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German Pages 352 Year 1977
Deutsche Texte Herausgegeben von Gotthart Wunberg
WILHELM SCHERER
Poetik Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse
Herausgegeben von G U N T E R REISS
Deutscher Taschenbuch Verlag Max Niemeyer Verlag Tübingen
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977 Satz: Bücherdruck Wenzlaff, Kempten Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. I S B N Niemeyer 3-484-19043-4 I S B N dtv 3-423-04290-7
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG: Germanistik
im Kaiserreich.
Wilhelm
als wissenschaflsgeschichtliches
Scherers >Poetik
POETIK< ( 1 8 8 8 p o s t h u m )
1
Vorbemerkung des Herausgebers [R. M. Meyer]
3
V o r w o r t [W. Sdierer]
7
1 . K a p i t e l . Das Ziel I. Gebundene und ungebundene Rede
9 9
A . Nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung der Sprache
9
B. Nicht alle kunstmäßige A n w e n d u n g der Sprache ist Poesie
Ij
II. Die Aufgaben und Methoden der Forschung
29
2. Kapitel. Dichter und Publicum
j4
I. Uber den Ursprung der Poesie
$4
II. Uber den Werth der Poesie
82
A . Der Tauschwerth der Poesie und der litterarische Verkehr
84
B. D e r ideale Werth der Poesie
94
III. Die Dichter
101
1. Factoren der Production
101
2. Betheiligung mehrerer Dichter an demselben Werke
102
3. Unterbrochenes Arbeiten
106
4. Anhaltendes Arbeiten
108
j . Die schaffenden Seelenkräfte
108
6. Genie und Wahnsinn
115
7. Verschiedenheiten der Dichter
119
IV. Das Publicum
124
1. Die Verschiedenheiten des Publicums
124
2. Altes und Neues
125
3. Die genießenden Seelenkräfte
127
4. Aufmerksamkeit und Spannung
128
5. Die Bedingungen des Gefallens
132
3. Kapitel. Die Stoffe
137
I. Die drei Welten
137
V
II. Allgemeine Motivenlehre III. Die Figuren der Verwicklung IV. Die Klassen der Wirkungen 4. Kapitel. Innere Form I. Objective Auffassung II. Subjective Auffassung j. Kapitel. Außere Form I. Die Grundformen der Darstellung A. Directe und indirecte Darstellung B. Fictionen C. Aus der Lehre von den Zeichen D. Die Arten der Rede II. Die Dichtungsarten III. Die Composition IV. Sprache V. Metrik ANHANG I : ZUR AUSGABE VON 1 8 8 8 ( R . M . M e y e r ) ANHANG 2 : ZUR NEUAUSGABE - MATERIALIEN ZUR REZEPTIONSANALYSE
I. Vorbemerkung II. Geschichte und Poetik bei Sdierer. Texte zur Entstehung der >Poetik< 1. Wilhelm Scherer. Hettners Literaturgeschichte [1865]
2. Wilhelm Scherer. Geschichte und Geschiditschreibung unserer Zeit [1866] 3. Wilhelm Roscher. Die historische Methode [1843] 4. Wilhelm Rosther. Methoden der Nationalökonomik [1854] 5. Wilhelm Scherer. Des Minnesangs Frühling [1876] . 6. Anonym [ = W.Sch.]. Deutsche Poetik [1880] . . 7. Wilhelm Scherer. Ein japanischer Roman [1881] . . 8. Wilhelm Sdierer. Walther von der Vogelweide [1884] 9. Wilhelm Scherer. Moriz Carrière: Ästhetik [188$] . III. Materialien zur Rezeption der >Poetik< 10. Wilhelm Dilthey [1886] 1 1 . Konrad Burdach [1888] 12. Moriz Carrière [1888] VI
141 144 145 150 i$2 154 IJ6 IJ6 ij6 158 ijj 160 162 167 170 181 184
204
204 210 210
213 221 "3 233 234 23$ 237 239 241 241 242 246
1314. . 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.
A . D ö r i n g [1888] S. Saenger [1888] Anonym [1888] Richard Maria Werner [1889] Jakob Minor [1889] Victor Bäsch [1889] Rudolf Lehmann [1889] Julius Hart [1889] Georg Ellinger [1890] Veit Valentin [ 1 8 9 1 ]
249 249 2ji 262 266 267 269 273 287 292
IV. Biographische Notiz zu Wilhelm Scherer und Richard M. Meyer V. Wilhelm Sdierer. Schriftenverzeichnis in Auswahl . . . V I . Auswahlbibliographie zur Sekundärliteratur über Wilhelm Sdierer (mit besonderer Berücksichtigung der Diskussion um die >PoetikPoetik< als wissenschaftsgeschichtliches Dokument 1 I. »Für die Mehrzahl der in der Hochschule tätigen Wissenschaftler bzw. Hochschullehrer dürfte die These, daß wissenschaftliches Studium mit Sozialisation verknüpft ist - oder gar darin seine wichtigste Funktion hat [ . . . ] - , noch befremdlich oder illegitim sein, weil sie sich mit dem Selbstverständnis ihrer Disziplin als wertfrei und objektiv forschender und sich vermittelnder Wissenschaft und mit dem Selbstverständnis der Universität, nur > Wissenschaft zu vermitteln, nicht verträgt, und unangenehm sein, weil sie an die Interpretation der eigenen Biographie als Wissenschaftler rührt.« Diese Sätze stammen aus einer Studie über das »Problem der Sozialisation von Wissenschaftlern«, die Ludwig Huber in Ausein* Die Thesen dieser Einleitung wurden in einem Vortrag vor der Annette-von-Droste-Gesellschaft, Münster, am .21. Jan. 1975 zur Diskussion gestellt. Freunden und Kollegen danke ich für Kritik und Anregungen. 1 Der Begriff des »Dokuments« könnte sehr eng verstanden werden, für die folgenden Überlegungen sei aber auf das Spannungsverhältnis von »Werk« und »Dokument« verwiesen, das Karel Kosik beschrieben hat und das auch - gerade in seiner Ambivalenz für Sdierers >Poetik< reflektiert werden sollte: » [ . . . ] wie und warum überlebt ein Werk die Verhältnisse, in denen es entstanden ist? Wenn die Wahrheit eines Werkes in den Verhältnissen liegt, überlebt das Werk nur, weil und sofern es ein Zeugnis der Verhältnisse ist. Das Werk ist ein Zeugnis der Zeit in doppeltem Sinn. Schon durch einen ersten Blick auf das Werk stellen wir fest, in welche Zeit wir es hineinstellen müssen, welche Gesellschaft dem Werk ihren Stempel aufgeprägt hat. Zweitens betrachten wir das Werk im Hinblick darauf, welches Zeugnis es von seiner Zeit und ihren Verhältnissen ablegt. Das Werk wird als Dokument verstanden. Damit wir ein Werk als Zeugnis der Zeit oder als einen Spiegel der Verhältnisse erforschen können, müssen wir vor allem diese Verhältnisse kennen. Nur aufgrund eines Vergleiches der Verhältnisse mit dem Werk können wir sagen, ob das Werk ein rich-
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a n d e r s e t z u n g m i t H a r t m u t v o n H e n t i g 1 9 7 4 v o r g e l e g t h a t . 1 Ich setze sie an den B e g i n n meiner Ü b e r l e g u n g e n , u m z u verdeutlichen, in welche R i c h t u n g das der f o l g e n d e n D a r s t e l l u n g z u g r u n d e liegende Interesse a m »wissenschaftsgeschichtlichen D o k u m e n t « f ü h r t . Es h a n d e l t sich u m ein wissensdiaftstheoretisches P r o b l e m , dessen R e l e v a n z f ü r den einzelnen Wissenschaftler als a k u t erscheint u n d nahe legt, den G e g e n s t a n d , an d e m die Thesen z u e n t w i c k e l n sind, in D i s t a n z z u rücken u n d so a u s z u w ä h l e n , d a ß B e t r o f f e n h e i t nur über die hermeneutische V e r m i t t l u n g v o n Geschichte u n d G e g e n w a r t wirksam wird. W i l h e l m Scherer u n d seine >Poetik< eignen sich in diesem Sinne als exemplarisches Beispiel, sdieint doch eine a f f e k t i v e B i n d u n g an Scherer k a u m noch - u n d w e n n ü b e r h a u p t : nur n e g a t i v - möglich. U n s e r e V o r u r t e i l e gegenüber Scherers positivistischer Wissenschaft u n d gegenüber der sogenannten >Sdierer-Schule< sind stabil u n d m a d i e n ihn i m G r u n d e uninteressant. 3 Q u e l l e n h u b e r e i , B i o g r a p h i s -
2
3
tiger oder ein falscher Spiegel der Epoche ist, ob es ein wahres oder falsches Zeugnis der Zeit ablegt. Aber die Funktion eines Zeugnisses oder Dokumentes erfüllt jede kulturelle Schöpfung. Eine kulturelle Schöpfung, der sich die Menschheit ausschließlich als einem Zeugnis der Zeit zuwendet, ist kein Werk. Die Eigenschaft des Werkes besteht gerade darin, daß es nicht vornehmlich oder ausschließlich ein Zeugnis der Zeit ist, sondern unabhängig von der Zeit und den Verhältnissen seiner Entstehung, von denen es außerdem Zeugnis ablegt, ein konstitutives Element der Menschheit, der Klasse und des Volkes ist oder zu einem solchen wird. Seine Natur ist nicht die Historizität, also nidit eine >sdilechthinnige Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit, sondern sein historischer Charakter, d. h. seine Fähigkeit, sich zu konkretisieren und zu überleben.« (Karel Kosik: Historismus und Historizismus. In: Peter U w e Hohendahl (Hg.): Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Dokumente zur empirischen und marxistischen Rezeptionsforschung. Frankfurt 1974. [ = F A T . 2072.] S. 202-214: S. 205/206.) Ludwig Huber: Das Problem der Sozialisation von Wissenschaftlern. Ein Beitrag der Hodischuldidaktik zur Wissensdiaflsforschung. In: neue Sammlung. 14. 1974. 2-33: S. 11. Vgl. hierzu auch die bei Oskar Benda: Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre Problemlage. Wien, Leipzig 1928. S. 8, aufgeführte Liste von Schimpfworten. Oskar Koplowitz' (Otto Brahm als Theaterkritiker. Mit Berücksichtigung seiner literarhistorischen Arbeiten. Zürich, Leipzig 1936.) Mahnung, Scherers Verdienste nicht zu verkennen, ist auf dieses »von den Gegnern entworfene Zerrbild« (S. 14) bezogen: »Das Bild Wil-
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mus und Tatsachengläubigkeit auf der einen Seite und preußisdideutsche Ideologie 4 auf der anderen, haben hier für klare Verhältnisse gesorgt. Scherer - so scheint es - ist etwas für Archivare. Von seiner >PoetikPoetik< sagt: »Sie enttäuschte schon, als sie hervortrat; sie mag den Leser von heute noch mehr enttäuschen«, 7
so steht Walzel nicht allein mit dieser Ansicht. Heute jedoch, bald neunzig Jahre nach Scherers Tod, eröffnen sich uns andere Frageperspektiven als damals - und Scherers >Poetik< überrascht uns. Sie überrascht in doppelter Hinsicht: - ihr literaturtheoretisches Konzept könnte auch der gegenwärtigen Diskussion interessante Impulse verleihen und - ihr wissenschaftsgeschichtlicher Stellenwert verspricht Aufschlüsse über das Funktionieren des wissenschaftlichen Systems Germanistik im gesellschaftlichen Kontext. Im folgenden wird der Akzent stärker auf dem zweiten Aspekt liegen. 8 Scherers >Poetik< als wissenschaftsgeschichtliches Dokument betrachten, bedeutet deshalb zunächst, sie auf ihre Entstehungs- und heim Sdierers und seiner Schule ist durch den nidit immer massvollen K a m p f einer nachfolgenden Wissenschaftlergeneration so verzerrt und verdunkelt worden, dass w i r Heutigen leicht geneigt sind, die R e v o l u tion, die dieser Mann f ü r seine Disziplin bedeutete, zu übersehen.« 4
(S. 13/14.)
V g l . Hans M a y e r : Literaturwissenschaft in Deutschland. I n : Literatur II, i . H g . v . W o l f - H a r t m u t Friedrich und Walther K i l l y . F r a n k f u r t 1965. [ = D a s Fischer Lexikon, J J / I . ] S. 326/327. s V g l . die biographische N o t i z zu R . M . M e y e r im A n h a n g dieser A u s gabe. ® D e m widersprechen auch nicht die sdieinbar zahlreichen, im A n h a n g vorgelegten Materialien, die eher belegen, wie sehr Sdierers >Poetik< an den R a n d der Diskussion gedrängt worden ist. 7 Oskar W a l z e l : Wilhelm Sdierer und seine Nachwelt. I n : Z f d P h . J J .
1930. 391-400: S. 397.
XI
Wirkungssituation im Kaiserreich zu beziehen und in ihrer F u n k tionalität zu beschreiben. D a s heißt gleichzeitig aber nicht, daß auf die Darstellung v o n Scherers literaturtheoretischem A n s a t z verzichtet werden muß. 8 a N u r sollte nicht erwartet werden, daß eine - im engeren Sinne - immanente E i n o r d n u n g in die Geschichte der Poetik erfolgt. D i e Grenzen lediglich poetologischer F r a g e n werden überschritten durch das Interesse am wissenschaftsgeschichtlichen Stellenw e r t solcher Fragen. A u f W a l t e r Benjamin kann sich berufen, w e r sich hier nicht mit der A u t o n o m i e einer Wissenschaft und der A u t o nomie ihrer Fragestellungen begnügen w i l l : »Man spricht ja gern von autonomen Wissenschaften. U n d wenn mit dieser Formel auch zunächst nur das begriffliche System der einzelnen Disziplinen gemeint ist - die Vorstellung von der Autonomie gleitet doch ins Historische leicht hinüber und führt zu dem Versuch, die Wissenschaftsgeschichte jeweils als einen selbständig abgesonderten V e r lauf außerhalb des politisch-geistigen Gesamtgeschehens darzustellen.« 8 8
Benno von Wiese formuliert etwa zur gleichen Zeit noch entschieden deutlicher die Absage an Scherer: »Der K a m p f gegen die Philologie, soweit er noch gelegentlich erbitterte Worte gegen die Schererschule findet, rennt offene Türen ein. Die Geisteswissenschaft ist - das lehrt dieses Buch [ = Emil Ermatinger (Hg.): Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930. G . R . ] von A n f a n g bis zu Ende - eine v o l l zogene Tatsache.« - B . v . W . : Z u r Philosophie und Methodologie der heutigen Literaturwissenschaft. I n : Zs. f. Deutsche Bildung. 7. 1 9 3 1 . 44-46. 8a V g l . Katherine Inez Lee: Wilhelm Scherer's t w o - f o l d Approach to Literature. I n : The Germanic R e v i e w . L I . 1976. S. 209-288, die unter Verwendung von bisher unveröffentlichten Briefen an Lina Duncker (aus dem Privatbesitz Ulrich Pretzels) erneut auf Scherers literarhistorische Bedeutung aufmerksam macht: »To expect everyone to accept Scherer's criteria is unrealistic; despite the various attempts to make literary criticism >objectivesubjectiveGrenzboten< zu lesen: »Poesie und Schauspielkunst der letzten J a h r e haben selten durch neue Erfindungen von hervorragendem Kunstwerth erfreut, dennodi hat das deutsche Theater immer gesteigerte Bedeutung für die Bildung 52
Scherer: Goethe-Philologie. S. 10.
53
Scherer: Goethe-Philologie. S. 10. Z u m Stichwort »Dichterfürst« vgl. meine Einleitung » V o m Dichterfürsten und seinen Untertanen« zu: Materialien zur Ideologiegesdiidite der deutschen Literaturwissenschaft. I. S. V I I - X L I . - U n d : Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst. In: Dichtung. Sprache. Gesellschaft. A k t e n des I V . Internationalen Germanisten-Kongresses 1 9 7 0 in Princeton. H g . von V i c t o r Lange und H a n s - G e r t Roloff. F r a n k f u r t 1 9 7 1 . S. 4 J 9 - 4 J J .
54
55 5
Scherer: Goethe-Philologie. S. 10.
' Schanze: 57 Schanze: 58 Schanze: 5 * Schanze:
Drama Drama Drama Drama
im im im im
bürgerlichen bürgerlichen bürgerlichen bürgerlichen
Realismus. Realismus. Realismus. Realismus.
S. S. S. S.
9. 6. 5. j.
XXIX
der N a t i o n g e w o n n e n . Unsere B ü h n e n sind ein r e g e l m ä ß i g e s T a g e s v e r g n ü g e n aller ansehnlichen S t ä d t e , ihre D a r s t e l l u n g e n üben eine unermeßliche W i r k u n g a u f die G e d a n k e n und das E m p f i n d u n g s l e b e n des V o l k e s aus.« 6 0
A u f diesen historischen Hintergrund ist zu projizieren, was Scherer im allgemeinen und an fernen historischen Beispielen über die Funktion der Poesie als »sittliche Bildnerin«, als »Haupterziehungsmittel« der N a t i o n ableitet. V o n der »Macht« der Poesie kann auch hier gesprochen werden, und im Z i t a t aus den >Grenzboten< ist ebenfalls unüberhörbar d a v o n die Rede, aber es ist ein sehr diffuser Begriff geworden. Er bezieht sich auf Ersatzhandlungen außerhalb der politischen Realität und ist doch, auf lange Sicht gesehen, v o n eminent politischer Bedeutung. D i e »poetische« Realität des Bürgertums verhindert in zunehmendem M a ß e , d a ß wahrgenommen wird, was in der G r ü n d u n g des Deutschen Reiches 1871 schon zu beobachten ist und in der weiteren Entwicklung immer schärfer zutage tritt: » [ . . . ] a m E i n g a n g z u m neuen S t a a t s g e b ä u d e [stand] kein u r s p r ü n g licher E m a n z i p a t i o n s a k t der politisch m ü n d i g e n Volksschichten, sondern der autoritäre preußische O b r i g k e i t s s t a a t e x p a n d i e r t e mit blendenden E r f o l g e n z u m Deutschen Reich v o n 1 8 7 1 . In seinem G e h ä u s e sollte sich auch die bürgerlich-industrielle Gesellschaft einrichten. G e g e n mächtige Z e i t t e n d e n z e n feierten die aristokratischen, militärischen, agrarischen K r ä f t e den T r i u m p h des siegreichen A u s g a n g s ihres aggressiven D e f e n s i v k a m p f e s . U n t e r diesem V o r z e i c h e n b e g a n n die G e schichte des neuen Reichs.« 6 1
D i e sich hier abzeichnenden Diskrepanzen und Widersprüchlichkeiten in der Bewußtseinslage des Bürgertums drücken sich in der >Poetik< und ihrer Standortbeschreibung aus. Was die poetische Praxis demonstriert, signalisiert sich gleichermaßen in ihrem poetologischen Reflex. Auch hier hat der Literaturwissenschaftler, in A b w a n d l u n g der Formulierung v o n Schanze, >nicht die Realität, sondern die Poetik übernommene A u f f ä l l i g e s und charakteristisches S y m p t o m d a f ü r mag sein, wie sich ideologiekritischer A n s a t z und durch die Geschichte überholt geglaubtes feudales Muster - T h r o n 60
I n : G r e n z b o t e n . 27. 1. Sem. 2. L e i p z i g 1868. S. 409. Schanze. S. 6.
61
H a n s - U l r i c h W e h l e r : D a s Deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 . 1973. [ = Deutsche Geschichte. 9.] S. 40.
XXX
Z i t i e r t nach: Göttingen
besteigung des die Nation erziehenden Dichterfürsten - vermischen. Der historisch tatsächlich sich vollziehende »Feudalisierungsprozeß« des Bürgertums im Kaiserreich 62 erscheint hier auf die paradigmatische Formel gebracht. Elitäre Strukturen, wie die zuletzt angedeuteten, verbinden sich mit Scherers schon zitierter Diagnose, Poesie sei schon immer »Eigenthum nur der Wenigen, die sie verstehen und Anderen mittheilen können«. In diese Richtung weist zusätzlich, was über Scherer bei seinen Schülern oder späteren Rezipienten zu lesen ist. So feiert ihn Konrad Burdach im Vorwort zu Scherers >Kleinen Schriften< als den »Priester« jenes Geistes, der die »deutsche Philologie schuf und durch ihre Meister entfaltete«. 8 3 Scherer selbst sieht sich indes schon in dieser priesterlichen Funktion, wenn er anläßlich einer Rezension schreibt: »Ästhetische Überzeugungen sind so heilig wie sittliche. Wer durch seinen Beruf den künstlerischen Lebensinteressen nahe steht, muß über Kunstwerke mit demselben Gefühle der Verantwortung reden wie ein geistlicher Berather über Tugend und Sünde.« 84 Wie kann man auf diesem Hintergrund zusammenbringen, daß Poesie einerseits »Eigenthum nur der Wenigen«, andererseits aber »Haupterziehungsmittel der Nationen« ist? Liegt nicht der Gedanke nahe, daß die Wenigen in der Poesie das Haupterziehungsmittel der Nation besitzen? Priester und Forscher, Priester und Künstler erscheinen in Analogie zueinander; Fürst und Dichter ebenso. Scherer selbst gliedert sidi ein in diese Zusammenhänge. U n d seine >Poetik