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German Pages [233] Year 2016
A
Rudolf zur Lippe
Plurale Ökonomie Streitschrift für Maß, Reichtum und Fülle
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860724
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B
Rudolf zur Lippe Plurale Ökonomie
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Zu diesem Buch: Die heutige Wirtschaft ist zunehmend beherrscht durch eine einseitige Fixierung auf den industriellen Sektor, so dass wir es tendenziell immer mehr mit einer monetarisierten und kapitalisierten Ökonomie zu tun haben. Es wird häufig vergessen, dass daneben auch noch andere Wirtschaftsformen existieren, die durch den einen forcierten Sektor verstärkt bedroht sind. Es handelt sich dabei vor allem um gemeinschaftliche Wirtschaftsformen, also um Formen, welche an Orte des Lebens und bestimmte menschliche Zusammenhänge gebunden sind. Diese gilt es anzuerkennen und zu bewahren. Von hierher ist auch die Frage nach dem rechten Maß neu zu stellen, aus dem sich ein verändertes Verständnis von Reichtum und Fülle ergibt. Der Autor: Rudolf zur Lippe, Jahrgang 1937, war von 1974 bis 2002 Professor für Sozialphilosophie und Ästhetik an der Universität Oldenburg. Außerdem lehrte er »Philosophie der Lebensformen« an der Universität Witten/Herdecke. Sein erstes Studium, Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg, schloss er 1960 mit dem Diplom ab. Sein zweites Studium, Mittlere und Neuere Geschichte, 1965 dort mit dem Dr. phil. Zwischen seinen anderen Tätigkeiten und Forschungen veröffentlichte er 1979 »Am eigenen Leibe – Ökonomie des Lebens« und 1991 »Freiheit, die wir meinen«, einen Entwurf zum Zusammenhang von Wirtschaft mit kosmologischen Fragen. Immer deutlicher betont er die Notwendigkeit, über wirtschaftliche Ordnungen nicht ideologisch zu diskutieren, sondern von den sachlichen Möglichkeiten und Problemen her abzuwägen. An den Fragen der Pluralität von Lebensformen arbeitet er seit mehreren Jahren. Rudolf zur Lippe lebt und arbeitet als Philosoph, Ausstellungsmacher und bildender Künstler in Hude und Berlin. Seine Projekte konzipiert er im Rahmen seiner Stiftung »Forum der Kulturen«.
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Rudolf zur Lippe
Plurale Ökonomie Streitschrift fu¨r Maß, Reichtum und Fu¨lle
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Covermotiv: Mary Bauermeister, Steinspirale (Ausschnitt) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48480-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86072-4
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Den hunderten Millionen von Mitmenschen, die als Kleinbäuerinnen und Kleinbauern oder in Hirtenvölkern leben. Allen, die ihnen beistehen und für die Bewahrung ihrer guten alten Rechte und deren Fortentwicklung kämpfen. Den Menschen überall, die wechselseitige Lebensformen fortsetzen und neu entfalten.
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INHALT
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Ökonomie und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vom Entwurf zur Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Was ist »die Wirtschaft«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ökonomie, was für eine Ordnung ist das? . . . . . . . . . . . .
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Einige Leitfragen
Der Entwurf
Geschichte pluralen Wirtschaftens . . Frühe Formen . . . . . . . . . . Industriezeitalter . . . . . . . . Ein kritisches Dritte-Welt Modell One World – one Economy . . . Die Realität anerkennen . . . . .
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Gemeingut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Arbeit und Lebenstätigkeit Nutzen und Schönheit
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Kreisläufe des Wirtschaftens
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Bedeutung von pluraler Ökonomie für die Weltordnung . . . . . Zum weiteren Lesen
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EINIGE LEITFRAGEN
Grundlage der Pluralität von Ökonomie, die in Wahrheit uns trägt, immer noch trägt, sind die nicht industrialisierten, nicht kapitalistischen, meist nicht einmal monetarisierten Formen unseres alltäglichen Wirtschaftens. Die ökonomischen Theorien beschäftigen sich nicht mit ihnen. Ihre Geschichte hat einen Begriff für sie: Subsistenzwirtschaft – und ist längst mit ihnen fertig. Die wenigsten kennen das Wort im Deutschen. Im Angelsächsischen passt zu subsistence immerhin gut sustainability. Seit kurzem taucht es wieder öfter auf, sogar als urbane Subsistenz – Selbständigkeit im nächsten Umfeld gerade für die riesigen Siedlungszonen, die keiner mehr eine Stadt zu nennen wagt. Der Ansatz und Hebel, der aus diesen Feststellungen einen Entwurf macht, muss deren Anerkennung sein. Anerkennung wird in unserer Gesellschaft jedoch unter der Herrschaft des dominanten kapital-industrialistischen Sektors unserer Wirtschaft für seine Zwecke inszeniert. Anerkannt werden die Menschen in erster Linie über demonstrative Formen von Konsum. In Deutschland war der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Konsumerismus verbunden, den die Vereinigten Staaten zur Ankurbelung ihrer eigenen Wirtschaft exportierten. Der Marschall-Plan war nicht nur Hilfe in der Not für die westdeutsche Grenzmark, die zum Verbündeten gegen die Sowjetunion ausgebaut werden sollte. Er diente auch einer Umerziehung der Mentalität, die wohl noch erfolgreicher geworden ist als die Umerziehung zur Demokratie. Anerkennung wird in dieser Mentalität immer weniger mit der Wahrnehmung von Leistung verbunden, vielmehr mit dem, was einer sich leisten kann. Das heißt immer öfter, wie kreditwürdig er irgendeinem Geldinstitut hat erscheinen können. Gerade die Konsumgüter, die sich zur Demonstration besonders eignen, beschleunigen den Verbrauch von Ressourcen und die Belastung der Erde als Deponie. Die vergleichsweise unscheinbaren Leistungen in der Hauswirtschaft und allem, was Familien und ähnliche Ge9 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
meinschaften für und mit einander tun, alte Nachbarschaftshilfe und neue Tauschringe, Vereine und ehrenamtliches Engagement erwirtschaften, fallen dagegen in der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung eher in die freundlich-verächtliche Kategorie persönlicher asketischer Neigungen. Wer seine Energien und sein Können nicht für ein Maximum an geldwertem Output einsetzt, wird fast schon mit der Aura des Unprofessionellen verbucht wie Nonnen und Mönche. Wo die Leistungen systematisch einem Mehr an Qualität elementarer Zusammenhänge dienen, wie z. B. in einem grundsätzlich ökologischen Landbau, werden die Unternehmen ebenso gar nicht erst als beachtenswerter Faktor der Ökonomie bemerkt. Zukunftsfähigkeit wird zwar zunehmend gefordert, aber die Tugenden, die sie befördern, werden im großen Ganzen weiterhin von den Kulissen der Werbung ausgeblendet, auf denen der Bürger vom Staat zum Konsum aufgefordert und die Konsumenten in den Sog der Verschwendung gezogen werden. Wer sich in produktiver Bescheidung übt, wird eher als »Gutmensch« verspottet. Wie kehren wir diese Anerkennungsmaschine um? Vor drei Jahrzehnten trat der Club of Rome mit einer Analyse des herrschenden Wirtschaftssystems hervor und gab ihr den Titel »Limits to growth«. Ein Signal zum Umdenken. Die Autoren des Buches und die Mitglieder des Clubs konnten wahrhaftig mit keinem der üblichen Klischees wie Revoluzzer, Esoteriker oder, besonders perfide, Gutmenschen abgewiesen werden. Als These wurden »Die Grenzen des Wachstums« sogar weithin diskutiert, jedenfalls oft genug zitiert. Im System ist weiter in die alte, entgegengesetzte Richtung gehandelt worden. Tatsächlich muss Umdenken noch tiefer und breiter ansetzen. Begrenzung weist jeder lieber den Anderen zu. »Wachstum« scheint unabdingbar, solange Ersatz und Ablenkung arrangiert werden, wo Nachdenken und Handeln an den wirklichen Problemen verweigert werden sollen. Der Begriff Wachstum ist der Biologie ja nur entliehen. Beschrieben wird mit ihm die Expansionstendenz der Kapital-Strategien, für die Mehr nichts mit einer Geschichte und mit einem Mit- und Füreinander zu tun hat und die ohne Rückbindung an die Grundbedingung von Leben auf der Erde ausagiert werden: die materiale Begrenztheit. Als solche Strategien bewirken sie gerade die Dynamik, die zur großen Industrie geführt hat und in der faktisch die Produktion der Massengüter ihren Antrieb erhält. Wenn wir die Einsicht haben, umdenken zu müssen, brauchen wir zugleich Dimensionen des Wirtschaftens, wo »produktiv« anderes bedeutet als profitabel und Mehr nicht Quantität 10 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
nach monetären Maßen, sondern Qualität in Angemessenheit zu den Beziehungen des Lebens bedeutet. Selbstverständlich geht es, mehr denn je, um die Begrenzungen. Deshalb steht in unserem Titel der Begriff Maß an erster Stelle. Es geht aber genauso um die Wahrnehmung, welchen anderen Entfaltungen die Grenzen dienen müssen. Deshalb sprechen wir von Maß im Sinne der Suche, der sicher immer neuerlichen Suche nach Angemessenheit. Dabei wird der mehrfache Sinn des Begriffs Reichtum offensichtlich. Die »reichsten Länder der Welt« sind reich an Mitteln, reich in Summen von Dollars, etwa »pro Kopf der Bevölkerung«. Jener andere Reichtum, der zunehmend bedrängt und ausgebeutet, in den »ärmsten Ländern der Welt« immer noch eher anzutreffen ist, gehört zu der Gegenwelt, die das kapital-industrialistische Wirtschaftssystem aus dem Bewusstsein entfernt. Die Reichtümer, die diese Erde uns als Quellen des Lebens schenkt und die, als Ressourcen definiert, nur Kostenfaktoren sind, knapp und teuer oder beliebig vorhanden, angeblich, und wertlos, je nachdem. Die Reichtümer, die in den Beziehungen der Menschen zu diesen Quellen und zu einander sich ausbilden, an denen die Gesellschaften im Zuge ihrer Industrialisierung so schmerzlich verarmen. Fülle ist schon ein utopischer, vielleicht aber ein visionärer Begriff. Sie lässt sich überhaupt nicht messen und ereignet sich uns darum im Kleinsten wie im Größten. In den Ereignissen der Fülle begegnet uns Ewigkeit im Endlichen und wird zum Fest. Grenzen zu setzen, in Beobachtungen und Überlegungen Angemessenheit zu bestimmen, sind die Grundleistungen einer Kultur. Wahrnehmung und Wissen sind dazu auszubilden. Die Organe der Reflexion wie der Sinne. Im Zusammenwirken der Generationen zwischen Ansammlung von Wissen und seinen immer neuen Verbindungen mit den Veränderungen des Lebens. Im Zusammenspiel der miteinander Lebenden, die erst in ihren Begegnungen und ihrem Austausch hervorbringen, was in einer Zeit, in einer Kultur »der Mensch« sei. Es geht nicht um Maßnahmen. Es geht um Umdenken, was ohne Denken nicht möglich ist. Nietzsches Satz für die Gegensätze der Menschen in seiner Welt wird zur Ausrichtung der globalen Bildungspolitik: »Ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind.« (Zarathustra, Vorrede) Die Verkehrung der Begriffe und die Notwendigkeit, ihren Ge11 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
brauch auch wieder umzukehren, gelten auf ganz verschiedenen Gebieten. In den ärmsten Ländern gab es und gibt es teilweise immer noch einen Reichtum an Subsistenzwirtschaft, der durch seine monetäre Erfassung in moderner Vermarktung zugrunde geht, während die Zahlen für das statische Prokopfeinkommen gesteigert werden. Durch maßlose Unterwerfung aller Wirtschaftsformen unter den vorherrschenden Sektor der Weltwirtschaft kommt zum Erliegen, was in Haus und Garten und Nachbarschaft Quellen für den täglichen Bedarf waren. So können auch lokale Märkte vielerorts sich nicht halten gegen die subventionierten Exporte westlicher Agrarindustrie. Die Abhängigkeit vom Geldkreislauf, den die global players beherrschen, wird immer bedrohlicher. Das mikro banking kann eine dritte Lösung bedeuten, aber nur, solange es nicht an die Börsen der Weltmärkte gesogen und die Pluralität der Wirtschaftsformen erneut vernichtet wird. In den Industriegesellschaften ist eine Verarmung der menschlichen Vermögen erzeugt worden, durch die immer systematischere Teilung von geistiger und körperlicher Arbeit. Aus der mechanisierten Produktion für einen anonymen Markt werden die Potentiale der Einzelnen ausgeschieden, in der Kette von Wahrnehmung, Geschicklichkeit, Gestaltung, Kommunikation und Innovation ihre Arbeit einzubringen. Durch makroökonomische Entwicklungen wie vor allem strukturelle Arbeitslosigkeit werden die Potentiale möglicherweise freigesetzt, vor allem von der Fixierung auf die Mechanismen der Erwerbswirtschaft. Eine neue »kreative Klasse« (Richard Florida) wird von Soziologen signalisiert. Ein Reichtum wird, vielleicht, wieder belebt. Das ist nur dann denkbar, wenn dieser Kreativität eigene Formen und Bedingungen ihrer wirtschaftlichen Existenz eröffnet werden. Im Marx’schen Sinne ist das »Prekariat« keine »Klasse«. Die prekären Existenzen bilden quantitativ keine gemeinsame Basis. Qualitativ sind sie jedoch alle in der gleichen Opposition zu den Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems und seiner staatlichen Verwaltung. Es geht um »Verflüssigungen« (Adrienne Goehler), die neue Arbeitsund Lebensformen bedingen und ermöglichen, in denen die verdrängten und domestizierten Potentiale der Menschen wieder die Chance bekommen, im vollen Sinne produktiv zu werden. Zu den Potentialen der Einzelnen kommen dann die ihres Miteinanders auf der Ebene konkreter Schaffensgemeinschaften hinzu – sozialer Zusammenhang als Produktivkraft. Die Menschen brauchen dieses Zusammenwirken, nicht nur, um 12 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
die einen die anderen in ihren Fähigkeiten und Sichtweisen zu ergänzen, sondern auch und gerade, um einander zu begeistern. Marx hat dies zwar ansatzweise als »Kooperation« beschrieben und dem bloßen Verschleiß der Arbeitskraft der Einzelnen entgegenstellt. Aber auch er hat, wie die bürgerliche Ökonomie, die Entwicklung der »großen Maschinerie« als die Haupttriebkraft begriffen und propagiert. Erst neuerdings entdeckt die Verhaltensforschung, dass in der Geschichte unserer Spezies das Für- und Miteinander den entscheidenden Schritt zum Menschsein bewirkt hat. Ökonomie und Sozialwissenschaften, erst recht die Politik ahnen noch nicht, welche Konsequenzen sie daraus ziehen müssen. Unsere Gesellschaften wie unsere Ökonomien kranken daran, dass die Menschen ihre Potentiale nicht oder nur sehr einseitig entwickeln und fruchtbar machen können, weil es nur die konventionell definierten Erwerbsarbeitsstellen oder die Arbeitslosigkeit gibt. Um den Begriff des Grundeinkommens entstehen Entwürfe für Alternativen. Sie sind in dem Bewusstsein begründet, dass wir als Kinder eigentlich alle noch teilhaben und mitwirken wollen. Abgesehen von eingeschliffener Nichtarbeitsmentalität an den Rändern würde eine bescheidene, aber ausreichende Existenzsicherung dem Drang, tätig und erfinderisch zu sein, eine unbegrenzte Vielfalt von Wirkungsmöglichkeiten öffnen. Gleichzeitig würden alle sich als wirkliche Mitglieder des Gemeinwesens wissen dürfen. Und das ist eine Gesellschaft ihnen schuldig. Wer Kinder will, muss ihnen eine volle Lebensmöglichkeit geben. Das mag in jedem einzelnen Leben ganz unterschiedlich ausfallen. Das ist mit einer grundsätzlichen Verpflichtung verbunden, etwas Nützliches beizutragen. Aber es gilt, so etwas für alle bereitzuhalten. Was so lange wie eine reine Erfolgsgeschichte aussah, lässt jetzt auf vielen Gebieten die Zerstörungsmechanismen erkennen. Immer wieder hat es hellsichtige Kritiker gegeben, in Laboren und Studierstuben, selbst in Mengen auf den Straßen. Doch solange sich Entscheidungsträger und Publikum einreden können, der Krieg könne trotz allem noch gewonnen werden, zählen Einsichten nichts. Und zu Kriegen, freilich bösartig schleichenden, haben wir die Erfolgsstrategien mutieren lassen. Die modernen Zivilisationen haben die Ausbeutung der Erde und ihre Vernutzung als Deponie zu einem Krieg gegen die Natur ausarten lassen. Binswanger spricht von der Zivilisationsmaschine. Die Strukturen des gesellschaftlichen Lebens sind so aus13 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
gerichtet, dass immer größere Ziele immer größere, abstraktere Einheiten erzwingen und die Beziehungen im konkreten, engeren Kreise aussaugen und erdrosseln. Aus lebendigen Menschen im Miteinander werden isoliert verwaltete Stücke statistischer Bevölkerung. Aber frühe Einsichten, etwa Leopold Kohrs »Das Ende der Großen«, werden nicht gehört, und Klagen kann auch keiner mehr hören. Aus einer nüchternen Bestandsaufnahme muss ein Entwurf gefügt werden. Kulturkritik trifft nur das Erscheinungsbild. Visionen werden gebraucht, aber sie müssen im Materiellen begründet werden. Ökonomie ist in Wahrheit die Dimension, in der sich beides verbinden soll. Deshalb gehört sie elementar zur Kultur. Was inzwischen noch Kultur genannt wird, darf und kann nicht neben das wirtschaftliche Handeln gedrängt werden oder gar bodenlos darüber schweben. Die Prinzipien und Formen der Wirtschaft selbst müssen Grundentscheidungen für eine Kultur entsprechen. Das ist mit der Trennung von Produktion und Leben, wie sie die große Industrie der Maximierungsstrategien durchsetzt, nicht möglich. Die Trennung ist sowohl eine gedankliche wie eine tatsächliche. Kritiker, die eine sinnvolle Gesellschaftsordnung einklagen, zeigen eine Entwicklung des Stellenwertes der Menschen zu einem Konsumbürger auf, der auf Kosten unserer staatsbürgerlichen Kompetenzen und Initiativen zu einer sekundären Funktion des industrialisierten Sektors gemacht wird. Das hängt mit genau dieser Trennung zusammen. Als Arbeiter und Angestellte erleben sich immer weniger Menschen selber als produktiv. Die Produktion wird mit der Belieferung des Konsums begründet, der freilich so abstrakt erscheint, dass immer mehr Bedürfnisse durch Werbung und Design erst hergestellt werden. Ihre Tätigkeit erfahren die Menschen wesentlich als Maßnahme zur Beschaffung der Geldmittel für den Unterhalt, also als Überlebensstrategie. Kompetenz und Initiative werden ihnen dann bei der Konsumwahl suggeriert. Die Grundstimmung ist eine passive und wird immer passiver. Soziologisch heißt das die Schrumpfung des Mittelstandes, der zudem seine Aktivität immer stärker den Zwängen von Kapitalstrategien ganz anderer Größenordnungen, der Konzentration und der standardisierenden Verwaltungen unterworfen sieht. Produktion bedeutet, für die großen Macher in Industrie und Finanzwelt, immer seltener, selber Unternehmer zu sein mit deren Überlegungen, Interessen und Verantwortungen. Manager leben, denken und handeln nicht für ein Unternehmen und in einer Familie im Horizont von Genera14 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
tionen. Produktion bedeutet ihnen vor allem Profit. Staat und Gemeinschaft werden als Hebel zu dessen Sicherung betrachtet. Ein Heer von Lobbyisten ist ein deutliches Symptom. Die große Masse der Bevölkerung muss den Konzernen, dem Staat, der Verwaltung ihr Überleben abringen, das für einen Teil vielleicht immer luxuriöser, aber jedenfalls nicht lebendiger wird. So erleben Menschen im Gemeinwesen nicht einen eigenen Beweggrund. Vielmehr sehen sie ihre privaten Interessen bedrängt und suchen einen Steinbruch für ihr partielles Auskommen. Der Zerfall der Demokratie muss von daher begriffen werden. Der kapital-industrialistische Sektor macht die Bürger ökonomisch passiv, und eben nicht nur ökonomisch. Diese strukturelle ökonomische Passivität bewirkt depressive Tendenzen. Das politische, das gemeinschaftliche, das kulturelle Engagement zerfallen daran. Wie wir sehen, geht dies nicht so weit, dass nicht im Alltäglichen viel ehrenamtliche Tätigkeiten geleistet würden. In großen Fragen melden sich Bürgerbewegungen. Aber nicht im selbstverständlichen Zusammenspiel der Entscheidungsprozesse, die Politik und Wirtschaft unter dem Anschein von Transparenz abzuschotten suchen. Wer mit einem eigenen wirtschaftlichen Handeln eine Existenz in die Welt setzt, setzt sich auch ein für deren gesellschaftliche Bedingungen. Die Menschen werden immer unerbittlicher darauf reduziert, für irgendetwas zu funktionieren, was sich ihrer Entscheidung und ihrer Wahrnehmung entzieht. Der Ort, von dem sie am Ganzen teilnehmen, ist ein ganz und gar in bedeutungslose Privatheit abgedrängter Restalltag aus Existenzsorge, Miniidylle, sofern möglich, und Mitmachen im Feierabend- und Urlaubsbetrieb. Im Zeitalter von unleugbarem industriellem Massenbedarf kann das nicht bedeuten, dass dies Bruttosozialprodukt in so vielen Werkstätten erwirtschaftet wird, dass alle Bürger sich als dessen Initiatoren begreifen können. Das ist aber auch gar nicht notwendig. Zu wirtschaften ist in vielen Formen und Dimensionen. Diese sind nur von dem vorherrschenden Sektor ausgeblendet. Sie sind jedoch in seinem Schatten durchaus noch wirksam, obwohl er sie in den Status von Zulieferern drängt. Die Konzeption einer Pluralen Ökonomie ist überhaupt geeignet, den verschiedensten Ansätzen zum Umdenken inhaltliche Kriterien und Orientierung zu geben. So gibt es jetzt von ganz unterschiedlichen Seiten her Forderungen und Vorschläge, die unreflektierte Expansion des kapitalistisch-industrialistischen Sektors zu begrenzen. Sie sind 15 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
meist gegen die Schäden gerichtet, die freischwebende Finanzstrategien, überdimensionale Machtkonzentration oder kontraproduktiver Ferntransport von Waren, z. B. Lebensmitteln, verursachen. Dies sind makroökonomische Probleme einer Ordnungspolitik. Oft ist die Antwort in der Sache gegeben, die näher in den mikroökonomischen Zusammenhängen bedingt ist. So fordern wir ein vernünftiges Miteinander lokaler, regionaler und globaler Kreisläufe in der je notwendigen und fruchtbarsten Nähe von Produktion und Konsum. Die erforderlichen Bereiche der Massengüterherstellung müssen auch der individuellen Entstehung von Dingen und Leistungen freie Entfaltung ermöglichen. Dazu ist die Kommunikation zwischen denen, die sie erarbeiten, und denen, die sie brauchen, erforderlich. Die Situationen, für die etwas gebraucht wird, müssen sich mitteilen. Privatisierte Pflegedienste werden immer durch Verwaltung, Profit und Regulationen die praktische Fürsorge behindern und verteuern. Die Abstraktionen der Börsenstrategien vom Wirtschaftsgeschehen lösen zwangsläufig die Rückbindung der Finanzwelt an die Realität auf, während z. B. eine »Regionalwert AG« ihre Dispositionen auch nach qualitativen Zielen für die Natur, die Kunden und die Mitarbeiter abwägen kann. Sozialismus und Faschismus haben versucht, sehr verschieden, über die große Industrie – als sei dies eine Gesellschaftsform nach Marx, bzw. eine Staatsform im Faschismus – eine Ideologie der Teilhabe zu exerzieren. Selbständige Teilhabe und Funktion im System, Eigenarbeit und große Industrie müssen aber so nebeneinander existieren, dass die Menschen ein Miteinander gegensätzlicher Formen von Produktions- und Lebensweisen daraus machen können. Diese Fragen gehören sowohl in die erforderlichen Anstrengungen für ein erneuertes Wirtschaftsgefüge wie für eine Erneuerung unserer demokratischen Gesellschaften. Wo der Wetteifer miteinander, wie der Markt gedacht war und gewirkt hat, von der Fürsorge für einander, wie Adam Smith sie noch vorausgesetzt hat, getrennt worden ist, hat ein abstraktes Konkurrenzsystem in die Sozialvergessenheit geführt. Unsere neoliberalen Vorstellungen von Freiheit haben die Zwangsgemeinschaften sozialistischer wie faschistischer Prägung zwar endgültig hinter sich gelassen. An deren Stelle werden jedoch allenfalls abstrakte Appelle für Werte gesetzt, statt im politischen Leben und in den produktiven Zusammenhängen Situationen zu schaffen, die helfen, ein Miteinander zu erproben. Man muss von einer Begegnungsvergessenheit sprechen. Die wird 16 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
auch auf theoretischer Ebene propagiert, wo die Sprache, Medium der Begegnung mit den Anderen und sich selbst schlechthin, nur noch als Austausch von Zeichen einer bestimmten Konvention begriffen und beschrieben wird. Dafür braucht es Kompetenz in Informationen und Regeln. Wirkliche Begegnungen können nur entstehen, wo wir uns einer wirklichen Situation und einem wirklichen Gegenüber für die besonderen Eindrücke öffnen und miteinander nach einem angemessenen Ausdruck suchen. Das gilt nicht nur auf der individuellen Ebene. Gesellschaftlich kann auch der politische Diskurs nur in solcher Wahrnehmung begründet werden. Negativ geben das die Nichtwähler zu verstehen. Positiv setzen Bewegungen wie »Stuttgart 21« provokatorisch die Parole »Protest und Transparenz« ein, um Entscheidungen in die Zusammenhänge von Vorgeschichte, von Verschwiegenem, von unterdrücktem Expertenwissen zu stellen. Da treten die Vereinzelten aus ihrer systemkonformen Privatheit heraus und wieder als Bürger auf. Im Mangel an Transparenz einerseits und fortlaufender Teilhabe andererseits gerät solches Auftreten zunächst als Protest. Protest auch dagegen, dass die Lobby der Großunternehmen sehr wohl an der Politik teilhat, aber eben gerade nicht im Sinne eines Bürgerengagements. Die Vergessenheiten entsprechen einander, und sie folgen derselben Tendenz. Wir können die Heideggersche Kritik an der Seinsvergessenheit so durchkonjungieren, dass der Begriff in seinen aktuellen Konkretionen die merkwürdige metaphysische Beschwörung des Philosophen verliert. Der Begegnungs- oder Beziehungsvergessenheit entspricht die Konkretionsvergessenheit, in der unsere Ethik auf Ort und Zeit bzw. Geschichte und die konkreten Bedingungen, das heißt Einbindungen vergisst. Das Ergebnis ist eine Abstraktheit und Ubiquität der Normensysteme, die auch an den bisherigen Vorstößen für ein »Weltethos« zu kritisieren sind. Zu diesen Vergessenheiten gehört ebenso, logisch konsequent, die Grenzvergessenheit. Was zu einem Ort gehört, und sei er so umfassend wie unsere Erde, kann nicht unendlich sein. Selbst wer noch in Kategorien von Diesseits und Jenseits denkt, muss eine Grenze zwischen ihnen denken. Das ist auch für die theologischen wie die transzendentalphilosophischen Überschreitungen die notwendige Voraussetzung. Am offensichtlichsten ist die eigene Notwendigkeit, endlich gegen unendlich abzugrenzen, seit der Geltungsmacht des Geldes. Wenn nach dem Ende der kosmologischen Vorstellungen alle Materie des Globus als potentielle Ressource für die Menschheit gedacht wird, ist sie 17 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Einige Leitfragen
immer noch ein begrenzter Gegenwert, an dem die prinzipielle Unbegrenztheit der Kapitalexpansionen zur Absurdität wird. Nichts kann so weit wachsen, wie die Rechner Nullen drucken können. Damit schließt sich der Kreis zur Naturvergessenheit der »Zivilisationsmaschine«. Eine Vergessenheit, die nicht allein das Zusammenspiel der Vielfalt in der Natur und in den Geschichten der Menschen zerstört. Sie hat die Bedeutung eines Krieges gegen die Natur angenommen – im Menschen wie uns gegenüber. Wir suchen hier die Elemente zusammen, mit denen wir uns von solchen Kriegführungen befreien und für ein Leben mit unseren Welten rüsten können.
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ÖKONOMIE UND KULTUR
Ökonomie und Kultur. Kultur kann nicht gegen Ökonomie, neben ihr oder auf sie aufgesetzt entstehen und sich ausbilden. Die ökonomischen Lebensformen sind Teil der Kultur insgesamt; die Formen einer Kultur sind abhängig von den Beziehungen in ihrer Ökonomie. Alles, was wächst, sich verändert, heilt, ist Ausdruck von Energien, die uns aus der Erde und durch die Sonne zukommen und uns tragen. Ökonomie ist der bewusste Umgang mit diesen Energien, inzwischen weitgehend in immer neuen Funktionen umgeformt, für die Zwecke menschlicher Existenz. Kultur ist die Gesamtheit der Lebensformen einer Gesellschaft, in denen sie die grundlegenden Energien wahrnimmt, als praktische Funktionen und als zu achtende Quellen auch des geschichtlichen Lebens. Wenn Ökonomie sich nur damit beschäftigt, diese Energien, so wie unsere Zivilisation sie umgeformt hat, zu nutzen, dann kommt der Kultur die Aufgabe zu, das achtende Bewusstsein zu entfalten, also die Grundbedingung ökonomischen Handelns zu gewahren, zu erinnern und immer neu in den sich wandelnden Lebensformen zu reflektieren. Der Begriff Energien wird hier versuchsweise denkbar weit gefasst und ebenso im Sinne materieller wie geistig-seelischer Wirkungen verstanden. Energien werden physikalisch erfasst und mechanisch benutzt. Energien werden als elementare und als äußerst feine Wirkweisen erfahren, bis hin zur Transzendenz. Das heißt, Energien sind ebenso manifest in den Veränderungen der Dinge wie in den Lebensgeschichten von Beziehungen. Zugänge und Ausdruck solcher Reflexion sind unübersehbar vielfältig und haben sich weit entfernt von den kosmologischen Zusammenhängen früher, naturnaher Kulturen. Schon die monotheistischen Religionen haben grundsätzlich den Menschen geistig-seelisch aus der Lebensgemeinschaft mit den anderen Wesen und den Dingen und Vorgängen der Natur herausgenommen. Die Philosophie und die Künste gehen seit der Aufklärung von dem menschlichen Erleben und Gestal19 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie und Kultur
ten des Lebens aus und haben einen ausdrücklichen Dienst am Bewusstsein von der gemeinsamen Existenz mit allem Anderen wesentlich hinter sich zurückgelassen. Deshalb sieht es für viele in der modernen Gegenwart so aus, als ob Kultur mit Ökonomie nichts mehr verbindet. Sie können geradezu als Gegensätze gelten, weil Kunst, Philosophie usw. nicht greifbar nützlich sind für ökonomische Funktionen. Selbst die Lebenskünste werden als Widersacher angesehen zu den Forderungen des Betriebs von Arbeit und Konsum; denn in allen diesen Äußerungen und Wünschen lassen Menschen sich von Anderem leiten als von berechenbaren, herstellbaren und der Expansion des Betriebs dienenden Zwecken. Diese Zwecke werden rational genannt; auf alles Andere fällt dabei der Schlagschatten einer Irrationalität, die so erst konstruiert wird. Diese besondere Definition von Rationalität verallgemeinert unversehens vordergründige Nützlichkeit und erhebt sie zur Ideologie. Politik beansprucht zwar, nimmt sich aber immer weniger die Chance, zwischen den Aufgaben der Wirtschaft und denen einer Kultur zu vermitteln. Die viel beredete Politikverdrossenheit ist eigentlich die Verzweiflung darüber, dass Politik nicht die faktischen Konflikte auf die Ebene dieser Vermittlung hebt. Die Ideologie der Nützlichkeit kann sich immer darauf berufen, dass »der Schornstein rauchen muss«. »Von nichts kommt nichts.« Das Leben hat also materielle Bedingungen, ohne die auch das Menschliche nicht weiter existiert, geschweige denn gestaltet werden kann. Über solchen Argumentationen wird jedoch das Andere auf zwei Ebenen vergessen und mehr und mehr versäumt. Dabei hängen sie auf eigene Weisen mit den Zwecken der Nützlichkeit zusammen. Die eine ist ganz pragmatisch. Im Miteinander kommt zu den mechanisch kalkulierten Funktionen etwas hinzu, das sehr wohl Rückwirkungen auf diese Funktionen hat. Im Miteinander der Menschen beleben sich ihre Kräfte und Fähigkeiten. Im Miteinander mit der Welt uns Menschen gegenüber, wenn wir also Natur nicht nur als widerspenstigen Rohstoff betrachten, steigern sich Einsichten und Ertrag. Im Miteinander der Menschen, selbst wenn wir in der Not unseren Mangel teilen, können wir uns gemeinsam noch eher am Leben erhalten oder, wenigstens, aus der Überlebensnot eine menschenwürdige Aufgabe machen. Die vordergründig »rationale« Zweckherrschaft nimmt absoluten Egoismus und damit Trennung der Zwecke an. Dadurch werden sie gegen einander gekehrt und zerstörerisch eingesetzt. Es ist aber auch auf dem Markt nicht die absolute Konkurrenz, die zur Steigerung der Anstren20 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie und Kultur
gungen und Erträge führt, sondern der Wetteifer, der die gegen einander Antretenden in einer weiteren Dimension auch noch einmal zu einer Gemeinschaft verbindet. Diese weitere Dimension von Gemeinschaft gehört zu dem Zweiten, das ich Gestaltung des Lebens genannt habe. Dass es auch in diesem Sinne um etwas geht, wird wohl kaum irgendjemand grundsätzlich verneinen. Tatsächlich verhalten sich aber vor allem unsere modernen Gesellschaften, als Gesellschaften, ganz anders. Vorstellungen oder auch nur Fragen der Gestaltung des Lebens und die Lebensformen überhaupt müssen sich an den Zwecken vordergründiger Nützlichkeit rechtfertigen und sind im Zweifelsfall hintanzusetzen. Im Tier- und Pflanzenreich sind Lebensformen einfach das Ergebnis der jeweiligen Evolutionsgeschichte. Für die Menschheit trifft das so nicht mehr zu. Menschliches Leben hat immer auch seine eigene Gestaltung zu leisten, also Antworten zu suchen auf die elementaren Fragen des Wie, des Miteinander, des Wohin vielleicht. Entwürfe sind deshalb genauso lebensnotwendig wie die materiellen sogenannten Grundbedürfnisse. Das wird nur weniger sichtbar von Tag zu Tag. Dies ist abgegeben an die sogenannten Experten. Die Rationalität, die Bedürfnisse von Tag zu Tag zu sichern, vielleicht immer besser zu befriedigen hilft, ist deshalb nur eine Teilrationalität. Dennoch treten bei den Entscheidungen von Politik und Wirtschaft immer wieder die Ziele und Kriterien der Betriebswirtschaft, vielleicht noch der Volkswirtschaft aus der pole position an, obwohl sie nur bestimmte Strecken zu meistern erlauben und sich nicht im Gesamt des Parcours bewährt haben, der nur auf lange Zeiträume und unter einer Vielfalt von Hinsichten zu bewältigen ist. Die zunehmende Politikverdrossenheit hängt im Grunde auch damit zusammen. Nicht nur konkrete Befürchtungen um den Lebensstandard beunruhigen die Menschen, sondern die Leere macht Angst, die hinter hastigen Programmen und Erklärungen gespürt wird. Das Ergebnis ist, dass inhaltliche Ziele und Bedingungen einfach hinter zahlenmäßiger Effizienz zurückgestellt werden. Dabei unterscheidet selbst das Management Effizienz als kalkulatorische Dimension der Verwendung von Ressourcen gegenüber einer Effektivität, die durch die Firmenpolitik und deren strategische Erwägungen bestimmt wird. Gesamtgesellschaftlich ist diese Hierarchie der Ziele noch einmal in einer Dimension der Gestaltung der Lebensformen zu überformen. Das Missverständnis des Pluralismus oder der Postmoderne, das die Möglichkeit und Berechtigung von Entscheidungen für diese und ge21 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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gen jene Lebensformen in Zweifel zieht, dient dazu, die Abschaffung der übergreifenden Dimension zu rechtfertigen. Dies ist aber ein Missverständnis. Die Zweifel sind aufklärerisch, modern, fruchtbar gegen einseitige autoritäre Vorgaben, mit denen verschiedene Weltanschauungen antworten. Nichts berechtigt dazu, statt die möglicherweise problematischen Antworten zu prüfen, einfach die Fragen zu beseitigen. Die Krise der Kultur wie der Kulturen ist bedingt durch eine Entdeckung der Menschheit, die wir nur noch nicht positiv zu sehen und zu wenden gelernt haben. Die bisherige Geschichte hat die geschichtlichen Gemeinschaften wesentlich mit einem gewissen Bewusstsein ihrer jeweiligen Einzigartigkeit ausgestattet. Die monotheistischen Religionen haben ihm missionarischen Charakter, zumindest ausschließende Wirkung beigelegt. Andere Kulturen haben in einem Bewusstsein gelebt, »das Reich der Mitte« darzustellen. Wieder andere haben einfach ohne systematische Abgrenzungen oder in einem eher selbstverständlichen Austausch gelebt, ohne sich selbst oder die Anderen grundsätzlich in Frage stellen zu müssen. Die Einheitsstrategien der westlichen Kolonialherrschaft, Weltmachtpolitik und Weltmarktglobalisierung haben nun eine Reflexion aller auf alle und eine eigene Neubestimmung einer jeden erzwungen. Das muss zunächst die größte Verunsicherung heraufbeschwören. Heftige Selbstverteidigung, oft zugleich mit überstürzter Anpassung, beherrscht die Reaktionen bis zu Aggression. Fundamentalismus, Terrorismus in vielen Schichten und Formen ist oft der Ausdruck des Leidens unter diesem Druck. Eigentlich liegt dem, vernünftig betrachtet, eine großartige Entdeckung zugrunde. Zu den Grundzügen der conditio humana gehört eine Wechselseitigkeit im Miteinander. Nichts steht einem fruchtbaren Umgang mit dieser Erkenntnis so arg im Wege wie die neuzeitlichwestliche Anthropologie, die uns daran gewöhnt hat, von dem Menschen zu sprechen und alle geselligen Formen als sekundär aufzufassen, als ob Gemeinschaft erst durch den Vertrag Einzelner hätte gegründet werden müssen. Diese Auffassung hat einen Individualismus hervorgebracht, der uns in zwei geradezu entgegengesetzte Richtungen geworfen hat. Wir verdanken der Ablösung Einzelner vom Druck konventioneller Erwartungen und der selbstverständlichen Anpassung an angestammte Gruppen eine Entfaltung von Individualität, deren Möglichkeiten ich für einen unverzichtbaren Gewinn halte. So hätte die Fülle menschlicher Begabungen, Initiativen, Wünsche, Vorstellungen aus anderen 22 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Umständen nie frei werden können. Andererseits hat die Isolation der Vereinzelten aber gerade die anonyme Vermassung bedingt, die sowohl im Verfall traditioneller Beziehungsformen wie unter den zentralistischen Machtstrukturen von Staat und Institutionen entstanden ist. Die Auffassung von dem Menschen hat unser geschichtliches Bewusstsein in so vielen Bereichen geprägt, dass sie im modernen Westen als Naturgesetz betrachtet wird. Herausragende Fähigkeiten und Leistungen Einzelner zu würdigen, ist eine Sache. Die Geschichte von Fortschritten in den Wissenschaften und den Künsten allein von Genie zu Genie zu konstruieren, ist eine andere Sache. Dies hat die Wahrnehmung von Wirklichkeit entscheidend verengt. Nicht was wirkt, sondern was sich durchsetzt oder vordrängt, bekommt Geltung. Zu der Anthropologie von dem Menschen passt eine solche aktivistische Geschichtsschreibung. Sie ist freilich schon angelegt in den Regeln von Sprachen, die, wie die indoeuropäischen, immer erst einmal nach dem Subjekt einer Handlung fragen und ihm, jedenfalls in der neuzeitlichen Praxis, ein dieser Handlung unterworfenes Objekt getrennt gegenüberstellen. Andere Sprachfamilien kennen gar keine unmittelbare Entsprechung zu dem Ich, das die Anderen und das Andere gegenüber auf sich bezieht. Stattdessen gibt es verschiedene Ausdrücke. Sie sprechen mehr davon, wie sich ein Mensch im Bezug zu dieser oder jener Person versteht, zu Geschwistern z. B. oder zu Onkeln und Tanten usw. Im Grunde wird das in Europa seit der Antike zunehmend vorherrschende Prinzip in der Denkregel der Aristotelischen Metaphysik definiert: Erst muss die Substanz benannt werde: Was über sie zu sagen ist, erhält den Status von Akzidenzien. Ihre Eigenschaften werden ihr zugeordnet, statt dass ihre Konturen aus den Beziehungen auftauchen, die ihre Existenz bestimmen, wie diese, umgekehrt, auch ihre Lebenswelt mit bestimmt. Erst die Naturwissenschaften haben die Bedeutung des Zusammenspiels vielseitiger Bedingungen und Faktoren wiederentdeckt, das dann an dem einen, Veränderung schließlich auslösenden Element nachgewiesen und vielleicht sogar darauf reduziert wird. Die quantenphysikalische Theorie erlaubt nicht länger, Zurechnungen, die eine voraufgehende Bildung z. B. von einer »kritischen Masse« voraussetzen, derart punktuell vorzunehmen. Die Tiefenpsychologie hat uns ebenso bewusst zu machen versucht, wie wesentlich unbeachtete oder unbewusst gebliebene Entwicklungen in der Geschichte von Menschen 23 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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oder Völkern in deren Handlungen und Vorstellungen zum Ausdruck kommen. Da sind Planck und Heisenberg und C. G. Jung und Lacan sehr nahe an einem gemeinsamen Muster. Das hat sich nur umso schwerer bemerkbar machen können, als selbst unsere martialische Idee von einer Weltgeschichte einzelne Heldennationen gegen einen Haufen von Verlierern gestellt hat. Was vielleicht wirklich wie ein »Clash of Civilizations« aussieht, sind in Wahrheit die Rückwirkungen dieser einseitigen Geschichte. Die Interpretation aus dem Nordamerika von heute folgt nur denselben Kategorien der Trennung und der aus ihr folgenden Konfrontation, die unsere europäische Denkweise und Handlungsmaxime seit sehr langem der Welt auferlegt haben. Diese Betrachtungsweise muss hier so grob skizziert werden, weil es darum geht, zu erkennen, was da verdeckt und eben auch zerstört worden ist. Wir versuchen, Grundfragen der conditio humana noch einmal anders zu sehen und anzugehen. Um das gemeinte andere Muster geschichtlicher Entwicklungen anschaulich zu machen, ist vielleicht eine ganz frühe und immer elementare Figur der Anthropologie besonders gut geeignet: Das Werkzeug. Alles, was seit dem Beginn der Geschichtsschreibung in diese Kategorie fällt, wird in der Regel einem Erfinder zugeschrieben – das Fernrohr des Galilei und die Druckstöcke Gutenbergs; die Papinschen Töpfe, die Bessemer-Birne; Barnards Herzverpflanzung und Zuses Computer. Bei genauerem Hinsehen stellen wir dann fest, dass all diese Erfinder »Zwerge waren auf den Schultern von Riesen«. Diese Formulierung lässt aber das Entscheidende auch noch im Dunkeln. Die Riesen sind nämlich nicht wiederum einzelne Personen. Das Fernrohr fand Galilei vorbereitet durch die Handwerkskünste in Venedig. Die Druckstöcke machten greifbar und verfügbar, was Generationen von Druckern nach und nach entdeckungsreif gemacht hatten. Die Beispiele sind zahllos. Je tiefer wir in die vorschriftlichen Geschichten der Menschheit hineinzublicken versuchen, desto deutlicher wird, dass ein Werkzeug aus kollektivem Zusammenwirken auftaucht. Stöcke, die sich gelegentlich zum Abschlagen von Früchten geeignet haben, werden auch einmal zum Wühlen in der Erde verwendet. So etwas wird vielleicht gar nicht besonders beachtet und wieder vergessen, bis es erneut vorkommt. Erst wenn Andere den einmaligen Vorgang nachahmen, wird eine Technik daraus. Unmöglich zu sagen, ob die erste Verwendung oder die Nachahmung oder die Übernahme in einen allgemeineren Ge24 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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brauch als die Erfindung des Grabstocks bezeichnet werden müsste. Der Begriff kollektiv dafür muss seinerseits sorgfältig verstanden werden. Er steht für eine jeweilige Geschichte, in der viele Menschen unter bestimmten Umständen miteinander zusammengewirkt haben. Diese Geschichte und dieses Zusammenwirken in seinen Schritten und Rückschritten, seinen Wirkungen und Rückwirkungen gilt es sich zu vergegenwärtigen. Das Wort »kollektiv« verleitet dazu, eine pauschale Gegenvorstellung zum individualistischen Erfinder zu behaupten. Auch das wäre ideologisch. Wenn wir uns dem vielfältigen Hin und Wider der wirklichen Geschichte zuwenden, werden wir für die große Entdeckung bereit werden, die das so heftige Aufeinandertreffen der Völker und Kulturen heute in Wahrheit nahe legt. Sie kann Grundmuster einer wahrhaft sich zur Menschheit entfaltenden Welt werden. Was im kleinsten Kreise, im eigenen Lande und rund um den Globus Meinungen so unvereinbar aufeinanderstoßen lässt, ist selbstverständlich immer die Macht der einen gegen die anderen, die hinter den Meinungen aufmarschiert. Aber selbst, wo es kaum um Machtfragen und damit kaum um Existenzangst vor dem Anderen geht, scheinen die Gegensätze noch unüberwindlich zu sein. Das liegt jedoch in den allermeisten Fällen daran, dass diese Meinungen irgendwie absolut gesetzt werden. Sobald man einmal fragt, wogegen unsere Gesprächspartner ihre Meinung setzen, verändert sich die Situation grundlegend. Als die Korrektur einer anderen, selber einseitigen Position erweisen sich noch Äußerungen, die wir spontan ablehnen müssen, als sinnvoll, wie immer bedingt und begrenzt sie an und für sich erscheinen. Was sie falsch macht – und uns entsprechend empört oder abstößt – ist der Vorgang, dass sie nicht länger mit den Bedingungen ihrer Entstehung, sondern als umfassende Feststellung auftreten. Man kann diese Beobachtung pessimistisch interpretieren und als »Allzu Menschliches« selber absolut setzen. Ich finde, sie enthält den erneuten Hinweis der Anthropologie: Menschen sind darauf angelegt, einander zu ergänzen und ihre jeweiligen Versäumnisse im Reichtum einer Menschheit aufzuheben, die versteht, sich denkend, handelnd, fühlend in einem großen Wechselspiel zu bewegen. Wir müssten nur jede und jeder damit einverstanden und zufrieden sein, eine der zu verteilenden Rollen eines Zusammenspiels zu übernehmen. Mit aller Kritik und aller Dankbarkeit den Mitspielerinnen und Mitspielern gegenüber, die unsere Vernunft uns nahe legt. Auch unsere Fähigkeit zur Lebensfreude sollte so darauf antworten. 25 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Diese Einstellung zu gewinnen, ist selbstverständlich nicht nur eine Frage der rationalen Argumentation, die ihr aber offensichtlich vollauf entspricht. Sie bedarf eines bewussten Lebensgefühls, das nicht nur der Wille zur Selbsterhaltung gegen die Widerstände, sondern auch die Neigung zum Anderen hin bestimmen. Diese Seiten sind selbstverständlich beide gefordert. Nur der Selbsterhaltungswille macht den eigenen Beitrag stark genug. Nur in der Einfühlung und dem sich in den Anderen Hineindenken erwächst Offenheit. Dieses Lebensgefühl stärkt sich in Resonanzen. Individualität prägt sich erst in gelingenden Begegnungen aus und überwindet eine trotzige Identität der bloßen Selbstgleichheit eines allein gelassenen Selbst. Dies wäre eine Selbsterziehung zu der Vernunftfähigkeit, die uns als Einzelne miteinander und als Gesellschaften abwägen ließe zwischen dem unmittelbaren Eigeninteresse und seinen Vermittlungen im großen Zusammenspiel – mit der Natur wie mit der Geschichte –, auf das hin auch die species homo sapiens sapiens angelegt ist. Im menschlichen Bewusstsein genügen nicht die eingespielten Reaktionen auf eine Welt der Co-Evolution. Vielmehr sind die Antworten der Menschen aus einem Organ der Freiheit zu leisten, das dafür unnachgiebig und liebevoll ausgebildet werden muss in den Ansprüchen an uns selbst und an die Anderen. Die Anthropologen sehen inzwischen die Menschen im Gegensatz selbst zu den Menschenaffen mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet und folgern, dass wir am besten durch Kooperation für unsere Erhaltung sorgen. So die Entdeckung zu erläutern, die uns die Situation der Menschheit heute nicht mehr nur nahe legt, sondern aufdrängt, bedeutet, die vielfachen Aufgaben der Gesellschaften nicht allein auf den organisatorisch-institutionellen Ebenen zu sehen. Deren Strukturen sind notwendig, um Dauer zu ermöglichen, um Ungerechtigkeit zu verhindern, Macht durchschaubar und kontrollierbar zu machen, Vorsorge zu treffen und einen sinnvollen Umgang mit Mitteln und Mängeln zu praktizieren. Was sinnvoll genannt wird, was ungerecht ist, was der Dauer wahrhaft dient, wozu Macht wirklich gebraucht wird, das sind Fragen, die uns auf die Vernunft verweisen und eine Kultur ausmachen. Kultur hat die Aufgabe, immer wieder Beziehungen, wir sagen heute oft Resonanzen, möglich zu machen, zu stärken und zu richten auf einen rhythmischen Wechselgang von Individualität und Zusammenspiel. In Abstand und Begegnung. In Konzentration auf den einzelnen Beitrag und Anregung durch dessen Spannungen zu anderen Beiträgen. 26 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Auf diesem Wege gehen wir vom clash of civilizations zu einer Menschheit im gemeinsamen Reichtum der unterschiedlichen Kulturen. Meine Behauptung ist, nein, meine Beobachtung, dass alle kulturellen Muster von Beziehungen nur in einer tiefgreifenden Verwandtschaft mit den ökonomischen Formen lebensfähig sind. Ein erstes und grundlegendes Beispiel haben wir uns bereits klargemacht am Werkzeug und seiner Entstehung. Die Anthropologie hat da auch nie an der Einheit von kultureller Entfaltung und praktischem Nutzen gezweifelt. Meist wird allerdings die Bildung von Kulturverhalten soziologisch verrechnet. Nur wenige haben umgekehrt hervorgehoben, was bestimmte Techniken kulturell, als Welt- und Selbstdeutung der Menschen bedeuten. Stellvertretend nenne ich nur Siegfried Gidion mit seiner Kulturgeschichte des Sitzens, seiner kosmologischen Deutung der Pyramiden und seinem Verständnis der Höhlenmalerei als der Existenz im Wandel. Die lange Entstehungsgeschichte eines Werkzeugs bildet ein Bewusstsein dafür weiter aus, wie Menschsein eben gerade auch bewusst als Interaktion zu begreifen ist. Bachelard hat uns eine »psychanalyse de l’objet« vorgeschlagen, und die Kulturwissenschaften entdecken den »Alltag« und die »Gegenstände« als ihre Felder, wo überall Bedeutungen hinter dem Erscheinungsbild von technischen Funktionen spürbar werden. Die lange Entwicklungsgeschichte der Ökonomie hat die anthropologische Anlage zur Interaktion in den vielen Formen der Arbeitsteilung ausgestaltet. Diese haben sich früh gebildet innerhalb der geschichtlichen Gemeinschaften, aber auch zwischen ihnen, wenn Nachbarschaften das nahegelegt haben. In vielen Linien ist die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern variiert und ausgebildet worden. Während die Aufgaben, Mutter zu sein oder aber Krieger, noch einen naturgegebenen Ansatz haben, sind alle die weiblichen und männlichen Gesten, Werkzeuge und Orte der Tätigkeiten, die in den Kulturen eine solche Fülle immer neuer Ergänzungsweisen hervorgebracht haben, offensichtlich den Geschichten der Einbildungskraft zu verdanken. Solche Arbeitsteilungen haben sich im Wechsel mit den Entwürfen der Weltdeutung, die wir als Mythologien kennen, zu einem Bewusstsein entfaltet, das die menschlichen Lebensformen als besondere Ausprägungen viel weiterer Wirkungszusammenhänge begreift. Männlich und Weiblich dürfen sich auf dem Grunde von Yin und Yang 27 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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verstehen. Bei den Dogon sind die Männer Schmiede und das Weben gehört den Frauen, wie die Götter die Wirkkräfte auch im Kosmos verteilt haben, um die unmittelbare Tat und das vermittelnde geistige Wort mit einander im Spiel zu halten. Entsprechend haben in diesen Gesellschaften Orte, Geräte und sprachliche Wendungen weibliche oder männliche Bedeutung. Wie alle Gleichgewichte sind auch diese immer heikel, weil sie nur als Bewegungen zwischen den Polen existieren können. Bewegungen zwischen den Polen sind nur möglich, wo der Abstand groß genug ist, um ein Spannungsfeld sich aufbauen zu lassen. Umgekehrt darf der Abstand sicher nicht zu groß werden. Wenn Distanz nicht mehr auf das Gegenüber bezogen bleibt, zerfallen die Spannungen, die doch zugleich die Verbindungen sind. Genau dies geschieht in den Kulturgeschichten, sobald das Leben im Ganzen der Welt und das Leben in der Gesellschaft nicht mehr grundlegend als Ergänzungen von Unterschiedenem verstanden werden. Immer wieder ist an dieser Stelle auf die altpersische Trennung von Licht und Dunkel hinzuweisen, die zu den hierarchischen Bewertungen Licht gleich gut und Dunkel gleich böse geführt hat. Das ist der entschiedenste Anfang vom Ende der Weltdeutungen, die das Gegenüber im Zusammenspiel gesehen haben statt im kategorischen Antagonismus. Kategorisch, unversöhnlich muss dieser Gegensatz nach der Trennung genannt werden. Antagonistische Momente gehören selbstverständlich zu jedem Zusammenspiel. Sie treiben die Bewegungen erst soweit, dass die verbindenden Momente neu aufgerufen werden, und dieses neue Geschehen ist notwendig, um beiden Seiten lebendige Gestaltung abzugewinnen. Das sind Gleichgewichtsgänge, also Bewegungen statt Zustände. In ihnen sind die beiden Seiten Pole, das heißt, horizontal aufeinander bezogen. Die hierarchische Organisation der Getrennten führt dagegen die Vertikale in die Konzeptionen ein. In diesem Bewusstsein historische Formen, insbesondere die der patriarchalischen Ordnungen neu zu untersuchen, dürfte ein sehr viel versprechendes Unternehmen sein. Solidarische Züge könnten unter der Geschichte von Abhängigkeiten zum Vorschein kommen. Ebenso interessant ist dieser Blick, wenn wir ihn auf die Verhältnisse der modernen Gesellschaften und ihr Marktmodell richten. Offensichtlich nimmt die Konzeption des Wettbewerbs die alte Einsicht in die Bedingungen von Zusammenspiel mit antagonistischen Momenten wieder auf. Gleichzeitig sind aber die Lebensformen auf 28 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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anderen Ebenen als dieser ökonomischen nicht nach horizontalen, sondern nach vertikalen Prinzipien organisiert. Das bewirkt, dass die am Markt einander gegenüber Tretenden nicht ebenso verbindenden wie auch die Spannungen antreibenden Beziehungen folgen. Sie treffen dann als die Repräsentanten ihrer jeweiligen Hausmacht auf einander statt im Bewusstsein dessen, was sie gemeinsam mit und für einander bewirken. Die Verhältnisse der Beteiligten sind, wenn diese in der horizontalen Anordnung des Marktes aufeinander treffen, in weiteren Hinsichten vertikal strukturiert. Der pater familias trifft sich auf dem Markt unter Gleichen, ist aber in seinem Hause der Herr über seine Familie, die Gesellen und Lehrlinge und über das Gesinde. Und er ist im Staat der absolutistischen Herrschaft unterworfen. Die Demokratisierung im Staat wie im Betrieb und der Familie ist in sich widersprüchlich und ohne konsequentes Bewusstsein für die Bedingungen einer horizontalen Ordnung geblieben. Die Widersprüche sind andere im Vergleich mit traditionellen Gemeinschaften. Aber das bedeutet eben nicht, dass sie einfach vernachlässigt werden dürften. Sie nur, wie die Wesensanalyse von Karl Marx, als den Widerspruch von Arbeit und Kapital abzubilden, ist auch nicht aussichtsreich. Dabei gerät in Vergessenheit, dass auch die verbindenden Beziehungen zwischen den Menschen ihrerseits unter den neuen Bedingungen zu einer eigenen Entfaltung gebracht werden müssen. Das kann das Modell der Klassen nicht leisten, weil die Klasse eine zu abstrakte Kategorie ist und weil sie ihre Konstitution dem Klassenantagonismus, den wir ja hinter uns zurücklassen müssen, schuldet. Selbst wenn der Klassenantagonismus überwunden werden würde – statt durch aktuellere Probleme aus dem geschichtlichen Bewusstsein verdrängt zu werden –, wäre doch die Klassensolidarität, soweit sie überhaupt ausgebildet werden konnte, zu stark vom Antagonismus geprägt, um sie zu einer neuen Gemeinschaft einfach auszubauen. Die plurale Ökonomie, die ich im Folgenden erläutere und für die ich eintrete, ist kein Entwurf aus der Einheit von Geschichte und so etwas wie einem Kosmos. Eine Kosmologie ist schon seit Jahrtausenden nicht mehr möglich. Der Begriff einer pluralen Ökonomie hält zunächst einmal fest und hebt ins Bewusstsein, was seit der Durchsetzung des abstrakten Marktprinzips und der kapitalistischen Organisation der Zusammenhänge unscheinbar eine Gegenwelt bildet. In verschiedenen Formen hat Subsistenzwirtschaft historisch die Grundlage und bis heute die lebensnotwendige Ergänzung zum industriellen Sektor gebildet. 29 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Diese Ergänzung funktioniert bisher nur faktisch, und zwar immer unter dem Druck industrieller Expansion. Sie wird nicht mit eigenem Recht in ein Zusammenspiel eingebracht. Deshalb kann nicht wirklich von einer Ergänzung zweier Pole gesprochen werden. Was ein Gegenpol sein müsste, ist nicht einmal als Faktor im Bewusstsein der Ökonomisten oder als Lebensform den Menschen bewusst, die oft genug unter der Hausarbeit, den Pflegepflichten, der Fürsorge für Kinder und Gemeinschaften leiden, weil das alles ohne grundsätzliche Würdigung, zusätzlich zur offiziellen Erwerbsarbeit erledigt werden muss. Und weitgehend unter deren Vorgaben. Wo dergleichen Freude macht, mit Nachbarn und Kollegen verbindet und praktisch einzuschätzende Vorteile bringt, wird es ebenso wenig als ein eigener Sektor der Wirtschaft begriffen. Plurale Ökonomie verlangt als erstes, genau diese Funktion und ihre lebens- und überlebensnotwendigen Beiträge zum Gesamt unserer Wirtschaftsformen gesellschaftlich anzuerkennen – praktisch wie theoretisch. Ich spreche auch von einer polaren Ökonomie. Mit diesem Begriff gehen wir über die bloße Anerkennung des pluralistischen Nebeneinanders von industriell-kapitalistischem Sektor und anderen Wirtschaftsformen hinaus zu einem weitergehenden Entwurf. Die Ergänzung ist historisch bis heute eine bloß faktische geblieben. Auf die Anerkennung ihrer aktuellen und zukunftsweisenden Bedeutung sollen aber Vorstellungen davon aufgebaut werden, wie die einander äußerlichen, scheinbar zufällig nebeneinander existierenden Sektoren zu Polen eines insgesamt sinnvollen und durchdachten Spannungsfeldes werden können im Miteinander unterschiedlicher Kreisläufe. Dabei kommt offensichtlich der Industrie, der Marktkonkurrenz und der Kapitalexpansion zu, für die treibenden Kräfte zu sorgen. Wo sie, wie im gegenwärtigen neoliberalistischen Extremismus, ins Unendliche zielen, ist die ergänzende Aufgabe ebenso überdeutlich. Die Erde mit ihrem Reichtum muss als das letztlich endliche Fundament allen Lebens erkannt und in ihren evolutionären Bedingungen anerkannt werden. Dabei geht es zugleich darum, immer wieder neu Orte des Lebens, also Resonanzfelder im menschlichen Maß entstehen zu lassen. Praktische Kontexte sind gefordert, in denen die Handelnden in anschauliche Beziehungen zu ihrem Gegenüber hineingezogen werden – menschliche Partner wie naturhafte Mitwelt. Aufnehmen von Eindrücken muss zusammen mit wirksamen Erprobungen geübt wer-
30 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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den können. Bevor wir alle diese Seiten näher bestimmen, können wir die Pole einer polaren Ökonomie einfach benennen: Machbarkeit einerseits, andererseits Achtsamkeit. Wenn in unserem Handeln und Denken diese beiden Energierichtungen bewusst zu Polen ausgebildet werden, dann können ihre förderlichen Beiträge und ebenso ihre störenden Wirkungen zu einem Gang ausgebildet werden, der immer neu einem Gleichgewicht zustreben kann. Noch mehr machen zu können und das Machbare zu realisieren, ist die Tendenz, die ein absurdes Zurück zum Leibeigenenhof des Mittelalters nicht zulässt. Achtung für die Bedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten bei Menschen und Natur, die einer unvorstellbar differenzierten Evolution im Wechselspiel der Elemente und Arten zu verdanken sind, muss ein Bewusstsein im Umgang mit Grenzen und Balancen üben. Von beiden Seiten sind im Denken und Handeln dann auch Gefühle im Spiel für die sehr unterschiedlichen Qualitäten, die unsere Lebenstätigkeiten in uns ausbilden und sich in unseren Beziehungen zur Welt niederschlagen. Im Einwirken auf ein Gegenüber werden andere Erfahrungen der Existenz frei als im Aufnehmen dessen, dem wir begegnen. Kraft und Zartheit – hard and soft – gehören in jeder Phase zu einander, aber in sehr unterschiedlichen Balancen, je nachdem auf welche Richtung es jeweils ankommt. Solange es darum geht, entschieden voranzukommen, werden die feineren Empfindungen gebraucht, um das Bewusstsein dafür wachzuhalten, womit wir es zu tun haben. Wo wir uns ganz einlassen sollen auf die Erkundungen einer Begegnung, muss Kraft daran erinnern, dass gerade auch im Aufnehmen unsere Sinne und Vermögen tätig sein müssen und dass wir nicht im Gegenüber beschaulich verschwinden sollen. Es gibt uns einerseits und ein Gegenüber andererseits überhaupt nur dann, wenn wir seine Energien wahrnehmen zusammen mit unserer eigenen Aktivität. Wir müssen bereit sein, kritisch und dankbar wahrzunehmen, was die Welt mit uns tut. Annehmen und widerstehen. Wie alle Gleichgewichtsgänge können auch diese nur in der Folge ungleichgewichtiger, aber einander ergänzender Schritte sich vollziehen. Solch unaufhörliches Balancieren ist wiederum die Aufgabe einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich darüber verständigen, wie die unterschiedlichen Aufgaben und Beiträge in einer jeweiligen Situation verteilt und wieder zueinander geführt werden können. Genau dies beschreibt, wie qualitativ ein Markt und eine Demokratie anzulegen wären. Systematisch hat die Aufklärung diese beiden 31 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Lebensformen der Gesellschaft, die unsere ökonomische wie unsere kulturelle Existenz tragen sollen, nur als Mechanismen beschrieben. Die Entwürfe für diese Mechanismen bei den Klassikern des 18. Jahrhunderts sind von zwei Momenten bestimmt, die in den Theorien gar nicht oder nur äußerlich reflektiert wurden. Es geht im Markt und in Demokratie um ein Gleichgewicht – der Interessen, der Beiträge, der Bedürfnisse, der Wirkungsmöglichkeiten vieler in einer gemeinsamen Geschichte. Die abendländische Entwicklung seit der Antike ist aber immer eindeutiger auf einen statischen Begriff von Gleichgewicht zugesteuert. Gleichgewicht bedeutet dann den Zustand der Waagschalen im Einstand. Gleichgewicht, sagen wir, soll herrschen. Jede Bewegung gilt dann als Gefährdung. Die klassischen Konzeptionen beschäftigen sich deshalb wesentlich mit den Bedingungen und Möglichkeiten eines Gleichgewichtszustandes. Dieser erscheint theoretisch als das Ideal. Praktisch wird er nie erreicht werden. Diesen Widerspruch können die Theoretiker aber nicht grundlegend in ihre Modelle aufnehmen. Genau dies ist neu zu leisten. Gleichgewichtigkeit ist als Gang, als Prozess zu denken, damit jede reale Situation als der Schritt in einer Entwicklung auf einen besseren Ausgleich der Ungleichgewichte hin begriffen werden kann. Daraus folgt die konkrete Anforderung an die nächsten Schritte. Unsere gängigen Maßnahmen der Konjunkturpolitik erwecken zwar den Eindruck, als wollten wir in diesem Sinne reagieren. Sie nehmen aber die unerwünschten Tendenzen nur als Störung wahr, die verhindert, dass endlich Gleichgewicht herrscht, als ob Gleichgewicht die Voraussetzung für gelingendes Handeln wäre. Es sollte als das Ziel begriffen werden, das vielleicht immer Ziel bleiben wird. Worum es geht, ist auf einer weiteren Ebene an sich Teil des Mechanismus, wo Nachfrage und Angebot sich über Preisgestaltungen aneinander anpassen, die in jedem einzelnen Schritt zu hoch oder zu niedrig sein, also zunächst scheitern können. Dass solche Prozesse als notwendig erkannt, aber nicht als Anstoß qualitativer Gestaltung begriffen werden können, erklärt sich aus dem anderen Moment, das in den klassischen Entwürfen zwar eine Rolle spielt, aber so an die historische Situation des Bürgertums in seiner Emanzipation gebunden war, dass es inzwischen verloren gegangen ist. Welchen inhaltlichen Vorstellungen soll unser Wirtschaften dienen? Ökonomie verdient nur das Ganze von Wirtschaftsformen zu heißen, in dem diese Fragen und immer neue Versuche, auf sie zu antworten, ebenso präsent sind wie die Strategien, mit denen Ziele erreicht werden 32 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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sollen. Wo das Gesamtziel in Wahrheit heißt, die Grenzen der Machbarkeit auszudehnen, geraten solche Fragen und Antworten aus dem praktischen Blick und aus dem theoretischen Bewusstsein. Jedes Scheitern wird dann nur als Indikator dafür interpretiert, wie Machbarkeit störungsfreier erzielt werden muss. Die Sache, der das Machen zu dienen hätte, ist nicht länger Grundlage der Argumentation. Die Ablösung der Effektivitätstechniken von den inhaltlichen Aufgaben, z. B. von Wissenschaft oder Kunst oder Heilung oder Bildung, kann man ziemlich deutlich an den Maßnahmenkatalogen beobachten, mit denen sogenannte Unternehmensberatungen in Universitäten, Opernhäuser oder Krankenhäuser eingreifen. Machbarkeit wollen wir als Motor anerkennen, aber ihr Achtsamkeit gegenüberstellen. Wo findet Achtsamkeit in unserer Ökonomie ihre Orte? Achtsamkeit darf nicht missverstanden werden als organisierte, vielleicht gewerkschaftlich organisierte Absicherung herrschender Gewohnheiten. Gemeint sind Fragen der Wahrnehmung. Welche Fähigkeiten von Menschen liegen brach und verkommen? Welche Beziehungen zwischen ihnen ermöglichen ein Zusammenspiel, das abstrakte Organisation und ihre hierarchischen Prinzipien mehr stören als fördern? Welche Widerstände und Herausforderungen, welche unentdeckten Möglichkeiten sind in den Stoffen angelegt, mit denen wir arbeiten? Welche Bedingungen für eine weitere Existenz von Arten gilt es zu kennen? Welche Evolutionsgeschichte hat ein Meer, einen Landstrich, unsere Atmosphäre hervorgebracht und meldet ihre Gleichgewichtsanforderungen an? Solange das Wort Entwicklung mit den Strategien der Machbarkeit verbunden ist, exemplarisch dafür sind die Truman’sche Doktrin der »Entwicklungspolitik« und ihre vorherrschenden Umsetzungen, wird es gut sein, der Seite der Achtsamkeit Worte wie Entfaltung zuzuordnen. Entfaltung lässt sich nicht planen und verordnen. Das muss sicher geschehen, wo es darum geht, die Bedingungen zu erkunden und zu schaffen. Aber, wie ein französischer Gärtner einmal sagte, man kann nur die besten denkbaren Chancen der Pflanze zukommen lassen, wachsen muss sie selber. Wachsen heißt dann nicht einfach mehr Output, sondern eine Art Lebensgeschichte, wiederum in Schritten von Aufnehmen und Ausbilden. Alle Geschichten von Entfaltung, ob im Menschen, ob zwischen Menschen oder in der Natur uns gegenüber, bzw. mit ihr sind Aspekte einer Ökonomie des Lebens. 33 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Die Achtsamkeit kann der Machbarkeit nicht nur synthetisch zugesetzt, das heißt vom Handeln systematisch getrennt abgedeckt werden. Wir neigen dazu, »soziale« und »ökologische« und »kulturelle« Probleme an Experten zu delegieren und nur über deren Ergebnisse in das praktische Handeln einzuspeisen. Die Wahrnehmungen, die Erkundungen und die Versuche zur Anpassung, die Initiativen für Entfaltung müssen eben immer auch in der Praxis selbst erwachsen. Experten können nur ihr systematisches Wissen und den theoretischen Rahmen zur Verfügung stellen im Austausch mit dem praktischen Handeln. Sowie den Wissensformen, die aus ihm, aus den Erfahrungen und ihrer Geschichte erwachsen. Dem können die Wirtschaftsformen dienen, in denen Handeln und Erfahren näher einander durchdringen als in der industriellen Produktion mit ihren kapitalistischen Zielsetzungen und den Konstruktionen ihrer Planung. Dem gegenüber sind Hausarbeit und Eigenarbeit, Nachbarschaftshilfe und Schattenarbeit, Kooperativen und »informelle Arbeit« neu zu bewerten und als eigene Wirtschaftsformen zu erkennen und anzuerkennen. Das ganze Feld kreativer und Menschen verbindender Tätigkeiten, wie etwa in den »Bürgerstiftungen«, aber auch in der individuellsten Zuwendung, muss als offizieller Faktor unserer Gesellschaft begriffen und gewürdigt werden. Ehrenamtliche Leistungen gehen nicht ins Bruttosozialprodukt ein und werden deshalb vernachlässigt. Aufwertung erfahren sie nur über ein Interesse daran, wie hoch das Niveau ihrer Inhalte auf der anderen, der »kulturellen« Tabelle angesetzt wird. Kultur ist aber bereits, wie diese Leistungen das Leben gestalten. Wie sie es mit tragen, ist von größter eben auch ökonomischer Bedeutung. Kultur kann nur aus solchen Durchdringungen erwachsen, nicht getrennt von ökonomischen Strukturen oder als Gegensatz zu Ökonomie. Während ich die großen Züge einer pluralen Ökonomie entwerfe, zeichnet sich ebenso die Polarität von Ökonomie und Kultur ab. Immer wieder taucht dabei ein Erlebnis auf mit Jungen und Mädchen von etwa zwölf, dreizehn Jahren. Es war in der Zeit, als ich mit jungen Lehrerinnen und Lehrern in die Erprobungen ihres ersten Unterrichts ging. Thema unserer Einheit war die Arbeit. Wir hatten die Schüler und Schülerinnen auf Entdeckungstouren geschickt nach altem Werkzeug, das nicht mehr benutzt wird und dessen Gebrauch uns Rätsel aufgab. Wir haben nicht in Handbüchern zur Geschichte der Technik nachgeschlagen. Wir haben ausprobiert, wie das eine und das andere gut 34 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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anzufassen ist, ob es zum Schlagen oder zum Stoßen sich eignet, ob es vorsichtige Bewegungen oder weit ausholenden Schwung erfordert, um wirksam werden zu können. Viele Geräte legten uns schließlich nahe, wie mit ihnen umzugehen sei. Manchen gegenüber blieben wir ratlos. Da schwärmten die Schüler wieder aus und fragten bei Großeltern und Nachbarn herum. Wie Technik und Wissen, Geschichte und Gegenwart, einzelner Arbeitsvollzug und Lebensgemeinschaft zusammenhängen, das war anschaulich zu erfahren gewesen. Nun wollten wir an den Begriff von selbstbestimmter Arbeit herankommen, die Eigenarbeit, wie Christine von Weizsäcker und Willy Bierter sie genannt haben. Deren Aufgaben und Abläufe sind selbst bestimmt, gerade auch, wem sie dienen soll und wozu. Auch das wollten wir nicht belehrend-emanzipatorisch angehen. Aber ein guter praktischer Zugang, der doch an die Bedingungen eines Klassenzimmers gebunden war, fiel uns nicht ein. Offenbar hatten wir inzwischen mehr Vertrauen in die Vorstellungskraft unserer Schüler gewonnen, als die Schulen der Didaktik gut heißen können; jedenfalls fragten wir zu Beginn der nächsten Stunde einfach, was für sie eine Arbeit sein könnte, die sie ganz als ihre eigene Sache betrachten würden. Kaum hatten wir den Satz ausgesprochen, da ergriff ein allgemeiner Wirbel den Raum. Alle sprangen auf, riefen einander zu, packten miteinander an. Tische wurden in der Mitte zusammengeschoben, andere umgedreht und darüber gelegt. Stühle wurden kreuz und quer in die Höhe gestapelt. Kinder kletterten dazwischen herum. Die einen waren noch damit beschäftigt, weitere Gegenstände heranzuholen und sie, in einander verschachtelt, auf einander zu bauen, da saßen andere schon oben oder krochen durch die Lücken hinauf. Nie habe ich, dazu in einem Schulraum, Kinder in derart ungehemmter Tätigkeit erlebt. Aber auch so miteinander im Hin und Wider der Handlungen, der Anstöße und Fortsetzungen. Für uns blieb das Ganze dennoch einfach verwirrend. Wir suchten nach dem Thema, sozusagen nach der Überschrift. Endlich konnten wir die Frage in das Durcheinander werfen: Und was eigentlich macht ihr da? Wir bauen doch ein Baumhaus! Ja. Zwölf, dreizehn ist das Alter der Baumhäuser. Wir waren auf dem Lande; aber selbst in Städten werden sie manchmal noch gebaut. Kinder, die Jugendliche werden, errichten sich eine Anderwelt. Über den Köpfen der Erwachsenen soll sie sein. Das ist der richtige Ort selbst 35 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie und Kultur
errichteter Freiheit. Raucherecken und Internethöhlen sind Ausweichquartiere; vor allem, weil es da nicht recht etwas zu bauen gibt, sind sie Ersatz. Es soll Anstrengungen geben und Widerstände zu überwinden. Und es soll niemanden etwas angehen, was sie da tun und wie sie es anpacken. Am Ende wird ein Spielraum geschaffen sein. Wie darin miteinander zu leben sein wird, werden sie in den Schwierigkeiten und Erfolgen des Aufbaus schon ganz gut herausgefunden haben. In diesem Alter der Übergänge – unsere modernen Gesellschaften nehmen allenfalls die sogenannte Pubertät zur Kenntnis, und auch das meist schlechtgelaunt – werden Vorstellungen wach, in denen Tun und Träumen, Nützlichkeit, Anstrengung, Freiheit und Genuss noch nicht gegeneinander gekehrt sind. Statt dem mit abstrakten Vorschriften und Forderungen der Erwachsenenwelt den Boden zu entziehen, täten wir gut daran, solches Spiel als Entwürfe zu begreifen, wie die neu wiederzufindende Leistung für die Sicherungen des Lebens und die Entfaltung von Lebensformen miteinander verbunden werden können. Angesichts gigantischer Strategien ökonomischer Macht fällt es uns schwer, einem Kinderspiel unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Trotzdem täten wir gut daran, schon weil es eine ausgezeichnete und notwendige Übung sein wird, das Entweder-Oder herrschender Argumentationsmuster zu überwinden, und weil wir lernen müssen, alle unsere Handlungen und Vorstellungen im Spannungsfeld zwischen globalen Rastern und lokal individuellen Bedingungen und Möglichkeiten zu entwickeln. Wirtschaft, die sich nicht als Grundlage für Kultur versteht, ist längst dabei, im Weltmaßstab Kunst zu einer ihrer Ressourcen zu machen, etwa die Bio-Tech-Art in der Produktentwicklung Gene manipulierender Technologien einzusetzen. Künstlerinnen und Künstler, inzwischen daran gewöhnt, die Anerkennung der Gesellschaft in Schalterhallen und an den Wänden von Vorstandsetagen zu suchen, müssen aber gerade umgekehrt zeigen, wie Wirtschaft lebensfähigen, Beziehungen entfaltenden Formen gesellschaftlicher Existenz dienen kann. Diese Aufgabe sollte unser Jahrhundert doch so deutlich erkennen können, wie die Wissenschaft sie vorgezeichnet hat, freilich in ihrer Sicht und mit ihren Begriffen: Wann werden wir Einsteins physikalische Theorie der Relativität übertragen in eine Praxis der Menschen und der Kulturen miteinander? Die institutionalisierten Strukturen unserer Lebensformen abzulösen durch eine Wirklichkeit von sich entfaltenden Beziehungen! 36 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
DER ENTWURF
Die anderen Formen des Wirtschaftens, die unter der einseitigen Fixierung auf den industriellen Sektor vergessen und verdrängt werden, sind zugleich Stellvertreter für die Faktoren und Momente überhaupt, die wir uns gewöhnt haben zu ignorieren und die durch die katastrophalen Folgen dieser Ignoranz in unser Bewusstsein drängen. Wir müssen uns klar machen, dass wir in der Ignoranz einen Krieg gegen die Beziehungen und Bedingungen des evolutionären Zusammenspiels führen. Plurale Ökonomie ist deshalb ein Weg der Abrüstung. Moderne Ökonomie handelt davon, wie die Mittel des Lebens gewonnen und wie sie verteilt werden auf die möglichen Aufgaben menschlicher Lebensgestaltung. Die moderne Ökonomie ist, zu diesem Zwecke immer noch, mit dem zusätzlichen Ziel angetreten, wesentlich den Umfang und die Eignung der Mittel zu steigern. Ihre Begründer aus bürgerlichem Handeln und Denken, noch des achtzehnten Jahrhunderts, haben dieses Ziel »die Wohlfahrt der Nationen« genannt und eine technische Entwicklung betrieben, die Anstrengung und Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen und Motoren wirksamer machen, womöglich am Ende ablösen soll. Die sozialistische Ökonomie hat diese Entwicklung zum humanistischen Programm erhoben, das der Entfaltung aller unserer Vermögen freien Raum schaffen sollte. Was vor zweihundert oder hundertfünfzig Jahren die anthropologische Vision des homo faber wurde, ist, in den Industrieländern, heute von den tatsächlichen Möglichkeiten her erreicht. Und es wird als Katastrophe gehandelt; wir haben nur den Begriff »Arbeitslosigkeit« dafür. Das Moment von Vision, immer schon praktisch im Gedränge scheinbar vordringlicher Errungenschaften und voreiliger Einzelinteressen, ist so fern gerückt, dass es zu Theorie und Praxis der Ökonomie gar nicht mehr zu gehören scheint. Die sollen eine Eigendynamik in Gang halten, besser noch, auf immer neue Touren bringen, die sich im Verfolgen der Ziele ergeben hat: mehr 37 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
Business als Ökonomie. Industrialisierung ist so sehr das Erfolgsrezept für die Aufgabe der Wohlfahrt geworden, dass die wirklichen Bedingungen und Errungenschaften, um die es dabei geht, hinter dem faszinierenden Arsenal der Mittel, mit dem sie gewonnen werden sollten, ungreifbar ins Nebelhafte gerückt worden sind: Erweiterung und Steigerung technischer Produktionsmacht und Erleichterung und Erweiterung des industrialisierten Konsums haben so unabdingbare Vorzüge gebracht, dass an die anderen Dimensionen des einstigen Zieles kaum noch zu denken ist. Moderne Ökonomie hat sich im Vergessen auf den Boden ihres Handelns und die Luft des Atmens etabliert. Ihre Grundlagen in der Natur hat sie zu auszublutenden Resourcen, zu Rohstoffen, Energielieferanten, Kostenfaktoren gemacht. Dies ist die ökonomische Erscheinungsform der Haltung zur Welt, die Heidegger auf den Begriff der Seinsvergessenheit gebracht hat. Sie ist zugleich die negative Seite eines Humanismus, der die Entfaltung von menschlicher Existenz zum Programm der Geschichte erhoben, in der Realität aber die Zwecke und Mittel für die materiellen Voraussetzungen der Existenz absolut gesetzt hat. Da muss der Ruf nach den Werten ansetzen. Was sich heute Ökonomie nennt, hat für das humanistische Ziel die Solidarität mit der Evolutionsgemeinschaft aufgegeben und die humanistische Vision in der Zweckrationalität der Mittel für deren materielle Voraussetzungen untergehen lassen. Die Industrialisierung der Wirtschaft erweist sich nach dem zwanzigsten Jahrhundert als ebenso unentbehrlich wie untragbar. Diese widersprüchlichen Seiten werden beide immer deutlicher. Die Vorzüge industrieller Massenartikel im Alltag, die Absicherung der Voraussetzungen für solchen »Lebensstandard« durch gigantische Großtechnik gelten uns als unentbehrlich – selbst da, wo wir einfach nur aller anderen Wege entwöhnt sind. Andererseits stören die dafür notwendigen Eingriffe in Zusammenhänge der Natur, die doch nach wie vor alle diese Entwicklungen tragen muss, in einem Umfang und mit einer Gewalt, die in Zerstörung übergeht. Dieser Widerspruch war während der vielleicht entscheidenden Jahrzehnte für das allgemeine Bewusstsein verdeckt durch den Konflikt zwischen »Ost und West« um die richtige gesellschaftliche Organisation dieser Entwicklungen. Was diese versprechen und was sie ignorieren und zerstören, fiel zugleich auch deshalb nicht auf, weil das Wissen von den kostbar feingliedrigen Gleichgewichtsvorgängen und Bedingungsgefügen der Natur im Menschen 38 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
wie in allen anderen Wesen, Vorgängen, Dingen nur noch Geltung hatte, soweit es der Verwertung für die industriell-technischen Schichten der Zivilisation zu dienen versprach. Seit die wirklichen Probleme nicht mehr von den Konflikten zwischen Ost und West überdeckt werden, treten sie als gemeinsame hervor. Die Konflikte zwischen dem Norden und dem Süden werden zwar immer härter. Aber auch zwischen den Industrieländern und der übrigen Welt zeigt sich durchaus erkennbar, dass wesentliche Probleme in der Wirtschaft selbst und, durch die Wirtschaftsformen provoziert, in Kultur und Gesellschaft in dieselben Richtungen weisen. In allen Gegenden der Welt nehmen die »Belastungen« der Naturhaushalte alarmierende Formen an. Die Störungen und Zerstörungen werden sowohl durch die Industrialisierung dort betrieben wie durch den Export von schädigenden Produktionen und Ansprüchen, Produkten und Müll aus dem Norden. Global wirksame Schädigungen der Meere, der Atmosphäre usw. werden beherrschende Probleme. Hinzu kommt die Zerstörung der sonst so oft beschworenen civil society und des »lokalen Wissens«. Freilich gibt es in vielen Ländern der südlichen Halbkugel insofern noch mehr, das geschützt werden müsste vor den Strategien, die vom Norden kommen, wo sie schon länger ihr Werk getan haben. Die Naturbeherrschung am Menschen hat ebenso erschreckenden Umfang angenommen: Sie wirkt als das Modell einer weiteren Vergesellschaftung noch tiefer in die seelischen Schichten hinein; das Miteinander der Menschen wird weiter an die Ränder der Existenz gedrängt. Immer weniger bestimmen Begegnungen und Beziehungen die Wirklichkeit dieser Lebensformen, so dass Kultur nicht länger sinnvoll und bewusst als Lebensformen aus den Beziehungen der Menschen mit einander und mit der Welt uns gegenüber gestaltet werden kann. »Kultur«, die nicht in allen Schichten der Praxis ihren Boden hat, verkommt jedoch zur Verzierung. Diese Einsichten müssen wir beantworten mit der Bereitschaft, über Grundsätze unserer Wirtschaftsordnung, vor allem aber über die Zusammenhänge zwischen ihr und den Lebensformen der Menschen sowie den Lebensformen überhaupt neu nachzudenken. Unentbehrlich erscheint die industrialisierte Form von Produktion und Leistungen insbesondere aus drei Gründen. Immer mehr Menschen möchten immer mehr Ansprüche so befriedigt bekommen, wie es nur unter Einsatz von großer Technologie möglich ist. Das bedeutet, zweitens, immer noch extreme Arbeitsteilung und Konzentration von Mitteln 39 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
sowie, drittens, rigorose Standardisierung der Produkte und Produktionsmethoden. Untragbar ist die Industrialisierung andererseits geworden, weil sie zu Zentralismus auf allen Gebieten geführt hat und kein Gegenüber anerkennt in den Beziehungen zur Natur oder im Umgang der Menschen. Die Standardisierung, die seit einem Jahrhundert als Rezept für die Realisierung von Demokratie im praktischen Leben verfolgt wird, führt auf allen Ebenen zu Präformation von Vorstellungen und Gewohnheiten durch die Standards von Technik und Verwaltung. Darunter geraten individueller Tätigkeitsdrang und menschliche Vielfalt der Bedürfnisse in Existenznot. Ebenso dramatisch sind die Folgewirkungen der vordergründig ökonomischen Strukturen. Voraussetzung für die Industrie ist eine Konzentration von Kapital, die schon im Handwerk individuelle Eigeninitiative an überwältigende Wirtschaftsmacht in finanzieller und technischer wie organisatorischer Abhängigkeit bindet. Die Krise des Mittelstands, der uns immer noch trägt, ist strukturell. Die Lenkungsfunktion von Kapital, das seine beste Verzinsung sucht, ist notwendig. Das hat der Untergang des sozialistischen Staatskapitalismus gezeigt. Die mit der rationalen Lenkungsfunktion verbundene Strategie der bedingungslosen Expansion und der unreflektierten Ausschaltung aller nicht zinsträchtigen Leistungen ist irrational, sie führt zum Zusammenbruch von Gemeinschaft und Lebenspraxis. Es gibt nur noch die Alternative von anonymer Verwaltung und verantwortungsloser Privatheit. Das öffentliche Leben ist dazwischen aufgerieben. Diese Entwicklung findet eine Parallele im Abheben der Geldzirkulation vom Leistungskreislauf. Über neunzig Prozent der internationalen Geldgeschäfte gehören inzwischen in den Bereich der Spekulation und haben mit Anlage nichts mehr zu tun. Das heißt, die Monetarisierung ist das Organisationsprinzip aller Lebensbereiche, aber das Geld muss nicht mehr »arbeiten«, wie man früher sagte. Und die Deckung des Geldes besteht immer mehr in den Schulden der einen Staaten bei den anderen, bzw. der Banken bei ihren Geldgebern. Wie abenteuerlich heikel diese Balance in Wahrheit ist, kommt in einem Symptom zum Ausdruck. Nur die Ahnung, was passieren wird, wenn einmal tatsächlich Schulden bezahlt werden müssten, kann die hysterischen Reaktionen auf einen Verlust der großen Börsenindices, wie DAX oder Dow-Jones, um wenige Prozent erklären. Das weist über die neue Weltfinanzkrise weit hinaus. 40 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
Der politische Marxismus hat seine Katastrophe heraufbeschworen, vor allem indem er die Entwicklung der Produktionsmittel zum absoluten Ziel erklärt und von jeder kulturellen Entfaltung abgekoppelt hat. Dazu hat die Populärformel von Basis und Überbau gepasst, die das Bewusstsein zum Anhängsel an die faktischen Verhältnisse machen will. Beides ist praktisch auch Maxime der kapitalistischen Welt von heute geworden. Nur wird hier dem Bewusstsein überhaupt kein systematischer Rang eingeräumt, außer im »Standortfaktor« HighTech-Forschung. Sogenannte Bildungspolitik erklärt offen zu ihrem Paradigma, dass sie die Menschen an die jeweiligen Anforderungen »der Wirtschaft« anpassen will. Was Wirtschaft für die Bildung oder für deren Bedingungen leiste, wird gar nicht mehr gefragt. Zu einem öffentlichen geschichtlichen Bewusstsein und seinem Menschenbild gehören beide Schichten, die Bildung und Entfaltung der menschlichen Vermögen in den Einzelnen und die Ausbildung von Gemeinschaft, in den unmittelbaren Beziehungen wie im Horizont menschlicher Existenz überhaupt. Der Sozialismus hatte die Idee der Gemeinschaft wenigstens nicht aus dem Programm gestrichen. Der Westen gibt sich mit statistischen Definitionen von Gesellschaft und systemtheoretischen Flussdiagrammen für ihre Organisation zufrieden. So entsteht ein Vakuum, wo jede geschichtliche Existenz sich in einer Ordnung wissen muss. Dessen Sogwirkung wird desto stärker, je mehr Gewalt die Strategien der Expansion erzeugen. Dazu müssen Menschen und die Völker in Widerstand geraten, entweder durch Protest oder durch Resignation. Die Theorie der Ökonomie hat es bisher verweigert, diese Konsequenzen zur Kenntnis zu nehmen. Selbst Marx hatte die bürgerliche Gesellschaft zusammen mit der Basis des kapitalistischen Marktes zur Voraussetzung für seinen Sozialismus erklärt. Andere Wirtschaftsformen als kapitalistisch-industrielle der einen oder der anderen Bauart sind seither in der Lehre und in der Politik nicht mehr berücksichtigt worden. Weder im Westen noch im Osten, noch in der »New Economy« oder im post-sozialistischen Raum. Aber genau dies ist jetzt geboten. Dass die Theorie die nächstliegenden Aufgaben versäumt hat, zeigt sich an einem anderen Beispiel ebenso verblüffend. Erst Jahre nach der Wende wurden Überlegungen angestellt, wie eine Wirtschaftsform, die Plan- und Kommandowirtschaft, in eine andere, die Markt- und Kapitalwirtschaft, sich verwandeln könne. Alles, was an Antworten auf die genannten immanenten Probleme unserer ökonomischen Organisation gefunden 41 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
wurde, ist das in seinen Bedingungen und Konsequenzen hilflos unreflektierte Schlagwort von der »Privatisierung«. Die Richtung der »New Institutional Economy« bezieht nun andere als die »klassischen« Faktoren in ihre Überlegungen zum Funktionieren von Ökonomie mit ein; aber sie hält sich an den institutionellen Sektor. Sie fasst nicht eine grundlegend umfassendere Ordnung ins Auge. In Wahrheit müssten aber, wie bei vielen ungestellten Fragen, ganz andere Schichten der Gestaltung des Lebens die Tagesordnung bestimmen. Diese kommen allenfalls für sich an anderer Stelle zur Sprache, wo wir sie zur Randbedingung verkümmern lassen. Es wird klar, dass eine grundlegende Rechenschaft vom Charakter der Probleme gleichzeitig schon Wege der Lösung aufzeigt. Während wir noch ratlos darüber erschrecken, dass ein ökonomisches System, auf das wir wegen wesentlicher Leistungen nicht verzichten wollen, im übrigen die Lebensbeziehungen in der Natur und zwischen den Menschen zerstört, können wir auf der anderen Seite lernen, dass auch wirtschaftliches Versagen wie die Arbeitslosigkeit und die Zerstörung der Mitwelt auf dem Boden einer anderen Ordnung im weiteren Sinne überwunden werden können. Das Überraschendste für die Theorie ist dabei, dass diese andere Ordnung immer bestanden hat und nur nicht beachtet wurde, weil sie als gewachsene stillschweigend weiter getragen hat und nicht irgendeinen Planerstolz befriedigen konnte. In diesem Umfang ist sie allerdings auch stetig verbraucht worden. Die ganze Geschichte der Industrialisierung ist nur der selbstverständlich und unscheinbar fortbestehenden Subsistenzwirtschaft zu verdanken gewesen. Deren Überreste erhalten uns heute noch am Leben. In den sich industrialisierenden Ländern sind die Proportionen umgekehrt. Aber auch dort wird das traditionelle Leben ausgepumpt, um die standardisierte, zentralisierte große Industrie des eigenen Landes und den Bedarf der Industrieländer an vorindustriellen Leistungen hervorzubringen. Der viel zu allgemeine Begriff Subsistenzwirtschaft soll hier zunächst stellvertretend für alle Formen von nicht entgeltlicher Arbeit, von Hilfe unter Nachbarn und in Familien stehen, also für alle Leistungen, die Gemeinschaften für die Mitglieder und für sich als ganze erbringen. Diese Tatsache in der Geschichte anzuerkennen, ist nicht nur eine Frage der historischen Korrektur falscher einseitiger Aufmerksamkeit auf das, was neu und sensationell war, worauf die an der Geschichtsschreibung Interessierten stolz waren. Eine anthropologische Logik 42 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
verlangt, auch die Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen und in der Gegenwart diesen Lebenspotentialen eine systematische Anerkennung in Theorie und Praxis zu verschaffen. Dies wäre auch nur konsequent, wenn man die wirklichen Entwicklungen da, wo sie dem einseitigen Modell widersprechen, nüchtern zur Kenntnis nimmt. Keineswegs sind alle Wirtschaftsformen, auf denen unser Leben beruht, industrialisiert und kapitalisiert oder auch nur marktförmig organisiert. Die halbherzige Feststellung, dass wir eine mixed economy von privatem und Staatskapital überall haben, reicht keineswegs aus. Eine andere »Mischung« hat weit größere Bedeutung, gerade auch systematisch. Noch immer wird im Ganzen der Welt die Hälfte aller Produkte und Leistungen von Menschen nicht in Geld bewertet; sie kommt also in den Schätzungen und Statistiken vom Volkseinkommen der Länder nicht vor. Dies ist eine Schätzung der Vereinten Nationen. Bei einem State of the World Forum hat eine Arbeitsgruppe festgestellt, dass dies völlig neue Kategorien ökonomischen Denkens und sozialen wie politischen Handelns erfordert. Freilich sollte nicht der Feldzug der Monetarisierung beschleunigt werden, sondern das Andere, Eigene dieser Leistungen mit seinen Existenzbedingungen erkannt werden. Dazu gehört der Schutz gegenüber der Industrialisierung und Kapitalisierung, die das bisher stillschweigend Benutzte endgültig gleichschalten und verbrauchen würden. Vielmehr müssen diejenigen, die aus traditioneller Gewohnheit oder aus neuer Einsicht und Initiative solche Art von Leistungen erbringen wollen, befragt werden, wo und wie ihrem anderen Wirtschaften der industrielle Sektor und sein kapitales Finanzsystem das Leben am greifbarsten schwer machen. Es geht um eine andere Abrüstung. Ein Ergebnis kann man mit Sicherheit vorwegnehmen. Biologisch oder, sagen wir, naturgerecht arbeitende Bauern, zum Beispiel, sagen immer wieder, dass sie nicht mit finanziellen Subventionen abgefunden werden wollen, sondern stattdessen die bewusste Unterstützung der Gesellschaft brauchen. Wir sollen im Wirken dieser Menschen einen Beitrag zu einem sinnvollen Zusammenleben aller mit der Natur zu schätzen wissen. Sie verbinden dies zugleich mit Formen der Zusammenarbeit, die alle menschlichen Seiten des Produzierens, des Konsumierens und des Kooperierens wieder befördern. Umso näher liegt dann auch wieder die auf einigen Feldern begonnene Beachtung neuer und alter Einrichtungen von Gemeingut, englisch commons. Sie bildet eine konkret zu lebende Verbindung von Wirtschaften und übrigem 43 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
Leben, von Geschichte und Natur, individuellem Beitrag und Gemeinschaft, Kultur und politischem Sinn – also von all dem, was allein die viel beschworene civil society verwirklichen kann. Dabei geht es in den Industrieländern um Wegbereiter eines neu verstandenen Landbaus. In der Welt insgesamt befinden sich 400 Millionen traditionelle Kleinbauern in einer ähnlich bedrängten Lage. Werden die ersteren bei jeder Krise der Ernährung durch industrialisierte Massentierhaltung oder vergiftete Lebensmittel wichtiger für die gesuchten Alternativen, so produzieren jene immer noch 60 Prozent des Weltlandbaus. Der Entwurf »plurale Ökonomie« stellt zunächst nichts anderes dar als die Forderung, eine historische und aktuelle Wirklichkeit zu erkennen, die systematisch übergangen wird, und sie praktisch wirksam anzuerkennen. Das ist, wo es als realistisch gilt, die Augen zu verschließen, eine Vision. Aber utopisch ist es gerade nicht, nur von sensationeller Nüchternheit. Ich nenne den Entwurf eben auch »polare Ökonomie«. Pole ergänzen und stärken einander im Gegensatz. Andere Wirtschaftsformen stehen der kapitalistisch-industriellen gegenüber. Da sie verschiedene sind, ist das Wort plural für das ganze Feld ebenso angemessen. Wir haben uns aber an eine defaitistisch-desinteressierte Interpretation von Pluralismus als beliebiges Nebeneinander gewöhnt. Polar können wir das Gegenüber zweier Seiten unseres Wirtschaftens nennen, die jede für sich unsere Existenz und den Fortgang der Welt nicht mehr leisten können. Die Pluralität unserer Wirtschaftsformen anzuerkennen und zu schützen, bedeutet, das ökologische Prinzip der Vielfalt in die Ökonomie zu übertragen. Wie in der Ökologie geht es aber auch in der Ökonomie nicht allein um die Vielfalt der Arten, selbst wenn wir erreichen, dass ihnen ihre »Nischen« besser gesichert werden. Lebendig sind die verschiedenen Formen des Wirtschaftens nur im wechselseitigen Austausch, in dem alle an allen anderen ebenso interessiert sind, wie sie einander zu achten wissen. Eine solche Veränderung der theoretischen Grundhaltung seiner Zunft fordert gerade mit großem Nachdruck der nordamerikanische Ökologe Stephen Hubbel: Ein Engagement für die Vielfalt der Arten in ihrer Existenz mit einander und durcheinander. Entsprechend muss das Programm einer pluralen Ökonomie immer im Sinne solcher Multipolarität als einer Geschichte aller mit allen verstanden werden. Die Verbindung zur kulturellen Vielfalt, die inzwi44 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Der Entwurf
schen eine Charta der UNESCO zu einem Ziel der Politik erhebt, ist offensichtlich. Vielfalt der Wirtschaftsformen bedeutet zugleich kulturelle Vielfalt und die Achtung der Vielfalt in der Natur. Bei einem Zusammentreffen 2009 in Berlin haben sich der ehemalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali und der Umweltpolitiker Klaus Töpfer auf den Satz geeinigt: »Vielfalt in der Natur und kulturelle Vielfalt bilden eine unabdingbare Einheit.«
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VOM ENTWURF ZUR WIRKLICHKEIT
Viele Keimzellen und eine fortzusetzende Geschichte der pluralen Ökonomie sind aufgezeigt. Was fehlt, um dem zu einer Wirklichkeit zu verhelfen, die so bestimmend sein kann, dass sie in die Problemdimensionen der industriellen Monokultur ausgleichend, heilend hineinwirken kann? Da wesentliche Elemente und Linien vorhanden oder angelegt sind, brauchen wir zunächst ein wegweisendes Bewusstsein für diese Bedingungen und zugleich praktische Entfaltungsmöglichkeiten unserer Wirklichkeit. Dazu trage ich den hier vorgelegten Entwurf bei. In vielen Gesprächen mit Menschen sehr verschiedener Länder, die aber alle auf eine besondere Weise im Wiedergewinnen einer Balance ihre Kräfte und Hoffnungen einsetzen, wird eines immer betont. Die vielen Ansätze bedürfen vergleichender Auswertungen und eines gemeinsamen Bewusstseins. Dazu muss dokumentiert, unter vergleichenden Kriterien untersucht und für Entscheidungen aufbereitend dargestellt werden. Das bedeutet beratenden Austausch und begleitende Zuarbeit. Bewusstsein brauchen wir aber ebenso vom Ganzen der Gesellschaften her. Alle verdanken noch heute ihre Lebensführung in irgendeinem Umfang anderer Formen als der industriellen Form des Wirtschaftens. Diese sind aber weiter zunehmend davon bedroht, zu Ressourcen des einen forcierten Sektors gemacht oder aber verdrängt zu werden. In den Wirtschaftsformen, die so weit Überleben sichern helfen, liegen die Potentiale, unser Leben da zu entfalten, wo es unter den Nachteilen der Einseitigkeit leidet. Es leidet in vielen Richtungen, von der finanziellen Abhängigkeit über das Austrocknen des sozialen Miteinanders bis zur Lähmung der schöpferischen Energien in den Einzelnen. Statt diese Probleme in Therapien zu organisieren oder zu ignorieren, bis der Schaden das Funktionieren selbst des industriellen Sektors gefährdet, können neue und alte Formen wahrhafter Lebens-
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Vom Entwurf zur Wirklichkeit
tätigkeit Reichtum schaffen, der quantitativ und qualitativ wirksam wird. Mein Entwurf ist keine Utopie, sondern eine neue Einsicht in eine uralte und immer noch wirksame Tatsache. Er hat gleichzeitig visionären Charakter, insofern wir mit ihm versäumte und bedrohte Optionen unserer geschichtlichen Existenz ernst nehmen. Ich propagiere kein Reformprogramm. Ich stelle keine spekulativen Prognosen über seine Effektivität. Ich fordere keine Maßnahmen zu seiner Durchsetzung. Es geht vielmehr darum, an bestimmten Stellen etwas nicht blind zu betreiben, also eher etwas zu unterlassen, als etwas zu machen. Es gilt, die Tatsachen zu erkennen und ihre Bedeutung anzuerkennen und entsprechend weitere Schichten unserer Wirklichkeit bewusst und praktisch zu achten. Eine »neue institutionelle Ökonomie« setzt inzwischen dazu an, andere Faktoren als die von der klassischen Theorie favorisierten in die Untersuchungen unserer Wirtschaft mit einzubeziehen. Bislang bleiben diese aber doch im Status von Randbedingungen. Worum es geht, sind jedoch konstitutive Bedingungen und eigene Ziele. Diese Forderung richtet sich zwar grundsätzlich an die Gruppierungen der Gesellschaft. Deren Fähigkeit, Initiativen zum Ausdruck zu bringen und Vereinigungen neu dafür zu bilden, ja soziale Bewegungen hervortreten zu lassen, ist aber gerade entscheidend geschwächt unter einem faktischen Pakt zwischen dem Staat und dem industriellen Sektor. Staat sagen wir noch und meinen zugleich die überstaatlichen Einheiten wie die Europäische Gemeinschaft oder die der Wirtschaftsunion der nordamerikanischen Freihandelszone, aber auch deren andere Organisationsebene in Welthandelsorganisation, Weltbank und Weltwährungsfond. Deren Ideologie nennt sich neo-liberal und beruft sich auf den traditionellen Satz, dass der Staat keine, etwa religiös begründete, Lebensform einer anderen gegenüber bevorteilen dürfe. Er soll neutral sein. So gilt es etwa seit John Stuart Mill, der freilich selber keineswegs desinteressiert war an einer bestimmten Lebensform und daraus auch nie einen Hehl gemacht hat. Der neutrale Staat ist selbstverständlich nicht untätig. Selbst wo er nur Rahmenbedingungen schafft, die keine eigene weltanschauliche Politik betreiben sollen, ist es entscheidend, welche Wirklichkeit die Politiker erkennen und anerkennen. Der Staat ist eben gerade nicht neutral, wo er die Strategie der Industrie akzeptiert, die mittelbaren Kosten der Produktion, insbesondere die Belas48 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Vom Entwurf zur Wirklichkeit
tungen der Umwelt, aus ihren Kalkulationen wegzulassen und dem Steuerzahler aufzubürden. Dies stillschweigend als selbstverständlich geschehen zu lassen, ist zudem ideologische Interessenpolitik. Warum wird die Übernahme der Kosten für die Lagerung von Atommüll durch die öffentlichen Haushalte, um ein spektakuläres Beispiel zu nennen, nicht als Subvention ausgewiesen? Weil die Politik behauptet, dass Atomstrom für die Gemeinschaft lebensnotwendig ist. Das ist ohnehin zu prüfen, vor allem aber ist zu fragen, wieso artgerechte Tierhaltung, Mindestlöhne und andere Aufgaben nicht lebenswichtig sein sollen. Unsere Praxis besteht darin, Fragen nach Sinn und Wert der ökonomischen Strukturen – wie vieler anderer Bereiche – hinter Forderungen nach Effizienz im quantitativen Sinn zurückzustellen, indem alles getan werden soll, was die bisher vorherrschenden Funktionen abstützt oder, besser, forciert. Dafür ist der industrielle Sektor die generelle Vorgabe. So wirkt die vorgebliche Neutralität faktisch dahin, ein Bewusstsein für andere Sektoren und Funktionen zu lähmen oder ganz zu blockieren. Theoretisch halten wir uns indessen für eine pluralistische Gesellschaft und erklären das auch bei jeder Gelegenheit. Theoretisch bezieht man sich darauf vor allem, wenn es zu vermeiden gilt, dass Farbe bekannt werden muss. Praktisch sieht das dann so aus, dass bestenfalls jeder leben darf, wie er will, vorausgesetzt, er funktioniert in den vorherrschenden Strukturen. Die sind eigentlich doch wesentlich ökonomisch von dem vorherrschenden Sektor bestimmt und der allgemeinen Forderung, gewisse demokratische Regeln und Grundrechte nicht zu verletzen. Die beste Neutralität wäre zugleich eine gute Pluralität in einem öffentlichen Bewusstsein jener Fragen, die jede Lebensform bewegen, die auch alle bewegen, die nach einer Lebensform suchen, die aber verschiedene Antworten finden können. Gerade in einer Art Arbeitsteilung auf solch grundsätzlich gemeinsamer Suche würden sich die gemeinsamen Werte erweisen, die eine demokratische Grundordnung gewährt. Und erfordert. Neoliberal wird dafür auf den Markt verwiesen. Der Markt ist aber der Ort, auf dem Nachfragen und Angebote aufeinander treffen. Die Kriterien der Wahl, nach denen die zu tauschenden Güter inhaltlich bestimmt werden, müssen aber auf einer anderen, weitgehend vorrangigen Ebene geklärt werden. Ebenso müssen Vorstellungen davon entwickelt werden, in welche Verhältnisse individuelle Wünsche zu objektiven Bedingungen zu setzen sind: Um49 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Vom Entwurf zur Wirklichkeit
weltbelastungen, soziale Konsequenzen, geeignete Wirtschaftsformen. Selbst wenn alle diese Faktoren sich reell in den Preisen ausdrücken würden, sprechen diese nur von den Kosten für die Käufer, nicht von den Gründen und Zusammenhängen. Zu Mills und Smiths Zeiten bildete sich das Bürgertum dazu Meinungen aufgrund seiner Überzeugungen und Weltanschauungen, die sich eben auf geistiger Ebene herausbildeten, zu der religiöse Grundsätze wesentlich gehörten. Diese Ebene sucht der Sektor Werbung abzufangen und im Interesse industrieller Ziele dienstbar zu machen. Eine demokratische Grundordnung, die allein darauf besteht, dass jeder die anderen und den Staat von bestimmten Seiten seiner Existenz ausschließen kann, ist zu formal, um ein öffentliches Leben zu begründen. Ihre Neutralität ist zu technisch, um einen Boden zu bilden, auf dem andere als gerade faktisch vorherrschende Funktionen ihre Bedeutung einnehmen könnten. Ohne systematisch vorgesehene Situationen, in denen demokratisch bewusstes Miteinander geübt und erfahren wird, gibt es nicht wirklich demokratische Ordnung. Ein wesentlicher Bereich dafür wäre eben gerade auch die Pluralität ökonomischer Funktionen und Ordnungen. Deren ergänzende Aufgaben beruhen auf der anderen Art von Ordnung und Funktionen, die jede von ihnen beiträgt. Aus solchem Miteinander kann eine Achtung für einander erwachsen, die dann auch Formen der Begrenzung findet, wo das, was einander ergänzt, von der einen oder anderen Seite gefährdet wird. Der Begriff selbst des Miteinanders schließt den Gedanken an Mauern und Schranken aus. Auch die gegenwärtig bevorzugten Vorstellungen von »Systemen« mit »Reglern« entsprechen nicht der Aufgabe. Eher kommen Metaphern wie Dämme oder Schwellen oder Membranen in Betracht, wo es darum geht, ein wechselseitiges Zusammenspiel durch strategische Trennungen überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Schwellen oder Membranen sind nötig, weil die einander ergänzenden Wirtschaftsformen auf je anderen Grundsätzen aufbauen. Der kapital-industrielle Sektor braucht das Konkurrenzprinzip und den prinzipiell unbegrenzten Expansionsdrang des Kapitals. Das Profitstreben erfüllt die Funktion, eine wirtschaftende Gesellschaft zu dynamisieren und die expandierenden Kräfte in die Richtungen von Bedürfnissen und Effektivität zu lenken. Diese Funktionen sind wertvoll, nicht »der Markt«. Dessen Wirksamkeit muss sich immer an ihnen messen lassen. Beide Funktionen sind Aspekte, wesentliche 50 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Vom Entwurf zur Wirklichkeit
Aspekte der Freiheit: der freien Entscheidung, was die Menschen konsumieren, und der Entscheidung, was sie produzieren wollen. Wenn sich Bauern, Handwerker und kleine Unternehmer entscheiden, nicht profitmaximierend produzieren zu wollen, sondern wahrhaft »Lebensmittel« zu schaffen, deren Herstellung sich industriell und kapitalverwertend nicht rechnet, dann ist auch diese Freiheit zu schützen, und zwar im Interesse aller. Solche Lebenstätigkeiten geben uns zurück, was die Entfremdung der Arbeit genommen hat: Wirklichen Austausch mit der Natur in ihrer Aneignung für die Gestaltung des Lebens; Entfaltung der menschlichen Vermögen im Dienste von Welt und geschichtlicher Existenz; Begegnung mit sich selbst und mit den Mitwirkenden in gemeinsamen, nützlichen Aufgaben. Seit je sind, auf ihre weniger greifbare Weise, Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler im Grunde in der gleichen Lage. Ihr Beitrag ist von grundlegender Bedeutung für das geschichtliche Leben. Kaum jemals wird ihre Tätigkeit unmittelbar Marktwert haben. In vielen Formen des Übergangs ergänzen sich diese Funktionen mit denen des Marktes nicht nur letzten Endes, sondern in praktischen Situationen wie Zuarbeit, Innovation usw., vor allem aber als Arbeit an der Bereitschaft zu neuen Möglichkeiten. Dafür gilt es, Formen zu schaffen, die solchen Wirtschaftszielen anders gerecht werden als den Tätigkeiten, die ihre Dispositionen und Vorstellungen der Maximierung von Gewinn unterordnen. Einen Schritt in diese Richtung stellen bereits Stiftungen privaten Rechts dar, deren »Gemeinnützigkeit« mit minderen Steuerbelastungen anerkannt wird. Es wäre auch daran zu denken, entsprechende Betriebe z. B. auszunehmen von dem Zwang, sich in teuren Gewerbegebieten anzusiedeln, und vieles andere mehr. Unternehmen, die wichtige Forschung betreiben, deren Kosten aber nicht oder noch nicht über die Preise ihrer Produkte refinanzieren können, sollten auch Anerkennung durch andere Kredit- und Steuerbedingungen usw. erfahren. Dass Entwicklungskosten für neue Produkte, die lebenswichtig sind, über einen Preis, der höher ist als in einer ungehemmten Konkurrenz abgedeckt wird, wird der Pharma-Industrie selbstverständlich zugestanden. Dasselbe muss für andere Produkte auch gelten, die ein gesundes Leben erhalten im Gegensatz zu schädlichen Billigproduktionen einer Konkurrenz, die auf Kosten des Nutzens und der Umwelt produziert. Fair trade-Kampagnen z. B. versuchen, eigene Märkte für bestimmte Güter zu schaffen. Klargestellt muss nur werden, dass dabei das konventio51 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Vom Entwurf zur Wirklichkeit
nelle Institut der Subvention abgelöst wird. Eine andere Wirtschaftsform muss definiert und differenziert behandelt werden, und zwar nicht als subventionierter Sonderfall einer angeblich normalen Einheitsform, sondern als eigener Sektor mit eigenen Leistungen, Bedingungen und Pflichten. Offensichtlich sind die Aufgaben und Betätigungsfelder der »Eigenarbeit« den vorgenannten eng verwandt. Willy Bierter und Christine von Weizsäcker haben schon in den 70er Jahren das Konzept vorgelegt und zum Ausbau empfohlen. Ihren Nutzen erweisen sie vorerst noch in subjektiver Wertschätzung durch die, die sie leisten, und die, denen sie nützt. Das wird deutlich einfach darin, dass sie die Beteiligten erfreut und sie darin verbindet. Ihre Funktionen sind nicht zuletzt darin zu sehen, liegen aber auch ganz greifbar in allem Nutzen, der nur in unmittelbarer Vertrautheit mit dem erzeugt werden kann, was gebraucht wird und vor allem wie und wann. Hausarbeit, Aufzucht von Kindern, Pflege, Vereinsarbeit sind wohl die Hauptfelder. Familiärer und nachbarschaftlicher Austausch oder Austausch von allen möglichen Leistungen und Hervorbringungen unter befreundeten Menschen gehören erweiternd dazu. Statt sich über »Schwarzarbeit«, über die »italienische Wirtschaft« oder die »polnische Wirtschaft« zu empören und mit Verbotsstrategien zu reagieren, sollten wir uns besser fragen und sehr eingehend untersuchen, welche Funktionen auf diese Weise erfüllt werden und nicht anders. Während über Schwarzarbeit wichtige Literatur vorliegt und die berühmten italienischen Verhältnisse insgeheim auch als gesellschaftserhaltend begriffen werden, sollte ich andeuten, was ich mit »polnischer Wirtschaft« meine. In den Zeiten des real regierenden Sozialismus hatten die Menschen gelernt, möglicherweise jede Leistung mit dem Hinweis auf irgendetwas zu verweigern, das nicht vorhanden war, Material, Werkzeug usw. Dahinter verbargen sie die gleichzeitig entwickelte Fähigkeit, wo nur offizielle Kontrolle nicht griff, alles Erdenkliche mit den ungewöhnlichsten Mitteln zu improvisieren. Ein solides doppeltes Bewusstsein gegenüber dem politischideologischen Regime hat Çeslav Milos¸ »Kismet« genannt. Ganz verloren hat es sich nicht, und allein auf Polen ist es nicht begrenzt. Die subversiv entwickelten Vermögen der Menschen sind als kreative Potentiale zu begreifen. Für alternative Liederaufnahmen oder Modenschauen haben junge Leute in der DDR eine durchaus auch ökonomisch relevante Form einer Ästhetik des Widerstands entwickelt. 52 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Auch dieses Potential ist untergegangen im schematischen Austausch der Wirtschaftssysteme durch die Vereinigung. Was sollen wir, in unserem Kontext, davon halten, dass in den Vereinigten Staaten der geldlose Tauschhandel, über die erstaunlichsten Zwischenstationen, einen geschätzten Umfang von etwa einem Drittel des Bruttosozialprodukts ausmacht? Zumindest zeigt sich, dass die Tauschkreise freund-nachbarschaftlichen Charakters, die wir in Deutschland entstehen sehen und mit arrogantem Lächeln zur Kenntnis nehmen, in riesigen Maßstäben arbeiten könnten. In größerem Umfang hat die Erfahrungen mit regionalem Geld, mit Anrechtsscheinen und einem ganzen Kontext kommunitären Wirtschaftens die Anregung von Gsell in Bayern, später in Brasilien gemacht. Warum gibt es dazu eine Studie der Bauhaus-Akademie, aber keine Aufmerksamkeit an den Fakultäten für Wirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre? Werden die neuen Projekte ähnlicher Art wissenschaftlich begleitet und ausgewertet? Wird nicht in erheblichem Umfang kommunitäre Wertschöpfung in der Nachbarschaftshilfe geleistet? Mehrere Familien bauen erst das Haus der einen, dann das der anderen mit einem wesentlichen Anteil an gemeinsamen »Eigenleistungen«. Nach demselben Prinzip werden Autos und Fernseher repariert und manch andere Mischformen realisiert, in denen industrieller Sektor und Eigenarbeit, monetäre und Leistungen auf Gegenseitigkeit stillschweigend und wirksam ineinandergreifen. Auf der anderen Seite zeigt sich systematisch, dass unsere einseitige Definition und Politik für Wirtschaft zu riesigen Einbrüchen führt. Der Tarifvertrag der 90er Jahre für die Volkswagenwerke in Deutschland war ein Eingeständnis, dass »Teilzeitarbeit« der Normalfall der Industriegesellschaften wird. Damit kann die Chance aufgegriffen werden, zwei wesentliche Faktoren der Unzufriedenheit zur gegenseitigen Ergänzung zu führen. Der eine betrifft das Marktangebot, der andere ist die Unterbeschäftigung im industrialistischen Sektor. In Begriffen von Markt ausgedrückt, sind inzwischen auch in den niederen Einkommensschichten viele Nachfrager für bestimmte Dinge unzufrieden mit den immer schematischer standardisierten Produkten der Massenindustrie und sehnen sich nach mehr und mehr handwerklicher Fertigung bei Gegenständen wie bei Dienstleistungen. Diese anzubieten – und zunächst einmal auszubilden – kann der doppelten Unzufriedenheit der Industriearbeiter und Büroangestellten entsprechen, wenn die53 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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se in dem Rest, den die Teilzeittarife offen lassen, sich ganz anderen Tätigkeiten mit berufsmäßiger Fähigkeit zuwenden. Seit Jahrzehnten ist offensichtlich, dass die Absolventen einer Kunstakademie nur in Ausnahmefällen den Erwerbsberuf Künstler ausüben werden. Ihre künstlerische Arbeit muss einem anderen Verdienst abgewonnen werden. Ob dies als Erwerbswirtschaft in den monetären Kreislauf einzubeziehen ist oder als moderner Gabentausch von den Menschen selber in die Hand genommen wird, ist damit noch nicht festgelegt. Für die zweite Lösung spricht viel. Jedenfalls würden solche Leistungen bedeuten, dass die Lebenshaltung nicht von dem Lohneinkommen allein bestritten werden müsste und dennoch die eigenverantwortliche Arbeit nicht in den unmittelbaren Sog des monetären Systems geraten würde – wie es etwa beim Verkauf von Gütern aus Landbaugemeinschaften über Supermärkte eben doch geschieht. Die zunehmend offensichtlichen Gefährdungen durch die Produkte der Agrarindustrie könnte die Unzufriedenheit in neue, alte Erzeugungsweisen lenken. Es schien mir symbolische Bedeutung zu haben, dass zufällig am Tage des Tarifvertrages, also mit dem Benennen der heutigen Verhältnisse durch Werksleitung und Gewerkschaften bei VW 1994, Gustavo Esteva in Europa eintraf, um von dem Leben und Wirtschaften jener hunderttausenden von Mexikanern, den Tepitenios, zu berichten, das sie bereits jenseits der Zwänge und Standards der »Entwicklungspolitik« und der Weltwirtschaft zu erproben begonnen haben – gewiss in mancher intensiven Anlehnung, von der sie sich gleichzeitig abstoßen, an die kapitalisierte Zentralökonomie. Was fehlt uns grundsätzlich, damit alle diese und manche älteren und alten Ansätze – wie sie Kommunen, Orden oder Zünfte etc. darstellen – zu einer wirklichen neuen Wirtschaftsordnung zusammentreten? Hier geraten wir in das komplexe Feld der Beziehungen von »Sein und Bewusstsein« der Menschen. Westlicher und marxistischer Kapitalismus unterscheiden sich nur insofern, als es für Marx die Idee einer eigenen Sphäre eines Bewusstseins von Gemeinschaft und Individuen überhaupt abzuschaffen gilt, während der bürgerliche Staat sie unter den Glassturz der Sonntagspredigten und Wahlreden stellt. Realität ist für die modernen Gesellschaften insgesamt nur »Sein« in messbaren Größen. Dieses »Sein« wird zudem gern mit einem status quo verwechselt. Warum reproduzieren die Menschen bei Verteuerungen des Benzins den Ruf nach staatlicher Preishilfe, statt, wenn es schon beim Individualverkehr bleiben sollte, vehement das Drei-Liter-Auto zu for54 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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dern? Für ein solches Umdenken müsste es eben überhaupt Denken in der Gesellschaft geben. Zweifellos bedürfen wir dagegen gerade eines geschichtlichen Bewusstseins, in dem die Fragen und Nöte sowie die Versuche und Entwürfe zu einer gemeinsamen, wechselseitig einander durchdringenden Reflexion finden, aus der allein ihnen verbindliche Bedeutungen und Aufgaben zugewiesen werden können. Ökonomie, die Gemeinschaft nicht zerstört, sondern ihr zu wachsen hilft. Ein solches Bewusstsein hatten auch die Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufgeben wollen; nur war ihnen nicht bewusst, dass es sich unabdingbar mit den elementarsten Dingen des Lebens durchdringen muss. Kant etwa sprach davon, dass wir »auch Weltbürger eines immateriellen Reiches« zu sein Anspruch machen müssen. Umgekehrt hat Habermas die Marx’sche Tradition um einen herrschaftsfreien Diskurs zu erweitern gefordert. Über solche Ergänzungen hinaus brauchen wir aber eine Erweiterung der Rationalität in der Ökonomie, um sie wieder den weiteren Lebenszusammenhängen einzugliedern. Ihre enge Zweckkausalität hatte einmal als Instrument dienen sollen, wo die Gesellschaft glaubte, unabhängig davon eine Lebensform auf ein solches Vehikel setzen zu können. Das war naiv und unrealistisch. Die Großindustrie »rationalisiert«, sagt ein führender westlicher Politiker und meint, sie ersetzt weitere Arbeitsplätze durch Automatisierung. Derselbe Politiker findet, der »Mittelstand« werde die Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen, für die steuerlich bevorteiligte Großindustrie mit bewerkstelligen. Offenbar nach einer anderen Rationalität. Die aber gilt es zu erarbeiten und stark zu machen. Aber selbstverständlich kann es auch kein Bewusstsein ohne Sein geben. Den Ort solcher Bewusstseinsbildung – ich möchte nicht marxistisch abstrakt sagen: »das historische Subjekt« – kann nur bilden, was gegenwärtig den beschwörenden, hilflosen Schluss aller soziologischen Analysen – z. B. bei Dahrendorf – darstellt: Die civil society. Sie aber ist nicht ein abstraktes Subjekt, sondern konstituiert sich aus einer Vielheit von wirklichen Subjekten und ihren konkreten Gemeinschaften – nicht ihren Institutionen und Organisationen. Was zugleich – damit kehrt sich die Richtung möglicher Konstitution einmal mehr um – die Vereinzelten zu einer civil society machen kann, ist allein in dem Bewusstsein möglich, und zwar als begriffenes, erklärtes und tätiges Bewusstsein, Beiträge für ein historisches Miteinander zu leisten, das noch nicht abgeschlossen und defini55 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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tiv bestimmt ist. Gerade, dass der genaue Charakter dieses Miteinanders sich erst in der Zukunft unserer Erprobungen zeigen wird, macht die Versuche sinnvoll, setzt aber die Zugänge auch manchen Ungewissheiten aus. Mangel an einem solchen Bewusstsein macht die einen Gruppen aufgrund voreiliger Gewissheiten zu Sekten, die sich von der allgemeinen Geschichte abkoppeln. Andere wollen ihr Ziel als Plan für alle, also auch eine zerstörerische Absolutheit, vorgeben. Genau diese Situation schöpferisch zu wenden, ist die produktive Kehrseite unserer bislang in Behäbigkeit und Anpassung an Machtfaktoren versinkenden pluralen Demokratie-Verfassung. Es bedarf der Übersetzung von ökonomischen Modellen ebenso wie von spirituellen Entwürfen und von vereinsamenden Zeugnissen des Bürgersinns in eine gemeinschaftliche Bestimmung. Diese dritte Dimension zu den »Fakten« einerseits und den »Überzeugungen« andererseits kann einzig deren stumpfe und mörderische Konfrontation überwinden. Sie kann nur in den gemeinsamen Anstrengungen historisch anthropologischer Reflexion und praktischer Ansätze zu Bewegungen entstehen. Dafür darf man keine fertigen Pläne machen. Strukturen müssen in der Gemeinsamkeit von Reflexion und Praxis, also im Abwägen erwachsen. Die methodischen Instrumente des Vergleichens und Zuordnens müssen aus dem Vorgang des Vergleichens und den zu vergleichenden Ansätzen selber entwickelt werden. Es ist wohl zu materialistisch, wie Marx einfach den Geist des Kapitals dafür verantwortlich zu machen, und auch zu idealistisch, indem ein Abstraktum zum Subjekt der Geschichte stilisiert wird. Lassen wir einmal diesen Papiertiger beiseite. Zweifellos ist aber die monetarisierte und kapitalisierte, industrialisierte Ökonomie eine Zerstörungsmaschine, wo sie mit den gemeinschaftlichen Wirtschaftsformen auch die Lebensformen in Gemeinschaft ausgesogen und vernichtet hat. Wenn man also den Begriff einer civil society ernst nimmt, dann muss man gleichzeitig den Antagonismus zu Monetarisierung und Kapitalisierung deutlich analysieren. In Wirklichkeit kommt gegenwärtig ein dritter Faktor hinzu, der sehr wohl eine weitere Stufe zu diesen zwei voraufgegangenen darstellt. Er hat noch keine theoretische Bezeichnung erhalten, vermutlich, weil er noch kaum als solcher erkannt ist. Man könnte von einer immer absoluteren Abstraktion der Finanzsphäre von den Rückbindungen in die reale Ökonomie sprechen. Kapital muss sich, nach klassischer Auffassung von Smith über Marx bis Keynes und Schumpeter, in den Metabolismus von Geld und Ware 56 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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begeben. Danach war Kapital existent nur in seiner Bedeutung in der Produktion. Diese erst »erwirtschaftete« den Gewinn. Heute sind Banken und Börsen im Wesentlichen an finanziellen Operationen interessiert; das Geld ist sich selbst genug und verachtet zunehmend die materiellen Niederungen der Herstellung von Waren. Dieses ist die objektive Entwicklung, die der modischen Begeisterung für »Immaterialität« in Medien, Kunst und Philosophie zugrunde liegt. Aus den Fakten einer gefährlichen ökonomischen Auflösung konkreten Lebens wird eine ideelle Tendenz, die darum mehr ist als nur modisch. Gemeinschaftliche und damit an Orte des Lebens und bestimmte menschliche Zusammenhänge gebundene Wirtschaftsformen sind ein ökonomisches Überlebenserfordernis. Zugleich bedeuten sie, mittelbar, die Voraussetzung dafür, dass civil societies wieder möglich werden, eigenen Boden haben. Die abstrakte und die konkrete Ebene der Ökonomie hängen eben auch, unter anderem kann man das mit Adam Smith begreifen, nach dem Modell des Marktes zusammen, der einen »Mechanism« nur bildet im konkreten Zusammenspiel gegen einander treffender Agenten als Anbieter und als Nachfrager. Dabei sind nach Smith die Nachfrager die Agenten, durch die der zweite Mechanismus der Ökonomie in den ersten der Preissteuerung hinein wirkt: Die Steuerung der Wirtschaftsziele aus dem Gemeinsinn. Das ökologische Steuerungskonzept über kostenreale Besteuerung baut wesentlich nur auf eine Beeinflussung über die Preisgestaltung des Angebots. Wenn die sogenannten externen Kosten, also alle Folgekosten einer Produktion, die bislang aus der betriebswirtschaftlichen Kalkulation in öffentliche Haushalte verschoben werden, in den Preisen zu Buche schlagen, werden den Kunden die trügerischen Schnäppchen verleidet. Das dürfte das kurzfristig am besten Erfolg versprechende Instrument sein. Schon mittelfristig würde eine Stärkung und Anerkennung anderer Wirtschaftsformen – die ja teilweise selber monetär abgewickelt werden würden und schon deshalb Einfluss auf den Charakter des Warentausches hätten – insofern wirksamer sein, als hier eigene Kräfte der Gesellschaft zum Zuge kämen. Sie können dem öffentlichen Leben Gestalt geben. Das kann der Staat nicht. Die kapitalistische Ökonomie hält, trotz gewerkschaftlicher Mäßigung und staatlicher Aufsicht, die Sphäre der Produktion im radikalen Sinne privat. Die Produktion findet hinter geschlossenen Mauern statt. Das wird begründet mit Initiative und Risiko des Kapitals in der Konkurrenz der Produzenten. In Wirklichkeit richtet sich die Geheimhaltung genauso – und bei allen 57 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Kartells und Preisabsprachen vorherrschend – gegen die Konsumenten. Was vergesellschaftet und zum Instrument anonymer kollektiver Regelungen gemacht wird, ist das Leben der Verbraucher. Dieses wird zu diesem Zweck als Konsumverhalten definiert und statistisch quantifiziert, um von seiner persönlichkeitsbildenden Bedeutung abzulenken. Die wird flott durch das stiling aller Ebenen ersetzt. Eine wahrhafte ökologische Wende kann aber nur die existentielle Antwort der Menschen und ihrer Gemeinschaften, von der Familie und dem Freundeskreis bis zur sozialen Bewegung, hervorbringen und tragen. In klassischer Zeit war der Markt ein Instrument, kein Wert. Er ist wertvoll als Instrument der Menschen, bestimmen zu können, was wann und wie produziert werden soll. »Werte«, im Gegensatz zu den monetären Bewertungen am Markt, müssen in den Präferenzen und Bedürfnisentscheidungen der Menschen als Individuen und als Bürger zum Tragen kommen. Übersetzt in Verhalten am Markt, für den entschieden wird, üben sie ihre steuernde Funktion aus. Zur Zeit einer starken und selbstbewussten, aber auch von bestimmten Wertvorstellungen überzeugten bürgerlichen Gesellschaft war dies so selbstverständlich, dass eine ökonomische Theorie es kaum zu erwähnen brauchte. Wir haben inzwischen ihre strategischen Strukturen instrumenteller Umsetzung für kulturelle Entscheidungen zu einer Art Orakel für Orientierungslose ernannt. Orientierungshandeln wird durch Verfügungshandeln ersetzt. Steuerungsebene und ausführende Gefolgschaft haben sich umgekehrt. Hier kann und muss Kultur das Wirtschaften sich wieder aneignen. Dafür brauchen aber die Träger der Entscheidungen, die Menschen, sachliche und institutionelle Grundlagen gegenüber dem losgelassenen Potential, den streunenden Kräften, den selbsttragenden Institutionen der »post-industriellen« Lebensverwertungsmaschine. So ist denn auch ein systematischer Vorteil dessen, was ich hier, vielleicht missverständlich, als ein Modell vorstelle, darin gegeben, dass es nicht um Propaganda und Anwendung geht. Das waren gerade die Eigenschaften aller Kreuzzüge bis zu dem der green revolution. Die Globalisierung ist die systematischere, totalisierende Fortsetzung der »Entwicklungs«-Doktrin. Ich verlange systematische Anerkennung und geschichtliche Achtung für Wirtschaftsformen, die wir immer lebensnotwendig gebraucht haben. Es geht, jedenfalls zunächst, auch gar nicht darum, etwas zu tun. Im Bereich der Maßnahmen – nicht des Bewusstseins – geht es in vielen ersten Schritten um Unterlassen. 58 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Es geht dabei um ein ähnliches Zusammenwirken, wie es Bewegungen zur Wahrung der Lebensentfaltung längst in der Devise festhalten: »local activities, global consciousness«. Fragen verbinden alle Beteiligten; die Antworten müssen je besonderen Umständen entsprechen. Gemeinsamkeiten können nur durch das wirkliche Vergleichen von wirklichen Untersuchungen wahrhaft herausgearbeitet werden. Die Arbeit ist an Orte gebunden. Das Bewusstsein kann und soll eines der wechselseitigen Ermutigung und Stärkung werden und darin übergreifend sein.
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WAS IST »DIE WIRTSCHAFT«?
In Wirklichkeit wirtschaften wir Menschen auf fast unendlich viele Weisen. Manche von ihnen sind uns gar nicht als solche bewusst. Wenn wir einander helfen, untereinander Kräfte sammeln für eine gemeinsame Aufgabe, wenn Rituale für bestimmte Gottheiten zugleich der Fortdauer bestimmter Reissorten oder der Bewahrung einer Quelle dienen, denken wir besonders an die Beziehungen, die auf diese greifbare Weise gepflegt werden. Beziehungen sind aber bei allen Formen des Wirtschaftens zumindest unausdrücklich im Spiel. Im Extremfall führen sie zur Vernichtung von Beziehungen oder basieren bereits auf ihr. Nachdem die »Zivilisationsmaschine« heiß gelaufen ist, häufen sich die Beispiele dafür. Jeder ausgebeutete Mensch und jedes verwüstete Stück Erde sprechen davon überdeutlich. Doch wenn in Reden oder Artikeln oder in den alltäglichen Gesprächen von »der Wirtschaft« die Rede ist, wird nicht mehr an die Fülle menschlichen Handelns gedacht, der wir verdanken, zu leben und zu überleben. Selbstverständlich gehören die Montage bei VW und Ford dazu und die Bedienung der Installationen für die Massentierhaltung. Auch die Bearbeitung riesiger Flächen – so sagt man inzwischen für Acker oder Boden – mit gewaltigen Maschinen. Ebenso der Sektor der Dienstleistungen in Schaltstellen und Großraumbüros, den Jean Fourastié noch der Produktion typisch gegenüberstellte, ist gemeint, weil die Arbeitsweisen und die Apparaturen so weitgehend industrialisiert sind. Aber wer denkt an all die Tätigkeiten, die in den Wissenschaften, in Künsten, in der Bildung etwas beitragen zum Gedeihen unserer Existenz? Medizin und Pflege sind zwar durch Kostenrechnungen in die Nähe der Wirtschaft gerückt, vor allem seit ihrer Privatisierung, aber sie zählen noch nicht so richtig dazu, ebenso wie die Universitäten, die immer noch in ihren Städten darauf hinweisen müssen, dass sie sehr viele, manchmal sogar die meisten Erwerbsarbeitsstellen bieten. Erfindung und Kreativität bleiben außen vor. 61 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
Über Hausarbeit wird eigentlich nur im Zusammenhang mit dem Thema »Hausfrauenlohn« gesprochen. Die unabsehbare Vielfalt und Menge ehrenamtlicher Tätigkeiten ehrt man lieber gelegentlich einmal, als dass man sich eine Vorstellung davon macht, was sie nicht nur für den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern auch für das Bruttosozialprodukt bedeuten. Wenn städtische Nachbarn seit einigen Jahren ein Stück ungenutzten Boden gemeinsam in einen Garten verwandeln, ist das eben nicht unter Alternativen, Kultur und Soziales zu verbuchen, sondern sie erwirtschaften darauf Gemüse, und zwar so gesund und so frisch, wie alle es sich wünschen. Dieses letzte Beispiel zeigt, dass die Folge ungenannter Felder und Formen des Wirtschaftens sich ständig erweitert, während andere, traditionelle immer öfter unbeachtet verschwinden. Was ständig die Wirtschaft genannt wird, ist eine unglaubliche, tendenziöse Verengung. So waren der Markt, die Märkte und ihre Gesellschaften nicht gemeint, obwohl schon zu Beginn der modernen Ökonomietheorie nur jene Weisen des Wirtschaftens das vorherrschende Interesse bildeten, die so zu dem kapitalisierten und industrialisierten Sektor werden konnten. Dennoch ist die Verengung des Begriffs Wirtschaft nur aus der Geschichte zu begreifen. Seit über zweihundert Jahren verkündet die bürgerliche Theorie, seit eineinhalb Jahrhunderten die sozialistische das Ziel: mehr Wohlstand bei weniger Arbeit. Nach den Vorstellungen des schottischen Moralphilosophen Adam Smith, des »Vaters der Nationalökonomie«, muss dazu eigentlich nur das Naturgesetz befolgt werden, das Arbeitsteilung heißt und Spezialisierung bedeutet. Spezialisierung setzt, das macht das klassische Beispiel der Nadelproduktion unmittelbar deutlich, Zerlegung von Produktionsvorgängen in Teilfunktionen voraus. Wenn ein Nadelschmied Draht zieht, eine Nadellänge abschneidet, ein Ende zuspitzt, am anderen ein Öhr öffnet und das Ganze poliert, nur um diesen Vorgang mit dem nächsten Stück Draht zu wiederholen, kann er nur wenige Nadeln am Tage fertigstellen. In der Nadelmanufaktur ziehen die einen den Draht, andere schneiden, andere spitzen die Abschnitte zu usw. Sie wiederholen ihre Teilfunktion viele, viele Male schneller als die einzelnen Handwerker, die freilich auch schon Spezialisten waren und das Prinzip der Wiederholung des Gleichen mit Erfolg praktiziert hatten, nur in viel größeren Einheiten. Nach Smith bekommt die faktische Strategie gewissermaßen Gesetzescharakter: In je kleinere Einheiten die Produktionsvollzüge aufgeteilt werden, desto 62 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
größeren Anreiz zur Maschinisierung bieten sie, da sie mechanisiert ja bereits sind. Für Smith war neben der Verkündung des Prinzips der »Arbeitsteilung« diese andere Neuerung eher stillschweigend selbstverständlich. An der Dampfmaschine seines Freundes James Watt konnte er beobachten, wie erfolgreich deren Kraft benutzt werden konnte. Diese frühe Phase der Industrie verbrauchte zwar noch menschliche Arbeitskraft in einer Extensivität und Intensivität, die für uns unvorstellbar geworden sind. Aber der physische Aufwand von Menschen, und auch von Tieren, wurde zugleich weitaus mehr ersetzt, als das mit den einfachen Techniken der Ausnutzung von Naturkräften in Mühlwerken möglich gewesen war. Für den bloßen mechanischen Kraftaufwand Menschen zu verwenden, war nun nur so lange zweckmäßig, als Maschinenkraft nicht billiger war. Grundsätzlich war eine Entwicklung auf den Weg gebracht, in der Menschen nicht länger ihre leiblichen Vermögen unter verschleißenden Bedingungen, unter Gefahr für Leib und Leben verbrauchen sollten. Ein Programm war verkündet. Es heißt bis heute »mehr Wohlstand bei weniger und weniger harter Arbeit«. Je mehr Mittel diese Wirtschaft einzusetzen erlaubte, desto entschiedener wurde Arbeitsersparnis in der Form, dass menschlicher Aufwand durch maschinellen abgelöst wird, selber ein Ziel auch der bürgerlichen Ökonomie. Die sozialistische Ökonomie begriff sich zugleich als Gesellschaftspolitik und machte »mehr Wohlstand« zu einem Ziel »für alle«. Sie erklärte ein entschiedenes Interesse an einer Entfaltung der menschlichen Vermögen in allen Menschen, gerade auch in den Arbeitern, die einseitig eingesetzt und stumpfsinnig verbraucht wurden. Der real existierende Sozialismus hat dies kaum je entschieden genug ernst genommen, weil er das Prinzip der Arbeitsteilung bedingungslos übernommen hat. Bei geringeren ihm zur Verfügung stehenden Mitteln hat er vielmehr länger gebraucht, die noch billigere menschliche Arbeitskraft durch maschinelle abzulösen. Mehr oder weniger ausdrücklich durchzieht das wirtschaftliche Handeln und das gesellschaftliche Denken in den Jahrhunderten seit dem Beginn der Industrialisierung das Streben nach mehr Wohlstand bei weniger Arbeit. Genau dies haben die vielen Phasen der Entwicklung seither möglich gemacht. Ganz offensichtlich seit der »Automatisierung«, oder doch wenigstens weitgehenden Teilautomatisierung, von Herstellungsprozessen in der jüngsten Vergangenheit kann Wohl63 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
stand erzeugt werden mit dem Aufwand von vergleichsweise sehr wenig lebendiger Arbeit. In den Industrieländern, so schätzt man gegenwärtig, können alle auf dem jetzigen Standard existieren, und nur ein Fünftel ihrer Arbeitskraft wird selber benötigt. Und genau dies wird bis jetzt noch allgemein als das größte Unglück unserer modernen Gesellschaften wahrgenommen, weil wir diese Entwicklung nicht anders als mit den entsprechend überholten Kategorien wahrnehmen wollen. Sie kann sich deshalb nur als »Arbeitslosigkeit« niederschlagen. Diese »Arbeitslosigkeit« ist, anders als weiterhin sich ereignende konjunkturelle und saisonale Schwankungen, strukturell. Nur ist sie eigentlich keine Krankheit, sondern eben die Heilung von einem schweren Leiden, die wir schon so lange anstreben, dass wir gar nicht mehr an sie zu glauben vermögen. Offensichtlich ist der Kampf um die Voraussetzungen für ein Leben freierer Entfaltung so lange und vor allem so ausschließlich zur Existenzform selber gemacht worden, dass er zur heimlichen Ideologie geworden ist. Jedenfalls können sich auch am Ende der vorgesehenen Durststrecke nicht mehr viele etwas unter glücklichem Leben vorstellen, es sei denn der anzustrebende Besitz weiterer, in der Regel materieller, Voraussetzungen. In den von Kriegen zerstörten Ländern könnte man meinen, diese Einstellung habe sich aus Zeiten der neuen Not in den »Wiederaufbau« und von diesem in den »neuen Wohlstand« fortgesetzt, weil die Einzelnen nicht so recht gewusst haben, wann Entbehrung und Vorleistung auf die Zukunft nicht mehr die Hauptaufgabe sein müssten. In den Vereinigten Staaten liefert aber eine Gesellschaft das überwältigende Gegenbeispiel. Ohne die Not eines Wiederaufbaus ist dort die Jagd auf Voraussetzungen beherrschender Volksglaube. Aus Voraussetzungen etwas zu machen, das heißt, zu leben, das haben wir verlernt, schlimmer noch, wir haben es vergessen. Damit ist zu wirtschaften ganz ein Programm materieller Maximierung geworden. Dort wie in den europäischen Industrieländern werden Appelle von Wissenschaftlern, Politikern und Vertretern der Wirtschaft immer mit der Begründung verkündet, ohne dies oder ohne das, Atomspaltung oder Genmanipulation usw. sei Überleben nicht möglich. Da verrät sich die heimliche Ideologie. Ohne dass wir wüssten, wie es dazu gekommen ist, haben wir hingenommen, fürs »Überleben« zu leben. Wir haben keine Vorstellungen davon, was Leben uns bedeuten könnte und wie wir leben möchten. Wir wissen mit den Möglichkeiten, eigentlich so gut zu leben, nicht recht etwas anzufangen. Voraussetzungen zu 64 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
maximieren, ist eine mechanische, eine eindeutige Aufgabe. Leben bedeutet die Vielfalt des je Einmaligen im steten Wandel. Das macht Angst. Das liegt nicht allein und so unmittelbar an der Geschichte der Wirtschaftsentwicklung, die antrat für das »Wohlergehen der Nationen«. Die Formen und Strategien dieser Wirtschaftsverfassung sind entstanden als Ausdruck und als Instrument einer Gesellschaft, die sich zunehmend von einem spätfeudal-absolutistischen Staat gegängelt und bedrängt sah. Genauer gesagt, war es eine Schicht dieser Gesellschaft, das Gewerbe und Handel treibende Bürgertum. Diese Schicht nahm gegen die alten Autoritäten das Recht in Anspruch, für die Gesellschaft als ganze zu sprechen, und zwar gerade auch, wo sie mit der Freiheit des Handels und des Handelns die Freiheit des Denkens und der Lebensformen forderte. Diese Freiheiten haben eine Einheit gebildet, mehr historisch als logisch. Aber Überzeugtheit und Begeisterung für die eine haben sich auf die andere übertragen. Rationalität hieß das Motto der wirtschaftlichen Forderungen. Glaubensfreiheit und Freiheit der Lebensformen insgesamt war die andere Forderung. Diese Freiheit der Lebensformen wurde freilich nicht für irgendwelche, sondern für die im Bürgertum gewohnten und kultivierten gefordert. Das Marktmodell hat in dieser geschichtlichen Situation und im Bewusstsein des Bürgertums, das sich dafür stark machte, die beiden Freiheiten praktisch mit einander verbunden. Am Markt treten als Nachfrage eben die Bedürfnisse auf, für die sich die Menschen als Käufer entscheiden. Das ist rational dadurch, dass sie zwischen verschiedenen Angeboten nach Preis und Nutzen abwägen. Auf der anderen Seite können die Menschen Güter und Leistungen, die ihrer Lebensauffassung entsprechen, mit dem vergleichen, was angeboten wird, und entsprechend nach und nach das Angebot auch qualitativ verändern, nicht nur nach quantitativen Kriterien von Preis, Menge und Güteklasse. Der jeweilige Markt war also das Instrument, das den Menschen ermöglichte, alle ihre Vorstellungen zu Leitbildern der Warenproduktion zu machen. Diese Vorstellungen waren der materielle Ausdruck sehr wohl eben von Lebensstilen, die durch eine religiöse Auffassung, durch eine kritische Freigeistigkeit oder was immer bestimmt wurden. Die ökonomische Theorie hat als die Rationalität des Marktes den Mechanismus gepriesen, der diese Entscheidungen in entsprechende Angebote von Gütern und Leistungen so zu übersetzen erlaubt, dass die Ressourcen optimal ausgenutzt werden. Im Bewusstsein der bür65 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
gerlichen Gesellschaft war diese materielle Rationalität verbunden mit der ideellen Rationalität, die den Markt zum Instrument von bestimmten Lebensformen machte. Optimal hieß nicht nur die günstigste Kalkulation von Kosten und Ertrag in Zahlen, sondern auch die Anpassung der Leistungen an die Wertvorstellungen der Lebensstile und Weltbilder. Solche Lebensformen sind immer die praktische Seite dessen, wie Menschen die Welt deuten und sich selbst, als Einzelne und in ihren Gruppierungen. Wie sie ihre Beziehungen zu einander verstehen. Mit anderen Worten, die Dimension, die heute mit dem Stichwort »Werte« beschworen wird, war ausgebildet vorhanden. Der ökonomische Mechanismus war so faszinierend, weil er geeignet war, sowohl die vorhandenen Mittel optimal einzusetzen als auch die Überzeugungen von Werten in die Realität umzusetzen. Diese zweite Seite ist in einem derartigen Maße entfallen, dass gegenwärtig Markt, also das klassische ökonomische Instrument zur Umsetzung von Werten, selber als »Wert« beschworen wird. Einen Wert kann er aber nur bedeuten, indem er die Freiheit der Entscheidungen ermöglicht. Und genau die muss untersucht werden, nachdem die historischen Weltdeutungen und Lebensformen, denen sie so lange gedient hat, weitgehend zerfallen sind. Dieser Vorgang ist von den Zeitgenossen nicht begriffen. Unsere Geschichte ist ganz groß darin, die Bedingungen zu vergessen, unter denen etwas entstanden ist. Wir halten uns gern, sozusagen ganz unkompliziert, ans Übriggebliebene und tun so, als sei es die ganze Sache. Dazu hat wesentlich eine neue Faktizität beigetragen. Nicht nur ist alle Aufmerksamkeit darein investiert worden, Voraussetzungen für Leben zu maximieren, egal, was man damit anfängt. Die Voraussetzungen haben vor allem materiellen Charakter. Stoffe, Bauten, Geräte, Maschinen, Technologien grandioser Ausmaße und bis ins kleinste Detail. Wir sind von diesen Voraussetzungen, wenn sie denn endlich geschaffen sind, derart abhängig, dass wir immer mehr an deren Erhaltung statt an die Erhaltung unserer wirklichen Lebensfähigkeit denken. Das gleiche gilt für die organisatorischen Strukturen. Das sind etwa die Institutionen und Verwaltungen, die für die Gewährleistung so vieler Voraussetzungen entwickelt worden sind. In dem Rahmen solcher Strukturen kann nur noch nach den Funktionen für das Überleben gefragt werden, sagt der faszinierende Systemsoziologe Niklas 66 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
Luhmann. Leben ist zu komplex in seinen immer neuen Begegnungen und nicht vorhersehbaren Antworten. Rollenerwartungen müssen das Verhalten der Menschen planbar halten. Erinnerungen werden jetzt für gegenstandslos erklärt, weil sie nicht reduziert werden können auf irgendeine Art von Messdaten. Die »Wissensgesellschaft« soll es nur mit »Informationen« zu tun haben. Ein gigantischer Pool von Inputs, der immer »dynamischer« gemanagt wird. Dies bedeutet, die Mechanisierung, die mit dem Prinzip der Arbeitsteilung nach Adam Smith zur Strategie erhoben ist, auf die Organisation der Gesellschaft zu übertragen. Mechanisierung statt Beziehungen. Was ist also »die Wirtschaft«? Man hört es offen gefordert oder schließt es aus Fakten, »die Politik muss der Wirtschaft dienen«. Institutionen wie zum Beispiel die Universitäten oder die Schwimmbäder, Orchester, Theater oder Büchereien müssen ihre Existenzberechtigung erbringen, indem sie zeigen, dass sie »wirtschaftlich denken und funktionieren können«. Die Infrastrukturen industrialisierter Länder werden wirtschaftlich organisiert, indem sie »privatisiert« werden; das bedeutet allerdings vor allem, dass die Teilsysteme gezwungen sein sollen, »schwarze Zahlen zu schreiben«, also Profit zu machen, nicht unbedingt, dass sie zum Eigentum privater Kapitalanleger werden. Altersvorsorge, Krankenpflege und andere Aufgaben der Existenzsicherung der einzelnen Menschen sollen wirtschaftlich konzipiert und realisiert werden. Immer wieder bleibt dabei offen, was genau die Kriterien sein sollen. Wirtschaftlichkeit allgemein könnte einfach heißen, dass gut organisiert wird und die Mittel zweckmäßig eingesetzt werden. Wenn aber »die Wirtschaft« solche Aufgaben übernehmen soll, dann wird weitgehend ein Gewinninteresse von Einzelnen, das ja der Motor für einen rationelleren Betrieb sein soll, zu dem Zweck, dem diese Aufgaben untergeordnet werden. Auch hier wird selten klar argumentiert, so dass auch der Begriff »wirtschaftlich« zu einer Beschwörungsformel verkommt, hinter der sich die verschiedensten Strategien verbergen können. Die vorherrschende Aufgabe der Einrichtungen wird jedenfalls grundsätzlich umgekehrt – partieller Gewinn statt gemeinschaftlicher Nutzen. Wir müssen in allem »wirtschaftlich« denken, heißt es. Genannt werden nur Prinzipien wie »Sparen« und »Effektivität«. Aber unsere Wirtschaftsunternehmen selber erweisen sich in mancher systematischen Hinsicht und in vielen praktischen Fällen als sinnlos verschwenderisch. Und ihre Effektivität wird, selbst in öffentlichen Erklärungen, 67 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
am allgegenwärtigen Maßstab des »share holder value« gemessen, nicht an der Sache dessen, was produziert oder geleistet werden muss. Was ist in Wirklichkeit diese Sache? Worum geht es? Immer geringer wird der Widerstand, mit dem wir rational fragen, wofür »die Wirtschaft« gebraucht wird. Noch seltener und ohne grundsätzlichen Elan wird gefragt, welche Wirtschaft wir brauchen. Wir haben uns davon gefangen nehmen lassen, dass jedes Laufen der Wirtschaft wünschenswert, ja überlebensnotwendig ist. Wir unterstellen stillschweigend, dass wir gar keine Wahl haben. Diese Abhängigkeit lässt grundlegende Fragen gar nicht mehr zu. An wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gilt die Beschäftigung selbst mit Adam Smith als Romantik. Die notwendigen Mittel sind selber an die Stelle eines wünschenswerten Ziels gerückt. Eigentlich hat eine Äußerung wie die einer Ministerin in der BSEKrise weit umfassendere als nur tagespolitische Bedeutung. Sie sagte: »Wir müssen wieder ganz einfache Wahrheiten anerkennen. Kühe fressen eben Gras und Kälber trinken Milch.« Gemeint ist, dass man nicht um profitorientierter Produktionssteigerung willen ungestraft Gras durch Tierkadavermehl und Milch durch »Milchaustauschprodukte ähnlicher Beschaffenheit« ersetzen kann. Benannt ist damit in Wahrheit, dass nicht alles und jedes geeignet ist, den Kalkulationskriterien industrialisierter Produktion allein unterworfen zu werden. Eigentlich dient Wirtschaft bestimmten Sachzwecken, zum Beispiel der Ernährung. Die Antwort der Politik auf diese Krise ist ziemlich strategisch ausgefallen, indem die Aufgabe eines Ministeriums verändert wird. Dies jedenfalls soll die Umbenennung deutlich machen. Und was ändert sich? Offenbar geht es um Ernährung. Dieser Begriff war aber bislang bereits Teil des Namens. Man könnte sich allenfalls fragen, wozu die Landwirtschaft, die im Namen außerdem vertreten war und bleibt, wirtschaftet, wenn nicht für die Ernährung. Neu werden dem gegenübergestellt jetzt die Verbraucher. Sind denn wirklich die Menschen als Verbraucher – geläufiger fast ist das Wort Konsument – Gegenstand der Politik, der dieses Ministerium dienen soll, oder als diejenigen, die sich ernähren wollen und sollen? Wenn das Wort Verbraucher eine Veränderung der Politik anzeigt, dann offenbar eine Neuorientierung im Bezug auf die gesellschaftlichen Interessengruppen. Die Verbraucher müssen wohl erst eigens mit ihren Interessen zum Gegenstand der Politik gemacht werden. Die war also, muss man daraus schließen, 68 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
bisher mehr an den anderen Interessengruppen orientiert. Das waren vielleicht weniger die Agrarproduzenten, weil die ohnehin im Wesentlichen sich der strategischen Lage anpassen. Übrig bleiben die Unternehmen »der Wirtschaft«, die für die Landwirtschaft produzierten, in unserem Beispiel die Futtermittelindustrie – in zeitgemäßer Variante der Einsicht schon der 1950er Jahre: »man verdient nicht in, sondern an der Landwirtschaft«. Welches allgemein zu schützende, vielleicht sogar staatlich zu unterstützende Interesse kann eine Gesellschaft daran haben, dass in einem solchen Industriezweig gut »verdient« wird? Werden die Bürger eines Landes, bald wohl die Bürger der Welt über solche Fragen entscheiden als politische Bürger oder als Konsumbürger, als »Verbraucher«? Im ersten Fall würden noch die Folgen politischer Maßnahmen für Wirtschaftsfragen beurteilt werden in Abwägung aller berührten Gebiete: Recht und »Wirtschaft«, Kultur und Natur, soziale Gruppen und menschliche Beziehungen, Folgen für das eigene Land und für die übrige Welt. Im zweiten Fall werden die Staatsbürger der demokratischen Verfassungen umdefiniert zu einer ökonomischen Interessengruppe. Dann gibt es die Gruppen der Unternehmer und der Arbeitnehmer, die der Verbraucher und die, immer umfangreichere, Restgruppe derer, die mit allem zufrieden sein müssen, was für sie übrig bleibt. Man nennt sie bereits »die sozial Schwachen«. Von den Menschen als Verbrauchern werden nur noch partielle Privatinteressen erwartet, im Wesentlichen an billigen Preisen. Ihre politischen Interessen am tragfähigen, sinnvollen Zusammenhang werden marginal. Darauf ist Parteienpolitik längst ausgerichtet. Institutionalisierung von Demokratie wird verlagert von der Wahl politischer Ziele hin zur Konsumwahl. Immer schon hat Politik mit finanziellen Vorteilen Zustimmung oder Ablehnung von Gesetzen, Eingriffen, Maßnahmen zu erkaufen gesucht. Landwirtschaftspolitik etwa war schon seit Jahrhunderten Standespolitik und Sicherheitspolitik und diente mehr der Beruhigung von Interessen als einem Austausch mit der Natur, der für die Gesellschaft und ihre Welt gedeihlich wäre. Die Übung der »Wahlgeschenke« gehört noch in diese Tradition. Wenn aber grundsätzlich Interessengruppen als solche die Basis staatlichen Handelns werden, bedeutet dies einen Umbau der Demokratie. Diese Gesellschaft kann sich dann nicht mehr als auf dem Wege zu staatsbürgerlicher Gleichheit betrachten. Sie bildet eine neue Art Ständegesellschaft, sogar einen heimlichen Ständestaat, und zwar mit einem privilegierten ersten, einem weit we69 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
niger privilegierten zweiten und dritten und einem unterprivilegierten vierten Stand. Freilich ist die Trennung in Produzenten und Konsumenten nur analytisch-statistisch; in Wirklichkeit gehören die Menschen der ersten »Stände« auch dem dritten an, wenn auch unter besseren Voraussetzungen als der Rest. Von Politik kann dann nur noch sehr begrenzt die Rede sein. Fragen des Naturverhältnisses, der zwischenmenschlichen Beziehungen, des kulturellen Verständnisses und Handelns, überhaupt alle Fragen von grundlegender Bedeutung werden nicht als solche gestellt, überlegt und entschieden, sondern nur an den Konsequenzen für die ausschließlich »wirtschaftlichen Interessen« gemessen. Die Ebene solcher Konsequenzen, unter bestimmten strukturellen Voraussetzungen bzw. Vorentscheidungen, tritt an die Stelle von Ordnungen. Soziale, kulturelle oder welche Ordnungen auch immer müssen von Konsequenzen auf einem einzigen, quantitativen Sektor der Existenz beherrscht werden. Was sind dann diese Strukturen, denen Gesellschaft und Staat, Beziehungen zu Menschen und Natur, Vorstellungen von Leistung und Genuss, Bildung und Kultur angepasst werden? »Die Wirtschaft« bezeichnet im üblichen Sprachgebrauch eben nicht, was es grundsätzlich bedeutet, zu wirtschaften, nämlich eine bestimmte Ordnung zu entwickeln, wie das praktische Zusammenleben von Menschen in bestimmten Beziehungen zu einander und mit der Welt, in der sie leben, vernünftig sich vollziehen soll. Vernünftig bedeutet, dass ein Bewusstsein für Bedingungen, Mittel, Ziele und Konsequenzen zu einem Ausgleich führt, der freilich jeweils unterschiedlich gut gelingt. Dies als Ökonomie zu bezeichnen, geht auf den griechischen Begriff Oikos zurück, der etwa dem deutschen des »ganzen Hauses« entspricht, wie er traditionell noch bis ins 19. Jahrhundert gebraucht wurde, allerdings bereits in einen Gegensatz zur modernen, kapitalistisch-industrialisierten Gesellschaft geriet. Was jeweils zu dem Ganzen »des Hauses« gehört, ist historisch sehr unterschiedlich entschieden worden. Für Kulturen mit einer mythischen oder gar magischen Weltdeutung ist anzunehmen, dass die gesamte bekannte Welt ein solches Haus bildet. Afrikanische Philosophen sprechen auch von der Schöpfung als einer Großfamilie, zu der alle Wesen, Dinge und Vorgänge, Kräfte gehören, die sich den Menschen zeigen. Der Begriff der Familie gibt dabei zu erkennen, dass die Menschen sich als verwandt mit der Welt in allen ihren Erscheinungen verstehen und ihre Handlungen wie ihr Geschick 70 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
immer in Wechselwirkungen nicht nur unter einander, sondern auch mit dem erleben, was die technische Zivilisation inzwischen nur noch Umwelt nennt und als Kosten- oder Standortfaktor behandelt. Die griechische Antike hat, in typischer Ausprägung, sagen wir durch die Polis von Athen, sicher in die Grundvorstellung des Wirtschaftens mit einbezogen, was Land und Meer, Klima, Fauna und Flora, Flüsse und Wälder für die menschliche Lebensgestaltung bedeuteten. Der, freilich viel ältere, Wortursprung der Ethik weist darauf hin. Ethos, tÞ ˛ja, heißt sowohl »die Gewohnheiten« eines Stammes, einer Geschichtsgemeinschaft, wie eben auch »die Wohnungen«, im umfassenden Sinne des Siedlungsraumes. Die Gewohnheiten bilden dann den Niederschlag der Erfahrungen damit, welche Möglichkeiten diesem geschichtlichen Ort von seiner Natur her abgewonnenen werden können und welche Bedingungen für Eingriffe zu achten sind. Von solchen Abhängigkeiten sprechen die Mythen im Großen und halten zu entsprechenden symbolischen Handlungen an. Man kann noch den mittelalterlichen bucentauro, die jährlich erneuerte Vermählung Venedigs mit dem Meer, als eine solche Handlung begreifen. Sie symbolisiert Fürsorge durch die Menschen als Antwort auf Abhängigkeit, wie gegenseitig diese auch immer erfahren werden mag. Der moderne Begriff ist Ver-antwortung. So wurde ein bestimmter Ausgleich zwischen Natur und geschichtlichen Menschen zur Grundlage des vernünftigen Umgangs gemacht. Archäologie zeigt, dass auch unter solchen Vorzeichen Gefahren der Vernutzung nicht erkannt oder missachtet worden sind. Ein Ausgleich zwischen den Lebensgestalten der Menschen bzw. den sozial definierten Gruppen wird weitgehend unabhängig vom Ausgleich mit der Natur organisiert. In der athischen Polis z. B. wurde die agrarische Grundlage der freien Bürger wesentlich durch rechtlose Metöken, anderswo durch Sklaven erwirtschaftet, die, man könnte vielleicht sagen, ähnlich als bloßer Produktionsfaktor behandelt wurden wie heute »die Umwelt«, das Vieh oder ein Rohstoff. Der deutsche Begriff vom »ganzen Hause« gehört in den mittelalterlichen ordo und ist von dem emphatischen Naturbezug ausdrücklicher Fürsorge weit entfernt. Gemeint ist die Hausgemeinschaft einer bürgerlichen Großfamilie, idealtypisch eines Handwerksmeisters mit seiner Familie, seinen Angehörigen und Angestellten, die alle ein Existenzrecht haben, wie unterschiedlich ihr Stand und ihre Rechte und Pflichten auch immer seien. Das Haus des Meisters ist eben eine freie 71 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Was ist »die Wirtschaft«?
Übertragung der Gemeinschaft, die das Lehenssystem konkret am gemeinsamen Boden des Lehens bildet, in die städtischen Verhältnisse. Das sieht man am leichtesten daran, dass der Inhaber seine Werkstatt ebenso wenig verkaufen durfte, wie ein Lehen Privatbesitz im modernen Sinne darstellte. Der Bezug auf die Natur als Gegenüber war schon am Lehen auf praktische Aspekte reduziert, weil die monotheistische christliche Religion die Fürsorge für die Welt als ganze dem Weltenherrscher überschrieben hatte. Die Menschen hatten seither nur noch für sich zu sorgen. Ethische Fragen wurden in die Abteilung Seelenheil umgebucht. Mit diesen wenigen Beispielen sei angedeutet, dass wir wirtschaften immer in einer je besonderen Ordnung. In ihr herrscht ein bestimmtes Bewusstsein davon, was da auszugleichen sei, und es gelten bestimmte Entscheidungen, wie dieser Ausgleich zwischen den verschiedenen Seiten und Dimensionen aussehen soll. Verschiedene Seiten sind eben die Interessen der Menschen und die Bedingungen der Natur und die Interessen der einen und der anderen Gruppen oder auch der Einzelnen und der Gemeinschaft. Verschiedene Dimensionen bilden etwa die materiellen Bedürfnisse der Menschen, ihre Beziehungen zu einander und zur ganzen Welt, aber auch das Verhältnis der physischen Vermögen zu ihrer geistigen und seelischen Entfaltung. Wenn heute erklärt wird, »die Wirtschaft« erfordere z. B. niedrigere Steuern, zurückhaltende Lohnabschlüsse, weniger Umweltauflagen, dann setzt dies ein bestimmtes Bewusstsein und bestimmte Entscheidungen voraus. Man hört jedoch immer öfter, »die Wirtschaft« in ihrer Verfassung als Marktwirtschaft sei selber der Wert, der da auf dem Spiel steht. Wertvorstellungen sind jedoch eine Sache des Bewusstseins und der Entscheidungen für diese oder jene Formen von Ausgleich und gegen andere oder gegen einen Mangel an Ausgleich. Was für eine Ordnung haben wir also? Die moderne Ökonomie ist um der materiellen und politischen und kulturellen Befreiung willen entwickelt worden, obwohl die Freiheit der Entfaltung lange und weitgehend auf Kosten derer fortgeschritten ist, die keine ökonomische Macht haben. Inzwischen ist der Begriff Wirtschaft stillschweigend so definiert, dass er praktisch als Inbegriff von Sachzwängen benutzt wird. Wir brauchen keinen neoliberal genannten Fundamentalismus, sondern eine liberale Erneuerung unseres elementaren Selbstverständnisses mit einer Ökonomie, die Grundlage und Teil unserer Kultur sein kann. 72 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
ÖKONOMIE, WAS FÜR EINE ORDNUNG IST DAS?
In diesem Kapitel geht es um das, was Ökonomen nicht wissen dürfen, wenn sie erfolgreiche Ökonomen sein wollen. Es geht nicht um die Benutzung von Strukturen für einzelne Zwecke, sondern um Entwürfe für Ordnungen, die Leben und Handeln der Menschen tragen können. Inhaltliche und finanzielle Entscheidungen auf allen Ebenen, von der Staatspolitik über die Institutionen bis zum einzelnen Haushalt, sollen immer offener danach getroffen werden, was »die Wirtschaft« braucht. Jahrzehntelang hieß das Argument Investitionen, damit die Wirtschaft wächst. Inzwischen heißt es »Arbeitslosigkeit«, damit mehr Stellen entstehen. Es heißt aber auch schon ganz lakonisch »die Wirtschaft braucht das«, nämlich um überhaupt funktionieren zu können. Die Wirtschaft wird sehr oft als Sachzwang dargestellt, ein Sachzwang, für dessen Rückwirkungen auf alle anderen Ebenen Vorrang beansprucht wird. Wer dagegen andere Argumente vertreten will, wird ebenso oft ermahnt, realistisch zu sein und rational zu denken. Was für eine Realität ist da gemeint? Wie real ist »die Realität«? Wie rational ist diese spezielle Rationalität? Realistisch und rational sind Worte, die abwechselnd benutzt werden und dasselbe sagen sollen. Das ist nur aus der Geschichte und Gegenwart der Ökonomie zu erklären. Soweit es mit irgendeiner Logik zu tun hat, ist es die ganz spezielle Logik dieser ganz speziellen Geschichte. Zwar wird das, was »die Wirtschaft« an Möglichkeiten und Bedingungen hervorbringt, so dargestellt, als ob es sich um eine Ordnung handelte. Das heißt, sie würde das Zusammenwirken aller Faktoren, die einer Wirtschaft selbst, die, die von der Wirtschaft abhängen und von denen sie abhängt, mit einander und mit allen Ebenen in ein lebensfähiges Gleichgewicht bringen. Genau das ist auch der Sinn des Begriffs Ökonomie: Zusammenleben wie in einem Hause, nach Regeln, die sich dafür allseits und in den verschiedensten Lagen bewährt haben, die aber auch Möglichkeiten angemessenen Wandels offen halten. 73 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
Wir verwenden den Begriff Ökonomie sowohl für eine bestimmte bestehende Wirtschaftseinheit – früher hieß sogar auch der Verwalter eines Gutes der Ökonom – als auch für die allgemeine theoretische Beschäftigung mit den Regeln, ihrer Zweckmäßigkeit, ihren Folgen und Bedingungen sowie mit der Frage, welche Zwecke welche Regeln erfordern. Seit es eine solche ökonomische Theorie gibt, begnügt sie sich nicht damit, ein bestimmtes überkommenes Zusammenleben zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Das finden wir wohl in antiken Philosophien, die sich mit einer statischen, mit einer zyklischen Ordnung im Wesentlichen begnügen wollten; aber dabei sind ohnehin nur Ansätze zu einigen Grundzügen entstanden. Ökonomie war da Teil anthropologischer, politischer, kosmologischer Philosophie bzw. Medium ethischer Betrachtungen. Eine eigene Theorie hat sich erst in der Phase des »Projekts der Moderne«, wie Habermas sagt, aufgemacht, in der es um Veränderung in einem ganz systematischen Sinne zu gehen begann. Man kann dafür z. B. das 17. Jahrhundert nennen mit dem sogenannten Colbertismus. Der Finanzminister Ludwigs XIV. fand sich nicht damit ab, mehr oder weniger eintreiben zu können und ausgeben zu müssen. Vielmehr betrieb er systematisch die Monetarisierung des wirtschaftlichen Zusammenlebens, um einen Geldkreislauf, der nun als solcher begriffen wurde, auszuweiten. Dadurch wurde dieser Geldkreislauf gleichzeitig zu einem politischen Instrument, weil seine Ausweitung eine Ausweitung und Intensivierung wenigstens von bestimmten Teilen der Wirtschaft bewirken sollte. Eigentlich bekommt damit der moderne Begriff »die Wirtschaft« überhaupt erst seinen spezifischen Sinn. Planung hebt ihn aus dem Miteinander von traditionell begründeten Lebensformen heraus, das eben so weitgehend praktisch ein Nebeneinander sein konnte. Die Lebensformen der Bauern und die der Bürger etwa haben sich sehr lange nur ganz partiell berührt und überschnitten, wenn auch die einen durchaus Bedingung der anderen waren. Das ist in sogar erheblichem Umfange selbst in hochindustrialisierten Gesellschaften noch der Fall. Es fällt nur keine Aufmerksamkeit darauf, wenn z. B. Fürsorge in der Familie oder Nachbarschaftshilfe Lebensmöglichkeiten sichern, die im Bruttosozialprodukt nicht vorkommen. Diese Beobachtung der Anfänge ökonomischer Theorie ist äußerst hilfreich für unsere Frage, welche Realität und welche Rationalität eigentlich gemeint sind, wenn »die Wirtschaft« den Parameter bilden 74 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
soll. Wir werden deshalb diese Betrachtung, weiterhin sehr vereinfacht, fortsetzen, um diesen Grundzug herauszuarbeiten. Dabei stellt sich heraus, dass eigentlich die ganze Geschichte ökonomischer Theoriebildung von einer bestimmten Blindheit für Bedingungen geprägt ist. Dieser Zug bildet die Kehrseite zur Faszination neuer Machbarkeiten. Die theoretischen Strategien forcieren das, was sein soll. Darüber sind immer schon die Betrachtungen dessen ausgeblendet worden, was ist, das heißt, worauf Neues aufbaut. Die vergessenen alten Grundlagen werden in der Regel dann wieder in die Überlegungen einbezogen, wenn ihre Vernachlässigung oder äußere Einflüsse dazu geführt haben, dass sie nicht länger stillschweigend die faszinierenden neuen Entwicklungen tragen können. Es ist in der Ökonomie so gegangen wie im Verhältnis moderner Menschen zum eigenen Leibe. Er wird erst bemerkt, wenn etwas kaputt geht und den Dienst versagt, so dass die brillanten Leistungen, die man ihm abgewonnen hat, plötzlich in Gefahr sind. Erfolgsgeschichten der modernen Wirtschaftsentwicklung sind viele geschrieben worden. Hier soll eine Skizze ihrer systematischen Versäumnisse entworfen werden. Diese Aufgabe hat bisher kaum jemanden besonders gereizt, denn interessanterweise werden Nobelpreise nicht für die Aufdeckung von Versäumnissen vergeben, sondern für die Entdeckung neuer Erfolgsaussichten, möglichst auf dem direkten Wege. Die Erfolgsgeschichte hat begonnen damit, dass die europäischen Wirtschaften sich drei entscheidende Faktoren ihres Gelingens ganz oder teilweise ohne Gegenleistung beschafft haben, Arbeit, Naturgrundlagen und Absatzmöglichkeiten. Zwar hat Adam Smith die Wertschöpfung auf den Faktor Arbeit, der in die Produktion eingeht, gegründet. Durch verschiedene historische Entwicklungen bedingt, standen den Unternehmern des 18. und noch des 19. Jahrhunderts jedoch sozusagen unerschöpfliche Reserven an Arbeitskräften zur Verfügung, so dass Arbeit nicht knapp und dadurch nicht viel wert war. Zunächst waren durch moderne Methoden in der Landwirtschaft schon des 17. Jahrhunderts die mittelalterlichen Gemeinschaften aufgelöst worden, zum Teil außerordentlich gewaltsam. Am gemeinsamen Stück Land war für Herren, Bauern, Leibeigene bei aller hierarchischen Abhängigkeit der Untergebenen doch ein wechselseitiges Existenzrecht aller anerkannt gewesen, die nun einmal zu einem Lehen gehörten. Als die Lehensherren lieber moderne Agrarunternehmer sein wollten, 75 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
wurden arbeitssparende Produktionen eingeführt. Große Schafherden brauchten nur wenige Schäfer. Der Rest der Landbevölkerung wurde vertrieben und fand sich auf der Straße wieder, wo er dem gesetzwidrigen Status des Landstreichers verfiel. Rationalisierung nennt man so etwas inzwischen. Im 18. Jahrhundert setzte ein erhebliches Bevölkerungswachstum ein, das den sogenannten Arbeitsmarkt weiter zu einer Schwemme billigster Arbeitskraft machte. Zweifellos wären bei einer genaueren Betrachtung eine Reihe von interessanten Wirkungen und Rückwirkungen zwischen dieser Lage und der sie ausnutzenden Industrialisierung zu berücksichtigen. An dieser Stelle reicht es aus, sich klar zu machen, was der berühmte Malthus zum Gesetz erhob: Damals drängten tatsächlich so viele sich um jeden freien Arbeitsplatz, dass die Unternehmer mit Lohnkosten rechnen durften, die kaum die notwendigsten Mittel zum Lebenserhalt einer kleinen Familie deckten. Höhere Löhne hätten, so besagte die Gesetzesformulierung nach Malthus, den Arbeitern erlaubt, mehr Kinder großzuziehen, als zum Ersatz ihrer eigenen Arbeitskraft nötig waren, und die mussten dann durch weitere Konkurrenz um die Arbeitsplätze die Löhne unter das Existenzminimum drücken, so dass wieder weniger Arbeitskräfte überlebten. Der Marktmechanismus im Leben der Menschen. Menschlich und politisch Empörendes schlägt uns da in aller Brutalität entgegen. Wir haben das aus den Erinnerungen westlicher Erfolgsgeschichte erfolgreich verdrängt, um uns höchst erstaunt über »das Elend in der dritten Welt« heute zu entsetzen. Hier geht es nur um die systematische Feststellung. Der Faktor Arbeit, der für den Mehrwert gebraucht wird, war durch die Gewalt der Verhältnisse eine lange Zeit zum äußersten Minderwert zu haben. Keineswegs erst in Sowjetrussland oder Maos China. Technisch waren die menschlichen Vermögen der Vielen auf physische Kraftverausgabung reduziert, getrennt von den Entfaltungen der Sinnesvermögen, des Verstandes und der Einbildungskraft. »Ökonomisch« wurde diese Entwicklung zum Erfolgsrezept, das die anthropologische Kehrseite vergessen ließ. Ein zweiter Faktor war, so schien es jedenfalls und viele denken noch heute so, sogar umsonst zu haben. Man nannte das Naturressourcen. Source heißt eigentlich Quelle. So sagt der Begriff Re-source, dass es sich um sich selbst erneuernde Quellen handelt. Großzügig, wie diese Auffassung von Natur als kostenlosem Lieferanten überhaupt ist, 76 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
wird der Begriff ausgedehnt auf alles, was eben vorhanden ist in Mengen, die zum gegebenen Zeitpunkt nicht an eine Erschöpfung denken lassen. Gold gehörte nie dazu. Stein in vielen Gegenden noch heute. Wind und Wasser trieben seit dem Mittelalter unermüdlich die Mühlen – umsonst. Dass schon im 13. Jahrhundert Nürnberg für seine Bergwerke den Stadtwald fatal dezimiert hatte, fiel nicht weiter auf. Natur gab es im Allgemeinen gratis und in Hülle und Fülle. Man brauchte nur fleißig und intelligent genug zu sein, um zuzulangen. In der ökonomisch abgesegneten Verachtung des ganzen Menschen durch die technische Organisation von Arbeit kam die ökonomische Verachtung für das hinzu, was nicht mit Kosten der Produktion einverleibt wird. Nur das Gemachte ist etwas wert. Wo kein Kläger ist, sagt die Jurisprudenz, da ist kein Richter. Wo keiner einen Preis verlangt, da gibt es nichts zu achten. In diesem Zusammenhang läge es nahe, eine ähnliche Überlegung zur Geschichte des verfügbaren Bodens anzustellen. Rodungen waren das Prinzip mittelalterlichen Siedelns gewesen. Die absolutistischen Herrscher noch des 18. Jahrhunderts nahmen sich freien Raum für Sitz und Darstellung ihrer bedingungslos gedachten Herrschaft außerhalb der geschichtlichen Territorien. Sie verließen die Städte und die kultivierten Landschaften, um ihre Residenzen ohne alle historischen Rücksichten errichten zu können. Allerdings mussten sie dazu vielfach schon in Heide und Einöden gehen, wie Versailles, oder sumpfiges Land, wie Potsdam. In allen diesen Gegenden schien eine Natur, die noch nicht zur Landschaft gestaltet war, der Herrschaft und ihren Gartenarchitekten einen bedingungslosen Triumph zu erlauben. Der Triumph des Kolonisators im eigenen Lande, der Ackerland und Wiesen schuf und Menschen ansiedelte, war nicht geringer geschätzt. Goethes »Faust II« stellt das bereits als Maßlosigkeit und Omnipotenzwahn dar, weil die hemmungslose Tendenz zu kritisieren war. Als dritter Faktor soll aber nicht der Boden genannt werden, der einer komplizierteren Untersuchung bedarf und lange schon Gegenstand theoretischer Erwägungen ist. Soweit gilt für ihn, was zur Natur allgemein zu sagen ist. Es gab etwas, woran die Ökonomen der frühen Markttheorie kaum wesentlich gedacht haben. Die Frage des Absatzes oder, marktökonomisch ausgedrückt, der Nachfrage. Im Einzelnen ist selbstverständlich mancher nicht losgeworden, was er verkaufen wollte. Solch individuelles Missgeschick ist ja notwendig, wenn sich für eine Volkswirtschaft herausstellen soll, was nicht gebraucht oder zu 77 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
diesem Preis nicht gekauft wird. Wir müssen jedoch feststellen, dass die Theoriebildung dem Faktor Nachfrage erst sehr viel später intensive Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wie lässt sich dieser offenbar bezeichnende Mangel an Aufmerksamkeit erklären? Absatz war eben kein grundsätzliches Problem der Wirtschaft bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und warum war es das nicht? In wesentlichem Umfange war Absatz im 18. Jahrhundert nicht ökonomisch, sondern politischmilitärisch garantiert. Absatzmärkte wurden erobert. Die Spanier hatten Kolonien besetzt, um deren Gold und Silber nach Europa zu holen. Die Engländer hielten sich Kolonien, um dort die überschüssige Produktion ihrer Industrie zu verkaufen. Beide Darstellungen sind äußerst vereinfacht, um je eine Tendenz deutlich zu machen, die zu den völlig anderen Ordnungsmodellen gehören, wie sie da zum Ausdruck kommen. Während die spanischen Conquistadoren Südamerikas Edelmetalle nach Europa schleppten, mussten die armen Leute ihres eigenen Landes nach Frankreich gehen, um Arbeit zu suchen. Die Handelsnation England beutete die billige Arbeitskraft des eigenen Landes aus und setzte die Waren in Übersee ab. So profitierten die Unternehmer und die Handelsherren doppelt. Das gelang ihnen keineswegs nur durch Klugheit oder List. Offen wurde Macht eingesetzt. In Neuengland wurden die Siedler gezwungen, die Rohstoffe zu produzieren, die, nach England transportiert, dort verarbeitet wurden, um als teure Fertigprodukte denselben Siedlern wieder verkauft zu werden. Zu deren Ankauf wurden die Unwilligen zwangsverpflichtet. Deren Produktion war ihnen untersagt. Paradebeispiel ist das englische Tuch. Ähnlich wurde der Absatz von Waren des Zwischenhandels organisiert. Die Kolonien hatten nicht das Recht, selber die Waren zu importieren, die englische Gesellschaften aus anderen Kolonien privilegiert ausführten und im Mutterland allein nicht absetzen konnten. Berühmt geworden ist dafür der Tee aus Indien. Dass gerade die Verweigerung seiner Abnahme, in der Legende von der sogenannten Boston tea party, als Auslöser des Unabhängigkeitskrieges der Vereinigten Staaten gegen den König von England überliefert wird, trifft tatsächlich den Kern des Konflikts. In den folgenden zwei Jahrhunderten haben sich die Methoden vielfach geändert. Aber die Strategie ist im Grunde die gleiche geblieben. Sehr verschiedene Wege sind gesucht und sehr verschiedene Formen des Drucks gefunden worden. Zweifellos ist die sogenannte Ent78 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
wicklungspolitik eine Ideologie im Dienste vergleichbarer Absatzstrategien geworden, wo Länder der »dritten Welt«, wie vermittelt auch immer, gezwungen wurden zu importieren, was die Industrienationen produzieren wollten. Kaum waren die faschistischen Diktaturen, mit Hilfe der stalinistischen, besiegt, erklärte Truman die nächste Weltoffensive: Die bis dahin einfach ausgebeuteten Kolonien Europas wurden einer Entwicklung für bedürftig erklärt, die sie vom Westen zu importieren hatten. Die grotesken, zerstörerischen Seiten der sogenannten green revolution illustriert eine ihrer Phasen in Indien. Die Landbevölkerung wurde durch ökonomischen Druck gezwungen, die Rinder der bewährten Tradition abzuschlachten und die hochspezialisierten Züchtungen einer weitgehend industrialisierten westlichen Landwirtschaft anzuschaffen: Holsteiner Bunte für Milch, Charolais für Fleisch. Das neueste Beispiel hat gigantische Dimensionen. Durch Genmanipulation versuchen riesige Agrarkonzerne des Westens, sich die Getreidearten der ganzen Welt anzueignen und die Bauern überall von den wenigen genveränderten Sorten ihrer Produktion abhängig zu machen. Die Ernte solcher Aussaat soll selber nicht keimfähig gemacht werden. Auf alle Zeiten muss dann das Saatgut jedes Jahr neu importiert werden. Die Kriegsführung zum Zwecke des Absatzes ist vom militärischen in den wissenschaftlich-technischen Sektor verschoben. Die Art der Interpretation von Freiheit der Märkte ist nicht so grundlegend verändert. Diese Seite der wirklichen Wirtschaftsgeschichte ist theoretisch verborgen geblieben hinter der Behauptung, der Handel finde in Form von Markt statt; und am Markt, das wusste man doch von Smith, passen sich die angebotenen Mengen jeder Ware in natürlicher Weise, das heißt über den Preis, der effektiven Nachfrage an. Die tatsächliche Strategie ist zu allen Zeiten auch die gewesen, diese Beziehung umzudrehen und die Nachfrage dem Angebot anzupassen. Wenn die liberale Theorie behauptet, Welthandel finde streng auf der Grundlage und nach den Kriterien der »komparativen Kosten« statt, dann versäumt, verdrängt oder verschleiert sie wiederum entscheidende Faktoren der Wirklichkeit. Die Industrieländer ziehen selbstverständlich systematische Vorteile aus dem ungleichen Entwicklungsstand, auf dem sie die Anderen in einen Austausch gezogen oder eben auch in verschiedener Form gezwungen haben. Dort sind die Rohstoffe weniger gefragt; und sie werden mit billigeren Löhnen gefördert. Hier ist die Produktion mit großer Technik weiter, das heißt vorteilhaf79 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
ter entwickelt; und Kapital ist seit Jahrhunderten in enormem Umfang angesammelt worden. Die Theorie tut so, als seien dies naturgegebene Unterschiede und als würden einfach beide Seiten im freien Austausch den größten Nutzen aus ihren jeweiligen Bedingungen ziehen. Ricardos Beispiel waren das englische Tuch und der portugiesische Wein. Der Austausch bedeutet indessen praktisch, dass die historische Ungleichheit der Bedingungen fortgesetzt wird. Nur wenn in Portugal die Löhne und die Kapitalverzinsung, absolut gesehen, gleich niedrig bleiben, kann das Land den Wein so billig verkaufen, dass England ein Interesse daran behält. Dass inzwischen auch technisierte Produktion in Länder mit billigen Löhnen abwandert und daraus neue Probleme in den Industrieländern entstehen, hat eine eigene Bedeutung und wird an anderer Stelle besprochen. Systematisch ist hier nicht die Geschichte der Absatzmärkte als solche interessant, obwohl wir diesem einen, herausragenden Zug nachgegangen sind. Hier ist die Beobachtung wieder aufzunehmen, dass unsere ökonomische Theorie in wesentlichen Fragen immer nur reagiert hat. Dies wird eben exemplarisch sichtbar daran, dass erst im fortschreitenden 19. Jahrhundert theoretisch untersucht wird, welchen Bedingungen die Nachfrageseite eines Marktes unterliegt, so dass Gesetze formuliert werden, nach denen fördernd gehandelt werden kann. Solche Überlegungen kamen erst zustande, als die Märkte den Produktionsausstoß nicht mehr aufnahmen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Arbeiter als Nachfragepotential der Volkswirtschaft entdeckt. Bis dahin hatten die Unternehmer ihre Arbeiterschaft durchaus auch benutzt, um Absatz zu organisieren. Aber dies geschah im Innern des Landes nach derselben Strategie wie im Außenhandel. Die Arbeiter wurden dazu gebracht, zum Teil sogar zwangsweise, ihren Lohn bei einem Laden der Fabrik selbst in Lebensmittel etc. umzusetzen. Aber dies blieb bei den Taktiken des genötigten Absatzes. Als Subjekt von Nachfrage wurden die Lohnempfänger erst im späten 19. Jahrhundert zur Kenntnis genommen, als es nämlich von Interesse für den industriellen Sektor war, für Kaufkraft zu sorgen. Ökonomische Theoriebildung ist wesentlich im Hinblick auf eine jeweilige praktische Situation entstanden. Das wäre an sich durchaus ein Ruhmestitel. Problematisch ist diese Geschichte deshalb, weil die theoretischen Überlegungen pragmatisch verbunden waren mit bestimmten Interessen und faktisch mit Gewaltverhältnissen. Beides sieht das Programm, das wir »Markt« nennen, an sich nicht vor. Und 80 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
seine Darstellungen verschweigen den Einfluss dieser Faktoren. Die Theorien sehen so aus, als stellten sie den Fortschritt einer wertfreien Wissenschaft dar. Das Stadium des »Keynesianismus«, also der Lehre von Instrumenten des politischen Ausgleichs von Konjunkturproblemen, ist dann durch weltwirtschaftliche Krisen provoziert worden. Entsprechend sind die Faktoren »Beschäftigungspolitik« und später auch »Umweltverträglichkeit« in Versuchen aufgenommen worden, manifeste strukturelle Probleme einem Krisenmanagement zugänglich zu machen. Unsere ökonomische Theorie hat nur in wenigen Ansätzen den Anspruch ernst genommen, eine Ordnung im umfassenden Sinne zu entwerfen. Ausdrücklich widmete sich der »Ordo«-Kreis diesem Gedanken, der sich um Walter Eucken bildete und dem durch Ludwig Erhard das Konzept der »sozialen Marktwirtschaft« zu verdanken ist. International widmete sich der Lausanner Kreis diesen Fragen. Im gängigen Betrieb von Theorie und Politik haben sie eine erstaunlich marginale Rolle gespielt. Dazu würde gehören, dass die einzelnen Faktoren und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten von einander so begriffen würden, dass ihre Bedeutung für das Menschenbild der Kultur und die Vorstellung von wünschenswerten Beziehungen der Menschen zu einander sowie zu der geschichtlichen und naturhaften Mitwelt bewusst gestaltet wird. Ordnung kann nur ein Entwurf genannt werden, der nicht nur die Funktionen von Teilelementen für ein einmal etabliertes System reguliert und koordiniert. Ordnung muss so intensiv anthropologisch und kosmologisch begründet werden, wie sie in die Existenzweise der Menschen und der Welt insgesamt eingreift. Davon hatten sich allerdings schon die Klassiker der Ökonomie zurückgehalten, und zwar gerade um das nicht zu verderben, was sie als das Geheimnis des wohltätigen Mechanismus Markt entdeckt hatten. Diese Entdeckung kam im Fahrwasser der Newton’schen Physik zustande, die den Anspruch erhob und in vieler Hinsicht einlöste, den Descartes erkenntnistheoretisch vorbereitet hatte. Descartes riet, die Erkenntnis der Welt auf die Gegenstände zu richten und entsprechend zu begrenzen, über die Aussagen getroffen werden können, die der Verstand kontrollieren kann. Das sind zunächst die quantitativen Aussagen; sie werden durch Messung hervorgebracht. Darüber hinaus können zuverlässig solche Aussagen getroffen werden, für die der Verstand sich ebenfalls nicht von der Möglichkeit der Täuschung und von 81 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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den Unwägbarkeiten individueller, überhaupt menschlicher Bewertungen abhängig machen muss; das sind mathematische Kalküle. Eben diese Verlässlichkeit garantiert die Newton’sche Physik, indem sie ausschließlich den materialen Aspekt der Welt zugrundelegt und ihre spekulativen Aussagen aus dem messbar zu beobachtenden Verhalten der Materie ableitet. Diese nennt sie Naturgesetze. Eben darauf waren Descartes’ Überlegungen bereits angelegt gewesen. Er wollte sich die wirkliche Welt so vorstellen, dass es einen Fundus an sehr einfachen, nämlich nur durch verschiedene geometrische Formen von einander unterschiedenen Materieteilchen gäbe, der als solcher keinerlei Ordnung darstellen sollte. Er tat also so, als ob solche Formen nicht selber schon einer gewissen Systematik, eben der Geometrie, zugehören würden. Dass diese begleitende Behauptung einen Widerspruch bedeutet, mag nur umso deutlicher die Strategie dieses Denkens zeigen. Dann müsse Gott nur Naturgesetze erfinden, nach denen aus diesen Teilchen die Objekte dieser Welt ihre Gestalt annehmen müssten. Und nach diesen Gesetzen müssten diese Objekte in Beziehungen zu einander gesetzt werden, statische wie dynamische, die ein verlässliches Funktionieren in gegenseitigen Abhängigkeiten herstellen würden. Genau dies hat, wenige Jahrzehnte später, der englische Begründer der modernen Naturwissenschaft derart eindrucksvoll in eine Beschreibung und Erklärung unserer physischen Welt umgesetzt, dass dieses Zeitalter bis hin zu Kant hierin das überlegene Modell der Erklärung von Wirklichkeit gesehen hat. Da sogar der Autor der »Kritik der reinen Vernunft« in dieser Hinsicht dem bewunderten Newton nachgeeifert hat, ist es nur einleuchtend, dass der Begründer einer modernen Theorie der ökonomischen Welt das gleiche unternahm, zumal auch auf dem Gebiet der Sozialphilosophie die Interpretationen der menschlichen Existenz unverkennbar in diese Richtung gingen. Die Menschheit als ganze wie die Völkerschaften – einige sagten zu den europäischen schon Nationen – wurden gedanklich aufgeteilt in ihre kleinsten Elemente: »den Menschen«. Die Vertragstheorie setzte die Vorstellung durch, in einem fiktiven Vertrag hätten die vielen einzelnen Menschen sich zu Gesellschaften zusammengeschlossen. Als Gründe und Ziele unterstellte man ausschließlich »rationale« Einzelinteressen, die man materiell und vordergründig kausal benennen zu können behauptete. So wurden die Gemeinschaften der Geschichte uminterpretiert in willkürlich konstruierte und mechanisch funktio82 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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nierende Nutzensysteme. Bei Thomas Hobbes kommt diese Grundbehauptung am deutlichsten zum Ausdruck. Wie kam das? Die Wirtschaftsgeschichte und ihre sozialen Folgen und Bedingungen brachten den Einzelnen hervor als Subjekt des Wollens und Handelns. Die Lehensverbände lösten sich auf, indem ihre Funktionen militärisch und politisch unter einem fortschreitenden Zentralismus ersetzt wurden. Die Existenzgemeinschaften wurden in die abstrakte Gesellschaft des modernen Staates nach und nach überführt. Dadurch konnten die einstigen Lehensherren sich zu Privateigentümern ernennen; das war eine gesellschaftliche Funktion im neuen Zentralstaat. Und sie konnten ihre Leibeigenen und Hintersassen als Arbeitskräfte benutzen, je nach der Eignung der Einzelnen, oder vertreiben, so dass sie, ebenfalls als Einzelne, irgendwo im Gewerbe einen Arbeitsplatz fanden oder zu Landstreichern wurden. Den Gesellen des zunftischen Handwerks, die wegen der traditionellen Beschränkung der Zahl und des Umfangs der Werkstätten keine Stelle fanden, erging es ebenso. Aber auch der Stand der Meister geriet aus den alten Fugen. Früher oder später in den verschiedenen Ländern und Regionen Europas wurde der gleiche Prozess offensichtlich. Ein Teil der, einst durchgehend selbständigen, Meister geriet in finanzielle Abhängigkeit und musste selber dafür sorgen, im Auftrage anderer ein Einkommen zu erarbeiteten, je nach den ausgehandelten Bedingungen. Ein anderer Teil machte Geld zu Kapital, kaufte und verkaufte die Produkte der anderen und wurde zu Kaufleuten. Einige Kaufleute wurden Bankiers und trieben eine eigene Handelspolitik. Diese polit-ökonomische Entwicklung ging einher mit dem ideengeschichtlichen Hervortreten des modernen Individualismus. Zweifellos sind die großen Veränderungen in der Religions- und Geistesgeschichte in wechselseitiger Beeinflussung mit dieser Entwicklung möglich geworden. Jede einseitige Betrachtung wäre falsch, wie ich wohl besonders in dem ersten Band der »Naturbeherrschung am Menschen« habe zeigen und theoretisch begründen können. Weder ist streng nach Marx der »Überbau« der Ökonomie einfach gefolgt, noch war er die Konsequenz der Mentalität des »Renaissance-Menschen«. Ohnehin haben wir es hier einfach mit der Tatsache zu tun, dass erstens ein erheblicher Teil der Menschen spätestens im 16. und 17. Jahrhundert für das eigene Schicksal bzw. das der eigenen Familie weitgehend selbst zu sorgen hatte und dafür verantwortlich gemacht wurde. Es beanspruchten aber auch viele von sich aus Handlungsfrei83 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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heit für eigene Initiative. Der moderne Begriff »Bevölkerung« wäre unangebracht, weil er bereits voraussetzt, dass alle, dieser Tendenz folgend, gleichermaßen Einzelne sind. Dann können diese lediglich statistisch zusammengezählt werden. So weit war die Auflösung aber noch nicht. Zugleich gaben Religion, Philosophie und Kunst intensiv Leitvorstellungen und Motivationen, die faktische Vereinzelung je nach den individuellen Fähigkeiten und materiellen Bedingungen auszunutzen, um sich auf allen Gebieten zum eigenständigen Individuum zu entfalten. Die neue Gesellschaft, die jene alten Gemeinschaften auflöste, aufsog und verdrängte, hatte indessen keinen eigenen Ordnungsentwurf mit auf diesen Weg genommen. Für eine Übergangszeit war ihr eine solche Aufgabe abgenommen durch ein unsystematisches Gemisch auf dem Hintergrund noch latenter mittelalterlicher Machtstrukturen. Diese hatten sich sowieso früh von den Wechselseitigkeiten, wie sie die wie immer ungleichen Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten charakterisiert hatten, frei zu machen versucht. Die Relikte der zerfallenden Ordnung wurden einer neuen Rationalität unterworfen und nach und nach in die neuen Strategien eingebaut. Obwohl diese Strategien immer konsequenter auf immer mehr Gebieten durchgesetzt wurden, kam es nicht zu einer neuen Ordnung. Vernunft, soweit die neue Zweckrationalität vernünftig genannt werden kann, war instrumentelle Vernunft. Als exemplarisch dafür mag die Erfindung der doppelten Buchführung gelten, nach der die Kreisläufe und Abläufe des Lebens in Einnahmen und Ausgaben, Kosten und Ertrag, Gewinn und Verlust, letztlich in positiv und negativ aufgeteilt werden. Die Dimension einer Gesellschaftsordnung, in der die so weit vereinzelten Individuen auf neue Weise wieder miteinander ein Ganzes bilden könnten, blieb eine Leerstelle. Das wurde verdeckt durch überlebende Gewohnheiten der Feudalordnung und durch die neuen Strukturen eines absolutistischen Staates. Unter den Bedingungen einer außerordentlich stürmischen Umbruchzeit wurde das nur wenigen deutlich genug bewusst, obwohl die soziale Unzufriedenheit groß war. Bauernkriege, Gesellenaufstände, Unruhen bis hin zur Französischen Revolution. Eine Antwort ist spät und selbst dann nur in Ansätzen zustande gekommen. Bei Adam Smith haben sie einen so greifbaren Charakter angenommen, dass wir den Entwurf aufgreifen und auf seine Grundsätze hin untersuchen und dabei unterstellen können, dass 84 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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wir zu fassen bekommen, worauf sich die Prinzipien und Ansprüche der gegenwärtigen liberal economy zurückführen lassen. Unser Stichwort dafür war bereits der Begriff »Mechanismus«. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten die französischen Physiokraten ein Kreislaufmodell der Wirtschaft konzipiert, das gewissermaßen Naturgesetzen zu folgen schien. Es wird oft gesagt, ihr Kreislaufgedanke habe die Entdeckung des Blutkreislaufs auf die Gesellschaft übertragen. Dies trifft ebenso zu, wie umgekehrt die Vorstellung von einem Blutkreislauf, der zentral vom Herzen als Pumpe angetrieben und gesteuert würde, die gesellschaftliche Ordnung des zentralisierenden Nationalstaates reflektierte. Die mit einander verbundenen Sektionen des Modells fassen grob das Geschehen in drei Sektoren zusammen – bodenbearbeitende Bauern, Handwerker und Bodenrente einnehmende Grundherren, deren Ausgaben wesentliche Impulse für die anderen gaben. Die Sektoren gehörten einer Ständegesellschaft an, in der Grundherren, als Klerus und Adel, den privilegierten Stand bildeten. Der Boden wurde zwar längst verkauft und gekauft, eine Erinnerung an die traditionelle Ordnung vom Lande her bestimmte indessen umso mehr die Vorstellungen, als weitgehend die einstigen Lehnsherren noch die Eigentümer des Bodens waren und Bürger, wenn sie Land erwerben konnten, einen ähnlichen Status zu erreichen suchten. Diese Entwicklung ist mit dem soziologischen Begriff der landed gentry verbunden. Die Gesellschaft wurde immer breiter und intensiver getragen und bestimmt vom Bürgertum. Dessen Interesse ging aber in eine neue Richtung. Produktion und Handel konnten nicht länger sozusagen Begleiterscheinungen einer ständischen Ordnung sein. Zeigten sich nicht in diesen ökonomischen Sektoren eigene Ansätze zu einer Ordnung? Und ließ diese sich nicht unabhängig von historischen Begründungen begreifen? Also im Stile von Naturgesetzen? Die Grundbeobachtung lieferte eine neue Art und Weise, wie Unternehmer – Manufakturherren, Fabrikanten, Handwerker – erproben konnten, was ihnen abgekauft werden würde, und wie Käufer erreichen konnten, dass sie das zu kaufen bekamen, was sie kaufen wollten. Dieses ist der Kerngedanke und bleibt die epochale Entdeckung. Sie heißt Markt. Neu war im 17. und 18. Jahrhundert nicht Markt als Ort des Tausches und auch nicht mehr als ein Verhalten in den Kategorien von Angebot und Nachfrage, Kosten und Preis. Nach ihnen verhielten sich schon die Handel Treibenden des Mittelalters. Deren Instrumente bekamen jedoch nunmehr die Bedeutung eines neuen Paradigmas. 85 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Statt dass Kirchen, Lehensherren, König und Magistrate, Zünfte und Ständeparlamente bestimmen konnten, was wer wann wie und in welchen Mengen brauchen sollte, wollten Bürger außerhalb solcher traditioneller und herrschaftlicher Ordnungen der Freiheit ihrer Vorstellungen nachgehen. Statt gerecht oder ungerecht, gottwohlgefällig oder sündhaft waren im Markt ganz andere Kategorien ausschlaggebend. Welche Vorstellungen konnte man in Produkte und Leistungen umsetzen? Für wie viele davon würden die eigenen Mittel ausreichen, bzw. wie wären die Techniken der Herstellung effizienter zu machen? Und wo es nicht für alles reichte, was wäre einem wichtiger, was weniger wichtig? Es gab ein Kommunikationssystem, das keine inhaltlichen Regelungen und formalen Vorschriften, keine gemeinsamen Beratungen und Beschlüsse erforderte. Es heißt: Kommunizieren durch Handel. Nicht sprachliche Verständigung, nicht Abgleichung gegenseitiger Mitteilungen, sondern der Preis war die wirksame Form der Mitteilung. Ich biete etwas an oder nicht. Ich frage etwas nach und bekomme es oder nicht. Dann ziehe ich aus dem Erfolg meiner Handlungen die Schlüsse, die mich in der nächsten Runde mit entsprechenden Entscheidungen auftreten lassen. Ich biete das gleiche oder anderes an, ich frage nach dem gleichen wie früher, nach dem, was ich neu sehe, oder nach wieder anderem. Lange wurde dasselbe Wort gebraucht für den sprachlichen, den literarischen Austausch und den Austausch von Waren: Commerz, im Französischen war das Wort commerce noch prominenter üblich. Der Tausch von Gaben wie auch der Tausch einer Ware gegen andere hatten jeweils ausgiebige Verhandlungen erfordert, bis sich vielleicht bestimmte Beziehungen eingespielt hatten. Die lokalen Märkte, besonders die Wochenmärkte, wo man noch von Stand zu Stand geht, haben Anschaulichkeit der Waren und Unmittelbarkeit der Gespräche erhalten, die zu Kauf oder Nicht-Kauf führen, zu anderen Waren und anderen Wünschen beim nächsten Markttag. Ein zunehmender Teil des Bürgertums machte aber längst Erfahrungen weit abstrakterer Art. Man bestellte im Fernhandel Waren einer bestimmten, zu diesem Zweck standardisierten Qualität und in standardisierten Maßen, Einheiten. Man verkaufte solche Waren sogar auf Termin; das heißt, die Waren existierten zu dem Zeitpunkt des Verkaufs noch gar nicht. Die Technik der Fertigung war in den Manufakturen auf einem analogen Wege, von der Einzelanfertigung hin zum genormten Serien86 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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artikel. Die Arbeitsteilung setzte sich auch in der Form durch, die nicht nur Berufsteilung, sondern Zergliederung genannt worden ist. Fragmentierung des Prozesses und Montage aus Teilen sind die mechanischen Prinzipien der neuen Produktionsweise, die wir Industrie nennen, seitdem industria nicht mehr einfach mit Fleiß zu übersetzen ist, sondern mit Eifer: Eifer für Fortschritt zur großen Produktion. Standardisierung ist dann das Zauberwort geworden, mit dem die privatkapitalistischen Gesellschaften genauso auf die Frage nach einer demokratischen Massenproduktion geantwortet haben wie die sozialistisch-staatskapitalistischen. In Wahrheit ist Standardisierung die Voraussetzung für eine mechanistische Ordnung. Der Mechanismus kann ordnungsträchtig nicht auf der Ebene der Elemente sein. Deren Beliebigkeit muss gegeben sein, wie es das Denkmodell von Descartes und anderen, wie z. B. Hobbes, zum Ausdruck bringt. Ordnung wird durch die gesetzmäßigen Strukturen hergestellt, die als von außen hinzutretend gedacht werden. Bei Newton ist dies exemplarisch die Gravitation. Kleinere Körper werden unweigerlich von größeren angezogen. Dementsprechend sieht Adam Smith den Preis der Dinge auf dem Markt. Was die einen wünschen und erwerben können und die anderen herzustellen wünschen und anbieten können, stellt sich insgesamt in der Form von Preisen dar. Wir sind so wenig gewohnt, überhaupt anders zu denken, dass sich uns das Faszinierende dieser Entdeckung, um sie als Steuerungsmechanismus eines Systems zu begreifen, entzieht. Nachfrage und Angebot von Waren treffen sich mit derselben naturgesetzlichen Gewissheit in den für alle vorteilhaftesten Abschlüssen, wie »das Wasser immer bergab fließt«. So weit ist aber nur ein gewissermaßen physikalisches Funktionieren gesichert. Die klassische Ökonomie hat sehr wohl außerdem nach dem Sinn solchen Funktionierens gefragt. Die Faszination der von Newton gefundenen Gesetze lag ja gerade darin, dass ihre mechanische, von den Menschen und, einmal in Wirkung gesetzt, von Gott unabhängigen Funktionen eine harmonisch ausgeglichene Welt hervorgebracht haben und weiterhin aufrechterhalten. Es gab ein Ziel für das Funktionieren. Kant nennt das Teleologie. Der Markt führt einfach über die Preise dazu, dass die Produktivkräfte für genau die Zwecke eingesetzt werden, die den Wünschen der Konsumenten entsprechen. Selbstverständlich sind dafür Reibungsverluste notwendig. Die Anpassungen erfolgen erst, nachdem sich heraus87 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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stellt, welche Produkte, zumindest bei den Kosten und damit den Preisen, die bei herrschenden Verhältnissen erforderlich sind, die erwartete Abnahme finden. Auch was, immer wieder abweichend von den Vorstellungen der Nachfrager, wirklich angeboten wird und zu welchen Preisen gekauft werden kann, ergibt sich von einer Beobachtungsperiode zur nächsten neu. So kann der Ausgleich unter sich wandelnden Bedingungen erhalten bleiben. Dies ist die Folge von Wirkungen und Rückwirkungen in einer unmittelbar gar nicht mehr in Erscheinung tretenden Tiefenschicht. Jedenfalls wird über ihre jeweiligen Momente und deren Wechselwirkungen nicht mehr auf der Ebene der Gesellschaft disponiert. Ein öffentliches Bewusstsein ist im Sinne von diskursiven Entscheidungsprozessen nicht erforderlich und findet statt nur ex post. Im Nachhinein nimmt man zur Kenntnis, wie die Dispositionen getroffen worden sind und zu einander gepasst haben. Diese tiefere Ebene ist die der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Zunächst wird dabei gedacht an die Aufteilung von lebenserhaltenden und die Lebensbedingungen verbessernden, erweiternden Funktionen, die genauer Berufsteilung genannt worden ist. Ihr Prinzip ist bereits das der Spezialisierung. Bäcker, Schneider, Schmied, Bauer und Tischler sind einige einfache Beispiele. Als spezialisierte Einzelne treffen die Mitglieder der Gesellschaft wieder auf einander, und zwar die einen um hohe Absatzpreise, die anderen um niedrige Einkaufspreise ringend. Die einen kämpfen wie die anderen durch höhere Leistungen und geringere Preise um den eigenen höchsten Gewinn. Antagonismus. Dieses Gegeneinander setzt automatisch Kräfte in Gang, die der Mechanismus zum allgemeinen Vorteil verwandelt. Das ist die Grundvoraussetzung und -annahme. Im Mechanismus von Smith ist selbstverständlich ein Grundproblem der Arbeitsteilung reflektiert, die Abhängigkeit der Einzelnen von allen anderen, deren Produkte und Leistungen sie bedürfen, nachdem sie, oder ihre Wirtschaftseinheit des Hofes, der Werkstatt, der Großfamilie, sich für einen Beruf spezialisiert haben. Gedacht wird der Mechanismus ja von der Annahme her, dass der gesellschaftliche Verbund durch den Zusammenschluss solcher selbständiger Einzelner zustande kommt. Genau so stellen sich Hobbes und Rousseau den »Gesellschaftsvertrag« vor und fragen, wodurch die vorher frei handelnden Einzelnen ein Interesse am Zusammenschluss haben und wie der Nachteil der Abhängigkeit aufgewogen werden kann. Bei Hobbes ist 88 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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es die Sicherheit von Leib, Leben, Hab und Gut unter dem Gewaltmonopol des Staates. Rousseau denkt weniger pragmatisch und fragt danach, wie der Verlust der individuellen Freiheit in einer demokratischen Gemeinschaft ausgeglichen werden könne. Bei ihm geht es entsprechend auch nicht um Sicherheit. Er beobachtet friedvollere Menschen als Hobbes oder setzte sie im Naturzustand voraus. In der Gesellschaft verlieren sie ihre absolute, naturwüchsige Freiheit und gewinnen sie vermittelt durch die Rücksicht auf einander sowie die Veredelung durch Gemeinsinn zurück. Dieses heißt bei ihm Sittlichkeit. Diesen Begriff wählt noch Hegel für die höhere Entfaltung von Menschheit in den Menschen der geschichtlichen Gemeinschaft. Mit dem Begriff des Gemeinsinns oder der Menschheit erreicht das Modell der Teilung der Arbeit auf dem Weg über eine Teilung der Verantwortung eine geistige Dimension. Adam Smith dachte nicht weniger ideell als Rousseau und Hegel, aber mehr von den alltäglichen Aufgaben und Nöten des Lebens her. Während er den Wettstreit am Markte egoistisch motiviert sah, nahm er andererseits eine Tugend der so widersprüchlich mit einander Verbundenen an: Fürsorge für einander, wie gute Kameraden sie empfinden und pflegen. In allen Modellen – und man kann insofern Hegels hinzunehmen – setzt die pragmatisch-mechanistische Ebene einen höheren ideellen Mechanismus frei. Eine Vision von Ordnung. Der Begriff »Mechanismus« ist auf beiden Ebenen gerechtfertigt, auf der pragmatisch-wirtschaftlichen wie auf der moralischen, so dass ein solches gesellschaftliches Geschehen als rationales begriffen werden kann. Die materielle Steigerung durch die Arbeitsteilung wird erklärt mit der Technik der Spezialisierung. Deren Motor sieht Smith in den egoistischen Energien der beteiligten Einzelnen. Die ideelle Steigerung des Selbstverständnisses vom Vereinzelten zum sozial Vermittelten verdankt sich ebenfalls zwei Momenten. Das eine ist die Arbeitsteilung, innerhalb der neu und zu diesem Zweck gebildeten Gesellschaft. Das andere ist jene Fürsorge, die aber selber noch einmal rational sich darstellt. Der Mechanismus wechselseitiger, einander neuerlich sich ausgleichender Abhängigkeiten verbindet die Vereinzelten so praktisch zwingend, dass sie im Bewusstsein einer Garantie leben, die die Vorzüge ihrer aufgegebenen Unabhängigkeit ausgleicht und ihnen weitere hinzugewinnt. Wenn auch Hegel der Erste war, der diese Selbstentfaltung des Mechanismus dialektisch genannt hat, so wird damit ein entscheidendes Moment auch der Früheren charakterisiert. 89 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Dafür nennt Smith, nach gutem physikalischem Vorbild, Gleichgewichtsbedingungen. »Obwohl ein jeder nach seinem unbedingten Vorteil strebt, hat die Natur oder die Vorsehung es so eingerichtet, dass jedermann ungefähr gleichmäßig auf Verkauf und Kauf angewiesen und so das vernünftige Maß einzuhalten gezwungen ist.« So hatte bereits Boisguillebert 1712 gesagt. Allgemeiner können wir mit Smith sagen, dass keiner von einem anderen abhängiger sein darf als dieser von ihm selbst. Alle Verzerrungen dieses Zustands müssen dazu führen, dass der »natürliche«, der sachbedingte Preis, der vom Arbeitseinsatz sowie vom Zins und der Bodenrente und letztlich nicht von Marktvorteilen abhängige Preis verzerrt würde. Ist aber gleiche wechselseitige Abhängigkeit gegeben, kommt der Mechanismus zum Ausgleich, weil der Preis dem allgemeinen Gravitationsgesetz zur Durchsetzung verhelfen kann und muss. »Dennoch ist der natürliche Preis sozusagen der Zentralpreis (central price), gegen den die Preise aller Waren beständig gravitieren«, sagt Smith im Band I seines berühmten »Wealth of Nations«. Die Theoriebildung zu der vom Markt bestimmten Erfolgsentwicklung der Wirtschaft hat schon die drei Faktoren der Kalkulation nicht oder nicht realistisch berücksichtigt, die wir als Reserve freigesetzter Arbeitskraft – Marx sagt »Reservearmee« – natürliche »Ressourcen« und Absatz benannt haben. Die wirklichen Verhältnisse an den Märkten dürften nur selten sich der gleichen Abhängigkeit der Partner angenähert, nie ihr entsprochen haben. Smith hat diesem historischen Umstand zwar Rechnung getragen, aber doch lediglich nach dem Modell der Naturwissenschaften, die, z. B. bei Joul einige Jahrzehnte später, die Abweichungen von einer Idealmessung der Wärme letzten Endes Randbedingungen zugeschrieben hat, die man sich zu vernachlässigen erlaubte. Tatsächlich hat diese Theorie die gegebenen Umstände noch in einem weiteren Faktor von wesentlicher Bedeutung rational umgeformt gesehen. Egoismus wird nicht als psychologisches Phänomen hingenommen. Er wird definiert im begrenzten Rahmen des wirtschaftlichen Mechanismus und heißt Profitmaximierung. Dieser hat ein quantitatives Paradigma und ist über seine Bestimmung in Geld eindeutig an den Preis und über diesen in den Mechanismus gebunden. Profitmaximierung als Motor des Mechanismus auf der materiellen Ebene wird kapitalistisch potenziert durch die Expansionstendenz des Kapitels. Der Mechanismus der einen oder der anderen Ebene allein 90 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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war nicht, was als Ordnung entworfen wurde, sondern erst ihr übergreifendes Zusammenspiel. Die einflussreichen späteren Theoretiker haben, ob kritisch oder als Fortsetzer der herrschenden Form des »Mechanismus«, ihre Aufmerksamkeit auf die materialistische Ebene konzentriert. Der Motor der anderen, der ideellen Ebene, den wir als Fürsorge für den Nächsten kennengelernt haben, war für Mill und Malthus und auch für Ricardo und Marx obsolet geworden oder doch völlig sekundär. Die sozialistische Solidarität der Lohnabhängigen wurde von Marx politisch pointiert, nicht als konkrete Kooperation im Wirtschaftsleben konkretisiert. Andere Ansätze wurden von den Marxisten behandelt wie Sekten von der Kirche. Die Solidarität wurde politisch organisiert, nicht als Lebensform. Das ist genau, was die herrschenden Verhältnisse erzwungen oder zumindest aufgedrängt haben, in denen praktisch für die Mittel- und Machtlosen kein Spielraum für veränderte Lebensformen denkbar war. So hat der ökonomische »Mechanismus« sich aber als Vergesellschaftung und nicht als Bildung neuer Gemeinschaft, im Sinne der Begriffe Wirtschaft und Gesellschaft von Max Weber, entwickelt. Als Agens dieser Vergesellschaftung galt das persönliche Interessen der Einzelnen, ob nun als wirkliches oder vermeintliches. Offensichtlich ist die praktische Entwicklung nur eine Ebene, auf der Einseitigkeit produziert worden ist. Ob denn der Mechanismus im gedachten Idealfall eine befriedigende Ergänzung überhaupt hervorbringen kann, ist eine andere Frage. Soweit ich sehe, beinhaltet aber die klassische Auffassung des Marktes eine weitere Gleichgewichtsaussage, nämlich über das notwendige Verhältnis der beiden Ebenen zu einander. Der ideelle Mechanismus mit seinem Motor der Fürsorge unter guten Kameraden muss den materiellen Mechanismus mit dessen Motor Egoismus, oder Profitmaximierung, in einer gewissen Balance halten. Diese Balance ist es, was wundersam selbsttätig aus material-rationalem Mechanismus die Erfüllung der Geschichte herbeiführt. Dieses Wunder nennt Smith, mit der berühmten religiösen Formel, »die unsichtbare Hand« Gottes. Als Gott auch in der ökonomischen Theorie überflüssig wurde, trat nicht etwa die implizite Dialektik nunmehr explizit an diese Stelle. Sie wurde einfach eine Tafel in der Ikonostase der bürgerlichen Ideologie. Könnte die Fürsorge denn derart wirksam werden, dass sie für einen gleichen Grad an Abhängigkeit eines jeden von allen anderen sorgt? Was kann von der Tugend der Fürsorge überhaupt erwartet wer91 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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den, wenn diese Figur nicht bloß appellativen oder aber beschönigenden Charakter haben soll? Mit der Fürsorge unter guten Kameraden auf dem Markt ist es nicht anders als mit der Brüderlichkeit von 1789 unter den citoyens in der bürgerlichen Republik bestellt. Beides bleibt Beschwörungsformel, weil deren Sinn nicht umgesetzt wird in Lebensformen, denen durch ökonomische Bedeutung Verbindlichkeit gegeben wird. Die Gleichheit der Rechte und Pflichten aller Staatsbürger der befreiten Gesellschaft wurde sehr rasch unter der Wirtschaftsmacht der Bourgeoisie zum abstrakt gleichen Recht aller, jegliches Eigentum zu erwerben. Der Bürgerstatus war verfassungsrechtlich allen gegeben. Was wirtschaftlich und damit wesentlich auch politisch und kulturell insgesamt zählte, war das Besitzbürgertum. Wie schnell, nach wenigen Jahren schon, und wie unauffällig »Brüderlichkeit« aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand, gibt systematische Hinweise. Das eigentlich Revolutionäre an der großen Französischen Revolution hätte die Versöhnung der gemeinschaftlichen Wechselbeziehungen der Menschen mit der ökonomisch konzipierten Vergesellschaftungsform sein sollen, in einem Staatswesen, dessen demokratische Verfassung dem den Raum sicherte. Paradigmatisch wäre dafür zunächst einmal die wirkliche Gleichheit, nämlich die der Geschlechter in einer geschwisterlichen Teilung der Aufgaben, Rechte und Verantwortungen gewesen. Diese Aufforderung haben die wenigsten klar genug erkannt oder überhaupt erkennen wollen. Während die Frustration über das Scheitern an der eigentlichen Aufgabe durch vorübergehende Terrorherrschaft betäubt wurde, etablierte sich ein merkwürdiges Syndrom um den Begriff der Freiheit. Vergessen wir nicht, dass er seine wirkliche Substanz gewann an dem, was den freien Markt als diesen doppelten Mechanismus auswies: Die Wünsche und Möglichkeiten der Konsumenten und der Produzenten gelangen in eine jeweilige Übereinstimmung miteinander und mit den Bedingungen der Wirtschaft, ohne dass sie einer zentralen Planung, einer autoritären Regelung oder einem traditionellen Kanon unterworfen würden. Das ist sehr viel. Es kann aber seine Bedeutung für die Lebensformen der Gesellschaft nur mit einem Ordnungsprozess entfalten, in dessen Dienst dieses kostbare Instrument gestellt werden kann. Seine Entdeckung musste mitten in einer Geschichte, die von autoritär-traditionellen Regeltypen der Organisation seit je beherrscht 92 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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worden war, wahrhaftig als ein Wunder der natürlichen Vernunft betrachtet werden. Unbeachtet blieb darüber, dass die neue Freiheit der Bedürfnisse – so heißen seitdem Wünsche und Notwendigkeiten des Lebens – und die neue Freiheit der Unternehmerinitiative – so heißen seitdem individuelle Ausbrüche aus den zünftischen Konventionen und Ähnlichem – eben doch quantitativ über den Preis zu einander vermittelt wurden und der Preis näher an dem Streben nach egoistischer Profitmaximierung als an der Tugend der wechselseitigen Fürsorge ist. Die Ungleichheit der Voraussetzungen wurde nicht systematisch problematisiert. Sie war faktisch unantastbar. Wer mit mehr Vermögen in den Mechanismus eintrat als andere, berief sich auf das theoretisch gleiche Recht aller, Eigentum zu erwerben. Und das sollte vor allem für die gelten, die es bereits besaßen. Wer kein Kapital einsetzen konnte, sollte dies theoretisch ändern können – er hatte ja ein Recht darauf – und war im Übrigen sowieso als Lohnarbeiter sehr nützlich. Dies alles, auch dass die Rede von einem »Arbeitsmarkt« bestenfalls metaphorischen Sinn hatte, weil in Überlebensnot jedes Preisgesetz gegenstandslos ist, fiel nicht weiter auf. Adam Smith sprach von dem grandiosen Erfolg der Arbeitsteilung. Er dachte dabei an die Berufsteilung der gleich von einander Abhängigen. Den Erfolg demonstrierte er aber an einer Arbeitsteilung, die in Wirklichkeit ganz anderer Natur ist, nämlich der Zerlegung eines Arbeitszusammenhanges, der, solange von Berufen gesprochen werden kann, gerade eine Einheit bildet. Ein Beruf wäre Nadelmacher, nicht Drahtschneider oder -anspitzer. Solche Teilnehmer an der Arbeitsteilung hatten von vornherein nicht den Status eines gleich Abhängigen. Marx hat darauf eine Grundfigur seiner Kritik geprägt und sie den »nicht äquivalenten Äquivalententausch« genannt. Kant hat diejenigen, die nicht die Unabhängigkeit eines wenigstens geringen Vermögens besitzen und von fremder Hand in den Mund leben müssen, als ungeeignet zu selbständiger Meinungsbildung bezeichnet und so lange vom Status eines Staatsbürgers ausgeschlossen. Hier ist nicht der Ort, solchen Problemen der Realgeschichte weiter nachzugehen. Wir fragen uns, welches Bewusstsein – nicht welche Interessen einer Klasse, Gesellschaft etc – verantwortlich ist dafür, dass die ökonomische Theorie so einseitig auf einen Strang der Entwicklung konzentriert wurde. Dafür haben wir eine ganze Reihe von Erklärungen zusammengetragen. Der »Mechanismus« stellte Freiheit zusammen mit rationaler 93 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Ordnung in Aussicht. Die arbeitsteilige, durch Zerlegung mechanisierbare Form der Produktion bot unvorstellbare Chancen der Steigerung. Deren Motor war ein rational zur Profitmaximierung umgeformter »Egoismus«; wir nennen dies das Prinzip des Kapitalismus, dessen Expansionstendenz prinzipiell unbegrenzt ist. Was, neben der faktischen »Randbedingung« ungleicher Ausgangssituationen, unberücksichtigt blieb in diesem Modell, sind Dimensionen von Ordnung, die zunächst nicht als Problem erschienen. Vor allem die Qualitäten von Lebensformen werden nicht vom Mechanismus berücksichtigt. Das schadet nicht, solange die Rationalität von Nachfrage und Angebot nicht allein vom Preis bestimmt wird, sondern die außerwirtschaftlichen Entscheidungen in Elemente des Mechanismus umgeformt werden. Die heißen Präferenzen. Tatsächlich hat aber die quantitative Rationalität die Bildung der qualitativen Entscheidungen ausgehöhlt. Der Markt ist nicht mehr das Instrument, frei gewählte Werte umzusetzen in ökonomische Organisation. Zweitens: Die expandierende und darum faszinierende Wirtschaftsform der fortschreitenden Arbeitsteilung konkretisiert sich als Standardisierung und als Anonymisierung der Beziehungen – der Menschen zueinander in Funktionsrollen des Mechanismus, zu sich selbst in spezialisierten Funktionsrollen der Technik und zur naturhaften Mitwelt, die zur Ressource, zum Kostenfaktor reduziert wurde. Diese notwendigen Konsequenzen fielen so lange nicht systematisch auf, weil die Reduktion von Menschen auf den strategisch-kalkulatorischen Einsatz ihrer Arbeitskraft als notwendiges Übel hingenommen wurde, ebenso die Reduktion der Natur auf Quantitäten bestimmter Materialien und Energien. Die Beziehungen zwischen den Menschen sollten doch nur in dem einen, dem ökonomischen Ausschnitt so praktisch rationalisiert werden. Und Natur sollte doch im Übrigen weiter schön und erhaben sein. Wesentlich übersehen wurde vor allem das Wichtigste, und dies, weil es so bestimmend war, dass man seine Existenz als selbstverständlich voraussetzte. Ein sehr großer, lange der überwiegende Teil aller Bedingungen des Lebens wurde nicht nach den Prinzipien der Erfolgsgeschichte der neuen Arbeitsteilung und des Kapitals, also in dem Sektor, den Hegel und Marx »die große Industrie« nannten, geschaffen. Immer wieder beobachten wir in der Geschichte, dass Neuerungen so betrieben werden, als ob nur alte Nachteile überwunden würden. Dabei wird stillschweigend angenommen, dass alle Vorzüge der über94 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
kommenen Verhältnisse unverändert weiter bestehen werden. Diese höchst oberflächliche Spekulation zeichnet die Aufklärung in vielen ihrer Vorstellungen aus. In Wirklichkeit verändern die Neuerungen gerade auch alle übrigen Zusammenhänge. Diese allgemeine Beobachtung trifft ganz besonders für die verschiedenen Formen oder Sektoren der Wirtschaft seit der Faszination durch die Industrialisierung zu. Aber ein ganz einfacher Zug der Theoretiker als privater Individuen spielt eine ähnlich wichtige Rolle. Ehre und materielle Vorteile, Macht und Einfluss gewinnt man nicht an dem, was sowieso da ist. Nobelpreise werden bisher in der Regel für die Forschungsleistungen vergeben, die spektakuläre Neuerungen, wenn nicht überhaupt lukrative Innovationen versprechen. Mit weiser Aufmerksamkeit für die allseitigen Bedingungen des weiteren Lebens außerhalb des Erfolgssektors war nie ein Blumentopf zu gewinnen. Das könnte mit der Auszeichnung Ostroms für die neue Aufmerksamkeit anders werden, die sie auf andere Modelle des praktischen Interessenausgleichs als den Markt lenkt. Beide Beobachtungen erklären, warum, wie wir schon festgestellt haben, die führende ökonomische Theoriebildung immer erst auf Probleme reagiert hat, statt sich generell für den Ausgleich zwischen allen möglichen Faktoren zu interessieren. Tatsächlich ist auch das neue Interesse für die Ostrom’schen Beobachtungen mit dem Versagen der vorherrschend noch gängigen Modelle zu erklären. Dies trifft an sich weiter auf die Gegenwart zu, scheint mir. Neue Ansätze wie etwa die New Institutional Economy nehmen »externe« Faktoren so weit in ihren Einflüssen auf wirtschaftliche Entscheidungen und Wirkungszusammenhänge zur Kenntnis, wie sie von gesellschaftlich geltenden Institutionen ausgehen. Aber ich kann keine Zugänge zu einem radikalen Ordnungsentwurf entdecken, der praktisch den Ausgleich und den ideellen Sinn des »Mechanismus« und anderer Wirtschaftsformen, in und von denen wir weiterhin leben, in den Blick, geschweige denn »in den Griff« bekäme. Dazu ist es notwendig, eine Reihe von Fragen zunächst einmal zu erkennen und anzuerkennen, dann in einen Zusammenhang zu bringen. Nachdem Geld zu Kapital und Kapital zur Dynamik der Wirtschaft geworden ist, haben wir einen grundsätzlichen Widerspruch stillschweigend zum Prinzip gemacht: Die Expansion von Geldsummen ist tendenziell unendlich, aber die Erde und alles, was den Geldwerten gegenüberstehen kann, ist endlich. Die Finanzwelt ist spekulativ, die 95 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
wirkliche Welt der Wesen, Vorgänge, Dinge ist die begrenzte Fülle lebendiger Erscheinungen. Zahlenlogik gegen Ontologie. Welche Dinge und Leistungen eignen sich für eine industrielle Herstellung und welche nicht? Die technologischen Kriterien der Produktionsmethoden müssen zusammen mit den Techniken des Gebrauchs gesehen werden. Steigerung der Quantitäten und der Potentiale gegenüber Entfaltung von Beziehungen und Qualitäten. Die Gesellschaft hat Entscheidungen darüber, wie die Hervorbringungen der Wirtschaft zu Formen des Lebens passen sollen, in den Mechanismus von Angebot und Nachfrage verwiesen. Wie können die Menschen als einzelne Produzenten und Konsumenten verhindern, dass der Mechanismus die Lebensformen bestimmt, statt ihnen zu dienen, das heißt, wie kann der »ideelle Mechanismus« in einem Dialog mit dem materiellen gehalten werden? Wie wird das vielfältig erforderliche Wissen von den Bedingungen und den Möglichkeiten des Lebens gegenwärtig gehalten und zum Abwägen gebracht mit den Voraussetzungen und Perspektiven des materialistischen Mechanismus? Wie können wir also uns gleichzeitig als politische und als Konsumbürger begreifen und betätigen? Zur Vorbereitung auf diese und weitere Fragen ist zunächst ein Unterscheidungsvermögen zu üben. Wo und warum ist Arbeit nur Input im Produktionsprozess, und wo erfahren Menschen ihre Fähigkeiten, etwas zu bewirken, zu leisten? Wo wird nur Output, bzw. ein Betriebsergebnis produziert, und wo ist ein Gut, eine Leistung produktiv? Der Bildhauer Rodin sagte um 1900, in der modernen Gesellschaft hassen alle ihre Arbeit, vom Straßenbahnschaffner bis zum Minister; die Künstler leisten den unvergleichlichen Beitrag, dass sie als einzige ihre Arbeit lieben. Der Gegensatz ist klar benannt; wir wissen jedoch, dass in allem sich Spuren von beiden Seiten finden. Es gilt, die einen zu stärken, gegen die anderen sich zu wehren. Nicht umsonst kommen da die Künste ins Spiel. In den traditionellen Gesellschaften war Ordnung in Bewegungsformen einer Kosmologie konzipiert, also eines Wechselspiels der Kräfte, in das die geschichtlich organisierten Menschen ihre eigenen Lebensformen einbeziehen und gegen das sie ihre Erweiterungen und Veränderungen behaupten konnten. Die Theologie hat solch heidnische Weltverhaftetheit verworfen. Im Monotheismus sind die Menschen nicht länger Glieder der weltlichen Existenzgemeinschaft aller Wesen und Dinge; sie sind gegenüber dem Weltenherrscher die Ausführenden seiner Gesetze um ihres Seelenheils willen. Gehorsam 96 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Ökonomie, was für eine Ordnung ist das?
statt Teilhabe und Mittun. Die Beziehungen zur Welt werden damit indirekter. Die Menschen sind gegen die Mitwelt selber Herrscher, und zwar umso absoluter, je schwächer ihr Gehorsam gegen den Weltherrscher wird. Das Prinzip der Naturbeherrschung ist an dessen Stelle getreten. Wie sollen, wie können wir lernen, wieder in eigene Beziehungen zu allem Gegenüber zu finden? Zweifellos haben sich praktisch Züge davon bis heute an manchen Stellen durchgehalten. Und neu bringen uns die Wissenschaften, neben vorherrschendem Verfügungswissen, auch Einsichten in Gesetzmäßigkeiten des Zusammenspiels. Die Künste erlauben, andere, sinnenhaft vermittelte Suchbewegungen zu entfalten, gestisch-mimetisches Wissen zu gewinnen, intuitiv-mitvollziehende Weltdeutungen zu entwerfen und das einfachste Gespür zu klären für die Vorgänge in uns und um uns. Ökonomie und Natur. Natur und Kultur.
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GESCHICHTE PLURALEN WIRTSCHAFTENS
Frühe Formen Vielleicht haben schon die frühesten Geschichtsgemeinschaften von Menschen in unterschiedlichen Wirtschaftsformen gelebt. Im vorigen Jahrhundert sind jedenfalls die meisten verbliebenen Völker mit vormodernen Lebensformen in den Sog und unter den Druck moderner Strategien geraten. Vor dem jedoch gibt es, kulturanthropologisch gesehen, nicht Arbeitszerlegung im modernen technischen Sinne, wohl aber Formen von Arbeitsteilung, und zwar auf verschiedenen Ebenen, so dass sich auch verschiedene Wirtschaftsformen bestimmen lassen. Die elementarste aller Arbeitsteilungen ist die zwischen den Menschen verschiedener Geschlechter und Alter. Dabei kann eine Form entstehen, die durch Austausch von Leistungen und Gütern geprägt wird. Es können aber auch verschiedene Formen entstehen, etwa wenn die eigenen Arbeitsgebiete des einen oder des anderen gender mit je einem anderen Aufgaben- und Verteilerkreis gekoppelt sind. Solche Kreise sind zweifellos in frühesten Zivilisationen zu erkennen, da es Aufgaben gibt, die von allen Stammesmitgliedern gemeinsam ausgeführt werden müssen oder doch von den Männern oder den Frauen aller Familien; bestes Beispiel ist die Großwildjagd, wie sie die nordamerikanischen Prärieindianer entwickelt haben. Wo es überhaupt kleinere Einheiten, wir würden sie Familie nennen, gibt, haben diese noch einmal eine eigene wirtschaftliche Ebene. Eine gute Anschauung dafür bildet vielleicht die Gesellschaft der Dogon in Westafrika, wie sie noch vor fünfzig Jahren geschildert wurde. Der Boden ist aufgeteilt in Felder der Dorfgemeinschaft und solche der einzelnen Familien, ökonomisch gesagt, Haushalte. Die Felder des Dorfes werden von den Männern gemeinsam bestellt und abgeerntet. Die Erträge werden in Vorratshäusern des Dorfes aufbewahrt und dienen der Vorsorge für Zeiten allgemeiner Not, also einer Dürreperiode 99 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Geschichte pluralen Wirtschaftens
oder ähnlichem. Die Frauen züchten Gemüse auf getrennten Landstücken, so wie die Männer andere Feldfrüchte auf eigenem Land für den Bedarf der Familie hervorbringen. In den Verhältnissen, die durch das Eindringen von Geld und Warenhandel weiter bestimmt sind, sind es die Frauen, die von ihrem Gemüse am Markt verkaufen und dafür Geld erlösen. Mit diesem Geld sind sie es dann auch, die auf dem Markt oder bei Handwerkern Gegenstände wie Töpfe oder Werkzeuge kaufen. Es liegt nahe anzunehmen, dass die monetäre Ebene von Verkauf und Kauf, also die Warenwirtschaft, deshalb in der Hand der Frauen liegt, weil deren Aufgaben und Zuständigkeiten eben auch vor der Einführung von Geld bereits eine eigene Form des Wirtschaftens gebildet haben; in Ergänzung zu der männlich und der weiblich besorgten Selbstversorgung einerseits und der Gemeinschaftsvorsorge andererseits. Damit wird die »Arbeitsteilung der Geschlechter« immer deutlicher auch eine der Wirtschaftsformen. Anthropologisch kommt es aber gar nicht entschieden darauf an, dass solche Kreise durch spezifisch ökonomische Unterschiede gegeneinander abgegrenzt sind. Wenn die Frauen, zum Beispiel, mit einander in Nachbarschaften den Mais mahlen und die Männer mit einander den Bär jagen, sind kulturell auch dies zwei eigene Wirtschaftsformen. Deren Eigenart drückt sich freilich mehr darin aus, wie die gemeinsamen Tätigkeiten sich in bestimmten Gestalten ausprägen. Dazu gehören die rituellen Tänze zur Vorbereitung der Bärenjagd. Die Frauen haben ihre Lieder, in deren Rhythmus sie abwechselnd den riesigen Kolben emporheben, in den Mörser stoßen und an die nächste weitergeben. Solche Formen bilden eigene Tätigkeitskreise. Der Begriff des Kreislaufs sollte monetarisierten Wirtschaftsformen vorbehalten bleiben, für die ihn die Theoriegeschichte geprägt hat, weil sich mit ihm ein bestimmter formalabstrakter Charakter verbindet. Die Gesellschaften des reinen Gabentausches vollziehen den Tausch in anderen Vorstellungen und Kategorien, die selbstverständlich auch der Funktion dienen, die lebensnotwendigen Wechselbeziehungen zwischen den Menschen in ihren kleineren und ihren größeren Einheiten zu regeln. Auch da muss Geltung garantiert werden, insbesondere die der Forderung, dass der einen Gabe eine Gegengabe entspricht und zu leisten ist. Aber diese Leistung und ihr Vollzug spielen sich ganz konkret als eine jeweilige Begegnung der Tauschpartner ab. Während die Gabe vom einen zum anderen hinüberwechselt, halten noch die Hände des einen 100 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Frühe Formen
und schon die des anderen den Gegenstand. Die Hände beider treffen einander an der Gabe. Diese verbindet sie mit einander. Beim Warentausch ist es umgekehrt. Er trennt die Partner wie die beiden Akte des Kaufes in die Übergabe der Ware parallel zur Übergabe des Kaufpreises. Dabei entsteht grundsätzlich ein Streitpunkt, ob erst der eine oder der andere übergeben solle. Eine Gleichzeitigkeit der beiden, parallelen Akte ergibt sich allenfalls als abstrakter Kompromiss. Solche Abgrenzungen sind aber nicht das entscheidende Kriterium dafür, ob eine Gesellschaft sich in nur einer oder in verschiedenen Wirtschaftsformen organisiert. Diese Betrachtung soll einfach dazu anregen, wacher die Wirklichkeit auf ihre Vielfalt hin zu beobachten. Besonders deutlich tritt mit der Ära des frühen Kapitals hervor, was eine plurale Ökonomie darstellt und wie jede ihrer bestimmten historischen Formen ein eigenes theoretisches Verständnis erfordert. Das Nebeneinander alter Kreise und neuer Kreisläufe, oder doch der Ansätze zu so etwas, wird durch Wechselwirkungen zugleich zu einem Ineinander. Zwei solche Typen habe ich untersucht und eine Theorie des Kaufmannskapitals sowie eine des Manufakturkapitals vorgelegt. Beide sind Teil meiner »Naturbeherrschung am Menschen«. Sie zeigen die Geschichte des langsamen Eindringens von Geld als Kapital, von Kapital als Produktivkapital in Schichten einer agrarischen Subsistenzund einer zünftischen Warenwirtschaft. Diese Geschichte liefert bereits wesentliches Kapital in jener schrittweisen Ausbeutung der vorgefundenen Wirtschaftsformen für die Ansammlung und Ausbildung eines Kapitalsektors. Spätestens seit dem Ende reiner Gabentausch-Gemeinschaften hat es nie andere als plurale Gesellschaften gegeben. Immer überlagerten und ergänzten einander verschiedene Ebenen von Ökonomie, wenn auch nicht als Kreisläufe. »Kreisläufe« beginnen mit der Monetarisierung im Hochmittelalter. Damit treten auch die Ebenen prinzipiell anders hervor. Zuvor waren sie im Wesentlichen durch den Unterschied von hauswirtschaftlicher, lokaler und überregionaler Subsistenz, nur am Rande durch Warentausch mit der Ferne bestimmt. Die nächste Phase ist entschieden noch deutlicher. Zentralisierung der Nachfrage und des Ordnungsrahmens kennzeichnen dann die Durchsetzung von Monetarisierung im obersten, jetzt nationalen Sektor der Wirtschaft. Der »Colbertismus« setzt bewusst, im Dienste des absolutistischen Zentralismus, einen Kreislauf 101 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Geschichte pluralen Wirtschaftens
der Distribution – Steuern, Pachten, Lieferanten, Manufakturen, Staatsausgaben. Der Physiokratische »Kreislauf« – im »tableau« von Quesnay – bezeichnet das Eindringen der Monetarisierung in die Tiefenschichten der Subsistenzökonomie. Landwirtschaft wird als Träger des monetären Kreislaufs entdeckt, nicht aber wird die Eigenheit des Bodens geachtet. Vielmehr wird er durch neue Bewertung dem Mechanismus des Kreislaufs unterworfen. Der Kreislauf durchsetzt seitdem nicht nur zentralistische Produktion in der Manufaktur und lokale im Handwerk, sondern auch die Breite bäuerlichen Wirtschaftens. Allerdings nur soweit die Produkte vermarktet werden. Weitgehend dienen sie ja weiterhin der örtlichen, der häuslichen Versorgung. Unklare Verhältnisse herrschen dabei aufgrund der Großaufkäufer, die sehr früh in Frankreich auftraten und sehr lange die unmittelbare Beziehung von Bauern, oder Pächtern, zum »Markt« überdeckt haben. Markt ist längst, auf einer Ebene, zu einem Abstraktum geworden. Verglichen werden Schiffsladungen etwa oder die Getreideernte einer Region mit Vorgängen, von denen man nur durch ferne Agenten hört. Bis heute und weiter zunehmend überdecken Großhandelsstrukturen die Beziehungen von Produzenten zu Märkten, erst recht zu den Konsumenten. All dies ist so bekannt, dass niemand mehr daran denkt, weil wir glauben, alles dies und die damit verbundenen Fragen als Primitivstadium der Moderne hinter uns gelassen zu haben.
Industriezeitalter Seit Geld Kapital ist und als solches den Charakter der Elemente des Wirtschaftens neu bestimmt, wird menschliche Tätigkeit zu Arbeitskraft, wird Natur zu Produktionsfaktoren. Es bilden sich wesentliche Komplexe kapitalbeherrschten Arbeitens, Produzierens und Vermarktens aus. Das bedeutet, dass nicht nur Handelskapital an der Vermarktung von Waren seine Gewinne macht, die nach vorkapitalistischen Paradigmen hergestellt werden. Schon das Manufakturkapital bewirkt, dass die im Einzelnen zunächst meist unveränderten Handwerkstätigkeiten räumlich und zeitlich koordiniert werden. Mit solcher Einordnung in die Mechanik zusammenfassender Planung beginnt die Entwicklung zur »großen Industrie«. Zu Produktivkapital wird investiertes Geld aber erst wirklich, sobald die Arbeitsweisen seinen Kalku102 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Industriezeitalter
lationsprinzipien unterworfen werden, statt weiter einer hergebrachten Sachlogik zu folgen. Besonders auffällig ist solcher Wechsel der Kriterien, wo Arbeitsabläufe inzwischen von einer Betriebsleitung geplant werden und z. B. an wichtigen Stellen die Kontrollierbarkeit Vorrang vor dem Fluss des Arbeitsvollzuges bekommt. Neue, radikalere Formen der Aufteilung von Arbeitsvorgängen und Einsatz großer Technik sind die entscheidenden Faktoren. Deren Erfolgsgeschichte beherrscht die institutionalisierte Aufmerksamkeit sowohl der vergangenen Epochen der »Industrialisierung« selber wie auch in der Gegenwart. Alles schlaue Gerede von einem »post-industriellen« Zeitalter hat nur der Strategie gedient, die Strukturen der Industrialisierung mit anderen Mitteln fortzusetzen. Neue Vorstellungen vom Funktionieren und von den Aufgaben der Ökonomie sind im main stream nicht einmal angestrebt worden. Das Denken liegt brach. Unter der Faszination dieses Neuen und weil anderes weder sich als Kostenfaktor behauptet noch als unmittelbare Gewinnquelle hervortut, wird verschwiegen, dass die gesamte Industrieproduktion immer nur möglich gewesen ist auf den Grundlagen von tieferen Schichten. Diese blieben zwar keineswegs einfach unberührt. Sie konnten aber das kapitalgesteuerte System tragen, soweit ihre eigenständige Funktionsfähigkeit nicht zum Erliegen kam. Dass Menschen leben und nicht nur arbeiten müssen, dass sie auch wirken wollen, bleibt durch alle Zeiten gültig – um heute in schwere Bedrängnis und Bedrohung zu geraten. Dass die Natur die eigentlichen Quellen tätig hält, von der Sonnenkraft bis zu den Vermögen des Wassers und der Erde und der Mineralien, hat erst der Industriekapitalismus zur selbstverständlichen Voraussetzung erklärt. Je primitiver die Kulturen, desto klarer und intensiver war das Bewusstsein für diese Zusammenhänge unserer Existenz. Ein solches Bewusstsein wird heute durch die »ökologischen Krisen und Katastrophen« neu geweckt, leider aber nur, sofern sie das menschliche Wirtschaften gefährden. Selbstverständlich haben auch unter dem Industriekapitalismus die Fortsetzungen von Subsistenz den Charakter des Wirtschaftens behalten. Dieser wird nur offiziell verschwiegen und vom System nach und nach ausgehöhlt und unterdrückt. Dies hindert freilich keineswegs, dass dieses selbe System Subsistenzformen voraussetzte und ausbeutete, auf dem Lande – Deputate und Eigenanbau, Viehhaltung – wie bei den Industriearbeitern – dieselben Elemente meist ohne 103 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Deputate. Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Arbeitersiedlungen mit individuellem Stall und Gemüseland angelegt. Der Zusammenbruch von Produktion und Distribution in Kriegsund Nachkriegsverhältnissen hat faktisch für ganze Länder und über Jahre hinweg die primitiven Formen des Wirtschaftens aus dem Untergrund an die Oberfläche gebracht. Das hat aber merkwürdigerweise nicht dazu geführt, dass deren Bedeutung neu zum Bewusstsein gekommen wäre. Vielmehr wurden sie endgültig mit Not und schlechtem Behelf identifiziert. Ebenso jede Art sparsamen, achtsamen Wirtschaftens. Sie wurden im Zuge des »Wiederaufbaus« zum Objekt von Entwicklung gemacht. Im eigenen Lande wie in der dritten Welt, die nun erst recht zum Lieferanten von Subsistenz wurde. Das hat aber keineswegs bewirkt, dass die Ökonomen der ersten Welt sich analog bewusst geworden wären, wie entscheidend die westlichen Industriewirtschaften abhängig waren und noch viel mehr wurden von anderen Ökonomieformen, die nun zunehmend in anderen Ländern, Erdteilen angesiedelt sind. Das gilt in der Produktion für die einfachen Bearbeitungsformen und andererseits für den Absatz von Fertigprodukten bereits seit dem 18. Jahrhundert, ebenso für bestimmte handwerkliche Luxusproduktionen. Inzwischen ist aber auch industrielle Produktion von dort wesentlich geworden. Kalkulationen lassen Kapitalverwertung und Auslagerung von Produktionskosten dorthin als »produktiv« erscheinen. Der Export von bedrohlichem Müll und die Verlagerung gefährlicher Produktionstechniken sind die deutlichsten Indikatoren. Inzwischen ist den Industrieländern selbst die Produktion von ausreichend technischer Intelligenz zu teuer. Sie suchen solche Arbeitskräfte aus Gesellschaften, die zwar mit den Standards der Industrialisierung bestens mithalten können, in denen aber die Kosten der Ausbildung noch weitgehend von vorkapitalistischen Formen des Wirtschaftens bestimmt, also niedrig gehalten werden. Merkwürdige Mischformen stellt der Import von Pflege- und Hilfskräften in die Haushalte der Industriebürger dar. Zu Preisen, die von den »unterentwickelten« Verhältnissen anderer Länder faktisch subventioniert werden, kaufen wir uns unauffällig ein wenig Subsistenz ein.
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Ein kritisches Dritte-Welt Modell
Ein kritisches Dritte-Welt Modell Baran und Sweezy haben in den 70erJahren ein neues Modell entwickelt für »Entwicklungsländer mit mehreren Kreisläufen«. Ein sogenannter interner Kreislauf beschreibt dabei die traditionellen Wirtschaftsformen, die in ihrer Breite von Subsistenz und lokalen Märkten, also von konkretem, lokalem Tausch, bestimmt waren. Ein sogenannter externer Kreislauf beschreibt ausländische Kapitalinvestitionen in einem anwachsenden industriellen Sektor. Eine inländische Produktion für ausländische Märkte ist juristisch und ökonomisch in der Hand ausländischer Investoren, auf dem Wege zu oder als Folge von multinationalen Trusts. Beide Kreisläufe sind miteinander verschaltet, aber nur an bestimmten Stellen und in bestimmter Richtung. Der interne Kreislauf liefert zu niedrigen Kosten die Produktionsfaktoren. Da die Löhne sehr niedrig sind und die Rohstoffe und Energien zu Schleuderpreisen zur Verfügung gestellt werden – unter dem Druck der ausländischen Investoren und meist mit Beihilfe der inländischen politischen Institutionen –, fließen keine nennenswerten Mittel in den internen Kreislauf. Vielmehr wird dieser zusätzlich belastet: Sowohl, weil Steuern für die Staatsverschuldung an den Norden aufgebracht werden müssen – sie ist erzwungen durch die Leistung des Landes an Infrastruktur, die Investoren voraussetzen und fordern –, wie auch, weil die Schäden des Raubbaus vom Inland getragen werden. Prinzipiell hat diese Analyse an Aktualität nur noch gewonnen. Um die Wende des Jahrhunderts sollte das M.A.I.-Projekt der Industriestaaten dafür sorgen, dass ihren multinationalen Betreibergesellschaften solche oder ähnliche Verhältnisse auch für die Zukunft garantiert werden. Die nationalen Regierungen sollten durch Staatsverträge verpflichtet werden, ausländischen Firmen entweder die Bedingungen zu sichern, unter denen sie gegenwärtig ihre Gewinne kalkulieren, oder Gewinnausfälle ersetzen. Das heißt, genau gesagt, dass unter der Führung der World Trade Organisation einerseits jede nicht privatkapitalistische Wirtschaftsverfassung abgelehnt, andererseits ganze vor- und frühkapitalistische Gesellschaften in abhängiger Zuliefererposition gehalten werden. Das Projekt konnte vorerst nicht durchgesetzt werden. Die Tendenz bleibt weiter aktuell. Die Ausbeutung von anderen Wirtschaftsformen für den Industriesektor, die für die
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Geschichte pluralen Wirtschaftens
frühe Industrialisierung Europas charakteristisch ist, wird eben inzwischen interkontinental organisiert. Der entscheidende Unterschied der Situation heute zu denen, die Baran und Sweezy darstellen, besteht darin, dass inzwischen in vielen Ländern der südlichen Halbkugel sich auch ein eigener, nationaler Kreislauf industriell-kapitalistischen Charakters etabliert hat. Erste Bereiche großer Industrie wurden in einigen Staaten Asiens und Lateinamerikas bereits im 19. Jahrhundert geschaffen. Aber selbst dort hat bis vor kurzem, in Indien bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts sich nicht ein Kapitalbürgertum als soziale Schicht ausgebildet, das bestimmenden Einfluss auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Strukturen hätte ausüben können. In den sogenannten Tigerstaaten war dies noch weniger der Fall, vor ihrem großen Sprung. Länder wie Chile oder Costa Rica oder Thailand haben schon sehr lange gezeigt, dass alle solche Typisierungen im Einzelfall nicht recht treffen. Tatsache aber ist, dass jetzt die Einteilung in erste und dritte Welt, die seit der Verkündung der Entwicklungsdoktrin durch Truman nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs gegolten hat, überlagert ist von vergleichbaren Trennungslinien innerhalb der Nationen. Immer schon haben sich in den Kolonien Einzelne und soziale Schichten zum verlängerten Arm der europäischen Herrschaft und der westlichen Wirtschaft gemacht. Inzwischen sind aber solche Interessen im nationalen Rahmen zu einer Art erster Welt innerhalb der dritten entwickelt. Die Pluralität von unterschiedlichen Wirtschaftsformen nimmt in den meisten Gegenden der Welt einen grundsätzlich ähnlichen Charakter an, obwohl es in vielen nicht westlichen Ländern große Gebiete zumindest scheinbar noch stammesgebundener Lebensformen gibt, die dort zusätzliche Schichten bilden. Zum Teil wird Subsistenzwirtschaft auch neuerlich tragend. Die Menschen in den Elendsvierteln von Kinshasa z. B. werden wesentlich von den Gaben ihrer dörflichen Herkunftsgegenden über Wasser gehalten.
One World – one Economy In Wirklichkeit beschreibt das Modell für die Entwicklungsländer, was auch in den Industrieländern geschehen ist, nur phasenverschoben. Wir stehen gegenwärtig an einer neuen Schwelle. Sie ist substantiell dadurch gekennzeichnet, dass die kapitalisierten oder die Indus106 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
One World – one Economy
trie- oder die externen Kreisläufe die historischen Reserven an subsistenzwirtschaftlichen »Ressourcen« aufgebraucht haben – sozusagen wie andere Naturschätze auch. Die handels- und finanzpolitische Ära des One World Market, propagiert und getragen von der Doktrin der liberal democracy in allen Staaten, fällt zusammen mit zwei Phänomenen, die völlig heteronomer Art sind. Nachdem die real-sozialistischen Wirtschaften auch nach außen zusammengebrochen sind, hat sich auf westlicher Seite ein Siegersyndrom ergeben. Man hat recht, weil die anderen erfolglos waren. Das eine hat aber logisch nicht direkt etwas mit dem anderen zu tun. Ohnehin ist Rechthaben noch etwas anderes als erfolgreicher sein. Zu den praktischen Seiten dieses Syndroms gehört, dass enorme neue Energien der Rücksichtslosigkeit freigesetzt sind. Zu den theoretischen Seiten gehört, dass praktische Rücksichtslosigkeit in manchen Fragen schon als Konzeption gelten kann. Das andere Phänomen ist das genuine Ergebnis der geschilderten Probleme, wie sie durch die ganze Geschichte der »großen Industrie« festzustellen sind. Die verschiedenen Formen der Subsistenzwirtschaft, der nicht monetären Kreise und Kreisläufe, der handwerklichen und kleinbäuerlichen Produktion sind für die Industrialisierung ausgebeutet worden und stehen auf der Schwelle des Verlöschens. Die Lebensformen selber werden inzwischen industrialisiert. Das Gesundheitsund Pflegesystem ist wohl der spektakulärste Bereich. Oft wird die Abschaffung der anderen Wirtschaftsformen in eine Frage der Verfasstheit gekleidet und als »Privatisierung« durchgezogen. Die typischen Gemeinschaftsaufgaben, etwa der Infrastruktur, werden den Strategien der profitträchtigen Produktion unterworfen. Wenn so »schwarze Zahlen geschrieben« werden, umso besser. Aber privatisiert heißt eben auch, dass außerdem daran verdient werden soll. Dabei spielt das heimliche Prinzip einer taktischen Trennung der Kreisläufe auch hier eine Rolle: Gewinne privatisieren, Verluste der Gesellschaft anlasten. Gemeinsame Zielsetzung ist die Art von Kostenersparnis, die »Rationalisierung« heißt und in erster Linie den Produktionsfaktor Mensch, soweit wie jeweils möglich, abschafft. Die Arbeit wird dann von mehr oder weniger automatisierten Maschinen übernommen. Darin ist für den Entwurf pluraler Ökonomie eine entscheidende Tendenz zu erkennen. Sie stellt die Kehrseite der solange gewünschten Ablösung der menschlichen Vermögen von ihrem unmittelbaren Einsatz in 107 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Geschichte pluralen Wirtschaftens
die Erstellung der Güter und Leistungen dar, die zum Überleben und zum Leben gebraucht werden. Der Faktor Arbeit ist industrialisiert und kapitalisiert. Der Prozess begann mit der Vertreibung überzähliger Mitglieder der Dorfgemeinschaften durch profitorientierte Landherren im 16. Jahrhundert. Im Laufe der Jahrhunderte ist einerseits der Lebensstandard der Arbeitsbevölkerung derart gestiegen und hat andererseits so andere Formen der Bedarfsbefriedigung angenommen, dass heute ein beherrschender Anteil des Verbrauchs aus Industrieware besteht, einschließlich der Nahrungsmittel aus Agrarindustrie. Die sogenannten Reproduktionskosten der Arbeit waren eben deshalb solange so niedrig zu Buche geschlagen, weil die Arbeiterfamilien – im Grunde anders als die Angestellten und Beamten – wesentlich noch von Restformen subsistenz-wirtschaftlicher Erzeugung und Verarbeitung lebten. Dazu kamen verschiedene Faktoren anderer als über den Markt organisierter Versorgung, z. B. Deputate, aber auch Konsumgesellschaften oder noch die werkseigenen Läden. Diese Quellen sind bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dafür verantwortlich, dass das monetäre Lohnniveau kein entsprechendes Äquivalent zur eingebrachten Arbeitsleistung darstellte. Darin muss eine zweite Ebene dessen erkannt werden, was Marx als »Mehrwert« analysierte. Diese Ebene ist wesentlich entfallen. Damit wurde die Ressource Arbeitskraft von einer entscheidenden Seite her unattraktiv für die Kalkulationen des Kapitals. Menschen sind als Produktionsfaktor kalkulatorisch in dem Maße uninteressant, in dem sie als Konsumenten interessant geworden sind. Auf diesen Wandel der Geschichte der Ökonomie sind wir im Zusammenhang mit der Entdeckung des Faktors »Nachfrage« durch die ökonomischen Theoretiker eingegangen. Hier ist festzustellen, dass der Mensch als Arbeiter nicht länger in ausreichendem Umfang die Ressource Subsistenzwirtschaft zugänglich macht und in die Interessen des Produktivkapitals transformiert. Insofern ist die Zitrone ausgequetscht und wird weggeworfen. Profit kann aus dem Faktor Arbeit nun besser auf dem entgegengesetzten Wege gezogen werden. Die Industrie stellt, in Form arbeitssparender oder gar automatisierter Maschinen und Motoren, selber ihre »Arbeiter« her und macht Gewinn am Verkauf dieser Waren, nicht am Einkauf und Einsatz von man power. In der »Informationsgesellschaft« übernehmen Strategien elektronischer Steuerung und Bearbeitung diese Tendenz. Die Menschen, die einmal dafür gebraucht wurden, existieren 108 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Die Realität anerkennen
trotzdem weiter und wären der Gesellschaft, käme es allein auf die eben aufgezeigte Kalkulation an, nur zur Last. Komplizierterweise werden sie allerdings als Käufer, als Konsumenten umso mehr gebraucht. Zur »Ankurbelung der Wirtschaft« werden genau deshalb Einkommenserhöhungen, Steuersenkungen usw. gefordert. Während nach wie vor erst einmal produziert werden muss, was dann konsumiert werden soll, und in der Produktion unvorstellbare Mengen von Stoffen und Kräften verbraucht werden, lebt die Wirtschaft sozusagen gar nicht mehr für, kaum noch durch ihre Produktion, sondern vom Konsum. Dabei kann Konsum genauso gut wegwerfen bedeuten; es kommt nur darauf an, dass erst einmal gekauft wurde. Das ist »die schöne neue Welt« der Weltwirtschaft. Durch dieses Prinzip wird sie ebenso gefährlich wie durch die manifesten Zerstörungen an den Menschen, an der Natur insgesamt und an jeder Art von Beziehungen – von den zellbiologischen bis zu den seelischen und kosmischen. Der Titel »Arbeitslosigkeit« dafür ist deshalb so falsch, weil er nur eine der Konsequenzen zu benennen versucht, wie er insgesamt verharmlosend ist.
Die Realität anerkennen Wir haben eine Reihe von Einblicken in die Geschichte des Wirtschaftens getan, um einige verschiedene Verbindungen unterschiedlicher Formen beispielhaft zu betrachten. Dies ließe sich fast so zahlreich fortsetzen, wie überhaupt geschichtliche Gemeinschaften sich verschiedene Wirtschaftsordnungen gegeben haben. Wir brechen diese Untersuchung hier ab, weil die Grundfeststellung deutlich genug vergegenwärtigt ist: Ökonomische Theorie muss die Vielfalt von Schichten erkennen, die eine jeweilige Praxis bilden. Dabei gilt es, weiter in die Tiefendimensionen eines geschichtlichen Gemeinschaftslebens zu sehen als etwa nur unter dem Parameter des institutionellen und des sozialpsychologischen Verhaltens, mit dem ökonomisches Denken aus klassischer Markt- und Kapitaltradition nur um äußere Faktoren ergänzt wird. Das ist mehr eine soziologische Betrachtungsweise. Die Aufgabe geht, weiter, dahin, andere Formen des Wirtschaftens in ihren eigenen Funktionsweisen zu erkennen und ihr jeweiliges Zusammenspiel mit dem vorherrschend Beachteten zu erforschen. Davon ist manches an sich nicht unbekannt. Es kann aber keine wahrhafte Reflexion auf die Bedingungen und Möglichkeiten unserer 109 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Geschichte pluralen Wirtschaftens
Situation auslösen und tragen, weil es im Grund nicht ernst genommen wird. Die zweite Aufgabe ist deshalb, die Realität anzuerkennen. Das ist vermutlich deshalb so viel verlangt, weil wirklich unbequeme Konsequenzen im Denken gezogen werden müssten, und praktisch müssten Schichten unserer Wirtschaft, die uns bis hierher aber getragen haben, die stumm und stillschweigend verbraucht werden, aus ihrer Lage eines, vielleicht sogar unbewussten, Widerstandes befreit werden. Das bedarf inzwischen eines umfassenden Handelns, das dem Anderen zur kapitalen Marktordnung die Bedingungen seines Wirkens schafft. Durch Jahrhunderte ist dieses Andere, zumindest als solches, gar nicht wahrgenommen worden; man hat zugelassen, dass es unterminiert, dass es pervertiert und dass es destruiert wurde. Das eigene Recht etwa von subsistenzwirtschaftlichen Formen aus ihren eigenen Leistungen für unser Überleben und Leben anzuerkennen, fällt so schwer, weil das eine grundsätzliche geistige Anstrengung voraussetzt, die aus zwei Gründen mit großem Eifer von den spät- oder postindustriellen Gesellschaften vermieden wird. Um uns das Zusammenspiel unterschiedlicher Weisen des Wirtschaftens vorstellen zu können, müssten wir uns wenigstens bemühen um einen Entwurf für eine Vorstellung von etwas Übergreifendem. Nur als wohl durchdachtes und erprobtes Bedingungsgefüge, wie es die Evolution in ihren Organismen und Welten hervorbringt, kann dieses Miteinander funktionieren. Ich spreche von Organismen nicht, um an Ideologien vom Organischen anzuknüpfen und ständestaatliche Nostalgie zu beschwören. Ich sage aber auch nicht »lebende Systeme«, weil systemtheoretisch letzten Endes doch immer eine Ideologie des Mechanischen, der Wundermaschine und ihrer automatischen Regler beschworen wird. Einige Grundentscheidungen können uns nicht abgenommen werden. Wir müssen wissen, in welcher Ordnung wir leben wollen, leben können. Max Weber hat »die Zusammenhänge der ökonomischen Dynamik mit der Gesellschaftsordnung« eben eine Frage der Ordnung genannt. Eben diese Frage aus dem öffentlichen Bewusstsein fern zu halten, ist der Grundzug unserer Politik insgesamt, seit von dem »Ordo«-Kreis um Eucken her noch das Modell der »sozialen Marktwirtschaft« entwickelt wurde, das inzwischen nur für Sonntagsreden zu taugen scheint. Statt dessen werden unter Berufung darauf, dass das Überleben »der Wirtschaft« gefährdet sei, einzelne Funktionen zu absoluten Heilsbringern erklärt. Sobald es heißt, wenn die Wirtschaft nicht in110 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Die Realität anerkennen
vestiert, werden keine Arbeitsplätze geschaffen, setzt jegliche Argumentation aus. Dann muss eben alles getan werden, um die Wirtschaft in die Lage und Laune zu versetzen, zu investieren. Ob sie das dann tun wird oder nicht, ob in Automatisierung, also Rationalisierung von Arbeitsplätzen investiert wird oder doch mit Beschäftigungserfolg, darüber wird jedenfalls öffentlich nicht mehr nachgedacht. Steuersenkung für Großunternehmen wird beschlossen. Zwar soll es angeblich gerade dem Mittelstand helfen; aber wer untersucht schon genau, wie die Maßnahmen sich auswirken werden. Die ohnehin einflussreichste Sphäre der Industriegesellschaft ist zufrieden. Die alte Frage, die noch Adorno und die Soziologie konfrontierte, ist zu den Akten gelegt: »Industriegesellschaft oder Klassengesellschaft?«. Die Wahrheit ist, dass die Probleme der Klasseninteressen zwar keineswegs gelöst, aber so von den anderen Problemen des Industriekapitalismus überlagert sind und die sozialen Strukturen so weit ihre Formen verloren haben, dass weder eine schlechte noch eine gute Ordnung vorhanden ist. Die Option aller Parteien scheint vorerst nur darin zu bestehen, dass wir uns auf möglichst »hohem Lebensstandard« durchwursteln. In stabilen Verhältnissen wie denen Großbritanniens oder Deutschlands heißt das, bis zur nächsten Wahl, in Italien, bis zur nächsten Regierung. Das Königsargument in diesem Blindekuhspiel heißt Konjunkturspritzen mit »Einkommenswirksamkeit« oder »Arbeitsplätze«, je nachdem. Danach werden dann Maßnahmen getroffen. Eine Ordnung würde erfordern, dass nicht einzelne konjunkturpolitische Präferenzen den Ausschlag geben. Im Hinblick auf die Anerkennung des pluralen Charakters unserer Ökonomie geht es darum, einen wohlüberlegten Ausgleich zu ermöglichen. Wir verdanken dem Marktmodell die Freiheit der Wahl und dem Kapital die Dynamik der Erweiterung. Beide Funktionen müssen geschützt werden, zum Beispiel gegen Bürokratie und Subventionspolitik. Ebenso müssen die anderen Wirtschaftsformen geschützt werden. Die mächtigste Bedrohung übt das, im Übrigen notwendige, Expansionsstreben des Kapitals aus. Sobald »alternative« Produktionen gewinnträchtig werden oder den Absatz der konventionellen Industrie gefährden, werden sie vereinnahmt, kaputtkonkurriert oder sonstwie gleichgeschaltet. Da nicht undurchlässige Mauern, aber Schwellen zu konzipieren, die sowohl Austausch wie Trennung zwischen den Bereichen möglich machen, das ist die Ordnungsaufgabe. Diese Aufgabe erscheint uns von unserer Geschichte her kaum 111 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Geschichte pluralen Wirtschaftens
lösbar. Unser Vorstellungsvermögen ist vom Denken in EntwederOder-Strukturen wesentlich blockiert. Umso hilfreicher ist die neuere naturwissenschaftliche Forschung etwa der Neurophysiologie. »Nervenbahnen« hatten wir uns seit Descartes als Rohrpostsystem gedacht. Jetzt lernen wir, dass sie in unzählbar vielen Teilvorgängen funktionieren, deren jeder ein eigenes Zusammenspiel von ausgehenden Impulsen und aufnehmenden Rezeptoren bildet, und zwar materialisiert durch »Botenstoffe« und praktiziert als ein äußerst bewegliches Spiel von Übergeben, Abweisen und Übernehmen, Umformen. Die anderen Wirtschaftsformen arbeiten nicht nach den Prinzipien des Mechanismus, den die Dramaturgie des abstrakten Marktes und des verselbständigten Kapitals darstellen. Sie brauchen deshalb eigene Räume des Wirkens, um in Wechselbeziehungen zu den beherrschenden Formen mit ihnen gemeinsame Rhythmen bilden zu können. Und diese bilden sich in der Zeit, als Antwort auf immer sich verändernde Voraussetzungen, um. Dies wäre eine Ökonomie als Lebenskunst – statt eines Krisenmanagements mit Maximierung quantitativer Standards. Sie kann wieder Ort werden für Lebenskunst in den individuellen und öffentlichen Beziehungen der Menschen. Die klassische Theorie kennt keine Menschen. Wir treten in ihren Szenarien nur entweder als »Produzenten« oder als »Konsumenten« auf. Wie beide Aspekte gegen einander ausgespielt und eingesetzt werden können, haben wir eben noch gesehen. Dagegen auf irgendeiner Ebene »Ganzheitlichkeit« zu suchen, hilft einfach nicht, wenn wir nicht gemeinsame Parameter in einer Ökonomie selbst anlegen. Sie muss Ökonomie im vollen Sinne werden und nicht mehr nur auf die Frage antworten, wodurch wir unsere Lebensmittel erwirtschaften. Sie muss genauso fragen, wie wir diese Mittel gewinnen und wofür wir sie verwenden wollen. Das wäre eine Ökonomie des Lebens der Menschen als empfangenden und einwirkenden Mitgliedern aller Wirklichkeiten der Welt mit uns. Diese Aufgaben zu formulieren, ist nicht deshalb sinnlos, weil die Antworten hier nicht geliefert werden. Unser Beitrag hier soll zunächst helfen, klarzumachen, was wir suchen. Daran muss eine neue Theoriebildung im Bewusstsein der praktischen alten und neuen Erfahrungen ansetzen. Vergessen wir aber nicht den vorerst rein pragmatischen Boden dieser, zugegeben, schwierig zu denkenden Vision. Visionär wäre es bereits, die Realität aller Zeiten wahrhaft anzuerkennen. Neue Ordnungen sollten gar nicht ausgedacht werden, sondern sich Schritt für 112 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Schritt aus den neu greifbar werdenden Erfahrungen abzeichnen. Dazu muss die Reflexion der ganzen bisherigen Praxis helfen, die in wesentlichen Richtungen versäumt worden ist. Noch sind Formen von Subsistenzwirtschaft in manchen Weltgegenden bestimmend. In vielen Ländern bilden Restformen unübersehbar eine Grundlage der Wirtschaft. Überall sonst sind sie stillschweigend, oft als Wirtschaftsform unerkannt, wesentlich an der Erhaltung und Pflege des Lebens beteiligt. Diesen Anteil, in allen seinen Erscheinungsformen, schätzen die Vereinten Nationen auf die Hälfte aller menschlichen Hervorbringungen. Das muss immer wieder beton werden. Die Vision von einer pluralen, polar sich organisierenden Ökonomie hat ein breites Fundament. Plötzlich werden dabei die Gedanken an die Ränder der industriellen Eroberungsgebiete gehen. Für einen Augenblick erinnern wir uns wieder der Existenz von Yano-mami-Indianern, Papua- und Buschmännervölkern. Wie sonderbar, wie arm, wie erstaunlich. Zu holen gibt es da etwas für Ethnologen und die Glasperlenverkäufer des digitalen Zeitalters. Aber Modelle des Wirtschaftens? Die Entwicklungsdoktrin ist eine missionarische Strategie und mit allen politischen, militärischen und ökonomischen Machtinteressen verbunden, die schon zur Christianisierung gehört haben. Menschen, von deren Ordnungen man nichts weiß, sollen in Errungenschaften gezerrt werden, deren Folgen man nicht überlegt, jedenfalls nicht die Folgen für die Anderen. Bei Widerstand gegen die Zwangsbeglückung kommt Gewalt hinzu. Kreuzzüge. Die green revolution ist ein solcher Kreuzzug geworden – friedlich, mit der Beugehaft der ökonomischen Abhängigkeit. In den Ländern selber werden immer auch wirklich Hoffnungen wach. Die Werbefassade der westlichen Lebensstandards erzeugt einen unerhörten Sog. Zwischenträger und lokale Erfüllungsgehilfen entdecken ihre Eigeninteressen. Wissenschaftler übertragen Rationalitätskonzepte, die gerade Konjunktur haben. Mit dem Potential der Genmanipulation gehen die westlichen Weltkonzerne nun allerdings aufs Ganze; Abhängigkeit von ihrem Saatgut etwa unterwirft die bäuerlichen Höfe aller Kontinente auf Zukunft. Ein Beispiel möge veranschaulichen, was es dagegen zu erkennen und anzuerkennen gilt. Um 1980 nannten die Statistiken das kleine, zentralafrikanische Ruanda »eines der ärmsten Länder der Welt«. Das Prokopfeinkommen der Bevölkerung betrug nur wenige US-Dollar pro 113 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Jahr. Zum Vergleich wurde das Nachbarland Kongo, damals Zaire, aufgeführt. Es gehörte zu den reichen, weil die Staatseinnahmen aus dem Export der Bodenschätze auf die Bevölkerung umgerechnet wurden, bei der nichts davon ankam. Das sind die WTO-Standards und ihre Statistiken. In der damaligen afrikanischen Wirklichkeit konnte man sehen, dass die Subsistenzwirtschaft das kleine Land in einem Stande gelingender Ernährung halten konnte, deren Wert weder in Dollar noch in einer Landeswährung beziffert wurde, weil die Menschen auf dem Boden um ihr Haus und in der Nachbarschaft wachsen lassen konnten, was in anderen Ländern, z. B. eben im zairischen Kinshasa, von einem Geldeinkommen eingekauft werden musste, das es nicht gab, für das es außerdem auch kaum Nahrungsmittel zu kaufen gegeben hätte. Die Selbstversorgung in Zaire war, durch Kriege, aber auch durch die moderne Zentralisierung der Wirtschaft in der trostlosen mega cita Kinshasa, bereits zusammengebrochen, als die UN-Statistik erstellt wurde. Es gibt immer noch die andere, wahrscheinlich die größere Hälfte von Lebensgrundlagen des alten Stils in der Welt. Nur ist das Wissen um diesen Reichtum und die Ordnungen, an die er gebunden ist, ist nicht viel mehr Menschen als denen gegenwärtig, die unmittelbar darin leben. Wahrgenommen werden sie eher in den Armutsstatistiken, wo die Momente tragender Ordnungen überdeckt werden von dem Mangel an den modernen Standards. Das Wissen dieser Gemeinwesen ist schwer zu verteidigen gegen die globalen Institutionen, die das sich in Informationen transferieren und nach Kalkulationen einsetzen lassen. Immerhin fragt jetzt zum ersten Mal, während auf den politischen Seiten die Debatte über den Haushalt der Nation geführt wird, eine große indische Zeitung, was denn die in ihre eigenen Reservate gedrängte, alte Stammesbevölkerung das Nationalbudget kümmert. Sie stellt betroffen fest, es kümmert sie überhaupt nicht außer einigen Versprechungen wie Gesundheitsfürsorge und Wasserversorgung von der Zentralregierung. Da aber ist gerade weiter zu fragen. Wie sehen die eigenen Wirtschaftsformen der »tribals« aus, die mit Eingriffen der Zentralregierung, oder des jeweiligen Teilstaates, unterstützt und nicht zerstört werden müssen? Leben diese Menschen noch als Stammesvolk oder sind sie wirklich, wie die Terminologie besagt, irgendein Teil Bevölkerung, der sich nur durch das primitive Niveau seiner niedrigen Stufe von zentralisierender Vergesellschaftung gegenüber allen anderen unterscheidet? 114 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Es fehlt rund um die Welt nicht an ungezählten Zwischenformen zwischen den Weltmärkten und den einfachsten Weisen, für individuellen und gemeinsamen Bedarf selbst das Geeignete zu produzieren. Selbst die Formen des Jagens und Sammelns, die unsere Vorstellung in die Nähe der Eiszeiten verbannt hat, können dazu anregen, im neuen Kontext einen Sinn solcher Elemente wiederzuentdecken, z. B. als Autarkie von Gemeinden in ihrer Energieversorgung – man kann auch Sonnenstrahlung sammeln. Was es uns so schwer macht, diese Wirklichkeiten auch nur wahrzunehmen, ist die Frage nach dem Vergesellschaftungsgrad. Wir haben in den modernen Gesellschaften offenbar eine Art magischer Berührungsangst gegenüber Beziehungsgefügen, die nicht im modernen Stil zentralistisch durchgestaltet sind. Das ist soweit durchaus rational, wie wir die engen Einbindungen, die mit solchen Gefügen verbunden sind, nicht mehr ertragen, weil sie eben auch unserer Individualität die Luft zum Atmen versagen. Darüber versäumen wir die nüchtern kritische Analyse der Prinzipien, zu denen wir unsere Zuflucht genommen, denen wir aber eine unabsehbare Verselbständigung zugestanden haben. Eher suchen Nostalgiker die Wärme mittelalterlicher Enge, und entwöhnte Städter schützen die Natur oft genug gegen deren eigene Schutzzusammenhänge, als dass wir alle zusammen vergleichen, welche Formen wir wo und in welchem Umfange brauchen können. Das »Eigenarbeit« genannte Konzept etwa gibt grundsätzliche und wohl erwogene Anregungen dazu. Aber sie werden kaum befolgt oder bedacht. Fürsorge für die lieben Nächsten wird lieber zum Hobby für Omas stilisiert. Das unzuverlässig Lebendige macht uns offenbar immer noch mehr Angst als die Erstarrung in zu großen Strukturen, deren Kontraproduktivität Leopold Kohr und mit ihm Friedrich Ernst Schumacher und Ivan Illich längst dramatisch aufweisen. Dabei vergessen wir, was uns praktisch in der Familie und der Nachbarschaft oder unter Bekannten suchen lässt, wenn wir ein besonderes Gericht, einen Schrank nach unseren Vorstellungen, eine Zusammenarbeit am Bau oder am Auto suchen, die nur dieser Sache und unserer Verständigung gerecht wird. Wir lassen uns durch die Werbung Speisen »nach Großmutters Rezept« andrehen und denken nicht daran, was wirklich damit gemeint ist. Wir klammern uns an alles, was uns augenblicklich gegen die alles erfassende Knappheit schützen soll. Darüber versäumen wir zu sehen, wie die zentralistischen und profitorientierten Wirtschaftsformen eben diese Knappheit herstellen. Wo nur noch nach konkurrierendem Inte115 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Geschichte pluralen Wirtschaftens
resse aufgeteilt wird, kann nicht mehr gemeinsam, verbindend und freudig geteilt, mitgeteilt werden. Solches Teilen kann man dann auch schlecht für Aufgaben beschwören, die der Politik anders plötzlich doch nicht lösbar erscheinen. Gemeinsam etwas zu bewirken, will geübt sein. Im Kleinsten tun das alle, auch unter den Regeln der Industriegesellschaft. Aber da es öffentlich nicht zählt, ist es gar nicht als Wissen und Können im Bewusstsein. Wo es in traditionellen Formen erprobt war, wird es von Verwaltungsmaßnahmen verdrängt und von Interessenten aufgesogen – von Beerdigungen durch die Nachbarschaft bis zu Stadtfesten oder der freiwilligen Feuerwehr. Das alles gilt es, nicht als Folklore und Notstandsprogramm zu inszenieren, sondern als eigene Formen des Wirtschaftens im Hinblick auf die neuen Verhältnisse zu reflektieren. Im »Gesundheitssystem« erleben wir gerade in erschreckenden Zahlen, dass sich Lebensaufgaben wie die Pflege von Menschen nicht industrialisieren lassen. Die ausdrücklicheren Formen von Subsistenzwirtschaft in nicht vorherrschend industriell produzierenden Ländern müssen in engem Zusammenhang gesehen werden mit entsprechenden, aber verborgenen Formen in den Industriegesellschaften. Es gab immer auch eine »dritte Welt« in der »ersten«, und sie zeichnet sich immer deutlicher in neuen Richtungen ab. Ihre meist heimliche und untergeordnete Rolle für das offizielle Selbstverständnis darf nicht hinwegtäuschen darüber, wie wesentliche Aufgaben nur als Fürsorge für Kinder und Haus, Nachbarschaft und Gemeinwesen zu erfüllen sind. In allem, was Menschen noch mit einander verbindet, überall, wo noch aus freiem Antrieb Verantwortung empfunden und betätigt wird, wirken vorkapitalistische Beziehungen nach. Aber auf solche Momente des Wirtschaftens können wir uns nicht verlassen, wenn wir sie nicht auch zu Lebensformen unserer Kultur erheben. Die Übergänge von traditionellen Formen zu neuen Ansätzen sind gleitend. Typisch dafür mögen Handlungen im Haushalt sein. Viele von ihnen sind einfach subsistenzwirtschaftlich geblieben, sozusagen seit der Steinzeit. Es wird gekocht und gereinigt, Vorrat angelegt und das Gerät in Stand gehalten, ohne dass eine Bezifferung in Geld diese Leistungen als Teil moderner Ökonomie erscheinen lässt. Wenn wir unsere Kartoffeln kochen oder unsere Töpfe abwaschen, sieht es jedenfalls so aus, als ob diese Tätigkeiten eigentlich nicht vergesellschaftet sind. Sie sind Gewohnheiten, auf die man überall trifft. Aber sind wir Einzelnen da nicht doch auch Vollzugsorgane oder sogar Instrumente 116 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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anonymer Strukturen? Weder denken wir viel nach darüber noch ist die Frage so einfach zu beantworten. Verschiedene Elemente und Funktionen weisen in verschiedene Richtungen. Wenn Hauspersonal solche Leistungen gegen marktgesteuerten Lohn erbringt, ist der Charakter ökonomisch ein ganz anderer geworden; aussehen wird es kaum danach. Wenn der Abwasch in die Spülmaschine wandert, ist dann der Absatz des Industrieprodukts oder die häusliche Benutzung das ausschlaggebende Kriterium? Wenn die Dosen geöffnet und der Inhalt »verbessert« wird, wenn das Tiefgefrorene aufgetaut und überhaupt all die halbfertigen Waren wirklich zum Essen bereitet werden, was geschieht dann? Wird eine alte Übung der Selbstversorgung unter veränderten Bedingungen fortgesetzt oder wird der individuelle Haushalt zum bloßen Erfüllungsgehilfen industrialisierter Wirtschaftszweige? Barbara Duden und Ivan Illich haben das »Schattenarbeit« genannt. Unter dem Anschein selbstbestimmten Tuns werden Funktionen der Industrieproduktion vollzogen, ohne die deren Produkte genau genommen eben noch gar nicht Produkte sind. »Fertiggerichte«, z. B., sind eben ohne die häusliche Arbeit nicht fertig. Damit werden die Menschen in ihrem Haushalt unbezahlte »finish«-Kräfte für die Industrie. Deren Fließband hat, sozusagen, eine letzte Station in der scheinbar privaten Sphäre der Abnehmer. Andererseits wird eine Sphäre nicht einmal monetarisierten Wirtschaftens unmittelbar konstitutiv für den kapitalgesteuerten Kreislauf. Dasselbe trifft zu etwa für die Fertigteilmöbel, deren Endmontage in die Hände der Verbraucher gelegt ist. Diese Tätigkeiten gleichen einem Vexierbild. Im unmittelbaren Vollzug unseres Alltags erscheinen sie als Überreste oder als Wiederentdeckung von Selbsttätigkeit. Systematisch betrachtet machen sie jedoch wichtige Momente unseres Lebens zu Versatzstücken des industriellen Mechanismus. Darum hatte Adorno recht, im Kapitel »Kulturindustrie« seiner »Dialektik der Aufklärung« vor der Illusion zu warnen, mit dem »do it yourself« werde einfach das Handwerk neu entdeckt. Genau das könnte geschehen, aber nur, wenn dabei ein Transfer von einer Wirtschaftsform in eine andere deutlich wird. Dazu müssen ökonomische Formen und kulturelles Bewusstsein den Übergang von einem Sektor in den anderen manifest machen. Die wirklichen Vollzüge müssen rechnerisch wie bedeutungsmäßig gegenüber dem industriellen Sektor ausgewiesen werden, statt als dessen Anhängsel missbraucht zu werden. Einen solchen anderen Status bezeichnet der Begriff »Eigen117 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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arbeit«. Was wir selber für den eigenen Gebrauch herstellen oder bewerkstelligen, unterwerfen wir unserem Urteil über Brauchbarkeit und lohnenden oder unverhältnismäßigen Aufwand. Dabei ist interessanter Weise der Begriff des Eigenen nicht an die Person gebunden, die ihre Arbeit einsetzt, und nicht einmal an die Mitglieder des selben Haushalts. Verwandte und Freunde, Bekannte und Mitglieder irgendeines Austauschs gehören ebenso dazu, wenn nur die unmittelbare menschliche Beziehung die Grundlage bildet. Vor hundert Jahren strickte meine Großmutter noch das Jahr über Wollenes für alle Mitglieder des Dorfes, das zu Weihnachten denen gegeben wurde, für die es entstanden war. Das Eigene dieser Arbeit bezieht sich eben nicht auf eine individuelle Nutzenbalance, sondern auf das Selbstbestimmte der Verrichtung und der Aufgabe. Dazu wird in aller Regel eine unmittelbare Beziehung zu denjenigen gehören, deren persönlicher Gebrauch, sagen wir ruhig, deren Freude an dem Gegenstand oder der Hilfeleistung die Arbeit bestimmt. Dies wird da den Status einer Wirtschaftsform verlassen, wo die Eigenarbeit als Hobby zum Selbstzweck verkommt oder zur Selbstbefriedigung etwa unter dem Vorwand der »Wohltätigkeit« wird. Enger an die strengen Maßstäbe des Gebens und Nehmens, wie sie die offizielle Tauschwirtschaft beherrschen, sind die Formen etwa der Nachbarschaftshilfe angeschlossen, in denen ein unmittelbarer Vergleich der Vorteile und der Kosten mit der offiziellen Tauschwirtschaft ständig die Leistungen der einen und der anderen begleitet. Wenn Nachbarn nach einander erst das neue Haus der einen, dann das der anderen errichten oder den Umbau, den Anbau, so tun sie das nicht nur, weil sie so gern zusammen arbeiten und ihre Freude daran haben, in einem Haus zu wohnen, das ihnen durch diese Art der Entstehung aus gemeinsamer Arbeit und Sorgfalt sympathischer ist als ein anonym errichtetes und gekauftes. Die Ersparnis spielt eine entscheidende Rolle. Und ebenso ist es, oder erst recht, wenn der Nachbar die Reparaturen am Auto übernimmt und man selber vielleicht den Nachhilfeunterricht bei seinen Kindern oder das Verlegen der Kabel für die neue Antenne. Immer ist da der quantitative Vergleich mit dem offiziellen Markt im Bewusstsein. Vorzüge und Nachteile beider Leistungsarten werden gegeneinander abgewogen. Die Fürsorge für Nachbars Kinder oder Nachbars Auto ist dann vielleicht zweitrangig. Und sie spielt doch eine Rolle, schon weil sie die Bereitschaft zum Miteinander und Für-
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einander bildet, das eben über die materiellen Vorteile auch eine Verbundenheit schafft. Inzwischen gibt es für alle Stufen bezahlter, unbezahlter und sogar ohne Gegenleistung erbrachter Nachbarschaftshilfe eigene Erhebungen. Das Bonner »Institut für Wirtschaft und Gesellschaft« hat vor einigen Jahren auf dieser Basis neu den Lebensstandard in verschiedenen deutschen Bundesländern geschätzt und ist zu einem Ergebnis gekommen, das aufhorchen lässt: Die nach der konventionellen monetären Statistik reicheren Länder erreichen eine niedrigere Lebensqualität, weil andere solche Wirtschaftsformen in ihnen weniger ausgebildet sind. Vielleicht, könnte man sagen, ist dies schon Schwarzarbeit. Schwer, sinnvoll die Grenzen zu bestimmen, solange überhaupt Menschen ökonomisch als Menschen handeln, das heißt in Beziehungen zu und mit einander. Hilfe kann Pflege sein, die stundenweise bezahlt wird oder auf Gegenleistungen irgendwelcher Art zu irgendeinem geeigneten Zeitpunkt angelegt ist, oder einfach als Aufgabe des Helfens und Teilnehmens verstanden werden. In den neuen Modellen benachbarten Wohnens von Menschen unterschiedlichster Lebensumstände werden alle diese Formen erprobt und ausgebildet. Eigenleistungen am Bau, im Haushalt oder im Vereinsleben kann Eigenarbeit sein. Sie kann aber auch so fremdbestimmt sein, und so selbsttätig aussehen, wie das »Do it yourself«, das Adorno und Horkheimer kritisiert haben, wo es eigentlich nur eine Absatzstrategie der Werkzeugindustrie oder Einsparungen unrentabler Fertigungsschritte realisiert. Kategorial sind diese Schichten nur von ihrer anthropologischen Bedeutung als Wirtschafts- und Kulturform zugleich zu unterscheiden. Die theoretischen Termini der beherrschenden Wirtschaftsform sind dafür ungeeignet. Sie erfordern indessen etwas Vernachlässigtes grundsätzlich festzustellen. Auf verschiedensten Schichten und mit den unterschiedlichsten Bedeutungen für die Menschen und ihre Kultur, also für ihre Beziehungen zu einander, zur naturhaften Mitwelt und zu sich selbst überlebt auch in den entwickeltsten Industriegesellschaften ein wesentlich anderes Wirtschaften. Vorgänge die nicht kapitalgesteuert und quantitativ in Geldeinheiten bewertet und nicht einmal über so etwas wie Märkte abgewickelt werden. Wo Tauschringe, von Gebrauch zu Gebrauch, neu aufgebaut werden, entstehen sicher 119 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Zonen einer Art sekundärer Subsistenz. Warentauschringe, die einfach nur die Umsatz- und Gewinnsteuern umgehen, im Grunde aber nach den Marktpreisen berechnet werden, haben wieder ganz anderen Charakter. Dass aber in den USA, z. B., schätzungsweise ein Drittel des Umschlags von Gütern und Leistungen auf diese Weise realisiert wird, fordert zum Nachdenken über unsere Wirtschaftsformen auf, auch wenn die Abweichung vor allem Steuerhinterziehung genannt werden kann. Ganz am anderen Ende des Spektrums zeigen sich die vereinzelten Experimente, arbeitsteilige Ökonomie anders als durch Geld, Markt und Kapital zum praktischen Ausgleich zu bringen. Sie werden gegenwärtig an einigen Stellen wieder erinnert und aktuell aufgearbeitet. Aus der Studentenbewegung und den Bürgerinitiativen der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind viele kleine Einheiten im Landbau, im Handwerk, auch in alternativen Bildungsstätten hervorgegangen. Heutige Initiativen nehmen selbstbewusst den Status z. B. einer »Regionalwert AG« für sich in Anspruch, die auf eine Bilanz qualitativer Lebensverbesserungen hinarbeitet. Soziologische Strukturen sind die Abbildung geschichtlich gewachsener Gebilde auf den Bezugsrahmen strategisch planbarer, womöglich statistisch erfassbarer Oberflächen. In Wahrheit kann die Kraft solcher Bedingungs- und Wirkgefüge nur aus der Tiefe der geschichtlich ausgebildeten Zugänge zum Sinn und Nutzen von Zwischenmenschlichkeit und Naturverhältnis wieder erstarken, zusammen mit einem neuen Bewusstsein von deren grundlegender und zeitgenössischer Bedeutung. Dazu gehören theoretisches Wissen ebenso wie Vertrauen und Achtung begründende Erfahrungen. So sehr neue Versuche gemeinschaftlichen Lebens und Wirtschaftens, in allen Industriegesellschaften hier und da auf dem Wege, notwendig und zu begrüßen sind, fehlt ihnen selbstverständlich gerade diese Grundlage. Wissen kann, selbst von traditionellem Wissen her, das immer theoretisch und praktisch zugleich ist, noch eher übermittelt und übernommen werden. Viel schwieriger noch ist der Mangel an Vertrauenserfahrungen aufzuholen. Selten gelingt es den neuen Ansätzen, oft getragen von »drop outs«, der Versuchung zu entgehen, solchen Mangel nicht wirklich zu überwinden, sondern auszugleichen durch Anlehnung an, Anleihen von oder Unterordnung unter ideologische Programme. Auch hier kann eine Entwicklung einen dritten, neuen Weg bereiten, auf dem durch Austausch und wechselseitige geistige wie praktische Unterstützung zwischen vielen solchen Ansätzen rund um die 120 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Die Realität anerkennen
Welt ein gemeinsames Bewusstsein von der Aufgabe für die Menschheit erwächst. Im Gegensatz zum zentralistischen Universalismus der neuen globalen Strategien wird hier Menschheit ernst genommen. Der Begriff steht dann für die einander ergänzend bereichernden Verschiedenheiten – von den Individuen bis zu den Kulturen und Kontinenten: das Prinzip der diversity in nature, culture, and gender, age etc. Den notwendigen Zusammenhang dieser Bereiche von Vielfalt erhebt Vandana Shiva seit Jahrzehnten zu exemplarischer Bedeutung im theoretischen Bewusstsein wie praktisch in den Organisationsformen von Widerstand und neuen Initiativen. Eine ganze Reihe von Initiativen versuchen bereits, praktisch neue Formen in eigenem, neu zu fassendem Bewusstsein zu bahnen. Vom Norden her zum Beispiel kirchliche Finanzierungssysteme für gemeinnützige Wirtschaftsinitiativen in der Hand von Frauen der »dritten Welt«. Dort gibt es sogar dergleichen von Regierungsebene aus wie etwa in Bangladesh. Entwürfe zu eigenen Kapital- und Wirtschaftsformen aus dem Islam heraus werden von wieder einem anderen politischen Ort her vorangebracht. Sie alle und viele mehr gilt es mit dem Begriff plurale Ökonomie in ein gemeinsames Bewusstsein zu heben, bei den unmittelbaren Trägern dieser Formen selbst, aber auch auf den abstrakteren Ebenen. Die vielleicht nur beobachtenden Bürgerinnen und Bürger sollten im Vergleichen und Ausgleichen der unterschiedlichen Schichten wirtschaftlicher Wirklichkeit ebenso Anteil nehmen, wie die Weltorganisationen ihre Konzepte und Maßnahmen auf deren Schutz, deren Kritik und deren Förderung abstimmen sollten.
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GEMEINGUT
Im Gegensatz zum »gemeinen Guten«, also dem Gemeinwohl, ist das Gemeingut eine je gegenständliche Situation, ein wirklicher Vorgang. Common Good ist keine Idee als solche, sondern ein Zwischen des Zusammenwirkens. Man könnte es einen prozessualen Raum nennen. An dem Begriff Gemeineigentum wird eine Fülle von Zusammenhängen wach. Zunächst an den Fragen nach anderen Formen des Eigentums, vielmehr aber noch daran, was da an Gemeinsamkeiten aufgerufen wird. Diese großen Worte scheinen unangemessen für eine historische Einrichtung, von der die meisten angesichts der Industrialisierung gar nicht oder nur aus Geschichtsbüchern etwas wissen. Wenigen fällt noch, wie eine rührende Anekdote, ein, dass es offenbar einmal in den Dörfern Europas eine Weide gab oder einen Wald, die nicht Eigentum der einen oder der anderen waren, sondern aller gemeinsam. Vielleicht begleitet noch die Vorstellung des von vielen genutzten Landes die Erinnerung an einen Ausgleich von »Rechten und Pflichten«. Was dergleichen bedeuten könnte, wird nicht weiter gefragt. Die Formel wird am liebsten zur Beschwörung verwendet, wenn nach einer Disziplinierung gegen bestimmte Symptome liberalistischer Marktentwicklung gesucht wird. Ich meine dagegen, dass Gemeingut dies und Wesentliches mehr bedeutet und dass diese Bedeutung von größter Aktualität in der globalisierten Welt ist, und zwar an den Elementen von existenzieller Wichtigkeit für die Menschheit, beginnend mit dem Wasser, der Luft und dem Boden. Einige entscheidende Aspekte werden in der Lebensarbeit der nordamerikanischen Forscherin Elinor Ostrom herausgearbeitet. Vor allem betont und belegt sie, wie intelligente Konzepte in der Nutzung umstrittener Güter wie Wasser oder Fischreichtum aus dem Zusammenspiel aller, die es wirklich angeht, am besten hervortreten. Über diese Aspekte und ihre praktische Bedeutung hinaus öffnet die Ver123 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Gemeingut
leihung des Nobelpreises für Ökonomie an die Frau, die sich mit dem ganzen Nachdruck ihrer Wissenschaft und ihres Lebens diesem Unterstrom der gesellschaftlichen Vernunft widmet, plötzlich einen bis dahin von der Fachwelt unbemerkten Vorhang. Auf ihn haben die Erfolgsstrategen in der Praxis und vor allem in der Theorie des Wirtschaftens ihre Analysen und Konstruktionen von Markt oder Planwirtschaft projiziert. Dahinter hat immer eine andere Wirklichkeit auf ihre Beachtung, vielleicht auf ihre Wiederentdeckung gewartet. Wenden wir uns zunächst dieser viel weiteren Bedeutung zu. Der geforderte Ausgleich von Rechten und Pflichten ist nicht ein abstraktes Gleichgewichtsmodell. Sein Prinzip ist keine moralische Idee, sondern ein praktisch zu beobachtendes und zu achtendes Bedingungsgefüge. Die gewünschten Möglichkeiten, etwa Vieh weiden zu lassen, müssen dem Vorgang der Erneuerung abgerungen und eingepasst werden. Pflichten bleiben da nicht abstrakte Ethik. Vielmehr geht es um die kundige Pflege, die gleichzeitig erlaubt, in dem Miteinander einer bestimmten Gegend der Natur für menschliche Zwecke Spielräume zu öffnen, ohne das Bedingungsgefüge, das im Zusammenwirken von Klima und Boden, Pflanzen und Tieren entstanden ist, zu gefährden. Das erfordert, bevor die Menschen in ihrem Interesse handeln, ein doppeltes Bewusstsein. Es muss immer von der Seite der Natur und von der Seite der Menschen her gedacht werden. Es geht nicht um Gleichgewicht, wie die abendländische Geschichte es in ihren beherrschenden Strategien zu definieren beliebt, nämlich als statisches. Gleichgewicht ist in Wahrheit keine absolute Idee, die man ein für alle Mal zu realisieren sucht, um dann endlich die gewünschte Realität darauf aufbauen zu können. Natur ist das sich selber Hervorbringende. Im Zusammenspiel mit ihren Bedingungen und Vorgängen gilt es, einen jeweils möglichst gleichgewichtigen Gang zu ermöglichen, von Schritt zu Schritt. Dies selber ist Gestaltung des Lebens, nicht Vorbereitung für das Plansoll. Die an einem Ort beteiligten Menschen haben alle für einander bestimmte Dinge zu tun, sie wollen auch bestimmte Vorteile durchsetzen, und sie haben Wünsche für alle miteinander. Das zu einem Zusammenspiel zu bringen, das ist für den Augenblick erst einmal Politik, über längere Zeiten hinweg wird es eine Geschichte. Wie die Menschen nach beiden Seiten ihre Beobachtungen führen und deuten, um das Zwischen zu einem prozessualen Raum zu gestalten und immer wieder neu zu bilden, das nennen wir Kultur. Aus den Erfahrungen solcher Geschichtsgemeinschaften ergibt 124 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Gemeingut
sich eine andere Anthropologie als die negative, die unser »Projekt der Moderne« glaubte zugrunde legen zu müssen. Nicht der Egoismus eines jeden gegen alle anderen ist die Erfahrung am Gemeingut, sondern ein Wechselspiel der Beiträge und Interessen. Ebenso wird eine gemeinsame Existenz von Mensch und Welt erprobt. Das heißt eine Kosmologie, eine Vorstellung von Ordnung, die mehr gefunden als erfunden wird und folglich mehr von der Erfahrung und Einsicht der Menschen als von der Autorität einer absolut erklärten Theorie zur Gültigkeit erhoben wird. Ob eine Theorie sich nun theologisch oder logisch oder gesellschaftstheoretisch begründet sehen will, sie muss argumentativ und diskursiv konstruiert werden. Die Erfahrungen des Wechselspiels gründen ein Wissen auf die Evidenz von Wirkungsgefügen. Genau deshalb, wird man sagen, ist Gemeingut eben ein Requisit endlich überwundener Epochen. Wir haben doch, spätestens seit der Aufklärung, unternommen, uns auszudenken, wie die Welt sein soll, statt hinzunehmen, wie sie angeblich sein muss. Auch dieser Anspruch ist richtig. Das aufklärerische Projekt der Moderne soll die Geschichte der Menschen von den Ungewissheiten einzelner Situationen befreien. Nicht von Schritt zu Schritt soll abgewogen werden, wie viel Anpassung nötig und wie viel Forderung möglich ist. Nicht auf die jeweiligen Wirkungen der Naturbedingungen sollen die Menschen sich einstellen müssen. Zugrundeliegende Naturgesetze sollen ihnen selber die Verfügungsmacht erschließen und ihren Strategien Erfolg garantieren. Nicht auf den Erfahrungen und Beobachtungen der Natur sollen die Vorstellungen vom Möglichen der Eingriffe und deren Methoden aufbauen. Aus verallgemeinerten Naturgesetzen soll abgeleitet werden, welche Möglichkeiten erzielt, erzwungen werden sollen. Dies ist ein theoretisch-moralisches Verhältnis zu den Bedingungen unserer Existenz. Die unvergleichliche Attraktivität der westlichen Zivilisation, wie sie aus dieser Einstellung praktiziert worden ist, sollte nicht nur faktisch als welt- und menschheitspolitische Triebkraft berücksichtigt werden. Sie geht überhaupt folgerichtig aus der Fähigkeit und der Notwendigkeit der menschlichen Existenz hervor, im Bewusstsein immer weiterer Möglichkeiten zu leben und zu handeln. Bis dahin muss der Widerspruch noch offengehalten werden. Offensichtlich darf das Ausgreifen nur nicht verabsolutiert werden. Es darf nicht das eben so dem Menschen mögliche und notwendige Bewusstsein davon unterdrücken, wie wir von der Welt, die wir vorfinden, getragen sind und 125 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Gemeingut
wie wir ihr in Dankbarkeit zu antworten haben. Nicht das Planen und Verfügen macht das Besondere der conditio humana aus, sondern der Widerspruch zwischen Verfügen und Dankbarkeit. In ihm gilt es abzuwägen. Die höhere Komplexität des Menschen gegenüber der übrigen Natur liegt in der Fähigkeit zu bewusstem Abwägen. Im Zwang zum Handeln müssen wir zugleich der Notwendigkeit des Abwägens gerecht werden. Das Projekt der Moderne hat die Fähigkeit zum Handeln und die individuelle Initiative gegen erstarrte Gewohnheiten stark gemacht. Sind die angenommenen Bedingungen des Zusammenwirkens mit der Natur zwingende oder können sie erweitert gar durchbrochen werden? Das Zusammenwirken der Menschen mit einander, genauer gesagt, das ihrer sehr verschiedenen Stände, im ordo des Mittelalters brach mit diesem gleichzeitig auf. Mit der Empörung gegen Ungerechtigkeit, Ungleichheit und herrschende Interessen brach auch das erprobte und ererbte Vertrauen in die traditionellen Formen des Zusammenlebens immer weiter zusammen. Historisch war nach der Auflösung des mittelalterlichen ordo das »jeder gegen jeden« zu beobachten, während der Religions- und Bürgerkriege sowie schon der Bauernkriege und der Vertreibung der Landbevölkerung. Hobbes hat diese Beobachtung zum Schema erhoben, als er ein erträgliches Zusammenleben der Menschen in einem Staate auf ihrem Egoismus aufzubauen beschloss. Nur das nackte Eigeninteresse ist danach so verlässlich, dass rationale Kalküle darauf gegründet werden können. Dabei wird die gesamte Evolutionsgeschichte und deren vormoderne menschliche Fortsetzung, sofern sie nur im Zusammenwirken in co-evolution und als co-existence möglich ist, außer acht gelassen. Sie theoretisch derart zu versäumen, hat den schlechtesten Erfahrungen der Praxis die Weihe des Immergültigen gegeben. Die auf diesem Prinzip aufgebauten Institutionen der Gesellschaft haben entscheidend Verhältnisse geschaffen, in denen tatsächlich Egoismus das einzig Verstandesgemäße zu sein scheint: Nicht nur die Befreiung, nach und nach, des Individuums von den Zwängen der traditionellen Autoritäten, sondern seine Identität durch Ausgrenzung des Anderen, also in einer Mentalität der Isolation. In der Erfahrung des Miteinanders im ökonomischen Handeln und Erleben am Gemeingut kann sich dagegen ein wesentliches Vertrauen ausbilden. Genau in dieser Epoche verschwanden die meisten Gemeingüter von Bedeutung unter dem Prinzip des Privateigentums, das die kon126 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Gemeingut
krete Basis für die neue Identität von Individuen darzustellen hatte. Statt des Stückes Erde, an dem die Menschen miteinander und mit der Natur zusammenzuwirken lernen müssen, wird seitdem menschliche Identität durch das Verfügungsrecht geprägt, von einem Privaten die einzelnen Anderen und die Öffentlichkeit insgesamt ausgrenzen zu können. Das Wort kommt ja von privare – berauben. Dabei sind falsche Alternativen entstanden, die zum Grundbestand unserer Mentalitätsgeschichte geworden sind. Gegen die traditionellen Autoritäten galt es doch, Individualität der Auffassung des Lebens und der Lebensformen durchzusetzen. Faktisch wurden solche Freiheiten viel zu stark als Kampf um individuelle Wirtschaftsinteressen gewonnen, also als Individualismus im antagonistischen Mechanismus. Wie Individualität sich gerade auch in den wechselseitigen Ergänzungen einer Gemeinschaft an gemeinsamen Erfahrungen entfalten kann, ist dabei zu wenig grundsätzlich bewusst geworden. Ohne einen Boden der Erfahrung und der praktischen Übung im Ökonomischen ist Gemeinsinn der Gefahr ausgeliefert, ideologisch eingesetzt zu werden – ob nun für »König und Vaterland« oder für das »Plansoll«. Gemeingut wird heute, wenn überhaupt beachtet, negativ definiert als Gegensatz zu Privateigentum. So ist das Konzept von Kollektiveigentum zustande gekommen, wie es dann im Allgemeinen der Sozialismus propagiert hat. Faktisch sieht das dann aus wie kumuliertes Privateigentum. Im Streit über Privat- und Kollektiveigentum ist die Fähigkeit abhanden gekommen, jene Qualitäten vorzustellen oder überhaupt wahrzunehmen, die sich im Wechselspiel ausbilden. Das hat sich im real existierenden Sozialismus manifestiert als Staatskapitalismus. Inzwischen erweist sich Gemeingut neu als unausweichlich aktuell, und zwar in gigantischem Maßstab. Was einst die Dorfgemeinschaft an ihrem konkreten Stück Erde übte, muss jetzt die Menschheit für die ganze Erde lernen. Die Wirtschaftslehren haben die Elemente jahrhundertelang zu Ressourcen ohne ökonomischen Wert erklärt, und die Industrialisierung hat sie als Input ohne Kosten erst benutzt, dann vernutzt. Jetzt sind sie teuer geworden, weil hemmungsloser Verbrauch endlich die Knappheit hergestellt hat, auf der das Marktpreiskalkül aufbaut. Die Elemente Wasser und Luft sind Symbol zugleich und wichtigste Stoffe. Immer waren sie die Beispiele der Wirtschaftstheorie dafür, dass einen
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Wert, also einen Preis, nur hat, was knapp ist. Als wertlos verbraucht, sind sie nun knapp geworden. Bedrohlich knapp. Noch bedrohlicher ist die andere Seite dieses Prozesses. Die der Störung von Funktionen und die Zerstörung grundlegender Qualitäten. Verschmutzung zunächst, Zersetzung inzwischen an vielen Orten der Welt. Erde sei als erstes und stellvertretend für die Glieder jeweiliger örtlicher Lebenswelten genannt. Industrialisierte Agrarproduktion soll unter das Meer oder in die Luft, als sogenannte Hydrokulturen ohne Kontakt mit dem Boden, verlagert werden. Das ist kein befriedigender Ausweg. Plätze für die gigantischen Müllhalden dieses Wirtschaftssystems nehmen jetzt auf dem Globus unverzichtbare Lebensräume ein und machen sie auch für deren Umgebungen zu sich steigender Bedrohung. Viele Materialien, wie die nuklear abstrahlenden Lager, nehmen die Zukunft auf unabsehbare Zeiten in Anspruch. Die Atmosphäre der Erde wird zersetzt; ihre Schichten sind voller Gefahren, sowohl durch ausgediente umherirrende Flugkörper wie durch Sendeimpulse, die wie technologische Heuschreckenschwärme unsichtbar von der Erde bis in den Himmel die Atmosphäre beschlagnahmen und verunsichern. Typischerweise sind bisher solche Plätze und die Verursacherstandorte von einander getrennt, so dass die Probleme der Erkennung und der Verantwortung weitgehend scheinbar nur politische sind. Industrieanlagen und Endlagerung, Verbraucheransammlungen und Deponien, Herstellerländer und geschädigte Landschaften werden möglichst geographisch getrennt. Bei Wirkungen, die nicht von den menschlichen Sinnen erfasst werden, wie bei Radioaktivität oder elektronischen Signalen, Elektrosmog, sind die Auswirkungen und die Wahrnehmung getrennt. Durch diese Trennungen werden die notwendig herzustellenden Zusammenhänge bereits auf der Ebene der Feststellungen zum Gegenstand von Machtausübung. Aber die FCKWAusschüttung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist entscheidend für die Gefahren etwa in Bangladesh, dass ganze Landesteile dem Ozean anheimfallen. Der Streit um die Bedrohung durch ein Kernspaltungsendlager in Gorleben wird zu einer Frage des Oberlandesgerichts Lüneburg oder zwischen den Regierungen in Hannover und Berlin. Wahrnehmung zu eliminieren, ist eine zentrale Strategie großtechnologischen Wirtschaftens. In Wahrheit geht es, wie die weltweiten Auswirkungen demonstrieren, um die Erde als ganze und folglich um die Interessen aller 128 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Völker und folglich um Aufgaben für die Menschheit. Für sie muss geklärt werden, und zwar immer neu, welche Möglichkeiten auf welchen Wegen den Bedingungsgefügen der Erde und ihrer Evolutionsgeschichte abgerungen werden können, ohne neue Unmöglichkeiten zu verursachen. Darum nennen Menschen wie Vandana Shiva die zu achtenden und zu schützenden Güter commons of mankind. Ihre jahrzehntelange Arbeit gegen die privatrechtliche Bemächtigung über Tiere, Pflanzen und menschliche Gene durch Patentierung zeigt eine weiter, noch weiter gehende Strategie des Ausverkaufs von Gemeingut genau zur Zeit seiner aktuellsten Bedeutung auf. Was einmal Schöpfung hieß, auf unserer Erde, und den Schutz der Religion genießen sollte, bedarf inzwischen der grundsätzlichen und alltäglichen Verantwortung der Menschheit. Dazu bedürfen wir des Wissens aller denkbaren Formen und Traditionen von der wissenschaftlichen Theorie und Messung bis zur Wahrnehmung, die sich am Leben schult. Die Erde selbst ist Gemeingut: Was spricht gegen commons als Entwurf? Die Völker gelten unserer Verfassungslehre zufolge als Ergebnis von »Gesellschaftsverträgen« und die Völkergemeinschaft wird konkret auch nur als Vertragsgruppierung verstanden. Verträge dienen freilich in der Regel dem Ausgleich gegen einander treffender Interessen. Die Gemeinschaft, die sich im Genuss, in der Pflege und in der Verantwortung bildet, ist etwas anderes, als das Vertragsmodell vorsieht und ermöglicht. Vertragspartner übernehmen jeder einen Part, einen Teil der im Vertrag geregelten Ansprüche und Verpflichtungen. Sie sind gerade nicht auf das Ganze bezogen. Beim Verkauf geht die Ware vom einen auf den anderen über. Sie ist keine gemeinsame Sache. Was der Vertrag zwischen Teilhabern eines Geschäftes oder Unternehmens regelt, sind die Ansprüche der Einzelnen an das Ganze, aller gegen alle und des Unternehmens gegen die Einzelnen. Die juristische Sprache stellt das Verhältnis klar; sie spricht von Vertragskontrahenten. Beziehungen werden in Verhältnisse gegeneinander umgeformt. Verträge sind dazu da, solche Verhältnisse zu fixieren. Anders können sie keine Basis liefern, wenn Ansprüche eingeklagt werden sollen. Die Entwicklung der gemeinsamen Sache und der Beziehungen zwischen den Beteiligten ist eine andere Sache. Juristisch muss schematisch dafür der Rahmen vorgezeichnet werden. Die Anteile der Partner müssen so definiert werden, dass sie gerichtlich und faktisch jeder129 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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zeit wieder auseinanderdividiert werden können, z. B. im Falle einer Ehescheidung. Eheverträge wirken heilsam nur, indem sie festlegen, worum in keinem Fall zu streiten sein kann. Sie helfen im Streit nicht vermittelnd zur Verständigung. Jeder Gleichgewichtsgang bringt wirklichen Wandel, gründliche Veränderungen mit sich, weil er auf sich verändernde äußere Bedingungen neue Antworten finden muss. Vertraglich kann das nur in neuen Verträgen Ausdruck erhalten. Das Rechtswesen hat selbstverständlich Kompromissmöglichkeiten entwickelt. Aber es ist bezeichnend, dass Erfahrungskategorien wie »Billigkeit«, »Treu und Glauben«, »Angemessenheit«, die im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 noch eine Rolle spielten, immer seltener eine wirkliche Bedeutung haben. Im Umgang mit einem Wald oder gegenüber der Gefahr der Ölverpestung einer Küste werden Einschätzungen und Maßnahmen einfach evident werden, die im Vorhinein theoretisch nie zu planen und unter Paragraphen zu fixieren wären. Dass und wie freiwillige Helfer Schlamm beseitigen und Vögel retten, kann in keinem Vertrag vorgesehen oder vorgeformt werden. Betroffenheit und spontane Verantwortung entziehen sich der Formalisierung. Die europäische Moderne hat an die Stelle historisch gewachsener – oder erzwungener – Geschichtsgemeinschaften Gesellschaften gesetzt und so getan, als ob diese durch einen, offensichtlich fiktiven, Vertrag zustande gekommen wären. In Verträgen wird eher festgelegt, wie viel die Beteiligten äußerstenfalls einander schuldig sind. So bekommt die Partnerschaft defensiven Charakter. Dessen Negativität ist weiterhin darin begründet, dass seine Bestimmungen von dem ausgehen müssen, was heute worst case scenario heißt. Die Übereinkunft steht somit immer unter der Perspektive des Konflikts und der Auseinandersetzung. Das ist die gesellschaftliche Basis des Prinzips, das inzwischen zero sum game genannt wird. Das gemeine Gut stellt den entgegengesetzten Entwurf dar. Sein Prinzip heißt heute win win game. So etwas kommt aber nicht zustande, wenn nicht ganz andere als die formalisierten Bedingungen gesetzt werden. Weltweit richtet sich genau darauf die Kritik an dem westlichen Primat der individuell formulierten »Menschenrechte«. Manche sprechen von Stammesrechten dagegen, weil die Stämme traditionell für das Gemeinsame und für ihre Mitglieder Sorge tragen. Dieser Grundsatz kommt zweifellos zum Ausdruck, wo, noch heute, die Krankheit oder auch die Verfehlung eines Einzelnen als Symptom 130 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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eines Mangels in der Gemeinschaft aufgefasst und geheilt werden soll. Dies bedeutet, von den Beziehungen her zu denken und zu handeln. Der Praxis etwa im traditionellen Afrika sind vielleicht neuere psychologische Einsichten und Verfahren im Westen gar nicht so unähnlich. Inzwischen sollen Familien- oder Firmenkonstellationen »systemisch« erfasst werden, wie auch freiere Vorstellungen vom »Charakter«, vom Handlungsprofil und vom Seelenleben der Menschen zu den Zusammenhängen ihrer Lebenswelt hinüberweisen. Der Begriff der Stammesrechte ist offensichtlich seinerseits schon defensiv. Der Begriff wird eingeführt, wo Menschenrechtspolitik Gefahr läuft, die negativen, isolierenden Tendenzen des europäischen Menschenbildes zu exportieren. Das Menschenrecht soll die Einzelnen schützen helfen. Zugleich negiert es aber ihre Gemeinschaft. Die modernen Menschenrechte sind eben negativ definiert, weil ihre Entstehung motiviert war von der aufklärerischen Forderung, Übergriffe von Seiten der autoritären Strukturen abwehren zu können. Sie sollen Freiräume eröffnen. Sie sind nicht so konzipiert, dass sie positiv dem Schutz der Beziehungen der Menschen dienen, in denen diese ihr Leben entfalten. Geeigneter als diese juridische Formel Europas scheint mir die philosophische Formel Afrikas vom »Primat des Wir« zu sein. Im Primat hat das Wir grundlegende und prägende Bedeutung; die Beziehungen geben den Ton an. Freiheit wird verstanden als die Zusicherung, dass jedem und jeder und allem ihre Leben tragende Resonanz gewahrt werden soll. Gegen beide Formeln wird immer wieder vorgetragen, dass es in der Realität allzu oft zu solcher Entfaltung gar nicht kommt, weil Übergriffe nicht einmal den negativen Freiraum unverletzt lassen – von Kinderausbeutung über Unterdrückung von Frauen bis zum Genozid. Die Berechtigung dieser Argumentation ist nur zu offensichtlich. Sie taugt aber nicht, um gegen die Sorge um die Bedingungen des Wir zu argumentieren. Wo Freiraum erkämpft oder garantiert wird, lebt ein Spielraum der Beziehungen noch nicht von allein auf. Rousseau wusste dies sehr gut und wollte seine Gesellschaft nicht nur auf die Einhaltung der Gesetze des Staates gegründet sehen. Selbst im »Contrat social« spricht er daneben von der notwendigen Liebe zum Gemeinwesen. Adam Smith stellt mit aller Selbstverständlichkeit neben den Mechanismus des Marktes, der die gegeneinander gerichteten Egoismen in eine für alle vorteilhafte Interessengemeinschaft verkehren soll, eine moralische Dimension der Gesellschaft. Das common 131 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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wealth braucht ebenso wie die antagonistischen Antriebskräfte die verbindenden Energien des Mitseins, des Mitfühlens, des für einander Handelns in der civil society. Dies ist der Praxis und der Theorie des Liberalismus abhanden gekommen. Neoliberal will man sich erst gar nicht mehr mit der Lehre von Smith und den anderen Begründern eines ausgewogeneren Bewusstseins befassen. An den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gehören sie nicht mehr zum Pensum. So wird auch theoretisch vollzogen, was Karl Marx aus der Kritik der praktischen Geschichte der Industrialisierung der »bürgerlichen Ideologie« unterstellte: Sie habe mit der Realität wenig zu tun. Tatsächlich haben die egoistischen Tendenzen des Marktsystems und die Verabsolutierung des »autonomen Subjekts« die Herausbildungen von civil society zersetzt und sind entscheidende Behinderung, wo Ansätze sich neu bilden könnten. Deshalb meine ich, dass wir, neben dem beherrschenden Sektor von business und Industrialisierung nach den Strategien des Kapitals, nicht nur weltweite, sondern auch lokale und regionale Organisation von Gemeingut brauchen. Gerade am common good können sich die Erfahrungen und Beziehungen bilden, aus denen die erforderliche anthropologische Substanz in ein bewusstes Miteinander wächst. Dafür eignet sich eine »ethisch« geforderte und »moralisch« praktizierte Organisation allein eben nicht. Ohne eine Verwurzelung der Beziehungen und Erfahrungen im Handeln an den Grundlagen der Existenz, im Ökonomischen, bleibt Demokratie abstrakt und hilflos. Resonanz, die am Grunde blockiert ist, kann sich nicht allein in den Schichten sozusagen der Obertöne ausbilden. Diese ergeben sich überhaupt erst als Folgeerscheinungen. Oder sie müssen sich neu verwurzeln, wo sie, aus der Erinnerung vergangener Erfahrungen, zu überleben vermochten. Es genügt nicht, appellativ zu fordern, jede und jeder müssten als Staatsbürger »fest auf dem Boden der demokratischen Grundordnung stehen«. Ein demokratischer Staat muss auch in der Organisation seiner Gesellschaft Orte und Zeiten zulassen oder schaffen, die den Menschen anschaulich und tätig Erfahrungen vermitteln, wie sie und wozu sie eine solche Ordnung mit bilden können. Anders ist dieser Begriff Ordnung absolut leer und so unverbindlich, wie es die jüngeren Generationen, wie immer vielleicht aus privater Bequemlichkeit, öffentlich aber zu Recht behaupten. Die private Stimmung reagiert eben schon, unbewusst und verdeckt vielleicht, auf den öffentlichen Mangel. In den sterilen Strukturen der großen Industrie gibt es keine Bodenhaftung in 132 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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praktischem Zusammenwirken. Das mag in Zwischenformen wie Genossenschaften und auch kleinen mittelständischen Unternehmen noch etwas anders aussehen. Ich meine immer noch, dass die Systemtheorien diese Hindernisse nicht wahrhaft überwinden. Das systemische Denken befreit das Einzelne aus seiner Isolation und führt es zum Ganzen einer Lebenswelt zurück. Aber es reduziert deren Teile auf ihre Funktion für das Ganze. Solche Ganzheit hat etwas Totales. Der unverändert kybernetische Drang, der letzten Endes dahinter steht, gibt dem Unerwarteten keine Chance, wirklich Neues entstehen zu lassen. Natur tut aber genau das im bedrohlichen und im einladend-förderlichen Sinne als Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte unabdingbar. Im System wird Natur, wird der Andere als Partner anerkannt, aber nicht zum Mit- und Gegenspieler. Immer wieder ist an Schillers Beitrag zur europäischen Aufklärung zu erinnern. Spiel. Die Teile dürfen nur annehmen, einem Ganzen zu dienen, wenn das Ganze den Teilen dient. Die Devise ist »Spiel und Ordnung«, Zusammenspiel. Freiräume für alle Beteiligten als gemeinsamer Spielraum zwischen Bedürfnissen und Möglich-werden und Grenzen der Dehnbarkeit. Das ist nicht die Metaphysik des gemeinen Gutes, sondern eine Basis im Menschen, in der Welt überhaupt, in der Gemeinschaft. Um zu wissen, dass es bestimmte gemeine Interessen gibt, einige zumindest, brauchen wir keine Metatheorie reaktionärer oder revolutionärer Konstruktionen. Das hat Ivan Illich an den Fällen der Geschichte »des Rechts auf Gemeinheit« gezeigt. Unsere Existenz ist einfach, wie Humberto Maturana bio-logisch sagt, co-existence. Unsere bio-kosmische wie sozio-spirituelle co-existence ist möglich nur aus dem, was Theorie erst sucht. Das Gesuchte ist auch hier die Ausgangs- und Grundlage des Suchens. Bereits Viktor von Weizsäcker hat die Wissenschaften zur Umkehrung der Beweislast aufgefordert. Was sie für erklärungsbedürftig deklarieren, ist im Leben selber gerade das Erklärungsträchtige. Das Schlagwort vom »Generationenvertrag« demonstriert die Verirrungen. Menschliche Geschichte existiert nur und setzt sich fort im Zusammenspiel innerhalb der Generationen und zwischen ihnen. Dieses plötzlich nach dem Modell des Vertrags zu definieren, bedeutet, die Jüngeren zu einer Funktion der Fortsetzung der Älteren zu machen, statt dass alle Glieder einer gemeinsamen Geschichte sind, der alle auf ihre Weise zu dienen suchen, wie diese ihrerseits alle tragen soll. Wir 133 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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treffen, während wir uns derart im Kreise um die Sache drehen, immer wieder auf dasselbe Problem: Existenzielle Verbundenheit wird abgelöst durch normative Verbindlichkeit. Die Lebenstätigkeit, im Zusammenspiel beizutragen, wird ersetzt und verhindert durch den Zwang zu »opfern«. So ist das Dienen zur Fron geworden. Der Schlüsselbegriff der Politologen und der politischen Philosophie heißt, entsprechend, »Erzwingbarkeit«. Alles, was nicht im Rechtsstaat durch staatliche Gewalt erzwungen werden kann, gilt als unrealistisch. Ideell gehört diese Auffassung in den Umkreis der negativen Anthropologie – als wollten eigentlich alle nur dem Anderen schaden. Einerseits können wir tatsächlich nur bauen auf ein, wie immer minimales, Wohlverhalten, wenn auch notwendig ist, dass die Unwilligen im Zweifelsfalle gezwungen werden können. Das gilt für Einzelne und Gruppen und Staaten und Institutionen und Unternehmen. Andererseits haben die Maßnahmen zur Erzwingbarkeit die Nebenwirkung, die negative Anthropologie herzustellen, die sie voraussetzen. Alternativen werden ausgeschlossen. Wie kann man dieser Zwickmühle entkommen? Das erste ist wiederum, diesen Widerspruch anzuerkennen, statt ideologisch auf die eine oder die andere Seite zu hüpfen. Aber es muss auch wieder geschichtliche Erfahrung zur Hilfe genommen werden. Was historisch Gemeingut hieß, Allmende oder Gemeinheit, hat zweifellos nicht immer und fraglos die volle Unterstützung aller Berechtigt-Verpflichteten bekommen. Erst recht waren Übergriffe von außen keineswegs ausgeschlossen. Selbstverständlich gab es Regeln im Umgang mit der Weide, dem Wald, dem Reetufer. Diese waren allerdings anderer Natur als Gesetz und Strafe, je weiter man geschichtlich zurückgeht. Solche Regeln gehörten zu genau den »Gewohnheiten«, die an einem bestimmten Ort galten und deren Einhaltung durch Sanktionen bestärkt wurde: Ethos, im ursprünglichen Sinn von tÞ ˛ja. Sie waren Teil einer mythologischen Weltdeutung. Als Teile der Ordnung, in der diese Welt lebensfähig bleiben und Leben spenden oder bewahren konnte, waren sie heilig. Man entgegnet, dass solche Sanktionen in bestimmten Fällen drakonischer als strafrechtliche Verurteilungen ausfallen konnten und dass auch modernes Strafrecht den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung kennt. Dennoch kann man in jenem tÞ ˛ja die Aufforderung erkennen, sich um des allgemeinen wie um des je eigenen Wohles willen an den Anstrengungen zu beteiligen, die seine möglichst ungestörte Fortsetzung erfordert. Diese Auf134 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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forderung hat zwar ultimativen Charakter; dennoch gibt sie im Grunde die Einladung zu erkennen, sich als Schützling wie als Hüter dieser Ordnung und ihrer Wohltaten zu begreifen. Solch kosmologisch begründete Ordnung ist durch die monotheistischen Religionen aufgelöst und ersetzt worden durch Gehorsamsgebote. Der Umweg dann paralleler Regelungen über die säkularen Institutionen von Staat und Justiz sollte selbstverständlich vor der Machtausübung schützen, die kirchlicher Bann und sein weltlicher Arm autoritativ auf den Einzelnen loslassen konnten. Das ist aber selber ein solcher Umweg über Institutionen gewesen, deren Ideologie zwar noch Dienst an der Weltordnung hieß, die in Wirklichkeit längst zu den profansten Herrschaftsinstrumenten gemacht worden waren. Ob freilich je eine Gemeinschaft ganz solche Degeneration vermieden und verhindert hat, ist wohl ungewiss. Jedenfalls ergibt sich für die Gegenwart offenbar die Aufgabe, zwei unterschiedliche Wege nebeneinander zu bereiten und jeweils abzuwägen, wie ihre Wirkungen mit einander verbunden und vereinbart werden können. Der internationale Sprachgebrauch hat dafür die Ausdrücke hard law und soft law entwickelt. Das eine ist ein durchsetzbares Rechtssystem, das andere ein Ordnungsentwurf, der auf seine Überzeugungskraft angewiesen bleibt. Der umfassendste und wichtigste Entwurf auf der Seite des soft law ist sicher die Earth Charter. Sie vertritt die Qualitäten von Lebensformen und deren Bedingungen, wie sie positivistische Normen niemals fassen können. Formeln traditioneller Jurisprudenz, die noch da heranreichen sollten, wie die von »Treu und Glauben« sind aus dem Rechtsleben so gut wie verschwunden. Die Wirtschaftspraxis des neuliberalen Marktsystems macht immer hemmungsloser manche Formen und Ebenen der Wirtschaftskriminalität, die selbst noch Ende des vorigen Jahrhunderts durch informelle Ausgrenzung von Verbänden oder Innungen oder einfach den Kreisen verwandter Unternehmer geahndet und damit auch weitgehend gebannt worden wäre, zum Exempel neuer Effektivität. Andererseits entdeckt die Wirtschaftswissenschaft die große tragende Bedeutung anderer als rein rechtlich formaler Institutionen. Sie erkennt nun im wirklichen Umgang und in der Lebenswelt auch von Firmen und Konzernen wichtige »Randbedingungen« und bezieht deren Funktionen in eine Erweiterung der klassischen Faktoren der Theorie mit ein – neue institutionelle Ökonomie etwa. Der Begriff des Vertrauens wird als notwendige Dimension des Handelns im business neu betont. Strategien, ihm Wirksamkeit innerhalb von Betrieben und zwischen 135 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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ihnen, vielleicht sogar zwischen den Handelsnationen zu sichern, werden entwickelt. Zugleich geht das Ringen darum weiter, einen internationalen Gerichtshof zu tatsächlicher Bedeutung zu bringen. Die Tendenzen sind konträr. Erfahrungen der Resonanz und das Bewusstsein für ihre Bedeutung können da wichtige Unterstützung in die richtige Richtung bilden. Der Entwurf von Jakob von Uexküll und anderen für einen WeltZukunfts-Rat gibt dem Bedürfnis Gestalt, ein Gremium zu bilden, das allgemein verbindlich prüft, was eine Lebensordnung der Welt braucht und wie die soft laws aussehen müssen. Dafür brauchen wir eine Bewegung wie die Grünen in allen Erdteilen, die sich aber nicht gezwungen sieht, auf die Seite der offiziellen, staatlich institutionalisierten Politik überzutreten. Ein Welt-Zukunfts-Rat soll ja auch keine eigene Macht ausüben können, die nicht nur zum Taktieren verleitet, sondern immer sich in parteiischen Interessen verstrickt. Sie muss fähig werden und offen bleiben, von der Sache des Wohles der Welt und von den Menschen überall auf der Erde her zu denken und die entsprechenden Erfahrungen und Einsichten zu vertreten. Entscheidend ist: Resonanz entsteht nur an wirklichen Orten und wird nur an wirklichen Orten spürbar. Das ist ein anderes Muster als eine Vernetzung im Virtuellen. Ort bedeutet die Geschichte eines greifbaren Zusammenspiels von Menschen und Wetter und Tierarten und Pflanzen und Wärme und Kälte und Licht an einem überschaubar vertrauten Flecken Erde. Dabei kann es nicht um den Genuss dieses Ortes oder die Arbeit an ihm allein gehen. Was Menschen zwischen beiden Seiten der Existenz, also in tätiger Antwort und dankbarer Freude, mit einander lernen, dieses Wissen und diese Art zu wissen sind unersetzlich. Sie machen das Lustprinzip geschichtlicher Gemeinschaft aus. Darin muss civil society leben und Kraft gewinnen können. Ist es denkbar, dass der Menschheit zukünftig die Erde selber zu einem Ort in diesem Sinne wird? Schützen werden wir sie nur können und uns ihrer erfreuen, wenn wir gute Luft genießen im Gedanken an die, die um Atem ringen und um klares Wasser, um gegen deren Verderben zu kämpfen. Wissen als Gemeingut der Menschheit. Zwei entgegengesetzte Folgerungen enthält diese Forderung. Einerseits soll Wissen der Menschheit gehören; das bedeutet eine Ausweitung. Ihr kann nur der ungehinderte Zugang gerecht werden. Von keiner Seite darf dann Wissen anderen vorenthalten werden. Andererseits ist die Institution des 136 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Gemeingutes immer an eine konkrete Gemeinschaft gebunden, die sich nicht nur ihr Wissen zunutze macht, sondern die Verantwortung für dessen Pflege und sinnvolle Anwendung trägt. Das bedeutet eine Eingrenzung. Theoretisch würden diese beiden Forderungen nur zu vereinbaren sein, wenn die Menschheit, der das Wissen zugänglich gemacht wird, zugleich die verantwortliche Gemeinschaft bilden könnte. Die Vorstellungen der Experten gehen sofort darauf hin, Organe einer Weltregierung zuständig zu machen und ihnen Zwangsmittel gegen Missbrauch in die Hand geben zu müssen. In Wirklichkeit stellt sich die Frage ganz anders, jedenfalls für das traditionelle Wissen. Dieses ist Teil einer ganz bestimmten Lebensform, und diese ist Glied einer ganz bestimmten Lebenswelt. Damit hat solches Wissen existenziell seinen Kontext, der von den praktischen Konsequenzen her in jedem Akt ein Abwägen erfordert. Die ethische Dimension ist immanent gegeben. Die Tradition hält Unbefugte, die nicht in die Verantwortung eingebunden sind, fern und hat ihre Sanktionen zur Durchsetzung. Das Abwägen kann in der Regel nur im Zusammenspiel einer Fülle von Wahrnehmungen für die jeweilige Situation des Kontextes vollzogen werden. Dies ist die ästhetische Dimension des Wissens und des verantwortlichen Umgangs mit ihm. Solches Wissen ist keine frei schwebende Entität – »Information« –, die einen Platz allein in dem ort- und zeitlosen, anonymen System der Wissenschaften zugewiesen erhält. Der bekannteste Streitfall der letzten Jahrzehnte war vielleicht die Auseinandersetzung zwischen den indischen Bauern und den multinationalen Chemiekonzernen um den Gebrauch des Neem trees. Die Labors der Industrie isolieren einen Wirkstoff und identifizieren ihn chemisch, um dann zu behaupten, das Wissen sei ihr patentierbares Eigentum. Wissen ist dann ausschließlich nach den Kriterien und der Tradition des westlichen, anonymen Wissenschaftssystems definiert. Die typische Einheit von Kenntnis und Benennung mit dem gestischen Wissen im Wahrnehmen, Abwägen und Handeln der bäuerlichen Tradition wird durch die westliche Definition ausschließlich als Defizit dargestellt und behandelt. Für zahllose Heilpflanzen, Küchenrezepte usw. gilt dasselbe. Ebenso wie ihre Wirkstoffe chemisch isoliert werden, werden deren Lebenswelten zum Zweck der privaten Aneignung im Namen der Menschheit zerstört. Roden von Regenwäldern, Auflösung von Dorfgemeinschaften usw. Man kann sich sogar fragen, ob nicht das Wissen, das die Herstel137 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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lung der Atombombe ermöglicht hat, einen doch parallelen Fall darstellt. Zwar war es durch vorausgegangene theoretische Forschung bereits begründet und erscheint in dieser historischen Betrachtung als kontextfrei. Tatsächlich wurde aber das Manhatten-Projekt nur im Kontext des Zweiten Weltkriegs realisiert. Nur gegen die Gefahr einer gleichen Massenvernichtungsmaschine in der Hand von Hitler wurde die Erfindung riskiert. Also in Abwägung der Gefahren und ihrer Verhältnismäßigkeit. Das Entsetzen von Russell und Einstein wurde ja ausgelöst durch den völlig unverhältnismäßigen Einsatz der Bombe gegen Japan. Später mag der Kampf der Großmächte um das sogenannte »nukleare Gleichgewicht« eine ähnliche Rolle des Abwägens auf eine konkrete Situation hin gespielt haben. Diese Verantwortung, die immerhin ein halbes Jahrhundert das Schlimmere verhindert und sogar eine Überwindung des eingebauten Eskalationsprinzips geleistet hat, bildet ja den moralischen Hintergrund für den Anspruch der fünf Großmächte auf den alleinigen Besitz der Massenvernichtungstechnologien. Dem entspricht die Politik, die übrigen Staaten zur Enthaltung zu verpflichten. Dieses Modell hat aber nur so lange funktioniert, wie das notwendige Wissen faktisch mit der entsprechenden Notlage verbunden war. Deren Auflösung ins Unbestimmte entzieht der Nonproliferation den historischen Boden. Das Wissen wird endgültig absolut. Auf allen Ebenen dieser Beispiele und den Abstufungen zwischen ihnen ist eben Wissen Macht. Und Macht muss unter Aufsicht und in Begrenzung gehalten werden, und zwar in den entgegengesetzten Richtungen gleichzeitig. Macht kann dadurch ausgeübt werden, dass Andere von dem Wissen ausgeschlossen werden, ob in strategischer Absicht oder durch die Ungunst der Umstände. Eine entsprechende Furcht kommt in den Forderungen der meisten afrikanischen Bevölkerungen zum Ausdruck, wie die Earth Charter sie zusammenfasst – Zugang zum Internet, Manipulation durch multinationale Konzerne und Regierungen etc. Macht wird umgekehrt durch den Einsatz von Wissen ausgeübt. Alle ökologischen Probleme gehen auf Einsatz von Teilwissen ohne Wahrnehmung von Kontext und entsprechende Abwägung zurück. Zwischen Völkern, Gruppen und einzelnen Menschen geschieht das Gleiche. Es geht also darum, Wissen zu schützen, vor Wissen zu schützen, das zur Bemächtigung eingesetzt werden soll, und vor dem Entzug von Wissen zu schützen. Die Analyse zeigt eindeutig, dass wir Organe, 138 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Einrichtungen, Haltungen suchen, die in der einen Richtung durchlässig und in der anderen abwehrend reagieren. Diese Aufgabe hat die Evolution in vielen Varianten gelöst: Von den Membranen bis zur Symbiose, von den Härchen in den Adern, die den Fluss hemmen oder befördern, bis zu Katastrophen, die in riesigen Zeiträumen neue Gleichgewichte ermöglichen. Die Geschichten der Kulturen haben die verschiedensten Modelle von Schwellen, aber auch von Dämmen entwickelt. Bot das europäische Mittelalter über den Wissenserwerb in der klerikalen Laufbahn selbst für Bauern eine gewisse Durchlässigkeit der Feudalordnung, so schloss doch das Kastensystem der Hindu die Untersten selbst vom Vernehmen der heiligen Schriften drastisch aus. Geheime Initiationen haben in den meisten Weltgegenden Wissen, das für die Welt oder auch den Einzelnen gefährlich werden kann, bewahrt. Wo kann man aber die umgekehrte Gefahr ausschließen, dass daraus Verschwörungen mit Priestertrug und Unterdrückung werden? Allgemeiner stellt sich die Frage der immer beherrschenderen Arbeitsteilung in Wissenssektoren. Wie wird, heute besonders auffällig, Naturwissen von den Wissenschaftlern für alle verantwortet? Dazu ist zumindest gefordert, dass sie ihr Wissen erst einmal im allgemeinen Kontext der Lebenswelt darstellen, wie Niels Bohr es noch zur Voraussetzung erklärt hat. Expertenwissen muss in das allgemeine Bewusstsein übersetzt werden. Und wie wird bei allen ein Bewusstsein entwickelt dafür, dass wir unser Naturverhältnis so weitgehend an diese Experten abgetreten haben und, wenn schon nicht für deren Wissen, dann aber doch für unser Unwissen verantwortlich sind? Der Begriff Gemeingut steht auf allen Ebenen für die Verbindung der Seiten einer Situation in den Erfahrungen des Lebens selbst. Er steht für die Verbindung von Nutznießung und Betroffenheit, von Rechten und Pflichten, von Mitsprache und Mitleiden. Das ist der Kontext, in dem Verantwortung ihren Sinn erfüllen kann, so wie wir Verantwortung übernehmen müssen für unsere Welt. Dabei wird noch eine weitere und wesentliche Dimension deutlich, in deren Umgang nur das Modell Gemeingut das allseits Erforderliche und Sinnvolle sichern kann: das unendlich vielfältige, äußerst verschieden begründete und überlieferte Wissen der Menschheit. Wissen als dieses Gemeingut besteht keineswegs nur aus dem Pool registrierter Informationen; auch diese müssen überall zugänglich sein. Es umfasst aber alle Formen der Sammlung, Ordnung und Überlieferung von Wissen, die verschiedene Zeiten und Kulturen hervorgebracht haben. 139 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Gemeingut
Wie kritisch diese Forderung ist, zeigt die enorme Vernichtung von nicht verschriftlichten, inzwischen von nicht elektronisch erfassten Traditionen sowie von veralteten Technologien, allein schon durch die Verdrängung und das Absterben hunderter von Sprachen. Wissen kann ein Gemeingut der Menschheit sein im Zusammenhang mit seiner historischen Entstehung und seiner gegenwärtig lebendigen Ausübung. Dessen Sachwalter sind die Gemeinschaften, in denen es hervorgebracht wurde. Mit ihnen muss kooperiert werden.
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ARBEIT UND LEBENSTÄTIGKEIT
In den Industrieländern ist der Entwurf von Adam Smith, die Arbeit zur Grundlage aller Wertschöpfung zu erklären, überholt. Sie wird immer ein Faktor bleiben. Doch ist ihre beherrschende Bedeutung durch die technische Entwicklung entscheidend aufgelöst, in der selbstverständlich maschinelle, inzwischen auch digitale Innovationen mit der Kapitalkraft zusammenwirken. Der Arbeitswertlehre der klassischen Ökonomietheorie war die Lehre der Physiokraten voraufgegangen, nach der aller ökonomischer Wert letzten Endes auf den Boden, verstanden als Ackerboden, zurückzuführen wäre. Welcher neue Parameter nun die Arbeit ihrerseits ablösen soll, darüber wird noch nicht einmal nachgedacht. Wir tun noch so, als ob dies undenkbar sei, obwohl einige wenige zumindest in dieser Hinsicht die veränderte Realität erkennen. Ihre Forderung geht dann dahin, folgerichtig auch die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums abzukoppeln von ihrer zwei und mehr Jahrhunderte langen Bindung an die Teilnahme an der Erwerbsarbeit. Die feudale Gesellschaft hatte ganz andere Maßstäbe, etwa die bestimmter Standeszugehörigkeiten, zugrundegelegt dafür, in welchem Umfang und in welcher Form die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft an deren materiellen Möglichkeiten teilhaben sollten. Die verschiedensten Varianten einfach gleicher Teilhabe an deren Genuss für alle bilden eine andere Alternative für die Verteilungsfrage, die also historisch-anthropologisch zur Disposition steht. Der Begriff des Kommunismus für dieses Prinzip ist freilich durch extreme Formen politischer Herrschaft unglaubwürdig gemacht und ökonomisch mit verschärftem Leistungsdruck und rascher Abkehr von Grundsätzen belastet, die einmal Gleichheit qualitativer hatten bestimmen sollen – »jeder nach seinen Bedürfnissen«. In allen Fällen machen die wenigen uns geläufigen Beispiele neuzeitlicher Wirtschaftsordnungen klar, dass es nicht um universelle Sachzwänge, sondern um historische Ent141 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
würfe geht, in denen bestimmte jeweilige Bedingungen mit jeweiligen Zielen verbunden werden. Diese Einsicht ist aber gegenwärtig noch ein Skandalon. Nur von den Rändern her entzündet sich die Diskussion daran. Zweifellos ist die Entscheidung der bürgerlichen Ökonomie im achtzehnten Jahrhundert, und dahin führend früher schon, für die Arbeitswertlehre auch Ausdruck, wie Max Weber es dargestellt hat, einer religiös eingekleideten Morallehre, die sich merkwürdigerweise verbunden hat mit dem Prinzip einer Anerkennung von Leistung nach den quantitativen Maßstäben der monetarisierten Wettbewerbswirtschaft. Doch es gab anders gerichtete Vorstellungen gerade auch in dieser Zeit, in der die bürgerliche Wirtschaftsform der Arbeitsteilung, des Marktes, der Arbeitszerlegung und der Maximen des Kapitals in »die große Industrie« übergingen. Unter diesen Vorstellungen seien die Goethes ausgewählt, um ein anderes anthropologisches Konzept als das der historischen Form von »Arbeit« für die Gegenwart aufzunehmen. Besonders vor dem Hintergrund seiner außerordentlich einschneidenden und umfassenden Kritik aller Strategien, die er als »veloziferisch« erkannte, ist sein Gegenbegriff zur Arbeit in beschleunigter Verausgabung der Leistungskraft ein hervorragender Wegweiser: »Lebenstätigkeit«. Wenn die Entwicklung der Industrie den Faktor Arbeit grundsätzlich wieder freigibt, dann gehört er in eine neu zu entwerfende »Ökonomie des Lebens«, statt weiter nach den konventionellen Kriterien der Arbeitsgesellschaft verrechnet zu werden, nur negativ als »Arbeitslosigkeit«. Goethes Begriff der Lebenstätigkeit findet sich bei ihm positiv bestimmt eigentlich nur, um die Momente der Ausbildung menschlicher Vermögen in der lebensgeschichtlichen Bildung hervorzuheben. Interessanterweise kehrt er bei Marx im gattungsgeschichtlichen Kontext wieder mit allen Fragen nach den gesellschaftlichen Bedingungen für solche Bildung. Gerade in zwei so unterschiedlich begründeten und ausgerichteten Auffassungen von Leben und Welt fällt auf, dass an jeweils zentraler Stelle der gleiche Begriff auftritt. Bei Goethe wird er freilich von den Fragen her geprägt, aus welchen Bedingungen und in welchen Schritten sich die Menschen individuell ausbilden. Bei Marx werden mehr die historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und Verhinderungen 142 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
solcher Ausbildung analysiert. Vom Individuum oder vom Kollektiv her, beiden geht es um das, was Kant in die abstrakteste denkbare Form gebracht hatte: »Der Zweck des Menschen ist die Menschheit«. Beiden geht es aber auch, anders als in Kants Formulierung, um wirkliche Entfaltung in der Geschichte der wirklichen Menschen. Marx hat seine analytischen Untersuchungen immer universeller zu einer Theorie der Veränderung in der Geschichte vorangetrieben. Er hat sich dabei jedoch an die westlich bürgerliche Welt und deren Prinzipien gebunden, und sei es zu deren Überwindung. Goethe hat immer weiter Sphären anderer Kulturen in seine praktische Arbeit für eine wechselseitige Bereicherung einer Menschheit einbezogen, aber immer die konkreten lebensgeschichtlichen Schritte betont, kaum objektive Entwicklungen. Der eine sagt »werde, was du bist«; der andere verteidigt »das geistige Eigentum an allem gegen das ökonomische Eigentum an wenigem«. Lebenstätigkeit meint bei beiden, dass wir unsere Anlagen ausbilden, indem wir an der Welt mit uns tätig sind, also in einer wohl zu reflektierenden, immer neu zu gewinnenden Verbindung von sinnenhafter Wahrnehmung, von Wissen, das in Begegnungen reift, und bewusster Tätigkeit. Wir sprechen inzwischen, auch gelegentlich öffentlich zu hören, vom »Ende der Arbeitsgesellschaft«. Leben wir also demnächst ganz, ohne arbeiten zu müssen? Soll Leben nur noch aus Konsum und Spaß bestehen? Gemeint ist selbstverständlich anderes. Tatsächlich ist in den hochindustrialisierten Gesellschaften die Produktion so weit automatisiert, dass der Bedarf an Waren und an manchen Dienstleistungen mit der Arbeitskraft eines Fünftels der Bevölkerung realisiert werden kann. Tatsächlich ist damit die Leistung der Volkswirtschaften weit mehr auf »die tote Arbeit«, wie Marx sagte, die in Produktionsanlagen geronnene Arbeit, gegründet als auf die lebender Arbeiter. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht Arbeiten weiterhin notwendig zu verrichten wären. Es bedeutet erst recht nicht, dass es nicht weiterhin für alle Wichtiges zu tun gäbe. Allerdings hat nicht nur die Verausgabung von Körperkraft entscheidend abgenommen. An ihre Stelle ist jedoch eine nicht minder belastende, aber weniger auffallende und schwieriger messbare Verausgabung getreten. Doch auch diese zunehmende Verausgabung von Nervenkraft bei der Bedienung und Überwachung der maschinellen Anlagen könnte reduziert und verträglicher gestaltet werden. Insofern wäre zwar nicht von einem Ende der Arbeit, aber davon zu sprechen, dass sie in den verschleißenden, 143 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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unter der Industrialisierung entleerten und dumpfen Formen auf einen Bruchteil zurückgeführt wird. Diese Fragen müssen in einer gewissen Unabhängigkeit von den jeweils aktuellen »Arbeitslosenstatistiken« reflektiert werden, zumal deren Definitionen in mancher Richtung Dunkelziffern produzieren. Darüber hinaus wird der Begriff der menschlichen Arbeit durch neue »Mensch-Maschine-Verschaltungen« wesentlich verschoben. Neue Strategien der Ausbeutung der menschlichen Vermögen ergreifen Leisten und Leiden in bisher ungeahnten Tiefenschichten. Eine Art psychologischer Zentralperspektive macht Reserven des Gemüts erfassbar. Wie immer unterschwelligere Methoden der Werbeindustrie wird nun auch »Bewusstseinsmanagement« ausdrücklich in die Produktherstellung eingeführt. Wirklich am Ende ist dagegen, aus denselben Gründen, die auf die Erwerbsarbeit gegründete Gesellschaftsordnung. Wenn nur noch ein Fünftel der anstehenden Arbeitskräfte an der Hervorbringung der Ergebnisse der Wirtschaft beteiligt ist, oder sein wird, dann hat die Arbeitswertlehre, wie sie im 18. Jahrhundert an die Stelle der Lehre vom Boden als der Quelle des Reichtums getreten ist, ausgedient. Eine andere Grundlage zu bestimmen, ist aber umso schwieriger, als naheliegende Alternativen diskreditiert sind. Der real existierende Sozialismus hat mit allem Nachdruck dafür gesorgt, dass für Lenins »jedem nach seinen Bedürfnissen« kein Mensch mehr eine müde Kopeke gibt. Andere sind als unhaltbar utopisch verpufft. Ein Bewusstsein von der Notwendigkeit einer anderen Grundlage kommt indessen in den verschiedensten Ansätzen zum Vorschein, wie erste Markierungen eines unbekannten Geländes. Vorschläge für ein »Bürgergehalt« oder Reformen für »Bürgerversicherungen« und dergleichen mehr weisen alle in dieselbe Richtung. Aus dem gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum ist für alle Mitglieder dieser Gesellschaft so viel aufzubringen, dass ihre Existenz grundsätzlich anerkannt wird und nicht auf Grund ihrer Erwerbsarbeit oder ihrer Arbeitslosigkeit oder anderer Kategorien eines speziell definierten Status. Die Suche hat begonnen. Aber die wirklichen Fragen sind unter tagespolitischen Erwägungen verborgen und in einem öffentlichen Nachdenken immer noch nicht angemessen präsent. Das könnte die Debatte um »Grundeinkommen« ändern. Auch sie wird noch von den Rändern der Aufmerksamkeit her geführt, aber durchaus auch mit Leidenschaft. Dabei werden die Argumente noch weitgehend unsystematisch einfach gegeneinander gekehrt. Eine 144 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
gemeinsame Arbeit von Vertretern und Gegnern kommt noch nicht so weit, dass die in der Sache begründeten Widersprüche gemeinsam überwunden werden könnten. Die Argumentationen sind eben weitgehend auch mit einem jeweils unterschiedlichen Interesse verbunden. Sehr erschwert wird die Debatte dadurch, dass immer wieder gesellschaftlicher Ist-Zustand und der visionäre Soll-Zustand einander konfrontiert werden. Auch hier fehlt es an systematischen Überlegungen zu möglichen Übergängen. Deshalb sollen diese Fragen hier neu von dem Begriff der Lebenstätigkeit aufgegriffen werden. Der Begriff »Ende der Arbeitsgesellschaft« kann aber nicht nur die systematische Grundlage der Verteilung betreffen. Soweit Arbeit mit Zwang und Leiden verbunden wird, können wir uns weitgehend von ihr lösen. Das bedeutet aber auf gar keinen Fall, dass Spaß und Konsum an ihre Stelle treten sollen. Wir suchen einen Gegenbegriff zu Arbeit, zu dem Wort, das mittelhochdeutsch noch soviel wie Fron hieß. Sowohl Goethe wie Marx nennen ein tätiges Leben der Menschen, das deren Vermögen leiblich, seelisch und geistig ausbildet und etwas für sie selbst und andere bewirkt, Lebenstätigkeit. Das sind die Tätigkeiten, zum einen, die dem Leben dienen. Auf vielfältige Weise. Zum anderen entfaltet sich in diesen Tätigkeiten das Leben in uns, und unsere Wünsche, Fähigkeiten, Unterscheidungen, Vermögen entfaltet es durch sie hindurch. Den Begriff Arbeit abzulösen, können wir jedoch nicht umstandslos unternehmen. Hegel hat die Evolution der Gattungsvermögen auf ein geschichtliches Bewusstsein hin mit dem Begriff der Arbeit verbunden. Seitdem ist er immer weiter von anstrengender oder verbrauchender Verausgabung der Kräfte abgelöst und zu einem Oberbegriff geworden. Arbeit werden inzwischen alle Tätigkeiten genannt, für die ein Anspruch erhoben wird, dass sie irgendwie zu einem Gelingen von Lebensgeschichten und deren Bedingungen beitragen. Vielleicht ist sogar die alte Gegenüberstellung »ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« aufgehoben in Formeln wie der von künstlerischer Arbeit. Gerade von Schiller her haben wir dabei an das Spiel zu denken. Arbeit ist Abgrenzung gegen Spielerei und Spielerisches bis Zufälliges. Die Ergebnisse der Arbeit fallen nicht zu, jedenfalls nicht ohne wohlüberlegte Anstrengung. Der Arbeitsbegriff hat andererseits so viel vom wütenden Ernst an sich behalten, dass eine andere Ordnungsvorstellung sich noch nicht durchsetzen kann. Mit den Vorgängen eines Zusammen- und Wechselspiels verbunden laufen die Tätigkeiten Gefahr, unter all dem beschworenen Schweiß »der 145 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
Faust und der Stirn«, wie die Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts sagten, unterzugehen. Wir sind noch weit entfernt davon, Arbeit und Zusammenspiel der Kräfte und Vermögen einander durchdringen zu lassen. Andererseits ist der Begriff Arbeit auch nobilitiert, nicht nur durch die Kunst, sondern auch in den Therapien, im Seelischen überhaupt. Freilich ist auch diese Nobilitierung eine Vereinnahmung. Den Randgebieten der Realität, die als Infrastruktur den immer weniger gebändigten Flucht- und Ausgleichsbewegungen zum streng rationalisierten Betrieb gegenüberstehen, wird die Anerkennung nur gewährt, sofern sie Anpassung erkennen lassen. Der bloße Ausbruch ist als Verschwendung zu brandmarken. Georges Bataille hat genau da die Phantasie und die großherzigen Lebensgesten zu Recht wieder einzusammeln versucht. Seine Polemik gegen die wütende Zweck- und Arbeitsideologie ist nach wie vor profunde missverstanden. Der umgekehrte Weg nämlich wird immer eiserner blockiert auch durch ein widersprüchlich vertracktes Bündnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden. Beide Seiten arbeiten einander in ihren Kämpfen darin zu, dass sie immer unbedingter Arbeit als widerwärtige, widerwillige Anstrengung definieren. Das ist bereits durch die materialistische Definition von Arbeit in der herrschenden Ökonomie begründet, die Arbeit kategorisch reduziert auf bloße Verausgabung von Arbeitskraft. Entscheidend wird die Einstellung zum Arbeiten aber auch durch die psychologische Kriegführung in den Tarifverhandlungen, in den »Arbeitskämpfen« bestimmt. Um den Preis der Arbeit zu halten oder zu heben, betonen die Gewerkschaften alle negativen Seiten, weil der Lohn nur als Gegenleistung gegen Mühe, Schaden, Verlust zu bekommen ist. Die Unternehmer gehen in manchen Fällen sogar so weit, von einem gerechten Lohnabzug (Malus) zu sprechen, wo Arbeit riskiert, Freude zu machen oder die Arbeitenden in ihren Kenntnissen und Fähigkeiten weiterzubringen. Auf diesen und anderen Wegen hat sich jedenfalls in der allgemeinen Mentalität eine Einschätzung breitgemacht »was man gern tut, ist nichts wert«. Tatsächlich stehen die Arbeitswertlehre und die Bewertung, dass Arbeit das Gegenteil von Freizeit und Verhinderung der eigenen Lebensentfaltung ist, einander gegenüber. Dazwischen wird Arbeit zu so etwas wie einem Opfer der Einzelnen für ihr Recht auf Leben. Wie berechtigt oder berechnend alle diese Bewertungen unter bestimmten Umständen sind, sie wirken zusammen zu den jeweiligen Strukturen der entfremdeten Arbeit. 146 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
Und das ist wiederum nur eine Seite der Situation. Auf der andren brauchen Menschen, dass sie über einen positiven Beitrag Anerkennung finden. Ob dieser Beitrag als positiv bewertet wird, hängt leider unter den Kriterien einer auf Umsatz und Profit gerichteten Wirtschaft von materiellen Zahlen ab. Der Beitrag eines skrupellosen Spekulanten wird insofern mit einer überragenden Konsummacht und dem entsprechenden Ansehen honoriert. Die Anstrengungen, die das Aufziehen von Kindern eben auch bedeutet, werden nur mühsam und immer unangemessen honoriert werden. Sie gehören zur »Reproduktion der zukünftigen Arbeitskraft« und nicht zur Produktion im marktwirtschaftlichen Sinne. »Familienpolitik« ist Sonntagsrednerei. In Budgetstreichungen kommt Kultur immer an erster Stelle. Bei Finanznot der Universitäten werden als erste die geisteswissenschaftlichen Fächer gestrichen, weil da profitable Anwendung kaum erwartet wird. Menschen brauchen aber ohnehin mehr als die formale, monetär ausgewiesene Anerkennung, die sich nur in der Definition ihrer sozialen Rolle niederschlägt. Das ist ein sekundäres, ein defensives Bedürfnis, wo anderes vielleicht geschätzt wird, jedoch nicht zählt. Diese Realität steht im elementaren Gegensatz zur Wirklichkeit der Gattungsgeschichte, der Lebensgeschichten und den Anforderungen der Kultur an ihre ökonomische Basis. In nichts anderem lernen wir so deutlich und nachhaltig wie in unseren Lebenstätigkeiten uns selbst kennen und die Welt, entwickeln so wirkungsvoll unsere Beziehungen zu einem Gegenüber und uns selbst. Nirgendwo sonst entfalten sich so praktisch und so substanziell unsere Anlagen und die Arbeit an unseren Schwächen wie in den Wirkungen, die wir hervorbringen. Die dafür ungünstigen Bedingungen der Erwerbsarbeit verstellen und verkümmern solche Aussichten. Dennoch wird die Erfüllung des vielleicht ursprünglichsten anthropologischen Bedürfnisses nach einem gelingenden Mitwirken wesentlich in den faktischen Berufen gesucht. Sie wird dort teilweise auch gefunden, wo immer menschliche Beziehungen eine Chance dazu haben unter den objektiven Strukturen, die es so oder so zu bedienen gilt. Der Begriff Arbeit ist mit all diesen Erwartungen und Verhinderungen belastet. Er ist ambivalent wie das Wort Leistung, das mit dem Stolz auf Geleistetes, aber genauso mit dem abstrakten Leistungsdruck verbunden wird. Bei Lebenstätigkeit denken wir, scheint mir, an alle die positiven Zusammenhänge und Bedeutungen der Arbeit und sind aufgerufen, sie von den negativen so weit zu befreien, wie es in 147 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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den jeweils herrschenden oder herstellbaren Verhältnissen einer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft und ihren Beziehungen zu sich und der Welt möglich ist. Diese Widersprüche, in denen sich verwirrt, was von Arbeit erhofft und befürchtet, durch Arbeit aufgebaut und zerstört wird, zeigen zweifellos, dass unserer Gesellschaft auch in der anthropologischen Perspektive eine Ordnungsvorstellung fehlt. Ordnung würde bedeuten, dass wir wenigstens versuchen würden, die unterschiedlichen Funktionen und Wirkungen der Arbeit zu differenzieren und zu einander in Beziehungen zu setzen. Stattdessen bleiben Strukturen unterschiedlicher Teilparameter neben einander stehen, auch wenn die einen die Aufgaben der anderen behindern oder verkehren. Das kann man nicht zu einem gesunden Wettbewerb der Zielvorstellungen erklären. Die Parameter ökonomischer Kalkulationen und menschlicher Bildungsgeschichte und verschiedener Wege der Gattungsentfaltung sind einfach nicht kompatibel. Wertvorstellungen und Entscheidungen kommen nicht durch Marktmechanismus zustande. Markt kann sie nur zum Ausdruck bringen durch Nachfrage, deren Inhalte bereits von ihnen bestimmt werden. Das nehmen allerdings die Ideologen der westlichen Freiheit zum Anlass, das nicht Kompatible wohlweislich auseinanderzudividieren in objektive Erfordernisse und subjektive Gefühle. Wenigstens ein gemeinsames Paradigma für eine zu ermöglichende Zukunft ist vorgezeichnet. Einerseits eignet sich dazu das frühe Marx’sche Modell der Entfaltung der Genussvermögen und der Differenzierung der Produkte. Eine Dialektik wechselseitiger Anregungen findet sich in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«. Durch den Genuss, genauer die wachsende Genussfähigkeit der Menschen wird eine ökonomische Triebkraft zu immer neuen und eben auch sinnvolleren Produktionen freigesetzt. Veränderte Produkte und Leistungen rufen neue Varianten der Wahrnehmung wach; diese fordern zu neuen Verwirklichungen der differenzierteren Vorstellungen auf. In der Lehre von Karl Marx ist dieses Modell freilich in allgemeinsten Andeutungen historisch anthropologischer Art liegen geblieben. Marx hat im Haupt- und Spätwerk fast ausschließlich die polit-ökonomischen Aspekte ausgeführt, und zwar eigentlich in den engen Grenzen der Konzepte der Theorie und auf dem faktischen Fundament der bürgerlichen Ökonomie, wenn auch kritisch gegen diese gekehrt. 148 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
Die andere Seite der Bildung menschlicher Ansprüche und Vermögen ist in dem Goethe’schen Entwurf geschildert als geschichtliche Entfaltung in den Menschen und durch sie. Goethes Kritik an der rücksichtslosen, für eben diese Bildung blinden kapitalistisch-industriellen Beschleunigung steht unter dem Motto einer Entgegnung gegen das »Veloziferische«. Zwar ist der Begriff geistig bestimmt; ausgeführt wird er aber, insbesondere im »Faust zweiter Teil« historisch sowie ökonomisch gegen menschen- und weltverachtende Bemächtigung. Goethe sieht, anders als bei Marx ausgeführt, die wirkliche Gesellschaft in den je lebenden Individuen verkörpert und ist damit konkreter, als der Ideologiekritiker es mit seinen abstrakten Analysen zu begreifen gibt. Andererseits verzichtet der Dichter im Wesentlichen darauf, die historischen Voraussetzungen menschlicher Bildung in den herrschenden Verhältnissen der real verfassten Gesellschaft zu reflektieren. Die beiden Ansätze kann man selbstverständlich als subjektivistisch bzw. als objektivistisch kritisieren und sich dabei auf ihren Gegensatz fixieren. Man kann aber auch bereit sein, diesen Gegensatz und die Kritik an der einen wie der anderen Seite festzuhalten, um darüber hinaus eine Konvergenz zu begreifen. Dann wird man nicht unbeeindruckt bleiben davon, dass bei beiden Autoren mit wesentlicher Bedeutung dieser eine Begriff auftritt: Lebenstätigkeit. Nicht hohe Kunst einerseits, verschleißende Verausgabung der Kräfte andererseits, sondern Lebenstätigkeit. Leistungen für den Erhalt des Lebens und Ausbildung der menschlichen Vermögen als Erfüllung des Lebens sind nicht notwendig als Gegensätze zu begreifen. Wir dürfen keine Gelegenheit und keine Bedingung versäumen, die uns versprechen, diesen Wunsch und diese Aufgabe der Menschheit zu verwirklichen. Dieser Wunsch und diese Aufgabe sprechen von individuell zu verwirklichender Bildung und von gesellschaftlicher Entfaltung der Gattungsvermögen in einem. Dazu gehört über beide Seiten hinaus eine Dimension, die in diesen beiden Ansätzen, jeweils stellvertretend für viele weitere, nur angedeutet wird. Die menschlichen Leistungsund Genussvermögen entfalten sich wesentlich im Miteinander der Menschen. Bei Marx kommt dies nur reduziert auf den ziemlich allgemein historischen Terminus Kooperation vor und reduziert auf den biologischen von animal spirits. Goethe beschränkt sich auf Schilderungen freundlicher Geselligkeit, individueller Freundschaften und 149 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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utopischer Gemeinschaften, die sich vor allem im »Wilhelm Meister« finden. Marx hätte sie, zynisch und nostalgisch zugleich und nicht ohne Berechtigung, »gemütliche Knechtschaft« genannt. Die heutige Welt der liberal democracy ist nicht weniger knechtisch abhängig von zentralistischen und mechanistischen Strukturen und deren Macht, als es die spätfeudale im ancien régime war. Das lässt allenfalls Stimmungen der Sehnsucht nach noch weiter zurückliegender Nähe und Wärme aufkommen, deren einstige Verhältnisse doch allen Heutigen unerträglich eng wären. Eine neue Suche nach einem anthropologischen Paradigma für alle genannten Aspekte erscheint jedenfalls den meisten als hoffnungslos »unrealistisch«. Was das Miteinander betrifft, so richtet sich unsere Organisation der Gesellschaft immer entschiedener an dem Konkurrenzprinzip der Marktmechanismen aus. Die Urzellen des Gemeinsinns im praktischen Zusammenwirken, auf die Adam Smith seinen Mechanism gegründet sah, werden immer gegenstandsloser. Die dem entgegenlaufende Notwendigkeit, ebenso immer stärker kooperativ zu operieren, wird in der ambivalenten Form des team work gefordert. Dabei sind aber die jeweils, mehr oder weniger, notgedrungen Beteiligten durch die Funktionen ihrer Leistungen aneinander gebunden, in ihren Verantwortungen gehen sie aber getrennter Wege. Gerade in dieser Hinsicht sollten Entfaltungschancen am Rande oder außerhalb des industriellen Sektors, so bedrängt sie ohnehin sein dürften, nicht durch den strategischen Anschluss zunichtegemacht werden. Geselligkeit der Menschen muss wiederbelebt werden, statt dass Randzonen eingemeindet werden in die Mechanismen einer »ungeselligen Gesellschaft«, wie Kant sie früh und radikal charakterisierte. Wir brauchen dagegen mehr und anderes als bloß mechanische »Vernetzungen« von Kommunikation und Produktion. Die Gesellschaft als kulturelle Gemeinschaft ebenso wie wir als Einzelne mit unseren Gruppierungen bedürfen der verbindenden Gegenerfahrungen. Das viel beschworene Konzept der Teilhabe, der Partizipation, kann nur in wechselseitiger Anregung der Tätigkeiten und gemeinsamer Mitteilung ihres Sinns und Zwecks seine Wirklichkeit und seinen Ausdruck finden. Den Ernst der Arbeit, der ihr zur Anerkennung verhilft, macht wesentlich aus, dass sie auf vorgegebene Ziele gerichtet sein soll und an deren Erreichen gemessen werden kann. Der mögliche Charakter solcher Ziele hat sich soweit ausgedehnt, dass in einem freilich eher 150 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
metaphorischen Sinne selbst da von »künstlerischer« oder von »therapeutischer Arbeit« gesprochen wird, wo die Annahme eindeutiger Ursache-Wirkungsketten kontraproduktiv wäre. Lebenstätigkeit ist der glücklichere Ausdruck, weil sie dem Grundsatz der Wechselwirkungen folgt. Sie bindet immer ein Wechselspiel um bestimmte Vorgänge zusammen. Auch hier gibt es Anforderungen und Erwartungen auf Ergebnisse, die in der einen oder anderen Form gebraucht werden. Aber die Tätigkeiten dürfen einem Bewusstsein für das Wechselspiel folgen zwischen den Seiten und Schichten und Vorgeschichten eines Vorgangs. Eindrücke, Anschauungen und Deutungen der Natur uns gegenüber, unsere Einwirkungen auf sie werden uns bewusst, indem sie zugleich unsere Vermögen ausbilden. Wir werden uns ebenso unserer inneren, eigenen Natur und Geschichte, in kleinen Ausschnitten, gewahr. Was wir uns vornehmen und tun, darf dann Etappe einer »Wirkungsgeschichte« sein, wie Gadamer das nennt. In ihr verfließen die Seiten und Schichten, einander weiter prägend. Wenn dies alles in die gesellschaftliche Institution Erwerbsarbeit eingebracht werden soll, wird es den Kategorien der »Produktivität« in Umsatzzahlen, des monetären Entgelts und der betriebswirtschaftlichen Organisation unterworfen. Aus diesen Definitionen ergibt sich, was inzwischen auch »die formelle Arbeit« genannt wird. Formelle Beschäftigungen sind typischerweise durch eine systematische Fremdbestimmung und eine Ferne gegenüber Natur und Geschichte gekennzeichnet, weil die Logik des business ihren partiellen Strategien folgt. Zu den meisten Verrichtungen gehören faktisch immer noch gewisse Wahrnehmungen, Erfahrungen sinnlicher Art und Geschicklichkeiten. Deren Entfaltung ist nicht nur das subjektive Bedürfnis der Menschen. In einem gewissen Umfang erfordern die Abläufe entsprechende Qualitäten, nur reduziert auf Fragmente des gestischen Wissens, zu dem sie eigentlich führen, und wie nebenbei vorausgesetzt. Die Form der formellen Arbeit wird bestimmt von der Produktionsanweisung, die ihrerseits systematisch nicht aus dem tätigen Prozess, sondern aus den Konstruktionsprinzipien des Produkts und der Produktionsmittel abgeleitet wird. Bei der neueren Betriebsorganisation werden psychische Momente so weit einbezogen, wie sie einem glatteren und zugleich rationelleren Ablauf dienen können. Job design passt sich den subjektiven Bedingungen an, um diese den objektiven Kalkülen anzupassen. Die Ambivalenz öffnet sich für gewisse Aspekte der Lebenstätigkeit, aber nur mit sehr zweifelhaftem Ausgang. Gemeint ist sie als Vermei151 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
dung von Reibungsverlusten der rationellen Planung an den Momenten von Mensch und auch Natur, die gerade auf die Entfaltung angelegt sind, in dem Konflikt mit der gewollten Mechanik aber irrational erscheinen. Das hindert inzwischen aber die Planer nicht mehr, diese Anlagen auszunutzen in raffinierten Formen, die ihre Planungen nicht stören und die Betriebsergebnisse fördern sollen. Ein prominentes Motto heißt »Mensch-Maschine-Verschaltung«. Wie überzeugend oder paradox auch immer, was der bürgerlichen Gesellschaft als die privaten Aspekte der Arbeiter gilt und was darum marxistisch der subjektive Faktor genannt wird, hat die Bedeutung eines »objektiven Faktors Subjektivität« unabdingbar erlangt. Damit hat die formelle betriebswirtschaftliche Organisation, theoretisch und prinzipiell gesehen, ihre Ignoranz gegenüber den wirklichen Lebenstätigkeiten aufgegeben, freilich ohne den Konflikt zu analysieren und ohne die Bedingungen und Möglichkeiten dessen anzuerkennen, dem ihre Strategien weiterhin jede eigene Bewegungsfreiheit nehmen. Dieser Ambivalenz sich bewusst zu werden, ist umso wichtiger, als sie immer entschiedener immer mehr Gebiete der Gesellschaft beherrscht. Wo wird nicht Kreativität gefordert und gleichzeitig der Boden, auf dem sie wachsen könnte, durch Operationalisierung sterilisiert? Operationalisierende Didaktik macht die Schulen zu Lieferanten untergeordneter Funktionsträger, statt authentisch denkende und handelnde Individuen hervorzubringen, die darin geübt sind, Zusammenhänge zu erkennen und sich in Wechselbeziehungen einzubringen. Das war vor Jahrzehnten schon einmal erkannt worden. Auf die globale Konkurrenz und auf das Schwinden der Geldmittel finden die westlichen Kulturen nun aber keine bessere Antwort, als genau diese Strategien als den Königsweg zur Effektivität auf allen Gebieten zu betreiben. Wir haben die Umorganisation von Erziehung durch Experten wie Roland Berger als Verbetriebswirtschaftlichung kritisiert. Universitäten, Künste und die sogenannte »Kultur« werden als erste in dieses Prokrustesbett gezerrt. Gesundheit wird, nach scheuen Andeutungen sogenannter »ganzheitlicher« Medizin, wieder auf Reparatur von Krankheiten zurückgefahren. Dies alles zeigt, dass jegliche Vorstellungen von gelingendem Leben für die Menschen als Individuen und für unsere Gemeinwesen fehlen oder als »unrealistisch« abgewiesen werden. Das liegt eben auch daran, dass Effektivität nicht an bestimmten Wünschen und Zielen qualitativ gemessen wird. Effektivität wird aus dem Status einer Hilfskonstruktion selber zu einem »Wert« befördert, 152 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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der sich einzig dadurch empfiehlt, dass er rein quantitativ ist. Wer mehr »unrentable« Budgets gestrichen hat, ist allzu oft der tüchtigere Manager, Politiker usw. Von dieser Absage daran, Wünschenswertes auch nur suchen und fassen zu wollen, werden wir uns auch dann nicht so leicht erholen, wenn die Finanzen neuen Reichtum ermöglichen. Was Handke längst als die Gefahr eines »wunschlosen Unglücks« in den Biographien der Einzelnen beschrieben hat, wird zur obersten Maxime der verwalteten Welt. Gleichzeitig entwirft die Werbung für Konsum Bilder von Glück durch die Vermehrung der Wünsche. An dem Ersatz von Lebenswünschen durch Effektivität, wenn auch mit den unausweichlichen Umwegen, ist lange gearbeitet worden. Absurderweise heißt das Leitbild »Lebensqualität am Arbeitsplatz«, unter dem eine kuriose Mischung von Motiven zu einem Ersatz für das verklumpt sind, was der Begriff erhoffen ließ. Wie an vielen Baustellen unserer Umorganisation der Gesellschaft haben sich die kontroversen Interessen in scheinbar neutrale Argumentationen durch Verwissenschaftlichung gerettet. So wurden einerseits offensichtlich Schädigungen reduziert, die sich physikalisch-anatomisch oder chemisch-physiologisch nachweisen lassen. Andererseits wurden Annehmlichkeiten wie Pausen, Teamwork und dergleichen eingeführt, und zwar in der Regel so weit, wie Ergonomen und Betriebswirte festgestellt haben, dass diese Veränderungen mittelbar der faktischen Arbeitsproduktivität im konventionellen, quantitativen Sinne förderlich sind. Nur wenige Unternehmer haben darüber hinaus Phantasie dafür entwickelt, wie Lebensbewegungen in die Arbeitswelt eindringen könnten. Die Mehrheit der Manager hat die sentimentalen Seiten patriarchaler Fürsorge nur zu gern den neuen wissenschaftlich begründeten Standards geopfert. Eine Stellenvermittlungsfirma nennt sich man power, was ja bekanntlich in horse power umzurechnen ist und ein Viertel PS ergibt. Das Wortspiel mit der Reduktion auf die physische Arbeitskraft wird dann in der Reklame mit der Behauptung aufpoliert, dort gäbe es »Spaß«. Freude wäre, worum es wirklich geht. Die Gewerkschaften haben insgesamt ebenso wenig auch nur Ansätze zu Visionen hervorgebracht, aufgegriffen oder auch nur geduldet, wie Arbeit in Formen des Lebens verwandelt werden könnte. Wirtschaft soll die Minimalforderungen der Überlebenssicherung maximieren. Das Leben selbst oder gar Entfaltung ist Luxus und gehört, bestenfalls, in die Freizeit. Dort aber werden sie nach derselben traurigen Logik, die »Produktion« und »Reproduktion« ordentlich getrennt hält, ebenso wenig eine Aufgabe des 153 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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schöpferischen Umgangs mit Alltäglichem und Außergewöhnlichem, sondern zur Pflicht des Konsumbürgers. Gerade außerhalb des »formellen« Sektors bestehen Chancen und können die Bedingungen dafür entstehen, dass die heute schon vorwiegend ins Therapeutische verwiesene »Selbstverwirklichung« und das Schaffen von ökonomischen Werten in einem erlangt werden. Die sogenannten Motivierungsstrategien sind anthropologisch und sogar biologisch an sich überflüssig bzw. schädlich. In allem Lebenden waltet ein Drang zur Entfaltung. Das beinhaltet zwar auch den Impuls zum Ringen mit dem, was ihn behindert. Es degeneriert aber zum Zerstörerischen erst unter Bedingungen systematischer Frustration, also auferlegter Hemmungen, die eine eigene Beteiligung an dem Charakter der Anstrengungen verwehren. Die typischen Deformationen sind entweder Aggression oder Apathie, möglicherweise auch beide zugleich. Sozialpsychologische Strategien wie Motivation und Spaß geben zu erkennen, dass die deformierenden Bedingungen weiter herrschen sollen, deren ungelegene Symptome aber in eine erwünschte Richtung verschoben werden sollen. Sonst wäre eben der Begriff Freude der richtige, und nicht Spaß. Freude ist die existenzielle Antwort von Menschen auf jedes Erleben, das uns an Fülle teilhaben lässt. Nach außen und von außen an Fülle teilzuhaben, bewirkt im Innern einen freieren Fluss der Kräfte, sowohl im physiologischen wie im psychischen, aber auch im mentalen, kognitiven Sinne. Es herrscht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Gestus des inneren Stoffwechsels und dem der Wechselbeziehungen mit der Umgebung, der Mitwelt, und zwar sowohl im physisch wörtlichen wie im geistig-seelisch übertragenen Sinne. Die Steigerung der Kräfte, die Öffnung von Verkrampfungen und Blockaden kann man technisch als Induktion, homöopathisch als Ansteckung oder wie immer bezeichnen; sie ist jedenfalls weder unmittelbar zu messen noch unter Kommando und Kontrolle herzustellen. Deshalb begnügte sich Marx damit, von animal spirits zu sprechen. Diese eher naturwissenschaftliche Klassifikation lässt die einander antwortenden Vorgänge unbeachtet. Resonanz dagegen öffnet immer die Vorstellung von einem Feld und von Bewegungen sowohl zwischen seinen Seiten wie in diesen selbst. Sie ist ihrem Wesen nach das, was eine normenbesessene Herrschaft über die Geschenke des Lebens als spontan verachtet und »informell« nennen muss. Das 19. Jahrhundert hat die wissenschaftlichen 154 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Anstrengungen darauf konzentriert, dem Leben so nahe und so unweigerlich wie möglich zu Leibe zu rücken und es nach den statischen und fragmentierenden Parametern der klassischen Physik zu erfassen. Das zwanzigste Jahrhundert hat diese Prinzipien und die nach ihnen konstruierten Modelle immer konsequenter den realen Lebensformen auferlegt und abverlangt, obwohl die naturwissenschaftliche Forschung selber an einigen, eigentlich grundlegenden Stellen zu ganz anderen Parametern übergegangen ist. Davon sollte endlich auch die theoretische Ökonomie und die sich wissenschaftlich verstehende Betriebswirtschaftslehre Kenntnis nehmen und zu neuen Einsichten finden. Dies geschieht im Zuge der Übernahme kybernetischer Systemtheorien eben nicht grundlegend genug. Die Gesellschaftsordnung auf der Basis von Erwerbsarbeitsverhältnissen ist faktisch so obsolet geworden, dass Alternativen erarbeitet werden müssen. Es zeigen sich allerdings vorerst eher ergänzende Modelle wie »die informelle Arbeit« (Scheer und Dahm). Die Autoren würdigen endlich die verschiedensten Chancen neben der institutionalisierten Erwerbsarbeit. In einem umfassenderen Sinne ist der Begriff »informelle Arbeit« aber auch zu kritisieren. Sowohl der Geschichte des Begriffs und seiner theoretischen Konsequenzen nach wie auch am vorliegenden Modell wird alle menschliche Leistung, obwohl zugleich die »formelle Beschäftigung« problematisiert wird, auf diese bezogen. Was die Soziologie als informell bezeichnet hat und bezeichnet, ist immer unter den systematischen Legitimationszwang gegenüber formellen, das heißt gesellschaftlich institutionalisierten Strukturen gestellt worden. Das bildet nur zu genau die wirklichen Verhältnisse ab. Wenn in der Industriesoziologie von informellen Gruppen gesprochen wird, heißt das, dass Beziehungen zwischen Mitarbeitern festgestellt und der Beurteilung als nützlich zu duldende oder als unkontrollierbar gefährliche unterworfen werden müssen. Diese Beurteilung führt dann im einen Fall zu, meist stillschweigender, Ausnutzung, im anderen zu auflösenden oder aufsprengenden Organisationsmaßnahmen von Seiten der Betriebsleitung. In dem Modell »informeller« Leistungen wird letztlich doch nach den Prinzipien der »formellen Arbeit« evaluiert. Sie sollen sich als effizient erweisen, indem sie in die Form konventioneller Erwerbsarbeitsplätze übergeführt werden können. Vom Wuppertal-Institut etwa ist für dieses Modell zugleich die Forderung nach »Öko-Effizienz« und »Suffizienz« erhoben worden. Sie ist zunächst weitgehend, inso155 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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fern qualitative Kriterien eingeführt werden. Die Auswirkungen müssen aber so lange sekundär bleiben, als eine formelle Ökonomie mit ihrer Steuerung durch Profit für Kapital – neoliberal als share holder value bezeichnet – nur moderiert, nicht aber um andere, eigene Arbeitsformen ergänzt werden soll. Zweifellos ist es durchaus nützlich, die Definitionen durchlässiger zu machen und das Reservoir an formellen Arbeitsplätzen sich in einem informellen Umfeld der Erprobungen regenerieren zu lassen. Dieses Modell darf aber nicht verdecken, dass ganz andere Formen von Arbeit und Lebenstätigkeit in ganz anderen Sektoren des Wirtschaftens neue Aussichten eröffnen. Das kommt nicht in den Blick. In die gleiche Richtung weist die unverändert fortgesetzte Terminologie, in der neue Ziele in der Ökologie formuliert werden. So wird der Begriff Effizienz gebraucht. Er suggeriert unmittelbar kalkulierbare Ursache-Wirkungsketten. Da es diese in den komplexen Zusammenhängen der Natur so isolierbar kaum gibt, kann der Begriff nicht wirklich ökologisch sein. Noch deutlicher ist dies, wo weiterhin von Ressourcen gesprochen wird. Natur bietet uns Quellen, sources, nicht Nachschub für unseren Verbrauch. Eine systematische Ergänzung der konventionellen Erwerbsstrukturen ist notwendig. Andere Leistungsvermögen der Menschen müssen in anderen Formen Eingang in die offiziell geltende gesellschaftliche Organisation finden. Tatsächlich, aber nur im Status von Hilfsgrößen, ist dies immer der Fall gewesen, in Hausarbeit, Nachbarschaftshilfe usw. Diese Formen sind weiterhin von Bedeutung, und zwar lebensnotwendig. Neue kommen hinzu. Grundsätzlich sind sie aber nicht anerkannt als Sektoren der Produktion. Dieses wird umso wesentlicher, als die immer weiter freigesetzten menschlichen Vermögen, die in der konventionellen Ökonomie nur als Arbeitslosigkeit oder Schwarzarbeit oder privates Hobby zur Kenntnis genommen werden, eigenen produktiven Status außerhalb des industriell-kapitalistisch-monetären Sektors – oder in Zwischenformen – erhalten müssen. Es geht also um andere Bestimmungen dessen, was produktiv sei, als die der bürgerlichen und der marxistischen Arbeitswertlehre mit ihren ausschließlich monetären Definitionen. Entsprechend wird auch neu zu begreifen sein, was ökonomisch – und nicht nur psychologisch usw. – als Bedürfnisse gelten soll. Der Begriff »informeller Arbeit« bleibt auf der Ebene soziologischer Beschreibung und verdeckt strategisch den zu leistenden Wechsel 156 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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des anthropologischen Paradigmas. Er verdeckt taktisch, zusammen mit dem gesamten Instrumentarium der ökonomischen Theorie im Dienste sowohl des liberalen wie des marxistischen Industriekapitalismus, die historische Situation der Industrieländer. Die seit zweihundert Jahren vorbereitete Befreiung der Menschen von entscheidenden Teilen und Dimensionen der Last zur Sicherung der Lebensvoraussetzungen ist in einem Maße gelungen, das wir noch gar nicht wahrgenommen haben. Der so lange erstrebte Gewinn kann nur negativ verbucht und beantwortet werden, weil die theoretischen und die praktischen Konzepte zu seiner Umsetzung fehlen. Auch die Autoren des »Wuppertal-Instituts« betonen, dass wir über eine falsche Alternative von »Erwerbsarbeit« einerseits und »Befreiung von Arbeit« überhaupt hinausgelangen müssen. Sie kritisieren entsprechend den »Zerstreuungs-« und »Verschwendungs«charakter der sogenannten Freizeitbeschäftigungen. Adorno pflegte die Institution der kleinbürgerlichen »Hobbys« zu verspotten. Er ahnte den betrügerischen Charakter des do it yourself und opponierte dagegen. Er sah darin eine Ablenkungsstrategie, ebenso wie in der »Kulturindustrie«, mit der an sich frei werdende Potentiale der Menschen ins Abseits von dem gedrängt werden sollen, was in der Gesellschaft zählt und damit auch ein Mitspracherecht begründet. Es geht um wirkungsvolle Tätigkeiten, nicht um Beschäftigungstherapie. Die Anerkennung von wirklich »selbstbestimmter Tätigkeit« wird in einer modernen Industriegesellschaft verweigert. Das geschieht nicht nur, weil niemand bemerkt, dass das immer noch gegebene Nebeneinander z. B. von Hausarbeit und Nachbarschaftshilfe mit der industriell-kapitalistischen Produktion funktioniert, das heißt, unsere Wirtschaft ohne dies gar nicht funktionieren könnte. Viel schlimmer dürfte eine lähmende Angst sein. Unsere Gesellschaften machen wir scheinbar immer beherrschbarer, kontrollierbarer. Wir suchen Sicherheit durch möglichst totale Abhängigkeit von zentralistischer Planung, die in Wirklichkeit das Gefüge der sozialen Beziehungen schwächt und aushöhlt. Unübersehbar werden die Tendenzen zur Konzentration, z. B. durch große und kleine Fusionen, im westlichen Kapitalismus so stark, dass die Überwindung des östlichen Staatskapitalismus das Problem eben nicht beseitigt, sondern nur verschoben hat. Die Erstarrung in solchen Strukturen ist, das ahnen wohl viele, ohne es sich einzugestehen, lebensgefährlich. Selbstbestimmten Bewegungen, die sie wieder flüssig machen könnten, wird aber gerade Geltung versagt. 157 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Der falsche Neoliberalismus macht sich die notwendige Argumentation nur scheinbar zu eigen. Er verlangt »Eigenverantwortung« nur auf der Ebene, wo die starren Strukturen des Wirtschaftssystems die Existenz der Einzelnen in Frage stellen. Dass andere Impulse zu einer grundlegenden Umorganisation die unangemessenen Strukturen selber verändern, wird von den Politikern der Freiheit und der individuellen Initiative gerade nicht zugelassen. Mit anderen Worten: Die Ökonomie muss in systematischer Unkenntnis ihrer eigenen Bedingungen gehalten werden, weil die Herrschaftsstrukturen sonst ebenfalls in Frage gestellt werden. Wie viel Sorge die große Industrie um ihr Volumen haben muss, wenn andere Sektoren anerkannt und vor Vereinnahmung geschützt werden, ist eine der wichtigsten anstehenden Untersuchungsfragen. Fraglos dagegen scheint mir zu sein, dass die Gewerkschaften, wie sie sich eben zu »Industriegewerkschaften« entwickelt haben, zu wahrhafter Selbstbestimmung nichts beizutragen haben, zumal sie ihre Macht selber durch Konzentration zu befestigen trachten. Von sehr vielen Ansätzen her werden die betonierten Strukturen eines eisern verteidigten Wirtschaftsaufbaus aufzubrechen versucht. Der Vorstoß für »informelle Arbeit« gibt dabei Gelegenheit, die Problematik grundsätzlich zu betrachten, ob eigenen Initiativen auch eigene Formen, Zeiten und Orte gegeben werden oder ob sie als Klammern in die morschen Strukturen eingebaut werden sollen. Andere Modelle versuchen bewusst, solche Integrationsstrategien abzuwehren, die eigentlich auf Vereinnahmung hinauslaufen. Seit einem Jahrhundert wird damit experimentiert, für geleistete Arbeit Anrechtsscheine auszugeben, die nur regional gültig sind und innerhalb einer Wirtschaftsgemeinschaft eingelöst werden für entsprechende Gegenleistungen. Auch die »Bauhausakademie« hebt in ihrem Forschungsprojekt zu unterschiedlichen Arbeitsformen dafür die Gruppierungen hervor, die sich um die Szell’schen Entwürfe zunächst in Bayern, dann in Brasilien gebildet hatten. Vielleicht kann man diese und andere praktische wie theoretische Entwürfe so charakterisieren: Sie erkennen die Vorzüge, die Notwendigkeit der Arbeitsteilung an, suchen aber die Entfremdung aufzuheben. Entfremdung kann als die Folge anonymer und ungleicher Abhängigkeit bestimmt werden. Solche Abhängigkeit bedeutet die Verzerrung der in der Arbeit wirksamen Beziehungen zwischen den beteiligten Menschen durch Macht im Dienst von Partialinteressen. Inzwischen werden Experimente er158 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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neuert, den Austausch von Leistungen und Gegenleistungen an eine bestimmte Region mit ihren Menschen konkret zu binden. Die Anonymität des Austauschs zwischen einander Fernen verschleiert dagegen diese Strukturen mit dem Anschein quasi naturbedingter Notwendigkeit. Alle Vorstellungen von gesellschaftlicher »Entzerrung« müssen auf diese ökonomische Grundbedingung reflektieren. Dies gerade zu vermeiden, ist die Funktion des modischen Begriffs »Kommunikation«. Darum hat er Hochkonjunktur. Kommunikation, die nicht wirklichen Beziehungen zwischen den Menschen Raum schafft, hat kompensatorische Funktion. Es ist eben auch unklar, wie das Habermas’sche Modell eines »entzerrten Diskurses« wirksam werden soll, ohne dass die Achtung der Beteiligten für einander sich ebenso in wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Übermacht realisiert wie in moralischer Anerkennung des Anderen. Diese Forderung muss übrigens keineswegs quantitative Gleichheit voraussetzen. Die Qualität selbstbestimmten Handelns muss gewährleistet werden, soweit dies überhaupt die Bedingungen einer menschlichen Lebensgeschichte zulassen. Gegenentwürfe werden immer wieder daran ausgewiesen, dass sie Geld abschaffen. Um sicher zu sein, dass dies nicht einfach eine ideologiekritische Antwort auf eine ideologische Praxis ist, müssen wir die Wirkungen gegenüber Abhängigkeit und Anonymität untersuchen. Hervorragend eignet sich dafür der Entwurf, dem Christine von Weizsäcker und Willy Bierter den Namen »Eigenarbeit« gegeben haben. Dabei haben wir gesehen, wie Menschen selber bestimmen, woran sie arbeiten, wie und wann und für wen. Dieses Ideal könnte leicht völlig marginal erscheinen, wenn einem dazu nur die Großmutter einfällt, die ganz nach Neigung strickt oder häkelt, was und wann und für wen sie mal Lust hat, oder der Gärtner, der gepflanzt hat, was ihm Spaß macht, und gelegentlich die Früchte verschenkt. Dies wären hübsche Beispiele, aber keine Wirtschaftsform, wie wir sie darzustellen versuchen. Sie können aber auch als Stellvertreter gesehen werden für eine ganze Dimension anderen Wirtschaftens. Anders kann, so haben wir gesehen, verschieden bestimmt sein. Sie ist anders als die industrielle Herstellung von Waren und Leistungen, indem das individuell erworbene Geschick und Wissen – und nicht eine Technologie – die Vorgänge, ihre Ergebnisse und deren Eigenschaften beherrscht. Sie ist anders als die kapitalistische Strategie, in der die Leistung und ihr Nutzen nur Vehikel zur Vermehrung des abstrakten, neutralen und prin159 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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zipiell unbegrenzten Wertsystems Geld sind. Sie ist anders, weil sie nicht die Menschen über ein anonymes Verteilungssystem mit einander verbindet. Vielleicht bildet sie eine Art ganz konkreten Marktes ohne das Bewertungssystem Geld, also in einem freien Austausch von Gaben. Gerade höre ich aus Uganda, dass dort ein letzter Nomadenstamm den Gabentausch mit den ansässigen Bauern pflegte, indem die einen auf ihrer Wanderung den anderen Vieh schenken, zu einer anderen Jahreszeit diese ihnen Feldfrüchte schenken. Wir nähern uns von dieser anschaulichen Seite der grundsätzlichen Kritik, die Leopold Kohr »das Ende der Großen« genannt hat. Dieses Ende hat er, der Lehrer von F. E. Schumacher und Ivan Illich, nicht als Prophezeiung gemeint, sondern als Analyse der logischen Bedingungen für die Fortsetzung unserer Lebensformen. Die Größenordnungen der Austauschprozesse in der industrialisierten Welt und der technischen Aggregate wird kontraproduktiv. Diese offensichtliche Problematik steht im Gegensatz zu kalkulatorischen Vorteilen von Massenproduktion und zu Machtinteressen, die inzwischen globale Marktbeherrschung anstreben. Die technologische Entwicklung immer durchgreifenderer Kommunikationsmedien ist der Versuch, wenigstens die Koordination der Beteiligten mit den Größenordnungen Schritt halten zu lassen. Der Transport nimmt absurde Ausmaße an. Die Ubiquität des Kapitals, das über die Bildschirme der Online-Transaktionen immer ebenso gut in Dubai oder Seoul oder Hintertupfingen auftreten kann, beschleunigt das Treiben ins Zu-Große freilich ohne Rücksicht auf Verluste anderer Art. Wie die Beziehungen der Menschen und die Materialisierung ihrer industriell definierten Bedürfnisse den Zerreißproben standhalten sollen, danach wird einfach nicht mehr gefragt. Das Spannungsverhältnis entwickelt sich dramatisch, und dies bleibt nicht unbemerkt. Es gibt inzwischen auch Ansätze zu Antworten. Islamische Banken versuchen, eine Grundlage von Geldgewinn in der Sache zu begründen, in die investiert wird. Dann werden die Geldgeber am Gewinn von Unternehmen beteiligt. Die Evangelische Kirche Deutschlands organisiert den Verleih von kleinen Guthaben an »Frauen in der Dritten Welt« als Starthilfe, um am Gelingen von Unternehmungen dann wieder weitere Notleidende teilhaben zu lassen. Viele verwandte Initiativen sind weltweit zu beachten; die große Entwicklung verändern sie sichtbar noch nicht. Eine resignative Einschätzung 160 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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ist meist zu hören: Das Äußerste, was man von Alternativen erwarten kann, sei eine gewisse Kompensation hier und da. Dieses Urteil ist makroökonomisch, also im Blick auf die globalen Strategien sehr wohl berechtigt. Umso wichtiger ist es, dagegen den Blick aus der Sicht der Erfahrungen am engsten Kreis des wirklichen Lebens und Erlebens ernst zu nehmen und zu schärfen. Dieser Weg verspricht substanzielle Stärke und strukturelle Schwäche. Das hängt zusammen mit einer weiteren grundlegenden Trennung, die unsere Gesellschaften des Privateigentums über die Ökonomie verhängt haben. Was innerhalb der Produktionsstätten vor sich geht, ist Privatsache der Eigentümer und grundsätzlich nicht Gegenstand des öffentlichen Bewusstseins. Im liberalen Rechtsstaat gilt dieses Privatrechtsprinzip auch, wo der Staat oder die Kommunen sich in der Position des Privateigentümers befinden. Selbst die Aktionäre in einer Aktiengesellschaft werden als letztes Einblick in die tatsächlichen Arbeitsvorgänge erhalten, falls sie sich überhaupt dafür interessieren sollten. Dagegen hatten sozialistische Staaten interessante Initiativen zum Programm. Ideologie, Propaganda und Gewalt haben zweifellos weitgehend überdeckt, was anfangs vielfach die Absicht gewesen sein dürfte. Den »Werktätigen« sollte ihre Werktätigkeit als eine wesentliche Dimension ihrer Lebenstätigkeit zurückgegeben werden. Die gesellschaftliche Arbeit sollte ein entscheidender Bereich des öffentlichen Lebens sein. Faktisch wurden die arbeitenden Menschen jedoch dieses Lebensgefühls und seiner lebensgeschichtlichen Bedeutung sofort wieder enteignet, indem sie dem Fortschritt der Politik zugeschlagen wurden. Diese bediente sich der Lebensgeschichten der einzelnen Menschen und ihrer Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Ganze nur zu Zwecken der Motivation und schlug die Erfolge einer zentralen Leitung zu. Die Freiheit in den westlichen Systemen bedeutet indessen nur, dass diese Form der Vergesellschaftung der Seelen mit ihrer totalitären Tendenz den Menschen erspart bleibt. Konkurrenz als Motivationsstrategie zu benutzen, mit allen Aspekten existenzieller Sorge, besetzt andererseits das Erleben auf vergleichbare Weise. Auch unter diesem Druck, und seiner Beschleunigung, werden die Spielräume blockiert, in denen Bildungsgeschichten sich entfalten können. In die gleiche Richtung wirkt, dass in den privat organisierten Erwerbsgesellschaften die Arbeit wohl Grundlage, aber nicht Gegenstand des öffentlichen Lebens 161 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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ist. Was Menschen da leisten, können sie nicht in die Felder der Geltung im gesellschaftlichen Leben vermitteln. Nur, wie viel Erwerbskraft, wie viel Geld sie dafür erhalten, also ihre relative Macht auf dem Feld des Konsums, wird sichtbar. Sichtbar durch Darstellung, nicht spürbar aus den eigentlichen Wirkungen. Da setzen die Hebel der Darstellungsindustrie an. Da liegt die Trennung, auf Grund derer die Bewusstseinsindustrie – vom Markenfetischismus bis zum Selbstfindungsgewerbe – sich der Lebensgeschichten bemächtigen kann. Diese Tendenzen passen vorzüglich zusammen mit der Strategie, unsere Sinneswahrnehmungen immer schärfer auf das Visuelle zu trimmen und Visualisierung gleichzeitig auf schnell wiedererkennbare Zeichen zu reduzieren. Diese Zeichen werden zwar jetzt meist Symbole genannt; sie hängen aber nicht substanziell zusammen mit einem wirklichen Geschehen, sondern sind konventionelle Stellvertreter, wie es die Semantiker uns lehren. In dieser Weise menschliche Wirklichkeit in die Dimension der Darstellungen zu verschieben, in der sie zusätzlich noch jeder Manipulation widerstandslos preisgegeben sind – man braucht nur an die »digitale Bearbeitung« von Bildwiedergaben zu denken –, ist nicht weniger ideologisch als die Inszenierungen des real existierenden Sozialismus. Die freiheitliche Vereinnahmung der Gemüter funktioniert nur raffinierter, eleganter. Sie unterläuft Bewusstsein, statt es in die Zwangsbeglückung zu treiben. Unterlaufen bedeutet, dass Reflexion und Widerspruch denkbar bleiben und nicht sanktioniert werden. Es fragt sich nur, auf dem Boden welcher Lebenserfahrungen sie denn ihre Bewegungsfreiheit und Energie gewinnen sollen? Gehen wir dem an einigen ausgezeichneten Geschichten nach. Welche Aussichten haben da Gegenmodelle wie der Hof von Christian und Andrea Hiß am Kaiserstuhl oder die Bäckereien von Lyonel Poilâne in Paris? Beide sind praktische Entwürfe für ein anderes Arbeiten. Beide sind an einer anderen grundsätzlichen Aufgabe ausgerichtet. Beide tragen im menschlichen Maß zur Wiedererfindung von Lebenstätigkeit bei. Als Poilâne in Paris die kleine Bäckerei seines Vaters in einem Haus des 18. Jahrhunderts erbte, warf er alle Maschinen hinaus, die um den alten Ofen herum installiert worden waren. Das könnte sich anhören wie Maschinenstürmerei. Sein Einsatz modernster Computertechnik auf anderen Ebenen beweist heute das Gegenteil. Damals ging es darum, die Maschine als Konkurrenten zur Kraft des Menschen und 162 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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seinen Sinnesvermögen auszuschalten. Poilâne will dagegen die Verausgabung von Kraft wieder einbezogen sehen in die Ausbildung sinnlichen Beurteilungsvermögens. Menschen müssen mit dem, was sie tun sollen, wirkliche Tätigkeiten entfalten, mit Herz, Hand und Verstand, wie Schiller dagegen sagte, dass wir »auf der Folter der Geschäfte zerrissen« würden. »Der Mensch muss bei jedem Arbeitsgang eine Entscheidung zu treffen haben«, wirklich bei jedem Handgriff Fähigkeit und Erfahrung im Abwägen bewähren. Darin allein werden sie bewahrt und weitergebildet. Nur so sind die Wirkungen nicht getrennt vom Leben der Menschen. Das nennt der Pariser Bäcker, der inzwischen in vielen solchen kleinen Backstuben Brot und Kuchen für zigoder hunderttausende herstellen lässt, seine »philosophie Poilâne«. Am Ofen gibt es kein Thermometer. Das würde die Menschen zu bloßen Vollzugsgehilfen einer mechanischen Information machen. Wenn sie vor dem Ofen stehen, den sie eben geöffnet haben, schätzen sie die rechte Hitze ein, indem sie die Farbe der Glut, natürlich auch die Wärme auf der Haut, aber auch das Geräusch des Feuers wahrnehmen. »All diese Sinne bilden zusammen ein treffenderes Bild als das eine Kriterium des zweifellos darin exakteren Messinstruments.« Was mir anthropologisch so wichtig erscheint – gegen die übliche beleidigte Kritik an unseren »Sinnestäuschungen« –, kommt hier praktisch zur Anwendung. Die Sinne sind eben keine Messinstrumente: Sie sind Organe des Menschen, der um sich und mit sich Wirkungen in Beziehungen zu bringen vermag. In diesem sehr großen Unternehmen einer Metropole wird auf dieser Grundlage erfolgreich produziert, weil eben nicht nur die Tätigkeiten wieder mit Qualitäten aufgeladen werden, sondern dies sich umsetzt in Qualitäten der Produkte. Die Brote und das Gebäck bringen Nahrhaftigkeit und die Reize des Geschmacks und der Konsistenz zusammen, die aufgrund der verschiedenen Getreidearten möglich sind. Die Mitarbeiter haben sehr viel über die Geschichte der Getreidesorten und ihre besonderen Eigenschaften gelernt. In der Bereitung des Teigs und am Ofen können sie ihnen die angemessenste Zubereitung zukommen lassen, so dass die Produkte lang frisch und haltbar bleiben. Die Unterschiede für Zunge und Magen sind deutlich und bekannt. Stammkunden und Laufkundschaft werden entsprechend beraten. Ein Bewusstsein von den Jahrtausenden der Techniken und kulturellen Bedeutungen hält alle diese Aspekte zusammen. Größe ergibt sich aus vielen überschaubaren Orten nebeneinan163 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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der. Industrialisierung erweist sich hier als überflüssig. Das ist keineswegs auf alle heute gefragten Produkte zu übertragen. Das Modell kann aber Umkehr da vorbereiten, wo sich die Leistungen oder Güter nicht für Standardisierung im industrialisierten Maßstab eignen. Landwirtschaft und Gesundheitswesen sind nicht die unwichtigsten Felder dafür. Andererseits ist Kapitalisierung dabei ebenso wenig ausgeschlossen. Wie deren Strukturen und Strategien in das Beziehungsgefüge sinnenhafter Arbeitsvollzüge eingreifen, wäre Gegenstand einer eigenen Studie. Sie wäre zwischen Sozialpsychologie und Physiologie, Ergonomie und Wahrnehmungslehre anzusiedeln. Ihr wichtigstes Problem wären Fragen der Interferenz: Wie stören Energien der Kontrolle, der Hierarchie, der Verwertungsinteressen, der Marktkonkurrenz und der Kapitalakkumulation die Energien der Selbstentfaltung an den Qualitäten des Produkts und des gemeinsamen Wirkens im Zusammenspiel mit den anderen Tätigen? Im Mittelpunkt aller Ausrichtungen für das Geschehen auf einem Hof, der den Strategien der industriellen Landwirtschaft entzogen wird, liegen die Beziehungen der Beteiligten und, durch sie, der Gesellschaft zur Natur. Ernährung ist im Grunde die intensivste und existenziellste Begegnung der Menschen mit den Angeboten und Bedingungen der Natur uns gegenüber. Stoffwechsel im buchstäblichen Sinne. Menschlicher Stoffwechsel kann aber nur wahrhaft gelingen, wo alle Ebenen des Menschseins beteiligt sind. Genau dies wird durch kalkulatorische Zwänge und technologische Vorgaben im heute konventionellen Massenbetrieb verhindert. Bloße materielle Plandaten verdrängen alles, was in der Begegnung zwischen Bauern und Boden und Pflanzen und Tieren Ausgangspunkte entstehen lässt für eine Deutung der Geschichte in der Welt – z. B. eine Dankbarkeit für das, was uns zuwächst, eine Anerkennung dessen, was unsere Anstrengungen sinnvoll macht und begrenzt und differenziert und in ein erfolgreiches Zusammenspiel führen kann. Es dreht sich alles um dieses Zwischen, in dem so viele Seiten verbunden werden müssen. Auf diesem Hof am Kaiserstuhl und in der Pflanzenzuchtanstalt von Gatersleben habe ich gelernt, was mir seither in vielen Feldern als Bedingung fruchtbarer Anstrengungen deutlich wird. Saatgut bewahrt seine Keimkraft nicht zeitlos, nicht gegen den unweigerlichen Wandel der äußeren Umstände. Es muss selber immer wieder den Wandel durchmachen, der mit dem Aussäen, Wachsen und Reifen erst in der neuen Ernte das Saatgut hervorbringt, das nun die Fortsetzung erlaubt. 164 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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In eben diesem immer neuen Eintauchen in die sich, wie geringfügig auch immer, verändernden anderen Momente bewahren und kräftigen sich die Befähigungen der Pflanzen, sich anzupassen an den Boden, an das Wetter, gegen Krankheiten. Der sorgsam beobachtende Landbebauer kann von einem dieser Kreisläufe zum nächsten eine Auswahl treffen für seine besonderen Bedingungen. Die identische Reproduktion ist steril, indem sie die übernommenen Anlagen nicht immer neu in das Wechselspiel einbringt, das neue Informationen generiert. Diese Einsicht ist sinngemäß zu übertragen. Wissen, das nicht in immer neuer Forschung, sondern als vorgegebener Bestand per Nürnberger Trichter einer Generation wie der anderen eingefüllt wird, ist bald ebenso steril. In der Geschichte von Beziehungen, welcher Art sie sein mögen, ist mechanische Wiederholung der Tod. Solche Erfahrungszusammenhänge sind ebenso die Grundlage erfolgreichen Wirtschaftens, wie sie erforderlich sind, um Grundmuster einer Kultur auszubilden und umzubilden. Das sogenannte »kulturelle Erbe« muss gerade so umgeschichtet werden wie ein Komposthaufen. Wenn wir einmal die Erwerbstätigkeiten darauf anschauen wollen, wo in ihren Vollzügen sich Momente von Lebenstätigkeit zeigen, brauchen wir eigentlich einen anderen Gegenbegriff als Arbeit, die eben auch weiterhin als Oberbegriff gebraucht wird. Im Ruhrpott sagt man deshalb »Maloche«. Deutlicher wäre allerdings ohnehin die Frage danach, was so wirklich nur um des Erwerbs, also der Bezahlung willen getan wird und wo immer wieder auch Momente der Tätigkeit um ihrer selbst willen ausgeübt oder gar zu eigenen Übungen gemacht werden. Gehen wir noch einmal von dem Satz Auguste Rodins aus: Alle in der Gesellschaft hassen ihre Arbeit, vom Straßenbahnfahrer bis zum Minister; nur die Künstler lieben sie. Das ist ihre Leistung für die Gesellschaft. Wir fragen also weiter: Was ist hassenswert an einer Tätigkeit und warum? Wir stellen bei den ersten Bildern bereits fest, dass sich eine andere Fragerichtung dazwischenschiebt. Was die einen lieben können oder was sie wenigstens nicht stört, kann andere zur Verzweiflung bringen oder zur Resignation. Dennoch gibt es Kriterien, die im Charakter der Tätigkeiten selbst liegen, zumindest darin, welche Geste der Ausübung sie uns abverlangen, auferlegen oder ermöglichen. Während wir eine Reihe von Berufen unter diesen Gesichtspunkten in einzelnen Szenen zu beschreiben versuchen, müssen wir zugleich uns bewusst halten, dass ein modernes Job design darauf angelegt ist, diese 165 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Unterscheidungen unterhalb der Schwelle des Bewusstseins zu halten. So sollen die freieren Momente, die in jeder traditionellen Arbeitsorganisation mit den erschöpfenden oder anders entfremdenden Anstrengungen in einen Rhythmus wie den des Atmens gebracht werden, systematisch benutzt werden, um die Unverträglichkeit beschleunigter Anforderungen unterschwellig zu integrieren. Integration ist nicht immer ein positiver Begriff; ebenso wenig der entgegengesetzte, Trennung. Die Geber und die Nehmer von Arbeitsstellen haben zwar beiderseits ein gewisses Interesse daran, sehr stark Arbeit und Freizeit zu trennen, freilich aus praktisch eher gegenteiligen Gründen. Die Werktätigen wollen so viel Freizeit wie möglich und nehmen dafür in Kauf, dass sich die Leistungsanforderungen in der Arbeitszeit entsprechend komprimieren. Eine Unternehmensleitung versucht, den Einsatz des Kostenfaktors Arbeit zu verringern, und setzt dieses Ziel durch Zusammenlegung und Automatisierungen um. Für die Tätigkeiten bedeutet die fortgesetzte Trennung, dass sich Arbeit verdichtet, bis die letzten Leerzeiten verschwunden sind und die Rhythmen erstickt werden, weil die Atempausen fehlen. Diese Entwicklung muss gar nicht immer auf dieser Ebene geplant verlaufen. Arbeitsorganisation wird primär aus der technischen Produktplanung abgeleitet; Ergonomie beschäftigt sich weitgehend nur so weit mit der Eigenheit menschlicher Vollzüge, wie dies einer physiologischen, inzwischen vielleicht auch psychologischen Anpassung an die Mechanik der technischen Zielvorgaben dient. Diese Vorbemerkungen sind notwendig, weil wir in der Beobachtung und auch in der Selbstbeobachtung der Tätigkeiten, wie sie zu sein scheinen, die tatsächlichen Wirkungen nur teilweise, oberflächlich und bedingt wahrnehmen. Wie anstrengend eine Verrichtung ist und welche unserer Organe dabei gefordert, überfordert und unterfordert werden, teilt sich der unbefangenen Wahrnehmung nur begrenzt mit. So befinden sich z. B. immer wieder Menschen im Ungewissen oder im Irrtum darüber, wie weit Schädigungen, unter denen sie zu leiden beginnen, auf der Arbeit oder im eigenen Haushalt, durch eigenes Ungeschick oder durch systematisch falsche Beanspruchung verursacht werden. Das gleiche gilt erst recht im Psychischen. Unzufriedenheit, überhaupt, mit den Arbeitsbedingungen oder den Lebensverhältnissen, mit sich selbst wird zwischen diesen Seiten hin- und hergeschoben, ohne dass eindeutige Zuordnungen offensichtlich sein müssen oder können. Ich sehe vor mir einen Mann, der auf einem hohen Hocker sitzt in einem hell ausgeleuchteten Raum, dessen lange Wand mehr Kontroll166 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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schirme einer neben dem anderen einnehmen, als ich auf Anhieb zählen kann. Er hat die ganze Schicht über Zählerstände, Lampensignale und Ausschläge von Zeigern zu überwachen. Einzugreifen, Alarm auszulösen, gilt es nur selten. Die Spannung ist umso enervierender, weil er sozusagen Aufmerksamkeit pur leisten muss – ohne dass ihn etwas wirklich von sich aus aufmerksam machen würde. Wie hält er das durch, Tag für Tag? Ist das Bewusstsein, mit seiner Verantwortung so viele, wenn auch vor ihm verborgene, Vorgänge zu beschützen, stark genug, um sich gegen eine dumpfe Routine gelegentlich zu melden? Ist eine Art von Macht über große Apparaturen zu spüren, obwohl sie nur durch Messgeräte repräsentiert ihm gegenüberstehen? Ist die meist sitzende Ausübung körperlich mit einem gewissen Wohlbefinden verbunden? Kann er die Anforderung als eine Übung darin erfahren, Aufmerksamkeit so ausdauernd zu leisten, ganz von seinem Willen abhängig und ohne nennenswerte Anregungen durch die minimalen Bewegungen von Zeigern, den Wechsel von Zahlen, die er im Blick behalten muss? Oder hilft die Vorstellung, dass er früher hätte von Kessel zu Kessel laufen, bei widrigen Temperaturen abschalten, schwere Hebel und Ventile hätte bewegen müssen – also nur ersparte körperliche Erschöpfung? Ist nervliche da schon besser? Sind vielleicht die Umwege und Ausweichtätigkeiten nicht nur Überlebensfähigkeiten? Es leuchtet schon ein, dass Überlebensgeschick auch eine Schicht unserer Lebenstätigkeiten bildet. Zugleich verstellt, was wir dafür zu tun und zu lassen, uns anzutun und uns zu versagen haben, wesentliche Schichten der Entfaltung. Das ist zu eindeutig bestimmt von dem äußerlich Vorgegebenen, dem wir nur widerstehen müssen, indem wir uns letztlich doch anpassen. Und dennoch strahlt ein wenig vom Wunsch, wahrhaft zu leben, unter dem Zwielicht eines Geschicks wider Willen hervor. Wer sieht sie nicht vor sich, die Kassiererinnen und Kassierer der Supermärkte? Kaum kann ich mir eine eintönigere Tätigkeit vorstellen, als endlos Waren über den elektronischen Abtaster zu führen, auf das akustische Signal zu warten und sie dann zur anderen Seite zu schieben. Unweigerlich wartet der nächste Kunde, dessen Einkäufe schon auf dem Band liegen; meistens sind es viele in einer Schlange mit den Wagen voll all der so unbeschreiblich beliebigen Gegenstände. Was da zur Kasse geschoben wird, muss denen völlig gleichgültig sein, die ausschließlich den Preis einzugeben haben. Um diese herum herrscht im Allgemeinen eine Stimmung verhaltener Ungeduld. Die 167 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
Angestellten müssen lernen, sich unwillkürlich gegen dieses Drängen zu schützen, und gleichzeitig werden sie unter der Auflage bezahlt, selber das Tempo des Durchgangs so weit als möglich zu steigern. Aber was ist möglich? Immer wieder fehlt eine Angabe, muss etwas in Listen nachgesehen oder neu abgewogen werden. Schnell eine Kollegin fragen. Oder muss doch die Aufsicht gerufen werden? Manchmal wird, wenn der Filialleiter kommen musste, auch deutlich, dass der Vorfall ein Nachspiel haben wird. Dann wird die Unerfahrene oder Unaufmerksame zur Rechenschaft gezogen werden. Es dürfte Mahnungen geben. Also ist es wohl mit dem nicht weit her, was allenfalls als ein Vorzug dieser Anstellungen erscheinen kann, nämlich die Ferne von aller Verantwortung – jedenfalls für größere Zusammenhänge. Dabei denke ich an den Mann, der tagaus tagein bei der Post Pakete umladen muss und sich sehr zufrieden nennt. Und was könnte belebend wirken bei dieser Arbeit am Band, wenn auch nicht am klassischen Band der Montage? Vermutlich fällt immer auch ein wenig Genugtuung ab, wenn wir vermeiden können, Fehler zu machen und in Schwierigkeiten zu geraten – Lust aus vermiedener Unlust sozusagen. Sicher gibt es angenehme Momente des Austauschs. Mit den Kollegen eine Geste des Aushelfens und das Gefühl, darauf vertrauen zu können. Mit dem Kunden ein Lächeln, das wenigstens andeutet, ein Mensch hat nicht nur im Betrieb funktioniert – als Käufer oder Verkäufer –, sondern einen anderen Menschen erkannt. Vielleicht kommt ein kleines praktisches Einverständnis zustande, wenn auch nur in der beiläufigen Form, geschickter sich mit dem Wechselgeld zu arrangieren oder eine heikel verpackte Ware zu handhaben. Manche Menschen hinter Band und Lichtschranke und Zahlbrett verstecken sich in verbiesterter Neutralität. Abstumpfung in dieser Rolle? Krankheit? Sorgen und Kummer? Bei anderen kann ich mir vorstellen, dass sie sich eine Art bescheidener kleiner Dramaturgie erfunden haben im Wechsel der Momente, die zu jedem Durchgang gehören. Die Ware kommt an – eine Kundin, ein Kunde, ein Kind, ein alter Mensch tritt heran – ein Blick hin und zurück – die Handgriffe von der Kasse her und das Öffnen des Portemonnaies, das Geld zählen oder die Scheckkarte – ein Warten darin, ein Zögern, ein Lächeln oder Ungeduld und Nachhelfen – die Abwicklung auf beiden Seiten, Kasse schließen und Waren einsammeln – vielleicht mit einem Blick oder einer Bemerkung am Ende. Dann die Frage, ob es irgendwie gelingt, an den nächsten Durchgang mit einer unmerklichen Zäsur anzuknüpfen. Ein 168 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
Wort kann es sein, mal an den Gehenden, mal an die Kommende gerichtet. Eine Geste kann es sein, zu einer Kollegin hinüber, für sich selbst oder an die Kunden gerichtet. Manchmal ist sie einfach technisch untergebracht; Kasse kontrollieren, Sitz zurechtrücken, aber auch den Rücken strecken, die Hand lockern, ein Griff in die Haare oder zum Ärmel, als sei er verrutscht. Es ist wahrhaftig nicht viel, was wir da für einander übrig haben und für unsere Lebensgeister tun. Und doch tragen diese blassen Spuren uns durch unseren Alltag. Wie oft ist es auch eine Anspielung auf das Wetter, die der unverbindlichen Verbindung dient. Wir zeigen, dass wir einander uns irgendwie doch verbunden wissen möchten, auch wenn es nicht zu einer Verbindung kommt. Wetter ist immerhin unsere gemeinsame Bedingung für getrennte Existenzen. Wir teilen etwas miteinander, das unser Befinden bestimmt. Ja, immerhin. Aber von wirklicher Ansteckung der Lebensgeister im Miteinander ist das doch sehr fern. Ermutigen werden wir so einander kaum; vielleicht reicht es gelegentlich, ein wenig Entmutigung zu zerstreuen. Ein Augenblick der Freude, wenn wenigstens das gelingt, spricht davon. Und wir wissen, dass in dem gewohnten Austausch solcher Andeutungen und im Vertrauen darauf, dass sie schon tragen werden, wenn einmal eine Schwierigkeit zu überwinden sein wird, uns eine Nachbarschaft eine Ahnung von dem Gefühl verspricht, da irgendwie zu Hause sein zu können. Wir haben, zum Teil mit großer Mühe, belebende Momente in den industrialisierten Gesellschaften üblicher Berufsbilder herausgearbeitet. Damit soll nicht eine teilrationelle, letztlich irrationale Arbeitsverfassung gerechtfertigt werden. Diese Überlegungen folgen vielmehr der zeitgemäßen anthropologischen Grundfrage, wie wir Menschen sein können und wollen, und zwar in einem Leben, das nicht nur Forderungen an die Mitwelt stellt, bis beide Seiten zusammenbrechen. Wir suchen Ausgangspunkte dafür, wie wir erneut und mit sehr veränderten Bedingungen auf unsere eigenen Anlagen und die einer begrenzten, aber reichen Welt Antworten entwickeln können. Wie können darin auch unsere Anstrengungen die Gestalt von Begegnungen annehmen? In einer Stadt einer der großen Bergbauregionen Europas sind, nach der Schließung der letzten Zeche, die Mehrheit der Einwohner arbeitslos geworden. Lehrerinnen an den Hauptschulen dieser Stadt sehen nun keinen Sinn mehr darin, Kinder einfach für Berufsanforde169 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
rungen auszubilden, auf die sie meist ohnehin keinerlei Aussichten haben. Sie fordern zu begreifen, dass diese Fiktion aufgegeben werden muss, und wollen ihre Schülerinnen und Schüler ebenso vorbereiten darauf, wie sie ein sinnvolles Leben in der Arbeitslosigkeit gestalten können. Das bedeutet, genau genommen, dass die Voraussetzungen für Tätigkeiten geschaffen werden, die einfach irgendwo nützlich werden könnten, und dass im Umgang miteinander die Fähigkeiten ausgebildet werden, die Lebensformen als tätige Begegnungen bilden. Der Blick richtet sich auf Begegnungen mit Menschen, Stoffen, Dingen, Vorgängen in der Gesellschaft wie in der Natur, in allen Bereichen. Dieses ist ein zukunftsweisendes Moment in einer Haltung, die nach herrschenden Kriterien resignativ erscheinen müsste. Wenn wir begreifen, dass unsere Leistungsfähigkeiten und unser Wunsch, etwas um uns herum zu bewirken, von dem Verrechnungsmodell der Erwerbsarbeit befreit werden, wird auch diese Haltung zu einer der Quellen schöpferischer Reorganisation menschlicher Existenz. Statt hinzunehmen, dass wir bloßes Überleben mit immer mehr Überfluss dekorieren, tauchen da Vorerfahrungen wahrhaften Lebens greifbar auf. Einen ökonomischen Weg für diese Perspektive will das Modell Grundeinkommen entwickeln. Es entwirft zunächst erst einmal eine Alternative zur Erwerbsarbeitsgesellschaft und berührt das Spannungsfeld zwischen Arbeit und Lebenstätigkeit nur mittelbar. Es macht ein neues Prinzip der Verteilung des volkswirtschaftlich erarbeiteten Reichtums zum Programm. Dieses wird allerdings auch grundlegende Folgen für die Formen der Erarbeitung haben. Gegner meinen zu wissen, dass Menschen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen in der Höhe eines bescheidenen, aber nicht unwürdigen Unterhaltsminimums begeistert sein werden, überhaupt nichts zu arbeiten. Hier ist die Unterscheidung von Arbeit im Sinne von Erwerbsstellenarbeit und Lebenstätigkeit von größter Bedeutung, und zwar auf mehreren Ebenen. Wenn der Zwang, sich den Vorgaben der Erwerbsstellen zu unterwerfen, bzw. der Erwerbslosigkeit entfällt, öffnet sich das ganze Spektrum der Lebenstätigkeiten neu. So werden die Momente von Wirkungsmöglichkeit und Beziehungen am Arbeitsplatz, um derentwillen selbst die unangenehmen oder gefürchteten Erwerbsverhältnisse auch heute gesucht werden, plötzlich wesentlich befriedigender erfahren werden. Tätigkeiten, die bislang im Schatten der monetären Anerkennung ausgeübt wurden, können als Beiträge zum gesellschaft170 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Arbeit und Lebenstätigkeit
lichen Wohlergehen einen gleichen Rang einnehmen. Nicht zuletzt gehören die ungezählten Ehrenämter dazu, die zunehmend die Gesellschaft zusammenhalten, aber letztlich noch als das Privatvergnügen netter Einzelmenschen verbucht werden. Tätigkeiten werden Teil des Lebens, die kreativ an der Verbesserung der Lebensbedingungen arbeiten, werden Fürsorge in bislang zu teuren, vernachlässigten und schlecht auf Profite organisierten Bereichen entfalten. Die vielen Erprobungen von Beziehungsformen, Wissensformen und Techniken, die bis heute als ineffizient, unrentabel, unrealistisch verdrängt werden, können ihre Beiträge zum Wohlergehen leisten. Faulheit und Anstrengung könnten miteinander in einen neuen Rhythmus finden, statt die absoluten Negationen zur absoluten Erschöpfung darzustellen. Das Modell Grundeinkommen braucht ein neues Menschenbild, das anthropologisch konkret und offen begründet wird. Bisherige Statistiken bringen Kriterien zur Geltung, die zu anthropologischen Invarianten erklären, was tatsächliche gegenwärtige Symptome der falschen Trennung von Arbeit und Leben sind. Spezifische Folgen des industriell-kapitalistischen Sektors werden dann zu soziologischen Universalien erhoben. Dabei zeigen uns Beobachtungen anderer Kulturen sowie neue Entwürfe ganz andere Mentalitäten und Verhaltensmuster.
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NUTZEN UND SCHÖNHEIT
Wir sind gewohnt, die beiden Begriffe als Gegensätze einander gegenüberzustellen. Nutzen dient den Bedürfnissen des Lebens, Schönheit seiner Ausschmückung. Das hat sich in unseren Auffassungen festgesetzt. Es folgt daraus eine Hierarchie nach demselben Prinzip wie in der Formel von Brecht: »Erst kommt das Essen und dann die Moral.« Diese Trennung hat sich zum Schaden beider Seiten durchgesetzt. Wir hätten unsere Welt nicht so weitgehend unerträglich hässlich gemacht, wenn man nicht geradezu stolz darauf sein dürfte, dass man nur an den Nutzen denkt. Die Bauweise im Deutschland nach den Zerstörungen des Krieges ist ein greifbares Beispiel. Das Gegenmodell sind die Sozialbauwohnungen von Hans Scharoun. Er begriff, dass Beziehungen und Orientierungen, Proportionen und Resonanz der täglichen Umgebung elementare Momente von Nutzen sind; dass wir in diesem Sinne Schönheit brauchen. Mit dem Wohlstand wird inzwischen Schönheit propagiert, aber eher als Bedürfnis, Luxus zu demonstrieren. Die Begriffe müssen aus diesen Verwirrungen befreit werden. Ihre Interpretation als Gegensätze hat wesentliche ökonomische Gründe und Folgen. Auch für eine Ökonomie im vollen Sinne müssen sie davon befreit werden. Beide sind im Grunde Ausdruck von Ordnung, zweifellos von Ordnung in unterschiedlichen Sphären. Sie können nicht einer aus dem anderen abgeleitet oder auf ihn reduziert werden. Beide Begriffe sind ambivalent. In unterschiedlichem Verhältnis haben sie doch beide sowohl eine emphatische wie eine zweckgebundene Seite. Für den Nutzen ist das offensichtlich. Wir nennen seine beiden Seiten Gebrauchswert und Tauschwert. Im Warentausch der Geldgesellschaften wird der Wert quantifizierbar, nämlich in Geld gemessen. In den kapitalistischen Gesellschaften hat der messbare Wert eine systematische Funktion, die der Lenkung nach oberflächlich rationalen, das heißt aber nur nach berechenbaren Werten. Der Wert 173 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
mutiert von dem Hinweis auf etwas Wertvolles zur rein zahlenmäßigen Angabe wie beim Säuregehalt eines Bodens oder der Temperatur an einem bestimmten Tag. Im Gebrauch dagegen erweist sich, ob etwas brauchbar ist, also ein Moment des Lebens befördert, vielleicht sogar eine Entfaltung ermöglicht von menschlichen Vermögen, von Genuss oder einem gelingenden Gleichgewicht usw. Freilich wird Nützlichkeit ohne weiteres einfach als Zweckerfüllung im unmittelbarsten Zweckmittelverhältnis verstanden. Die Tiefenschärfe des eigentlich zweideutigen Begriffs ist verschwunden, dabei wird der Zweck in der Regel schon in den Bewertungskriterien der kapitalistisch-materialistischen Skala gesehen, die nur Profit, Macht oder andere am Markt verwertbare Fakten berücksichtigt. Das Verhältnis von ideellem und materiellem Wert könnte man für Schönheit umgekehrt sehen. Je offensichtlicher Schönheit faktisch für materielle Interessen und ihre Strategien instrumentalisiert wird, desto absoluter wird kulturtheoretisch ihre Zweckfreiheit behauptet. Dabei ist Zweckfreiheit überhaupt die falsche Kategorie von Anfang an. Nicht auf die Abwesenheit jeder Zweckmäßigkeit kommt es an, wo es um das Schöne geht, sondern auf den Rang und die Würde der Zwecke. Nur wenn die Zwecke im Rahmen reduktionistischer Bewertungen, z. B. nach dem Maßstab des Tauschwerts vorgestellt werden, ist Freiheit von ihnen der Wert des Schönen. Aus solcher Begründung wird aber die Vermittlung auf Freiheit entwertet, die mittelbar bestätigt, dass die eigentliche Wertskala gerade die ist, von der hier eine Ausnahme gemacht wird: der materielle Nutzen. In Wahrheit geht es bei der Schönheit wie beim Nutzen um die Frage eines wirklichen Wertes, der also nicht irgendeinem mehr oder weniger willkürlichen Bewertungssystem verdankt werden darf, sondern der sich darin erweist, wie etwas wirkt. Wenn mythologische Weltdeutungen die Verlässlichkeit des Zusammenspiels der Elemente, der Gestirne, der Jahreszeiten, der Arten als ksmo@ priesen, also darin den Inbegriff von Schönheit begründeten, war dies durchaus auf einen Zweck hin gedacht, nur weder einen partiellen noch einen unmittelbaren. Das System von Zwecken sowohl partieller wie materieller Nützlichkeit setzt Strukturen ein, denen Ideen wie die des Schönen, der Freude, der Dankbarkeit oder der menschlichen Entfaltung fremd, das heißt verdächtig bis feindlich erscheinen. Nur insofern bedarf es der Freiheit von ihnen. Eben auch für den Gebrauchswert. Der emphatische Nutzen einer guten Sache, erst recht die Schönheit haben etwas 174 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
mit Ordnungen zu tun. Sie sind anders zu bestimmen als Strukturen der Berechnung. Was wir auf beiden Seiten suchen, ist eine geeignete Vorstellung von Ordnung, wie sie heute entweder unverschämt behauptet oder verworfen wird Kaum ein Begriff der ökonomischen Theoriegeschichte ist so schwierig zu fassen wie der des Nutzens. Seine geradezu strategische Funktion in der Theorie ist ebenso zweideutig, wie das Wort im gemeinen Gebrauch zumindest des 18. Jahrhunderts viele Schichten von Bedeutung zusammenfasste. Welches ist die strategische Aufgabe, die offen geblieben wäre ohne einen solchen Begriff? Der Mechanismus des Marktes, in seiner doppelten Erscheinungsform, soll ein rationales Modell der Entscheidungsfindung sein. Die Lebensformen und die Weltdeutungen, denen die Entscheidungen folgen und dienen sollen, können aber kaum rational gefasst, noch weniger rational begründet werden. Der Mechanismus kann indessen nur funktionieren, wenn der Stil der Entscheidungen nicht völlig willkürlich und zufällig ist. Alle Beteiligten müssen die Entscheidungen der Anderen wie die eigenen auf einen gemeinsamen Parameter beziehen können. Diese Notwendigkeit tritt spätestens dann imperativ hervor, wenn das Modell benutzt wird, um Vorhersagen darüber zu machen, wie die Nachfragen von Preisen und von den verschiedenen Gütern abhängen, die gebraucht bzw. angeboten werden. Mit anderen Worten, es wird eine anthropologische Grundannahme gebraucht, die das Marktverhalten noch der verschiedensten Teilnehmer berechenbar macht. Die zeitgenössische Zuspitzung findet diese Linie in dem Begriff rational choice. Genau die anthropologische Kategorie, die sich als ein solcher Parameter anbot, hatte die praktische Philosophie insbesondere seit David Hume in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen gestellt. Utility. Utilitas. Nützlichkeit. In der Auffassung des Utilitarismus, mit allen seinen Schulen und Variationen bis ins 20. Jahrhundert, wird angenommen, dass die Menschen ihre Wünsche und Vorstellungen in ökonomisches Handeln umsetzen nach einem einzigen Prinzip, dem der Nützlichkeit. Diese ökonomischen Interpretationen haben den Vorteil, sich nur für das menschliche Handeln interessieren zu müssen, das wirtschaftliche Wirkung hat; und wenigstens in dieser Hinsicht ist doch wirklich anzunehmen, dass die Menschen, als produzierende Anbieter und als nachfragende Konsumenten, ihre Entscheidungen von Nutzenerwägungen leiten lassen. 175 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
Man kann sogar eine zweite Annahme unmittelbar mit dieser ersten verbinden. Wenn es um Nutzen geht, dann geht es auch um die Maximierung von Nutzen. Mehr Nutzen ist nützlicher als weniger Nutzen. Der homo faber war nur das Wesen, das auf das Machen aus ist. Er gestaltet »seine Welt« durch seine Eingriffe, vom ersten Werkzeug bis zur großen Maschinerie. Diese kann aber nur als »große Industrie« zustande kommen, und dazu bedarf es des homo oeconomicus. Der sucht nicht nur nach immer neuen Möglichkeiten der Machbarkeit; er strebt dabei nach dem größten möglichen Nutzen. Sein Verhalten ist berechenbar. Es wird sogar kalkulierbar, wenn man annimmt, dass Nutzen abhängig ist von den Preisen, die einerseits erzielbar werden können, andererseits bezahlt werden müssen. Über die Preise wird der jeweilige Nutzen bezifferbar. Und vor allem ist durch die Vergleichbarkeit aller Waren und Leistungen über ihre Preise gegeben, dass der Nutzen jeder einzelnen Ware oder Leistung mit dem Nutzen jeder anderen verbunden ist. Jede steht in Konkurrenz zu jeder anderen. Die Menschen entscheiden sich, indem sie die verschiedenen Grade des Nutzens gegen einander abwägen. Nutzen wird damit mehr als eine durchgängige Kategorie menschlichen Handelns mit besonderen systematischen Vorzügen. Nützlichkeit an sich ist eine individuelle Erwägung und darum zu subjektiv, um allein als Grundlage für kalkulierbares Verhalten zu dienen. Relativer Nutzen bei gegebenen Preisen und Mengen lässt aber Annahmen über Bedürfnisse zu, weil die Bedürfnisse nicht mehr unvermittelte, absolute, isolierte sind, sondern nach dem Schema der vernünftig disponierenden Hausfrau und des allseits kalkulierenden Unternehmers relativiert werden. Der Nutzen der Radieschen richtet sich nicht nur nach den geschmacklichen Vorlieben der Familie, sondern auch nach dem Preis des Salats und der Gurken, die plötzlich interessanter sind, weil sie so billig angeboten werden. Diese Funktion konnte der Begriff des Nutzens für die Fragen der ökonomischen Theorie annehmen. Je nach den tatsächlichen Problemen der wirtschaftlichen Entwicklung, auf die Theorie zu reagieren versuchte, haben verschiedene Schulen das Verhältnis von Nutzen und Preis und damit auch den Charakter der Nutzenmaximierung immer differenzierter, aber auch in der Richtung verschiedener weiterer Grundannahmen interpretiert. Freilich bleibt die Zweideutigkeit des Begriffs zwischen der gewissermaßen objektiven Funktion im Mechanismus und der subjektiven Wertschätzung. Es sieht nämlich, genauer betrachtet, nur so aus, als ob Nutzen 176 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
eine rationale Kategorie sei. In Wirklichkeit gehen ungezählte und nie vorherzusagende Unwägbarkeiten in die individuellen Entscheidungen ein. Dies ist ja, auf der anderen Seite, gerade der Vorzug dieser Anthropologie, dass sie Wertentscheidungen nicht inhaltlich objektiviert. Der Markt kann jeder Art von Entscheidung dienen. Getroffen werden Entscheidungen im Privaten. Sie wirken im Öffentlichen; und es genügt, dort ihre Wirkungen mit den Wirkungen aller anderen privat getroffenen Entscheidungen zu einem allseitig funktionierenden Ausgleich kommen zu sehen. Man muss diese Seite immer wieder betonen, weil die Wertschätzungen der Menschen immer desperater geworden sind nach dem Zerfall religiöser, weltanschaulicher Systeme und Entwürfe und weil die direkte Werbung zusammen mit der ihr zuarbeitenden Kulturindustrie die Konsumwahl erneut zu einer gesellschaftlichen Institution machen, wie sie es unter religiösen Ge- und Verboten so lange gewesen war. Im »Campe«, dem wichtigsten Lexikon der Aufklärung, wird der Begriff utilis oder utile so erläutert: »… heißt überhaupt alles, was einem ersprießlich, nützlich, ein- und zuträglich, heilsam ist«. In diesem weiten Bedeutungsfeld ist ein Platz für die verschiedensten Vorzüge, gerade so, wie die Utilitaristen grundsätzlich alle ideellen mit eingeschlossen haben, wenn sie denn jemandem erstrebenswert oder erfreulich erscheinen können. Die Beweisfigur wird immer am Altruismus aufgestellt. Wo egoistisch unmittelbarer materieller Vorteil verfolgt wird, kann altruistisches Handeln entweder von Vorteil sein, weil wir am allgemeinen Wohlergehen teilhaben oder sogar weil wir durch ein bestimmtes individuelles Wohlergehen mittelbar gefördert werden. Wenn wir unser Glück darin finden, Andere glücklich zu machen, dann soll selbst eine Handlung, die nur dem Vorteil des Anderen dient, noch utilitaristisch genannt werden. Dennoch unterliegt diesem Prinzip eine kalkulatorische Tendenz. Jeremy Bentham wollte in den Effekten allen Handelns einen Beitrag sehen zu einer Optimierung der Geschichte. »Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl.« Eigentlich ein unstreitig verlockendes Ziel menschlicher Ordnung. Doch durch das Prinzip der Maximierung schleicht sich ein entwertendes Moment ein. Zwei Ebenen werden berücksichtigt, die individuelle im Prinzip und die gesellschaftliche im Stil der Statistik. Wenn man nur alles daran gesetzt hat, auf beiden Ebenen Glück zu maximieren, dann kann man beruhigt, vielleicht stolz sein und braucht sich über das rest177 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
liche Unglück keine grauen Haare mehr wachsen zu lassen. Zweifellos leben wir alle in mancher Hinsicht mit diesem Beruhigungsmittel. Die beste mögliche Verteilung des jeweils möglichen Glücks kann dann offenbar besser vernachlässigt werden. Überhaupt hebt die Maximierung Glück tendenziell bereits ab von den Qualitäten des wirklichen Lebens. Sie führt hin zum Messbaren. Quantitativ lassen sich aber nur die materiellen Voraussetzungen für Glück schaffen und bemessen. Happiness könnte vieles heißen. Bentham beansprucht, Ziel und Norm für eine vernünftige Ordnung zu benennen, und spricht tatsächlich von rational erfassbarem Nutzen. Immerhin bleibt so lange die Zweideutigkeit noch offen. Gemeint ist schon ein rationaler Parameter menschlichen Handelns im Sinne einer Berechenbarkeit. Zugelassen bleibt, dass der Nutzengrad individuell und nicht objektiv messbar festgelegt werden kann. Das wahrhaft Vernünftige ist an den Ausgleich gebunden zwischen objektiv und subjektiv – wie der Mechanismus letztlich an den Ausgleich zwischen Egoismus und der Fürsorge, die eben auch eine Rolle spielen sollte, jedenfalls nach Adam Smith. Entsprechend der Forderung, Egoismus und Fürsorge in einen Ausgleich zu bringen, hat das 18. Jahrhundert Vernunft auch so verstehen können, dass Nutzen und Schönheit einander fordern. Diese andere Aufklärung wird deutlich am Modell einer neuen Begeisterung für den Landbau zusammen mit einer künstlerischen Vorstellung von Landschaft. Landschaft und Landbau in einem Entwurf, das ist das Programm der ornamented farm. Die beste Anschauung davon gibt Wörlitz, wo der Park mit seiner Molkerei und Bauerei übergeht in ein Land, das der Dessauer Fürst zu einem Pflanzgarten neuer Gewerbetüchtigkeit, verbreiteten guten Geschmacks der Formen, der Erziehung aller zu Bildung und Eigenständigkeit machte. Die Geographie stellt einen einzigen großen Park dar, in dem Ackerbau und Viehzucht und Gärtnerei ebenso blühen sollten wie die Pracht von Schlössern und die Andacht von Kirchen und Synagogen und der Fleiß in Bibliotheken und Schulen. Straßen wurden zu Alleen, und Weiden wechselten so mit Wäldern, dass es das Auge erfreuen und den Unterhalt der Menschen leisten sollte in einem. Diese Linie ist rasch versandet. Der Hauptgrund dafür dürfte die Strategie gewesen sein, das Ornamentale, also diesen Stil von Ordnung, die erfreut, vom Erscheinungsbild her zu begreifen und entsprechend dieses zum Testfall zu machen. Das Konzept der ornamented 178 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
farm wurde vertreten von einem herrschaftlichen Gesichtspunkt, dem der Planer und Betrachter. Die Ausführenden, besser, die Handelnden des Modells erleben eine Dimension, die ganz anderer Art ist. Ihr Zusammenwirken mit einander, mit den Werkzeugen, mit Boden, Tieren und Pflanzen ist, was sie schön finden können, bevor Erscheinungsbilder ihrer Produkte zu beurteilen sind. Zu dieser Schönheit menschlicher Lebenstätigkeiten und Lebensformen gehört es, wie der Gebrauch auch Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeit als Wertschätzung erleben lässt. Dasselbe gilt für das Handwerk in traditionellen Gemeinschaften, das mehr der gegenseitigen Bereicherung durch die Fülle guter und schöner Gebrauchsgegenstände dienen konnte als dem Gelderwerb in Konkurrenz. Aus indischen Gesellschaften wird berichtet, dass Kunsthandwerk für den Tausch bei den Festen ausgeübt wurde und bestimmte Familien mit bestimmten Stoffdruckern oder Schnitzern verbunden blieben, zu deren Leben sie ihrerseits Nahrungsmittel oder andere Güter beitrugen. Schillers politische Vision steigert solche Vorstellungen und Ansätze in intensivster Sinnlichkeit und Abstraktion. Das Kunstwerk schlechthin, um das es ihm geht in den »Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen«, ist die Gesellschaft. Der Schlüsselbegriff heißt Zusammenspiel der Kräfte, Vermögen, Entfaltungen. Es ist Methode und höchste Kategorie zugleich: Die Teile dürfen dem Ganzen zu dienen nur annehmen, wenn gesichert ist, dass dieses Ganze ebenso den Teilen dient. Das Dienen in seiner Wechselseitigkeit wird zum höchsten, ethischen Begriff von Nutzen. Das Gegen- und Miteinander von Teilen zu einem Ganzen und vom Ganzen mit den Teilen ist zugleich der lebendigste und rationalste Begriff von Schönheit, die Schiller im Gemüt der Menschen zu individueller und politischer Reife wirken sieht. Wie nahe kommt dies Goethes Bestimmung des Begriffs von Schönheit in der Natur: Notwendigkeit mit Freiheit! Das war der Entwurf. Je genauer es nun in der Umsetzung darauf ankam, wie jene Zweideutigkeit in verlässliche, präzise Wechselbeziehungen umgesetzt werden kann, desto deutlicher mussten die messbaren Faktoren sich durchsetzen, bzw. desto eindeutiger mussten die Nutzengrade objektiv, messbar, vorhersagbar festgelegt werden. Dies geschah in der nationalökonomischen Theoriegeschichte wesentlich durch die verschiedenen Schulen der Grenznutzenlehre. Sie tragen der Tatsache Rechnung, dass immer größere verfügbare Men179 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
gen selbst eines begehrten Gutes immer geringer in ihrem Nutzen eingeschätzt werden. Es gibt sogar eine Sättigungsgrenze, von der ab jede weitere Einheit desselben nutzlos, unbrauchbar ist. Für unsere anthropologischen Fragen kann diese Feststellung genügen. Von größter Bedeutung ist indessen eine prinzipielle Behauptung über das Verhalten von Menschen, die in einem unausgesprochenen Zusammenhang mit dem Grenzgedanken steht. Sie benutzt ihn allerdings, um weitere Rationalität in das Chaos unserer Wünsche und Notwendigkeiten zu bringen. Freilich kann sie weder in unserem Verhalten wahrhaft eine vernünftige Ordnung entdecken, noch kann sie ihm eine solche Ordnung vorschreiben oder auch nur vorschlagen. Rationaler wird unser Verhalten, jedenfalls nach Maßgabe der Behauptung, aber für den außenstehenden Beobachter, der auf seine Beobachtungen Vorhersagen und auf diese Planung aufbauen will. Es geht auch hier um Standardisierung. Der Behaviorismus hat, etwa gleichzeitig mit den Anfängen der Grenznutzenlehre, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, begonnen, die Fülle und die Zusammenhänge dessen, was Menschen brauchen, zu zergliedern. Dabei hat der Begriff von Bedürfnissen, der etwa bei Hegel noch ganz frei für alles steht, dessen Menschen bedürfen und wonach sie streben könnten, eine Verwandlung erfahren. Nach der alten Strategie der Erkenntnistheorie, am deutlichsten bei Descartes, werden zuverlässige Aussagen gesucht, indem das Durcheinander menschlichen Vorstellens und Begehrens aufgeteilt wird. Im Aufgeteilten kann man dann eine Hierarchie einführen. Aus der Fülle von all dem, wonach Menschen der Sinn stehen kann, werden sogenannte Grundbedürfnisse ausgegliedert. Nahrung, Behausung, Kleidung braucht, mehr oder weniger und so oder so, absolut jeder. Das liefert eine zuverlässige Basis. Die alte anthropologische Formel vom Menschen als animal rationale bekommt neue Bedeutung. Da der Mensch auch Tier ist, hat er zunächst einmal Grundbedürfnisse, die denen der Tiere ganz ähnlich sind; sie sind nämlich materielle. Berechenbar macht der Behaviorismus »den Menschen« erstens durch diese Annahme und zweitens durch eine weitere: Weniger materielle oder immaterielle Bedürfnisse sind in eigenen Kategorien unterzubringen und müssen zurückgestellt werden, bis die Grundbedürfnisse abgedeckt sind. Damit ist eine Hierarchie der Vordringlichkeit anthropologisch etabliert. Das hat den entscheidenden Vorteil, dass wichtige objektive Aussagen über Regeln menschlichen 180 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Verhaltens gemacht werden können und man nicht auf die unberechenbare Subjektivität angewiesen ist. Eine solche Hierarchie heißt in der ökonomischen Theorie »Präferenzordnung«. Präferenzen sind aber ein Begriff der Psychologie und wären zu individuell, um geeignet zu sein, allgemeine Vorhersagen auf sie zu bauen. Sie können gesamtgesellschaftlich nur an dem tatsächlich gerade sich zeigenden Verhalten beobachtet und im Nachhinein beschrieben werden. Der Behaviorismus wird Immergültiges behaupten. Solange der Markt nur das Instrument war, die Wünsche und den Bedarf der Menschen sich zeigen zu lassen, wurden Vorhersagen über die Nachfrage und über das Angebot von morgen durch die Betroffenen selbst aus den Beobachtungen von heute abgeleitet. Sie waren also nur Annahmen, die durch neue Beobachtungen immer neu korrigiert werden mussten. Genau dies ist die konkrete Weise, wie der Mechanismus seine Ausgleichsbewegungen vollziehen kann. Wie überall in der Physik sind solche Bewegungen mit Reibungsverlusten verbunden. Diese möglichst weitgehend zu vermeiden, ist der Zweck anders fundierter Vorhersagen. Eine Strategie, dies möglich zu machen, ist die der naturwissenschaftlichen Analyse von Bedürfnissen im Stil des Behaviorismus. Nicht mehr die traditionellen religiösen Autoritäten sind es dann, sondern wissenschaftliche, die wissen, was dem Menschen nutzt und was er deshalb brauchen soll. Diese Behauptung hat eine ganz ähnliche Funktion, wie sie auch die sozialistische Planwirtschaft konstituiert. Es sind nur zwei verschiedene Ideologien. Marx folgend wird von der Gesellschaft bestimmt, welche Bedürfnisse anerkannt werden. Die politische Bewertung soll eine visionäre Wirkung übernehmen und wird faktisch zum staatlichen Normdiktat. Die Freiheitsideologie des Privatkapitalismus muss das Individuum zur letzten Instanz erheben und behauptet nun zu wissen, wie das Individuum zu sein habe, damit seine Entscheidungen als Planungsdaten benutzt werden können. Dort politische Norm, hier anthropologische Norm. Beide Behauptungsstile verdecken ihren normativen, regulativen Charakter durch die weitere Behauptung der Wissenschaftlichkeit. Die Begründungen der neuen Autoritäten sind indessen nicht weniger willkürlich als die der alten religiös-ständestaatlichen. Sie gehen nur nicht länger von bestimmten Beziehungen aus zwischen verschiedenen Bedürfnissen und Wünschen der Menschen zu ihrer seelischen Entfaltung und zu den Wesen und Vorgängen der übrigen Welt. Sie 181 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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stellen die materielle Existenzsicherung als Vorbedingung allen übrigen voran. Zwar heißen weitere Bedürfnisse unter Umständen die höheren; in der Hierarchie des Nutzens geraten sie jedoch an zweite, dritte und weitere Stellen. Eine Kategorie heißt Kommunikation, eine andere Selbstwertbefriedigung. Die Theorie trennt sie vom Grundbedarf ab, der das Überleben sichert. Sie nimmt diese Trennung nur analytisch vor, nicht räumlich und zeitlich. Genau dies hat sich aber inzwischen praktisch eingestellt, wenn die Leute den Hunger im Stehen am fast food-Stand befriedigen, um dann in der Diskothek Kommunikation zu haben. Die eigentliche Grundannahme von Auffassungen wie die des Behaviorismus liegt noch tiefer. Sie ist gleichzeitig Ausdruck und Triebkraft einer wesentlichen Veränderung. Die Gesellschaft wird nicht mehr als eine Verbindung von Individuen angesehen, die ihre Lebensformen und Weltdeutungen in Gruppierungen verschiedener Art organisiert haben. Der Zerfall der civil society wird eingeleitet, die heute deshalb insofern nur ohnmächtig beschworen werden kann. Wir als Einzelne fallen aus solchen Zusammenhängen in eine beziehungslose Unabhängigkeit. Auf der anderen Seite wird eine neue Einheit unterstellt und durchgesetzt, von der unsere Anthropologie ebenso wenig eine Ahnung hat wie unsere Verfassungslehre. Wir werden in einer statistisch begründeten Masse verrechnet, die Bevölkerung genannt wird. Staatsbürger bin ich nur in bestimmten, unzusammenhängenden Situationen. Meistens bin ich ein Stück Bevölkerung, ein Teilstückchen einer anonymen, charakterlosen Einheit, von der bestimmte quantifizierte Aussagen gemacht werden und an der bestimmte quantifizierte Vorhersagen ausprobiert werden. Individuelle und aus Weltdeutungen, z. B. religiöser Art, begründete Wünsche und Vorstellungen sind mit Hilfe anthropologischer Raster und statistischer Methoden in Bedürfnisskalen umgeformt. Permanent bin ich ein Konsumbürger. »Die Wirtschaft« hat sich aller Rastermethoden bemächtigt, um mein Konsumverhalten nicht nur vorhersagen zu können, sondern um es selber zu dirigieren im Interesse ihrer Präferenzen, in denen kaum noch wiederzuerkennen ist, was meine eigenen Präferenzen sein könnten. Die Umformung in Präferenzskalen haben meine Wünsche erst recht nicht überlebt. Spätestens werden sie für die Verkaufsstrategien gleichgeschaltet, wenn mein Kaufverhalten über Datenabschöpfung der Kreditkarten ausgewertet wird. Die Parameter der Präferenzen gehen vom Prinzip der Standar182 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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disierung aus. Zwar leisten wir als Einzelne bereits Enormes an Selbststandardisierung, Anpassung an Raster. Doch die Meister im Standardisieren agieren in der großen Industrie. Sie sitzen am längeren Hebel, und sie verstehen mehr davon, weil es uns dagegen gelegentlich immer noch um etwas Bestimmtes, Eigenes geht – um Nutzen im Sinne »von allem, was ein- und zuträglich, ersprießlich und heilsam ist«. Noch die große Gesellschaftspolitik ist seither, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, von dieser aufteilenden Deutung menschlicher Existenz bestimmt worden. Die drei russischen Führer der sozialistischen Revolution, Lenin, Stalin und Trotzki, waren sich in einem einig, selbst wo einer den anderen ermorden ließ: Die industrielle Infrastruktur muss zuerst entwickelt werden. Kultur kommt später. Für Sozialisten wurde damit die Marx’sche Behauptung umgesetzt, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, und zwar unter der eigenartigen Voraussetzung, Sein sei das Greifbarere, Festere, eben das Materielle. Das ist die extreme Form, Nutzen und Schönheit zu Gegensätzen zu machen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert zeigte sich, dass so eigenartig diese Interpretation menschlicher Geschichte gar nicht ist. Die Grundsatzentscheidung einer konservativen, jedenfalls antimarxistischen Regierung folgte der gleichen Maxime, als der Kanzler Kohl, seine Partei und sein Kabinett beschlossen, dass die zusammengebrochene DDR erst einmal wirtschaftlich neu aufgebaut werden sollte. Auch 1991 in Deutschland konnte Kultur später kommen. Es ist übrigens so geblieben. Immer findet sich ein materieller Notstand, mit dem eine Entscheidung gerechtfertigt wird, die in Wahrheit auf einer materialistischen Maxime beruht. In der Bundesrepublik braucht diese Maxime indessen nicht, wie bei Marx, als Ideologie verkündet zu werden. Sie ist längst dabei, in die kollektive Bewusstlosigkeit aufgenommen zu werden, die man gesunden Menschenverstand nennt. Maximierung von quantitativ messbarem Nutzen. Nicht immer ist klar, wessen Nutzen gemeint ist. Solche Politik heißt realistisch. Ihre Realität stellt eine sonderbare Reduktion von Wirklichkeit dar. Und sie stellt sie her. Adam Smith interessierte sich noch mehr für den Nutzen der Arbeit als für den ihrer Ergebnisse. Er nannte ihn auch nicht utility, sondern sprach von productive und nonproductive labour. Ob eine Arbeit produktiv oder unproduktiv ist, wollte er daran entscheiden, wie weit sie in der Kombination von Kapitalaufwand, in Form von Werkzeug und Maschine, von Rohstoffen und von mehr oder weniger speziali183 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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sierter Arbeitskraft etwas herstellt, das auf dem Markt verkauft werden kann. Diese Definition ist eine ökonomietheoretische Variante des Nutzenbegriffs eigentlich vor seiner endgültigen Unterordnung unter den Primat des Materiellen, dient aber genau dieser Tendenz, allerdings unter dem Prinzip der Verwertbarkeit im monetären Sinne. Es kommt indessen nicht in erster Linie auf das Geld an, das man mit irgendetwas machen kann. Produktiv ist eine Arbeit vielmehr, wenn sie Wert schafft, und zwar in dem speziellen Sinne, dass dabei »die Wirtschaft in Gang kommt«. Dies aber erweist sich in dieser Auffassung nur über den Preis und seine Realisierung in Geld. Für manche Werkstatt eines berühmten Künstlers ließe sich seit Rubens im Prinzip Ähnliches sagen wie für die Nadelmanufaktur: Arbeitsteilung zum Zweck der Ertragssteigerung. An ein und demselben Bild arbeiteten mehrere Maler. Der eine war etwa für die Landschaften, der andere für die Menschen zuständig, und der Meister, unter dessen Namen das Bild verkauft wurde, setzte vielleicht nur bestimmte Züge, Effekte, Linien hinein, bevor er es signierte. Ökonomisches Denken im großen und ganzen wollte jedoch auf etwas hinaus, das spätere Epochen Wachstum genannt haben. Dafür war nur Spezialisierung im Maßstabe gesellschaftlich standardisierter Produkte von Interesse. Der schärfste Kritiker der bürgerlichen Auffassung von Ökonomie war Karl Marx. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründete er »die Kritik der politischen Ökonomie«. Man ist heute fast versucht zu sagen, die Stoßrichtung seiner Kritik sei dahin gegangen, die Ergebnisse der gesellschaftlichen Arbeit anders, gerechter zu verteilen. Wie sie zustande kommen sollen, das übernahm er. Den Kapitalismus erklärte er konsequenterweise zur notwendigen ökonomischen Durchgangsstation für die richtige, die sozialistische politische Ordnung. Seine noch heute unentbehrliche kritische Analyse der geschichtlichen Entwicklung machte da Halt, wo wesentliche qualitative Momente zu Prinzipien der Ordnung der Lebensformen hätten neu erhoben werden können. Massenelend der Zeit einerseits und andererseits dieselbe Faszination, die jene explodierende Expansion der großen Industrie auf die »bürgerlichen Klassiker« ausübte, lenkten die Aufmerksamkeit entschieden in die andere Richtung. Marx übernahm die Definition von »produktiv« und »unproduktiv« von seinen Gegnern. Sein Beispiel für unproduktive Arbeit ist das der Sängerin. Es ist gelegentlich darüber gestritten worden, ob nicht diese Arbeit nach seinen Kriterien der Kapitalverwertung, der Mehr184 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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wertschaffung usw. durchaus hätte produktiv genannt werden können. Darauf kam es zweifellos gar nicht wirklich an. Es galt: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Marx, der sich selber sehr gern einer Analyse der bürgerlichen Lebensauffassung und ihrer Konsequenzen in den Romanen von Balzac gewidmet hätte, versagte sich dieses Unternehmen, um erst einmal die Grundlagen zu schaffen. Dabei geriet er in Opposition besonders zu zwei Feldern der Geschichte, Religion und Kunst. Grundsätzlich musste Religion das eine sein, da deren Institutionen das Bewusstsein der Gesellschaft dogmatisch blockierten und politisch im Pakt mit den Herrschenden standen. Unabhängigkeit gegenüber solcher Autorität war Grundzug aller aufklärerischen Bestrebungen. Aber nur wenige wollten die religiöse Weltdeutung insgesamt beseitigen, die doch eben die Ordnung darstellte, an der sich die Lebensformen und Weltdeutungen großer Teile der civil society ausrichteten. Mein Beispiel für eine ideologische Blindheit von Marx in dieser Richtung ist schon immer die Priesterin früher Religionen gewesen, die Hüterin des Wissens vom Zusammenwirken der geschichtlichen Menschen mit der unmittelbaren Mitwelt und dem Ganzen des Kosmos war. Zu diesem Wissen gehörte auch, was unmittelbar die Jagd, den Landbau und die Ergiebigkeit der Natur betraf. Das hätte Marx als eine Produktionskraft begreifen müssen. Genau solches Ineinandergreifen der unterschiedlichen Schichten menschlicher Wirksamkeit und im geschichtlichen Bewusstsein ist Kultur. Kultur muss ebenso in den Wirtschaftsweisen verankert sein, erwirtschafteter Nutzen muss sich ebenso kulturell bestimmen. Die Kunst andererseits hat sich zwar längst vor der Aufklärung des 18. Jahrhunderts gegenüber ihren traditionell kirchlichen Aufgaben unabhängig gemacht. Sie ist zu einer Äußerung des menschlichen Bewusstseins aus eigenem Recht geworden. Gerade in dieser Weg bereitenden Funktion haben aber die bürgerlichen wie die politischen Ökonomen sie nicht wahrgenommen. Von der Geschichte des Begriffs der Schönheit her lässt sich das auch gut verstehen. Für Plato war Schönheit Ausdruck der Wahrheit und ein Weg zu ihr. Schönheit und Wahrheit waren ihm aber nicht nur schöne Ideen, wie heute viele annehmen. Beide sahen die Griechen verbunden mit einer Ordnung der Welt. Den Begriff für die geordnete Welt, ksmo@, haben wir ziemlich unreflektiert übernommen. Die monotheistischen Religionen haben an die Stelle des kosmischen Geschehens und seiner Ordnung den Weltenherrscher und sein Wort gesetzt. Seit die Kunst 185 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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nicht mehr ein sinnenhaftes Organ der Wahrheit ist, die sich in der Religion offenbart, hat Schönheit eigene Wege gehen müssen und hat mit jener alten Aufgabe das Maß und die Verbindung zu einer Wahrheit verloren, die als die Wahrheit galt. Die Wahrheit selber hatte bereits ihre Verbindung zur Ordnung der Welt im Kosmos verloren, weil sie in der monotheistischen Religion nur noch von der Heilsgeschichte, von der geordneten Welt aber nur sekundär sprach. In solcher Ablösung wurden die Begriffe abstrakter. Mit ihrer Ablösung dann auch von der Religion wurden sie ebenso frei verfügbar wie eben auch frei schwebend. Sokrates spricht immer zugleich von der Aufgabe der Menschen, ein gutes Leben zu führen. Deutlicher sollten wir sagen, unser Leben gut zu führen. Alles, was uns dabei hilft oder zuträglich ist, ist recht wie unser Tun und Lassen, wenn es gut ist für ein gutes Leben. Der moderne Begriff des Nutzens, dessen Formierung wir durch die letzten Jahrhunderte verfolgt haben, ist an die Stelle des gut-Lebens gesetzt worden. Seit Ordnung sich nicht auf die der Welt insgesamt und auf das geschichtliche Leben in ihr bezieht, wird das Ziel von Ordnungen der Gesellschaft Glück genannt. Das heißt dann, ob wir haben, was wir brauchen, um zufrieden zu sein. Nutzen nützt Menschen als Einzelnen. Dann ist Schönheit, was gefällt. Wahr ist, was Menschen beweisbar erkennen. Es geht nirgends um etwas, sondern allein um uns, das heißt, um diejenigen, die sich da zum Subjekt ihrer eigenen Aussagen aufschwingen. Kant hat diese Gefahr erkannt und dem Schönen eine neue Verankerung zu geben gesucht. Das Naturschöne gibt dafür den konkretesten Anhalt, wenn man an der Stelle mythologischer Weltordnung nun naturwissenschaftliche Gesetze wirken sieht. Der Kosmos war den Alten heilig im Großen wie im Kleinen, weil es dieses Zusammenspiel zu achten und ihm mittuend zu danken galt. Seine Bedrohungen mussten gefürchtet und durch Beschwörung, durch Opfer gebannt werden. Die moderne Gesellschaft muss die Gesetze der Natur erkennen, um sie zweckmäßig benutzen zu können. Dies bedeutet, dass die Zwecke der Menschen in Kenntnis von Zwecken gesetzt und umgesetzt werden, die in der Natur festgestellt werden können. Teleologie: Die Natur ist sich selber nützlich, wo ihre Zwecke einander nicht stören, sondern zu einander passen. Mechanismus. Die Natur ist uns schön, ohne solche Wirkung zu bezwecken. Schönheit ist unser »interesseloses Wohlgefallen«. Das Schöne in der Kunst regt die Betrachter an. Kant fragt 186 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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nicht danach, was in der Entstehung von Kunst geschieht, sondern wie unterschiedliche Vermögen des Menschen zu einem Urteil zusammenwirken. Wiederum Mechanismus. Der zweckfreie Zweck dieser geistigsinnlichen Tätigkeit ist es, dieses Zusammenwirken nicht einfach zu benutzen wie in jedem praktischen Zweckhandeln, sondern es als diesen Mechanismus und uns als dessen Herren hervortreten zu lassen. Noch im Erhabenen geht es um dieselbe Figur, nur steigert sich hier das Zusammenwirken der Vermögen dadurch, dass sie zunächst gegen einander wirken. Die Übermacht einer Naturkraft, die uns zerstören würde, wenn wir ihr physisch ausgesetzt wären, erregt Furcht über die Wahrnehmung unserer Sinne. Fern, aber sicher können wir unser Gemüt über solche Furcht erheben, weil unser Verstand uns sagt, dass wir uns ruhig erregt gedanklich mit den Gewalten zu beschäftigen vermögen. Kants Beispiel ist der entfernte Wasserfall, dessen Vehemenz wir mit unwillkürlichem Schaudern und doch gelassen bewundern. Das Erhabene ist die andere ästhetische Kategorie des 18. Jahrhunderts. Gefühl und Erfahrung des Erhabenen gehen vom Übermächtigen oder einfach vom »unendlich Großen« aus – während wir auf das »unendlich Kleine nur mit Verachtung« reagieren. Historisch kann man sagen, dass sie eine letzte, notgedrungene Form von Bedeutung für die Welt mit uns ausdrücken, wo der Naturbeherrschung noch Grenzen gesetzt sind. Im Schönen wie im Erhabenen begegnen wir insofern einer Wirklichkeit, aus der eine Ehrfrucht gebietende Ordnung zu uns spräche. Etwa die Freude an einer Komplexität, deren Zeugen wir werden, ohne sie beherrschen zu können. Wo Alexander von Humboldt von »Naturwahrheiten« spricht, fasst er wahrhaft ästhetisch ein Bewusstsein vom »Zusammenwirken aller Kräfte« in einer bestimmten Gegend der Welt zusammen, deren Teilaspekte er zuvor analysiert und in Messungen erfasst hat. Erhaben nennt er diesen Eindruck nicht. Schopenhauer sagt vom Erhabenen, dass wir nur an den Schmerzen, unter denen es uns durch ein Gefühl für ein Gegenüber in der Welt aus der Selbstüberschätzung unserer Erkenntnis herausreißt, noch einmal dieses Anderen bewusst werden. Im Schönen begegnen wir der Welt, die sich unserem Zugriff entzieht, versäumen aber ein angemessenes Bewusstsein davon. Kant interessiert am Urteil, etwas sei schön, weniger das staunenswerte Zusammenspiel, das diesen Eindruck bewirkt, als der Mechanismus unserer Vermögen, der uns befähigt, das Zusammenwirken der Elemente des Kunstwerks oder eines Naturphänomens urteilend zusammenzufassen. Beide Zeugen 187 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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ihrer Zeit vermögen nicht, dem Schönen eine Kraft abzugewinnen, die das Reich des Nutzens durchdringen könnte. Sowohl im Naturschönen wie im Kunstschönen liegt der menschlichen Empfindung – oder dem Urteil »schön« – die Erkenntnis einer Ordnung zugrunde. Aber diese Ordnung wird von außen betrachtet, und Schönheit spielt sich ab im menschlichen Empfinden. Die Zwecke der Naturgesetze und die schönen Empfindungen sind kategorisch von einander getrennt. Genau diese Strategie hat sich auch in den Beziehungen der Menschen, zunächst aber in der Theorie des ökonomischen Nutzens immer entschiedener durchgesetzt. Schönheit der Dinge, die uns nützen, erst recht die Schönheit unserer Tätigkeiten, die dem Nutzen gewidmet werden, und die Schönheit der Vorgänge, die nützen oder in denen Nützliches entsteht, ist getrennt von der eigentlichen Sache, nämlich einem Nutzen, der rational definiert, geplant und kalkuliert werden soll und deshalb keine Vermengung mit subjektiven Empfindungen zulässt. Wenn man die zugrundeliegenden Trennungen als gegeben nimmt, dann ist diese Betrachtung nur folgerichtig. Der Nutzen ist getrennt vom guten oder rechten Leben. Die Schönheit ist getrennt von der Ordnung der Sache, des Vorgangs, der Welt, die so gut mit dem Schema von Zweck und Gesetzmäßigkeit im Sinne eines Mechanismus auf das Entscheidende reduziert werden kann. Das ist dann der Nutzen, der weder an dem Guten des menschlichen Lebens noch an dem Guten des Weltenganges gemessen wird. Schönheit gilt seitdem nicht länger als die Erscheinungsweise, in der sich solches Gut-Sein zu erkennen gibt. Sie wurde zu einem höheren, das heißt eigentlich nutzlosen Nutzen, wenn erst einmal für die Bedürfnisse des Menschen hinreichend gesorgt ist. Als um die Wende zum 20. Jahrhundert die Industrieproduktion in einem überwältigenden Umfang alle Seiten des Lebens zu bestimmen begann, wurde Schönheit nach einer anderen Seite zum Thema gemacht. Programme auf allen Ebenen des täglichen Bedarfs wurden initiiert. Die großen Fürsprecher, wie Oscar Wilde und William Morris, waren weit entfernt von jedem Gedanken daran, dankbar in gelingenden Bildungen der Natur den Ordnungen des Weltenganges zu begegnen und diese vielleicht zur Grundlage oder Anregung für menschliches Gestalten zu machen. Hort des Schönen war ihnen die Kunst. Schönheit erklärten sie zum Bedürfnis des Menschen. Wilde entwarf die Vorstellung, dass die Idee des Sozialismus mit einem Individualismus verbunden werden müsse. Sozialismus steht dann dafür, dass die 188 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Gesellschaftsform die Bedürfnisse der vielen anerkennt; Individualismus steht für die Forderung, dass wir unsere Lebensform zu einer würdigen, genussvollen Entfaltung von Sinn und Sinnen bringen. Dazu gehört eben die ganz individuelle Achtung und Achtsamkeit dafür, wie die Dinge und Vorgänge unserer Lebenswelt zu gestalten sind. Das ist ein Plädoyer gegen die Standardisierung. Mindestens angesichts der rasant fortschreitenden Standardisierung für und durch die Industrieproduktion hätte ein solcher Entwurf erfordert, dass er im ökonomischen Denken und aus den Formen des Wirtschaftens entwickelt worden wäre, um nicht kulturtheoretische Kritik zu bleiben. Morris machte sich praktisch an diese Aufgabe und entwarf Muster, die dann in industriellem Maßstab produzierte Waren prägten. So sollte diesen von der Kunst her Schönheit gesichert werden. Dies ist eine entscheidende Station in der Geschichte, die hervorgebracht hat, was inzwischen Design heißt. Deren Vorgeschichte geht bis in das 18. Jahrhundert mit seinen Vorlagebüchern für Handwerker zurück. Die Aufklärung machte auch das Gestaltungsvermögen von Tischlern und Schneidern zum Gegenstand allgemeiner Erziehungsstrategie. Die Formgeschichte als Geschichte und Weiterentwicklung der geschichtlich zur Geltung gelangten Formen für dieses und jenes trennte sich schon zur Zeit der Manufakturen, endgültig in der großen Industrie von der Geschichte des wirklichen Vollzuges. Form wurde immer entschiedener dem praktischen Produktionsprozess gegenübergestellt und von außen zugesetzt wie die genormten Geschmacksvarianten dem immer gleichen Jogurt. Arbeit am Produkt und dessen Form, Gestalt und Realisierung sind bis heute einander immer äußerlicher geworden. Schönheit liegt, angeblich, längst »im Auge des Beschauers« und nicht in den Ordnungen der Dinge. Die Bemühungen von Morris und der vielen, die, wie Vogler oder Muthesius in Deutschland, seine Initiative aufnahmen, liefen darauf hinaus, die Beschauer mit geschmackvolleren Produkten zu versehen, vielleicht ihr Auge zu erziehen. In den industrialisierten Produktionsprozess selber konnten sie nicht eindringen. Die Parameter der mechanisierten Herstellung und des kapitalverzinsenden Warenausstoßes waren zum Sachzwang geworden. So war es folgerichtig, dass die nächste Welle entsprechender Versuche diesen Sachzwang zum Ausgangspunkt machte. Die »Sache« ist Standardisierung. So nennt der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright das Ergebnis, das er anstrebt, um für »den demokratischen 189 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Menschen« zu bauen. In Russland entstehen die Entwürfe avantgardistischer Künstler wie Rodtschenko für Kleidung und Möbel in minimalistischer geometrischer Formgebung. Das Bauhaus folgt mit seinen Anstößen, solche Initiativen in fabrikmäßige Massenproduktion umzusetzen. Eine Bewegung, die sich selber »Neue Sachlichkeit« nennt, bringt die ganze Ausrichtung auf den Punkt. Lassen wir die mythologische Fantasie hinter uns, nach der menschliche Vorstellung und Erfahrung von Schönheit sich auf die kosmische Ordnung bezieht; halten wir uns an das feststellbar Gegebene der notwendig und möglich gewordenen Produktionsweisen! In diesen Prozessen spielt immer weniger die Eigengesetzlichkeit der verarbeiteten Stoffe und der Rhythmus wie das Geschick der Hand der arbeitenden Menschen eine wesentliche Rolle. Die Rhythmen sind vom Takt des Fließbandes überrollt. Holz wird unter Dampf gebogen, erst zu Thonet-Stühlen, dann überhaupt. Seitdem werden einfach die Stoffe erfunden, die sich jeglicher Form anpassen, weil die Ordnung ihrer Materialität auf so niedrigem Aggregatzustand liegt, dass sie sich allen Vorgaben anpassen: »Plastik«. Dennoch ist in dieser Entwicklung Widerstand in eine Richtung angelegt. Ihrem Willen und ihrer Überzeugung nach gingen da Künstler ans Werk, die sich dem Sachzwang industrieller Massenproduktion unterwarfen, damit man den Bedürfnissen aller gerecht werden könnte. Aber sie wollten die behavioristische Trennung der Bedürfnisse nicht annehmen. Sie bestanden auf einem menschlichen Bedürfnis nach Schönheit und wollten die Befriedigung der sogenannten Grundbedürfnisse nicht von einem solchen »höheren« abtrennen lassen. Die »Neue Sachlichkeit« musste ihre Vorstellung von schöner Ordnung aus den Gegebenheiten des industrialisierten Produktionsprozesses entwickeln. Da fanden sie wenig Anhalt und suchten Zuflucht bei einer Ebene, die man aus anderen, formalen Gründen elementar nennen konnte – oft der einfachsten geometrischen Figuren. Die Sache sollte aber dadurch auch mit Schönheit selbst verbunden sein, sie eben nicht willkürlich und nur äußerlich zugesetzt bekommen. Die Formen sollten also »funktional« sein, um schön zu sein. Schönheit wurde wieder aus einer Sache und deren eigener Ordnung zu konzipieren versucht. Dieser Versuch kann so nur nicht recht gelingen. Die Funktionen selber lassen sich kaum mehr substanziell genug bestimmen. Wenn die Form des Stuhles nichts mehr mit der Struktur von Holz zu tun hat, wo bekommt man dann Kriterien her? Vom Sit190 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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zen. Das war in die Geschichte dieses Möbels, die Sigfried Giedion so eindrucksvoll zu einem Prüfstein konkreter Anthropologie gemacht hat, ebenso mit eingegangen. Nach und nach verschwand es zunehmend unter der Vorherrschaft erst von Geschmacksfragen der Form, dann von technischen Konstruktionsmöglichkeiten. Die Wiederentdeckung misslang zur Funktion. Nur die Radikalisierung des Funktionsbegriffs konnte den Anspruch einzulösen versprechen. Aber Funktion pur wird ideologisch, dysfunktional der Schönheit. Der Schalensitz ist nicht funktional für unsere Tätigkeit, zu sitzen, sondern er ahmt den Zustand des Dahingesetztseins nach. Gegen den Behaviorismus muss Schönheit zum Bedürfnis der Menschen erklärt werden. Gegenüber einer oberflächlich ästhetisierenden Auffassung ist das ein Vorteil. Empfinden für Schönheit wird so nicht länger gegen die existentielle Notwendigkeit isoliert. Das war tatsächlich ebenso geschehen, wie Kunst aus der praktischen Lebensführung ausgeschlossen und zum abgetrennten Spezialsektor gemacht worden ist. Gegen falsche Indienstnahme hatten Künstler sich dahin auch selber zurückgezogen – »l’ art pour l’art«. Aus dieser Isolierung konnte die Kunst nun lediglich als »Bedürfnis« definiert ins Leben zurückkehren. Sie ist heute bereits auf dem Wege zum Massenartikel. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Demokratisierung der Kunstproduktion proklamiert, indem der Sinn des »Originals« durch die Attraktion des »Multiple« vertrieben wurde. Faktisch wurde die Kunstproduktion für den Massenkonsum aufbereitet. Schönheit ist entsprechend zu einem Nutzen umgedeutet, umfunktioniert. Nutzen heißt eben nicht mehr auch das, »was heilsam ist«, sondern das, was augenblicklich für die Konsumenten »zuträglich«, sicher aber für Produzenten »einträglich« ist. Schönheit geht als Ware in die erweiterte Definition von Grundbedürfnissen ein. So werden die Trennungen immer tiefer, zumal unsere Religionen sich vor langer Zeit bereits vom Kosmischen getrennt haben und seit der Neuzeit unsere »Kulturen« sowohl sich von den Religionen abgelöst haben, wie auch aus dem wirtschaftlichen Handeln ausgesondert worden sind. Was zerstört ist, ist eben nicht ein isolierter Schönheitssinn oder eine »öffentliche Aufgabe von Kunst und Kultur« allein. Durch ihren Gegensatz zur Ökonomie ist Praxis, also geschichtliches Handeln überhaupt, aufgerieben. Wiedervereinigung des Getrennten gelingt nicht. Weder von der gedanklichen Seite noch von der handwerklichen kommt angestrebte 191 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Ganzheitlichkeit zustande. Die Versuche geraten ins hilflos Betuliche. Weltanschauung kann keine Abgründe heilen, sondern wird allenfalls selber aggressiv. Kommerzielle Angebote versuchen den Menschen »ein Recht auf Schönheit« einzureden. Immer hat Mode, seit eben die vorgeschriebene Kleidung der Ständegesellschaft durchbrochen und beseitigt wurde, das Erscheinungsbild ihrerseits wesentlich uniformiert. Das »Stiling« geht nun bis unter die Haut. Standardisierung wird unter Parolen von Lust und Schönheit zur Pflicht gemacht. Den Kindern ist beigebracht, dass man Äpfel nach Schönheit wählt und dass diese Schönheit glatt, gleichförmig, gleich groß heißt. Die Attraktionen müssen grelle Farben leisten wie das makellos leuchtende Grün von »Granny Smith«. Die Raster hässlicher Großbauten werden mit einer Außenschicht überzogen, die auf irgendeine Weise unsere Wahrnehmung in Anspruch nimmt, z. B. durch einen flächendeckenden Spiegeleffekt. »Kunst« wuchert in den ödesten Fußgängerzonen und schießt wie die Pilze in Schalterhallen und aus dem Beton von Wänden, die durchbrochen werden, um von Bildschirmen die Börsenkurse auf uns niedergehen zu lassen. Wiedervereinigung kann nicht gelingen, weder wo sie instrumentalisiert und erzwungen wird, noch im wohlgemeinten Kurzschluss. So verbrauchen die Gegner auf verschiedene Weise gleichermaßen jene Erinnerungen an sich ordnende Lebensformen, die Kunst lange aufbewahrt hat. Kunst ist die Statthalterin für den ksmo@ nach dem Untergang der antiken Mythologie, sagt Hans-Georg Gadamer. Selbstverständlich ist es gut, wenn Künstlerinnen und Künstler die Ansprüche auf solche Erinnerungen erneuern, auch an den Manifestationen sehr veränderter Bedingungen, die uns treffen. Selbstverständlich ist es gut, wenn Menschen im bescheiden eigensten Umfeld oder als Alternative zum industrialisierten »Warenkorb« Dinge so zu machen verstehen, dass Gestalt sich im Dialog mit den Bewegungsformen lebendiger Organismen und den Strukturen geronnenen Materials herausbildet. Aber dies können nur Ansätze sein, die alleingelassen ziemlich spurlos zerfallen. Die Gesellschaft muss als ganze Erfahrungen von solchen Zugängen zu Ordnungen machen. Eine neue Richtung von Naturwissenschaftlern nennt solche Vorgänge in der Natur Resonanz. Der Begriff wird von ganz verschiedenen Seiten aufgenommen, nicht nur in der Musik, wo er ja zu Hause ist. Resonanz bedeutet, aufzunehmen und auf eigene, doch entsprechende Weise zu antworten. Das kann nur gelingen, weil uns nicht absolut fremd ist, 192 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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was da aufzunehmen ist. Und das heißt, wir entdecken zwischen den Bewegungsformen des Anderen und unseren eigenen eine Verwandtschaft, die vielleicht entfernt, vielleicht auch ganz nah ist. Goethe sagt, Schönheit ist Notwendigkeit mit Freiheit. Wenn er unter den Trennungen in der menschlich organisierten Welt litt, suchte er die Erfahrung solcher Ordnung in der Natur auf, um den Mut zu schöpfen, mit dem es ins Menschliche, ins Geschichtliche hineinzuwirken gilt. Unmittelbar sind dies die Momente seelischer Ermutigung in uns als Einzelnen oder mit wenigen Freunden. Solche Erfahrung kann darüber das allgemeine Bewusstsein in uns bestimmen, wenn Nutzen und Schönheit auch und zunächst in Formen des Wirtschaftens als zwei Seiten des selben wirken. In der Schönheit gehören Gesetzmäßigkeit und freie Entfaltung ihrer Bedingungen, im Nutzen gehören zwingendes Bedürfnis und Genuss zusammen. Was nenne ich dabei Genuss? Die Beobachtung und unser Mitwirken und unser Erleben bilden uns zugleich und freuen uns. Genuss kann und muss an Arbeit ebenso wie in Hingabe und am beglückenden Geschenk erwachsen. Im Wirtschaften muss Gegebenes intensiv und vielseitig genug erfahren werden. Dies darf nicht als hilfreicher Begleitumstand, sondern als Grundlage des Vorgangs und als Quelle von Nutzen im Spiel sein. Industrialisierte Produktion kann dem nicht gerecht werden. Weil wir aber so vieles brauchen, was nur anders, nicht industriell produziert werden kann, ist ein solches Wirtschaften keine Utopie. Es existiert noch heute und kann sehr großen Umfang gewinnen und braucht eigene Wirtschaftsformen. Nur wo Schillers Ästhetik, für die eine gelingende Gesellschaft das wichtigste Kunstwerk ist, weiter entwickelt wird, kann Schönheit Ausdruck von Nutzen und Nutzen wiederum der Nährboden des Schönen sein. Die Künste holen das Wahrnehmen in das Bewusstsein zurück. Wahrnehmen dessen, wie Menschen leben könnten und wie Natur zu leben vermag. Aus diesen Wahrnehmungen heraus neu zu gestalten, wozu uns Erkenntnis und Machbarkeit drängen, ist Vision und unmittelbare Tagesordnung des bedrohten Lebens auf der Erde zugleich. Die ornamented farm des 18. Jahrhunderts hatte keine Zukunft, weil Agrarindustrie bereits die farm zur Idylle machte. Es ging nicht um ein gefälliges Erscheinungsbild, sondern um Kunstdünger auf Grenznutzenböden. Die Konzentration der Weltbevölkerung in urbanistischen Zonen dreht heute das Verhältnis um. Der Nutzen ihrer Bebauungsraster lässt sich nur retten, indem sie sich neu durchsetzen mit der 193 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Nutzen und Schönheit
Natur, die sie verdrängt haben, aber zum Atmen und zur Ernährung brauchen. Ökotope, Inseln wiedererfundener Natur müssen die mega cities durchsetzen. Ordnungen müssen erdacht und verwirklicht werden, in denen die Lebensformen der Menschen gemeinsame Rhythmen bilden können mit dem Leben der Pflanzen und der Tiere. Dafür müssen ebenso die meteorologischen Bedingungen gesichert werden. Die neuen Häuser, die alle Energie aus dem Boden und von der Sonne gewinnen, gehören zu den technischen Vorboten eines verträglichen Miteinanders. Die vielen Ebenen urbaner Subsistenz sind zu Kunstwerken gelingender »Allianz mit der Natur«, wie Ernst Bloch sagte, für die Gesellschaften der Zukunft zu vereinigen. Auch die geschichtliche wie lebensgeschichtliche Existenz der Menschen muss sich zwischen den Notwendigkeiten des Überlebens und der Freiheit der Entfaltung des Lebens vollziehen. Unsere konventionellen Vorstellungen von Ökonomie als Wirtschaften nach den Prinzipien des Mangels und deren Umkehrung in das Desiderat unendlichen Überflusses, kehren Notwendigkeit und Freiheit gegen einander. Ökonomie muss die Kunst werden, jenseits von Fron und Expansion, die noch immer ungeahnte Fülle und Vielfalt menschlicher Beziehungen in der Gesellschaft und zwischen uns und der Welt immer neu einzulösen. Ihnen in der Gestaltung von Situationen, Werken und Handlungsweisen Ausdruck zu verleihen, hieße ebenso Kunst wie Ökonomie. Auf den Wegen dahin müssen beide Hand in Hand gehen und die Wirklichkeit von Kulturen, Technik und Künste, Zusammenleben und Wahrnehmung, Produktion und Konsumtion immer neu erfinden. Immer neu. Einst wurde verkündet, dass es nach der Revolution keine Kunst und keine Philosophie mehr brauchen werde. Das war Unsinn, weil die menschlichen Lebensformen gerade zwischen den Polen der Spannung sich entwickeln. Eine Konvergenz von Ökonomie und Kunst wäre ebenso fatal. Die grundlegenden Schritte zu den Erfindungen sind die der Arbeit mit den Formen pluralen Wirtschaftens, die sich uns noch erhalten haben, die sich aber auch neu anbieten. Dafür geht es nicht nur um Technologien und Organisationsmodelle. Vielmehr kann eine solche Zukunft nur in einem Bewusstsein erwachsen und reifen, das überzeugend alle diese Seiten vereinigt. Bewusstsein, in dem diese Arbeit wachsen, reifen, überzeugen kann.
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KREISLÄUFE DES WIRTSCHAFTENS
Wir sind gewohnt, vom Kreislauf einer Volkswirtschaft zu sprechen und ihn als ein Ganzes dem Außenhandel gegenüberzustellen. Irgendwie unterscheiden wir dann noch eine engere Wirtschaftszone, etwa eine Freihandelszone mit den Nachbarländern, inzwischen ist die Europäische Union an deren Stelle getreten, und die Weltwirtschaft insgesamt. Dies sind Gegenüberstellungen im Raum. Ihre Kategorien sind Abgrenzung und deren Aufhebung. Ihr Feld ist die Geographie. Ihre Methode die Geopolitik mit ihren Konfrontationen und Bündnissen. In der Pluralität der Wirtschaft sind unterschiedliche Formen des Wirtschaftens innerhalb des selben Raumes einander gegenübergestellt. Ihre Kategorien sind unterschiedliche Qualitäten und deren wechselseitige Ergänzungen, Schwellen und die Verwandlungen bei ihrer Überschreitung. Ihr Feld ist die Typologie. Ihre Methoden sind Differenz und Komplementarität. Ihre Kreisläufe bedürfen des Rhythmus und bilden sich im Wesentlichen in der Zeit. Die Unterscheidung von einer Mikroökonomie der Haushalte gegenüber der Makroökonomie des nationalen Haushalts gehört dann schon einer anderen Systematik an. Die Pluralität unserer Wirtschaftsformen ernst zu nehmen bedeutet indessen, dass wir darangehen müssen, diese als ein In- und Miteinander ebenso vieler Kreisläufe zu begreifen. Diese können zunächst nur nebeneinander beschrieben und aus ihren historischen Entwicklungen verstanden werden. Eine sinnvolle und durchgängige Ordnung zu entwerfen, ist die bevorstehende Aufgabe. Um eine jede Wirtschaftsform angemessen für sich zu bewahren und sie alle konsequent auf einander zu öffnen, müssen die Beschreibungen erst einmal jede für sich deutlich genug werden. An Systematiken nach den Prinzipien für den Markt und das Kapital fehlt es selbstverständlich nicht. Deshalb kreisen die folgenden Überlegungen um die theoretisch wesentlich ausgeblendeten Formen in ihren Verhältnissen zum beherrschenden Sektor. 195 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Kreisläufe des Wirtschaftens
Im globalen Maßstab werden die Probleme des notwendigen Zusammenspiels von Kreisläufen verschiedenster Ebenen und Größenordnungen in ihrer elementaren Bedeutung für Ordnungen bewusst, die wenigstens tendenziell gelingen könnten. Zwar existiert das Wirtschaften auf der Welt nicht in tausenden von Kreisläufen ganz unterschiedlicher Organe wie der menschliche Leib; doch sind häuslicher, lokaler, regionaler, kontinentaler und globaler Kreislauf immer noch von so verschiedenem Charakter, dass ein gelingendes In- und Miteinander alles andere als selbstverständlich ist. Im Gegenteil. Bei dieser vergleichenden Betrachtung der Kreisläufe wird die Pluralität der Wirtschaftsformen erst in ihrer ganzen systematischen Bedeutung erkennbar. In Beziehung auf die Lebensformen können wir uns grundsätzlich vorstellen, dass Subsistenz und Industrieproduktion, Gabentausch und monetärer Markt einander sinnvoll ergänzen. Recht besehen ist der Alltag selbst in den seit Jahrhunderten industrialisierten Gesellschaften immer noch voll von Beispielen dafür. Die Beispiele für Verdrängung und Vernichtung lokaler Märkte, hauswirtschaftlichen Gebens und Nehmens, regional traditioneller Gleichgewichte durch globale Expansion zeigen freilich die aktuellen Probleme umso deutlicher. Historisch ergeben sich entsprechend den jeweiligen Machtverteilungen, aber auch entsprechend unterschiedlich intensivem Unternehmungsgeist und anderen Zügen der Mentalitätsgeschichten sehr unterschiedliche Konstellationen von Ergänzungen, Verwerfungen, Unterdrückungen, Erneuerungen, Zusammenbrüchen. Die bürgerliche Darstellung der Ökonomie hat im Wesentlichen ein beschreibendes, Typen bildendes Verhältnis zur Wirtschaftsgeschichte. Die Marx’sche politisch-kritische Analyse der Vorgeschichten gegenwärtiger Strukturen ist zu idealtypisch auf ein System voll entwickelter Marktwirtschaft unter Bedingungen profitbestimmter, kapitalistischer Produktion ausgerichtet. Deshalb habe ich um 1970 eine eigene Theorie für spezifische Mischformen zu konzipieren begonnen. Mein erstes Modell wurde »die Ära des italienischen Kaufmannskapitals«, im 15. Jahrhundert vor allem Oberitaliens. Dabei zeigte sich, dass diese Ära und das Bewusstsein ihrer Protagonisten geprägt war von einer vollkommen untypischen Überlagerung heterogenster Kreisläufe. Mein zweites Modell ist das 16. Jahrhundert in Frankreich, also die Ära des sich durchsetzenden absolutistischen Zentralismus und der Manufakturen. Eindeutig wird da die Heterogenität deutlich überlagert durch parallele Strukturen. Das typische Neben196 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Kreisläufe des Wirtschaftens
einander wird zwar von den neuen Strategien durchbrochen. Die Heteronymität der Verhältnisse bleibt aber charakteristischer Zug der verschiedenen Kreisläufe. Deren Zusammenwirken zu einer bestimmten Epoche mit ihren Lebensformen im Wirtschaften und in der Kultur insgesamt habe ich mit eigenen theoretischen Figuren zu erfassen versucht, um die besondere Beeinflussung dieser Seiten auf einander verständlich zu machen. Gleichzeitig habe ich diese Versuche an den frühkapitalistisch genannten Epochen auch als eine Vorübung für ein differenzierteres Verständnis der spätkapitalistischen Gegenwart begriffen. Darauf greife ich umso notwendiger wieder zurück, als das ambivalente Spannungsverhältnis von spektakulärer Kapitalisierung und ungeachtet fortwirkender Subsistenzwirtschaft immer noch aktuell ist, bzw. unter ganz anderen Bedingungen neu aktuell wird. Die heimische Reproduktion, marxisch gesprochen, beruhte noch auf mittelalterlicher Subsistenzwirtschaft. Überwiegend lebte die Bevölkerung vom Landbau, und zwar sozusagen von der Hand in den Mund. Tausch und auch Abgaben an die Feudalherrschaft gingen in Naturalien vor sich. Monetäre Kreisläufe wurden zwar durch den regionalen Handel und die Auferlegung von neuen Steuern, die nun in Münze zu entrichten waren, zunehmend durchgesetzt und auferlegt, bildeten aber keineswegs die vorherrschende Wirtschaftsform. Allerdings war deren Dynamik zweifellos bereits das treibende Moment. Typus der Produktion war das Handwerk ohne einen bestimmenden Einfluss von Kapitalstrategien. Das habe ich entgegen bürgerlichen wie marxistischen Wirtschaftsgeschichten behaupten können. Der entscheidende Punkt ist nämlich nicht, dass im späteren 15. Jahrhundert Produktionsmittel – klassisches Beispiel sind die Webstühle abhängig werdender Weber unter der finanzwirtschaftlichen Vormacht der Medici – juristisches Eigentum von Handelsherren wurden. Zu untersuchen war die Frage, ob mit dem Übergang des Eigentums auch die Funktion, die Produktionsweise, die kalkulatorischen Prinzipien des Kapitals die handwerkliche Sphäre ergriffen. Und das war erst in den zentralisierenden Strategien des Manufaktur- bzw. Hauswirtschaftskapitals der Fall. Für diese Epoche war eine weitere eigene Wirtschaftstheorie zu entwickeln. Die habe ich für das 16. Jahrhundert in Frankreich vorgelegt. Das wohl wichtigste besondere Moment in der Konstellation des Quattrocento war nun die faszinierende Rolle des Fernhandels. Mit Ländern anderer Regionen und Kontinente hatte es durchaus schon früher Handel gegeben. Aber er brachte nun eine ent197 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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scheidende Dynamik in die Verhältnisse der oberitalienischen Handelsstädte und beschleunigte mittelbar auch die Monetarisierung der Wirtschaftsformen bis in die lokale Ebene. Dabei bildete sich ein eigenartiges kulturelles Bewusstsein aus. Es war gewissermaßen idyllisch und auch trügerisch, für einen Zeitraum des Übergangs aber durchaus sehr fruchtbar. Produktives Tun blieb unverändert handwerklich. Es wurde als Lebenstätigkeit begriffen. Anschaulich wurden die Leistungen aus einem sinnlichen und damit auch aus einem eine gewisse Individualität bildenden Bewusstsein begriffen. Marx hat das treffend den »bornierten Kunstsinn des Handwerkers« genannt. Malerei, Literatur, Tanz, Philosophie der Höfe und in ihrem städtischen Umfeld haben Individualität und Sinnenhaftigkeit in dieser Zeit dann, alle Borniertheit aufbrechend, zu der Blüte der frühen Renaissance entfaltet. Möglich war das durch den neuen Reichtum, der aus dem Handel mit dem Orient, mit Nordeuropa usw. erwuchs. Reichtum ohne eigene wirkliche Arbeit. Man konnte, in einigen Zentren dieser Handelsmacht, über seine Verhältnisse leben, sofern diese eben durch die Notwendigkeit bedingt sind, zu produzieren, wovon man leben will. Das heimische Handwerk wäre jedoch nicht zu einer Produktion in der Lage gewesen, die entsprechend opulente Profite eingebracht hätte. Das ist die illusorische Seite dieses Reichtums im finanziellen und im kulturellen Sinne. Beide Seiten waren nicht zu einem ökonomisch vermittelten, nur zu einem historisch-faktischen Miteinander gediehen. Sie blieben einander äußerlich. Tatsächlich hat die Ära des Manufakturkapitals denn auch drastische systematische Reduktionen gegenüber solcher Individualität, die keineswegs in den Wirtschaftsformen und Lebensweisen des Landes im Ganzen begründet war, und dem befreiten Sinnenreichtum gebracht, der sich fern von den produktiven Strukturen ausgebildet hatte. Ich habe, im Zusammenhang mit der neuzeitlichen, systematischen »Naturbeherrschung am Menschen«, Theorien für die beiden ersten Phasen frühkapitalistischer Entwicklung aufgestellt, durchaus in dem Bewusstsein, daran das Begreifen von und den Umgang mit so hybriden Strukturen und Tendenzen zu üben, wie wir sie in der spätkapitalistischen Phase vor uns haben. Selbstverständlich sind die präklassischen Verhältnisse nicht mit den postklassischen einfach zu vergleichen. Beide haben mit Heterogenität zu tun, aber auf ganz andere Weise. Gemeinsam ist jedoch die Bedeutung der Gleichzeitigkeit von Wirtschaftsformen, die unsere Geschichtsschreibung nur als Nach198 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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einander hat begreifen können, so als ob Subsistenz eine frühe und primitive, Industriekapitalismus die fortschrittlichste Form sei, die alle übrigen ins Hinterwäldlerische verbannt. Als zweites Modell müsste jetzt die gegenwärtige Situation dargestellt werden. Dies soll sich aber aus einer weiteren systematischen Betrachtung ergeben, nämlich der des unterschiedlichen Zusammenspiels der Kreisläufe in den Epochen dieser Geschichte. Das je besondere Muster, zu dem die einander überlagernden Kreisläufe sich zu einander in Beziehung gebracht haben, kann vielleicht mit einer Reihe von Paradigmen skizziert werden. Sie bezeichnen freilich nur eine Pointe des sogenannten Zeitgeistes und sind sicher weit entfernt davon, das Bewusstsein der jeweiligen Bevölkerung auszudrücken. Der Ära des Kaufmannskapitals im Quattrocento haben wir das Paradigma einer »Entfaltung von Sinnen und Beziehungen« zugeordnet, wie sie kulturell durch Botticelli und Raffael, Ficino und Pico della Mirandola zum Ausdruck kommt. Das Miteinander im mittelalterlichen ordo war genügend aufgelöst, um der Vorstellung von freierer Individualität Raum zu geben; es schien auf neue Weise freier eingelöst werden zu können. Die Ära des Manufakturkapitals hat die Auflösung fortgesetzt. An die Stelle von ordo als einem Beziehungsganzen traten Strategien der Zentralisierung und Schemata äußerlichster Anordnung nach einfachen geometrischen Modellen. Statt des Kanons von einander ergänzenden Unterschieden werden Aufzählungen von Elementen vorgenommen, Taxonomien des Faktischen. Erst in den Verhältnissen eines weitreichenden Systems von lokalen und regionalen Märkten, durchaus mit überregionalen Perspektiven im Verlauf kolonialer Expansion, kam ein eigenes Selbstbewusstsein der Akteure zustande, zugleich mit einem historischen Vertrauen in die Funktionen dieses Systems. Adam Smith konnte dem seine Vernunftformel der Aufklärung unterlegen und von Gleichgewichtsprozessen zur Wohlfahrt aller sprechen. Wie allerdings die Bedingungen solchen Gleichgewichts bei radikaler Ungleichheit der Macht bzw. Ohnmacht der Menschen gewährleistet werden sollte, war nicht mehr Gegenstand der Theorien. Ebenso wenig wurde eben auf die anderen Wirtschaftsformen geachtet, die wir im Begriff Subsistenz zusammenfassen. Sie waren aber gerade in der Phase des Aufbaus industrieller Großstrukturen die alles tragende Basis. Ohne sie war jede Entwicklung vollkommen unrealistisch. Auf der 199 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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anderen Seite stellten die zunehmend verlässlicher, kalkulierbarer gestalteten weltweiten Verbindungen mit Kreisläufen anderer Gesellschaften in anderen Erdteilen ihrerseits für die Systeme europäischer Länder gleichermaßen elementare Voraussetzungen zur Verfügung. Die Ausbeutung heimischer wie überseeischer Arbeitskräfte, die Ausbeutung von Rohstoffen und Energiequellen der Natur, die Verfügung über gewaltsam erschlossene Absatzmärkte in den Kolonien sind entscheidende Faktoren im Funktionieren dieser Systeme. Sie alle haben mit Vernunft nicht das Geringste zu tun. Das leidlich reibungslose Ineinandergreifen der vielen Kreisläufe ist nur in einem Ausschnitt als Zusammenspiel zu bezeichnen und war im Übrigen Ergebnis zielgerichteter Ausübung von Herrschaft. An keiner Seite wird dies deutlicher als am Naturverhältnis. Dass Bevölkerung nur in wenigstens rudimentär zu beachtenden Kreisläufen von »Reproduktion der Arbeitskraft« bzw. der »Reproduktion neuer Generationen von Arbeitskräften« zu haben sei, war denn doch offensichtlich. Vernachlässigt wurde, dass es dabei auch noch um die Lebensgeschichten von Individuen ging. Kreisläufe der Natur kamen tatsächlich überhaupt nicht in Betracht, obwohl die Erforschung der Erdteile und der Lebensformen der Völker mit ihrer jeweiligen Weltgegend unter einem neuen Begriff von Kosmos bereits gerade das ebenso naturwissenschaftliche wie humanitär-kulturelle Programm Alexander von Humboldts war. Machen wir uns zunächst etwas klarer, womit wir es in Wirklichkeit zu tun haben, wenn wir überhaupt von Kreisläufen sprechen. Die unabsehbaren Zahlen der jeweiligen Metabolismen und Kreisläufe, die erst miteinander das Leben eines Tiers, einer Pflanzenart, eines Ökosystems bilden, ist staunenswert. Wie können wir uns Vorstellungen davon machen? Das Zusammenspiel der vielen Funktionen und ihrer Rhythmen ist so komplex, dass wir es nie vollständig messen und rekonstruieren können. Sie tragen und fördern aber einander, statt sich aufzuhalten und zu stören. Wie stellen in einzelnen Wesen, in ganzen Arten und erst recht in Gegenden der Welt Kreisläufe der Natur sich aufeinander ein? Gleichgewichtsgänge bilden ihre Gleichgewichte im Gang der vielen Bildungen miteinander aus. Das ist die Intelligenz der Evolution: CoEvolution. Veränderungen sind möglich, sogar notwendig. Integriert werden können sie nur durch Geschichten, in denen eingespielte Wechselwirkungen sich mit neuen verbinden. Was zusammenwächst, 200 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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gehört irgendwann zusammen – und was sich stört und zerstört, zerfällt. Die Rede von einem Weltwirtschaftssystem ist töricht, weil seine Ebenen und Teile nie in sich betrachtet und aufeinander gepasst worden sind. Sie ist frech, weil sie behauptet, die vorläufigen Resultate gewaltsamer Eingriffe könnten ein System bilden. Sie ist wahnhaft, weil sie die Zielsetzungen eines einseitigen Interesses und deren Macht einfach als gültige Realität behauptet und auch noch mit dem Anschein einer Vernunftnotwendigkeit umgibt. Kapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus sind solche Bemächtigungen in einseitiger Interessensdefinition. Ihre Kritik wird inzwischen aus dem Reich politischer Ideologien befreit und überführt in die Betrachtung und Untersuchung von Wirklichkeit. Die so lange geradezu systematisch versäumte Frage kehrt in traditioneller Aufmerksamkeit und fortgeschrittenster Forschung zurück: Wie lebt das Leben? Die Antworten auf diese Frage bilden die Elemente einer Ökonomie des Lebens. Allgemein geht es um die Vielfalt der Arten in der Natur, die kulturelle Vielfalt und die Vielfalt der Geschlechterbestimmungen. Die je besonderen Fragen müssen sich auf die jeweilige Art, die jeweilige Kultur, die je besondere Weiblichkeit und Männlichkeit, Kindheit und Altersphase zusammen mit deren Kreisläufen beziehen, um deren Bedingungen gegen unvermittelbare Störungen zu schützen und deren Potentialen womöglich weitere Spielräume zu eröffnen. Diese, wir können sagen, mikroökonomischen Wirklichkeiten gehören mit den großräumigen Vorgängen zusammen. Auf allen Ebenen geht es um die jeweiligen Kreisläufe und darum, wie diese ineinandergreifen, einander fördern können, statt Konflikte über ein erträgliches Maß hinaus zu provozieren. Die Weltklimazonen bieten ja in ihrem Austausch unterschiedlichster Regionen auf den verschiedenen Ebenen etwa der kalten und warmen Ströme, der hemisphärischen und jahreszeitlichen Winde ein perfektes Modell mit seinen erst langsam wahrgenommenen Bedingungen wiederum in lokalen und mikroklimatischen Bedingungen. Die enormen Probleme, die sich bei deren Störung zeigen, geben eine erschreckende Anschauung davon, was in einer evolutionären Wirklichkeit Bedingungsgefüge bedeuten. Gegenwärtig sind wir ökonomisch noch derartig damit beschäftigt, dass die einen ihre globalen Einheitsstrategien auf Biegen und Brechen regional und lokal durchzusetzen trachten, während die ande201 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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ren solcher Gewalt entgegenzuwirken versuchen, dass die Theoriebildung gar nicht nachkommt. Wie können wir Vorstellungen und Modelle entwickeln, mit denen wir vor allem die Kreisläufe der Erde so ökonomisch zu begreifen und zu formulieren vermögen, dass deren Erfordernisse und Angebote umgedacht werden können in Strategien und Verhaltensweisen einer Weltwirtschaft, von Volkswirtschaften und regionalen Wirtschaftszonen, von lokalen Kreisläufen und Haushalten? Wir merken, dass die fossilen Brennstoffe den Kreislauf der Geosphäre in gebundenen und ungebundenen CO2 -Stoffen zu kippen begonnen haben, Biofuel aber andere Kreisläufe in Gefahr bringt, nämlich die Ernährung der Weltbevölkerung. Das gleiche zu begreifen zwingen uns jedoch auch die atmosphärischen Potentiale der Bewaldung. Wir brauchen also äußerst vielschichtige und sensible Simulationen solcher Zusammenhänge, und zwar solche, die eben nicht im Stil der Kybernetik von im Voraus gesetzten Zielen rückwärts rechnen. Sie müssen geeignet sein, im Stile der Evolution von den Gegebenheiten auszugehen, in dem Versuch, deren Bedingungen und Möglichkeiten auf annehmbare Konvergenzen zu prüfen. Das heißt, wir müssen grundsätzlich epigenetisch denken lernen, wie die Evolution es uns vorgibt. Unter diesen Parametern wird eine dramatische Gegenläufigkeit der aktuellen Entwicklungen mit gnadenloser Schärfe erkennbar. Im Rahmen der europäisch-westlichen, der sogenannten früh industrialisierten Gesellschaften steht tatsächlich die Ablösung der menschlichen Fron durch die Automatisierungen bevor. Dieser Prozess wird allerdings überlagert durch die Verlagerung von noch gebrauchten Arbeitsplätzen in Billiglohnländer. Bedroht werden die Verheißungen der seit zwei Jahrhunderten erstrebten Wirtschaftsform für die Gesellschaft durch die Konkurrenz im Zuge der Globalisierung. Das ist eine Vereinfachung. Globalisierung bezeichnet insofern genau die Strategien, mit denen die früh industrialisierten Mächte noch heute einen Weltmarkt betreiben und erzwingen, der die Freiheit ihrer Expansionen systematisch und immanent garantiert. In den westlichen Ländern wird vor allem die Problematik beachtet, dass in deren Entwicklung die Kapitalrenditen als »Globalisierungsgewinner« den Arbeitslosen als »Globalisierungsverlierer« in den eigenen Reihen einander konfrontiert sind. In Wahrheit wird dieser Prozess aber überlagert von den welthistorischen Konsequenzen der verschwiegenen exogenen Faktoren der Industrialisierung und der frühen Expansion Europas und Nordamerikas seit seiner Unabhängigkeit. 202 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Durch die Rückwirkungen der Wirkungen, die von den großen westlichen Industriewirtschaften im 19. und 20. Jahrhundert in die übrige Welt ausgegangen sind, werden die ursprünglichen falschen Proportionen noch einmal gebrochen. Globalisierung ist ein Begriff für eine aktive Strategie. Als Akteure werden, soweit auch vollkommen zu Recht, die global player angenommen, die vom Norden aus ihre Interessen mit Hilfe eines »freien Weltmarktes« durchzusetzen versuchen, der frei vor allem für sie selber sein soll. Dabei wird aber die freie Verfügung über die Arbeitskräfte und die Rohstoffe der »Dritten Welt« nicht einfach fortgesetzt. Die Baumwollplantagen in Indien waren seit dem späten 18. Jahrhundert Zulieferer für die britische Industrie. Die Kautschukplantagen in Südamerika oder Afrika lieferten nur den Rohstoff für die Gummiproduktion. Das historische Versprechen der großen Industrie, das selbstverständlich nur auf die eigene Bevölkerung der Industrieländer bezogen war, verhieß, die menschliche Arbeit von verschleißender Fron zu befreien und eine gute Erfüllung der Bedürfnisse zu gewähren. Technisch ist diese Vision mit der Automatisierung mehr oder weniger eingelöst. Von daher stünde eine Umverteilung des so erworbenen Reichtums über das Maß hinaus an, in dem sie nicht schon in vergleichsweise bedeutend erhöhtem Einkommen der Erwerbsarbeit realisiert ist. Einerseits wird aber dieser Reichtum als Industriekapital zunehmend an Orte des Weltkreislaufes, das heißt in die Kreisläufe anderer, früher nur zuliefernder Regionen verlegt. Damit werden außerdem Plätze der Erwerbsarbeit aus den alten Zentren abgezogen. Andererseits entwickeln jene Volkswirtschaften eine eigene Dynamik, die auch von dort ausgehend das alte Gefälle der Macht, der Waren- und Reichtumsströme bereits beträchtlich umgekehrt hat. Das bedeutet indessen keineswegs, dass nun ein Ausgleich der Gerechtigkeit auf dem Wege weltweiter Verwirklichung wäre. Weder in den Industriestaaten noch zwischen »erster« und »dritter« Welt. Die offensichtlichste Verschiebung der Strukturen besteht darin, dass immer deutlicher sich innerhalb der Länder aller Regionen eine vertikale Teilung ausbildet: Eine »erste« Welt in vielen Gesellschaften der »dritten« erstarkt mit einer kapitalstarken neuen Mittelschicht, die nicht nur Anschluss an die noch westlich dominierten terms of trade gefunden hat, sondern auch ihre Lebensformen und Vorstellungen weitgehend von der eigenen Geschichte trennt. Kulturell entstehen zwar weitere eigene Modernen unterschiedlichster Prägung und Rich203 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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tungen. Der Sog dessen, was dort als »American way of life« ankommt, ist jedoch so stark, dass viele ihm ohne große Reflexionen und Veränderungsansprüche verfallen. In den seit langem industrialisierten Ländern bilden sich nicht nur Sektoren zurückfallender Entwicklung aus. Vielmehr entsteht geradezu ein Bewusstsein, eine Art »dritte Welt in der ersten« zu entwickeln, indem die rein expansive Dynamik des großen Kapitals in Frage gestellt, Markt wieder als lokales Modell konkreter Austauschbeziehungen entdeckt wird und neu Möglichkeiten der Beziehung ökonomischer Vorgänge zu kulturellen Prägungen gesucht werden. Landbau wird als realer und als symbolischer »Stoffwechsel mit der Natur« begriffen. Arbeit als wirkliche Ausbildung menschlicher Vermögen und zwischenmenschlicher Beziehungen am Gegenstand der Produktion. Erwerbstätigkeit wird eingebunden in den heimischen Lebenszusammenhang wie in dem Modell von Frithjof Bergmann. Alle diese marginalen, aber signifikanten Entwicklungen werden, kaum bemerkt und noch weniger geplant, ins Leben gerufen zusammen mit einer aufkommenden Wahrnehmung dafür, dass »Kreativität« als entscheidendes Potential des Wirtschaftens begriffen werden muss. Gemeint ist in Wirklichkeit, was ich in dem ersten Aufsatz, der von mir veröffentlicht wurde, »Objektiver Faktor Subjektivität« genannt habe. Mit der ironisch paradoxen Formulierung wollte ich 1973 das mechanisch-dogmatische Verdikt des gar nicht mehr sehr dialektischen Marxismus aufbrechen. Ohne das Zutun der wirklichen Menschen bleiben die objektiven Faktoren der Produktion, wie die Theorien sie beschreiben, eben auch die marxistische, ein unbrauchbarer Apparat. Heidegger hätte Gestell gesagt. Die konkreten Individuen sind die Glieder der Gesellschaft, die das gestische Wissen des Leibes und die unsystematische Erfahrung der Lebensgeschichten verbindend und belebend einbringen: Subjektivität. Selbst wer in Faktoren denkt, muss das als objektive Gegebenheit anerkennen. Eine Ökonomie des Lebens wird auch hier die Wechselbeziehungen zwischen den inneren Kreisläufen der Menschen und den äußeren zur Aufgabe gegenseitiger Entfaltung machen. Es ging und geht um »Lebenstätigkeit«, und zwar in einem ebenso sinnenhaften wie geistigen Bewusstsein. Dass Leben wie Überleben nur in angemessenen Beziehungen zwischen der Natur, die wir leiblich selber sind, und der Natur uns gegenüber zu tragfähigen Lebensformen gestaltet werden können, ist A und O, Anfang und Fülle aller Kultur. Die Trennung ist nicht eine nur ökonomische geblieben. Der 204 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Behaviorismus hat die menschliche Existenz selber in Grundfunktionen aufgeteilt wie z. B. Ernährung und Kleidung gegen Kommunikation und sie derart hierarchisch interpretiert, dass höhere Funktionen erst denkbar werden, wenn die niederen abgedeckt sind. Ein Mahl mit Gesprächen wäre im Prinzip gar nicht möglich. Umdenken in der Praxis des Lebens, metano…a, in den seit langem industrialisierten Gesellschaften ist die wichtigste Bedingung dafür, dass in der übrigen Welt der Sog unseres »Lebensstandards« und der Methoden zu ihrer Realisierung nachlässt. Nur dann können andere Reflexionen und die Besinnung auf andere Erfahrungen wieder Raum gewinnen. Ansätze zu solchem Wandel hier können mittelbar auch Beiträge für die Anderen bedeuten. Zusammen mit gemeinsamer Sorge für gemeinsame Probleme kann sich ein eigener Kreislauf bilden, in dem die Betroffenen weltweiter Krisenmomente einen geistig-materiellen Austausch entwickeln. Eine solche globale »Selbsthilfegruppe« ist etwa beim »World Uranium Hearing« unter all denen entstanden, die auf den verschiedenen Ebenen zu Opfern der Uraniumtechnologie geworden sind. Die Charta für die Rechte indigener Völker an ihren Ressourcen etabliert mehr als eine Welt umfassende Interessengruppe. Sie stellt den Umgang mit den Potentialen der Welt auf eine Basis, von der den globalisierten Wirtschaftskreisläufen eine eigene Ebene ausgleichenden Handelns gegenübergestellt werden kann. Das glückliche Zusammentreffen sinn- und sinnenhaft handwerklichen Produzierens mit dem Genuss von fernher eintreffender Reichtümer in der Ära des italienischen Kaufmannskapitals an der Oberfläche der Gesellschaft konnte eine konkrete, wenn auch damals ganz unrealistische Vision anregen: die Entfaltung von Sinnen und Beziehungen. In der Ära des Manufakturkapitals ergab sich eine in sich paradox motivierte, aber äußerst realistische Konvergenz. Handelsstarkes, aber nicht staatsmächtiges Bürgertum und absolutistische Staatsmacht ohne eigene ökonomische Grundlage hatten beide größtes Interesse an Zentralisierung. Die einen um der rationalen Chancen durchschaubarer und berechenbarer Strategien des Handels willen, der Absolutismus für die Durchsetzung seiner irrationalen Macht mit Hilfe von Strategien der Rationalisierung der zu beherrschenden Welt: Geometrisierung. Dem folgte das Modell des funktionierenden Marktmechanismus. Es war realistisch und unrealistisch zugleich konstruiert. Real schuf die 205 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Kommunikation zwischen Nachfragern und Anbietern tatsächlich die Möglichkeit, frei Bedürfnisse und Fähigkeiten auszubilden, und zwar so, dass beide Seiten einander ebenso bedingen wie fördern und fordern. Unrealistisch war diese partiell durchaus funktionierende Konstruktion dadurch, dass sie eine innere und eine äußere Grundbedingung der historisch gegebenen Gesellschaft grundsätzlich ignorierte. Der Mehrzahl der Bevölkerung gelang es nicht und konnte es im Ganzen nicht gelingen, die Voraussetzung zur Teilhabe an der Kommunikation und dem Austausch zu erringen: Unabhängigkeit vom Gegenüber, wie partiell und relativ diese auch nur zu sein brauchte. Und die Nahrungsmittel, deren diese Marktgesellschaft bedurfte, kamen ihr weitgehend aus Umständen zu, die dem Modell vollkommen äußerlich waren: Macht über die Wirtschaften anderer Länder und die Arbeitskraft der Abhängigen im eigenen. Die »Reservearmee« der Arbeiter und die koloniale Ausbeutung waren mit den Marktkreisläufen nicht systematisch in das Modell integriert. Sie wurden entsprechend nicht in Wechselbeziehung zu ihm begriffen. Muss man also vom Markt als einer Utopie sprechen, die freilich bemerkenswerte Ansätze in der konkreten Geschichte hervorgebracht hat? Der Begriff Utopie kann gerechtfertigt werden in dem Maße, in dem wir an die Aufgabe gehen, das unfertige Modell in die wirklichen Bedingungen der Welt hinein weiter zu denken und zu realisieren. Zu den Zielvorstellungen müssen Wege konzipiert werden. Die Möglichkeiten müssen zu den historischen Bedingungen ins Verhältnis gesetzt werden. Das bedeutet, die gedachte Rationalität des »klassischen« Gleichgewichtsmodells Markt, immer zusammen mit dem einer Demokratie, umzusetzen in eine Rationalität fortschreitender Verwirklichung, mit anderen Worten: in ein Zusammenspiel der Kreisläufe, das so viel Freiheit, Gerechtigkeit, Tragfähigkeit und Entfaltungschancen, wie jeweils möglich sind, gewährleistet. Das kann dann auch ein Leben in der Vielfalt von Arten und Geschlechtern, Kulturen und Lebensformen heißen. Das meint »plurale Ökonomie«, als eine »Ökonomie des Lebens«, in Wirklichkeit. Die Geschichten aller Völker und Kulturen haben Elemente und partielle Vorbilder dafür hervorgebracht. Naturwissenschaftliche Forschung liefert dafür entscheidende Analysen und Szenarien. Experten, Betroffene und Aktivisten von rund um die Welt versuchen, daraus konkrete Bilder und Forderungen zusammenzusetzen. Die Utopie hat bereits viele Orte. Aber sie bleibt eine Utopie auf der Suche nach der Erde als ihrem einen, vielfältig gegliederten Ort, 206 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Kreisläufe des Wirtschaftens
und die politischen Strukturen für die Wege dahin fehlen. Eine der Voraussetzungen dafür, dass das Modell je konkret mit dem Leben der Völker und der Einzelnen verbunden wird, ist eine konkrete Vorstellung von Lebenstätigkeit statt des abstrakten Konzepts von Arbeit im physikalischen Sinne und als Erwerbstätigkeit, aus der ein Existenzrecht der Menschen prinzipiell abgeleitet werden soll. Die Vielschichtigkeit dieser Existenz muss ökonomisch gedacht und gestaltet werden. Wirtschaftskreisläufe sind nicht nur räumlich bedingt zu unterscheiden am Ort, in der Region, in der Wirtschaftszone, als Weltmarkt. Die unterschiedlichen Wirtschaftsformen, für deren Anerkennung wir streiten, müssen als eigene Kreisläufe der Industrie und des Handwerks, der vielen Formen von Subsistenzwirtschaft usw. ihre Wirkungen entfalten können. Sie alle müssen, sofern ihnen verträgliche Bedingungen gegeben sind, trotz sehr unterschiedlicher Prinzipien und Dynamiken miteinander co-existieren können, um förderliche Wechselwirkungen zu entfalten. Dazu bedarf es eben auch neuer weltweiter, transkultureller Kreisläufe des Denkens. Die Kritik daran, dass die Modelle von Markt und Demokratie nicht zu Ende gedacht sind, nicht Idee und Umsetzung verbinden, bekommt etwa vom indischen »Centre for the Study of Developing Societies« die entscheidende Wendung ins Produktive: Die Ordnungskraft beider Modelle kann von der anderen Kultur her, deren Denken von einer grundsätzlich niemals abgeschlossenen Schöpfungsgeschichte bestimmt ist, als work in progress begriffen werden. Statt ein Entweder-Oder bedeutet es die je äußerste Anstrengung für die je mögliche beste Wirklichkeit.
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BEDEUTUNG VON PLURALER ÖKONOMIE FÜR DIE WELTORDNUNG
Mit dem Blick auf Gegenwart und Zukunft werden Vorstellungen und Forderungen für eine Weltordnung von verschiedenen Seiten neu bestimmt. Die Definitionen sind ebenso verschieden wie die Formen, die aus ihnen abgeleitet werden. Sie folgen je eigenen Interessen, aber auch dem jeweiligen Erleben des Weltgeschehens, das mit bestimmten Sorgen und Erwartungen verbunden wird. Die Unterschiede ergeben sich deshalb nicht nur aus unterschiedlich ausgerichteten Ideologien, sondern aus notgedrungen einseitigen Erfahrungen in der herrschenden Realität. Das gilt freilich für die weltweiten Beziehungen ebenso wie für die einzelnen Gesellschaften. In diesen Auseinandersetzungen haben die Erfahrungen mit anderen Wirtschaftsformen als der industrialistischen kaum eigene Sprecher, allenfalls mittelbar durch Gemeinschaften, in deren Leben und Handeln Subsistenz faktisch eine wichtige Rolle spielt. Oxfam oder das brasilianische Sozialforum, die Charta der indigenen Völker, um nur einige Gruppen von internationaler Bedeutung zu nennen. Aus unseren Untersuchungen zur Pluralen Ökonomie lassen sich für übergreifend tragende Ordnungen Parameter in drei Richtungen herausstellen: 1. Eine andere, eine substanzielle Ebene der Integration auf regionaler, auf Landesebene und eben auch zwischen den Kontinenten. 2. Eine grundsätzliche Geltung qualitativer Maßstäbe auf der Basis praktischer Beobachtungen und Entwürfe: umfassende Nachhaltigkeit, Gemeingut (commons). 3. Ein neues Verständnis und Selbstverständnis der Weltbürger und Bürger, wo dem Typus des citoyen der ökonomische Kontext entzogen ist. 1. Integration ist die Aufgabe auf allen Ebenen, wo das bisherige Nebeneinander faktisch zu Austausch und übergreifenden Interessen ver209 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Bedeutung von pluraler Ökonomie für die Weltordnung
bunden ist und weiter, enger verbunden wird. Historisch und gegenwärtig sind unmittelbare Interessen und Macht die Triebkräfte der Verbindungen einer Weltwirtschaft, die einfach als Expansion nationaler oder der Interessen von Firmen entstanden sind. Kants Entwurf für einen Frieden zwischen den Völkern durch ihren Handel war auf der Vorstellung von Wechselseitigkeit aufgebaut. Das gilt grundsätzlich für Länder, die einander mit einigermaßen gleichem Rang und Einfluss begegnen. Abhängigkeit nur der einen von den anderen lässt einen freien Markt in der Weltwirtschaft ebenso wenig wirksam werden, wie es Adam Smith schon für die Verhältnisse an einem lokalen oder nationalen Handel deutlich gemacht hat. Die Integration durch den Austausch an den Märkten erfordert Freiheit von außerökonomischen Zwängen und der Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Sie bildet sich in einer Geschichte wechselseitiger Vorteile heraus. Wenn man die Zahlen der Handelsbilanzen und Verflechtungen der Produktionen und ihrer technologischen und soziologischen Bedingungen allein zum Maßstab nimmt, kann man den Stand der Globalisierung als außerordentlich integrativ rühmen. Integration sollte aber nicht nur als eine Verschweißung von Teilstrukturen begriffen werden, wie erfolgreich diese unter bestimmten Kriterien auch sein mag. Sie erfordert eine qualitative Dimension der Beziehungen, und zwar der Beziehungen der Partner zu einander wie aller gemeinsam zur Entfaltung unserer Geschichte mit der Welt, die uns trägt. Wir können auch die Beziehungen zum Gradmesser nehmen, die unsere Lebensformen noch und wieder mit der Evolution verbinden, die unsere Erde in ihrer Geo- und Biosphäre, ihrer Atmosphäre und unserer Menschheit hervorgebracht hat. So zeigen sich zwei weitere Parameter über den mehr oder weniger gelingenden Austausch hinaus, in dem die partiellen Interessen nach den Gesetzen des Marktmechanismus auf einander treffen. Zunächst soll uns das Interesse an den Anderen beschäftigen. Dann werden wir uns der Integration menschlichen Handelns und Existierens widmen, die einst mythologisch in der Furcht, der Ehrfurcht und der Liebe gegenüber dem Kosmos gewahrt wurde. Die zweite Bedingung, die Smith als Grundlage des »Wohls der Nation« erkannt hat, gilt selbstverständlich genauso für ein gelingendes Zusammenspiel der Nationen oder Kontinente mit einander: Sorge und Fürsorge für das so zu bildende Ganze. Der erste Parameter bringt also die gemeinsamen Interessen zur Geltung. Wie wir in der Untersuchung über Nutzen ge210 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Bedeutung von pluraler Ökonomie für die Weltordnung
sehen haben, führt die Unterscheidung von egoistischen gegenüber altruistischen Interessen letztlich in die Irre, weil dann die Fürsorge für Andere auf das mittelbare Eigeninteresse reduziert wird und das Dritte, das Gemeinsame wegdefiniert worden ist. Wesentlich ist, dass die Sorge für einander nicht von ethischen oder religiösen Motivationen allein ausgeht. Sie muss im ökonomischen Denken und Handeln verwurzelt sein. Ökonomie kann eben in bestimmten Lebens- und Wirtschaftsformen als co-existence begriffen werden, um den Begriff von Humberto Maturana auf die Menschen zu übertragen. Für die Beziehungen der Menschen in einer Gegend, in einem Lande haben wir wichtige Felder in den alten und neuen Formen der Subsistenzwirtschaft betrachtet, von der Hausgemeinschaft über die Nachbarschaftshilfe bis zu Selbsthilfegruppen und zum Vereinswesen, zu den Bürgerstiftungen. Die Maßnahmen weltweiter Organisationen werden dementsprechend in der Öffentlichkeit noch weitgehend als einseitige Hilfsaktionen verstanden, die sich auf der Oberfläche von Wohltätigkeit abspielen. In Wirklichkeit werden aber andere Wirtschaftsformen unterstützt, angeregt, geschaffen. So befreien alle Begegnungen zwischen Konsumenten und Produzenten irgendwo in der Welt, die sich im Rahmen von »fair trade« entwickeln, Märkte von herrschenden Abhängigkeiten unter der Macht von ausbeuterischen Strukturen. Unterstützungen nach dem Modell der Kirchen machen alternative Initiativen stark und umgehen die Abwicklung über staatliche Strukturen, die selbst ohne Korruption zu teuer und zu bürokratisch wären. Grundsätzlich fördern Gelder für micro banking lokales Wirtschaften, oft in den Händen von Frauen, das durch Gegenseitigkeit Eigenständigkeiten begründet. Die Gefahr droht allerdings, dass der enorme Umfang dieser eigentlich so konkreten Beziehungen einen Sog auf die internationale Finanz ausübt. Das zeigt einerseits die große Bedeutung. Andererseits wird ein neues Beispiel dafür aktuell, wie notwendig andere Kreisläufe vor der Übernahme durch den kapitalistischen Sektor durch geeignete Schwellen geschützt werden müssen. In sich bewusst ökonomisch differenzierte Gesellschaften werden mit diesen Situationen mit unterschiedlich organisierten Partnern besser umgehen können. Sie werden Achtung für Unterschiede ausgebildet und Übung im Umgang mit ihnen entwickelt haben. Plurale Ökonomien beruhen auf einer anerkannten Vielfalt von Wirtschafts- und Existenzformen, die mehr Sicherheit gegenüber den 211 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Bedeutung von pluraler Ökonomie für die Weltordnung
Krisen der großen Strukturen gewähren und damit gelassenere Reaktionen erlauben gegenüber dem Weltmarkt und seinen global players. Die Forderung, die Beziehungen zwischen den Kontinenten, den Ländern, den Kulturen in den Formen einer »Weltinnenpolitik« zu denken, ist besonders nachdrücklich von Carl Friedrich von Weizsäcker vorgetragen worden. Dies ist die politische Konsequenz aus der Feststellung, dass die vielen Mitglieder der Menschheit faktisch die Bedingungen ihres Lebens sehr weitgehend voneinander abhängig gemacht haben. Darauf mit Weltinnenpolitik zu antworten, heißt darüber hinaus, diese Bedingungen im Sinne gemeinsam zu vertretender Interessen zu bestimmen und zu gestalten. Diese Vorstellung ist wahrscheinlich utopisch und realistisch zugleich. Sie wird wohl nie vollkommen umgesetzt werden. Die Wege dahin sind aber sicher die einzigen, die den wirklichen Bedürfnissen und Möglichkeiten aller real Rechnung tragen. Mir scheint, dass Rifkins Plädoyer für die demokratische Vielfalt europäischer Lebens- und Politikformen in dieselbe Richtung interpretiert werden muss. Timothy Garton Ash sagt: »If we do work together, the task remains daunting, perhaps nearly impossible – but the nearly impossible is what we should demand of our leaders and of ourselves.« Es genügt vielleicht, um dies deutlich zu machen, dem eine andere Vorstellung gegenüberzustellen, die in den letzten Jahren vorgetragen worden ist. So wird nach einer Leitmacht gerufen, die die Welt nach dem Modell des Imperium Romanum zusammenhält und führt. Dies wäre eigentlich nur die politische Ausgestaltung der Funktionen, die gegenwärtig die World Trade Organisation (WTO), mit dem Status des amerikanischen Dollars als Leitwährung, besetzt. Die Antwort vom indischen Institute for the Developing Societies in Delhi ist die Frage: Wessen Freiheit dient »die Freiheit des Weltmarktes«? Ash erweitert die Frage auf alle Ebenen der Globalisierung: »But is ›globalization‹ also, at bottom, just a polite euphemism for Westernization? Is Robert’s ›creeping unity‹ of humankind in fact a creeping imperialism, through which we impose our Western values on others?« Die Forderung nach einem solchen Imperium kann sich sicher rühmen, weder utopische noch visionäre Intentionen zu verfolgen. Deshalb ist sie aber noch nicht einmal realistisch. Sie würde nur die existierenden und die drohenden Antagonismen mit voller Vehemenz auf den Plan rufen, wie eben der »Clash of Civilizations« vom Fundamentalismus provoziert wird, der einen Gegenfundamentalismus produziert. Die poli212 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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tische Forderung nach einem Imperium beruht grundsätzlich auf den Prämissen und den Strategien einer Geopolitik, die in Räumen als Machtbereichen dachte. Längst wird dieser Auffassung vom Nebenund Gegeneinander der Herrschaftsbereiche ein anderes Verständnis der Geschichte wie der Gegenwart entgegengesetzt. Es hebt die Zeit geschichtlicher Wirkungsgeschichten, wie Gadamer sagen würde, mit ihren wechselseitigen Beeinflussungen und Durchdringungen hervor. Maria Todorova hat ihre Geschichtsschreibung und -theorie am Balkan der letzten Jahrtausende exemplarisch entwickelt. Ranjit Hoskoté und Ilija Trojanow halten dem vielzitierten und weiterhin bedenkenlos provozierten clash of civilizations entgegen, dass »Kulturen ineinanderfließen«. Diesen kulturphilosophischen Einsichten entspricht in aktueller Pragmatik die Forderung nach der überfälligen Weltinnenpolitik. Mit der Anerkennung der anderen Wirtschaftsformen bekommen dann auch in der globalen Realität andere Stimmen Gewicht als die der Betreiber des kapital-industrialistischen Sektors. Ihre Basis der Erfahrungen verbindet dann mit ihrer Betroffenheit durch die Probleme eine sichtbare Partizipation. Wir haben den sehr konkreten, lokalen Charakter solcher Erfahrungen betont. Damit könnten sie in einem gewissen Widerspruch zu den globalen Zusammenhängen gesehen werden. Interessanterweise geschieht aber gerade etwas ganz anderes. Das je lokal Begrenzte ermöglicht eine Konkretheit des Begreifens, von der her andere Formen der Verallgemeinerung zugänglich werden als bloße Abstraktion. Wo Menschen die Probleme im Ringen um die eigene Existenz analysieren, werden sie fähig, sich in das existenzielle Ringen unter anderen Bedingungen mit vergleichbaren Problemen hineinzuversetzen. Im Vergleich werden dann Übertragungen geleistet. Das können wir an einigen Beispielen weltumspannend beobachten. Immer wieder komme ich auf die Bürgerinitiativen zurück, die gegen ein AKW in Wyhl über viele Jahre nicht nur Aktivitäten, sondern ein eigenständiges Denken entwickelt haben. Getäuscht durch die Darstellungen und Behauptungen von Seiten der Betreiber und der Politik haben sie sich an kritische Wissenschaftler und Experten gewandt und mit ihnen klare Bilder der Zusammenhänge und Perspektiven erarbeitet. Dafür stand der Begriff der »Volkshochschule Wyhler Wald«. Um sich ein Bild zu machen von den möglichen Folgen eines Reaktorunfalls, wie er ja erst später in Tschernobyl eingetreten ist, haben sie sich mit den Verwüstungen in Hiroshima und Nagasaki be213 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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schäftigt. Selbstverständlich waren Bombenabwürfe etwas anderes als Reaktorexplosionen. Aber die Opfer im fernen Japan und die anderen technologischen Faktoren dort rückten angesichts der eigenen Befürchtungen in eine unmittelbare existenzielle Nähe. Sie ließ die Menschen vom Kaiserstuhl und aus dem übrigen Südbaden später eine ebenso unmittelbare Notgemeinschaft mit den Menschen im oberitalienischen Seveso, noch später im nordindischen Bhopal erfahren, als dort chemische Fabriken die großen Dioxinkatastrophen verursachten. Eine analoge Entwicklung mit eigenem positivem Handeln ist ebenfalls am Kaiserstuhl verortet. Dort erfahren Bauern ebenso wie in der ganzen Welt, dass sie nicht mehr ihr eigenes Saatgut züchten dürfen, sondern von multinationalen Agrarindustrien abhängig gemacht werden. Die Initiative, mit der dort ein Dorf sich zum »Pflanzgarten« erklärt hat, begreift sich in einer existenziellen und geistigen Gemeinschaft mit philippinischen Initiativen und den Millionen indischer Bauern, in deren Namen Vandana Shiva ihre Kampagnen gegen Patent Rights on Life führt. Bei einer ersten Begegnung haben sie und Christian Hiß aus dem genannten Eichstetten sich sofort verstanden und verbündet. Konkrete Partizipation wirtschaftlicher Art wird zur Basis geistiger und politischer Partizipation auf selbst der allgemeinsten Ebene. Von den Aktivisten, die von rund um die Welt gemeinsame Anliegen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen vertreten, z. B. bei den »Vertragsstaaten-Nachfolge-Konferenzen« nach Rio, lässt sich bereits viel lernen. Direkte Demokratie wird sich als Weltregierung noch weniger realisieren lassen als im regionalen Kontext. Deshalb gibt die Formel vom »Weltzukunftsrat« eine andere Richtung vor: Ein Rat ohne Machtbefugnisse, dem aber eine hohe Autorität von der Sache her zukommt. Wenn dies als nicht zentral und machtvoll genug kritisiert wird, muss daran erinnert werden, dass der Entwurf pluraler Ökonomien ohnehin gerade nicht auf nichts oder alles angelegt ist, sondern auf eine entscheidende Ergänzung, auf eine Balance im Übergang. 2. Die Anerkennung qualitativer Kriterien im lokalsten Wirtschaften schafft nicht nur im ökologischen Landbau Nachhaltigkeit im Boden und für Luft und Wasser, sondern auch durch »sozial verträgliche«, pflegliche Arbeits- und Kundschaftsbeziehungen, Nachbarschaften, Gemeinschaftsgärten usw. wieder tragfähigere Gesellschaften. 214 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Dabei wird eben auch eine Grundlage ausgebildet, auf der die gestörten Verhältnisse weltweit in heilsamere Entwicklungen zurückgeholt werden können. Fair trade, wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe und vor allem jede erkennbare Selbstbescheidung im Sinne von Ernst Ulrich von Weizsäckers »Faktor 4« usw. kann als ernsthaftes, praktisches Eintreten für eine Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Völkern wahrgenommen werden, wie sie etwa die »Earth Charter« programmatisch fordert. Von einem Wirtschaften auch mit qualitativen Ansprüchen her erwachsen Erfahrungen, wie den Gemeingütern der Erde zu begegnen ist, in einem substanziellen Wissen und Bewusstsein. »Grenzen des Wachstums« reduzieren quantitativ Raubbau und Belastung der Natur. Die Programme »für die Erhaltung der Umwelt« benennen Notwendigkeiten, z. B. den Ausstoß an CO2 zu verringern und »Ausgleichsprozesse«, z. B. die Bindung von CO2 im Boden oder in den Meeren, zu betreiben. Politik braucht immer solch einen operationalisierbaren Fokus. Operationalisierbar sind aber in der Regel Naturprozesse nur begrenzt und in ihren außerordentlich komplexen Kontexten. Selbst die nachdrücklichsten Darstellungen solcher Zusammenhänge und der zu ziehenden Konsequenzen durch die Wissenschaften erreichen bestenfalls eine gewisse parlamentarische Aufmerksamkeit. Die Regierungen handeln immer wieder, als brauchten sie nur das Geringste zu wissen. In Subsistenz- und ähnlichen Wirtschaftsformen können die Zusammenhänge von Möglichkeiten, Bedingungen, Folgen, Grenzen und Rückwirkungen an konkreten Ausschnitten erlebt und beobachtet werden. Aus solchen Erfahrungen wird die Kompetenz der Bürger gegenüber der Politik und für sie gestärkt. Zumindest können sie die Lehren, die sie aus der Arbeit am Ausschnitt gewinnen, in sinnvolle Fragen an Politiker und Experten übertragen, wie es eben auch die Bürgerinitiativen in bestimmten Situationen getan haben. Die Tatsache der Diversität von Wirtschaftsformen bedeutet selber tätige Achtung für Vielfalt auch in der Natur und in den Gesellschaften mit ihren kulturellen Hintergründen und Ausrichtungen. Noch grundsätzlicher ist dabei die Beobachtung, dass alle Unterschiede ihre Geschichten haben, dass sie historisch, naturhistorisch, sozialhistorisch, mentalitätsgeschichtlich entstanden sind und entsprechend sich weiter verändern – jeweils in Antwort auf alles, was in einer bestimmten Gegenwart ihnen entgegenkommt. Wir haben die überwältigende Bedeutung der global commons, 215 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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der Gemeingüter der Menschheit auch dafür betont, Diversität grundsätzlich und praktisch zu schätzen und für sie zu sorgen. Dieses Schutzbedürfnis wird aus der eigenen Erfahrung im Lokalen weit überzeugender erkannt als durch Nachrichten von »Verschmutzung« und wissenschaftliche Kommentare. Nehmen wir ein Beispiel aus der Landwirtschaft. Jauche und Stickstoffüberdüngen vergiften, Pestizide schädigen nicht nur ein bestimmtes Stück Land. Über das Grundwasser und die Flüsse ergreift ihr Einfluss Länder und Meere. Aus dieser Erkenntnis Einsichten zu gewinnen und nach ihnen zu handeln und zu unterlassen, muss grundsätzlich allgemein gefordert werden. Unter den Anforderungen einer modernen Agrarindustrie stehen dem jedoch ganz andere betriebswirtschaftliche Anforderungen entgegen und lassen die Verantwortlichen gar nicht erst zur Besinnung kommen, während die untergebenen Ausführenden sowieso nicht gefragt werden. Andere als die industriell-kapitalistisch organisierten Arbeitsformen müssen sich ebenso in den anderen Produktionen und den Dienstleistungen dadurch auszeichnen, dass sie die menschlichen Vermögen von Herz, Verstand und Hand, wie Schiller gesagt hat, in ihrem Wirken ausbilden können und betätigen müssen. Der Pariser Großbäckermeister hat es auf den exemplarischen Satz gebracht: »In jeder Handlung muss der Mensch eine Wahl zu treffen haben.« Und er hat seine Arbeitsplätze darauf ausgerichtet. Da bedeutet Wahl, abwägen zu müssen. Dies im ökonomischen Alltag zu üben, könnte eine der Voraussetzungen stärken, die, ins Staatsbürgerliche übertragen, das Selbstbewusstsein stark machen, ebenso bewusst etwa das Wahlrecht auszuüben. Der Gedanke muss erlaubt sein, obwohl er allzu spekulativ erscheint. Aber wie anders als durch die vielen Situationen der elementarsten Lebenspraxis soll denn Bewusstsein von der eigenen Wirksamkeit sich bilden? Vom sogenannten Sein kommt es nicht einfach, wie es nicht vom Himmel fällt oder plötzlich aus den Genen sprudelt. Die Erfahrungen entstehen darin, wie wir Einwirkungen erleiden und selber in die Welt setzen. Darin bilden sich auch die subjektivsten Anteile der Menschen an der Fürsorge für Tiere, Pflanzen, Naturvorgänge und an der Solidarität mit den Anderen in den fernsten Gegenden der Erde. Dagegen versucht Kriegspropaganda aller Arten von Konflikten die Menschen stumpf und besinnungslos zu machen – vom »Erbfeind«-Schema bis in die tägliche rassistische Hetze.
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3. Mündige Bürger zu sein, hat Kant nur diejenigen befähigt gesehen, die durch ein bestimmtes Einkommen ökonomisch sich einigermaßen frei bewegen können. Das waren Unternehmer und Landbesitzer, Handwerker mit eigenem Gewerbe und Staatsbedienstete. Tatsächlich haben zwar in Frankreich verarmte Bauern und städtisches Proletariat die erste Triebkraft zur Revolution 1789 gebildet. Die Demokratie ist dann aber von den bei Kant genannten Ständen und Berufsständen in die Hand genommen und geprägt worden, durchaus auch nach ihren Interessen. »Freiheit« war die der Bourgeoisie von der autokratischen Herrschaft. »Gleichheit« war fokussiert auf das gleiche Recht zum Erwerb von privatem Eigentum. Die Ungleichheit der Voraussetzungen dazu wurde mit Schweigen übergangen wie ja sehr früh auch schon die »Brüderlichkeit«. Auf diesem Hintergrund ist der Typus des citoyen zum eigentlichen Träger der Demokratie geworden. Die ökonomischen Grundlagen seiner Selbständigkeit befähigten ihn zu unabhängiger Meinungsbildung in politischen wie in kulturellen Fragen. Wir haben gesehen, dass diese weitgehend zerfallen oder aufgesogen worden sind und die Tugenden des citoyen auch im Bürgertum der westlichen Demokratien immer schwächer werden, während die übrige Bevölkerung zwar ein besseres Auskommen als in den vergangenen Jahrhunderten hat, aber sich nicht in Richtung citoyen entwickeln kann, zumal der Gegentypus politisch-kulturellen Bewusstseins, den die Arbeiterbewegung der Bourgeoisie entgegengesetzt hat, erst recht der Vergangenheit angehört. Den citoyen hat seine Stellung zum Markt, sein Handeln und seine Erfahrung am Markt ökonomisch geprägt und wesentlich auch seine Art des Selbstbewusstseins wie der gesellschaftlichen Verantwortung bestimmt. Selbstverständlich wusste und empfand er sich zugleich als der Fortsetzer der mit dem Bürgertum herrschend gewordenen Kultur, verbunden mit der Religion und gewissen Linien der Aufklärung. Als das Bürgertum den Markt zum Prinzip einer gesellschaftlichen Ordnung entwickelte, waren die meisten von ihnen Handwerks- oder Ackerbürger. Groß- und Einzelhandel lebten noch weitgehend ebenfalls nach der Tradition, die eine wirtschaftliche Einheit nicht betriebswirtschaftlich definierte. Vielmehr galt das wirtschaftliche Handeln, mit seinen hierarchischen Strukturen und seinen menschlichen Beziehungen, die Familie und »das ganze Haus«, als Lebensform. Diese wurde als Zelle eines Organismus begriffen, wie er im Grunde aus dem Zunftwesen kam. Die große Industrie hat solche Strukturen endgültig 217 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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beiseitegeschoben. Die großbürgerlichen Herren hatten schon zu Rousseaus Zeit nicht mehr viel mit dessen treuherzig aufrechtem citoyen gemeinsam. Die große Masse der Arbeiter und der Angestellten waren ökonomisch und politisch existenziell abhängig und erhielten keinen Anteil an der Ausbildung jener Denk- und Lebensformen, für deren Verwirklichung das Bürgertum ökonomisch, politisch und letztlich auch kulturell den Markt stark gemacht und als Gesellschaftsform durchgesetzt hatte. Die ökonomischen Grundlagen des citoyen sind auch für jene Minderheit in dem Maße zerfallen, in dem Manager sich nicht mehr wie die klassischen Unternehmer für ein Unternehmen im Horizont von Generationen und einem sozialen Umfeld verantwortlich fühlen, sondern auf rasche persönliche Erfolge aus sind. In die Breite ist das einstige bürgerliche Modell nicht gediehen. Otfried Höffe zieht in seinem Buch »Ist die Demokratie zukunftsfähig?« wie wir den Schluss: Bürger haben sich zu Leistungsempfängern gewandelt. Von genau dieser Aushöhlung sprechen wir. Er beschreibt zugleich eine neue Umorientierung mit den folgenden Erscheinungen: »Auf der anderen Seite entwickelt die Bürgergesellschaft eine derart vielfältige Hilfe, dass man sie als ein ›Wunder gegen den Zeitgeist‹ ansehen darf: Seit etwa 1980 steigt die Freiwilligenhilfe; die Zahl der Nachbarschaftsvereine und der Selbsthilfegruppen wächst; die Hospizbewegung, die Aidshilfe und die Familienpflege werden stark. Nicht zuletzt tragen Bürgerstiftungen dazu bei, dass das Gemeinwohl die Dominanz von Eigennutz und Marktorientierung aufbricht. Rund ein Fünftel der Bürger engagiert sich ehrenamtlich in der Bürgergesellschaft. Ein erheblicher Teil der Gesellschaft hat angefangen, die bisherige Zweiteilung der Woche in Arbeits- und Freizeit zugunsten der Dreiteilung aufzuheben: Arbeitszeit, Sozialzeit und Freizeit.« Wir fassen diese aktuellen Formen und viele weitere zusammen auf ihrer Basis einer ökonomischen Aufgabe. Diese Feststellungen haben mit den Fragen einer neuen Weltordnung insofern etwas zu tun, als die europäische Inanspruchnahme der Welt von den Interessen dieser Bourgeoisie und ihrer Staaten bestimmt war. Selbst Wilhelm II. war doch bereits ein premier comis voyageur von Krupp und Thyssen. Koloniale und imperiale Herrschaftspolitik hat praktisch zugleich bedeutet, dass Europa auf die anderen Völker, die anderen Kulturen prinzipiell nur aus der Sicht der Schichten dieses Bürgertums treffen konnte. Die wenigsten haben die menschliche und die intellektuelle Kraft aufgebracht, wie Wilhelm und 218 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Alexander von Humboldt, der Welt, ihren Sprachen und Landschaften, ihren Reichen und Menschen als wahrhafte Weltbürger zu begegnen. Insbesondere das fortschreitende 19. Jahrhundert war beherrscht von einer Weltbemächtigung, die als wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung ebenso realisiert worden ist wie als Verfügung über die Reiche und Reichtümer dieser Erde für die Interessen, die immer weniger verdienen, ökonomisch genannt zu werden, weil die einseitige Bereicherung die vorherrschende Rolle spielt. Ist es verwunderlich, dass die kulturellen Interessen, die sich aus einer grundsätzlichen Neugier des citoyen ergeben konnten, nicht nur auf marginale Bedeutung beschränkt, sondern von dem selektiv interpretierenden Blick dieses citoyen auf Völker geprägt geblieben sind, die nichts ihm Vergleichbares zu bieten hatten? Unsere Ethnologie und unsere ethnologischen Museen sind ein trauriges Symbol dafür. Die Fülle menschlicher Erfindungen und Entfaltungen bleibt gebannt in den stolzen Gestus der Sammlungen von Objekten, die daraus ihre Reichtümer gemacht haben. Selbstverständlich haben wir allen Grund, an den Gestus des citoyen, dessen Weltverständnis dennoch so vielfältig und bewegend über die historischen Borniertheiten seiner Interessenbasis hinausgewachsen ist, anzuknüpfen wie auch an wenig präsente Linien unserer kulturellen Geschichte aus der Ferne des Mittelalters oder anderen als den Traditionen der Bourgeoisie. Statt insgesamt jenem Modell, wie es Rousseau zum moralischen Anker seines Contrat social gemacht hat, nachzutrauern, wäre es jedoch gut, uns der anderen ökonomischen Grundlage zu versichern, auf der ein neues Selbstbewusstsein sich bilden kann, das der Welt mit uns zugewandter ist – der geselligen und der naturhaften Umgebung unmittelbar wie den gemeinsamen Zügen und Aufgaben der Menschheit, der wir so unweigerlich zugehören. Das Eigenbewusstsein der Menschen, die unsere Gesellschaft bilden, muss in unserem Wirken, wo auch immer, begründet werden. Es ist aber doch abhängig von der öffentlichen Anerkennung. Damit diese den Einzelnen zukommt, muss gerade auch das Wirken in den nicht monetären Kreisläufen und den Wirtschaftsformen gegenüber dem industriell-kapitalistischen Sektor anerkannt sein. Es muss verankert sein in einem öffentlichen Bewusstsein, in der gelebten Verfassungswirklichkeit. Unsere westlichen Gesellschaften haben dafür keine ausreichenden Formen, solange die Erwerbsarbeit als der ökonomische Ausweis der Existenzberechtigung gilt. Ob das Wirken, für das es kein 219 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
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Geld gibt, gewürdigt wird, hängt von der Aufmerksamkeit der täglichen Mitwelt ab. Dass manche ihre Tätigkeiten auf eine positive Bilanz in den Qualitäten anlegen, die sie für ein Stück dieser Welt bewirken, gilt nach den Standards herrschender Effektivitätskriterien als nebensächliches Privatvergnügen, wenn nicht gar als töricht. Dabei spielt ein solches Bemühen sicher noch in den meisten praktischen Berufsausübungen eine Rolle. Verbucht wird es systematisch bestenfalls als ein wenig Öl im Getriebe. Auf der anderen Seite kennt der Staat die Verleihung von Orden, kennen Unternehmen und Vereine die Überreichung von Ehrenurkunden – man sagt auch Dekorationen. Es bleibt an der Oberfläche. Das liegt nicht nur daran, dass die verleihenden Institutionen selbst an Prestige verloren haben. Die Lebensformen, die wir Kultur nennen, müssen eben in den Grundzügen der Ökonomie ihr Fundament haben. Ob ein »Grundeinkommen« das leisten könnte? Ich meine einer anderen, vielleicht noch wesentlicheren Anerkennung, die uns abhanden gekommen ist, könnten wir mit der Zusicherung eines Existenzminimums gerecht werden: Wenn eine Gesellschaft Kinder in die Welt setzen will, muss sie ihnen auch ein Recht geben zu existieren. Diese Anerkennung ist aber immer noch inhaltsleer, wenn unter Existenz nur Überlebenssicherung verstanden wird. Ein Mensch muss auch seine Wirksamkeit einbringen können. Ein bedingungsloses Grundeinkommen muss auch diese Aufgabe erfüllen. Sonst würden die Menschen wieder nur die Empfänger von Leistungen sein. Ich nehme an, dass Menschen, die in einer solchen Gesellschaft aufwachsen, ihren Drang, beizutragen und sich als wirksam zu erfahren, auch unter im Übrigen modernen Voraussetzungen einbringen. Dies ist aber nur die sozial-psychologische Seite. In einer Weltordnung, für die wir einige Grundzüge umrissen haben, sehe ich viel weitere Ermutigungen und Ansprüche für diesen Drang – man kann vielleicht von einer zwischenmenschlichen Ansteckung sprechen, die gegenwärtig einfach Kooperation, Vernetzung heißt oder irgendwie technisch benannt wird.
Die tieferen und weiteren Zusammenhänge führen offensichtlich in Grundfragen der conditio humana – wie können die Menschen ihre Lebensformen anlegen und ausgestalten? Der Entwurf einer pluralen Ökonomie zielt zunächst, wie wir ge220 https://doi.org/10.5771/9783495860724 .
Bedeutung von pluraler Ökonomie für die Weltordnung
sagt haben, auf die Feststellung ökonomischer Tatsachen und die Anerkennung ihrer Bedeutung für Überleben und Leben in den heute gegebenen Bedingungen. Der weite anthropologische und human-ökologische Horizont darf von diesen nüchternen Betrachtungen nicht ablenken. Es wäre allerdings einfältig, ihn nicht auch in den Blick zu nehmen.
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Gesamtwertschöpfung öpfungen der Natur Wertsch
menschliche Produktion Selbstversorgungswirtschaft monitär erfasste Wertschöpfungen
Diagramm nach Busch-Lüty 2000
Die Weltordnung Erde wird wohl für den Menschen nie ganz erfassbar sein. Das Gefüge der Wechselwirkungen der Natur gerät durch den relativ kleinen Anteil menschlicher Produktionsformen am Gesamt der Wertschöpfungen in große Gefahr, und zwar im Wesentlichen durch die Auswirkungen des kapital-industriellen Sektors. Die geschichtlichen Weltordnungen müssen die »Zivilisationsspirale« von Raubbau und Mülldeponien (Binswanger) umkehren. Der immer noch bedeutende Anteil der anderen Wirtschaftsformen an den Wertschöpfungen der Menschen ist den Bedingungen der Erde in vielem sehr viel näher und unersetzlich. Ich danke Mary Bauermeister für das Titelbild, das Stein für Stein in einer anderen Spirale jenes Zusammenspiel interpretiert.
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ZUM WEITEREN LESEN
Bei dieser Zusammenstellung von Büchern, Aufsätzen und anderen Texten geht es mir nicht darum, die zitierten Stellen zu belegen oder alle Texte anzugeben, die mich in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf die verschiedenen Themenkomplexe dieses Buches beschäftigt haben. Vielmehr sollen den Lesern Hinweise aufgezeigt werden, wo es sich für sie lohnen könnte, weitere Schriften zu bestimmten Themen heranzuziehen. Darum haben wir auch darauf verzichtet, Seitenzahlen hinzuzufügen. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Ges. Schriften, Bd. VII. Frankfurt am Main 1971. Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Ges. Schriften, Bd. III. Frankfurt am Main 1981. Ash, Timothy Garton: Free World. London 2004. Bachelard, Gaston: La Formation de l’esprit scientifique. Contribution à une psychoanalyse de la connaissance objective. Paris 1938. Baran, Paul A. und Sweezy, Paul: Monopolkapital. Ein Essay über die amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Übersetzt von Hans-Werner Sass. Frankfurt am Main 1973. Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie. München 1975. Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. The Collected Works, Bd. 2. Oxford 2005. Bierter, Willy und Weizsäcker, Ernst von: Strategien zur Überwindung der Arbeitslosigkeit. Technologie und Politik, Bd. 8. Reinbek 1977. Binswanger, Hans Christoph und Geissberger, Werner u. a. (Hg.): Der NAWU-Report: Wege aus der Wohlstandsfalle. Strategien gegen Arbeitslosigkeit und Umweltkrise. Frankfurt am Main 1978. Boisguillebert, Pierre Le Pesant de: Dissertation de la nature des richesses, de l’argent et des tributs, où l’on découvre la fausse idée qui règne dans le monde à l’égard de ces trois articles. 1704. Busch-Lüty, Christiane: Natur und Ökonomie aus der Sicht der Ökologischen Ökonomie: eine subjektive Spurensuche. Karlsruhe 2000. Dahm, Daniel, Dürr, Hans-Peter und Lippe, Rudolf zur: Potsdamer Manifest 2005. We have to learn to think in a new way – Potsdamer Denkschrift. München 2006. Dahm, Daniel und Scherhorn, Gerhard: Urbane Subsistenz: die zweite Quelle des Wohlstands. München 2008.
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Zum weiteren Lesen Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übers. v. Artur Buchenau. Hamburg 1994. Earth Charter Initiative; siehe: www.erdcharta.de Esteva, Gustavo: Fiesta – jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik. Frankfurt 1992. Eucken, Walter: Die Grundlagen der Nationalökonomie. Jena 1940. Florida, Richard: The Rise of the Creative Class. New York 2002. Forum für Verantwortung (Buchreihe im Fischer-Verlag, Frankfurt am Main); siehe: www.forum-fuer-verantwortung.de Gadamer, Hans-Georg: Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins. In: Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1. Tübingen 1986. Gadamer, Hans-Georg: Kunst und Kosmologie. In: Reinhard Schulz (Hg.): Zukunft ermöglichen. Würzburg 2008. Giedion, Sigfried: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt am Main 1982. Goehler, Adrienne: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft. Frankfurt am Main/New York 2006. Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 1795/96. Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Wanderjahre. 1821. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust: Der Tragödie zweiter Teil. Goethes Werke, Bd. 3. München 1996. Habermas: Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. 1807. Heisenberg, Werner: Gesammelte Werke. 9 Bde. München, Zürich 1984–89. Hobbes, Thomas: Leviathan. Or The Matter, Forme & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill. New Haven 2010. Höffe, Otfried: Ist die Demokratie zukunftsfähig? München 2009. Hubbel, Stephen P: The Unified Neutral Theory of Biodiversity and Biogeography. Princeton University Press 2001. Huntington, Samuel Phillips: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York 1998. Illich, Ivan. Schattenarbeit. In: Ders.: Vom Recht auf Gemeinheit. Reinbek 1982. Illich, Ivan: Vom Recht auf Gemeinheit. Reinbek 1982. Illich, Ivan: Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit. Reinbek 1983. Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. 18 Bde. Olten, Zürich 1984–81. Kocka, Jürgen u. a. (Hg.): Altern: Familie, Zivilgesellschaft, Politik. Stuttgart 2009. Kohr, Leopold: Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß. Wien 1986. Lacan, Jacques: Schriften. 3 Bde. Olten, Freiburg im Breisgau 1973–1980. Lippe, Rudolf zur: Naturbeherrschung am Menschen. 2 Bde. Frankfurt 1974. Lippe, Rudolf zur: Objektiver Faktor Subjektivität. In: Kursbuch 35, 1974. Lippe, Rudolf zur: Am eigenen Leibe. Zur Ökonomie des Lebens. Frankfurt am Main 1978. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984.
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