erreichte ihn ein Ruf auf die Professur für Natur- und Völkerrecht an der Universität Gießen. Eine wichtige Verbindung zwischen dem Darmstädter und dem Stuttgarter Hof bestand in der Landgräfinmutter Elisabeth Dorothea. Sie war eine Tochter Herzog Emsts des Frommen von Sachsen-Gotha und führte lange Zeit bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Ernst Ludwig die Regierung in Darmstadt. Nach dem Regierungsantritt Ernst Ludwigs 1688 zog sie sich auf ihren Witwensitz Butzbach zurück, von wo aus sie jedoch regen Anteil an den politischen Vorgängen und den bald an der Universität Gießen ausbrechenden Streitigkeiten nahm.21 Die Landgräfinmutter Elisabeth Dorothea war von einer tiefen lutherisch-orthodoxen Frömmigkeit geprägt. Mit dem Führer der Orthodoxen an der theologischen Fakultät der Universität Gießen, Philipp Ludwig Hanneken, stand sie in naher persönlicher Beziehung. 22 Elisabeth Dorothea war die Stiefmutter der Herzogin Magdalena Sibylle von Württemberg. Ähnlich wie die hessische Landgräfinmutter hatte auch die württembergische Herzogin erheblichen Einfluß in Politik und Kirche. Während der Regierungszeit Friedrich Karls war sie zur Obermitvormünderin über ihren noch unmündigen Sohn Eberhard Ludwig bestellt worden. Während der Franzoseneinfälle nach Württemberg hatte sie mehrfach die Initiative ergriffen und Verhandlungen mit der französischen Besatzung geführt, womit sie das Land vor größerem Schaden bewahren konnte. Auch in den ersten Jahren der Regierungszeit Eberhard Ludwigs konnte sie dafür sorgen, „daß die Schlüsselstellungen der kirchlichen Hierarchie an glaubenskräftige Geistliche kamen"23. Als man an der Gießener Universität Unterstützung für den Spenerfreund Johann Heinrich May suchte und zu diesem
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Zum Sieg des Pietismus über die Orthodoxie an der Universität Gießen vgl. W. Köhler, Die Anfänge des Pietismus in Gießen 1689-1695. In: Die Universität Gießen von 1607-1907. Beiträge zu ihrer Geschichte, Π, Gießen 1907, 133-244; R. Mack (Anm. 1) und sein Forschungsbericht: „Pietismus in Hessen". In: PuN 13, 1987, 181-226, 19Iff. Vgl. auch H. Schneider, Gottfried Amold in Gießen. In: Gottfried Arnold (1666-1714), Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 61. Hg. v. D. Blaufuß und F. Niewöhner, Wiesbaden 1995, 267-299. 22 R. Mack, Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 6f., 109, 240f. 23 R. Mack, Johann Reinhard Hedinger und die pietistischen Querelen in Glessen (16941699). In: Ders., Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 241.
Hedinger an der Universität Gießen
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Zweck einen neuen Lehrstuhl für Naturrecht einrichtete, empfahl Herzogin Magdalena Sibylle den ihr gut bekannten Hedinger nach Gießen. Zur Zeit der Berufung Hedingers nach Gießen im Spätsommer 1694 war die pietistische „Machteroberung" 24 an der Universität schon im Gange. An der theologischen Fakultät war der führende orthodoxe Professor Philipp Ludwig Hanneken 1693 ausgeschieden und durch den Oberhofprediger Johann Christoph Bilefeld ersetzt worden. Mit May, Bilefeld und dem Mediziner M.B. Valentini hatten die Pietisten an der Universität gegenüber der orthodoxen Mehrheit im Senat wichtige Positionen besetzt. Im Zuge der sich rasch weiter ausdehnenden Auseinandersetzungen wurde der pietistische Einfluß immer mächtiger, kräftig unterstützt durch den Hof und fürstliche Beamte. Im Jahr 1695 war der Kampf um die geistige Vormachtstellung an der Universität Gießen zugunsten der Pietisten entschieden. In den ersten Jahren seiner Gießener Zeit hatte Hedinger offensichtlich von dem neuen, siegreichen Geist profitiert. Er promovierte 1696 zum Doktor der Theologie und wurde als Nachfolger eines entlassenen Kollegen zum Universitätsprediger und Bibliothekar ernannt. Zwischenzeitlich hatte er auch das Ordinariat für Metaphysik inne. Wie kann das kirchlich-theologische Profil Hedingers während seiner Gießener Jahre beschrieben werden? Darüber gibt es in der Forschung sehr unterschiedliche Antworten. Während F. Fritz, H. Hermelink, R. Mack und J. Wallmann von einer inneren Umwandlung Hedingers zum Pietisten vor seiner Berufung nach Gießen ausgehen,25 meint M. Schmidt, daß Hedinger „in den vier Gießener Jahren völlig zum Pietisten wurde" 26 . Nach den Forschungen von R. Mack, der auf den schon erwähnten handschriftlichen Lebenslauf Hedingers aus dem Jahre 1694 hinweist, in dem dieser während seines Aufenthaltes in Berlin offenbar von einem engeren Umgang mit Spener berichtet,27 ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß Hedinger nicht während, sondern schon vor seinem Gießener Aufenthalt zum Pietismus hinneigte. Aber was bedeutet konkret die Hinwendung Hedingers zum Pietismus bzw. sein Umgang mit Spener während seiner Bildungsreise im Jahre 1691? Von einem Bruch mit seiner bisherigen Lebensweise ist nicht die Rede. Dafür kann allerdings von einem tiefgehenden Bruch Hedingers mit seinen pietistisch gesonnenen Kollegen an der Universität Gießen gesprochen werden. Die schweren Auseinandersetzungen an der Universität Gießen traten ja erst in 24 25 26
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Ein Ausdruck von W. Köhler (Anm. 21), 135-244. F. Fritz (Anm. 1), 19; H. Hermelink (Anm. 1), 166; R. Mack, Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 240; J. Wallmann (Anm. 1), 127. M. Schmidt, Art. „Hedinger", RGG 3 Bd. ΠΙ, 111. In dem Artikel über Hedinger in dem Biographisch-Bibliographischen Lexikon heißt es: „In Gießen erlebte er eine innere Umwandlung in pietistischem Sinn: er drang zu einem lebendigen Glaubensleben durch"; s. BBKL 2, 634. R. Mack, Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 55, Anm. 95 und 240, Anm. 4.
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ihr entscheidendes Stadium, nachdem mit Hilfe des Hofes die wichtigsten Stellen mit pietistisch gesonnenen Professoren besetzt waren. Die Darstellung von Walther Köhler hat inzwischen Rüdiger Mack gerade auch in bezug auf den Aufenthalt Hedingers in Gießen im ganzen bestätigt und weitergeführt. 28 Besonders aufschlußreich sind die Briefe Hedingers an die Landgräfin Elisabeth Dorothea, die Mack heranzieht und in denen sich Hedinger sehr deutlich über die „pietistischen Querelen" in Gießen und seine demütigende Behandlung während seiner Gefangenschaft äußert. Hedinger geriet immer mehr in einen heftigen Gegensatz zu dem neuen, beherrschenden Geist an der Universität, bei dem sich sachliche und persönliche Konflikte mischten. Eine Enttäuschung über die ausbleibende Berufung in die theologische Fakultät spielt gewiß auch eine Rolle, aber entscheidend waren die kirchlichen und theologischen Gräben, die sich zwischen Hedinger und den beiden führenden pietistischen Theologen, May und Bilefeld, auftaten. Er machte ihnen zum Vorwurf, daß sie mit Leuten verkehrten, die die klaren Grundsätze des lutherischen Kirchenverständnisses und der Schriftauslegung verlassen hatten. Nach dem Umschwung an der Universität Gießen traten sehr bald radikale Geister auf wie der Magister J.C. Dippel, der Separatist und Visionär Christoph Klopfer sowie der chiliastischen Anschauungen anhängende J.W. Petersen. Auch die Berufung Gottfried Arnolds nach Gießen macht Hedinger den führenden Gießener Pietisten zum Vorwurf. Hedinger bezichtigt Arnold des „Arianismus", da er wie die Sozinianer die Trinitätslehre als Glaubensgrundlage nicht anerkenne.29 Persönlich achte und liebe er zwar seinen Fakultätskollegen, doch „sind aber seine Dogmata mit dem Lutherthumb sonnenklar incompatible [..,]" 30 . Über die Situation Hedingers an der Gießener Universität urteilt Rüdiger Mack treffend: „Ihm wurde [...] zunehmend deutlich, daß er in eine Sackgasse geraten war: Die zurückgedrängten Orthodoxen stellten nur bitter die Fehler und Unzulänglichkeiten der neuen Herren fest, ohne die alten engen Vorstellungen zu überwinden und überzeugende Gegenpositionen zu entwikkeln. Die siegreichen Pietisten ließen die Schwärmer ihre ketzerischen Gedanken verbreiten und, statt die reine Lehre zu verteidigen, zeigten sie sich anfällig gegenüber irrgläubigen Anschauungen. Auch schritten sie nicht dagegen ein, daß die Würde der Kirche angegriffen und lautstark der ,Auszug aus Babel' gefordert wurde. Gleichzeitig bauten sie ihre Machtstellung in der Kirche und Universität bedenkenlos aus. Dabei hatten sie schon die einflußreichen und lukrativen Stellen besetzt und konnten leicht Andersdenkende niederhalten. Zur Regierung und zum Hof [...] hielten sie engen Kontakt und 28
R. Mack, Johann Reinhard Hedinger und die pietistischen Querelen in Glessen (16941699). In: Ders., Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 239-272. An Köhlers Ausdruck „Unterrockpolitik" übt er freilich berechtigte Kritik, 109. 29 Vgl. R. Mack, ebd., 246f. 30 Zitiert nach R. Mack, ebd., 247, Anm. 34.
Hedinger an der Universität Gießen
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nutzten geschickt den weltlichen Arm zur Absicherung ihrer Position aus. Bei dieser Konstellation war also auch von der staatlichen Obrigkeit keine durchgreifende Veränderung der Situation zu erwarten. Hedinger aber, der engagierte Theologe und Kirchenmann, war nicht bereit, die Entartungserscheinungen in Kirche und Universität widerspruchslos hinzunehmen. Andererseits konnte er sich keiner der bestehenden Gruppierungen anschließen und besaß auch keine eigene Hausmacht. Seine Wirkungsmöglichkeiten waren fast ausschließlich auf seine Lehrtätigkeit in der Philosophischen Fakultät beschränkt. So erkannte er, daß er in den desolaten Verhältnissen, wie sie in Gießen bestanden, nicht länger bleiben konnte."31 Wie schon bei der Berufung Hedingers nach Gießen wirkten die Landgräfinmutter Elisabeth Dorothea und ihre Stieftochter Magdalena Sibylle von Württemberg zusammen, damit er die „Bäbstliche pietistische Tyranney" verlassen und als „Märtyrer der Pietisten"32 einem neuen ehrenvollen Ruf als Hofprediger und Konsistorialrat nach Stuttgart Folge leisten konnte. Bevor es allerdings zu diesem neuen Anfang im Leben und Wirken Hedingers kam, mußte er in Gießen noch eine schwere Leidenszeit durchstehen. Seine scharfe Abrechnung mit den Zuständen an der Universität und in der Kirche kam in einer seiner letzten Predigten zum Ausdruck sowie in einer Streitschrift, über deren Grundsätze und abschlußartige Thesen eine Disputation stattfinden sollte: „Vale Hassiacum sive brevis disquisitio de literis commendatiis, occasione dicti Paulini 2. Cor. III I."33 In den 11 beigegebenen „Corollaria" wird Hedingers Standpunkt überaus deutlich. So heißt es z.B. in der 1. These: „Verbum Dei efficaciam internam non amittit, quamvis a profano ministro, hypocrita, diaboli mancipio, v.g. Bileamo proponatur; ita et sacramenta mandato et promissione nituntur, non qualitate ministri [,..]." 34 Der Streit in Gießen wurde immer heftiger und öffentlicher. Hedinger provozierte seinen Hauptgegner Bilefeld in der Meinung, als neuer württembergischer Hofprediger nicht mehr der Jurisdiktion der Universität zu unterstehen. Bilefeld aber wandte sich über den Rektor an die landgräfliche Regierung in Darmstadt, die in einem fürstlichen Erlaß Hedinger die Disputation untersagte und ihn aufforderte, sich bei seiner Abschiedspredigt „aller anzüglichen und stachlichten Reden" zu enthalten.35 In seiner letzten Predigt in Gießen wehrte sich Hedinger energisch gegen den Vorwurf, er habe es am Respekt gegenüber dem Fürsten fehlen lassen. Der Fürst sei zwar „eine helleuchtende Sonne, aber mit Nebel und Wolcken umbgeben" 36 . Auf der Grundlage des Predigttextes 1. Thess 2,1-9 gab Hedinger einen Rückblick auf sein amt31 32 33 34 35 36
R. Mack, Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 251 f. Brief vom 22.5.1699 an Elisabeth Dorothea. Vgl. R. Mack, ebd., 262, Anm. 67. R. Mack, ebd., 252. Zitiert nach F. Fritz (Anm. 1), 20. Vgl. R. Mack, ebd., 255. Zit. nach R. Mack, ebd., 257.
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Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
liches Wirken und sein persönliches Leben. Zu seiner Amtsführung stellte er fest, daß seine Lehre gut lutherisch gewesen sei, denn gut lutherisch sei er hergekommen, gut lutherisch sei er geblieben, gut lutherisch wolle er auch wieder wegziehen.37 Mit einem Dank an die Gemeinde und besonders gegenüber dem Fürsten endet diese Predigt. Mit Psalm 118,9 und Psalm 146,3 stellt er fest: „[...] verlaß dich nicht auf Fürsten, sie sind Menschen." Dem Landgrafen wünsche er den Sinn und den Geist Davids, Salomons, Josaphats, des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg und seines Großvaters, Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha.38 Die Darmstädter Regierung reagierte sehr ungnädig auf diese Predigt, verlangte Herausgabe des Konzeptes und verhängte am 12. April 1699 über Hedinger Hausarrest. Erst nach 14 Wochen demütiger Behandlung kam Hedinger nach Einschaltung der württembergischen Regierung frei.39 Nachdem Hedinger am 19. Juli 1699 Gießen verlassen hatte, hielt er am 13. August 1699 in der Stuttgarter Hofkirche seine Antrittspredigt. Nur auf dem Hintergrund der reichhaltigen Erfahrungen, die Hedinger während seiner Gießener Jahre und auch schon zuvor am württembergischen Hof gesammelt hatte, ist diese in der Literatur zu Recht vielfach gewürdigte Predigt zu verstehen. Sie gilt als ein Musterbeispiel für den Freimut und die Unabhängigkeit eines Hofpredigers und Beichtvaters gegenüber seinem Fürsten.40 Das Leitbild für seinen Hofpredigerdienst sieht Hedinger in dem Propheten Jeremia, der als einsamer Wächter und Mahner allein in der Beauftragung durch Gott Trost in seinen Anfechtungen findet. Auf der Grundlage von Jeremia 17 hebt Hedinger gleich im Eingang seiner Predigt hervor, daß das „PredigtAmt ein schwehres Amt/ Propheten-Last eine schwehre Last/ja die schwehrste unter allen" sei.41 Das Thema seiner Predigt ist ganz auf die hohe Verantwortung ausgerichtet, die ein Prediger des Evangeliums für die ihm anvertrauten Seelen vor Gott trägt: „Wie ein rechtschaffener Lehrer und Prediger müsse bewandt seyn/ wann er mit vollem Seegen des Evangelii bey seiner Gemeinde erscheinen/ und viel Frucht und Erbauung schaffen will? nemlich/ es wird von ihm erfordert nach Anleitung desselben 1. Ein in Gott gestärckter unerschrocken- und unverdroßner Muth. 37 Vgl. R. Mack, Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 258. 38 Ebd. 39 Ausführliche Darstellung dieser „Querelen" bei R. Mack, ebd., 258-272. 40 A. Knapp, der längere Auszüge aus der Predigt mitteilt, sagt über sie: „Die Predigt ist für ihre Zeit ein Muster von Gediegenheit, Kraft und Gedankenfülle, und gehet daher wie ein Strom, durchaus auf die deutlichsten Aussprüche des göttlichen Wortes hinweisend" (Anm. 2, 16). Aus der Predigt zitieren weiterhin: F. Fritz, Hedinger und der württembergische Hof (Anm. 1), 246-248; H. Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg (Anm. 1), 58f. und R. Mack, Pietismus und Frühaufklärung (Anm. 1), 267f. 41 Christliche Antritts-Predigt über Jeremia 17,16, Stuttgart 1699 (August Metzler), 8.
Antrittspredigt in Stuttgart
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2. Zum andern: Ein in Verläugnung aller zeitlichen und vergänglichen Dinge stehendes Hertze. 3. Ein vor Gott offenbahres und lauteres Gewissen." 42 Anhand dieser drei Grundbedingungen für die rechte Evangeliumsverkündigung vor allem am Hof stellt Hedinger programmatisch sein Selbstverständnis als Hofprediger dar. In diese Rede von sich selbst ist Kritik an den gegenwärtigen Zuständen in Kirche und Politik stets so eingefügt, daß sie aus der Verantwortung des Hofpredigeramtes unmittelbar notwendig erscheint. Der Eifer für den Herrn ist dem Propheten Jeremia schlecht ergangen. Das kann bei einem Hofprediger nicht anders sein. Hedinger möchte Gesetz und Evangelium nicht vermischen, nicht immer kann ein Prediger Evangelium verkündigen. Die versteckte Krankheit und Verderbnis des Christentums muß aufgedeckt werden. Wie ein Arzt Krebs- und Eiterbeulen bei seinen Patienten nur mit der Schärfe des Messers entfernen kann, so muß auch ein Prediger die Laster der Großen schonungslos aufdecken. Die Heuchelei ist hier besonders groß: „Die kluge politische Welt/ wie man sie nennet/ lebt mit ihren Kindern sehr verdeckt/ die Verstellung ist groß/ Wort und Hertz/ die Geberden und der heimliche Sinn stimen gar selten miteinander überein: Dieses heist Weise und verschlagen seyn!"43 Immer wieder tritt in dieser Predigt die Person des Predigers in den Vordergrund: „Wohl mir! [...] wann auch die an dem lieben Propheten Jeremia beobachtete Eigenschafften an mir herfür leuchten. [...] Wehe mir aber auch und ewig wehe/ Wo mir es an einem in Gott gestärckten Muth/ an Verleugnung der Welt/ und einem ohngeheuchelten Gewissen bey Antritt meines schwehren Amts ermangeln sollte!"44 Hedinger dankt Gott, obwohl er kein Engel sei, für den von ihm verliehenen Mut: „Exeat aula quis vult esse pius, ist ein auch denen Politicis selbst und Höflingen bekantes Wort/ daß wer fromm leben/ Gott dienen/ und das theureste Pfand seiner Seelen nicht auf den Sprung setzen wolle/ müsse der Herrn-Schlösser/ welche meist auf die Hölle gebaut sind/ müssig gehen. [...] So kan es ja wohl nicht änderst seyn/ als daß einen treuen Propheten/ der zumahlen die jämmerliche Zerrüttung des Hoflebens nach dem gemeinen Schroth mit erleuchteten und zugleich betrübten Augen öffters angesehen/ ein hertzliches Grauen ankommen müsse [.. .]."45 Am Hof herrsche die Ansicht vor, daß die Religion nur etwas für den Pöbel sei, die Herrschaften sich aber keine Vorschriften zur Einschränkung ihrer Freiheit anzuhören brauchten. Aber die Last des Hofpredigeramtes bleibt nicht ohne die Hilfe Gottes, die sich Hedinger selbst zuspricht: „Aber getrost! Gott legt uns eine Last auf/ aber er hilfft uns auch [...]." 46 Er will 42 43 44 45 46
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
(Anm. (Anm. (Anm. (Anm. (Anm.
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Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
seine Pflicht tun ohne Ansehen der Person, da er für die Seele seines Landesfürsten und der Hofgesellschaft Sorge trägt und vor Gott über sie Rechenschaft abgeben muß. An seine Gemeinde wendet er sich mit den Abschlußversen aus dem Hebräerbrief 13,17 und 22: „Gehorchet euren Lehrern und folget ihnen; denn sie wachen über eure Seelen [...] haltet das Wort der Ermahnung mir zugut." Ein solches Wort will nur zur Aufdeckung der Wahrheit und zur Besserung dienen: „Glaubt es/ daß ich von Jugend an bin gewohnt gewesen/ ein Hohe Obrigkeit jederzeit mit tiefstem Respect, Demut und Gehorsam/ auch hertzlicher Treue unter unablässigem Vor-Gebeth [...] beständig zu ehren [...] und kan ich mich nicht besinnen [...] daß ich mich gegen die Christliche Amts-Pflicht eines rechtschaffenen Seelen-Hirten niemahlen vergriffen habe; Aber ehe ich die Balcken am Gespärr wider mich lasse antworten/ rede ich zuweilen dreist/ was durch Vorstellung der Warheit und zur Besserung dienen kan."47 Am Schluß seiner Antrittspredigt bittet Hedinger um eine besondere Gnade, „daß ich zu dero Thron und Fürsten-Stuhl hintretten/ meine unwürdige Hand auf dero Brust legen/ und daß was dero hohen Vergnügung zu statten kommen/ dero zeitlich und Ewiges Wohl befördern kan/ demüthigst erinnern dörffe" 48 . Hedingers Antrittspredigt als Hofprediger in Stuttgart steht in der Tradition lutherisch-orthodoxer Hofprediger, die mit ihren Strafpredigten in der Berufung auf das alttestamentliche Prophetenamt erhebliche Obrigkeits- und Hofkritik üben.49 Die Klage über die besondere Last des Hofpredigeramtes, die allein durch die Versicherung auf die ordentliche Beauftragung, auch an dieser überaus gefährdeten Stätte das Evangelium zu verkündigen, zu bewältigen ist, verbindet Hedinger mit vielen seiner Amtskollegen an den lutherischen Höfen Deutschlands im 17. Jahrhundert. Das Wächter- und Strafamt des Hofpredigers hat die Pflicht zur Ermahnung und Kritik, da es um das Seelenheil des Fürsten und der Hofgesellschaft geht, für das die Hofprediger vor Gott höchste Verantwortung tragen. Die Kritik an der weltlichen Obrigkeit steht jedoch im engsten Zusammenhang mit dem großen Respekt vor ihrem hohen Amt, das für das Gemeinwohl entscheidend wichtig ist. Hedinger setzt im Rahmen dieses lutherisch-orthodoxen Obrigkeitsverständnisses aber einige eigengeprägte Akzente. Es wird mit den vorausgegangenen Erfahrungen zusammenhängen, daß die Predigt Hedingers so stark apologetisch-selbstreflexive Züge trägt. Eine grundsätzliche Äußerung zum landesherrlichen Kirchenregiment des Herzogs und zum Verhältnis von weltlicher Obrigkeit und Predigtamt findet man in dieser Predigt nicht. Die 47 48 49
Ebd. (Anm. 41), 43. Ebd. (Anm. 41), 46. Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988.
Weitere Veröffentlichungen Hedingers
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kritischen Töne richten sich ganz und gar auf die persönliche Lebensführung am Hof, allerdings ohne jegliche Konkretionen. Wenn Hedinger sein Predigtamt am Hof mit der Tätigkeit des Arztes vergleicht, der die kranken Schäden bei seinen Patienten oft nur unter Schmerzen zu beheben vermag, so deutet dies schon auf die Kirchenkritik des Pietismus hin.50 Mit der Antrittspredigt Hedingers, in der das Selbstverständnis eines lutherischen Hofpredigers um 1700 im Geist der frommen Orthodoxie, doch mit einigen neuen Akzenten zum Ausdruck kommt, ist der Freiraum eröffnet, in dem sich dieser württembergische Theologe mit einer reichen literarischen Tätigkeit bewegt. In kurzer Folge gibt er erbauliche, homiletisch-pädagogische und vor allem biblische Schriften heraus, die mehrere Auflagen erlebten und - bezüglich seiner biblischen Arbeiten - heftige Diskussionen auslösten. Sie können nur im Zusammenhang mit seinem Wirken als Hofprediger und Konsistorialrat recht verstanden werden.51 Im Jahre 1700 gab Hedinger ein Gesangbuch heraus mit dem Titel: „Andächtiger Hertzens-Klang/ In dem innersten Heiligthum Gottes."52 Daß diese Lieder zunächst für den Gottesdienst in der Hofkapelle bestimmt waren, geht aus dem Vorbericht hervor: „Zum Behuff der Christlichen Hoff-Gemeinde allhier." Auch das „Gebet der Unterthanen für ihre Obrigkeit" und das „Gebet um Göttliche Regierung" zeigt die Verbindung mit der Hofgemeinde. 53 Interessant ist die Zusammenstellung der Lieder, die Hedinger zu dem bisherigen Grundstock von vor allem aus dem Reformationsjahrhundert stammenden Liedern hinzugetan hat. Sie steht im engen Zusammenhang mit der lutherischen Gebets- und Erbauungsliteratur sowie der geistlichen Dichtung in der Nachfolge von Johann Arndt. Es sind vor allem Lieder von Paul Gerhardt, Johann Rist, Johann Heermann, Johann Maukisch und von Ludämilie 50 Vgl. J. Wallmann, Der Pietismus (Anm. 1), 46. 51 In diesem Aufsatz kann es nur um einige wenige Hinweise gehen. Es würde sich lohnen, vor allem aus den Erläuterungen und Kommentaren Hedingers zum Neuen Testament sein theologisches Profil näher zu untersuchen. 52 Stuttgart 1700. Eine zweite Auflage kam nach Hedingers Tod 1705 heraus und eine dritte 1713. Diese dritte Ausgabe enthält eine „Zugabe einiger geistreicher Lieder deß seeligen Herrn Dr. J.R. Hedingers" (1043ff.). Die Vorrede gibt einen kurzen Lebensbericht Hedingers, der vermutlich von J.Fr. Hochstetter stammt. Über seinen Dienst als Hofprediger wird hier an den christlichen Leser berichtet, „welchen er mit redlicher Absicht auf die Ehre seines Herrn und Gottes/ dessen Knecht er war: mit dringender und biß in den Tod brennender Liebe gegen seinem gnädigsten Fürsten/ und dessen hohen Hause: mit unendlicher Bekümmernuß seiner Seelen um den Schaden Josephs: mit unerschrockenem Muth und standhafften Hertzen gegen allen Widerspruch/ Hohn und Widerstand der bößen Geister und Menschen in allen Ständen: mit freudigen/ und nach seiner von Gott besonders empfangenen Gabe verwunderlich-beredten Aufthun seines Mundes: und aus diesen allen durch Göttliche Gnade entstandenen reichen und annoch daurenden Seegen seines Beruffs biß an sein Ende vorgestanden" (5f). 53 Ebd., 56 und 75.
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von Schwarzburg. 54 Die Bevorzugung dieser Lieder durch Hedinger, der sich in seinen eigenen Liedern einer oft sehr drastischen Sprache bedient,55 zeigt seine Verbindung mit der Frömmigkeitsbewegung der vorausgehenden Zeit. Auch in Hedingers „Passionsspiegel" (1702), den er der Herzogin Magdalena Sibylle gewidmet hat, finden sich Lieder von ihm. Sein „Biblisches Schatzkästlein" oder „Vollständiges Spruchbuch" (1701) wirkte noch lange in der württembergischen Kirche nach. Die Anliegen Hedingers im Rahmen der kirchlichen und gesellschaftlichen Situation seiner Zeit kommen besonders deutlich in der Schrift zum Ausdruck: „Christliche Wohl-gemeynte Erinnerungen/ Die Unterrichtung der lieben Jugend/ in der Lehre von der Gottseeligkeit betreffend", Stuttgart 1700. Am Anfang zitiert er ausführlich aus Luthers Ratsherrenschrift und gibt Anweisungen an Lehrer und Eltern, die ihnen anvertraute Jugend stets auf das Reich Gottes hinzuweisen. Allerdings machen die Gewohnheit und der Zwang äußerer Gesetze noch keinen Christen. Scharfe Kritik übt Hedinger an der Lebensführung der Pfarrer. 56 Auch Hedinger gehört in die Reihe der vielen lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts, die den mangelnden Erfolg der kirchlichen Bemühungen, vor allem des Gemeindegottesdienstes, um die sittliche Hebung des Volkes beklagen. Seit seiner Amtsübernahme hört er die Klagen der Mitbrüder, „wo es doch fehlen möchte/ daß bey so vielen herrlich-guten Anstalten/ dennoch von großer Erweiterung des Reiches Christi unter uns wenig gehöret/ vielmehr die insgemein herrschende Blind- und Boßheit des gemeinen Volkes [...] bejammert werde" 57 . Mit der lutherischen Orthodoxie hält Hedinger an der Lehre von der Wirksamkeit des göttlichen Wortes fest: „Der Gott/ welcher Bileam und seinem Esel/ wie auch dem gottlosen Caipha/ sein Wort auff die Zunge gelegt/ ob ihr Hertz selbst davon nichts erfahren und verstanden; Der kan auch durch einen gottlosen Lehrer sein Wort reden/ wann Er will." Aber er fügt sogleich hinzu: „Jedoch stehet ein solcher Prediger/ der den Geist Christi nicht empfangen/ und in den Banden des Satans verstricket ist/ seinen Schaafen zum Gericht und Versuchung da."58 Das ihrer Verkündigung nicht entsprechende Leben der Pfarrer ist eine wesentliche Ursache der Ergebnislosigkeit kirchlicher Bemühungen: „Bauet Er schon etwas/ vermöge des Worts/ so reisset es sein Exempel wieder ein."59
54 Vgl. F. Fritz, Altwürttembergische Pietisten (Anm. 1), 78f. 55 Vgl. A. Knapp (Anm. 2), 34 und F. Fritz (Anm. 1), 79. 56 Christliche Wohl-gemeynte Erinnerungen, Stuttgart 1700, 42: „Daß eines der grossesten Influenzen der Verderbung in das gemeine Christen-Wesen von dem PredigAmbt herrühre, [...] haben gottseelige Männer zur Genüge [...] erwiesen." 57 Ebd., 17. 58 Ebd., 43f. 59 Ebd., 45.
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Schon am Anfang seiner Schrift hat Hedinger für die Katechismus-Arbeit in seiner Kirche besonders gedankt. Auf die katechetische Unterweisung legt er deshalb auch ein besonderes Gewicht. Die Katechisation fruchtet mehr als hundert gekünstelte Predigten.60 Auch auf das viel diskutierte Thema der Sonntagsheiligung61 kommt Hedinger zu sprechen und wünscht sich in den Häusern viel erbauliche Gespräche, Liedersingen und frühzeitige Heranführung der Kinder an das Bibellesen.62 Spielen, Tanzen, üppige weltliche Konversation sowie „unerbauliches Spazierengehen"63 mißfallen ihm ebenso wie Oper und Schauspiel. Hedingers Kritik an Kirche und Gesellschaft seiner Zeit gewinnt jedoch erst dadurch klarere Konturen, indem auf die Stellung geachtet wird, die der Stuttgarter Hofprediger der weltlichen Obrigkeit in diesen Fragen einräumt. Gemäß Jesaja 49,23 soll die weltliche Obrigkeit eine „Säugamme der Kirche" sein.64 Wo Hedinger auf das Verhältnis von weltlicher Obrigkeit und Predigtamt zu sprechen kommt, was nur selten der Fall ist, wird deutlich, daß er in der Tradition von Johann Arndt und der von ihm bestimmten Frömmigkeitsbewegung steht. Der Obrigkeit kommt eine besondere Verantwortung bei der Verwirklichung des christlichen Lebens zu. Sie hat sich um das „bonum Ecclesiae" zu kümmern und soll den Maßnahmen des Ministeriums den nötigen Nachdruck verleihen: „Die Obrigkeit belangend/ kan sie dem Ministerio gewaltig unter die Arme greiffen/ umb in seinen heilsamen Unternehmungen desto sicherer fortzukommen." 65 Ein harmonisches Zusammenwirken zwischen Obrigkeit und Kirche ist das von Hedinger erstrebte Ziel: „Sacerdotium und Imperium stehen nicht allezeit in Concordia, da doch beyde unanimi sensu et consensu pro gloria Dei und der Gemeinde Wohlfahrt Sölten arbeiten." „Gott regiere die Hertzen aller Politicorum, welche weltlichen Händeln/ und der Policey ein jeder in seiner Ordnung/ vorstehen/ daß sie ein unbefleckt Gewissen bewahren/ und ihres Theils nicht schuldig werden entweder an den Seuffzern des ohne dem verachteten Predig-Ampts/ oder an einiger Versäumniß deren, welche durch ihr Zuthun/ Emsigkeit/ Ernst im Ampt und gutes Exempel im Leben hätten mögen gewonnen werden." 66 Diese Schrift Hedingers steht m.E. in der Tradition der Reformschriften der lutherischen Orthodoxie und kann nicht als „das Ideal der pietistischen Päd-
60 Christliche Wohl-gemeynte Erinnerungen (Anm. 56), 118ff. 61 Ebd., 259 und 272. 62 Ebd., 188 und 255ff. In diesem Zusammenhang spricht er von „Hauß-Kirche", 253ff. 63 Ebd., 273. 64 Ebd., 23 und 184. 65 Ebd., 201f. Wenn nötig, denkt Hedinger hierbei auch an Leibesstrafen. 66 Ebd., 57f.
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agogik" bezeichnet werden.67 In seinen Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung der Katechese, der Sonntagsheiligung, in seiner Kritik an der Lebensführung der Pfarrer und den sittlichen Verfehlungen eines weltlich-ausschweifenden Lebens steht Hedinger besonders den Rostocker Reformtheologen vor ihm nahe.68 Auf die Mithilfe der weltlichen Obrigkeit bei seinen kirchlichen Reformbemühungen setzt Hedinger nicht geringes Zutrauen, womit er m.E. näher bei Theophil Großgebauer steht als bei Spener. Wie wichtig Hedinger die rechte Predigtweise bei seinen Reformbemühungen war, zeigt eine Schrift, die er als homiletische Anleitung für angehende junge Prediger verstanden wissen wollte: „Kurtze Anleitung und wohlgemeinte Vorschläge/ wie es mit einer nützlichen und erbaulichen Predigt-Art anzugreifen/ und die vorscheinende Mängel zu verbessern [...]", Stuttgart 1701.69 Der Hauptzweck der Predigt bestehe in der Erbauung.70 Aber Hedinger stellt klar heraus, daß „zu diesem Werck auch eine gute Ordnung/ methode, Dexterität und Gaabe gehöret"71. Predigen muß gründlich gelernt werden.72 Ausführlich geht er auf die Notwendigkeit der Sprachstudien ein73 und gibt kurze Kommentare zu einer Fülle von exegetisch-homiletischer Literatur. Aufschlußreich ist, welche Gewährsmänner Hedinger vor allem anführt. Es sind dies Sebastian Schmidt, Martin Geier, Johannes Coccejus, 74 Johann Hülsemann 75 und Johann Benedikt Carpzov, den er seinen Präzeptor nennt.76 Damit schließt sich Hedinger besonders an die Straßburger und die Leipziger lutherische Orthodoxie an. Es überrascht nicht, wenn er die angehenden Prediger auf die bekannten Kirchenlehrer verweist und in der praktischen Predigtvorbereitung an erster Stelle Arndt und ihm nachfolgend Heinrich Müller, Joachim Lütkemann, Christian Scriver und Spener empfehlend nennt.77 67
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Gegen H. Lehmann (Anm. 1), 57. Auch H. Hermelink (Anm. 1), 174 und F. Fritz (Anm. 1), 98, sehen in dieser Schrift Hedingers das Pietistische besonders hervortreten. Vgl. H. Leube, Die Reformideen (Anm. 9), 63ff. und U. Sträter, Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995, 119ff.; Th. Kaufmann, Universität und lutherische Konfessionalisierung (QFRG 66), Gütersloh 1997. Die Schrift findet sich anonym in einer Neuausgabe von F. Bidembachs Manuale Ministrorum Eccelsiae. Die Verfasserschaft Hedingers wird von L.M. Fischlin, Memoria Theologorum Wirtembergensium 2, 1709, 410, bezeugt. Kurtze Anleitung, Stuttgart 1701, 12. Vorrede, 4f. „Ist es der Göttlichen Ordnung gemässer/ daß/ wo ich einen Text/ als ein Zeugnis von ihm/ vor mir habe/ solchen gründlich verstehen lerne" (Vorrede, 5). Ebd. (Anm. 70), 17ff. Ebd., 21. Ebd., 187. Ebd., 71 und 177. Ebd., 134.
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Aber auch die reformierten Engländer und Holländer haben „treffliche meditationes Commentaries practicos" verfaßt. 78 Ausdrücklich warnt Hedinger vor einem falschen Trost in den Predigten: „Am ärgsten ist es/ so man ein hohes/ wildes/ und unverständiges/ blindes Volck tröstet/ und die Perle des Evangelii den Säuen unter die Füsse wirfft." Es sind schädliche Leute, „welche die verkehrten Sünder in die Hölle hinein trösten"79. Eine weitere wichtige Quelle für Hedingers prophetisches Amtsverständnis und insbesondere sein Selbstverständnis als Hofprediger liegt in der Beantwortung einiger Anfragen vor, über die nach seinem Tod von unbekannter Seite berichtet wird.80 Auf die erste Frage, „Ob ein Prediger mit gutem Gewissen eine Gemeinde, darinnen er seiner Meinung nach nichts erbauet, sondern Übel nur ärger wird, verlassen, und derselben wohl gar aufkündigen könne?", wird geantwortet: „Ja. Solches Amt ist eine Last, eine Quaal, eine Versuchung [...]." 81 Darum wird die Empfehlung gegeben: „Besser, gerade darein platzen, als zwischen Verzweifelung und Hofnung nur einer heydnischen Besserung zur Ehrbarkeit [...]" dienen.82 Die zweite Frage lautet: „Ob ein Lehrer in seinem Gewissen entschuldiget sey, wenn er scharf [...] prediget, und in Hofnung der etwa erfolgenden Besserung per crucem nicht gelinde fähret, sondern solchergestalt grosses Unglücke verursachet?" Auch hierauf antwortet Hedinger: „Ja! er ist in seinem Gewissen frey, weil er sein Amt gethan, dem Teufel ins Nest gegriffen, und Gottes Gerichte verkündiget hat, wenn auch die Welt wolte rasend werden, und alle Christen erwürgen." 83 Unter Berufung auf 2. Tim 4,2ff und 2. Kor 2,17 fährt Hedinger fort: „Die Exempel der heiligen Propheten, und Aposteln, und Christi selbst, von denen man nicht lieset, daß sie dem Satan noch die Fußsohlen gekratzt, sondern sie sagtens auch den Grossen in der Welt fein derbe, daß sie sich dermaßen erzürnet, und nicht nur ihnen, sondern gantzen Gemeinden die Köpffe abgerissen."84 Für das daraus evtl. erwachsende Unglück hat sich der Prediger nicht zu verantworten: „[...] denn man 78 79
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Ebd., 135. Kurtze Anleitung, 158. Auch diffizile Disputationen verwirft Hedinger von den Kanzeln: „Vor den gemeinen Hauffen schicket sich keine disputatio de rebus et mysterii sublimibus: Milch-Speise wollen sie haben" (ebd.). „Des ehemaligen hochberühmten Württembergischen Ober-Hof-Predigers D. Reinhard Hedingers Beantwortung zweyer gar wichtigen Gewissens-Fragen, das Lehr-Amt betreffende." In: Theologia pastoralis practica, Magdeburg und Leipzig 1739, 2. Bd. 10., 197-215. Auch F. Fritz, Hedinger und der württembergische Hof (Anm. 1), 248f., geht kurz darauf ein. Der unbekannte Bearbeiter läßt gegenüber den darin geäußerten, offenbar z.T. schockierend wirkenden Aussagen eine Distanz erkennen: „Wir können zwar nicht an allem Theil nehmen, was er darinnen behauptet [...]" (197). Ebd., 198. Ebd., 199f. Ebd., 202. Ebd.
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thut sein Amt, für den Eventum läßt man Gott sorgen."85 Auch die Tür zur Erbauung schließt man damit nicht zu. „Die Propheten haben nicht lavirt, geschmeichelt und stille geschwigen. Leider bezeugens alle Historien, daß gantze Länder und Kirchen nicht durch scharffe Propheten, sondern durch gelinde Miethlinge, politische Placentiner etc. zerrüttet und umgekehrt worden." 86 Auf den Einwurf des fehlenden Respektes vor der Obrigkeit antwortet Hedinger: Prediger „müssen Ernst zeigen, klar und deutsch dem Gottlosen sagen, daß er verlohren sey, und ja nicht verschweigen, und versparen, sondern wenns auch mit höchstem Verdruß geschehe, anhalten" 87 . Die Frage, ob die strenge Predigt vor großen Herren genützt habe, beantwortet er: „Es hat auch nicht genutzet, wenn man sanfte mit dem Knaben Absalom verfahren. [...] Die meisten sind blind, und wissen nicht mehr, daß Lehrer, Diener Gottes, nicht aber ihre Knechte sind. [...] Alles komt hier auf Gottes Kraft, die Ausrichtung eines so schweren Amts, und ein unverzagtes, auf den Herrn vertrauendes Gewissen an."88 Schließlich antwortet Hedinger auf eine Frage, die ihn in seinem Hofpredigeramt besonders tangiert: „Ob ein Prediger, der menschliche Hülffe in seinem Amte ermangelt, einen vornehmen Sünder excommuniciren, und von dem Genuß des heiligen Abendmahls für seine Person ausschliessen solle, wenn er dann abgesetzt wird?" Die Antwort lautet: „Warum nicht? Denn was dem Bauren in diesem Stücke gebühret, das auch dem Grösten."89 Fürst und Bauer, Hohe und Niedrige seien in diesem Falle vor Gott gleich. Die Kirche wisse nichts von diesem Unterschied, und ein frommer Bauer sei ihm lieber als tausend Kaiser, die gottlos sind. Mit Entrüstung weist Hedinger den Einwurf zurück, daß die Großen meinen, weil ein Prediger von ihnen bezahlt wird, müsse er tun, was ihnen gefällt. Wegen ihrer Sünden sind die Großen weniger vor Gottes Augen als fromme, arme Hirten.90 Den Einwurf, daß ein Fürst ein Bischof ist, beantwortet Hedinger: „Wo steht das geschrieben, daß man auf weltliche Hülffe warten, und nicht mehr Gott vertrauen solle?"91 Auf die Frage: „Ob ein Hof-Prediger und Beicht-Vater dergleichen unternehmen dörffe, ohne Vorbewust eines andern, z.B. Consistorii, Senatus intimi?", antwortet er: „Ja, denn der Obere ist sein Schaf, und es liegt ihm allein auf dem Gewissen, wenn er Sacra austheilen soll. Was gehets andere an?" 92 Scharf wendet sich Hedinger gegen eine an die gesellschaftliche Konvention angepaßte Amtsführung. Die Frage: „Ob nicht, weil einem Prediger viel 85 86 87 88 89 90 91 92
Ebd., 204. Beantwortung (Anm. 80), 204. Ebd., 205. Ebd., 206. Ebd., 209f. Ebd., 211. Ebd., 212. Ebd., 213.
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zu thun nicht erlaubet ist, es entschuldiget, so er thut, was er kan?", beantwortet er: „Nein! wenn dieses gilt, würde der Teufel und seine Getreuen bald Meister werden, und alles einschrenken. Er soll thun, was Gott befihlet, dräuen, warnen, verdammen, nicht aber Segen sprechen, absolviren, Abendmahl reichen aus dem Vorwand: Ich halte es zwar für unrecht, aber wer kan wider den Strohm streben?" „O Elend!, daß man nach der Welt-Klugheit und Gesetzen [...] das göttliche Recht abmessen will."93 Den Einwurf, die meisten Herren hätten dann keine Pfarrer mehr, beantwortet Hedinger: „Wolte Gott! die Bösen hätten keine Lehrer, sie würden anders zum Creutz kriechen, und Gott anflehen." 94 Diese denkwürdige Beantwortung von Gewissensfragen, die sich auf den Ernst der Buße in der Alten Kirche und mit mehreren Zitaten auf Luther beruft, endet mit dem Ausspruch: „O tempora! Ο mores! da es mit dem PredigAmt dahinkommen, daß man es nicht ohne fast gewissen Seelen-Untergang verwalten könne." 95 Mit dem Stuttgarter Hofprediger Hedinger verbindet sich nicht nur die Erinnerung an seine freimütige und unabhängige Amtsführung, sondern auch die Tatsache, daß er in der Geschichte der Lutherbibel einen bedeutsamen Platz einnimmt. Im Jahre 1704 gab er zwei Bibelausgaben heraus, eine Vollbibel und ein Neues Testament.96 Praktische Erwägungen haben diese beiden Bibelausgaben veranlaßt. Da der Vorrat an Bibeln in den Klosterschulen zu Ende ging, hatte Hedinger 1702 dem Konsistorium seine Absicht eröffnet, eine deutsche Bibel herauszugeben. Sie könnte für die Schüler von größerem Nutzen sein als eine lateinische. Hedingers Vorhaben fand im Konsistorium einhellige Zustimmung. Der stattliche Band, dem Kupferstiche und kurze Lebensbeschreibungen der württembergischen Herzöge von Eberhard im Bart bis auf Eberhard Ludwig vorangestellt sind und der den Gliedern des herzoglichen Hauses gewidmet ist, wird von Kolb und Köster näher beschrieben.97 Wie bei seiner Ausgabe des Neuen Testaments hat Hedinger auch im Eingang seiner Vollbibel Johann Arndts „Informatorium biblicum" vorangestellt. Bei der riesigen Arbeit haben ihn offenbar die ihm befreunde-
93 Beantwortung (Anm. 80), 213f. 94 Ebd. 95 Ebd., 215. 96 Vgl. Chr. Kolb, Die Bibel in der evangelischen Kirche Altwürttembergs, Stuttgart 1917, 17-22 und 67-77; B. Köster, Die Lutherbibel im frühen Pietismus. Texte und Arbeiten zur Bibel, Bd. 1, Bielefeld 1984, 171-187. 97 Chr. Kolb (Anm. 96), 17ff. und B. Köster (Anm. 96), 171-178. Die bei Metzler in Stuttgart erschienene Bibel, die den Namen Hedinger nirgendwo enthält, findet sich in der Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Signatur: Β deutsch 1704 07.
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ten Theologen Andreas Adam Hochstetter98 und Gottfried Hoffmann 99 sowie sein Stiefbruder Christian Gottfried Schmoller100 unterstützt. Nach der Vollbibel erschien Hedingers Oktav-Ausgabe des Neuen Testaments,101 die durch sein Hofpredigeramt unmittelbar veranlaßt ist. In dem von Hedinger unterzeichneten Vorbericht heißt es, daß er bei seiner Gemeinde in der Hofkirche die Art und Weise gezeigt habe, „wie sie die Heil. Schrifft fruchtbarlich lesen Sölten/ dabey aber vermuthete/ es möchte mancher Cämmerer noch eines Philippi [...] und weiterer Erläuterung nöthig haben/ Anlaß und die Gedancken in den Sinn gegeben/ ein Stück der Heiligen Schrifft [...] mit kurtzen Auslegungen/ und in einem kleinen Format/ so bald möglich/ auszufertigen/ und meinen theuer-werthisten Zuhörern [...] zum Aufschlagen in der Versammlung/ zum Nachforschen daheim im Hause/ und/ mit einem Wort/ zum bessern Verstand und Gebrauch desselben/ einen Behelff und Handgriff anzubieten."102 Hedingers Neues Testament stellt eine sehr behutsame Revision des Luthertextes dar;103 er versucht, eingeschlichene Unklarheiten in den bisherigen Ausgaben der Lutherbibel zu korrigieren und die Interpunktion den Erfordernissen des Textinhaltes entsprechend zu gestalten. Summarische Zusammenfassungen über die einzelnen Kapitel sollen das Lesen und Verstehen erleichtern sowie als Gedächtnisstütze dienen. Am Schluß der Kapitel sind für wichtige inhaltliche Aspekte sog. Nutzanwendungen beigefügt, die jeweils den Bereichen Lehre, Warnung, Vermahnung und Trost zugeordnet sind (L, W, V, T). Am Rand der Seiten stehen Glossen von Luther, von anderen Schriftauslegern und von Hedinger selbst. In den Glossen hat Hedinger auch zuweilen auf den griechischen Urtext zurückgegriffen und eine an ihm orientierte Übersetzung hinzugefügt (G oder Gr). Hinweise auf Parallelstellen und kurze Vorreden zu allen Schriften des Neuen Testaments sollen das Verständnis erleichtern. In neun Regeln hat Hedinger noch eine besonders knappe Anleitung zum rechten Lesen und Verstehen des Neuen Testaments hinzugefügt. Die Bibelausgaben Hedingers sind vor allem dadurch bekannt geworden, daß sogleich nach ihrer Veröffentlichung Streitigkeiten ausgebrochen sind, die
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A.A. Hochstetter war seit 1697 Professor in Tübingen und seit 1711 Konsistorialrat und Nachfolger Hedingers im Hofpredigeramt in Stuttgart. G. Hoffmann war von 1707-1716 Stiftsephorus in Tübingen, seit 1716 Professor der Theologie. Chr.G. Schmoller war Magister und Repetent des Stipendiums in Tübingen. Stuttgart 1704 bei Christian Gottlieb Rößlin. Württ. Landesbibliothek Stuttgart, Signatur: Β deutsch 1704 10. Vorbericht, 7. Dezember 1703, 5 b. Was Hedinger unter „Original-Version Lutheri" versteht, wird leider nicht deutlich.
Die Bibelausgaben Hedingers
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noch weit über Hedingers Tod hinaus anhielten.104 Daß man diese sehr verschiedenartigen Streitigkeiten aber als einen „Kampf des Pietismus mit der Orthodoxie" bezeichnet hat,105 erscheint mir nicht sinnvoll, da solche Grenzziehungen den einzelnen Stellungnahmen zu Hedingers Bibelarbeiten zu wenig gerecht werden. Gewiß haben der Kanzler von Tübingen, Johann Wolfgang Jäger106, und andere Konsistorialräte an der Abweichung von der lutherischen Version scharfe Kritik geübt. Vor allem nahm man an den ersten vorsichtigen Versuchen Hedingers zur Textkritik Anstoß. Wenn einzelne Worte für eingeschoben erklärt werden, hieß es, dann seien sie ja nicht inspiriert und somit sei die Heilige Schrift als inspiriertes Wort Gottes gefährdet. Die Papisten hätten dann mit ihren Vorwürfen leichtes Spiel. Aber auch A.A. Hochstetter, der die Bibelarbeiten Hedingers ausdrücklich begrüßte, kritisierte dessen Ausdruck „falsche Übersetzung" Luthers. Im Stuttgarter Konsistorium kam über Hedingers Neues Testament kein einstimmiger Beschluß zustande. Kolb muß feststellen: „In doctrina seien alle einig gewesen, auseinander sei man gegangen in bezug auf das Verhalten."107 Auch die Kritiker Hedingers haben sich teilweise sehr anerkennend über seine Arbeit geäußert und seine Freunde nicht alles von ihm gebilligt. Am Ende der gutachterlichen Beratung stand die Freigabe zum Verkauf. Das Neue Testament Hedingers erlebte mehrere Auflagen, war jedoch auch in einige verlegerische Streitigkeiten verwickelt worden.108 Anonyme heftige Kritik erfuhr Hedingers Bibel in den „Unschuldigen Nachrichten" von 1705. Schließlich hat Johann Friedrich Mayer109 Hedingers Neues Testament in einer eigenen Disputation 1707 kritisiert.110 Die Kritiker hatten es nicht leicht, in den Kommentaren Hedingers zum Neuen Testament Abweichungen von der geltenden Lehre festzustellen. Diese Schwierigkeit war offenbar auch den Zeitgenossen Hedingers bewußt. Die gängige Polemik gegen chiliastische Anschauungen, Weigelianismus und Schwenckfeldismus konnte nur pauschal, ohne näheren Nachweis, erhoben werden. Bei der Offenbarung des Johannes enthält sich Hedinger jeder 104 Ausführlich berichten darüber Chr. Kolb und B. Köster (Anm. 96). Darüber sollte man aber auch die nicht unerhebliche positive Aufnahme vergessen. 105 Chr. Kolb, 75. 106 Jäger war seit 1692 Professor der Theologie in Tübingen, seit 1699 Konsistorialrat und Stiftsprediger in Stuttgart, seit 1702 erster theologischer Professor und Kanzler in Tübingen. 107 Chr. Kolb (Anm. 96), 70. 108 Vgl. B. Köster (Anm. 96), 18lf. und G. Mälzer, Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1972, 147f. Im 18. und 19. Jahrhundert lassen sich 10 Auflagen von Hedingers Neuem Testament nachweisen. 109 J.F. Mayer (1650-1712), seit 1686 Hauptpastor in Hamburg und Professor in Kiel, seit 1701 Professor und Generalsuperintendent in Greifswald. 110 B. Köster (Anm. 96), 174 und 182.
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Kommentierung. Als Grund gibt er an: „Weil der unterschiedlichen meynungen zahl zu groß/ und häufiger/ als daß man sie auf dem engen räum [...] anführen könte. Man niemand in seiner einsieht fürgreiffen will." Andere Schriftausleger hätten sich auch nicht „in dieses meer vieler dunckelheit" hineingewagt. 111 Die vorsichtige Zurückhaltung Hedingers gegenüber Offenbarungen kommt in seinem Kommentar zu 2. Kor 12,2 zum Ausdruck: „Offenbarungen und entzückungen sind nicht über ein hauffen zu verwerffen, aber zu prüfen/ und als privat-gnaden-zeichen mit forcht und zittern anzunehmen." 112 In der Nutzanwendung zu Lk 12 heißt es: „Gottes gnaden-verkündigung ist kein Chymisches geheimniß; jedermann solle es wissen und verstehen." 113 Zur Erfahrung des Petrus, daß Gott die Person nicht ansieht (Apg 10,34), weist Hedinger ausdrücklich die Ansicht als gefährlich zurück, als ob an dem Unterschied der Religionen, Lehren und Arten des Gottesdienstes nichts, aber am heiligen Leben alles und allein gelegen wäre.114 Nicht durch Sonderlehren115, sondern durch eine scharfe Pfarrerkritik hat Hedinger bei seinen Amtskollegen verständliches Mißfallen erregt. Zu den Mietlingen in Joh 10,5 führt Hedinger aus: „Dieser Spruch verdammt viele tausend eingekrochene, eingeheirathete, eingedrungene, eingebettelte, wider Gottes Wort und ehrbare Landgesetze durch Geschenk, Schmeichelei, List, und den verkappten antichristischen Weltgeist eingeschobene Bauch-, Schein- und Maulpfaffen, welche den Schein eines Hirten haben, Christi Stimme führen, aber seine Kraft verleugnen. Gott bewahre doch die Kirche vor groben und subtilen Mördern." 116 In den Erläuterungen Hedingers zum Amt der weltlichen Obrigkeit ist keinerlei Abweichung von der traditionell lutherisch-orthodoxen Obrigkeitslehre wahrzunehmen. So heißt es in der Nutzanwendung zu Rom 13: „Obrigkeit ist keine grausamkeit/ keine last/ sondern lust der schafe/ ein Zaum der boßheit/ eine krone der tugend. Gott gebe solcher Obrigkeiten viele! [...] Obrigkeit/ Gottes diener. [...] Also keine herren über Gott. Der wird einst rechnung halten/ und alle ehren-titul beyseit setzen. [...] Murret nicht/ sondern betet/ und erbarmet euch über die grossen/ welche Gott aufs schlüpferige gestellet hat [...] werdet nicht müde/ meine brüder!"117 111 112 113 114 115
Das Neue Testament, Stuttgart 1704, 1016. Das Neue Testament (Anm. 111), 714. Das Neue Testament, Tübingen 1728, 218. Das Neue Testament. Hg. v. C.F. Ledderhose, 1. Bd., Basel 1863, 376. Auch F. Fritz muß feststellen: „Pietistische Sonderlehren treten in Hedingers Neuem Testament allerdings nicht sehr hervor" (Anm. 1, 102). 116 Neues Testament, Basel 1863, 292. Auch in der Nutzanwendung zu diesem Kapitel übt Hedinger scharfe Pfarrerkritik. Weiter z.B. in den Kommentaren zu Apg 15,28; 20,29. 117 Neues Testament, Tübingen 1728, 555. Zu Rom 13,2 heißt es: „Rechtmäßige oder erlaubte gewalt." „Die sache selbst erfordert diesen verstand: Sonsten müste man auch den strassen- und Seeräuber/ den mörder und quer-feld daher kommenden tyrannen zu
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Die Bibelausgaben Hedingers gehören gewiß in den Zusammenhang der Reformbemühungen des frühen württembergischen Pietismus. Hier hat es ein führender württembergischer Theologe gewagt, an eine vorsichtige Revision der Lutherbibel heranzugehen.118 Fragt man nach neuen inhaltlichen Akzentsetzungen in Hedingers Neuem Testament, so möchte ich sie in seiner Stellung zu den Juden sehen. In der Nutzanwendung zu Rom 11 heißt es: „Wie wollte ich/ daß an den armen Juden sich niemand versündigte! Hungerige obrigkeiten nehmen das geld von diesen blut-igeln. Das ist das zeichen beyder verwerffung. Aber/ sind diese nicht Abrahams saamen/ stammes-anverwandte der kirche? Gott erbarme dich dieser verstockten/ und gedencke an deinen bund. [...] Ists ein geoffenbartes geheimniß! wer will dann verneinen die bekehrung der Juden? Kanst du dirs nicht einbilden/ wie es zugehn werde: So kan ich mir nicht einbilden/ wie ich/ du vormahls Heyden und teuffels-knechte/ jetzt kinder Gottes/ und tempel seines geistes seyn sollen?" [...] „Ach! daß Gott die bessern wollte/ welche mit hohen und zum theil alszu vernünfftigen betrachtungen die einfalt des glaubens und einigkeit der kirchen hindern." 119 In den Verhandlungen über Hedingers Neues Testament tauchte auch der Name Herzog August zu Lüneburg auf.120 Bemühungen um eine Revision der Lutherbibel gab es auch schon vor Hedinger. Das Handexemplar Herzog Augusts der 1634 in Lüneburg erschienenen Lutherbibel zeigt zahllose Texteingriffe in den Wortlaut Martin Luthers. Allerdings ist dieses Unternehmen damals durch den Einspruch der Theologen nicht zum Ziel gekommen.121 Wenn wir auf das Leben und Wirken Hedingers in der Frühzeit des württembergischen Pietismus abschließend zurückschauen, so lassen sich m.E. folgende Grundzüge erkennen. Mit seinen Schriften und Predigten, die er als Stuttgarter Hofprediger herausgab, zeigt er sich als ein Theologe, der tief in der Tradition von Frömmigkeit und Theologie der lutherischen Orthodoxie verwurzelt ist. Vor allem sein prophetisches Predigtamtsverständnis als Hofprediger verbindet ihn mit Hofpredigern des 17. Jahrhunderts, die wesentli-
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gebot stehen/ oder sie für Gottes Stadthalter achten/ nur darum/ weil sie/ ob gleich mit höchstem unrecht/ die oberhand bekommen und genommen." „Die obrigkeiten aber/ die in der that obrigkeiten sind/ die sind von Gott verordnet" (552). - Eine Sicht, die leider im Luthertum des 19. und 20. Jahrhunderts verloren ging. Ich möchte jedoch nicht, wie J. Wallmann, von einer „Ersetzung der Lutherbibel durch eine pietistische Bibel" reden. Auch kann ich in den Randglossen Hedingers nicht „deutliche [...] chiliastische Töne" wahrnehmen (J. Wallmann [Anm. 1], 127). Neues Testament, Tübingen 1728, 547f. Vgl. M. Jung, Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675-1780), Berlin 1992, 64f. Vgl. Chr. Kolb (Anm. 1), 71. Vgl. W.-D. Otte, Religiöse Schriften. In: Katalog der Niedersächsischen Landesausstellung „Sammler, Fürst, Gelehrter. Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg", Braunschweig 1979, 193ff.
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Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
che Impulse für ihr Wirken von Johann Arndt empfangen haben. 122 Scharfe Kirchen- und Pfarrerkritik geht mit einer hohen Anforderung an die weltliche Obrigkeit zusammen, die für die äußeren Bedingungen der Gestaltung eines christlichen Lebens in Kirche und Gesellschaft Sorge zu tragen hat. Als Hofprediger steht Hedinger dem jungen Herzog Eberhard Ludwig in den Anfangsjahren seiner Regierung gegenüber, in denen er noch dem Einfluß seiner frommen Mutter Magdalena Sibylle nicht gänzlich entzogen war. Bald nach Hedingers Tod allerdings ging der Herzog das für Württemberg lange Jahre schwer bedrückende Verhältnis mit der mecklenburgischen Adeligen Christiane Wilhelmine von Grävenitz ein. Erst die Nachfolger Hedingers im Hofpredigeramt, Andreas Adam Hochstetter und vor allem Samuel Urlsperger123, mußten sich mit diesem Ärgernis am Hof und im Lande auseinandersetzen, was schließlich zur Entlassung Urlspergers im April 1718 führte. Daß die schwersten Herausforderungen für das Hofpredigeramt erst nach Hedingers Tod kamen, bedeutet freilich nicht eine Schmälerung in der Wertung seines beherzten Mutes und seiner unabhängigen Amtsführung als Hofprediger.124 Aber Hedinger war nicht nur Hofprediger, sondern auch Konsistorialrat und damit eingebunden in die verschiedenen Reformmaßnahmen, die im Konsistorium seit 1690 unter der Führung von Johann Andreas Hochstetter unternommen wurden. Die von Spener ausgehenden Reformimpulse hatten auch in Württemberg zu vielen Initiativen geführt, wie z.B. die Einführung der Konfirmation, Überlegungen zur Verbesserung der Amtsführung der Pfarrer, der Predigten sowie über einen besseren Unterricht in den Schulen. Auch die Collegia pietatis als wichtiges Mittel der Kirchenreform waren in den Jahren vor und während Hedingers Amtszeit in Stuttgart ein zentrales Diskussionsthema. Die bereits an mehreren Orten entstandenen Konventikel führten zu Auseinandersetzungen des Konsistoriums mit radikalen und separatistischen Anschauungen und Bestrebungen. In seiner Gießener Zeit hatte
122 Es sei an Joachim Lütkemann in Wolfenbüttel und Martin Geier in Dresden erinnert. 123 Zu Urlsperger als Hofprediger und seinem weiteren Wirken s. M. Brecht, Die Botschaft der Predigt Samuel Urlspergers. In: Colloquia Augustana. Samuel Urlsperger (1685-1772). Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkungen und Binnenwelt. Hg. R. Schwarz, Berlin 1996, 97-130: 98ff. 124 Die über Hedinger mehrfach tradierten Beispiele seines besonderen Mutes gegenüber dem Herzog haben in dem Reisebericht von Stephan Schultz ihren Ursprung („Leitungen des Höchsten nach seinem Rat auf den Reisen durch Europa, Asia und Afrika", 1. Teil, 1771, 143f.). Darin berichtet Schultz, daß ihm von dem Prälat Lange im Jahre 1741 von einem Neujahrswunsch Hedingers berichtet wurde mit folgenden Worten: „Was soll ich Ihro Durchlaucht wünschen: Ehre? die haben Sie überflüßig. Reichthum? auch dessen haben Sie genug. Ich wünsche Ihnen also die Bekehrung Davids, und so fasse ich Sie in meine Liebe. Was soll ich aber Euch ihr Bediente meines Herrn wünschen?, die ihr meinen Herrn verführet. Nun ich weiß, ihr seyd Naturalisten, so wünsche ich euch, solange ihr solche bleibet, den ewigen Fluch."
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sich Hedinger, wie wir sahen, energisch gegen visionäre, chiliastische und separatistische Anschauungen gewandt. Auch in Stuttgart ist er hiervon keineswegs abgewichen. Als im Synodus über die angeblichen Visionen der Regine Bader verhandelt wurde, und diese schließlich Hedinger ins Haus zur Beobachtung gegeben wurde, hat Hedinger sie zum Geständnis gebracht, daß alles Betrug sei. An die Landgräfinmutter Elisabeth Dorothea schrieb er, daß er „den Träumen und Erscheinungen in Niedersachsen, Holland und Engelland immer gar schlecht das Wort geredet" habe [.. ,].125 Den Tübinger Stipendiaten möchte Hedinger verdächtige, von der Kirchenlehre abweichende Bücher nicht gestatten. Sie sollten „tenacissimi in orthodoxia, sanctissimi in vita und modestissimi erga alios" sein.126 Gegenüber einer solchen Haltung steht allerdings in einiger Spannung Hedingers Umgang mit radikalen Geistern vor allem im Jahre 1703. In dem Spiritualisten Johann Georg Rosenbach sah Hedinger zunächst vor allem einen frommen Handwerksgesellen, der nicht, wie Jäger forderte, aus dem Lande zu verweisen sei. Auch bei den Verhandlungen über den Diakon Eberhard Ludwig Gruber, der wegen Streitigkeiten mit anderen Pfarrern versetzt werden sollte, votierte Hedinger gegen seine Amtskollegen.127 Die Privaterbauungsstunden der Tübinger Repetenten befürwortete Hedinger ausdrücklich als ein höchst notwendiges Werk der göttlichen Liebe. Dieses spannungsreiche Verhalten Hedingers bleibt gewiß ein nicht leicht aufschließbares Phänomen, das in seiner Unausgeglichenheit unserem Einblick weithin verborgen bleiben muß. Aber einen Hinweis hat Hedinger selbst gegeben, der in dieser erklärungsbedürftigen Konstellation ein Fingerzeig sein kann. Auf seinem letzten Krankenlager, so berichtet die Leichenpredigt, hat er sich noch einmal nachdrücklich zur Geltung der württembergischen Kirchenordnung bekannt. Unterschiedliche Lehrmeinungen habe er dann geduldet, wenn das Zentrum, der Glaube an Christus, deutlich erkennbar war. Gegenüber Anmaßungen seiner Amtskollegen war Hedinger äußerst sensibel. Hier sind die Erfahrungen aus seiner Gießener Zeit gewiß auch für seine Zeit als Stuttgarter Hofprediger prägend geblieben. An der Gestalt dieses württembergischen Theologen um 1700 wird deutlich, wie stark die Übergänge und Gemeinsamkeiten zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus in dieser Zeit noch waren und verschiedene theologische Richtungen sich oft in ein und derselben Person vereinen konnten. Das heißt freilich nicht, daß der Streit zwischen Orthodoxie und Pietismus verharmlost werden könnte. Der Stuttgarter Hofprediger Hedinger empfängt wesentliche Impulse aus der lutherischen Orthodoxie, ist mit seiner seelsorgerlichen Predigt und als Beichtvater seines Fürsten, dem es an erster Stelle um das Heil der Seele des Fürsten geht, sowie in seiner Mitarbeit an dem 125 Zitiert nach F. Fritz, Altwürttembergische Pietisten (Anm. 1), 77. 126 Zitiert nach F. Fritz, ebd., 77. 127 Vgl. Chr. Kolb, Die Anfänge des Pietismus und Separatismus (Anm. 1), 386ff.
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Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
Reformwerk im Konsistorium ein Wegbereiter des Pietismus in Württemberg. Mit manchen Zügen seiner Bibelkommentare und in seiner Haltung gegenüber Abweichungen von Lehrvorschriften weist er schon in das Zeitalter der frommen Aufklärung. Als einen typischen pietistischen Hofprediger können wir Hedinger darum nicht ansehen. Das aber wird seiner Bedeutung und seiner notwendigen weiteren Erforschung gewiß keinen Abbruch tun.128
128 S. den Aufsatz von H. Knapp, Johann Reinhard Hedinger (1664-1704) als Professor in Gießen und Oberhofprediger in Stuttgart. In: BWKG 90, 1990, 280-287.
Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs beim Friedensfest in Nürnberg 1650 Wann endet ein Krieg? Wann beginnt der Friede nach dem Krieg? Diese lapidaren Fragen stellen sich immer wieder in der von Krieg und Frieden bestimmten Geschichte der Völker, in besonderer Weise aber gewiß bei der Frage nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Zwischen dem 24. Oktober 1648, als in Münster in zwei feierlich unterzeichneten Urkunden der sog. Westfälische Friede1 verkündigt wurde, und dem 26. Juni 1650, als auf der Nürnberger Burg der „Friedensexekutions-Hauptabschied"2 erging, in diesen fast zwei Jahren ruhten zwar die Waffen, aber von einer Befriedung der tiefgreifenden militärischen, politischen und kirchlich-religiösen Gegensätze konnte keine Rede sein. Erst nach dem Nürnberger Friedensfest im Frühsommer 1650 wurden in vielen deutschen Städten und Dörfern öffentliche Dank- und Friedensfeste3 abgehalten für einen Frieden, der fast zwei Jahre zuvor geschlossen wurde, dessen segensreiche Auswirkungen aber erst jetzt der leidgeprüften Bevölkerung zuteil werden sollte. Nur wenige Hinweise auf einige Problemfelder und Stationen zwischen dem Abschluß der Verhandlungen in Münster und Osnabrück und der beginnenden Verwirklichung der Friedensbeschlüsse in Nürnberg 1650 seien er1
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Vgl. B. Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs d.Gr. 1648-1740, 1. Bd., Leipzig u.a. 1932, 1. Buch, 1. Kapitel: Der Westfälische Friede und seine Exekution, 3-24; G. Winter, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Leipzig u.a. 1934, 3. Buch: Der Westfälische Friede und die Folgen des Krieges, 483-507; H. Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648, Siedler Deutsche Geschichte, Berlin 1994, 445-463; K. Repgen, Art. Dreißigjähriger Krieg. In: TRE 9, 1982, 169-188. Diese Nürnberger Verhandlungen sind in einer umfangreichen Materialsammlung zusammengefaßt: Acta Executionis Pacis publica oder Nürnbergsche Friedens-Exekutionshandlungen und Geschichte, 2 Bde., 1736; E. Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1896, 991-993. Eine neuere umfangreiche Untersuchung stammt von A. Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte e.V. 17, Münster 1991. So z.B. das Friedensdankfest in Straßburg am 30. Juli 1650, bei dem die Straßburger Theologieprofessoren Johann Schmidt, Johann Conrad Dannhauer und Johann Georg Dorsche in Peterstal im Schwarzwald Friedenspredigten gehalten haben. Eine Freudenfestpredigt hielt Tobias Wagner in Esslingen am 11.8.1650.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
wähnt: Bis zur Auswechslung der Ratifikationen sollten die wichtigsten Friedensbestimmungen in Angriff genommen, besonders die Vorbereitungen für die Abdankung der Truppen und die Zahlung der Satisfaktionsgelder vor allem an die schwedische Armee zumindest begonnen worden sein. Doch nichts von alledem ist geschehen. Alle Seiten suchten die wichtigsten Instrumente für ihren Vorteil nicht aus den Händen zu geben, bevor eine nach ihrer Ansicht genügende Garantie für die wirkliche Ausführung der Friedensbestimmungen erbracht sei. Vor allem Schweden pochte nachdrücklich darauf, daß erst die Restitutionen und die im Frieden vorgesehene Regelung der konfessionellen Verhältnisse einigermaßen befriedigend sich abzeichnen müsse, bevor an die Abdankung der Truppen zu denken sei. Schließlich seien auch an die schwedische Armee fünf Millionen Reichstaler zu zahlen, und die Abfindung der anderen Armeen war für die betreffenden Landesherren keine Kleinigkeit. So war in der Restitution, in der Wiederherstellung des tatsächlichen Zustandes auf weltlichem Gebiet im Jahre 1618, und in bezug auf die geistlichen Güter im sog. Normaljahr 1624, eine höchst verwickelte Ausgangslage geschaffen worden, die nur mit größten Anstrengungen und in zähen Verhandlungen angesichts einer drohenden Militärrevolution bewältigt werden konnte. Nachdem am 18. Februar 1649 schließlich die Auswechslung der Ratifikationen erfolgte, trat im April 1649 in Nürnberg jener militärisch-diplomatische Kongreß zusammen, der im Vergleich zu demjenigen in Münster und Osnabrück keine leichteren Aufgaben zu erfüllen hatte. Die kaiserliche Seite vertrat Ottavio Piccolomini, Herzog von Amalfi, und die schwedische Seite der Generalissimus Pfalzgraf Karl Gustav von Zweibrücken. Französische Diplomaten und die Gesandten der deutschen Reichsstände, weithin die Unterhändler von Osnabrück und Münster, waren nun noch einmal zu einem entscheidenden Friedenskongreß zusammengekommen. Verschiedene Historiker haben nicht zu Unrecht diese Verhandlungen in Nürnberg in gewisser Hinsicht als noch schwieriger als die des Westfälischen Kongresses bezeichnet.4 Nach fast einem halben Jahr wurde am 11. September 1649 ein erster Vertrag, der sog. Interims-Exekutionsrezeß im Pellerschlösschen in Schoppershof unterzeichnet. Damit war die Grundlage für eine in absehbarer Zeit zu erreichende Durchführung des gesamten Friedenswerkes geschaffen. Die Stimmung war so gut, daß der Pfalzgraf Karl Gustav als Vertreter der Krone Schwedens am 25. September 1649 ein überaus opulentes Mahl gab, das unter dem Namen Friedensmahl vielfach beschrieben und durch den Maler Joa-
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Z.B. B. Erdmannsdörffer, der über die Nürnberger Verhandlungen gesagt hat: „In gewisser Hinsicht waren sie noch schwieriger als die des Westfälischen Kongresses" (Anm. 1), 14.
Vom Münster 1648 bis Nürnberg 1650
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chim von Sandrart in einem großen Gemälde dargestellt wurde. 5 Der schwedische Feldmarschall Wrangel verehrte es der Stadt Nürnberg, wo es im Rathaus lange Zeit zu sehen war, bevor es ins Fembohaus verlagert wurde. 6 Sechshundert Speisen in sechs Gängen wurden aufgetragen, an den Ecken des Rathaussaales wechselten Musikanten mit ihren Darbietungen. Am mittleren Saalfenster flöß aus dem Rachen eines riesigen hölzernen Löwen roter und weißer Wein auf die Straße hinaus, wo sich die Volksmenge alle Mühe gab, von dem edlen Getränk etwas abzubekommen. Der Nürnberger Dichter Johann Klai, einer der Begründer der „Pegnitzschäfer", besang das Ereignis dieses schwedischen Fried- und Freudenmahles mit deutschen Reimen. In der ersten Hälfte des Jahres 1650 gingen die Verhandlungen jedoch noch immer weiter, nach den Vereinbarungen mit den Schweden folgten schließlich diejenigen mit Frankreich. Am 16. Juni 1650 wurde auf der Kaiserburg der Friedens-Exekutions-Hauptrezeß unterzeichnet, dem am 22. Juni der endgültige Friedensschluß mit Frankreich folgte. Nicht weniger ausgelassen wurde auch dieser letzte Akt des Friedenswerkes gefeiert. Der kaiserliche Generalleutnant Ottavio Piccolomini gab auf dem Schießplatz bei St. Johannis ein großes Fest mit prächtigem Feuerwerk. Bei dieser Gelegenheit wurde auch eine „schöne Komödie" aufgeführt, die Sigmund von Birken gedichtet hatte. Am 16. September 1650 schließlich wurde ein letztes Friedensfest gefeiert, erst jetzt war die zweiundreißigjährige Kriegsnot im eigentlichen Sinne beendet. Bei den verschiedenen Nürnberger Friedensfesten 1649/50 hat der damalige führende Geistliche der Stadt Nürnberg, der Pfarrer an St. Sebald und Antistes des Geistlichen Ministeriums, Johann Michael Dilherr7, verschiedene Friedenspredigten gehalten, denen im folgenden unsere Aufmerksamkeit gelten soll. Wie in anderen bedeutenden kirchlichen Zentren wie z.B. Straßburg oder Augsburg, aber auch in kleineren Orten auf dem Lande, geben die Nürnberger Friedenspredigten Dilherrs einen interessanten Einblick in die Reaktionen lutherischer Theologie und Frömmigkeit auf die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges. In der bisherigen Forschung zu Dilherr haben sie, soweit ich sehe, keine Beachtung gefunden, auch nicht in der ertragreichen Monographie zu Dilherr von Gerhard Schröttel.8 Die Quelle der verschiede5
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Zur Geschichte dieses Gemäldes: Chr. Klemm, Das Nürnberger Friedensmahl am 25. September 1649. 1. Joachim Sandrarts Gemälde. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 75, 1988, 77-82. Hier ist dieses riesige Gemälde bis heute aufbewahrt, z.Zt. wieder im Rathaus. Zu Dilherr gibt es neben den einschlägigen Lexikonartikeln nur zwei ältere Monographien: A. Schwarzenberg, Das Leben und Wirken Johann Michael Dilherrs. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des 17. Jahrhunderts, Dresden 1892 und G. Schröttel, Johann Michael Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg, EKGB 34, Nürnberg 1962. Zur neueren Literatur über Dilherr s. R. Jürgensen, Art. Dilherr in: Killys Literatur-Lexikon 3, 1989, 51-52. S. Anm. 7.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
nen Friedenspredigten an unterschiedlichen Orten könnte für die kirchengeschichtliche Forschung zum 17. Jahrhundert insofern von Bedeutung sein, als die fraglose Epochenzäsur des Dreißigjährigen Krieges und seines Endes in der allgemeinen Historiographie von der kirchengeschichtlichen Seite weithin nur übernommen wird, ohne eigenständige Akzentsetzungen. 9 Schon die Stichworte für diese Zäsur zeigen dies. Sie heißen Säkularisierung, Entkonfessionalisierung, Verselbständigung des Politischen, Vertiefung der Frömmigkeit bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Kirche durch den frühneuzeitlichen Territorialstaat. Diese, im eigentlichen Sinn neuzeitliche Prägung der geschichtlichen Entwicklung bleibt aber so lange nur schemenhaft, solange die verkündigte und gelebte Religion in Form von Predigten und Anleitungsschriften in geistlicher Erbauung, Meditation und Gebet, nicht entschlossen in die perspektivischen historischen Erörterungen einbezogen werden. Am Beispiel Johann Michael Dilherrs in Nürnberg wollen wir auf die Frage eine vorläufige Antwort finden, wie das Luthertum in der Mitte des 17. Jahrhunderts den Herausforderungen von Krieg und Frieden begegnet ist.10 Zuvor soll in einer kurzen biographischen Skizze Dilherrs Weg bis zu seiner Nürnberger Wirksamkeit im Jahre 1650 verfolgt werden. Kam Johann Saubert d.Ä.11, der Vorgänger Dilherrs im Amt des führenden Geistlichen der Reichsstadt Nürnberg, aus einer Handwerkerfamilie, so entstammt Dilherr aus eine Juristenfamilie, die mit dem Nürnberger Rat und anderen angesehenen Persönlichkeiten der Stadt in mancherlei Beziehungen stand. Als Sohn eines Regierungsrates und Advokaten wurde Johann Michael Dilherr am 14. Oktober 1604 in Themar in der Grafschaft Henneberg geboren. Auch die Mutter Dilherrs kam aus einer angesehenen und gebildeten Familie, von ihr empfing er den entscheidenden Anstoß, Theologe zu werden. Nach ihrem frühen Tod besuchte Dilherr ab 1617 das Gymnasium in Schleusingen. Während dieser Zeit verlor der Vater durch die Rekatholisierungsmaßnahmen des Würzburger Bischofs seine sämtlichen Güter, so daß er nicht mehr für den weiteren Bildungsgang des Sohnes aufkommen konnte. Ab 1623 widmete sich Dilherr an der Universität Leipzig neben theologischen vor allem philologisch-philosophischen Studien. In Leipzig erhielt er 9
Darauf hat vor kurzem Thomas Kaufmann in einer ertragreichen und anregenden Studie hingewiesen: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, BHTh 104, Tübingen 1998, 1-7. 10 Vgl. das Kapitel in der Studie von Th. Kaufmann (Anm. 9): Die Deutung des Friedens, 113-138. Auf Dilherr wird hier nicht näher eingegangen. 11 H. Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924, 97-104; R. van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform. Der Nürnberger Prediger Johannes Saubert (1592-1646), ZBLG 33, 1970, 636-786; D. Blaufuß, Johannes Saubert (1592-1646), Fränkische Lebensbilder 14, 1991, 123-140. S. auch meinen Aufsatz in diesem Band: „Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt im Dienst einer Erneuerung der Frömmigkeit."
Lebensgang Dilherrs bis zu seiner Nürnberger Wirksamkeit
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durch den gelehrten Philologen Caspar Barth vielseitige Anregungen, die sich in seinen späteren zahlreichen philologischen Schriften und Disputationen niederschlagen. Seinen Lebensunterhalt mußte er sich als Erzieher von Adeligen und als Korrektor bei verschiedenen Buchdruckereien verdienen. Nach einem kurzen Aufenthalt an der Universität Wittenberg kam Dilherr 1626 an die Nürnbergische Universität Altdorf. Hier hat er sich unter Anleitung von Johann Kobius und Daniel Schwenter eine breite Wissensgrundlage in der Philosophie und in den orientalischen Sprachen erarbeitet. Als „poeta laureatus" verließ er 1629 Altdorf, um seine Studien an der Universität Jena zu beenden. Nach der Magisterwürde 1630 folgte in Jena rasch eine, auch für damalige Verhältnisse erstaunliche akademische Karriere. 1631 wurde er zum ordentlichen Professor der Beredsamkeit ernannt, 1634 folgte die Professur für Geschichte und Poesie und 1640 schließlich die außerordentliche Professur für Theologie. Dreimal war er Dekan der Philosophischen Fakultät und 1635 Rektor der Universität. Aber nicht nur hinsichtlich der erfolgreichen akademischen Lehre, sondern vor allem durch die prägenden Einflüsse, die Dilherr hier empfing, ist sein Jenaer Aufenthalt für das Verständnis seiner Persönlichkeit außerordentlich bedeutsam. An erster Stelle steht hier Johann Gerhard, der an den jungen Dilherr entscheidende Impulse vermittelte. Bei Gerhards Tod 1637 hielt Dilherr in der Universität eine laudatio funebris, die von seiner großen Liebe und Verehrung dem Lehrer und Freund gegenüber in sehr persönlichen Worten Zeugnis gibt. In den Schriften Dilherrs finden sich immer wieder verehrungswürdige Hinweise auf Johann Gerhard, meist auch verbunden mit solchen auf dessen Lehrer Johann Arndt. 12 Auch mit dem Theologen Johann Major 13 war Dilherr freundschaftlich verbunden. Unter dem Einfluß Majors entwickelte sich Dilherr schon in seiner Jenaer Zeit zu einem redegewandten Prediger, so daß neben der breiten Gelehrsamkeit auch die Verkündigung und die Umsetzung seines Wissens an Menschen außerhalb der Universität nicht zu kurz kam. Es ist verständlich, daß Dilherr verschiedene ehrenvolle Berufungen in leitende Kirchenämter erhielt, so z.B. in die Generalsuperintendentur in Altenburg, Weimar und Gotha oder in das Amt des Dompredigers in Magdeburg. Er schlug sie jedoch alle aus, bis er im Frühjahr 1641 im Namen der Stadt Nürnberg den Ruf eines ersten Predigers an der Marienkirche erhielt. Die treibende Kraft für diese Berufung Dilherrs nach Nürnberg ging von dem einflußreichen Ratskonsulenten Dr. Georg Richter aus.14 Zuvor hatte Dilherr jedoch schon zu erkennen gegeben, daß er nicht ungern einem Ruf nach Nürnberg folgen würde. Vielfältige Bande des Herzens verknüpften ihn mit
12 Vgl. A. Schwarzenberg (Anm. 7), 5f. und G. Schröttel (Anm. 7), 18. 13 Johann Major (1564-1654) gehört mit Johann Gerhard und Johann Himmel zu den drei führenden orthodox-lutherischen Theologen der Universität Jena. 14 Vgl. R. van Dülmen (Anm. 11), 691-696.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
dieser Stadt. Zunächst jedoch kam es nicht zu dem von beiden Seiten gewünschten Ziel. Für überzogen angesehene Forderungen Dilherrs sowie die ausbleibende fürstliche Demission verhinderten zunächst seine Berufung nach Nürnberg. Aber das war nur ein kurzes Ritardando vor ihrer schließlichen Verwirklichung. Aus der durch die Kriegsnot schwer bedrängten Stadt und Universität Jena trat Dilherr im Frühjahr 1642 eine Reise an, die ihn nach Italien führen sollte. Als er in Nürnberg eintraf, entschloß er sich zu bleiben und von dem weiteren Ziel Abstand zu nehmen. Es kam mit Dr. Richter und den Predigern der Stadt in der Bibliothek zu einem Gespräch, und zu Pfingsten predigte er auch schon in St. Lorenz. Kurz danach hielt er am Johannistag einen öffentlichen Vortrag im Augustiner-Kloster „De recta liberorum educatione", in dem er seine, von Wolfgang Ratke15 beeinflußten pädagogischen Reformgedanken wirkungsvoll zum Ausdruck brachte. Dr. Richter und andere einflußreiche Gönner im Rat machten Dilherr verlockende Angebote, um ihn dauernd für Nürnberg zu gewinnen. Als Direktor des Egidien-Gymnasiums sollte er zugleich an einem neu zu errichtenden Auditorium publicum der erste Professor der Theologie, Philosophie und Philologie in der Stadt sein sowie die Inspektion aller Nürnberger Schulen und Stipendiaten sowie des Bibliothekswesens und die Zensur der Bücher verwalten können. Sobald die erste Predigerstelle frei würde, sollte diese Dilherr übertragen werden. Wie stark das Interesse des Rates an der Berufung Dilherrs nach Nürnberg war, zeigt dieses Angebot, daß er - unter Beibehaltung seiner bisherigen Forderung - bereitwillig annahm. Er bat in Jena um die Genehmigung seiner Entlassung, die ihm diesmal erteilt wurde. Seine Nürnberger Wirksamkeit begann Dilherr mit pädagogischen Reforminitiativen. Neben der Visitation aller Schulen hielt er vier öffentliche Reden „De icaro academico", in denen er seine Vorstellungen von einer sinnvollen Vorbereitung auf das akademische Studium und dessen Umfang und Inhalt in ausführlichen Reflexionen darlegte. Das neue Auditorium publicum sollte ein zweijähriger Vorbildungskurs für die Universität sein. Hier sollten die Studenten die sittliche Reife gewinnen, die sie befähigt, in der freieren Atmosphäre der Universität allen Anfechtungen eines zügellosen und ausschweifenden Lebens zu widerstehen. Ähnlich wie sein Freund Johann Matthäus Meyfart ist Dilherr ein scharfer Kritiker des Pennalismus an den Universitäten seiner Zeit.16 Mit seiner Antrittspredigt Ende November 1642 in St. Lorenz begann Dilherrs Nürnberger Tätigkeit in herausragenden und einflußreichen Stellungen 15 Wolfgang Ratke, lat. Ratichius (1571-1635), gilt mit seiner Betonung des Wertes der Muttersprache und eine die Lernfreudigkeit fördernde Methode als ein Vorläufer der neueren Pädagogik und Didaktik. Mit Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha und Altenburg stand er in persönlicher Verbindung. 16 Vgl. E. Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987, 245-255.
Dilherrs Amtsantritt in Nürnberg
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für das geistige und kulturelle Leben der Stadt. Als der bisherige führende Geistliche Nürnbergs, Johann Saubert d.Ä., Ende 1646 starb, gingen dessen Ämter als Prediger in St. Sebald und Antistes des Ministeriums sowie das Amt des Stadtbibliothekars auf Dilherr über. In der Kultur- und Kirchengeschichte der Stadt Nürnberg ist dieser Amtsantritt Dilherrs gewiß ein wichtiges Ereignis. Inwiefern die Akzente in Kontinuität und Wandlung zu seinem Vorgänger Johann Saubert sinnvoll gesetzt werden können, ist ein eigenes Thema, das ich hier nicht weiter verfolgen kann. In der Literatur werden m.E. die Unterschiede zwischen beiden Theologen zu stark betont.17 In ihrem Verhältnis zum Rat bestehen sie freilich in erheblichem Maße, aber dies geht mehr auf die unterschiedliche Persönlichkeitsstruktur als auf divergierende theologische Grundanschauungen zurück. Eine gewisse Schwerpunktverlagerung von der Gelehrsamkeit zur Frömmigkeit und zu geistlich-erbaulichen Aktivitäten ist gewiß bei Dilherr zu beobachten, nachdem er in der Nachfolge Sauberts der führende Geistliche der Reichsstadt Nürnberg geworden war. Vor allem als Prediger und Erbauungsschriftsteller hatte er erheblichen Einfluß auf das kirchlich-religiöse und geistige Leben der Stadt. Zu den Dichtern Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klai und Sigmund von Birken, dem Nürnberger Blumenorden bzw. den Pegnitzschäfern, 18 stand er in lebhaftem Verkehr, obwohl er selbst nicht Mitglied war. Auch als Liederdichter und Kenner und Förderer der Musik hat sich Dilherr gleich am Anfang seiner Nürnberger Wirksamkeit ein besonderes Denkmal gesetzt. Es ist das Nürnberger große historische Konzert vom 31. Mai 1643, das unter lebhafter Anteilnahme der Bevölkerung stattfand und beim Friedensfest 1650, d.h. bei den zahlreichen Feiern zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, in Nürnberg nochmals aufgeführt wurde.19 „Historisch" ist für dieses denkwürdige Ereignis allerdings mißverständlich. Zusammen mit dem Organisten von St. Lorenz und bedeutenden Komponisten Sigmund Theophil Staden ging es Dilherr um nicht weniger als um eine groß angelegte theologische Rechtfertigung der gegenwärtigen Kirchenmusik im Sinne seiner vorangestellten lateinischen Rede: „De ortu, progressu, usu et abusu Musicae". Von der Zeit vor Erschaffung der Welt bis zur Endzeit führt das Programm dieser „Anstellung einer stattlichen Music zu Nürnberg", wie sie Dilherr in seinem Bericht genannt hat. Der Musik des Krieges und der Heiden sollte die rechte geistlich-gottesdienstliche Musik gegenübergestellt werden. Die Sehnsucht nach Frieden nach den Drangsalen des Krieges findet ihren sichtbaren
17 So z.B. R. van Dülmen (Anm. 11), 696-699. 18 S. J.D. Krebs, G.Ph. Harsdörffers geistliche Embleme zwischen katholisch-jesuitischen Einflüssen und protestantischen Reformbestrebungen. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. D. Breuer, Teil I, Wiesbaden 1995, 539-552. 19 Es wird ausführlich beschrieben von W. Kahl, Das Nürnberger historische Konzert von 1643 und sein Geschichtsbild. In: Archiv für Musikwissenschaft, 14. Jg., 1957, 281-303.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
und hörbaren Ausdruck besonders in der zur Ehre Gottes erklingenden Musik. Aber nicht zuletzt auch in seinen sog. Friedenspredigten, die Dilherr 1649/50 in Nürnberg gehalten hat, ist das Thema „Frieden" Ausgangspunkt für vielfältige theologische Reflexionen. Ihnen soll nun unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Um die Deutung des Friedens nach dem Dreißigjährigen Krieg recht interpretieren zu können, muß zunächst kurz auf das Verständnis des Krieges bei Dilherr geblickt werden. Den Friedensfest- und Dankpredigten in den Jahren 1649 und 1650 in St. Sebald hat Dilherr stets eine Bußpredigt vorausgeschickt. Die Danksagung für den Frieden, die bei Dilherr nicht zu kurz kommt, beginnt und endet mit der Aufforderung zur Buße. Unter dem bezeichnenden Titel „Sündenleid und Friedensfreud" 20 sind die Predigten veröffentlicht worden, die Dilherr zum Auftakt der Nürnberger Verhandlungen im Frühjahr 1649 gehalten hat. Die Verurteilung des Krieges ist bei Dilherr äußerst scharf und drastisch. Als Strafe und Zorn Gottes über die Sünde der Menschen wird er als das allerschrecklichste Übel, als das Übel schlechthin, erfahren. Der Krieg ist eine viel härtere Strafe als Krankheit und Sterben; Pestilenz, Teuerung und Hungersnot verblassen neben den Schrecklichkeiten des Krieges. Der Krieg offenbart die menschliche Bosheit wie das Wasser, dem kein Widerstand entgegengesetzt wird: „Solches Übel/ und solche unbarmhertzige Staupen/ hat nun das elende Teutschland bey dreissig Jahren/ mit unwiderbringlichem Schaden/ erfahren: Wobey sich doch nicht viel gebessert: Sondern gleichwie ein Born sein Wasser quillt; also ist auch seine Boßheit herfürgequollen." Gott hat dennoch völlig unverdient den „Blick des wiederherfür schimmernden Frieden sehen [...] lassen."21 Auf die Stadt Nürnberg bezogen, geht Dilherr mit ihr zunächst in einer Bußpredigt hart ins Gericht: „Wie ist doch diese Stadt mit einem abscheulichen äusserlichen/ Heuchel-Gottesdienst/ mit Fluchen und Schweren/ mit Unzucht/ und Ungerechtigkeit/ mit Verleumdung/ und andern dergleichen Heydnischen Sünden/ angefüllet?" 22 In der darauffolgenden Friedens-Dankpredigt stellt sich Dilherr aber auch eindeutig gegen die Friedensskeptiker: Der Friede, nachdem er so mühsam errungen wurde, soll wirklich genossen werden: „Fried/ Fried sey mit dir/ du Weltbekande Stadt Nürnberg! [...] Fried/ Fried sey mit dir/ du ausgesaugtes/ beraubtes/ durchwültes/ ächzendes Teutschland! erhole dich nunmehr/ und geniesse wircklich des Friedensschlusses/ daran man etlich Jahr/ nach Ström voll vergossene Christenblut/ so
20 Nürnberg 1649. Fenitzer Bibliothek im Landeskirchlichen Archiv Nürnberg. Signatur: Fen Π 6512°. Die Bußpredigt wurde am 7. Februar und die Friedfestpredigt am 11. Februar 1649 in St. Sebald gehalten. 21 Vorrede, IV. 22 Ebd. (Anm. 20), 19.
Deutung des Krieges
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mühsam gearbeitet/ und den man/ jüngstverwichener Zeit/ hat Landkündig werden lassen." 23 Nach dem Grauen des Krieges erscheint der Frieden als ein unfaßbares Geschenk der Güte Gottes, „welches [...] uns/ mit so langwierige Krieg bedrängten Teutschen/ fast wie Träumenden für kömt" 24 . So sehr der Vertragsfrieden geschätzt wird, muß dieser äußerliche Frieden doch vor allem in den inneren führen. Die Frage nach der Zukunft ist das eigentliche, vom Frieden gestellte Thema. Denn nach dem Ende des Krieges kann keineswegs an die Zeit vor dem Krieg einfach angeknüpft werden. Der jetzige Zustand ist dem vorherigen noch lange nicht gleich! Auch wenn Dilherr traditionell den Krieg als Strafgericht Gottes interpretiert, so ist er doch weit davon entfernt, einer solchen Strafe erzieherische Wirkungen oder eine Förderung der Frömmigkeit zuzubilligen: „Denn wie wenig sind doch/ in diesem dreissigjährigen blutfliessenden Krieg/ frömmer geworden? Welche Sünden gehen weniger im schwank/ denn zuvor?" 25 Unter Berufung auf Augustin, Bernhard, Tauler und Luther, schärft Dilherr immer wieder die Bußforderung ein, die im Zustand äußeren Friedens allein zu einem christlich verantworteten Leben führen kann. Unterstrichen wird diese Mahnung meist auch mit ausführlichen Zitaten aus Luthers Unheilsprophezeiungen über Deutschland.26 Wenn auch Dilherr im deutschen Luthertum des 17. Jahrhunderts mit dieser Deutung des Krieges keineswegs allein steht, so ist doch bemerkenswert, wie er jeden Krieg, auch den angeblich gerechtesten, scharf verurteilt: „In den Kriegen werden die Leute endlich wild, vergessen des Gebeths/ der Erbarkeit/ und aller Göttlichen und Menschlichen Geseze. Die Gewerbe liegen darnieder; die Kirchen/ Schulen und ganze Dörffer/ Städte und Länder werden verwüstet; die Weibsbilder werden geschändet/ die Todten werden/ wie die todte Aase/ ganz nackend hingeworffen/ und von den Hunden gefressen."27 „Auch in den gerechtesten Kriegen/ gehen solche Sachen für/ die in den Himmel schreien: von welchen derjenige Gott muß Rechenschafft geben/ der so einen unnöthigen Krieg anfängt/ oder wenn er Frieden haben/ und machen kan/ jedoch seiner eingebildeten reputation halben/ denselben continuiret und fortsezet." 28 Die Kriegskritik Dilherrs gipfelt in der Verabscheuung des Krieges besonders unter Christen. Der Türke stürzt sich mit Freuden auf das zerstrittene
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Ebd. (Anm. 20), 37f. Ebd., 73. Ebd., 10. In einem Anhang werden einige Prophezeiungen Luthers über Deutschland abgedruckt. Vgl. meinen Beitrag in diesem Band: „Luther - Prophet der Deutschen und der Endzeit. Zur Aufnahme der Prophezeiungen Luthers in der Theologie des älteren deutschen Luthertums." Tugendschatz und Lasterplatz, Nürnberg 1659. Signatur: Fen Π 562 4°, 344f. Ebd. (Anm. 27), 622.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
Christenvolk! Indem Dilherr auf die persönliche Dimension abhebt, werden Kriege zwischen christlichen Völkern aus machtpolitischen Gründen ad absurdum geführt: „Sonderlich aber muß man es/ unter dem Volk Gottes/ nicht leichtlich zum Kriege kommen lassen: darinnen ein Christ den andern/ja! ein Bruder den andern/jämmerlich erwürget."29 Auch in den zahlreichen Predigtwerken Dilherrs, besonders in seiner Evangelienpostille 30 , kommt er mehrfach auf den wiedererlangten Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg zu sprechen. Für den weltlichen Frieden unter den Menschen kann angesichts der langjährigen Kriegsgreuel immer wieder von Herzen nur gedankt werden. Aber erst in dem inneren Gewissensfrieden mit Gott kann der äußere Friede seinen Segen entfalten. Die Warnung vor neuer Entfesselung der menschlichen Bosheit, vor einem Leben in bedenkenloser Sicherheit, ist der Grundtenor der die Friedensthematik berührenden Predigten Dilherrs. In einer Predigt am 25. Sonntag n.Tr. 1649 heißt es: „Es sind die Schwerter noch lange nicht alle zu Pflugscharen/ und die Spisse noch lang nicht alle zu Sicheln gemacht. [...] Das Kriegsfeuer ist zwar/ durch Gottes unverdiente und unendliche Gnad/ bei uns/ geleschet: Aber die Asche liegt noch da/ unter welcher sich leichtlich etliche Funcken enthalten können." 31 Auch die bei Dilherr häufig auftauchende Endzeitstimmung beeinflußt seine Deutung des Friedens als einer zerbrechlichen, dem Ende aller äußeren Dinge zueilenden Interimsordnung. Eine apokalyptisch gefärbte Kritik an dem Friedenswerk von Münster, Osnabrück und Nürnberg findet sich bei Dilherr jedoch nicht. Der Vertragsfriede ist ein kostbares Gut, wenn er in der rechten inneren Haltung aufgenommen und als gnädige Gewährung neuen Lebens nach Tod und Verwüstung verstanden wird. Unter dem Titel „Gottseliges Friedens-Gedächtnis" sind die Predigten zusammengefaßt worden, die Dilherr am 1. und 2. Sonntag n.Tr. 1650 beim Nürnberger Friedensdankfest gehalten hat. Mit ausführlicher Vorrede und anschließenden Adnotationes, vor allem Kirchenväterauszügen und Lutherzitaten sowie Register, sind sie 1650 und noch einmal 1658 eigenständig veröffentlicht worden. 32 Durch Anordnungen für den Festverlauf, liturgischen Formularen und Gebeten bekommt man auch einen gewissen Eindruck von dem beträchtlichen Aufwand, den die Stadt Nürnberg und ihre Kirchen bei dem endgültig vollzogenen Frieden im Juni 1650 betrieben haben. In der Vorrede geht Dilherr scharf mit den machtpolitischen Intrigen des Dreißigjährigen Krieges ins Gericht, indem er den „Regiments- und Hofteu29 Ebd. 30 Heilige Sonn- und Festtagsarbeit. Das ist: Deutliche Erklärung der jährlichen Sonnund Festtäglichen Evangelien [...], Nürnberg 1660. Signatur: C 1130. Stadtbibliothek Nürnberg. Z.B. in der dritten Predigt am Christtag 1643, 682ff.; erste Predigt am 14. Sonntag n.Tr. 1649, 329; dritte Predigt am 1. Sonntag n.Tr. 1651, 2. Teil, 42. 31 Ebd. (Anm. 30), 583f. (Text: Mt 24,15-29). 32 Mir lag das Exemplar aus der Staatsbibliothek München vor. Signatur: Asc. 1962.
,Lehre von den Begräbnissen"
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fei" in allen Lagern beschreibt, der überall blutige Ratschläge, vieltausend Mordtaten, Frevelstücke und Verwüstungen angerichtet hat. Umso unfaßbarer ist der nun gekommene Friede, der nicht hoch genug als unverdientes Geschenk zu preisen ist, aber auch schnell wieder verlorengehen kann. Der Friede kann nur dann recht begrüßt und gefeiert werden, wenn er zu der Einsicht führt: „Daß man diejenige Sünde/ wegen welcher uns der gerechte Gott mit einem dreissigjährigen Krieg/ bestraft hat/ nicht wider einreissen lasse [...] soll der Friede vest/ beständig/ und unverbrüchlich gehalten werden: So müssen wir Gott nicht/ von neuem/ Ungehorsam werden." 33 So sehr der warnende Ton vor einer falschen Sicherheit und die Bußaufforderung im Zentrum der Friedenspredigten stehen, so ist damit die Freude und die Dankbarkeit über die Wirklichkeit des eingetretenen Friedens keineswegs eingeschränkt. Das Geschenk des Friedens will in der rechten Weise aufgenommen werden, was nicht geringere Herausforderungen mit sich bringt als die Zeit des Krieges. Die erste Predigt beginnt mit einem großen Loblied auf den Frieden, um sodann auf den Spruch aus der Bergpredigt von der engen Pforte und dem weiten Weg hinzulenken, den Dilherr dann ausführlich mit der Perikope von dem reichen Mann und dem armen Lazarus kommentiert. Eine eigenartige Textgrundlage für eine Friedenspredigt! Die sich auch sonst bei Dilherr vielfach findende Kritik an einem ethisch folgenlosen Reichtum ist mit einer ausgesprochen seelsorgerlichen Intention verbunden. Dilherr geht es nämlich vor allem um die Zusprechung des Trostes für all diejenigen, die darum besorgt sind, daß ihre Toten in den zurückliegenden Kriegsjahren nicht ordentlich bestattet wurden. Die Ungleichheit im Leben zwischen dem reichen Mann und dem armen Lazarus zeigt sich auch im Tod, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Kam der Tod für Lazarus als sehnsüchtig erwartete Erlösung aus schwerster Bedrängnis, so ist das Lebensende des Reichen ein grausiges Geschick. Mit drastischen Worten schildert es Dilherr: „Da gieng es an ein Seufzen und Aechtzen/ an ein Winseln und Wehklagen/ biß sich endlich das arme Herz ergeben/ und brechen muste. Da lag nun das stolze/ aufgeblasene/ verfressene und versoffene Thier/ das vorher niemand/ neben sich geachtet hatte [...]." 34 Der Reiche bekommt jedoch ein prächtiges Leichenbegräbnis, während Lazarus „wol auf einem unsaubern Strohe gestorben/ und von etlichen andern Bettlern/ ohne Klang und ohne Gesang hingeschlept und verscharret"35 wurde. Damit ist die Voraussetzung für die eigentliche Lehre dieser Friedensdankpredigt geschaffen: Es ist „eine Lehre von den Begräbnissen", „da wir alle Feindseligkeiten/ und den Krieg selbsten/ gleichsam begraben/ und in die 33 34 35
Vorrede Nr. 13. 29f. Gottseliges Friedens-Gedächtnis, 25f.
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Erden verscharren wollen".36 Ein ordentliches Begräbnis ist nur ein zeitliches Gut, das nichts mit der ewigen Seligkeit zu tun hat. Niemand soll denken: „Wenn einer elendiglich und in der Fremde/ begraben wird/ daß er deswegen/ an der ewigen Seligkeit/ einen Schaden leide. Oder/ wenn er unbegraben hingeworfen wird; daß er deswegen von Gott verworfen sey."37 Wie unzählige Märtyrer unbegraben irgendwo hingeworfen wurden, so erging es auch den vielen Soldaten, die im Dreißigjährigen Krieg ihr Leben gelassen haben. Sollte dies ihrer Seele schaden? „O nein!", ruft Dilherr aus, „Die gantze Erde ist des Herrn: und gilt dem Herrn gleich/ dein Fleisch und deine Gebeine kommen hin/ wo es wolle: Er wird sie wol wider wissen zusammen zu bringen/ und ins ewige Leben zu versetzen [,..]." 38 In dieser persönlich-seelsorgerlichen Absicht wird auf die Vergangenheit zurückgeschaut, die Friedensfreude kann den tausendfältigen Tod nicht einfach überspringen. Den Schluß dieser Friedenspredigt bildet eine Betrachtung des seligen Sterbens: „Denn durch den Tod/ nimmt alles Unglück so ein Ende/ daß auch der Tod selbst/ durch sich/ ein Ende nemen muß." 39 Die zweite Predigt, nach Abschluß aller Verhandlungen und dem Austausch der unterschriebenen Dokumente auf der „Friedensburg" in der „Friedensstadt" Nürnberg gehalten, beginnt mit einem großen Lobeshymnus auf den „mit Schmertzen gebornen Fried", der schon so lange sehnsüchtig erwartet wurde. 40 Der Tag des Friedens wird mit dem Tag verglichen, an dem das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens herausgeführt wurde. Textgrundlage ist diesmal das Gleichnis vom großen Abendmahl, das Dilherr als Einladung Gottes an alle Menschen interpretiert, ein neues Leben anzufangen, das aber nur aus der inneren Umkehr zu Gott in äußeren Werken im Frieden zum Segen gereichen kann. Die nacheinander vorgebrachten Entschuldigungen aus den Lebensumständen dieser Welt sollen die Predigthörer „zur Betrachtung der großen und blinden Thorheit der Weltleute/ und fleischlich gesinnter Menschen" 41 ermahnen. Freude und Dank für das Geschenk des Friedens und die Sorge vor seinem Mißbrauch in Gestalt des Vergessens der vorausgegangenen Kriegsnöte sowie in Form der äußeren Geschäftigkeit im Dienst eines gedankenlosen Wohllebens - dies ist der Grundtenor der Friedenspredigten Dilherrs. Er kommt noch einmal am Schluß der zweiten Predigt mit folgenden Worten zum Ausdruck: Warum gibt uns Gott „aus Vätterlicher Lieb und Treu [...] den edlen güldenen Fried? Darum daß wir/ mit schmertzlicher Reu/ und hertzlicher Büß/ einen bestän-
36 Ebd., 34. 37 Ebd., 36f. 38 Ebd., 39f. 39 Ebd., 45. 40 Ebd., 72ff. und 77. 41 Ebd., 116.
Friedens- und Dankfeste außerhalb Nürnbergs
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digen Fried mit Gott machen sollen: ohne welchen/ Der weltliche Fried nimmermehr einigen Bestand/ oder rechten Nutzen haben kan" 42 . Dilherrs Friedenspredigten in Nürnberg sind gewiß eine gewichtige Stimme inmitten der Deutungen des Friedens durch das Luthertum am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Ihre allgemein-lutherischen oder auch besonderen Akzente können freilich nur durch einen Vergleich mit anderen Äußerungen lutherischer Theologen zu dieser Thematik erhoben werden. Das kann hier nicht in Ausführlichkeit geschehen, aber einige Streiflichter und Denkanstöße zur Weiterarbeit in der Forschung möchte ich abschließend zu formulieren versuchen. Die Predigten aus Anlaß des Westfälischen bzw. Nürnberger Friedens 1648-1650 stellen nur einen Ausschnitt aus der vielgestaltigen Kriegs- und Friedensliteratur dar, die während und nach dem Dreißigjährigen Krieg veröffentlicht wurde. Die kirchenhistorische Forschung hat sich dieser Literatur in Form von Gebeten, Kirchenliedern, Flugschriften, Pamphleten und Schauspielen bisher nur sehr zögernd genähert, in jüngster Zeit wurde nur auf die Flugschriftenliteratur ausführlicher geachtet.43 In bezug auf die Friedenspredigten liegt besonders ein Vergleich zwischen Nürnberg und Straßburg nahe, wo der Rat der Stadt aus Anlaß des Nürnberger Friedens-Exekutionsschlusses vom 26. Juni 1650 ein großes Dankfest für den 30. Juli angeordnet hatte. Ähnlich wie in Nürnberg haben hier in Straßburg Rat und Ministerium zusammengewirkt, um in allen Kirchen der Stadt Dankgottesdienste abzuhalten. Die bekannten Straßburger Theologieprofessoren, Johann Schmidt, Johann Conrad Dannhauer und Johann Georg Dorsche, haben bei dieser Gelegenheit uns im Druck vorliegende Predigten gehalten.44 Bekannt und kommentiert ist auch die Freudenfestpredigt von Tobias Wagner, damals Pfarrer in Esslingen, später Theologieprofessor in Tübingen.45 Weiterhin liegen sechs Friedenspredigten von Sebastian Schmidt vor,46 und nicht zu vergessen ist vor allem auch Paul Gerhardt mit seinen Liedern und besonders seinem
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Gottseliges Friedens-Gedächtnis, 124f. Von kirchenhistorischer Seite ist hier vor allem auf die Studie von Th. Kaufmann (Anm. 9) hinzuweisen. Neben Leichenpredigten, Postillensammlungen und der Erbauungsliteratur ist hier auch die Lieddichtung berücksichtigt (100-102). 44 Vgl. J. Wallmann, Die Eigenart der Straßburger lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 87-104. 45 Tobias Wagner hielt eine Freudenfestpredigt in Eßlingen am 11.8.1650, gedruckt bei B. Kühn in Ulm 1651. Signatur: UB Tübingen L Π 4. a. Vgl. Th. Kaufmann (Anm. 9), 126f„ Anm. 324. 46 Sie wurden nach 1655 gehalten. Kurze Auszüge daraus bei W. Horning, Dr. Sebastian Schmidt von Lampertheim, Straßburg 1885, 117ff.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
bekannten Friedensdanklied.47 In wie vielen Städten und Dörfern damals in deutschen Landen Friedensfeste und -gottesdienste gehalten wurden, ist wohl kaum zu übersehen. Das Festgeschehen in einem Dorf bei Gotha in Thüringen schildert recht anschaulich Gustav Freytag in seinen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit", freilich eine nicht ganz unproblematische Quelle.48 Für den bayerischen Bereich wäre natürlich auch ein Vergleich mit Augsburg oder Regensburg interessant, gerade auch in bezug auf die unterschiedlichen konfessionellen kirchlich-theologischen Gegebenheiten in diesen Städten. Wenn ich recht sehe, stimmen die Friedenspredigten Dilherrs durchaus mit dem Grundzug der lutherischen Deutung des Friedens zusammen. Als ein unverdientes Geschenk Gottes wird der Friede weithin begrüßt, weil er neue Lebensmöglichkeiten für jeden einzelnen und für die menschliche Gemeinschaft bringt. Die Hoffnung auf neue Entfaltungsmöglichkeiten in Politik, Wirtschaft und Kultur ist aber mit Bußgesinnung und Glaubenszuversicht fest verbunden. Eine Säkularisierung der Politik und ihre Emanzipation von Religion und Frömmigkeit sind in dieser lutherischen Bejahung des Friedens völlig ausgeschlossen. Freilich gibt es auch die apokalyptisch-chiliastische Ablehnung des Friedens, weil bestimmte Voraussetzungen, z.B. die Vernichtung des babylonischen Papsttums, noch nicht erfolgt sind. Solche einzelnen Stimmen müssen nicht unbedingt im Gegensatz zu lutherisch-orthodoxen Positionen stehen, wenn sie auch gewiß nicht den Hauptzug lutherischer Stimmen zum Frieden darstellen. Daß der Friede nach den furchtbaren Grausamkeiten des Krieges fast wie ein Traum empfunden wurde, der nun im langsamen Wahrnehmen der Wirklichkeit nur mit Buße und frommer Gesinnung aufzunehmen ist - diese Grandhaltung schließt eine rational-weltimmanente Deutung des Friedens aus. Aber wie steht es mit der konfessionspolitischen Deutung des Friedens innerhalb des Protestantismus und im Gegenüber zum römischen Katholi-
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„Gott Lob, nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort, daß nunmehr ruhen sollen die Spieß und Schwerter und ihr Mord." Evangelisches Kirchengesangbuch, Nr. 392. Vgl. Paul Gerhardt, Dichtungen und Schriften. Hg. v. E. von Cranach-Sichert, München 1957, Nr. 98, 285-287. Dieses Lied ist im neuen Evangelischen Gesangbuch nicht mehr aufgenommen. Gerhardts Umdichtung des 85. Psalms „Herr, der du vormals hast dein Land mit Gnaden angeblicket" (1653), Evangelisches Gesangbuch Nr. 283, verbindet den Dank für den wiedererlangten Frieden mit der Aufforderung zur Buße und zu neuem Gehorsam. Vgl. E. von Cranach-Sichert, Nr. 71, 2 0 0 202. Vgl. auch F. de Boor, Theologie, Frömmigkeit und Zeitgeschichte im Leben und Werk Paul Gerhardts. In: Paul Gerhardt. Dichter - Theologe - Seelsorger 1607-1676, Beiträge der Wittenberger Paul-Gerhardt-Tage. Hg. v. H. Hoffmann, Berlin 1978, 2 5 52, 34ff. 48 G. Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit ΙΠ (Aus dem Jahrhundert des großen Krieges). Gesammelte Werke, 2. Serie, Bd. 6, Leipzig und Berlin o.J., 222-225.
Friedenspredigten neben Dilherr
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zismus? Von Seiten der Jesuiten gibt es ja verschiedene ablehnende Stellungnahmen zum Friedensschluß, auf die besonders der Straßburger Johann Georg Dorsche ausführlich geantwortet hat.49 Wenn römisch-katholische Theologen behaupten, der Friedensschluß impliziere die Anerkennung von falscher Lehre, bedeute also ein Seelenverderbnis, so antwortet Dorsche mit Hilfe der lutherischen Unterscheidung des weltlichen und geistlichen Regiments: Der Vertragsfriede zwischen Obrigkeiten unterschiedlicher Konfessionszugehörigkeit ist ein weltlich Ding, das nicht den Glauben und die religiöse Wahrheitsfrage betrifft. In diesem Sinne äußert sich auch Tobias Wagner in seiner Freudenfestpredigt 50 , wie überhaupt die lutherische Bejahung des Friedens zwischen den konfessionspolitischen Parteien auf der Unterscheidung des weltlichen Friedens von dem inneren Glaubensfrieden beruht. Hier wird deutlich, wie die lutherische Zweiregimentenlehre in der Mitte des 17. Jahrhunderts dem Luthertum auch in dieser Hinsicht in die Zukunft weisende, friedensstiftende Intentionen vermittelt. Die Bejahung des Friedens bedeutet freilich bei vielen lutherischen Theologen nicht, daß sie auf die übliche Konfessionspolemik verzichteten. Doch hier gibt es Unterschiede, die von der großen geistigen Spannweite zeugen, die für das Luthertum des 17. Jahrhunderts insgesamt charakteristisch ist. Was Dilherr betrifft, so zeigen seine Friedenspredigten wie überhaupt seine Schriften jenes Zurücktreten von Konfessionspolemik, das viele lutherisch-orthodoxe Theologen in der Tradition von Arndt und Gerhard vereint. Diese Irenik bei Dilherr und seinen vielen Gesinnungsfreunden weiß aber sehr wohl im Gegenüber mit römischen Katholiken und den Calvinisten zwischen weltlich-bürgerlicher und theologisch-sachlicher Perspektive zu unterscheiden. In der Literatur zu Dilherr wird mit Recht betont, daß seine auf einer breiten Kirchenvätertradition beruhende Argumentationsweise sowie seine Aufgeschlossenheit in gleicher Weise gegenüber Scholastik und aristotelische Philosophie wie auch in bezug auf die spätmittelalterliche Mystik ein breites, gemeinchristliches Fundament bietet, um mit römischen Katholiken und mit Calvinisten zu kommunizieren.51 Dieses Entgegenkommen konnte durchaus die kirchliche Sitte mit einschließen, z.B. in der Frage des Exorzismus bei der Taufe. Aber sobald die Fundamente der theologischen Glaubenswahrheit berührt wurden, hat sich Dilherr nach beiden Seiten kompromißlos als überzeugter Lutheraner verstanden. Das zeigen vor allem seine
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Zu der Auseinandersetzung zwischen dem Dillinger Jesuiten Heinrich Wangnereck und Johann Georg Dorsche vgl. Th. Kaumfann (Anm. 9), 119-125. Zu Dorsche: W. Horning, Dr. Johann Dorsch, Professor der Theologie und Münsterprediger zu Straßburg im 17. Jahrhundert, Straßburg 1886. 50 Zu dieser Predigt vgl. S. Holtz, Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550-1750, Tübingen 1993, 278f. und Th. Kaufmann (Anm. 9), 126-130. 51 G. Schröttel (Anm. 7), 26-30.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
verschiedenen Stellungnahmen zum Problem einer Union zwischen Lutheranern und Reformierten. 52 Unser Blick auf die Friedenspredigten Dilherrs hat somit gezeigt, daß wir es hier mit einer für das Luthertum insgesamt charakteristischen Stimme zum Friedensschluß am Ende des Dreißigjährigen Krieges zu tun haben. Das wird noch deutlicher, wenn wir von Süd- nach Norddeutschland schauen, zu einem Mann, der m.E. in besonderer Nähe zu Dilherr steht, es ist dies Johann Rist, seit 1635 Pfarrer in Wedel vor den Toren Hamburgs. 53 Ähnlich wie Dilherr ist Rist ein frommer Lutheraner mit einem weiten geistigen Horizont, vertraut mit den Erbauungsschriften Arndts und Johann Gerhards, besonders aber verbindet beide ihre reichhaltige literarische Produktivität. Rist war Mitglied des Nürnberger Pegnesischen Blumenordens sowie der Fruchtbringenden Gesellschaft. Die geistliche Dichtung der beiden lutherischen Theologen orientierte sich an der Poetik des Schlesiers Martin Opitz, in dessen Geist Rist die Sprachgesellschaft des Elbschwanenordens gründete. Zwei dramatische Dichtungen von Rist sowie ein langes Gedicht stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem mühsamen Friedenswerk am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Das Schauspiel „Das Friedewünschende Teutschland" entstand Ende 1647, als das Ergebnis der Friedensverhandlungen noch nicht absehbar war.54 Die Sehnsucht nach Frieden, der verklärte Zustand vor dem Krieg und die eindringliche Aufforderung zu Reue und Buße über die unzählbaren Sünden und die Bosheit in allen Ständen, wird in Form von allegorischen Götterfiguren anschaulich zur Darstellung gebracht. Das Unglück liegt vor allem auch an den fremden Mächten, die Deutschland dem Kriegsgott Mars ausgeliefert haben - ein patriotisch-deutschtümelnder Ton ist unverkennbar. Der Bußruf gilt jedoch der eigenen wie der fremden Bosheit, nur nach vollzogener Buße kann es einen wirklichen Frieden geben. Bisher besteht lediglich eine Hoffnung auf ihn. Als das Friedenswerk schließlich in Nürnberg 1650 zum Abschluß kam, hatte Rist den Dank und die Freude über den Frieden in einem langen Gedicht55 zum Ausdruck gebracht. Es steht im Zusammenhang mit vielen Bekundungen der lutherischen Friedensfreude, die im Anschluß an den Nürn52 Vgl. Schröttel (Anm. 7), 30-37. 53 Zu Rist vgl. E. Mannack, Art. Rist, Johann. In: W. Killy (Hg.), Literaturlexikon, Bd. 9, 481^485. Die Anregung, Dilherr mit Rist in Verbindung zu bringen, verdanke ich einem Vortrag von Martin Brecht bei der Tagung der Fachgruppe Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie im Frühjahr 1997 in Berlin. Ich danke ihm auch für die Zusendung seines noch ungedruckten Vortrages mit dem Titel: „Evangelische Friedensliteratur: Der Bußruf Johann Rists". 54 Wedel a.d. Elbe [n. 1647]. Signatur: M:Lo 6470 HAB Wolfenbüttel. Neudruck: Johann Rist, Sämtliche Werke. Hg. v. E. Mannack, Bd. 2, Berlin und New York 1972, 1-203. 55 Johann Rist, Neuer Teutscher Parnass, Lüneburg 1652, Reprint (Georg Olms) Hildesheim und New York 1978, 833-842.
Dilherr und Rist
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berger Exekutionstag von 1650 laut werden. Vergleichbar sind hier auch die Friedensdichtungen des Kitzinger Pfarrers Johann Klai. Der Friede verdankt sich allein der göttlichen Gnade, über deren Auswirkungen uneingeschränkte Freude angebracht ist. Allerdings kann die Vergangenheit nicht abgedrängt werden. In die erlebte Gegenwart des Friedens drängt die Erinnerung an die vorausgegangenen Schrecken immer wieder hinein, so daß die Sorge um die Bewahrung dieses fast unwirklichen Zustandes nicht unterdrückt werden kann. Diese Haltung zeigt dann besonders deutlich das Schauspiel „Das Friedejauchzende Teutschland", das Rist 1653 veröffentlicht hat.56 Der gekommene Friede wurde offenbar als höchst gefährdet und problematisch empfunden. Rist übt hier scharfe Hofkritik, besonders die Beamten gehen ihrem alten Intrigengeschäft nach und in den Städten und Dörfern ist nicht viel von Besserung des Lebens zu spüren. Auffallend in diesem Schauspiel ist die scharfe Pfarrerkritik Rists, die noch die Fürstenkritik übertrifft. Die Pfarrer tragen noch weniger zum Frieden bei als die Fürsten. Die meisten von ihnen sind Mammons-Diener, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Auf gelehrte theologische Arbeit geben sie nichts, um das Heil der ihnen anvertrauten Seelen kümmern sie sich kaum. Diese Kritik ragt aus der sonst üblichen nicht sonderlich hervor, aber sie macht deutlich, daß Rist die Pfarrer mit ihrem unchristlichen Leben und ihrer Streitlust mitschuldig sieht am Krieg und an der Brüchigkeit des endlich erreichten Friedens. Höchste Verachtung wird der Staatsräson erteilt, die Ratio Status ist der „Deckmantel aller geführten Kriege". Damit reiht sich Rist in den breiten Strom des lutherischen Antimachiavellismus ein. Der Höhepunkt der lutherischen Kritik an der Staatsräson wird dann zwei Jahre später (1655) in der berühmten Regentenpredigt des Wolfenbütteler Hofpredigers Joachim Lütkemann erreicht.57 Es ist deutlich: Johann Rist ist ein lutherischer Ireniker ähnlich wie Johann Michael Dilherr und viele andere lutherische Theologen im 17. Jahrhundert. Es ist in der Forschung strittig, wie diese lutherische Irenik, die sich spätestens seit dem Prager Frieden 1635 immer deutlicher zu Wort meldet, zu bewerten ist. Vor allem geht die Frage dahin, ob die Hauptmotive für die lutherische Irenik aus konfessionsneutral-allgemeinchristlichen Bestrebungen hervorgehen oder sich einer bewußten lutherischen Konfessionalität verdanken. Thomas Kaufmann plädiert für die Wahrnehmung einer lutherischen Konfessionskultur in der Mitte des 17. Jahrhunderts, von der aus sich die Wege in die neuzeitliche Moderne sinnvoll eröffnen. 58 Über diesen Begriffs-
56 Nürnberg 1653, Signatur: A:380.4 Quod. (1) HAB Wolfenbüttel. Neuausgabe: Johann Rist, Sämtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 54), 205-459. 57 Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988, 291-314. 58 S. Anm. 9, 140ff.
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Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs
Vorschlag wird in der Forschung gewiß noch diskutiert werden.59 Hinsichtlich der Deutung der lutherischen Irenik stimme ich Kaufmann vollauf zu, wenn er die friedensfördernden und -bejahenden Motive ganz wesentlich mit der bewußten lutherischen Konfessionalität in Zusammenhang bringt. Es ist eben nicht so, daß entkonfessionalisierende, sich von der Religion emanzipierende politische Ideen zu den friedensfördernden Impulsen gerechnet werden können und die konfessionsbewußten Haltungen zu den kriegsfördernden Elementen. Dilherr wie Rist sind lutherische Ireniker aus bewußter lutherischer Konfessionalität heraus. Das gesamte Anforderungsprofil in den dramatischen Dichtungen Rists entspricht dem Standard der lutherischen Kirche, obwohl er mit seiner immer wieder beteuerten lutherischen Rechtgläubigkeit mancherlei Kontakte zu Rosenkreuzern, neuen Propheten, Weigelianern und zu den chymischen Wissenschaften gehabt hat, also zu den charakteristischen religiösen Untergrundströmungen der Zeit.60 In diesem Sinne möchte ich auch die Friedenspredigten Dilherrs und seine lutherische Irenik werten. Wir haben hier ein bewußtes Luthertum mit großer geistiger Weite vor uns, das sich nicht scheut, verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen, aber aus einer Haltung heraus, die den eigenen Standort im Spektrum der christlichen Konfessionen sehr bewußt festzuhalten vermag. Das gilt m.E. auch für die geistlichen Dichtungen im Pegnesischen Nürnberger Blumenorden, in dem sich Harsdörffer und Dilherr gewiß katholisch-jesuitischen Einflüssen öffneten, ohne ihre lutherischen Implikationen jedoch aufzugeben. 61 Lutherische Konfessionalität bedeutet im 17. Jahrhundert nicht geistige Enge, sondern geistige Weite.
59 M.E. ist dieser Begriff zu unspezifisch und zu positiv besetzt, als daß er die komplizierten Vorgänge der lutherischen Konfessionalisierung in der Frühen Neuzeit erfassen könnte. 60 Darauf macht M. Brecht aufmerksam (Anm. 53). 61 Zu diesen jesuitischen Einflüssen vgl. J.D. Krebs, G.Ph. Harsdörffers geistliche Einflüsse zwischen katholisch-jesuitischen Einflüssen und protestantischen Reformbestrebungen. In: Religion und Religiosität, Teil II. Hg. v. D. Breuer, Wiesbaden 1995, 539-552.
Luther - Prophet der Deutschen und der Endzeit Zur Aufnahme der Prophezeiungen Luthers in der Theologie des älteren deutschen Luthertums
Luther als eschatologische Gestalt der Heilsgeschichte, als apokalyptischer Prophet, der von Gott zur Wiederherstellung der reinen evangelischen Wahrheit berufen wurde und im Kampf gegen den Satan die letzte Enthüllung des Antichrists im Papsttum vor dem Jüngsten Gericht gebracht hat - ein solches Lutherbild berührt uns am Ende des 20. Jahrhunderts äußerst fremdartig. Die Geschichte der Lutherdeutung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert ist ein ebenso umfangreiches wie spannendes Thema, dem sich schon bedeutende wissenschaftliche Gesamtdarstellungen gewidmet haben1, das aber für bestimmte Einzelaspekte noch manche Fragen offen läßt. Das Selbstverständnis einer geschichtlichen Epoche innerhalb der Gesamtgeschichte der Neuzeit spiegelt sich besonders deutlich und charakteristisch an ihrem jeweiligen Lutherbild wider. Das macht die Geschichte des Lutherbildes so vielgestaltig und reizvoll, so daß die Brücken, vor allem jedoch die Gräben zwischen dem Luther der Wirkungsgeschichte und dem Luther als geschichtliche Persönlichkeit ein verwickeltes Geflecht ergeben, das eine nicht geringe Faszination auszustrahlen vermag. Wenn inmitten der Vielfalt der Lutherbilder in der Geschichte der Neuzeit nach einer entscheidenden Zäsur gefragt wird, von der an das Lutherbild grundlegend andere und neue Züge erhält, so ist es das Zeitalter des Pietismus und der Aufklärung. Diese Wandlung am Ende des 17. Jahrhunderts 2 läßt sich inhaltlich näher beschreiben: Seit der Frühzeit der Reformation 1
2
H. Stephan, Luther in den Wandlungen seiner Kirche, Berlin 2 1951; E.W. Zeeden, Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, 2 Bde., Freiburg 1950-52; H. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Göttingen 2 1970; Luther in der Neuzeit. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte. Hg. v. B. Moeller, Gütersloh 1983. S. auch die Literaturliste bei B. Lohse, Martin Luther. Leben und Werk, München 1983, 210-216. Für diesen Wandel im Verständnis Luthers und der Reformation ist das Werk Veit Ludwig von Seckendorffs, Historia Lutheranismi, 1692, charakteristisch. S. hierzu E.W. Zeeden (Anm. 1), Bd. 1, 113ff.
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Luther - Prophet der Deutschen und der Endzeit
zieht sich durch das ganze 16. und 17. Jahrhundert die eschatologisch-apokalyptische Deutungsperspektive hindurch, in der Luthers Wirken und die Geschichte der Reformation gesehen wurde. Erst mit dem Ende des 17. Jahrhunderts treten die biblischen, altkirchlichen und mittelalterlichen apokalyptischen Traditionen als wesentlicher geschichtstheologischer Rahmen für das Verständnis Luthers und der Reformation deutlich zurück. Dies gilt bis zu den Lutherbildern des 20. Jahrhunderts und bis in unsere gegenwärtige Situation hinein. Offenbar hängt mit diesem Wandel im Lutherverständnis um 1700 auch die für die Wirkungsgeschichte Luthers so charakteristische Diskussion zusammen, welchem Zeitalter er eigentlich zuzurechnen sei: ob dem Mittelalter oder der Neuzeit bzw. der Epochenschwelle zwischen diesen beiden so definitionsbedürftigen Zeiteinteilungsbegriffen. Wie um keine andere Gestalt der deutschen Geschichte wurde um die Einordnung Luthers und der Reformation im Epochenumbruch der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte lange Zeit gestritten, bis am Anfang unseres Jahrhunderts diese Debatte in Ernst Troeltsch und Karl Holl ihre klassischen Exponenten gefunden hatte.3 Die Geschichte des Lutherverständnisses im 20. Jahrhundert seit Karl Holl läßt die jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergründe einer LutherDarstellung oft in besonders krasser Weise hervortreten und hat in der Zeit des Nationalsozialismus zu nicht überbietbaren Verzerrungen und Verirrungen geführt. 4 Die großen Leistungen der wissenschaftlichen Lutherforschung seit der Lutherrenaissance haben an der jeweiligen Zeitbedingtheit eines Lutherbildes - bezeichnenderweise wohl! - nichts ändern können. Das Eingeständnis des bedeutenden niederländischen Lutherforschers Heiko A. Oberman weist auf die Probleme einer Modernisierung Luthers deutlich hin: „Nicht nur die Zeitläufe, die Epochenwechsel selbst, sondern auch wir Lutherforscher haben Luther fremd, d.h. elitär gemacht, seine Sprache gehoben, vergeistigt und entleibt. Der historische, eben der eckige und fleckige, der irdische, fleischliche Luther wird in der hochgestochenen akademischen Rede durchweg zugleich salonfähig und hörsaalfähig gemacht und, eingespannt in das Prokrustesbett einer zuvor definierten Modernität, entzeitlicht und verewigt." 5 Gegen eine solche geistreiche Lutherdeutung „sine fundamento in Luthero" hat Oberman in zahlreichen Veröffentlichungen ein neues Lutherbild gezeichnet, das ihn nicht als schöpferischen Reformator der Kirche, sondern als apokalyptischen Propheten zu verstehen versucht.6 Seitdem wird
3 4 5
6
Vgl. G. Ebeling, Luther und der Anbruch der Neuzeit. In: Ders., Wort und Glaube ΙΠ, Tübingen 1975, 29-59. S. K. Barth, Lutherfeier 1933, Theologische Existenz heute 4, München 1933. Heiko A. Oberman, Martin Luther: Mensch zwischen Gott und Teufel. In: Werden und Wirkung der Reformation. Ringvorlesung an der TH Darmstadt, Darmstadt 1986, 117-137: 118. Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1981; Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986.
Heilsgeschichtliche Deutung Luthers
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in der gegenwärtigen Lutherforschung über die Dimension des Apokalyptischen bei der Interpretation Luthers und der Probleme der Reformationsgeschichte vielfach diskutiert.7 Kein Zweifel kann freilich darüber bestehen, daß inmitten der verschiedenen Akzentsetzungen und Neuansätzen gegenüber der Tradition die Apokalyptik für Luthers Selbstverständnis zeitlebens eine erhebliche Rolle gespielt hat. Nicht weniger gilt dies für seine Zeitgenossen und vor allem für die Generationen nach dem Tod Luthers.8 „Gottes Werkzeug" - das ist der zusammenfassende und immer wiederkehrende Ausdruck für die Beschreibung für Luthers Wirken, das somit auf eine Stufe mit den großen Gestalten der Heilsgeschichte des alten und neuen Bundes gestellt wurde. Auf die Herausstellung der gemeinsamen Züge und die Zeichen der Erfüllung in Gottes Heilsplan kommt es den Theologen an, wenn sie Luther mit Noah, Mose, Elia, Jesaja, Jeremia, Daniel, Micha, Johannes dem Täufer, Paulus und dem Engel der Apokalypse (14,6f.) in Beziehung setzen. Nach H. Volz wurde Luther bereits Ende 1519 nach der Leipziger Disputation mit dem Namen des Propheten Elia in Verbindung gebracht, der nach der Verheißung des Propheten Maleachi (3,23) als Vorläufer des wiederkehrenden Herrn in den mittelalterlichen Endzeitvorstellungen erwartet wurde.9 Diese heilsgeschichtliche Deutung Luthers als Apostel, Prophet und Engel der Apokalypse begründete eine weit bis ins 17. Jahrhundert hineinreichende Tradition. Schon die Zeitgenossen in Luthers Umgebung hatten an ihrer Ausgestaltung erheblichen Anteil. Von 7 8
9
B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 553f. Vgl. E.W. Zeeden (Anm. 1), Bd. 1, 21-76; H. Preuß, Martin Luther. Der Prophet, Gütersloh 1933, 238-243; H.-J. Schönstädt, Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug. Römische Kirche, Reformation und Luther im Spiegel des Reformationsjubiläums 1917. Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Bd. 88, Wiesbaden 1978, 254-303; E. Koch, Lutherflorilegien zwischen 1550 und 1600. Zum Lutherbild der ersten nachreformatorischen Generation. In: Theologische Versuche 16, Berlin 1986, 105-117; R. Kolb, Die Umgestaltung und theologische Bedeutung des Lutherbildes im späten 16. Jahrhundert. In: Die lutherische Kofessionalisierung in Deutschland, SVRG Nr. 197. Hg. v. H.-Chr. Rublack, Gütersloh 1992, 202-234. S. auch die vorausgehende wichtige Arbeit von Robert Kolb, For All the Saints. Changing Perceptions of Martyrdom and Sainthood in the Lutheran Reformation, Macon 1987. Dabei war es offenbar Zwingli, der zuerst auf Luther den Prophetennamen Elia angewandt hat. Vgl. H. Volz, Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius. Kritische Untersuchung zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der Reformation, Halle 1929, 64f.; H. Bornkamm (Anm. 1), 13; H. Preuß (Anm. 8), 49; H.-J. Schönstädt (Anm. 8), 265. Der Augustiner Michael Stiefel (Styfel) hat Luther wahrscheinlich als erster als Engel der Offenbarung bezeichnet. Vgl. H. Stephan, Luther in den Wandlungen seiner Kirche (Anm. 1), 8 und 13 und H. Weigelt, Luthers Beziehungen zu Kaspar von Schwenckfeld, Johannes Campanus und Michael Stiefel. In: H. Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526-1546, 1. Bd., Berlin 1983, 478-480.
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den Trauerreden beim Tode Luthers von Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen, über die Lutherpredigten des Johannes Mathesius und Cyriakus Spangenberg, die Geschichtstheologie des Matthias Flacius, die Biographie Luthers von Nikolaus Seinecker, die Lutherpredigten des sächsischen Oberhofpredigers Matthias Hoe von Hoenegg und die Predigten zum Reformationsjubiläum 1617 erstreckt sich diese Traditionslinie - von der hier nur die wichtigsten Zeugnisse erwähnt sind - bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hinein.10 Die eschatologisch-apokalyptische Perspektive in dieser Deutung Luthers als Werkzeug Gottes zur Wiederaufrichtung der reinen Lehre und der endgültigen Entlarvung des Antichrists ist schon früh mit der Vorstellung von Luther als dem genuinen Propheten der Deutschen verbunden. Von Luthers Selbstaussagen in seiner Schrift von der Coburg „Daß man Kinder zur Schule halten solle"11 ausgehend, ist der Topos von Luther als dem Propheten der Deutschen von Justus Jonas, vor allem aber durch die Lutherpredigten des Johannes Mathesius12 weiter tradiert worden. Hinter dieser Auffassung von Luther als dem deutschen Propheten steht die aus dem Mittelalter kommende Deutung der vier Weltreiche nach Daniel 2, wonach das vierte römische Reich nach dem assyrischen, persischen und griechischen Reich mit dem römisch-deutschen Kaisertum gleichgesetzt war, das bis zum Ende der Welt bestehen bleiben sollte. Mit dem Auftreten und Wirken Luthers habe Gott sich noch einmal gnädig Deutschland vor dem Jüngsten Tage zugewandt und sein Wort offenbart. 13 Wenn diese gnädige Zuwendung Gottes aber ausgeschlagen und sein Wort nicht gehört wird, folgt die Strafe Gottes, wie es die gesamte Geschichte des alten und neuen Bundes lehrt. So ist der Topos von Luther als dem Propheten der Deutschen von allem Anfang an aufs engste mit Luthers Klagen und Weissagungen über das Unheil verbunden, das über Deutschland hereinbrechen wird.14 Das Bild von Luther als dem Apostel und Propheten der letzten Zeit verbindet sich mit der im engeren Sinne prophetischen Aufgabe der Vorhersagung bestimmter zukünftiger Ereignisse. Durch die Fülle der Aussagen Luthers über das zukünftige Geschick Deutschlands zieht sich ein sehr 10 S. die Überblicksdarstellungen bei E.W. Zeeden und R. Kolb (Anm. 1 und 8). 11 WA 30, 2, 587, 36. Vgl. H. Preuß, Martin Luther. Der Deutsche, Gütersloh 1934; B. Lohse, Luthers Selbsteinschätzung. In: (Ders.), Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, Göttingen 1988, 158-175. 12 Die Predigten, die Johannes Mathesius auf erlebtem Erfahrungshintergrund, aber mit mancherlei Ausschmückungen von 1562-1565 gehalten hat, kamen erstmals 1566 in Nürnberg heraus und fanden im späten 16. Jahrhundert weite Verbreitung: Johannes Mathesius, Historien/ von des Ehrwirdigen in/ Gott Seligen Thewren Mannes Gottes/ Doctoris Martini Luthers/ anfang/ lehr/ leben und sterben. Nürnberg 1566. 13 Vgl. E.W. Zeeden, Martin Luther und die Reformation (Anm. 1), Bd. Π, 26. 14 Vgl. H. Preuß, Martin Luther. Der Deutsche (Anm. 11), 96-100.
Sammlungen von Luthers Prophezeiungen
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ernster, düsterer Grundton, der Luther geradezu als Unheilsprophet Deutschlands erscheinen läßt. Im 18. Jahrhundert tritt diese Perspektive im Lutherbild der Aufklärung, der Klassik und des deutschen Idealismus stark zurück. Erst die nationale deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat den Topos von Luther als dem Propheten der Deutschen in säkularisierter Weise wieder aufgenommen, wobei sie sich freilich von diesem apokalyptisch-bedrohlichen Grundzug weltenweit entfernte. Luther kündigt die Strafe Gottes über die Undankbarkeit Deutschlands nach seinem Tode an, weil es die Gabe des Evangeliums verachtet hat, vom Glauben abfallen und der Verführung durch Irrlehrer und Sektierer ausgesetzt sein wird. Die Strafe Gottes wird groß sein, aber alle seine Warnungen werden vergeblich bleiben. Schon bald nach Luthers Tod kommen Zusammenstellungen der Prophezeiungen Luthers heraus, die eine bis ins 17. Jahrhundert hineinreichende Literaturgattung eröffnen. Diese Sammlungen der Weissagungen Luthers sind eine besonders aufschlußreiche Quelle nicht nur für das Verständnis Luthers im späten 16. und im 17. Jahrhundert, sondern vor allem auch für das Lebens· und Zeitverständnis der Theologen, die diese thematischen Auswahlzusammenstellungen aus Luthers Werken verfaßten und offenbar auch einem zahlreichen Lesepublikum präsentieren konnten.15 Die Herausgeber solcher Zusammenstellungen von Luthers Prophezeiungen verstehen sich als genuine Lutherschüler, die das Erbe Luthers inmitten der zahlreichen Streitigkeiten nach seinem Tod bewahren und vor falscher Inanspruchnahme schützen wollen. Öfters stehen sie in Opposition zu Melanchthon und dessen Schülern, gehören zu dem Kreis der Anhänger des Matthias Flacius Illyricus und kämpfen als „Gnesiolutheraner" für die kompromißlose Bewahrung der Theologie Luthers, auch wenn sie die spezifische Erbsündenlehre des Flacius scharf ablehnen. In ihrer pfarramtlichen Wirksamkeit hatten sie mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, konnten sich oft nicht lange an einem Ort halten, da sie teilweise mehrfach aus dem Amt gewiesen wurden. Mit ihrem ausgeprägten Endzeitbewußtsein stehen sie zwar inmitten des allgemeinen Zeitgeistes, aber durch die starke Akzentuierung der apokalyptischen Dimension hat die Beschreibung ihrer Gegenwart als „letzte Zeit" eine ganz besondere Färbung. Wie sehr die apokalyptische Endzeitvorstellung den Rückgriff auf Luthers Prophezeiungen als Hauptmotiv ihrer Zusammenstellungen und gegenwärtigen Präsentierung zur Warnung und Aufforderung zur Buße bestimmte, werden wir in der folgenden Übersicht herauszustellen versuchen. Im Jahre 1552, sechs Jahre nach Luthers Tod, erscheinen zwei Sammlungen von Prophezeiungen Luthers. Die erste hat der Lutherschüler Anton Otho 15 Vgl. E. Koch (Anm. 8), der auf diese Auswahlzusammenstellungen aus Luthers Werken in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts hinwies und sie aufschlußreich kommentierte. Ihm verdanke ich wesentliche Anregungen für diesen Aufsatz.
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zusammengestellt. Zuvor schon war in Erfurt an die Ausgabe einiger Bußpredigten von Johannes Brenz eine „Warnung" aus den Schriften Luthers angefügt worden. 16 Anton Otho17 wurde ca. 1505 in Herzberg am Harz geboren, studierte seit 1533 in Wittenberg, wurde 1539 Magister und kam nach Hauslehrertätigkeit, Diakonenamt und Pfarramt in Gräfenhainichen 1542 nach Nordhausen, zunächst als Diakon und dann als Pfarrer an St. Nicolai. In Nordhausen 18 gab er die kurze Sammlung von Prophetensprüchen Luthers heraus: „Etliche Propheceysprüche D. Martini Lutheri/ Des dritten Elias, Nordhausen 1552." In der Vorrede zu seiner kleinen Schrift (17 Seiten) sagt Otho: „Lutherus hat Micha Geist im weissagen/ darumb er schier nichts gutes/ sondern mehr teil böses über unns verkündiget." Die andere Sammlung hat ein Bremer Theologe namens Johann Timann (Johannes Amsterdamus) 19 zusammengestellt und kam in Magdeburg heraus: „Etliche warhafftige Weissagung/ und fuerneme spruche des Ehrwirdigen Vaters/ Herrn Doctor Martini Luthers/ des dritten Helie/ von trübsal/ abfal/ finsternissen/ oder aber verfelschungen reiner Lere/ so Deudtschlandt kuenfftiglich nach seinem tode/ widerfaren solle. Durch Johannem Amsterdamum/ des Göttlichen worts zu Bremen Diener/ zusamen gebracht. Darneben auch etliche Trostsprueche/ des hochgedachten D. Martini Luthers, Magdeburgk 1552." In der Vorrede zu seiner Sammlung gibt Timann auch ein wichtiges Motiv für solche Auswahlzusammenstellungen aus Luthers Schriften an: „Ich hoffe auch das solch mein fleis und gutes gemüt/ an den Gottfuerchtigen/ und sonderlich an den armen Dorffpharherrn/ so die Buecher nicht alle keuffen können/ nicht gar vergebens oder verloren/ sondern angenem und nützlich sein wird." 20 Für viele waren die großen Lutherausgaben des 16. Jahrhunderts, die Wittenberger und Jenaer Ausgabe, unerschwinglich. In den wirtschaftlich 16 Etzliche Büß Predigten/ Johannis Brentii über die grawsame, grewliche [...] Sindflut. Anhang: Warnung Martin Luthers/ aus etzlichen seinen Schrifften/ hin und wider zusammen getragen/ durch M. Johannem Pollicarium, Erfurt 1548. 17 Zu Anton Otho s. F. Schulz, Die Gebete Luthers. Edition, Bibliographie und Wirkungsgeschichte, QFRG, Bd. XL IV, Gütersloh 1976; E. Koch, Anton Otho. Weg und Werk eines Lutherschülers. In: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 1981/82, Berlin 2 1983, 67-92; I. Dingel, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, QFRG 63, Gütersloh 1996, 4 7 6 ^ 8 0 . 18 E. Koch hat auf die gemeinsame theologisch-geistliche Herkunft der Verfasser der Lutherflorilegien hingewiesen und einen personell-geographisch deutlich umschreibbaren Interessenkreis aufgezeigt, was insbesondere auch für die Herausgeber der Lutherprophezeiungen gilt (Anm. 8, 110f.). Der Kreis der Theologen, die in Nordhausen wirkten oder mit den dortigen Pfarrern in Verbindung standen, spielt offenbar eine besondere Rolle. 19 Zu Johann Timann s. I. Dingel (Anm. 17), 355. 20 Vorrede, H. m f .
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schwierigen Zeiten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stand hinter diesen Auswahlzusammenstellungen aus Luthers Schriften die Bemühung, einem größeren Kreis den Zugang zu den Werken Luthers offenzuhalten. 21 Wie schon die Titel dieser Sammlungen zeigen, wird Luther als der dritte Elia vorgestellt. In der mittelalterlichen Antichristvorstellung war das Wiederkommen des Propheten Elia in der Endzeit fest verankert. Nach dem Propheten Maleachi (3,23) sollte der Prophet Elia gesandt werden, „ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt". Nach Lk 1,17 und Mt 11,10 und 17,1 Off. war diese Eliaweissagung mit dem Auftreten Johannes des Täufers konkret-geschichtlich erfüllt worden. Wie sehr diese eschatologischapokalyptische Vorstellung beim Auftreten Luthers jedoch wieder lebendig war, zeigt das Auftauchen des Elianamens für Luther, der mit der Wiederentdeckung des Evangeliums eine neue Zeit einleitete und wie Johannes der Täufer auch „vor dem Herrn herging", als der dritte Elia.22 Zwingli und Melanchthon haben als erste nach der Leipziger Disputation und während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg Luther mit Elia in Verbindung gebracht. Während Luther selbst die Vorstellung einer Wiederkehr des Propheten Elia ablehnte,23 war diese Vorstellung nach seinem Tod in der Deutung von Luthers Wirken wieder stark hervorgetreten und mit dem durchgängigen Topos von Luther als dem Propheten der Deutschen fest verbunden. In der Reihe der Zusammenstellungen von Luthers Prophezeiungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nimmt die Sammlung des Dresdner Theologen Peter Glaser einen besonderen Rang ein. Peter Glaser (15281583)24 kam nach Studien in Leipzig und Wittenberg ca. 1552 nach Dresden und war dort als Stadtprediger, Konsistorialassessor und als einer der Hofprediger tätig. Im Zusammenhang der Krise des kursächsischen Philippismus 25 hat Glaser im Sinne der theologischen Übereinstimmung zwischen Melanchthon und Luther zu wirken versucht, indem er deutsche Übersetzungen und Auswahlzusammenstellungen aus ihren Schriften, besonders zur aufgebrochenen Kontroverse um das Verständnis des Abendmahls, 26 heraus21 Vgl. E. Koch (Anm. 8), 105f. 22 Vgl. H. Preuß, Martin Luther. Der Prophet (Anm. 8), 49ff. und H.-J. Schönstädt, Antichrist [...] (Anm. 8), 265. 23 Z.B. in der Kirchenpostille wehrt Luther die Vorstellung einer Wiederkehr des Propheten Elia strikt ab (WA 10, 1, 1, 148, 14). Vorrede Luthers zum 1. Band der Wittenberger Gesamtausgabe, 1545. In: WA 54, 179, 1-14. 24 Kurze biographische Angaben zu Glaser s. F. Schulz, Die Gebete Luthers (Anm. 17), 46. 25 Vgl. E. Koch, Der kursächsische Philippismus und seine Krise in den 1560er und 1570er Jahren. In: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland: Das Problem der „Zweiten Reformation". Hg. v. H. Schilling, Gütersloh 1986,60-77. 26 Petrus Glaser, „Wie der Thewre Man D. Martinus Lutherus/ wider die Sacramentirer gelehret/ geprediget und geschrieben [...]", Dresden 1577. Zur Autorität Melanch-
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gab. Glaser, der auch die Konkordienformel unterschrieb, gehört somit nicht in die theologischen Kreise hinein, die zwischen Luther und Melanchthon und ihren Schülern die theologischen Unterschiede betonten und die Autorität Luthers auf Kosten derjenigen von Melanchthon herausstellten. Der deutsche Prophet Luther, der denselben heilsgeschichtlichen Rang einnimmt wie die Propheten des Alten Testaments, wird von Glaser anhand der Zusammenstellung von hundertundzwanzig Prophezeiungen aus Luthers Schriften eindrucksvoll den offenbar zahlreichen Lesern präsentiert: „Hundert und zwanzig Propheceyungen/ oder Weissagung/ des Ehrwirdigen Vaters Herrn Doctoris Martini Luthers/ von allerley straffen/ so nach seinem tod über Deutschland von wegen desselbigen großen/ und vielfaltigen Sünden kommen solten [...], Eisleben 1557."27 Wie schon der Titel zum Ausdruck bringt, kommt Luther hier als der große Strafprophet zu Wort, der auf der Rückseite des Titelblattes mit zwei Aussagen über seine Prophetenaufgabe zitiert wird. Indem Glaser die Weissagungen Luthers auf Ereignisse bezieht, die sich in der Vergangenheit schon zugetragen haben bzw. in der Gegenwart vor Augen sind, wird die prophetische Sendung und Autorität Luthers noch unterstrichen. So heißt es in der Vorrede: „[...] denn viel ding sich zugetragen haben/ darvon er gepropheceyet hat/ auch derselbigen etliche jtzt fur äugen sein/ darumb sichs zu befaren ist/ das auch die andern straffen/ darvon er geweissaget hat/ über uns gehen werden." 28 Glaser möchte seine Leser zu einem bußfertigen Leben führen, aber mit der Zusammenstellung der Weissagungen Luthers auch die eigene Gegenwart deuten, die Luther vorhergesehen hat, so daß die Orientierung an Luther sowohl dessen Autorität als Gottes Werkzeug zu stärken wie auch die gegenwärtigen Lebenserfahrungen in der rechten Weise einzuordnen vermochte. Diese Zusammenstellung von Luthers Prophezeiungen durch Peter Glaser wirkte traditionsbildend bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein. Die folgenden Sammlungen von Weissagungen Luthers halten sich meist an die Reihenfolge der Auswahltexte aus Luthers Schriften, die Glaser hier vornimmt. 29 Offenbar hatte diese Veröffentlichung auch einen guten Verkaufserfolg. Denn in der Vorrede zu einer zweiten, inzwischen auf zweihundert Prophezeiungen Luthers angewachsenen Auflage, stellt Glaser fest: „[...] dieweil ich vor funffzehn Jahren derselbigen Hundert und Zwantzig habe
thons und Luthers in Kursachsen s. E. Koch, Auseinandersetzungen um die Autorität von Philipp Melanchthon und Martin Luther in Kursachsen im Vorfeld der Konkordienformel von 1577. In: Lutherjahrbuch, 59. Jg., Göttingen 1992, 128-159. 27 Mir lag das Exemplar: Petrus Glaser, Hundert und zwanzig Propheceyungen [...], Eisleben 1557, aus der Württ. Landesbibliothek vor. Signatur: Theol. qt. 4308. 28 Vorrede, Α. ΠΙ. 29 Glaser läßt die Prophezeiungen Luthers mit dem Anfang des 2. Teils der Deutschen Bücher Luthers in der Jenaer Ausgabe beginnen. In einem Sendschreiben an Hartmuth von Kronberg, 1522.
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Drucken lassen/ und dieselbige Exemplaria nu langst verkaufft worden sein/ also das keines mehr zubekommen gewesen/ bin ich etlich mal angelanget worden/ das ich dieselbige wider in Druck geben wolte."30 Nicht nur die Nachfrage, sondern auch die erfahrene Erfüllung der Prophezeiungen Luthers veranlaßte Glaser zur Neuausgabe seiner Sammlung, die nun im handlichen Oktavformat gedruckt wurde31: „[...] weil ich sehe/ und teglich erfahre/ das je lenger je mehr die Propheceyunge Lutheri erfüllet werden/ un mit gewalt anfahe im schwang zugehet/ wie denn der tewre man offte in seinen Schrifften gedenckt/ das seine Propheceyunge gemeiniglich war sein [...]." 32 Das Strafregister, das sich an die Vorrede anschließt, weist besonders auf die von Luther vorausgesagte ungerechte Handlungsweise der Obrigkeit hin, die die Kirchengüter an sich reißt, um sich damit ein immer angenehmeres Leben zu verschaffen. Luther als Prophet Deutschlands dient auch für eine in seinem Geist vorgetragene nicht geringe Fürsten- und Hofkritik! In die späten siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts fällt eine weitere bedeutende Sammlung von Prophezeiungen Luthers nach derjenigen von Glaser. Sie stammt von dem Pfarrer Johannes Lapaeus, der wie Anton Otho zeitweilig in Nordhausen wirkte und zu einer Gruppe von Theologen gehörte, die sich dem theologischen Erbe Luthers auch in geistlicher Hinsicht besonders verbunden fühlten. 33 Dies Schloß jedoch auch vermutlich Streitlust und Kompromißlosigkeit ein, denn Lapaeus wurde als Flacius-Anhänger 1570 aus seinem Nordhäuser Predigtamt vertrieben und später auch aus seinen Ämtern in Saalfeld. 34 Schon der Titel der Sammlung des Lapaeus gibt Aufschluß über den Inhalt und die neuen Akzentsetzungen in dieser Zeit bei der Berufung auf Luther: „Warhafftige Prophezeiungen des thewren Propheten/ und heiligen Manns Gottes/ D. Martini Lutheri seliger Gedechtnis. Darinnen er den jetzigen kläglichen Zustandt Deutscher Nation, die Zerstörunge der Kirchen/ Verfelschunge der Lere/ vielerley grewliche Straffen Gottes/ den Jüngsten tag/ und 30
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Petrus Glaser, Zwey Hundert Propheceyunge oder weissagunge/ des tewren Mans D. Martini Lutheri [...], Bautzen 1574, Vorrede, Ilf. Mit dieser Angabe ist allerdings nicht das Jahr der Erstauflage 1557, sondern 1559 angegeben. In der Staatsbibliothek Amberg soll sich ein Exemplar der Zweihundert Prophezeiungen Luthers von Peter Glaser befinden, das 1559 erschienen ist. Dies konnte ich jedoch noch nicht überprüfen. 1559 kam auch von Georg Waither (ca. 1526-1582) eine Sammlung von Luthers Prophezeiungen heraus. Weitere Auflagen der Sammlung von Glaser: Magdeburg 1592, Bautzen 1628. I. Dingel, Concordia controversa (Anm. 17), 613, setzt die 2. Auflage ins Jahr 1579. Dies ist m.E. ein Versehen. Richtig in der Anm. 36 auf S. 613. Zu Glaser s. auch 54. Mir lag das Exemplar der Württ. Landesbibliothek vor. Signatur: Theol. oct. 11263. Vorrede, Πί. Vgl. E. Koch, Lutherflorilegien (Anm. 8), 110. Zu Johannes Lap(p)aeus s. F. Schulz, Die Gebete Luthers (Anm. 17), 24f.
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anders dergleichen mehr gar eygentlich zuvor verkündiget hat. Dem gantzen Deutschlandt zur Warnung/ und allen betrübten Christen zu Christlichem Unterricht und Trost/ aus allen seinen Schrifften vleissig zusamen gezogen/ durch Iohannem Lapaeum Einbeccensem, Pfarrherren zu Langenberg. Ursel 1578."35 Die Berufung auf Luthers vorausgesagte Strafen Gottes steht hier im Zusammenhang einer äußerst pessimistischen Deutung der eigenen Gegenwart, in der die Kirche zerstört und die Lehre verfälscht wird und der Jüngste Tag kurz bevorsteht. Die theologische Apologetik und Polemik verbindet sich mit einem apokalyptischen Endzeitbewußtsein, so daß Luther nicht nur der Prophet Deutschlands, sondern vor allem der Prophet „zu diesen letzten Zeiten und am Ende der Welt ist"36. Die Kritik an Kirche und Theologie mit Hilfe von Luthers Prophezeiungen richtet sich in den späten siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts im Kreis dieser „Gnesiolutheraner" auf die mühsamen Bemühungen um Lehrübereinkunft im Luthertum, die schließlich in der Konkordienformel von 1577 und im Konkordienbuch von 1580 ihren Niederschlag gefunden haben. Lapaeus beruft sich in seiner Vorrede auf Gottes Wirken in der Heilsgeschichte des alten und neuen Bundes, da er immer vor dem Unheil Unheilspropheten geschickt hat, damit es durch ernsthafte Buße noch abgewendet werden möge: „Also nachdem nun die Zeit auch vor der Thür ist, daß Gott kommen will mit dem jüngsten Tage und sonst auch vielerlei Strafen über diese gottlose und undankbare Welt gehen lassen [...] hat er erweckt den heiligen und seligen Mann Doctorem Martinum Lutherum, welcher im Geist und Kraft Eliä das antichristische Papstthum gestürzt und die reine Lehre göttlichen Worts durch Gottes Gnade wiederum an den Tag gebracht hat." Gott hat Luther „in diesen letzten Zeiten erweckt zu einem Propheten deutscher Nation und mit dem Geist der Weissagung reichlich begäbet, also daß er das gegenwärtige und noch künftige Unglück zuvor gesehen, treulich davor gewarnet und demselbigen mit rechtschaffener Buße vorzukommen gar ernstlich vermahnet hat"37. Unter Berufung auf Hes 12, Dan 5, 2. Tess 2 und 2. Petr 1 ist das Lutherbild dieser Sammlung ganz auf die gegenwärtige letzte gefährliche Zeit ausgerichtet.
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Weitere Auflagen in erweiterter Form: Eisleben 1592, Erfurt 1608. Im 19. Jahrhundert wurden die Weissagungen des Lapaeus unter dem Titel: „Docotor Martin Luthers äußerst merkwürdige Weissagungen" von Chr. L. Knapp, Stuttgart 1846, erneut herausgegeben. 36 Vorrede des Georg Autumnus zu der Sammlung des Lapaeus, Stuttgart 1846, 6. G. Autumnus (Herbst) war Gesinnungsfreund und Kollege des Lapaeus, vgl. F. Schulz, Die Gebete Luthers (Anm. 17), 24. Auf die beiden apokalyptischen Zeitdeutungen des Basilius Faber und des Christoph Irenaeus wird im folgenden hingewiesen. 37 Lapaeus, Luthers Prophezeiungen, Stuttgart 1846, 13f.
Basilius Fabers Eschatologie
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Wie sehr das Lutherbild und insbesondere die Prophezeiungen Luthers mit der apokalyptisch gedeuteten Gegenwart vor allem in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts in Zusammenhang stehen, zeigt ein Werk, das sachlich und persönlich in die Nähe der Sammlung des Lapaeus gehört. Es ist dies eine im handlichen Oktavformat in vielen Auflagen herausgekommene volkstümliche Eschatologie in ausgesprochener apokalyptischer Zuspitzung. Verfasser ist Basilius Faber, und schon im Titel wird auf die im Anhang befindlichen Prophezeiungen Luthers hingewiesen: „Allerley Christliche/ noetige und nuetzliche unterrichtungen/ von den letzten Hendeln der Welt. [...] Mit angehenckten Warnungen und Prophezeien D. Mart. Luthers/ Deutschland betreffende [...], Eisleben 1565."38 Basilius Faber wurde ca. 1525 in Sorau in der Niederlausitz geboren. Er ist verwandt mit dem ebenfalls von dort herstammenden Michael Neander, dem bedeutenden Pädagogen und Rektor der Klosterschule in Ilfeld. Auch Faber war nach seinem Studium vor allem in Wittenberg im Schulamt tätig, als Lehrer und Rektor in Nordhausen. Später hat er sich in Quedlinburg gegen kryptocalvinistische Neuerungen gewandt und damit den Zorn der Äbtissin heraufgeführt, so daß er 1570 abgesetzt wurde. Daraufhin erhielt er einen Ruf nach Erfurt. Sein Tod fällt in das Jahr 1575 oder 1576. Aus der Vorrede geht hervor, daß Faber hier vor allem eine Trostschrift für sich selbst und seine Kinder geschrieben hat, „wie sich ein Christ gegen die letzten hendel/ damit diese Welt wird auff hören/ als gegen dem Jüngsten tage/ gegen dem Jüngsten Gerichte/ Desgleichen in kranckheit/ Todesfurcht/ und sterbens noten/ zuuerhalten [...]" 39 . Die Bosheit und Verstocktheit der gegenwärtigen Welt ist eine Erlebnisund Erfahrungstatsache: „Wir sehen für äugen/ fülen auch/ und erfaren leider teglich allzuviel/ Wo es mit der Welt hingeraten/ und wie in erschrecklicher bosheit und Sicherheit sie ersoffen sey/ und noch teglich je lenger je tieffer sich darin versencket/ also/ das keiner besserung mit jr niemmermehr zu hof-
38
Erstauflage ist Eisleben 1564. Weitere Auflagen: Quedlinburg 1569, Leipzig 1572, 1574, 1576, 1578, 1579, 1581, 1584, 1590, 1594, 1596, 1604. Mir lag die Ausgabe: Leipzig 1579 der Württ. Landesbibliothek vor. Signatur: Theol. oct. 4977. 39 Vorrede, A. Elf. Auch die Gliederung in 7 Punkten zeigt, wie stark das Werk auf die Trostbedürfnisse der Leser angesichts des nahen Weltendes ausgerichtet ist: „1. Vom Jüngsten tage/ Und wie man sich darzu bereiten sol. 2. Vom sterben und trost in Todesfurcht und noten. 3. Von Aufferstehung der Todten. 4. Vom Jüngsten Gericht. 5. Vom Himmel und Ewigen leben. 6. Von der Helle. 7. Von der Seelen der verstorbenen/ und allem jrem zustande und gelegenheit. Mit angehengten Warnungen und Propheceyen D. Martini Luthers/ Deudschland be-
treffende" (A. vmf.).
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fen/ oder in den sinn zu nemen ist."40 Mit dem sehr nahen Weltuntergang und der Wiederkunft Christi muß mit unbezweifelbarer Gewißheit gerechnet werden, da die Prophezeiungen und Zeichen, die darauf hindeuten, erfüllt sind und sich noch täglich erfüllen: „Das die Welt an jr ende und Untergang gar auf das nehest und genawste gerucket sey/ und der Herr Christus gar bait mit seiner herrlichen zukunfft vom Himel herab erscheinen werde/ das achte ich nicht/ das es jemandt in einigen zweiffei stellen könne/ sintemal alle Propheceyen und zeichen1 die Christus und die Aposteln erklert haben/ reichlich und ueberflußig schon vor langst erfüllet sein/ und zum theil noch teglich sich verlauffen." 41 Zu diesen Zeichen rechnet Faber nicht nur aufgetretene Irrlehre, das Treiben der Rotten und Sekten, Krieg und die Verfolgung der Christen, sondern auch Wunderzeichen in der Natur.42 Immer wieder wird auf Luther hingewiesen, aus dessen Schriften seitenlang zitiert wird, besonders in seelsorgerlich-tröstlicher Absicht.43 Wenn der Jüngste Tag stündlich erwartet wird, ist die Frage nach der Art und Weise seines Kommens nicht mehr zu unterdrücken. Deshalb beantwortet Faber auch im vierten Stück, wie sich der Jüngste Tag zutragen wird.44 Die Intensität der Erwartung ist so groß, daß auch Berechnungen für das Kommen des Jüngsten Tages angestellt werden: „Daraus eine coniectur oder Vermutung/ nicht ungleublicher weise köndte genommen werden/ das von des Herrn Christi entweder Geburt oder Aufferstehung/ bis zum Jüngsten tage/ so viel Jar sein würden/ wie vil Jar von Adam [...] bis auf die Sündflut gewest werenJ als nemlich 1556. Jar."45 Freilich fügt Faber nach den biblischen Vorgaben gleich an: „Solches alles aber ist ungewis/ und will Christus nicht/ das wir die zeit und stunde seines herrlichen Tages sorgfeltig ergrueblen und erforschen [...]." 46 Aber das nahe Weltende kann dennoch geradezu erspürt werden: „Jetzund jederman selbs/ aus allerley der Welt gelegenheit/ und den vielen schrecklichen wunderzeichen/ spueren/ schliessen und propheceyen kan/ es muesse die weit brechen/ und der Jüngste tag vorhanden sein/ ohn das keine besserunge folgen/ und von uns wil fürgenomen werden." 47
40 41 42
Faber, 1579, B. Ebd., BHIf. Faber weist auf „erschreckliche Fewrzeichen" hin, die am Tage der unschuldigen Kindlein im Jahre 1561 gesehen worden sind. Ebd., Β V. 43 So wird aus Luthers Sermon über die Bereitung zum Sterben und aus der Hauspostille zitiert, auch aus den Predigten und Gebeten des Mathesius. Es werden Anleitungen zum Sterben vor dem unmittelbar bevorstehenden Jüngsten Tag gegeben. 44 Ebd., Hff. 45 Ebd., H. Auch die Jahre 1583 und 1588 erscheinen als möglich. 46 Ebd., Hf. Auf folgende biblische Stellen wird verwiesen: Jes 65, Mt 24, Lk 21, 1. Kor 15, 1. Thess 4, 2. Petr 3 und Apk 1. 47 Ebd., Η Π.
Das „Prognosticon" des Christoph Irenaeus
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Fabers Unterricht über die letzten Dinge, mit dem er angesichts der Naherwartung des Weltendes sowohl zur Buße ermahnen wie auch Trost spenden will, zitiert zur Bekräftigung seiner Darlegungen immer wieder aus Luthers Schriften. Die enge Verbindung zwischen den Weissagungen Luthers und einer auf das Weltende zueilenden, apokalyptisch gedeuteten Gegenwart wird noch dadurch besonders unterstrichen, daß Faber im letzten Teil seines Werkes eine ganze Reihe von Prophezeiungen Luthers als Quellenauszüge aus dessen Schriften hinzufügt. Luther ist sowohl der Prophet der Deutschen, der das große kommende Unglück über Deutschland voraussagte, wie auch der Prophet der Endzeit: „Zum beschlus mus ich etliche trewe Warnungen und Weissagungen des hohen/ thewren Mannes Gottes/ Doctoris Martini Lutheri/ von künfftigem Unfall in Deudschland/ wo der Jüngste tag nicht darzwischen kompt/ mit anhengen/ darumb das sie zu den letzten hendeln der weit auch gehören/ und sich fromme Christen dagegen auch zurüsten und zu bereiten haben [.. .]."48 Hatte schon das Buch von Faber verschiedentlich auf Zeichen hingewiesen, die in dessen Gegenwart geschehen und die den Jüngsten Tag ankündigen, so ist dies bei einem in derselben Zeit herausgekommenen Werk noch viel stärker der Fall. Als ein besonders charakteristisches Beispiel für die sog. Vorzeichenliteratur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts soll hier auf das „Prognosticon" des Christoph Irenaeus hingewiesen werden. Die Weissagungen Luthers als des deutschen Propheten am Ende der Zeiten spielen in diesem Werk wiederum eine entscheidende Rolle.49 Chrisoph Irenaeus gehört zu der Gruppe von Theologen, die als Anhänger des Flacius in verschiedenen Schriften gegen die Konkordienformel gestritten haben.50 Wie seine Gesinnungsgenossen wurde er mehrfach aus seinen Ämtern gewiesen. Er stammte aus Schweidnitz in Schlesien und wurde ab 1568 erster Hofprediger in Weimar bei Herzog Johann Wilhelm. Er war besonders an den Auseinandersetzungen um die Erbsünde beteiligt und mußte schließlich am Ende seines Lebens nach Österreich gehen, wo er nach 1595 verstarb.51 Das ruhelose Wanderleben des Irenaeus und die mehrfach erlebte Vertreibung aus seinen Ämtern bestärkten ihn in der Gewißheit, die rechte theologische Lehre zu besitzen und vor allem das Erbe Luthers gegen alle Feinde des 48 49
Ebd., b VI. Christoph Irenaeus, „Prognosticon. Aus Gottes Wort nötige Erinnerung/ Und Christliche Bußpredigt zu dieser letzten bösen Zeit. An hohe und nieder Standes Deutschen Landes: auff den Cometen/ so von Martini des 1577. Jars/ biß zum Eingang des 1578. Jars gesehen. Sampt Erzehlung vieler Cometen und anderer schrecklicher Zeichen/ und was allwegen darauff erfolget", [o.O.] 1578. 50 Vgl. I. Dingel, Concordia controversa (Anm. 17), 485-541. 51 S. die nur spärlich möglichen biographischen Angaben bei I. Dingel, ebd., 485f.
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Evangeliums, deren Auftreten Luther schon voraussagte, zu verteidigen. Es ist prophetisches Schicksal, die Wahrheit kompromißlos aufzudecken, die nie bei der großen Menge, sondern nur bei wenigen zu finden ist. Dieses prophetische Selbstbewußtsein verbindet sich bei Irenaeus mit der Deutung von Naturerscheinungen, die er in besonderer Häufigkeit in seiner Gegenwart beobachtet. Daraus schließt er, „das jemals so viel Zeichen auff einander gegangen/ als zu unser zeit/ das auch eins dem anderen kaum Raum lesset/ ehe eines vergehet/ kompt ein anders/ das gewis Gott was sonderlichs im Sinne hat/ meynet und deutet mit den Wunderzeichen/ die heuffig geschehen und auff einander gehen." 52 Wenn auch etliche Zeichen natürlicherweise geschehen, so soll man doch darüber nachsinnen. Gott als Schöpfer, Erhalter und Regierer stellt uns die Zeichen der Natur als Warnung vor Augen, „als Zorn und Straffzeichen oder Vorbotten/ so uns neben dem mündlichen Wort Gottes Zorn und Straffe/ zukünfftiges Unglück umb unser Sünde willen ankündigen. [...] Darbey abzunemen ist/ das Gott etwas grosses im Sinne hat/ und schreckliche Verenderung für der Thür sind."53 Vor allem kündigen die Kometen großes Unglück an. Das „Prognosticon" des Irenaeus gibt einen Überblick über die Kometenerscheinungen in der Kirchengeschichte seit Christi Geburt. Er zielt vor allem jedoch auf jenen Kometen, der von Herbst 1577 bis zum Frühjahr 1578 zu sehen war und schon im Titel der Schrift auftaucht. Dieser Komet ist für Irenaeus ein Unglückszeichen, das auf nichts anderes als auf die unseligen, kompromißlerischen Einigungsbemühungen im Luthertum des Jakob Andreae hinweist. Die Wunderzeichen am Himmel deuten auf den nahen Jüngsten Tag hin, so daß es zur Umkehr und Buße allerhöchste Zeit ist: „[...] sind auch solche Zeichen zugleich mit Vorleuffer und Vordeuter des jüngsten Tages/ und des allgemeinen ernsten Gerichts/ so in der letzten zukunfft Christi über das gantze Menschliche Geschlecht/ böse und gute/ gehalten werden sol."54 Wie Luther immer wieder zur Buße aufforderte, so soll auch der Komet von 1577/78 zur Buße führen angesichts des nahen Jüngsten Tages und der Wiederkunft Christi, „welcher in den Wolcken mit grosser Krafft und Herrligkeit/ mit einem Feldgeschreye/ Stimme der Ertzengeln/ und mit der Posaune Gottes/ mit Feuwerflammen/ und mit viel tausend Engeln/ kommen und erscheinen wirdt/ Gerichte zu halten/ über alle/ die Gottblosen/ zu straffen/ und ins ewige Feuwer zu sturtzen/ die Gleubigen aber und Auserweilten zu sich in das ewige selige und herrliche Reich zu nemen." 55 Im Gegensatz zu den falschen Friedenspropheten56 hat Luther als deutscher Prophet anders prophezeit: „Unser Deutscher Prophet D. Luther pro52 Prognosticon, Α ΠΙ. 53 Ebd., A I V . 54 Β Π ί . 55 ΒΠΙ. 56 „D. Jacob [Jakob Andreae] ist der güldene grosse Pax=Prophet", Τ Πί.
Wirkungsgeschichte der Prophezeiungen Luthers
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pheceiet grewliche straffen Gottes/ so Deutschland ubergehen werden/ umb der vielfeltigen Sünden/ so in Deudschland im schwang gehen/ und teglich überhand nemen f...]·" 57 So werden am Schluß des „Prognosticon" auch Luthers Prophezeiungen „über und wider Deudschland" zusammengestellt, 58 wie schon durch das ganze Werk immer wieder auf Luthers Weissagungen hingewiesen wurde.59 Die Zeichen für den nahen Jüngsten Tag sind offenkundig: Überall wird das Evangelium gepredigt, viele Rottengeister und falsche Propheten sind aufgetreten und die Sicherheit der Welt inmitten von Haß und Streit nimmt immer mehr zu. Hinzu kommen die Zeichen in der Natur, so daß die frommen Christen Hoffnung und Trost nur in einer apokalyptisch gedeuteten Zukunftsperspektive festhalten können: „[...] es stellen uns Lufft/ Erde/ Wasser/ und fast alle Creaturen/ schreckliche straff un zornzeichen fur die Augen/ es kracht alles mit einander und wil schier in Hoffnung auf die Wiederkehr Christi [...] in hauffen fallen." 60 Die Zusammenstellungen der Lutherprophezeiungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts haben neben den anderen ausgewählten Textauszügen aus Luthers Schriften in Form von Loci communes61 das Bild Luthers als prophetische Lehrautorität wesentlich mitgeprägt. Freilich blieb diese Sicht auch nicht unbestritten. Eine zentrale Schrift bei den Kontroversen um die Konkordienformel hat sich eigens der Frage nach der Autorität Luthers gewidmet. Es ist dies die „Admonitio Christiana" des Zacharias Ursinus, die 1581 herauskam. 62 Ursinus unterschied zwischen den Lehrern und den Dienern der Kirche. Zu den Lehrern gehören ausschließlich die Propheten und Apostel, nicht aber Martin Luther, der kein unmittelbar von Gott berufener Prophet, sondern ein Diener der Kirche mit einer besonderen Gabe der Schriftauslegung gewesen sei. Die Prophezeiungen Luthers haben jedoch jenseits einer solchen Fragestellung eine nicht unbedeutende Wirkungsgeschichte auch noch im 17. Jahrhundert entfalten können.63 Herausragendes Beispiel für die Nachwirkung der Lutherprophezeiungen des 16. Jahrhunderts im Dreißigjährigen Krieg ist 57 58 59 60 61
Β b 3. C c 3ff. Qmff. D d 2f. Z.B. Johannes Corvinus, Loci communes Doct: Mart: Lutheri totius Doctrinae Christianae. Das ist/ Heubtartikel Unsers Christlichen Glaubens/ und rechtschaffener Lere/ auß D. Mart. Luthers Schrifften [...] zusamen getragen [...], Ursel 1564; Theodosius Fabricius, Loci communes. Aus den deutschen Geistreichen Schrifften/ des thewren Hocherleuchten Mannes Gottes und waren letzten Eliae D. Martini Lutheri zu Ehren [...], Magdeburg 1597. 62 S. I. Dingel, Concordia controversa (Anm. 17), 134f. und 610-614. 63 Vgl. E. Koch, Lutherflorilegien (Anm. 8), 112, Anm. 61.
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eine Schrift des Nürnberger orthodoxen Theologen Johann Saubert. Der Titel lautet: „Lutherus Propheta Germaniae, Oder Lutherus der Teutschen Prophet, Das ist, Etliche Weissagungen Herrn Dn. Lutheri vom Teutsch-Lande, darin viel Wundersame und gedenckwürdige Puncten zu befinden unnd deren erfüllung nunmehr zu unsern Zeiten unwidersprechlich sich an die Hand geben: Den Lieben Teutschen zu fernem Nachdencken und erweckung Hertzlicher Busse, widerholt und mit kurtzen Gemercken bezeichnet. Nürnberg 1632."64 Johann Saubert (1592-1646) war zu dieser Zeit Prediger an St. Lorenz in Nürnberg. Bald darauf wurde er Prediger an St. Sebald (1637) und damit der führende Theologe Nürnbergs.65 Der Titel wie die Dedikation zu dieser über 300 Seiten langen Schrift zeigen deutlich die Intention, die Saubert mit seiner Veröffentlichung gut 50 Jahre nach dem Erscheinen der Sammlung des Lapaeus verfolgt. Er will zeigen, wie vielfältig sich die Prophezeiungen Luthers in seiner Gegenwart bewahrheiten und zu einer ernsten Bußgesinnung führen können, so daß der Zorn Gottes über Deutschland sein Ende finden möge. Saubert blickt zurück auf die Verfasser der Lutherprophezeiungen des späten 16. Jahrhunderts und möchte diese Tradition für seine Zeit fruchtbar machen: „Es haben vor etlich und fünffzig Jahren Herr M. Philippus66 Glaser/ Prediger zu Dresden/ und Herr Johann Lapaeus, Pfarrherr zu Langenberg/ viel Propheceiungen/ auß den Schrifften Herrn Lutheri zusam gebracht/ und an den Tag kommen lassen/ welche/ weiln sie zum theil schon bereit selbige Zeit betroffen/ von vielen fleissig zu Hertzen genommen/ und für sehr gedenckwürdig gehalten worden: Nachmain aber und seithero (wie es pflegt zu geschehen) bey dem mehrern Hauffen in Vergessenheit gerathen und gleichsam im verborgen gelegen. Daher es eine Nothdurfft zu sein erachtet worden/ dasjenige/ was bey dieser unserer Zeit Landkündlich erfüllet wird/ mit Fleiß aufzusuchen unnd männiglich vor Augen zu stellen/ damit wir bey nunmehr ergangener unnd theils noch schwebender Erfüllung zu was tieffern und bußfertigen Nachdencken/ durch Gottes Gnade/ gelangen mögen [.. ,]."67 Bei der Zusammenstellung von Luthers Prophezeiungen folgt Saubert derjenigen von Glaser.68 An die ausführlich zitierten Luthertexte schließt er meist kurze Kommentare an, die auf die Wahrheit von Luthers Aussagen und 64 Mir lag das Exemplar der Württ. Landesbibliothek Stuttgart vor. Signatur: Theol. oct. 15474. Hinweise auf dieses Werk Sauberts gibt es in der Forschung kaum. S. jedoch knapp H. Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924, 160f. 65 Zu Saubert s. R. van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform. Der Nürnberger Prediger Johannes Saubert. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33, 1970, 6 3 6 786; M. Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, 177f. und oben 140, Anm. 11. 66 Vermutlich ist Philippus statt Petrus ein Druckversehen. 67 Dedikation, II und ΠΙ. 68 Sie beginnen mit dem Brief an Hartmuth von Kronberg, 1522.
Sauberts Aufnahme der Prophezeiungen Luthers
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die Erfüllung seiner Voraussagen für die eigene Gegenwart hinweisen. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges,69 die Belagerung und Plünderung von Magdeburg im Mai 1631,70 aber auch die allgemeine Zunahme der Plagen und Strafen in Deutschland aufgrund seiner Undankbarkeit 71 oder die unglückseligen Streitigkeiten unter den Evangelischen nach Luthers Tod, 72 werden von Saubert als von Luther vorausgesagte Ereignisse herausgestellt. Saubert sieht sich in der Beurteilung der kirchlichen Lage seiner Zeit vollauf durch Luther bestätigt. Die vielen Predigten und die erkannte Wahrheit haben das unbußfertige Leben nur noch verstärkt: „Man predigte unnd machte doch deß Abweichens nur destomehr." 73 Luthers Klagen in seiner Auslegung des Propheten Micha über den Mangel an gelehrten Leuten in der Kirche, daß sie deshalb äußerlich untergehen könne, bezieht Saubert auf seine vom Krieg gezeichnete Gegenwart: „Jetzt mache der günstige Leser die Rechnung/ nach dem die Evangelische Schulen und Gymnasia an vielen Orten gesperrt/ die Praeceptores vertrieben/ viel Universiteten zertrewet und die gute Ingenia großen Theils zum Krieg verlaitet worden/ ob nicht die Erfüllung oberwehnter Prophecey Lutheri am nechsten für der Thür sey."74 Aber die Kirche erleidet nicht nur von außen Schmach, die schlimmste Strafe für sie sind die ungelehrten Gesellen, die über sie herfallen. Saubert übt mit Hilfe Luthers scharfe Pfarrerkritik: „Dann es sind Hirten/ die sich selbst weiden/ sie fressen das Fette und kleiden sich mit der Wolle/ aber die Schafe weiden sie nicht/ der Schwachen warten sie nicht/ die Krancken heilen sie nicht/ das Verwundte verbinden sie nicht."75 Aber auch die Sorge Luthers, daß für die Pfarrer und Lehrer zuwenig Mittel bereitgestellt werden, bestätigt Saubert: „Ich frage/ ob nicht diß in vielen Provincien deß Teutschlandes sey erfüllt worden?" 76 Im Blick auf die Gegenden, die durch die Gegenreformation wieder katholisch geworden sind, konstatiert er: „[...] wenn die Verführer bald zugefahren und das Einkommen etlicher Pfarren zusamen gezogen/ daß mancher einiger MeßPriester sich kaum mit dem behelffen wolle/ was vorher unter fünff oder sechs Evangelische Kirchendiener getheilet worden." 77 69 70 71 72 73 74 75 76 77
„Das hat sich angefangen beyläufftig/ an. 1619. Darauff bißhero immer eine Verenderung nach der andern gefolget" (4f.). „Ob nicht das Magdeburgisch Exempel [...] diesen Außgang an die Hand geben/ mag ein jeder Verständiger urtheil" (25f). „Ist waar/ inmassen hemach sich fast alle Plagen zusamen gethan und bißher im Teutschland durch Gottes Verhengnuß Raum gefunden" (42). „Ist waar worden. So bald Lutherus den Kopff gelegt/ ist das Unglück allgemach bey den Evangelischen Ständen angange" (71). 122. 130f. 132f. 152. 150.
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Die schlimmste Strafe Gottes für die Verachtung seines Wortes ist das Aufkommen von Sekten und falschen Geistern. Auch diese Passagen, vor allem aus Luthers Kirchenpostille, zitiert Saubert ausführlich. Er fügt allerdings im Sinne Luthers hinzu, daß wir nicht entschuldigt sind, wenn die Lehre zurechtgebracht wurde. Entscheidend ist vielmehr - und hierauf legt Saubert als bedeutender Reformschriftsteller 78 besonderen Akzent, daß das Wort Gottes auch ins Leben kommen müsse: „[...] so sollen wir uns auch darumb annemen/ daß es auch in das Leben komme." 79 Damit nimmt Saubert eine zentrale Intention von Johann Arndt auf.80 Lehre und Leben müssen zusammengehen: „Das ist/ damit die reine Lehr und rechtmessige Kirchenzucht beysammen bestehen un zugleich getrieben werden. Wo nicht/ so folget die Göttliche Straff/ wie sie uns nunmehr in die Hände gangen."81 Die bitteren Klagen Luthers über die Undankbarkeit Deutschlands in seiner Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle, sind für Saubert eine willkommene Bestätigung seiner eigenen pessimistischen Perspektive. Zu den Aussagen Luthers, daß er sich nicht wundern würde, wenn Gott Tür und Fenster in der Hölle auftäte und Teufel schneien ließe, es vom Himmel Schwefel regnete und es Deutschland viel schlimmer als Sodom und Gomorrha ergehen würde, bemerkt Saubert: „[...] hats nicht alles eingetroffen?, wirds nicht noch teglich erfüllet?" 82 Auch das Bedauern Luthers, daß er ein Deutscher ist und auch zehn Mose gegen das Elend in Deutschland nichts ausrichten würden, erspart Saubert seinen Lesern nicht. Der Nürnberger Theologe sieht Luther als einen von Gott gelehrten, die Wahrheit voraussagenden Propheten, der zwar wider seinen eigenen Willen ein Prophet über Deutschland sein mußte, von Herzen ungern weissagte und angesichts des Unheils lieber ein falscher Prophet zu sein wünschte, aber ein rechter Prophet ist: „Nein/ Lutherus hat die Warheit gesagt. Er künte sprechen: Der Herr hat mirs offenbaret/ daß ichs weiß" (Jer 11,18)." So sehr Saubert mit Hilfe von Luthers Prophezeiungen Gottes Zorn und Strafe über die Undankbarkeit und die Sünden der Menschen in allen Ständen als Endzeitgeschehen interpretiert und, so lange noch Zeit ist, zu ernsthafter Buße aufruft, so werden zuweilen doch auch hoffnungsvollere Töne angeschlagen. Kreuz und Verfolgung sind schon gekommen, das große Wetter ist vorhanden: „Ach Herr Gott/ es ist kommen. Du aber hast ja nit lust an unserm Verderbe. Darumb nach dem Ungewitter lasse uns die Sonne wi78 79 80 81 82 83
Ein Jahr später kommt Sauberts berühmte Reformschrift „Zuchtbüchlein der Evangelischen Kirchen [...]", Nürnberg 1633, heraus. 162. Johann Arndt, Vorrede zu den Vier Büchern vom Wahren Christentum, Berlin 1857, 8ff. Säubert (Anm. 64), 164. 175f. 177.
Dilherrs Aufnahme der Prophezeiungen Luthers
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der scheinen un nach dem Heulen und Weinen überschütte uns mit Frewden." 84 Obwohl wenig Besserung für die Welt zu hoffen ist, so fehlt doch die Erwartung einer gnädigen Zuwendung Gottes nach seinen von ihm geschickten Plagen keineswegs ganz. Inmitten der großen Sehnsucht nach dem Ende der bösen Welt und nach dem Wiederkommen Christi kommt auch die Hoffnung zum Ausdruck, daß durch echte Bußgesinnung der Zorn Gottes abgewendet werden könne und sich in Segen für die christliche Gemeinde verwandeln möge. In seinem letzten Kommentar zu einer Tischrede Luthers, daß es auf Erden so böse sein werde, daß wir nach dem Kommen Gottes schreien werden, sagt Saubert: „Ach ja jetzt gehet es also her/ wie Lutherus gesagt. Jetzt rafft der Geist unnd die Braut Christi: Komme. Und wer es höret/ der spricht komme. Ja/ komme/ Herr Jesu."85 Mit diesem sehnsuchtsvollen Ausruf aus der gegenwärtigen Bedrängnis endet aber nicht das Buch Sauberts. Es schließen sich längere Bußgebete an, auf die schonungslose Diagnose der eigenen Gegenwart mit Hilfe Luthers folgt damit die Therapie. Wenn die Warnungen nicht in den Wind geschlagen werden und die vielen Zeichen, die Gott geschickt hat, recht verstanden werden, dann gibt es noch Hoffnung auf eine Besserung der gegenwärtig düsteren Lage. Nicht umsonst endet das Buch Sauberts mit den Worten: „Die Sonne muß mit ihrem Schein/ zuletzt tretten frölich ein/ soils Jahr und Tag gleich regnen." 86 Auch noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist das Bild Luthers als Prophet der Deutschen am Ende der Zeiten keineswegs erblaßt, obwohl eine Abnahme der Berufung auf die Prophezeiungen Luthers insgesamt zu beobachten ist. Ein Beispiel für die Fortwirkung dieser Tradition im späteren 17. Jahrhundert ist ein umfangreiches Werk, das der Nachfolger von Saubert an der Spitze der Nürnberger Geistlichkeit, Johann Michael Dilherr (16041669)87, verfaßt hat. Der Titel dieses Werkes lautet: „Propheten Schul. Das ist/ Christliche Anweisung/ zu Gottseliger Betrachtung des Lebens und der Lehre Heiliger Propheten Altes Testaments [...], Nürnberg 1662."88 Gleich am Anfang wird Luther zitiert „Von den Propheten" und dann durch das ganze Werk hindurch immer wieder. Die vier Weltreiche nach Dan 2 spielen für Dilherr bei der Deutung der eigenen Gegenwart eine besondere Rolle.89 Seine Betrachtung der alttestamentlichen Propheten möchte Dilherr nicht nur 84 230f. 85 271 f. 86 324. 87 Zu Dilherr s. H. Leube, Die Reformideen (Anm. 64), 100-104 und G. Schröttel, J.M. Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg, Nürnberg 1962. 88 Mir lag das Exemplar aus der Bibliothek des Landeskirchlichen Archivs Nürnberg (Fenitzer Bibliothek) vor. Signatur: Fen I, 240 4°. 89 42ff.
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als einen Rückblick in die Vergangenheit verstanden wissen. Die Propheten zeigen zukünftige Dinge an, was Gott zu allen Zeiten durch Menschen vermitteln kann: „Daß Gott der Herr/ noch heut zu Tage/ uns Menschen könne Gesichte widerfahren lassen [...] wird kein vernünftiger Mensch leugnen. Denn seine Krafft und Macht nihmt/ mit der Zeit/ nicht ab/ wie bei uns Menschen. [...] Jedoch thut Gott nicht alles/ was Er kan; sondern was Er wil." 90 Allerdings ist es nicht ratsam, um Offenbarungen durch Gesichte zu bitten. Auch müssen die Gesichte mit Gottes Wort übereinstimmen.91 Besonders reflektiert Dilherr mit Blick auf die alttestamentlichen Propheten über den zukünftigen Zustand der Kirche Gottes auf Erden: „Ob die Kirche Gottes allezeit/ in einerlei gestallt und Zustand/ in gleichem Flor und Ansehen/ verbleibe? Den daß man darauf mit Nein antworten müsse, lehren uns die Zeiten des Propheten Eliae [...] daß die Kirche Gottes nicht immerzu/ in gleicher Gestallt und Zustand/ bestehe; sondern bisweilen abnehme/ und sehr gedruckt/ und unscheinbar werde." 92 Für die Gemeinde Gottes heißt „das immerwährende Prognosticon" 93 : „[.··] wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes gehen" (Acta 14,22). Aber die Kirche Gottes bleibt allezeit und vergeht nimmermehr, „aber sie grünet nicht immer"94. Im Anschluß an die Ausführungen zum Propheten Arnos zitiert Dilherr verschiedene Aussprüche Luthers über das kommende Unheil über Deutschland und stellt fest: „Solches hast du/ Ο du elendes Teutschland! wohl erfahren: Und wirst es/ wie/ leider! zu befahren/ wiederum von neuem erfahren: weil du nicht allein/ in den vorigen Sünden/ ruchloß fortfährest, sondern auch selbige vermehrest." 95 Am Schluß des Werkes kommt die auch in anderen Schriften Dilherrs immer wieder auftauchende Endzeitstimmung besonders deutlich zum Ausdruck. Ähnlich wie Johann Matthäus Meyfart 96 folgert Dilherr aus der nunmehr an ihr Ende gelangenden vierten Weltmonarchie, der alt gewordenen Welt, aus Naturkatastrophen und anderen Vorzeichen die Nähe des Jüngsten Tages: „Also ists mit dieser letzten Welt auch. Sie ist veraltet/ wie ein Kleid; und nihmt täglich zu sehen/ an allen Kräfften/ ab: sie stehet auff bösen Beinen; und neiget sich zum Untergang: der Erdboden wird unfruchtbar; es tragen 90 91 92 93 94
45. 53. 109. 54. 118. Dilherr warnt deshalb vor einer zu engen, dogmatisch gefaßten Perspektive: „und also kan man nicht allezeit wissen, an welchem Ort sie sei/ und wer sich zu derselbigen bekenne" (118). 95 33Iff. 96 Zu J.M. Meyfart und seiner großen eschatologischen Trilogie s. E. Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987, 113-162.
Rückblick auf die Tradition der Lutherprophezeiungen
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sich allerhand Erdbeben/ greuliche Sturm=Winde/ und schreckliche Fälle zu: und sind sonsten alle Zeichen und Vorbothen des jüngsten Tages vor Augen: Derohalben kans nicht lang mehr währen."97
Wir blicken zurück: Von den Sammlungen der Prophezeiungen Luthers kurz nach seinem Tod bis zu Dilherrs „Prophetenschule" von 1662 zieht sich eine über hundertjährige Tradition des Rückgriffs auf Luthers Weissagungen in der Theologie des älteren deutschen Luthertums. Für das Lutherbild in der Frühen Neuzeit hat diese Weitergabe von originalen Luthertexten durch die Art ihrer Zusammenstellung und Kommentierung eine nicht unerhebliche Bedeutung. Auf die ersten nachreformatorischen Generationen konnte Luther auf diese Weise mit seinen Beurteilungen der eigenen Zeit und der nahen Zukunft recht anschaulich und authentisch einwirken. Die Tradition der Lutherprophezeiungen im späten 16. und im 17. Jahrhundert gewährt uns aber vor allem einen Einblick in das intensive Endzeitbewußtsein und Endzeitdenken im Luthertum zwischen Reformation und Pietismus. In der kirchen- und theologiegeschichtlichen Forschung zur Frühen Neuzeit sind die eschatologischen Problemstellungen noch besonders wenig erforscht. 98 Hier sind noch viele Fragen offen und ist noch manches Neuland zu entdecken.99 Kein Zweifel kann freilich darüber bestehen, daß der frühneuzeitliche Protestantismus von einem intensiven Endzeitbewußtsein geprägt ist, das breit in der Pfarrerschaft und bei den Gemeindegliedern verankert war. Inwieweit das Luthertum sich hier gegenüber dem reformierten Protestantismus und dem römischen Katholizismus abhebt oder nicht, kann in der gegenwärtigen Forschungssituation noch nicht schlüssig beantwortet werden.100 Allerdings scheint mir viel dafür zu sprechen, daß die Intensität der eschatologischen Erwartung mit apokalyptischer Zuspitzung im Luthertum früher auftrat als in den reformierten Kirchen. Dies wird zum Teil gewiß damit zusammenhängen, daß das Luthertum in der zweiten Hälfte des 16. und im frühen 17. Jahrhundert von einer Vielzahl von Schwierigkeiten 97 98
702f. Vgl. den Überblick über die Problemstellungen und Forschungsperspektiven zur Eschatologie im älteren Luthertum von H. Lehmann mit weiterer Literatur von ihm selbst und anderen: Endzeiterwartung im Luthertum im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hg. v. H.-Chr. Rublack, Gütersloh 1992, 545-558. 99 Das zeigt auch die Diskussion im Anschluß an den Vortrag von H. Lehmann (Anm. 98). 100 Eine Geschichte der Eschatologie im Protestantismus ist bis heute noch nicht geschrieben worden. Für die Eschatologie in der lutherischen Orthodoxie s. J. Wallmann, Zwischen Reformation und Pietismus. Reich Gottes und Chiliasmus in der lutherischen Orthodoxie. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 105-123.
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Luther - Prophet der Deutschen und der Endzeit
auf dem politischen, sozialen und ökonomischen Gebiet herausgefordert wurde.101 Eine besondere Verdichtung der Endzeitvorstellungen in apokalyptischer Dimension ist für das Luthertum der Frühen Neuzeit vor allem in den 1570er und 1580er Jahren zu beobachten sowie dann wieder vor und während der ersten Jahre des Dreißigjährigen Krieges. Auch innerhalb der Tradition der Lutherprophezeiungen lassen sich gewisse unterschiedliche Akzentsetzungen beobachten. Die heilsgeschichtliche Deutung Luthers als apokalyptischer Prophet, als dritter Elia, ist charakteristisch für die Luthersammlungen des späten 16. Jahrhunderts. Bei Saubert und Dilherr ist diese Perspektive nicht völlig ausgeblendet, jedoch tritt sie deutlich zurück. Vor allem an der Erfüllung der Voraussagen Luthers in seiner eigenen Zeit ist Saubert interessiert, um damit die Ernsthaftigkeit seiner Ermahnungen zur Umkehr zu unterstreichen. Nicht die apokalyptische Endzeitkatastrophe steht hier im Vordergrund, sondern das Endzeitbewußtsein Sauberts ist bei aller pessimistischen Gegenwartsdeutung doch wesentlich von einer Hoffnung erfüllt, daß auf die Zeit des Zornes Gottes wieder eine Gnadenzeit kommen möge. Es ist auffallend, daß die Lutherprophezeiungen bei einem der führenden orthodoxen Reformtheologen auf so fruchtbaren Boden fallen. Er steht damit in einer Tradition, die im späten 16. Jahrhundert vor allem von den strengen Lutherschülern gepflegt wurde. Seine Rückbesinnung auf Luther ist nicht in erster Linie auf den dogmatisch richtig lehrenden oder polemisch streitenden Luther gerichtet, sondern auf den prophetisch-geistlichen Lehrer und Warner, der die Schäden zwar schonungslos aufdeckt, aber vor allem zu einem authentischen Leben aus dem Glauben anzuleiten vermag. Theologie und Kirche seiner Zeit können von Luther lernen, weil sie hier auf ein lebendiges Lebenszeugnis des Glaubens treffen, an dem es in seiner Gegenwart - aus seiner Sicht - so sehr mangelt. Treue in der Bewahrung von Luthers Erbe und Applikation seiner Theologie in die persönliche Erfahrungswelt des Glaubens hinein - beides kommt nicht von ungefähr bei einem der führenden orthodoxen Theologen zusammen. Das Luthertum des orthodoxen Zeitalters ist weiter und tiefer angelegt, als es noch immer viele Vorstellungen darüber wahrhaben wollen.
101 Vor allem H. Lehmann (Anm. 98) hat dies betont und auch auf die klimatischen Verschlechterungen seit 1570 hingewiesen.
Der Untergang der Hölle Zu den Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der lutherischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts
Die christliche Höllenvorstellung erlebte im Hoch- und Spätmittelalter der abendländisch-lateinischen Christenheit ihre vielgestaltigste und dichteste Ausprägung. 1 Das Thema „Hölle" als Ausdruck für die Strafe der Sünden, der Gottesferne und der ewigen Verdammnis durchzieht jedoch die gesamte Christentumsgeschichte. 2 Die mit der Höllenthematik verbundenen Vorstellungen haben von Anfang an keine selbständige Bedeutung. Sie gründen in der Negation einer Position, in der in Jesu Verkündigung angesagten und in seinem Wirken beginnenden Gottesherrschaft. Die Botschaft Jesu: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!" (Mk 1,15) forderte zur Entscheidung auf. Im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu steht die frohe Botschaft, das Evangelium der anbrechenden Gottesherrschaft. Dieser Heilsbotschaft gegenüber kann niemand in neutraler Haltung verharren. Sie führt in ein Entweder - Oder hinein, in die Aufnahme dieser Botschaft und damit in die Verheißung ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott (Himmel), oder in die Ablehnung und damit in die Möglichkeit des Verlorengehens, des Erleidens der Gottesferne (Hölle). Himmel und Hölle sind seitdem die beiden aufeinander bezogenen Grundperspektiven der christlichen Verkündigung, wobei die „Hölle" die Ernsthaftigkeit dieser Botschaft unterstreicht. Im Neuen Testament und in der Alten Kirche haben die Höllenvorstellungen als ermahnend-ernsthafter Hintergrund der frohen Botschaft von der angebrochenen Gottesherrschaft einen recht unterschiedlichen Ausdruck gefunden. 3 Auch den krassen, bildhaften Ausschmückungen der Höllenstrafen,
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Vgl. L. Boff, Was kommt nachher? Das Leben nach dem Tode, München 1992; J. le Goff, Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, Stuttgart 1990; Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Katalog der Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums im Wallraf-Richartz-Museum, Köln (Gesamtredaktion: Peter Jezler), Zürich 2 1994. H. Vorgrimler, Geschichte der Hölle, München 1993, mit ausführlicher Bibliographie. G. Baudler, Jesus und die Hölle. Zum religionspädagogischen und pastoralen Umgang mit den Bildern der Gehenna. In: Theologie der Gegenwart 34, 1991, 163-174; H.-D.
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Der Untergang der Hölle
die aufs Ganze gesehen in der frühen Christenheit eher die Ausnahme darstellen, geht es um die Einschärfung des Ernstes der Entscheidung, um die Ermahnung, die Zeit des irdischen Lebens zu nutzen, bevor es zu spät ist. Gewiß nicht von ungefähr hat die älteste erhaltene christliche Schilderung der zukünftigen Höllenstrafen keinen Eingang in den neutestamentlichen Kanon gefunden. Es ist dies die sog. Petrus-Apokalypse, ca. 135 vermutlich in Alexandrien verfaßt. 4 Die Geschichte der detaillierten Darstellungen der Höllenstrafen, die im Hochmittelalter ihren Höhepunkt findet, nimmt von den Schilderungen dieser Petrus-Apokalypse ihren Ausgang. Auch die Seligkeit der Vollendeten im Himmel wird beschrieben, aber die Ausmalung der Höllenstrafen ist wesentlich umfangreicher und konkreter. Das bleibt charakteristisch für alle bildhaften Höllenvorstellungen in der Geschichte der Kirche bis in die jüngste Zeit. In der Theologie der Alten Kirche vor Augustin hat das Thema „Hölle" im Gegensatz zur Theologie des Mittelalters keinen besonderen Schwerpunkt. Nicht Angst vor dem Tod, sondern Zukunftshoffnung aufgrund der in Christi Auferstehung begründeten Auferstehung der Toten bestimmte die christliche Frömmigkeit, wie dies besonders die Märtyrerberichte zeigen.5 Aber wie ergeht es der Seele unmittelbar nach dem Tod? Schon die Johannes-Apokalypse wußte zwischen einer sofortigen Aufnahme in den Himmel für die Märtyrer und einer allgemeinen Auferstehung der Toten zu unterscheiden. Zwischen Tod und endgültiger Auferstehung und Jüngstem Gericht schob sich in den Jenseitsvorstellungen der frühen Christenheit ein Warte- bzw. Zwischenzustand ein, den Tertullian eine zwischenzeitliche Erquickung nannte (refrigerium interim).6 In dieser Wartezeit vor dem Gericht kann es aber nicht ungerecht zugehen. Die unterschiedlichen Taten und Gesinnungen des irdischen Lebens führen zu einer vorläufigen Scheidung. Bis zum Jüngsten Gericht und der Vollendung der Welt verharren die Seelen somit in einem vorläufigen Freuden- bzw. Leidenszustand, bis der Weltenrichter Christus die endgültige Scheidung vornimmt. Hatte sich Tertullian diesen Zwischenzustand auch örtlich in einem tiefen Schacht der Erde gedacht, so beschreibt Klemens von Alexandrien am Anfang des 3. Jahrhunderts den Zwischenzustand als einen Weg der Seele zu ihrer Reinigung und Läuterung. Die göttliche Erziehung führt die Seele durch das symbolisch verstandene Feuer in eine stetig wachsende Annähe-
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Altendorf, Die Entstehung des theologischen Höllenbildes in der Alten Kirche. In: Katalog der Ausstellung Himmel, Hölle, Fegefeuer (Anm. 1), 27-32. W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 1989. G. Krüger und G. Ruhbach (Hg.), Ausgewählte Märtyrerakten, Tübingen 4 1965; W.H.C. Frend, Martyrdom and Persecution in the Early Church, Oxford 1965. Β. Rotach, Der Durst der Toten und die zwischenzeitliche Erquickung (Refrigerium Interim). In: Himmel, Hölle, Fegefeuer (Anm. 1), 33^10.
Überblick über das Höllenverständnis in der Theologiegeschichte
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rung an die göttliche Vollendung. Von diesem Gedanken einer wachsenden Läuterung der Seele aus ist auch die universale Konzeption des Origenes zu verstehen. In den Streitigkeiten über die Ewigkeit der Höllenstrafen im 17. und 18. Jahrhundert wird das Denken dieses großen Theologen der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts wieder aktuell. Auf Origenes geht die hoffnungsvolle Konzeption einer Wiederherstellung bzw. Wiederbringung aller von Gott abgefallenen geistigen Wesen zurück (Apokatastasis panton). Der Hintergrund für diese Hoffnung ist jedoch nicht eine Theorie bzw. Lehre, nach der alles von Gott ausgegangene Leben wieder in ihn zurückkehrt, so daß der sittliche Ernst im Verhältnis des Menschen zu Gott verlorenginge. Im Gegenteil: Die von Gott abgefallenen Geistwesen, zu denen die Menschen in der Mitte zwischen Engel und Dämonen stehend gehören, müssen in einem universal gedachten Läuterungsprozeß gereinigt werden, was sich in der menschlichen Seele vor allem als Gewissensqualen äußert. So bedrückend gerade diese Qualen in der Gottesferne erlebt werden, so sehr hofft Origenes doch auf ihr schließliches Ende. Den Grund für diese Hoffnung sah er in der Wahrheit und Weisheit Gottes, die von dem begrenzten menschlichen Leben aus nicht erfaßt werden können. Eine ewige Verdammnis für in Raum und Zeit begangene Sünden konnte somit als eine besonders infame Form menschlichen Hochmuts verstanden werden. Nach der sog. Konstantinischen Wende entwickelte sich in der bischöflich geleiteten, durch die Konzilsentscheidungen des 4. und 5. Jahrhunderts dogmatisch gefestigten Reichskirche eine Vorstellung, wonach die Kirche mit ihren sakramentalen Heilsgaben eine Art Brückenfunktion aus diesem Leben in den jenseitigen Wartezustand der Seelen zwischen dem individuellen Tod und dem allgemeinen Weltgericht auszuüben vermochte. Die Fürbitte für die Toten in der Eucharistiefeier und bei Totengedächtnissen wandelte sich in die konkrete Hoffnung, daß die Kirche das Leiden der verstorbenen Seelen im sog. Zwischenzustand günstig beeinflussen könne. Diese Leiden wurden als Bußstrafen für die im Leben begangenen Tatsünden verstanden. Welcher Mensch konnte hoffen, ohne dieses reinigende Feuer in die ewige Seligkeit eingehen zu können? Er müßte im irdischen Leben ohne Sünde gewesen sein. Aus diesen Vorstellungen, die vor allem in der Volksfrömmigkeit lebendig waren, wird es verständlich, daß sich der Zwischenzustand in seiner doppelten Ausrichtung auf vorläufige Seligkeit bzw. Unseligkeit nur noch in Richtung auf einen Strafort entwickelt, der seit dem 12. und 13. Jahrhundert „Purgatorium" oder Fegefeuer genannt wird.7 Dieser folgenreiche Prozeß, der die beherrschende Thematik von Fegefeuer und Hölle im Hoch- und Spätmittelalter verständlich macht, wurde vor 7
M. Illi, Begräbnis, Verdammung und Erlösung. Das Fegefeuer im Spiegel von Bestattungsriten. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer (Anm. 1), 59-68; J. le Goff, die Geburt des Fegefeuers (Anm. 1).
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Der Untergang der Hölle
allem durch die Theologie Augustins und ihre Wirkungen in der abendländischen Christenheit wesentlich beeinflußt und gefördert. Durch seine Sündenund Gnadenlehre ist jeder Mensch seit seiner Zeugung Sünder und begeht Tatsünden, die nach seinem Tod abgebüßt werden müssen. Nach der Taufe ist zwar die Schuld der Ursünde des Menschen vergeben, die sich von Geschlecht zu Geschlecht als Auflehnung gegen Gott, Hochmut und Begehrlichkeit nach dem Sinnlich-Irdischen fortpflanzt. Es bleiben die Strafen für die Tatsünden, die nach dem leiblichen Tod je nach ihrer Schwere erlitten werden müssen. So hat Augustin auch für die ungetauft gestorbenen Kinder eine milde Form von Bestrafung gelehrt und die Ernsthaftigkeit der Höllenstrafen, auch ihren ewigen Charakter, eingeschärft. 8 Durch seine Lehre von dem erwählenden Handeln Gottes, entweder zur ewigen Seligkeit oder zur ewigen Verdammnis, war das Thema Hölle in seiner Endgültigkeit ohnehin präsent. Aber die Kirche hatte ja die Möglichkeit, auf die Verstorbenen, die sich alle im Fegefeuer befinden, so einzuwirken, daß ihre Leiden erträglicher werden. Die Hilfe für diese befristeten Strafen im Fegefeuer war ein bestimmendes Element der mittelalterlichen Frömmigkeit, das schon durch Papst Gregor I. Eingang in Predigt und Seelsorge der Kirche gefunden hatte. Seit Gregor nimmt die Fegefeuer- und Höllenthematik im Mittelalter stetig zu, wobei vor allem der Ausblick auf die Strafen des Fegefeuers und ihre Beeinflußbarkeit in diesem Leben unmittelbar auf die Gestaltung der irdischen Lebensverhältnisse zurückwirkte.9 Die Scheidung zwischen Himmel und Hölle, der ewigen Seligkeit und der ewigen Verdammnis in den Weltgerichtsdarstellungen an den Portalen der mittelalterlichen Dome, entsprach einer Theologie und Frömmigkeit, die Christus vor allem als Weltenrichter verstand. Die Fürbitte Marias und der Heiligen aber galt den leidenden Seelen im Fegefeuer. Es ist verständlich, daß bei dem allgegenwärtigen Tod im Mittelalter das Fegefeuer im Zentrum des Jenseitsglaubens stand, zumal die Kirche hier eine Möglichkeit hatte, durch das Meßopfer eine Brücke zwischen diesem und jenem Leben zu schlagen.10 Wie stark die Vorstellung des Fegefeuers in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit verwurzelt war, wird nicht zuletzt durch die Kritik der reformatorischen Theologie deutlich. Das Fegefeuer ist der eigentliche Streitpunkt zwischen reformatorischen und katholischen Theologen, während sonst in der Lehre von den Letzten Dingen keine großen Kontroversen stattfanden. Die Wiederkunft Christi zum Gericht über Lebende und Tote zählte Luther 8
Vgl. K. Holl, Augustins innere Entwicklung. In: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. ΠΙ. Der Westen, Tübingen 1928, 106f. 9 Vgl. H. Vorgrimler, Geschichte der Hölle (Anm. 2), 136-146. 10 J. Huizinga, Herbst des Mittelalters (1923). Hg. v. K. Köster, Stuttgart 1987; B. Moeller, Spätmittelalter. Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 2, Lfg. H., Göttingen 1966.
Überblick über das Höllenverständnis in der Theologiegeschichte
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zu den Artikeln, über die kein Zank und Streit bestehen. Die überlieferten Vorstellungen von den Ereignissen nach dem Tod des einzelnen Menschen und am Ende der Welt- und Menschheitsgeschichte (Jüngstes Gericht und Wiederkunft Christi, Auferstehung der Toten, ewiges Leben und ewige Verdammnis) gehen auch in die reformatorische Theologie als selbstverständlicher eschatologischer Horizont ein. Aber vor allem in der Theologie Luthers ist das gegenwärtige Leben des Menschen und der Zustand der Welt besonders stark auf die endzeitliche Vollendung ausgerichtet. Das Leben ist eine Wanderung und ein Übergang aus dieser in die ewige Welt, entweder Eingang in den Himmel oder in die Hölle. Dabei konnte Luther die Gefährdung des menschlichen Lebens durch Sünde, Teufel, Tod und Hölle besonders tief erfahren. Die Höllenerfahrung als gegenwärtige Gewissensqual in der Gottesferne der Sünde wird durch die Prädestinationsanfechtung bis in die höchste Verzweiflung gesteigert. In der Ungewißheit über die Vorherbestimmung zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis lehnt sich der Mensch gegen den verborgenen Gott auf und erfährt seinen Zorn, indem er an seiner rettenden Liebe zweifelt. Diese Erfahrung der Trennung von Gott, ja des Gegensatzes und der Feindschaft ihm gegenüber, ist die eigentliche Hölle, die sich somit im Menschen selbst ereignet, und nicht wie im Mittelalter als ein Ort unterhalb der Erde angenommen werden muß. Gegenwärtige Höllenerfahrung in solchen Anfechtungen und Erwartung einer zukünftigen endgültigen Entscheidung im Gericht bedingen sich einander, so daß der gegenwärtige und zukünftige Aspekt in Luthers Eschatologie nicht verselbständigt werden darf. Gerade der in so tiefe Anfechtung und Verzweiflung getriebene Mensch kann die allein von Gott herkommende Rettung in Glaube und Hoffnung annehmen. In seinem Wort führt er uns nicht nur in die Anfechtung, sondern auch in die Erlösung und die Eröffnung des ewigen Lebens, indem er sich uns in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi als der Überwinder von Sünde, Tod und Hölle erweist." In der nachreformatorischen Theologie vollzieht sich in der Lehre von den Letzten Dingen und insbesondere im theologischen Höllenbild ein differenzierter Entwicklungsprozeß, bei dem die Elemente von Kontinuität und Wandlung gegenüber der Tradition verschieden stark akzentuiert sind. Auch die protestantische Theologie des konfessionellen Zeitalters ist wie die reformatorische Theologie im Zentrum auf die eschatologische Vollendung des einzelnen menschlichen Lebens wie der ganzen Welt ausgerichtet.12 Die in 11
Vgl. E. Kunz, Die Eschatologie Martin Luthers. In: Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. IV, Faszikel 7 c (1. Teil): Protestantische Eschatologie. Von der Reformation bis zur Aufklärung, Freiburg 1980, 3-22. 12 Vgl. C.H. Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung Π, Gütersloh 1966, 248-270; E. Kunz, Die Eschatologie der altprotestantischen Orthodoxie (Anm. 11), 43-67.
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Der Untergang der Hölle
Jesus Christus geschehene und im Wort der Schrift vermittelte Offenbarung Gottes zielt auf ihre Erfüllung am Ende des menschlichen Lebens und am Ende der Zeiten. Das Handeln Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und die Antwort des Menschen darauf in Anfechtung und Glaube haben in der Eschatologie der nachreformatorischen Theologie nicht mehr die zentrale Stellung wie insbesondere in der Theologie Luthers. Eine leichte Akzentverlagerung vom Heilshandeln Gottes zur Begründung der eschatologischen Aussagen auch von den Einsichtsmöglichkeiten des Menschen aus ist schon in der Theologie der Reformatoren des 16. Jahrhunderts zu beobachten und setzt sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts verstärkt fort. Für die Problematik der Höllenstrafen ist es dabei von besonderer Bedeutung, ob die Endereignisse mehr im Lichte von Gottes Liebe bzw. seiner Gerechtigkeit gesehen werden. Die unterschiedlichen Ansätze in der Deutung der Endzeitereignisse in der nachreformatorischen Theologiegeschichte sind wesentlich als Akzentverlagerungen in der Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes zu verstehen. Die durchgängige Betonung der Ewigkeit der Höllenstrafen im Gegenüber zur ewigen Seligkeit wird in der Theologie der lutherischen Orthodoxie vor allem mit dem Begriff der Gerechtigkeit Gottes begründet. In der Theologie des Pietismus verlagert sich der Hauptakzent auf die erlösende Liebe Gottes in Jesus Christus, die bei wichtigen Vertretern zu einer Lehre von der Allversöhnung führt, die eine ewige Verdammnis ausschließt und die Heilsgeschichte in fortschreitenden Prozessen in Gottes Allmacht und Liebe vollenden läßt. Die sich seit dem 17. Jahrhundert stärker äußernden rationalen Argumentationen auch in der Eschatologie kommen in der Theologie der deutschen Aufklärung erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zum deutlichen Ausdruck. Aber das differenzierte Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bleibt mancherlei Wandlungen unterworfen. Mit Hilfe rationaler Kritik konnte z.B. die Ewigkeit der Höllenstrafen vom Begriff der Gerechtigkeit Gottes aus sowohl abgewiesen wie auch verteidigt werden. Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts führte ein deutscher Aufklärungstheologe einen ausführlichen rationalen Beweis für die ewigen Höllenstrafen durch,13 während schon der Sozinianer Ernst Soner (1572-1612) sie deutlich abgewiesen hatte.14 An der UnVerhältnismäßigkeit zwischen Zeit und Ewigkeit mußten ewige Strafen für irdische Vergehen an dem Begriff der Gerechtigkeit Gottes scheitern. Dieses Argument und verschiedene andere führten schließlich am Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Aufklärungstheologie zu einer strikten Leugnung der ewigen Höllenstrafen.
13 Johann Ernst Schubert, s.u. 196ff. 14 Das Werk Soners über die Höllenstrafen konnte erst 1654 im Druck erscheinen: „Demonstratio theologica et philosophica, quod aetema impiorum supplicia non arguant Dei iustitiam sed iniustitiam."
Meyfarts eschatologische Trilogie
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Seit der Kritik Kants an den metaphysischen Aussagen der Theologie und der Neugestaltung der traditionellen Eschatologie in der Theologie Schleiermachers hat die Höllenthematik in der deutschen evangelischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts vielfältige Interpretationen gefunden, ohne jedoch im Zentrum des theologischen Nachdenkens zu stehen. Nach diesem Überblick über das Thema „Hölle" in der Theologiegeschichte wollen wir uns nun den Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der deutschen evangelischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts anhand von vier ausgewählten Beispielen näher zuwenden. Nicht nur in theologischen Werken, sondern vor allem auch in der Erbauungsliteratur kommt die Höllenthematik im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie in umfangreichen Darlegungen zum Ausdruck. Gelehrte Theologie und Volksfrömmigkeit leben nicht in getrennten Welten, sondern bilden bei den meisten Theologen dieser Epoche eine Einheit. In drei umfangreichen Büchern hat sich der Coburger Gymnasialprofessor Johann Matthäus Meyfart in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an einen breiten Leserkreis gewandt. Der 1590 in Jena geborene Meyfart besuchte das damals berühmte Gymnasium in Gotha und erhielt seine vielseitige gelehrte Bildung durch sein Studium an den Universitäten in Jena und Wittenberg. In Jena traf er mit Johann Saubert (1592-1646) zusammen, mit dem er fortan freundschaftlich verbunden blieb. Beide in ihrer Theologie und Frömmigkeit nah verwandte und mit zahlreichen Werken viel gelesene Theologen des 17. Jahrhunderts waren in ihrer Studienzeit in Jena vor allem von Johann Gerhard geprägt, der seit 1616 in Jena als berühmter Professor der Theologie lehrte. Von 1610— 1625 erschienen seine „Loci theologici", eines der bedeutendsten theologischen Werke des orthodoxen Luthertums. Von 1617-1633 war Meyfart Professor am akademischen Gymnasium in Coburg, dem sog. Casimirianum, ab 1623 als Direktor. Von 1633-1642 wirkte Meyfart als Professor an der neu errichteten lutherisch-theologischen Fakultät der Universität Erfurt, bald auch als Rektor der Universität sowie als Pfarrer an der Predigerkirche und Senior des evangelischen Ministeriums. In seinem kurzen Leben, das durch die schweren Kriegszeiten des Dreißigjährigen Krieges geprägt ist, verfaßte er eine Vielzahl von gelehrten, lateinisch geschriebenen theologischen Schriften, an die sich umfangreiche, meist aus Predigten entstandene deutsche Erbauungsbücher anschließen.15 Der Blick auf das Ende des menschlichen Lebens und aller irdischen Geschicke kommt in einer umfangreichen eschatologischen Trilogie zum Aus-
15 Zu Meyfart s. die neueren Untersuchungen: Chr. Hallier, Johann Matthäus Meyfart. Ein Schriftsteller, Pädagoge und Theologe des 17. Jahrhunderts, Neumünster 1982 und E. Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987.
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Der Untergang der Hölle
druck, die über das „Himmlische Jerusalem", „Das höllische Sodoma" schließlich zum „Das Jüngste Gericht" führt. Schon in seinem Predigt-Zyklus über die Posaune des Jüngsten Gerichts, der „Tuba novissima", hat er die „Vier letzten Dinge des Menschen", d.h. Tod, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle, sehr bildhaft und z.T. in direkter Rede Christi und des Teufels zum Ausdruck gebracht.16 Im Zusammenhang dieses Werkes ist auch das bekannte Lied Meyfarts „Jerusalem, du hochgebaute Stadt" entstanden, das in das Evangelische Kirchengesangbuch und in das neue Evangelische Gesangbuch eingegangen ist. Die theologische Grundlage für die Darlegung der Endzeitereignisse hatte Meyfart im 9. Band von Gerhards „Loci theologici" (1622) gefunden. An das hier umfangreich dargelegte ewige Leben als Ziel und Ende aller Glaubensartikel schließt sich Meyfart an, aber in seiner dichterischen, anschaulichen Sprache rücken die Endzeitereignisse sehr eindringlich nahe an die Leser heran, die Meyfart damit im Glauben festigen und vor Leichtsinn und Resignation bewahren möchte. Die beiden Bände Meyfarts über die Hölle17 entsprechen im Aufbau und bis in die Einzelheiten hinein den beiden über den Himmel. Die drastischen Ausführungen über die Hölle dürfen also nicht isoliert gesehen werden; der Triumph über die Hölle im Jüngsten Gericht und die unaussprechlichen Freuden der im himmlischen Jerusalem Versammelten geht gewiß nicht ohne Grund der Schilderung der Hölle voraus. Aber für das theologische Höllenbild in der lutherischen Orthodoxie ist gerade dieses Werk Meyfarts besonders charakteristisch. Wir wollen es deshalb in einigen Hauptzügen vorstellen. Wie das Buch über das „Himmlische Jerusalem" im ersten Teil von dem Zustand der auserwählten Seelen bis zur allgemeinen Totenauferstehung handelt, beschreibt das erste Buch des „Höllischen Sodoma" den „erbärmlichen und schrecklichen Zustande aller verfluchten Seelen/ nach dem unseligen Abschiede aus diesem Leben/ biß zu der allgemeinen Aufferstehung der Todten" 18 . Der zweite Teil handelt vom „Jüngsten Gericht" und der ewigen Verdammnis, entsprechend im „Himmlischen Jerusalem" dem seligen Leben der Kinder Gottes und dem Zustand der Auserwählten von der allgemeinen Totenauferstehung bis in die unendliche Ewigkeit. Diese Zweiteilung im Werk über den Himmel und die Hölle bei Meyfart spiegelt den Individualund Universalaspekt in der Eschatologie der lutherischen Orthodoxie wider. Allerdings besteht in der Frage, ob die Seelen gleich nach dem Tod die Scheidung in die ewige Seligkeit bzw. Verdammnis erfahren oder bis zur
16 Vgl. zu diesen Werken Meyfarts E. Trunz (Anm. 15), 101-162. 17 „Das hellische Sodoma", Coburg 1630. Friederich Gruners Buchhandlung. Aus dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. 18 Cap. 1, 1.
Meyfarts eschatologische Trilogie
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allgemeinen Totenauferstehung im Wartestand eines glücklichen bzw. qualvollen Lebens verharren, keine volle Einigkeit. Die lutherisch-orthodoxen Theologen neigen jedoch in ihrer Mehrzahl dazu, daß die Seele sogleich nach dem Tod entweder der ewigen Seligkeit oder der ewigen Verdammnis teilhaftig wird (Partikulargericht). Von diesem Standpunkt aus ergeben sich aber gewisse Schwierigkeiten, der allgemeinen Totenauferstehung, dem universalen Gericht und der Weltvollendung noch die dem biblischen Zeugnis gemäße Bedeutung zu geben. In der großen eschatologischen Trilogie Meyfarts, die ja mit einem eigenen Werk über das „Jüngste Gericht" abschließt, kommt der universale, auf die ganze Schöpfung und ihre Neuwerdung ausgerichtete Horizont gegenüber dem individuellen Schicksal der Seele nicht zu kurz. Was Meyfart mit seinen umfangreichen Darlegungen über die Endzeitereignisse eigentlich erreichen will, schreibt er in der „Vorrede an den christlichen Leser" im zweiten Buch des „Höllischen Sodoma": Er möchte wie viele Theologen vor und neben ihm, daß Lehre und Leben wieder zusammenkommen, „daß beydes die Polemica und Practica endlich auff einen Schluß außgehen. Dann warumb wird die reine Lehre wider die Irrthumb vertheidiget/ wenn es nicht geschieht/ auff daß ein Christliches Leben gepflantzet werde? Warumb wird ein Christliches Leben so streng urgiret/ wenn es nicht geschieht/ auff daß die reine Lehre dadurch practiciret und erhalten werde?" 19 Wie Johann Arndt und seinem Freund Johann Saubert in Nürnberg geht es Meyfart gerade auch im Blick auf das Ende des menschlichen Lebens und der Welt um den Zusammenhalt von Lehre und Leben. Gelehrte Polemik gegen die Irrtümer in der Lehre nützt nichts, wenn im Leben Gleichgültigkeit oder Leichtfertigkeit vorherrschen. Eine Hauptursache dieses Übels ist die Mißachtung der Schwere der Sünde. Deshalb will Meyfart seinen Lesern so eindringlich wie möglich die Hölle vor Augen stellen, damit sie zum himmlischen Jerusalem erweckt und von dem höllischen Sodoma abgeschreckt werden. Der auf die rechtzeitige Umkehr in diesem Leben abzielende Impetus der Höllendarstellung Meyfarts muß schon gegen eine verbreitete Verharmlosung des Ernstes der Höllenstrafen ankämpfen: „[...] weil fast niemand die hellische Pein und Qual recht verstehet/ sondern hält davor/ es werde entweder gar nichts/ oder doch weit gelinder seyn."20 Die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit Gottes sind zwar unermeßlich groß, aber sie müssen beide zu ihrem Recht kommen. Deshalb fragt Meyfart warnend: „[...] were das nicht eine Thörichte Unbesonnenheit/ wenn jemand vermeynen wolte/ daß der Arm der Barmhertzigkeit länger were/ als der Arm der Gerechtigkeit [,..]?" 21 Im Bußgebet, das Meyfart an
19 Vorrede zum 2. Buch. 20 Vorrede zum 1. Buch, A m f . 21 Avf.
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Der Untergang der Hölle
den Anfang seines Werkes stellt, heißt es zwar: „Du bist ja geneigter zu der Barmhertzigkeit/ als zu der Gerechtigkeit"22, aber das schließt die Ehrfurcht und den Ernst vor der Gerechtigkeit Gottes ein. Es gibt ein Ende der Zeit der Gnaden, die Gott jedem Menschen in seinem Leben anbietet: „In diesem Leben stehet offen das Thor der Barmhertzigkeit: Nach diesem Leben wird es gesperret/ und daran geleget/ das Schloß der strengen Gerechtigkeit." 23 Den Beweis für die Realität der Hölle führt Meyfart mit einer Zusammenstellung von alt- und neutestamentlichen Bibelstellen sowie mit „außerlesenen Exempeln". So plastisch Meyfart auch von den zukünftigen Ereignissen berichten kann, z.B. „Von dem Jubelgeschrey/ welches in dem hellischen Sodoma entstehet unter den bösen Geistern/ wegen der Ankunfft einer verdampten Seele"24, so ist doch auch die gegenwärtige Erfahrung der Hölle im Geiste Luthers präsent. Wie das ewige Leben bei den Auserwählten in dieser Welt schon anfängt, so betont Meyfart: „Das bey den Gottlosen offtmahls die hellische Pein in diesem Leben angehe."25 Mit der ganzen lutherischen Orthodoxie stellt Meyfart unmißverständlich und drastisch die Ewigkeit der Verdammnis und der Höllenstrafen heraus. Wie die ewige Freude der Auserwählten vor allem in dem Schauen Gottes besteht, so werden die Verdammten Gott nie sehen und in ewiger Furcht leben. Das letzte Kapitel des ersten Buches handelt „Von der Furcht aller Verdampten in dem hellischen Sodoma" 26 . Hier herrscht höchste Traurigkeit und höchste Verzweiflung, vor allem aber höchste Furcht. Sie entsteht durch den Ausblick in eine nicht endende Strafe: „Fürnemlich aber entstehet die Furcht daher/ weil ihnen von dem gestrengen Richter in dem Endurtheil angezeiget worden/ diese Straff solle nicht in einem gemeinen Jahr/ nicht in einem halben Jahr/ nicht in einem Jubel-Jahr/ nicht in hundert tausend Jahren/ nicht in viel tausend Millionen der Millionen Jahre/ geendet/ sondern von einer Ewigkeit zu der andern/ durch eine Ewigkeit von der andern/ und durch eine Ewigkeit zu der andern fortgesetzet werden." 27 Die Verdammten verfluchen den Tag ihrer Geburt und erleiden Qualen, die Meyfart in traditionell-bildhafter Weise zu beschreiben versucht. Gestützt auf Bibelstellen und Zitaten aus Kirchenvätern, vor allem Chrysostomus, Augustin und Bernhard, ist die Hölle die Stätte des quälenden Feuers, das nicht verbrennt, und der abgrundtiefen Finsternis. Die größten Schmerzen bereiten aber nicht diese bildhaften Steigerungen irdischer Qualen, sondern die ewige Ausgeschlossenheit von der Gnade Gottes. Das 22. Kapitel handelt „Von dem Schmertzen in dem
22 23 24 25 26 27
11. Cap. Cap. Cap. Cap. 650.
22,426. ll,225ff. 4, 63. 31,648ff.
Meyfarts eschatologische Trilogie
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hellischen Sodoma/ wegen ewiger Beraubung der Gnaden und des Trosts" 28 . Reue und Trost kann es in der Hölle nicht geben. Mit dieser strikten Herausstellung der Ewigkeit der Höllenstrafen kämpft Meyfart gegen die Unbußfertigkeit an, die er im Leben seiner Zeitgenossen als Hauptsünde versteht. Der Ausblick auf ein Ende der Strafen kann nur die Leichtfertigkeit noch erhöhen oder gar der Ansicht Vorschub leisten, daß es gar keine Hölle gibt. Im zweiten Buch handelt das 14. Kapitel über den Beweis der Ewigkeit der Höllenstrafen: „Allhier wird bewiesen/ daß die Qual in der Hellen ewig sey: Daher folgert/ daß die jenigen sehr irren/ welche/ als ob sie sich dermal eins ende/ ihnen einbilden."29 Der gerechte Gott sucht die zeitlichen Sünden der Verdammten mit ewigen Qualen heim. In vier Punkten begründet Meyfart, warum die Verdammnis ewig sei:30 1. Die Gottlosen sündigen zwar zeitlich in diesem Leben, sie begehren aber ewiglich zu sündigen, nur der Tod hindert sie daran. 2. Die Verdammten verharren in der Hölle in steter Unbußfertigkeit, sie lästern Gott und seinem Sohn. 3. Die Verdammten haben den ewigen und unendlichen Gott beleidigt (Berufung auf Augustin). 4. Gott hat in seinem wahrhaftigen Wort sowohl die ewige Seligkeit wie die ewige Verdammnis vorgelegt! Auch auf Origenes kommt Meyfart zu sprechen, vielleicht in Aufnahme der Auseinandersetzung Johann Gerhards mit ihm und den Sozinianem. Es ist ein falscher Wahn zu meinen, Gott werde sein schönes Ebenbild nicht wegwerfen! Mit Augustin antwortet Meyfart auf Origenes: „Origenes zwar ist in der Meynung gewesen/ es were der unmeßlichen Barmhertzigkeit zu wider/ wenn die Verdammpten in der Hellen die ewige Straff leyden mußten? Aber demselben hat schon lengst geantwortet der alte Augustinus unnd geschrieben: ,Ein jedes Bubenstück sol nicht nach der lenge der Zeit/ in welcher es ein Mensch verübet: Sondern nach der grosse der Boßheit/ mit welcher er gesündiget/ geurtheilet werden.'" 31 Meyfart klagt: „Es ist aber leyder und abermahl leyder/ alle Hoffnung den Verdampten abgeschnitten/ rund abgeschlagen/ und in Ewigkeit versaget."32 Dennoch muß er feststellen: „Die Menschen aber sind so verführet/ daß sie zwar erfahren/ aus der Hellen sey keine Erlösung/ unnd könne aus dem Ort niemand wiederum zurückkommen: Und dennoch ihnen daher die Gedancken schöpffen/ es müsse gar keine Hell seyn."33 Allein die Ewigkeit macht die Hölle so furchtbar, so daß Meyfart 28 425ff. 29 194ff. 30 301f. 31 299. 32 312. 33 336.
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Der Untergang der Hölle
folgert: „[...] were es doch billig/ daß ein Christgleubiges Hertz nur wegen der Ewigkeit sich eines besseren besinne und ware Busse thue." 34 Damit ist das Ziel der Bemühungen Meyfarts noch einmal deutlich unterstrichen: Noch gibt es Rettung, noch ist Zeit zur Umkehr, wenn das tägliche Bedenken der Höllenpein zum demütigen Hilferuf um die Barmherzigkeit Gottes führt. Mit einem Gebet endet darum auch das über tausend Seiten im Oktav-Format umfangreiche Werk Meyfarts über die Hölle. Theologie und Frömmigkeit stehen im gesamten 17. Jahrhundert gewiß nicht weniger als im Jahrhundert der Reformation unter einem ausgeprägten eschatologischen Horizont. Die Ausrichtung auf die zukünftige Vollendung des Lebens der einzelnen Menschen, der Menschheitsgeschichte und der gesamten Schöpfung ist Grund und Ziel aller theologischen Aussagen sowie des frömmigkeitlichen Lebens. Kam schon der universale Aspekt der Endvollendung in der Christologie Melanchthons in seinen „Loci theologici" deutlich zum Ausdruck, 35 so rückt die Eschatologie in dem monumentalen Werk Johann Gerhards zwar ans Ende, nimmt aber in seinen „Loci theologici" einen umfangreichen und gewichtigen Platz ein.36 Diese bedeutsame Stellung verliert die Lehre von den Letzten Dingen auch nicht durch den Wandel von der sog. Loci-Methode zur analytischen Methode. Die auf das Heilsziel ausgerichtete theologische Systematik kam somit auch gleich am Anfang eines dogmatischen Werkes auf die Eschatologie zu sprechen, womit alle weiteren theologischen Aussagen unter diesen Hauptaspekt gestellt waren. Aufgrund der ausgebildeten Lehre von der Heiligen Schrift war es der Theologie der lutherischen Orthodoxie möglich, die Endzeitereignisse auf dem Fundament der Schrift gültig auszusagen, bevor über die menschlichen Anfechtungs- und Glaubenserfahrungen in der Begegnung mit dem Wort Gottes reflektiert wurde. Aber die von Luther so stark akzentuierte Gewissenserfahrung als Zugang zu den endzeitlichen Wirklichkeiten des Himmels und der Hölle ist auch der orthodoxen Theologie nicht unbekannt. Dieser Erfahrungshorizont findet sich im 17. Jahrhundert vor allem in der lutherischen Erbauungsliteratur.37
34 321. 35 Vgl. E. Kunz (Anm. 11), 45. 36 J. Gerhard, „Loci theologici" (1610-1625), XXXI, 1: „Das ewige Leben als Ziel und Ende aller Glaubensartikel." 37 Unter dem Ausdruck „Vorschmack des ewigen Lebens" im Glauben kommt dies vor allem in den Erbauungsbüchem von Johann Arndt und Joachim Lütkemann zum Ausdruck: J. Arndt, „Vier Bücher vom Wahren Christentum", 1605-1610, und J. Lütkemann, „Vorschmack göttlicher Güte", 1653. Vgl. dazu den Aufsatz „Johann Arndt und Joachim Lütkemann - zwei Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur" in diesem Band.
Von der lutherischen Orthodoxie zum Pietismus
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Im Verlauf des 17. Jahrhunderts verstärkt sich die Tendenz, die endzeitlichen Wirklichkeiten neben der Begründung durch die Schriftaussagen auch für die menschliche Einsicht und Erfahrung zugänglich zu machen. Haben die philosophisch-rationalen Argumente für die Wirklichkeit des ewigen Lebens und die Unsterblichkeit der Seele weithin nur eine unterstützende Funktion für die Wahrheit aus der Offenbarung, so zeigt vor allem der starke ethische Impetus in den endzeitlichen Darstellungen der lutherischen Erbauungsliteratur, wie sehr hier Lehre und Leben ineinandergreifen. Gerade von der Lehre von den Letzten Dingen gehen starke Impulse im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie auf die frömmigkeitliche Praxis aus, wie sie sich in den zahlreichen Werken der Erbauungsliteratur niederschlägt.38 Die eschatologische Trilogie Meyfarts ist hier nur ein Beispiel unter zahlreichen anderen. Aber sie zeigt besonders deutlich das Bemühen, mit Hilfe der orthodoxen Eschatologie (vor allem Johann Gerhards) auf das tatsächlich gelebte Leben der Zeitgenossen einzuwirken. Das gilt gerade auch von dem Höllenbild Meyfarts, das zur Umkehr in diesem Leben führen will. Die Klammer zwischen diesem und dem jenseitigen Leben bildet die Gerechtigkeit Gottes, die uns zu seiner Gnade und Barmherzigkeit führen will, solange es Zeit ist. Diese Verklammerung zwischen diesem Leben und der kommenden Welt Gottes verstärkt sich nun ganz besonders in jener Richtung von Frömmigkeit, Theologie, kirchlicher und sozialer Reformbewegung, die wir mit dem Begriff „Pietismus" zu bezeichnen pflegen. Das Verhältnis von Orthodoxie und Pietismus unter notwendigem Einschluß der so wichtigen Erbauungsliteratur läßt sich nicht unter dem vereinfachenden Aspekt einer bloßen Akzentverschiebung von der Lehre zum Leben, von der abstrakten Theorie zur gelebten Frömmigkeit verstehen.39 Das sich durch das ganze orthodoxe Zeitalter hindurchziehende Drängen auf praxis pietatis kommt in der Theologie des Pietismus allerdings unter andere Vorzeichen. Nicht das zum Gericht eilende Geschehen auf dieser Welt und die Beobachtung von bedrohlichen Zeichen bei seinem nahenden Kommen stehen nun im Vordergrund, sondern die erwartungsfrohe Hoffnung auf einen bald eintretenden besseren Zustand für die Kirche auf Erden und das Kommen des Reiches Gottes. Das ist erheblich mehr als nur ein Stimmungswandel, es ist eine Neuorientierung, die für die gesamte Theologie sowie für das Geschichts- und Kirchenverständnis von 38
Erwähnt seien hier nur Philipp Nicolai, „Freudenspiegel des ewigen Lebens", 1599; Martin Moller, „Praxis evangeliorum" 1601 und Johann Gerhard, „Meditationes sacrae", 1606. 39 Das Klischeebild von der lutherischen Orthodoxie als einer nur von abstrakter Lehre und Polemik erfüllten Zeit kann heute durch die Forschung - allerdings leider noch nicht im allgemeinen Bewußtsein! - als überwunden gelten. S. den Band „Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988", SVRG 197. Hg. v. H.-Chr. Rublack, Gütersloh 1992.
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Der Untergang der Hölle
großer Bedeutung ist. Dabei kommt der ethische Impetus, der sich in der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte schon lange vor dem Pietismus so kräftig zeigte, nun erst zu seiner vollen Entfaltung. Denn wenn aus dem Wort der göttlichen Verheißung der Mensch im Glauben erneuert und wiedergeboren wird, dann ist dies ein ganzheitliches Geschehen, das schon in diesem Leben deutliche Früchte trägt. Dem Willen Gottes im eigenen Leben und im Leben der Gemeinschaft Gestalt zu geben - das ist das gemeinsame Fundament, auf dem sich alle so verschiedenartigen pietistischen Theologen zusammenfinden. In der Konsequenz aber dieses Gestaltungswillens liegt es nahe, daß sich bei nicht wenigen Vertretern des Pietismus ein deutliches Interesse am alten Gedankengut des Chiliasmus zeigt.40 Der Weg des Christen vom rechtfertigenden Glauben in der Wiedergeburt zu einer umfassend verstandenen Erneuerung der christlichen Existenz vollendet sich zwar erst in der Seligkeit der Vereinigung mit Gott. Aber von diesem Ziel her wird schon der ganze diesseitige Weg hell erleuchtet. Die Hoffnung auf das ewige Leben der Gemeinschaft mit Gott ist die Hauptantriebskraft für die ganzheitlich verstandene Erneuerung des diesseitigen Lebens, in dem das selige Leben schon beginnt. Diese starke Ausrichtung auf das schon hier und jetzt mögliche und wirkliche erneuerte christliche Leben war schon einmal geschichtliche Wirklichkeit in der Zeit des Urchristentums. Das ist für Spener ein geschichtlicher Beweis dafür, daß eine geistgewirkte christliche Erneuerung im Raum der Geschichte grundsätzlich möglich ist.41 Durch das Ernstnehmen der biblischen Verheißungen wird aus solchen Erwägungen die feste Zuversicht auf einen sich schon bald verwirklichenden besseren Zustand für die Kirche auf Erden. Es ist verständlich, daß eine solche Hoffnung Antriebskräfte entfaltet, die schon bei der Gestaltung des christlichen Lebens in dieser Zeit Früchte tragen. Das Reich Gottes wird damit freilich nicht herbeigezwungen, die christliche Hoffnung richtet sich auf Gottes Handeln in der Geschichte. Aber dieses bleibt nicht wie bei Luther grundsätzlich verhüllt, sondern kann schon im Erneuerungsprozeß der christlichen Existenz in dieser Zeit zu sichtbaren Gestaltungen führen. Von diesem Ansatz aus kommt es in der pietistischen Theologie zu Äußerungen über das Heilswirken Gottes in der Geschichte, das durch die verschiedenen Perioden der Heilsgeschichte bis zur Vollendung fortschreitet. Was für die Gesamtgeschichte gilt, trifft auch auf das Leben des einzelnen 40
41
Zum Chiliasmus im 17. Jahrhundert: J. Wallmann, Zwischen Reformation und Pietismus. Reich Gottes und Chiliasmus in der lutherischen Orthodoxie. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 105-123; PuN 14: Chiliasmus in Deutschland und England im 17. Jahrhundert, Göttingen 1988. Zu Speners Eschatologie: J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2 1986, 324-354; Ders., Pietismus und Chiliasmus. Zur Kontroverse um Philipp Jakob Speners „Hoffnung besserer Zeiten". In: ZThK 78, 1981, 235-266.
Johann Wilhelm Petersen
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Menschen zu: Der leibliche Tod setzt hier einer weiteren Entwicklung keine Grenze. Die von Origenes reflektierte Dimension einer Allversöhnung, in der alles von Gott ausgegangene Leben wieder zu ihm zurückfindet, hat in der Theologie des Pietismus deutliche und verhaltene Befürworter gefunden. 42 Im Horizont der Apokatastasis panton, der Lehre von der Wiederbringung aller Dinge, kommt die Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu erheblich stärkerem Ausdruck als seine Gerechtigkeit. Die Ewigkeit der Höllenstrafen mußte von hier aus als die große Störung in dem weiträumig gedachten Erziehungsund Entwicklungsprozeß verstanden werden, mit dem Gott schließlich seine Schöpfung wieder zu sich selbst zurückführt. Ein vom Chiliasmus und der Lehre von der Allversöhnung besonders nachhaltig geprägter Theologe in der Geschichte des Pietismus ist Johann Wilhelm Petersen.43 Kurz nach dem Westfälischen Frieden wurde er in Osnabrück 1649 geboren und kam nach seinen Studienjahren in Gießen und Rostock mit den Anfängen der pietistischen Bewegung in Frankfurt am Main um Spener und Schütz in engste Berührung. Hier hat er auch seine spätere Frau Johanna Eleonora von Merlau kennengelernt, eine durch ihr Wirken und ihre Werke besonders bedeutsame Frau in der Geschichte des Pietismus. Der Berufsweg Petersens führte schnell aufwärts und in wichtige kirchliche Ämter: Nach der kurzen Zeit als Professor für Poesie in Rostock und einer ebenso kurzen Zeit als Stadtpfarrer in Hannover wurde Petersen 1678 Hofprediger in Eutin und Superintendent im damit verbundenen Fürstbistum Lübeck. Die von einem im kirchenleitenden Amt stehenden Theologen erwartete theologische Doktorpromotion erhielt er 1686 in Rostock. Sein Weg führte schließlich 1688 in das Amt eines Superintendenten in Lüneburg. Nach kurzer Zeit traten hier erhebliche Konflikte auf, die schließlich über einen Konsistorialprozeß 1692 zu seiner Amtsenthebung führten. Neben den menschlichen Unzulänglichkeiten auf beiden Seiten war für dieses Scheitern Petersens im kirchlichen Amt vor allem seine selbstbewußte Amtsführung verantwortlich. Seitdem lebte das Ehepaar Petersen, durch vermögende Freunde unterstützt, in der Nähe von Magdeburg. Seit 1694 trat neben dem Chiliasmus vor allem die Lehre von der Allversöhnung in den Mittelpunkt ihrer zahlreichen Schriften. Johanna Eleonora Petersen starb 1724, ihr Mann 1726.
42 43
Der Gedanke der Allversöhnung findet sich besonders bei Arnold, Petersen, Bengel, Oetinger, Zinzendorf. Vgl. M. Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692 (AGP, Bd. 30), Göttingen 1993. Zur Eschatologie Petersens: W. Nordmann, Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus. Geschichtliche Grundlagen der Eschatologie bei dem pietistischen Ehepaar Petersen. In: ZKG 50, 1931,146-185; K. Lüthi, Die Erörterung der Allversöhnungslehre durch das pietistische Ehepaar Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. In: ThZ 12, 1956, 362-377; D. Blaufuß, Art. Petersen, Johann Wilhelm. In: TRE 26, 1996, 248-254.
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In dem umfangreichen Schrifttum Petersens, vor allem in seinen zahlreichen Traktaten, in denen er die Lehre von der Wiederbringung ausbreitet, nimmt der Kampf gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen verständlicherweise einen zentralen Platz ein. Dabei ist Petersen stets bemüht, seine Argumentation streng auf der Grundlage der Bibel durchzuführen. Auf seiner Bibelauslegung basiert auch seine Sicht von den verschiedenen Ökonomien Gottes, oder, wie Petersen sagt, der „Ordnung Gottes", die schließlich alles von Gott ausgegangene Leben wieder zu ihm zurückführen läßt. Das Gottesbild Petersens ist stark von der Einheit von Wille und Tat bestimmt. Was Gott will, kann nicht ohne Wirkung bleiben, sein Liebeswille wird sich schließlich durchsetzen. In seiner Schrift „Der Bekräfftigte Origenes, In der Lehre von der Wiederbringung aller Dinge [,..]" 44 sieht Petersen biblische Gestalten wohl in der Hölle, aber nicht für endgültig: „Judas/ Caiphas/ Herodes/ und der reiche Mann/ sind freylich in der Höllen; davon man nicht liset/ daß sie daraus seyen erlöset worden [...] aber man liset auch nicht in der Schrifft/ daß sie nimmermehr sollen erlöset werden; weil das Sprichwort: Auß der Höllen ist keine Erlösung; nirgends in der Bibel zu finden ist. So lange ihr Termin der straffe noch nicht um ist/ so lange müssen sie wol in der Höllen bleiben. Wenn aber solche vorbey/ und die Zeit komt/ daß Gott der Herr alles neu machet/ was vorhin alt und elend war: so werden auch solche/ als Creatoren/ die mit unter das Alles gehören/ neu gemachet seyn/ und sind nicht mehr Verräther/ blutgierige/ noch Teufel/ sonder der Teufel ist von der Creator des Engels abgesondert/ und alle teuffliche Eigenschafften sind von ihnen abgebrannt/ und mit dem feurigen Pfui auffgehoben." 45 Nicht gegen die Strafen als solche, aber gegen ihre ewige Dauer wendet sich Petersen entschieden. Aus der Schrift meint er ein unterschiedliches Verständnis von Ewigkeit erkennen zu können. Nur Gott ist ewig ohne Anfang und Ende: „Denn die Pein-Ewigkeit hat mit der Sünde/ darauff die Pein folget/ einen Anfang/ und höret auff bey der Neumachung aller Dinge: aber Gott hat keinen Anfang; und das Gute hat den Anfang auß Gott/ und höret nicht auff: und was einmal gut gewesen/ und in den Fall gekommen/ das machet der gute Gott wieder gut. Wann derowegen gleich Gott und die Pein ewig genannt werden/ so ist es nicht eine gleich-lauffende oder gleich-daurende Ewigkeit." 46 Erst die Wahrheit von der Wiederbringung aller Dinge kann neben dem ewigen Wesen Gottes auch seine Eigenschaften erkennen „in seiner Heiligkeit/ Gerechtigkeit/ Allmacht/ Weißheit/ Wahrheit/ und Barmhertzigkeit/ und wie alles in rechter und schönster Ordnung und Harmonie stehe/ und sowol
44 45 46
Der Traktat, an dem noch weitere kleinere Schriften Petersens angebunden sind, erschien 1716. Aus ihm wird im folgenden zitiert. 7f. 9.
Johann Wilhelm Petersen
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eine jede Sünde und Untugend [...] nach der allergenauesten und schärffesten Gerechtigkeit Gottes ihre wolverdiente und proportionirte gerechteste Straffe empfange [...] als auch danebst die Barmhertzigkeit den Preiß und den Ueberschwang behalte/ und sich gegen das Gericht dergestalt rühme/ daß durch die Krafft des allgemeinen und ewiglich-geltenden blutigen VersöhnOpffers/ des großen Wiederbringers und Schlangen-Treters/ alles was eine Creatur Gottes ist/ und durch die Sünde in den Fluch und Zorn gerathen/ endlich wieder versöhnet/ begütet/ versüsset/ und in seinen anfänglichen guten und seligen Stand wieder versetzet und hergesteilet ist [.. .]."47 Wie dieses Zitat deutlich macht, kommt es Petersen bei der Erkenntnis der Eigenschaften Gottes vor allem auf das Versöhnungswerk Christi an. Er nennt es das „ewige Evangelium von der Weite und Breite/ der Höhe und der Tieffe der Liebe Gottes" 48 . Petersen wendet sich scharf gegen den Vorwurf, die Wiederbringungslehre würde das Versöhnungswerk Christi aushöhlen. Christus ist der Heiland und Seligmacher aller Menschen, wobei die Gläubigen „den Vorzug haben/ daß sie bey Leibes-Leben auß dem Tode zum Leben durchgedrungen/ und von nun an selig geworden seynd/ ohne einige künfftige Gerichte; da hingegen die andere erst in die Gerichte Gottes hinein-müssen/ und selig werden/ doch so/ als durchs Feur"49. Alle sind sie allein auf das Versöhnungsopfer Christi angewiesen: „Daß dannenhero die Verdamten eben sowol auß pur lauterer Gnad und durch das bloße und alleinige grosse allgemeine ewig-geltende blutige Versöhn-Opffer Christi/ des allgemeinen Erlösers und Wiederbringers/ endlich auß dem Fluch und Zorn und auß der Verdamniß sollen erlöset werden/ gleichwie die Glaubigen bey Leibes-Leben und in dieser Gnaden-Zeit bloß dadurch auß ihrem verdamten und Fluchwürdigen Zustand erlöset werden." 50 Die Wiederbringungslehre macht das Erlösungswerk Christi nur noch größer und herrlicher: „Demnach wird durch diese Lehre das Erlösungs-Werck und Mittler-Amt Jesu Christi vielmehr grösser/ herrlicher und kräfftiger/ gemacht/ als geschmälert: und müssen die Straffen/ das Gefängniß und Elend der Verdamten ihnen nur zum Mittel der Erkänntniß und Demüthigung dienen [...]."" Mit Kol 1, Eph 1,10 und 1. Kor 15 ist Christus für Petersen der „Erstgebohrne aller Creatur" 52 , in dem alle Dinge zusammengefaßt sind. Gegen den Vorwurf, daß die Wiederbringungslehre die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes nicht genügend ernst nehme, stellt Petersen die rechte Vereinigung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Christus heraus, „also daß es eine gerechte Barmhertzigkeit und barmhertzige Gerechtigkeit darauß 47 48 49 50 51 52
18. 22. 26. 41. 41f. 43.
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geworden/ und die arme Creatur dadurch erlöset sey"53. In Christus aber hat die Barmherzigkeit Gottes über seine Gerechtigkeit gesiegt: „Denn sonst hätte die Gerechtigkeit und Barmhertzigkeit Gottes nach dem geschehenen Fall immer bilanciret und gleiche Waage gehalten: wobey der Mensch zwischen der Sünde hätte bleiben müssen. Weil aber die Erbarmung Gottes in Christo den Außschlag gegeben/ und er seinen Sohn für die Sünde der gantzen Welt dahin-gegeben; daher rühmen wir uns seiner Barmhertzigkeit."54 Schließlich kommt Petersen in direkten Worten auf das einzige Hauptmotiv zu sprechen, weshalb nach seiner Meinung die Lehre von der Wiederbringung bekämpft wird: Es ist der Neid und die Mißgunst der Menschen. Seinem Gegner hält er vor: „Wie ist er doch so sehr neidisch? und siehet über die Lehre der Wiederbringung aller Dinge sogar über alle massen scheel auß/ daß Gott so gütig ist? [...] mich düngt/ ich sehe in ihm und seinen Mitbrüdern die Natur des ältesten Bruders/ der betrübet war/ als Gott sich des verlohrenen Sohns so hertzlich annahm: er wolte ihn lieber todt wissen/ als sich über sein Leben und seine Wiederkehr erfreuen/ und protzete noch mit seinem Vater; da er doch über den Todten/ der lebendig worden war/ sich hätte hoch erfreuen sollen/ wie Gott that/ und tun wird."55 Der reformierten Prädestinationslehre stellt Petersen „das absolute Decret der Liebe Gottes" entgegen.56 Die Vorherbestimmung zu einer ewigen Verdammnis nennt Petersen unumwunden „ein solches Decret und Rathschluß [...]/ welches die Menschen wider Gott und wider seine ewige Liebe selbst erdacht haben"57. Nur mit Hilfe der „heiligen Lehre von der Wiederbringung aller Dinge" könnten die zerstrittenen Religionsparteien wieder zusammenfinden.58 Menschlicher Eigensinn und Vernunftschlüsse sind nach Petersen für die reformierte Prädestinationslehre verantwortlich. Dagegen setzt er „die heilige Wahl", nach der Gott in durchaus unterschiedlicher Weise an den Menschen handelt, aber doch so, daß schließlich auch eine Erlösung sogar aus der Hölle zu hoffen ist. Nicht die dort erlittene Pein bringt die Erlösung, sondern allein das Versöhnungswerk Christi, der für die Sünde aller Menschen gestorben ist. Im Anschluß an Hos 13,14 stellt Petersen klar die Erlösungshoffnung sogar aus der Hölle heraus: „[...] daß auß dem Tode und auß der Höllen eine Erlösung zu hoffen sey/ obgleich denen/ so darinnen ligen/ eine lange Zeit der Trost für ihren Augen verborgen ist/ und sie erst leiden müssen/ was ihre Thaten werth seynd. Wobey zu wissen/ daß solche Pein sie 53 54 55 56
51. 52f. 56. Traktat: „Das absolute Decret Gottes/ dem absoluta Decreto der harten Reformirten entgegen gesetzt", angebunden an den vorherigen Traktat, 1716, 61. 57 62. 58 79f.
Lutherische Spätorthodoxie und frühe Aufklärung
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nicht darauß erlöse/ sondern die Gnade und Erbarmung Gottes in Christo Jesu/ dessen für sie vergossenes Blut den effect der großen Erlösung/ so auch für sie geschehen ist/ beweiset."59 Petersens Kampf gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen, den wir mit einigen Beispielen aus seinen späten Traktaten dokumentierten, setzte sich keineswegs in der ersten Phase der deutschen Aufklärungstheologie fort. Lutherische Spätorthodoxie und frühe Aufklärung gehen vielmehr in den dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts völlig zusammen, wenn sie die ewigen Höllenstrafen gegen die „Freunde der Wiederbringung" mit Vehemenz verteidigen. Wenn die ganze christliche Offenbarung vor allem auf ein tugendhaftes, gottseliges Leben zielt, dann kann die christliche Verkündigung nicht nur von Gnade und Vergebung reden. Sie muß mit aller Deutlichkeit auf die göttlichen Strafgerichte hinweisen, damit die Menschen abgeschreckt werden und sich beizeiten um Besserung in ihrer Lebensführung bemühen. In der Theologie war in dieser Zeit vor allem der Einfluß des Philosophen Christian Wolff (1679-1754) vorherrschend. Daß der Pietismus seinen Höhepunkt überschritten hatte, macht die Zurückberufung Wolffs nach Halle 1740 beim Regierungsantritt Friedrichs II. deutlich. Seit August Hermann Franckes Tod 1727 hatte der Pietismus zwar noch in Tersteegen und Zinzendorf bedeutende Vertreter, aber die theologischen Wolffianer gaben immer mehr den Ton an. Sie haben in unterschiedlicher Intensität vor allem die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die christliche Offenbarung nicht der menschlichen Vernunft widerspricht, daß sie vielmehr sie unterstützt und ergänzt. Die deutsche Theologie wurde in dieser Zeit mit einer Vielzahl von aus England kommenden deistischen und antideistischen Schriften bekannt, die wiederum zu einer Fülle von Apologien für die Wahrheit der christlichen Religion führten. Auch die Problematik der Ewigkeit der Höllenstrafen bewegte nicht nur die akademische Theologie, sondern auch Kreise des gebildeten Bürgertums. Schon 1725 hatte der Helmstedter Theologieprofessor Johann Lorenz von Mosheim (1694—1755), der spätere Kanzler der neugegründeten Universität Göttingen, 60 eine Abhandlung über die Ewigkeit der Höllenstrafen ausgehen lassen.61 Hier hatte er sich für die Unendlichkeit der Strafen vor allem deshalb ausgesprochen, weil das unendliche Wesen Gottes beleidigt wurde, was eine ewige Strafwürdigkeit des Beleidigers fordere. Im folgenden sei auf einen verhältnismäßig wenig bekannten, von der Philosophie Wolffs beeinflußten Theologen aufmerksam gemacht, der eine ganze Reihe von Schrif-
59 93f. 60 Vgl. B. Moeller, Johann Lorenz von Mosheim und die Gründung der Göttinger Universität. In: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, 9-40. 61 Vgl. K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, 277.
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ten über die Letzten Dinge veröffentlichte, die mehrere Auflagen erlebten. Der Verfasser ist Johann Ernst Schubert (1717-1774), zunächst Theologieprofessor in Jena und Helmstedt, zuletzt in Greifswald. In einem umfangreichen Band sind seine eschatologischen Schriften zusammengefaßt mit dem Titel: „Vernünftige und Schriftmäsige Gedancken von den letzten Zeiten" 62 . Neben Abhandlungen vom Tode und von der Auferstehung, vom ewigen Leben und dem Zustand der Seele nach dem Tod, über das Jüngste Gericht und das Ende der Welt, von der allgemeinen Judenbekehrung und dem Tausendjährigen Reich findet sich hier auch eine umfangreiche Abhandlung über „Vernünftige und schriftmäsige Gedancken von der Ewigkeit der Höllenstrafen. Nebst einer Vertheidigung wider einen ungenannten Freund der widerbringung" 63 . Gewidmet ist dieses Werk dem spätorthodoxen Theologen Ernst Salomon Cyprian (1673-1745), 64 was auch schon über die theologische Richtung des Autors einigen Aufschluß gibt. Denn in der Art seiner Argumentation ist kaum ein Unterschied zur Apologetik der Spätorthodoxie zu erkennen. Er will freilich die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen sowohl nach der Vernunft wie auch nach der heiligen Offenbarung darstellen. In dieser Beweisführung aus der Vernunft wie aus der Offenbarung erweist sich Schubert als ein Aufklärungstheologe, den man wohl einen „rechten Wolffianer" nennen kann.65 In der Vorrede zur 2. Auflage 1742 kommt Schubert auf einen „Freund der widerbringung" zu sprechen, der ihm vorgehalten habe, er gebe den Freunden der Wiederbringung im Herzen recht und halte es nur äußerlich mit den Orthodoxen. Gegen diesen unbekannten Autor, der Schubert in die Reihe von „Böhme, Arnold, Dippel und Petersen etc." gestellt hat, verwahrt sich Schubert energisch: „Nun wird der herr autor selbst gestehen müssen, daß vor mich nichts gefärlicher und schädlicher sey, als einen solchen ruf in der weit zu haben, wie diese Leute gehabt."66 An einer solchen Äußerung wird deutlich, welche Unruhe die Lehre von der Wiederbringung noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts verursachen konnte. Da Schubert unter Berufung auf Johann Gerhard eine Angabe über den Ort der abgeschiedenen Seelen und somit auch über die Hölle ablehnt und die Höllenpein nicht als körperliches Feuer, sondern als Pein der Seele, als Schmerzen über das böse Gewissen 62 Jena und Leipzig 1743. 63 Jena und Leipzig 3 1748, vorhanden in der Universitätsbibliothek Würzburg, Signatur: Th dp 99. Aus diesem Werk wird im folgenden zitiert. 64 Cyprian war zu dieser Zeit Vizepräsident des Oberkonsistoriums in Gotha. 65 Nach W. Gericke, Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen ΠΙ/2, Berlin 1989, 83. 66 Vorrede zur 2. Auflage, Jena 1742, 3 b.
Johann Ernst Schubert
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und Verstoßung von Gottes Angesicht interpretiert, darf er nach seinem Selbstverständnis keineswegs den fanatischen Köpfen der Böhme und Petersen gleichgestellt werden! In der Apologetik Schuberts nimmt die Ewigkeit der Höllenstrafen einen obersten Platz ein: „Die Ewigkeit der Höllenstrafen ist eine so wigtige Warheit, daß man ohne dieselbe die nötigste gründe der natürlichen und geoffenbarten religion unmöglich vertheidigen kan."67 Die vernünftige Gotteserkenntnis fordert notwendig den Gedanken einer gerechten Vergeltung: „[...] daß die erkentnis Gottes, darauf sich die ware religion gründet, notwendig erfordere, daß diejenige, welche die pflichten gegen ihn aus den äugen sezen, zu einer ewigen Strafe müssen verdammet werden, und daß in dem fal, da dieses nicht geschehen solte, die erkentnis nicht war sein könte, welche uns zu der religion verbindet."68 Schubert will nicht behaupten, daß die Leugner der ewigen Höllenstrafen Verächter der Religion seien. Die Freunde der Wiederbringung haben durchaus Eifer für Gott gehabt! Aber sie verdienen Mitleid, weil sie ein zu großes Mitleid mit den Verdammten haben! Auf den Einwurf der Gegner, eine Strafe ohne Ende sei gegen die Güte, Heiligkeit, Weisheit, Gerechtigkeit, Allmacht und Liebe Gottes, antwortet Schubert: „Wenn wir annehmen, daß Gott die sünde nur eine zeitlang strafen werde, so ist das ebenso viel, als wenn wir ganz und gar die nothwendigkeit, die übelthäter zu strafen, leugneten."69 „Man kan also daran nicht zweifeln, daß es Gott möglich sei, die sünder ganz und gar nicht zu strafen, wenn es ihm möglich ist, sie zu einer strafe zu verdammen, die einmal aufhören wird." 70 Die Leugnung der Ewigkeit der Höllenstrafen muß darum notwendig die gesamte natürliche Religion umstoßen: „Welche lehre ganz und gar die notwendigkeit, das böse zu strafen, aufhebet, der stöset die gründe der natürlichen religion umb."71 Die Gerechtigkeit Gottes erfordert es, daß er die Strafe nach der Beschaffenheit der Sünde verhängen muß. Eine jede Sünde ist aber ein unendlich großes Verbrechen: „Da Gott nach seiner unendlichen güte, Weisheit, heiligkeit und gerechtigkeit eine jede sünde verboten, so sind alle diese unendliche eigenschaften auch unendlich starke bewegungsgründe, sich vor der sünde zu hüten."72 Wie Mosheim vertritt auch Schubert die Ansicht, daß die unendlichen Eigenschaften Gottes eine unendliche Strafwürdigkeit derer erfordern, die ihn mit der Sünde beleidigt haben: „Die große der beleidigung muß nach der beschaffenheit derjenigen person, die beleidigt wird, bestimmet werden." 73 67 1. Teil: „Von der Ewigkeit der Höllenstrafen nach der Vernunft", 1. 68 Ebd., 2. 69 5. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 9f. 73 10.
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Noch im ersten Teil seiner Abhandlung, der die Ewigkeit der Höllenstrafen mit Vernunftgründen darzulegen sucht, kommt Schubert auf das Zentrum der geoffenbarten Religion zu sprechen, auf die Erlösung durch Jesus Christus. Ist doch gewiß, „daß die lehre von der ewigkeit der höllenstrafen einen grasen einflus in die besondere warheiten habe, die uns Gott geoffenbaret, und darauf sich vornemlich die ganz geoffenbarte religion gründet" 74 . Von der Oberthese ausgehend, daß Gott den gefallenen Menschen nicht anders habe helfen können als durch den Tod seines Sohnes, baut Schubert folgenden Beweisgang auf: „Man kan also den sichern schlus machen, daß Christus für die Sünden der menschen nicht gestorben wäre, wenn Gott sie ohne den tod seines sones hätte selig machen können. Ist dieses gewis, so mus man auch gestehen, daß eine lehre, nach welcher behauptet wird, daß Gott den menschen ohne den tod seines sones habe helfen können, zugleich die warheit der erlösung Christi aufhebe. Allein die lehre, daß die strafen der verdamten aufhören werden, ist allerdings so beschafen." 75 „Denn nach derselben mus man gestehen, daß, wenn Gott die sünder eine zeitlang gestrafet, die er selbst nach seinem eigenen gefallen hat bestimmen können, es ihm ohne nachtheil seiner Weisheit und gerechtigkeit freigestanden, sie von ihren leiden zu befreien, und einer ewigen glückseligkeit theilhaftig zu machen. Das kurze leiden, welches die verdamten in der hölle ausgestanden, wäre nach dieser meinung schon zulänglich, Gottes beleidigter majestät ein genüge zu thun." 76 Wenn die Lehre der Wiederbringung wahr wäre, wäre Christi Genugtuung nicht nötig gewesen. Die Argumentation Schuberts zeigt einen Gottesbegriff, der Gefangener seiner eigenen Gesetze ist und nach der Art eines beleidigten Herrschers handelt. Die Apologetik Schuberts bringt inhaltlich keine neuen Gesichtspunkte über die in der Zeit der lutherischen Orthodoxie geäußerten hinaus, wenn auch seine „Beweisgänge" sich selten auf Autoritäten, sondern auf die Einsichtsmöglichkeiten der Vernunft gründen. Das Verdienst Christi kann den Verdammten nicht ohne Glauben angerechnet werden. In der Hölle aber kann man nicht glauben, also kommt das Verdienst Christi den Verdammten in der Hölle nicht zustatten. Schuberts Verteidigung der Ewigkeit der Höllenstrafen zeigt deutlich die Herausforderungen, die die deutsche Theologie durch die aus England herandringende Welle von bibelkritischer Literatur zu bewältigen hatte. Viele „Beweise der Wahrheit der christlichen Religion" waren nun notwendig, wobei die ewigen Höllenstrafen als entscheidende Stütze fungierten. Im zweiten Teil seiner Abhandlung, der die Ewigkeit der Höllenstrafen „nach der heiligen Offenbarung" darstellt, führt Schubert eine Fülle von Bibelstel74 17. 75 36. 76 37.
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len an, die die Wahrheit bekräftigen sollen, daß es keine Erlösung aus der Hölle gibt.77 Eine Bestreitung dieser Wahrheit aber trifft die ganze christliche Religion: „So bald man aber diese warheit verläst, so fält die ganze christliche religion über einen häufen. Man wird alsdenn die göttlichen aussprüche ganz anders erklären, und überall eine uneigentliche bedeutung der Wörter suchen müssen, bis man endlich einen Zusammenhang solcher lehrsäze herausbringet, davon kein einiger in der göttlichen Offenbarung anzutreffen ist. Einen so grosen einflus hat also die lehre von der ewigkeit der höllenstrafen in die geoffenbarte religion."78 Mit Intensität verweist Schubert immer wieder auf die Erkenntnis Gottes und seiner Eigenschaften, die die einzige Quelle ist, „daraus die menschen ruhe, vergnügen und Zufriedenheit ihrer seien schöpfen können" 79 . Nicht die anhaltenden Sünden in der Hölle sind der Grund für die Ewigkeit der Höllenstrafen, sondern die unendliche Heiligkeit und Weisheit Gottes. Auf die seit Leibniz so viel gestellte Frage nach dem Vorherwissen Gottes, warum er eine Welt geschaffen habe, in der so viele der ewigen Verdammnis entgegengehen, antwortet Schubert unentwegt mit dem Hinweis auf die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes, die auch seine Liebe und Güte bestimmt: „Eine ewige strafe ist nur ein mangel des ausflusses der göttlichen güte, welcher aber der Weisheit gemäs ist. [...] Der endzweck der ewigen strafen ist zwar nicht die besserung der sünder selbst, oder das schrecken, welches andern zur warnung eingejaget wird; allein deswegen hat doch Gott dabei eine absieht, und diese ist die Offenbarung seiner Heiligkeit."80 Die Gerechtigkeit Gottes richtet sich „in dem nach den regeln der Weisheit eingerichteten gebrauch seiner güte" 81 . Die „Regierungsgesetze Gottes"82 fordern somit unmittelbar eine gerechte Vergeltung: „Es strafet daher Gott die sünder in ewigkeit umb sein selbstwillen." 83 Die Bemühungen Schuberts, mit der Betonung der Heiligkeit, Gerechtigkeit und Weisheit Gottes eine vorschnelle Anthropologisierung der christlichen Theologie zu verhindern, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein großer apologetischer Einsatz vor allem ethisch begründet ist: „Denn warumb predigen wir den Sündern eine ewige verdamnis. Geschieht es nicht deswegen, damit sie sich bekehren?" 84 Er ist fest davon überzeugt, daß nicht 77 Mt 25,46; Mk 16,16; Lk 16,19ff. u.a. 78 70. 79 118. 80 129. 81 Ebd. 82 200. 83 131. 84 25 3f.
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die Linderung der Strafen, sondern ihre ewige Dauer zu einem Wandel von Gesinnung und Tat führen: „Es ist unmöglich, daß ein Mensch bei seinem verkehrten sin verbleiben solte, der da von der Ewigkeit der höllenstrafen überzeuget ist."85 Schon der Verteidigungskampf Schuberts mit seinen umständlichen Beweisgängen für die Ewigkeit der Höllenstrafen kündigt jene zukünftige, tiefgreifende Wandlung im theologischen Höllenverständnis an, die in der deutschen Aufklärungstheologie vor allem mit einem Mann und dessen Schriften verbunden ist: mit Johann August Eberhard (1739-1809) und seinem zweibändigem Werk „Neue Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden" 86 . Von einem regelrechten Untergang der Hölle87 im traditionellen Verständnis kann man bei diesen umfassenden philosophischen und theologischen Erörterungen sprechen, die mit großem Interesse von einem breiten Leserkreis aufgegriffen wurden. Eberhard gehört zu den führenden Neologen an der Universität Halle. Bevor er hier seit 1778 als Philosoph lehrte und ein besonderes Interesse beim jungen Schleiermacher während seines Hallenser Studiums fand, 88 war er als Theologe in Berlin tätig und gehörte zum Kreis um Friedrich Nicolai. Durch den engen Kontakt mit Moses Mendelssohn und seine „Apologie des Sokrates" hatte der junge Theologe erhebliche Anfeindungen von Seiten der orthodoxen Geistlichen zu erleiden. Das Pfarramt in Charlottenburg erhielt er erst, nachdem der preußische König sich zu seinen Gunsten eingesetzt hatte.89 Eberhards „Apologie des Sokrates" hat in der leidenschaftlichen Ablehnung ewiger Höllenstrafen ihren eigentlichen Zielpunkt. Das Werk nimmt Stellung in dem Streit um die Seligkeit der Heiden und die Hoffnung auf ihre Aufnahme in den christlichen Himmel, der durch die Schrift eines Franzosen entstand und eine Fülle von Gegenschriften in Frankreich, Holland und in der Schweiz ausgelöst hat.90 Dabei greift Eberhard weit über die Ausgangsfrage nach der Seligkeit der Heiden hinaus und unterzieht von seinem Verständnis 85 71. 86 Das Werk kam 1772 heraus. Im folgenden wird nach der 2. Auflage (1. Bd. 1776, 2. Bd. 1778) zitiert. Vgl. K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit (Anm. 61), 270-285. 87 Diese Formulierung, die über dem ganzen Aufsatz steht, charakterisiert m.E. besonders dieses Werk Eberhards. Sie lehnt sich an die wichtige, leider noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegende Untersuchung an: D.P. Walker, The decline of hell. Seventeenth-century discussion of eternal torment, The University of Chicago Press 1964. 88 Den Anstoß zu eigenständiger, intensiver Beschäftigung mit Kant verdankt Schleiermacher vor allem Eberhard. 89 Friedrich d.Gr. soll gesagt haben: „In Rom bei der Papstwahl kann so viel Lärm nicht sein als in Charlottenburg bei der Wahl dieses Predigers." Zitiert nach K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit (Anm. 61), 97. 90 Vgl. K. Aner, 270f.
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von Gottes Güte und Gerechtigkeit aus die überkommenen Lehren von den göttlichen Ratschlüssen, der stellvertretenden Genugtuung Christi und Augustins Erbsündenauffassung einer ausführlichen Kritik. Wenn man im Namen der Religion den größten Teil der Menschheit ewigen Qualen in der Hölle ausliefert, dann sei das eine Lehre, „die allen vernünftigen Begriffen von dem göttlichen Betragen in der Regierung der Welt so gerade zuwider läuft" 91 . Eberhard ist jedoch auch fest davon überzeugt, „daß diese grausame Lehre von endloser Pein empfindlicher Geschöpfe sich in der christlichen Offenbarung nicht finden könne" 92 . Die Befürworter dieser Lehre können sich nur auf eine mangelhafte Schriftauslegung gründen. Eberhard beginnt darum seine Argumentation mit Schriftstellen, denen er den Beleg für die ewigen Höllenstrafen abzusprechen versucht. In der exegetischen Erkenntnis sei man längst so weit fortgeschritten, daß das Wort „ewig" „nur eine unbestimmte aber keineswegs unendliche Dauer andeute"93. Nur bei Mt 25,46 entstünden Schwierigkeiten wegen des Parallelismus von „ewiger Pein" und „ewigem Leben". 94 Den Ausweg, den der anglikanische Theologe John Tillotson95 eingeschlagen hat, indem er von einem Schrecken sprach, den Gott nur angedroht habe, ohne ihn auch in die Tat umzusetzen gedenke, lehnt Eberhard strikt ab. Denn damit ist die Offenbarung mit der Vernunft in einen neuen Widerspruch verwickelt: „Nach der Offenbarung droht Gott etwas, welches nicht erfolgt; die Vernunft aber sagt: Gott kann nicht etwas drohen, welches nicht erfolge." 96 Auch mit Vermutungen über evtl. verderbte Textüberlieferungen hält sich Eberhard nicht mehr auf. Unmißverständlich stellt er fest: Die Wahrheit der Offenbarung erhält ihre Gewißheit erst dadurch, daß sie zuvor als erwiesene Vernunftwahrheit erkannt worden ist. Die ewige Glückseligkeit kann als eine Offenbarungswahrheit geglaubt werden, weil sie sich auf eine erwiesene Vernunftwahrheit gründet. Die Ewigkeit der Höllenqualen aber hat keine Vernunftgründe für sich. Damit ist die Ausgangslage klar beschrieben, von der aus Eberhard seine argumentative Aufklärung bisheriger dunkler Lehren und Vorstellungen vornimmt. In der Auffassung der Sünde als einer Beleidigung Gottes sieht Eberhard einen Gedanken, „der durch das ganze Religionssystem der dunklen Zeiten des Christenthums herrscht [...] und in die Moral und Religion unglaublich viel Verwirrung und Aberglauben gebracht"97 hat. Bis in die Gegenwart habe sich diese Vorstellung erhalten, auf deren Grundlage von der Unendlichkeit 91 Bd. 1, IX., 362. 92 361. 93 365f. 94 365. 95 (1630-1694), ab 1691 Erzbischof von Canterbury. 96 367. 97 374f.
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des Beleidigten auf die unendliche Strafwürdigkeit des Beleidigers zurückgeschlossen wurde. Solche Übertragung endlicher Begriffe und Vorstellungen auf Gott und sein Handeln an den Menschen weist Eberhard entschieden zurück. Nicht nur die göttlichen Strafen erhalten durch solche Vorstellungen „eine schreckenvolle Grausamkeit", sondern auch die vom Aberglauben bestimmten irdischen Strafverfahren. 98 Die Furcht, Gott beleidigt zu haben, und der Drang, ihn wieder zu besänftigen, haben „die ungeheure Menge von Opfern, Reinigungen, von grausamen Selbstpeinigungen, von Wallfahrten und anderen heiligen Gebräuchen" hervorgebracht sowie „die Unruhe, womit der Sünder von einer Bußübung zur anderen eilt, die Begierde, womit er alles versucht, die Bereitwilligkeit, womit er den abgeschmacktesten Offenbarungen heiliger Betrüger entgegengeht [...]"". Eberhard faßt seinen leidenschaftlichen Kampf gegen die Vorstellung einer Beleidigung Gottes durch die Sünde in den Worten zusammen: „Gottes unendlich vollkommenes Wesen sich aufs vollkommenste vorstellen, und dasselbige beleidigen wollen, ist der offenbarste Widerspruch, der je aus einem menschlichen Munde gekommen ist."100 Wenn Gott Gericht hält, „da halten nur seine Güte und Weisheit die Waage; da giebt keine Eifersucht über verletzte Rechte, kein Unwille wegen empfangener Beleidigungen den menschlichen Vergehen ein Gewicht, das nicht in der Natur des Vergehens selbst liegt"101. Schließlich kommt Eberhard noch auf einen angeblichen Beweis für die Ewigkeit der Höllenstrafen zu sprechen, den er für den verwerflichsten hält. Nach diesem straft Gott den Sünder „in alle Ewigkeit, weil er in alle Ewigkeit sündigt" 102 . An die Stelle der Wirklichkeit tritt hier die Möglichkeit einer unendlichen Kette von Sünden, die weit über die Grenzen des irdischen Lebens hinausreicht. Eberhard stellt fest, daß fast alle Theologen aller drei christlichen Kirchen, ja auch Leibniz, von hier aus die Ewigkeit der göttlichen Strafen gebilligt haben.103 Dieser angebliche Beweis hat seine Spitze darin, daß es eine völlige Ungereimtheit wäre, wenn „die Verdammten würden anfangen, Gott in der Hölle zu lieben". Denn es sei unmöglich, „daß der leidende Sünder den strafenden Gesetzgeber liebe"104. Diesen Ausführungen 98 99 100 101 102 103
383f. 382. 388. 386. 395. Ebd. - Leibniz hatte die These von den ewigen Strafen mit seinem philosophischen System für vereinbar erklärt. Eberhard deutete dies als Anpassung an die herrschenden Lehrmeinungen, um sich so den Beifall aller zu versichern. Das wiederum rief den Leibniz-Verehrer Lessing auf den Plan mit seiner Schrift: „Leibniz von den ewigen Strafen". Die Kritik Lessings traf Eberhard besonders hart, da er mit Lessing im Freundeskreis um Nicolai verkehrte und im Grunde mit ihm übereinstimmte. Vgl. dazu K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit (Anm. 61), 278ff. 104 398.
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Mosheims und Schuberts setzt Eberhard entgegen: „Allerdings ist das unmöglich, wenn der strafende Gesetzgeber ein willkührlicher Tyrann ist, der ohne Weisheit, ohne Güte, ohne Absicht, ohne Verhältniß, mit einem Worte der ewig straft." 105 Gegen Schuberts Vorstellung von der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes, die ihre unendliche Abscheu vor der Sünde durch eine ewige Strafe beweisen müsse, hat Eberhard nur abfälligen Spott übrig: Gott wäre dann „am meisten heilig, am meisten gerecht, wenn dieses Wohl am meisten aufgeopfert wird" 106 . Und gegenüber Mosheims Sorge, die Gerechtigkeit Gottes könne man nicht mehr von seiner Liebe unterscheiden, wenn die Strafen der Hölle aufhören oder gar bei den Betroffenen zu einer Besserung führen, entgegnet Eberhard: „Wohlan, man nenne es Liebe; denn die Gerechtigkeit Gottes ist nicht ohne Liebe. Oder soll sie das seyn, damit sie sich in unsere elenden Classificationen der göttlichen Eigenschaften passe?"107 Allen Argumentationen Eberhards gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen liegt seine alte Klage zugrunde: „Richtige Begriffe von Strafen sind unter denen, die bisher über die göttliche Regierung philosophiert haben, noch gar selten gewesen." 108 Alle göttlichen Strafen enthalten eine heilende Kraft, sie sind eine „Arzeney". „Die göttlichen Strafen sollen die Gesinnungen des Schuldigen bessern, seine moralischen Urtheile berichtigen, seinen Willen vom Bösen ablenken, und ihn über die Irrthümer seines Herzens belehren; das alles setzt wirkliche Verschuldung, geschehene Verbrechen, begangene Fehltritte voraus." 109 Die Lehre von den ewigen Strafen macht sowohl die Entwicklung des einzelnen menschlichen Lebens wie der gesamten Menschheitsgeschichte und den Glauben, „daß diese Welt ein Werk des vollkommensten Wesens ist"110, völlig sinnlos. Im Zuge des aufklärerischen Entwicklungsgedankens, der eine weitere Entwicklung des Menschen auch nach dem Tod für möglich hält, nimmt Eberhard an, „daß alle vernünftigen Wesen endlich einmahl zur Glückseligkeit gelangen. Denn nur auf diesem Wege lassen sich die Strafen in dem Reiche Gottes rechtfertigen, nur auf diesem Wege hören sie auf unnütze und absichtslose Qualen zu seyn."111 Eberhards Abwehr aller Rache- und Willküraspekte im Begriff der göttlichen Strafen und seine Nähe zum alten Entwicklungs- und Läuterungsgedanken in der alexandrinischen Theologie zeigen ein Verständnis von Strafe, das sich keineswegs in optimistischer Beliebigkeit verliert. Jede sündige Tat 105 Ebd. 106 400. 107 403. 108 404f. 109 403. 110415. 111 Ebd.
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zieht einen ewigen Schaden nach sich, der eine gerechte Vergeltung verlangt. Gewiß nicht von ungefähr kommt Eberhard bei seinen rationalen Argumentationen für die Endlichkeit der Höllenstrafen nicht auf die Lehre von der Wiederbringung aller Dinge zu sprechen. Das Aufhören aller Strafen führte hier in eine allgemeine Gleichheit der vormals Ungerechten mit den Gerechten, so daß in dem Zustand der Seligkeit aller keine Erinnerung mehr an böse Taten und ihre Folgen besteht. Dagegen hält Eberhard fest: „Wenn nichts anders die endlose Hölle seyn soll, als dieser ewige Schaden, der uns von jeder Versündigung anklebt: so wird niemand bereitwilliger seyn, als ich, dieser Meinung die Hände zu bieten. [...] Ich werde es mit allem Eifer [...] den Gemüthern einzuprägen suchen, daß eine jede Unsittlichkeit ihre bösen Folgen bis ins Unendliche habe, daß ein jeglicher Schritt, den man in dem Wege der Vollkommenheit zurückthut, unser ganzes ewiges Daseyn hindurch, an der ganzen Summe derselben, an der Länge des durchlaufenen Weges fehlen werde."112 Der Ernst der Sünde und ihre Folgen rufen zu einem verantwortlichen Leben und Handeln vor dem gerechten Gott auf. Die Gerechtigkeit Gottes ist aber nie ohne seine Liebe wirksam, so daß die Hölle als Ort ewiger Strafen für immer aus der vom Aberglauben gereinigten christlichen Religion auszuschließen ist. Mit der „Apologie des Sokrates" von Johann August Eberhard sind wir am Ende unseres Überblickes über die Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der neueren Theologiegeschichte anhand exemplarischer Texte angelangt. Das eine philosophische und theologische Gelehrsamkeit mit zupakkender Darstellungsweise verbindende Werk Eberhards kann in der deutschen Aufklärungstheologie als eine Art Zäsur verstanden werden, von der aus die Höllenthematik in der weiteren theologischen Entwicklung ihre Brisanz verloren hat und an den Rand des theologischen Nachdenkens gerückt ist.113 In der Theologie nach Kant und Schleiermacher dominiert das Schweigen über die Hölle bzw. die Zurückhaltung gegenüber bestimmten Aussagen über das zukünftige Leben. Ein recht anderes Bild bekommt man jedoch, wenn man auf die religiöse Praxis blickt, auf die Traktat- und christliche Hausbuch-Literatur sowie auch auf Gesangbuchlieder, in denen das Höllenthema durch das ganze 19. und 20. Jahrhundert präsent ist.114 Hier setzt sich die Tradition der Einschüchterung mit Hilfe der Schreckensbilder ewiger Höllenqualen auf eine beklemmende Art und Weise fort. Keineswegs nur bei Sektierern, sondern mitten in der Volkskirche kann man heute auf die strikte 112 429f. 113 Friedrich Schiller dichtet 1785 in der Ode „An die Freude" in der 9. Strophe: „Rettung von Tyrannenketten,/ Großmut auch dem Bösewicht./ Hoffnung auf den Sterbebetten,/ Gnade auf dem Hochgericht./ Auch die Toten sollen leben!/ Brüder, trinkt und stimmet ein,/ Allen Sündern soll vergeben,/ Und die Hölle nicht mehr sein!" 114 Vgl. H. Vorgrimler, Geschichte der Hölle (Anm. 2), 272ff.
Anstöße aus der Theologiegeschichte für die Gegenwart
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Überzeugung treffen, daß der größere Teil der Menschheit der ewigen Verdammnis entgegengeht.115 Dem steht nicht selten eine Verkündigung entgegen, die einen recht selektiven Gebrauch von den Gerichtsaussagen des Neuen Testaments macht bzw. dem Ernst dieser Aussagen ausweicht. Angesichts der Gefahren einer Orientierungslosigkeit im Zentrum des christlichen Glaubens ist es m.E. hilfreich und sinnvoll, den Blick auf die Theologiegeschichte der vergangenen Jahrhunderte zu richten. Denn hier werden nicht wenige Fragen und Problemaspekte bedacht, die für unser eigenes Nachdenken heute über Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Zorn und Liebe Gottes inmitten unserer Erfahrungen mit der abgrundtiefen Bosheit und Schuld von uns Menschen von erheblicher Bedeutung sein können.
115 Vgl. K. Eberlein, Angst oder Vertrauen? Plädoyer für eine Eschatologie der Zuversicht. In: Nachrichten der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, 50. Jg., 1. Januarausgabe 1995, 9-11.
Gottes Odem in der Schöpfung Zum Bild der Natur bei Johann Arndt und Jakob Böhme
Das bekannteste und am weitesten verbreitete Werk Johann Arndts trägt den Titel: „Vier Bücher vom wahren Christentum". Der Ausdruck: „Vier Bücher" hat in der Entstehungsgeschichte dieses epochemachenden Werkes eine ganz besondere Bedeutung. In einem einzigen „Buch" wollte Arndt seine Sicht vom wahren Christentum von vornherein nicht darlegen. Das zeigt schon die sog. Urausgabe, die den Titel trägt: „Von wahrem Christenthumb/ heilsamer Busse/ wahrem Glauben/ heyligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen. Das erste Buch Durch Johannem Arndt Dienern der Kirchen Christi zu S. Marten in Braunschweig, Frankfurt am Main 1605."1 Am Schluß der Vorrede erwähnt Arndt ein „ander Büchlein", das für den fleißig übenden Leser demnächst folgen wird. Schon im Frühjahr 1606 erschien das Buch erneut erstmals in Braunschweig in erheblich überarbeiteter Form und mit einer stark erweiterten Vorrede. An ihrem Schluß eröffnet Arndt den Lesern sein gewiß schon länger reflektiertes Vorhaben und gibt damit die entscheidende Intention seines ganzen Werkes zu erkennen. Da sie sich nur hier, in der Vorrede des ersten Braunschweiger Druckes vom Frühjahr 1606 findet, sei sie ausführlicher zitiert: „Mein Fürnehmen ist, vier kurze Büchlein an Tag zu geben: De Deo et homine, von Gott und dem Menschen. Denn es hat Gott sein wahres lebendiges Erkenntnis den Menschen in vier Büchern offenbaret: 1. in dem Buch der heiligen Schrift, 2. in dem lebendigen Buch oder lebendigen Exempel unseres Herrn Jesu Christi, 3. in dem Menschen selbst, in seinem eigenen Herzen und Gewissen, 4. in dem großen Weltbuch der Natur." 2 Schon vor der ersten Veröffentlichung aller vier Bücher in Magdeburg 1610 stand also die Konzeption Arndts von vier Büchern über das wahre Christentum fest. Anzahl und Reihenfolge dieser vier Bücher, die Arndt zu schreiben gedenkt, entsprechen einem wohldurchdachten Plan. Angesichts der immensen Wirkungsgeschichte dieses einflußreichsten Erbauungsbuches 1 2
E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom wahren Christentum, Marburg 1969, 13. Zit. nach W. Koepp, Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum, Neudruck Aalen 1973, 40f.
„Vier Bücher" als vier Offenbarungsweisen Gottes
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im Protestantismus ist diese Feststellung nicht unwichtig. Denn seit dem Ende des 17. Jahrhunderts tauchen die erweiterten Titel: „Fünff geistreiche Bücher vom wahren Christenthum" 3 , „Sechs Bücher vom wahren Christenthum" 4 und schließlich „Sämtliche Bücher vom wahren Christenthum" 5 auf, die durch verschiedene kleinere Arndt-Schriften vermehrt den Eindruck erwecken können, als handle es sich bei den „Vier Büchern vom wahren Christentum" um eine beliebig zu erweiternde Zahl. Nach Arndts Intention, die schon lange vor der Fertigstellung aller vier Bücher feststand, ist dies jedoch keineswegs der Fall. Von Gott und dem Menschen handeln alle vier Bücher, und zwar in der Weise, daß Gott seine lebendige Erkenntnis den Menschen in vier Büchern offenbart hat. Der Ausdruck „Bücher" will auf der Seite Gottes in metaphorischer Weise seine vier Offenbarungsweisen gegenüber den Menschen zum Ausdruck bringen, die Arndt in seinen vier Büchern den Lesern kommentierend zur geistlichen Übung bereitstellt. Zwischen den göttlichen „Büchern" in ihren verschiedenen Offenbarungsweisen und den schriftlich komponierten Büchern Arndts besteht also ein tiefsinniges Entsprechungsverhältnis. Als äußere, sichtbare Dokumente weisen sie auf die eigentlichen göttlichen „Bücher" hin, auf das innere, unsichtbare Geschehen zwischen Gott und den Menschen. Äußeres und Inneres, schriftliches Wort und Geist, bedingen sich wechselseitig. Die „Vier Bücher vom wahren Christentum" Arndts geben Zeugnis von den vier Offenbarungsweisen Gottes und wollen in vierfacher Weise zu Gott hinführen. Im ersten Buch geht es um das Bild Gottes im Menschen, seinen Fall und seine Erneuerung in der Wiedergeburt nach der Heiligen Schrift. Im zweiten Buch stehen Christi Menschwerdung und sein Leiden als Spiegel für unser Leben vor uns. Im dritten Buch will Arndt das Reich Gottes im menschlichen Herzen veranschaulichen und im vierten „wird dich die ganze Natur überzeugen, was du Gott und deinem Nächsten schuldig bist, wie auch das große Weltbuch der Natur zeuget von dem Schöpfer und zu ihm führet" 6 . Die Bewegung geht vom Schöpfer über die Schöpfung des Mikro- und Makrokosmos zum Lobpreis der Werke Gottes, wobei der Mensch als Spiegelbild Gottes im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Aber dieser Innenaspekt ist von Anfang an mit dem Außenaspekt von Gottes Gegenwart in seiner gesamten Schöpfung als Grundkonzeption der vier Bücher vom wahren Christentum verbunden. Neben der bisherigen und noch vielfach weiterzuführenden Quellenkritik muß auch die redaktionelle Endgestalt der „Vier Bücher vom wahren Chri-
3 4 5 6
Frankfurt a.M. und Leipzig 1686. Lemgo 1712. Leipzig 1715. Vorrede des ersten Braunschweiger Druckes 1606. Zit. nach W. Koepp (Anm. 2), 41.
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stentum" stärker bedacht und in ihrer Bedeutung inmitten der Tradition vor, neben und nach Arndt gewürdigt werden.7 In ihrer Gesamtanlage werden Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum" allgemein als ein zweiteiliges Werk angesehen.8 In den ersten, zusammengehörigen drei Büchern steht der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott im Mittelpunkt, während der erste Teil des vierten Buches anhand einer Meditation des Sechstagewerkes der Schöpfung zur Erkenntnis Gottes aus der Natur führen möchte. Nach diesem Blick auf den Makrokosmos in Gottes Schöpfung wird im zweiten Teil des vierten Buches wieder auf den Menschen als Mikrokosmos zurückgelenkt, in dem sich Gottes Schöpfung vollendet. Wenn auch in der weitreichenden und vielgestaltigen Wirkungsgeschichte der „Vier Bücher vom wahren Christentum" das letzte Buch der Natur weniger Beachtung gefunden haben mag,9 so gehört es doch zentral zur Komposition des Gesamtwerkes hinzu. Sowohl die erwähnte Vorrede des ersten Braunschweiger Druckes von 1606 sowie ein Brief Arndts an Johann Gerhard vom Januar 160810 geben über dieses Selbstverständnis Arndts eindeutig Auskunft. In der theologisch-kirchenhistorischen Arndtforschung der letzten Zeit ist der Liber naturae als Grundlage für Arndts Naturbild im Zusammenhang seiner Theologie und Frömmigkeit kaum näher in den Blick getreten. Martin Brecht hebt darum mit Recht hervor: „Das Nebeneinander von Vereinigungsmystik und Naturtheologie wurde damals nicht so heterogen empfunden, wie es heutige Arndtinterpreten anmutet. Insofern ist das vierte Buch auch keineswegs nachklappender Anhang."11 7
Darauf macht mit Recht Hans Schneider aufmerksam: Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum". Offene Fragen der Quellen- und Redaktionskritik. In: Pietas in der Lutherischen Orthodoxie. Hg. v. U. Sträter, Wittenberg 1998, 61-77, 65. 8 Vgl. J. Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 1990, 17f. 9 Wallmann (Anm. 8), 18. 10 „Prior libellus ad interiorem hominem viam sternit et patefacit, secundus ad internum hominem propius deducit, ad gustum nempe rerum spiritualium per crucis tolerantiam; tertius hominem totum intro convertit et in seipsum introducit, regnumque Dei intus latere demonstrat; quartus per macrocosmum et naturae librum Deum auctorem et conditorem naturae pectoribus humanis intime insinuat. Homo enim totius universi epitome, microcosmus, scopus et centrum macrocosmi est, in quem omnia conferunt Deus et natura, attestante hominis conscientia." 29. Januar 1608. Aus: [M. Breier (Hg.):] Warhafftiger/Glaubwirdiger und gründlicher Bericht von den vier Büchern vom Wahren Christentumb Herrn Johannis Aradten [...], Lüneburg 1625, 7. - Ich verdanke den Hinweis auf diesen Brief Hans Schneider, Johann Arndt als Paracelsist. Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Hg. v. P. Dilg und H. Rudolph. Akademie der Diözese Rottenburg/Stuttgart, Stuttgart 1995, 99. 11 M. Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, 138. - Zum vierten Buch vgl. neuerdings die systematisch-theologische Dissertation B. Gruebner, Gott und die Lebendigkeit in der Natur. Eine Interpretation des Dritten und Vierten Buches von Johann Arndts „Wahrem Christentum", Hamburg 1998 (= Arbeiten zur Theologiegeschichte 4).
Verbindung von göttlicher Offenbarung und biblischer Naturwissenschaft
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Im folgenden möchte ich einige Grundaspekte des Bildes der Natur bei Johann Arndt auf der Grundlage des ersten Teils des vierten Buches herausstellen.12 So notwendig die weitere quellenkritische Erforschung gerade auch des vierten Buches von Arndts Wahrem Christentum ist, so wichtig ist doch auch die Wahrnehmung und Reflexion dessen, was die unzähligen Leser der „Vier Bücher vom wahren Christentum" gerade auch im letzten Buch über ihre Begegnung mit der Natur erfahren. Zunächst eine rein äußerliche Beobachtung, die jedem Leser des Gesamtwerkes auffallen muß, für die Frage nach der Bedeutung der Natur inmitten der Frömmigkeitsübungen auf der Grundlage des wahren Christentums jedoch von besonderem Gewicht ist. Warum zitiert Arndt verschiedene Bibelstellen lateinisch (nach der Vulgata) und spart nicht mit Fachausdrücken und längeren lateinischen Zitaten gerade im vierten Buch?13 So sehr Arndt seine verschiedenen paracelsischen Vorlagen auch einem größeren Leserkreis vereinfachend wiederzugeben versucht, so ist doch der Anspruch unverkennbar, daß die Leser in diesem „großen Weltbuch der Natur" die aktuelle wissenschaftliche Weltdeutung „nach christlicher Auslegung" dokumentiert bekommen. Arndt gibt immer wieder Anleitungen, wie die verschiedenen Phänomene der Natur nach der Meinung der „wahren Philosophie" zu verstehen seien. Auch die einzige Nennung des Paracelsus im vierten Buch und der umschreibende Hinweis auf ihn als „einen vortrefflichen Teutschen Philosophus(i)" deutet in dieselbe Richtung.14 Die Offenbarung Gottes in seinem vierten „Buch", d.h. in seiner Schöpfung, und die rechte wissenschaftliche Reflexion darüber auf der Grundlage des wahren Christentums - Offenbarung und biblische Naturwissenschaft - sind engstens miteinander verbunden. Die biblische Grundlage, vor allem Hiob und die Psalmen, wird ergänzt und bestätigt durch die paracelsische Naturphilosophie, so daß das alte Doppelmotiv vom „Buch der Schrift" und dem „Buch der Natur" in Gestalt einer wechselseitigen Beglaubigung bei Arndt neues Gewicht erhält. Das Hauptmotiv für diese neue Gewichtung der Natur gegenüber der Bibel sehe ich in der tiefen Verunsicherung, die Arndt und seine Zeitgenossen in bezug auf das Weltbild am Anfang des 17. Jahrhunderts erfahren. Gottes schöpferische Gegenwart in seiner Schöpfung ist Arndt offenbar nicht mehr in der Weise Luthers erlebbar,15 sondern bedarf der Absicherung durch rationale Reflexionen, die sich auch auf bestimmte Autoritäten gründen müssen. Arndts klare Position zugunsten der paracelsischen Naturphilosophie und gegen den neu12 Die folgenden Stellenangaben beziehen sich auf die Ausgabe des Evangelischen Bücher-Vereins, Berlin 6 1857. 13 Z.B. W.Chr. IV/15, 21. 14 W.Chr. IV/14, 13 und 5, 12 und 29. 15 Z.B. in Luthers Abendmahlsschrift von 1527: „Daß diese Worte Christi ,das ist mein Leib' noch feststehen [...]", in der er den Begriff der „Rechten Gottes" auslegt, WA 23, 135; 134,21; 137, 14.
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Gottes Odem in der Schöpfung
scholastischen Zeitgeist an den Universitäten bestätigt nur dieses allgemeine Sicherungsbedürfnis, das auf weitläufig erklärende Beschreibung der Naturphänomene nicht verzichten kann. Wie stark die Verklammerung zwischen dem liber scripturae und dem liber naturae beachtet werden muß, zeigt schon die Vorrede zum ersten Buch. Nach der Klage über das falsche Christentum des äußeren Scheins bei vielen Christen und über die Theologie als einer „bloßen Wissenschaft und WortKunst" wird das wahre Christentum „in Erweisung des wahren, lebendigen, thätigen Glaubens, durch rechtschaffene Gottseligkeit, durch Früchte der Gerechtigkeit" beschrieben und zur Nachfolge des niedrigen Lebens Christi aufgerufen. 16 Es ist auffallend, daß sich der Blick Arndts nach diesem Eingang sofort in den ganzen Schöpfungskosmos weitet: „Nicht allein aber ist das gottlose Leben und Wesen Christo und dem wahren Christenthum ganz zuwider, sondern es häufet täglich Gottes Zorn und Strafe, also, daß Gott alle Creaturen wider uns rüsten muß zur Rache, daß Himmel und Erde, Feuer und Wasser wider uns streiten müssen, ja die ganze Natur ängstet sich darüber, und will brechen. Daher muß elende Zeit kommen, Krieg, Hunger und Pestilenz. Ja die letzten Plagen dringen so heftig und mit Gewalt herein, daß man fast vor keiner Creatur wird sicher seyn können. Denn gleichwie die greulichsten Plagen die Egypter überfielen vor der Erlösung und Ausgang der Kinder Israel aus Egypten: also werden vor der endlichen Erlösung der Kinder Gottes schreckliche, greuliche, unerhörte Plagen die Gottlosen und Unbußfertigen überfallen. Darum hohe Zeit ist, Buße zu thun, ein ander Leben anzufallen, sich von der Welt zu Christo zu bekehren, an ihn recht zu glauben, und in ihm Christlich zu leben, auf daß wir unter dem Schirm des Höchsten und Schatten des Allmächtigen sicher seyn mögen." 17 Arndts Klage über die Diskrepanz zwischen dem äußeren Schein und der inneren Hohlheit im Leben und Denken vieler Christen bezieht sofort die ganze Natur und das politisch-soziale Leben mit ein, in dem sich schreckliche Plagen und Katastrophen ankündigen. Die apokalyptische Färbung dieser Eingangspassage zum gesamten Werk zeigt das zeittypische Unsicherheitsund Bedrohtheitsbewußtsein, das sich gerade auch im Erleben von Naturkatastrophen ausdrückt. Darüber hinaus gibt diese Stelle aber auch einen deutlichen Hinweis, in welchem Gesamtrahmen das wahre Christentum im Sinne Arndts zu verstehen ist. Von der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit, ihrem Verlust durch den Fall Adams und der Wiedergeburt und Erneuerung in Christus zum ewigen Leben führt der Heilsweg zur Erneuerung der ganzen Schöpfung. Wie Gott in seinem Mensch gewordenen Wort, in Christus, handelt, so wirkt er auch durch die „signa" der Natur. Die Erlösung des Menschen von seiner Sünde des Abfalls von Gott steht im engsten Zusammen16 Vorrede W.Chr., 6. 17 Ebd., 7.
Der Himmel als Gleichnis für die Allgegenwart Gottes
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hang der Wiederherstellung der ganzen göttlichen Schöpfungsordnung. Von dem ersten Kapitel des ersten Buches, das den Schöpfungszweck des Menschen als ein Spiegelbild Gottes beschreibt, bis zu dem vierten Buch der Darstellung des göttlichen Sechstagewerkes und der Aufgabe des Menschen in ihm, schlägt sich ein großer Bogen, der die Stellung des vierten Buches und seine Bedeutung erst recht verständlich und unverzichtbar macht. Der einzelne Christ wird auf seinem Weg der Nachfolge Christi in die ganze Schöpfung hineingestellt, so daß die „Creaturen" als „Hände und Boten Gottes" verstanden werden können, „die zu Gott führen sollen".18 Mit Hinweisen auf einschlägige Bibelstellen und die Kirchenvätertradition reagiert Arndt auf kritische Vorbehalte mit der eigentlich unnötigen Erklärung, „daß auch dies Buch zum wahren Christenthum gehöre". Denn auch Christus hat „aus dem großen Welt-Buch der Natur durch so viel tröstliche Gleichnisse das wahre Christenthum und das Himmelreich erkläret, und seinen Kindern vor Augen" 19 gestellt. Die Kreaturen können aber nur dann zur Erkenntnis und zum Lobpreis Gottes führen, wenn zwischen dem Geber und der Gabe klar unterschieden wird. Wenn der Mensch sein Herz an die sterblichen Kreaturen hängt, dann geraten diese unter den göttlichen Fluch. Die hohe Verantwortung des Menschen für die ganze Schöpfung wird damit deutlich unterstrichen.20 Durch die Aufnahme und Bearbeitung seiner vielfältigen Vorlagen in der Gesamtkomposition des vierten Buches wird doch ein Grundzug in Arndts Naturbild sehr deutlich: Alle Bereiche der Schöpfung, die Luft, die Erde und das Meer, sind von einer großen Harmonie umschlossen, in der alles Einzelne in einer geheimnisvollen Verwandtschaft zueinander steht. Gottes Odem strömt als lebendigmachende und erhaltende Kraft durch alle Dinge. „Wenn nun Gott von den Creaturen dies sein Lebens-Wort und Kraft wieder hinwegnimmt, so vergehen sie, und werden wieder zu Staub, fallen wieder in ihr eigen Nichts."21 Diese Allgegenwart Gottes in seiner Schöpfung kann besonders gut an der Beschreibung des Himmels wahrgenommen werden. Nachdem Arndt das Wesen des Himmels in seiner Reinheit, Subtilität und Klarheit gegenüber der Grobheit der Erde in starker Anlehnung an seine paracelsischen Quellen herausgestellt hat, fragt er: „Sollte nun dies wunderschöne, reine, lautere Wesen des Himmels [...] nicht ein herrlicher Zeuge Gottes seyn?" In charakteristischer Weise gibt Arndt die Antwort: „Was bedeutet die große Cirkel-Runde des Himmels mehr, denn die Ewigkeit Gottes? [...] Was bedeutet die unaussprechliche große Rotundität, oder Runde, des Himmels anders, denn die
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Vorrede zu W.Chr. TV/1, 434. Ebd., 3. Ebd., 6. W.Chr. I V / I 6 , 13.
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Allgegenwart Gottes? Denn so der Himmel alles beschließet, und mit unermesslicher Weite alles hält, hebet und traget; wie solle Gott nicht alles beschließen, halten, heben und tragen?" 22 Daß der Himmel ein Gleichnis für die Ewigkeit und Allgegenwart Gottes ist, wird reflektierend erklärt: „[...] denn wie in einem Cirkel weder Anfang noch Ende ist: Also ist auch in Gott weder Anfang noch Ende." 23 Nicht ein unmittelbares Erfahren der gegenwärtigen göttlichen Kraft in allen Geschöpfen steht offenkundig hinter solchen Formulierungen, sondern eine reflektierende Symbolik, die aus einem nicht mehr selbstverständlichen Wahrnehmen Gottes in seiner Schöpfung erwächst, wie dies bei Luther der Fall ist. Aber die von göttlichen Kräften durchwaltete Natur kann Arndt durchaus anschaulich zum Ausdruck bringen. Dies wird bei seiner Beschreibung der Erde deutlich: „Und obwohl die Erde auswendig ungestaltet, grob, hart, dick, finster, todt, dürr und kalt ist; so ist sie doch inwendig ein edles, lebendiges Element, von dem Schöpfer mit vielem Segen, unaufhörlicher Fruchtbarkeit und Saam-Kräften erfüllet, die nimmer ruhen, sondern als verborgene lebendige astra immer arbeiten, und keine Ruhe haben, bis sie ihre liebliche Früchte hervortreiben, und auf das allerzierlichste ausarbeiten, mit Form, Proportion, Kleidung, Geruch, Geschmack und Farben, dadurch sie dem Menschen ihre inwendige Kraft und Vermögen anzeigen."24 Das unentwegte Absterben und neue Wachsen der Pflanzen in der Natur ist ihm ein Gleichnis für das Ablegen des alten Menschen und das Anziehen des neuen: „Da treten die Erd-Gewächse hervor aus der Erden, als aus ihrer Schlaf-Kammer, und haben abgelegt den alten Leib; und einen neuen angenommen, der zart, jung, blühend ist: denn der alte ist verfaulet und gestorben. Sie haben den alten Rock ausgezogen, und ein neues Kleid angelegt [...] alsdann fahen sie an durch ihre schöne verneuerte Gestalt und edlen Geruch und Farbe mit uns zu reden. Denn das ist ihre Sprache. Als wollten sie sagen: Sehet, ihr MenschenKinder, ihr Ungläubigen, wir waren todt, und sind lebendig worden. Wir haben unsern alten Leib und Kleider abgelegt, und sind neue Creaturen worden. Wir haben uns erneuert in nostro fonte, in unserm Ursprung. Ziehet ihr auch euren alten Menschen aus, und ziehet den neuen Menschen an. Eph 4,23.24. Erneuert euch auch in euerem ewigen Ursprung, welcher ist Gott euer Schöpfer, nach welchem ihr gebildet seyd."25 Aufschlußreich ist die Formulierung: „Als wollten sie sagen [...]." Die Natur spricht offenkundig nicht mehr unmittelbar zum Menschen, der deutende Interpret muß ihre Sprache entschlüsseln. In Anlehnung an Paracelsus kennt auch Arndt eine „Chiffrenschrift der Natur", die nur von den wahrhaft
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W.Chr. W.Chr. W.Chr. W.Chr.
IV/I IV/I IV/I IV/I
2, 4 und 8. 2, 7. 3,10. 3, 11 und 12.
Die Natur als große Apotheke Gottes
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Verständigen gelesen werden kann, nicht von den überkommenen Autoritäten der Medizin: „Da hat Gott zugerüstet eine große Apotheke, und ein groß Kräuterbuch ganz wunderlich und vollkömmlich geschrieben. Das ist ein lebendiges Buch, nicht wie man die Kräuter in Büchern beschreibet, und als einen todten Schatten abmalet; sondern in Gottes Buch sind lebendige Buchstaben, welche allen Menschen, großen und kleinen, gelehrten und ungelehrten vor Augen gestellet werden: allein, daß sie nicht von jedermann recht gelesen werden, darum, daß sie die schöne herrliche Signatur und Zeichnung der Kräuter nicht kennen. Dieselbe muß man zuvor wissen; so kann man diese herrliche, schöne, lebendige Buchstaben lesen und zusammensetzen. [...] Du wirst an jedem Kraut und Blümlein sonderliche Zeichen finden, welche sind die lebendige Handschrift und Überschrift Gottes [.. .]."26 An dieser Naturdeutung Arndts als große Apotheke Gottes fällt zunächst der auch sonst immer wieder auftauchende Gegensatz zwischen einer lebendigen Naturbeobachtung und einer toten „Schattenabmalung" auf, womit die Ablehnung der traditionalistischen, antiempirischen Naturwissenschaft zum Ausdruck kommt. Das Naturbuch Gottes mit seinen lebendigen Buchstaben steht zwar allen Menschen vor Augen, aber nur die Wissenden können die Zeichnung entziffern. Es sind diejenigen, die nicht allein auf „die äußerliche Form und Signatur" achten, „sondern die innerliche verborgene Form" erkennen und „die Kunst der Scheidung" zu üben verstehen, so daß die göttliche Kraft wirken kann, „in welcher die rechte Arzeney liegt, die pur lautere Essenz und helles Licht aus ihrem Schaalen Häuslein und Kästlein, darin sie Gott der Herr geleget hat: so wirst du erst die Güte des Schöpfers schmecken in seinem Werk, und ihn von Herzen preisen [,..]" 27 . Die medizinischen Studien und Tätigkeiten Arndts im paracelsischen Geist wirken stark in seine Naturbeschreibung hinein. Das Bild von der Apotheke und dem Kräuterbuch Gottes möchte aber vor allem von seiner Liebe, Güte und Allmacht Zeugnis geben. In der Art und Weise, wie Arndt die verborgene göttliche Kraft in der Natur beschreibt, wird m.E. ein aufschlußreicher Unterschied zu einem Hauptgedanken Luthers in seiner Schöpfungstheologie deutlich. Es sind die bekannten und viel diskutierten Aussagen Luthers über die Kreaturen als Gottes „Mummerei" und „Larven", in denen die große Nähe Gottes zu seiner Schöpfung zum Ausdruck gebracht wird, ohne mit ihr je zusammenzufallen: „Alle Kreaturen sind Gottes Larven und Mummereien, die er will lassen mit ihm wirken und helfen allerlei schaffen, das er doch sonst ohn ihr Mitwirken tun kann, und auch tut; auf daß wir bloß an seinem Wort alleine hangen." 28 Der zweite Teil dieses Lutherzitates ist für das Verständnis der Rede Luthers von den Kreaturen als Gottes „Larven" entscheidend. Es ist das Wort Gottes,
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W.Chr. IV/I 3, 13 und 14. W.Chr. IV/I 3, 15. WA 17, 2, 192, 28ff. Vgl. auch WA 20, 273, Iff.; 274, 12ff.
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das uns allein die Augen öffnen kann, so daß wir Gottes Wunder in der Natur recht sehen lernen. Aber seine schöpferische Souveränität zeigt sich nicht zuletzt auch darin, daß Gott durch alle Kreaturen als seiner Maske wirkt und schafft. Die ganze Schöpfung hat den Auftrag, mit Gott zusammenzuwirken. Das Bild Luthers unterscheidet sich nun erheblich von demjenigen Arndts. Seine vielgestaltige Rede von dem lebendigen Buch Gottes gegenüber dem toten Buch der Schulgelehrsamkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade diese Lebendigkeit im schöpferischen Wirken Gottes in Luthers Theologie sich bei Arndt abschwächt bzw. einen anderen Akzent erhält. In dem großen Weltbuch der Natur hat Gott seine Zeichensprache tief verborgen niedergelegt, die nur mit geisterfüllten Augen wahrgenommen werden kann. Aus Gottes immerwährendem lebendigen Wirken in seiner Schöpfung durch seine „Larven" wird ein Gleichnis vom Schreiber eines Buches und der rechten Interpretation seiner Sprache, die auch unabhängig seiner gegenwärtigen Wirksamkeit ihre Gültigkeit behält. Die Grenzen dieser metaphorischen Rede vom Buch der Natur und seiner lebendigen Chiffrensprache werden im Gegenüber zu Luther gerade hinsichtlich des Verhältnisses Gottes zu seiner Schöpfung als dem semper ubique actuosus29 besonders deutlich. Aber im Naturbild Arndts ist nicht nur diese Linie von der ursprünglichen Lebendigkeit in Luthers Schöpfungsbild zu einem inneren Wahrnehmungsvorgang beim Menschen mit rationalen Erklärungen zu beobachten, sondern auch das Neue und Vorwärtsdrängende, das sich mit ihm ankündigt. Die Wirkung von Arndts Naturbeschreibung auf die Naturlieddichtung des Luthertums im 17. Jahrhundert ist beträchtlich und längst noch nicht genug erforscht. 30 Auch die Verbindungslinien von Arndts Naturbild zur Physikotheologie der Aufklärungszeit müßten weiter bedacht werden.31 Daß Arndt seine vielzähligen Leser in weitläufigen Beschreibungen konsequent auf die Naturbeobachtung verweist und auf die Wunder Gottes in seinen Schöpfungswerken immer wieder abhebt, um auf diese Weise seine Güte, Weisheit und Majestät zu preisen, kann für die protestantische Frömmigkeitsgeschichte nach Arndt gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Staunen vor den Wundern Gottes in seiner Schöpfung trägt bei Arndt noch keine da29 WA 18, 753, 14. 30 Vgl. die Hinweise bei E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom wahren Christentum, Marburg 1969, 180 und 225, Anm. 32. Die Arbeit von I. Röbbelen, Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, Göttingen 1957, hat die geistliche Naturlieddichtung dieser Zeit in der Tat kaum beachtet, wie schon E. Weber bemerkte. - Zur Natur-Dichtung vgl. H.-G. Kemper, Gottebenbildlichkeit und Natumachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung, Bde. I und Π, Tübingen 1981, passim und H.-H. Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern, München 1976, passim. 31 Vgl. E. Weber (Anm. 1), 178ff.
Die Leiden in der Natur und die Schuld des Menschen
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von losgelösten ästhetischen Züge. Aber das ganze Weltall wird in seiner Totalität als ein Gegenüber des Menschen wahrgenommen, in dem Gottes Fürsorge genauso waltet wie im individuellen Leben. Das wird an den Stellen des vierten Buches besonders deutlich, wo die Natur als Mutter beschrieben wird. 32 Hier wird auch das Leben in der Natur als ein wunderbar geordneter Kosmos vorgeführt, in dem alle einzelnen Teile miteinander zusammenhängen: „Und hanget die ganze Natur an einander, als an einer Kette, wie solche auream catenam naturae et providentiae devinae, goldene Kette der Natur und göttlichen Fürsorge. [...] Denn die untersten Kräfte der Erde hangen alle an den obern Kräften des Himmels. Wenn der Himmel in seiner Wirkung verhindert wird, und nicht gütig ist; so kann auf Erden nichts wachsen. So rufet die Erde in ihrer Angst, und durch dieselbe den Himmel an in dürrer Zeit, wenn sie ihren Mund aufthut, von einander spaltet, und nach dem Regen dürstet. [...] Wenn denn die Erde ohne Saft ist, so wollen die Gewächse gern Trinken haben von ihrer Mutter, das ist, von der Erde, wie ein Kind nach der Mutter schreyet, wenns durstig ist."33 Die überlieferte Mikro-Makrokosmos-Vorstellung im Verhältnis des Menschen zur Natur will in ihrer Aufnahme bei Arndt vor allem die Verantwortung des Menschen für die ganze Schöpfung zum Ausdruck bringen. Nachdem Sonne, Mond und Sterne als Zeichen für Gottes Allmacht, Weisheit und Wahrheit herausgestellt wurden, geht Arndt auch auf „die Finsternisse der großen himmlischen Lichter" ein, die er als Spiegel des Zornes Gottes deutet, die uns an unsere Sünde erinnern.34 Und gerade diese Erinnerung an die menschliche Sünde vermag Arndt sehr anschaulich zum Ausdruck zu bringen, indem er im Anschluß an Rom 8,19-22 das Ängstigen und Leiden in der Natur als Schuld des Menschen beschreibt: „Die Finsternisse verkündigen und bringen allerley Jammer auf Erden, Hunger, Krieg und Pestilenz; welches alles die Menschen verursachen. Denn alle Creaturen und die ganze Natur ängstet sich, und hat ihr Leiden und Angst; welches Leiden der großen Welt hernach auch im microcosmo, das ist, im Menschen, vollbracht wird. Was dem Menschen widerfahren soll, das leidet zuvor die Natur und die große Welt. Denn aller Creaturen Leiden, Gutes und Böses, ist auf den Menschen gerichtet, als auf ein Centrum, darein alle Linien des Cirkels zusammen schließen. Denn was der Mensch verschuldet, das muß zuvor die Natur leiden. Je größere Sünde der Menschen: je mehr die Creaturen leiden, und sich ängsten." 35 Dieses ängstliche Sehnen und Harren der Kreatur hat in Arndts Naturbild eine zentrale Bedeutung. Nicht nur durch die Verbindung
32 Z.B. I V / I 3 , 4 9 . 33 W.Chr. IV/14, 36 und 37. 34 Arndt bemerkt hierzu ausdrücklich, daß dies auch natürliche Ursachen habe. Dies sieht er aber nicht im Widerspruch zu seiner Deutung. W.Chr. IV/14, 54. 35 W.Chr. IV/14, 55.
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mit der Sünde der Menschen, sondern auch dadurch, daß Gott die Angst der Natur ansieht und als „Erhalter der Natur" dadurch bewegt wird.36 Am Schluß des ersten Teils des vierten Buches kommt Arndt vor allem in Anlehnung an den 104. Psalm auf den Menschen als Krone der Schöpfung zu sprechen, aber in Arndts charakteristischer Sprache als „schönste Creatur" 37 . Es ist als Überleitung zu verstehen zum zweiten Teil des vierten Buches, in dem der Mensch inmitten der Schöpfung auf der Grundlage des „Liber creaturarum" des Raimund von Sabunde beschrieben wird. Das Staunen über die Großartigkeit der Schöpfung in allen ihren Teilen und der göttlichen Fürsorge in ihr, kommt bei der Schöpfung des Menschen zum Höhepunkt: „Alle Creaturen sind nur Gottes Spur und Fußstapfen: der Mensch aber ist Gottes Bild, welcher den Schöpfer sollte vor Augen stellen."38 Der Lobpreis Gottes in seinen Geschöpfen und die Schönheit der menschlichen Seele, wenn sich Gott selbst darin spiegelt - mit diesem thematischen Grundzug hat Arndt wieder zum Beginn des ganzen Werkes zurückgelenkt. Daß Naturbetrachtungen auch in der Verkündigung Arndts einen festen Platz haben, zeigt der Blick auf die Psalterpredigten, dem umfangreichsten Werk Arndts überhaupt. 39 In Predigten zum 19. und zum 104. Psalm begegnen ganz ähnlich geprägte Grundgedanken wie im vierten Buch des Wahren Christentums. Die Herrlichkeit des Himmels zeugt von der Allmacht und Weisheit Gottes, und die in ständiger Bewegung befindlichen Sterne in ihren festgefügten Bahnen zeigen den Willen Gottes, kein Haar breit von seinen Verheißungen an die Menschen abzuweichen nach dem Grundsatz, daß Gott „nichts äusserliches und leibliches geschaffen [hat], das uns nicht zu [seiner] Erkäntniß und zu dem innerlichen und geistlichen Wesen führe" 40 . Alle natürlichen Phänomene auf der Erde und die Bewegungen des Kosmos weisen auf die hinter der äußeren Erscheinung liegende „geistliche Wahrheit" 41 . Auch das Bestreben, die empirische naturwissenschaftliche Erkenntnis im paracelsischen Geist mit biblischen Aussagen abzusichern, ist in den Psalterpredigten ähnlich wie im Liber naturae. Wo es Arndt sinnvoll erscheint, scheut er sich auch nicht, hebräische, griechische und lateinische Ausdrücke in seinen Psalterpredigten für Naturbeobachtungen zu verwenden. Wie im vierten Buch des Wahren Christentums taucht auch in den Psalterpredigten das von Paracelsus vielfach gebrauchte Ei-Gleichnis auf, wonach die Erde 36 37 38 39
W.Chr. IV/I 6, 8. W.Chr. IV/I 6, 8ff. und 25. W.Chr. IV/I 6, 24. Zu den Psalterpredigten Arndts vgl. meine Untersuchung Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988, 173ff. 40 Psalterpredigten I, 995. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe Frankfurt a.M. 1701. 41 Psalterpredigten I, 774.
Naturbetrachtungen in den Psalterpredigten
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wie das Dotter im Ei in der Mitte der Welt hängt und auf dem Wasser schwebt, das Wasser wiederum von der Luft getragen wird und die Schale die Feste des Himmels ist, die die Luft nicht entweichen läßt und so alles stabil erhält. Die Wolken fallen nicht vom Himmel ratione vacui, weil „die Natur keine leere Statt leidet"42. Die Anlehnung an die Kosmologie des Paracelsus ist aber in den Psalterpredigten nur partiell spürbar. In zahlreichen Predigten ist das aristotelischptolemäische Weltmodell mit seinem Erdzentrismus und dem achtfachen Fixsternhimmel deutlich vorausgesetzt. Entsprechend der Vorrede Arndts zu seinen Psalterpredigten werden die Schöpfungsaussagen der Psalmen auf das Wesen der christlichen Kirche bezogen. Das Himmelsgewölbe weist nicht nur auf die Allmacht und Weisheit des Schöpfers, sondern auf den „geistlichen Himmel" hin, auf die Kirche. Das Wort der Schöpfung ließ den Himmel entstehen, sowie das Wort des Evangeliums die Kirche baut und erhält. Die Wirkungen der Sterne im Universum werden mit dem Wirken der Gnade Gottes in der Kirche verglichen. Wie die Sonne das Universum erstrahlen läßt, so erhält die Sonne Christus die Gläubigen mit seiner Erkenntnis. Es wird „die Stimme des Evangelii so lange schallen, so lange die Welt stehet" 43 . Die ekklesiologische Deutung der Schöpfung in den Psalterpredigten wird z.B. an der Stelle Gen 15,5f. charakteristisch deutlich: Wenn Abraham auf die Sterne verwiesen wird als Verheißung für seine zahlreiche Nachkommenschaft, so bezieht dies Arndt auf die unzähligen Gläubigen in der Kirche aller Zeiten, die den Blick aus aktuellen Nöten weiten können und das Vertrauen auf die Treue Gottes stärken.44 Die „Lehre von der heiligen christlichen Kirche" in ihrer äußeren wie innerlich-geistlichen Gestalt - das Hauptthema der Psalterpredigten - kommt immer wieder mit Vergleichen und Beziehungen auf die Werke der Schöpfung zu sprechen. Das Naturbild Arndts wird auch an den zahlreichen medizinischen Hinweisen und Erklärungen deutlich, die sich in den Psalterpredigten, kaum jedoch in den Katechismuspredigten finden. Hinsichtlich der verschiedenen Einwirkungen der Kräfte des Himmels auf die Erde und der Empfehlung bestimmter Mittel für Krankheiten, deren Ursachen er „aus den vier Elementen, woraus der Mensch lebet"45, versteht, unterscheiden sich die Psalterpredigten kaum von dem paracelsisch gefärbten Naturbild im vierten Buch des Wahren Christentums. Allerdings kann Arndt auch auf Hippokrates durchaus positiv hinweisen, da dieser die meisten Heilkräuter im Gebirge gesammelt habe. 46 Auch eine interessante Gegenüberstellung zwischen Medizinern und Theologen weist nicht in eine einseitige Abhängigkeit von einer paracelsisch be42 43 44 45 46
W.Chr. IV/I 3, 8. Psalterpredigten 1,434-438. Psalterpredigten I, 772. Psalterpredigten I, 986. Psalterpredigten Π, 305r.
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Gottes Odem in der Schöpfung
stimmten Medizin. Die Ärzte sind auf den äußerlichen Gesichtssinn angewiesen, während der Glaube mit den Augen des Heiligen Geistes zu sehen vermag: „Die Medici lehren de oculo, de modo visionis [...] der Heilige Geist aber ist unser Auge, und der modus visionis, die Art zu sehen, ist der Glaube. Im Glauben können wir dies nicht allein sehen, sondern auch haben und besitzen. Der Glaube machet uns Christum zu eigen: wer nun Christum hat, der hat [...] alle Gnaden-Schätze des himmlischen Vaters, ja den Vater selbst und den Heiligen Geist."47 Theologia, Politia und Philosophia als Erkenntnis der Natur sind die drei Wissenschaften, in denen sich die göttliche Weisheit den Menschen mitteilt.48 Die Medizin ist nicht darunter. Hinsichtlich des Naturverständnisses Arndts zeigt somit der Hinweis auf die Psalterpredigten nicht nur vielfältige Verbindungslinien zum Wahren Christentum, sondern auch einige unausgeglichene Spannungen, die vor einer zu schnellen Einordnung Arndts in eine bestimmte Richtung warnen können. Sollte Arndt sich bei dem Gegenüber zwischen paracelsischer und hippokratisch-galenischer Medizin in seinem freilich wesentlich paracelsisch geprägten Naturbild doch zuweilen nach dem Grundsatz gerichtet haben: „Prüfet alles, und das Gute behaltet" (1. Thess 5,21)? Diese Frage führt mitten in die gegenwärtige Diskussion über Arndt, so daß eine schlüssige Antwort wohl zur Zeit noch nicht gegeben werden kann. Im vierten Buch des Wahren Christentums verweist Arndt seine Leser bei der Frage, warum das Meer durch das unentwegt in es hineinströmende Wasser nicht voller werde und warum es salzhaltig ist, auf einen „vortrefflichen Teutschen Philosopho", bei dem sie „gründlichen Bescheid" finden können.49 Damit ist der schon vorher namentlich genannte Paracelsus gemeint, dessen zahlreiche Schriften Arndt bei der Gestaltung seines Buches der Natur als Vorlage dienten. Bekanntlich hat den Titel „Philosophus teutonicus" wenig später Jakob Böhme von seinem Freund, dem Liegnitzer Arzt Balthasar Walther, erhalten.50 Es ist offensichtlich, daß dieser Ehrentitel Böhme im Geist des Paracelsismus erteilt wurde. Damit ist die gemeinsame Grundlage benannt, auf der das Bild der Natur bei Johann Arndt und Jakob Böhme neben vielen Gemeinsamkeiten vor allem jedoch tiefgreifende Unterschiede erkennen läßt. Nur zur etwas deutlicheren Wahrnehmung einiger Grundzüge in Arndts Naturbild sei hier auf Jakob Böhme geblickt, dessen Erstlingsschrift „Aurora oder Morgenröte im Aufgang" zwei Jahre nach der ersten Ausgabe der „Vier Bücher vom Wahren Christentum" entstanden ist.51 47 48 49 50 51
Psalterpredigten I, 355-356. Psalterpredigten II, 198. W.Chr. IV/I5, 12. E.-H. Lemper, Jakob Böhme. Leben und Werk, Berlin 1976, 17. Es sei hier nur auf Böhme-Literatur hingewiesen, die mir bei der schwierigen BöhmeLektüre hilfreich gewesen ist: E. Metzke, Von Steinen und Erde und vom Grimm der
Späthumanismus und Paracelsismus in Görlitz
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Als Jakob Böhme 1599 in Görlitz das Bürgerrecht als Handwerksmeister und später auch als Handelsmann erwarb, war das geistige Leben dieser größten Stadt der Oberlausitz vom Späthumanismus und vom Paracelsismus geprägt. Hauptgestalt der geistigen Blüte der Stadt Görlitz am Ende des 16. Jahrhunderts war der Mathematiker und Astronom Bartholomäus Scultetus (15401614).52 Er war mehrfach Bürgermeister der Stadt und Förderer der humanistischen Gelehrten am Görlitzer Gymnasium sowie Mittelpunkt des sog. „Convivium Musicum", einer Musikgemeinschaft, in der sich Lehrer am Gymnasium, Ärzte, Pfarrer sowie Handwerker und Kaufleute zusammenfanden. Die geistigen Interessen der Humanistenkreise der Stadt waren auf paracelsistische Naturphilosophie, Alchemie, Astrologie, Astronomie und Kabbalistik ausgerichtet.53 In Görlitz begegnete dem jungen Jakob Böhme ein sehr reges geistiges Klima auf dem Höhepunkt der Wissenschaften der Zeit. Bartholomäus Scultetus war mit den kaiserlichen Hofastronomen Tycho Brahe und Johannes Kepler befreundet. Als Mathematiker und Astronom sowie als Paracelsist und Kometenforscher gingen von Scultetus besonders Anregungen in kosmologischen Fragen aus; Johannes Kepler weilte im Frühjahr 1607 in Görlitz. Neben diesem humanistisch-wissenschaftlichen Leben der Stadt sind die kirchlichen Verhältnisse in Görlitz und in der Oberlausitz gewiß nicht weniger wichtig als Hintergrund für Böhmes Suchen und Denken. Es ist ein melanchthonisch geprägtes Luthertum, das sich in der Oberlausitz und in den schlesischen Territorien mit der humanistischen Gelehrsamkeit gut vertrug, aber in seiner offenen bzw. verborgenen Neigung zum Kryptocalvinismus zu verschiedenen schwerwiegenden Konflikten mit der lutherischen Orthodoxie führte. Besonders der jahrelange Streit, in den sich der seit 1600 amtierende Pastor Primarius Martin Moller54 wegen kryptocalvinistischer Verdächtigungen verwickelt sah, hat Böhme in seinen ersten Görlitzer Jahren miterlebt. Denn der nicht nur gelehrte, sondern auch von einer tiefen Frömmigkeit geprägte Martin Moller war sein Pfarrer an der Peterskirche in Görlitz. Mit diesem bekannten Erbauungsschriftsteller und Verfasser geistlicher Lieder stand Natur in der Philosophie Jacob Böhmes. In: Ders., Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte. Hg. v. K. Gründer, Witten 1961, 129157; E.H. Pältz, Jakob Böhmes Gedanken über die Erneuerung des wahren Christentums. In: PuN 4, Göttingen 1979, 83-118; Ders., Jakob Böhme. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Hg. v. M. Greschat, Bd. 7, Stuttgart 1982, 79-98. Zur Biographie und zur historischen Situation in der Oberlausitz und in Görlitz vgl. das Werk von E.-H. Lemper (Anm. 50). Für die Gedankenwelt Böhmes ist dieses Werk nur mit Einschränkung brauchbar. 52 Vgl. E.-H. Lemper (Anm. 50), 39ff. 53 E.-H. Lemper, Görlitz und der Paracelsismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1970, H. 18, 347-360. 54 E. Axmacher, Praxis evangeliorum. Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller (1547-1606), Göttingen 1989, bes. 30ff.
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Gottes Odem in der Schöpfung
Böhme in freundschaftlichem Kontakt. Als Moller nach einem heftigen Streit mit dem Wittenberger Theologen Salomon Gessner 1606 starb, berief der städtische Rat Gregor Richter in das Amt des Pastors primarius. Diese Entscheidung des Rates, bei dem das Kirchenregiment in Ermangelung einer kirchlichen Oberbehörde in der Oberlausitz oblag, war durch Druck von außen bedingt. Mit Gregor Richter, dem kirchlichen Eiferer gegen die Schriften Jakob Böhmes, wollte sich die Görlitzer Kirche bewußter auf den Boden der Confessio Augustana stellen, um die Gefahren von Seiten der erstarkenden Gegenreformation abzuwehren. Auch Richter als Lehrer am Gymnasium und Mitglied des „Convivium Musicum" war ein humanistisch gebildeter Theologe, dessen erbitterte Feindschaft gegen Jakob Böhme aus den sich zuspitzenden konfessionalistischen Kämpfen der Zeit sowie aus persönlicher Streitlust und aus einem Amtsbewußtsein erwuchs, das keinerlei Lehrabweichungen duldete.55 Die gereizte Atmosphäre war nicht zuletzt auch durch die zahlreichen Schwenckfeldanhänger bei den reichen und angesehenen Bürgern der Stadt mitbedingt. Der Rat hatte lange Zeit nichts gegen diese Anhänger Schwenckfelds unter den gebildeten, humanistischen Gelehrten und auch den Handwerksmeistern unternommen. Erst seit 1600 kam dieser schwenckfeldische und paracelsistische Geist, der das kulturelle Leben der Stadt Görlitz und anderer niederschlesischen Städte und Adelsgüter prägte, immer stärker unter den Druck des konfessionalistischen Zeitgeistes. Für den historischen Hintergrund Jakob Böhmes ist dieses geistige Suchen und Fragen im wissenschaftlich-humanistischen Geiste sowie die Streitigkeiten der „Mauerkirchen" und die davon abseits lebenden, mystisch-frommen Schwenckfeldanhänger gewiß eine wichtige Ausgangslage. Auch daß Böhme in Martin Moller einem kirchlichen Theologen begegnete, der ihm in seiner Verkündigung und persönlichen Lebensführung glaubhaft erschien, gehört mit zu den Voraussetzungen eines historisch sinnvollen Böhme-Verständnisses. Denn so schwer das weitausgreifende und nicht zur Ruhe kommende Denken Böhmes in die Bahnen einer kirchlichen Dogmatik integrierbar erscheint, so ist doch unverkennbar, daß sein riesiges Gesamtwerk ein unablässiges Ringen um das Verstehen des biblischen Wortes charakterisiert. Das aus religiösen Erfahrungserlebnissen kommende Suchen und Fragen Böhmes nach dem Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit, in der der Mensch steht, drängt immer wieder zu den Aussagen der Bibel, die ihm unangreifbare Autorität sind. Denn weder Luther noch Paracelsus, Schwenckfeld oder Weigel sind Lehrmeister Böhmes, obwohl er das eine oder andere aus ihren Werken gewiß gekannt hat. Aus plötzlichen Erfahrungen und Einsichten kommt der mächtige, von keinen Hindernissen aufhaltbare Drang
55
Vgl. W. Heimbach, Das Urteil des Görlitzer Oberpfarrers Richter über Jakob Böhme. In: Herbergen der Christenheit 9, 1973/74, 97-151.
Böhmes Naturerfahrung
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Böhmes, Menschen auf den „Weg zu Christo"56 zu führen und durch geistliche Schriftauslegung die Augen für das rechte Verständnis der Bibel aufzuschließen. Böhme hat uns nicht im Unklaren darüber gelassen, woran er seine Urerfahrungen erlebt hat. Es steht im Untertitel seiner ersten Schrift „Morgenröte im Aufgang", von Freunden später „Aurora" genannt: „Die Wurtzel oder Mutter der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae, aus rechtem Grunde/ oder Beschreibung der Natur f...]." 57 An der Natur hat Böhme seine Urerfahrungen erlebt, die nach langem inneren Ringen plötzlich aus ihm heraus zur Niederschrift drängen. Das unerschrockene Selbstbewußtsein gegenüber den geistigen Autoritäten seiner Zeit, mit dem Böhme „die Wurtzel und den Grund" 58 aller Dinge schon in seiner Frühschrift ausspricht, leitet sich allein von diesen, an der Natur gewonnenen Grunderfahrungen her. „Von derselben gantzen Natur mit ihrer instehenden Geburt habe ich meine Philosophia, Astrologia und Theologia studiret und gelernet, und nicht von Menschen oder durch Menschen." 59 Böhme hat mit Arndt im paracelsischen Geist den Gegensatz zwischen der lebendigen Naturerkenntnis und der toten Schulgelehrsamkeit gemeinsam. Im 19. Kapitel der „Morgenröte" läßt Böhme in sein tiefes Erschrecken über die Ferne Gottes zu seiner Schöpfung und die befreiende Erkenntnis seiner Naturmächtigkeit hineinblicken. Es ist die Frage nach dem „rechten Himmel" als Ziel des menschlichen Lebens und als Wohnort Gottes in seiner Schöpfung. Die Frage nach der Stellung Gottes zur Welt angesichts des Bruches des bisherigen Weltbildes, dem sog. kopernikanischen Schock, stellt sich für Böhme im engsten Zusammenhang mit der Frage nach dem individuellen Heil. Anstelle vieler Böhme-Zitate kann diese Passage am besten Ursprung und Mitte des böhmeschen Denkens charakterisieren: „Der rechte Himmel, welcher ist unser menschlicher eigener Himmel, da die Seele hinfähret, wenn sie vom Leibe scheidet [...] ist bis anhero den Kindern der Menschen fast verborgen gewesen. [...] Es haben die Menschen je und allwege gemeinet, der Himmel sey vielhundert oder tausend Meilen von diesem Erdboden, und Gott wohne allein in demselben Himmel. [...] Zwar ich habe es selber vor dieser meiner Erkenntniß und Offenbarung Gottes dafür gehal-
56 Noch zu Lebzeiten Böhmes erschien 1623 anonym ein kleiner Band mit zwei Traktaten „Von wahrer Buße" und „Von wahrer Gelassenheit" unter dem Titel „Der Weg zu Christo". Der Schwenckfeldanhänger Johann Siegesmund von Schweinichen hatte den Druck veranlaßt und finanziert. Er führte zum zweiten Zusammenstoß mit Gregor Richter. Die später noch erweiterten Traktate unter dem Titel „Der Weg zu Christo" haben eine besonders weite Verbreitung gefunden. 57 Es wird die Ausgabe von 1730 zitiert. 58 Morgenröte 22, 9. 59 M o r g e n r 0 t e 2 2 . i l .
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Gottes Odem in der Schöpfung
ten, daß das allein der rechte Himmel sey, der sich mit einem runden Cirk gantz licht-blau hoch über den Sternen schleust, in Meinung Gott habe allein da innen sein sonderliches Wesen, und regiere nur allein in Kraft seines H. Geistes in dieser Welt. Als mir aber dieses gar manchen harten Stoß gegeben hat, ohne Zweifel von dem Geiste, der da Lust zu mir hat gehabt, bin ich endlich gar in eine harte Melancholey und Traurigkeit gerathen, als ich anschauete die grosse Tieffe dieser Welt, darzu die Sonne und Sternen, sowol die Wolcken, darzu Regen und Schnee, und betrachtete in meinem Geiste die gantze Schöpfung dieser Welt. Darinnen ich dann in allen Dingen Böses und Gutes fand, Liebe und Zorn; in den unvernünftigen Creaturen, als in Holtz, Steinen, Erden und Elementen sowol als in Menschen und Thieren. Darzu betrachtete ich das kleine Füncklein des Menschen, was er doch gegen diesem grossen Wercke Himmels und Erden vor Gott möchte geachtet seyn. Weil ich aber befand, daß in allen Dingen Böses und Gutes war, in den Elementen so wol als in den Creaturen, und daß es in dieser Welt dem Gottlosen so wol ginge als den Frommen, auch daß die Barbarischen Völcker die besten Länder innen hätten, und daß ihnen das Glücke noch wol mehr beystünde als den Frommen. Ward ich derowegen gantz melancholisch und hoch betrübet, und konte mich keine Schrift trösten, welche mir doch fast wol bekant war: darbey dann gewißlich der Teufel nicht wird gefeyret haben, welcher mir dann oft heidnische Gedancken einbleuete, derer ich allhie verschweigen will. Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist (dann ich wenig und nichts verstund was er war) ernstlich in Gott erhub als mit einem grossen Sturme, und mein gantz Hertz und Gemüthe, samt allen andern Gedancken und Willen sich alles darein schlos, ohne nachlassen mit der Liebe und Barmhertzigkeit Gottes zu ringen [...], so brach der Geist durch. Als ich aber in meinem angesetzten Eifer also hart wider Gott und aller Höllen Porten stürmete, als wären meiner Kräften noch mehr vorhanden, [...] alsbald nach etlichen harten Stürmen ist mein Geist durch der Höllen Porten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit, und alda mit Liebe umfangen worden, wie ein Bräutigam seine liebe Braut umfähet. Was aber für ein Triumphiren im Geiste gewesen, kan ich nicht schreiben oder reden: es läst sich auch nichts vergleichen als nur mit deme, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, und vergleicht sich der Auferstehung von den Todten. In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen, und an allen Creaturen, so wol an Kraut und Gras Gott erkant, wer der sey, und wie der sey und was seyn Wille sey [.. ,]."60 Am Anfang steht das tiefe Erschrecken über die unendliche Ferne Gottes von dieser Welt. Was aber Böhme „in eine harte Melancholey und Traurigkeit gerathen" ließ, war das Anschauen des ganzen Schöpfungskosmos, und zwar 60 Morgenröte 19, 1, 3ff.
Gott und die Natur bei Böhme
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in seiner elementaren, außermenschlichen Realität. Es ist diese Welt der den Menschen unmittelbar umgebenden Wirklichkeit, die das bohrende Fragen Böhmes auslöst. Nicht nur in Menschen, sondern „in Holtz, Steinen, Erden und Elementen" findet er Böses und Gutes, Liebe und Zorn. Der Mensch ist von einer Schöpfungswirklichkeit umgeben, in der ein ständiger Kampf der Gegensätze tobt. Keine wohlgeordnete Harmonie waltet in der Schöpfung, sondern die ganze Natur steht in einem ständigen Prozeß gegeneinanderwirkender Kräfte, und auch in der menschlichen Gesellschaft waltet beim Unterschied zwischen der Gottlosigkeit und der Frömmigkeit keine gerechte Ordnung. Im nicht nachlassenden Ringen Böhmes wird ihm schließlich eine Erkenntnis zuteil, die ihm die leibhafte Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung gerade an der harten Materialität in der Natur aufzuschließen vermag. Die ganze Natur steht in einem ständigen Prozeß der Gebärung. Nicht im Sinne einer allmählichen Entfaltung, sondern in stoßhafter, plötzlicher Art bricht das Leben aus der Welt des Todes hervor. Im harten, finster verschlossenen Stein kann Böhme das Licht als Gegensatz wahrnehmen, ohne die Heterogenität dieser „Qualitäten" harmonisierend abzuschwächen.61 Seine zahlreichen Beschreibungen der verschiedenen „Qualitäten" wollen zu Urprinzipien hindurchstoßen, die allen Bereichen der Wirklichkeit angehören. Jenseits aller Seinsabstufung und der Subjekt-Objekt-Trennung kann Böhme somit die innere Verbindung zwischen Mensch und Natur wesenhaft erfassen, weil nicht eine seins- und wertmäßige Rangordnung die Wirklichkeit charakterisiert, sondern durchgängige Urphänomene, so daß z.B. das Steinhaft-Harte auch zur Aufschließung menschlicher Gesinnung dienen kann. Der Mensch steht im Sinne Böhmes der Natur weder beschaulich noch herrschend gegenüber, sondern erfährt an ihr und in ihr den wütenden, reißenden, zerstörenden und streitenden Prozeß der Wirklichkeit selbst, der alle Bereiche der Schöpfung, nicht nur das menschliche Leben, bestimmt. Mit dieser verzehrenden Bosheit, wie Böhme auch den Geburtsprozeß der Wirklichkeit beschreiben kann, muß sich die Gottes- und Sinnfrage des Daseins in beunruhigender Weise stellen. Kein umfriedeter Raum umgibt den Menschen, sondern die Abgründigkeit des eigenen Wesens wird durch diese Wirklichkeitserfahrung erst in ihrer ganzen Tiefe offenbar. Die innere Zusammengehörigkeit elementaren Naturerlebens mit der Gottesfrage angesichts des Bösen in der Welt läßt das Denken Böhmes als eine religiöse Wirklichkeitserfahrung erkennen, die trotz Aufnahme zeitbedingter Vorstellungen einen originalen Neuansatz in der neueren Geistesgeschichte dar-
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Morgenröte 1,3: „Allhier muß man nun betrachten, was das Wort Qualität heist oder ist. Qualität ist die Beweglichkeit, Quallen oder Treiben eines Dinges [...]." Zu dieser Grundanschauung Böhmes von den „Qualitäten" vgl. bes. L. Richter, Immanenz und Transzendenz im nachreformatorischen Gottesbild, Berlin 1954, 24ff. und E. Metzke (Anm. 51), 141ff.
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Gottes Odem in der Schöpfung
stellt.62 Denn gerade bei der Frage nach dem Bösen in der Welt kann Böhmes Denkansatz einen starren Dualismus sowie eine neuplatonisch-mystische Entwertung des Bösen überwinden. Der zentrale Gedanke der Geburt des Lebens aus dem Tode läßt keine bloße Gegenüberstellung der Gegensätze zu, wie er sich auch nicht in einer dialektischen Zusammengehörigkeit der Gegensätze erschöpft. Die Werdeeinheit der Gegensätze zielt auf die religiös-ethische Dimension: Nicht nur das Leben in der äußeren Natur „lebt" aus seinem Gegensatz, sondern auch das Leben des Menschen wächst und erhält seinen Sinn aus dem Aushalten und Überwinden der ihm entgegenstehenden Mächte der Gefahr, der Angst und des Leidens. Mit dieser religiösen Dimension ist die Naturerkenntnis Böhmes erst zu ihrem Ziel gekommen, denn die Gottesfrage ist aufs engste an diese Wirklichkeitssicht gebunden. Gott und die Natur - hier waltet nach der Denkstruktur Böhmes weder das Verhältnis pantheistischer Vermischung noch das der Entgegensetzung des Geistigen zum Materiellen, sondern der Urprozeß der Wirklichkeit drängt vom Willen zur Gestalt, vom „Ungrund" zum Grund, so daß Böhme den kühnen Gedanken einer „Natur in Gott" dem rein geistigen Gottesbegriff entgegenstellen kann. Um die Lebendigkeit und Persönlichkeit Gottes zu betonen, bedarf Gott einer „ewigen Natur", sonst wäre er eine „Stille ohne Wesen, ein ewig Nichts ohne Glanz und Schein". 63 Aber diese „ewige Natur" verschwimmt nicht im Jenseitigen, sondern es ist diese Welt der den Menschen umgebenden Wirklichkeit, die zugleich die Gegenwart der schöpferischen Wirklichkeit Gottes ist. Die Natur kann somit als die Verleiblichung der schöpferischen Kraft Gottes erfahren werden, wenn der Mensch sich seiner Zugehörigkeit zum Wirklichkeitsganzen sowie seiner besonderen Stellung in ihm bewußt wird; sie ist aber weder mit Gott identisch, noch ist sie als Emanation Gottes zu begreifen. Will man das Verhältnis Gottes zur Natur im Sinne Böhmes auf den Begriff bringen, so wird man vermutlich am ehesten auf den Denkhorizont der christologischen Termini des „unvermischt" und „ungetrennt" verweisen können. In der Naturanschauung Böhmes wirkt der „deus actuosissimus" Luthers in eigenständiger Weise fort. Sowohl in seiner Naturbeobachtung wie in seinem Ringen um ein rechtes Verstehen der Bibel spürt Böhme dem lebendigen Odem Gottes in der Schöpfung nach. Die Annahme des neuen Weltbildes führte ihn in eine schwere existentielle Krise, die an der Ferne Gottes in der Unendlichkeit des Kosmos litt. Aus tiefem religiösen Erleben kam er zu einem neuen Verständnis der Offenbarung Gottes, das den Dualismus von Geist und Materie und die Geringachtung der Natur gegenüber der Heiligen Schrift in der christlichen Frömmigkeit zu überwinden versuchte.
62 Dies stellt mit Recht besonders E. Metzke (Anm. 51), 135ff„ heraus. 63 Vom dreifachen Leben des Menschen, 16, 37.
Arndt und Böhme
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Es ist kaum wahrscheinlich, daß Böhme die Schriften Arndts gekannt hat. So viele Verbindungslinien auch im geistigen Umfeld und in der Wirkungsgeschichte beider Schriftsteller bestehen,64 so sind die Unterschiede in persönlich-biographischer Hinsicht und in der Gesamtausrichtung ihrer Werke doch erheblich größer als die gemeinsamen Aspekte. Auf der Grundlage der paracelsischen Naturphilosophie versuchen sowohl Arndt wie Böhme die Zeugnisse über die Offenbarung Gottes in der Bibel mit dem neuen kopernikanischen Weltbild sinnvoll zu verbinden. Während sich dies bei Böhme in einer existentiellen Krisensituation vollzieht, die schließlich zu einer oder mehreren plötzlichen Gotteserfahrungen führt, versucht Arndt durch gleichnishafte und rationale Reflexionen das „Buch der Schrift" mit dem „Buch der Natur" wechselseitig zu beglaubigen. Arndts immer wiederholte Klage über das gottlose Leben der Christen und die Auswirkung dieser menschlichen Unbußfertigkeit auf die ganze Schöpfung in Form von Naturkatastrophen zeigt seine anthropozentrische Denkstruktur, die den Menschen als Spiegelbild Gottes, seinen Fall und seine Wiedergeburt mit der Wiederherstellung des Schöpfungskosmos in Zusammenhang sieht. Demgegenüber kommen die entscheidenden Anstöße für Böhmes Denken aus der Betrachtung der elementaren Natur. Von hier aus schließen sich ihm auch die Phänomene des menschlichen Lebens auf, die durch den zentralen Gedanken der Geburt des Lebens aus dem Tod mit der ganzen Schöpfungswirklichkeit verbunden sind. Die Art und Weise, wie die Schöpfung insgesamt bei Arndt und Böhme zum Ausdruck kommt, ist jedoch recht unterschiedlich. Während bei Arndt eine große Harmonie zwischen allen einzelnen Teilen der Schöpfung waltet, erkennt Böhme überall den Kampf der gegeneinanderwirkenden Kräfte, deren Gegensätzlichkeit er nicht abschwächt, andererseits aber auch nicht in beziehungslose Dualität auseinandertreten läßt. An der Beschreibung des Himmels wird das unterschiedliche Beziehungsverhältnis zwischen Schöpfung und persönlicher Frömmigkeit bei Arndt und Böhme besonders deutlich. Bei Arndt unterstützt die Betrachtung des Himmels gleichnishaft den Glauben an die Ewigkeit und Allgegenwart Gottes. Für Böhme ist dieser große Himmelsbogen hoch über den Sternen Anlaß zu tiefer Traurigkeit über die Ferne Gottes von dieser Welt. Erst durch 64 Von den einflußreichen Persönlichkeiten im Umfeld Jakob Böhmes und seinen Protektoren ist besonders auf den ersten Biographen Böhmes hinzuweisen, auf Abraham von Franckenberg, der 1638 einen ausgeschmückten und verklärten Lebenslauf Böhmes geschrieben hat, der in den ersten Band der ersten Amsterdamer Werkausgabe von 1682 (hg. v. Johann Georg Gichtel) aufgenommen wurde. Der mit den Schriften Arndts wohlvertraute Franckenberg könnte theoretisch ein Vermittler Amdtscher Gedanken an Böhme am Ende von dessen Leben gewesen sein. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß. Auch die Frage, ob ein Einfluß Arndts auf die führenden sächsischen Theologen, denen Böhme im Sommer 1624 in Dresden begegnete, anzunehmen ist, der das Wohlwollen gegenüber Böhme teilweise erklären könnte, müßte weiterverfolgt werden.
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Gottes Odem in der Schöpfung
diese Anfechtungen hindurch wird Böhme der allgegenwärtigen Wirksamkeit Gottes in seiner Schöpfung gewahr, die auch Arndt seinen Lesern immer wieder anschaulich zu machen versucht. Aber das Verstehen der Sprache der Natur hat bei ihm eine Voraussetzung außerhalb ihrer selbst. Es sind die geistlich aufgeschlossenen Augen des wiedergeborenen Menschen, dem die ganze Natur zum Symbol für die Wirklichkeit Gottes wird. Auch für Böhme ist die Wieder- oder Neugeburt des Menschen der Zielgedanke seines ganzen Schrifttums. Aber mit diesem Geburtsvorgang aus dem Tod zum Leben steht der Mensch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der gesamten Natur, gerade auch in ihrer elementaren Gestalt. Arndt wie Böhme wollen die Menschen ihrer Zeit zu einem wahren Christentum führen, das jenseits konfessionalistischer Streitigkeiten und der Selbstgenügsamkeit allein bei der rechten Lehre aus einem Neuwerdungsprozeß des ganzen Menschen hervorgehen muß. In dem Ziel eines aus der persönlichen Erfahrung gelebten und beglaubigten Christentums sind sich Arndt und Böhme einig. Aber in der Beschreibung der Wege zu diesem Ziel gibt es erhebliche Unterschiede, die neben den verschiedenartigen Lebens- und Erfahrungsbezügen auch die Vielgestaltigkeit der Rezeption der paracelsischen Naturphilosophie im Naturbild der beiden Schriftsteller erkennen läßt.
Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten in Braunschweig-Lüneburg Das zentrale Anliegen Johann Arndts, die Lehre Christi ins Leben zu verwandeln, hat bereits in der Schlußdiskussion des Symposions über die reformierte Konfessionalisierung zu einer wichtigen Anfrage geführt, auf die auch schon eine erste Antwort gegeben wurde. Johannes Wallmann stellte die Frage. „Warum ist eigentlich die Zweite Reformation so wenig attraktiv gewesen? Warum sind von ihr so gut wie keine Anstöße für das Luthertum ausgegangen?" Heinz Schilling antwortete, indem er die Frage etwas umformulierte: „Warum wurden [...] aus dem auch im Luthertum vorhandenen Denkbild einer Reformation des Lebens nicht ähnlich radikal politische Konsequenzen gezogen wie bei den Reformierten? Hing das nicht - abgesehen von dem Unterschied im reichsrechtlichen Status - damit zusammen, daß der direkte Bezug auf die öffentlichen Angelegenheiten, auf das Politische, eben doch ein Proprium der reformierten und nicht der lutherischen Konfessionalisierung war?" Es liegt in der Konsequenz dieser Sicht, daß dann das Konzept einer Reformation des Lebens im Luthertum erst spät zur Wirkung kam: „statt der konfessionalistischen im Luthertum also die pietistische Reform des Lebens" 1 . An diese Ausgangslage in der anregenden Schlußdiskussion des vorangegangenen Symposions möchte ich meine Ausführungen über Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten in Braunschweig-Lüneburg anschließen. In drei Schritten soll dies geschehen. Zunächst eine knappe Problemskizze zur gegenwärtigen Arndtforschung 2 , sodann ein zusammenfassender Überblick über die kirchenleitende Tätigkeit des Generalsuperintendenten Arndt im Fürstentum Lüneburg und schließlich - darauf kommt es ja vor allem an - der Versuch einer Einordnung Johann Arndts und der von ihm aus-
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H. Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der „Zweiten Reformation" (SVRG 195), Göttingen 1986,463 und 465. S. dazu auch den Abschnitt „Johann Arndt in der älteren und neueren Forschung" in meiner Untersuchung: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie (FKDG 41), Göttingen 1988, 135-142. - Zur Arndtforschung in aktualisierter Form s. den letzten Beitrag dieses Bandes.
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Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten
gehenden Frömmigkeitsbewegung im 17. Jahrhundert in das Konzept einer lutherischen Konfessionalisierung. In der gegenwärtigen Arndtforschung, die sich in letzter Zeit recht belebte, geht es vor allem um ein theologie- und frömmigkeitsgeschichtliches Verständnis seiner Schriften, besonders der Bücher vom wahren Christentum. Der Blick zurück zu den Quellen seiner Werke und die Art und Weise ihrer Aufnahme bei Arndt hat schon zu wichtigen Erkenntnissen geführt; aber erst in Zukunft wird diese quellenkritische Erforschung Arndts seine theologieund frömmigkeistgeschichtliche Stellung im nachreformatorischen Protestantismus deutlicher hervortreten lassen. Auch die unstrittige Tatsache des kaum mit einem anderen Theologen zu vergleichenden, enormen Einflusses Johann Arndts „auf Frömmigkeit und Gedankenbildung des protestantischen Deutschlands [...] seit Martin Luther" 3 wird, wo sie sich näher bewußt gemacht wird, unter theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichem Aspekt reflektiert. Ob es um die Anfänge und die Wesensbestimmung des Pietismus, die Theologie seiner Haupt- und Nebengestalten geht oder um das Problem des Verhältnisses von Orthodoxie und Pietismus im 17. Jahrhundert, ob es um die „Krise" um 1600 oder um die Erbauungsliteratur und Reformbewegung der lutherischen Orthodoxie geht, stets ist notwendigerweise der Name Johann Arndt zur Stelle. Dieses erhebliche theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Interesse, dem auch eine zunehmende literaturhistorische Bemühung um den „Erfolgsautor" Arndt zur Seite tritt,4 hat allerdings noch nicht zu einer befriedigenden Klärung von Ansatz und Profil der Theologie Johann Arndts geführt. In den jüngsten theologischen Beiträgen wird Arndts Stellung vor allem zur Theologie Luthers recht kontrovers diskutiert. „War Arndt Lutheraner?" im theologisch-geschichtlichen Sinn - das ist angesichts der immensen Wirkungsgeschichte Arndts gewiß eine zentrale Frage. 5 Nach Christian Braw war Arndt ein „bekenntnistreuer, bewußter Lutheraner", dessen Verkündigung nahe bei derjenigen Luthers steht und der „im Grunde von der evangelischen Frömmigkeit geprägt" sei.6 Demgegenüber kommt Berndt Hamm in seiner Studie über das Wortverständnis Arndts zu dem Ergebnis: „Der bedeutendste Erbauungsschriftsteller des Luthertums, ja sein meistgelesener Theologe überhaupt, vertritt keine lutherische Theologie." 7 Auch das Verhältnis Johann Arndts zu Johann Gerhard bedarf nicht
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J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2 1986, 13. Ich nenne nur D. Breuer, Der Prediger als Erfolgsautor. Zur Funktion der Predigt im 17. Jahrhundert. In: Vestigia bibliae 3, 1981, 31^18. Siehe den Beitrag von H. Schneider, Johann Arndt als Lutheraner? In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hg. v. H.-Chr. Rublack, Gütersloh 1992, 2 7 4 298. Chr. Braw, Das Gebet bei Johann Arndt. In: PuN 13, 1988, 15, 17 und 24. B. Hamm, Johann Arndts Wortverständnis. Ein Beitrag zu den Anfängen des Pietismus. In: PuN 8, 1983, 72ff.
Arndt als „seltsamer Lutheraner"
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nur für den jungen Gerhard mit seinen „Meditationes sacrae" und der „Schola pietatis" noch weitere Klärung; Ernst Koch sieht die Beziehung zwischen dem geistlichen Lehrer Arndt und seinem Schüler Gerhard nicht so eng, wie sie noch von Koepp in seiner Arndt-Monographie geschildert wurde.8 Aber nicht nur spezielle Forschungsbeiträge, auch übergreifende Darstellungen können die Unsicherheiten bzw. Verlegenheiten in der theologiegeschichtlichen Arndtinterpretation kaum verbergen. So wird Johann Arndt im Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte unter der Überschrift „Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen" vorgestellt.9 Zu Arndt und dem Spiritualismus im 17. Jahrhundert heißt es, daß es dem „führenden lutherischen Theologen gelang [...], die Grundgedanken der mystischen und spiritualistischen Tradition zu verkirchlichen und ihnen ein Heimatrecht im Luthertum zu verschaffen". In der „neuartigen Lebenslehre für den evangelischen Christen" sei die Lehre von der Heilserkenntnis und vom Heilsweg zentral, die Lehre von der Heilsvermittlung fehle, als „Mann der Kirche" habe Arndt sie „mit Stillschweigen" übergangen. 10 Die Problematik und unbefriedigende Spannung im theologiegeschichtlichen Verständnis Johann Arndts ist mit diesen kurzen Hinweisen auf die Forschung meines Erachtens deutlich bezeichnet. Schon hier, wo es um die Lehre der Konfessionskirchen geht, haben wir es bei Arndt mit einem zumindest „seltsamen Lutheraner" zu tun. Seine unbezweifelbare, bedeutsame Stellung im Luthertum freilich wird von niemanden streitig gemacht werden können, wenn sich auch die theologische Bemühung um Arndt noch heute kaum von den Grundpositionen in den sog. Arndtschen Streitigkeiten unterscheidet, die schon zu Lebzeiten Arndts und nach seinem Tod die lutherische Kirche des 17. Jahrhunderts nicht wenig bewegten.11 Die Stellung Arndts im Luthertum ist aber nicht nur von einer theologiegeschichtlichen Interpretation seiner Schriften abhängig. Es ist mit Recht hervorgehoben worden, daß die fast unvergleichliche Wirkungsgeschichte Arndts sich nicht auf herausragende Ereignisse seines Lebens, sondern auf die extensive und intensive Verbreitungsgeschichte seiner Werke bezieht, vor allem auf die Bücher vom wahren Christentum und das Paradiesgärt-
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E. Koch, Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard (1606). In: PuNeuzeit 13, 1988, 25^16: 38ff. 9 G.A. Benrath, Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen. In: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte 2, Göttingen 1980, § 10: Johann Arndt und der Spiritualismus im 17. Jahrhundert, 598ff. 10 Ebd., 598f. 11 Zu den Arndtschen Streitigkeiten J. Wallmann: Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg als Gestalt der Kirchengeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Johann Arndt. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 20-45: 35f. Anm. 37; W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 2), 141f. und 178 Anm. 188.
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Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten
lein.12 Neben diesen Erbauungsschriften im engeren Sinn werden auch die großen Predigtwerke Arndts in Zukunft deutlicher beachtet werden müssen, die er als Generalsuperintendent des Fürstentums Lüneburg herausgab. Sie gehören in die Wirkungsgeschichte Arndts viel stärker hinein, als dies in der bisherigen, auf den Erbauungsschriftsteller Arndt konzentrierten Arndtforschung gesehen wurde.13 Die Annäherungen zum geschichtlichen Verständnis dieser wahrhaft besonderen Wirkungsgeschichte Arndts haben schon den engeren Rahmen der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte in Richtung einer sozial-, motiv- und literaturgeschichtlichen Reflexion sinnvoll erweitert;14 von einer angemessenen Wahrnehmung Johann Arndts und der von ihm ausgehenden Impulse in der neueren Kirchengeschichte und der allgemeinhistorischen Frühneuzeitforschung ist man aber meines Erachtens noch recht weit entfernt. Daß die Wirkungsgeschichte Arndts die Geschichte der Aufnahme seiner Schriften ist, bedeutet nicht, daß die konkrete Wirksamkeit dieses Mannes weniger oder unbeachtet bleiben könnte. Im Gegenteil: Vermutlich hängt das einseitig frömmigkeits- und bestenfalls theologiegeschichtlich ausgerichtete Arndtbild und seine eklektische Wahrnehmung damit zusammen, daß Arndt vor allem als Erbauungsschriftsteller, nicht aber auch als im kirchenleitenden Amt stehender Generalsuperintendent gesehen wurde. Wir wenden uns im folgenden diesem letzten Jahrzehnt im Leben und Wirken Johann Arndts zu (1611-1621). 15 Als Generalsuperintendent im Fürstentum Lüneburg, also als höchster Geistlicher ohne Hofpredigerverpflichtungen in diesem von Herzog Christian d.Ä. regierten weifischen Herzogtum, stand Arndt auf dem Höhepunkt seines bisherigen, an Konflikten reichen Pfarrerlebens. Hier eröffnete sich ihm ein Betätigungsfeld, das ihm viele Möglichkeiten gab, seine theologischen Interessen in die Tat umzusetzen. Nur wenn man die Konvergenz zwischen den
12 Dies wird betont von J. Wallmann: Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 1-19: 3ff. 13 In meiner Untersuchung: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 2), 162ff. und 182ff. habe ich auf die Predigtwerke Arndts, besonders auf die Evangelienpostille unter dem Aspekt des Obrigkeitsverständisses Arndts hingewiesen. - Zur Bedeutung der Predigtwerke Arndts s. den letzten Beitrag dieses Bandes. 14 Ich nenne zu der literaturwissenschaftlichen Arndtforschung nur H.-H. Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Pericopensonetten und Passionsliedern, München 1976; H. Wimmel, Sprachliche Verständigung als Voraussetzung des „Wahren Christentums". Untersuchungen zur Funktion der Sprache im Erbauungsbuch Johann Arndts (Kasseler Arbeiten zur Sprache und Literatur 10), Frankfurt a.M. und Bern 1981. 15 Ausführlicher habe ich das Wirken Arndts als Generalsuperintendent im Fürstentum Braunschweig-Lüneburg in meinem Buch: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 2), 142-181, dargestellt.
Arndts Berufung nach Celle
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theologischen und frömmigkeitlichen Anliegen Arndts und seinen Aktivitäten als Generalsuperintendent beachtet, wird man ihm im Rahmen dieses letzten entscheidenden Lebensabschnittes und wohl auch insgesamt gerecht werden können. An dem Vorgang der Berufung Arndts in die Generalsuperintendentur in Celle, die zunächst Johann Gerhard angetragen wurde, fällt auf, mit welcher Intensität und Entschlossenheit die Obrigkeit im Fürstentum Lüneburg bestrebt war, gerade Arndt in das wichtige kirchenleitende Amt zu berufen. Auch auf Seiten Arndts kam sie seinen persönlichen Neigungen und Hoffnungen sehr entgegen. Daß die braunschweig-lüneburgischen Herzöge sich so frühzeitig für Arndt eingesetzt haben und während seiner Amtszeit und vor allem bei den erst nach seinem Tod voll einsetzenden Arndtschen Streitigkeiten ganz auf seiner Seite standen, ist eine Tatsache, der eine erhebliche Bedeutung für die ganze Frömmigkeitsbewegung zukommt, die mit Johann Arndt am Beginn des 17. Jahrhunderts ihren Ausgang genommen hatte. Zwischen Herzog Christian und Arndt begann ab 1611 eine glückliche und fruchtbare Zusammenarbeit. Der Herzog, der beim Amtsantritt Arndts die Regierung übernahm, war durch Herkommen und Erziehung, mehrere Reisen und frühe Mitverantwortung in der Regierung auf sein fürstliches Amt im Geist eines verantwortungsbewußten Luthertums vorbereitet worden. Persönliche und sachliche Übereinstimmung zwischen Fürst und Generalsuperintendent bilden die Voraussetzung für eine Reihe kirchlicher und kirchenpolitischer Aktivitäten, die mit dem Namen Arndt im Fürstentum Lüneburg verbunden sind und noch lange nach seinem Tod fortwirken sollten. Ich hebe die Generalkirchenvisitation von 1615 und die Lüneburger Kirchenordnung von 1619 hervor. Auf Anordnung Herzog Christians nahm Arndt zusammen mit den Spezialsuperintendenten und einigen weltlichen Räten eine Visitation vor, die in der Art ihrer Durchführung sein Selbstverständnis als fürstlicher Generalsuperintendent deutlich erkennen läßt. Von dieser Visitation sind noch die eigenhändigen Protokollnotizen Arndts erhalten, aus denen in der älteren Literatur kürzere Zusammenfassungen mitgeteilt werden.16 Die Visitationsprotokolle Arndts schildern anschaulich den Widerstand, den einige Patrone der seit längerem wieder landesweiten und durchgreifenden Visitation entgegensetzten. Er gehört ganz in die bekannten Auseinandersetzungen hinein, die zwischen den Landesherren und dem niederen Adel mit Hilfe der Episkopaltheorie in verschiedenen Territorien im frühen 17. Jahrhundert geführt wurden. 17 Die von den evangelischen Juristen ausgebildete episkopalistische
16 Archiv der Generalsuperintendentur Celle 9. General-Visitationen 1615-1625, Bl. 1 10. 17 Zur Episkopaltheorie in den Werken der evangelischen Juristen im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert vgl. M. Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evan-
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Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten
Theorie, wonach durch den Religionsfrieden reichsrechtlich die jura episcopalia auf den Landesherrn übergegangen sind, ist für den Generalsuperintendenten Arndt im Fürstentum Lüneburg eine offenkundig feststehende, sein amtliches Wirken im Kampf mit den widerstrebenden Patronen bekräftigende Position. Wie stark Arndt die kirchlichen Rechte der Obrigkeit aus der landesfürstlichen Hoheit selbst ableitet, zeigt ein ausführlicher Bericht in seinen Visitationsprotokollen.18 Die bischöfliche oder geistliche Kirchengewalt wird unmittelbar mit der fürstlichen Jurisdiktion und landesfürstlichen Hoheit zusammengebracht, so daß man nicht nur von einem episkopalistischen, sondern auch frühterritorialistischen Vorstellungshorizont sprechen kann, der sich im Fürstentum Lüneburg unter Herzog Christian ausbildete. Mit „Frühterritorialismus" meine ich hier das ältere historisch-pragmatische Verständnis des Gemeinwesens im Gegenüber zur späteren absolutistischen Staatsauffassung. Die Art der Berichterstattung durch Arndt zeigt deutlich die völlige Übereinstimmung zwischen dem Landesherrn und seinem Generalsuperintendenten. Wenige Jahre nach dieser Generalkirchenvisitation beauftragte Herzog Christian Arndt, auf der Grundlage der bisherigen Kirchenordnung und der durch die letzte Visitation gewonnenen Erfahrungen und Einsichten, eine neue Kirchenordnung für das Fürstentum auszuarbeiten. Im engen Zusammenwirken mit dem Konsistorium hat Arndt der Kirchenordnung von 1619 den Stempel seines Geistes aufgedrückt, so daß uns in diesem Dokument das theologische, seelsorgerliche und kirchenleitende Wirken des Generalsuperintendenten Arndt am Ende seines Lebens besonders deutlich begegnet. 19 Im Gegenüber zu der bisherigen Kirchenordnung von 1564 spiegeln sich die veränderten zeitgeschichtlichen Faktoren wie z.B. die sich verschärfenden Auseinandersetzungen um das Patronatsrecht. In dem Abschnitt über das ministerium verbi wird durch einen deutlichen Zusatz vor dem Mißbrauch des Patronatsrechts gewarnt und harte Strafe angedroht. Die besondere Handschrift Arndts lassen in der Lüneburger Kirchenordnung von 1619 vor allem die Artikel erkennen, die in erweiterten und konkretisierenden Anordnungen die notwendige Übereinstimmung zwischen Lehre und Leben der Pfarrer mit Betonung eines einwandfreien, fleißigen Lebenswandels hervorheben. So wird z.B. verfügt, daß die Pfarrer nicht ohne Billigung des Generalsuperintendenten etwas veröffentlichen dürfen und auf die Vorbereitung und Durchführung der Predigten gewissenhaft achten sollen. Auf die Dienstaufsicht der Pfarrer durch die Superintendenten bzw. durch den Generalsupergelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Jus ecclesiasticum 6), München 1968. 18 Archiv der Generalsuperintendentur (Anm. 16), Bl. 8 und 9. 19 Deß Hoch würdigen/ Durchleuchtigen/ Hochgebornen Fürsten und Herrn/ Herrn Christians/ Erwählten Bischoffen deß Stiffts Minden/ Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburgk [...] Kirchenordnung und Befehl [...] Celle: Sebastian Schmuck 1619.
Die Lüneburger Kirchenordnung von 1619
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intendenten und das Konsistorium wird ganz besonderer Wert gelegt. Dafür werden Einrichtungen geschaffen, die in den bisherigen Lüneburger Kirchenordnungen nicht vorgesehen waren. Jedes Jahr soll durch die Superintendenten jeder Inspektion ein Konvent aller Pfarrer einberufen werden, bei dem das amtliche Wirken und die Privatstudien jedes einzelnen Pfarrers im Zentrum der Beratungen stehen. Im Fall vorgefundener Mängel und ihrer - nach brüderlich erteilter Mahnung - ausbleibenden Abstellung muß dem Generalsuperintendenten oder dem Konsistorium Mitteilung gemacht werden. Eine ganz neue, beträchtlich erweiterte Bearbeitung erfuhr vor allem der Abschnitt „Von der Visitation". Die straffere kirchlich-obrigkeitliche Dienstaufsicht kommt z.B. dadurch zum Ausdruck, daß die jährlichen Sitzungen des Konsistoriums verdoppelt wurden und mindestens alle zehn Jahre eine Generalvisitation durch den Generalsuperintendenten in allen Kirchen des Fürstentums, und alle drei Jahre eine Visitation durch Spezialsuperintendenten durchgeführt werden sollen. Auch im Artikel über die Visitation werden genauere Anordnungen über die Ausübung des Patronatsrechts getroffen, die dem Mißbrauch in diesem, die einheitliche Kirchendisziplin so besonders gefährdenden Bereich wehren sollen. Die Jurisdiktion der landesfürstlichen Obrigkeit, auf die sich Arndt in der Generalkirchenvisitation von 1615 mehrfach berief, darf durch das jus patronatus nicht behindert werden: „Und sollen die Patronis sich Ihres juris patronatus zu Schmelerung/ unser zustehenden/ hergebrachten Geistlichen/ der hohen Landes Fürstlichen Obrigkeit anhangenden Jurisdiktion/ durch die Introduction/ oder in einigerlei andere wege/ nicht mißbrauchen/ oder dasselbe weiter/ als sich seiner art/ und eigenschafft nach zuthun gebüret/ extendieren." 20 Bei der Besetzung von Stellen soll die Präsentation von möglichst „wohlqualifizierten Landkindern" innerhalb von drei Monaten erfolgen, sonst geht das Präsentierungs- und Nominierungsrecht verloren.21 In 15 Visitationspunkten wird das ganze innere und äußere Leben der Kirche zu erfassen versucht.22 Da der Katechismus die Grundlage für Beichte und Abendmahl und ein gesittetes Familienleben bildet, wird ein besonderer Akzent auf die Katechismuslehre gelegt. Für den Gesamtcharakter der Lüneburger Kirchenordnung von 1619 ist vor allem das Kapitel 9: „Von der Kirchendisziplin/ und Excommunication/ Auch Absolution vom Bann" 23 von erheblichem Interesse. Wie verschiedentlich in der Frühorthodoxie, so ist auch hier an diesem Problemkreis nicht nur der Geist der sittlichen Strenge, sondern die ganze Auffassung von der Kirche, ihrer Ordnung und Verfassung im Zusammenwirken mit dem Konsi-
20 Kirchenordnung (Anm. 19), 21. 21 Ebd. 22 Ebd., 22-26. 23 Ebd., 72-97.
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Johann Arndt im Amt diss Generalsuperintendenten
storium und der landesfürstlichen Obrigkeit wahrzunehmen. Insgesamt wird auf den seelsorgerlichen Charakter aller Kirchenzuchtmaßnahmen abgehoben und damit der Unterschied zur weltlichen Strafe hervorzuheben versucht. Auch die besonderen Anweisungen an die Pfarrer, keine eigenen Kirchenzuchtmaßnahmen zu ergreifen und alle Entscheidungen dem Konsistorium zu überlassen, zeigen deutlich, daß die Kirchenzucht im praktischen Vollzug weder Angelegenheit des Pfarrers noch der Gemeinde ist, sondern einer landesfürstlichen Behörde, des Konsistoriums. Der Pfarrer hat nur noch den vom Konsistorium gefällten Bannspruch bzw. die Aussöhnung mit der Kirche öffentlich zu verkündigen. Wie bei Johann Gerhard in der Casimirianischen Kirchenordnung von 1626 für Coburg-Gotha, wird auch in der Lüneburgischen Kirchenordnung betont, daß die Kirchenzucht eine Angelegenheit der Gesamtkirche ist.24 Diese aber wird repräsentiert durch die drei Stände. Die Berufung auf die drei Stände erfolgt hier jedoch nicht wie sonst oft in der lutherischen Orthodoxie gegen die Übermacht der Obrigkeit in der Kirche, sondern vor allem im kritischen Gegenüber zu der Selbstherrlichkeit der Pastoren: „Wann dann allhie Ecclesia nicht heist/ oder ist/ der Pastor allein/ viel weniger der unverständige Cromneshauffe/ Sondern zusammen/ Prediger/ Obrigkeit/ und der Ausschuß Ehrlicher/ Gottseliger/ und verstendiger Christen/ aus der Gemeine."25 Daß das Konsistorium die eigentliche Entscheidungsinstanz ist, wird damit begründet, daß es die ganze Kirche repräsentiert. Aber das Konsistorium ist auch Organ der landesherrlichen Obrigkeit. Faktisch wird die Ausübung der Kirchengewalt allein dieser Behörde des landesherrlichen Kirchenregiments übertragen. Wie schon das Patronatsrecht weitgehend beschränkt wurde durch das jus episcopale des Landesherrn, so haben auch die Kirchenzuchtbestimmungen in der Lüneburger Kirchenordnung vor allem in ihrem praktischen Vollzug eine Stärkung der landesherrlichen Kirchenhoheit zur Folge. Eine weitere Besonderheit dieser Kirchenordnung liegt in den ausführlichen Bestimmungen, die sie dem Schulwesen widmet. Auch in ihnen spricht sich der Geist Arndts deutlich aus, hat er doch in seinen Predigten mehrfach auf die Bedeutung der Schulen hingewiesen. Die Schulartikel in der Kirchenordnung von 1619 entsprechen den Anweisungen in der Polizeiordnung von 1618.26 In dem strengen sittlichen Geist sowie ihrer sozialen Grundhaltung stimmen beide Ordnungen völlig überein. Das gute Einvernehmen zwischen Herzog und Generalsuperintendent sowie sein erheblicher Einfluß auf 24
Zur Casimirianischen Kirchenordnung von 1626 für Coburg-Gotha s. M. Honecker, Cura religionis magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Gerhard (Jus ecclesiasticum 7), München 1968,41-50. 25 Ebd., 84. 26 Policey-Ordnung. Celle 1618 [Wolfenbüttel HAB 493 Theol., mit Kirchenordnung von 1619].
Bedeutung der kirchenleitenden Wirksamkeit Arndts
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die Gestaltung des sittlichen Lebens im Fürstentum kommt auch in der Übereinstimmung dieser beiden Ordnungen zum Ausdruck. Das zeigt sich u.a. besonders auf dem Gebiet, das zwischen Kirche und weltlicher Obrigkeit in den protestantischen Territorien um 1600 vielfach umstritten war, bei der Erhaltung der Kirchengüter und der Versorgung der Pfarrer und Kirchendiener. Sowohl die Kirchenordnung wie auch die Polizeiordnung verwenden auf die äußere Gestaltung, Bewahrung und Verbesserung des Kirchenwesens in vielen Einzelbestimmungen große Aufmerksamkeit. In der Lüneburger Kirchenordnung von 1619 spiegelt sich somit das amtliche Wirken des Generalsuperintendenten Arndt besonders klar wider. Neben den großen Predigtwerken kommt ihr eine wichtige, in der Arndtforschung viel zu wenig beachtete Bedeutung zu, wenn Arndts Stellung in seiner Zeit und seine Wirkung als Prediger und Organisator des Kirchenwesens, nicht nur als Erbauungsschriftsteller, richtig erfaßt sein will. Eine Vernachlässigung der äußeren Gestalt der Kirche wird man Arndt aufgrund dieser Dokumente seines amtlichen Wirkens schwerlich nachsagen können. Für sein kirchenleitendes Wirken im Fürstentum Lüneburg hatte Arndt freilich eine besonders günstige Situation in dem weitgehenden gegenseitigen Einvernehmen, das zwischen ihm und der weltlichen Obrigkeit bestand. Für die Frage nach dem theologischen Profil Johann Arndts ist meines Erachtens sein amtliches Wirken als Generalsuperintendent von erheblicher Bedeutung. Gerade das „normale", für die Zeit charakteristische Bild, das der im kirchenleitenden Amt wirkende Arndt darstellt, muß für eine Gesamtbetrachtung der Arndtschen Frömmigkeit und der von ihr ausgehenden weitreichenden Impulse mitbedacht werden. Die Arndtsche Frömmigkeit ist in ihrem Ansatz „kirchliche" Frömmigkeit! Für diese Frömmigkeit bilden die äußeren kirchlichen Rahmenbedingungen keineswegs nur eine letztlich unwesentliche Hülle für die eigentlich inneren Intentionen, wie im Spiritualismus, sondern sind unverzichtbar für die Gestaltung eines christlichen Gemeinwesens. Allerdings ist die Institution Kirche im Sinne Arndts wesentlich auf eine christliche Obrigkeit angewiesen. Wie läßt sich nun der Generalsuperintendent Arndt, der Erbauungsschriftsteller, Prediger und Kirchenorganisator in das Konzept einer lutherischen Konfessionalisierung einordnen? Wir stellen diese Frage nicht nur in bezug auf die Einzelperson Johann Arndt, sondern hinsichtlich des ganzen Arndtschen Frömmigkeitsbereiches in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Nach den von Heinz Schilling dargestellten Zeitphasen der Konfessionalisierung bewegen wir uns hier in der dritten bzw. vierten Phase: auf dem Höhepunkt der Konfessionalisierung und im Zeichen des Irenismus und der Abschwächung des Konfessionalismus. 27 Welche inhaltlichen Charakteristika lassen
27
H. Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620. In: Historische Zeitschrift 246, 1988, 1-44: 14ff.
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Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten
sich in dieser Zeit für die lutherische Konfessionalisierung im Blick auf Arndt und die Arndtsche Frömmigkeitsbewegung gewinnen? Zunächst ist deutlich, daß hier vor allem die integrativen Elemente zwischen Konfessionalisierung und frühmoderner Staatsbildung zu beobachten sind. Und zwar in einer Intensität und einem Ausmaß, daß es schwierig ist, die Spezifizierung einer lutherischen Konfessionalisierung zu erkennen. Um damit auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Warum ist die „Zweite Reformation" so wenig attraktiv für das Luthertum gewesen? Etwa weil die übereinstimmenden Tendenzen in einer „christlichen Reformation" des gesamten geistigen und politischen Lebens, aber auch ihre unterschiedlichen Ausprägungen und Differenzierungen quer durch die Konfessionskirchen gingen und diese mehr von den politisch-gesellschaftlichen, vor allem aber von den theologischen Faktoren bestimmt waren, unter denen sie sich ausbildeten, als von dem jeweiligen kirchlich-konfessionellen Selbstbewußtsein? Was das Luthertum in der Frühneuzeit betrifft, so lassen sich meines Erachtens die beiden Pole des Konfessionalisierungsprozesses: Staatsbildung und Konfessionskonflikt, am sinnvollsten auf unterschiedliche theologische Denkstrukturen und Frömmigkeitsformen zurückführen. Ihr Gewicht ist meines Erachtens größer zu veranschlagen, als es Heinz Schilling in seinem genannten Aufsatz über die Konfessionalisierung im Reich dargestellt hat. Wenn die sog. Arndtschule durchgängig auf Seiten der Integration, das strenge orthodoxe Luthertum vielfach auf Seiten des Konfliktes zu stehen kommt, dann kommt damit eine bestimmte, theologisch reflektierte Verhältnisbestimmung zwischen weltlicher Obrigkeit und Kirche zum Ausdruck. Wenn man einmal das Gesamtkonzept der sog. Krell-Bibel aus Kursachsen unter Kurfürst Christian I. und vor allem einzelne Passagen der dortigen PentateuchAuslegung mit entsprechenden Perikopenpredigten bei Arndt vergleicht, dann nimmt man bis in sprachliche Formulierungen hinein überraschende Übereinstimmungen wahr, die auf ein bestimmtes theologisch-politisches Weltbild zurückgehen, in dem es keine zwei Reiche oder Regimente nebeneinander gibt, sondern vielmehr der geistliche Bereich weitgehend den Interessen des weltlichen Armes dienstbar gemacht wird.28 Die ambivalente religionspolitische Funktion der Arndtschen Frömmigkeit, auf die Dieter Breuer hinwies29 und die in Wolfenbüttel unter Herzog August und im Fürstentum Lüneburg unter Herzog Christian so deutlich zutage tritt, wird man schwerlich einer verborgenen Calvinisierungstendenz 28
Vgl. K. Blaschke, Religion und Politik in Kursachsen 1591-1686. In: H. Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung (Anm. 1), 79-97: 90ff. 29 D. Breuer, Absolutistische Staatsform und neue Frömmigkeitsformen. Vorüberlegungen zu einer Frömmigkeitsgeschichte der frühen Neuzeit aus literarhistorischer Sicht. In: D. Breuer (Hg.): Frömmigkeit in der frühen Neuzeit (= Chloe. Beihefte zum Daphnis 2), Amsterdam 1984, 5-25.
Die politische Funktion der Arndtschen Frömmigkeit
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zuordnen können, dafür ist die durchgängige Distanzierung Arndts vom Calvinismus zu offensichtlich. 30 Meines Erachtens ist auch während der Arndtschen Streitigkeiten der Vorwurf calvinistischer Tendenzen gegenüber Arndt nicht erhoben worden. Arndt gehört nicht an den Rand, sondern mitten hinein in das Luthertum des 17. Jahrhunderts. Wenn sinnvollerweise von reformierter und lutherischer Konfessionalisierung gesprochen werden soll, dann wird die sog. Reformation des Lebens auf der Grundlage der Reformation der Lehre nicht konfessionsspezifisch in eine mehr aktiv-reformierte bzw. passiv-innerlich-lutherische aufzuspalten sein. Den direkten Zug zum Politischen, zu den öffentlichen Angelegenheiten, haben wir bei dem amtlichen Wirken des Generalsuperintendenten Arndt deutlich wahrnehmen können. Ebenso ist der offenkundige Rückgriff der frühabsolutistischen Herrscher auf die Arndtsche Frömmigkeit nicht geeignet, hier nur von einer „Religion der Innerlichkeit" zu sprechen. Die religionspolitische Bedeutung der Arndtschen pietas kommt besonders bei Herzog August d.J. von BraunschweigLüneburg zum Ausdruck. Aber das Charakteristische an diesem kirchenamtlichen Wirken Arndts erschließt sich meines Erachtens nur aus der besonderen theologischen Denkfigur, die dahinter steht. Bei Arndt konzentriert sich der Kampf zwischen dem Reich Gottes und des Teufels wesentlich auf das Gegeneinander der wahren und der falschen Kirche. Der fromme Arndt übt immer wieder scharfe Kirchen-, vor allem Pfarrerkritik, bei der nicht konfessionalistisch die eigene als die wahre den anderen gegenübergestellt, sondern wobei grundsätzlich die ecclesia vera von der weltförmigen abgehoben wird. Zu dieser Entgegensetzung kommt die besondere Verhältnisbestimmung zwischen dem Äußeren und Inneren im theologischen Denken Arndts. Die wahre Kirche verflüchtigt sich gewiß nicht in eine reine Geistkirche, die jenseits aller äußeren Kirchlichkeit existierte, aber sie muß doch - soweit sie in der ecclesia visibilis zur Geltung kommt - prinzipiell von allem weltlich-äußeren Wesen Abstand nehmen. Ihr eigentliches Wirkungsfeld ist das innere Reich der Seele, in dem die Prediger Buße und Vergebung der Sünden zu predigen haben. Entsprechend diesem Verhältnis von Außen und Innen im Kirchenverständnis Arndts stellt sich das geistliche Regiment als die innere Herrschaft Gottes in der Seele des Menschen dar, während das weltliche Regiment auf das äußere Leben des Menschen, auf seinen Leib, ausgerichtet ist. Es vollzieht sich durch die Obrigkeit im Auftrag Gottes. Leib und Seele bezeichnen aber für Arndt die beiden Seiten des christlich-frommen Menschen, d.h. sein Äußerlich-Sichtbares und sein Innerlich-Unsichtbares. Im Bereich des Sicht-
30 Vgl. den instruktiven Aufsatz von H. Schneider: Johann Arndt und Martin Chemnitz. Zur Quellenkritik von Arndts „Ikonographia". In: Der zweite Martin der lutherischen Kirche. Festschrift zum 400. Geburtstag von Martin Chemnitz. Braunschweig 1986, 201-223: 213f.
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Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten
baren, d.h. in allen Angelegenheiten, die den äußeren Menschen in seiner persönlichen Lebensgrundlage sowie in den Ordnungen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens betreffen, steht allein der Obrigkeit die Herrschaft zu. Es handelt sich hier aber um die sichtbare Seite der Frömmigkeit, d.h. um die Äußerungen des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens in der Gottesfurcht. In der unsichtbaren Innenseite des gottesfürchtigen Lebens hat demgegenüber das Predigtamt seinen Auftrag, wodurch der innere Mensch Weisung und Zuspruch erfährt.31 Von dieser - gegenüber Luthers Obrigkeitsverständnis charakteristisch unterschiedenen - theologischen Denkfigur Arndts ist sein kirchenamtliches Wirken in Braunschweig-Lüneburg bestimmt. Das Konzept einer Reformation des ganzen, des inneren und äußeren Lebens, ist von hier aus gestaltet, und zwar bereits am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts. Im Blick auf Arndt wird man nicht von einer späten, sondern von einer mit den Tendenzen im Reformiertentum etwa gleichzeitigen „Reform des Lebens" sprechen müssen. Aber ist es überhaupt sinnvoll, den Höhepunkt der Konfessionalisierung mit dem Arndtschen Luthertum zusammenzubringen? Gewiß, Johann Arndt glaubte in seinem Selbstbewußtsein auf dem Boden lutherischer Rechtgläubigkeit zu stehen. Doch hat nicht Wilhelm Koepp recht, wenn er bei Johann Arndt von einer „ökumenischen Frühgestalt allerersten Ranges" spricht und im Arndtschen Luthertum die „Verheißung ökumenischen Luthertums" sieht?32 „Arndt hat die Bekenntnisgläubigkeit nicht verändern wollen, sie auch nicht vergleichgültigt; er wollte vielmehr durch den reinen Wandel des Lebens das Bekenntnis vollenden."33 Sein praktisches, wahres Christentum wirkte durch die Verschiedenheit und Rivalität der Konfessionen in ihren frühneuzeitlichen Konsolidierungsphasen hindurch. In der Plausibilität der Verwandlung der Lehre Christi ins Leben lag um 1600 und im Verlauf des 17. Jahrhunderts letztlich auch der außerordentliche Erfolg dieses Mannes, dem man meines Erachtens und der ganzen von ihm ausgehenden Wirkung mit dem Konzept einer „lutherischen Konfessionalisierung" nicht hinreichend gerecht zu werden vermag.
31 Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (Anm. 2), 192ff. 32 W. Koepp, Johann Arndt und sein „Wahres Christentum". Lutherisches Bekenntnis und Oekumene (Aufsätze und Vorträge zur Theologie und Religionswissenschaft 7), Berlin 1959, 28. 33 Ebd.
Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt im Dienst einer Erneuerung der Frömmigkeit In der gegenwärtigen kirchen- und theologiegeschichtlichen Forschung zur Frühen Neuzeit geht von dem Namen Johann Arndt eine eigenartige Faszination aus. Das ist ein beachtliches, neues Phänomen. Lange Zeit, noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein, hatte der Verfasser der Bücher vom wahren Christentum zwar seinen unangefochtenen Platz in den Darstellungen der Geschichte der Frömmigkeit, der Erbauungsbücher oder auch des Kirchenliedes. Aber in Anbetracht der nach wie vor geringfügigeren Beachtung der Frömmigkeitsgeschichte gegenüber der Kirchen- und Theologiegeschichte in den meisten Darstellungen der neuzeitlichen Christentumsgeschichte kam einer solchen Erwähnung Arndts kaum größere Bedeutung zu. Gewiß, eine Geschichte des Pietismus konnte auch in der älteren Forschung nicht ohne Berücksichtigung von Johann Arndt und der von ihm ausgehenden Frömmigkeitsbewegung geschrieben werden.1 Demgegenüber macht die neue, seit 1993 erscheinende Geschichte des Pietismus überaus deutlich, welche herausragende Bedeutung Johann Arndt und der neuen Frömmigkeitsbewegung inzwischen zugesprochen wird.2 Sowohl das Verständnis dessen, was unter Pietismus verstanden wird, als auch eine Definition der lutherischen Orthodoxie oder des lutherischen Konfessionalisierungsprozesses kann in der heutigen Forschung nicht mehr ohne eingehende Berücksichtigung Johann Arndts und seiner Rezeptionsgeschichte in der Kirchen-, Theologie-, Frömmigkeits- und Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts und darüber hinaus erfolgen.3 Die seit einiger Zeit neu belebte Arndt-Forschung kann allerdings nicht für sich in Anspruch nehmen, ein einigermaßen in sich stimmiges, konsensfähiges Bild über die Hauptintentionen der Veröffentlichung seiner zahlrei1 2
3
Z.B. bei M. Schmidt, Pietismus, Stuttgart 1972 oder E. Beyreuther, Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978. Geschichte des Pietismus. Hg. v. M. Brecht, Bd. 1 und 2, Göttingen 1993 und 1995. Die Stellenangaben zu Johann Arndt im Personenregister des 1. Bandes werden nur noch von denen Speners übertroffen. Vgl. J. Wallmann, Die Anfänge des Pietismus. In: PuN 4, 1979, 11-53; Ders., Der Pietismus, Göttingen 1990 (KIG, 01). Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hg. v. H.-Chr. Rublack, Gütersloh 1992.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
chen Werke und ihrer immensen Wirkungsgeschichte zeichnen zu können. Gegenüber der älteren Arndtforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vertreten vor allem durch Wilhelm Koepp und Hans Leube,4 sind zwar manche neue, wichtige Erkenntnisse hinzugekommen, die uns einen besseren Zugang zum Verständnis Arndts in seiner Zeit eröffnen.5 Nach wie vor stehen sich aber die gegensätzlichen Interpretationen sowohl hinsichtlich der Theologie Arndts, seines Verhältnisses zur Mystik und seiner Stellung im Rahmen der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des 17. Jahrhunderts recht schroff gegenüber.6 Der umstrittene Arndt - das bleibt offenkundig ein dauerhaftes Phänomen seit den Arndtschen Streitigkeiten im frühen 17. Jahrhundert. Die einzigartige Wirkungsgeschichte seiner Werke hat den Streit um Arndt und seine unterschiedliche Rezeptionsgeschichte schon früh in den Hintergrund treten lassen. Denn schon lange vor Spener haben die Arndtverteidiger gegenüber den Arndtgegnern einen für die weitere Kirchen·, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte höchst bedeutsamen Sieg errungen. Damit steht erneut die frühe Wirkungsgeschichte Arndts im Zentrum des Interesses. Den neuesten Überblick über die Rezeptionsgeschichte Arndts in
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W. Koepp, Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum, Berlin 1912 (Neudruck Aalen 1973); H. Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924. Aus den zahlreichen neueren Untersuchungen zu Arndt möchte ich nur auf folgende hinweisen: E. Weber, Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung, Hildesheim 3 1978; H. Schneider, Johann Arndt und die makarianischen Homilien. In: Makarios-Symposion über das Böse. Hg. v. W. Strothmann, Wiesbaden 1983, 186-222; Ders., Johann Arndts Studienzeit. In: JGNKG 89, 1991, 133-175; J. Wallmann, Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg als Gestalt der Kirchengeschichte. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1995, 20-45; Ders., Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Gesammelte Aufsätze, 1-19; Chr. Braw, Bücher im Staube. Die Theologie Johann Arndt in ihrem Verhältnis zur Mystik, Leiden 1985; E. Axmacher, Das Spiegelbild Gottes. Johann Arndts theologische Anthropologie. In: Belehrter Glaube. Festschrift für Johannes Wirsching zum 65. Geburtstag. Hg. v. E. Axmacher und K. Schwarzwäller, Frankfurt a.M. 1994, 11-43. Hinsichtlich des Schriftverständnisses Arndts stehen sich z.B. B. Hamm, Johann Arndts Wortverständnis, PuN 8, 1982, 43-73 und I. Mager, Gottes Wort schmecken und ins Leben verwandeln. Johann Arndts Schriftverständnis. In: Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 24, Helsinki 1992, 149-158, gegenüber. Bei dem Verhältnis Arndt - Spener und der Stellung Arndts in der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des 17. Jahrhunderts steht die Arndt-Deutung Wallmanns gegenüber derjenigen M. Brechts, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Geschichte des Pietismus (Anm. 2), 113-203.
Frühe Wirkungsgeschichte Arndts
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der lutherischen Orthodoxie hat Martin Brecht gegeben.7 Angesichts des seit Gottfried Arnold noch immer nicht völlig ausgestorbenen Bildes von der sog. toten Orthodoxie und den gleichzeitigen, intensiven Reformbemühungen, die man in dem unglücklichen Begriff der Reformorthodoxie einer auf der reinen Lehre beharrenden Orthodoxie mehr oder weniger gegenüberstellte, sagt Brecht mit Recht: „Will man von den falschen Alternativen loskommen und einen unverstellten Blick auf die reiche Geschichte der Kirche, Theologie und Frömmigkeit in Deutschland während der ersten drei Viertel des 17. Jahrhunderts gewinnen, so muß man zur Kenntnis nehmen, wie weit sich lutherisches Kirchentum sowie orthodoxe Theologie und die neue Frömmigkeit samt ihren Reformbestrebungen gegenseitig durchdrungen haben. Die Institution und die Lehre verlieren dadurch etwas von ihrer angeblichen starren Lebensferne und die Frömmigkeitsbewegung etwas von ihrer Außenseiterrolle." 8 In der frühen Wirkungsgeschichte Arndts nimmt der Nürnberger Theologe Johann Saubert einen Platz ein, der für das Verhältnis der lutherischen Orthodoxie zur Arndtschen Frömmigkeit recht aufschlußreich ist. Der Name Saubert wird meist im Zusammenhang mit einer bedeutenden Reformschrift in der lutherischen Orthodoxie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts genannt, seinem „Zuchtbüchlein", Nürnberg 1633, in dem er die Notwendigkeit der Kirchenzucht zur Förderung der Frömmigkeit umfassend darlegte.9 Eine Gesamtwürdigung der Reformtätigkeit Johann Sauberts in Nürnberg und seiner Stellung in der Geistes- und Kirchengeschichte der Stadt auf der Grundlage seines gesamten Werkes sowie vor allem seines umfangreichen Briefwechsels hat Richard van Dülmen gegeben.10 Nach der Darlegung seines Bildungsganges und seiner verschiedenen Ämter in Altdorf und Nürnberg stellt van Dülmen den langwierigen Kampf Sauberts um eine Reform der Nürnberger Kirche dar. Dieses Bemühen Sauberts hatte zwei eng miteinander verbundene Ziele: „Die Verdrängung des liberalen Philippismus durch ein strenges, orthodoxes Luthertum" sowie „die Belebung der kirchlichen Frömmigkeit, die das sittliche und religiöse Leben, das vor allem durch den großen Krieg in Verfall geraten war, neu zu gestalten und intensivieren vermöchte" 11 . Unter der Überschrift: „Kirchenzucht und Frömmigkeit" kommt
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Brecht (Anm. 6), 142-151. Brecht (Anm. 6), 167. Vgl. M. Brecht, Lutherische Kirchenzucht bis in die Anfänge des 17. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Pfarramt und Gesellschaft. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 3), 400-420: 418ff. 10 R. van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform. Der Nürnberger Prediger Johannes Saubert (1592-1646). In: ZBLG 33, 1970, 636-786. 11 v. Dülmen, 674.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
van Dülmen auch auf Johann Arndts „Wahres Christentum" zu sprechen.12 Die folgenden Ausführungen schließen sich an diese Arbeit van Dülmens an, indem sie das Eintreten Johann Sauberts für Johann Arndt inmitten einer höchst angespannten, zu Mißdeutungen vielfach Anlaß gebenden Situation ins Zentrum rücken. Wie kommt der lutherisch-orthodoxe Theologe Saubert dazu, der einen zermürbenden Kampf um die Durchsetzung des strengen Luthertums gegen Sozinianismus, Philippismus, Kryptocalvinismus und vor allem sektiererischen Spiritualismus kämpft, sich ausgerechnet auf Johann Arndt zu berufen, um dessen Bücher vom wahren Christentum gerade heftig gestritten wurde? Welche Gründe führten Saubert dazu, sich so entschieden und durchgängig für den umstrittenen Arndt einzusetzen, auf den sich ja auch die Gegner Sauberts beriefen? Warum ließ er hier alle Sorge um Kompromittierung beiseite? Das so frühzeitige Eintreten Sauberts für Johann Arndt stellt einen wichtigen Beitrag zur orthodox-kirchlichen Rezeption Arndts dar, der meines Erachtens noch nicht genügend gewürdigt ist. Der Bildungsgang Johann Sauberts ist der eines streng lutherischen Theologen. Aus einer Handwerkerfamilie stammend, wurde Johann Saubert am 26. Februar 1592 in Altdorf geboren. Hier besuchte er das Gymnasium unter dem Rektor Nikolaus Taurellus, einem Mediziner und Physiker, „der erste Philosoph im Luthertum"13. Ein wichtiger Förderer in Sauberts Jugendzeit war der Altdorfer Theologieprofessor Jakob Schopper.14 Als Hauslehrer in dessen Haus lernte Saubert diesen ,,eigentliche[n] Kopf der Altdorfer Orthodoxie"15 näher kennen, der auf seine weitere theologische Entwicklung nachhaltig einwirkte. Schopper war der führende Gegner der an der Altdorfer Akademie dominierenden Gruppe von Professoren, die späthumanistische, zum Calvinismus neigende und sozinianische Anschauungen vertraten. Er war vom Nürnberger Rat als „Aushängeschild" für die Orthodoxie der Altdorfer Akademie und als Gegengewicht gegenüber den herrschenden humanistisch-rationalistischen Tendenzen berufen worden. In dieser Zeit konnte sich Saubert auch mit Hilfe eines Stipendiums dem Philosophiestudium in Altdorf widmen. Zur Zeit seines philosophischen Studiums in Altdorf, u.a. bei Ernst Soner, dem Begründer der sozinianischen Bewegung in Altdorf,16 hatte Saubert noch keine nähere Kenntnis von den
12 v. Dülmen, 715-722. 13 v. Dülmen, 640. - Zu Leben und Werk Sauberts vgl. auch D. Blaufuß, Johann Saubert (1592-1646). In: Fränkische Lebensbilder 14, 1991, 123-140. 14 Vgl. S. v. Scheuerl, Die theologische Fakultät Altdorf im Rahmen der werdenden Universität 1575-1623, EKGB 23, Nürnberg 1949. 15 R. van Dülmen (Anm. 10), 642. 16 Zu Ernst Soner (1575-1612) vgl. S. Wollgast, Grundlinien oppositionellen weltanschaulich-philosophischen Denkens in Deutschland zwischen 1550-1720. In: Weg-
Sauberts Bildungsgang
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eigentlichen Zielen und Grundsätzen des Sozinianismus. Nach der Magisterpromotion ging Saubert für ein Jahr an die Universität Tübingen, wo er sein Theologiestudium bei den orthodoxen Theologen Lukas Oslander d.J. und Matthias Hafenreffer begann (1612/13). Während dieses kurzen Tübinger Studienaufenthaltes kam Saubert in nähere Beziehung zu Johann Valentin Andreae, woraus ein lebenslanger, enger Freundschaftsbund wurde.17 Nach seiner Rückkehr aus Tübingen las er in Altdorf ein offenbar recht beachtetes Collegium Ethicum, stand aber weiterhin unter dem fördernden Einfluß des Theologen Schopper. Der Altdorfer Rechtsgelehrte Scipio Gentiiis (15631616) wollte ihn für die Jurisprudenz gewinnen, aber da griff der zweite Förderer von Sauberts Jugend neben Schopper in sein Leben ein, der Nürnberger Prediger von St. Lorenz, Johann Schröder (1572-1621). In Nürnberg vertrat Schröder die orthodox-lutherische Richtung, während Johannes Fabricius entschieden die Position des Nürnberger Philippismus verteidigte. Neben Schopper war es vor allem Schröder, der Saubert zum Beruf des Theologen überzeugen konnte und ihn zum weiteren Theologiestudium an die Universität Gießen empfahl. Seit 1614 studierte Saubert an dieser erst 1607 gegründeten, einheitlich lutherisch-orthodoxen Universität bei den Theologen Balthasar Mentzer und Johannes Winckelmann. In Gießen verfaßte Saubert eine Disputation über die Trinität, die den Kampf Schoppers gegenüber dem Sozinianismus unterstützen sollte.18 Auf Empfehlung Mentzers ging Saubert schließlich im Frühjahr 1616 an seine dritte Universität, nach Jena zu Johann Gerhard. Auch wenn dieser Jenaer Aufenthalt nur recht kurz gewesen ist, muß er doch für das weitere Wirken Sauberts recht erhebliche Bedeutung gehabt haben. Der in Kirche und Theologie hoch angesehene, eben erst nach Jena berufene Gerhard wirkte auf Saubert nicht nur mit seiner theologischen Gelehrsamkeit, sondern auch mit seiner Förderung der Frömmigkeit als erfolgreicher Erbauungsschriftsteller. 19 Eine erste Begegnung Sauberts mit den Schriften Johann Arndts muß nicht erst über die Bekanntschaft mit Johann Gerhard vermittelt gewesen sein. Dennoch ist es gut denkbar, daß Saubert sich in seiner Jenaer Studienzeit besonders den Intentionen Johann Arndts und Johann Gerhards hinsichtlich des wahren, lebendigen Glaubens geöffnet hat. Im Jahre 1616 kam in Jena
scheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jh. Hg. v. G. Vogler, Weimar 1994, 337-367: 344ff. 17 v. Dülmen (Anm. 10), 733-744. Eine besonders enge Freundschaft bestand auch zwischen Saubert und Johann Matthäus Meyfart; vgl. E. Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987, 23 u.a. 18 v. Dülmen (Anm. 10), 641f. und 778. 19 Vgl. M. Honecker, Art. „Gerhard, Johann". In: TRE 12, 1984, 448-453; E. Koch, Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard (1606). In: PuN 13, 1987, 25-46.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
Johann Arndts Evangelienpostille heraus.20 In der Vorrede Johann Gerhards zu Arndts Postille bezeichnet er Arndt als seinen geistlichen Vater seit über 16 Jahren und empfiehlt die besondere Predigtweise Arndts als einen „Modus docendi mysticus", der für die jetzige Zeit „hochnötig" sei.21 Nicht nur durch seine Bücher vom wahren Christentum, sondern auch durch seine großen Predigtwerke, die in Jena 1616 und 1617 erstmals erschienen, wirkte Arndt auf die jüngere Theologengeneration und hat nicht wenige gerade auch durch seinen neuen Predigtstil nachhaltig beeinflußt. Zu ihnen gehörte nicht zuletzt Johann Saubert. Während seines Jenaer Studienaufenthaltes erfuhr Saubert aber auch offenbar erstmals von jenen sozinianischen Bewegungen in seiner Heimatstadt Altdorf, die einige seiner Freunde in den Bann gezogen hatten.22 Erschrocken und empört schreibt er an Johann Schröder nach Nürnberg und beklagt, daß die Altdorfer Professoren diese Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hätten: „Der dreieinige Gott soll machen, daß bald dieser unselige Brand in Rauch aufgeht, bis er ganz ausgelöscht wird."23 Im Sozinianismus sah Saubert seitdem verhängnisvollen Rationalismus und Atheismus, dem sein leidenschaftlicher Kampf galt. Den langjährigen, zermürbenden Konflikt, den Saubert mit dem Nürnberger Rat durchzustehen hatte, verstand er als eine Auseinandersetzung mit der Welt des Späthumanismus, in der er vor allem kryptocalvinistische und sozinianische Gedanken bekämpfte. 24 Noch im Jahre 1616 kehrte Saubert aus Jena wieder nach Altdorf zurück. Er hatte bei bedeutenden orthodoxen Theologen studiert und sich vor allem auch gründliche philologische Kenntnisse angeeignet. Zunächst wurde er Inspektor und Katechismus- und Vesperprediger in Altdorf, ab 1618 übernahm er eine Diakonatsstelle und eine theologisch-exegetische Professur. Das früheste Zeugnis für das Eintreten Johann Sauberts für die Intentionen Johann Arndts ist die in Nürnberg 1620 gedruckte Vesperpredigt: „Geistliche Flämmlein, mit welchen die kalte Lieb dieser letzten Welt etlicher massen kan erwärmet werden." 25 In der Widmungsvorrede an den Altdorfer Rechtsgelehrten Johann Gerhard Frauenburg, der früher zum Kreis des Altdorfer Sozinianismus gehörte, spricht Saubert davon, daß „wir offtermahln in der 20
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Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie, Göttingen 1988, 167ff. Sommer (Anm. 20), 169 Anm. 153. Vgl. K. Braun, Der Socinianismus in Altdorf 1616. In: ZBKG 8, 1933, 65-81, 129150. v. Dülmen (Anm. 10), 647. v. Dülmen, 699-715. Vgl. auch K. Braun, Der Nürnberger Prediger Johannes Saubert und die Augsburger Konfession. In: ZBKG 6,1931, 1-24, 74-86, 145-163. J. Säubert, Geistliche Flämmlein (1620), zitiert nach der Ausgabe Nürnberg: Simon Halbmayer (Erlangen, Univ. Bibl.). Signatur: ThL.XVII, 536.
Sauberts Vesperpredigt „Geistliche Flämmlein"
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Forcht deß Herrn verträwlich zwischen uns Unterredung gepflogen/ nemblichen daß wir auf deß Befehls Christi/ den guten Baum auß den Früchten/ oder wie es Paulus angibt/ den h. Geist unnd glauben auf den Tugenden abnemen aestimirn und erkennen sollen: bestehe dem nach das wahre Christenthumb nicht in Worten oder eußerlichem Schein/ sondern in einem lebendigen glauben/ auß welchem die Lieb gegen den Nächsten sampt andern Christlichen Tugendten nohtwendig entsprießen."26 Mit diesen Worten ist schon das Grundanliegen Sauberts in allen seinen zahlreichen Schriften deutlich zum Ausdruck gebracht. Er hat es in vielen Variationen wiederholt und gegen Anfeindungen und Mißdeutungen konsequent verteidigt. Auffallend ist, daß Saubert seine Betonung des tätigen, lebendigen Glaubens schon in der Vorrede zu dieser Predigt mit Worten Johann Arndts formuliert. Auch die schon im Titel zum Ausdruck kommende Klage über die erkaltete Liebe in vielen Herzen und das gleichzeitige Selbstverständnis als „gute Christen" geht unmittelbar parallel mit dem Anfang der Vorrede Arndts über das erste Buch vom wahren Christentum.27 Sauberts Anliegen ist es nun vor allem, daß „solche Lehr von der Lieb deß Nächstens nit allein in privat Gesprächen per occasionem, sonder auch öffentlich zu treiben/ vermöge meines Ampts und gewissens" notwendig ist. Auch wenn „etliche spöttische Hertzen" Saubert „einer Newerung" beschuldigen, will er die Thematik der Nächstenliebe zum Hauptinhalt seiner öffentlichen Predigttätigkeit machen.28 In der Predigt selbst über Rom 13,9 stellt Saubert fest, daß der gegenwärtige Anschlag des Satans dahin gehe, „das man fast allenthalben von der Liebe gegen dem Nächsten nit mehr wissen will/ ja noch die jenigen so ex professo unnd Gewissens halber davon predigen sollen und wollen/ auffs eusserste anfeindet/ calumnirt unnd durchziehet"29. In der Beschreibung der Liebe als Frucht des Glaubens zeigt sich schon deutlich Sauberts Predigtstil: Eine einfache, klare Sprache mit anschaulichen Bildern und im Dialog mit entgegenstehenden Meinungen. Der Schluß dieses Predigtdruckes zeigt nun unmittelbar die Zustimmung Sauberts zu den Intentionen Arndts. Er fügt nämlich seiner Predigt „Additamenta" bei, „genommen auß dem ersten Buch Vom wahren Christenthumb/ Deß fürtrefflichen Theologi, Johannis Arndt/ General Superintendentens im Fürstenthumb Lüneburg" 30 . Hier hat Saubert auf 22 Seiten Arndt-Zitate zusammengestellt, die seine Predigt über die Notwendigkeit der Nächstenliebe unterstützen und ergänzen sollen. Interessant ist, welche Zitatauswahl Sau26 27
Saubert, Geistliche Flämmlein (Anm. 25), Α Iis. Johann Amds Vier Bücher vom Wahren Christentum. Hg. v. Evangelischen BücherVerein, Berlin 6 1857, 6. 28 Saubert, Geistliche Flämmlein (Anm. 25), Α ΠΙ. 29 Saubert, 11. 30 Saubert, 56-77: 56.
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bert vornimmt. Aus der Vorrede übernimmt er den Anfang des zweiten Abschnittes: „Viel meinen, die Theologia sey nur eine bloße Wissenschaft und Wort-Kunst, da sie doch eine lebendige Erfahrung und Übung ist [...] wer mir dienen will, der folge mir nach."31 Es folgen Auszüge aus dem 24., 25. und 26. Kapitel des ersten Buches, die von der Liebe Gottes und des Nächsten handeln. Die Zitate enden mit dem Abschluß des 32. Kapitels des ersten Buches. 32 Nach der bisherigen Quellenanalyse von Johann Arndts „Vier Bücher[n] vom Wahren Christentum" durch Edmund Weber 33 hat Saubert nur auf solche Texte Arndts zurückgegriffen, die nicht in Verbindung mit der „Nachfolge Christi" oder der „Theologia Deutsch" stehen. Dieses öffentliche Bekenntnis Sauberts zu Arndt noch zu dessen Lebzeiten und während der seit 1618 vor allem in Danzig ausgebrochenen Arndtschen Streitigkeiten und Arndts Verteidigungsschriften ist ein nicht unbedeutendes Zeugnis für die frühe Wirkungsgeschichte Arndts. Im Jahre 1622 wurde Saubert von Altdorf nach Nürnberg in den Kirchendienst berufen, zunächst als Diakon von St. Egidien und noch im selben Jahr 1622 von St. Marien. Ab 1628 wurde er Prediger an St. Lorenz und ab 1637 an St. Sebald. Mit dem ersten Predigtamt an der Sebalduskirche war gleichzeitig die Stelle eines Antistes der Nürnberger Geistlichkeit verbunden. Der Rat der Stadt ernannte Saubert 1637 auch zum Stadtbibliothekar. Bis zu seinem Tod am 2. November 1646 ist das Wirken Sauberts nun eng mit der kirchlichen, politischen und geistlich-religiösen Situation der Reichsstadt Nürnberg in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verbunden. Mit seinen Ämtern und öffentlichen Funktionen nahm er einen herausragenden Platz im Leben der Stadt ein. Durch eine ausgedehnte Korrespondenz stand er darüber hinaus in Kontakt mit gleichgesinnten Theologen im Lehramt und im Kirchendienst sowie mit Gelehrten und frommen Fürsten.34 Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Reichsstadt Nürnberg war zwar nach dem Augsburger Religionsfrieden zurückgegangen, aber neben Straßburg war Nürnberg gerade in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ein besonders lebendiges kulturelles Zentrum in Süddeutschland. Die Verehrung des mit Nürnberg eng verbundenen Melanchthon und der späthumanistische Geist bei städtischen Ratsherren und Geistlichen, aber
31 Arndt, WChr (Anm. 27), Vorrede, 6, 2. 32 Folgende Abschnitte hat Saubert aus dem Ersten Buch entnommen: WChr I, 24.5.12. 13.22; 25, 3.4; 26, 5.6.7.8.11; 32, 7.8. 33 Vgl. Anm. 5. 34 Die wichtigsten Briefpartner Sauberts sind: J. Gerhard, J.V. Andreae, J.M. Meyfart, J. Schmidt, Chr. Schleupner, J.C. Dannhauer, J. Hülsemann; vgl. R. van Dülmen (Anm. 10), 671ff. Die fromme Gelehrsamkeit Sauberts, vor allem auch seine philologischen Kenntnisse, brachten ihn in Verbindung mit den Bibelprojekten Herzog Augusts von Braunschweig-Lüneburg und Herzog Emsts dem Frommen von Sachsen-Gotha.
Weigelianer in Nürnberg
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auch ein orthodoxes Luthertum, das sich bei allem Drängen auf die reine Lehre eine große Lebensnähe bewahrt hatte, die sich in zahlreichen Erbauungsschriften, in religiöser Dichtung, Sprachpflege und pädagogischen Traktaten äußert - diese geistige Gesamtlage macht die Bedeutung Nürnbergs im kulturellen Leben der Zeit verständlich. An einer Gesalt wie dem führenden Ratskonsulenten Georg Richter „als geistiges Haupt des Philippismus in Nürnberg" 35 und Hauptgegner Sauberts in seinem Kampf um die Geltung der Confessio Augustana Invariata in der Nürnberger Kirche wird der rege geistige Kontakt deutlich, der zwischen Nürnberg und dem westeuropäischen Späthumanismus bestand. Die geistige Ausstrahlung Nürnbergs - auch als bedeutender Verlagsort36 - zog viele ausländische Gelehrte zu Besuchsreisen an, oder es wurde die Stadt auch für längere Zeit der Aufenthaltsort für anderswo Bedrängte, so z.B. für die österreichischen Protestanten. Zu dieser geistig-religiösen Aktivität Nürnbergs am Anfang des 17. Jahrhunderts gehören auch die Intentionen zweier Bewegungen und Gruppierungen, die sowohl in Konflikt mit der Politik des Rates wie auch mit dem Kirchen- und Amtsverständnis des geistlichen Ministeriums geraten mußten: der Sozinianismus und der Weigelianismus.37 Während der Sozinianismus an der Altdorfer Akademie und in Nürnberg zur Zeit des Dienstantrittes Sauberts in der Reichsstadt durch das Einschreiten des Rates weitgehend zurückgedrängt war, stellten die zahlreichen Nürnberger sog. Weigelianer ein schwieriges, dauerhaftes Problem in der Amtstätigkeit Sauberts dar. Auch konnte gegen den Rationalismus der Sozinianer wesentlich leichter vorgegangen werden als gegen den Spiritualismus der Weigelianer und Schwenckfelder. In dem Jahrzehnt von 1609-1619 erschienen zahlreiche Schriften unter dem Namen Valentin Weigels, die rasch erhebliche Verbreitung in weit voneinander entlegenen evangelischen Kirchengebieten fanden, aber auch viele Gegenschriften und Druckverbote auslösten. Die Unruhe und Unsicherheit, die dieser literarische Kampf für die lutherische Kirche und Theologie bedeutete, zieht sich noch bis in die Zeit Speners hinein: „Das gesamte 17. Jahrhundert hindurch wurde der Begriff ,Weigelianismus' zur hauptsächlichen Bezeichnung der Heterodoxie." 38 Die Hauptintentionen der Weigelianer lagen in ihrer Betonung eines wahrhaft christlichen Lebens, das in der Nächstenliebe und in der Nachfolge Christi durch die Erleuchtung des göttlichen Geistes geführt wird. Wo sie 35 Vgl. van Dülmen (Anm. 10), 691. 36 Im Verlag Wolfgang Endter erschienen die meisten Schriften Sauberts. 37 Zum Weigelianismus in Nürnberg vgl. van Dülmen (Anm. 10), 722ff. und H. Weigelt, Georg Gellmann und das Schwenckfeldertum. Zum Problem des Weigelianismus. In: ZBKG61, 1992, 103-112. 38 H. Pfefferl, Das neue Bild Valentin Weigels - Ketzer oder Kirchenmann? In: Herbergen der Christenheit 1993/94, Leipzig 1994, 67-79: 67.
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diesen göttlichen Geist nicht zu verspüren meinten, blieben sie den kirchlichen Gottesdiensten in Predigt und Sakramentsausteilung fern. In der Überzeugung, daß das wahre Christentum sich im persönlichen und gemeinschaftlichen Leben der Christen durch eine praktizierte Frömmigkeit zu bewähren habe, stimmten Saubert und die Weigelianer überein. Aber das fromme Leben gibt es nach Saubert nicht ohne die reine Lehre, um die sich Theologie und Kirche bemühen, auch wenn viel Anlaß zur Kritik an der mangelnden Übereinstimmung dieser „zwei Hauptsäulen unseres ganzen Christentums" 39 besteht. Das innere Wort kann nicht ohne das äußere lebendig werden, der in der Liebe tätige Glaube hat das Predigtamt der Kirche zur Voraussetzung. Diese Lehre und Leben zusammenhaltende lutherisch-orthodoxe Haltung Sauberts stand gegen die einseitige Betonung der Frömmigkeit als Ausweis des wahren Christentums bei den Weigelianern. Ihre Distanz und offene Ablehnung des kirchlichen Gottesdienstes aufgrund des unwürdigen Lebens vieler Kirchendiener führte zu mehreren Anklagen des Nürnberger Rates gegen die Weigelianer mit dem Ziel ihrer Ausweisung. Saubert wurde in diesen Prozessen gegen die Weigelianer mehrfach um Gutachten gebeten und hat sich stets entschieden gegen sie erklärt. Vor allem ihre Kritik am Predigtamt forderte Sauberts scharfen Protest heraus. Sauberts Kritik am Spiritualismus der Weigelianer vollzieht sich völlig im Rahmen der bekannten Auseinandersetzungen zwischen der lutherischen Orthodoxie und den verschiedenen Gruppierungen des Schwärmertums. Was sie über diesen Rahmen hinaus bedeutsam erscheinen läßt, ist ein Vorgang, der nicht nur in Nürnberg die Gemüter erregte: Die Weigelianer beriefen sich in ihrer Forderung nach einer Intensivierung der Frömmigkeit und einer Besserung des christlichen Lebens auf die Bücher Johann Arndts vom wahren Christentum. Damit waren die nicht wenigen Arndt-Anhänger, die die gleichen Ziele verfolgten, aufs schärfste herausgefordert und kompromittiert. Wie Johann Arndt sich selbst noch am Ende seines Lebens gegenüber vielfachen Vorwürfen verteidigen mußte, die durch die Wahrnehmung der Verarbeitung unterschiedlicher, umstrittener Traditionsströme und literarischer Quellen durch Arndt veranlaßt waren, so sahen sich nun auch bald alle diejenigen ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt, die mit den Intentionen Arndts in unterschiedlicher Intensität übereinstimmten. Es ist in der bisherigen Arndtforschung m.E. zu wenig deutlich herausgestellt worden, daß alle auch noch so scharfsichtige theologische Kritik an Arndt hauptsächlich aus der Sorge erwachsen ist, daß sich der Spiritualismus eines Paracelsus, Weigel oder Schwenckfeld weiter verbreiten könnte, also apologetischer Natur ist. Das gilt auch für den schärfsten Angriff auf Arndt, das „Theologische Bedenken"
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Zuchtbüchlein, Nürnberg 1633, 143.
Saubert und Konrad Dieterich
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von Lukas Oslander d.J. von 1623.40 Nicht die Intention Arndts, sondern ungeschickte Arndtverteidigung und Sorge vor Mißdeutung steht auch hinter der Distanz, die Johann Gerhard seitdem gegenüber Arndt einnahm.41 In Süddeutschland war es vor allem der Superintendent in Ulm, Konrad Dieterich, der deutliche Kritik an Arndt übte.42 Auch seine Polemik gegenüber Arndt ist vor allem dadurch veranlaßt, „daß sich das weigelianisch und rosencreuzerisch gesindel izt allein mit dem Arndten schleppen und behelffen will" 43 . Mit Dieterich führte Saubert über den Streit um Arndt und das Werk von Oslander einen Briefwechsel, der die sehr unterschiedliche Art der beiden führenden Geistlichen von Nürnberg und Ulm im Umgang mit Arndt aufzeigt. 44 Auch Saubert ist sich wie Dieterich bewußt, daß das Werk Arndts in der Gefahr der Mißdeutung und der Beanspruchung durch kirchenkritische Sektierer und Schwärmer steht. Aber deswegen das ganze Werk zu verurteilen und durch Polemik den Streit in der Kirche anzufeuern, sei unverantwortlich. Es gelte vielmehr, das Hauptanliegen Arndts festzuhalten und kräftig zu unterstützen in einer Art und Weise, daß das Werk seine notwendige Wirkung ohne Schaden tun könne. Weder theologische Polemik gegen einzelne, aus dem Zusammenhang herausgenommene Passagen, noch Furcht vor falscher Berufung auf ihn sei nun das Gebot des Handelns. Das Eintreten Sauberts für Arndt in dieser schwierigen Gesamtlage zeigt in differenzierter Weise ein Predigtdruck aus dem Jahre 1625, der sich in seiner Knappheit und Klarheit durchaus neben die anderen bekannten Verteidigungsschriften Arndts stellen kann.45 Am Neujahrstag 1625 hielt Saubert in der Marienkirche eine Predigt über Gal 6,15, der eine Information über den rechten Umgang mit Arndts Wahrem Christentum vorausgeschickt ist: „Vor-
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Lucas Oslander, Theologisches Bedencken Und Christliche Treuhertzige Erinnerung welcher Gestalt Johann Amdten genandtes Wahres Christenthumb nach Anleitung deß H. Wortes Gottes und der reinen Evangelischen Lehr und Bekandtnüsse anzusehen, Tübingen 1623. Vgl. J. Wallmann, Herzog August d.J. als Gestalt der Kirchengeschichte (Anm. 5), 41 Anm. 70. Zu Dieterich s. M. Hagenmaier, Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614—1639, Baden-Baden 1989. Zu Dieterichs Verhältnis zu Arndt s. v. Dülmen (Anm. 10), 719ff. und M. Brecht (Anm. 6), 147 und 185. Zitiert nach v. Dülmen (Anm. 10), 721. Vgl. H. Dieterich, D. Konrad Dieterich. Superintendent und Scholarch in Ulm (1614— 1639) und sein Briefwechsel, Ulm 1938, 54ff. Zu den Verteidigungsschriften von P. Egard, H. Varenius und M. Breier s. J. Wallmann, Herzog August d.J. als Gestalt der Kirchengeschichte (Anm. 5), 36ff. und M. Brecht (Anm. 6), 145ff.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
rede oder information für die Einfältigen/ warfür man die Bücher Johann Arndii, vom wahren Christenthumb/ halten solle"46. Saubert weist zunächst darauf hin, daß schon bisher „etliche gottselige Zuhörer" bei ihm nachgefragt hätten, wofür sie die Bücher Johann Arndts vom wahren Christentum halten sollten. Sie hätten sie „mit großer begierd auffgenommen und gelesen". Obwohl die Antwort jedesmal gegeben und auch zufrieden aufgenommen worden sei, befänden sich in der Gemeinde doch noch viele, die sich vor einer persönlichen Nachfrage scheuen. Ihnen möchte nun Säubert „Ampts und Gewissens halber und zu Verhüttung grosser ärgernussen/ meine einfaltige gedancken hier auffsetzen und entdecken [...] inn starcker hoffnung/ dafern jemand was bedenckliches darinn finden solte/ derselbige werde mich mit Christlicher bescheidenheit und Brüderlicher Lieb erinnern/ und sich eines gleichförmigen affects unzweiffentlich zu mir versehen" 47 . Sauberts Erklärung der Sache beginnt mit einem Rückblick: „Vor acht Jahren ohngefehr/ sind dieser orten/ und anderswo die Bücher Joh. Arndii, vom wahren Christenthumb in einen grossen raff kommen/ und daher auch in meine und andere Hände gebracht worden. Weil wir aber gar bald gespürt/ daß der Author etliche Periodos auß den Schrifften Tauleri und anderer alten Teutschen Scribenten daselbst eingefügt/ auch etliche phrases und wort gebraucht/ so nit jederman ins gemein bekandt waren: Als hat sich die nohtdurfft ereygnet/ vorneme und Gottseelige Theologos hierüber/ sowoln Mündlich/ als Schrifftlich/ umb raht zu fragen: deren judicia und gutachten/ do es erfordert würde/ köndten fürgezeigt werden." 48 Mit diesen Worten stellt Saubert zunächst klar heraus, daß die Wirkung von Arndts Werk ab ca. 1617/18 von vornherein eine besondere war: rasche Verbreitung und positive Aufnahme sowie Irritation durch Verarbeitung und Gebrauch ungewöhnlicher Schriften und Ausdrücke. Eine theologische Klärung war deshalb unbedingt nötig. Interessant ist nun, wie Saubert das Ergebnis der heftigen Streitigkeiten um das Wahre Christentum seit ca. 1618 zusammenfaßt: Aus den Gutachten sei „sumariter befindtlich/ daß sie nit allein das intent und den vorgesatzten zweck deß Authoris, dahin er mit dem wahren Christenthumb gezihlet/ sondern auch umb desselbigen willen den modum scriptionis nicht verworffen/ in betrachtung dessen/ daß die Übung deß Glaubens/ wie sie bey den wahren Christen seyn soll/ bißweiln solche phrases und reden zulässet/ die doch anderweit/ in foro justificationis, da man von der rechtfertigung deß Menschen vor Gott handelt/ nicht bestehen. 46
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Saubert, Die newe Creatur/ wie sie von dem Apostel Paulo angedeutet wirdt/ Galat. 6. An dem Neuen Jahrstage Anno 1625. Nürnberg Simon Halbmayer (Erlangen, Univ.Bibl., Signatur: ThL Χ V, 110). Saubert, Die newe Creatur, 3. Saubert, Die newe Creatur, 3f.
Sauberts Information über Arndts Wahres Christentum
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Welchen bescheid ich mir umb so viel desto mehr belieben lassen/ dieweil die H. Schlifft selbsten ein Exempel fürweiset. Dann ists nicht also? was Jacobus in seiner Epistel am andern Capitel geschrieben/ dasselbe wird ja/ nach dessen intent betrachtet/ nit verworffen." 49 Der Zweck dieser Ausdruckweise bei Jakobus und Arndt sei es, die Maulchristen und Heuchler zu strafen und sie von ihrem einseitigen bzw. falschen Glaubensverständnis abzubringen. Denn der wahre Glaube hat immer „die rechtschaffenen früchte und gute Christliche Werck und Tugenden" bei sich.50 Durch den Hinweis auf den Jakobusbrief und die Nöte der Zeit sieht Saubert die Intention Arndts nicht nur als berechtigt an, sondern begrüßt sie dankbar: „Wann dann nun auch Herr Johann Arnd mit seinem Wahren Christenthumb/ nach diesem Zweck gezilet/ wie männiglich sehen kan; so gönnen wir ihm sein gebührendes lob/ und sagen und wissen ihm für die wolgemeinte arbeit grossen danck. Dann freilich diese letzte zeit/ do die wahre Gottseligkeit gute disciplin sehr gefallen/ und je mehr und mehr zu grund gehen will: und der gröste theil die Vereinigung der wahren Christen mit ihrem Heyland und deß innerlichen Menschens beschaffenheit nit verstehet/ viel minter practicirt, eben umb dieser ursach willen eines Jacobi/ oder Arndii bedürfftig ist/ welcher die grassirende Sünde und Laster mit freyer Zungen und Feder straffe und den Maulchristen die larven abziehe."51 An diesem deutlichen Bekenntnis zu Arndt sind m.E. zwei Aspekte besonders aufschlußreich. Einmal will Saubert Arndt das ihm gebührende Lob „gönnen" - ein Hinweis darauf, daß es beim Streit um Arndt neben der berechtigten Sorge um schwärmerisch-enthusiastische Inanspruchnahme auch um Neid bei der raschen Verbreitung des Wahren Christentums gegangen ist! Zum anderen faßt Saubert das Anliegen Arndts in ähnlicher Weise zusammen, wie es schon Johann Gerhard in seiner Vorrrede zur Evangelienpostille Arndts getan hat: Die Vereinigung der Gläubigen mit Christus. Schon Gerhard nannte sie eine „nachdenkliche Lehre, aus der wahre Gottseligkeit und innerliches heiliges Leben fließen" 52 . Im Jahre 1625, also zwei Jahre nach der heftigen Kritik Oslanders an Arndt und der Verweigerung einer Druckerlaubnis für die lateinische Ausgabe des Wahren Christentums durch Johann Gerhard und die Jenaer Fakultät, bekennt sich Saubert deutlich zu dieser „Lehre": „Die Vereinigung der glaubigen mit Christo (welche Herr Johann Arnd in seinen Büchern offt unnd offt rühret) ist ein sehr hohe vortreffliche lehr/ dahin fast die gantze schrifft gehet. Dan zu welchem end wird sonsten Gottes Wort geprediget/ die heiligen Sacramenta gebraucht/ also daß wir dadurch mit Gott un Christo in krafft deß H. Geistes vereiniget werden/ daß
49 Saubert, Die newe Creatur, 4. 50 Saubert, Die newe Creatur, 5. 51 Saubert, Die newe Creatur, 5f. 52 Zitiert nach M. Brecht (Anm. 6), 142.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
wir in Christo und Christus in uns lebe/ herrsche/ regiere/ wohne/ wircke Saubert vergleicht das Geschick Arndts mit dem Luthers und aller evangelischen Lehrer vor hundert Jahren, daß ihnen bei der Aufrichtung der Rechtfertigungslehre vorgehalten wurde, sie verböten die guten Werke oder stellten doch den Fleiß und Eifer zu guten Werken zurück: „Also gehets auch denen/ die auß dem rechten innerlichen grund die Lehr vom wahren Christenthumb wahrer Gottseligkeit und heiligen leben herführen (welches fürwar in dieser grundsuppen der Welt und bey so schändtlichem mißbrauch deß Heiligen Evangelii/ zum höchsten vonnöhten) daß ihnen allerley beygemessen wird." 54 In seinem Eintreten für Arndt blickt Saubert zunächst nach rechts, auf die orthodoxe Polemik an Arndt, die trotz der von Arndt selbst betonten Unterscheidung der Gerechtigkeit des Glaubens und der Gerechtigkeit des christlichen Lebens bei der Beschreibung des lebendigen, wahren Glaubens die reine Lehre in Gefahr sieht. Denn dieser ist eben nicht „ein blose Wissenschaft/ viel weniger ein eusserlicher rahm ohn alle enderang oder Vernewrung deß Hertzens/ sondern ein lebendige krefftige bewegung/ dardurch der gantze Mensch geendert wird"55. Sauberts Bekenntnis zu Arndt muß sich aber vor allem nach links, gegen die Schwärmer abgrenzen, die sich ebenfalls auf Arndt berufen. Denn wie schon durch die Lehre vom wahren Christentum „dem Reich deß Satans bey diser argen Welt ein mercklicher abbrach geschieht [...] hat derselbe Feind seiner alten gewonheit nach zeitlich eine Capelle darnebe gebaut/ und vor etliche Jahre neue schwermer un phantaste erweckt/ welche ejr religion uff der Enthusiaste un Widertäufer schlag angestellt/ Gottes Wort vernichtet/ den Kirchen/ Schulen un Rahthäusern die abschaffung gedrohet/ und hierzu nit allein die ungeleuterte gifftige schrifften Valentini Wigelii gefehrlich gebraucht/ sondern auch offtberührtes Buch des Joh. Arndii vom wahren Christenthumb schändlicher und unverschämter weiß mißgebraucht" 56 . Der Mißbrauch Arndts durch die Anhänger Weigels ist ein Werk des Satans, um „solch Buch unnd die Sach selbsten verdächtig zu machen/ und die frommen Gottseligen hertzen [...] in ihrem guten wandel/ zu hintern" 57 . Saubert ist sich wohl bewußt, daß die Berufung der Weigelianer auf Arndt für die lutherische Kirche und ihre Lehre nicht ungefährlich ist: „Und ist nit ohne: es hat
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Saubert, Die newe Creatur (Anm. 46), 6. - Von der Vereinigung der Gläubigen mit Christus heißt es weiter: „Darinn auch die höchste würde und herrlichkeit der Kinder Gottes in diesem leben und der höchste trost stehet/ daß sie Gott und das gantze Reich Gottes in ihnen selbsten haben. Auß diesem Brunnen fleusset die wahre Gottseligkeit und innerliches/ Göttliches/ heiliges Leben [...]" (6). 54 Saubert, Die newe Creatur (Anm. 46), 7. 55 Saubert, Die newe Creatur, 7. 56 Saubert, Die newe Creatur, 7f. 57 Saubert, Die newe Creatur, 8.
Kriterium für die rechte Arndtlektüre
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bey manchem seltzam gelautet/ wann er hören müssen/ wie die gemelte Schwärmer groß dicentes gemacht von dem wahren Christenthumb Arndii, daß sie nemblich selbiges lesen/ hoch achten/ darnach leben." 58 Aber der Mißbrauch Arndts durch die Weigelianer läßt sich durchaus von dem rechten Gebrauch Arndts mit Hilfe eines klaren Kriteriums unterscheiden. Auf die Frage: „Wie erkennen wir einen Wigelianischen Schwermer/ zumahln wann er sich eben mit diesem Buch/ welches auch wir lesen/ beschönet?", antwortet Saubert: „[...] nemblich an der Verachtung deß öffentlichen Predigampts." 59 Unter Berufung auf Luther gibt Saubert seinen Predigthörern folgende Anweisung: „Wann euch einer vorkompt/ der zugleich sampt euch das Christenthumb Arndii hoch rühmet: so sehet alsobald dahin/ wie er gegen der öffentlichen Kirchen versamblung affectionirt und gesinnet sey." Wer das Predigtamt verachtet und „wider die Lehr und bekandnuß unserer reinen Evangelischen Kirchen seinen höhn treibet", der mißbraucht das Buch Arndts.60 Für Saubert steht die Intention „deß Gottseligen Mannes" fest: Sie ist allein darauf gerichtet gewesen, die Glaubensartikel des reinen evangelischen Bekenntnisses in die Praxis eines christlichen Lebens im Rahmen der evangelischen Kirche umzusetzen. „Wer nach diesem zil sich nicht strecket/ der gebraucht solch Buch nicht recht [...] sonder ist ein schädlicher Enthusiast/ oder ein Phantast in die Haut hinein/ ob er schon tausentmal darwider protestirt."61 Seinen Predigthörern aber gibt Saubert die Versicherung, daß sie bei ihrer Lektüre von Arndts Schriften unbeirrt von allen Streitigkeiten getrost fortfahren sollten: „Ihr aber/ liebe Christliche Hertzen/ die ihr euch zu unserm öffentlichen coercitio religionis bekenet/ die Predigten fleissig besucht und neben selbiger anhörung/ bißhero offtgemeltes Buch Herrn Arndii vom wahren Christenthumb/ wie auch andere dergleichen Schrifften von der rechtschaffnen Gottseligkeit gelesen/ auch hierdurch ewren Wandel gebessert und zum ewigen Leben erbauet/ Fahret kecklich also fort/ es wird euch nicht gerewen." 62 Saubert beschließt seinen Traktat mit dem Ausspruch des Dresdner Hofpredigers Polykarp Leyser, der es „nach dem intent deß Authoris" rühmte: „Summa das Buch ist gut/ wann nur der Leser gut ist."63 Auch in seinem weiteren Wirken ist Saubert konsequent und entschieden für ein wahres, d.h. tätiges Christentum im Geiste Arndts eingetreten. Zusammen 58 Saubert, Die newe Creatur, 8. 59 Ebd. 60 Saubert, Die newe Creatur, 9. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Saubert, Die newe Creatur, 10. Nach W. Koepp (Anm. 4), 68, habe Arndts Jugendfreund Polycarp Leyser diesen Ausspruch gegenüber dem Amtsvorgänger Arndts in Eisleben, M. Paul Wolff, am 20. März 1609 getan.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
mit seinem Freund Andreae kam es 1628 zur Gründung eines Nürnberger Freundschaftsbundes, einer Unio Christiana, bei der Saubert „den eigentlichen Mittelpunkt bildete und sie als ein Collegium pietatis betrachtete, in dem die von ihm verehrte Theologie Arndts Frucht bringen sollte"64. Offenbar gehörten zu diesem Kreis nicht nur gleichgesinnte Theologen, sondern auch Arndtverehrer unter den Patriziern der Stadt. Welche Bedeutung diesem kleinen, aus nur wenigen Personen bestehenden Kreis zu dieser Zeit zukommt, läßt sich schwer sagen, da es keine Zeugnisse Sauberts über die Unio Christiana gibt. Über das Eintreten Sauberts für Arndt haben wir jedoch in seinem weiteren Schrifttum mehrfache Belege, als er Prediger an St. Lorenz und schließlich an St. Sebald und damit der erste Geistliche Nürnbergs geworden war. Bedeutsam ist diese wiederholte Betonung der Notwendigkeit eines frommen Lebens vor allem deshalb, weil Saubert sie als direkte Konsequenz und inmitten seines unerbittlichen Kampfes um die Gültigkeit der unveränderten Augsburgischen Konfession und eines strengen Luthertums in Nürnberg verstanden hat. Die Sorge vor Mißverständnissen, vor allem vor dem Vorwurf des Weigelianismus, hat Saubert dabei nicht irre machen können. Neben dem bekannteren „Zuchtbüchlein" steht die nicht weniger bedeutsame Reformschrift Sauberts: „Psychopharmacum pro Evangelicis et Pontificiis, Seelen-Arzney/ für die Lutherische unnd Päbstische [...]", Nürnberg 1636.65 In dieser Schrift, die an die Geistlichen Nürnbergs gerichtet ist, versucht Saubert nachzuweisen, daß durch eine Reformation des Lebens im Sinne Arndts viele Katholiken von der evangelischen Kirche angezogen werden könnten und die Beendigung unnötiger Streitigkeiten zwischen den Konfessionen nicht unmöglich sei. Die Schrift beginnt mit der Feststellung eines beklagenswerten Zustandes: „Es wird schwerlich jemand unter den verständigen Teutschen Patrioten heutigs Tages anzutreffen seyn/ der da nicht frey bekennen wolte/ daß [...] nicht allein bey den Römisch Catholischen/ sondern auch unter denen genannten Evangelischen/ der reinen Augspurgischen Confession Verwandten/ ein wildes/ wüstes Epicurisches und Gottloses Leben und Wesen eingerissen/ unnd [...] alzu waar worden." 66 Angesichts dieser Lage stellt Saubert die Hauptfrage: „Ob nun mehr/ die Papisten zur Evangelischen Religion zu bewegen/ nöthiger sey/ das disputiren der Evangelischen/ oder aber derselben Gottseeliger Wandel und Verbesserung deß Lebens?" 67
64 65
v. Dülmen (Anm. 10), 742. Saubert, Psychopharmacum, Nürnberg: Wolfgang Endter 1636. Ich habe das Exemplar in der Univ.-Bibl. München (Signatur: Theol. 3623 Nr. 631) benutzt. 66 Saubert, Psychopharmacum, 1. 67 Saubert, Psychopharmacum, 2.
Sauberts „Seelenarznei"
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Ähnlich wie bei seinem „Zuchtbüchlein" stellt Saubert zunächst verschiedene Einreden dar, die er am Schluß des Werkes beantwortet. Auffallend ist hierbei, daß sich Saubert vor allem gegen den Vorwurf schwärmerischer Kirchenkritik, des Enthusiasmus, Weigelianismus und Synkretismus abzugrenzen versucht. Gegen seine These von der notwendigen Verbesserung des Lebens würde eingewandt, daß das Wort Gottes doch das entscheidende Mittel sei, wodurch die Irrenden bekehrt werden. Bei der Bekehrung des Menschen wirke Gott zuerst durch das Predigtamt und man habe nicht zu fragen, ob die Kirchendiener fromm oder nicht fromm seien. Viele Papisten haben sich auch durch solche Kirchendiener gewinnen lassen, die die reine Lehre gepredigt haben, obwohl ihr Wandel schlecht war. Gott habe doch das Disputieren und Strafen befohlen. Vor allem aber könnte man mit einem solchen Ruf nach einer Verbesserung des Lebens den Weigelianern, Rosenkreuzern und anderen Schwärmern einen Gefallen tun. Sie setzten ihre Gelassenheit, die neue Kreatur, der Heiligen Schrift entgegen. Den Katholiken könnte es zum Anlaß werden, unsere Lehre zu lästern. Am Schluß steht der Vorwurf des Synkretismus und daß ein einzelner Kirchendiener sich mit einem solchen Vorhaben übernehme. Nur bei einer dieser Einreden muß sich Saubert nicht gegen seine eigenen orthodoxen Kollegen verteidigen, sondern gegenüber den Spiritualisten, die sich von der Amtskirche nichts mehr erhoffen: Unter den Evangelischen sei das Unkraut der Sünden schon so verwurzelt, daß man es nicht mehr ausreißen könne.68 Sodann folgt die Hauptthese Sauberts: Den Papisten ist inzwischen die reine Lehre der Evangelischen deutlich vor Augen gestellt worden, sie stimmen in einzelnen Punkten auch der evangelischen Lehre zu, aber sie werden durch den Wandel der Evangelischen noch irre gemacht und von der Bekehrung abgehalten. Mit vielen Zitaten aus der Kontroversliteratur, den Schriften gegen das Interim und Tridentinum, wird herausgestellt, daß auf diesem Gebiet keine weiteren Anstrengungen nötig seien. Vor allem Johann Gerhard, „der hochberühmte Theologus", habe in seiner „Confessio Catholica" die evangelische Lehre mit dem Bekenntnis der Papisten bestätigt: „Wer demnach unter den Päbstlern noch Augen hat/ zu sehen/ der mag sie hirüber auffthun. Was gilts/ er wird fühlen und sehen/ wie starck die Warheit unserer Religion nunmehr ihren Schrifftgelehrten unter die Augen geleuchtet."69 Gleich nach dem Hinweis auf Johann Gerhard kommt Saubert auf Johann Arndt zu sprechen, und zwar auf ein von ihm im Jahre 1620 herausgegebenes Buch, das er mit einer an Herzog August d.J. gerichteten Vorrede versehen hat: „So ist auch vor Jahren durch H. Johan. Arnd publicirt worden/ das Buch: Reformatio Papatus, juxta Confessionem Augustanam [...] Darinn 68 69
Saubert, Psychopharmacum, 2ff. Saubert, Psychopharmacum, 49.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
augenscheinlich erwiesen wird/ wie die Augspurgische Confessio, was die Materi und Realia belangt/ von den Päbsten und Conciliis selbst für die waare seeligmachende Religion approbirt und erkannt worden." 70 Nach der Reformation der Lehre sei nun die Reformation des Lebens das Gebot der Stunde. Denn: „Nach Lutheri Zeiten und biß daher haben unsere Widersacher noch hefftiger auff unsern Wandel in ihren Schrifften und Predigten gestochert."71 Glücklicherweise gibt es aber auch auf selten der Evangelischen positive Beispiele für die Übereinstimmung der reinen Lehre mit einem gottseligen Wandel. Diese Reihe wird mit Johann Arndt eröffnet, wobei Saubert auf die Übereinstimmung von Lehre und Leben bei Arndt sowohl in seinem kirchlichen Wirken wie in seinen öffentlichen Schriften hinweist: „AHdieweilln aber noch immer Lehrer und Zuhörer bey den unserigen sich gefunden/ so neben der reinen Lehr/ eines Evangelischen/ Gottseligen Wandels sich beflissen. [...] Als haben viel auß den Päbstischen Scribenten daher Anlaß bekommen/ unserer Religiones Confession was embsiger nachzudencken." „Wann hiebe vorn Herr Johan. Arnd nicht allein bey seinen ihme anbefohlnen Pfarrkindern mit Lehren und Leben/ sondern auch in seinen öffentlichen Schrifften auff das waare Evangelische Christenthumb treweyfrigst gedrungen: Da haben viel Papisten (unangesehen er sonst die Päbstische unverantwortliche Lehrpuncten/ sonderlich in der Vorrede deß Buchs: Reformatio Papatus, ausdrücklich verworffen)/ gleichwol den Fleiß und Eyfer Arndii, die Leute fromm zu machen/ ihnen sehr belieben lassen/ also/ daß nicht unlangsten ein vornehmer auß dem Hauffen zu einer auch vornehmen Person der unserigen sich also vernehmen lassen: Wan viel solche Arndii bey uns unnd euch weren/ so wolten wir uns noch wol zusammen finden." 72 Nach Arndt führt Saubert noch weitere Theologen auf, die in ähnlicher Weise auf die wahre Gottseligkeit und die Besserung des Lebens gedrungen haben: Johann Gerhard, Johann Schmidt, Johann Valentin Andreae, Johann Matthäus Meyfart und Paul Egard. Wenn in der evangelischen Kirche jetzt bald nach der Intention Arndts an einer Erneuerung des frommen Lebens gearbeitet würde, wäre nach Gottes Gnade das Ende der Religionsstreitigkeiten bald in Sicht: „Im Fall es nun jetzo dahin käme/ daß wir Evangelische die so wohl gemeinte Intention Arndii, und anderer mit gesambter Hand/ ins Werck setzten/ und hin und wider an hohen und niedrigen Orten eine recht 70
Saubert, Psychopharmacum, 50. - Bei dem von Arndt herausgegebenen Buch handelt es sich um: [Johann Christoph Busenreuth]: Reformatio Papatus, Iuxta Confessionem Augustanam, qua proponitur Romanorum Pontificum atque Consiliorum Consensus, cum Augustana Confessione, in Omnibus Fidei Articulis [...] inter privatos parietes diu delitescens, nunc primum ex Augusta Hitzgeriana Bibliotheca prodit. Cum Praefatione Johannis Arndten, Goslar 1621. 71 Saubert, Psychopharmacum, 63. 72 Saubert, Psychopharmacum, 65f.
Sauberts „Seelenarznei"
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eyfrige Reformation deß Lebens/ nach Außweiß unserer Schrifftmässigen Religion, anstellten/ würden gewißlich/ durch Gottes gnädige würckung/ die Gemüter vieler Papisten zu uns gewendet/ und also ein guter Anfang zur Einhelligkeit in Religions Sachen gemacht werden." 73 Die „Seelenarznei" Sauberts will nicht nur die Schäden und Ärgernisse in allen drei Ständen aufweisen und analysieren, sondern auch „heilsame Mittel und Artzney" zu ihrer Abschaffung anbieten. Die notwendige Besserung des Lebens wird vor allem dadurch gefördert, daß Gottes Wort unter uns fleißig gepredigt wird. Neben der Kirchenzucht sind die bürgerliche Zucht und die Hauszucht wichtige Mittel für eine Reformation des Lebens, wobei der Taufbund erfordert, daß mit der Kinderzucht der Anfang gemacht wird. Saubert spricht von der wichtigen Aufgabe der „Mutterschule" („Informatorium Maternum"), in der der entscheidende Anfang für ein späteres christliches Leben gelegt wird. An den Schulen und Universitäten soll „neben den exercitiis lectionum et disputationum zuförderst Gottesfurcht/ Erbarkeit und Zucht" gefördert werden. Saubert beschließt seine Reformvorschläge mit der zuversichtlichen Versicherung ihrer Durchführbarkeit: „Derowegen ist es an sich selbst uff besagte Weiß nicht unmöglich/ eine besserung des Lebens in allen Ständen anzustellen und fortzupflantzen." 74 Gegen den Vorwurf des Synkretismus und der Selbstüberschätzung bei dem Versuch, die Ärgernisse eines gottlosen Lebens abzuschaffen, sagt Saubert: „Wir wollen sie ja nicht Herrischer weise überwinden/ sondern nur heilen und gesund machen." 75 Das „Psychopharmacum" Sauberts ist die Reformschrift eines orthodoxen Theologen, der durch die Erneuerung des frommen Lebens den Hauptschaden seiner Zeit zu beheben versucht und sich dabei konsequent auf Johann Arndt beruft. Neben den vielfachen Hinweisen auf Luther folgen immer wieder solche auf Arndt, obwohl Saubert weiß, daß seine Schriften auch von den kirchenkritischen Schwärmern in Anspruch genommen werden. Bemerkenswert an diesem Eintreten Sauberts für Arndt ist auch die Art und Weise, wie er bis in die Formulierung des Titels hinein und in vielen Wendungen die für Arndt so typischen medizinischen Bilder und Metaphern ohne Scheu vor Heterodoxieverdacht aufnimmt und sie seinem Erneuerungswillen dienstbar macht.76
73 Saubert, Psychopharmacum, 66f. 74 Saubert, Psychopharmacum, 152ff. 75 Saubert, Psychopharmacum, 185. 76 Vgl. den interessanten Aufsatz von H. Schneider, Johann Arndt als Paracelsist. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Hg. v. P. Dilg und H. Rudolph. Akademie der Diözese Rottenburg/Stuttgart, Stuttgart 1995, 89-110.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
Daß Saubert sich immer wieder auf Arndt beruft, hat auch noch einen weiteren Grund, der in der Art und Weise der literarischen Tätigkeit beider Theologen liegt. Es ging ihnen wie so vielen anderen Predigern und Erbauungsschriftstellern vor und nach Arndt um eine wirkliche Applikation des göttlichen Wortes in der Heiligen Schrift und der reformatorischen Theologie an ihre Hörer und Leser.77 Mit Hilfe der Allegorie und der Emblematik soll der ganze Mensch mit allen seinen Sinnen das göttliche Wort aufnehmen und immer wieder meditieren.78 Aus den Predigtwerken Sauberts sei nur auf ein Werk hingewiesen, das neben Texterklärungen umfangreiche Gebete enthält und als Erbauungsbuch dem „Paradiesgärtlein" Arndts an die Seite gestellt werden kann: „Icones precantium", Nürnberg 1638.79 In der Zuschrift an den christlichen Leser heißt es: „Sonderlich aber weil/ ordentlicher weiß/ die H. Schlifft nit ins menschliche Hertz kommen kan/ es geschehe denn entweder durch fleissige Ohren in den Predigtstunden/ oder durch wachsame Augen/ als durch zwo Hauptforten desselben: Siehe/ so wird billich das Lehrampt dahin gerichtet/ daß die Gemeine Christi dasjenige beydes zu hören unnd zu lesen habe/ was die Hertzen vermahnen/ warnen/ erquicken unnd trösten soll."80 Saubert möchte „neben der Schrifft durch schöne schrifftmäßige Figuren/ oder Bildnussen die Augen gottseliger Leut ermuntern un zur andacht begierig/ mit Gottes Hülffe/ machen"81. Die Veranschaulichung geschieht vor allem mit Hilfe des Alten Testaments, wobei Saubert mehrfach Auszüge aus der Psalterauslegung Arndts bringt.82 Saubert führt Arndt in einer Reihe „vornemer Evangelischer Lehrer" auf: Luther, Nikolaus Seinecker, Joachim Mörlin, Johann Forster, Friedrich Balduin und Johann Arndt, „sintemal es schwerlich jemand besser/ als sie/ treffen oder die sach eiferiger angeben"83. Es ist für das Bekenntnis Sauberts zu Arndt charakteristisch, daß er sich nicht durch schwärmerisch-spiritualistische Berufung auf Arndt irritieren ließ. Das zeigt schon sein frühes Eintreten für Arndt während der Arndtschen Streitigkeiten vor und nach dem Tode Arndts. In seinen letzten Lebensjahren wird dies noch einmal ganz besonders deutlich, als Christian Hoburg (16071675), „der bedeutendste Repräsentant des linken Flügels der Arndt-Schule"84, in mehreren Schriften heftigste Kritik an der lutherischen Kirche und 77 78 79
80 81 82 83 84
Vgl. v. Dülmen (Anm. 10), 757ff. Vgl. U. Sträter, Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995, 34ff. und 85ff. J. Saubert, Icones precantium. Das ist: Christliche Figuren/ zur Gebetsstunde angesehen. Nürnberg: Wolfgang Endter 1638 (Stadtbibliothek Nürnberg. Signatur: 8°Solg. 311). Saubert, Icones precantium. An den christlichen Leser. Saubert, Icones precantium. An den christlichen Leser. Vgl. z.B. Saubert, Icones precantium, 145, 249 und 287. Saubert, Icones precantium. An den christlichen Leser. J. Wallmann, Der Pietismus (Anm. 3), 22.
Sauberts Abweisung der Kirchenkritik Christian Hoburgs
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ihrer Theologie übte. Zwischen 1644 und 1646 fand in Nürnberg auch eine weitere Anklage gegen die Weigelianer statt, bei der die Schrift Hoburgs „Spiegel der Mißbräuche beim Predigtamt" eine besondere Rolle spielte. Saubert wies die mit Hilfe Hoburgs vorgebrachte Kirchenkritik der Weigelianer scharf ab und forderte den Rat auf, sie aus der Stadt auszuweisen. Aber damit war die Sache für Saubert nicht erledigt. Daß durch den Arndtverehrer Hoburg erneut die Intentionen Arndts mißbraucht wurden, veranlaßte Saubert kurz vor seinem Tod noch einmal zu einer Stellungnahme, die ihn an der notwendigen Erneuerung des frommen Lebens trotz heftigster Herausforderungen und gefährlicher Verdächtigungen festhalten ließ. Das zeigt sich in seinem „Wolgemeint Bedencken, wie die Büchlein Christian Hoburgs [...] recht zu erklären und ohne Anstoß zu lesen [...]", Nürnberg 1646. Saubert weist zunächst darauf hin, daß die Klagen Hoburgs keineswegs neu sind. Seine Freunde, Gerhard, Andreae, Schleupner, Meyfart und er selbst hätten darüber schon vielfältig gehandelt.85 Die „Lästerschrift Eliae Praetorii" habe das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: „Denn unter den Schein/ die Aergernussen/ und Mißbräuche zu straffen/ und abzuschaffen/ reissen sie den Grund der Lehr selbst zu boden!" 86 Der Sünderbaum soll beschnitten, aber nicht umgehauen werden. Die evangelische Lehre und die evangelische Zucht müssen zugleich erhalten werden. Nachdem die radikale Kirchenkritik Hoburgs deutlich abgewiesen ist, kommt Saubert in der sich anschließenden Weihnachtspredigt über Lk 2 auf die Unruhe zu sprechen, die die Schriften Schwenckfelds und Weigels schon vor etlichen Jahren in die Gemeinden gebracht hätten. Damals hätten Saubert und andere Sorge gehabt, auf der Kanzel auf solche nichtigen Bücher zu sprechen zu kommen, um die Gemeinde nicht zu verwirren. Aber nun sei durch das „Lästerbuch Eliae Praetorii" eine neue Situation entstanden. Jetzt sei eine Erläuterung höchst notwendig. Die heftigen Klagen gegen die evangelischen Bekenner forderten eine Antwort heraus, die die ganze Gemeinde angeht: diese Materie „betrifft alle Zuhörer waares Christenthumb". In drei Punkten setzt sich Saubert auf der Kanzel mit der radikalen Kirchenkritik Hoburgs auseinander: 1. „Anklage, was an unserm Evangelischen Christenthumb so hoch zu tadeln, daß sich alle andere Secten an unserer Lehr stoßen, unnd ärgern müssen? 2. ob man uns hierinn recht/ oder unrecht thue? 3. wie die Sach uff allen Fall zu mittein/ und zu wenden/ und zwar dergestalt/ wann wir billich beschuldigt werden/ daß wir uns bessern [...] unnd wie hingegen die unschuldige sich ihrer Unschuld trösten sollen."87 85 Ich benutzte das Exemplar der Stadtbibliothek Nürnberg, Signatur: Amb 381 4°. 86 Saubert, Wolgemeint Bedencken, Β 3f. - Elias Praetorius war ein Pseudonym Hoburgs. 87 Saubert, Wolgemeint Bedencken, C 3.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
Auf den Vorwurf, daß die größten Sünder in der lutherischen Kirche wohl gelitten seien, antwortet Saubert: „Die Evangelische Lehr selbst betreffend/ werden wir/ wills Gott/ inskünfftig mit sattem Grund erweisen/ daß sie dessen für sich keine Schuld trage. Daß aber solche Leut unter uns seyn/ welche alles uffs äusserliche Mund-Bekandnuß setzen/ und von dem innerlichen examine, Fragen/ und Antwort nichts wissen/ wie auch den Christtag nicht gebürlich halten/ das können wir nicht läugnen/ ja wer es verneinen will/ der verführt sich selbst/ und die Wahrheit ist nicht in ihm."88 Die notwendigen Veränderungen im Leben der Christen auf dem wahren und festen Grund der evangelischen Lehre zielen auf eine Verinnerlichung der Glaubensinhalte, die sich auch vor anstößigen und mißdeutbaren Formulierungen offenbar nicht scheut. Weder ein nur äußerliches Predigthören noch eine fides historica können für ein wahres Christentum genügen. Anhand des Weihnachtsevangeliums aus Lk 2 stellt Saubert fest: „[...] wollen wir heute/ am Hl. Christtag rechte Evangelische Christen seyn/ ist das nicht genug/ daß wir die Histori von der Geburt deß Herrn wissen/ sondern müssen auch Christum geistlicher Weiß in uns lassen gebohren werden; Er muß/ Sprech ich/ in uns gebohren werden zu Bethlehem."89 In Erinnerung an Johann Arndt gibt Saubert schließlich seiner Überzeugung Ausdruck, daß den nicht aufhörenden, ja noch zunehmenden Klagen über das mangelnde christliche Leben unter den evangelischen Christen nur mit einer Intensivierung derselben Mittel begegnet werden könne, die schon Johann Arndt vor vielen Jahren vorgetragen hat: „Sprichstu/ ja das ist zwar eine wichtige Erinnerung zum waaren Christenthumb; (dergleichen auch vor vielen Jahren den Leuten bereits vorgehalten worden). Wie kompts aber/ daß die so genandte Evangelische Christen sich inzwischen dannoch nicht gebessert/ daß man noch imer über uns Klage führet und gantze Bücher von schreibet/ daß auch der gerechte Gott von seiner Straff nit abiäst/ daß kein beständiger Fried im Teutschland folget [...] Antwort/ daher kompts/ daß die Mittel (die treuhertzige Erinnerung) noch nicht sufficient, und genugsam hat sein können." 90
88 89
Säubert, Wolgemeint Bedencken, C 3f. Saubert, Wolgemeint Bedencken, D. - In einer schon an den Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius erinnernden Weise fährt Saubert fort: „Unser Seel soll seyn das Brodhauß/ darinn sich Christus will hören lassen/ Ich bin das Brod deß Lebens. [...] Er muß in uns gebohren werden von Maria/ das ist/ in Gedult/ bey dem bittern Creutz. [...] Es muß Christus in uns gebohren werden/ von einer Jungfrau/ das ist/ mit Reinigkeit/ un Frömbkeit. [...] Er muß in uns gebohren werden mit geistlicher Armut. [...] Es muß auch Christus in uns eingewickelt werden/ unnd in die Krippe gelegt werden. Die Windeln sind der waare Glaub/ mit welchen wir ihn umbgeben/ unnd fassen. Die Krippe ist das Herz" (D f.). 90 Saubert, Wolgemeint Bedencken, D 2.
Zusammenfassender Rückblick
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Im Rückblick auf das lebenslange Eintreten Johann Sauberts für Johann Arndt können wir die Aussage Martin Brechts bestätigen: „Wie kaum ein anderer Theologe seiner Zeit hielt Saubert die Reformbestrebungen Arndts mit dem orthodoxen Luthertum für vereinbar."91 In der noch keineswegs genügend erforschten Wirkungsgeschichte Arndts nimmt der Nürnberger Theologe Saubert eine herausragende Stellung ein, die m.E. bisher keineswegs ausreichend beachtet und gewürdigt worden ist. An seiner streng lutherisch-orthodoxen, kirchlich-theologischen Position kann kein Zweifel bestehen, ebenso an seiner Bedeutung als gelehrter Theologe und Philologe sowie als Prediger und Erbauungsschriftsteller, die weit über den Rahmen Nürnbergs hinausreicht und durch einen weitverzweigten Korrespondentenkreis eindrücklich belegt ist. Wenn man Saubert in die Wirkungsgeschichte Arndts einzuordnen versucht, so müßte man ihn nach den zuletzt vorgeschlagenen zwei Richtungen in der Rezeptionsgeschichte Arndts dem „rechten Flügel der Arndt-Schule" 92 bzw. dem „orthodoxen Rezeptionsstrang" 93 zuordnen. Gewiß kann dies nur ein grober Einteilungsversuch sein; dennoch frage ich mich, ob eine solche Aufteilung bzw. Zweiteilung dem Selbstverständnis eines Theologen wie Saubert gerecht werden kann. Für sein gesamtes Wirken in Nürnberg stand stets fest, daß die Schriften Arndts trotz mancher anstößiger Formulierungen nur eine segensreiche Wirkung in den Gemeinden ausüben könnten. Daß sich das kirchenkritische Schwärmertum ebenfalls auf die Schriften Arndts berief, ließ ihn nicht argwöhnisch nach den womöglich heterodoxen Ursprüngen einer solchen Wirkung fragen wie bei den orthodoxlutherischen Gegnern Arndts. Der Grund für diese andersartige Haltung bei Saubert und seinen vielen Freunden gegenüber den ja recht bald unterlegenen orthodoxen Arndtgegnern lag keineswegs in ihrer geringeren Wertschätzung der reinen Lehre oder einer größeren Unempfindlichkeit gegenüber problematischen Aussagen in den Texten Arndts. Auch ließen sie keinen Zweifel daran, daß echte Reformen in Kirche und Theologie nur auf einem festen Lehrgrund erfolgen können. Allerdings waren Saubert und seine Freunde zutiefst davon überzeugt, daß ein Lehrstreit über Arndt und ein Angriff gegen ihn von Seiten der lutherischen Theologie, Kirche und städtischen Obrigkeiten nur die verhängnisvollste Verwirrung unter den zahlreichen Lesern der Schriften Arndts stiften könne. Wem es tatsächlich um eine dringend notwendige Erneuerung des frommen Lebens ging, der begrüßte wie Saubert ohne Argwohn und Neid die so rasche und breite Wirkung der Schriften Arndts bis weit in die der Kirche fern stehenden bzw. sie scharf kritisierenden Kreise hinein. Durch eine Intensivierung der Intentionen Arndts hoffte
91
M. Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland (Anm. 6), 179. 92 J. Wallmann, Der Pietismus (Anm. 3), 20. 93 H. Schneider, Johann Arndt als Paracelsist (Anm. 76), 107.
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Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt
Saubert zuversichtlich, nicht nur gegenüber den kirchenkritischen Spiritualisten, sondern auch gegenüber den römisch-katholischen Christen eine verheißungsvolle Zukunft der evangelischen Kirche eröffnen zu können. Die Stellung Sauberts zu Arndt muß auch auf dem Hintergrund der Situation in der Reichsstadt Nürnberg bedacht werden. Durch die geistig-religiöse Gesamtlage der Stadt wurde sein Eintreten für Arndt keineswegs gefördert, im Gegenteil: Die hier verhältnismäßig zahlreich vorhandenen Weigelianer forderten Saubert mit ihrer Abstinenz bzw. Kritik gegenüber dem Predigtamt bei gleichzeitiger Berufung auf die Schriften Arndts aufs schärfste heraus. 94 Der späthumanistisch-philippistisch orientierte Rat stand bei den Untersuchungen gegenüber den Weigelianern in einer gleichförmigen ablehnenden Front mit Saubert und den anderen orthodox-lutherischen Theologen. Für das Wirken Sauberts ist es charakteristisch, daß sich sein Kampf um die reine Lehre nicht im Rahmen der Wirkungsgeschichte Arndts abspielte. Vielmehr versuchte er das Luthertum in der Stadt gegen den Späthumanismus, Philippismus und die Neigungen zum Calvinismus leidenschaftlich zu verteidigen. Die sich für ihn hier zeigenden rationalistischen Tendenzen sah Saubert als die eigentliche Gefahr für die Freiheit und Unabhängigkeit der lutherischen Kirche an. Das wird auch in seiner Haltung gegenüber seinem Nachfolger Johann Michael Dilherr deutlich.95 Durch Herkommen und ein ausgeprägtes, wenn nicht überzogen zu nennendes Selbstbewußtsein paßte Dilherr besser in die Führungskreise der Stadt hinein, was Saubert enttäuschend zur Kenntnis nehmen mußte. Aber auch Dilherr hat sich um eine Förderung der Frömmigkeit im Sinne Arndts bemüht, er konnte und wollte auf dem von Saubert gebahnten Wege weiterwirken. Daß es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr zu Streitigkeiten über Arndts Wahres Christentum gekommen ist, ist wesentlich auch auf das Wirken Johann Sauberts zurückzuführen. Nicht erst Spener, sondern schon Saubert läßt auf die zahlreichen Lutherzitate in seinen Schriften immer wieder direkt Hinweise auf Arndt folgen. Zwischen Arndt und Spener kommt somit dem Wirken dieses Nürnberger Theologen und seiner Stellung zu Arndt eine beachtenswerte Bedeutung zu.
94 95
Gegen v. Dülmen (Anm. 10), 718, der Nürnberg zu dieser Zeit nicht durch innere Probleme, sondern nur durch Angriffe von außen gefährdet sieht. Vgl. G. Schröttel, Johann Michael Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg, Nürnberg 1962.
Johann Arndt und Joachim Lütkemann zwei Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur Was ist das: ein Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur? Die beiden vorangehenden Namen in unserer Themaformulierung werden durch den Untertitel in eine Dimension gerückt, die manche Assoziationen weckt. Den verallgemeinernden Begriff des Klassikers als eines besonderen Meisters gibt es in allen Lebens- und Wissensgebieten, in der Dichtung, in Kunst und Wissenschaft, und so auch in der Theologie. Im Blick auf Werk und Wirkung von Karl Barth spricht man vom Klassiker der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert. Einen Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur werden wir in diesem Jahrhundert kaum finden. Die große Zeit der christlichen Erbauungsliteratur ist eindeutig das 17. Jahrhundert. Katholische, lutherische und reformierte Autoren publizieren in der Zeit des ausgehenden 16., über das ganze 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in einer kaum zu überschätzenden Fülle sog. Erbauungsschriften. Die Gattung der Erbauungsliteratur durchzieht die gesamte Geschichte des Christentums, denken wir nur an die Vita Antonii des Athanasius, an Augustins Confessiones, an das berühmte spätmittelalterliche Erbauungsbuch „De imitatione Christi" des Thomas von Kempen und an die Erbauungsbücher der Reformationszeit, vor allem Martin Luthers. Doch ist es auffallend, daß die Erbauungsliteratur vom ausgehenden 16. Jahrhundert an in einem Maße anschwillt, daß man mit Recht von der klassischen Zeit dieser Literaturgattung in der Epoche zwischen Reformation und beginnender Aufklärung spricht. Rund XA der Buchveröffentlichungen im damaligen Europa entfiel auf Werke der Erbauungsliteratur! Hartmut Lehmann hat die Auflagenziffern von den beiden am weitesten verbreiteten Erbauungsbüchern im Europa des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zusammengestellt: Die „Vier Bücher vom wahren Christentum" von Johann Arndt erschienen zwischen 1605 und 1740 in 123 Auflagen, das bedeutet im Durchschnitt knapp eine Auflage pro Jahr. Und die immense Verbreitung der erbaulichen Werke über konfessionelle Grenzen hinweg zeigt sich besonders an der „Imitatio Christi": nicht weniger als 744 Editionen dieses spätmittelalterlichen Erbauungsbuches kamen zwischen 1600 und 1740 im lateinischen Original, in Übersetzungen oder freien Bearbeitungen auf den Markt - das sind mehr als 5 Editionen in jedem Jahr!1 1
H. Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, Stuttgart 1980 (Christentum und Gesellschaft, Bd. 9), 114f. und 116.
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Johann Arndt und Joachim Lütkemann
Was steht hinter dieser enormen Nachfrage nach erbaulicher Literatur? Man hat von einer neuen Epoche christlichen Selbstverständnisses gesprochen - so Hartmut Lehmann, oder von einer neuen Form der Frömmigkeit, die die sog. Frömmigkeitskrise des ausgehenden 16. Jahrhunderts zu überwinden versuchte, so Winfried Zeller. 2 Bei der Begegnung mit der Erbauungsliteratur stehen wir vor dem Phänomen der Frömmigkeit, einer extensiven und intensiven praxis pietatis mit sehr verschiedenen Ausdrucksformen. Der Begriff der Pietas - Frömmigkeit - aber ist ein schwer zu bestimmender; die verschiedenen Disziplinen, die sich mit Frömmigkeit befassen: die Geschichtswissenschaft, die Kirchengeschichte, die Literaturwissenschaft, die Soziologie oder Vollkskunde, haben je verschiedene Frömmigkeitsbegriffe, entsprechend den spezifischen Methoden, mit denen sie sich ihrem Gegenstand nähern. W i e kann sich der Kirchen- und Theologiehistoriker dem Phänomen der Frömmigkeit nähern? Johannes Wallmann hat in seinem Aufsatz „Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit" auf die mannigfaltigen Interdependenzen hingewiesen, die zwischen der Frömmigkeit eines einzelnen und dem religiösen Verhalten vieler bestehen.3 Nur in dem Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gruppe, zwischen den Intentionen eines Erbauungsbuches und seiner oft verschlungenen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte lassen sich annähernd die Phänomene einer frommen Praxis und einer sog. „Frömmigkeitstheologie" wahrnehmen, um den von Berndt Hamm geprägten Begriff hier aufzunehmen, der freilich noch weiterer Reflexionen bedarf.4 Die Schwierigkeiten in den Begriffsbestimmungen „Frömmigkeitskrise", „Neue Frömmigkeit", „Frömmigkeitstheologie" zeigen an, daß die Erforschung der Erbauungsliteratur noch weitgehend in den Anfängen steckt und erst in jüngster Zeit auch in der neueren Kirchengeschichtsforschung
2
H. Lehmann (Anm. 1), 114 und W . Zeller, Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts ( K l . d. Prot. 5), Bremen 1962, Einleitung Χ Ι Π - L X V I und Ders., Theologie und Frömmigkeit, Ges Aufsätze, Bd. 2. Hg. v. B. Jaspert, 1-13.
3
J. Wallmann, Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 1-19. V g l . auch H. Molitor, Frömmigkeit in Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem. In: Festgabe für E.W. Zeeden. Hg. von H. Rabe, H. Molitor und H.-Chr. Rublack, Münster 1976, 1-20.
4
Der Begriff meint die theologische Reflexionsgestalt von Frömmigkeit, die als besondere Gestalt von Theologie - im Gegenüber zu einer mehr systematischen Schultheologie - von Bedeutung ist. Mit der Unterscheidung von Frömmigkeitstheologie und Frömmigkeitspraxis versucht Hamm die fragwürdige Gegenüberstellung von Theologie und Frömmigkeit bei W . Koepp, Johann Arndt. Eine Untersuchung über die M y stik im Luthertum, Berlin 1912 (Aalen 1973), zu überwinden. V g l . dazu B. Hamm, Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung. In: Z T h K 74, 1977, 464-497: 479; Ders., Johann Arndts Wortverständnis. Ein Beitrag zu den Anfängen des Pietismus. In: PuN 8, 1982, 43-73, Anm. 10 und 46.
Zur Erforschung der Erbauungsliteratur
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größere Aufmerksamkeit findet. 5 Ein Vergleich zwischen den beiden Artikeln „Erbauungsliteratur" in der RGG 3 und der TRE bringt die gewandelte Lage in der frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung deutlich zum Ausdruck. Die entscheidenden Anstöße zu einer vertieften Erforschung der Erbauungsliteratur sind in letzter Zeit von der germanistischen Forschung ausgegangen; ich nenne nur die Namen Albrecht Schöne und Hans-Jürgen Schräder.6 Wenn Theologiegeschichte die Wahrnehmung eines wirklich geschichtlichen, d.h. gelebten Lebens meint, dann kommt den Werken der Erbauungsliteratur ein bedeutender Quellenwert zu. So wie die Leichenpredigten inzwischen zu einer vielseitigen und ergiebigen Quelle der Geschichtswissenschaft im weitesten Sinne geworden sind, so wird die Erbauungsliteratur in der Zusammenarbeit einer nur interdisziplinär zu betreibenden Forschung noch manche interessante Einblicke in die neuere Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte eröffnen. Auf zwei bedeutende Erbauungsschriftsteller soll im folgenden hingewiesen werden: auf Johann Arndt und Joachim Lütkemann. Beide Theologen gehören nicht nur am Rande, sondern mit der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ihrer Hauptwerke zentral in die Niedersächsische Kirchengeschichte, freilich in einem nicht eng gebietsmäßig abgezirkelten Sinne. Weder Johann Arndt noch Joachim Lütkemann stammen aus den weifischen Territorien des 17. Jahrhunderts, aber dieses Schicksal teilen sie auch mit Georg Calixt in Helmstedt. Johann Arndt gehört neben Georg Calixt zweifellos zu den bedeutendsten evangelischen Theologen, die in Niedersachsen gewirkt haben. Und Joachim Lütkemann schrieb in der Mitte des 17. Jahrhunderts am Wolfenbütteler Hof unter Herzog August d.J. sein Erbauungsbuch „Vorschmack göttlicher Güte", das neben Arndts „Vier Büchern vom wahren Christentum" ein weit verbreitetes Erbauungsbuch im Luthertum wurde und zur ersten Lektüre im Frankfurter Collegium pietatis unter Philipp Jakob Spener zählte. Die Linien zwischen der allgemeinen und territorialen Kirchengeschichte sind vielfältig verflochten, eine zu enge Grenzziehung kann der geschichtlichen Wirklichkeit nicht gerecht werden. Die besondere Aufgabe territorialkirchengeschichtlicher Forschung liegt gewiß in der Wahrnehmung der konkreten geschichtlichen Bezüge in einem umgrenzten Raum. Sie kann die Gesamtkirchengeschichte vor einer vorschnellen Verallgemeinerung ihrer Forschungsergebnisse ebenso bewahren, wie andererseits die Territorialkirchengeschichte darauf angewiesen ist, ihre Einzelvorgänge als Auswirkungen übergreifender Zusammenhänge zu verstehen. Die das Wesen 5 6
Vgl. dazu B. Jaspert, Frömmigkeit und Kirchengeschichte, St. Ottilien 1986. Die Deutsche Literatur, Bd. ΙΠ, Das Zeitalter des Barock, Texte und Zeugnisse. Hg. von A. Schöne, München 1963 und HJ. Schräder (Hg.), J.H. Reitz, Historie der Wiedergebohrnen, Teil I-VII, Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock, Bd. 29/1-4, Tübingen 1982. - D. Breuer (Hg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), Teil I und Π, Wiesbaden 1995.
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Johann Arndt und Joachim Lütkemann
der Interpretation bestimmende Paradoxie wird somit auch an dem Verhältnis zwischen Gesamt- und Territorialkirchengeschichte sichtbar: daß das Ganze nur aus seinen Teilen, die Teile aber nur aus dem Ganzen recht verstanden werden können. Wenn wir von hieraus auf das Phänomen der Erbauungsliteratur in der Frühen Neuzeit blicken, so gibt es gewiß keinen Sinn, von einer spezifischen niedersächsischen Erbauungsliteratur zu reden. Gerade die Verbreitung erbaulicher Literatur durchstößt die sonst so streng geschlossenen konfessionellen und politischen Grenzen im Europa des 17. und frühen 18. Jahrhunderts in einem Ausmaß, wie dies ein Verzeichnis der Druck- und Nachdruckorte der wichtigsten Erbauungsbücher rasch aufweisen kann. Dennoch vermag gerade auch bei diesem umfassenden Phänomen der neueren Theologieund Frömmigkeitsgeschichte der Blick auf Einzelheiten der Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte der Erbauungsschriften sowie der Biographie und Theologie ihrer Verfasser die Konturen im Gesamterscheinungsbild zu schärfen. Im Rahmen der Niedersächsischen Kirchengeschichte ist es lohnend, einen solchen Blick auf drei Städte zu richten: auf Braunschweig, Wolfenbüttel und Lüneburg. Braunschweig und Wolfenbüttel sind die benachbarten, und doch so sehr unterschiedlichen Entstehungsorte der beiden herausragenden lutherischen Erbauungsbücher. Johann Arndt war Pfarrer an der Martinikirche in Braunschweig, als das erste Buch vom wahren Christentum 1605 herauskam. Die selbstbewußte Handelsstadt befand sich zu dieser Zeit gerade wieder in heftigen Streitigkeiten zwischen Bürgerschaft und Herzog, die schließlich in einen direkten Krieg mündeten. Durch die Wirrnisse und Bürgerzwiste war das Leben der Stadt und der sittliche und geistliche Zustand der Gemeinde Arndts schwer erschüttert. Inmitten dieser verworrenen Situation versuchte er einen Weg zum wahren Christentum aufzuzeigen, auf dem christlicher Glaube und christliches Leben wieder zur rechten Einheit finden - und so entstand das erste Buch vom wahren Christentum. Von Anfang an vollzog sich dieser Versuch unter nicht wenigen argwöhnischen Blicken der orthodoxen Stadtgeistlichkeit. Die langen und erbitterten Streitigkeiten um Arndts Bücher vom wahren Christentum in der orthodox-lutherischen Theologie und Kirche haben schon während der Braunschweiger Wirksamkeit Arndts begonnen, um vor und nach seinem Tod 1621 in mehreren literarischen Angriffen, Apologien und Gutachten von theologischen Fakultäten zu gipfeln. 7
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Dazu J. Wallmann, Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg als Gestalt der Kirchengeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Johann Arndt. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 20-45, bes. Anm. 37 und B. Hamm, Johann Arndts Wortverständnis (Anm. 4), 50ff.
Wolfenbütteler Hofkultur
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Sehr anders ist die Lage in der Residenzstadt Wolfenbüttel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Hier begegnen wir einer ausgesprochenen, geistig höchst differenzierten Hofkultur, in deren Mittelpunkt Herzog August d.J. selbst und seine dritte Gemahlin Sophia Elisabeth stehen. „Wolfenbütteler Barockdichtung" - in diesem Begriff faßt sich das reiche geistig-literarische Leben am Wolfenbütteler Hof durchaus sinnvoll zusammen. Als Joachim Lütkemann 1649 von Rostock nach Wolfenbüttel als Generalsuperintendent des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel und Hofprediger berufen wurde, kam er in eine aufstrebende Residenzstadt, in der sich das kulturelle und kirchliche Leben nach den schweren Schäden des großen Krieges rasch belebte. Hier erscheint sein Erbauungsbuch „Vorschmack göttlicher Güte" in dankbarer Verehrung gegenüber dem frommen und gelehrten Herzog erstmals 1653 und sodann in vielen weiteren Auflagen, ohne - im Gegensatz zu Arndts Büchern vom wahren Christentum - irgendwelche theologische Streitigkeiten auszulösen. Religiöse Erbauungsschriften gehörten zum festen Bestand der Wolfenbütteler Hofkultur, war doch Herzog August selbst zwar kein eigentlicher Erbauungsschriftsteller, aber doch Verfasser biblisch-theologischer Schriften, denen er hohe Bedeutung zumaß.8 Das Besondere des Lütkemannschen Erbauungsbuches wird man nicht ohne Zusammenhang mit der religiös-erbaulichen Atmosphäre am Wolfenbütteler Hof verstehen können, die durch die fürstliche Familie wie durch Gelehrte, Dichter, Musiker und Theologen bestimmt ist; ich nenne nur die Namen Justus Georg Schottelius, Johann Valentin Andreae und Heinrich Schütz. - Wenn von Erbauungsliteratur in Niedersachsen die Rede ist, dann muß wenigstens auf den einzigartigen Verbreitungsort hingewiesen werden, von dem aus die erbaulichen Schriften im weitesten Sinne ihren oft langen Weg nahmen, auf Lüneburg und den Verlag der Brüder Johann und Heinrich Stern. Neben Straßburg, später auch Nürnberg, ist Lüneburg der bedeutendste Verlagsort nicht nur für lutherische Erbauungsliteratur. Von hieraus beginnt schon in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts in übersetzten und bearbeiteten Ausgaben der breite Strom der englischen Erbauungsliteratur in die deutsche lutherische Kirche einzudringen, von dem Hans Leube sagte, daß er gegen Ende des Jahrhunderts zu einer wahren Massenübersetzung führte. 9 Die Mondstadt und die Sterne, die verlegerische Initiative der Brüder Stern - sie ist fest mit jener weit verzweigten Arndtschen Frömmigkeitsbewegung im ganzen 17. Jahrhundert verbunden. Hier wurden die Bücher vom wahren Christentum und die großen Predigtwerke Arndts sowie unzählige Erbauungsbücher immer wieder auf8
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Darüber informiert sehr instruktiv W.-D. Otte, Religiöse Schriften. In: Sammler Fürst Gelehrter. Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg 1579-1666, Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek Nr. 27, Braunschweig 1979, 193ff. H. Leube, Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Hg. von D. Blaufuß, AGP 13, Bielefeld 1975,61.
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Johann Arndt und Joachim Lütkemann
gelegt, begünstigt durch fürstlichen Schutz; war doch z.B. für den Sternverlag auch in der Residenz Herzog Augusts in Wolfenbüttel eine betriebsame Filiale eingerichtet worden. So sehr die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der einzelnen Erbauungsschriften in der Frömmigkeitsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts noch vielfältiger Forschungsarbeit bedarf, so wichtig ist doch aber vor allem die genauere Analyse des theologischen und ethischen Inhalts der erbaulichen Werke. Die Interpretationsaufgabe steht hier vor nicht geringen, besonders methodologischen Schwierigkeiten, haben doch die meist recht umfangreichen Erbauungsschriften nicht nur ihren jeweiligen geschichtlichen Entstehungshintergrund, sondern auch ihre aus einer ganz bestimmten Theologie und Frömmigkeit herkommende und auf die praxis pietatis ihrer Leser hinzielende Dimension. Gemeinsam ist ihnen allen die Anleitung zu einem lebendigen Glauben, der auf Verwirklichung im Leben drängt und in mannigfaltigen Anfechtungen Trost und Zuversicht zu vermitteln vermag. Ohne Beachtung dieser Grundintention und der theologischen Gesamtausrichtung eines Werkes kann die theologische Analyse von Erbauungsschriften - ähnlich wie bei Predigten - nicht vorgenommen werden. Im folgenden möchte ich an Arndts „Wahres Christentum" und Lütkemanns „Vorschmack göttlicher Güte" mit einer spezifischen, aber die Gesamtintention beider Werke zentral betreffenden Frage herantreten: nämlich mit der Frage nach der eschatologischen Grundstruktur beider Erbauungsschriften. Ich stelle diese Frage im Zusammenhang mit den anregenden Forschungen Johannes Wallmanns über die Anfänge der pietistischen Eschatologie. Die zweite Auflage seiner Untersuchung „Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus" ist inzwischen zu einem Standardwerk in der Pietismusforschung geworden. 10 Hier sagt Wallmann: „Mit der Frage nach der Herkunft der pietistischen Eschatologie stoßen wir auf das wahrscheinlich schwierigste Problem, das sich einer Darstellung der Anfänge des lutherischen Pietismus stellt."11 Nachdem Wallmann im Gedanken der Sammlung der Frommen (ecclesiola in ecclesia) und in der Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche die beiden Momente charakterisierte, durch die sich eine schon lange vor Spener bildende Frömmigkeitsbewegung gegenüber der lutherischen Orthodoxie verselbständigt und in dieser Verselbständigung als „Pietismus" eigene Gestalt gewinnt, wurde das alte Thema „Pietismus und Chiliasmus" wieder neu - z.T. recht lebhaft und kontrovers - diskutiert.12 Die 10 J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, BHTh 42, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1986. 11 J. Wallmann (Anm. 10), 324. 12 K. Aland, Spener - Schütz - Labadie? Notwendige Bemerkungen zu den Voraussetzungen und der Entstehung des deutschen lutherischen Pietismus. In: ZThK 78, 1981, 206-234. - J. Wallmann, Spener-Studien. Antwort auf Kurt Aland und Pietismus und Chiliasmus. Zur Kontroverse um Philipp Jakob Speners „Hoffnung besserer Zeiten".
Eschatologisches Denken in der lutherischen Orthodoxie vor Spener
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Hauptfrage richtet sich dabei auf das eschatologische Denken in der lutherischen Orthodoxie vor Spener. Dazu hat wiederum Wallmann in der EbelingFestschrift einen Aufsatz mit wichtigen Hinweisen auf z.T. noch nie beachtete Werke veröffentlicht. 13 Eine Geschichte der Eschatologie im Protestantismus ist noch nicht geschrieben worden. Das eschatologische Thema ist vielmehr in den großen Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte weitgehend unberücksichtigt geblieben. Allerdings hat Ernst Staehelin mit seiner mehrbändigen Quellensammlung „Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi" wesentliche Vorarbeit geleistet.14 Das Gesamtbild, das sich aus dem Werk Staehelins ergibt, ist noch weithin das gängige. Danach gab es wohl im reformierten und anglikanischen Protestantismus schon im 16. Jahrhundert, vor allem aber seit dem frühen 17. Jahrhundert einen „ununterbrochenen(r) Strom chiliastischer Zukunftshoffnung" 15 . Demgegenüber stellt sich die Situation in der lutherischen Tradition anders dar. Hier „begegnen zwischen Reformation und Pietismus nur Vertreter einer Eschatologie des Jüngsten Tages und der Hoffnung auf das himmlische Jerusalem" (z.B. Johann Gerhard und Johann Matthäus Meyfart). Erst mit Spener erscheint dann - schon in der Pia desideria - die Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche bzw. auf ein herrlicheres Reich Christi auf Erden. Wallmann fragt mit Recht: „Ist das Bild, das Staehelin vermittelt und das auch sonst in der Literatur verbreitet wird, zutreffend oder spiegelt es nur ein Forschungsdefizit wider?" 16 In seiner Skizze zur Eschatologie des orthodoxen Luthertums kommt er zu dem Ergebnis: „Spener ist [...] nicht der erste lutherische Theologe, der chiliastisch lehrte. Die lutherische Orthodoxie stand das ganze 17. Jahrhundert hindurch in Auseinandersetzung mit einem Chiliasmus, der stellenweise auch in ihre eigenen Reihen einbrach. Spener ist der erste gewesen, der sich mit seiner chiliastischen Zukunftshoffnung gegenüber der lutherischen Orthodoxie behauptet und, was wichtiger ist, für den Chiliasmus innerhalb der lutherischen Kirche breiten Anhang gefunden hat."17
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In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Baraock, Tübingen 1995, 3 5 1 389; 390-421. J. Wallmann, Zwischen Reformation und Pietismus. Reich Gottes und Chiliasmus in der lutherischen Orthodoxie. In: Verifikationen. Festschrift für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag, Tübingen 1982, 187-205. Wiederabgedruckt unter Fortlassung des Obertitels „Zwischen Reformation und Pietismus". In: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 105-123. E. Staehelin, Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi, IV. Band: Vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Basel 1957. J. Wallmann (Anm. 13), 106. Ebd. J. Wallmann (Anm. 13), 123.
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Johann Arndt und Joachim Lütkemann
Die Suche Wallmanns nach Einbruchsstellen des Chiliasmus im Luthertum hat ihn interessanterweise „unmittelbar in den Kreis der Schüler Johann Arndts" geführt. 18 Freilich, Arndt selbst hat „[...] nirgendwo in seinen Schriften einer irdischen Zukunftshoffnung Raum gegeben" 19 . Vielmehr wußten Spener und andere pietistische Theologen, daß sie mit ihrer chiliastischen Zukunftshoffnung nicht nur von Luther, sondern auch von Johann Arndt abwichen. - Aber das Auffallende ist nun, daß offenbar die Schriften Arndts schon sehr früh eine Ergänzung durch chiliastische Vorstellungen vertrugen. Wie ist das möglich? Nur skizzenartig kann hier eine erste Antwort auf diese Frage gegeben werden, die für das Problem „Pietismus und Chiliasmus" und damit für die gegenwärtige Pietismusforschung von erheblicher Relevanz ist. In den bisherigen Forschungen zu den „Vier Büchern vom wahren Christentum" Johann Arndts ist m.E. zu wenig auf das lebendige eschatologische Bewußtsein abgehoben worden, aus dem in Theologie und Frömmigkeit des Luthertums im frühen 17. Jahrhundert der Hauptimpuls zur Reform des verweltlichten Lebens und zur Umkehr erwuchs. Dabei gilt es wahrzunehmen, daß bei Arndt spezifische Intentionen wirksam werden, die in der Frömmigkeit des Luthertums vor Spener fortwirken. 20 Es ist der starke Zug zur Verinnerlichung im Blick auf das ständig zu erwartende Jüngste Gericht, der vor allem mit Arndt einsetzt. Das wird sehr deutlich, wenn man zwei wichtige Zeugnisse für das eschatologische Denken im frühen Luthertum miteinander vergleicht: Philipp Nicolais „Historia des Reiches Christi" und Johann Arndts Predigten über die zehn ägyptischen Plagen aus seiner Quedlinburger Zeit, also noch vor der Entstehung der Bücher vom wahren Christentum. 21
18 J. Wallmann (Anm. 13), 115. 19 J. Wallmann (Anm. 13), 114. 20 Z.B. in der Frömmigkeit des jungen Johann Gerhard, besonders aber bei Joachim Lütkemann und Johann Matthäus Meyfart. 21 Das Werk Nicolais erschien ursprünglich lateinisch: Commentatorium de regno Christi, vaticiniis propheticis et apostolicis accomodatorum libri duo, Frankfurt a.M. 1597. Schon ein Jahr später erschien es in deutscher Übersetzung, nicht erst 1610, wie Staehelin (Anm. 14), 90, Anm. 3, annimmt, und dann öfter: Historia deß Reichs Christi [...], Frankfurt a.M. 1598 (Johann Spies). Uns lag diese Ausgabe vor. Signatur: 204.15 Theol. HAB Wolfenbüttel. Am Ende des 1. Teils ist ein Jahresregister angefügt, das vom Auftreten Johannes des Täufers im Jahre 29 bis in Nicolais Gegenwart reicht; im Jahr 1670 nahm er das mögliche Kommen des Jüngsten Tages an, ohne sich aber auf dieses Datum festzulegen. Vgl. Staehelin (Anm. 14), 92. - Johann Arndt, Zehen Lehr- und Geist-reiche Predigten: Von den Zehen grausamen und schröcklichen Egyptischen Plagen [...], Frankfurt a.M. 1657. Signatur: 299,9 Theol. HAB Wolfenbüttel. Es ist dies der früheste erhaltene Druck der 1596 in Quedlinburg entstandenen, aber verschollenen De decem plagis Aegyptorum. In der Vorrede wird darauf hingewiesen, daß nach einem Manuskript gedruckt wurde. Wie wenig hilfreich die vorwiegend systematische Suche Koepps nach Elementen der in Entwicklungsschritten gedachten Mystik bei Arndt ist, zeigen u.a. auch seine Bemerkungen zu diesem frühen
Philipp Nicolai und Johann Arndt
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Der Unterschied zeigt sich besonders auf dem Hintergrund des Gemeinsamen im eschatologischen Denken beider Theologen. Denn anders als in der Theologie des Pietismus kennen sowohl Nicolai wie Arndt keine irdische Zukunftshoffnung, die verschiedenen Formen von Chiliasmus spielen bei ihnen keine Rolle.22 Während jedoch Nicolai ausführlich von den geschichtlichen Ereignissen des Reiches Christi, seiner Ausbreitung durch alle Erdteile, von Juden, Heiden, Mohammed und dem Papst als den Feinden des Reiches Gottes handelt,23 ist bei Arndt alles äußere Geschehen in den ägyptischen Plagen verinnerlicht. Sie sind ihm ein Spiegel des Jüngsten Tages, der sich im Gewissen des einzelnen bezeugt und die weltsüchtigen Leute zu ernster Umkehr ruft.24 Ein mächtiger, weltentsagender Ton klingt bei allem konkreten Bußernst25 durch diese Predigten; schon hier wird eine intensive Erlösungssehnsucht der Einzelseele aus dem irdischen Jammertal hin zu der liebreichen, seligen Erscheinung des Herrn laut, wie sie später in den Büchern Werk Arndts. Er findet hier noch keine Spur von Mystik, dagegen die orthodoxe Lehre und „ethischen Rigorismus" (W. Koepp [Anm. 4], 20f.). Der Prozeß der Verinnerlichung des eschatologischen Denkens, der zur Aufnahme mystischen Gedankengutes unmittelbar drängte, konnte von den Voraussetzungen Koepps aus nicht in den Blick treten. S. zu Koepps Mystikverständnis J. Wallmann, Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit (Anm. 3), 17. 22 S. dazu J. Wallmann, Reich Gottes und Chiliasmus (Anm. 13), 114, der aber auch darauf aufmerksam macht, daß Arndts Eschatologie durch chiliastische Zukunftshoffnungen sehr bald ergänzt werden konnte. Dagegen wurde Nicolai im Pietismus nicht rezipiert. Zu den Anfängen der pietistischen Eschatologie, besonders Speners, vgl. Wallmann, Spener (Anm. 10), 307ff. 23 Das wird im 1. Teil des umfangreichen Werkes im deutlichen Bemühen um geschichtliche Genauigkeit (s. Jahresregister) dargestellt, der 2. Teil bringt erst die Zukunftsaussagen, immer unter Anleitung der prophetischen und apostolischen Weissagungen. 24 Die ägyptischen Plagen werden von Arndt als Lehre von den Zeichen des Jüngsten Tages entfaltet. Da die Zeit des Jüngsten Gerichtes unbekannt ist, ruft er immer wieder zu ernster Umkehr, zu Wachen und Beten auf. Der Verinnerlichungsprozeß wird z.B. in der 3. Predigt „Von den Läusen" (Ex 8,16ff.) deutlich. Die die Erde bedekkenden Läuse werden ihm zu einem Sinnbild für Weltliebe und Sucht nach Reichtum: „Diß soll nun ein Spiegel seyn den weltsüchtigen Leuten/ die in irdischen Dingen so gar ersoffen seyn/ unnd den Staub der Erden so lieb haben/ daß sie Gottes und deß Ewigen vergessen" (Anm. 21, 34). Gott erinnert die Menschen: „Das Gewissen deß Menschen ist ein lebendiger/ warhafftiger unbetrieglicher Zeuge deß Jüngsten Gerichtes/ ja der Höllen selbst. Worauß kommt das böse Gewissen/ denn auß dem Staub der Erden/ darauß diese Würme wachsen. Da hat sich nun ein jeder Mensch wol für zusehen unnd zu hüten" (35). Die Plage der Finsternis über Ägypten wird zu einer innerlichen, geistlichen Finsternis: „Daß diese eusserliche Egyptische Finsternuß bedeute eine innerliche, geistliche Finsternuß" ist das Thema der 9. Predigt (82). - Auf die ägyptischen Plagen als Aufforderung zur Buße kommt Arndt auch in der Vorrede zum „Wahren Christentum" zu sprechen. 25 Z.B. in der 1. Predigt. Hier ist die Verwandlung des Wassers in Blut für Arndt ein Anlaß, ausführlich und schroff gegen die Tyrannen und die Aussaugung der Armen zu predigen (20f.).
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Johann Arndt und Joachim Lütkemann
vom wahren Christentum ihren vielfältigen Ausdruck gefunden hat.26 Die Dimension der Geschichte, bei Nicolai vorherrschend, ist bei Arndt ganz gewichen.27 Es ist verständlich, daß an ihre Stelle das verschiedenartige mystische Gedankengut - sozusagen als Rahmenausfüllung - einströmen konnte und die eschatologische Erwartung zu aktualisieren und zu verlebendigen vermochte.28 Denn hier wurde die Naherwartung Arndts, die sich selbst gewiß nicht mystischer Erfahrung verdankt,29 anschaulich-erlebbar. Sowohl die Kritik an der „weltsüchtigen" Gegenwart wie die neue, auf die Erscheinung Christi hoffende und schon jetzt im Glauben an seine liebende Zuwendung erfahrbare Existenz des Christen konnten durch die mystische Bildsprache mannigfaltigen Ausdruck finden. Auch Philipp Nicolai bedient sich ihrer, z.B. in seinem „Freudenspiegel des ewigen Lebens" von 159930 und in den beiden Gesangbuchliedern „Wie schön leuchtet der Morgenstern" und „Wachet auf, ruft uns die Stimme". Schon Staehelin bemerkt jedoch mit Recht im Gegenüber zu Arndt an: „Auch Philipp Nicolai vertritt eine ähnlich gefärbte Innerlichkeit; doch während diese bei ihm hinter der eschatologischen Ausrichtung zurücksteht, befindet sie sich bei Arndt im Mittelpunkt seines Ru26 Vgl. die Textauszüge bei Staehelin (Anm. 14), 1 lOff. 27 J. Wallmann hat diese Distanz so formuliert: „Der Reichsgedanke, in Philipp Nicolais ,Historia des Reiches Christi' geschichtlich entfaltet, ist hier völlig aus der Dimension der Geschichte herausgenommen und im mystischen Sinne individualistisch verinnerlicht" (in bezug auf Arndts „Wahres Christentum" und Paradiesgärtlein gesagt), Anm. 13, 196. 28 Unter „mystischem Gedankengut" verstehen wir hier nicht nur die Quellen, aus denen Arndt bei der Komposition seiner Vier Bücher vom wahren Christentum schöpfte, also vor allem Tauler, Angela da Foligno, Theologia Deutsch, Nachfolge Christi, aber auch der Spiritualismus Valentin Weigels und der Paracelsismus. Nicht weniger wichtig sind auch Augustin, Bernhard und Meister Eckhart und die sich an sie anschließenden theologischen Traditionen. 29 S. Wallmann, Arndt und die prot. Frömmigkeit (Anm. 3), 9. 30 An diesem, auf die endzeitliche Frömmigkeitsstimmung der folgenden Zeit nachhaltig einwirkenden Werk Nicolais kann man den starken Verinnerlichungs- und Individualisierungsprozeß schon vor Arndt wahrnehmen. Damit wird die zeitgeschichtliche Komponente, die an diesem Vorgang offenbar erheblich beteiligt ist, besonders unterstrichen. Das Werk Nicolais ist von einer ebenfalls an mystische Traditionen (besonders Bernhards Brautmystik) sich anschließenden Jenseitsseligkeit der Seele erfüllt, wie es wohl in der Geschichte des Protestantismus einmalig ist. Seine Lieder „Wie schön leuchtet der Morgenstern" und „Wachet auf, ruft uns die Stimme" gehören bis heute zum festen Bestand des EG. W. Zeller läßt mit Nicolai die sog. neue Frömmigkeit am Anfang des 17. Jahrhunderts beginnen, der er auch Arndt zuordnet (Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, Bd. V, Bremen 1962, ΧΧΙΠί.). Der Versuch Nicolais, mit der mystischen Bildersprache neue Akzente im Ausdruck der Frömmigkeit bewußt zu setzen, verbindet ihn von diesem Werk aus gesehen gewiß mit Arndt. Sowohl der „Freudenspiegel des ewigen Lebens" Nicolais wie die Predigten Arndts über die ägyptischen Plagen sind aus ähnlichen schweren Leiderfahrungen erwachsen: der Pestepidemie in Unna/Westfalen und den vielen Amtsnöten Arndts in Quedlinburg, auch hier eine schwere Pestepidemie 1598.
Zur „Mystik" Johann Arndts
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fens und Mahnens." 31 Daß mit diesem Verinnerlichungsprozeß in der eschatologischen Erwartung eine nicht unerhebliche Individualisierung des universalen Horizontes biblisch-reformatorischer Eschatologie eingeleitet wurde, ist offenkundig. Aber der aus der Naherwartung kommende Bußernst Arndts gegen die Verweltlichung und Veräußerlichung des christlichen Lebens seiner Zeit, wie es sich ihm darstellte, griff zu dem - geschichtlich geurteilt nächstliegenden Medium, um seinen Intentionen Nachdruck und Anschaulichkeit zu verleihen, und das war die schon lange vor Arndt nicht nur in die Frömmigkeit des Luthertums eingeströmte mystische Frömmigkeitssprache und -empfindung. 32 Mit dieser Akzentsetzung auf das eschatologische Denken Arndts, das auf biblisch-reformatorischem Fundament angesichts des ständig zu erwartenden Jüngsten Gerichtes zur Umkehr aufruft, zur Vergegenwärtigung und inneren Verlebendigung dieser Naherwartung sich aber einer alt-neuen Glaubenssprache, eben der mystischen, bedient, ist das komplexe Thema der „Arndtschen Mystik" angesprochen. Die lapidare Frage: War Arndt Mystiker?, kann für diesen „Zeitenwender" im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie ebensowenig angemessene Auskunft geben wie eine solche Fragestellung für den jungen Luther oder den Schleiermacher der Reden über die Religion. Dafür sind Phänomen und Begriff der Mystik in der Religions- und Christentumsgeschichte zu vielgestaltig, als daß mit dieser Bezeichnung ohne genauere historische und systematische Konkretisierung ein weiterführendes Verständnis zu gewinnen wäre.33 Wie schwierig jedoch eine solche historische und systematisch-theologische Verifizierung gerade im Blick auf Arndt und dessen Rezipierung mystischer Quellen ist, zeigt die bisherige Arndtfor-
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S. Anm. 14, 110. Neben dem Gemeinsamen ist die individuelle Ausprägung der Frömmigkeit beider jedoch nicht unerheblich, z.B. kennt Nicolai den Bußemst Arndts so nicht. Zu Arndt und Nicolai vgl. auch H. Reiner, Die orthodoxen Wurzeln der Theologie Philipp Jakob Speners, Diss, theol. Erlangen 1969, 24-31. 32 Nicht nur in die lutherische Frömmigkeit (vor allem Gebetbücher) strömten im ausgehenden 16. Jahrhundert mystische Quellen ein, auch in die geistliche Erneuerung der katholischen Kirche, nachdem der Jesuit Henricus Sommalius verschiedene mystische Quellen in handlichen Ausgaben herausbrachte. Vgl. W. Zeller, Luthertum und Mystik. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit, Ges. Aufsätze, Bd. 2. Hg. v. B. Jaspert, Marburg 1978,42. 33 Unter dieser Voraussetzung bleibt die „Frage der Mystik" im nachreformatorischen Protestantismus freilich eine entscheidend wichtige Forschungsaufgabe! Daß eine solche historische und systematisch-theologische Konkretisierung für die Erscheinungswelt der Mystik im nachreformatorischen Protestantismus durchaus zu wichtigen Einsichten führen kann, zeigt z.B. die Böhme-Forschung. Vgl. E.H. Pältz, Art. Böhme, Jakob. In: TRE 6, 1980, 748-754 mit der wichtigsten, besonders neueren Böhme-Literatur; auch seine Darstellung Böhmes in den Gestalten der KG, Bd. 7, 1982, 79-89. Für die vielgestaltige Mystik allein im 17. Jahrhundert sei auf den älteren, aber wichtigen Aufsatz von E. Seeberg hingewiesen: Zur Frage der Mystik (1921). In: Menschwerdung und Geschichte, Aufsätze, Stuttgart 1938, 98-137.
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Johann Arndt und Joachim Lütkemann
schung.34 Johannes Wallmann hat die Anleihen Arndts aus der überaus komplexen mystischen Tradition folgendermaßen anschaulich zum Ausdruck gebracht: „Hier redet kein Mystiker aus eigenem Erleben, sondern hier gräbt nach langen Jahren ermüdender und zur Resignation treibender seelsorgerlicher Wirksamkeit ein lutherischer Pfarrer in der literarischen Tradition nach Quellwasser, um einem von der Lebendigkeit der reformatorischen Anfänge in der dritten und vierten Generation weit entfernten, erstarrten und vertrockneten Kirchenchristentum neue Lebenskräfte zuzuführen."35 Damit ist der historische Entstehungshintergrund für das, was man die Arndtsche Mystik nennt, m.E. zutreffend umschrieben. Um zu einer weiteren inhaltlichen Klärung dieses Phänomens zu gelangen, wird man nicht nur auf dem begonnenen Wege der Nachforschung nach der Art der von Arndt rezipierten Quellen fortschreiten, sondern in verstärktem Maße auch auf die theologische Bearbeitung achten müssen, die Arndt an seinen literarischen Quellen vornahm.36 Aber auch hierbei wird man nicht stehenbleiben können, ohne auf die Folgen zu achten, die der Einzug des breiten Stromes mystischen Gedankengutes in das theologische Denken Arndts und der sich an ihn anschließenden Frömmigkeitstheologie auf die Struktur dieses Denkens37 hinterlassen hat. Denn es ist ja von vornherein nicht nur damit zu rechnen, daß sich die mystischen Quellen unter der Feder Arndts erheblich wandelten,38 sondern daß auch die theologische Gesamtanschauung Arndts, wie sie in der Komposition und Akzentsetzung seiner Schriften zutage tritt, unter dem Ein34 Auch der Versuch von Berndt Hamm, das eigene Profil der Arndtschen Theologie mit Hilfe seines Wortverständnisses herauszuarbeiten (in: PuN 8, 1982, 43-73), hat m.E. die historische Perspektive zu wenig berücksichtigt. Arndt hat nach Hamm den theologischen Ansatz eines verkirchlichten Spiritualismus entwickelt; er unterscheidet bei Arndt eine „mystisch-spiritualistische Perspektive des Glaubens" von einer „orthodox-kirchlichen Linie" (59). Gegenüber der bisherigen Arndtforschung (Koepp, Schwager, Weber und Lund) sieht Hamm die Aufgabe, „den Standort Arndts zwischen den jeweils wiederum in sich differenzierenden Traditionen der mittelalterlichen und gegenreformatorischen Mystik, der Reformation, des nachreformatorischen protestantischen Spiritualismus und der lutherischen Orthodoxie zu bestimmen" (53, Anm. 45). Davon ist man wahrhaftig noch weit entfernt, und es fragt sich, ob man bei einer einseitig systematischen Fragestellung schon einen entscheidenden Schritt in diese Richtung gelangt ist. Die Untersuchung Hamms kommt anhand des Wortverständnisses Arndts jedoch zu wichtigen Einsichten, die für die weitere Klärung des theologischen Standorts Arndts zu bedenken sind. 35 Arndt und die protestantische Frömmigkeit (Anm. 3), 9. 36 Darüber besteht in der gegenwärtigen Arndtforschung Einigkeit. 37 Was hier unter „Denkstruktur" gemeint ist, zeigt für die Hauptintentionen der Theologie Luthers besonders klar der kleine Aufsatz von Walter Dreß, Simul - Zur Struktur des lutherischen Denkens. In: Evangelisches Erbe und Weltoffenheit. Hg. v. W. Sommer, Berlin 1980, 77-85. 38 S. die Untersuchung von E. Weber, Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts, Marburg 1969 (Hildesheim 3 1978).
Zur „Mystik" Johann Arndts
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fluß des mystischen Denkens eine nicht unwesentliche, charakteristische Prägung erfuhr.39 In dem betonten und ernstzunehmenden Bemühen Arndts, seine mystischen Vorlagen lutherisch-orthodox zu filtern und zu modifizieren, war es stets sein wichtigstes Anliegen, die Grenze zwischen Gott und der Seele, zwischen Diesseits und Jenseits strikt zu wahren und die verschiedenen Ausdrucksformen einer Stufens- und Werdensmystik, eines Aufstiegs der Seele zu Gott mit dem Ziel der völligen Einswerdung in der unio mystica zu meiden bzw. entscheidend im Sinn zu verändern.40 Dort, wo die Seele in dem mystischen Gedanken des Seelengrundes oder der Gottgeburt Anteil am göttlichen Wesen nimmt, setzt Arndt die Gnadenwirkung Gottes, die allein die Frucht im neuen, wiedergeborenen Sein des Christen schafft. Der starke ethische Impetus, der z.B. die Predigten Taulers bestimmt, war auch Arndts wichtigstes Anliegen, hier konnte er reiche Veranschaulichung der ethischen Forderung, der „inwendigen" Nachfolge Christi finden. Aber indem nun durch Arndt die „mystische" Aussage einen so deutlichen Akzent von der Natur zur Gnade, vom Werden zum Sein, vom Diesseitig-Äußerlichen nicht nur zum Menschlich-Innerlichen, sondern zu dem neuen Sein aus der Offenbarung Gottes erhielt, konnte die ethische Forderung nur noch das eine bedeuten: Verwirklichung des neuen Seins in der Ganzheit des Lebens aus dem
39 Es ist von einem Wechselverhältnis auszugehen, das allerdings neben mancherlei Affinitäten eine erhebliche theologische Spannung zwischen z.B. der Mystik Taulers und der reformatorischen Theologie zur Voraussetzung hat. Sie wird durch die Art und Weise, wie Arndt Tauler rezipiert, von ihm selbst bestätigt, vgl. E. Weber (Anm. 38), lOlff. - Hier sehe ich die wichtige Aufgabe systematisch-theologischer Anfragen an Arndt, die aber nicht losgelöst von der historischen Perspektive unternommen werden können, aber auch nicht unter dem Vorzeichen bestimmter „Schulmeinungen" stehen sollten. An den Voraussetzungen der Ritschl-Schule leidete das historisch so gründlich gearbeitete Buch von W. Koepp. Hinsichtlich des Problemkreises des Einflusses der Mystik auf Arndts theologische Gesamtanschauung habe ich auch Anfragen an den Aufsatz von J. Wallmann, Johann Arndt und die protestantische Frömmigkeit (Anm. 3). Die Skepsis, die sog. „Amdtsche Mystik" aufgrund ihrer disparaten Quellensituation überhaupt charakterisieren zu können, enthebt m.E. nicht von der wichtigen Frage, welche besonderen Ausprägungsformen die Theologie Arndts durch das von ihr rezipierte mystische Gedankengut erhalten hat. Wenn Arndt nicht Mystiker, sondern ein „Liebhaber der Mystik" (19) genannt wird, dann wird auch dies nicht nur historisch gute Gründe, sondern auch nicht unerhebliche systematisch-theologische Konsequenzen für die in den Schriften Arndts konzipierte Theologie haben, nicht nur für den Wandlungsprozeß, den die mystischen Quellen durch Arndt erfahren haben. In Anbetracht der immensen Wirkungsgeschichte Arndts kommt seiner Vermittlung der mystischen Traditionen an Theologie und Frömmigkeit des Protestantismus eine Bedeutung zu, die von ihren Voraussetzungen und Konsequenzen her noch kaum genügend bedacht ist. 40 Für die Diskussion um die Arndtsche Mystik ist der Aufsatz von M. Greschat von Bedeutung, dem ich Wesentliches verdanke: M. Greschat, Die Funktion des Emblems in Johann Arndts „Wahrem Christentum". In: ZRGG 20, 1968, 154-174.
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Glauben. Denn zum Wesen des von Gott bzw. Christus gewirkten neuen Seins gehört es, daß es sich in einem neuen Leben verwirklicht. Mit diesem, immer wieder variierten Grundgedanken Arndts kämpft er gegen die Veräußerlichung und Verweltlichung des christlichen Lebens seiner Zeit an, das er durch Streitsucht, Sicherheit und Gleichgültigkeit erheblich bedroht sieht. So berechtigt diese Kritik zu sein scheint und so wirksam den kritisierten Zuständen in der konkreten Welt des christlichen Lebens durch Verinnerlichung und individuelle Aktualisierung der christlichen Glaubensinhalte begegnet zu werden vermag, so deutlich ist doch aber auch der Preis, der hierfür bezahlt wird. Wir sehen ihn in einem nicht geringen Verlust des konkreten Weltbezuges des christlichen Glaubens zugunsten des neuen, in Gott gegründeten Seins. Verlust des Weltbezuges des christlichen Glaubens meint hier aber gerade nicht die Ausrichtung der christlichen Existenz auf ein fernes Jenseits des Reiches Gottes, sondern die Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes im Menschen, das Arndt im Innern der Seele diesseitig hereinbrechen sieht. Nicht Jenseitsfrömmigkeit, sondern individuell-verinnerlichte Diesseitsfrömmigkeit charakterisiert die Frömmigkeitstheologie Arndts. Das unterscheidet das „Wahre Christentum" z.B. von dem etwa gleichzeitigen englischen Erbauungsbuch „Güldenes Kleinod der Kinder Gottes" des Emanuel Sonthom.41 Indem Arndt den ethischen Appell ganz aus der schon hier sich ereignenden göttlichen Wirklichkeit im Innern des gläubigen Menschen ableitet, verfällt die konkrete diesseitige Weltwirklichkeit der ethischen Negation. Nicht das Verhalten in dieser vergehenden Welt ist letztlich der Zielpunkt seiner Reflexion, sondern Darstellung und Verwirklichung des neuen geschenkten göttlichen Seins in einem Dasein, das der irdischen Welt durch die „Tötung des Fleisches" bereits innerlich abgestorben ist.42 Dem steht die starke Betonung eines wahrhaft tätigen Christentums gerade nicht entgegen! Denn immer geht es hier um individuelle Verwirklichung der göttlichen Wirklichkeit, die sich zwar noch im Bereich der irdischen Realität vollzieht, aber sie letztlich schon weit hinter sich gelassen hat. Damit aber stehen wir in der Nachzeichnung charakteristischer Denkstrukturen in der Frömmigkeitstheologie Arndts vor ähnlichen Problemhorizonten, wie wir sie bei Lütkemann im Verhältnis zwischen Soteriologie und Ethik beobachten können. Gewiß gilt auch für Joachim Lütkemann, was Wallmann für die Schüler Arndts bis in den Pietismus des 18. Jahrhunderts 41
S. dazu J. Wallmann, Spener (Anm. 10), 18ff., Anm. 68; U. Sträter, Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995 (BHTh 91), 106f. 42 Diese ethische Negation der Welt wird bei Arndt immer wieder mit der Stelle aus dem 1. Johannesbrief, 1. Joh 2,15ff„ biblisch begründet, z.B. W.Chr. I., 18, 11; 24, 2; 28,4 u.ö. - Eine solche theologische Abwertung der „Welt" hat natürlich nichts mit Berührungsangst vor der Welt im sozialen Sinn zu tun. Dies kann man Arndt weder biographisch noch literarisch nachsagen.
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hinein hervorgehoben hat: „Sie alle treffen sich in der Verehrung d e s zu seiner Zeit ja nicht unangefochtenen Arndt. Sie alle haben sich Arndts Schüler genannt. Aber das D e n k e n eines jeden v o n ihnen hat seine unverwechselbar e i g e n e n Konturen und weicht v o n Arndt an mehr als einer Stelle deutlich ab." 43 D o c h wir meinen, daß insbesondere die Frömmigkeit Lütkemanns und die seiner Rostocker Schüler Heinrich Müller und Christian Scriver durch die v o n Arndt ausgehenden Intentionen wesentlich geprägt ist. Wir w o l l e n dies durch einen kurzen inhaltlichen Hinweis auf sein Erbauungsbuch „Der Vorschmack göttlicher Güte" verdeutlichen. 4 4 Gleich zu B e g i n n blickt Lütkemann in e i n e m einleitenden Gebetswort auf seine e i g e n e n schweren Sünden, die ihn vor Gottes Gericht anklagen, aber allein durch Gottes Gnade und Güte die wunderbare Rettung der Vergebung erfahren ließen. D i e Erfahrung der Sünde, ihre in die e w i g e Verurteilung durch Gott führende Schuld und die große Befreiungstat Gottes in seiner V e r g e b u n g stehen somit am Ausgangspunkt dieses Werkes, das daraufhin die Güte Gottes in mannigfaltigen, nicht auszuschöpfenden Variationen zu preisen versucht. 4 5 Der Lobpreis Lütkemanns auf die Güte Gottes hebt bezeich43 Arndt und die protestantische Frömmigkeit (Anm. 3), 5. Wallmann nennt: J.V. Andreae, Comenius, Spener, Francke und Zinzendorf. Erst recht gilt dies für die durch Erweckungsbewegung und Neupietismus beeinflußten zahlreichen Arndtverehrer des 19. Jahrhunderts! 44 Um mehr als einen Hinweis wird es sich nicht handeln können. Es wäre eine eigene Arbeit notwendig, um dieses ebenfalls recht umfangreiche Buch in zwei Teilen zu je 19 bzw. 24 Betrachtungen (Erstausgabe Wolfenbüttel 1653, 4°, über 800 Seiten) im einzelnen mit Arndts Vier Büchern vom wahren Christentum zu vergleichen, wozu auch noch das Paradiesgärtlein Arndts und Lütkemanns „Harfe von zehn Seiten" hinzuzunehmen wären. Nach der Erstausgabe, Wolfenbüttel 1653, wird im folgenden zitiert. Die weite Verbreitung dieses Erbauungsbuches dokumentieren folgende von mir ermittelte Ausgaben vom 17. bis 19. Jahrhundert: Erstausgabe Wolfenbüttel 1653 (Johann Bismarck), Signatur: Th 1680, HAB Wolfenbüttel; Braunschweig 1657 (Zilliger und Gruber); 1673; 1680; 1688 (5. Auflage); 1712; 1720 (mit Lebensdarstellung von Rehtmeyer); Nordhausen 1725, Braunschweig 1740 (mit ausführlicher Lebens- und Werkdarstellung Lütkemanns von Rehtmeyer); Erfurt 1741, Neu-Ruppin 1864, Leipzig 1872, Hermannsburg 1893. 45 „Wenn ich an nichts gedächte als an deine Güte/ so lange ich lebe auf Erden/ würde ich dich doch nicht genug preisen können" (Erstausgabe, ΙΠ). Überwältigt von der Güte Gottes will Lütkemann nicht schweigen, sondern preisend reden. Während sich Arndt in der Vorrede zum 1. Buch vom wahren Christentum durch das unbußfertige, äußerliche, gottlose Wesen des Christentums seiner Zeit veranlaßt sieht, auf das wahre Christentum hinzulenken, steht am Eingang von Lütkemanns Erbauungsbuch die dankbare Reflexion über eine gnädige Wende seines Lebensweges. Die Braunschweiger Kämpfe Arndts am Anfang des Jahrhunderts, die gewiß nicht wenig mit persönlichen Erfahrungen erfüllt sind, und das Wirken Lütkemanns als Hofprediger in Wolfenbüttel in der Mitte des Jahrhunderts unter einem ihm wohl und ähnlich gesonnenen Herzog im Geist der Nachwirkungen Arndts - diese verschiedenen Ausgangssituationen wird man im Blick haben müssen, um beide Erbauungsbücher sinnvoll
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nenderweise sogleich seine Berufung nach Wolfenbüttel durch Herzog August hervor. Hier zeigt sich der konkrete, persönliche Erfahrungshintergrund, der ihm die Augen für die verborgene Güte Gottes in seinem ganzen Leben geöffnet hat und ihn zum Erbauungsschriftsteller werden ließ, um anderen ebenfalls die Augen für Gottes Güte zu öffnen. Man kann an den Geist von Augustins Confessiones denken, wenn Lütkemanns Erbauungsbuch die Gnade Gottes am Beispiel des eigenen Lebens preist. Aber es geht ihm bei seinen Adressaten vorwiegend um einen Vertiefungs- und Verinnerlichungsprozeß im Christentum im Sinne Arndts, um eine Ermunterung für diejenigen, die Gottes Güte bereits erkannt haben, nicht um eine erste, missionierende Begegnung mit den Grundlagen des christlichen Glaubens.46 Als eine Stärkung des Glaubens von Christen, die ihr Herz schon von der Welt abgewandt haben, ist Lütkemanns Erbauungsbuch gedacht: „Der Güte Gottes zu Lob Preiß und Ehre ists geschrieben/ und denen allermeist zu Nutz/ die die Güte Gottes allbereit erkandt/ und ihr Hertz von der Welt gewandt haben [...] Kommt noch einer, der weltlich gesinnet ist und von der Güte Gottes wenig geschmeckt hat, ihm möge es ein Feuer sein im Hertzen [.. ,]."47 Damit ist der zentrale Begriff des „Schmeckens" der göttlichen Güte gefallen, der dem ganzen Werk seinen charakteristischen Titel gegeben hat. In Anlehnung an die Psalmen, vor allem Psalm 34,9, geht es Lütkemann um eine innerliche Erkenntnis der gnädigen Zuwendung Gottes, die den Menschen bis in alle seine emotionalen Tiefenschichten hinein erfüllt und die darum nicht nur gewußt, sondern gefühlt werden muß, um ihre Wirkung ganzheitlich entfalten zu können. Wenn so die Güte Gottes „geschmeckt" wird, kann die „Welt" mit ihrer Lust überwunden und können die bösen Begierden gezähmt werden: „So kan einer auch endlich zu keiner wahren Gottsehligkeit gelangen/ wo man Gottes güte nicht kennet und schmecket. Wie will man die Welt mit ihrer Lust Überwinnen/ wenn Gottes Güte nicht erkant wird? Wenn Gott als das einige wahre Gut/ und das allerhöchste Gut erkant und geschmecket wird/ so kan man Gott auch als das höchste Gut über alles lieben."48 Doch
vergleichen zu können. Der apologetische Aspekt ist nicht gewichen, hat aber doch eine neue Dimension erhalten. Die positive Beschreibung der Güte Gottes als Ausdruck innigster persönlicher Erfahrung steht ganz im Vordergrund. 46 So wie Arndt seine Bücher vom wahren Christentum an die Gläubigen gerichtet hat, die in der rechten Lehre (vor allem Rechtfertigungslehre) schon unterwiesen sind, nicht an die Ungläubigen. Vgl. Repetitio Apologetica (V. Buch WChr in der Ausgabe Lüneburg 1685, Vorrede an den christlichen Leser, 153). 47 Vorrede, III v. In dieser Zielsetzung schließt sich das Erbauungsbuch Lütkemanns mit der ganzen reichhaltigen Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert zusammen. 48 3. Das wäre die Erfüllung des 1. Gebotes im Glauben. Die Voraussetzung einer solchen innerlichen Gotteserkenntnis ist freilich die Selbstoffenbarung Gottes (6). - Die Weltüberwindung kommt besonders in der 12. Betrachtung des 1. Teiles zum Ausdruck: „Wie durch den Schmack Göttlicher Güte/ die Welt bey uns verschmähet werde" (150). „Gleich wie der glantz der Sternen sich verlieret gegen den glantz der
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mit dieser inneren, d.h. ganzheitlichen Erfahrung der Güte Gottes ist sogleich das neue Sein des Christen als eine partielle Vorwegnahme des ewigen Lebens beschrieben. Das meint der Ausdruck „Vorschmack", der darum auch sogleich am Anfang des Werkes als „Vorschmack des ewigen Lebens" bestimmt wird: „Wer Gottes grosse Güte schmeckt/ hat in solcher Güte alles/ und den rechten Vorschmack des ewigen Lebens/ begehret nichts anders/ fürchtet auch nichts anders. [...] Wo diß lebendige Erkenntniß ist/ da ist der Vorschmack des ewigen Lebens/ und wie mehr des Erkenntniß zunimt/ je grösser wird in uns das ewige Leben. Da wird die Seele geführet auf rechter grüner Weide des Lebens."49 Eine der letzten Betrachtungen handelt „Vom ewigen Leben", nicht als zusätzlicher eschatologischer Ausblick, sondern als roter Faden, der das ganze Werk durchzieht: „[...] das höchste Gut, das wir von Christus ererben." 50 Das „Schmecken" der Gnade Gottes als „Vorschmack des ewigen Lebens" - das ist in dieser tiefen Zusammengehörigkeit der inneren Erfahrungsdimension des christlichen Glaubens mit der beginnenden Verwirklichung des neuen göttlichen Seins im Glaubensleben der Christen das Grundthema des Lütkemannschen Erbauungsbuches. Eine mächtige Sehnsucht nach dem Vergehen, dem Ende dieser und dem Kommen der neuen Welt Gottes zieht sich durch seine Meditationen, wobei der lebendige innere Glaube hier und jetzt schon vielfältige Spuren der Wirklichkeit Gottes wahrzunehmen vermag, denn das „Reich Gottes" ist in uns.51 In dieser Vergegenwärtigung und inneren Verlebendigung der eschatologischen Erwartung - auch bei Lütkemann vollzieht sich dieser Vorgang mit nicht wenigen Anleihen aus der mystischen Tradition, insbesondere aus der Liebesmystik in der Tradition Bernhards - 5 1 sehen wir die besondere verwandtschaftliche Nähe der Frömmig-
Sonnen/ also verlieret sich alle irdische Süssigkeit/ gegen die Süssigkeit die aus Gott ist" (150f.). 49 4. 50 24. Betrachtung des 2. Teiles „Vom ewigen Leben", 854ff. 51 857. 52 Z.B. die 2. Betrachtung des 1. Teiles und die 15. Betrachtung des 2. Teiles: „Von der Vereinigung der Seelen mit Gott" (577). „Gott theilet zu erst der Seelen mit eine lebendige Krafft/ geistliche Empfindlichkeit und Bewegung. So bald Gott zu der Seelen kompt/ läst er seine Gegenwart spüren durch einen hellen Schein des Verstandes/ durch den Schmack der Andacht/ durch Freudensprung der Liebe/ durch hertzliches umbfahn. Gott offenbaret sich der gläubigen Seelen und sein gantzes Hertz. Durch die liebliche Tröstung küsset er uns mit dem Kuß seines Mundes/ erqickt mit den blumen seines edlen geruchs/ erlabet mit den Epfeln seiner Liebligkeit. Er legt seine Lincke unter unser Haupt/ und seine Rechte küsset uns. Er versenckt sich gantz ins Hertz hinein [...]" (579). Zu dieser 15. Betrachtung des 2. Teiles vgl. Arndts Traktat aus dem späteren V. Buch des wahren Christentums: „Von der Vereinigung der Gläubigen mit Christo Jesu, ihrem Haupte." Hier gibt es Berührungen bis in wörtliche Formulierungen, z.B. Kap. 7 bei dem Kommen des Bräutigams: „Schmack der göttlichen Süssig-
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keit Lütkemanns zu derjenigen Arndts. Das ganze 36. Kapitel des ersten Buches von Arndts „Wahrem Christentum" kann man als Keimzelle für die Entfaltung von Lütkemanns „Vorschmack göttlicher Güte" ansehen. Hier ist das „Schmecken" des verborgenen, himmlischen Manna, d.h. der Gütigkeit Gottes, als Verwandlung des Wortes Gottes ins Leben vielfach variiert zum Ausdruck gebracht, und Arndt wird nicht müde, als Voraussetzung dafür die innere Überwindung der „Welt", die Weltliebe kontrastreich als Bitterkeit gegenüber der Süßigkeit des himmlischen Trostes auszumalen.53 Das ganze Thema des „Schmeckens" der Güte Gottes steht aber auch bei Arndt unter dem Vorzeichen des kommenden Herrn, der schon jetzt in schwachen Anfängen beginnenden Lieblichkeit des ewigen Lebens.54 Sie kann schon jetzt als „Vorschmack des ewigen Lebens" genossen werden.55 Wie kommt es aber zu solchem „Schmecken" der Güte Gottes als einer den ganzen Menschen umfassenden innerlichen Empfindung? Es ist aufschlußreich, daß Lütkemann diese Frage ganz ähnlich wie Arndt beantwortet, indem er auf das Wort, und zwar das verbum externum der Schrift, als das entscheidende Mittel der inneren Glaubenserfahrung hinweist, dem es „nachzusinnen" gilt: „So kan nun einer nicht anders schliessen/ als daß der kein guter Christ ist/ der nicht dran gedenckt wie er Gottes Güte erkenne/ und in seinem Hertzen schmecke und empfinde. Da ists wol fragens wert/ wie man dazu komme/ daß wir Gottes Güte im Hertzen schmecken. Es ist kein Zweiffei/ man muß sich zu dem Worte halten/ darinnen Gott seine Güte zu
keit", „Schmack der Andacht", „Freudensprung der Liebe", „Schein des Verstandes", „Kuß des Friedens" (V. Buch v. wahren Christentum, Lüneburg 1685, 97/98). 53 „Wer einmal Gottes Gütigkeit geschmecket hat/ dem ist die Welt mit aller ihrer Lust die höchste Bitterkeit" (Ausgabe Lüneburg 1685, 241). „Denn wer das Manna schmecken wil/ der muß um Gottes Liebe willen die Welt verschmähen und überwinden. Wer das thun kan/ der wird den allersüssesten Trost des heiligen Geistes empfinden/ welchen niemand kennet/ denn der ihn empfähet" (242). Neben diesem Kapitel aus dem I. Buch steht der ganze 2. Traktat des V. Buches des wahren Christentums in ganz besonderer Nähe zu Lütkemanns Erbauungsbuch, besonders z.B. Π/19. 54 Das ganze Kapitel steht unter dem Wort aus Offb 2,17; wichtige biblische Bezüge weiterhin: Offb 3,20 und Hebr 6,4f. - Im Blick auf Ps 84,Iff. sagt Arndt: „Da lehret uns der liebe David/ daß die geringste Liebligkeit des ewigen Lebens/ übertreffe die grosseste Freude dieser Welt. [...] Und wer das einmal recht geschmecket hat/ dem ist dargegen alles bitter/ was in der Welt ist/ der wird der Welt müde und überdrüssig/ denn er hat etwas bessers und lieblichers empfunden." „Das lässt nun Gott seinen Geliebten widerfahren/ auff daß er dieselbe zu ihm ziehen möge/ damit sie das irdische vergessen. Geschieht aber das in diesem Leben/ da wir ein klein Brosamlein des verborgenen Manna essen. [...] Was wird denn dort geschehen im ewigen Leben/ da wir den Brunnen selbst haben werden?" (247f.). 55 Dieser Ausdruck begegnet auch bei Arndt verschiedentlich, wörtlich z.B. V. Buch des wahren Christentums, 2. Traktat, Kap. 7, 101 und in Abwandlung „Geschmack der ewigen Süssigkeit", ebd., Kap. 10, 110, der Sache nach Kap. 14, 120ff. und im 6. Kap. des ΠΙ. Buches (Ausgabe Lüneburg 1685).
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schmecken giebt; Und demselben muß man nachsinnen." 56 Diese letzten Formulierungen lassen durchaus die Vermutung zu, daß sich Lütkemann hierbei von einer spiritualistischen Auffassung abzugrenzen versucht, die dem äußeren Wort der Schrift keine wesentliche Bedeutung für die christliche Glaubenserfahrung zumißt.57 So wichtig das biblische Wort als notwendige Voraussetzung der inneren Gotteserfahrung ist, so wenig kann jedoch dazu eine äußerliche Erkenntnis des Schriftwortes helfen: „Die Schrift zeuget äusserlich von der Güte Gottes/ du aber must es innerlich empfinden." 58 Das „Nachsinnen" über das biblische Wort muß zur inneren Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes, d.h. zur Wiedergeburt des äußeren Menschen führen, die Lütkemann als Wirken des Geistes Gottes in der für Gott „leer" gewordenen Seele beschreibt: „Derwegen/ willst du schmecken daß Gott gütig ist/ so reum ihm dein Hertz ein/ also daß du ein Geist mit ihm wirst/ und laß ihn in demselben wircken/ so wirst du solche Wercke finden/ daß du bekennen must und sagen: Warlich der Herr ist lauter Güte." 59 Im Anschluß an das auch von Arndt immer wieder zitierte Bibelwort aus 1. Joh 2, 15 ermuntert Lütkemann den einzelnen Gläubigen: „Solte aber Gott eine lehre Seele finden/ die würde er erfüllen mit seiner Gütigkeit/ und da würdest du mehr von Gottes Güte empfinden/ als tausend Zungen außsprechen können. So mache dich auf du Christliche Seele/ und versuch ob du auch mögest kommen zu der Erkenntniß göttlicher Güte. Wenn der heilige Geist raffet: Schmecket und sehet/ wie freundlich der Herr ist: So antworte: Hier bin ich Herr/ laß mich schmecken deine Güte." 60
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5. Man könnte an die Polemik des „mystischen Spiritualismus" gegen das „Äußere" im kirchlichen Christentum denken, z.B. an Christian Hoburg, oder auch an Schwenckfeld und Weigel. Lütkemann will dagegen wie Arndt an der notwendigen Verbindung von äußerem Wort und innerer Glaubenserkenntnis und -erfahrung festhalten, vgl. die Formulierung, „darinnen (im Wort) Gott seine Güte zu schmecken gibt". - Auch Arndt läßt die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in den Gläubigen an das Wort Gottes (schriftlich oder mündlich) gebunden sein: Gott selbst ist in und mit dem Wort gegenwärtig, vgl. V. Buch vom w. Christentum, 2. Traktat, Kap. 3, wie überhaupt diese selbstrechtfertigenden Traktate Arndts aus dem Jahre 1620 im V. Buch vom w. Christentum für sein Wortverständnis wichtig sind, aber auch schon Buch I, Kap. 6. - Zu Arndts „Worttheologie", vgl. B. Hamm (Anm. 4), bes. 61ff. Die von Hamm herausgestellte Parallelität zwischen äußerem und innerem Wort bei Arndt trifft m.E. auch auf Lütkemann zu. 58 6. „Wenn Gott sich selbst nicht offenbaret und innerlich zu erkennen gibt/ so weist du nicht was Gott ist" (ebd.). 59 6. 60 6f. Angesichts dieser Stelle und der zahlreichen Passagen über das Ziel der Liebe Gottes in seiner Vereinigung mit der Seele des Menschen liegt es nahe, auch hier von einem unvermittelten Berührtwerden der Seele durch Gott zu reden, wie es Hamm im Blick auf Arndt tut: „Diese Begegnung mit dem inneren Zeugnis des Heiligen Geistes bringt inhaltlich zum äußeren Zeugnis des biblischen Wortes und seiner Verkündigung nichts Neues hinzu. Neu ist vielmehr die durch die Kraft des Heiligen Geistes
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Der Grand für Gottes Güte61 liegt nicht eigentlich darin, daß er uns geschaffen hat, sondern vor allem in seiner Neuschöpfung, wodurch er uns zu neuen Kreaturen gemacht hat durch Christi Blut.62 Als lebendiger Gott nimmt er Wohnung in der gläubigen Seele, so daß sie ein „heiliges Verlangen" nach ihm empfindet.63 Das Ziel der Liebe Gottes ist seine Vereinigung mit der Seele des Menschen, die in verschiedenen Bildern als innigste Liebesbeziehung beschrieben wird.64 Nachdem Lütkemann als Voraussetzung für den Vorschmack der Güte Gottes in mannigfaltigen Variationen stets die „Verschmähung der Welt" herausgestellt hat, hebt er eigens hervor, daß dies nicht als Abkehr von der Welt im sozialen Sinn gemeint sei. Das Sichöffnen für die Güte Gottes ist ein innerseelischer Vorgang, der die alleinige „Lust an Gott" inmitten des äußerlich-kreatürlichen Lebens meint. Die Kreaturen Gottes sollen zu unserem Nutzen gebraucht werden, ohne daß sich unser Herz daran hängt: „Es ist nicht nötig/ Lieben Christen/ daß ihr auß der Welt läuffet/ wir können die Creaturen Gottes zu unserem Nutz brauchen/ dazu seyen sie erschaffen. [...] Aber das Hertz daran hangen/ das tauget nicht."65 Gerade an diesen Ausführungen Lütkemanns mit ihren wiederholten Postulaten macht sich die innere Schwierigkeit bemerkbar, die der Absage an eine falsche Weltflucht innerhalb einer mächtigen weltentsagenden Strömung anhaftet: „Doch hats die Meynung nicht/ wenn wir von Verschmähung der Welt reden/ als wenn wir
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geschenkte Erfahrung der Kraft des geistlich verstandenen Wortes, die als Kraft der Erneuerung in die Seele des Menschen einströmt" (Anm. 4, 62). In der 2. Betrachtung gibt Lütkemann für diesen Grundbegriff seines Werkes folgende Beschreibung: „Gütigkeit ist ein geneigter Wille immerdar Gutes zu thun nach äusserstem Vermögen/ von Hertzengrund/ mit freudigem Gemüth/ auch ohn einige vorhergehende Verschuldung" (9). 17. „Wie Gottes Güte in uns ein heiliges Verlangen nach Gott erwecke" (1/11, 142ff.). „Gott wohnet nicht in einem Tempel von Holtz und Stein gemacht. Die gläubige Seele ist Gottes Wohnung. Wenn sich Gott in der gläubigen Seelen mercken lasset/ wie lieblich seynd seine Wohnungen?" (148). Vgl. Arndt, „Wahres Christentum", Buch HI, 7 u.ö. „Wo ist grössere Gemeinschaft als zwischen einem Weib und der Frucht die noch unter ihrem Hertzen verschlossen lieget? Da lieget das liebe Kind und sorget für nichts/ es ziehet allen Saft und Kraft auß der Mutter/ und wird bewahret durch die Sorgfältigkeit der Mutter. Ach daß ich mich erkennen könte unter dem Hertzen meines Gottes/ Wie ich in seiner Liebe und Treue eingeschlossen bin/ und tausendmal besser verwahret/ als ein Kind unter dem Hertzen der Mutter" (19). Gegenüber neun Monaten Schwangerschaft stellt Lütkemann die Treue Gottes das ganze Leben lang. Vgl. auch Π/15 „Von der Vereinigung der Seelen mit Gott" (577ff.). 1/12 (154f.). Unter Kreaturen Gottes versteht Lütkemann sowohl die Natur wie die sog. Mitteldinge Geld, Gut, Ehre, Macht, Gewalt. Davon unterscheidet er die an sich selbst sündlichen Dinge wie fleischliche Lust, Rache und üppiges Leben in Verbindung mit Geiz. - Augustins berühmte Unterscheidung von uti und frui liegt hier nahe, auch - und wohl nicht von ungefähr im augustinischen Kontext - das Weltverständnis Arndts, s. u. Hinweise oben.
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uns keiner weltlichen Handtierung dürffen annemen. Es m u ß ja ein unterscheid seyn/ z w i s c h e n d i e s e m natürlichen und künftigen himmlischen Leben. Hie m ü s s e n wir Gott dienen bey unserem Beruff und Geschäften/ und etwas redliches arbeiten/ dort dienen wir Gott/ ohne Sorg und Arbeit. Ich kan mit D a v i d ein K ö n i g seyn/ und mit S a l o m o n alle Herrlichkeit der Welt besitzen/ und d e n n o c h m e i n e Lust allein an Gott haben. Fällt dir Reichthum zu/ fällt dir Ehre zu/ so hange das Hertz nicht daran/ sondern laß dennoch Gott deine Ehr und Reichthum seyn; Mustu aber in Schmach und Armuth leben/ nimb auch vorlieb/ und laß dich daran begnügen daß du reich und geehret in Gott bist." 66 In diesen Worten haben wir ein bemerkenswertes Zeugnis aus der lutherischen Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts z u m Problemkreis Reichtum und Armut in der Tradition des K l e m e n s v o n Alexandrien vor uns! D a s Ziel dieser seelsorgerlichen Anleitung zur Orientierung in der W e l t ist es, allein die Ruhe und Lust in Gott, und nicht in den Kreaturen zu suchen. D i e innere Anlehnung an das G e s c h a f f e n e bringt nur neuen Mangel und neue Begierde hervor. 6 7 Unter allen Kreaturen hat Gott seine höchste Liebe allein der S e e l e des M e n s c h e n zugewandt, darum kann sie auch nur in der liebenden Antwort auf diese Liebe inmitten der Welt, aber in innerer Überwindung ihrer Mächte, schon hier ihr G e n ü g e finden. 6 8 66 152f. 67 1/13, 162. Vgl. Arndt, „Wahres Christentum", V, 2, 10 und die Eingangsmeditation zu Augustins Confessiones! 68 , 3 s ist nichts unter allen Creaturen/ das Gott so lieb ist/ als die Seele des Menschen. Die liebt er als seine Braut. Umb der Seelen willen ist Gottes Sohn vom Himmel gestiegen/ umb der Seelen willen hat er Schmach und Schmerzen gelitten. Weil denn Gott so eine überauß große Liebe zu deiner Seelen trägt/ Ο Menschen Kind/ solltestu nicht hin wieder alle deines Hertzens-Lust und genug an Gott haben und suchen?" (159). - Diese Liebe zur menschlichen Seele beschreibt Lütkemann in einer eigenen langen Betrachtung als Grund für ihre Schönheit („Von der gläubigen Seelen Schönheit", Π/16, 600ff.). Das Motiv von der Seelenschönheit, das auch bei Arndt begegnet (u.a. „Wahres Christentum" Buch ΠΙ/4; IV, 6), hat eine lange Tradition, die sich von Plato über das ganze Mittelalter erstreckt, u.a. bei Hugo von St. Victor und Bonaventura (hier als Abbild der Schönheit Jesu). Für Lütkemann ist es die wichtigste Ausdruckweise für die herausragende Stellung der Seele inmitten der anderen Kreaturen Gottes (neben der biblischen Ebenbildlichkeit). Vgl. dazu R. Mohr, Art. Erbauungsliteratur ΙΠ, TRE 10, 1982, 60 (Vergleich mit Paul Gerhardts ebenfalls 1653 entstandenen Lied „Geh aus mein Herz"). Die Betrachtung über die Schönheit der von Gott geliebten Seele (Mohr: „Ihre Schönheit ist nicht die Ursache der Liebe Gottes, sondern umgekehrt: die Liebe Gottes ist die Ursache für die Schönheit der Seele, 60) steht in enger Beziehung zu der Betrachtung „Von der Gerechtigkeit des Glaubens" (U/11): „Denn damit daß er dich gerechtfertigt hat durch Christum/ hat er dich so schön gemacht" (603f.). Man wird die Bildhaftigkeit des Ausdrucks von der Seelenschönheit als eine Veranschaulichung des Rechtfertigungs- und Wiedergeburtsgeschehens ansehen müssen, das Lütkemann durchaus im Rahmen orthodox-lutherischer Theologie vortragen kann: „Es bestehet die Gerechtigkeit des Glaubens darin/ daß wir auß Kindern des Zorns werden liebe Kinder Gottes/ daher heisset sie auch Wiedergeburt. Es gehöret aber zweyerley dazu/ Vergebung der Sünden/ und das Recht göttlicher Kindschaft" (486). „Der Glaube ist gleichsam die Hand/ damit wir annehmen/ was in Christus uns angetragen wird. Sie ist die erste
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Johann Arndt und Joachim Lütkemann
Mit diesen knappen Hinweisen auf die frömmigkeitstheologische bzw. eschatologische Struktur der beiden Erbauungsbücher Johann Arndts und Joachim Lütkemanns deutet sich m.E. ein Weg an, auf dem das hier so stark betonte, sich diesseitig verwirklichende Gnadenreich Christi in den gläubigen Seelen auch weitergehende, durchaus chiliastisch zu nennende Züge annehmen konnte. Denn der besondere Akzent, den die chiliastische Zukunftshoffnung zu diesem verinnerlicht-aktualisierten Reich Gottes in der Frömmigkeitsanschauung Arndts hinzusetzte, ist eine zeitliche Verschiebung der gegenwärtigen Glaubenserfahrung und -hoffnung in Richtung auf eine baldige Zukunft, in der Gott seine Herrschaft auch äußerlich-sichtbar für seine Gläubigen manifestieren wird. Die schon von Gottes Geist erfüllte Gegenwart eröffnet eine hoffnungsvolle Perspektive, in der weitere baldige Gnadenwirkungen zu erwarten sind. Charakteristisch für diese Sicht ist das Zeugnis des Arndtschülers Paul Egard, der schon kurz nach Arndts Tod seine Zukunftshoffnung als Erfüllung der letzten Prophezeiung vor dem Ende der Welt unmittelbar mit dem Wirken Johann Arndts verband: „Kürtzlich, was durch Ampt und Dienst des erleuchteten und gottfürchtigen S. Johann Arnd ist angefangen, das wird durch den Geist Christi herrlicher werden." 69 Es ist eine bekannte Tatsache, daß der „nachreformatorische Protestantismus die dezidierte Absage der Reformation an den Chiliasmus nicht durchgehalten und, wohl zuerst im Pietismus, die eschatologische Frage in der Zuspitzung auf das Problem des Reiches Gottes zu einem theologischen Zentralthema gemacht hat"70. Auf dem Weg dorthin nimmt m.E. Johann Arndt und die sich an ihn anschließende Frömmigkeitsbewegung eine entscheidende Weichenstellung ein. Wir meinen, daß die Öffnung des Arndtianismus auf den Chiliasmus schon in der Art und Weise angelegt ist, in der Arndt selbst auf Verwirklichung, Vergegenwärtigung und Verinnerlichung des christlichen GlaubensGabe/ so der heil. Geist durchs Wort in uns wircket/ ohn welchen wir zu der Gemeinschafft des ewigen Gutes nicht kommen können" (494). Die Rede von der Seelenschönheit ist bei Lütkemann wiederum eng mit der bernhardinischen Hohelied-Frömmigkeit verbunden (Π/15 und 16). Wie sehr diese Frömmigkeitssprache in der Mitte des 17. Jahrhunderts im Kirchenvolk verbreitet war, zeigen auch die Gesangbuchausgaben von Johann Crügers „Praxis pietatis melica" zusammen mit den Vorreden. Vgl. dazu Chr. Bunners Philipp Jakob Spener und Johann Crüger. Ein Beitrag zur Hymnologie des Pietismus, Theol. Versuche XIV, Berlin 1985, 105-130: 111. Nach Lütkemann haben Heinrich Müller und Christian Scriver diese Frömmigkeitstradition fortgesetzt. Vgl. zu Heinrich Müller in seiner Beziehung zu Lütkemann Chr. Bunners, Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zu Frömmigkeit und Musik im Luthertum des 17. Jahrhunderts, Berlin 1966, 113ff. und zu Scrivers berühmtem und einflußreichen Erbauungsbuch „Seelenschatz" (aus Magdeburger Predigten hervorgegangen 1675-1692) M. Schmidt, Christian Scrivers ,Seelenschatz'. In: Wiedergeburt und neuer Mensch, AGP 2, Witten 1969,112-128. 69 Zitiert nach J. Wallmann, Reich Gottes und Chiliasmus (Anm. 13), 116. 70 J. Wallmann, ebd., 105.
Lütkemanns „Vorschmack göttlicher Güte"
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gutes drängte. Damit zeichnet sich in der Frömmigkeitsanschauung Arndts und seiner Nachfolger jene, die neuere Theologiegeschichte so nachhaltig bestimmende Entwicklung ab, in der mit Speners Hoffnung bessere Zeiten für die Kirche und mit Johann Salomo Semlers Perfektibilitätsgedanken ein wesentliches Strukturelement der theologischen Neuzeit in der Zeit des Pietismus und der Aufklärung sichtbar wird.71
71
S. dazu G. Hornig, Der Perfektibilitätsgedanke bei J.S. Semler. In: ZThK 72, 1975, 381-397.
Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit Rückblick und Ausblick auf die Diskussion in der gegenwärtigen
Forschung
Von der Thematik der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes bei Luther bis zu einem lutherischen Hofprediger und Erbauungsschriftsteller in der Mitte des 17. Jahrhunderts ist der zeitliche und inhaltliche Rahmen abgesteckt, in dem mit diesen Aufsätzen das deutsche Luthertum der Frühen Neuzeit im Zentrum des Interesses steht. Zur Verständigung mit der erfreulich vielgestaltigen und lebendigen Frühneuzeitforschung der Gegenwart möchte ich einige Aspekte hervorheben, die mir von der kirchen- und theologiegeschichtlichen Perspektive aus bei der Interpretation zentraler Phänomene im deutschen Luthertum im späten 16. und im 17. Jahrhundert wichtig erscheinen. Ich tue dies in der Weise, daß ich anhand der Themenbereiche in diesen Aufsätzen noch einmal zusammenfassend Rückschau halte und sodann im Blick auf die gegenwärtige Forschungsdiskussion vor allem die strittigen Fragen und Aspekte zu benennen und meine Sicht darzulegen versuche, so daß das Gespräch in möglichst klaren Konturen fortgesetzt werden kann. Zunächst einige Reflexionen zu den Hauptbegriffen im Titel dieser Aufsatzsammlung. Für das 16. und 17. Jahrhundert wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Epochenbegriffe vorgeschlagen und diskutiert, die jeweils mit bestimmten inhaltlichen Vorentscheidungen und Implikationen verbunden sind.1 Wenn ich vom „Luthertum der Frühen Neuzeit" spreche, so schlie1
Z.B. „Spätreformation", „Reformorthodoxie", „Zeitalter des Barock". Der bisherige, für den nachreformatorischen Protestantismus durch Ernst Troeltsch geprägte und übliche Begriff „altprotestantische Orthodoxie" ist heute weithin in Abgang gekommen. Hintergrund dafür ist vor allem die seit einiger Zeit in der historischen Frühneuzeitforschung schon weit ausdifferenzierte Perspektive von der „Konfessionalisierung" im frühneuzeitlichen Europa. Daß diese lebhafte Diskussion in der kirchenhistorischen Forschung auf fruchtbaren Boden fiel, zeigen die drei wissenschaftlichen Symposien, die der Verein für Reformationsgeschichte 1985, 1988 und 1993 veranstaltet hat. In drei Bänden liegen die Diskussionsbeiträge vor: Heinz Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland - das Problem der „zweiten Reformation" (SVRG 195), Gütersloh 1986; Hans-Christoph Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (SVRG 197), Gütersloh 1992; Wolfgang Rein-
Politik, Theologie und Frömmigkeit
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ße ich mich bewußt an einen inhaltlich w e n i g bestimmten und weitgefaßten Begriff an, der sachliche Schwerpunktsetzungen nicht nur ermöglicht, sondern erforderlich macht, j e d o c h selbst nicht schon in vorschneller W e i s e voraussetzt. 2 O b w o h l die historische Situation i m deutschen Luthertum des 17. Jahrhunderts, und hier besonders in seiner ersten Hälfte, i m Mittelpunkt der meisten A u f s ä t z e steht, soll doch der enge thematische Zusammenhang z w i schen Luther und der lutherischen Reformation mit d e m nachfolgenden Luthertum z u m Ausdruck kommen, w a s mit den Epochenbezeichnungen d e s knappen Jahrhunderts z w i s c h e n d e m Augsburger und d e m Westfälischen Frieden nur unzulänglich möglich ist. 3 A n einigen wichtigen Stellen erstreckt sich der zeitliche Rahmen auch über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus. 4 Aber der Schwerpunkt liegt auf d e m Luthertum des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, also in jener Zeit der lutherischen Orthodoxie, die in der Forschung der jüngsten Vergangenheit besondere Aufmerksamkeit g e f u n d e n
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hard und Heinz Schilling (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung, (SVRG 198), Gütersloh 1995. Vgl. dazu ausführlich und instruktiv: Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte. In: ThLZ 121, 1996, 1008-1025 und 1112-1121. Siehe auch den einführenden Vortrag von Johannes Wallmann: „Lutherische Konfessionalisierung - ein Überblick". In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, 33-53. Dies gilt besonders für den Begriff „Reformorthodoxie", der sich recht hartnäckig in der Forschung der letzten Jahrzehnte zu halten verstand, obwohl er das völlig unzutreffende Bild einer gespaltenen Orthodoxie in tote Abstraktheit und lebendige Reformgesinnung zu suggerieren versucht. Vgl. Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft (Anm. 1), 1008f. Den Begriff „konfessionelles Zeitalter", der auch inmitten der Konfessionalisierungsdebatte als Epochenbegriff weiterhin sinnvoll erscheint, habe ich hier nicht benutzt, da er in der deutschen Kirchengeschichtsschreibung weithin immer noch vom Augsburger Religionsfrieden ausgehend verstanden wird. Dies hat m.E. auch weiterhin seine guten Gründe! In der neueren Geschichtswissenschaft wird das „konfessionelle Zeitalter" jedoch nicht mehr in der Tradition von Leopold von Ranke ab 1555 datiert, sondern schon von den 20er bzw. 40er Jahren des 16. Jahrhunderts an. Vgl. Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: ARG 68, 1977, 226-251; Harm Klueting, Das konfessionelle Zeitalter 1525-1648 (UTB 1556), Stuttgart 1989, 13ff.; Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620. In: HZ 246, 1988, 1—45; Ders., Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft - Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas. In: Die katholische Konfessionalisierung. Hg. v. W. Reinhard und H. Schilling. SVRG 198, Gütersloh 1995, 1-47. Das gilt vor allem für den Aufsatz über die Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der deutschen lutherischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts, der einen größeren zeitlichen Überblick erforderte. Bei dem Hofprediger Hedinger um 1700 soll das charakteristische Ineinander von orthodox-lutherischen und pietistischen Handlungsmotiven in ein und derselben Person verdeutlicht werden.
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Politik, Theologie und Frömmigkeit
hat.5 Aber nicht die Konkordienformel und das Konkordienbuch sowie ihre Rezeptionsgeschichte und auch nicht die klassischen Themen der Dogmatik und Polemik stehen im Mittelpunkt unseres Blickes auf das Luthertum im orthodoxen Zeitalter,6 sondern die lutherisch-orthodoxe Predigt der Theologen in leitenden Kirchenämtern, vor allem im Hofpredigeramt. Predigten und Erbauungsschriften bilden die Hauptquellen der vorliegenden Aufsätze, eine Literaturgattung, die vom Selbstverständnis der lutherischen Kirche her besonders geeignet ist, Einblicke in Theologie und Frömmigkeit des Luthertums in charakteristischer Weise zu eröffnen. Da das Medium der Predigt für fast alle lutherisch-orthodoxen Theologen selbstverständlich war und von ihnen in überaus reichem Maße praktiziert wurde,7 kann von hier aus auch der einseitige Blick auf die Theologie in Gestalt von dogmatischer Lehre überwunden und die spannungsvolle Einheit von Lehre, Verkündigung und Frömmigkeit gerade in dieser Zeit wie in kaum einer anderen ernst- und wahrgenommen werden. Auch die interdisziplinäre Forschung hat an der lutherisch-orthodoxen Predigt ein besonders reiches Arbeitsfeld.8 5
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Außer der Arndt-Forschung, auf die ich unten weiter eingehe, nenne ich nur: Johannes Wallmann, Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1995; Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit (QFRG 62), Gütersloh 1996; Thomas Kaufmann, Universität und lutherische Konfessionalisierung (QFRG 66), Gütersloh 1997. „Die kirchen- und theologiegeschichtliche Erforschung auch des späten 16. Jahrhunderts konzentriert sich neuerdings in einem erstaunlichen Maße auf Konkordienformel und Konkordienbuch" (Johannes Wallmann, Lutherische Konfessionalisierung - ein Überblick. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland [Anm. 1], 33-53: 50). Für diese Beobachtung stehen u.a. zwei umfangreiche Werke: Inge Mager, Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag Rezeption - Geltung (SKGNS 33), Göttingen 1993; Irene Dingel, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts (QFRG 63), Gütersloh 1996. Dies ist in der Tat ein Wandel gegenüber der älteren Forschung, bei der der Schwerpunkt auf der Dogmatik im nachreformatorischen Protestantismus lag. So z.B. bei Otto Ritsehl, Dogmengeschichte des Protestantismus, Bd. ΠΙ und IV, Göttingen 1926 und 1927; Hans Emil Weber, Der Einfluß der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodox-lutherische Dogmatik, Leipzig 1908, Nachdruck Darmstadt 1969. Ausnahmen bilden nur Georg Calixt und Abraham Calov, von dem nur wenige Predigten überliefert sind. Vgl. Hans-Christoph Rublack, Lutherische Predigt und soziale Wirklichkeiten. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 1), 344—399. Aus der Schule von Rublack stammen drei wichtige, neuere predigtgeschichtliche Untersuchungen, die auf eine Zusammenarbeit mit der kirchengeschichtlichen Forschung geradezu warten: Monika Hagenmaier, Predigt und Policey. Der gesellschaftliche Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614—1639 (Nomos - Universitätsschriften 9.1), Baden-Baden 1989; Norbert Haag, Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm 1640-1740 (VIEG 145), Mainz 1992; Sabine Holtz, Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550-1750 (Spätmittelalter und Reformation NR 3), Tübingen 1993. Von kirchenhistorischer Seite neuer-
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Nicht nur für Theologie und Frömmigkeit, sondern auch für den Themenbereich „Politik" im deutschen Luthertum des 17. Jahrhunderts bilden Predigten und Erbauungsschriften die Hauptquelle. Dies gilt insbesondere für die Predigten der Hofprediger, die sie anläßlich bestimmter politischer Ereignisse wie Landtagseröffnungen, Antritt der Regierung eines neuen Herrschers, in Kriegszeiten oder bei Friedensschlüssen gehalten haben. Das politische Herrschaftsverständnis und die Vorstellungen über Rechte und Pflichten der weltlichen Obrigkeit werden somit nicht aus politiktheoretischen Schriften, sondern aus Predigten in ganz konkreten Situationen und Herausforderungen bei führenden lutherischen Theologen herauszustellen versucht. Inwiefern bestimmte Ausprägungen der Frömmigkeit mit der Politik in einem frühneuzeitlichen lutherischen Territorialstaat in Zusammenhang stehen, ist eine wichtige und aufschlußreiche Fragestellung, die nur aus der Zusammenarbeit verschiedener Forschungsrichtungen zu einigermaßen plausiblen Einsichten führen kann.9 Auf eine solche, auf gegenseitige Anregung und Ergänzung angelegte Diskussion im Rahmen schwerpunktmäßig unterschiedener Forschungsansätze sind diese Beiträge zum historischen Verständnis des Luthertums in der Frühen Neuzeit konzipiert. Sie verleugnen nicht das Hauptinteresse der kirchen- und theologiegeschichtlichen Erforschung der lutherischen Orthodoxie. Aber indem sie den jeweils konkreten historischen Ort des individuellen und gesellschaftlichen Lebens im geschichtlichen Wandel herauszustellen und zu reflektieren versuchen, stehen Aspekte der Politik, Theologie und Frömmigkeit im frühneuzeitlichen Luthertum sowohl in ihren gedanklichen wie lebensweltlichen Zusammenhängen im Zentrum des Interesses. Die beiden ersten Aufsätze sind dem Denken und Handeln Martin Luthers gewidmet. Damit kommt die große Bedeutung zum Ausdruck, die die Person Martin Luthers für das nachreformatorische Luthertum hat. Die intensive Beziehung der lutherischen Theologen auf Luther kann geradezu als konfessionsspezifisches Phänomen des Luthertums im Gegenüber zu den anderen Konfessionen verstanden werden.10 Für die Thematik der politischen Ethik und der Geschichtsauffassung im Luthertum ist Luthers Auslegung des 101. dings: Albrecht Beutel, Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Dargestellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universitätskanzlers Tobias Wagner (1598-1680). In: ZThK 93, 1996, 419^149 und Ders., Art. Predigt
Vm. In: TRE 27, 1996, 296-302. 9
Hier ist besonders auf die Arbeiten von Dieter Breuer hinzuweisen: Dieter Breuer (Hg.), Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland (Chloe. Beihefte zum Daphnis Π), Amsterdam 1984 und Ders., Der Prediger als Erfolgsautor. Zur Funktion der Predigt im 17. Jahrhundert. In: Vestigia blibliae 3, 1981, 3 1 ^ 8 . 10 Thomas Kaumann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft (Anm. 1), 1018.
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Politik, Theologie und Frömmigkeit
Psalms aus der Anfangszeit der Regierung Kurfürst Johann Friedrichs von erstaunlich breiter und intensiver Nachwirkung gewesen. Deshalb wird zunächst diese Lutherschrift in ihrem Gesamtaufbau wahrzunehmen versucht und interpretiert. In der Lutherforschung hat sie m.E. bisher noch nicht eine ihrer Bedeutung und Wirkung entsprechende Interpretation erfahren.11 Für Luthers Auffassung vom Wirken Gottes in der Geschichte und der rechten Unterscheidung und Zuordnung seines geistlichen und weltlichen Regimentes hat diese Lutherschrift jedoch fundamentale Bedeutung. Besonders die lutherischen Hofprediger an den Fürstenhöfen größerer und kleinerer Residenzen haben sich in ihrer politischen Predigt immer wieder gerade auf Luthers Auslegung des 101. Psalms bezogen.12 Das Thema der Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes kommt im zweiten Aufsatz im Zusammenhang der Reflexion von entscheidenden historischen Grundsituationen der lutherischen Reformation sowie in Gestalt von Luthers Beziehungen zu seinen Landesherren zum Ausdruck. Wie sehr Luthers Stellung zur Obrigkeit von den konkreten Herrschaftsverhältnissen und von den Personen bestimmt ist, die für ihn Obrigkeit verkörpert haben, ist nicht nur für Luther selbst eine wichtige hermeneutische Grundeinsicht, sondern auch für das Obrigkeitsverständnis der lutherischen Theologen des späten 16. und des 17. Jahrhunderts. In drei Aufsätzen werden das Hofpredigeramt sowie einige charakteristische lutherische Hofprediger in ihrer historischen Situation und ihrem öffentlichen Wirken als Prediger, politische Ratgeber und Seelsorger dargestellt. Welche zentrale Bedeutung dem Hofpredigeramt in der frühneuzeitlichen Geschichte der Konfessionen zukommt, tritt erst nach einem langen Schweigen der kirchenhistorischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte in den letzten Jahren wieder verstärkt ins Blickfeld.13 Für Theologie und Kir-
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S. jedoch die instruktive Zusammenfassung bei Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 3: Die Erhaltung der Kirche 1532-1546, Stuttgart 1987, 15f. Auch der Aufsatz von Klaus Schwarzwäller, „Gewissenhafte Obrigkeit". Luthers politische Unterweisung, geht etwas näher auf diese Psalmauslegung Luthers ein. In: Luther, 62. Jg., 1991, 5 8 78. 12 Dies habe ich in meinem Buch Gottesfurcht und Fürstenherrschaft (FKDG 41), Göttingen 1988, dargestellt. 13 Dies gilt allerdings mehr für die allgemeinhistorische als die kirchengeschichtliche Forschung. S. die Untersuchung von Luise Schorn-Schütte über die Evangelische Geistlichkeit (Anm. 5) und Dies., Prediger an protestantischen Höfen der Frühneuzeit. Zur politischen und sozialen Stellung einer neuen bürgerlichen Führungsgruppe in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel von Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt und Braunschweig-Wolfenbüttel. In: H. Schilling und H. Diedericks (Hg.), Städtische Eliten in Deutschland und den Niederlanden vom 16.-19. Jahrhundert, Köln und Wien 1985, 275-336. - Eine wichtige kirchengeschichtliche Arbeit liegt leider noch nicht im Druck vor: Joachim Hahn, Zeitgeschehen im Spiegel der lutherisch-orthodoxen Predigt nach dem Dreißigjährigen Krieg - dargestellt am
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che, Obrigkeitsverständnis und Frömmigkeit im nachreformatorischen Luthertum sowie die vieldiskutierten Fragen nach seiner Stellung zu Politik und Gesellschaft im historischen Wandel stellen die Regenten- und Landtagspredigten der Hofprediger gewiß eine bedeutende, bisher noch viel zu wenig beachtete Quelle dar. Inwiefern bestimmte theologische Richtungen das Obrigkeitsverständnis der lutherischen Theologen beeinflußt haben, ist nicht nur eine Frage von theologiegeschichtlichem Interesse. So wichtig die Wahrnehmung der konkreten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ist, um das Gegenüber zwischen Geistlichkeit und weltlicher Obrigkeit in den frühneuzeitlichen lutherischen Territorien in einer bestimmten Phase ihrer Geschichte verdeutlichen zu können, so ist doch der charakteristische Einfluß bestimmter theologischer Denkstrukturen auf Verkündigung und Wirken führender Theologen nicht weniger bedeutsam. Das Gemeinsame und das je Besondere in der Stellung der lutherischen Theologen zu den politischen Herausforderungen ihrer Zeit ist nur aus der Zusammenschau verschiedener Fragestellungen erkennbar und darstellbar, so daß die sozialgeschichtliche und die theologiegeschichtliche Perspektive auf gegenseitige Ergänzung angewiesen sind. An dem Gegenüber zweier Hofprediger bzw. Generalsuperintendenten, die in zeitlicher und räumlicher Nähe zueinander stehen, wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die calixtinisch bestimmte Theologie im Rahmen des lutherisch-orthodoxen Obrigkeitsverständnisses einnimmt.14 Standen bisher mit Polykarp Leyser d.Ä., Martin Geier, Justus Gesenius und Michael Walther Hofprediger und Theologen in leitenden Kirchenämtern am Anfang und in der Mitte des 17. Jahrhunderts im Vordergrund, so wird an dem Beispiel des Hofpredigers Johann Reinhard Hedinger die Situation um 1700 deutlich. Nachdem sich die Ausbildung des frühabsolutistischen Territorialstaates nach dem Dreißigjährigen Krieg erheblich beschleunigte und auch die theologisch-kirchliche Gesamtlage seit dem Wirken Philipp Jakob Speners in Frankfurt bedeutsame Veränderungen mit neuen Impulsen und Herausforderungen auslöste, bekommen die Fragen nach Kontinuität und Wandlung im Obrigkeitsverständnis des Luthertums und seiner Stellung zur Welt besonderes Gewicht. Die „Welt" des 17. Jahrhunderts war jedoch ganz wesentlich durch den großen Krieg, unermeßliche persönliche Leiderfahrungen und Verwüstungen des Lebens in Stadt und Land und deren Folgen bestimmt. So liegt es nahe, anhand von ausgewählten Beispielen Beispiel des kursächsischen Oberhofpredigers Martin Geier. Diss, theol. evang. (masch.), Leipzig 1990. 14 Diese Frage müßte freilich noch weiter verfolgt werden. Neben Justus Gesenius wären die Predigten des Hofpredigers Christian Dreier in Königsberg heranzuziehen, um die Konturen einer durch die Nähe zu Calixt besonders akzentuierten lutherischen Obrigkeitsauffassung besser beantworten zu können. Vgl. Johann Weinberg, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten in Preußen (JAUK. Β 23), 1963.
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Stimmen zu Krieg und Frieden aus dem Luthertum näher ins Blickfeld zu rücken. Die Predigten Johann Michael Dilherrs beim Friedensfest in Nürnberg 1650 und die Friedenspoetik Johann Rists bieten eine gute Möglichkeit, auf diese bisher noch wenig beachtete Thematik einzugehen.15 Daß das eigentliche Profil dieser lutherischen Stimmen zum Frieden aus bewußter lutherischer Konfessionalität erwächst, hat nicht nur für die kirchen- und theologiegeschichtliche, sondern auch für die politik- und sozialgeschichtliche Erforschung der frühneuzeitlichen Konfessionen im Prozeß der werdenden Moderne erhebliche Bedeutung.16 In der allgemeinhistorischen Forschung zur Frühneuzeit haben sich in letzter Zeit verschiedene Untersuchungen ausführlich der lutherischen Predigt als Quelle zugewandt.17 Da auch in unseren Beiträgen vor allem an die Predigten der Theologen bestimmte Fragen gerichtet werden, ist es wichtig, sich über einige wesentliche Bedingungen in dem schwierigen Geschäft der Predigtinterpretation zu verständigen. In der evangelischen Theologie gehörte lange Zeit die Geschichte der Predigt zum Forschungsfeld der Praktischen Theologie. Diese Zeiten sind jedoch schon lange vorbei. Auch im Rahmen der Kirchen- und Theologiegeschichte hat die Predigt als Quelle historischer Untersuchungen nur in sehr bescheidenem Maße Aufmerksamkeit gefunden.18 Insofern können die neueren sozialgeschichtlich ausgerich-
15 Das 350jährige Jubiläum des Westfälischen Friedens im Jahre 1998 hat das Interesse auf diese vielgestaltige Literatur auch von kirchenhistorischer Seite geweckt. Martin Brecht hielt in der Fachgruppe Kirchengeschichte der Wiss. Gesellschaft f. Theologie im März 1997 in Berlin einen Vortrag über Johann Rist. Das Manuskript mit dem Titel: „Evangelische Friedensliteratur: der Bußruf Johann Rists" machte mir Martin Brecht freundlicherweise zugänglich. Ich danke ihm für die Anregung, Johann Rist mit Johann Michael Dilherr in Verbindung zu bringen. Ein interessanter Beitrag anläßlich des 350jährigen Jubiläums des Westfälischen Friedens ist den Trostbüchern für Soldaten aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges gewidmet: Johann Anselm Steiger, Bellum iustum, pax aeterna et consolatio militantium. Theologie und Ethik lutherischer Trostschriften für Soldaten zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In: ZRGG 50,1998,298-316. 16 Vgl. die sehr instruktiven Studien von Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur (BHTh 104), Tübingen 1998. 17 S. Anm. 8. 18 Abgesehen von den schon etwas weiter zurückliegenden, wichtigen Untersuchungen zu den Leichenpredigten von Eberhard Winkler (Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener, FGLP R. 10,34, München 1967) und Rudolf Mohr (Der unverhoffte Tod. Theologie- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu außergewöhnlichen Todesfällen in Leichenpredigten, Marburger Personalschriften-Forschungen 5, Marburg 1982) haben sich in letzter Zeit m.E. nur Thomas Kaumann (Universität und lutherische Konfessionalisierung [Anm. 5]) und Albrecht Beutel (Anm. 8) von kirchenhistorischer Seite der lutherisch-orthodoxen Predigt zugewandt. Ein sehr erfreuliches Zeichen, daß auch die Praktische Theologie die historische Dimension bei der homiletischen Analyse wieder verstärkt ins Blickfeld rückt, ist der
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teten Untersuchungen zur orthodox-lutherischen Predigt nur ausdrücklich begrüßt werden. Es ist verständlich, wenn hier auf die Deutung der sozialen Lebenswirklichkeiten in der Predigt besonders abgehoben wird und die Akkomodation der Lehre an die Aufnahmefähigkeiten der Hörer bzw. die „Einprägungsarbeit" der lutherischen Theologen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Zweifellos ist die Predigt in der Frühen Neuzeit das entscheidende Vermittlungsmedium zwischen kirchlicher Lehre und Alltagswirklichkeit, zwischen Prediger und Gesellschaft. Aber zu ihrer rechten Wahrnehmung auch im Rahmen bestimmter Fragestellungen in historischen Untersuchungen muß doch die Ausgangssituation einer konkreten Verkündigungshandlung so deutlich wie möglich ins Blickfeld treten. Predigt als Quelle historischer Erkenntnis läßt sich m.E. nur aus ihrem Gesamtzusammenhang interpretatorisch erschließen, so daß Textaussage, theologische Gedankenführung und die Applikation an die Hörer in gleicher Weise zu beachten sind. Wenn die Predigt in erster Linie als Normaussage verstanden wird, die die Funktion hat, „den Hörern Normen und Mittel zur Bewältigung und Deutung ihrer Lebenswelt und zur Führung eines gottgefälligen Lebens an die Hand zu geben"19, so wird damit ein Aspekt zu einseitig hervorgehoben und die Predigt in ihrer Gesamtaussage und nach ihrem Selbstverständnis nicht gebührend beachtet. Denn Predigt ist Verkündigung von Gesetz und Evangelium an konkrete Menschen in bestimmten Zeiten und Räumen, und nicht nur Erziehungs- bzw. Mahnrede! Ob das Verhältnis von Predigt und Gesellschaft in den Kategorien einer Einprägungsarbeit der Kultur der Elite auf die populäre Kultur zu beschreiben ist, scheint mir außerordentlich fraglich zu sein. Wie lassen sich die Wirkungen von Predigt als Leistungen eines Akkulturationsprozesses sinnvoll erfassen?20 Solche kritischen Fragen werden nicht aus einer Perspektive gestellt, die den Anspruch erhebt, den rechten Zugang zur Erschließung der Predigt als historische Quelle schon gefunden zu haben. Auch in der theologischen Forschung ist oft genug mit vorgefaßten Schemata an Predigten herangegangen worden.21 Es wäre schon viel gewonnen, wenn überhaupt in Zukunft die Pre-
Band anläßlich des 70. Geburtstages von Hans Martin Müller: Wegmarken protestantischer Predigtgeschichte. Homiletische Analysen. Hg. von Albrecht Beutel und Volker Drehsen, Tübingen 1999. 19 Monika Hagenmaier, Predigt und Policey (Anm. 8), 74f. Vgl. auch W. Sommer, Rezension dieses Werkes. In: ZBKG 61,1992, 206-209. 20 Norbert Haag, Predigt und Gesellschaft (Anm. 8), 416ff. Vgl. die Rezension dieser Arbeit durch Ernst Koch. In: ThLZ 123, 1998, 1000-1002, die jedoch diese kritischen Anfragen nicht stellt. 21 Ein Beispiel dafür ist leider das umfangreiche, reiches Material ausbreitende Werk von Ulrich Asendorf, Die Theologie Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1988. Hier ist die Fülle der Predigten Luthers nach dogmatischen Loci zu ordnen versucht worden, ohne die jeweiligen Predigten an ihrem konkreten homiletischen Ort wahr-
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digt in der nachreformatorischen Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte stärkere Beachtung fände, so daß, ausgehend von der Haupttätigkeit der Pfarrerschaft und ihrer größtmöglichen Ausstrahlung in alle Bevölkerungskreise, die Konturen der frühneuzeitlichen Konfessionskirchen und Gesellschaften deutlicher gezeichnet werden könnten. In das frühneuzeitliche Luthertum wirkt Luther nicht nur mit seiner Auffassung vom Wirken Gottes in der Geschichte und der Unterscheidung und Zuordnung seiner beiden Regimente wesentlich hinein, sonder auch als Person in durchaus heilsgeschichtlicher Perspektive. Dieses Lutherbild22, das bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Luthertum vorherrscht, ist ein wesentlicher Teil seines Selbstverständnisses im Gegenüber zu den anderen Konfessionen. Nicht auf den dogmatisch richtig lehrenden oder polemisch streitenden Luther trifft diese Rückbesinnung, sondern auf den prophetisch-geistlichen Lehrer und Warner, der mit seinem persönlichen Glauben ermutigend und tröstend in die persönliche Erfahrungswelt der Glaubenden hineinwirken möchte. An diesem nachreformatorischen Lutherbild und der Tradierung der Luther-Prophezeiungen im späten 16. und im 17. Jahrhundert wird das intensive Endzeitbewußtsein deutlich, das den frühneuzeitlichen Protestantismus insgesamt prägt. Aber gerade hier, bei den eschatologischen Problemstellungen, sind noch viele Fragen offen.23 Gerade deshalb ist es sinnvoll, diese in viele weitere Bereiche ausstrahlende Thematik mit bestimmten Aspekten zu verfolgen. Sie hat auch eine zentrale Bedeutung in der gegenwärtig besonders strittig geführten Diskussion um die rechte Verhältnisbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus.24 An den Wandlungen des theologischen Höllenbildes und den Vorstellungen von der Ewigkeit der Strafen im Jüngsten Gericht werden die üblichen Schematisierungen der neueren Theo-
und emstzunehmen. Vgl. auch die Renzension von Albrecht Beutel. In: LuJ 57, 1990, 288-290. 22 Robert Kolb, Umgestaltung und theologische Bedeutung des Lutherbildes im späten 16. Jahrhundert. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 1), 202-231. 23 Johannes Wallmann, Reich Gottes und Chiliasmus in der lutherischen Orthodoxie. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 105-123. Dieser Aufsatz mit seinen ganz neuen Quellenerschließungen und Interpretationen macht die Fruchtbarkeit und Notwendigkeit der Erforschung der frühneuzeitlichen Eschatologie besonders deutlich. Vgl. auch PuN 14, 1988: Chiliasmus in Deutschland und England im 17. Jahrhundert; Hartmut Lehmann, Das 17. Jahrhundert als Endzeit. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 1), 545-554. 24 Johannes Wallmann, Fehlstart. Zur Konzeption von Band 1 der neuen „Geschichte des Pietismus". In: PuN 20, 1994, 218-235; Martin Brecht, Zur Konzeption der Geschichte des Pietismus. Eine Entgegnung auf Johannes Wallmann. In: PuN 22, 1996, 226-229.
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logiegeschichte in „orthodox", „pietistisch" bzw. „aufklärerisch" recht fragwürdig. Dennoch meine ich, daß das eigentliche Thema in der Theologiegeschichte des 17. Jahrhunderts, das Verhältnis von Lehre und Leben, im Pietismus nicht nur graduellen Wandlungen unterworfen ist, sondern insgesamt unter andere Vorzeichen tritt, so daß mit Speners „Hoffnung besserer Zeiten" eine Neuorientierung verbunden ist, die das Geschichtsbild und das Kirchenverständnis gegenüber der vorangegangenen Zeit folgenreich verändert. In den vier letzten Beiträgen steht diejenige Gestalt im Zentrum der Interpretation und Reflexion, die auch schon zuvor mehrfach ins Blickfeld getreten ist: der umstrittene Johann Arndt! An der Wahrnehmung und Deutung seiner Schriften und ihrer immensen Wirkungsgeschichte sowie dem Versuch einer historisch plausiblen Verständigung über seine Intentionen entscheiden sich in der gegenwärtigen Forschungslage die Akzentsetzungen in der Erforschung des gesamten frühneuzeitlichen Luthertums. Aber auch darüber hinaus kommt der Stellung Johann Arndts nicht nur im Rahmen der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte, sondern auch im Blick auf die Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit erhebliche Bedeutung zu.25 Thematische Schwerpunkte in unserer Arndt-Interpretation sind zunächst Beobachtungen an seinem Naturbild im vielumstrittenen vierten Buch des Wahren Christentums, mit Ausblicken auch auf das Naturbild Jakob Böhmes. Sodann steht das wichtige letzte Jahrzehnt im Leben und Wirken Johann Arndts im Zentrum, der Höhepunkt seiner beruflichen Tätigkeit im Amt des Generalsuperintendenten von Braunschweig-Lüneburg in Celle. Die frühe Wirkungsgeschichte Arndts in der Reichsstadt Nürnberg ist deshalb von Interesse, weil in dieser, von der Tradition Melanchthons und des Späthumanismus geprägten Stadt, der orthodoxe Lutheraner Johann Saubert sich mit Hilfe Johann Arndts der zahlreichen Anhänger Valentin Weigels und ihres Einflusses in der Stadt zu erwehren versucht. Schließlich wird Arndt als Erbauungsschriftsteller mit Joachim Lütkemann in Beziehung ge-
25
Hartmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, Stuttgart u.a. 1980, 118ff.; bei dem Wolfenbütteler Barock-Kongreß 1991 wurde auf die Arndt-Diskussion in einigen Beiträgen dezidiert eingegangen: Jörg Baur, Lutherisches Christentum im konfessionellen Zeitalter - ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer, Teil I, Wiesbaden 1995, 43-62: 52; Ferdinand van Ingen, Die Wiederaufnahme der Devotio Moderna bei Johann Arndt und Philipp von Zesen. In: Religion und Religiosität, Teil Π, 4 6 7 ^ 7 5 . Aus der literatur- und sprachwissenschaftlichen Forschung zu Johann Arndt sei nur genannt: Herbert Wimmel, Sprachliche Verständigung als Voraussetzung des „Wahren Christentums". Untersuchungen zur Funktion der Sprache im Erbauungsbuch Johann Arndts, Frankfurt a.M. und Bern 1981 (Kasseler Arbeiten zur Sprache und Literatur 10); Gottfried Merkel, Deutsche Erbauungsliteratur. Grundsätzliches und Methodisches. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik HI, Heft 1, 1971, 30-41; Hamideh Behjat, Johann Arndts „Wahres Christentum" als Erbauungsbuch. Diss. Zürich 1990.
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setzt, jenem Hofprediger und Erbauungsschriftsteller in der Mitte des 17. Jahrhunderts, der in besonders intensiver Weise die Intentionen Arndts aufgegriffen und für die weitere Zeit tradiert hat. Welche theologische und insbesondere eschatologische Struktur die Frömmigkeit bei Arndt und Lütkemann charakterisiert, ist die leitende Frage, die auch die Stellung dieser einflußreichen lutherischen Schriftsteller zur Welt in ihrer politischen und sozialen Gestalt umfaßt. Dies sind gewiß nur wenige Ausschnitte aus den Themen der inzwischen erfreulich vielgestaltigen Arndt-Forschung. Anhand einiger kommentierender Bemerkungen zur gegenwärtigen Arndt-Forschung soll jedoch im folgenden die Gesamtperspektive in der Forschungsdiskussion zum frühneuzeitlichen Luthertum mit bestimmten Akzentsetzungen zur Sprache kommen. Warum entzündet sich gerade an einer Gestalt wie Johann Arndt, so man sich intensiv auf die Interpretation seiner Schriften und ihre Wirkung einläßt, der Streit inmitten vielfältiger und meist gegensätzlicher Deutungsperspektiven in so markanter Weise? Wo liegen die eigentlichen Ursachen für die Umstrittenheit der Schriften dieses Pfarrers und Generalsuperintendenten der lutherischen Kirche am Anfang des 17. Jahrhunderts? Von den ersten Auseinandersetzungen seit der Veröffentlichung des ersten Buches des Wahren Christentums 1605 über die Arndtschen Streitigkeiten um 1620 ziehen sich die Kontroversen bis in die gegenwärtige Arndt-Forschung hinein, wobei freilich schon seit dem zweiten und dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts die Arndt-Verehrer über die Arndt-Kritiker einen bedeutsamen und folgenreichen Sieg errungen haben. In der Arndt-Deutung der letzten Zeit kommt die Umstrittenheit dieses Theologen in zwei häufig zitierten Sätzen besonders prägnant zum Ausdruck: „Johann Arndt [ist] die einflußreichste Gestalt der lutherischen Christenheit seit den Tagen der Reformation"26, und: „Der bedeutendste Erbauungsschriftsteller des Luthertums, ja sein meistgelesener Theologe überhaupt, vertritt keine lutherische Theologie."27 In der Tat: Enorme Wirkung und Tradierung eines zumindest fragwürdigen Inhalts - eine solche Perspektive kann für die gesamte nachreformatorische Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte nicht folgenlos bleiben. Die Fragwürdigkeit bezieht sich ja nicht auf etwas Peripheres, sondern auf das Zentrum der Reformation, auf Luthers Theologie des Wortes Gottes. Sollte sich bei Arndt und der immensen Wirkung seiner Schriften lange nach Luthers Tod und den innerlutherischen Lehrstreitigkeiten, ja lange auch nach den mühsamen, aber letztlich doch erfolgreichen Einigungsbemühungen in 26
27
Hilding Pleijel, Die Bedeutung Johann Arndts für das schwedische Frömmigkeitsleben. In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag (AGP 14), Bielefeld 1975, 383-394: 394. Berndt Hamm, Johann Arndts Wortverständnis. Ein Beitrag zu den Anfängen des Pietismus. In: PuN 8, 1982, 43-73: 72f.
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der Konkordienformel und im Konkordienbuch, der schwärmerische Spiritualismus doch noch in subtiler Weise Eingang in die lutherische Kirche verschafft haben? An der Arndt-Interpretation entscheidet sich wahrhaftig keine Randerscheinung des nachreformatorischen Protestantismus. Nicht von ungefähr nimmt die Arndt-Diskussion in der gegenwärtigen Pietismusforschung - und hier nicht nur bei der Frage nach den Anfängen des Pietismus eine zentrale Stellung ein. So scheint die Bemerkung von Wilhelm Koepp vom Anfang des 20. Jahrhunderts, daß Arndt der große „Zeitenwender im Luthertum" gewesen sei, wieder neu an Aktualität zu gewinnen. Die Tragweite der Aktualität Arndts hat gegenüber der älteren Arndt-Forschung besonders dadurch gewonnen, daß heute auf die besondere Gestalt der Theologie Arndts geachtet wird, die im engen Zusammenhang mit seinen Bemühungen um eine Vertiefung und Erneuerung der Frömmigkeit steht. Konsens herrscht weitgehend darüber, daß die Struktur der Theologie Arndts von einer Vielschichtigkeit und Offenheit geprägt ist, die unterschiedliche Interpretationsschwerpunkte nicht nur zuläßt, sondern geradezu provoziert. Dies hat vor allem seinen Grund in der Sprachgestalt der theologischen Denkstruktur Arndts, nicht nur darin, daß sich diese Theologie nicht in Form von dogmatischen Loci ausdrückt, sondern in der Gestalt von Erbauungsschriften, Gebeten und Predigten. Von einem Konsens in der gegenwärtigen Arndt-Forschung kann auch in der Hinsicht gesprochen werden, daß diese Sprachgestalt der Theologie Arndts nicht „orthodox" im Sinne einer mit Hilfe der aristotelischen Philosophie klar formulierten dogmatischen Begriffssprache genannt werden kann. Gegen diese Gestalt der akademischen Theologie als einer in der Sicht Arndts „toten" Gelehrsamkeit, ohne Blick auf den notwendigen Umsetzungsprozeß in die individuelle Glaubenspraxis, richtet sich ja vor allem sein leidenschaftlicher Protest. Die Brisanz in der Frage nach der Gestalt von Arndts Theologie stellt sich erst nach der Konzedierung dieser Ausgangslage ein. Sie besteht in nichts anderem als in der Frage, in welcher Intensität und Variationsbreite spiritualistisches Gedankengut in das Haus der lutherischen Kirche, Theologie und Frömmigkeit durch Arndt Eingang gefunden hat, so daß Fundament und Statik des Hauses sich erheblich verändert haben. Mit Spiritualismus bzw. mystischem Spiritualismus28 ist eine bestimmte Gestalt im Verhältnis von Wort und Geist
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Der Begriff „mystischer Spiritualismus", den vor allem Martin Schmidt gebrauchte und der den Pietismus aus ihm hervorgehen sah, ist in der Tat kein besonders glücklicher, weshalb man „Spiritualismus" und „Mystik" trotz aller gedanklichen Verbindungen begrifflich auseinanderhalten sollte. Ich stimme hier Martin Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.), Geschichte des Pietismus Bd. 1, Göttingen 1993, 205-240: 205, zu. Vgl. J.F.G. Goeters, Art. Spiritualisten, Religiöse. In: RGG3, Bd. 6, 255-257; Gustav Adolf Benrath, Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen, Kapitel I: Die Lehre der Spiritualisten. In: Carl Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2, Göttingen 1980, 560-564.
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bzw. äußerem und innerem Wort intendiert, wobei der prinzipielle Vorrang des Inneren vor dem Äußeren und die verschiedenen Grade ihrer Verbindung ein charakteristisches Strukturelement dieses Denkansatzes bilden, so sehr er sich einer insgesamt gültigen systematisierenden Begrifflichkeit entzieht.29 In der Arndt-Interpretation dient der spiritualistische Denkansatz als wichtiger Orientierungshintergrund bei dem Versuch einer historischen und systematisch-theologischen Einordnung und Wertung seiner Schriften. Dies hat zunächst darin seinen Grund, daß Arndt bekanntlich verschiedene Stücke aus der griechischen Kirchenvätertheologie30 und der monastischen Theologie des Mittelalters3' sowie pansophische, kabbalistische, alchemistische, paracelsische, mystische und spiritualistische Traditionen32 aufgenommen und verarbeitet bzw. in Geistesverwandtschaft seinen eigenen Intentionen angeglichen hat, die alle eine tendenzielle Neigung zum Spiritualismus in seinen verschiedenen Variationen aufweisen. Darüber hinaus dienen die je eigenge-
29 Das betont auch Benrath (Anm. 28), 564. 30 Vgl. Hans Schneider, Johann Arndt und die makarianischen Homilien. In: MakariosSymposium über das Böse. Vorträge der Finnisch-deutschen Theologentagung in Goslar 1980. Hg. von W. Strothmann. Wiesbaden 1983, 186-222. 31 Vor allem Bernhard von Clairvaux. Vgl. Ernst Koch, Die Bernhard-Rezeption im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts; Johannes Wallmann, Bernhard von Clairvaux und der deutsche Pietismus. In: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit. Hg. v. Kaspar Elm. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), 333-351; 353-374. Wallmann sieht Arndt nicht als Vermittler der Bernhardinischen Jesusmystik an den entstehenden Pietismus des 17. Jahrhunderts. Aber Arndt steht inmitten einer lebendigen Bernhard-Rezeption, wie vor allem auch seine Predigtwerke zeigen. Hier ist Bernhard nach Augustin und vor Tauler bzw. Gregor der meist zitierte mittelalterliche Theologe. 32 Noch immer ist hier auf die Arbeit von Edmund Weber hinzuweisen, die freilich dringend weitergeführt und ergänzt werden müßte: Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung, Marburg 1969. Zu dem Verhältnis Arndt-Paracelsus und den paracelsistischen Quellen in Arndts Schriften vgl. Hans Schneider, Johann Arndt als Paracelsist. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Akademie der Diözese Rottenburg/Stuttgart. Hg. v. Peter Dilg und Hartmut Rudolph, Stuttgart 1995, 89-110. Hinsichtlich der Ikonographia, einem Werk Arndts, das in engem Zusammenhang mit der reformierten Konfessionalisierung im Fürstentum Anhalt seit 1590 steht und erst 1657 in Frankfurt a.M. erstmals gedruckt wurde, sieht Inge Mager das Hauptanliegen hier nicht in der Weitergabe von Gedanken des Paracelsus, sondern „im Entwurf einer neuen Bildtheologie und Bildfrömmigkeit" (Inge Mager, Johann Arndts Bildfrömmigkeit. In: Grundbegriffe christlicher Ästhetik. Beiträge des V. Makarios-Symposiums Preetz 1995. Hg. v. Klaus Fitschen und Reinhart Staats, Wiesbaden 1997, 101-118: 115f. Sie setzt damit einen anderen Akzent als Hans Schneider, Arndt als Paracelsist, 105. Vgl. auch Hans Schneider, Johann Arndt und Martin Chemnitz - zur Quellenkritik von Arndts „Ikonographia". In: Der zweite Martin der Lutherischen Kirche. Festschrift zum 400. Todestag von Martin Chemnitz. Hg. v. Ev.luth. Stadtkirchenverband und der Propstei Braunschweig. Braunschweig 1986, 201223.
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prägten Gestalten des Spiritualismus im 16. und 17. Jahrhundert, wie z.B. Valentin Weigel, Jakob Böhme, Joachim Betke und Christian Hoburg u.a., dazu, das Profil der Theologie und Frömmigkeit Arndts und seiner erheblichen Wirkungen in die Theologiegeschichte des 17. Jahrhunderts einzuzeichnen. Schon Martin Schmidt hatte Arndt unter die „mystischen Spiritualisten" gerechnet.33 Demgegenüber sprechen Johannes Wallmann, Martin Brecht und Berndt Hamm je auf ihre Weise von den Versuchen Arndts, den mystischen Spiritualismus „zu verkirchlichen".34 Zwischen der Orthodoxie auf der einen und dem Spiritualismus auf der anderen Seite kommt Arndt und die von ihm ausgehende Frömmigkeitsbewegung wesentlich in der Mitte zu stehen,35 wobei sie mystisches und spiritualistisches Gedankengut aufgenommen hat, was aber lange vor Spener schon in die orthodoxen und kirchlichen Bahnen eingemündet ist. In der neuesten Deutung der Theologie Arndts als eines Konzeptes der mystisch-spiritualistischen Theologie durch Hermann Geyer36 wird ein sehr beachtenswerter Vorschlag gemacht, der aus den Schwierigkeiten der Interpretation der Theologie Arndts zwischen orthodox-lutherischen bzw. kirchlichen auf der einen und spiritualistischen Elementen auf der anderen Seite herausführen möchte. Geyer plädiert dafür, den Begriff des Spiritualismus nicht von vornherein als unverträglich mit der lutherischen Kirchlichkeit zu verstehen, sondern ihn streng als theologische Position wahrzunehmen. Dahinter steht das Ernstnehmen der offenkundigen Kirchlichkeit im Wirken Arndts, die im Vergleich zu anderen Spiritualisten nicht in Spannung oder gar Gegensatz zu seinem spiritualistischen Denkansatz zu stehen braucht. Die gründlichen und interessanten Ergebnisse Hans Schneiders in seinen zahlreichen Arndt-Studien37 sind geeignet, die Nähe Arndts zum Spiritualismus in seiner Biographie und Theologie aufzuweisen. 33 Dies geht indirekt aus seinem Aufsatz „Teilnahme an der göttlichen Natur" hervor, in dem Schmidt eine Traditionslinie von Schwenckfeld über Arndt zu Felgenhauer, Betke und Hoburg zeichnet und am Schluß von den „mystischen Spiritualisten jener Zeit" spricht (Wiedergeburt und neuer Mensch, AGP 2, Witten 1969, 238-298: 244ff. und 254). 34 Johannes Wallmann, Die Anfänge des Pietismus. In: PuN 4, 1977/1978, 11-53: 41; Martin Brecht, Philipp Jakob Spener und das Wahre Christentum. In: ebd., 119-154: 148ff.; Ders., Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, 113-203: 148f.; Berndt Hamm, Johann Arndts Wortverständnis. In: PuN 8,1982, 43-73: 48f. 35 Martin Brecht, Philipp Jakob Spener und das Wahre Christentum (Anm. 34), 150. 36 Theologia sincerior. Johann Arndts Konzept einer mystisch-spiritualistischen Theologie. Diss, (masch.) Marburg 1997, 337. 37 Außer den schon in den Anmerkungen 30 und 32 genannten Arbeiten: Hans Schneider, Johann Arndts Studienzeit. In: JGNKG 89, 1991, 133-175; Johann Arndt als Lutheraner? In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 1), 2 7 4 298; Johann Arndts „verschollene" Frühschriften. In: PuN 21, 1995, 29-68.
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Es ist deutlich, daß die mit dem Spiritualismus eng verbundene ArndtDeutung eine Herausforderung für weitreichende Perspektiven in der neuzeitlichen Kirchen- und Theologiegeschichte darstellt. Die einfache Feststellung, daß der rezipierte Arndt ein anderer ist als der sog. historische Arndt,38 ist insofern ohne weitergehende Perspektive, als geklärt werden müßte, welche entscheidenden Faktoren hier die Veränderung vorgenommen haben. Die Grundproblematik der gegenwärtigen Arndt-Forschung besteht schlicht darin, daß bisher noch nicht das gesamte Schrifttum Arndts ins Blickfeld getreten ist, geschweige denn einer gründlichen Erforschung ausgesetzt wurde. Außer den begonnenen, aber noch wesentlich weiter zu führenden Aufgaben der Arndt-Forschung in Richtung der Erkundung der Quellen des Wahren Christentums, evtl. möglicher weiterer Erforschung seiner Biographie und der Wirkungsgeschichte seiner Schriften bis ins 19. Jahrhundert hinein, ist vor allem die Wahrnehmung seiner großen Predigtwerke ein dringendes Erfordernis in der Gesamtdeutung des „historischen Arndt" und seiner Wirkungsgeschichte. Es ist eine eigenartige Tatsache, daß der lutherische Pfarrer Arndt in seiner Haupttätigkeit bis heute kaum wahrgenommen wurde. Die rund 900 Predigten in den Sammlungen der Katechismuspredigten, der Evangelienpostille und der Psalterpredigten, die Arndt in seiner Celler Zeit herausgab,39 stellen einen so gewichtigen Quellenfundus dar, daß die Arndt-Interpretation ohne ihre Berücksichtigung erheblich verkürzt und eingeschränkt bleiben muß. Eine neue Untersuchung mit bestimmten Fragestellungen gegenüber den drei Predigtsammlungen hat erste wichtige Schritte in dieses unbekannte Land unternommen, mit Ergebnissen, die m.E. in der gegenwärtigen Situation der Arndt-Forschung Aufmerksamkeit beanspruchen können.40 Versucht man, unter Einschluß der Predigtwerke Arndts und seines kirchenleitenden Wirkens als Generalsuperintendent eines nicht unbedeutenden lutherischen Fürstentums, die Hauptintentionen seines Denkens und Wirkens zusammenzufassen, so ergeben sich aus meiner Sicht folgende Gesichtspunkte: Eine Entwicklungslinie im theologischen Denken Arndts von einer anfänglich mehr orthodoxen zu einer, durch die Aufnahme verschiedenartiger
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Eine Feststellung bei der Schlußdiskussion des 5. Wittenberger Symposiums zur Lutherischen Orthodoxie, Dezember 1998. 39 Der gantze Catechismus, Erstlich in sechtzig Predigten ausgelegt [...], Jena 1616; Postilla: Das ist: Außlegung und Erklärung der Evangelischen Text/ so durchs gantze Jahr an den Sontagen und vornehmen Festen/ auch der Aposteltage gepredigt werden [...], Jena 1616; Die Auslegung des gantzen Psalter Davids des königlichen Propheten/ Also daß über jeden Psalm gewisse Predigten und Meditationes gestellet seyn [...], Jena 1617 (alle bei Tobias Steinmann). 40 Werner Anetsberger, Tröstende Lehre. Die Theologie Johann Arndts in seinen Predigtwerken. Diss, (masch.), Neuendettelsau 1998.
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„mystischer" Traditionen dem spiritualistischen Denktypus angenäherten oder gar mit ihm identischen Position, scheint mir außerordentlich fragwürdig. 4 ' Hauptgrund für diese Zweifel ist die Einsicht in die Entstehungszeit vieler Predigten Arndts aus seinen großen Predigtsammlungen, die z.T. vor und vielfach parallel zu derjenigen des Wahren Christentums gehalten wurden. Wenn von einer spiritualistischen Struktur im theologischen Denken Arndts gesprochen werden kann, so muß sich dies an seiner Verkündigung in seinen überreichlich vorliegenden Predigten zumindest auch verifizieren lassen. Es sei denn, man geht von einer bewußten oder unbewußten Spaltung seiner Persönlichkeit aus. Daß Arndt dem Predigtgeschehen als Sprachgeschehen eine so wesentliche Bedeutung zugemessen hat, kann bei dem Versuch einer Interpretation seines theologischen Denkens nicht außer acht gelassen werden. Gerade seine Katechismuspredigten zeigen mit großer Eindringlichkeit, wie Arndt die christliche Lehre ins Leben umzusetzen versucht, wobei alle äußeren Vollzüge wie der Anschluß an die lutherischen Bekenntnisschriften und das immer wieder zum Ausdruck kommende Treueverhältnis zur lutherischen Kirche eine keineswegs marginale Rolle spielen. Eine Distanz zu der konfessionellen Polemik gegenüber dem Calvinismus und der römischen Kirche ist bei dem Prediger Arndt nicht zu bemerken, im Gegenteil. In unseren Beiträgen kommt dieses offenkundige Ernstnehmen der Realitäten in Kirche und Welt bei Arndt vor allem in seinem kirchenleitenden Wirken als Generalsuperintendent und in seinen Obrigkeitspredigten zum Ausdruck. Aber mit diesem Aufweis, dem sich noch viele weitere Beobachtungen im Leben und Wirken Arndts anschließen können,42 beginnt erst die Strittigkeit ihrer rechten Deutung. Ob das Äußere stets nur einen Verweischarakter auf das eigentlich Innere hat, wo der göttliche Geist seine eigentliche Wirkungsstätte besitzt sowohl im „Tempel des Herzens" wie auch in der verborgenen Tiefe der kreatürlichen Welt, diese entscheidende Grundfrage läßt sich nur an den Schriften Arndts - aber eben auch nicht nur am Wahren Christentum - klären. In meiner Wahrnehmung der Texte Arndts kann ich nicht nachvollziehen, daß das äußere Wort der Schrift nur eine sekundäre 41
Das heißt freilich nicht, daß bei Arndt nicht mit Entwicklungen in seinem Leben und Denken zu rechnen ist. In den so schwierig aufzuhellenden ersten Jahrzehnten im Leben und Wirken Arndts leuchten mir die Überlegungen von Inge Mager am ehesten ein, die davon spricht, daß „Arndt sich erst nach 1585 auf autodidaktischem Wege tiefere theologische Kenntnisse angeeignet zu haben scheint. Sie führten ihn offenbar je länger je mehr ins lutherische Lager" (Inge Mager, Johann Arndts Bildfrömmigkeit [Anm. 32], 108). 42 Z.B. seine Opposition gegen die Preisgabe des Exorzismus bei einer neu verordneten Taufliturgie im Zuge der reformierten Konfessionalisierung im Fürstentum Anhalt und seinem daraufhin erfolgten Verlust des Pfarramtes. Auch seine Parteinahme in den Braunschweiger Kämpfen und überhaupt seine Stellung zur weltlichen Obrigkeit zeugt von seinem Realitätssinn.
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Bedeutung für das eigentliche, unvermittelte Geistwirken in der menschlichen Seele hat.43 Vielmehr ist das Hören und Meditieren des biblischen Wortes im kirchlichen Gottesdienst und im Haus sowie die Antwort im Gebet und in der Lebensgestaltung nicht die bloße Voraussetzung eines über diese „äußeren Vollzüge" hinausführenden, eigentlichen, inneren Geschehens, sondern nur im Vollzug dieser äußeren Handlungen können die Früchte des Glaubens reifen, was nach Arndt freilich von den Verkündigern des Wortes Gottes eine intensive Umsetzungs- und Applikationsarbeit an die Hörer und Leser erforderlich macht. Gerade in dieser Einsicht der Notwendigkeit eines mit biblischer Sprache voll gefüllten, sprachlich vermittelten Verinnerlichungs- und Verlebendigungsprozesses des Wortes Gottes und der erfolgreichen Praktizierung dieser Erkenntnis sehe ich die Bedeutung Arndts in der lutherischen Kirche seiner Zeit und weit darüber hinaus. Keineswegs ist Arndt der einzige, der diese Notwendigkeit der eigentlichen Arbeit erkannte, nachdem die theologischen Grundlagen in der reformatorischen Rechtfertigungslehre und in der Christologie gelegt waren. Aber mit seinem eigengeprägten Sprachstil, der auf die emotionale Empfänglichkeit seiner Hörer und Leser einzugehen verstand, war er überaus erfolgreich. Ich bestreite nicht, daß in dieser Sprachgestalt Arndts Wendungen existieren, die eine Nähe zum Spiritualismus zeigen, die nicht nur durch die Aufnahme und Verarbeitung seines umfangreichen und in sich inhomogenen Traditionsgutes erklärbar sind. Inwieweit seine eigenen medizinischen und naturkundlichen Kenntnisse, Interessen und Praktiken seine theologischen Fähigkeiten nicht zuletzt im sprachlichen Ausdruck überlagerten bzw. einschränkten, so daß inmitten der gemeinsamen Intentionen mit seinem Traditionsgut und trotz seiner offenkundigen Bemühung, dieses an die reformatorische Theologie anzugleichen, Formulierungen in vielfach mehrdeutiger Weise in Arndts Schriften vorhanden sind - diese Frage wird die Forschung noch weiter beschäftigen. Aber die These, daß sich die angenommene spiritualistische Denkstruktur Arndts mit seiner offenkundigen Kirchlichkeit durchaus sinnvoll verbinden ließe, kann ich nicht teilen.44 So verschiedenartig auch die Variationsbreite bei den Vertretern des spiritualistischen Gedankengutes sein kann, so gehört doch zu diesem Denktypus nicht nur der geistig-religiöse Dualismus von Fleisch und Geist, von Äußerem und Innerem, sondern m.E. durchaus auch ihre Stellung zur äußeren Kirchlichkeit. Und diese unterscheidet sich bei praktisch allen Spiritualisten des 17. Jahr-
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Ich stimme hier der Position von Inge Mager zu in ihren Aufsätzen: Gottes Wort schmecken und ins Leben verwandeln. Johann Arndts Schriftverständnis. In: Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 24, 1992, 149-158; Spiritualität und Rationalität. Johann Arndt und Georg Calixt in Norddeutschland im 17. Jahrhundert. In: JGNKG90, 1992, 3 1 ^ 1 . 44 So Hermann Geyer (Anm. 36).
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hunderte in ganz erheblichem Maße von derjenigen Arndts.45 Eine Kritik an der eigenen lutherischen Kirche als „Babel" oder „Mauerkirche" und die generelle Ablehnung der kirchlichen Institutionen und Ordnungen haben bei Arndt keinerlei Rückhalt. Auch die für den spiritualistischen Denktypus so charakteristischen Merkmale bei vielen Vertretern wie prophetisches Sendungsbewußtsein, heilsgeschichtliche Entwürfe, chiliastische Vorstellungen und Rückzug aus Ämtern in ein privates Refugium treffen auf Arndt ebenfalls nicht zu. Die Obrigkeitskritik Arndts ist von derjenigen der meisten Spiritualisten weit entfernt.46 Dies alles hinderte freilich nicht, daß sich Arndt bei vielen kirchenkritischen Spiritualisten größter Beliebtheit erfreute. Die Gemeinsamkeiten in dem Bestreben nach einer wirklich gelebten christlichen Existenz und das Dringen nach Verinnerlichung und individueller Aneignung des christlichen Glaubens in einer oft spiritualistisch deutbaren Sprachgestalt waren offenbar geeignet, diese Unterschiede zu überdecken. Ein weiterer, wichtiger Aspekt kommt hinzu, wenn man Arndt insgesamt mit der spiritualistischen Welt zu vergleichen versucht. Ich meine, daß zwischen der spiritualistischen Art und Weise, die christliche Botschaft an die Menschen zu vermitteln, und der Verkündigung Arndts ein nicht unerheblicher Unterschied besteht. So sehr auch Arndt den Bußernst in seinen Strafpredigten und Ermahnungen zum Ausdruck bringen kann, so fehlen doch nie die entscheidenden Hinweise auf den Grund der christlichen Hoffnung, die Verheißung und vor allem den Trost, den der barmherzige Gott jedem einzelnen Menschen zuspricht47 Dieser Grundton in der Verkündigung Arndts ist m.E. bei den Spiritualisten so nicht zu finden. Eine solche Perspektive, die auf die jeweilige Art und Weise der Verkündigung der Theologen in ihren Hauptintentionen zu achten versucht, bevor sie einer bestimmten Richtung bzw. Denkstruktur zugewiesen werden, erscheint mir bei dem alten Streit um „Mystik" oder Spiritualismus bei Arndt nicht unwichtig zu sein. Sie würde auch der historischen Situation der lutherischen Theologie im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert mehr gerecht als dogmatisch-begriffliche Klassifizierungen. Über die Wirkungsweisen des Heiligen Geistes und das Verhältnis von innerem und äußerem Wort hatte die lutherische Theologie bekanntlich erst durch den Rahtmannschen Streit zu kla-
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Vgl. Martin Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 1. Hg. v. M. Brecht, Göttingen 1993, 205-240: 236. Obrigkeitsverständnis und Obrigkeitskritik Arndts entsprechen vielmehr einer Hauptströmung orthodox-lutherischer Obrigkeitslehre und -kritik. Vgl. W. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, Göttingen 1988. Davon geben die Predigtwerke Arndts vielfach Zeugnis, besonders seine Psalterpredigten.
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ren begrifflichen Formulierungen gefunden.48 Zuvor kann man durchaus von offenen Flanken zum Spiritualismus in der lutherischen Theologie sprechen. Die Sichtweise eines lehrmäßig weithin konsolidierten Luthertums nach Abschluß des Einigungsprozesses in der Konkordienformel und im Konkondienbuch und ihrer mehrheitlichen Rezeption wird dem differenzierten Prozeß im Verhältnis des Gemeinsamen und Strittigen im Luthertum m.E. nicht gerecht.49 Johannes Wallmann hat die Frage gestellt: „Müßte man nicht stärker auf das achten, was konkordistischem und nichtkonkordistischem Luthertum gemeinsam war, und wäre nicht in dieser Gemeinsamkeit, nicht aber in der Konkordienformel, das Fundament der lutherischen Konfession zu erblikken?"50 Auf diese Frage möchte ich eine vorläufige Antwort zu geben versuchen. Das Gemeinsame innerhalb der lutherischen Vielfalt sehe ich in der theologischen Zentrierung auf die Fundamentalunterscheidung und -Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Dem entspricht in der politischen Ethik die von Luther her kräftig nachwirkende Unterscheidung und Zuordnung von Gottes Wirken in seinem weltlichen und geistlichen Regiment. Das Ernstnehmen der göttlichen Forderung bis hinein in die Zeit und Raum abstrahierende Perspektive der ewigen Höllenstrafen sowie der Zuspruch der uns in Jesus Christus geschenkten Vergebung und Freiheit des gnädigen Gottes - dieser Doppelakkord durchzieht alle Äußerungen der lutherischen Theologen inmitten ihrer verschiedenen Akzentsetzungen. Aber damit wird eben auch jenes Differenzbewußtsein offenbar, das zwischen diesem Anspruch und jenem Zuspruch und seiner ganzheitlichen Aneignung bei den gelehrten Theologen, den Pfarrern und Gemeindegliedern besteht. Aus der Erfahrung und dem Bewußtwerden dieser krisenhaften Spannung zwischen Gehalt und Gestalt des christlichen Glaubens erwachsen die vielfältigen Impulse zu ihrer Überwindung. Diese Erneuerungsbestrebungen sind Gemeingut des Luthertums, bis sie im Spenerschen Pietismus unter neue theologische und kirchliche Vorzeichen kommen.51 Die Motivation für diese Bestrebungen nach
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Vgl. J. Wallmann, Die Rolle der Bekenntnisschriften im älteren Luthertum. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 46-60: 51; J.A. Steiger, „Das Wort sie sollen lassen stahn [...]". Die Auseinandersetzung Johann Gerhards und der lutherischen Orthodoxie mit Hermann Rahtmann und deren abendmahlstheologische und christologische Implikate. In: ZThK 95, 1998, 338-365. In diesem instruktiven Aufsatz zum Rahtmannschen Streit wird besonders die Bedeutung Johann Gerhards in dieser zentralen theologischen Auseinandersetzung herausgearbeitet. 49 Vgl. J. Wallmann, Lutherische Konfessionalisierung - ein Überblick. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (Anm. 1), 33-53: 52. 50 Anm. 49. 51 Bis zu überzeugenden neuen Einsichten, die ich bisher nicht wahrnehmen kann, sehe ich mit Johannes Wallmann das Neue im Spenerschen Pietismus im Konventikelge-
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einer authentischen Lebenspraxis des lutherischen Rechtfertigungsglaubens und ihre Ausprägungsformen lassen eine Vielgestaltigkeit erkennen, die nicht unter einen einzigen inhaltlichen Grundzug zu fassen ist. Bei Arndt und der von ihm ausgehenden Frömmigkeitsbewegung haben diese Impulse einen vor allem gegen die gelehrte akademische Theologie gerichteten kritischen Akzent. Im weiteren Umfeld des Spiritualismus kommt der kirchen- und institutionskritische Zug, gerade auch gegenüber der eigenen Konfession, oft besonders scharf zum Ausdruck. Aber auch als Anleitung zur Einübung in die Praxis des Glaubens der Christen ohne dezidiert kirchen- oder theologiekritische Intentionen werden so erfolgreiche Erbauungsbücher zur Verinnerlichung der Frömmigkeit geschrieben wie die von Johann Gerhard oder von Joachim Lütkemann. 52 Das ist Vielfalt inmitten einer Kirche und Theologie, die von Luther und der Wittenberger Reformation herkommend ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein umschließt, das trotz aller inneren Spannungen und Lehrgegensätze gegenüber dem Calvinismus und der römischen Kirche einen selbstbewußt-eigenständigen Ausdruck findet. Im Zusammenhang mit kirchengeschichtlichen Studien zum Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden hat Thomas Kaufmann dieses Phänomen der innerlutherischen Pluralisierung mit dem offenen Begriff einer lutherischen Konfessionskultur zu beschreiben versucht.53 Anders als bei den Konfessionalisierungsprozessen im Reformiertentum und im römischen Katholizismus, die nach der Dordrechter Synode und dem Trienter Konzil zur Vereinheitlichung der Lehre, des Gottesdienstes und der Lebensgestaltung tendierten, zeigt das Luthertum einen differenzierten Pluralisierungsprozeß mit einer großen geistig-religiösen Weite und unterschiedlichen Graden der Identifikation mit der eigenen Konfessionskirche. Von hier aus „kommt dem Begriff der lutherischen Konfessionskultur die Funktion zu, die innerlutherische Vielfalt hinsichtlich des geltenden Bekenntnisses ebenso wie hinsichtlich der kulturellen Ausdrucksformen begrifflich zu verbinden" 54 . Die Ausführungen Kaufmanns stellen einen sehr bemerkenswerten Diskussionsbeitrag dar, auch hinsichtlich der Periodisierungsfragen und der Bedeutung der Begriffe „Orthodoxie", „Pietismus" und „Aufklärung". 55 In der Intention
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danken (ecclesiola in ecclesia) und in einer Zukunftshoffnung, die sich von der Eschatologie des nahen Jüngsten Tages abhebt. Darauf hat auch Elke Axmacher in ihrer Rezension von Udo Sträter, Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995, aufmerksam gemacht. In: PuN 23, Göttingen 1997, 218-227: 224. Th. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede (Anm. 16), Tübingen 1998. Ebd. 144. Den anregenden, und durch die bisherige historiographische Unklarheit bzw. Uneinheitlichkeit auch fälligen Diskussionsvorschlägen Kaufmanns in den schwierigen Periodisierungsfragen begegne ich allerdings mit Skepsis. Wenn der Begriff „Orthodoxie" als Epochenbegriff in der nachreformatorischen Kirchengeschichte aufgegeben
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Politik, Theologie und Frömmigkeit
stimme ich ihnen weitgehend zu. Ob der Begriff „Konfessionskultur" für die Entwicklung im Luthertum von einer anfänglich erstaunlich einheitlichen Größe zu immer größerer Vielfalt inmitten gleitender, prägender Verbindlichkeiten sehr glücklich ist, bleibt mir allerdings fraglich. Das Verhältnis von Zentrierung und Weite im Luthertum scheint mir mit dem gegenwärtig inflationär gebrauchten Kulturbegriff nicht deutlich genug ausgesagt werden zu können. Ist es nicht eher das Weltverhältnis des lutherischen Rechtfertigungsglaubens, die Bindung und Freiheit im Verständnis des christlichen Glaubens, das diese spannungsvolle Vielfalt auszuhalten vermag, ohne in Beliebigkeit auseinanderzufallen? Das Luthertum der Frühen Neuzeit ist alles andere als ein abständiges, fernes Gebilde, was uns heute höchstens noch in der historischen Rückschau zu interessieren vermag. Es wird deutlich geworden sein - und nicht zuletzt dazu sollten unsere Beiträge zum Luthertum in der Frühen Neuzeit dienlich sein - , daß alle Spezialfragen der Forschung gerade hier, bei der Weiterwirkung der Reformation für uns Heutige, höchst aktuelle Betroffenheit auslösen können. Wie kann sich eine biblisch-reformatorische Theologie in einer Frömmigkeit umsetzen und in ihr lebendig weiterwirken, ohne daß sie dabei ihr theologisches Profil hinsichtlich des gedanklichen Anspruchs und der Verantwortung vor Gott und der Welt einschränkt, so daß der christliche Glaube authentisch und wirklichkeitsnah gelebt werden kann? Diese Frage stellt sich in der heute so veränderten Situa-
und nur noch als Richtungsbegriff verstanden würde, wäre m.E. wieder ein ähnliches Mißverständnis möglich wie die unselige Aufteilung zwischen einer Reformorthodoxie und einer abstrakten Lehrorthodoxie. Freilich betont auch Kaufmann, daß es dieselben Theologen waren, „die zugleich auf die Lehre und das Leben literarisch einzuwirken oder Leben und Lehre zu integrieren oder zu redintegrieren versuchten" (149, Anm. 375). Ich meine aber, daß wir auf das „Zeitalter der Orthodoxie" in der nachreformatorischen Kirchengeschichte nicht als Epochenbegriff verzichten können, ebenso wie in der mittelalterlichen Kirchengeschichte nicht auf das Zeitalter der Scholastik. Eine solche Epochenbezeichnung läßt sich ja auch durchaus sinnvoll mit den Konfessionalisierungsprozessen in allen drei Konfessionen verbinden. Denn wie auch „Pietismus" und „Aufklärung" weit über die theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Dimension hinausreichen, so gilt dies auch für den Begriff „Orthodoxie", der nicht nur für die Theologie, sondern auch für Kirche, Politik und soziales Leben in dieser Zeit charakteristisch ist. An dem an Troeltsch angelehnten Begriff der „altprotestantischen Orthodoxie" stört mich allein nur das Wörtchen „alt". Die Unterscheidung eines Altprotestantismus vom Neuprotestantismus suggeriert einen Bruch, der nun in der Tat die „Wahrnehmung von Übergängen und langwierigen Transformationsprozessen" außer acht läßt (148). Daß der Begriff „Protestantismus" durch das Konfessionalisierungsparadigma verdrängt ist und an Bedeutung und Funktion verloren hat, sehe ich mit Johannes Wallmann als diskussionsbedürftig an. „Eine Diskussion über Sinn und Notwendigkeit des Protestantismusbegriffs in der Kirchengeschichtswissenschaft wird irgendwann einmal unumgänglich sein" (J. Wallmann, Lutherische Konfessionalisierung ein Überblick [Anm. 1], 53).
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tion von Kirche, Theologie und Gesellschaft wieder mit großer Intensität, nachdem sie die ersten Generationen nach Luther so tief beschäftigt und umgetrieben hat.
Bibliographische Nachweise 1. Die Unterscheidung und Zuordnung der beiden Reiche bzw. Regimente Gottes in Luthers Auslegung des 101. Psalms Erstdruck in ausführlicher Fassung in meinem Buch: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie (FKDG Bd. 41), Göttingen 1988, 23-73. 2.
Christlicher Glaube und Weltverantwortung. Martin Luthers Beziehungen zu seinen Landesherren
Erstdruck: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 89, 1991,39-59. 3.
Die Stellung lutherischer Hofprediger im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft
Erstdruck: Zeitschrift für Kirchengeschichte 106, 1995, 313-328. 4.
Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Das Verständnis der Obrigkeit in Predigten der Hofprediger Justus Gesenius und Michael Walther
Erstdruck: Pietismus und Neuzeit 6, 1980, 33-51. 5.
Johann Reinhard Hedinger als Hofprediger in Stuttgart
Erstdruck: Pietismus und Neuzeit 24, 1998, 160-185. 6.
Die Friedenspredigten Johann Michael Dilherrs beim Friedensfest in Nürnberg 1650
Bisher ungedruckt. 7.
Luther - Prophet der Deutschen und der Endzeit. Zur Aufnahme der Prophezeiungen Luthers in der Theologie des älteren deutschen Luthertums
Erstdruck: Zeitenwende - Zeitenende. Beiträge zur Apokalyptik und Eschatologie. Hg. v. Wolfgang Sommer (Theologische Akzente 2), Stuttgart u.a. 1997, 109-128.
Bibliographische Nachweise
8.
309
Der Untergang der Hölle. Zu den Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der lutherischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts
Erstdruck: Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie von Schuldbekenntnis, Opfer und Versöhnung. Hg. v. Richard Riess (Theologische Akzente 1), Stuttgart u.a. 1996, 51-73. 9.
Gottes Odem in der Schöpfung. Zum Bild der Natur bei Johann Arndt und Jakob Böhme
Bisher ungedruckt. 10. Johann Arndt im Amt des Generalsuperintendenten in BraunschweigLüneburg Erstdruck: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hg. v. Hans-Christoph Rublack (SVRG 197), Gütersloh 1992, 299-311. 11. Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt im Dienst einer Erneuerung der Frömmigkeit Erstdruck: Pietas in der Lutherischen Orthodoxie. Tagungsband zum Zweiten Witterberger Symposium zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie 8.-10.12.1995. Hg. v. Udo Sträter (Themata Leucoreana), Wittenberg 1998, 78-99. 12. Johann Arndt und Joachim Lütkemann - zwei Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur Erstdruck: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 84, 1986, 123-144 (hier mit dem Zusatz im Titel „in Niedersachsen"). 13. Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Rückblick und Ausblick auf die Diskussion in der gegenwärtigen Forschung Bisher ungedruckt.
Ortsregister Ägypten 148,210 Altdorf 141, 241f„ 244, 246f. Altenburg 141 Amalfi 138 Anhalt 77, 301 Ansbach 78 Assyrien 158 Augsburg 13,14, 139, 150 Bayern 150 Bebenhausen 113 Berlin 77,200 Borna 68 Brandenburg-Preußen 76 Braunschweig 94, 206, 208, 266, 301 Braunschweig-Lüneburg 78, 227, 231, 237f„ 295 Braunschweig-Wolfenbüttel 74, 77f., 92, 267 Bremen 160 Butzbach 116 Calenberg 93 Cambridge 115 Celle 231,295,300 Charlottenburg 200 Coburg 78, 158, 183 Coburg-Gotha 234
Frankfurt a.M. 191,206,265,291 Frankreich 114, 138f„ 200 Gießen 112f„ 115-120, 134, 191, 243 Görlitz 219f. Gotha 78, 141, 150,183 Göttingen 195 Greifs wald 196 Griechenland 158 Halle 195,200 Hamburg 152 Hannover 191 Heilbronn 115 Helmstedt 93, 195f„ 265 Henneberg 140 Herbrechtingen 111 Herzberg 160 Hessen, Landgrafschaft 61, 77 Hessen-Kassel 74, 77 Hirsau 113 Hohenasperg 114 Holland 77, 135, 200 Ilfeld 165 Israel 148 Italien 34 Jena 141f„ 183, 196,243,251
Dänemark 115 Danzig 246 Darmstadt 116, 119f. Dordrecht 305 Dresden 77f„ 80f„ 84ff„ 88, 170, 253 Einbeck 164 Eisleben 162, 165 England 115, 135, 195 Erfurt 160, 165, 183 Esslingen 149 Eutin 191
Kirchheim u.T. 116 Kitzingen 153 Kopenhagen 115 Kursachsen 16, 29, 31f„ 50, 61, 67ff„ 76ff„ 80f„ 85, 161, 236 Langenberg 164, 170 Leipzig 80,114,126, 140, 157, 161 Liegnitz 218 Lübeck 191 Lüneburg 93, 133, 191, 227, 230ff„ 236, 266f.
Ortsregister Magdeburg 141, 160, 191, 206 Mansfeld 55, 70 Marburg 55,61 München 15 Münster 137f„ 146 Niedersachsen 135, 265f. Nordhausen 160, 163, 165 Nürnberg 137-144, 146, 148f., 152f., 170, 172f., 183, 241f„ 243f., 246, 249, 254, 267, 292, 295 Oberlausitz 219 Osnabrück 137f„ 146, 191 Österreich 167, 247 Oxford 115 Persien 158 Peterstal 137 Prag 153 Quedlinburg 270,272 Regensburg 150 Rom 39,44,55, 158 Rostock 126,191,267,277 Saalfeld 163 Sachsen-Gotha 81 Schlesien 152, 167 Schleusingen 140 Schoppershof 138 Schwaben 59f. Schweden 115, 138f. Schweidnitz 167
311
Schweiz 114,200 Skandinavien 77 Speyer 61, 68 Stockholm 115 Straßburg 126, 137, 139, 149, 151, 246, 267 Stuttgart 111-115, 119f„ 122, 125f„ 129, 131, 133f. Süddeutschland 60 Tenneberg 68 Themar 140 Thüringen 60, 150 Trient 305 Tübingen 113, 131, 135, 149,243 Ulm 249 Unna 272 Uppsala 115 Ursel 164 Wartburg 58, 64ff„ 161 Wedel 152 Weimar 15, 141, 167 Wittenberg 11, 61, 63f„ 66f., 141, 161, 165, 183, 220 Wolfenbüttel 80, 94, 153, 236, 266ff„ 278 Worms 13, 55f„ 58, 6Iff., 65 Württemberg l l l f . , 114, 116, 133f„ 136 Würzburg 140 Zürich 61 Zweibrücken 138 Zwickau 69
Personenregister
Agricola, Johannes 77 Ahitophel 33 Aland, Kurt 54, 268 Albrecht, Graf von Mansfeld 70f. Alexander der Große, König von Makedonien 26, 45 Altendorf, Hans-Dietrich 177f. Althaus, Paul 14,39 Arnos 174 Andreae, Jakob 168 Andreae, Johann Valentin 92, 243, 246, 254, 256, 259, 267, 277 Andresen, Carl 297 Aner, Karl 195,200 Anetsberger, Werner 300 Arndt, Johann 78, 80f., 88, 108, 123, 125f„ 129, 134, 141, 151f., 172, 185, 188, 206-226, 227-238, 239-262, 263-285, 295-298, 300-303, 305 Arnold, Gottfried 116, 118, 196, 241 Asendorf, Ulrich 293 Äsop 45 Athanasius 263 August d.J., Herzog von Braunschweig und Lüneburg 80, 92, 133, 229, 236ff., 246, 255, 265f„ 267f„ 278 August der Starke, König von Polen 80 Augustinus, Aurelius 28, 39, 145, 178, 180, 186f„ 201, 263, 272, 278, 282f. Augustus, Kaiser 45 Autumnus, Georg 164 Axmacher, Elke 219, 240, 305 Bader, Regine 135 Balduin, Friedrich 258 Barth, Caspar 141 Barth, Karl 156,263 Baur, Jörg 75,295 Behjat, Hamideh 295 Belsazar 104
Benrath, Gustav Adolf 229, 297 Bernhard von Clairvaux 145, 186, 272, 279, 298 Beste, Johannes 94 Betke, Joachim 299 Beutel, Albrecht 289, 292-294 Β eyreuther, Erich 240 Bilefeld, Johann Christoph 117ff. Birken, Sigmund von 139, 143 Blaschke, Karlheinz 236 Blaufuß, Dietrich 75, 116, 140, 191, 267 Boehmer, Heinrich 20, 57 Boff, Leonardo 177 Böhme, Jakob 196f„ 206, 218-226, 273, 295, 299 Bonaventura 283 Boor, Friedrich de 150 Borcherdt, Hans Heinrich 15 Bornkamm, Heinrich 13, 15, 17, 39f„ 50, 62f„ 155 Bornkamm, Karin 13 Brahe, Tycho 219 Bratke, Eduard 94 Bräuer, Siegfried 12 Braun, Karl 244 Braw, Christian 228, 240 Brecht, Martin 12f., 57, 70, l l l f . , 114, 134, 152, 154, 170, 208, 239ff., 249, 261, 290, 292, 294, 297, 299, 303 Breier, Melchior 249 Brenz, Johannes 160 Breuer, Dieter 80, 143, 154, 228, 236, 265, 289, 295 Bugenhagen, Johannes 158 Bunners, Christian 284 Burk, Johann Christian Friedrich 111 Calixt, Georg 79, 93f„ 102, 265, 288, 291,302 Calov, Abraham 78, 82, 288
Personenregister Calvin, Johannes 98 Campanus, Johannes 157 Carpzov, Johann Benedikt 98, 126 Carpzov, Samuel Benedikt 79, 80 Chemnitz, Martin 237, 298 Christian I., Kurfürst von Sachsen 77, 236 Christian Π., Kurfürst von Sachsen 79f. Christian Ludwig, Herzog von Braunschweig und Lüneburg 94 Christian, Herzog von Braunschweig und Lüneburg 231 f., 236 Chrysostomus 186 Cicero 45 Claus, Wilhelm 112 Coccejus, Johannes 126 Comenius, Johann Arnos 277 Corvinus, Johannes 169 Criiger, Johann 284 Cyprian, Emst Salomon 196 Daniel 102,105, 157 Dannhauer, Johann Conrad 87, 89, 91f., 95, 98f., 101f„ 137, 149, 246 Dätrius, Brandanus 94 David 16-53, 86, 98, 100, 120 Demosthenes 45 Deppermann, Klaus 91, 111 Diem, Harald 18 Diem, Hermann 18 Dieterich, Konrad 249 Dilherr, Johann Michael 137-153, 173176, 262, 292 Dingel, Irene 160, 167, 169, 288 Dippel, Johann Conrad 118,196 Diwald, Hellmut 56 Dorsche, Johann Georg 137, 149, 151 Drehsen, Volker 293 Dreier, Christian 291 Dreß, Walter 19, 57, 62, 274 Drews, Paul 75 Dülmen, Richard van 140f„ 143, 170, 241-244, 246f„ 249, 254, 258, 262 Ebeling, Gerhard 37, 39, 156, 269 Eberhard im Bart, Herzog von Württemberg 129 Eberhard Ludwig, Herzog von Württemberg 111, 114, 116, 129, 134 Eberhard, Johann August 200-204 Eckhart, Meister 272 Eckert, Brita 95
313
Egard, Paul 249, 256, 284 Eiert, Werner 104 Elia 157, 161, 164 Elisabeth Dorothea, Landgräfin von Hessen-Darmstadt 116, 118f„ 135 Elisabeth, Herzogin von BraunschweigWolfenbüttel 102 Endter, Wolfgang 247 Engels, Friedrich 58 Erdmannsdörffer, Bernhard 137, 138 Ernst der Fromme, Herzog von SachsenGotha 81, 116, 120, 142,246 Ernst Ludwig, Landgraf von Hessen-Darmstadt 116 Faber, Basilius 164-167 Fabricius, Johannes 243 Fabricius, Theodosius 169 Feilitzsch, Fabian von 26 Ferdinand, Erzherzog von Österreich 61 Flacius, Matthias 158f., 163, 167 Forster, Johann 258 Francke, August Hermann 195,277 Franckenberg, Abraham von 225 Frauenburg, Johann Gerhard 244 Freytag, Gustav 150 Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen 14, 16, 19, 26, 31, 33, 50, 55f„ 58f„ 62-67, 70, 73 Friedrich Π., König von Preußen 195, 200 Friedrich Karl, Administrator von Württemberg 114-116 Friedrich Wilhelm, Administrator von Kursachsen 79 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 120 Friedrich, Herzog von Braunschweig und Lüneburg 102 Fritz, Friedrich 112f„ 114, 117, 119f„ 124, 127, 132, 135 Gebhard, Graf von Mansfeld 70 Geier, Martin 76, 79ff„ 83, 85-89, 126, 134, 291 Gellmann, Georg 247 Gentiiis, Scipio 243 Georg Wilhelm, Herzog von Braunschweig und Lüneburg 94 Georg, Herzog von Hannover 94 Georg, Herzog von Sachsen 71 Georg, württembergischer Prinz 115
314
Personenregister
Gerhard, Johann 88, 141, 151f„ 183, 187ff„ 196, 208, 228f„ 231, 234, 243, 244, 246, 249, 251, 255f., 269f„ 305 Gerhardt, Paul 123, 149f„ 283 Gericke, Wolfgang 196 Gesenius, Justus 91-101, 104f„ 109, 291 Gessner, Salomon 220 Geyer, Hermann 299, 302 Glaser, Peter 161-163, 170 Gleich, Johannes Andreas 76 Goeters, Johann Friedrich Gerhard 297 Goff, Jacques le 177 Grävenitz, Christiane Wilhelmine von 134 Gregor I., Papst 180 Greschat, Martin 75, 275 Großgebauer, Theophil 126 Gruber, Eberhard Ludwig 135 Grünberg, Paul 79f. Haag, Norbert 74, 288, 293 Hafenreffer, Matthias 243 Hagenmaier, Monika 74f„ 249, 288, 293 Hahn, Joachim 76, 79f„ 83, 88, 290 Hallier, Christian 183 Hamm, Berndt 228, 240, 264, 266, 274, 281,296, 299 Hanneken, Philipp Ludwig 116f. Hannibal 26 Harsdörffer, Georg Philipp 143,154 Hausmann, Gerhard 78 Heckel, Martin 231 Hedinger, Christina Barbara 111 Hedinger, Johann Reinhard 111-136, 287, 291 Heermann, Johann 123 Heimbach, Werner 220 Heinrich Julius, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 102 Herkules 45f. Hermelink, Heinrich 117,126 Himmel, Johann 141 Hinckelmann, Abraham 115 Hinrichs, Carl 69 Hippokrates 217 Hoburg, Christian 92, 258f„ 281, 299 Hochstetter, Andreas Adam 130f., 134 Hochstetter, Johann Andreas 113 Hochstetter, Johann Friedrich 115 Hoe von Hoenegg, Matthias 75, 79, 158 Hoffmann, Gottfried 130 Holl, Karl 12, 23, 36, 156, 180
Holtz, Sabine 75, 151,288 Homer 45 Honecker, Martin 234,243 Hornig, Gottfried 285 Horning, Wilhelm 149 Höß, Irmgard 40 Hugo von St. Victor 283 Huizinga, Johann 180 Hülsemann, Johann 126, 246 Hutten, Ulrich von 46 Illi, Martin 179 Ingen, Ferdinand van 295 Irenaeus, Christoph 164, 167-169 Jäger, Johann Wolfgang 131,135 Jaspert, Bernd 265, 273 Jeremia 120f„ 157 Jesaja 98, 100, 103, 157 Joachimsen, Paul 56 Joest, Wilfried 14 Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen 16, 18,40, 50, 55, 58, 67-69, 70, 73 Johann Friedrich, Kurfürst von Sachsen 15, 16, 18, 21, 26, 28, 31, 33, 40, 50ff„ 55, 67, 69f., 73, 290 Johann Friedrich, württembergischer Prinz 114 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen 79f. Johann Georg Π., Kurfürst von Sachsen 80ff., 85 Johann Georg ΙΠ., Kurfürst von Sachsen 81 Johann Sigismund, Kurfürst von Brandenburg 77 Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen 167 Johannes der Täufer 157,270 Jonas, Justus 66, 158 Jordan, Hermann 12 Josaphat 120 Joseph 33,47 Josia 100 Jung, Martin 133 Jüngel, Eberhard 39 Junghans, Helmar 12, 13, 54, 157 Jürgensen, Renate 139 Kahl, Wilhelm 143 Kant, Immanuel 183,200,204 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 111 Karl Gustav, Pfalzgraf von Zweibrücken 138
Personenregister
315
Karl Rudolf, württembergischer Prinz 114f. Kaufmann, Thomas 126, 140, 149, 151, 153f., 287f., 292, 305f. Kawerau, Gustav 11,15 Kempen, Thomas von 263 Kemper, Hans-Georg 214 Kepler, Johannes 219 Kinder, Ernst 38f. Klai, Johann 139, 143, 153 Klemens von Alexandrien 178, 283 Klopfer, Christoph 118 Knapp, Albert 111, 114f„ 120, 124 Knapp, Hermann 134 Knolle, Theodor 16 Kobius, Johann 141
Lucian 46 Lucius, Johann Andreas 79, 80 Ludolphy, Ingetraut 63 Ludwig XIV., König von Frankreich 114 Lüthi, Karl 191 Lufft, Hans 11 Luther, Martin 11-53, 54-73, 83f., 87f„ 92f„ 107, 129, 133, 145, 155-176, 180ff„ 186, 188, 190, 209, 212f„ 220, 228, 238, 252f„ 256ff„ 262f„ 270, 273, 287, 289, 290, 294, 296, 305 Lütkemann, Joachim 50, 78, 80, 87, 89, 105, 126, 134, 153, 188, 263-285, 295f„ 305
Koch, Ernst 77, 157, 159-163, 169, 229, 243, 298 Koepp, Wilhelm 206f„ 229, 238, 240, 264, 270f„ 275, 297 Köhler, Walther 116f„ 118 Kolb, Christian 129, 131, 135 Kolb, Robert 157, 158, 294 Konstantin, Kaiser 98 Köster, Beate 129,131 Köstlin, Julius 11, 15f. Krebs, Jean Daniel 143, 154 Krell, Nikolaus 8 5 , 2 3 6 Krummacher, Hans-Henrik 214, 230 Krumwiede, Hans-Walter 15, 36, 40, 52, 9 1 , 9 4 , 102 Kruse, Martin 42, 91-93, 95, 98, 100 Kunst, Hermann 15f., 54, 58, 62ff„ 68ff. Kunz, Erhard 181,188
Machiavellus 50, 85, 107 Mack, Rüdiger 111, 115, 117f„ 119f. Magdalena Sibylle, Herzogin von Württemberg 114-116, 119, 124, 134 Mager, Inge 240, 288, 298, 301f. Major, Johann 141 Maleachi 157, 161 Maron, Gottfried 54 Mathesius, Johannes 11, 157f., 166 Matthes, Kurt 12 Matthias, Markus 191 Maukisch, Johann 123 Maurer, Wilhelm 19, 36, 62, 64 May, Johann Heinrich 115-118 Mayer, Johann Friedrich 75, 131 Melanchthon, Philipp 11, 52f., 88, 103,
Lapaeus, Johannes 163-165,170 Lassenius, Johann 115 Lau, Franz 13f„ 18, 20, 25, 36, 38f., 43 Ledderhose, Carl Friedrich 114f„ 132 Lehmann, Hartmut 111, 113, 115, 120, 126, 175f„ 263f„ 294f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 199, 202 Lemper, Ernst-Heinz 218f. Leopold I., Kaiser 116 Lessing, Gotthold Ephraim 202 Leube, Hans 113, 126, 140, 170, 173, 240, 267 Leyser d.Ä., Polykarp 24, 49, 79, 81-85, 88f„ 107, 110, 253,291 Lilje, Hanns 15 Livius 45 Loewenich, Walther v. 1 3 , 5 6 , 6 5 Lohse, Bernhard 13f., 73, 157f.
158f„ 161, 1 8 8 , 2 4 6 , 2 9 5 Mendelssohn, Moses 200 Mentzer, Balthasar 243 Merkel, Gottfried 295 Merlau, Johanna Eleonora von 191 Merz, Georg 15ff. Metzke, Erwin 218, 223f. Meyer, Johannes 102 Meyfart, Johann Matthäus 78, 142, 174, 183-189, 243, 246, 256, 259, 269f. Micha 157,160 Moeller, Bernd 13, 155, 180, 195 Mohr, Rudolf 283, 292 Molitor, Hansgeorg 264 Moller, Martin 219 Moritz, Herzog von Sachsen 50, 71 Mörlin, Joachim 258 Mose 157 Mosheim, Johann Lorenz von 195,197, 203 Mülhaupt, Erwin 15 Müller, Gerhard 12, 36, 54, 62
316
Personenregister
Müller, Hans Martin 293 Müller, Heinrich 126, 277, 284 Müller, Karl 12,36,114 Müntzer, Thomas 49 Musculus, Andreas 77
Rotach, Brigitta 178 Rublack, Hans-Christoph 74f„ 157, 175, 189, 228, 239, 286, 288 Rudolf Christian, Graf von Ostfriesland 105
Naeman 33, 47 Nathan 47 Neander, Michael 165 Nero 39 Nicolai, Friedrich 200 Nicolai, Philipp 189, 270-272 Niewöhner, Friedrich 116 Noah 157 Nordmann, Walter 191 Nowak, Kurt 13
Sabunde, Raimund von 216 Salomo 98, 108, 120 Sames, Arno 62, 70 Sandrart, Joachim von 138f. Sattler, Basilius 49, 77, 110 Saubert, Johann d.Ä. 140, 143, 170f„ 173, 176, 183, 185, 239-262, 295 Schiller, Friedrich 204 Schilling, Heinz 74, 137, 161, 227, 235f„ 286f. Schleiermacher, Friedrich 183, 200, 204, 273 Schleupner, Christoph 246, 259 Schmidt, Johann 113, 137, 149, 246, 256 Schmidt, Martin 15, 117, 239, 284, 296f„ 299 Schmidt, Sebastian 126, 149 Schmoller, Christian Gottfried 113, 130 Schmoller, Johann Bernhard 113 Schneemelcher, Wilhelm 178 Schneider, Hans 116, 208, 228, 237, 240, 257, 261, 298f. Schöllkopf, Wolfgang 111 Schöne, Albrecht 265 Schönstädt, Hans-Jürgen 157 Schopper, Jakob 242f. Schorn-Schütte, Luise 74f., 77, 79, 288, 290 Schottelius, Justus Georg 267 Schräder, Hans-Jürgen 265 Schrey, Heinz-Horst 13 Schröder, Jakob von 112 Schröder, Johann 243f. Schröttel, Gerhard 139, 151f„ 262 Schübel, Johann 113 Schubert, Johann Ernst 182, 196-200, 203 Schultz, Stephan 134 Schulz, Frieder 160f. Schütz, Heinrich 82, 191, 267 Schwarz, Reinhard 134 Schwarzburg, Ludämilie von 123f. Schwarzenberg, Adolf 139, 141 Schwarzwäller, Klaus 290 Schweinichen, Johann Siegesmund von 221
Oberman, Heiko A. 39, 156 Oestreich, Gerhard 86 Opitz, Martin 152 Origenes 179, 191ff. Oschmann, Antje 137 Oslander d.J„ Lukas 243,249,251 Oslander, Johann Adam 113 Otho, Anton 159f„ 163 Otte, Wolf-Dieter 133, 267 Pältz, Eberhard Hermann 219, 273 Paracelsus 209, 212, 217f„ 220, 248, 298 Pauls, Theodor 12 Paulus 28, 157 Pechmann, Wilhelm von 111 Petersen, Johann Wilhelm 118, 191-197 Petersen, Johanna Eleonora 191 Pfefferl, Horst 247 Philipp, Landgraf von Hessen 50,61 Piccolomini, Ottavio 138f. Piaton 283 Pleijel, Hilding 296 Preuß, Hans 157f„ 161 Pufendorf, Samuel 115 Ratke, Wolfgang 142 Ratschow, Carl Heinz 181 Reiner, Hermann 273 Reinhard, Wolfgang 286f. Reinkingk, Dietrich 90,98 Richter, Georg 141, 247 Richter, Gregor 220 Rist, Johann 123, 152f„ 292 Ritsehl, Albrecht 111 Rosenbach, Johann Georg 135
Personenregister Schwenckfeld, Kaspar von 157, 220, 248, 259, 281 Schwenter, Daniel 141 Scriver, Christian 126, 277, 284 Scultetus, Bartholomäus 219 Seckendorff, Veit Ludwig von 11, 90, 95, 155 Seebass, Gottfried 54 Seeberg, Emst 273 Seinecker, Nikolaus 49, 88, 158, 258 Semler, Johann Salomo 285 Silesius, Angelus 260 Smid, Menno 102 Sommalius, Henricus 273 Sommer, Wolfgang 19, 50, 62, 69, 76, 79ff., 83, 89, 105, 122, 153, 229, 238, 244, 303 Soner, Emst 182,242 Sophia Elisabeth, Herzogin von Braunschweig und Lüneburg 267 Spalatin, Georg 63f., 66, 68 Spangenberg, Cyriakus 158 Sparn, Walter 75 Spener, Philipp Jakob 42, 75, 79ff„ 85, 91 f., 101, 115, 117, 126, 134, 190f„ 240, 247, 265, 268ff„ 277, 284f„ 291, 298, 304 Staden, Sigmund Theophil 143 Staehelin, Emst 269f., 272 Stahl, Friedrich Julius 98 Steiger, Johann Anselm 75, 292 Stein, Paul 77 Steinmetz, Rudolf 94, 102 Stephan, Horst 155, 157 Stem, Heinrich 267 Stem, Johann 267 Stiefel, Michael 157 Sträter, Udo 126, 208, 258, 276, 305 Tauler, Johann 145, 250, 272, 275 Taurellus, Nikolaus 242 Tersteegen, Gerhard 195 Tertullian 178 Thadden, Rudolf von 76f. Theodosius, Kaiser 86 Tholuck, August 76, 113 Tillotson, John 201 Timann, Johann 160 Törnvall, Gustav 14, 43, 45 Troeltsch, Emst 2 0 , 4 3 , 156, 286
317
Trunz, Erich 78, 142, 174, 183f„ 243 Uhlhorn, Friedrich 94, 102 Ulrich, Graf von Ostfriesland 106 Urlsperger, Samuel 134 Ursinus, Zacharias 169 Varenius, Heinrich 249 Vergil 45 Vitringa, Campegius 115 Volz, Hans 157 Vorgrimler, Herbert 1 7 7 , 1 8 0 , 2 0 4 Wagner, Tobias 1 3 7 , 1 4 9 , 1 5 1 , 2 8 9 Wallmann, Johannes 39, 75, 78, 93, 105, l l l f . , 117, 123, 133, 149, 175, 190, 227, 229f„ 239f„ 249, 258, 261, 264, 266, 268-284, 287f„ 294, 298f„ 304, 306 Walther, Balthasar 218 Walther, Michael 91-93, 102-110,291 Wartenberg, Günther 54, 62 Weber, Edmund 205f„ 214, 246, 274f„ 298 Weber, Otto 98 Weigel, Valentin 220, 247f„ 252, 259, 281,295,299 Weigelt, Horst 157,247 Weinberg, Johann 291 Weiler, Jakob 79, 82 Welzig, Werner 76 Wilhelm Ludwig, Herzog von Württemberg 114 Wimmel, Herbert 230, 295 Winckelmann, Johannes 243 Winkler, Eberhard 292 Winter, Gustav 137 Wolf, Gunther 12 Wolff, Christian 195 Wrangel, Karl Gustav, schwedischer Heerführer 139 Wünsch, Georg 20 Zadok 47 Zeeden, Emst Walter 155, 157f„ 264 Zeißler, Gustav Ludwig 76 Zeller, Winfried 264, 272f. Zesen, Philipp von 295 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, Graf von 195, 277 Zwingli, Huldreich 61, 157, 161
Studien zur Reformationsgeschichte Thomas Kaufmann
Gottfried S e e b a ß
Reformatoren
Die Reformation und ihre Außenseiter
KLEINE REIHE VEtR 4004. 1998. 112 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-34004-4 Im Mittelpunkt dieses Werkes stehen sowohl weithin bekannte Reformatoren wie Calvin, Luther, Melanchthon und Zwingli als auch "Stadtreformatoren" wie Bucer und der radikale Reformator Müntzer. Einem einleitenden Essay des Autors zur Begriffsbestimmung von „Reformator" folgen anschaulich geschriebene Kurzbiographien, in denen jeweils ein Überblick über Leben und Wirken des einzelnen Reformators gegeben wird, sein Werdeund Ausbildungsgang wird kurz geschildert und die Entstehung seiner Hauptwerke in die Biographie eingeordnet - unter Verzicht auf ausführliche theologische Erörterungen entsteht so ein plastisches Bild des Dargestellten.
Gesammelte Aufsätze und Vorträge zum 60. Geburtstag des Autors Herausgegeben von Irene Dingel unter Mitarbeit von Christine Kress. 1997. 383 Seiten, gebunden ISBN 3-525-58165-3 Das Werk umfaßt Beiträge zur Geschichte der Reformation und zur Geschichte des „linken Flügels" der Reformation. Aus dem Inhalt: Die reformatorischen Bekenntnisse vor der Confessio Augustana / Stadt und Kirche in Nürnberg im Zeitalter der Reformation / Reich Gottes und A p o kalyptik bei Thomas Müntzer / Dissent und Konfessionalisierung. Zur Geschichte des 'linken Flügels der Reformation' in Nürnberg.
Georg Kuhaupt Ulrich Asendorf
Lectura in Biblia Luthers Genesisvorlesung (1535-1545) Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, Band 87. 1998. 528 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56294-2 Lectura in Biblia war Luthers akademischer Lehrauftrag, seine Bibelprofessur. In seiner letzten monumentalen Vorlesung rekapituliert er nochmals seine gesamte Theologie in der Fülle ihrer biblischen Bezüge, zusammengefaßt in seiner trinitarisch verstandenen Rechtfertigungstheologie. Da Schrift und Dogma zusammengehören, ist gerade diese Vorlesung für das ökumenische Gespräch über die Rechtfertigung von hoher Bedeutung, genauso wie Luthers Theologie einer gesamtbiblischen Erneuerung der heutigen Theologie und kirchlichen Praxis neue Perspektiven eröffnet.
Veröffentlichte Kirchenpolitik Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538-1541) Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Band 69. 1998. 369 Seiten mit 8 Abbildungen, gebunden ISBN 3-525-55177-0
H a n s R. G u g g i s b e r g
Sebastian Castellio 1515-1563 Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter 1997. IX, 353 Seiten mit 16 Abbildungen, Leinen ISBN 3-525-55303-X
VÖR
Vandenhoeck Ruprecht
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Herausgegeben von Adolf Martin Ritter Eine Auswahl
73 Uwe Rieske-Braun Duellum mirabile Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie. 1999. 287 Seiten, geb. ISBN 3-525-55181-9
65 Jürgen Kaiser Ruhe der Seele und Siegel der Hoffnung Die Deutungen des Sabbats in der Reformation. 1996. 319 Seiten, geb. ISBN 3-525-55169-X
72 Holger Strutwolf Die Trinitätstheologie und Christologie des Euseb von Cäsarea Eine dogmengeschichtliche Untersuchung seiner Piatonismusrezeption und Wirkungsgeschichte. 1999. Ca. 486 Seiten, geb. ISBN 3-525-55180-0
64 Athina Lexutt Rechtfertigung im Gespräch Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41. 1996. 299 Seiten, geb. ISBN 3-525-55172-X
71 Klaus Fitschen Messalianismus und Antimessalianismus Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte. 1998. 379 Seiten, geb. ISBN 3-525-55179-7
63 Volker Leppin Geglaubte Wahrheit Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham. 1995. 365 Seiten, geb. ISBN 3-525-55173-8
70 Ernst Feil Religio Zweiter Band. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540-1620). 1997. 372 Seiten mit einem Sachregister, geb. ISBN 3-525-55178-9
62 Johann Anselm Steiger Johann Ludwig Ewald ( 1 7 4 8 - 1 8 2 2 ) Rettung eines theologischen Zeitgenossen. 1996. 598 Seiten mit 6 Abb., geb. ISBN 3-525-55171-1
69 Georg Kuhaupt Veröffentlichte Kirchenpolitik Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538-1541). 1998. 369 Seiten mit 8 Abbildungen, geb. ISBN 3-525-55177-0 68 Martin Wallraff Der Kirchenhistoriker Sokrates Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person. 1997. 379 Seiten, geb. ISBN 3-525-55176-2 67 Matthias Richter Gesetz und Heil Eine Untersuchung zur Vorgeschichte und zum Verlauf des sogenannten Zweiten Antinomistischen Streits. 1996. 470 Seiten, geb. ISBN 3-525-55175-4 66 Volker Henning Drecoll Die Entwicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea Sein Weg vom Homöusianerzum Neonizäner. 1996. XIV, 417 Seiten mit 1 Landkarte, geb. ISBN 3-525-55174-6
61 Ute E. Eisen Amtsträgerinnen im frühen Christentum Epigraphische und literarische Studien. 1996. 287 Seiten, geb. ISBN 3-525-55170-3 60 Rudolf Keller Die Confessio Augustana im theologischen Wirken des Rostocker Professors David Chyträus ( 1 5 3 0 - 1 6 0 0 ) 1994. 239 Seiten, 1 Abb., geb. ISBN 3-525-55168-1 59 Ralf Kötter Johannes Bugenhagens Rechtfertigungslehre und der römische Katholizismus Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525). 1994. 489 Seiten, geb. ISBN 3-525-55167-3
V&R
Vandenhoeck Ruprecht