Pinchas Lapide und Viktor E. Frankl, Gottsuche und Sinnfrage 9783641310684

Der Psychotherapeut V. E. Frankl und der jüdische Theologe P. Lapide gestalteten 1984 in Wien einen interdisziplinären D

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German Pages 144 Year 2020

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Inhalt
Hinführung
Viktor E. Frankl - Leben und Werk
Pinchas Lapide - Leben und Werk
Gottsuche und Sinnfrage - Über dieses Buch
Gottsuche und Sinnfrage
Vorwort
Gespräch
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Pinchas Lapide und Viktor E. Frankl, Gottsuche und Sinnfrage
 9783641310684

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Viktor E. Frankl

I Pinchas Lapide

Gottsuche und Sinnfrage Ein Gespräch

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7. Auflage, 2020 Copyright © 2005 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. Umschlaggestaltung: Init GmbH, Bielefeld, unter Verwendung von Portraitfotos (links: Viktor E. Frankl, © Katharina Vesely; rechts: Pinchas Lapide, Archiv) Satz: SatzWeise, Föhren ISBN 978-3-641-31068-4 www.gtvh.de

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Inhalt

Hinführung Viktor E. Frankl Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Alexander Batthyany)

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Pinchas Lapide Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Ruth Lapide)

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Gottsuche und Sinnfrage Über dieses Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logotherapie und Religion . . . . . . . . . . . . . (Alexander Batthyany)

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Gottsuche und Sinnfrage Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hinführung

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Viktor E. Frankl Leben und Werk

Viktor Emil Frankl wurde am 26. März 1905 als zweites Kind von Gabriel und Elsa Frankl, geborene Lion, in Wien-Leopoldstadt geboren. Der Vater, Gabriel Frankl, kam am 18. März 1861 im südmährischen Dorf Pohrlitz (Pohorelice) zu Welt. Er war über zehn Jahre lang als Parlamentsstenograph in der Ersten Republik tätig; weitere 25 Jahre diente er als persönlicher Assistent des Ministers Joseph Maria von Bärnreither und wurde später mit der Direktion der Ministeriumsabteilung für Kinderschutz und Jugendwohlfahrt betraut. Viktor E. Frankls Mutter, Elsa Frankl, geborene Lion, wurde am 8. Feburar 1879 in Prag als Tochter des Jakob und der Regina Lion geboren. Elsa Frankls Stammrolle zeichnet sie als Nachfahrin sowohl des Raschi (Salomo ben Isaak, 1040–1105), nach dem die für Bibel- und Talmudauslegungen verwendete Raschi-Schrift benannt ist, als auch des berühmten Maharal, des Rabbi Löw von Prag (Juda ben Bezalel Liwa, 1520–1609), aus. Bereits in seiner Gymnasialzeit kam der junge Viktor Frankl mit den Gedanken des deutschen Naturwissenschaftlers und Philosophen Wilhelm Ostwald und des Begründers der experimentellen Psychologie, Gustav Theodor Fechner, in Berührung. Vor allem letzterer weckte Frankls Interesse an der Psychologie. Der Vorzugsschüler begann darauf auch bald, »eigene Wege zu gehen« (Frankl 2002:28) und an der Volkshochschule Vorlesungen über Allgemeine und Experimentelle Psychologie zu hören. In diese Jahre intellektueller Erkundung fällt auch die erste Begegnung mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds, die der junge Frankl unter anderem durch Vorträge der bedeutenden Psychoanalytiker Paul Schilder und Eduard Hitschmann kennen lernen und vertiefen konnte. 9

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Bereits als Gymnasiast stand Frankl dann in regelmäßiger Korrespondenz mit Freud. 1922 sandte der knapp 17-jährige Viktor Frankl Sigmund Freud ein Manuskript über die Entstehung und Deutung der mimischen Bejahung und Verneinung zu. Dieser Aufsatz wurde auf ausdrücklichen Wunsch Freuds hin zwei Jahre später in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse veröffentlicht (Frankl 1924). Bald darauf jedoch begann Frankl von der Psychoanalyse Sigmund Freuds Abstand zu nehmen und sich mehr und mehr der Individualpsychologie Alfred Adlers zuzuwenden. Bereits 1925 veröffentlichte Frankl dann in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie den Aufsatz »Psychotherapie und Weltanschauung« (Frankl 1925). Darin versucht Frankl, das Grenzgebiet zwischen Psychotherapie und Philosophie, und vor allem die darin angesprochenen Grundfragen der Sinn- und Werteproblematik der Psychotherapie, zu erhellen. Frankl gab in diesen Jahren zudem eine eigene individualpsychologische Zeitschrift (Der Mensch im Alltag) heraus; auch in dieser Tätigkeit zeichnen sich bereits die Leitmotive seines Lebenswerks ab: So publizierte Frankl darin einen Artikel mit dem Titel »Vom Sinn des Alltags«, der schon über weite Strecken an die späteren explizit logotherapeutischen Arbeiten Frankls erinnert (Frankl 1927). Im Jahr 1926, während Frankl weiterhin einschlägig publizierte und zahlreiche Vorträge im In- und Ausland hielt, wurde ihm unter anderem angetragen, auf dem Internationalen Kongress für Individualpsychologie in Düsseldorf ein Haupt- und Grundsatzreferat zu halten. Auf dieser Vortragsreihe verwendete Frankl erstmals in der akademischen Öffentlichkeit den Begriff der »Logotherapie« als einer Psychotherapie, die zusätzlich zur Klärung und Heilung psychischer Konflikte und Belastungen die geistige Dimension des Menschen anspricht. Die ergänzende Bezeichnung und Bestimmung der »Existenzanalyse«, jener anthropologischen Forschungs- und Denkrichtung, die die Logotherapie philosophisch begründet und seelsorgerlich vertieft, sollte Frankl erst 10

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sieben Jahre später, im Jahre 1933, in einem weiteren Vortrag prägen. Frankls Weiterentwicklungen der Psychotherapie führten zur zunehmenden Entfremdung zwischen Adler und Frankl. Noch 1927, nur wenige Monate, nachdem Frankls Lehrer und Mentoren Rudolf Allers und Oswald Schwarz ihren Rücktritt aus dem Verein für Individualpsychologie bekannt gaben, wurde Frankl auf persönlichen Wunsch Adlers hin wegen »unorthodoxer Ansichten« aus dem Verein für Individualpsychologie ausgeschlossen. Nach dem Ausschluss aus dem Verein für Individualpsychologie folgten aktive Jahre, in denen Frankl weiterhin umfangreich publizierte, zugleich aber auch wesentliche – und für die Weiterentwicklung der sich im Entstehenden befindenden Logotherapie prägende – Erfahrungen in der praktischen psychiatrischen und psychotherapeutischen Tätigkeit sammelte: Bereits 1926 hatte Frankl, durch das Vorbild der Lebensmüdenberatungsstellen Wilhelm Börners in Wien und Hugo Sauers in Berlin angeregt, in zahlreichen Publikationen auf die Notwendigkeit von Jugendberatungsstellen hingewiesen (z. B. Frankl 1926a, 1926b). Nun sollte er, gemeinsam mit Freunden und Kollegen aus dem Kreis um Adler – unter ihnen August Aichhorn, Erwin Wexberg, Rudolf Dreikurs und Charlotte Bühler – der von ihm gestellten Forderung nach der Gründung von Jugendberatungsstellen selbst nachkommen. Ab dem Jahr 1928 organisierte Frankl zunächst in Wien, und dann nach dem Vorbild der Wiener Gruppe in sechs weiteren Städten, Jugendberatungsstellen, in denen Jugendliche in seelischer Not unentgeltlich psychologisch betreut wurden. Die Beratung fand in den jeweiligen Wohnungen oder Praxen der freiwilligen Helfer statt – so auch in Frankls elterlicher Wohnung in der Czerningasse 6, die in sämtlichen Publikationen und Flugblättern als Kontaktadresse der Jugendberatungsstellen ausgewiesen wird. Auf die beträchtliche Zunahme der Schülerselbstmorde im Rahmen der alljährlichen Zeugnisverteilung aufmerksam geworden, organisierte Frankl ab dem Jahre 1930 Sonderaktionen zur Schülerberatung 11

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mit besonderem Augenmerk auf das Schuljahresende. Bereits in ihrem ersten Jahr konnte durch diese Sonderaktion eine signifikante Senkung der Selbstmordraten unter Schülern erreicht werden; im Folgejahr war der Erfolg noch durchschlagender: In Wien wurde erstmals seit vielen Jahren kein einziger Schülerselbstmord zur Zeit der Zeugnisverteilung verzeichnet (Frankl 1931). Bis 1930 erscheint Frankls Name auf den Plakaten und Flugblättern der Jugendberatungsstellen noch ohne akademischen Titel; ab 1930 findet sich erstmalig das Kürzel Dr. med. vor seinem Namen: Frankl hatte 1930 neben seiner Tätigkeit für die Jugendberatungsstellen, seinen zahlreichen Publikationen und seinen ausgedehnten Vortragsreisen sein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen und trat nun, ab 1930, seine Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie zunächst an der Psychiatrischen Universitätsklinik unter Otto Pötzl, dann, ab 1931, unter Josef Gerstmann im Marien-Theresien-Schlössl, und ab 1933 bis 1937 am Psychiatrischen Klinikum Am Steinhof an. Am Steinhof hatte Frankl die Leitung des so genannten Selbstmörderinnenpavillons inne; hier betreute er rund 3.000 Patientinnen pro Jahr. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit am Steinhof ging Frankl weiterhin seiner wissenschaftlichen Forschung nach. So beschrieb er unter anderem die Theorie des nach ihm benannten »Corrugatorphänomens« bei floriden schizophrenen Psychosen (Frankl 1935) und machte auf die Notwendigkeit der »medikamentösen Unterstützung der Psychotherapie« (Frankl 1939) als therapiebegleitende Maßnahme vor allem in Fällen schwerer Neurosen und Psychosen aufmerksam. Hatte sich Frankl bisher mit der Herausgabe von Der Mensch im Alltag und der Schülerberatungstätigkeit noch vornehmlich der Krisenprophylaxe und Psychohygiene gewidmet, erweiterte sich nun der im engeren Sinne psychiatrische Anwendungsbereich seiner werdenden Theorie: Während seiner Tätigkeit im Selbstmörderinnenpavillon am Steinhof begegnete Frankl tiefem Leid – aber er sah auch die geistigen Ressourcen, 12

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mit Hilfe derer Menschen sich selbst noch angesichts von Leid, Schuld und Tod zu den eigentlichen Möglichkeiten eines sinnerfüllten Daseins durchringen können. Frankl würde später sagen, dass zu jener Zeit die Patienten selbst seine Lehrer wurden; er versuchte nun eigenen Angaben zufolge, »zu vergessen, was [er] von Psychoanalyse und Individualpsychologie gelernt hatte« (Frankl 2002:52). An die Stelle seiner akademischen Lehrer und Mentoren trat nunmehr die Zuwendung zu den Patienten selbst, und damit zu der Frage, was über die unmittelbaren psychiatrischen und psychotherapeutischen Maßnahmen hinaus zu deren Heilung und Genesung beitrug. 1938 veröffentlichte Frankl auch seinen Artikel »Zur geistigen Problematik der Psychotherapie«; hierbei handelt es sich um die erste grundlegende logotherapeutische und existenzanalytische Publikation Frankls (Frankl 1938). In diesem Aufsatz prägte Frankl erstmals den Begriff der »Höhenpsychologie« als Alternative, bzw. Ergänzung zur Tiefenpsychologie Sigmund Freuds und Alfred Adlers als eine Psychologie, die sich nicht darauf beschränkt, in die Tiefen innerpsychischer Konflikte vorzudringen, sondern sich auch den geistigen, transmorbiden Anliegen des Patienten zuwendet und diese in ihrer ganzen Echtheit gelten lässt. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich im Jahr 1938 durfte Frankl nur noch eingeschränkt als Arzt arbeiten. Eine erst kürzlich eröffnete Privatpraxis musste er nur wenige Monate später wieder aufgeben. Im nationalsozialistischen Wien war es jüdischen Ärzten untersagt, nicht-jüdische Patienten aufzunehmen; sie waren nunmehr als so genannte »Judenbehandler« lediglich dazu befugt, sich jüdischen Patienten zu widmen. Im Jahr 1940 wurde Frankl die Leitung der neurologischen Station des Spitals der israelitischen Kultusgemeinde (Rothschildspital) angeboten – eine Position, die er dankbar annahm, zumal sie ihm und seinen engsten Familienangehörigen vorerst auch Deportationsschutz garantierte. Ein bereits ausgestelltes Amerika-Visum ließ Frankl verfallen, um seine Eltern vor der drohenden Deportation zu schützen. 13

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Im Rothschildspital konnte Frankl zudem seiner Tätigkeit als Arzt nachgehen; hatte er sich davor im Rahmen der Zeugnisaktion 1930 und anschließend während seiner Tätigkeit im Selbstmörderinnenpavillon am Klinikum Steinhof der Aufgabe verpflichtet gewusst, als Arzt Leben zu schützen und zu retten, wo und wie er nur konnte, kam Frankl auch hier seiner Berufung nach: Zuerst alleine, später mit Hilfe des damaligen Vorstandes der neurologischen Abteilung der Universitätsklinik Wien, Otto Pötzl, bewahrte er – unter hohem persönlichen Risiko – durch gefälschte Diagnosen zahlreiche jüdische Psychiatriepatienten vor Hitlers Euthanasieprogramm (Neugebauer 1997). Über dem jüdischen Wien lasteten Not, Hoffnungslosigkeit und Furcht. Unter diesen Lebensbedingungen – und teils unter dem Schatten der nahenden Deportation – begingen zahlreiche Wiener Juden Selbstmord; manchmal wurden bis zu zehn Selbstmordversuche am Tag allein in das Rothschildspital eingeliefert. Es ist aus heutiger Sicht wohl kaum nachvollziehbar, welche Nöte zu jener Zeit herrschten, und wie sehr diese Nöte vor allem jene unter Zugzwang setzten, die sich wie Frankl dem hippokratischen Eid zum Erhalt des Lebens verpflichtet und verbunden sahen – zumal noch in einer Zeit, in der Wert und Würde menschlichen Lebens von den nationalsozialistischen Machthabern systematisch in Frage gestellt wurden. Frankl wusste sich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner vormaligen Tätigkeit in der Lebensmüden- und Jugendberatung und der Betreuung tausender Suizidpatientinnen am Selbstmörderinnenpavillon am Steinhof – aufgerufen zu helfen, zu heilen und zu retten, solange er konnte. Von der Überzeugung getragen, »dass alles, was therapeutisch möglich ist, auch getan werden soll« (Frankl 1942), entwickelte Frankl eine eigene invasive Technik, mithilfe derer er bereits aufgegebene Patienten mit schwersten Schlafmittelvergiftungen noch zu retten versuchte (Frankl 1942). Am 17. Dezember 1941 heiratete Viktor Frankl seine erste Frau, Tilly Grosser, die als Stationsschwester auf der inneren 14

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Abteilung des Rothschildspitals arbeitete. Bald nach der Heirat von Tilly und Viktor Frankl verschärfte sich die ohnehin schon angespannte Situation der Juden Wiens. Das Rothschildspital wurde geschlossen und mit ihm verfiel auch der Deportationsschutz für die Ärzte, Schwestern und ihre engsten Familienangehörigen. Frankl war sich nun dessen bewusst, dass er »von einem Tag auf den anderen gewärtig sein musste, mit [s]einen Eltern deportiert zu werden« (Frankl 2002:63). Im September 1941, wenige Monate, nachdem Viktor Frankl sein Amerikavisum hatte verfallen lassen, mussten Viktor Frankl, seine Frau Tilly, seine Eltern Gabriel und Elsa Frankl und Tillys Mutter Emma Grosser sich gemeinsam mit hunderten weiterer Wiener Juden im »Sammelpunkt« im Gymnasium in der Sperlgasse einfinden. Frankl, bereits fünfunddreißigjährig, musste sich von beinahe allem verabschieden, was ihn an sein bisheriges Leben erinnern würde. Zumindest das Typoskript des eben erst fertig gestellten Hauptwerks der Logotherapie, der Ärztlichen Seelsorge, konnte Frankl mitnehmen: Er nähte eine Abschrift des Buches in das Futter seines Mantels ein. Unter dem Druck der Ereignisse, die drohende Deportation ahnend, hatte Frankl das Buch kurz zuvor zu Ende geschrieben. Nun hoffte er, dass es wenigstens eine – wenn auch geringe – Chance gab, dass die Quintessenz der Logotherapie fortbestünde, auch wenn Frankls eigenes Schicksal alles andere als gewiss war. Aber auch diese Hoffnung trügte: Frankl musste das Buch im Oktober 1944 in Auschwitz zurücklassen. Alles, was die Familie bis dahin an Einschränkungen und Repressionen im nationalsozialistischen Wien erlebt hatte, stellte sich mit dem Einfinden im Sammelpunkt in der Sperlgasse als eine nur schwache Voraussicht auf die Dinge heraus, die noch folgen sollten: Es war der Antritt einer dreijährigen Reise zu den Grenzen menschlicher Belastbarkeit, die Frankl über die Lager Theresienstadt, Auschwitz, Kaufering und Türkheim führte. Seine Eltern, sein Bruder und seine Frau überlebten das KZ nicht. 15

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Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager am 27. April kehrte Frankl noch 1945 nach Wien zurück. Frankl begann unmittelbar nach seiner Rückkehr, die vor der Deportation verfasste, in Auschwitz verloren gegangene Ärztliche Seelsorge zu rekonstruieren. In der Neufassung dieses Buches stellt Frankl die Logotherapie und Existenzanalyse systematisch vor und begründet mit diesem Werk eine eigenständige psychotherapeutische Richtung – nach Freud und Adler auch als Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie (Soucek 1948) bezeichnet –, die die Sinnmotivation, die Freiheit, die Würde und die Verantwortung des Menschen in den Mittelpunkt ihres therapeutischen Wirkens stellt (Frankl 1946a). Kurz nach Abschluss der Ärztlichen Seelsorge verfasste Frankl innerhalb weniger Tage auch seinen biographischen Bericht über die Erlebnisse im Konzentrationslager (Frankl 1946b). Von diesem Buch – es trägt den programmatischen Titel … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager – sind bis heute in mehr als 150 Auflagen insgesamt an die zehn Millionen Exemplare erschienen. Die Library of Congress in Washington wählte es zu einem der zehn einflussreichsten Bücher in Amerika. Im Februar 1946 wurde Frankl zum Vorstand der neurologischen Abteilung der Wiener Poliklinik berufen. Er hatte diese Position 25 Jahre bis zu seiner Pensionierung lang inne. An der Poliklinik lernte Frankl auch Eleonore Schwindt kennen. Bald folgte die Heirat mit Eleonore Schwindt. Von ihr würde der bedeutende amerikanische Philosoph Jacob Needleman Jahre später in Hinblick auf die Ehe und das gemeinsame Wirken von Viktor und Eleonore Frankl sagen: »Sie ist die Wärme, die das Licht begleitet«. Im Jahre 1947 wurde Tochter Gabriele geboren. 1947 erschienen weitere Artikel und Bücher Frankls, darunter auch Die Psychotherapie in der Praxis. Neben der Ärztlichen Seelsorge handelt es sich bei diesem Werk um eine der ausführlichsten Darstellungen der Logotherapie und Existenzanalyse, die vor allem die Praxis der angewandten Logotherapie 16

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anhand von diagnostischen und therapeutischen Leitlinien beschreibt (Frankl 1947). Zahlreiche Publikationen folgten, in denen Frankl die Theorie und Praxis Logotherapie und Existenzanalyse vertiefte und die Anwendungsbereiche seiner Therapieform einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Insgesamt waren es 30 Bücher, die Frankl zu Lebzeiten veröffentlichte. Sie wurden in insgesamt 32 Sprachen übersetzt. Stieß die Logotherapie mit der Veröffentlichung der Ärztlichen Seelsorge zuerst im deutschen Sprachraum auf großes Interesse, so sollte sie ab den späten Fünfziger Jahren zunehmend Einzug in die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft finden. Frankl wurde weltweit zu Vorträgen, Seminaren und Vorlesungen eingeladen. Auch Amerika wurde verstärkt auf Frankl aufmerksam: Es folgten Berufungen an die Harvard University in Boston sowie an die Universitäten in Dallas und Pittsburgh. Die United States International University in Kalifornien errichtete eigens für Frankl ein Institut und eine Professur für Logotherapie. Insgesamt über 209 Universitäten auf allen fünf Erdteilen luden Frankl zu Vorträgen und Gastvorlesungen ein. Im Rahmen der verstärkten Ausbreitung von Frankls wissenschaftlichem Werk auf universitärem Boden entwickelte sich die Logotherapie nun auch zunehmend zu einer methodischen Forschungsrichtung: Zahlreiche wissenschaftliche Studien wurden durchgeführt, die die Grundlagen, Konzepte und klinische Effizienz der Logotherapie empirisch untersuchten. Bis zum heutigen Tag sind über 600 Beiträge alleine in psychologischen und psychiatrischen Fachzeitschriften erschienen, die Frankls psychologisches Modell und seine therapeutische Anwendung validieren (Batthyany & Guttmann 2005). Dem steht eine ungefähr ebenso hohe Zahl weiterer Publikationen gegenüber, die die Logotherapie und ihre theoretischen Grundlagen und zahlreichen Anwendungsbereiche untersuchen (Vesely & Fizzotti 2004). Über sein wissenschaftliches Wirken hinaus wandte sich Frankl auch vornehmlich dem allgemein interessierten Publikum zu: Vor allem sein Sinn und Verständnis für die Probleme 17

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und Anliegen seiner Zeit dürften wesentlich zu dem Erfolg und der Verbreitung der Logotherapie und Existenzanalyse beigetragen haben. Frankls Botschaft – sein unbedingter Glaube an die Würde der Person und den Sinn auch des noch so brüchig gewordenen Daseins und sein Appell an die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen, in jeder Situation, und sei sie auch scheinbar noch so sinnentleert, das Bestmögliche zur Geltung zu bringen – all dies sprach und spricht die Menschen an, und es wirkte umso glaubwürdiger, als Frankl selbst diese Botschaft nicht nur im Rahmen eines detailliert ausgearbeiteten und klinisch anwendbaren psychologischen Modells verkündigte, sondern augenscheinlich auch selbst lebte. Entsprechend weit reichend war der Widerhall auf Frankls Lebenswerk: Von Universitäten in aller Welt wurden ihm 29 Ehrendoktorate zuerkannt; zahlreiche Auszeichnungen wurden Frankl verliehen, darunter das Große Goldene Ehrenzeichen mit dem Stern der Republik Österreich und das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Die American Psychiatric Association verlieh Frankl als erstem nicht-amerikanischen Psychiater den Oskar-Pfister-Preis, die Österreichische Akademie der Wissenschaften wählte ihn zu ihrem Ehrenmitglied. Seine letzte Vorlesung hielt Frankl im Alter von 91 Jahren am 21. Oktober 1996 an der Universitätsklinik Wien. Im darauf folgenden Juli feierten er und seine Frau, Dr. Eleonore Frankl, goldene Hochzeit. Am 2. September 1997 verstarb Frankl zweiundneunzigjährig in Wien an Herzversagen. Frankls Vermächtnis hat Generationen von Psychiatern, klinischen Psychologen und Psychotherapeuten geprägt. Heute wirkt es in den Händen seiner Schüler und Kollegen weiter: Weltweit, auf allen fünf Kontinenten, existieren sowohl Universitätsinstitute als auch private Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen, die sich der Anwendung und Verbreitung sowie der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Anwendungsbereiche der Logotherapie widmen. Eine internationale Adres18

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senliste der im Sinne von Viktor Frankls Gedankengut arbeitenden Gesellschaften und Institute, von denen auch Psychotherapie- und Beratungsausbildungen in Logotherapie und Existenzanalyse angeboten werden, kann auf der Webseite des Viktor Frankl-Instituts in Wien (www.viktorfrankl.org) eingesehen werden. Dort finden sich auch allgemeine Informationen und aktuelle Mitteilungen aus der logotherapeutischen Forschung und Praxis, sowie eine umfangreiche Bibliographie der logotherapeutischen Primär- und Sekundärliteratur. Wien, im Herbst 2004

Dr. Alexander Batthyany (Viktor Frankl-Institut Wien)

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Bibliographie

Batthyany, Alexander und Guttmann, David (2005). Research in Logotherapy and Meaning-Oriented Psychotherapy. Phoenix, AZ: Zeig, Tucker & Theisen.1 Frankl, Viktor E. (1924). Zur mimischen Bejahung und Verneinung. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 10, 437–438.* Frankl, Viktor E. (1925). Psychotherapie und Weltanschauung. Zur grundsätzlichen Kritik ihrer Beziehungen. Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, 3, 250–252.* Frankl, Viktor E. (1926a). Schafft Jugendberatungsstellen! Die Mutter, 31. 8. 1926.* Frankl, Viktor E. (1926b). Gründet Jugendberatungsstellen! Der Abend, 31. 8. 1926.* Frankl, Viktor E. (1927).Vom Sinn des Alltags. Der Mensch im Alltag III.* Frankl, Viktor E. (1931). Die Schulschlußaktion der Jugendberatung. Arbeiterzeitung, 5. 7. 1931.* Frankl, Viktor E. (1935). Ein häufiges Phänomen bei Schizophrenie. Zeitschrift für Neurologie und Psychiatrie, 152, 161–162.* Frankl, Viktor E. (1939). Zur medikamentösen Unterstützung der Psychotherapie bei Neurosen. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, XLIII, 26–31.* Frankl, Viktor E. (1938). Zur geistigen Problematik der Psychotherapie. Zentralblatt für Psychotherapie, 10, 33–75.* Frankl, Viktor E. (1942). Pervitin intrazisternal. Ars Medici (Schweiz), 32, 1, 58–60.* *) Die mit gekennzeichneten Artikel sind erschienen in: Frankl, V. E. (2004). Frühe Schriften. Herausgegeben und kommentiert von Gabriele Vesely-Frankl. Wien: Maudrich.

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Frankl, Viktor E. (1946a). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien: Deuticke. Frankl, Viktor E. (1946b). Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Wien: Verlag für Jugend und Volk. Frankl, Viktor E. (1947). Die Psychotherapie in der Praxis. Eine kasuistische Einführung für Ärzte. Wien: Deuticke. Frankl, Viktor E. (1994). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Frankfurt/Main: Fischer Frankl, Viktor E. (2002). Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen. Weinheim: Beltz. Frankl, Viktor E. und Kreuzer, Franz (1982). Im Anfang war der Sinn. Von der Psychoanalyse zur Logotherapie. Wien: Deuticke. Freud, Sigmund (1964–68). Gesammelte Werke, Band IX. Frankfurt/Main: Fischer. Grom, Bernhard (1994). Religionspsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Neugebauer, Wolfgang (1997). Wiener Psychiatrie und NS-Verbrechen. In: Die Wiener Psychiatrie im 20. Jahrhundert. Wien: Tagungsbericht, Institut für Wissenschaft und Kunst, 20./21. Juni 1997 Soucek, Wolfgang (1948). Die Existenzanalyse Frankls, die dritte Richtung der Wiener Psychotherapeutischen Schule. Deutsche Medizinische Wochenschrift, 73, 594. Tillich, Paul (1962). Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit. Hamburg: Furche. Vesely, Franz und Fizzotti, Eugenio (2004). Internationale Bibliographie der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien: Internationales Dokumentationszentrum für Logotherapie und Existenzanalyse (www.viktorfrankl.org).

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Pinchas Lapide Leben und Werk

Im Rückblick auf Pinchas Lapides Leben scheint es, als seien es zwei frühe Erfahrungen gewesen, die seinen ganzen weiteren Weg geleitet und eine Lebenszeit gebraucht hätten, sich ganz zu entfalten. Am 28. November 1922 wird Pinchas Lapide in Wien geboren. Der einzige Sohn jüdischer Kaufleute wächst in einer Stadt auf, die an kultureller Vielfalt und intellektueller Lebendigkeit im Europa des frühen 20. Jahrhunderts auch nach dem Zerfall der österreichischen Monarchie noch ihresgleichen sucht. In einer Stadt aber auch, die von ethnischen Konflikten und schroffen sozialen Gegensätzen gezeichnet ist. Schon damals ist Wien das Zentrum eines militanten Antisemitismus und nur ein gutes Jahrzehnt vor Lapides Geburt hatte Adolf Hitler in dieser Stadt seinen Judenhass aufgesogen. Es ist der Großvater, der dem jungen Pinchas eine erste prägende Erfahrung vermittelt: die Kenntnis der Bibel. Wenn auch der junge Jude einem eher modernen denn traditionellen jüdischen Elternhaus entstammt, so bringt ihm doch der Großvater die heiligen Schriften seines Volkes nahe. Es ist vielleicht diese frühe Erfahrung von der Kraft der Worte, die Lapide auch späterhin nicht mehr loslässt. Als Theologe und Religionswissenschaftler wird er nicht nur selbst zu einem Meister des ebenso prägnanten wie eingängigen Formulierens, es ist das Interesse für Sprache und Sprachen sowie das Interesse an religiösen Fragen, die seinen Bildungsweg bestimmen. Einen ungewöhnlich segmentierten, langen Bildungsweg: 1946 legt Pinchas Lapide eine Dolmetscherprüfung für Italienisch, Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch an der Universität Wien ab. Von 1947 bis 1951 studiert er in Israel unter dem Einfluss Martin Bubers Judaistik und die Geschichte des 23

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Urchristentums. Unterbrochen wird diese Studienzeit durch Lapides Teilnahme am 1. Israelisch-arabischen Krieg 1948. Von 1956 bis 1958 folgt ein Literaturstudium an der Universität Bocconi in Mailand. 1964 sieht man Lapide wieder in Israel an der Hebräischen Universität Christentum und Neues Testament studieren. Im Jahr darauf wird er Professor am »American Institute for Bible Studies« und studiert parallel Romanistik, Politologie und Mediävistik, um schließlich 1968 einen weiteren formellen Studienabschluss zu gewinnen: Er erwirbt an der Hebräischen Universität einen Magisterabschluss in Romanistik, Frühchristentum und Mediävistik. Es folgt nun ein Forschungsaufenthalt in Deutschland am Martin-Buber-Institut für Judaistik in Köln, den Pinchas Lapide 1971 mit der Promotion abschließt. Wieder ist auch das Thema dieser Arbeit ein an Religion und Sprache gebundenes: »Die Verwendung des Hebräischen in den Christlichen Religionsgemeinschaften mit besonderer Berücksichtigung des Landes Israel.« Warum dieser lange Bildungsweg? Warum erlangt Pinchas Lapide erst zur Mitte seines fünften Lebensjahrzehnts einen formellen Studienabschluss? Was heute aussieht, als habe jemand eine gewisse Lässigkeit bei der Organisation seines Studiums walten lassen, hat tatsächlich seinen Hintergrund in den Lebenserfahrungen Lapides, vor allem ist es die Folge der Entwurzelung und des Flüchtlingsdaseins im Fahrwasser des Holocaust. 1938 verliert der junge Jude seine Heimat. Nach dem »Anschluss« Österreichs muss Lapide mit ansehen, wie sein Vater gezwungen wird, mit einer Zahnbürste die Straße zu reinigen. Er selbst muss das Wiener Sperl-Gymnasium verlassen, wird in ein Konzentrationslager nahe der tschechischen Grenze interniert. Später wird er sagen: »Christen haben mich ins KZ gebracht, Christen haben mir zur Flucht verholfen.« Es gelingt ihm, über die Tschechoslowakei nach Polen und danach nach England zu fliehen. Dort findet er ein Jahr lang Asyl bei einem Bauern. 1940 aber verlässt Lapide auch England. Mit dem letztmöglichen Schiff erreicht er das damalige englische Mandatsgebiet Palästina. Auch hier arbeitet er zunächst in der Landwirt24

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schaft, und zwar im Aufbau eines Kibbuz. Wegen der zunehmenden Gefährdung der Juden Palästinas schließt Lapide sich dann der jüdisch-englischen Brigade unter General Montgomery an. Er kämpft in Italien. Nach dem Krieg wird er – seine Sprachkenntnisse machen dies möglich – Verbindungsoffizier zwischen Russen und Amerikanern in Wien. 1947 kehrt Pinchas Lapide nach Israel zurück, tritt hier aus dem Studium heraus in den diplomatischen Dienst des israelischen Außenamtes ein und wird 1955 israelischer Konsul und Presseattaché in Mailand. 1958 wechselt er als erster Botschaftssekretär und Kulturattaché Israels von Mailand nach Rio de Janeiro, um 1960 wieder nach Israel zurückzukehren. Hier bereitet er von 1962 bis 1964 als Koordinator des Israelischen Interministeriellen Pilgerkomitees den Besuch Papst Pauls VI. in Israel vor. Nach 1964 wird er Direktor für Publikationen im amtlichen Pressebüro des Ministerpräsidenten und stellvertretender Leiter des Staatlichen Presseamtes in Israel. Bald deutet sich an, dass Lapide in dieser Aufgabe nicht die Erfüllung findet, die er sucht. Schon sehr früh hatte er im Auftrag der Regierung Vortragsreisen an Universitäten und Kirchen in den USA unternommen. 1969 lässt er sich für ein »Schabbatjahr« beurlauben und forscht am Martin-Buber-Institut in Köln. 1971 schließlich folgen die Dissertation und endlich die Übersiedlung nach Frankfurt am Main auf Einladung vieler Universitäten und Kirchen. Schließt sich mit dieser Übersiedlung der Kreis? Findet der in der Jugend vertriebene Lapide nun, nach unsteten Jahren des Lernens und Arbeitens in immer anderen Ländern und immer neuen Umgebungen nach Hause? Die Versuchung, diese Frage zu bejahen – immerhin wird Lapide bis zu seinem Tod am 23. Oktober 1997 in Frankfurt als freier Schriftsteller leben und arbeiten – ist groß, greift aber zu kurz. Denn man muss sich bewusst machen, wer hier aus welchem Land kommend in welches Land übersiedelt und sich vor Augen halten, was dies bedeutet. Es war ja der Jude Lapide, der von Deutschen aus der Heimat seiner Jugend vertrieben wurde. Und es ist der Jude Lapide, der aus der neuen, so lange ersehnten Heimat aller Juden 25

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sich in einem Land niederlässt, auf dem die historische Verantwortung für ungeheure Verbrechen am jüdischen Volk lastet. Doch die Bedeutung dieser Übersiedlung erschöpft sich nicht in der privaten Motivation, diesen Schritt zu tun. Dafür ist Lapide als jemand, der in der Öffentlichkeit wirkt, schon zu bekannt. Er tut einen Schritt, der beachtet wird – mit Verwunderung vielleicht wahrgenommen bei den Deutschen, mit Bestürzung, vielleicht Entrüstung bei nicht wenigen Juden. Der, der als Jugendlicher über Grenzen gejagt wurde und bis weit in sein fünftes Lebensjahrzehnt immer wieder aufbricht in andere Länder, scheut weder Lob noch Kritik. Wo Grenzen sind, sind Unterschiede. Wo Grenzen sind, gibt es Abgrenzungen. Aber nur wo Grenzen sind, ist auch Nachbarschaft möglich, werden Brücken der Verständigung gebaut. Es wird dies nun das große Thema im Leben Pinchas Lapides. Im »Land der Täter« eröffnet der Jude Lapide die Möglichkeit für den Brückenschlag der Versöhnung. Der Orientierungspunkt für die nun von uns gemeinsam erarbeiteten zahlreichen Veröffentlichungen wird Religion und Politik, insbesondere natürlich die Bibel. Sie ist das Feld, auf dem Lapide das Gespräch sucht. Lapide beschreibt nun, dass die Jahrhunderte lange Ablehnung, ja Anfeindung der Juden durch das Christentum, dass der Antijudaismus, der sich auch in der christlichen Bibel und vor allem in den Auslegungstraditionen der Kirchen findet, vielleicht der wichtigste Grund dafür ist, dass der Holocaust in einer vom Christentum geprägten Nation so widerspruchslos möglich war. Denn hier waren ja die Juden schon längst als Juden nicht nur ausgegrenzt, sondern immer wieder auch schon gesellschaftlicher und staatlicher Gewalttätigkeit ausgesetzt. Hilfe und Solidarität hatten die »Christusmörder« – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht zu erwarten. Lapide brachte in diesem Zusammenhang gern in Erinnerung, dass Juden in diesem Land immerhin schon vor Christen ansässig waren. Auch erinnerte er an ihre grenzenlose Liebe zu Deutschland – 26

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wie sie sich z. B. im Ersten Weltkrieg erwies, als 100.000 jüdische Männer im deutschen Heer dienten, unter ihnen 30.000 Freiwillige, leider auch 12.000 Gefallene. Hier setzt das »Sendungsbewusstsein« der Arbeit Lapides an. Es geht ihm um die Vergegenwärtigung der Gründe, die zum Auseinandergehen von Kirche und Synagoge geführt haben. Es geht um das Verstehen dessen, was seither geschehen ist. Und schließlich geht es Pinchas Lapide darum, die Versöhnung anzustreben. Den Ansatz für diese Bemühungen findet er, indem er wiederum eine Grenze überschreitet, sich einer Textsammlung zuwendet, die ihm, dem Juden, von einem religiösen Standpunkt aus eigentlich herzlich gleichgültig sein könnte: Lapide wendet sich der Grundschrift des Christentums zu, dem Neuen Testament. Und hier ist es – wie könnte es anders sein bei diesem Gelehrten – die Sprache, der sein Augenmerk im Besonderen gilt. Pinchas Lapide erinnert daran, dass das Neue Testament, so wie Christen es heute lesen, ursprünglich in einer ganz anderen Sprache entstand. Er betont: »Anderthalb Jahrtausende begnügte man sich in der Christenheit mit der lateinischen Vulgata – die nichts anderes ist, als die Übersetzung einer Übersetzung –, um dann schrittweise zum griechischen Text vorzustoßen. Heutzutage erst wird langsam klar, dass man ohne Hebräisch und Aramäisch keine echte Einsicht, weder in den Geist noch in den ursprünglichen Wortlaut der Evangelien gewinnen kann. Denn weder Jesus, noch seine apostolische Urgemeinde mitsamt ihren ersten Tradenten dachten auf griechisch oder gar auf lateinisch. Nur die ›hebraica veritas‹, die Hieronymus einst so überschwänglich rühmte, kann uns zu den Quellen zurückführen.«1 Es ist das unbestrittene Verdienst Pinchas Lapides, Christen überhaupt erst zu Bewusstsein gebracht zu haben, dass der Text des Neuen Testamentes von seinem Ursprung her ein jüdischer Text ist. Das aber heißt in den Worten Franz 1.

Pinchas Lapide, Ist die Bibel richtig übersetzt?, Gütersloh 2003, 8. Aufl., 84f.

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Mußners, eines bekannten deutschen Bibelwissenschaftlers, dass die Menschen der Urkirche »in jüdischen Kategorien dachten, sprachen, schrieben und beteten«. 2 Mit der Übertragung der ursprünglichen, wohl vor allem mündlich tradierten Sprachgestalt des Neuen Testamentes zunächst in die griechische, dann in die lateinische Sprache wandelte sich aber nicht allein die sprachliche »Einkleidung« einer Botschaft. Es ist ja nicht so, dass ein Inhalt unabhängig von seiner sprachlichen Gestalt existiert. Vielmehr bringt jede Sprache eine bestimmte Architektur des Denkens und des Ausdrucks mit, einen unverwechselbaren Klang, der in einer anderen Sprache nicht so ohne weiteres nachzuahmen ist. Auch handelt es sich oft um beabsichtigte christliche Entfremdungen von ihrem jüdischen Mutterboden, eine häufige Verzerrung von Texten im Zuge des Auseinandergehens der Wege von Kirche und Synagoge. So kommt es bei Übersetzungen zu Veränderungen, Undeutlichkeiten und im schlimmsten Falle zu Fehlverständnissen. Diese werden umso stärker, je mehr die Sprache, in die hinein übersetzt wird, mit ihren eigenen Kategorien in die aufgenommenen Vorstellungen hineindrängt. So wird die Frage, ob die Bibel denn richtig übersetzt sei, ein wichtiger Fokus der Arbeit Lapides, der er sich nicht nur in Gestalt von Publikationen widmet, sondern ihr auch in Radiobeiträgen und Akademieveranstaltungen, auf Kirchentagen und in den Feuilletons nachgeht. Mit Genugtuung darf auch festgestellt werden, dass so manche bedeutende christliche Richtigstellung seither erfolgt ist und die atmosphärische Versöhnungsarbeit Früchte trägt. Wer nach der ursprünglichen Sprachgestalt der Evangelien fragt, wer hier nach dem ursprünglichen hebräischen »Denkaroma« sucht, wird eine nächste Frage zu stellen haben: Wie verhielt es sich eigentlich in dieser Perspektive mit Jesus von Nazareth? Auch Lapide stellt diese Frage und er ist es, der für Christen Jesus als den Juden wiederentdeckt, der er war. Auf 2.

Franz Mußner, Traktat über die Juden, zitiert nach ebd., 85.

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nicht wenige Christen wirkt dieser Gedanke selbst heute noch befremdlich, rechnete doch die christliche Tradition – wie sollte sie auch anders – ganz selbstverständlich Jesus dem Christentum zu. Übersehen wird dabei die Differenz zwischen dem historischen Mann aus Nazareth und der Verkündigung über ihn, die Jahrhunderte später zu den Glaubensbekenntnissen der Kirche führte. Zu Glaubensbekenntnissen, die nicht mehr geprägt sind vom hebräischen Geist des Ursprungs, sondern vom hellenistischen, platonischen Denken der jungen Kirche (nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer und dem Beginn der Diaspora). In dieser Wandlung aber liegt die wesentliche Ursache für den Antagonismus zwischen Judentum und Christentum. Es ist diese Ursprungsvergessenheit, die es Christen ermöglichte, in den Juden Feinde zu sehen. Pinchas Lapide macht demgegenüber sichtbar, dass die Botschaft Jesu eine in ihrer Gänze im Judentum verwurzelte Botschaft ist. Jesus war ein jüdischer Rabbi, allerdings – wie auch Lapide festhält – mit einem Anliegen und einem Schicksal, das auch ein ganz beachtliches Sondergut beinhaltet. Die Bibel und das Bemühen, Grenzlinien durchlässiger zu machen, dort den Dialog zu eröffnen, wo Antagonismen das Gespräch unmöglich scheinen lassen – das sind zwei Grundmomente im Leben und Arbeiten Pinchas Lapides. Beide finden sich auch in dem sehr persönlichen Gespräch mit Viktor E. Frankl, das dieser Band dokumentiert. Im Gespräch über die Grenzen der verschiedenen wissenschaftlichen Räume hinweg entdecken die Gesprächspartner hier weit mehr Gemeinsamkeiten als das Vorurteil über das Verhältnis von Psychologie und Religion es vermuten lässt. Denn beiden gemeinsam ist ein Ziel: das Heilsein der Seele und das sinnhafte Gelingen menschlichen Lebens. Frankfurt, im Herbst 2004

Ruth Lapide

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Bibliographie

In Auswahl: Lapide, Pinchas: (1964). Israel für Pilger. Frankfurt a. M: NerTamid-Verlag. Lapide, Pinchas: (1976). Hebräisch in den Kirchen. NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlag. Lapide, Pinchas (1980). Er predigte in ihren Synagogen. Jüdische Evangelienauslegung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lapide, Pinchas: (1986). Ein Prophet für San Nicandro: Eine ungewöhnliche Glaubensgeschichte (dt. Fassung von Katharina Spann. Neubearbeitung von Jakob Laubach). Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. Lapide, Pinchas / Rahner Karl (1989). Heil von den Juden? Ein Gespräch. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. Lapide, Pinchas (1991). Heinrich Heine und Martin Buber – Streitbare Gott-Sucher des Judentums. Wien: Pincus. Lapide, Pinchas / Wehner, Gerd (1994). Politikerschelte. Vom geringen Ansehen des Politikers. Asendorf: Mut. Lapide, Pinchas (1995). Soll man dem Kaiser Steuern zahlen? Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. (Tonkassette). Lapide, Pinchas (1998). Leben vor dem Tod – Leben nach dem Tod? Ein Dialog. Mit einem Nachwort von Rita Süssmuth. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lapide, Pinchas: (31998). Rom und die Juden. (Übersetzung aus dem Englischen). Freiburg: Herder. Lapide, Pinchas (51999). Ist das nicht Josephs Sohn? Jesus im heutigen Judentum. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lapide, Pinchas (42000). Wer war Schuld an Jesu Tod? Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lapide, Pinchas (42001). Paulus – zwischen Damaskus und Qumran. Fehldeutungen und Übersetzungsfehler. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 30

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Lapide, Pinchas (2003). Der Jude Jesus. Thesen eines Juden. Antworten eines Christen. Düsseldorf: Patmos. Lapide, Pinchas (2004). (Gesamtausgabe, Bd. 1 und Bd. 2) Ist die Bibel richtig übersetzt? Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lapide, Pinchas (32004). Von Kain bis Judas. Ungewohnte Einsichten zu Sünde und Schuld. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lapide, Pinchas (82004). Er predigte in ihren Synagogen. Jüdische Evangelienauslegung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lapide, Pinchas (62005). Er wandelte nicht auf dem Meer. Ein jüdischer Theologe liest die Evangelien. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Hrsg.) (1993) Juden und Christen im Dialog. Pinchas Lapide zum 70. Geburtstag. Stuttgart : Akad. der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Kleine Hohenheimer Reihe; 25). Jüdisches Biographisches Archiv / Jewish Biographical Index (Hrsg.) (1998ff.). Jüdischer Biographischer Index / Jewish Biographical Index. 4 Bde. München: Saur. Evangelische Akademie Baden (Hrsg.) (1996). Der Chassidismus. Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Bad Herrenalb: Ev. Akad. Baden. Katholische Akademie Hamburg (Hrsg.) (1999). In memoriam Pinchas Lapide (1922–1997) – Stimme der Versöhnung: ein Brückenbauer zwischen Juden und Christen. Hamburg: Kath. Akad. (Ansprachen, Reden, Einreden; 8).

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Gottsuche und Sinnfrage Über dieses Buch

Viktor Frankl hinterließ ein umfangreiches schriftliches Gesamtwerk. Viele seiner Bücher – vor allem … trotzdem Ja zum Leben sagen und die Ärztliche Seelsorge – haben sich längst als internationale Klassiker etabliert. Der allgemeinen Öffentlichkeit etwas weniger geläufig ist Frankl als der Autor von insgesamt über 400 wissenschaftlichen und philosophischen Artikeln und Beiträgen, in denen er sich als Psychiater und Neurologe mitunter den angrenzenden Gebieten seiner eigentlichen Forschungsarbeit zuwendet. Zu diesem Zweig seines umfangreichen Gesamtwerkes zählt auch das vorliegende Buch: Es entstand aus einem mehrstündigen Gespräch zwischen dem jüdischen Religionsphilosophen Pinchas Lapide und Viktor Frankl in dessen Wohnung in der Mariannengasse in Wien im August 1984. Die Tonbandaufzeichungen des im folgenden abgedruckten Gesprächs und das auf ihrer Grundlage im Sommer 1984 verfasste Manuskript befanden sich über viele Jahre im privaten Nachlass Viktor Frankls, ohne, dass jemand Kenntnis von ihrer Existenz gehabt hätte. Erst im Mai 2004 wurden das einzig erhaltene Buchmanuskript und die dazugehörigen Tonbandaufzeichnungen im Rahmen der Erfassung des privaten Archivs Frankls entdeckt. Dabei war eine Veröffentlichung des Buches allem Anschein nach geplant und stand möglicherweise unmittelbar bevor. Noch im Jahr 1984 dürften beide Autoren das Vorwort des Buches verfasst und seinen Titel festgelegt haben. Es ist nicht bekannt, weshalb das Buch dann letztlich doch nicht zur Veröffentlichung kam. Bei dem im Nachlass gefundenen Entwurf handelt es sich um Druckfahnen, was die Vermutung erhärtet, dass der Plan zur Veröffentlichung verhältnismäßig weit gediehen war. Die Druckfahnen enthalten allerdings keine Verlagskennzeichnung, wodurch die Recherchen über die publika33

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torischen Hintergründe dieses Buchprojekts bald zu einem Ende kamen; auch Anfragen bei den deutschsprachigen Hausverlagen Frankls und Lapides ergaben keine neuen Erkenntnisse über die Gründe seines seinerzeitigen Nichterscheinens. Das Manuskript selbst erteilt möglicherweise mehr Auskünfte: Es enthält zahlreiche Korrekturen und Ergänzungen der Autoren. Form, Art und Inhalt der Anmerkungen und Einfügungen legen nahe, dass mindestens zwei Korrekturdurchgänge pro Autor erfolgt sind. Beide Verfasser haben folglich ihre jeweiligen Gesprächsbeiträge wenigstens zweimal bis zum Buchende korrigiert und erweitert. Das spricht – gemeinsam mit dem nachträglich verfassten Vorwort und den Anweisungen an den Verlag – dafür, dass eine baldige Veröffentlichung des Buches geplant war. Hätten die Autoren sich andererseits darauf geeinigt, das vorliegende Buch aus inhaltlichen Gründen nicht zu veröffentlichen, ist davon auszugehen, dass sie sich wohl weder die Arbeit des zweimaligen Korrekturlesens gemacht noch ein nachträglich verfasstes Vorwort (mitsamt den Instruktionen an den Verlag) dem durchkorrigierten Typoskript vorangestellt hätten. Ebenfalls gegen eine vorzeitige Einstellung des Buchprojekts aus inhaltlichen Gründen spricht, dass die Autoren allen Grund hatten, mit den Ergebnissen ihres mehrstündigen Gespräches zufrieden zu sein; zumindest dürfte ihnen bewusst gewesen sein, dass ihre Leser dankbar an der Begegnung von Frankl und Lapide teilgehabt hätten. Weiterhin ist bekannt, dass das freundschaftliche Einvernehmen zwischen Viktor Frankl und Pinchas Lapide durch die Begegnung in Wien vertieft wurde. Das schließt eine weitere Erklärungsmöglichkeit für das seinerzeitige Nichterscheinen des Buches aus. Dem Gütersloher Verlaghaus verdanken wir wiederum den Hinweis, dass der verhältnismäßig geringe Textumfang des vorliegenden Buches ein möglicher verlagsseitiger Grund für die Aufgabe der Publikationspläne gewesen sein könnte; umso erfreulicher ist es, dass das Gütersloher Verlagshaus sich dazu entschlossen hat, das 1984 zunächst eingestellte Buchprojekt wieder aufzugreifen. 34

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Als das vorliegende Buch im privaten Nachlass Frankls gefunden wurde, galt es zunächst, dort anzusetzen, wo die Arbeiten an den Druckfahnen vor genau 20 Jahren unterbrochen wurden und die von den Autoren vorgenommenen Korrekturen und Erweiterungen einzuarbeiten. Die Anmerkungen Lapides lagen bereits in maschinengeschriebener Form vor. Das Typoskript enthielt zudem neben ebenfalls maschinengeschriebenen Ergänzungen auch zahlreiche (rund 50) handschriftliche Einfügungen Frankls, die in der heute nicht mehr verwendeten Gabelsberger Stenographieschrift notiert waren. 1 Die nun vorliegende Fassung des Buches berücksichtigt sämtliche Einfügungen und Berichtigungen der Autoren; die Verfasser selbst haben dabei augenscheinlich großen Wert darauf gelegt, den Gesprächscharakter des Buches aufrechtzuerhalten – die vorgenommenen Ergänzungen und Korrekturen beschränken sich auf wenige und geringfügige Änderungen und stellen nur in seltenen Fällen tiefergehende Eingriffe in Inhalt, Form und Gedankenführung des Dialogs dar. Die kurze Darstellung der historischen und formalen Hintergründe dieses Buches zeigt, dass es sich in vielerlei Hinsicht von den bisher bekannten Veröffentlichungen Frankls unterscheidet. Auch in seiner thematischen Ausrichtung bietet das vorliegende Werk viel Neues und von Frankl bisher in dieser Form und Offenheit nicht Gesagtes. Das mag nicht zuletzt auch daran liegen, dass die Dialogform es ermöglicht, Gedanken noch in der Diskussion zu erproben und zu entfalten und gegebenenfalls wieder verwerfen zu können, der Grad der Verbindlichkeit der vorgebrachten Ideen und Argumente daher geringer als dies etwa bei den bekannten Hauptwerken Frankls der Fall ist. Von Frankl ist, abgesehen von dem vorliegenden Werk, bisher nur ein weiteres Buch erschienen, welches dialogisch angesetzt ist (Frankl & Kreuzer 1982). Dieses besteht neben zwei 1.

Besonders gedankt sei an dieser Stelle Herrn Hans Gebhardt für die freundliche Unterstützung bei der Übertragung der stenographischen Notizen und Anmerkungen Viktor E. Frankls.

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Vorträgen aus zwei ausführlichen Interviews mit Frankl – aber der entscheidende Unterschied zwischen diesem Buch (und ungezählten weiteren Interviews Frankls) und dem im folgenden präsentierten Gespräch besteht darin, dass sich hier zwei Gesprächspartner begegnen, die miteinander in einen gleichwertigen Dialog treten. War Frankl in Interviews dazu angehalten, die Grundzüge seiner Logotherapie zu erklären, griff er in der Regel gerne auf bereits bestehende Formulierungen und bewährte Formeln zurück. In dem vorliegenden Buch ist der Fall anders gelagert: Hier begegnen sich zwei Forscher, die sich nicht nur gegenseitig ihre Standpunkte erklären, sondern über weite Strecken gemeinsam neue Gedanken und Ideen entwickeln und im geschützten Raum einer persönlichen wie intellektuellen Freundschaft zur Diskussion stellen. Frankl selbst äußert sich dahingehend gegen Ende des Gesprächs, wenn er sagt: Schauen Sie, es ist vielleicht die einzige Weise, in der ich meinen persönlichen Respekt vor Ihnen zum Ausdruck bringen kann, dass ich Dinge sage, die ich noch nie gesagt habe, sogar noch gar nicht gedacht habe, Ihnen anvertraue (siehe S. 133) Tatsächlich hat sich Frankl selten so offen und so ausführlich über seine eigenen religiösen Anschauungen geäußert, wie es hier der Fall ist. Diese persönlichen Ausführungen erschließen sich dem Leser vor allem dann, wenn er sie im Gesamtzusammenhang mit Frankls religionspsychologischen und -philosophischen Aussagen und Ideen liest, weshalb an dieser Stelle als Verständnishilfe eine kurze inhaltliche Hinführung zu Viktor E. Frankls Stellung zur Frage der Religion erfolgen soll.

Logotherapie und Religion Bei der Betrachtung seines Gesamtwerk fällt zunächst allgemein auf, dass Frankl religiöse Fragen zwar des Öfteren aufgegriffen, zugleich aber äußerst behutsam und zurückhaltend diskutiert hat. So stellte Frankl seine Überlegungen zur Religion stets un36

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ter das Vorzeichen der pragmatischen Formel, im Rahmen der von ihm begründeten psychologischen Forschungsrichtung seien Religion und Glaube allenfalls »nur« als Gegenstand und nicht als Standort (Frankl 1994:272f.) zu verstehen. Dabei nimmt Frankls psychologisches Modell Religiosität und Glauben des Menschen in seiner Echtheit hin – und damit ernst genug, um sich den Anspruch zu versagen, Religion vollständig und ausschließlich psychologisch erklären zu wollen. Generell war es ein Anliegen Frankls, psychologische Erklärungskategorien nicht dort anzuwenden, wo ihr Einsatz ab einem bestimmten Punkt an den ursprünglichen Bedürfnissen des Menschen vorbeigeht und ausschließlich psychologische und psychiatrische Mechanismen in Anschlag bringt, wo im Grunde nicht mehr psychische Prozesse, sondern geistige Anliegen zum Tragen kommen: Denn sowohl die künstlerische Leistung des einen als auch die religiöse Begegnung des anderen liegt außerhalb der psychiatrischen Ebene. (Frankl 1994:51) Mit anderen Worten: es ist Frankl daran gelegen, den Menschen nicht nur in seiner psychischen Verfasstheit, sondern auch in seiner Geistigkeit und Personalität wahrzunehmen – gleichgültig, ob und wie sie sich in weltanschaulichen Bezügen äußern mag. Dieser Gedanke war insofern für lange Zeit (und ist es teilweise bis in die Gegenwart hinein) ein Novum, als die Mehrzahl der gängigen psychologischen Theorien in der Religiosität des Menschen bloß Ausdruck psychischer Prozesse sahen – und das in aller Regel unter wenig ehrenvollem Vorzeichen. 2 Entsprechend dankbar wurde Frankls Logotherapie daher nicht 2.

Zum Beispiel: Religion als »nie ganz überwundene Konflikte der Kindheit aus dem Vaterkomplex« (Freud 1964–68: IX:164); als »instinkthaftes Suchen nach Schutz« (Pawlow; Grom 1992:80); als »Ausdruck und Ventil der Angst vor Sterblichkeit« (Malinowski; Grom 1992:84); als »selbstwertmotiviertes Geltungsstreben« (Spilka; Grom 1992:105).

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zuletzt von denjenigen aufgegriffen, die den religiösen Menschen nicht länger unter psychotherapeutischen Generalverdacht stellen wollten. Dabei war Frankl aber weniger darauf aus, die Religion als solche vor psychologischen Reduktionismen zu schützen, als vielmehr die Psychologie selbst davor zu bewahren, die Grenzen ihres Erklärungspotentials methodisch, formal und inhaltlich zu überschreiten. Denn alle Versuche, Religion und Glauben ausschließlich innerpsychisch zu erklären, sind als Forschungsprogramme nur dann begrifflich und inhaltlich plausibel, wenn klargemacht werden kann, dass sich die geistigen Anliegen, die in der Religion zum Tragen kommen, ohne Verlust auf psychische Prozesse und Mechanismen projizieren lassen. Der Nachweis dieses Modells würde im Idealfall empirisch erfolgen; er steht allerdings noch aus und es ist nicht absehbar (und konzeptuell schwer vorstellbar), wie und ob ein solcher Nachweis möglich wäre, ohne seinerseits ein reduktives Forschungsprogamm – und damit sich selbst – vorauszusetzen. Der eigentliche Entwicklungsschritt, den die Religionspsychologie mit Frankl vollzieht, ist folglich im Grunde ein Rückzug aus geistigen Bereichen, die von vornherein psychologisch nicht in vollem Umfang zugänglich waren: Denn Religiosität ist für Frankl Ausdruck der menschlichen Suche nach Sinn und als Ausdruck der Sinnsuche ebenso wenig reduzierbar und hinterfragbar wie die Sinnsuche selbst. In Hinblick auf die Stellung der Logotherapie zur Religion kann man drei Grundaussagen festhalten, die noch im weiteren Verlauf dieser Einleitung vertieft werden sollen: Frankl gesteht der Religiosität erstens die legitime Rolle zu, die sie im Leben des Einzelnen spielen mag oder nicht; ebenso räumt er ihr zweitens auch ideengeschichtlich die Bedeutung ein, die ihr als Ausdruck menschlicher Sinnsuche zukommt; und er hält sie drittens so weit aus der angewandten Therapie heraus, wie dies angesichts der notwendigen weltanschaulichen Zurückhaltung des Arztes und Therapeuten angezeigt ist. Der ärztlichen Neutralität verpflichtet beschränkt sich Frankl folglich darauf anzuerkennen, was den religiösen Menschen bewegt, ohne sein Anliegen 38

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psychologisch zu bewerten, oder über den Ausdruck der religiösen Suche inhaltlich zu urteilen. Mehr vermag die Logotherapie in Hinblick auf die Religion als solche nicht zu sagen, und mehr zu sagen wäre sie auch ihren eigenen Vorgaben zufolge weder als Psychotherapie noch als ärztliche Seelsorge befugt. Die Logotherapie kann aber (und muss es als Psychotherapie zuweilen) den religiösen Menschen zum Gegenstand machen – und hier kann sie auch weiter gehen als in ihrer Betrachtung der Religion selbst: denn kein psychologisches Modell, dem es am Menschen gelegen ist, kann es sich langfristig erlauben, die religiöse Suche des Menschen auszublenden oder aufgrund bestimmter vorgegebener Prämissen zu pathologisieren. So gibt die Geschichte der Religionen und Mythen Zeugnis von der fortwährenden Frage des Menschen nach Sinn. Durch seine gesamte wechselreiche Geschichte zieht sich diese eine Konstante: Der Mensch ist ein Wesen geblieben, das sich nicht damit zufrieden gibt, zu leben, sondern beständig auch nach dem Sinn und Grund seines Seins und Handelns fragt. Dieser Sachverhalt hat für die Logotherapie insofern besondere Bedeutung, als er Frankls Verständnis des Menschen als Sinn suchendes Wesen bestätigt. Aus diesem Grund sind auch die Anliegen des religiösen Menschen für die Logotherapie von weitaus größerer Bedeutung als die Anliegen der Religion als solcher. Das wird auch deutlich an Frankls großzügiger Definition des religiösen Menschen: Frankl zitiert in diesem Zusammenhang gern Paul Tillichs Aussage, der zufolge »religiös zu sein heißt, leidenschaftlich nach dem Sinn unserer Existenz zu fragen« (Tillich 1962:8). Die Schwerpunktlegung auf den religiösen Menschen spiegelt sich auch im Gesamtwerk Viktor Frankls wieder: Hier stellt man bald (manchmal wider Erwarten) fest, dass religiöse Fragen darin bei weitem keinen so großen Raum einnehmen, wie es manche (von Kritikern wie auch von Theologen und geistlichen Seelsorgern) forcierte Lesarten der Logotherapie nahe legen wollen. Zwar ist es einerseits nachvollziehbar, weshalb vor allem Theologen und Angehörige der geistlichen Berufe in der Logotherapie Schützenhilfe zu finden glaubten (und wieder an39

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dere darin einen Kritikgrund sahen); zugleich muss man an dieser Stelle vor allzu starken Vereinnahmungstendenzen warnen, die weder der Theologie noch der Psychotherapie auf Dauer dienen dürften; denn Frankls Logotherapie endet streng genommen dort, wo die Theologie beginnt. Mit ein Grund für die Tendenz zur Überschreitung der Grenzen zwischen Theologie und Logotherapie mag sein, dass sich Frankl mit der Sinnfrage einem Thema zugewendet hat, das klassischerweise auch von der Religion abgedeckt wird. Allerdings: Missverständnisse, die in diesem Zusammenhang auftauchen könnten, sind zwar bei flüchtiger Betrachtung nachvollziehbar, sollten aber bei näherer Prüfung der von beiden Disziplinen gestellten Sinnfragen nicht lange bestehen. Die explizit neutrale Stellung der angewandten Logotherapie und Existenzanalyse zur religiösen Frage wird nämlich umso deutlicher, wenn man sich mit Frankls Sinnbegriffen auseinandersetzt. Frankl unterscheidet zwischen drei Arten oder Kategorien von Sinn; nur eine von diesen ist für die Logotherapie von zentraler (und zugleich für die Theologie von relativ untergeordneter) Bedeutung. Die Bestimmung der drei Sinnbegriffe der Logotherapie dient auch als Verständnishilfe des vorliegenden Buches, weshalb sie im Folgenden kurz vorgestellt und mit besonderer Beachtung ihrer religiösen Aspekte diskutiert werden soll. In seinem Gesamtwerk unterscheidet Frankl zwischen (1) dem Sinn im Leben, bzw. einer bestimmten Lebenssituation, (2) dem Sinn des Lebens, (3) und dem Sinn des Weltganzen. Als sinnzentrierte Psychotherapie ist die Logotherapie überwiegend mit dem ersten Sinnbegriff – dem Sinn im Leben, bzw. der konkreten Einzelsituation – befasst. Nur als philosophische, bzw. existenzanalytische Forschungsrichtung setzt sich die Logotherapie bisweilen mit den anderen beiden (mehr metaphysischen, unter Umständen auch religiösen) Sinnbegriffen auseinander und enthält sich dabei, wie wir bereits gesehen 40

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haben, definitiver oder gar dogmatischer Aussagen: Im Grunde ist, mit wenigen Ausnahmen, die entscheidende und oft variierte einzige inhaltliche Festlegung, die Frankl in Hinblick auf den zweiten und dritten Sinnbegriff – den Sinn des Lebens und des Weltganzen – zu machen bereit ist, erkenntnistheoretischer Natur und besagt, dass beide Sinnkategorien nicht mehr rational oder intellektuell erfasst werden können (z. B. Frankl 1982:41). Man kann Frankls erkenntnistheoretische Position nun allerdings auch dahingehend deuten, dass sie zumindest implizit sowohl einen Sinn des Lebens als auch einen Sinn des Weltganzen voraussetzt – nur seien diese nicht eben leicht zu erfassen. Andererseits differenzieren sich an dieser Stelle beide metaphyischen Sinnkonzepte aus: Der Sinn des Lebens (d. h. des Einzellebens) erschließt sich Frankl zufolge – sofern er sich überhaupt erschließt – erst dann, wenn wir ein Gesamtbild unseres Lebens zu erfassen in der Lage sind: Der Film hat seinen Sinn als Ganzes, aber der geht uns erst auf, wenn wir die Bilder im Zusammenhang sehen. Der Lebenssinn geht es erst auf, wenn wir auf unserem Totenbett liegen. Bestenfalls. (siehe S. 118) Das Erfassen der Gesamtzusammenhänge eines Lebens macht demnach im Idealfall seinen Sinn deutlich; aber Frankl betont, dass dies voraussetzt, dass wir hinreichend oft den Sinn der konkreten Situation erkannt, aufgegriffen und verwirklicht haben. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens erfolgt demnach innerweltlich – nämlich durch uns. Selbst wenn also die allgemeine Lebenssinnfrage als solche metaphysischen Charakter haben mag, fällt ihre Beantwortung im Rahmen der Logotherapie sehr pragmatisch aus: Nicht Offenbarung und Glaube bestimmen den Sinn des Lebens, sondern das sinnvolle Gestalten des eigenen Lebens ermöglicht dessen Entfaltung. Dem nun steht der dritte Sinnbegriff gegenüber, den auch vornehmlich die Religion (Frankl dagegen verhältnismäßig selten) thematisiert – der Sinn des Weltganzen. Auch hier findet 41

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sich noch ein maßgeblich innerweltliches Moment: denn wie bei den ersten beiden Sinnbegriffen erfolgt nach Frankl die Stellungnahme zu der letzten Sinnfrage ebenfalls aufgrund einer bewussten Entscheidung. Damit enden allerdings auch schon die Gemeinsamkeiten der drei Sinnkonzepte. Denn im Gegensatz zu dem Sinn der Situation und dem Sinn des Lebens besteht die einzige Entscheidungsmöglichkeit des Menschen in Bezug auf die letzte Sinnfrage im Glauben oder Nichtglauben und nicht im Verwirklichen oder Verwirken einer gegebenen Sinnmöglichkeit. Mit anderen Worten: Der Sinn des Weltganzen kann hingenommen werden oder nicht, aber er ist in seiner Realisierung in keiner Weise vom Menschen selbst abhängig. Diese Modell gewährleistet auch die weltanschauliche Neutralität der Logotherapie: Die Entscheidung über die letzte Sinnfrage ist nicht nur objektiv nicht beantwortbar, es ist auch aufgrund ihrer fehlenden rationalen Fassbarkeit kein Mensch mehr ermächtigt als ein anderer, die Entscheidung des Einzelnen in Frage zu stellen oder zu beurteilen – soweit das erkenntnistheoretische Argument Frankls. Da drüber hinaus die Eigenexistenz des Sinns des Weltganzen nicht mehr vom Aufgreifen und Verwirklichen des Menschen abhängt, ist die Antwort des Einzelnen auf die religiöse Frage auch nicht vor dem Hintergrund seiner Verantwortung zu messen oder aus dieser herleitbar: Das Wissen um einen Sinn des Weltganzen mag zwar der Sinnorientierung des Menschen eine tiefere metaphysische Verankerung geben, aber das Anerkennen oder Nichtanerkennen einer solchen Verankerung entbindet den religiösen Menschen ebenso wenig wie den irreligiösen Menschen, den ersten beiden Sinnbegriffen in seinem alltäglichen Leben gerecht zu werden. Daher greift Frankl die Frage nach dem Sinn des Weltganzen zwar als gegebenes Phänomen auf (weil die Menschen sie zu allen Zeiten aufwarfen), aber insofern er sich und die Logotherapie eines Oktrois enthält, gibt er darauf keine allgemein verbindliche Antwort – und noch weniger gibt er dem absoluten

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Sinnglauben eine weitergehende inhaltliche oder konfessionelle Bestimmung: Die Psychotherapie muss sich […] diesseits des Offenbarungsglaubens bewegen und die Sinnfrage diesseits der Aufgabelung einerseits in die theistische und andererseits in die atheistische Weltanschauung beantworten. (Frankl 1994:273) Der für die Logotherapie zentrale Sinnbegriff als konkrete Erlebnis-, Handlungs- oder Einstellungsmöglichkeit ist folglich nicht religiös begründet und will in der Regel nicht einmal an religiöse Fragestellungen heranreichen: Solche stellen sich in der Anwendung der Logotherapie als Psychotherapie und Lebensleitlinie für gewöhnlich auch gar nicht. Hier geht es vielmehr um die Sinnmöglichkeiten, mit denen der einzelne Mensch in jeder Lebenssituation konfrontiert und die zu entdecken und zu verwirklichen er aufgerufen ist – Sinnmöglichkeiten, die sich nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern sich auch innerhalb eines Lebens von Situation zu Situation ändern. Diese Sinnmöglichkeiten des Alltags entfalten sich – wiederum im Gegensatz zu den ›ewigen‹ Aussagen der Religion – in der Zeitlichkeit und sind damit gerade angesichts ihrer fortlaufenden Vergänglichkeit und Unwiederholbarkeit auf den Einsatz des Menschen angewiesen. Der konkrete Sinnaufruf ist daher innerweltlich in der Verantwortlichkeit »als Wesensgrund menschlicher Existenz« (Frankl 1994:280) letztbegründet. Dieses Sinnangebot spricht den religiösen ebenso wie den irreligiösen Menschen in derselben Weise und Verbindlichkeit an: Beide verfügen laut Frankl über das gleiche Maß an Freiheit und Verantwortung, die in jeder gegebenen Situation wartende verwirklichungswürdigste Möglichkeit zu entdecken und zu realisieren. Beide profitieren (per effectum) psychohygienisch, denn beiden ist die Sinnmotivation in die Wiege gelegt – nicht weil sie religiös sind oder nicht, sondern schlicht, weil sie Menschen sind und als Menschen über eine geistige Dimension verfügen, die in der Sinnsuche ihren wesensgemäßen Ausdruck findet. 43

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Ist mit anderen Worten der konkrete Sinn der Logotherapie an den Menschen, und dieser in der Verwirklichung des Sinns an die menschliche Verantwortung gebunden, so ist der Weg der Religion der umgekehrte: Hier ist es der Mensch, der die Antwort gibt; dort ist es der Mensch, dem die Antwort gegeben wird. Hier ist der Sinn das, was der Einzelne in dieser einen Situation erblickt und daraus macht; dort ist die Antwort erteilt, noch bevor die Frage erfolgt – und unabhängig davon, ob sie überhaupt erfolgt. Die Schwerpunktlegung der Logotherapie auf den konkreten Sinn macht deutlich, weshalb Frankl die religiöse Sinnfrage verhältnismäßig selten aufgreift. Wenn er sie aber aufgreift, dann zumeist zur Klarstellung und Abgrenzung des klassisch logotherapeutischen Sinnbegriffs von den mehr metaphysischen Sinnfragen. Sofern Frankl sich dann doch gelegentlich den letzten Sinnfragen nicht nur zur Abgrenzung, sondern auch inhaltlich stellt und dabei auch zuweilen seine persönlichen Ansichten durchscheinen lässt, tut er dies stets mit einem hohen Maß an Zurückhaltung – wissend sowohl um die erkenntnistheoretischen Grenzen dieser Fragestellung als auch um die (zumindest aus Sicht des Arztes und Psychotherapeuten) volle Gültigkeit jeder möglichen Antwort und Einstellung zur Frage nach dem letzten Sinn. Das vorliegende Buch stellt nun in gewisser Weise die Ausnahme von dieser Regel dar, denn hier ist bereits die Ausgangssituation wesentlich anders gelagert: Als Privatperson – in einem zudem sehr freundschaftlichen Gespräch – spricht Frankl in außergewöhnlich offener Weise über seine persönlichen Glaubensansichten. Zwar war schon davor gemeinhin bekannt – oder wurde zumindest oft genug als bekannt vorausgesetzt –, dass Frankl ein gläubiger Mensch war; dass er auch angesichts erlebter Schicksalsschläge (darunter wohl am schwerwiegendsten drei Jahre in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz, Kaufering und Türkheim) seinen Glauben nicht aufzugeben bereit war; und dass er zeit seines Lebens über die 44

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Grenzen der Konfessionen hinweg mit den Vertretern zahlreicher Glaubensrichtungen zusammentraf. Dennoch sind einige Passagen des Buchs insofern beachtenswert, als sich Frankl selten so ausführlich über seine persönlichen religiösen Ansichten geäußert hat. Umso notwendiger erscheint es, wiederum auf den verhältnismäßig vertraulichen Charakter des hier abgedruckten Geprächs hinzuweisen: Frankl spricht, zumal, wenn er seine persönliche Bindung an seine Glaubenswurzeln beschreibt, nicht mehr nur als Psychiater und Neurologe und auch nicht mehr für die Logotherapie im allgemeinen, sondern für sich als Privatperson vor der religiösen Frage nach dem Sinn des Weltganzen. Daher bietet es sich im Zusammenhang des logotherapeutischen Gesamtwerks an, das hier vorliegende Gespräch an den von Frankl selbst formulierten Leitlinien der Auseinandersetzung mit dem Sinn des Weltganzen zu messen: weder ist die letzte Sinnfrage rational ganz erfassbar, noch ist aus der Perspektive der Psychologie und Medizin die eine Antwort nachweisbar richtiger oder allgemein verbindlicher als die andere, noch ist die Logotherapie als psychotherapeutische Schule weltanschaulich an konkrete Glaubensinhalte gebunden. Dieser Einschränkungen eingedenk gewährt das vorliegende Buch über weite Strecken erstmals tiefere Einblicke in Frankls persönlichen Glauben; aber es gestattet zugleich keine wesentlich neuen Rückschlüsse auf die religiösen Perspektiven der Logotherapie selbst. So will dieses Buch auch verstanden und gelesen werden: als persönliches Zeugnis einer tiefen Freundschaft von zwei Gesprächspartnern, die mitunter trotz und nicht wegen ihres jeweiligen beruflichen und akademischen Hintergrunds die Grenzfragen der Religion und Psychologie offen diskutieren und dabei bisweilen unvermutete und außergewöhnliche Einsichten zutage fördern. Dr. Alexander Batthyany Viktor Frankl-Institut Wien

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Gottsuche und Sinnfrage

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Vorwort

Psychotherapie und Theologie, Wissenschaft und Glaube haben einander solange und so vergeblich befehdet oder ignoriert, dass es an der Zeit ist, ein offenes Gespräch zu wagen zwischen denen, die – je nachdem – das Heil oder die Heilung des Menschen zu fördern bestrebt sind. In diesem Sinne haben wir uns in Wien im August 1984 einem unbefangenen Dialog geöffnet, der uns beiden zu neuen, weiterführenden Einsichten verholfen hat. Den Niederschlag unseres zumindest für uns fruchtbaren Gedankenaustausches findet der Leser in diesem Buch. Darüber hinaus haben wir erfahren, dass der Wille zur Wahrheit sich als selbstkritische Offenheit auf das Unbekannte hin erweist; dass echte Toleranz aus der Einsicht um die Grenzen des eigenen Wissens und aus der Ehrfurcht vor überraschenden Eingebungen hervorgeht, die häufig wie ein Lichtstrahl von oben alte Fragen neu erhellen. Nicht zuletzt wurde uns klar, dass Glaube und Wissenschaft zwei Wege ein und derselben Suche nach Wahrheit sind, die uns schrittweise vorwärts treibt, aber hienieden wohl nie ihr Ziel erreichen wird. Wir sind uns völlig bewusst, nur einen bescheidenen Anfang gemacht zu haben, der fortgesetzt werden will. Vielleicht haben wir anderen ein Stück Weg gezeigt und Mut zum Weitergehen gemacht. Das ist unsere gemeinsame Hoffnung. Viktor E. Frankl Pinchas Lapide

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Lapide: Herr Frankl, was mich als langjährigen Leser der Psychologie aus dem Nachbargebiet, der Theologie, bei Ihrem Werk zutiefst beeindruckt, sind vor allem zwei Dinge: dass Sie viel mehr als Freud, Jung und Adler einen Freiraum lassen für all das, was wir mit dem Verlegenheitsnamen Gott bezeichnen; zweitens die Offenheit der von Ihnen begründeten psychotherapeutischen Richtung, der Logotherapie, die nicht beansprucht, eine Doktrin oder gar eine Dogmatik zu sein, sondern eine ganz offene Methode, ein vorurteilsloses Eingehen auf den Menschen als Gesamtkreatur, die sich selber noch nicht versteht, die aber ständig auf der Suche ist. Martin Buber sagte einst von seinem ganzen Lebenswerk: »Ich habe keine Lehre, ich nehme den Leser bei der Hand, ich führe ihn zum Fenster und zeige ihm die Welt mit weit offenen Augen.« Mir scheint, dass das auch für Sie gelten kann, oder irre ich hier?

Frankl: Sie irren sicher nicht, wenn ich das so anmaßend behaupten kann. Aber ich möchte noch ein paar Bemerkungen machen zu dem, was Sie da ausgeführt haben, um Ihnen zu zeigen, dass und inwiefern ich es berechtigt bestätigen kann. Sie haben sehr geschickt von einem Freiraum gesprochen. Ich pflege davon zu sprechen, dass die Logotherapie im Gegensatz zu anderen Psychotherapieformen offen ist, und zwar wird mit dieser Offenheit bestätigt, dass ich das Theologische für eine Dimension halte, die über die anthropologische Dimension und damit auch über die Psychotherapie als solche hinausgeht. In diesem Sinne ist nicht nur die Ranghöhe seelischer Gesundheit eine andere als die des Seelenheils; auch die Ziele der Psychotherapie und der Religion liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Mit anderen Worten: Die Dimension, in die der religiöse Mensch vorstößt, ist eine andere als die Dimension, in der sich so etwas wie Psychotherapie abspielt. Warum sage ich Dimension? Damit wird nicht nur die 51

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strenge Differenz, die ontologische Differenz, hervorgekehrt, sondern gleichzeitig das, was ich ein Einschließlichkeitsverhältnis nenne. Im Englischen kann man das leichter formulieren, indem man sagt: »The higher dimension is the more inclusive«. Es gibt also kein Exklusivitätsverhältnis zwischen den einzelnen Dimensionen, sondern im Gegenteil ein Inklusivitätsverhältnis. Mit anderen Worten: Die eine Wahrheit kann niemals der anderen widersprechen. Es ist sogar so, dass in der höheren Dimension erst die Eigentlichkeit der Wahrheit einer niederen Dimension aufleuchtet. So kann zum Beispiel, um konkreter zu werden, der nichtreligiöse, der ungläubige Mensch, der nur seinem Gewissen gehorcht und dieses Gewissen für eine Endstation hält – im Gegensatz zum religiösen Menschen, der hinter dem Gewissen noch eine höhere Instanz sieht, nämlich die göttliche –, dieser Atheist, der seinem Gewissen gehorcht, eigentlich niemals in Konflikt geraten mit der Wahrheit des religiösen Menschen. Weil nämlich die religiöse Welt die säkulare, wenn ich so sagen darf, in sich einbegreift. Es kann da keinen Widerspruch geben. Deshalb spreche ich von Dimensionen, weil dadurch diese wesentliche Differenz und gleichzeitig die Zusammengehörigkeit, Inklusivität, betont wird. In diesem Sinne haben Sie Recht mit der Offenheit der Logotherapie. Sie sprachen auch vom Eingehen auf den Menschen. Es muss so weit gehen, dass man die Tatsache zur Kenntnis nimmt, dass der Mensch im Grunde von Haus aus religiös ist, dass der Mensch durch die Geschichte hindurch religiös geblieben ist und erst in den letzten Jahrzehnten, Jahrhunderten die Religiosität zwar eigentlich gar nicht verschwunden, aber verwässert worden ist. »Nicht verschwunden« ist sie insofern, als die Menschen unbewusst immer noch religiös sind. Man könnte ein Wort von Freud – »Der Mensch ist in seinem Unbewussten nicht nur unmoralischer, sondern vielfach auch moralischer als in seinem Bewusstsein« – variieren bzw. erweitern, indem man sagt: Der Mensch ist in seinem Unbewussten viel religiöser, als er in seinem Bewusstsein ahnt. Besonders betroffen macht mich aber das von Ihnen ange52

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führte Zitat von Martin Buber mit dem Fenster, denn das steht so ganz und gar im Gegensatz zu dem Trend, der sich vielleicht am markantesten in der gegenwärtigen Psychotherapie bemerkbar macht, nämlich dem Psychologismus, der so weit geht, dass er den Subjektivismus und den Relativismus ganz in sich verschlungen hat und damit entlarvt wird wie nirgends sonst. Fritz Perls, der ehemalige Freudianer, der die Gestaltpsychotherapie begründet hat, also ein prominenter Vertreter der gegenwärtigen Psychotherapie, sagt irgendwo: Du glaubst, du stehst an einem Fenster, aber du stehst in Wirklichkeit nur vor einem Spiegel. Das heißt, es gibt keine Welt, auf die ich hinschaue, sondern mir erscheint, mir begegnet mein Selbst, die ganze Welt ist nichts als Selbstausdruck, absolute Subjektivität. Das ist das, was wir bekämpfen müssen. In dem Augenblick, wo keinerlei Objektivität mehr da ist, wo wir vergessen, dass die Welt zutiefst und zuletzt eine Welt von Sinn- und Wertmöglichkeiten darstellt, die darauf warten, von uns verwirklicht zu werden, in dieser Zeitspanne, unser Leben genannt, wissen Sie, in dem Augenblick, wo wir das vergessen, verschwindet alle Verbindlichkeit von Sinn- und Wertmöglichkeiten. Wozu soll ich sie verwirklichen? Es ist doch nichts als Projektion aus mir selbst. Der Herrgott ist eine Projektion meiner Vaterimago, die ich vorher introjiziert habe in Form des Überichs. Was immer ich tue, ich agiere nicht in eine Welt hinein, sondern ich reagiere irgendwelche Subjektivitätspotenziale ab, aggressive oder libidinöse, das projiziere ich hinaus.

Lapide: Von dem Bündel an Denkanstößen, die Sie mir eben geliefert haben, will ich nur einige herausgreifen, die mir sehr weiterführend klingen. Ich glaube, die beiden großen Denkarten der abendländischen Welt können auf die griechische und die jüdische reduziert werden. Die griechische ist die Entweder-Oder-Denkart, die das ganze Abendland – Gott sei’s geklagt – infiziert hat. Das Neue Testament ist das beste Spiegelbild. Es gibt entweder 53

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Erlöste oder Verdammte, es gibt Kinder des Lichts oder der Finsternis. Das ist eine Schwarz-Weiß-Malerei, deren Fantasie nicht einmal bis Grau ausreicht. Mit anderen Worten, es gibt nur: Entweder habe ich Recht, und dann hast du und haben alle anderen Unrecht, oder umgekehrt. Aber ich kann doch nicht Unrecht haben, Gott behüte, wird der normale Egoist sagen. Die jüdische Denkart, und dafür ist die hebräische Bibel das beste Dokument, ist ein typisches Sowohl-als-auch. David ist der größte König in Israel, er ist auch ein Ehebrecher; Korach ist der größte Rebell gegen Gott und Moses, seine Söhne gelten als die Verfasser einiger der schönsten Psalmen. Es gibt kein Schwarz und Weiß in der jüdischen Bibel, es gibt nur eine Palette von 3000 Nuancen von Grau. Das Schwarz als total schlecht, das Weiß als total gut gibt es nicht. Es gibt das Menschentum, das relativ ist und sich im Bereich vieler Grauschattierungen bewegt und niemals ein Entweder-Oder ist, denn das liegt bei Gott allein. Nikolaus von Kues, der große Kardinal des 15. Jahrhunderts, sagt es in zwei Worten: Gott ist die coincidentia oppositorum, das Zusammenfallen aller Gegensätze, was ihr berühmter Vorfahre Maharal, der hohe Rabbi Löw von Prag im 16. Jahrhundert, vielleicht noch schöner formuliert hat. Er sagt: Gegensätze gibt es im Leben eigentlich nicht, nur zwei verschiedene Aspekte der Wahrheit. Er illustriert das in einem wunderschönen Gleichnis: Die hebräische Bibel beginnt mit dem Wort »Bereschit«, und der erste Buchstabe ist Beth. Warum beginnt die Bibel nicht mit Aleph, dem ersten Buchstaben, wie es logisch annehmbar wäre, warum ausgerechnet mit Beth, das den Zahlenwert zwei hat? Und da liest er die erste Bibelseite drei Mal, und siehe da, zwei ist der Schlüssel zur ganzen Schöpfung: Gott schuf die Welt in Paaren. Es beginnt mit Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Sonne und Mond, Festland und Meer, Fauna und Flora. Warum aber besteht alles in dieser Zweiheit, die im Grunde eine Zweieinigkeit ist? Weil jede Hälfte des anderen bedarf nicht nur als Kontrast, sondern zum eigenen Selbstverständnis. Es gäbe keine Nacht, wäre nicht der Tag da, kein Meer, das sich vom Festland abgrenzt, keine Frau, die 54

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nicht des Mannes für ihr Frausein bedarf. Die Einswerdung der beiden ist das Göttliche, diejenige göttliche Kraft, die wir mangels eines besseren Wortes als Liebe, als gegenseitige Anziehungskraft bezeichnen, das Eins-werden-Wollen der gottgewollten Zweiheit.

Frankl: Da ist etwas Platonisches drin, das, was bei Platon zitiert wird, dieser alte Mythos mit der Hermaphrodite und dem Androgynos. Aber das ist ja nicht von ihm.

Lapide: Nein, das ist uralt. Das haben die Rabbiner sogar übernommen: Als Mann und Frau schuf er sie, sodass vor der Scheidung der beiden ein Wesen beider Geschlechter war, das dann zweigeteilt wurde. Aber die Urwahrheit, dass die Gegensätze eigentlich nicht Gegensätze sind, sondern einander zugeordnete Hälften, das ist es ja, was die Denkart der Juden so bestimmt. Das Sowohl-als-auch. Was mir daher so gut gefällt an Ihrem Opus, ist das Leitmotiv, das wie ein roter Faden Ihre Bücher durchläuft: nämlich das demütige Bewusstsein, ein Körnchen Wahrheit hier, ein anderes Körnchen dort ergattert zu haben und das zum Gesamtwissen der Menschheit hinzufügen zu wollen.

Frankl:

So könnte man es wohl ausdrücken.

Lapide: Ein zweiter Denkanstoß, den Sie eben bei mir ausgelöst haben, betrifft den Atheismus. In all meinen Begegnungen mit Atheisten – und die habe ich oft gesucht – bin ich darauf gekommen, dass es in dieser Welt nur wenige A-theisten im wahren Sinne des Wortes gibt. Die meisten gehören zu drei Gruppierungen: Die Antiklerikalisten, die stinkwütend auf die so genannten Verwalter Gottes sind, und die eigentlich Gott 55

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beschuldigen für das, was sein Bodenpersonal hier alles verbrochen hat. Und zweitens die Pseudo-Atheisten, die böse sind auf den kleinen Zwerggott, den man ihnen zu Hause oder in der Schule aufgeschwatzt hat, weil er so ganz und gar nichts zu tun hat mit der Glaubensnot, die ihre Herzen quält. Drittens kenne ich Anti-Theisten – das ist eine jüdische Spezialität –, die mit Gott ringen, weil sie ihm das Böse in der Welt nicht verzeihen wollen, weil ihr Gottesbild, das sie im Hinterkopf haben, sich nicht vertragen kann mit Auschwitz, mit all dem Übel in der Welt, mit den Kindern, die schuldlos als Krüppel zur Welt kommen. Daher sind sie nicht A-theisten, weil Atheismus eine Haltung ist, die Gott ins Gesicht gähnt, sondern Anti-Theisten, die über ihren Streit mit Gott viel Schweiß und Schlaf verlieren, und die mit ihm ringen wie unser Vater Jakob, der die Nacht hindurch mit dem Engel des Herrn rang, bis er ihm im Morgengrauen den neuen Namen Israel abgerungen hat. Und das heißt etymologisch keineswegs, der für Gott streitet, sondern der mit Gott ringt, ein Charakterzug, der Juden vererbt worden ist. Er hat aber begonnen zu hinken. Aus der Gottesbegegnung ist er heil herausgekommen, aber nicht unversehrt. Heil an der Seele, gestählt in seinem Glauben, aber nicht unversehrt, denn, wie unsere Väter behaupten, eine Begegnung mit dem Absoluten kann den Menschen nicht völlig unberührt lassen; und im Gedächtnis an diese Begegnung unseres Stammvaters, nach dem wir alle Israel heißen, enthalten sich die Juden, die koscher essen, des Essens der Hüftspannsehne bei Tieren, damit sie den Gotteskampf sogar beim Mittagstisch nicht ganz vergessen. Ein Drittes, worauf Sie mich gebracht haben, ist ein Paradoxon, das mich seit Jahren beschäftigt. Die Theologie in all ihre Abarten und Spielarten behauptet stolz von sich, eine Wissenschaft zu sein, die akademische Ehren beansprucht. Die Bibel beider Testamente wird aber nicht müde zu betonen, dass Gott unwissbar, unerkundbar ist und sich einfach nicht verwissenschaftlichen lässt. Auf der anderen Seite, in den psychologischen Wissenschaften, ist Religion so gut wie salonunfähig, ja, die Seelenkundler finden »Religion« ein nicht salonfähiges 56

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Wort, und wenn einer von ihnen von Gott zu sprechen wagt, ist die allgemeine Reaktion seiner Kollegen ein mitleidiges Lächeln. Wie verstehen Sie dieses Paradoxon, dass Sie als Seelenkundler Gott verpönen, und die »Gotteskundler«, wie man sie nennen könnte, unbedingt eine Wissenschaft des Unwissbaren betreiben wollen. Grenzt das nicht eigentlich an Absurdität?

Frankl: Erstens einmal: Sie sprechen von dem »Ich habe Recht«, sagt der eine, »und niemand anderer hat Recht.« Sehen Sie, ich habe Jahre, vielleicht Jahrzehnte darum gerungen, eine ausgereifte Formel für Toleranz zu finden. Mich hat folgende Frage beschäftigt, um nicht zu sagen belästigt und belastet: ob nicht, wenn ich tolerant bin, das zu einem Relativismus führt, oder ob diese Toleranz nicht sogar von einem Relativismus herrührt. Und nach langem Hin und Her habe ich mich auf folgenden Standpunkt gestellt: Was mein Gewissen sagt, darauf habe ich zu horchen, ich habe ihm zu gehorchen. Es sagt mir, was ich zu tun – oder zu lassen – habe, mit einem Wort, was der Sinn einer gegebenen Situation ist, was sie von mir fordert – obwohl das Gewissen nicht nur ein menschliches Phänomen ist, sondern auch ein allzumenschliches, also irren kann; obwohl ich also nicht weiß und nicht wissen kann und bis zu dem Zeitpunkt, wo ich auf meinem Sterbelager liege, nicht wissen werde, ob das, was mein Gewissen mir gesagt hat, richtig ist. Ich definiere das Gewissen als Sinnorgan, nicht als Sinnesorgan, das heißt als jene Instanz, die in die Konstitution des Menschen eingebaut ist als jenes Organ, das ihn den einzigartigen und einmaligen Sinn der jeweiligen Situation herausfinden lässt. Das Gewissen muss, insofern es sich jeweils um Einzigartigkeiten und Einmaligkeiten handelt, dabei intuitiv vorgehen. Genau dies ist seine Begabung. Mag der Mensch aber noch so sehr auf sein Gewissen angewiesen sein, was den Sinn einer konkreten Situation anlangt, und mag er in demselben Moment zugleich auch noch so sehr im Ungewissen sein, ob sein Gewissen in 57

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dieser konkreten Situation irrt oder nicht irrt, so muss er doch dieses Risiko des Irrens auf sich nehmen. Gordon W. Allport, der Harvard-Psychologe, hat in diesem Zusammenhang einmal gesagt: »We may be at the same time half-sure but whole-hearted«, wir können gleichzeitig nur halb sicher sein und uns doch aus ganzem Herzen so oder so entscheiden. Und so meine ich: Ich kann nicht hundertprozentig wissen, ob ich Recht habe oder nicht, es kann genauso gut der andere Recht haben, es kann sein Gewissen Recht haben und nicht meines. Das setzt keinen Relativismus voraus, aber es fördert die Toleranz. Denn dass mein Gewissen irren kann, heißt nicht, dass es nicht eine einzige Wahrheit gibt, sondern bedeutet nur, dass niemand wissen kann, ob er selbst im Besitz der Wahrheit ist oder der andere. Natürlich gibt es nur eine Wahrheit. Nur einer kann Recht haben. Aber niemand von beiden kann wissen, ob jeweils er es ist, der Recht hat, sondern er muss für sich einstehen, das tun, was das Gewissen ihm sagt, aber gleichzeitig einräumen, dass er sich auch geirrt haben kann. Nun, Sie haben mit Recht den Maharal zitiert, und ich zitiere ihn in zwei oder drei meiner Bücher, denn er war tatsächlich ein Vorläufer in dem, was ich als Dimensionalontologie bezeichne. Zur Relativität: Ich glaube an eine Objektivität der Wahrheit, eine Objektivität der jeweiligen Sinnhaftigkeit der konkreten Situation, die uns begegnet, und ich glaube zugleich auch an Relativität, aber in einem anderen Sinn als Philosophen, wenn sie gemeinhin von Relativität sprechen. Und zwar glaube ich, dass es objektive Wahrheit und Werthaftigkeit gibt, aber sie ist immer nur relativ in dem Sinne, dass sie relativ zu einer bestimmten Person und zu einer bestimmten Situation steht. Karl Jaspers hat das einmal sehr schön ausgedrückt, indem er sagt, je universell gültiger – für mehr Menschen gültig – ein Wert ist, umso mehr verliert er an Stringenz und an Verbindlichkeit. In den 10 Geboten heißt es zum Beispiel, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen, du sollst 58

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nicht ehebrechen oder das Weib deines Nachbarn begehren, usw. Nun, das sind allgemeine Werte, die der ganzen Menschheit vorgegeben wurden, und wir werden jetzt mit Jaspers erwarten, dass sie zuweilen an Verbindlichkeit verlieren, weil sie universell sind, weil sie absolut sind, absolut sein wollen und daher die Relativität der konkreten Situation vernachlässigen. Ich werde Ihnen ein Beispiel geben: Im Konzentrationslager war es der Sinn der konkreten Situation – was wir »organisieren« genannt haben, dass wir ein Stück Kohle, zwei Kartoffeln gestohlen haben. Jeder, dem das gelungen ist, war stolz und hat sich absolut nicht unmoralisch gefühlt. Also es gilt das nur relativ. Unter Umständen kann der Sinn der Situation von mir verlangen, dass ich stehle. Ein anderes Beispiel: Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen. Es ist mir gelungen, unter Hitler, Juden vor der Euthanasie zu retten, indem ich ausfindig gemacht habe, dass in einem jüdischen Altersheim Gitterbetten existiert haben, von denen die Gestapo zufällig nichts gewusst hat. Der Direktor hat dafür gehaftet, dass kein Geisteskranker aufgenommen werde. Aber es sind irgendwie stillschweigend Übereinkommen getroffen worden mit meinem väterlichen Freund Professor Otto Pötzl, dem damaligen Chef der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik, dass jeder jüdische Patient sofort in das jüdische Altersheim weiterverlegt wurde. Man hat nur gefragt: Wir haben einen jüdischen Patienten, nehmen Sie ihn auf? Ja. Man hat nie gesagt, der hat eine Psychose. Kaum ist der dorthin gekommen, hat man mich angerufen. Ich musste mich in ein Taxi setzen und hinfahren und ein falsches Zeugnis schreiben, dass er gar keine Psychose hat. Ich habe aus einer Schizophrenie eine Sprachlähmung durch Hirnschlag und aus einer Melancholie ein Fieberdelirium gemacht. Ich habe den Kopf in die Schlinge gesteckt, aber ich habe angenommen, niemand wird so clever sein von den Überwachern, dass er das merkt. Ich habe Cardiazolschocks gegeben und nach ein paar Wochen sind die Leute entlassen worden, symptomfrei, und ihr Leben war gerettet. Ich habe falsches Zeugnis abgegeben, aber ich wäre unmoralisch 59

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gewesen, wenn ich es nicht getan hätte. Ich musste diese Verantwortung auf mich nehmen. Und auch ein drittes Beispiel zu den Geboten: Du sollst nicht ehebrechen! Die letzten Worte, die ich meiner ersten Frau sagte, als wir uns in Auschwitz trennen mussten, waren: »Um jeden Preis am Leben bleiben, verstehst du mich, um jeden Preis«, d. h. ich habe ihr im Voraus die Absolution erteilt, gegebenenfalls die Ehe zu brechen, sich notfalls zu prostituieren gegenüber einem SS-Mann. Ich wollte nicht mitschuldig werden an ihrem Tod, indem ich sie in der Ungewissheit und dem Zweifel belassen hätte, das kann ich dem Viktor nicht antun, was würde der Viktor sich denken, wenn er das wüsste, was würde er sagen, usw. Da habe ich ihr, um nicht mitschuldig zu werden an ihrem Tod, im Voraus die Absolution erteilt. Drei Mal den zehn Geboten widersprochen. Dennoch sind, waren und bleiben diese Gebote allgemeine Gebote und gelten quer durch die Geschichte und quer durch die Gesellschaft hindurch. Aber in Einzelfällen eben nicht. Das heißt: Im Allgemeinen soll man eben nicht stehlen, falsches Zeugnis ablegen und ehebrechen, aber Sinn, wie ich ihn verstehe, im Rahmen der Logotherapie, – in der Konfrontation mit dem konkreten, einzigartigen Menschen und der konkreten, einmaligen Situation –, da muss ich vom konkreten Sinn sprechen. Werte, und auch Gebote, sind mit anderen Worten allgemeine Leitlinien des Handelns. Sinn ist etwas Konkretes, weil die jeweilige Person eine einzigartige und die jeweilige Situation eine einmalige, konkrete, ist.

Lapide: Was Sie über die Wahrheit sagen, ist völlig jüdisch, weil die Heiligkeit des Menschenlebens das oberste Gebot des Judentums ist; es heißt in der Mischna das »königliche Gebot«, weil es der König aller Gebote ist. Das heißt: Die Juden wie die Jesuiten erkennen eine Hierarchie der Wahrheiten. Zwei und zwei ist vier, ist eine Wahrheit, die niemand bekümmert, die niemand bestreitet, über die niemand sich aufregt. Gott ist 60

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eins und nur er allein, ist eine Wahrheit, für die man kämpfen kann, die viele Menschen das Leben gekostet hat, die eine Urwahrheit ist. Zwischen den beiden gibt es Tausende von Nuancen. Dass Sie Ihrer Frau gesagt haben, alles zu tun, um ihr Leben zu retten, ist urjüdisch. Schon vor über 2000 Jahren sagten die Rabbiner: Um ein Menschenleben zu retten, auch das deinige, darfst du nicht, sondern du sollst alle anderen Gebote brechen. Du bist als Ebenbild Gottes erschaffen. Dieses Ebenbild zu erhalten hat Vorrang vor allem anderen. Das ist klar. Papst Johannes XXIII. hat das getan, was Sie getan haben: Er hat gegen alle Vorschriften des Vatikans, als er im Zweiten Weltkrieg Apostolischer Delegat in der Türkei war, den jüdischen Autoritäten Tausende von Blanko-Taufzertifikaten gegeben, dank derer Tausende von jüdischen Kindern aus Bulgarien und Rumänien gerettet werden konnten – gegen alle Instruktionen, Gesetze und Satzungen des Heiligen Stuhls. Weder hat er Vorwürfe dafür bekommen noch wurde er bestraft, sondern zum Papst wurde er gewählt, vielleicht nicht unabhängig von dieser edlen »Unwahrheit«, die er begangen hat. Aber die Bibel spricht vom Tun der Wahrheit und nicht vom Reden der Wahrheit. Ich habe den Verdacht, hier liegt der Unterschied.

Frankl: Ich wollte vorhin schon sagen: »zwei mal zwei ist vier« eine arithmetische und keine existenzielle Wahrheit.

Lapide: Genau. Daher die Hierarchien der Wahrheiten, wie die Jesuiten es sagen. Aber das Tun der Wahrheit ist vielleicht das Wichtigste in dieser Welt. Denn wenn ich die menschliche Geschichte im Vogelflug überschaue, gibt es kaum eine mörderischere Vokabel im menschlichen Sprachschatz als die Wahrheit. Um der subjektiven Wahrheit wie vieler Männer sind nicht Millionen Menschen ermordet worden, sind nicht Tausende willig in den Tod gegangen? Ich habe den Verdacht, wir sollten ein Moratorium auf das Wort Wahrheit ausrufen und es 61

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5 oder 10 Jahre lang durch das Wort Wahrscheinlichkeit ersetzen, das sicherlich demütiger ist, aber garantiert keine Kriege anzetteln würde. Aber dass es eine Wahrheit gibt, das ist unbestritten. Bestritten hingegen ist die Zugänglichkeit dieser einen Wahrheit für uns gebrechliche fehlbare Menschen, die wir alle nur durch je unsere eigene Brille sehen können.

Frankl: Die Zugänglichkeit der totalen Wahrheit, denn irgendeinen Aspekt der Wahrheit fangen wir ja ein …

Lapide: Ich würde da einmal von Wahrheitchen sprechen oder Wahrheitskörnern, wenn Sie wollen, aber sobald einer Wahrheit mit dem bestimmten Artikel die besetzt, läuft er Gefahr, entweder arrogant zu werden oder in einen unmenschlichen Absolutismus zu verfallen, der uns relativen Menschenkindern nicht zusteht. Etwas anderes jedoch würde ich Sie gerne fragen, weil Sie in Ihren Schriften mich dazu gebracht haben. Sie schreiben in Ihrem wahrhaft aufwühlenden Buch über Ihre KZ-Erlebnisse, dass, wenn einem im Konzentrationslager nichts mehr übrig blieb, so gibt es doch noch die Liebe als Rettungsanker, sogar aus dem Sumpf der Verzweiflung. Liebe zu einer Frau, Liebe zur Mutter, Liebe zu einer Ideologie, zum Leben selbst vielleicht, was immer auch das Objekt dieser erlösenden Liebe sein mag, es geht immer um Selbsttranszendenz, die Fähigkeit sozusagen, aus der Haut zu fahren, das Gefängnis der eigenen Haut zu sprengen. Ich erlaube mir, Sie weiterzudenken. Obwohl ich nicht in Auschwitz war und daher nicht nachvollziehen kann oder zumindest nicht ganz nachvollziehen kann, was über Sie ergangen ist: Folgt daraus nicht, dass ein echter Egoismus als eine reife Liebe zum eigenen Wesen unverzichtbar die Nächstenliebe verlangt? Du kannst dich selbst nicht lieben, wenn du nicht etwas lieben kannst, das außer dir ist, da dein Ich, wie immer wir es formulieren wollen, das Lieben außer dir, das Ex62

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tra-nos-Lieben zur eigenen Selbstwerdung benötigt. Das heißt, ein Egoist, der nur sich selbst liebt, hasst im eigentlichen sein Selbst. Einer, der im Stande ist, »aus der Haut zu fahren«, um anderes oder andere zu lieben – bis hin zur Selbstverleugnung –, der ist seinem eigenen Wesen am treuesten.

Frankl: Ich kann nur sagen, von mir aus gesehen können Sie gar nicht rechter haben. Denn es ist genau das, was ich ja immer, wenn auch vielfach vergeblich, vertreten habe. Ich bin gerade jetzt von jemandem ganz öffentlich in einem Bestseller angegriffen worden, der mir gerade das zum Vorwurf macht: dass ich leugne, dass Selbstverwirklichung primär ein Zielanliegen sein kann. Selbstverwirklichung lässt sich aber in meiner Terminologie nur per effectum, aber niemals per intentionem erreichen. Wenn ich sie anstrebe, – und darin hat mit der eigentliche Begründer des Konzepts der Selbstverwirklichung, Abraham Maslow, vollkommen Recht gegeben –, wenn ich sie anstrebe, dann verliere ich sie. Maslow schreibt wörtlich: »My experience agrees with Frankl’s that people who seek self-actualization directly, dichotomized away from a mission in life, don’t, in fact, achieve it.« Selbstverwirklichung ist erst möglich in dem Maße, in dem ich mich verliere, mich vergesse, mich übersehe. Denn ich muss einen Grund haben, um mich zu verwirklichen. Und der Grund besteht darin, dass ich mich hingebe an eine Sache oder eine Person, wie Sie vorhin vollkommen richtig gesagt haben. Wenn ich aber nicht mehr die Person oder die Sache im Auge behalte, um die es mir geht, sondern mich selbst, in dem Augenblick habe ich ja gar keinen Grund mehr, mich selbst zu verwirklichen. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die Selbstverwirklichung selbst. Es ist genauso wie mit dem Streben nach Glück und nach Lust. Wenn ich keinen Grund zum Glück habe, dann kann ich gar nicht glücklich sein; wenn ich also das Glücklichsein anstrebe, so verliere ich alles, was mir Grund geben könnte zum Glücklichwerden, aus meinen Augen. Denn je 63

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mehr ich also nach Glück jage, umso mehr verjage ich es auch schon. Um das zu verstehen, muss man nur das allgemeine Vorurteil überwinden, der Mensch sei im Grunde nur darauf aus, glücklich zu sein. Denn was der Mensch in Wirklichkeit will, ist, einen Grund zum Glücklichsein haben; und wenn er einmal einen Grund dazu hat, dann erst stellt sich das Glücksgefühl ein, und zwar von selbst. In dem Maße aber, in dem ich das Glücksgefühl direkt anpeile, verliere ich den Grund, den ich zum Glücklichsein haben könnte, aus den Augen, woraufhin das Glücksgefühl auch schon in sich zusammensackt und gar nicht wirklich aufkommen kann. Mit anderen Worten, Glück muss er-folgen und kann als solches nicht er-zielt werden. Dasselbe gilt auch für die Selbstverwirklichung: Wer sich die Selbstverwirklichung als eigentliches Ziel setzt, übersieht, dass der Mensch sich letzten Endes nur in eben jenem Maße verwirklicht, in dem er – draußen in der Welt – einen Sinn erfüllt. Mit anderen Worten, Selbstverwirklichung entzieht sich insofern der Zielsetzung, als sie sich, wie das Glück, im Sinne einer Nebenwirkung der Sinnerfüllung einstellt. Es geht also nicht um Selbstverwirklichung an und für sich, sondern um Selbstwerdung auf dem Umweg über die Welt hindurch und über die Sachen, über die Menschen, die es in der Welt gibt und um die es mir gehen muss. Ein Zweites: Sie haben auch von »Wahrheitchen« gesprochen. Das stimmt ganz überein mit der Pragmatik des Sinns und des Verwirklichens von Sinn. Es geht nicht primär um das Erkennen von Wahrheit, sondern das Verwirklichen von Sinn. Dabei ist der Sinn, von dem in diesem Zusammenhang in der Logotherapie die Rede ist, nicht eine Sinnuniversalie, sondern ein unikaler Sinn. Dieser unikale Sinn ist der Sinn, von dem die Logotherapie als Nichtreligion, nichtpastorale Tätigkeit sprechen darf – der Sinn des Augenblicks dieser Person in dieser konkreten Situation. Es handelt sich daher im Grunde genommen um konkrete Teilsinne, um die partikulären Sinne einer konkreten Situation, in die eine konkrete Person eingebunden und involviert ist. 64

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Nun sagen Sie, dass das typisch jüdisch sei. Sehen Sie, mir geht es mit diesem »typisch jüdisch« wie in einem Gleichnis von Max Scheler. Scheler sagte einmal, man müsse das so machen wie der Schiffer, der hinaussegelt aus dem Hafen: Er orientiert sich am Leuchtturm. Er muss immer wieder zurückschauen nach dem Leuchtturm um zu wissen, ob er auf dem rechten Kurs ist. Und genauso geht es uns. Wenn wir zurückschauen und feststellen oder darauf aufmerksam gemacht werden, dass jemand, den wir anerkennen, so etwas oder Ähnliches gesagt hat, dann können wir froh sein. Denn das bedeutet, dass wir auf dem rechten Weg sind. Auch wenn wir das nicht von vorneherein wussten, ist es eine Bestätigung – wie bei der Orientierung nach dem Leuchtturm. Nun haben Sie schon vorher ein paar Dinge über Relativität gesagt. Mein großer Lehrer Rudolf Allers hat experimentalpsychologisch nachgewiesen, dass die Intensität einer Farbwahrnehmung, also wie rot ein Rot ist, das ich sehe, unbewusst gemessen wird an einem hundertprozentigen Rot, dem summum rubrum sozusagen. Und er überträgt das auf die Wertprobleme, indem er sagt: Wenn wir moralische Urteile fällen, wenn wir sagen, etwas ist moralisch gut oder schlecht oder besser oder böser, dann orientieren wir uns an einem summum bonum, das empirisch gar nicht gegeben ist, ebenso wenig gegeben ist wie das hundertprozentige Rot, das wir nie gesehen haben, aber von dem ausgehend wir relativ röter oder weniger rot messen und ermessen. Und genauso ist uns, damit meint er natürlich Gott, das summum bonum, oder, wie ich sagen würde, die summa persona bona, vorgegeben, ohne dass wir es wissen, ohne dass wir es ahnen, wann immer wir ein Urteil in moralischer Hinsicht abgeben. Das gehört auch noch zum Problem der Relativität dazu. Nun haben Sie von der Zweiheit gesprochen. Ich erinnere mich, in meiner frühen Jugend, ich muss damals vielleicht 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein, bin ich zu der Formel gekommen: Sein ist gleich Anders-Sein. Nur Andersseiendes lässt sich überhaupt wahrnehmen, es gibt keine Rotblinden, es gibt nur 65

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Rot-Grün-Blinde. Und das geht so weiter. Ist es nicht bemerkenswert, dass das gesamte Computerwesen, das ja irgendwie ontologisch präformiert sein musste in der Wirklichkeit, in der Realität, aufbaut auf Entweder-Oder, auf dieses Null oder Eins? Ohne irgendeine Gesetzmäßigkeit, eine fundamentale, in der Realität bestehende, könnte ein Computer gar nicht konstruiert werden und nicht funktionieren. Ohne diese Zweiheit könnte kein Computer irgendetwas ausrichten, geschweige denn das für uns unermesslich Gewordene, das er kann. Dann haben Sie vom Atheismus gesprochen. Darf ich da noch einige Bemerkungen machen? Am Atheismus mag vielfach die Engstirnigkeit jener Theisten Schuld sein, besser gesagt jener Theologen, die zu sehr am Buchstaben kleben. Und sie kleben gar nicht wirklich am Buchstaben. Bitte verzeihen Sie, wenn ich jetzt bewusst dilettantisch spreche –, wenn der Evolutionist kommt und sagt, Blödsinn, in sieben Tagen kann keine Welt erschaffen werden, dann muss ich fragen: Ja, wenn in dem »bereschith« steht, sieben Tage, wer sagt mir, dass zu der Zeit, wo der bereschith niedergeschrieben wurde, oder gedacht wurde, oder erzählt, oder weitergegeben wurde, wer sagt mir, dass zu der Zeit jenes Wort, das mit Tag übersetzt wurde, auch wirklich »Tag« bedeutet hat? Das mag »Zeitperiode« bedeutet haben, verstehen Sie mich? Es ist doch lächerlich auf sieben Tage zu beharren und gleichzeitig zu sagen, 1000 Tage sind für Gott wie ein Tag – um Gottes willen, das meint doch nicht 24 Stunden, mit dem Chronometer gestoppt. Wer erlaubt mir, das so zu deuten? Wenn man es aber richtig übersetzen würde als Zeitperiode, was natürlich sehr holprig klingen würde, dann würde man draufkommen: Er hat nämlich Recht. Denn heute weiß man, dass es Mutationssprünge gibt, usw., also sehr wohl separierte Zeitperioden in der Evolution, und zwar instantane Zeitperioden. Das ist wie ein instans im mythischen Sinne, eine unendlich kleine Zeitspanne, in der eine Mutation geschieht. Die lässt sich gar nicht messen, alles Subatomare lässt sich gar nicht richtig messen. Zweitens: Wie auf der einen Seite die Kleinkalibrigkeit der 66

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Interpreten Schuld am Atheismus sein kann, so auf der anderen Seite die Selbstüberschätzung der einseitig am naturwissenschaftlichen Modell Orientierten, die sagen, es existiert nur, was sich hineinprojizieren lässt bzw. sich abbildet in der Projektion der Ebene, während es in Wirklichkeit mehrdimensional ist. Ich habe das lange mit Konrad Lorenz besprochen. Ich habe ihm vorgeworfen, er kenne keine Teleologie, aber das heißt nicht, dass es keine gibt. Wenn wir das Naturgeschehen in die Ebene des Biologischen projizieren, so bildet die Teleologie sich nicht ab, aber in einer nächst höheren Dimension kann sie sehr wohl existieren. Auf der Ebene der Biologie sehen wir bloß Punkte ohne sinnvollen Zusammenhang: Es sind einzelne Mutationen, es sind Zufallstreffer, da gibt es keinen sinnvollen Zusammenhang. Aber es ist ja möglich, dass es in der nächsthöheren Dimension einen Zusammenhang geben kann. Da musste er mir, so viel ich gemerkt habe, Recht geben.

Lapide: Zur Theologie, lieber Herr Frankl. Es gibt im Grunde nur zwei Wege, mit der Bibel umzugehen: Entweder nimmt man die Bibel wörtlich oder man nimmt sie ernst. Beides zusammen geht nicht. Und zwar aus einem sehr einfachen Grund. Die Sprache der Menschen, alle Sprachen unter der Sonne, sind relative empirische Werkzeuge, die aus der erfahrenen Welt stammen, aus der empirischen Welt der Menschen und daher nur empirisch Erfahrbares ausdrücken können – sie können für Gott nicht taugen, den wir in unsere Erfahrungswelt nicht hineinpferchen können. Und da alle Sprachen wesenhaft dynamisch, ungenau und relativ sind, vermag keine dem Absoluten und Ewigen unveränderlichen Ausdruck zu verleihen. Die Lehrworte von vorgestern können morgen leere Worte werden, wenn der lebendige Sprachgeist sie einem Bedeutungswandel unterworfen hat. Mit anderen Worten: Wenn die Bibel sagt: In sechs Tagen schuf Gott die Welt, so ist damit in einem tieferen Sinne gemeint, dass er die Welt in Epochen und 67

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Perioden schuf, die in ihrem evolutiven Aufstieg im Grunde der darwinistischen Lehre gleichen. Da sagt die erste Bibelstelle, wozu Darwin 377 Seiten brauchte. Karl Rahner sprach gerne vom »Unfassbaren Geheimnis«, das Gott zu nennen er nur nach langem Zögern wage – fast wie die Rabbinen hatte er eine »Namensscheu«, die ungern das Heilige im Mund führt, aus Furcht, es zu zerreden. Adorno sprach von der »Sehnsucht nach dem ganz Anderen«; Werner Heisenberg nennt Ihn »die Zentrale Ordnung«, und Einstein schwärmte von der »Ehrfurcht-erregenden Gesetzlichkeit des Weltalls«; Leszek Kolakowski sagt, die Sorge um die Welt sei eine verkleidete, sich selbst nicht bewusste Sorge um Gott; die Theologen sprechen von der Unmöglichkeit, sachlich über Gott zu reden – und von der ebenso herausfordernden Unmöglichkeit, über Ihn zu schweigen. Am weitesten geht wohl Martin Buber, wenn er schreibt: »Gott ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so arg besudelt, so zerfetzt worden… Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteien haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. […] Sie zeichnen Fratzen und schreiben ›Gott‹ darunter. […] Wir müssen die achten, die es verpönen, weil sie sich gegen das Unrecht und den Unfug auflehnen, die sich so gerne auf die Ermächtigung durch ›Gott‹ berufen; aber wir dürfen es nicht preisgeben. Wir können es befleckt und zerfetzt, wie es ist, vom Boden aufheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.« Was oder wen wir als Gott ansprechen, hat viele Namen, von denen keiner Ihn umfasst, Ihn festschreiben kann, Ihm auch nur annähernd gerecht zu werden vermag. Was meinen Sie, wenn Sie Gott sagen? Ist es derselbe Gott, mit dem Sie Ihre Konzentrationslagermemoiren beenden, wenn Sie vom »Tag der Freiheit« schreiben, an dem es nach all dem Erlittenen »nichts mehr auf der Welt zu fürchten gibt – außer Gott«? 68

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Frankl: Es geht um Religion, und der religiöse Mensch wendet sich, wenn er religiös spricht, an Gott. An wen sollte er sich wenden? Ich persönlich bin in letzter Zeit zu einer operationalen Definition Gottes vorgestoßen. Kennen Sie operationale Definitionen? Zum Beispiel begegnet uns so etwas bei der Messung von Intelligenzquotienten: Intelligenz ist das, was durch diesen Test gemessen wird; Sie können ja nicht sagen, was Intelligenz ist – es ist ungeheuer schwer. Sie müssen sich darauf einigen: das, was jetzt mit einem »Hand und Fuß habenden« Test gemessen wird, das ist eine operationale Definition. Jetzt auf Gott bezogen: Ich war 15 Jahre alt, als ich innerlich definierte: Gott ist der Partner unserer intimsten Selbstgespräche. Sind diese Selbstgespräche wirklich Selbstgespräche oder eigentlich Zwiegespräche mit einem anderen, mit dem »ganz anderen«? Die Frage bleibt offen!

Lapide: Wenn wir uns endlich einmal an den Gedanken gewöhnen könnten, dass alle Rede von Gott ein hilfloses Gestammel ist, das im besten Fall unterwegs zu ihm bleibt, und dass allzu viele Theologen Vettern und Wahlverwandte des Famulus Wagner im Faust sind, der da sagte, »Was man schwarz auf weiß geschrieben hat, das kann man getrost nach Hause tragen«, auch Gott, und dass das kurz vor der Blasphemie steht. Dann erst wird der Begriff »ineffabile« klar, der im Sinn der jüdischen Namensscheu davor warnt, das Heilige im Mund zu führen, um es nicht zu zerreden.

Frankl: Ich glaube, es war Salomon, der bei der Tempelweihe gesagt hat: »Aber sollte Gott wirklich bei den Menschen auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen; wie sollte es dann dieses Haus tun, das ich gebaut habe?« (2 Chr 6,18)

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Lapide: Salomon war ein weiser Mann, aber viele seiner Nachfolger haben seine Weisheit nicht geerbt, Gott sei’s geklagt. Aber eines ist sicher, dass Theologie ein Unwort ist, wenn es eine Wissenschaft von Gott sein sollte, denn so etwas kann es nicht geben. Sollte aber Theo-logie im griechischen Ursinn eine Rede von Gott sein oder im Sinne Ihrer Logo-therapie eine Sinnsuche in Gott, dann ist Theologie natürlich gerechtfertigt. Sie will aber – und das ist die Hybris, die Gott ihr hoffentlich verzeihen wird –, sie will unbedingt zur Wissenschaft werden, und das geht kaum. Sie kann höchstens Wissenschaft werden, indem sie historisch nachvollzieht, wie Menschen in der Vergangenheit Gott erfahren, Gott gesucht oder vielleicht einen Schatten der Gottheit empfunden haben. Gott selbst kann nie in eine Fakultät hineingepfercht werden. Und das ist das A und O der ganzen Bibel. Ein Letztes zur Sprache: In Göttingen hat mich ein Germanist belehrt, dass »ein gemeines, niederträchtiges Frauenzimmer« vor zweihundert Jahren eine Dame aus der höheren Gesellschaft bezeichnete, die sich ohne Snobismus mit den niederen Volksklassen beschäftigte: ein eindeutiges Kompliment. Was es heute bedeutet im üblichen Sinne, ist eine einklagbare Verleumdung. Wenn also im Neuhochdeutschen drei unschuldige Worte ihre Bedeutung von einem Kompliment zu einer einklagbaren Verleumdung verändern können, wie dann nicht erst recht Hebräerworte, die 3000, und Griechenworte, die 2000 Jahre alt sind! Sollten sie Ihnen oder den jungen Priestern und Predigern dasselbe aussagen, was sie einst bedeutet haben, als sie in einem anderen Erdteil vor Jahrtausenden unter undenklich anderen Umständen auf Pergament gebracht wurden? Sollen sie noch immer genau dieselbe Bedeutung haben? Das ist gelinde gesagt eine kriminelle Überschätzung aller menschlichen Sprache. Also müssen wir von Gott denken, umdenken, aber uns bewusst sein, dass keine Sprache ihn je erfassen kann.

Frankl: greifen. 70

Ich will einige Punkte, die Sie ansprechen, auf-

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Erstens einmal: Ich habe Thomas von Aquin niemals gelesen. Aber im Laufe der Jahre stolpert man immer wieder über Zitate von ihm. Und da hab ich einmal gelesen, dass er sagt: Wir können zwar wissen, dass Gott ist, aber was Gott ist, können wir nicht wissen. Ich habe das vor Jahrzehnten einmal in einem Buch von mir so ausgedrückt: Alle unsere Aussagen über Gott sind nur unter Anführungszeichen zu verstehen. Gott ist »personaler Natur«, Gott ist »gütig«, usw. Der Anthropomorphismus ist unausweichlich. Worauf es ankommt, ist, dass wir uns dieses Anthropomorphismus bewusst bleiben. Das ist das Wichtige. Aber umgehen, vermeiden, können wir ihn nicht. Denn diese göttlichen Attribute sind und sie bleiben natürlich bloß menschliche Eigenschaften, und oft genug sind sie allzumenschliche Eigenschaften. Und so bleibt es Gott nicht erspart, auf eine mehr oder weniger anthropomorphe Art und Weise symbolisiert zu werden. Aber sollten wir wegen dieser allzumenschlichen Zutaten das Recht haben, alles Religiöse zu verwerfen? Ist es nicht viel eher so, dass die doch ohnehin asymptotische Annäherung an das Geheimnis und Rätsel der letzten Wahrheit eher auf dem symbolischen als auf einem bloß abstrakten Wege etwas hergibt? Max Scheler spricht in diesem Zusammenhang von anthropopathischen Zügen, die wir in Gott hineinlegen: Gott zürnt, Gott ist wütend, Gott hat Mitleid. Alles das gilt nicht, und trotzdem, sagt er, erreichen wir mit diesem Gebetsgott, wie er das nennt, viel mehr, erhaschen wir viel mehr von der Wahrheit, auch von der theologischen, als mit dem abstrakten, dem metaphysischen Gott als ens realissimum, usw. Das ist auch angedeutet in dem Pascal’schen Wort, es gehe um den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Aber das für Sie vielleicht Frappante an dem Ganzen wird sein, wenn ich Ihnen sage, dass Konrad Lorenz in einem Fernsehgespräch mit Franz Kreuzer, glaube ich, ausdrücklich sagt: Die Bäuerin da irgendwo von einer Alm, die in Gott den Mann mit dem weißen Bart sieht und ich weiß nicht was noch alles für primitivste Anthropomorphismen, sie ist noch immer der 71

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Wahrheit näher als irgendein Naturwissenschaftler. Damit meint er doch genau dasselbe wie wir beide. Vielen, die sich für Atheisten halten, ist dieser Anthropomorphismus Torheit und Ärgernis. Und über dieses Ärgernis muss man hinwegkommen, indem man sich eingestehen lernt, dass man über den Anthropomorphismus eben nicht hinwegkommen kann. Wenn jemand daher der Religion den Vorwurf macht, ihre Gottesbegriffe seien nur allzu anthropomorph, kann man ihm im Grunde mit dem gleichen Recht entgegenhalten, dass zahlreiche Begriffe auch in der Physik – etwa »Kraft« und »Stoff« – nicht weniger anthropomorph sind. Trotzdem bleiben auch sie im Sprachgebrauch – sogar im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Wie die Aussagen über den Gebetsgott Schelers sind sie natürlich nur bildlich und gleichnishaft, und dennoch sind sie irgendwie gültig. Aber es gibt auch jene Atheisten, die »nach Auschwitz« zu solchen geworden sind, wie Rubinstein und andere. Der eine behauptet, nach Auschwitz kann man keine Gedichte mehr machen, der andere behauptet, noch weniger kann man nach Auschwitz an Gott glauben. Aber entweder Sie geben Ihren Glauben an Gott auf im Sinne einer Stelle, die sich bei Dostojewski findet: Wenn Gott zulassen kann, dass ein einziges unschuldiges Kind leiden oder gar sterben muss, dann kann ich nicht an ihn glauben. Oder aber Sie behalten ihren Glauben trotzdem, – trotzdem Ja zum Glauben sagen, sozusagen – und zwar aus einem einfachen Grund: Ich bestreite aufs Entschiedenste, dass es möglich ist, sich in ein Handeln einzulassen, zu sagen: Lieber Gott, pass einmal auf, bis zu 526 000 ins Gas gegangener Juden behalte ich meinen Glauben an dich, aber nicht einen Einzigen mehr lasse ich zu. Dass du 5 oder 6 Millionen hast umkommen lassen – daraufhin ziehe ich meinen Glauben zurück. Handeln kann man nicht. Und siehe da, der Glaube, der wirkliche Glaube besteht auch dann noch fort. Wie viele Leute sagen, in Auschwitz haben doch sicher die meisten Leute den Glauben verloren! Das 72

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ist gar nicht richtig. Ich habe keine Statistik, aber nach meinen Eindrücken, meinem Gefühl, ist es so, dass mehr Leute in Auschwitz ihren Glauben wiedergewonnen haben und in mehr Menschen der Glaube in Auschwitz erstarkt ist – und das heißt trotz Auschwitz –, als dass Leute ihren Glauben dort verloren haben. Es sollte also nicht gleich immer wieder die Formulierung »nach Auschwitz« gebracht werden im Zusammenhang mit der Fähigkeit zu glauben, sondern es sollte hier die Rede sein von einem Glauben trotz Auschwitz.

Lapide: Sie sprechen in Ihren Büchern des Öfteren vom Sinnlosigkeitsgefühl des heutigen Menschen; von einem »existenziellen Vakuum«. Das klingt so, als hätte der Mensch die Mitte seines Lebens verloren, als käme er nicht mehr zu Rande mit sich selbst, seiner Gegenwart und Zukunft. Was ist der Mensch – aus psychotherapeutischer Sicht? Und wie kann er zur vollen Menschwerdung gelangen?

Frankl: Der Mensch ist ein Tier, aber zugleich ist er unendlich viel mehr als ein Tier. Er ragt in die humane Dimension hinein. Es verhält sich ähnlich wie mit einem Würfel: In der Ebene ist er ein Quadrat; er ist aber zugleich auch eine ganze Dimension mehr. Als Mensch bin ich nicht aggressiv, sondern als Mensch bin ich etwas ganz anderes: Ich hasse – oder ich liebe. Als Mensch bin ich nicht nur das Vehikel einer Sexualenergie, sondern als Mensch bin ich fähig zur Hingabe. Die ganze Sexualität ist in deren Dienst gestellt und wird zum Ausdrucksphänomen für die Begegnung mit einem anderen Menschen. Also meine ich: Man hasst; aber wenn man dem Menschen beizubringen versteht, dass kein Grund zum Hassen besteht, dann wird das Hassen absurd. Wenn Sie dagegen dem Menschen einreden, dass er »aggressive Potenziale« hat, die er ausleben muss, dann erzeugen sie in ihm den fatalistischen Wahn, Krieg, Hass und Gewalt seien schicksalsnotwendig. Aber 73

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nichts ist Schicksal für den Menschen. Weil er innerhalb seiner Dimension alles noch zu gestalten hat. Er ist keineswegs irgendwelchen Aggressionen ausgeliefert. Nur dann erst gibt er sich ihnen anheim, wenn man ihm ständig indoktriniert, er sei nicht Gestalter seines Lebens, sondern ein Opfer der gegebenen gesellschaftlichen oder biologischen Umstände. Der Mensch ist fähig, ist begabt, ist dazu da, sich zu überschreiten, sich zu vergessen, sich aus dem Auge zu verlieren, sich zu übersehen, indem er sich an eine Sache oder an einen Mitmenschen hingibt. Das meine ich mit Selbsttranszendenz.

Lapide: Könnte es nicht gelegentlich sein, dass gewisse Psychotherapien am Elend des Menschentums und seinen Nöten vorbeireden? Fehlt da nicht häufig von Seiten des Arztes vielleicht ein Ernstnehmen des Gesamt-Menschen, zu dem ja auch die Suche nach Gott, der Wille zum Sinn und der Drang zur Selbst-Verbesserung gehören?

Frankl: Es ist genauso wie mit der Erziehung. Die Erziehung müsste den Sinnfindungsprozess im jungen Menschen ankurbeln. Denn der Erziehung muss es ein Anliegen sein, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen des jungen Menschen zu schärfen, damit er hellhörig genug wird, die in jeder einzelnen Situation innewohnenden Sinnmöglichkeiten und Forderungen herauszuhören. Umso mehr noch in einem Zeitalter, in dem für viele Menschen die Zehn Gebote ihre Geltung verloren zu haben scheinen, muss der Mensch befähigt werden, die zehntausend Gebote zu vernehmen, die in den zehntausend Situationen verschlüsselt sind, mit denen er konfrontiert wird. Dabei kann die Erziehung nicht Sinn geben. Tatsächlich kann Sinn überhaupt nicht gegeben werden, weil Sinn gefunden werden muss. Wir können keinen Sinn »verschreiben«. Aber darum geht es auch gar nicht, das ist nicht Ziel und Aufgabe, 74

Lapide / p. 75 / 17.12.2004

und es ist auch nicht möglich. Es wäre im Prinzip schon genug, wenn man es aufgäbe, den Sinnfindungsprozess zu blockieren. Der Psychiater hat ja auch nicht die Aufgabe, sagen wir, den Menschen wieder glaubensfähig zu machen, und auf die Religion hinzulenken. Es ist schon genug, wenn die Psychiater aufhören zu predigen, dass Gott nichts anderes als eine Vaterimago und die Religion nichts anderes als eine kollektive Zwangsneurose der Menschheit sei. Und es wäre schon gut, wenn die Pädagogen aufhörten, ein Menschenbild zu verzapfen, das die normale Sinnausrichtung junger Menschen, ihren ganzen Enthusiasmus, unterhöhlt. Denn wenn ich, sei es als Student auf akademischem Boden, sei es als Patient, indoktriniert werde, im Sinne des Pandeterminismus – der Mensch ist nichts anderes als ein Produkt von Erbe und Umwelt oder von konditionierten Prozessen – ja, dann habe ich doch Recht, wenn ich sage: Ich bin also nicht frei, und folglich bin ich auch nicht verantwortlich. Warum soll ich nicht kriminelle Akte begehen, warum sollte ich sinnorientiert leben? Denn wenn man den Leuten einredet, der Mensch sei nichts anderes als ein »nackter Affe«, oder wenn man ihnen einredet, der Mensch sei nur ein Spielball von Trieben oder er sei nichts als das Produkt von Produktionsverhältnissen, oder das Ergebnis von Lernprozessen – ja, dann unterminiere ich ja seine ursprüngliche Sinnausrichtung. Auf diesem Wege wird der normale Enthusiasmus und Altruismus der jungen Leute systematisch untergraben. Und eben dies ist die große Gefahr: Wenn ich nämlich einen Menschen von vorneherein als armes Würstchen betrachte – als wäre »sein Ich nicht Herr im eigenen Haus«, wie Freud sagte, oder als wäre er nichts als ein Spielball »jenseits von Freiheit und Würde«, wie Skinner es formuliert –, dann mache ich ihn schlechter, als er schon ist – ich korrumpiere ihn! Nehme ich den Menschen dagegen so, wie er sein soll, dann mache ich ihn zu dem, was er werden kann. Dann mobilisiere ich sein eigentliches menschliches Potenzial.

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Lapide: Ich will direkt einhaken. Sehen Sie: Der Gott, an den ich glaube, ist ein Gott der Freiheit im doppelten Sinne des Wortes: Er ist selber frei, d. h., er hält sich nicht an unsere Spielregeln, und er hat uns das furchtbare Geschenk der Freiheit gegeben, entweder ja oder nein zu ihm zu sagen; er kann, wie Sie schreiben, der unbewusste Gott in uns sein, und wenn wir laut genug schreien und Getöse machen, dann hören wir seine leise Stimme in unserem Innern nicht. Diese Freiheit hat er uns gegeben. Wenn dem so ist, dann sind Sätze wie: Warum lässt Gott das zu, warum erlaubt Gott dies oder jenes? nicht weniger Anthropomorphismen als die gesamte Theodizee. Dann ist Gott im Grunde der oberste Polizeichef im Himmel, der zulassen und verbieten, erlauben und gewähren kann. Ich glaube, dass diese Gottesbilder, die eher zur Kindheit der Menschheit gehören, in Auschwitz gestorben sind, und ich weiß nicht, ob ich ihnen nachweinen soll. Denn Gott, der gütige Großvater mit dem langen weißen Bart ist in Auschwitz sicher gestorben. Gott, der alte Buchhalter, der tagtäglich die guten und die bösen Taten eines Menschen verrechnet, ist in Auschwitz verbrannt worden. Der Schlachtengott, der immer mit den stärkeren Bataillionen marschiert, liegt in derselben Familiengruft begraben wie der Gott der ewigen Rechthaber und der Besserwisser. Ich glaube, Auschwitz hat uns zu einer Gesundschrumpfung unserer Gottesbilder verholfen. »Gott ist tot«, so sagte einst Nietzsche, ehe er in geistige Umnachtung verfiel. Wenn er dabei die teils kindlichen, teils kindischen Gottesvorstellungen vom himmlischen Lückenbüßer, Gebetserfüller und Erfolgslieferanten gemeint hat, so hat er völlig Recht. Mehr noch! Wir schulden den Religionskritikern Dank, denn sie haben uns von viel verkapptem Götzendienst befreit und uns gezwungen, uns zu einer reiferen, höheren Gottesvorstellung durchzuringen. Kurzum: Wenn dein Gott beschrieben, definiert, erörtert oder festgeschrieben werden kann, dann ist er nur ein Gott-Ersatz – nicht der Gott der Bibel.

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Frankl:

Kritische Selbstbesinnung im besten Wortsinn



Lapide: Vielleicht würden wir das so nennen. Aber für mich wäre dann Auschwitz eher eine Anthropodizee-Frage, die noch immer gültig ist: Wo war der Mensch, als Menschen zu Millionen verbrannt wurden? Wo war das Ebenbild Gottes, das die Gebote hatte? Wo war ein getauftes Europa, das sechzig Generationen lang in der Liebe, der Nächstenliebe und der Feindesliebe des Rabbis von Nazareth erzogen wurde, als man seine leiblichen Brüder wie Ungeziefer vergast hat? Das wäre eine Frage, die noch immer auf eine Antwort wartet. Aber Gott als Lückenbüßer zu missbrauchen für die Unmenschlichkeit der Zweifüßler an ihren Artgenossen, ist nach meiner Meinung krasse Blasphemie. Aber, um zum Positiven zu kommen: In der Bergpredigt ist die Rede von der so genannten Feindesliebe als Gipfel menschlicher Moralität – obzwar eine Rückübersetzung in Jesu Muttersprache klarstellt, dass er eine »Entfeindungsliebe« gemeint hat, die durch tatkräftige Versöhnlichkeit den Gegner wenigstens zu entfeinden versucht, aber wenn möglich zum Freund machen will. In seinem Buch »Die Botschaft Jesu« (Bern 1959) fand der evangelische Theologe E. Stauffer, der der Nazipartei sehr nahe stand, nur vier historische Beispiele für wahrhaft praktizierte Feindesliebe: Jesus, sein Bruder Jakobus und der Märtyrer Stephanus – und noch einen, von dem er in folgenden Worten berichtet: »Am 20. Oktober 1958 eröffnet die große Strafkammer des Wojewodschaftsgerichts in Warschau den Prozess gegen Erich Koch, der berüchtigte Vernichter der Juden Polens. Der angeklagte Gauleiter wird aus dem Warschauer Gefängnis vorgeführt. Koch erklärt am ersten Verhandlungstag: ›Wenn ich überhaupt noch lebe, so verdanke ich das allein einer großen Frau, der Gefängnisärztin Dr. Kaminska – Frau Dr. Kaminska ist Jüdin.‹« 77

Lapide / p. 78 / 17.12.2004

All dies erinnert mich lebhaft an Ihre Gedenkrede am 25. März 1949, die Sie im Auftrag der Wiener Gesellschaft der Ärzte für die in den Jahren 1938–945 verstorbenen Mitglieder gehalten haben – Worte über die damals hellwachen Erinnerungen aus der Hölle von Auschwitz – frei von Impulsen der Vergeltung, der Rache, ja sogar der Ressentiments.

Frankl: Ich habe damals gesagt: Meine Aufgabe ist, vor Ihnen Zeugnis abzulegen, wie Wiener Ärzte in den Konzentrationslagern geschmachtet und geendet haben; Zeugnis ablegen von wahren Ärzten – die als Ärzte gelebt haben und gestorben sind, die andere nicht leiden sehen, nicht leiden lassen konnten, selber aber zu leiden verstanden, selber das rechte Leiden zu leisten wussten – das aufrechte Leiden. In ihren letzten Worten war kein Wort des Hasses – nur Worte der Sehnsucht kamen über ihre Lippen und Worte des Verzeihens; denn was sie hassten und was wir hassen, sind niemals Menschen. Menschen muss man verzeihen können. Was sie hassten, war nur das System – das die einen in Schuld brachte und den anderen den Tod. Doch ist es nicht besser, nicht allzu sehr mit anderen ins Gericht zu gehen? Solange wir noch richten und anklagen, ist der Grund nicht erreicht. Und so wollen wir denn nicht nur gedenken der Toten, sondern auch verzeihen den Lebenden. So wie wir den Toten die Hand reichen, hinweg über alle Gräber, über allen Hass. Und wenn wir sprechen: Ehre sei den Toten – so wollen wir auch hinzusetzen: Und Friede allen Lebenden, die guten Willens sind.

Lapide: Wer diese Zeilen liest und Mensch ist, kann nicht umhin, berührt zu werden, aufgewühlt zu werden. Ich bin sicher, da sind alle Leser einer Meinung. Aber ich frage mich, was ist das in mir, das da mitzittert, wenn ich diese Zeilen höre und Ihr Buch lese, wo Sie mit klinischer Objektivität Ihre eigenen Leiden – die Bestialitäten im Konzentrationslager schil78

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dern können, ohne einen Tropfen von Hass? Ich habe den Verdacht, dass es der göttliche Funke in mir ist, der Hauch Gottes, der mir den Adel der Menschlichkeit verleiht, der hier aufgewühlt wird. Es ist der Gott, der in mir ist und mich zum vollen Menschen machen will, der ich noch lange nicht bin. Warum suchen wir Gott oben in den Sternen, in allen möglichen –ismen, in aller Außenwelt, wo er sicher auch ist, anstatt in unserem tiefsten Innersten, wo er eine Stimme hat, die Sie das Gewissen nennen, wo er das Gebet in mir hervorbringt, das mich beten lässt, und den Drang zum Gebet erweckt, wo er mich lieben heißt, um Ich werden zu können. Wozu in die Ferne schweifen, wenn dieser Gott als Funken in mir schwelt und nur darauf wartet, durch mich zum Auflodern gebracht zu werden? Ist das nicht ein Stück Gottesglauben, der auch nach Auschwitz, ja besonders nach Auschwitz seine Gültigkeit keineswegs verloren hat?

Frankl: Ja, was soll ich sagen. Ich kann Ihnen nur hundertprozentig Recht geben. Ich kenne keine Menschen, die das so wunderbar in Worte zu fassen vermögen wie Sie.

Lapide: Wäre dann nicht Atheismus ein metaphysisches Behindertsein eines Menschen, der angeblich geistig, seelisch und körperlich intakt ist, dem aber das Gespür fehlt für das Transzendentale in seinem eigenen Selbst? Die vertikale Komponente des Menschseins, die uns aufblicken, nach oben spähen und vorwärts drängen lässt?

Frankl:

So könnte man es ausdrücken …

Lapide: Wäre dann ein Atheist, der Gott lautstark leugnet um des Menschen willen, oder um des Bösen willen, das er 79

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nicht verkraften kann, oder um der Gleichheit der Klassen willen, um der kommunistischen Revolution willen – und der Gründe, um Gott zu verleugnen, gibt es Legion –, sind das nicht Leute, die sich selbst entfremdet sind, die nicht die Muße und die Geduld haben, in ihr eigenes Inneres hineinzuhören, um endlich den zu Wort kommen zu lassen, den der junge Samuel, als er noch nicht Prophet war, drei Mal gehört hatte, bis der alte Eli endlich verstand, dass diese Stimme aus ihm kommt, aber nicht weniger die Stimme Gotte ist? Und das bringt mich noch einmal zu diesen wunderschönen Worten: Selbstverwirklichung, Selbsterfüllung, Selbstentfaltung, diese modernen Worte, die ich Egologie nennen würde, die Unmenschwerdung, die den Egoismus zur Wissenschaft erheben will. In den Weisheitssprüchen der Rabbinen und Jesu von Nazareth, der auch ein Rabbi war, steht genau das Gegenteil: »Wer sein Leben zu retten versucht, der wird es verlieren; und wer es verliert, der wird es gewinnen« (Lk 17,33). Das beweist unter anderem, dass Jesus auch ein guter Psychologe war. Auf der Suche nach dem Sinn dieses seltsamen Wortes fällt eine talmudische Parallele (Ta’anith 66a) auf: »Was soll der Mensch tun, damit er lebe? Sie antworteten: Er töte sich selbst (d. h. Abtötung des Egozentrismus). Und was soll der Mensch tun, damit er sterbe? Sie antworteten ihm: Er lebe für sich selbst (d. h. er schwelge im Egoismus).« Beide Stellen besagen, dass ein Mensch, der nur für sich selbst lebt und für sich allein existiert, also auf »Selbst-Verwirklichung« erpicht ist, letzten Endes verkümmert, verroht und allmählich geistig abstirbt. Das Ich, an das er sich verzweifelt klammert, degeneriert zum lieblosen, leblosen Es, weil seine Seele behindert wird, auf andere hin zu strahlen und zu wirken, wie es ihr Wesen erfordert. Der freie Mensch hingegen, der sich selbst zu überschreiten vermag, sich an einen anderen hingibt, der erlebt in der sich verschenkenden Liebe erst seine beglückende Selbst-Findung. Der Weg zum Glück, will Jesus sagen, ganz im Sinne der Rabbinen, führt weg von der Ich-Sicht hin zur Du-Suche, die dann im größeren Wir ihre Krönung findet. 80

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Dass Theologie und Psychologie sich hier die Hand reichen, bezeugt ein unbekannter Häftling in Sibirien, der auf einer Postkarte seine Erfahrung in drei Zeilen niederschrieb:

Ich suchte Gott, und Er entzog sich mir. Ich suchte meine Seele und fand sie nicht. Ich suchte meinen Bruder und fand sie alle drei. Bei der Selbsterfüllung erinnere ich mich an die berühmte chassidische Geschichte von einem Rabbi, der ein Gutsbesitzer in Galiläa im 2. Jahrhundert war. Unter den Satzungen der hebräischen Bibel zu Gunsten der Armen, Waisen, der Witwen und der Fremdlinge heißt es: Du sollst eine vergessene Garbe auf deinem Feld nicht sammeln, denn nicht dir gehört sie, sondern den Armen, den Witwen und den Waisen, für die jene Gottesfülle nicht weniger bestimmt als für dich. Dieser Rabbi erntete am Abend auf seinem Gut, da kam die Botschaft von seinem Sohn: Ein Haufen Garben wurde vergessen, aber der Mond ist schon hoch und es ist kaum möglich, sie noch einzubringen. Da weinte der alte Rabbi und sagte: Lass sie liegen, aber geh schnell zu meinem Nachbarn, denn ich will übermorgen ein Fest bereiten! Als die Festgäste zusammenkamen und gemeinsam getrunken wurde, fragte man den Rabbi: Was feierst du? Dein Sohn ist doch schon verheiratet, deine Töchter haben dir längst Enkel geschenkt! Und da sagt er: Schaut, mein Leben lang habe ich gesucht, Gott zu dienen in allen Geboten und Verboten seiner Bibel. Dieses einzige Gebot ist mir verwehrt geblieben zu erfüllen; denn man kann es nur in der Vergesslichkeit vollbringen. Ich habe aber alle Zeit an Gott gedacht, sodass ich das Gedenken zum Erfüllen brachte. Aber durch die vergessene Garbe ist es jetzt erst als Gnade an mich ergangen, Gott dienen zu dürfen. Vielleicht ist es mit der Selbsterfüllung ähnlich. Wer ewig an sich selbst denkt, wer den Egoismus nicht aus den Augen verliert, wer immer erfüllt sein will, der ist nicht erfüllt. Wer im Stande ist, das Ego zu verleugnen, zu verlieren oder hintanzusetzen, weil ihm etwas größer scheint als das eigene, winzi81

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ge Ich, der wird sich finden, indem er sich an andere verliert. Oder verliebt, was vielleicht dasselbe sein kann.

Frankl: Sie bringen in schöneren Worten hervor, was ich hilflos aufzuzeigen versuche. Es gibt kaum einen Vortrag in den letzten Monaten oder Jahren, in dem ich nicht auf Wunsch meiner Frau immer wieder das Gleichnis von der Selbstverwirklichung bzw. der Selbsttranszendenz bringe: Es ergeht uns so wie mit dem Auge. Die Fähigkeit des Auges, seine Aufgabe auszuführen, nämlich die umliegende Welt optisch wahrzunehmen, steht und fällt paradoxerweise mit seiner Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen. Wann sieht mein Auge sich selbst – wenn ich vom Spiegel absehe? Wann nimmt es etwas von sich selbst wahr? Wenn ich einen grauen Star habe, dann sehe ich eine Wolke, wenn ich einen grünen Star habe, dann sieht mein Auge in Form von Regenbogenfarben um die Lichter herum durch den eigenen erhöhten Druck in der Vorderkammer. Das gesunde Auge sieht nichts von sich selbst. Was immer es von sich selbst wahrnimmt, bedeutet eine Beeinträchtigung seiner Funktion. Genauso mit dem Menschen. Er wird er selbst, er verwirklicht sich selbst, er ist ganz Mensch genau in dem Maße, in dem er nicht sich selbst oder gar seine Selbstverwirklichung anpeilt, nicht sein Glück, nicht die Lust, sondern hingegeben ist an etwas anderes; sich vergisst, wie das Auge sich übersieht, wie Sie richtig gesagt haben. Das sieht man in der Sexualpathologie: In dem Maße, in dem jemand seine Potenz demonstrieren will und nicht an die Partnerin denkt, in dem Maße, in dem die Partnerin ihre Orgasmusfähigkeit beweisen will, wenn auch nur sich selbst, und nicht auf den Partner achtet, in demselben Maße wird sie frigid und er impotent. Das ist der klinische Alltag. Also die Selbsttranszendenz reicht bis in diese Dinge hinein. Jetzt ist die Sache folgendermaßen: Sie sprachen da von dem Atheismus. Ich habe da noch etwas nachzutragen von 82

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einer vierten Sache, die einen Atheisten bewegt bzw. die ihm nicht passt am Glauben, und zwar ist das ein moralischer Grund: Der Atheist kann es nicht vertragen, dass man hofft, in den Himmel zu kommen, wenn man brav und anständig ist. Der Atheist möchte gerne, dass man um seiner selbst willen, um einer Sache oder eines anderen willen anständig ist, und nicht, um in den Himmel zu kommen. Oder, wie es einmal in einem Inserat geheißen hat, »Wohltun trägt Zinsen – kaufen Sie unbedingt ein Los von der und der Lotterie, auf dass Sie gewinnen können«. Nun, es ist ihm sozusagen zuwider, wenn er da spekuliert, »was wird dann sein«, denn das ist nicht die eigene Moral. Das spielt, glaube ich, auch eine Rolle. Nun sprechen Sie auch von der Anthropodizee qua Auschwitz; Sie sprechen da von der Theodizee. Das, was ich nicht vertragen kann an der theologischen Literatur, das ist, wenn man dem Herrgott Vorschriften macht, wenn ein Theologe erklärt, Gott hätte das und jenes gar nicht tun können, das würde dem Wesen Gottes nicht entsprechen, usw. Das ist für mich persönlich ein Ärgernis. Und die ganze Theodizee ist ja ohnehin eine verhaute Sache, wenn man sagt: Damit das Gute als Gutes hervortritt, um der Kontrastwirkung willen, muss auch das Böse vorkommen. Ich spreche jetzt nicht von der Freiheit des Menschen, sondern ich spreche von der Freiheit Gottes, die da immer wieder irgendwie hervorgekehrt wird. Das halte ich auch für verkehrt. Ich sage ganz einfach: Wenn Gott gewollt hätte, dann hätte er auch eine Welt schaffen können, in der es des Kontrasts von Gut und Böse gar nicht bedurft hätte. Und ich erinnere mich, da kommt einmal meine 6-jährige Tochter ins Badezimmer und sagt, als ich mich gerade rasiere: Papa, warum sagt man eigentlich immer der liebe Gott? Da sage ich: Das ist doch ganz einfach, du hast vor ein paar Wochen Masern gehabt, und der liebe Gott hat dich gesund gemacht. Ja, sagt sie, aber erst hat er mir die Masern gemacht. Das ist ein regressus ad infinitum.

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Lapide: Ich würde aber diesen lieben Gott ablehnen, weil es eine Verniedlichung ist, die für 6-jährige, vielleicht auch für zurückgebliebene 30-jährige Kinder passt. Aber ein Gott der Liebe ist nicht der liebe Gott. Der liebe Gott klingt so wie ein Götterchen, das man streicheln kann. Und Streicheln tut er mich nicht und ich ihn auch nicht. Es mutet wie eine »VogelStrauß-Theologie« an, die die unbekannten Seiten Gottes bewusst ausklammert, um seiner mit Hilfe von Komplimenten habhaft zu werden. Aber ein Gott der Liebe, der das Gute will und mir die Freiheit auch zum Bösen gibt, ist ein Gott, den ich ertragen kann, an den ich glauben kann. Wenn unser Gott ein Gott der Liebe ist, dann muss Er auch ein leidenschaftlicher Eiferer sein können – ein Gott, der gibt, aber auch nimmt; der vergibt, aber auch straft; fordernd und gebietend zugleich. Ein Gott ohne Zorn auf die Sünde, ohne Eifer für das Recht wäre ein apathischer Griechengott, der hoch im Himmel thront und von dem Leid der Welt nichts wissen will. Denn ein Gott, für den Frevler und Gerechte, Heilige und Massenmörder gleich gültig sind, wäre ein Gott der Gleichgültigkeit, der auf den Olympus passt oder in ein römisches Pantheon – aber nicht zu den heißblütigen Propheten im Alten Israel, mit denen auch der temperamentvolle Jesus sich eng verbunden wusste. Aber wenn Sie die Theodizee als einen Anthropomorphismus ablehnen, der Gott zum höchsten Polizisten, zum obersten Militärchef oder zum Regierenden Bürgermeister im Himmel erhebt, so gibt es zwischen der von Ihnen abgelehnten Theodizee und der Anthropodizee von Auschwitz, von der ich spreche, eine Brücke, die ich mit einigen Rabbinen als die Theopathie bezeichnen würde. Wenn Gott in mir lebt, wovon ich überzeugt bin, so kann es einen paradoxen Gott geben, der all unsere winzige Menschenweisheit Lügen straft, indem er groß genug ist, um sich klein zu machen, allmächtig genug, um sich Selbstohnmacht aufzuerlegen, frei genug, um sich zu binden, und mitleiden zu wollen mit seinen Geschöpfen, – dann hat er in Auschwitz mitgelitten und ist in Treblinka mitverhungert mit seinen Juden. Dann kann ich Gott nicht nur 84

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als Schöpfergott anerkennen, sondern als einen Gott, der mit mir hindurchgeht, wie die Psalmen sagen, auch durch das Tal des Todes, um in mir menschlicher als Mensch zu werden. Das wäre vielleicht eine Vorstellung Gottes, die nach Auschwitz uns im Zuge unserer Reifung der Gottesbilder weiterführen würde.

Frankl: … und die Schlangenhaut abstreifen lässt, die uns behindert und eingeengt hat.

Lapide: Was unser Stückchen Wahrheit vielleicht noch besser beleuchtet, ist die kurze rabbinische Fabel, die da sagt, dass einer der Gerechten nach dem Tode in die andere Welt kam und zuerst in einen Speisesaal geführt wurde. Da saßen um den Tisch herum eine Menge Leute, abgemagert, man konnte ihre Rippen zählen, sie waren dem Verhungern nahe, der Tisch jedoch war voll gedeckt mit üppigen Speisen. Was geschah? Jeder von ihnen hatte einen drei Meter langen Löffel, mit dem er unmöglich in den eigenen Mund reichen konnte, sondern nur im Stande war, den Nachbarn vis-a-vis zu füttern. Das taten sie nicht und wollten lieber verhungern. Hierauf führte man denselben Gerechten drei Zimmer weiter in einen anderen Saal, wo haargenau derselbe Tisch mit denselben üppigen Speisen gedeckt war. Um ihn herum saß eine Anzahl Leute mit denselben langen Löffeln, feist, fett, fröhlich und jubelnd. Einer fütterte den anderen. Das, sagte ihm der Engel, ist das Paradies. Wo du vorher warst, das war die Hölle.

Frankl: Löffel ist Intentionalität, nicht wahr? Du kannst dich nicht selbst intendieren, sondern du kannst nur etwas, was nicht du bist, intendieren. Aber durch die Gegenseitigkeit ist menschliche Existenz möglich, weil du wiederum von anderen, ich möchte sagen, antranszendiert wirst. Aber ich möchte Sie zu einem Punkt vorher provozieren, 85

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irgendwie herausfordern. Sie sagen, Gott sei so groß, dass er sich erniedrigen kann, dass er sich klein machen kann und dass er in die blödeste Seele hineinschlüpfen kann. Sie kennen vielleicht diese Geschichte in einem Buch von mir: Ich erzähle von einem Patienten, der an einer frühkindlichen Schizophrenie litt und der mir vorgeführt wurde, ununterbrochen halluzinierend und manchmal sehr gereizt, und dann frage ich ihn, wie können Sie sich dann doch trotz Ihrer Gereiztheit beherrschen, wie die Schwester bestätigt hat. Da sagt er nach längerem Zögern: um Gottes willen. Und da ist mir aufgegangen, was Kierkegaard gemeint hat, wenn er sagte: Selbst, wenn der Wahnsinn mir sein Narrenkleid böte, ich kann doch bis zum letzten Augenblick an meinem Gott festhalten. Diese Unbedingtheit! Ich habe schwerste manische Verwirrungszustände gesehen, Menschen, im eigenen Dreck im nassen Stroh liegend. In der Zwokarna, so hieß die Abteilung in Theresienstadt, gab es ein Mädel, das ich aus Wien gekannt habe und die hier praktisch Prostituierte war bei der SS. In Theresienstadt ist dann das manisch-depressive Irresein ausgebrochen, und die letzten Stunden von ihrem Tod an manischer Erregung und Erschöpfung hat sie mich fortwährend gebeten, ich solle ihr verzeihen. Ich wusste nicht wofür. Und dann habe ich sie beobachtet unmittelbar vor ihrem Tod – es war eine Szene wie bei Gretchen in Faust I – im dreckigen Stroh dort hat sie gehockt und hat Schema Israel gebetet. Eine schwere psychotische Verwirrtheit. Das meine ich mit Hineinschlüpfen in die armseligste Seele. Aber ich frage Sie, ob Gott sich nicht auch einen weißen Bart wachsen lassen kann, statt sich zu rasieren. Warum soll Gott nicht auch im Sinne von Konrad Lorenz, im Sinne des Gebetsgottes von Max Scheler und in meinem Sinne der Rechtfertigung des wüstesten Anthropomorphismus gegebenenfalls auch die Vatergestalt annehmen können, der Papa, der Großvater werden können, die Großvaterimago, wie ich das einmal genannt habe? Warum soll er das nicht, um die niedrigste Ebene der Intellektualisierung erreichen zu können, den höchsten 86

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Grad der Deintellektualisierung? Was sagen Sie dazu, zu dieser kühnen Herausforderung?

Lapide: Ich sage, dass ich mit Lorenz, den Sie zitiert haben, einverstanden bin. Wenn die Bäuerin in Tirol sich ihren Gott, an den sie mit vollem Herzen glaubt, nur mit weißem Bart vorstellen kann, aber Gottes Willen tut und dieser weiße Bart ihr zu einer volleren Menschwerdung und Frauwerdung verhilft, so ist es der wahre Gott. Wenn hingegen der Theologieprofessor in Wien, Brüssel oder London mit seinen fünfsilbigen Fremdwörtern Gott zu definieren sucht, zu Hause sich aber seinem Nächsten gegenüber wie ein Schwein benimmt, so ist die Bäuerin Gott zehn Mal näher als der Theologieprofessor mit drei akademischen Titeln. Wir haben in der Bibel eine Unzahl von Gottesbildern.

Frankl: Oder wie Jaspers sagt: Das Gleichnis selber ist noch ein Gleichnis.

Lapide: Ich glaube, er meint dasselbe wie die Rabbinen, die da sagen: Die Vielzahl der Gottesbilder in der Bibel bewahrt uns vor der Vergötzung Gottes. Denn genau wie die Mutter unzählige Namen für ihr kleines Kind hat, wie die Liebenden sich mit immer neuen Namen bedenken, so spricht der Jude in der Bibel von Gott in drei, vier, fünf, Dutzend Namen. Er meint das Unaussprechbare, er weiß genau, dass keines seiner Worte Gott einfangen kann, aber kann nicht umhin, von Gott zu lallen, zu stammeln, oder zu sprechen, sonst wäre er ja kein Mensch. Die Gottesbilder sind also im Grunde sekundär, sobald wir uns dessen bewusst sind, dass es nur Abbilder des Unabbildbaren sind, eine Sprechhilfe, eine Krücke für unseren Verstand und unsere unbeholfene menschliche Sprache. Sobald wir uns dessen bewusst sind und das Bild nicht zum Gott erheben, sind wir vom 87

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Götzendienst frei und dienen Gott. Denn dieser Gott will weder gehuldigt noch geehrt noch angebetet werden. Was er im Grunde will, ist, dass man seinen Willen tut. Wenn das mit Huldigung und Halleluja-Singen vor sich geht, so ist in der Tat Gott gedient. Aber ich kann nicht umhin, wieder Buber zu zitieren, der sagte: »Ich weiß nicht, ob nicht viele Atheisten Gott besser dienen als etliche Oberrabbiner, Kardinäle oder Landesbischöfe.«

Frankl: Das würde ja für dieses Inklusivitätsverhältnis sprechen, dass ein Widerspruch sein kann.

Lapide: Nicht dass der Unglaube nicht seinen nützlichen Platz in der Weltordnung hätte! Seine Rolle im Heilsplan ist gar nicht zu übersehen. »Warum hat Gott den Atheismus geschaffen?« So fragte einst einer seiner Jünger den Rabbi Mosche Leib von Sassow, eine der Leuchten des Chassidismus. Und jener antwortete: »Auf dass du den Bettler nicht verhungern lässt, indem du ihn mit der kommenden Welt vertröstest oder ihm einredest, er solle auf Gott vertrauen, der ihm beistehen werde – anstatt dass du selbst in die Tasche greifst, um ihm hier und jetzt zu einer Mahlzeit zu verhelfen. Retten und beistehen sollst du, als gäbe es keinen Gott, sondern nur einen, der zu helfen vermag: du allein!« In diesem Sinne lautet die Doppellosung des Talmuds: Handle, als hänge alles von dir ab, und bete, als hänge alles von Gott ab. Nur beides zusammen: Gebot und Gebet; die gläubige Tat und das bittende Herz, sie werden dem Ethos der Bibel gerecht.

Frankl: Sie bringen immer Dinge auf eine neue Art. Schauen Sie, erstens einmal: Gott legt keinen Wert darauf, an88

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gebetet zu werden, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Das ist ja für mich persönlich das Ärgernis, allerdings muss ich zugeben, bei den Rabbinen auch, aber hauptsächlich bei den Katholiken, vielleicht noch mehr bei den Protestanten. Glaube nur, und du wirst sehen, es wird dir gut ergehen, du wirst gerettet werden, usw. Man kann ja keinen Glauben befehlen. Entweder etwas ist glaubwürdig, dann glaub ich es, oder aber es ist nicht glaubwürdig, dann lass´ ich mir das nicht anschaffen, am allerwenigsten um irgendwelcher Vorteile wegen. Ich kann ja auch Liebe nicht anschaffen lassen, wenn jemand nicht liebenswert oder liebenswürdig ist. Und ich kann auch Hoffnung gegen alle Hoffnung nicht befehlen. Das ist ein Warnschuss vor Ihren Bug, Herr Professor. Denn wir wollen uns einmal über Hoffnung unterhalten: Man kann Hoffnung nicht befehlen, sondern in einer höheren Dimension muss Hoffnung da sein, – das sage ich jetzt das erste Mal improvisiert –, trotz der Aussichtslosigkeit in der anderen Ebene. Hoffnung ist wahre Hoffnung erst dann, wenn der Sterbende weiß, er wird sterben. Und wer weiß es nicht als noch Lebender? Und trotzdem gibt er seinen Glauben nicht auf, irgendwie wird alles schon in Ordnung sein oder in Ordnung kommen, in Ordnung gebracht werden so oder so, von dem oder jenem. In diesem Sinne hofft er trotzdem. Jede echte Hoffnung ist eine Hoffnung trotz, und niemals eine privilegierte Hoffnung. Nun, am allerwenigsten kann ich mir vorstellen, dass der Herrgott jemand ist, der größten Wert darauf legt, von der größten Menge von Menschen in einer entsprechenden Konfession usw. verehrt und geglaubt zu werden. Das, wofür Sie hier einstehen, scheint mir ein veredelter, ein unordinärer Pragmatismus zu sein, ein nicht billiger Pragmatismus. Ich möchte das nur ergänzen und klarstellen, z. B. mit der Bäuerin. Die Bäuerin, von der können Sie die Einsicht in ihren flagranten Anthropomorphismus gar nicht verlangen. Sie soll bei ihrem Anthropomorphismus bleiben. Sie soll weiter zu Gott so beten, als ob er der bärtige, weißhaarige Vater wäre. 89

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Aber Voraussetzung ist, sie sieht vielleicht nicht den wahren Gott, aber sie glaubt wahrhaftig. Und diese Wahrhaftigkeit bezeugt sie dadurch, dass sie es in Taten umsetzt: Wenn ich einmal das Neue Testament zitieren darf: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.«

Lapide: Nichts könnte jüdischer sein als dieser Spruch Jesu. Ähnlich sagt ja auch der Jakobusbrief im Neuen Testament: »Ein Glauben ohne Taten ist tot.« Klarer geht’s nicht. Der Glaube als A und O ist nichts, Glauben als Sprungfeder zum Tun ist alles. Der Glaube soll hinführen zu Taten. Ein Glauben, der nur im Händefalten mündet und im Niederknien, mag vielleicht Geborgenheit schenken. Dem Willen Gottes, wie wir ihn verstehen, genügt er nicht. Der Wille Gottes aber ist das Wohl und Heil dieser Welt.

Frankl: Ja, Geborgenheit, das wäre schon wieder ein Verrat an der Selbsttranszendenz; denn dann tue ich das ja bloß für mein seelisches Gleichgewicht. Ich bin überzeugt, dass die Heiligen niemals im Sinne gehabt haben, heilig zu werden. Denn dann wären sie dem Pharisäertum verfallen. Dann wollten sie lediglich ein gutes Gewissen haben. Das wäre ein übler Pragmatismus, das wäre ja wiederum Verlust der Selbsttranszendenz, das wäre ein gutes Gewissen, das das beste Ruhekisten ist, ein Ersatz oder Äquivalent für ein Schlafkissen. Nein: Der Mensch, der anständig handelt, hat per effectum ein gutes Gewissen, aber wenn er es per intentionem haben wollte, dann kann er es gar nicht haben. Wo soll er einen Grund haben, ein gutes Gewissen zu haben, wenn er nur für sich, um seiner selbst, um seines inneren Gleichgewichts willen anständig handelt? Dann hat er ja in Wirklichkeit gar nicht anständig gehandelt und kann gar kein gutes Gewissen haben!

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Lapide: Vielleicht reden wir vom Theo-Pragmatismus: Ein Handeln vor Gott, der gläubige Taten will, die nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Welt willen, um des anderen willen geschehen. Dann hat Pragmatismus seinen Grund, aber mit der Vorsilbe »Theo-«. So kann es wohl kaum ein Zufall sein, dass das häufigste Zeitwort im Vokabular Jesu, den Buber »den zentralen Juden« nennt, das Wörtlein »tun« ist. Das häufigste Hauptwort ist »das Himmelreich«. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Das letztere ist das Ziel; das erstere ist der Weg, das Mittel, um Gottes Herrschaft auf Erden zu fördern.

Frankl: Aber nicht, um sich einen Stein im Brett, um sich einen Fürsprecher zu erwerben.

Lapide: Wir sprechen vom Glauben. Die Etymologie ist hier ein guter Wegweiser für die Theologie. Glauben kommt im Deutschen von Geloben oder, wie Buber zu sagen pflegte, sich angeloben. Glauben heißt, sich selbst an etwas verheiraten mit Leib und Seele. Glauben, im Lateinischen »credere«, ist eine Ableitung von »cor dare«, das Herz geben, das Herz hingeben. Glauben im Griechischen ist »pisteuein«, und das ist intellektuell angekränkelt, denn es heißt mehr oder minder: etwas für wahr halten, wobei der Kopf und das Herz mitwirken. Im Hebräischen heißt glauben »hä-ämin«, und das bedeutet schlechthinniges Vertrauen, das unabdingbar ist. Glauben als »glauben, dass« gibt es im Hebräischen überhaupt nicht. Das Wort »glauben« verbindet sich im Bibelhebräischen nur mit dem Dativ: Ich glaube ihm. Punkt. Egal, was auch geschehen möge. Hier haben Sie vier verschiedene Arten des Glaubens in der Etymologie der vier Sprachen verankert. Es kann intellektuell sein, es kann ein Herz-Hingeben sein, es kann ein Sich-Angeloben sein und es kann ein Vertrauen sein, das keine Grenzen kennt und daher unerschütterlich wie ein Felsen ist. Alles dies schwingt in der Vokabel »Glauben« mit. 91

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Frankl: Und konzentrisch verweist es auf irgendeinen Urpunkt, auf ein Zentrum.

Lapide: Das Verhängnis ist, dass im Deutschen dem Wort »Glauben« der schlechte Beigeschmack von Nicht-Wissen anhaftet. Wenn ich sage, ich glaube, dass Gott ist, so schwingt da immer mit: Ich weiß es aber nicht.

Frankl: Das führt mich dazu, meine Definition von Glauben hier einzubringen, und ich möchte Ihnen auch verraten, wie ich dazu gekommen bin. Als Kind haben wir in der Volksschule immer gehört, glauben heißt nichts wissen, und nichts wissen heißt ein Esel sein. Das heißt, Glaube wurde als eine Minus-Variante von einem geistigen Akt hingestellt. Ich glaube, gerade das Gegenteil ist richtig. Ich glaube nicht, dass der Glaube ein Denken, ein geistiger Akt, vermindert um die Realität des Gedachten ist, sondern im Gegenteil, Glaube ist ein Denken vermehrt um die Existenzialität des Denkenden. Das bedeutet also gerade nicht, glauben heißt nichts wissen. Sondern das bedeutet in Wirklichkeit, dass der Akt des Glaubens auf einem existenziellen Akt beruht. Blaise Pascal hat einmal dieses Parie, diese Unentschiedenheit, so ausgedrückt: Ich kann niemals wissen, ob es einen letzten Sinn gibt, es spricht ebenso viel grundsätzlich für die eine wie für die andere Möglichkeit. Beides sind Denkmöglichkeiten, keines ist eine Denknotwendigkeit, und das heißt mit anderen Worten, dass beide Waagschalen gleich hoch stehen, beides ist gleich möglich. In dieser Situation, mit dieser Situation konfrontiert, hat der Mensch zu entscheiden, ein fiat zu sagen, ein Amen, ein So-seiEs, ich weiß es nicht, aber ich entscheide mich dafür, wie Sie vorhin sagten, ich handle so, ich werde so leben, als ob es einen letzten Sinn gäbe, ich werde so leben, als ob es Gott gäbe. In die eine Waagschale werfe ich mein eigenes Sein, ich lasse meine Existenz sprechen, ich spreche mein fiat, und so sei es, d. h., 92

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ich werde so handeln, als ob. Und damit mache ich es ja wahr, damit schwinge ich mich auf zu seinem Mitarbeiter. Es ist also nicht mehr aus einem rein logischen Gesetz – denn es kann nicht mehr nur aus einem rein logischen Gesetz sein –, dass der Mensch diese Entscheidung trifft, sondern: er trifft diese Entscheidung aus der Tiefe seines eigenen Seins. Und das Ergreifen der einen Denkmöglichkeit ist damit zugleich auch schon mehr als das bloße Ergreifen einer Denkmöglichkeit – es ist auch das Verwirklichen einer bloßen Denkmöglichkeit. Es ist so, wie ich das kurz vor der Befreiung aus meinem letzten Konzentrationslager erlebt habe mit Gabriel Koch – das war ein junger Talmud-Student aus Ungarn. Am Tag vor der Befreiung habe ich mit ihm gestritten. Und da sagt er, du wirst sehen, Gott wird dich erhören, er wird uns retten usw. Da sagte ich, so und so viele werden nicht erhört. Mit welchem Recht kann ich annehmen, dass Gott mich erretten wird, befreien wird? Ich kann nur eines sagen, eines weiß ich, verdienen würde ich es nicht, zumindest nicht ganz. Und darauf ist er mir die Antwort schuldig geblieben. Und ich bin dann selber darauf gekommen: Ich muss mir eingestehen, dass ich es nicht verdiene, gerechterweise von Gott gerettet zu werden. Aber ich muss ebenso Gott zugestehen, dass er mir auch ohne gerecht zu sein, gnadenweise, das Überleben schenkt. Das muss ich gleichzeitig anerkennen. Das ist wie eine Gotteslästerung, wenn ich ihn für einen Gerechtigkeitsautomaten hielte. Ich darf das nicht einkalkulieren, sondern muss grundsätzlich eingestehen, dass es möglich wäre, dass er Gnade walten lässt. Diese Möglichkeit darf ich nicht ausschließen, aber ich darf nicht mit ihr rechnen.

Lapide: Würden Sie sich selbst als ein irgendwie gläubiger Mensch bezeichnen? Kurzum: Ohne auf semantische Haarspalterei einzugehen – glauben Sie an Gott?

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Frankl: Wer kann sagen, er »glaubt«? Ich glaube nicht, es sagen zu können, dass ich glaube. Aber zu dieser Erkenntnis der relativen Bedeutungslosigkeit des »Bekenntnisses« zu Gott können Sie nur vorstoßen, wenn Sie einmal ganz Mensch gewesen sind. Ich habe es in Erinnerung: Ich weiß, wo der SS-Aufseher gestanden ist, vor welcher Baracke … Und tief in meinem Inneren habe ich mir da so gedacht – ich weiß nicht mit welchen Worten: »Hast du das gesehen, na, schau dir das an!« Dieses hilflose Aufblicken … Habe ich damals mit mir gesprochen oder mit Gott? Kein Mensch belauscht mich, ganz ehrlich empört sich da etwas, sträubt sich etwas in mir: »Wie ist das möglich?«. Ich bin verzweifelt; ich schreie innerlich auf – und zu wem schreie ich auf, zu mir, zu Herrn Frankl, zu meinem Selbst oder zu Gott? Vielleicht habe ich damals im Konzentrationslager ja auch gesagt: »Hast du das gesehen, Herrgott?« Das weiß ich nicht mehr; aber wie Sie das benennen, ob Sie das jetzt Gott nennen oder nicht, ist eine sekundäre Frage.

Lapide: Man könnte sagen: Wenn es nicht den Zweifel an aller Theologie gäbe, wo bliebe dann das Wagnis des echten Glaubens, das das Menschlichste an unserer Gattung ist? Der Mensch ist an sich ein ziemlich übles Ding, eine Kloake, ein nackter Affe, ein aggressives Säugetier, das mit Geburtswehen zur Welt kommt …

Frankl: … nicht einmal Aggressionshemmungen hat wie jedes anständige Tier.

Lapide: Richtig. Die Tiere sind in vielen Dingen »menschlicher« als der Zweifüßler, der mit Geburtswehen seine kurzfristige Karriere beginnt, die mit einem letzten Röcheln dann ausklingt. Und dann hat er noch die Arroganz, sich homo 94

Lapide / p. 95 / 17.12.2004

sapiens zu nennen, der Wissende. Er vergisst, der Mensch, wir alle vergessen, dass wir letzten Endes nicht denken können, ohne zugleich zu glauben. Und auch der Wissenschaftler, der ganz säkular denkt, hat an der Basis seines Gedankengebäudes ein letztlich nicht hinterfragbares Axiomatisches, das sich weder der Logik beugt noch rational bewiesen oder widerlegt werden kann. Es genüge der Hinweis darauf, dass die Physiker immer noch nicht im Stande sind, das Leben zu definieren, dass die Astronomen noch immer über das Alter und den Umfang des Weltalls rätseln und dass die Psychologen, wie Sie mir sagten, noch immer nicht wissen, was eigentlich Schizophrenie ist oder wie sie in der Tat ganz geheilt werden kann.

Frankl: Sie wissen nicht einmal, wo der Mensch ist, geschweige denn, wo Gott ist.

Lapide: Warum legen wir die Arroganz nicht ab, uns homo sapiens zu nennen, und nennen uns homo credens? Denn lange, bevor wir wissen und unser sechsstöckiges Gebäude der so genannten Wissenschaft aufbauen, bauen wir eigentlich – wenn Sie so wollen – auf den Sand des Glaubens, der zum Fels werden kann, wenn dieser Glauben ein Nicht-Wissen bleibt statt ein schlechthiniges Vertrauen zu werden. Das Pech ist, dass der Glaube nicht jedermanns Sache ist, wie Paulus sagt. Manche glauben, ohne Glauben auskommen zu können, aber ist das nicht auch eine Art von Glauben? Manche brauchen einen Nasenstüber von oben, sei es eine Krankheit, einen Unfall, einen Verlust, der sie dann zum Nachdenken bringt. Aber ein Nasenstüber ist ab und zu ganz heilsam, um Menschen daran zu erinnern, dass der Glaube älter ist als das Wissen und dass auch das heutige Wissen ohne Glauben nicht auskommen kann. Das Unglück ist, dass es in unserer heutigen Situation viel, viel mehr Wissens bedarf, um sokratisch festzustellen, dass wir wenig oder gar nichts wissen. So viele 95

Lapide / p. 96 / 17.12.2004

Fragmente von kleinen Fakten muss man da heutzutage wegräumen, um sich unserer »docta ignorantia«, unseres »gelehrten Unwissens«, wie Nikolaus von Kues es nennt, so richtig bewusst zu werden.

Frankl: Wir sehen die Bäume der Tatsachen, aber nicht mehr den Wald der Wirklichkeit.

Lapide: Das ist es. Aber zu diesem durchzustoßen durch alle Computer und Fakten hindurch, das ist ein unverzichtbares Muss für die Menschwerdung zu Ende des 20. Jahrhunderts.

Frankl: Genau das habe ich ja vorhin gemeint, wenn ich davon sprach, dass das Ärgernis für einen zum Atheisten gewordenen oder sich für einen Atheisten haltenden Zeitgenossen in Zweierlei besteht: auf der einen Seite in dieser Kleinlichkeit der am missverstandenen Buchstaben haftenden Theologen und auf der anderen Seite im Größenwahn der Wissenschaftler, nämlich jener Wissenschaftler, die sich einseitig an dem Modell der Naturwissenschaften orientieren, fasziniert von einem Bild der Naturwissenschaften, das ja heute schon zerbröckelt und zerbröselt. Denken Sie an diese Physiker, die abschwimmen ins Yoga, in den Zen usw. Aber sehen Sie, was ich vorhin noch sagen wollte, ist dies: Sie haben einmal gesprochen von der Rede von Gott. Ich habe in einer Diskussion im Jahr 1945 in einem Kreis von Quäkern gesagt, dass ich irgendwie zweifle, ob man überhaupt von Gott sprechen kann, und manchmal den Verdacht habe, dass man vielleicht nur zu Gott sprechen kann, in der zweiten und nicht in der dritten Person. Ich habe damals spontan gesagt: Wer jemals in einem Graben gestanden hat, mit Hacke und Schaufel in einem Konzentrationslager, und in dieser Situation gebetet 96

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hat, zu Gott gesprochen hat, der wird daran zweifeln, ob man – zumindest in demselben Sinne und mit derselben Innigkeit – jemals von Gott sprechen kann. Und das gibt mir den Mut, Ihnen zu sagen, dass ich mich in den letzten Jahren wiederum dem annähere, was ich mit 14, spätestens 15 Jahren einmal gedacht habe. Ich meine eine Definition Gottes in dem Sinne, dass ich das Unendliche endlich mache, eine Herab-Verendlichung (de-finitio) Gottes zum Partner meiner intimsten Selbstgespräche. Wenn ein Mensch, auch der Atheist, die intimsten Selbstgespräche führt, mit sich selbst Zwiesprache hält, und »intimst« heißt in absoluter Ehrlichkeit und in absoluter Offenheit, also ohne jede Rücksichtnahme, – wenn wir uns wirklich nichts vormachen, dann haben wir das Recht, denjenigen oder dasjenige, an den wir uns da wenden, mit Gott zu bezeichnen. Denn ich bin überzeugt: Sollte es Gott geben, dann wird er es nicht weiter übel nehmen, wenn ihn jemand mit dem eigenen Selbst verwechselt und ihn daraufhin umbenennt. Der Atheist wird dann einfach sagen, das ist ja lächerlich, das ist ein Selbstgespräch, ich spreche ja mit mir selbst. Der Psychoanalytiker wird sagen, wir dialogisieren mit unserem Überich. Ein anderer wird sagen, wir sprechen mit unserem Gewissen. Und der religiöse Mensch sagt einfach, das nenne ich Gott. Mit anderen Worten ist der irreligiöse Mensch einer, der sein Gewissen in dessen psychologischer Faktizität hinnimmt, derjenige, der bei diesem Faktum als einem bloß immanenten quasi Halt macht – vorzeitig Halt macht, könnte man sagen, denn er hält das Gewissen für eine Letztheit, für die letzte Instanz, vor der er sich zu verantworten hat. Das Gewissen ist aber nicht das Letzte wovor des Verantwortlichseins; es ist keine Letztheit, sondern eine Vorletztheit. Das Gewissen sagt mir, wofür ich verantwortlich bin; kein wovor. Und ich glaube, dass dies nicht nur eine Realität ist, sondern eine super-personale Entität, eine Überperson, die mindestens Person sein muss. Was ist daran falsch? 97

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Lapide: Sehr wenig oder gar nichts. Ich würde Sie weiterdenkend einfach sagen, dass Gott die Stimme in mir ist, die mich aufruft, das zu werden, was ich werden zu können bestimmt bin.

Frankl:

Was er, der hinter der Stimme steht, gemeint

hatte mit mir.

Lapide: Mit mir, als er mich zur Welt brachte, als er mich mit Hilfe meiner Eltern zur Welt brachte. Die Stimme, die mich ruft, das zu werden, was ich noch nicht bin, aber sein sollte, mit anderen Worten, wie Buber so schön sagt: »Ich bin am Dasein Gottes überhaupt nicht interessiert, am ›Dusein‹ Gottes sehr«, oder wie Sie es sagen, und warum soll ich Sie hier nicht zitieren? In einer Ihrer wunderschönen Schriften über das Konzentrationslager sagen Sie doch: »Wenn ich mich in die Zeit der Konzentrationslager zurückversetze und sehe wie die Leute niedergeboxt wurden, hilflos, schuldlos, und ich mir innerlich so gedacht habe: Da schau dir an, was die Menschen machen können, schau dir das an, – ja, habe ich da mit mir gesprochen oder habe ich mit Gott gesprochen?« So weit Ihr Zitat, und ich wage zu antworten: Sie haben mit Gott gesprochen, der der einzig für Sie erfahrbare Aspekt Gottes ist – der innerlichste, das, was Sie im Innersten zusammenhält, was Ihnen die Kraft gab, wenn ich es sagen darf, vielleicht diese Hölle zu überstehen. Aber da wage ich nicht hinzutreten, weil ich das nicht durchleiden musste, was Ihnen bestimmt war. Wenn Sie, der Sie als erwachsener Mensch die Hölle des KZs zu durchleiden hatten, oder wie die Bibel sagt, den Kelch des Leides bis zur Neige trinken mussten und im Stande waren, das hasslos mit Liebe für die Menschheit zu überleben, so sind Sie ein lebendiger Gottesbeweis auf zwei Beinen. Denn wenn der Funke, der in Ihnen schwelte, all das unversehrt überleben konnte, und Sie dennoch weiter an die Menschheit glauben können, dann haben Doro98

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thee Sölle und die so genannten ›Gott ist tot‹-Theologen Unrecht. Denn wenn in Auschwitz geglaubt wurde, so dürfen wir, die wir nach Auschwitz leben, mit voller Sicherheit weiterglauben.

Frankl: Ja … ich verstehe Sie sehr gut, aber ich kann Ihnen nicht Recht geben, denn ich habe nicht das Recht, Ihnen Recht zu geben; ich bin da Partei oder Objekt, besser gesagt. Ich wollte nur eines noch bemerken zu dieser ganzen Problematik. Ich weiß nicht, ob Sie den alten Witz kennen, ich weiß nicht, wie alt er ist. Der Lehrer in der Schule erzählt den Kindern von der Wundertätigkeit Gottes und sagt: Ein alter Mann, dessen Frau kurz davor gestorben war, ein Kind hat er auch gehabt, ein kleines, und er hat kein Geld gehabt für eine Amme. Da hat der Herrgott ihm Brüste wachsen lassen und er konnte stillen. Woraufhin der so genannte kleine Moritz aufsteht und sagt: »So ein Blödsinn, entschuldigen Sie, Gott hätte das doch einfacher machen können, indem er den Mann ein Kuvert mit tausend Schilling hätt’ auf der Straße finden lassen.« Daraufhin sagt ganz erbost der Lehrer: »Blöder Bub, wenn Gott kann ein Wunder tun, wird er nicht Bargeld ausgeben!« Mit anderen Worten: Er appliziert die typische Kalkulation eines Geschäftsmannes auf Gott, und vergisst, dass Gottes Motive und Gedanken höher sind als die Wolken, als die Himmel usw., nämlich als das Koordinatensystem selbst, also schon gar nicht mehr räumlich lokalisiert oder gemessen werden können. Und das trifft auf so viele Dinge zu, die man immer wieder vorgetischt bekommt im Sinne der Theodizee. Im KZ, so kann man das mit einem Beispiel von La Rochefoucault zusammenfassen, zeigte sich: Der Liebe ergeht es wie dem Feuer: Die kleine Flamme wird durch den Sturm ausgelöscht, die große wird angefacht. Und genauso geht es den Liebenden durch die Entfernung, die wahre Liebe wird nur größer, die kleine Liebe erlischt. Das wende ich an und sage, ich glaube, sagen zu dürfen, dass der schwache Glaube ausgelöscht 99

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wurde im Konzentrationslager, aber der starke Glaube, der echte Glaube, könnten wir sogar sagen, der ist nur stärker geworden. Der echte Glaube ist stärker geworden, der schwache ist ausgelöscht worden.

Lapide: Ich glaube, was Sie erlebt haben, lieber Herr Frankl, ist im Mikrokosmos die gesamte Geschichte des Judentums und des Christentums.

Frankl: Ich kann so etwas natürlich nicht akzeptieren oder gar in Anspruch nehmen, ich kann nur sagen, dass ich dort gelandet bin im achtzigsten Lebensjahr. Und schon vor Jahrzehnten habe ich gesagt, dass die höchste Sinnerfüllungsmöglichkeit paradoxerweise im Leiden besteht, fakultativ, der Möglichkeit nach, also nicht nur trotz des Leidens, sondern im Leiden, durch das Leiden. Das Haeckelsche Gesetz behauptet, dass die Stammes-, die Phylogenese, sich verkürzt mit der Ontogenese darstellt und abbildet.

Lapide: Er mag Recht haben, denn wenn ich das Christentum und das Judentum aus der absurden Distanz von drei Lichtjahren überblicke, so sind sie doch beide Religionen, die aus dem Scheitern geboren wurden und am Leiden das Hoffen gelernt haben. Das Judentum entstand in der Armseligkeit unserer nomadischen Stammväter, die kein Stück Brot mehr ihr Eigen nennen konnten, die wie Beduinen in der Wüste herumirrten, von Hungersnot zu Hungersnot.

Frankl: Die nicht einmal Emigranten oder Immigranten waren, sondern Migranten.

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Lapide: Migranten ohne Bleibe auf dieser Welt, und die an eine Verheißung glaubten, die dann mit ihren Nachkommen 400 Jahre lang als Sklaven und als Fronarbeiter die Pyramiden gebaut haben, die heute noch für die Touristen die Hauptattraktionen von Ägypten sind, die dann ins Gelobte Land kamen, nur um eine unglaublich lange Kette von Vertreibungen, von Exilen, von Massenmorden und Unterdrückungen zu erleben, und die die Kraft hatten, wie Münchhausen sich aus dem Sumpf der eigenen Niederlagen immer wieder am Schopf der eigenen Zuversicht herauszuziehen – in der festen Überzeugung, dass die Zukunft die größte Dimension Gottes ist. Und was ist denn das Christentum? Es kommt zur Welt durch das totale Scheitern eines armseligen Rabbis aus Nazaret. Ärger scheitern geht wohl kaum. Man hat ihn ausgelacht, steht im Markusevangelium. Er konnte keine Wunder vollbringen in Nazaret, seiner Vaterstadt. Seine Familie sagte von ihm wörtlich: Du bist von Sinnen. Der Volksmund in Galiläa nannte ihn einen Fresser und einen Säufer und einen Freund von Huren, alles wörtliche Zitate aus dem Neuen Testament. Und letztlich endet er am Kreuz, wie der ärgste Verbrecher. Und aus dieser Talsohle des Scheiterns, die kaum niedriger mehr sein kann, entstand auf dem jüdischen Mutterboden der Glaube an die Auferstehung, der Glaube an das Himmelreich und der Glaube an die Heilbarkeit dieser kranken Welt. Wenn das nicht eine Epopäe, ein Heldenlied der Hoffnung ist, das am Scheitern selbst und nicht trotz des Scheiterns das Hoffen erlernt hat, dann habe ich die Bibel falsch gelesen. Zahlreich und bedeutsam sind die Gemeinsamkeiten, die die beiden Bibelreligionen verbinden, aber keine reicht tiefer in den Wurzelgrund der Schrift hinab als dieses leidgeprüfte Hoffen-Können – auch gegen alle Hoffnung oder Vernunft. Aber wissen Sie, Herr Frankl, was wir nicht mehr tun sollten, ist vom Optimismus sprechen. Es ist ein sehr gefährliches Wort. Es will nämlich einen absoluten Wert, der auf dieser relativen Erde undenkbar ist. Das Beste, das »optimum«, kann nur Gott schaffen; oder es ist das summum bonum, von dem Sie als 101

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Synonym Gottes sprachen. Vielleicht sollten wir nach Auschwitz insbesondere vom Meliorismus sprechen, unserer Fähigkeit und unserem Drang, die Welt zu verbessern, und sei es auch nur um zwei kleine Millimeter. Das wäre erstens bescheidener, zweitens wäre es machbarer, und drittens wäre es eine Garantie gegen die Enttäuschungen, die jeder Optimismus durch Illusionen und Utopien hervorbringen muss.

Frankl: Auf dem dritten Weltkongress der Logotherapie im vorigen Jahr an der Universität Regensburg habe ich einen Vortrag unter dem Titel: »Argumente für einen tragischen Optimismus« gehalten. Da habe ich gesagt, das ist ein Optimismus trotz der tragischen Aspekte, trotz der tragischen Trias, die besteht aus Leid, Schuld und Tod. Denn es liegt an uns, dass wir auch diese Sachen in etwas Positives kehren, dass wir das Leid verwandeln in einen inneren Triumph, dass wir die Sterblichkeit als einen Ansporn zu verantwortlichem Tun auffassen und an der Schuld wachsen, indem wir anders werden, uns adeln. Also aus Tod verantwortliches Handeln, aus Schuld Wandlung und aus Leid innere Befreiung. Dann sage ich mit anderen Worten, »to make the best of it«, the best aber heißt Optimum. So gibt es einen Optimismus trotz der Tragik, ganz in Ihrem Sinne.

Lapide: Wenn Sie von der Trias sprechen und Leid betonen, so meinen Sie im Grunde das, was die Bibel uns auferlegt, wenn sie sagt: Du sollst den Fremdling lieben wie dich selbst, denn ein Fremdling bist du gewesen in Ägypten. Rein logisch hieße das: Du bist wie der letzte Hund und der Dreck auf der Straße behandelt worden, also behandle die anderen, sobald du selbstständig geworden bist, genauso. Theologisch aber heißt das: Du Jude hast alle Qual und Pein der Hölle in diesem Nilland durchleiden müssen, da weißt du am besten, was Leiden bedeutet und was es einem Menschen antun kann. 102

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Daher behandle den Fremdling so, wie du nie behandelt wurdest, wohl aber behandelt werden willst. Das ist der Bibelsatz, der Leiden einen Sinn verleiht.

Frankl:

Verwandle das Leiden in eine Leistung.

Lapide: Das ist es. Ich glaube, das ist das Edelste im Menschen, das es gibt. Hier lodert der göttliche Funken hell auf.

Frankl: Das gibt mir ein Stichwort. Sie sagen, das ist das Edelste, was es im Menschen gibt. Wir haben bisher kein gutes Haar an der Wissenschaft gelassen. Und ich muss sie jetzt verteidigen, nicht nur weil ich eine Professur für Neurologie und Psychiatrie habe, also quasi ein Wissenschaftler bin, sondern es ist mir absolut ein Anliegen. Es gibt drei Grundmöglichkeiten, Sinn zu finden, Werte zu schaffen: erstens, indem ich etwas tue, etwas schaffe; zweitens, indem ich etwas erlebe, indem ich liebe, also etwas in die Welt hineingebe oder etwas der Welt entnehme; aber drittens, wenn alle Stricke reißen sozusagen, wenn ich eine Situation nicht ändern kann, dann liegt es an mir, auch das noch sinnvoll zu gestalten, indem ich nämlich das Leiden in eine Leistung verwandle. Es sind also zwei Dimensionen: waagrecht die Dimension des homo sapiens, das geht zwischen Scheitern (negativ) und Erfolg (positiv), die Dimension des so genannten Tüchtigen und Erfolgreichen, und senkrecht dazu ist die Erfüllung, die Dimension des homo patiens, der sich noch im Leiden erfüllen kann, im Scheitern. Mit anderen Worten: Der Erfolgsmensch kennt nur zwei Kategorien, und nur in ihnen denkt er: Erfolg und Misserfolg. Zwischen diesen beiden Polen bewegt er sich auf der Linie einer Erfolgsethik. Anders der homo patiens: Seine Kategorien heißen längst nicht mehr Erfolg und Misserfolg; vielmehr bewegt er 103

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sich zwischen den Kategorien Erfüllung und Verzweiflung. Mit diesem Kategorienpaar stellt er sich senkrecht zur Linie der Erfolgsethik; denn Erfüllung und Verzweiflung gehören einer anderen Dimension an als Erfolg und Misserfolg. Diese Paare bewegen sich auf unterschiedlichen Achsen: Erfolg und Verzweiflung sind ebenso kompatibel wie Erfüllung und Misserfolg. Und nur durch diese weitere Dimension des homo patiens können Sie verstehen, dass erfolgreiche Leute verzweifelt sein können, wenn sie keinen Sinn sehen und Selbstmord begehen. Und andererseits Menschen im Scheitern noch sich erfüllen können dadurch, dass sie einen Sinn sehen. Und diese vertikale Dimension – orthogonal nennt man das in der Psychologie – konnten verschiedene, insbesondere Elisabeth Lukas, durch so genannte Faktorenanalyse nachweisen: Diese Werte stehen höher. Diese dimensionale Superiorität ist statistisch und experimentell nachweisbar, und dazu dient die Wissenschaft. All dies kann man statistisch nachweisen. Wenn das nicht wäre, würde ich es in den letzten Jahren oder Jahrzehnten nie gewagt haben, diese Theorien von mir hinauszuposaunen in dem behavioristisch orientierten Amerika. Nichts also gegen die Wissenschaft dort, wo sie am Platz ist, dort, wo sie etwas verifizieren und validieren kann. Mehr als das. Man kann auch religionspädagogische, um nicht zu sagen religionspsychologische Erkenntnisse unterbauen. Durch Statistik habe ich nachweisen können, dass Leute, die ungläubig waren, keineswegs abhängig waren von einer bösen Vaterimago, und dass die Gläubigen keineswegs quasi eine gute Vaterimago gehabt haben. Genau das Gegenteil ist herausgekommen: Sie haben trotzdem glauben gelernt oder sind gläubig geblieben, trotzdem ihr Vater ihnen eine üble Vaterimago vorgegeben hat. Das sind statistische Ergebnisse. Und Sie können den unbewussten Gott sogar röntgenologisch nachweisen. Wissen Sie wie? Das ist in Israel geschehen. Das verdanke ich dem Rabbi Blumenthal, der einmal Landesrabbiner von Bayern war und ein Pädagogikprofessor 104

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in Jerusalem ist. Blumenthal hat in einem Artikel in den späten 40er-Jahren in einer Jerusalemer Zeitschrift als Bestätigung für meine Theorie vom unbewussten Gott geschrieben: Da kommt einmal eine Frau mit Spasmen im Magen und im Dickdarm in die Behandlung. Und die Spasmen sind merkwürdigerweise nur aufgetreten, wenn sie Schweinefleisch gegessen hat. Jetzt hat man geforscht nach einer Allergie oder weiß ich was. Dann hat man sie geröngt und hat ihr Schweinefleisch gegeben. Daraufhin sind die Spasmen gekommen. Dann hat man ihr koscheres Fleisch gegeben, da sind die Spasmen ausgeblieben. Und dann hat man ihr eingeredet, es ist Schweinefleisch, obwohl es Rindfleisch war, und umgekehrt hat man ihr Rindfleisch gegeben und ihr eingeredet, es ist Schweinefleisch, und die Spasmen sind nicht gekommen, wenn sie Schweinefleisch gegessen hat, sondern nur, wenn sie geglaubt hat, dass sie Schweinefleisch isst. Damit, habe ich gesagt, ist es also möglich, die unbewusste Religiosität röntgenologisch nachzuweisen. Hier enthüllt sich die unbewusste Religiosität des Menschen. Damit ist gemeint, dass Gott von uns immer schon unbewusst intendiert ist – dass wir immer schon eine, wenn auch unbewusste, so doch intentionale Beziehung zu Gott haben. Und diesen Gott nennen wir eben den unbewussten Gott; gemeint ist damit der uns unbewusste Gott. Insofern besagt die Formel vom unbewussten Gott also nicht, dass Gott an sich, für sich, unbewusst sei. Sie besagt viel eher, dass unsere Beziehung zu ihm unbewusst sein kann, nämlich verdrängt, und auf diese Weise mitunter auch uns selbst verborgen.

Lapide: Dass Religion und Religiosität treibende Faktoren in der Weltgeschichte sind, haben sogar Marxisten bereits verstanden. Mit Gott selbst sind sie noch nicht ins Reine gekommen. Aber er hat Geduld mit ihnen. Eines steht fest: Gott hat viele Namen, Erfolg ist keiner unter ihnen. Gott mag unter seinen Namen den Leidensknecht haben, das Leiden-Müssen, 105

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das stellvertretende Leiden, das läuternde Leiden, Liebeszüchtigungen, aber Erfolg ist keiner der Synonyme Gottes.

Frankl: Das war’s nur für die Calvinisten, glaube ich, mit ihrer Leistungsethik, die den Kapitalismus erst möglich gemacht hat. Max Weber hat das doch gesagt.

Lapide: Das ist langsam aus der Mode gekommen, es mag aber ein Faktor beim Wachstum Amerikas gewesen sein, das können wir historisch nicht bestreiten. Mit Recht haben Sie für die Wissenschaft eine Lanze gebrochen. Ein Glaube, der nicht bereit ist, sich der Wissenschaft zu stellen, läuft Gefahr, in Aberglauben auszuarten. Aber eine Wissenschaft, die glaubt, völlig ohne Glauben auszukommen, ist unterwegs zum Größenwahnsinn; denn auch die Wissenschaften, wie wir sie alle nennen, ruhen mit beiden Füßen auf Glaubenshypothesen, die jenseits aller Beweisbarkeit sind. Glaube und Wissenschaft, die sich seit der Aufklärung so lächerlich und so vergeblich befehden, gehören zusammen. Zwischen den Übergläubigen, die die Worte der Bibel anbeten, und den Ungläubigen, die nur an das glauben, was sie mit ihren zehn Fingern betasten können, zwischen diesen beiden Extremen der menschlichen Wahrheitssuche sollte endlich eine Versöhnungsformel gefunden werden. Und so schwer sollte sie gar nicht zu finden sein. Die Wissenschaften insgesamt erforschen die Materie, die Energie, das schon Gegebene in all seinen Erscheinungsformen und Wirkungsweisen. Der Glaube hingegen geht vom Geber alles Lebens aus. Die Wissenschaft nimmt Gottes Werk unter die Lupe; der Glaube sucht Gott selbst. Die Wissenschaft befasst sich mit der »Weltzeit« aller menschlich erforschbaren Chronologie; der Glaube hat es mit der Urzeit und der Endzeit zu tun. Seine Fragen zielen auf die ersten und die letzten Dinge, die außerhalb der wissenschaftlichen Kompetenz liegen, die nur die »Mitteldinge« unserer Welt umfassen 106

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kann. Der Anfang und das Ende, der Ursprung aller Dinge und ihre letztgültige Vollendung bleiben noch immer im Alleinbereich der Religion. Die Antenne des Intellekts, um mit Hilfe unserer fünf Sinne unsere Welt und unsere Umwelt vernünftig wahrzunehmen, und eine zweite Antenne, die den Horizont der Wahrnehmbarkeit über den Bereich der fünf Sinne weit hinaus verlängert, die Antenne des Glaubens, sollten gleichzeitig eingeschaltet sein, wobei die beiden auf der derselben Wellenlänge operieren sollten, um endlich das engstirnige Entweder-Oder aus der Welt zu schaffen und mit Hilfe eines weltoffenen Sowohl-als-auch uns Menschlingen zu einer zweigleisigen Wahrheitssuche zu verhelfen.

Frankl: Zweigleisig würde ich dann noch interpretieren in einem ganz spezifischen Sinne, nämlich im Sinne des stereoskopischen Sehens. Jedes der beiden Augen sieht die Dinge verschieden. Aber gerade durch dieses Verschiedensein gewinnen wir eine ganze Dimension, nämlich die Raumdimension: Das räumliche Sehen ist nur möglich durch die Divergenz.

Lapide: Wäre das nicht der Anfang einer gemeinsamen Arbeit? Denn eines ist doch klar: Die psychologischen Wissenschaften – wenn ich sie bündeln darf – suchen das Wohl des Menschen, sein Ganz-Sein, seine Gesundung; die Religionen suchen das Heil des Menschen, wobei im Hebräischen Wohl und Heil dasselbe Wort sind, weil der Hebräer nicht bereit ist, den Menschen zweizuteilen in einen Körper und eine Seele. Er kennt nur den gesamten, den ganzheitlichen Menschen, sodass sein Wohl von seinem Heil unabdingbar abhängig ist und beide Worte eigentlich dasselbe besagen.

Frankl: Ich muss noch ein paar Nachträge anbringen. Erstens sagten Sie, Gott habe viele Namen. Ich zitiere in diesem 107

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Zusammenhang gerne Gordon W. Allport, der seinerseits alte indische Religionssysteme anführt: Da bekommt jeder, der eingeweiht wird, einen geheimen Namen Gottes von seinem Guru bekannt gemacht. Ich weiß nicht, ob Sie diese Arbeit von Gordon W. Allport über Religion kennen. Allport sagt eben, dass nur ein Teil der Wahrheit bekannt sein kann, nur ein Zipfel vom Herrgott. Jeder bekommt diesen geheimen Namen und niemand darf ihn verraten, niemand darf äußern, welchen Namen man ihm insgeheim als den Aspekt Gottes gegeben hat. Sodass es eigentlich unendlich viele Konfessionen und Religionen gibt. Nun kann man fragen, ob dieser religiöse Pluralismus eines Tages überwunden werden wird, indem ein religiöser Universalismus an seine Stelle tritt. Aber ich glaube nicht an eine Art religiöses Esperanto. Im Gegenteil; wie mir scheint, gehen wir nicht auf eine universale Religiosität zu, sondern viel eher auf eine zutiefst personale, aus der heraus jeder zu seiner eigenen, persönlichen, seiner ureigensten Sprache finden wird, wenn er sich an Gott wendet. Weiter sprachen Sie von Jesus, von der ganzen Menschlichkeit und Schwäche seiner Existenz. Das erinnert mich an Leo Baeck, der in einem Buch nachzuweisen versucht, wie viele Überlagerungen sich historisch sedimentiert haben, bis das Neue Testament das Neue Testament geworden ist. Wenn das alles von A bis Z Verfälschungen wären, so ist es ja doch das Wunder, dass durch die Verfälschungen hindurch doch herausgekommen ist, was er wollte. Wenn es dem Herrgott passt, äußert er sich auch durch die ganzen Verfälschungen hindurch, trotz der Verfälschungen, und sogar noch in den Verfälschungen. Und die Wahrheit kann unter Umständen auch dort bestehen, wo historische Verfälschungen vorgenommen waren. Dann haben Sie gesprochen von dem Ich und Du, von der Priorität des Du vor dem Ich, wobei ich zurückgreifen will auf die drei Werte, Sinnmöglichkeiten, von denen ich gesprochen habe, genauer jetzt vom Sinn im Leiden. Nur hat der Sinn, haben die Werte Priorität, die darin bestehen, dass ich etwas tue, 108

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dass ich etwas schaffe, dass ich etwas ändere in der Welt. Ich darf nicht sagen, ich mache nichts, verharre tatenlos, sondern ich nehme das Leiden auf mich. Ich habe Krebs, aber ich lasse mich nicht operieren, das gibt’s nicht. Es ist daher klar, dass ein Einstellungswert in diesem Sinne sich von vornherein ohnehin nur dann verwirklichen lässt, wenn das, zu dem der Mensch sich einstellt, auch wirklich schicksalhaft ist, dass es wirklich unabänderlich ist. Es wäre ein Widerspruch in sich selbst, wenn man sich dem Erleiden, dem Erdulden, der »Duldung« von etwas hingäbe, das kein notwendiges Leiden darstellt, und darin trotzdem eine Leistung sähe. Das wäre Masochismus und kein Heroismus. Zuerst muss ich also versuchen, die Leidenssituation zu verändern, indem ich die Ursache des Leidens beseitige. Das hat die Priorität. Aber wenn es nicht anders geht, wenn der Krebs sich als inoperabel erweist, wenn ich im KZ bin und nicht fliehen kann usw., dann hat die Einstellungsänderung Superiorität. Da müssen wir zwischen Priorität und Superiorität unterscheiden. Nun haben wir von dem Es und der Priorität des Du gegenüber dem Ich gesprochen. Ich habe einmal, um der Psychoanalyse so weit Recht zu geben, als ich es vermag, gesagt, dass Freud die Großtat seiner Psychoanalyse illustriert hat durch die Trockenlegung der Zuidersee: Wo Es war, soll Ich werden. Und ich habe ergänzt, dass tatsächlich das Es integriert werden muss im Ich, aber, wenn er sagt, wo Es war, soll Ich werden, muss ich hinzusetzen, aber das Ich kann nur Ich werden am Du. Also mit einem Wort: Die Integrierung der Triebstruktur ist letzten Endes nur möglich in der liebenden Zuwendung zum Partner. In der Liebe erst werden sie im hegelschen Sinne im dreifachen Sinne aufgehoben.

Lapide: Die Griechen sagen’s in anderen Worten, aber meinen dieselbe Wahrheit. Sie sagen, dass der Mensch ein zoon politikon ist, ein Gemeinschaftstier, das alleine nicht existieren kann. Und die Griechen nennen denjenigen, der ein Eigen109

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brötler ist, nur mit ta idia, seinem Eigenen, beschäftigt ist, einen Idioten. Ich glaube, dass diese beiden keine gemeinsame Welt haben. Daher ist der Mensch, wie Buber sagt, ein dialogisches Wesen, das in Monologen überhaupt nichts werden kann, geschweige denn ein Mensch. Ein dialogisches Wesen, das das Du zur Ich-Werdung braucht. Und das hat Freud, so scheint mir, vernachlässigt.

Frankl: Ich kann auch sagen warum. Deshalb, weil der Dialog nur zwischen Ich und Du hergestellt wurde. Aber nach der Sprachtheorie hat die Sprache drei Dimensionen. Erstens ist sie Ausdruck, Ausdruck des Ich. Zweitens ist sie Appell, Appell an das Du. Drittens ist sie Darstellung eines Sachverhalts, einer Wirklichkeit. Mit anderen Worten, solange ich nur dialogisiere, wie es z. B. in den Encountergruppen geschieht, solange nur das der Fall ist, solange ist das noch kein wahrer Dialog, sondern nur ein Monolog à deux. Der wirkliche Dialog kommt erst in dem Moment in Gang, wo ich mich selbst ausdrückend mich nicht nur an einen anderen wende, sondern im Gespräch mit ihm von etwas spreche. Und mit der Liebe hat das insofern viel zu tun, als Saint Exupéry einmal gesagt hat: Liebe heißt nicht, einander in die Augen gaffen, sondern gemeinsam in eine Richtung blicken. Damit ist das Dreieck gleichsam aufgeschlossen. Es werden die Blickrichtungen parallel, d. h. sie gehen in die Unendlichkeit und treffen sich als Parallele erst im Unendlichen. Also mit einem Wort, man könnte sagen, die wirklich Liebenden gaffen nicht nur einander an, sondern sie blicken parallel ins Unendliche, sie beten gemeinsam. Liebe ist ein gemeinsames Gebet, ein Gebet à deux, ein Gebet zu zweit.

Lapide: Ich möchte hier etwas anmerken: Als Immanuel Kant seine berühmten drei Fragen hatte: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?, da fassten 110

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sich alle drei für ihn in der Kardinalfrage zusammen: Was ist der Mensch? Die Hebräische Bibel, die wohl am längsten über diese Urfrage nachgedacht hat, nennt ihn »Adam«, weil er und seine Nachkommen aus einem Klumpen »Adamah«, das heißt Erde, gestaltet wurden, ein »Erdling« also, wie Buber verdeutscht, dem ein Hauch der Göttlichkeit eingestiftet worden ist. Das Menschenbild ist weder utopisch noch hoffnungslos. Der erste Erdling, der einen Bruder hatte, schlug ihn tot, und dennoch rücken, trotz Sintflut, Turmbau und Sittenverderbnis, die Nachfahren Adams zu Bundgenossen Gottes auf. »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« (Psalm 8,2) Diese menschenverächtlich klingende Frage an Gott wird von Engeln gestellt, worauf der Schöpfer selbst – in der jüdischen Überlieferung – als Anwalt seiner Kreatur auftritt. Denn, wie es in einer uralten Legende heißt: Gott schuf am zweiten Tage die Engelsscharen mit ihrem natürlichen Trieb zum Guten und ihrer Unfähigkeit zu sündigen. Am nächsten Tag schuf er die Tierwelt mit ihren animalischen Begierden, jedoch an keinem der beiden fand er Wohlgefallen. »Ich will daher Menschen machen«, sagte der Herr der Welt, »als Engeltier, und ihm mein Ebenbild verleihen, auf dass er frei sei zu wählen zwischen Gut und Böse, Fluch und Segen.« So steht er nun vor uns da: Ein Bündel von Widersprüchen aus Fleisch und Blut; Ebenbild und Erdenkloß; Gottes Partner und Widerpart; erdgebunden und himmelanstrebend; Erbauer von Gaskammern und ihr Opfer, friedliebend und Krieg führend zugleich; ein Ausrufezeichen zwischen oben und unten, wenn es gut geht; und ein gekrümmtes Fragezeichen, wenn die Leiden über ihn kommen, die keinem Adamskind erspart bleiben. Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt, der Mensch müsse überwunden werden, womit er eigentlich Blaise Pascal Recht gibt, der behauptet, der Mensch reiche unendlich über den Menschen hinaus. Beide fassen dieselbe rabbinische Binsenwahrheit ins Auge, die besagt: Alle Dinge hat Gott geschaffen, aber den Menschen schuf Er auf Hoffnung hin. Im Klartext: Der Mensch soll sich nicht 111

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abfinden mit sich selbst und seiner Welt, wie sie sind; er darf und kann und soll sie beide veredeln. Dazu aber bedarf es der Beherzigung einer Bibelwahrheit, die viel tiefer schürft, als sie auf Anhieb klingt: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei« (Gen 2,18). Um sie in all ihrer Sinntiefe auszuloten, fragen die Meister der Kabbalah: Warum schuf Gott die Welt? Die Antwort lautet: Aus Liebe, denn auch der Herr der Welt wollte nicht allein sein. So ist also die Liebe göttlichen Ursprungs, und lieben heißt Gott nachahmen – das höchste Ziel der jüdischen Ethik. Denn nur die Liebe bedarf eines Gegenübers, der anders ist als du und dennoch dir im Wesen gleicht. So sind wir Menschen ganz anders als Gott und dennoch Träger seines Ebenbildes. Daraus wird gefolgert: Wenn Gott die Welt aus Liebe schuf, und Liebe so den letzten Sinn der Wirklichkeit erschließt, dann kann wahre Identität nur im Nächsten zu finden sein; dann ist Gott nicht im Sein und nicht im Haben zu erfahren, sondern nur im Teilen und Mit-Teilen – und im Zueinander-Streben aller Liebesmacht: von der Anziehungskraft der Erde über die unio mystica aller Gottsucher bis hin zur Kernfusion der Atomphysiker – alles verschiedene Manifestationen ein und derselben »Gottesflamme«, wie sie im Hohelied heißt; eine Vielzahl von Kräften, die wir gebündelt als Liebe bezeichnen. Erfülltes Leben ist also weder die Ent-Gegnung der Konfrontation noch die Ver-Gegnung der Hass-Liebe oder gar die Zer-Gegnung der Feindschaft, sondern wahre Be-Gegnung in echter Zweisamkeit. Da also der Mensch ein dialogisches Wesen ist, das ein Du benötigt, um an ihm heranzureifen, zu wachsen und sein Selbst zu werden, wie kann man es dem Menschen liebevoll beibringen, dass er zum Lieben geboren ist? Ja, dass er nur durch den Umweg zum Anderen hin sein Selbst am besten liebt.

Frankl: Aber wenn wir den Leuten sagen: »Liebt euch, seid nett zueinander«, so wäre das der größte Blödsinn, den wir begehen könnten, denn es wäre ein Vermoralisieren des Problems. Wenn aber die Menschen gemeinsam die sie konfrontie112

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renden Aufgaben in Angriff nehmen, dann werden sie auf einmal kooperativ – nicht auf Kommando hin, sondern als Folge. Daher kann ich auch niemandem befehlen: liebe! Dann kommt ihm schon die Galle hoch. Vielmehr muss ich ihm liebenswert, oder zumindest liebenswürdig erscheinen, dann wird er auch lieben. Genauso wenig kann ich von jemandem Glauben erzwingen. Da liegt meiner Meinung nach ein großer Fehler der einzelnen Konfessionen. Man sagt: »Du musst glauben! Und wenn du nicht glaubst, bist du verdammt.« Psychologisch gesehen ist das das Ärgste, was man jemandem antun kann: Statt dass ich den Herrgott als glaubwürdig hinstelle, erreiche ich das Gegenteil. Das ist ein komischer alter Herr, der Wert darauf legt, dass ausgerechnet ich an ihn glaube. Und wenn nicht, dann ist er böse, und daraufhin werde ich verdammt. Wenn man Gott so als Pedanten hinstellt, dann tut man in den Augen eines Menschen – sagen wir eines Kindes – dem Gottesbild das Ärgste an, was man ihm antun kann. Er will, dass ich glauben soll? Na bitte, also glaube ich – wenn ich ihm damit einen Gefallen tun kann … Aber das kann doch kein echter Glauben sein, weil die Intentionalität außer Acht gelassen wurde. Ich pflege das am Beispiel des Humors darzulegen. Wenn ich Ihnen befehle: »Lachen Sie!«, dann werden Sie bestenfalls ein gekünsteltes Lächeln herausbringen. Wenn ich Ihnen aber einen Witz erzähle, dann haben Sie einen Grund zum Lachen. Das gilt auch in anderen Zusammenhängen. Man ist in dem Maße geistig, in dem man sich nicht selbst bespiegelt, sich nicht auf sich selbst, sondern auf etwas oder jemanden in der Welt hin ausrichtet, über sich selbst hinausreicht, auf ein Du hin. Mensch sein heißt, intentional ausgerichtet sein, auf anderes Sein und auf mitmenschlich Seiendes. Aber in dem Moment, wo ich es reflektiere, gerinnt es. Subjekt heißt aber, intentional auf Objekte ausgerichtet sein. In dem Moment, wo ich etwas Subjektives intendiere, objektiviere ich es. Und in dem Maße verliere ich das eigene Objekt aus dem Blick des Subjektiven. Man kann also diese Dinge nicht intendieren, weil sie selber intentional 113

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sind. Zum Glauben braucht es Glaubwürdigkeit, zum Hoffen braucht es einen Grund, und um geliebt zu werden muss jemand liebenswert oder liebenswürdig sein. Man kann diese Dinge nicht befehlen.

Lapide: Wenn ich das auf den Dialog beziehe, würde ich sagen: Ein echter Dialog verändert beide Partner. Aus einem echten Dialog gehen beide anders heraus, als sie hineingegangen sind. Denn sie haben ein Stück vom anderen mitbekommen, sich einverleibt, ob sie es nun wissen oder nicht. Kommen wir zum Sinn. Sie sprechen, Herr Frankl, mit Recht von Sinn – was Sie von Ich und Du sagten, ist eine interessante Sache in der Grammatik. Alle Konjugationen der indogermanischen Sprachen beginnen mit ich, du, er. Ich lebe, du lebst, er lebt. Nur das biblische Hebräisch beginnt mit der dritten Person. Der Verbalstamm des Hebräischen kommt in der dritten Person der Konjugation vor. D. h. auf Hebräisch konjugiere ich: er lebt, ich lebe, du lebst. Er ist der Erste. In allen indogermanischen Sprachen fängt es mit dem Egoismus an und »Er« ist der Dritte. Das Er, das, wie sie wissen, bei Buber die Umschreibung Gottes ist, ist in der hebräischen Grammatik immer der Erste. Ich finde da auch eine gewisse Symbolik in Hinblick auf die Theologie.

Frankl: Vielleicht kein Wunder, dass die Juden diese beiden Leistungen hervorgebracht haben. Wer anders als Sie könnte herausfinden, ob nicht dieser linguistische Primat der Selbsttranszendenz irgendwie zusammenhängt mit der einmaligen Leistung des Monotheismus, der Überwindung des Polytheismus? Und damit des Götzendienstes! Ist das möglich?

Lapide:

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Ja, sogar wahrscheinlich.

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Frankl: Dass dieses Er schon nicht mehr im Plural gedacht werden kann. Und noch etwas. Daran hängt natürlich das eine, das Hauptgebot, die erste und oberste Charakterisierung des Gottes als des Einen.

Lapide: Herr Frankl, wir haben beides, sowohl Elohim als auch Adonai. Die hauptsächlich angerufenen Namen Gottes sind plurale tantum. Wir haben den Gottesnamen in der Mehrzahl, konjugieren ihn aber als Handelnden nur in der Einzahl. Hiermit haben wir beides getan: die Vielzahl der Erscheinungsformen und Wirkungsweisen Gottes im Plural ausgedrückt, aber in der Einzahl seiner Einzigkeit oder All-Einigkeit ebenfalls Ausdruck verliehen. Die unitas multiplex des Thomas von Aquin wäre folglich auch jüdisch gedacht akzeptabel. Wir haben Gott nie auf irgendeine Weise beschränkt. Vergessen Sie nicht: Die Selbstoffenbarung Gottes, die richtungsweisend für das Judentum ist, ist in drei Worten aus dem Dornbusch enthalten: »Ich werde sein als der ich da sein werde«, was in drei Worten drei Dinge aussagt: Ich werde da sein heißt die Verlässlichkeit Gottes, d. h. nur ich und kein anderer. Ich werde da sein, d. h. keiner von euch kann voraussagen, in welcher Weise ihr mich treffen werdet, sei es in euerm Innersten oder sei es als Phänomen der Gesetzlichkeit des Universums, das für Einstein eine täglich sich erneuernde Offenbarung Gottes war.

Frankl: … als der ich da sein werde: nicht nur, ihr könnt es nicht wissen, sondern auch, ihr könnt nicht wissen in welcher Mannigfaltigkeit.

Lapide: Ganz richtig. Sowohl Mannigfaltigkeit als auch Erscheinungsform. Und daher sind diese drei Selbstoffenbarungsworte Gottes eigentlich die einzige – wenn man so sa115

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gen kann – Definition Gottes, die sich der gläubige Jude erlaubt.

Frankl: Das scheint auch Hitler versucht zu haben, der mit drei anderen Worten, sein Lieblingswort, manche Rede, manchen Satz in seinen Reden eingeleitet hat: So oder so! Ich werde da sein, so oder so! Und ihr könnt nie wissen, wie.

Lapide: Hitler wollte letzten Endes Gott entthronen, um sich selbst zum Herrn über Leben und Tod zu krönen. Die Antwort des Himmels war dieselbe, die der Prophet Ezechiel einst an den größenwahnsinnigen König von Tyrus ergehen ließ: »Weil sich dein Herz erhebt und spricht: Ich bin Gott, während du doch nur ein Menschlein bist, darum siehe: Ich will Fremde über dich schicken, die sollen ihr Schwert zücken und all deine Pracht vernichten. Sie werden dich hinunterstoßen in die Totengrube, auf dass du den Tod eines Erschlagenen stirbst« (Ez 28,22ff.). So geschrieben in Jerusalem vor 2500 Jahren. So geschehen auch in Berlin im April 1945. Alle, die sich zur Gottheit erheben, also absolut sein wollen, die enden wie das letzte Vieh. Das hat Hitler als Letzter in einer langen Kette von selbstvergotteten Tyrannen der Menschheit wieder bewiesen. Ich hoffe, weitere Beweise werden nicht nötig sein. Lehrreich bleibt die Lektion: Wo immer der Himmel durch Ideologien entgottet wurde, da wurde letztlich auch der Mensch entmenschlicht. Zum Sinn: Sie sprechen von der Sinnsuche, von dem Willen zum Sinn und zur Sinnfindung als ein zentrales Therapeutikum, also auch als eine Inhaltsgebung für ein sinnvolles Leben, wie es auf Deutsch heißt. Ich kann das aus vollem Herzen befürworten. Nur im Deutschen klingt mir das Wort »Sinn« zu statisch, zu festgeschrieben, denn einen Sinn hat eine Sache, bevor ich geboren wurde und nachdem ich gestorben sein werde. Es 116

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scheint ein Attribut zu sein, das einer Sache inhärent ist. Wenn ich aber Ihre Bücher richtig gelesen habe, dann könnte nichts dynamischer sein als eben diese Sinnsuche oder diese Sinnfindung. Umso mehr, als neuhochdeutsch »Sinn« vom Mittelhochdeutschen »sinnan« kommt, das »gehen, reisen, etwas anstreben« bedeutet. Ich frage mich, ob hier in der Sinnsuche rein etymologisch nicht zwei Dinge gemeint sind: Im Althochdeutschen kommt nämlich »sinan« von »sintha« (sentno) und das heißt »einer Richtung nachgehen«, wobei die Richtung schon als bekannt vorausgesetzt wird: auf ein Ziel zu. Während »sinan« im Mittelhochdeutschen gehen und reisen ist, wovon das schöne Wort »er-fahren« kommt. Erfahrung ist etwas, was man durch lange Reisen sich erwirbt. Ist da nicht Sinnsuche oder Sinnfindung in Ihrem Sinne vielleicht eine richtungsbewusste Er-fahrung? Eine sinnbewusste Erfahrung, ein Weiterfahren, ein dynamischer Prozess, der eigentlich nicht endet, obwohl ich die Richtung weiß, aber keineswegs sicher bin, das Ziel am Ende dieses Weges sicher zu erlangen.

Frankl: Es ist so, dass in meinem Denken, in der ganzen Sprache der Logotherapie mehrere Sinnkonzepte vorkommen. Einmal ist mit Sinn gemeint der Sinn des Lebens, seinem Leben einen Sinn geben aus dem Willen zum Sinn heraus, also sein Leben mit Sinn füllen. Andererseits ist immer mehr und gerade in therapeutischer Absicht in der Logotherapie unter Sinn gemeint der konkrete Sinn einer konkreten Person, die in einer konkreten Situation steht, mit ihr konfrontiert ist. Und dieser Sinn ist immer etwas Einmaliges und Einzigartiges: einmalig insofern, als er nur jetzt verwirklicht werden kann, denn die Situation ändert sich fortwährend, und das Leben ist eine Kette von rasch vorüberziehenden Situationen und damit Sinnmöglichkeiten. Die Sinnmöglichkeiten sind vorübergehend, die Situationen sind vorübergehend. Daher ist der Sinn, die konkrete Sinnmöglichkeit, etwas Einmaliges. Und sie ist etwas Einzigartiges, weil sie nicht nur nicht wiederholbar, sondern auch, weil 117

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sie unvergleichlich ist. Also: Der Sinn ändert sich von Stunde zu Stunde und Mensch zu Mensch. Ununterbrochen. Und diese Inkommensurabilität macht auch unsere Verantwortung aus. Deshalb haben wir ihn zu verwirklichen. Nirgends ist das schöner gesagt als beim Hillel: Wenn ich es nicht tue, wer wird es dann tun? Und wenn ich es nicht jetzt tue, wann soll ich es tun? Einmal haben Sie die Einzigartigkeit der Person und zum Zweiten die Einmaligkeit der Situation. Und drittens haben Sie die ganze Selbsttranszendenz. Wenn ich es nämlich nur für mich tue, nur um des seelischen Gleichgewichts willen, wenn ich es nur tue, damit ich Homöostase herstelle, wenn ich’s nur tue, damit ich Lustgefühle erlebe, einen Orgasmus erlebe und einen Machtrausch usw., was bin ich dann? Eigentlich nicht Mensch, weil ich mich nicht selbsttranszendiere in diesem Augenblick oder in diesem Maße. Also können wir praktisch, zumindest in einer therapeutischen Situation, immer nur sprechen von einem partikulären Sinn. Natürlich gibt es den Sinn des Lebens, es gibt sogar den Sinn der Welt. Aber von dem ist vorderhand nicht die Rede. Der Sinn der Welt, des Universums, ist ein Über-Sinn, der intellektuell gar nicht erfasst werden kann. Was wir auf uns nehmen müssen, ist daher nicht die Sinnlosigkeit des Daseins, wie Camus und Sartre es gepredigt haben, sondern unsere Endlichkeit, nämlich die Unfähigkeit, den letzten Sinn intellektuell oder rational zu erfassen. Aber auch der Sinn des Lebens ist nicht rational zu fassen. Die Einzelsinne verhalten sich wie der Lebenssinn, dem Sinn des Gesamtlebens, so wie einzelne Bilder in einem Film zu dem ganzen Film: Der Film hat seinen Sinn als Ganzes, aber der geht uns erst auf, wenn wir die Bilder im Zusammenhang sehen. Der Lebenssinn geht uns erst auf, wenn wir auf unserem Totenbett liegen. Bestenfalls. Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Sinn des Gesamtlebens gar nicht zu Stande kommen könnte, wenn nicht jedes einzelne Bild uns in seiner Sinnhaftigkeit klar geworden ist. Das heißt, wenn wir nicht nach bestem Wissen und Gewissen den Sinn hic et nunc erfüllen, dann ist es zweifelhaft, ob zumindest in seiner poten118

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ziellen Totalität der Sinn des Gesamtlebens dann jemals zu Stande kommen wird. Vom logotherapeutischen Standpunkt ist mit »Sinn« jedoch vorderhand dieser partikuläre Sinn, dieser Sinn im Hier und Jetzt gemeint, der Ihnen auch vorgeschwebt ist bei Ihren vorherigen Behauptungen.

Lapide: Ich wollte nur, was Sie sagen, zusammenraffen, wenn ich sage, dass der Sinn des Einzelmenschen nach Taten ruft. Der wirkliche Umgang des Menschen mit Gott, der unserem Leben seinen tragenden Grund und sein sinnvolles Ziel gibt, hat an dieser Welt nicht bloß seinen Ort, sondern auch seinen Gegenstand. Wie ich es sehe, redet Gott zum Menschen in den Dingen und Wesen, die Er ihm ins Leben schickt; der Mensch antwortet durch eine Handlungen an eben diesen Dingen und Wesen. Können Sie sich einen Sinn vorstellen, der vom Sinngeber oder Sinnfinder nicht – fast automatisch – Taten verlangt, um diesen Sinn besser oder voller zu verwirklichen?

Frankl: Einer meiner mir wesentlichen Grundgedanken, wie sie im Laufe von Jahrzehnten entstanden sind – diesen Gedanken hatte ich schon, als ich 15 Jahre alt war – ist die Idee, dass wir eigentlich nach dem Sinn des Lebens gar nicht fragen dürfen, gar nicht fragen können. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil wir eigentlich uns, unser ganzes Dasein, unser Leben, als Gefragt-Werden verstehen müssten. Wir sind die jeweils Gefragten, das Leben ist es, das uns Fragen stellt. Das Leben ist es, das uns vor die Lebensfragen stellt, auf die wir zu antworten haben. Und dieses Antworten ist verantwortetes Antworten. Das heißt, wir antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, indem wir unser Leben verantworten, und verantworten können wir es nicht in Worten, sondern letzten Endes nur in Taten. So habe ich das schon damals formuliert. Daraus mögen Sie ersehen, wie sehr ich Ihnen inhaltlich zustimmen kann. Diesen Primat der Tat habe ich damals mit 119

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einem Zitat von Rudolf Eucken ausgedrückt, einem Philosophen, der in den 20er-Jahren ziemlich bekannt war, der von einer axiomatischen Tat spricht, also das Axiom, die Urbehauptung sozusagen, die Grundthese, die wir scheinbar kognitiv, scheinbar theoretisierend, nicht pragmatisierend setzen können, besteht in einer Tat, die wir setzen. Das Axiom ist doch das, wie Sie richtig vorhin gesagt haben, ohne das die Wissenschaft nicht auskommt. Ich glaube in diesem Zusammenhang, dass es ein lapsus linguae war, wenn Aristoteles oder die Aristoteliker das Buch, das nach der Physik zu stehen kam, »Metaphysik« genannt haben. Die Metaphysik ist nicht nach der Physik, sondern vor der Physik, vorgängig. Ohne diese Axiome käme die Physik gar nicht aus. Zurück zur Einmaligkeit des Sinns und der Frage nach dem Vorrang der Tat: Wenn die Sinnmöglichkeit nicht einmalig wäre, wenn sie sich wiederholen würde, und wenn wir nicht einzigartig wären, wenn wir ersetzbar wären, dann hätten wir kaum mehr Verantwortung. Denn die Einzigartigkeit unserer Person, involviert und engagiert in die Einmaligkeit der Situation, der wir begegnen, in der wir stehen, macht eine zweifache Verantwortung des Menschen aus – dafür, was er tut, hier und jetzt – und mitunter nur hier und jetzt tun kann –, und dafür, was er im nächsten Moment sein wird.

Lapide: Ganz richtig. Das heißt, der Sinn ruft nach Tat und ist eigentlich ein Zwillingsbruder der Hoffnung. Der Sinn des Einzelmenschen ragt über das Seiende hinaus und schaut auf das Sein-Sollende hin, auf etwas Zukünftiges. Genau das tut die Hoffnung. Die Hoffnung sieht nicht die Realität in ihrer heutigen Dreidimensionalität, sondern fügt die vierte Dimension der Zukunft hinzu. Wenn ich meinem Leid Sinn gebe, meinem Schicksal, das ich am Anfang verneinen will, gegen das ich aufschreie und mit dem ich langsam Frieden schließe, nach langem inneren Ringen, so gebe ich einer Sache einen Sinn, die 120

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vorher sinnlos war, indem ich sie durch eine Tat bekräftige, die diesem Leid oder diesem Schicksal, diesem Geschick eine Zukunft, eine vierte Dimension verleiht. Und die Tat ist verbrüdert mit der Zukunft, weil jede Tat das Ergebnis sucht, ein Ergebnis, das noch aussteht. Ich kann das nicht tun, ohne an die Zukunft zu glauben, denn die Tat bedarf der Reife, um in Ergebnissen auszumünden. Sodass Sinngebung zwei Dinge beinhaltet, wenn ich das richtig verstehe, oder die Sinngebung steht auf zwei Beinen: sie ruft nach Taten und sie glaubt an die Zukunft.

Frankl: Ja, nun haben Sie aber ausdrücklich vom Leidenssinn in diesem Zusammenhang gesprochen, sozusagen vorzüglich vom Leidenssinn. Und da kann ich nur eines sagen: Ich habe gesagt, wir müssen, so lange es geht, die Priorität des Tuns aufrecht erhalten, müssen versuchen, die Leidensursachen zu beseitigen: durch Operation und Therapie und Politik usw. Und nur wenn nichts anderes übrig bleibt, dann müssen wir das Leiden annehmen. Und in diesem Zusammenhang müssen Sie zugeben, dass ich ein Tun einbeziehen muss, das an mir geschieht, das heißt: Ich muss mich wandeln, ich muss meine Einstellung ändern ganz in dem Sinne, in dem Yehuda Bacon sagt, dass Auschwitz, das Leiden in Auschwitz, einen Sinn gehabt hat, wenn du dich änderst.

Lapide: Und das hat er ja bewiesen, indem er sich in Dutzenden von Gemälden das Leid von der Seele gemalt hat, die heute in allen Galerien Europas hängen. Oder Elie Wiesel, der mit zwölf Büchern fast eine Autotherapie der Auschwitztraumata bewerkstelligt hat. Aber Taten sind es bei beiden – bei Yehuda Bacon das Malen, bei Elie Wiesel das Schreiben – eine Therapie, die durch Taten, die in die Zukunft weisen, Traumata bewältigt hat. 121

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Frankl: Wenn Sie zugeben, dass dieses Tun im Sinne eines Wachsens und Reifens und dadurch des Anders-Werdens, auf einer Einstellungsänderung beruht, wenn dem so ist, dann könnte man sagen, dass der Sinn des Leidens darin bestehen kann – um bei Ihrer Tun-Kategorie zu bleiben –, dass ich an mir etwas tue, dass ich mich verändere, dass ich mich wandle: ein Tun an mir selbst, nicht in die Welt hinaus.

Lapide: Völlig richtig. So wie das Hören einer Sinfonie von Beethoven kein passiver Prozess des Aufnehmens, sondern ein sehr aktiver Prozess der Rezeption und der Verdauung akustischer Eindrücke, eine Reproduktion, sein kann, die, wie die Ärzte nachgewiesen haben, einen Menschen mehr Kalorien kosten kann als drei Stunden Holzhacken, so ist auch Bewältigung des Leidens durch aktive Arbeit an mir selbst ein Tun im schöpferischen Sinne des Wortes. So kann das Arbeiten eines Leidenden an sich selbst, der mit seinem Leiden konstruktiv fertig werden will, eine »Trauerarbeit« sein, die dem Tatendurst, der ja die Folge einer Sinngebung sein soll, oder besser die Mutter der später kommenden Sinnfindung, gleichkommt. Und das erinnert mich an eine Fußnote, die ich bei Ihnen gefunden habe, wo Sie schreiben: In meinem »Homo Patiens – Versuch einer Pathodizee« habe ich es unternommen, die Antwort auf die Frage: »Wozu Leiden?«, die Nietzsche gestellt hat, dahin gehend zu beantworten, dass ich erkläre, es käme darauf an, wie einer das ihm auferlegte Leiden auf sich nimmt. Darin, in diesem Wie des Leidens, liegt die Antwort auf das Wozu des Leidens. Der große Klagepsalm der jüdischen Liturgie, mit dem Jesus auf den Lippen am Kreuz gestorben ist, Eli, Eli lama sabachtani Eloi, Eloi, lema sabachtani? (Mk 15:34) – die Anfangsworte des 22. Psalms – sind oft auf Deutsch und auf Griechisch fehlübersetzt worden. In allen deutschen Übersetzungen steht: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das Hebräische hingegen sagt: Mein Gott, mein Gott, wozu hast du 122

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mich verlassen? Und der Unterschied sind zwei Lichtjahre. Denn das »Warum hast du mich verlassen« stammt aus einem Zweifel an Gott, es stellt Gott in Frage, es wendet sich nach hinten an die Vergangenheit, an die Motivation, während die Frage, wie sie auf Hebräisch seit drei Jahrtausenden gestellt wird und wie Jesus sicher wusste, in die Zukunft blickt, nicht Gott in Frage stellt, sondern an Gott die Frage stellt, die den Sinn dieser Leiden als ganz sicher voraussetzt, aber gerne erfahren würde, warum er mir das auferlegt.

Frankl: Aber die Unkenntnis, sogar die prinzipielle Unkenntnis, involviert, dass ich es niemals von mir aus herausbekommen kann und daher aus eben diesem Grunde fragen muss, weil ich es nicht weiß, nicht wissen kann, sondern nur von dir, Gott, aus erfahren kann. Daher muss ich dich fragen.

Lapide: Mit anderen Worten: Der Psalm 22 stellt nicht die Theodizee-Frage, wie in Dutzenden Theologiebüchern falsch nachzulesen ist, sondern dieser Vers, der Sterbepsalm Jesu und ungezählter anderer Juden, stellt die Pathodizee-Frage, die Gottes Wirken, Gottes Du-Sein und Gottes Über-Sinn fraglos akzeptiert, aber nur einen Teil von diesem großen Ganzen von Gott erfahren möchte, den Sinn meines Leidens im Gesamtbild des Heilsplans Gottes, bevor ich das Zeitliche segne.

Frankl: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann könnte man sagen, es handelt sich um eine Anfrage an Gott, aber nicht um ein In-Frage-Stellen Gottes.

Lapide: Ganz genau. Und der Unterschied ist wie schwarz und weiß. Es akzeptiert nicht nur Gott, sondern es akzeptiert Gottes Walten und meine eigene Unfähigkeit zu 123

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verstehen, aber da ich nun mal als Werkzeug Gottes hier unter jämmerlichen Qualen verenden muss, bitte ich Gott, dass er mir doch zumindest die Gnade angedeihen lässt, zu wissen, welchen winzigen Teil mein Leiden in seinem Plan ausmacht…

Frankl: … mir das etwas aufdämmern zu lassen – das ist aber genau das, was ich vorhin kurz gestreift habe mit meiner These im Gegensatz zu Camus und zu Sartre, dass es uns nicht auferlegt ist, diese Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins hinzunehmen, sondern unsere Unfähigkeit anzunehmen, den Sinn, diesen Sinn intellektuell oder rational zu erfassen. Der Sinn ist unserer Existenzialität überantwortet, die sich selbst in die Waagschale des Urteils, der Entscheidung wirft, ja oder nein zu sagen. Das ist wiederum eine Tat-Sache, eine Sache der Tat, das »fiat« oder auch »amen«.

Lapide: Amen heißt: Ich bekräftige die Worte meiner Vorausredners, ich sage, es ist fest und ständig, beständig; ich kann es mit den fünf Sinnen nicht wahrnehmen, aber meine Seele sagt vollauf Ja dazu.

Frankl: Bis dahin ist es schon ein Schritt weiter. Denn das »fiat« ist »so sei es«, während das »amen« heißt »so ist es«.

Lapide: Weil der Hebräer ein anderes Zeitverständnis hat als die Indogermanen. Die Indogermanen kennen die krasse Dreiteilung aller Chronologien: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die dem hebräischen Sprachgeist fremd sind. Der Hebräer erfährt die Zeit als Fluss, der keine Gegenwart kennt, sondern nur ein ununterbrochenes Fließen vom Vergangenen ins Zukünftige, sodass es auch bei den Propheten Israels rein grammatikalisch sehr schwer ist festzustellen, ob sie von einer ver124

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gangenen Heilstat Gottes oder von einer bevorstehenden Verheißung sprechen, denn so verquickt sind Vergangenheit und Zukunft wie in einem Fluss, der niemals stehen bleibt. Panta rhei, alles fließt im Zeitgeist der Hebräer. Wenn also der Hebräer »amen« sagt, so sagt er amen zu dem heute Seienden und dem morgen sein Werdenden, das für ihn in seiner regen Fantasie bereits in die Gegenwart hineinragt, obwohl es für den nüchternen Pragmatiker noch nicht geboren ist. Der Fluss, das ist es: nie stehen bleiben. Das Dynamische ist es; der Hebräer bleibt nie stehen, so verliebt ist er in die Zukunft, dass der unaussprechliche Name Gottes, das Tetragramm, nichts anderes ist als eine Verbalform der Zukunft – ein Wirken-Werden, das Hoffnung zeigt und das Noch-Nicht vollauf bejaht.

Frankl: Diese ganze Synchronizität zeigt sich ja schon darin, dass es auf der einen Seite heißt: »Du hast meine zukünftigen Taten gesehen, schon bevor ich da war«; Gott hat also die Zukunft schon in Händen. Auf der anderen Seite aber sehen wir, dass alles, was wir tun, erleben, ja sogar was wir erleiden, ein Hineinretten in die Vergangenheit ist, von wo nichts und niemand etwas rauben kann. Was wir einmal tun, wenn wir die einmalige Gelegenheit zur Sinnerfüllung ergreifen und erfassen, das haben wir ein für alle Mal getan, wir haben das verewigt, wir haben das in die Vergangenheit geschafft, wo es eben preserviert ist, aufgehoben in dem Sinne des Aufbewahrtseins. Ich sage da immer, wir sehen nur die Vergänglichkeit, die Stoppelfelder der Vergänglichkeit, und übersehen die vollen Scheunen, in die wir die Ernte geborgen haben. Und nun in Bezug auf das Leiden: Martin Heidegger ist dort gesessen in diesem Zimmer, dreieinhalb Stunden, ich war der einzige, den er sehen wollte, den er besuchen wollte, als er zwei Tage in Wien war und einen Vortrag gehalten hat. Heidegger hat dann geglaubt, er sei mit meiner Auffassung vom Vergangensein als der sichersten Form von Sein einverstanden und 125

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hat mir etwas unter das Foto geschrieben: Das Vergangene geht, das Gewesene kommt. Da habe ich Heidegger gesagt, ich kenne niemanden, der bisher dasselbe gemeint hat wie ich, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Sagt er: Nein, er und Hegel haben dasselbe gedacht. Ich kenne noch zwei Leute, die dasselbe gedacht haben: Der eine ist Rilke, der einmal in einem Gedicht sagt: Aber das eine Mal ist unvergänglich … Der Zweite ist ein Vers aus den Psalmen, wo es heißt: Alle meine Wanderungen, all mein Herumirren hast du aufgehoben, im Gedächtnis und in deinen Büchern verzeichnet; sind nicht meine Tränen in deinem Schlauch? Sogar die Leiden sind aufbewahrt in der Vergangenheit. Alles ist beim Herrn aufbewahrt. Das meine ich jetzt. Auf der einen Seite hat Gott die Tränen aus der Vergangenheit aufbewahrt. Und auf der anderen Seite ist es so, dass er die Zukunft schon längst bei sich hat, bei den Akten. Ich möchte Sie nur hinweisen auf mein Buch »Der Wille zum Sinn«, da ist ein Vortrag über »Zeit und Verantwortung« drin, den ich vor Karl Rahner seinerzeit gehalten habe, ich glaube, es war 1947 in Innsbruck. Und darin entwickle ich diese Zeittheorie, diese Vergangenheitstheorie.

Lapide: Aber zur Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft führt das jüdische Verständnis des liturgischen Zyklusdenkens.

Frankl: Ich wollte vorhin schon sagen, der eine Fluss, von dem Sie gesprochen haben, habe ich mir vorgestellt, der fließt im Kreis, zyklisch.

Lapide: Genau. Das zyklische Denken des Synagogenjahres vergegenwärtigt auf ewig die zentralen Geschehnisse des jüdischen Volkes. Der Exodus aus Ägypten, der vor 3200 Jahren geschah, wird jedes Jahr am jüdischen Pessach-Seder neu erlebt 126

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von 4- und 5-jährigen, die keine Ahnung haben, wo Ägypten liegt. Aber dass Gott uns aus Sklaven zu frei aufrecht stehenden Menschen gemacht hat, das bleibt und das ist das Wesentliche. Mit anderen Worten, ich würde das dictum von Heidegger leise korrigieren: Das Vergangene geht, das Gewesene kommt, es wiederholt sich immer wieder, es bleibt, solange wir leben und so weit es sinngebend ist und lebensgestaltend wie das Exoduserlebnis, das Erlebnis der Makkabäersiege, auch die großen Tempelzerstörungen, die nicht ausgelöscht werden dürfen im Gedächtnis des Volkes, das kommt jährlich wieder, sodass Repetition nicht nur die mater studosium ist, sondern auch die Mutter der ewigen Gegenwart im Gedächtnis des ganzen Volkes.

Frankl: Da haben wir wieder eine Verzeitlichung des räumlichen Leuchtturm-Gleichnisses von Max Scheler. Wenn wir zurückblicken in die Vergangenheit, können wir einen halbwegs korrekten Kurs für die Zukunft ableiten.

Lapide: Wie weit das Räumliche und das Zeitliche im Hebräischen verschwistert sind, beweist die Vokabel »olam«, das heißt im Hebräischen »die Welt« und das heißt auch »die Ewigkeit«. Das heißt, wenn Sie die Propheten lesen, können Sie nur aus dem Kontext schließen, ob die Welt gemeint ist oder die Ewigkeit, der ganze Raum oder die ganze Zeit, die gemeinsam unser Weltbild ausmachen.

Frankl: Das ist der vierdimensionale Kosmos nach Albert Minkowski, einem Schüler von Einstein, der den ganzen Raum und die ganze Zeit in ein einheitliches System einbegreift.

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Lapide: Ja, das kommt dem nahe. Aber um das Zyklische zu betonen: Man gibt im Judentum Trauernden, die sieben Tage im Leid sitzen, Eier zu essen. Warum? Weil das Ei rund ist und ein Symbol des Lebens darstellt, sodass der Tote, der dir gestern gestorben ist, und den du heute beweinst, nicht für ewig gegangen ist, denn Gott hat das Leben in einem Zyklus gestaltet, und das Grab muss keineswegs der Schlusspunkt sein. Ich wollte eine persönliche Frage stellen: Haben Sie im Konzentrationslager gebetet?

Frankl:

Ich kann nur gegenfragen: wo nicht?

Lapide:

Richtig, richtig. Hat Ihnen das Kraft gegeben?

Frankl: Das kann ich nicht behaupten. Nicht, dass ich damit sagen möchte, es habe mir keine Kraft gegeben. Ich möchte fast sagen, ich war froh, dass ich die Kraft hatte, zu beten. Aber das, was ich in meinem Leben und für mein Leben als Gebet zu bezeichnen wagen würde, ist so nicht-utilitaristisch gemeint, dass ich gar nicht sagen könnte, dass mir sowas Kraft gibt. Beten heißt für mich, die Dinge so sehr »sub specie aeternitatis« zu sehen, also so ganz unabhängig von mir; Gebet ist für mich vielmehr ein Absegnen, die Dinge in einer Perspektive sehen, dass sie potenziell wieder einen Sinn haben können trotz der Schrecklichkeit. Und wenn ich mich erinnere an eine Formulierung: Der Mensch ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat, aber auch das Wesen, das in eben diese Gaskammern eingetreten ist mit einem Gebet auf den Lippen, dann muss ich sagen, was hätten sich diese Menschen einzig Gutes erbitten können, erflehen können, erbeten können, um was hätten sie betteln können? Gar nichts, sie wussten doch ganz genau, eine Vergasung ist, so viel wir wissen, noch nie im letz128

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ten Moment gestoppt worden. Aber das war das wahre Beten, dieses Fiat, dieses Amen, dieses Bedingungslose, das sich darin ausspricht.

Lapide:

Dieses Sich-Unterwerfen, wenn Sie so wollen.

Frankl: Aber wenn ich versuche, zu rekonstruieren, was in mir vorgegangen ist, wenn ich je gebetet habe, dann muss ich sagen, dass es mir immer fern gelegen ist, auch nur das Geringste zu erwarten. Ich möchte nicht sagen, es zu erhoffen; denn die Hoffnung auszuschalten, von vornherein etwas für unmöglich zu halten, ist eine Ehrenbeleidigung des Herrgotts. Aber es war jenseits von Erwartungen. Aus dem einfachen Grunde, weil es in dem Bewusstsein geschehen ist, dass ich mir ja gar nicht erwarten dürfte von vornherein, geschweige denn etwas verlangen dürfte, weil ich es sicherlich nicht verdient habe, von vornherein seiner nicht würdig gewesen wäre. Aber das ist ganz etwas anderes, es ist eine Zwiesprache mit einem großen X, mit der großen Unbekannten in einer Gleichung, mit einem Unbekannten in letzter Ehrlichkeit, ich muss hinzusetzen in letzter Einsamkeit und Ehrlichkeit. Vielleicht Ehrlichkeit, weil es Einsamkeit ist, weil niemand da ist, der einem etwas abkauft, der einem etwas glaubt oder nicht glaubt. Diese Zwiesprache in letzter Ehrlichkeit und Einsamkeit, das ist dann das Beten, vielleicht ist da auch gar keine Hoffnung, sondern ein Aufrechterhalten meines Glaubens an eine letzte Sinnhaftigkeit ungeachtet jeder Hoffnung oder Nicht-Hoffnung. Und meistens taucht das sogar auf in einem Moment, wo es trotz der Hoffnungslosigkeit geschieht. Ich sage meistens, denn es geschieht auch – und ich erlebe es so, offen gesagt, wahrscheinlich geht’s allen Menschen so – ich erlebe es auch in den allerglücklichsten Augenblicken; ich weiß nicht, ob ich nicht in glücklichen Augenblicken eher zu einem Gebet geneigt bin als in unglücklichen. Ich habe den Verdacht. Wem soll ich sagen, wie ich mich 129

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freue, wie schön? Zu mir selbst? Zu wem soll ich klagen, wie schrecklich? Zu mir selbst?

Lapide: Was Sie sagen, ist, wie alle Rede von Gott, ein Gestammel, das aus dem Innersten des Herzens bricht. Wäre es geschliffenes Deutsch, müsste man es beargwöhnen. Aber die Frage, die sich mir hier aufdrängt, ist die: Sind es in jenen Zeiten der tiefsten Bedrängnis und des schönsten Glücks, sind es da Ihre eigenen Gebete, die Sie sprechen, oder kommen da Stücke von Psalmen oder aus der jüdischen Liturgie auf Ihre Lippen?

Frankl: Ein Gebet bedarf kaum einer Sprache. So wie es Lieder ohne Worte gibt, so gibt es auch Gebete ohne Worte, glaube ich. Aber ein Gebet, das kann auch ein Seufzen sein, nur Sekunden oder Bruchteile von Sekunden dauern; wenn ich einen Satz beginne, weiß ich nicht, was ich sagen werde, und die Einstimmung dazu gelingt mir nur durch den Rückhalt, durch den Rückgriff auf jenes »Material«, an dem ich beten gelernt habe. Und beten gelernt habe ich hebräisch, oder früher noch das »Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Augen zu« usw. Noch bevor wir das Schema Israel gelernt hatten, haben wir – mein Bruder und ich haben im selben Zimmer geschlafen – einander erinnert, wir müssen noch beten. Und wenn das Licht ausgelöscht war, dann hat der eine den anderen erinnert, indem er gesagt hat: »Beten«, und dann haben wir gemeinsam gesagt »Müde bin ich« usw. Und ich kann mich erinnern, wir konnten gar nicht »müde bin ich, geh zur Ruh« sagen, ohne dass wir zuerst das Wort »beten« gesagt haben. So sehr ist das ein eingeschliffener Reflex. Was will ich damit sagen? Für mich sind Religionen, Konfessionen Sprache. Von den verschiedensten Seiten kommt man an die eine Wahrheit heran durch viele Sprachen. Am besten spricht man in der Regel die eigene Muttersprache, in der man 130

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aufgewachsen ist, als Kommunikationssystem, als System von Symbolen. Also ist es kein Wunder, wenn der Mensch am leichtesten herankommt an Gott, herankommen kann, in der Sprache, in der er beten gelernt hat. Und so ist es auch zu verstehen, dass, wenn ich jemals gebetet habe oder etwas getan habe, was man ernstlich als Beten bezeichnen könnte, dass ich das in Hebräisch getan habe.

Lapide: Kommt Ihnen irgendeine Stelle, eine besondere Stelle, ins Gedächtnis, die des Öfteren vorkam?

Frankl: Ich muss zunächst eine Geschichte erzählen: Die kleine Festung, das war ein sehr altes KZ im Gegensatz zur großen Festung Theresienstadt, da wurde man »hergeliehen«, das waren so Arbeitskommandos, da musste ich einen Acker umstechen. Ich hatte keine Ahnung, wie man das macht. Aber da war ein richtiger Gangster dorthin verschlagen, mit dem hatte ich mich irgendwie angefreundet, wir haben einander sehr gemocht, und der hat die Situation zu retten versucht, indem er mir zugeflüstert hat: Schau her, wie man das macht, einen Kartoffelacker umstechen. Und der SS-Mann, der uns bewacht hat, hat dann trotzdem bald bemerkt, dass ich in meinem Leben noch nie umgestochen hatte, und hat mich gefragt: Sag einmal, was warst du beruflich? Und hat den Gewehrkolben schon drohend gehalten. Ich war natürlich damals schon gescheit genug geworden, um nicht zu sagen, ich bin Arzt und Chef der neurologischen Abteilung des Rothschild-Spitals, sondern habe gesagt, Leichenträger war ich im Rothschild-Spital. Und da hat er gesagt, umstechen kannst du nicht, das sieht man, und hat mich hergenommen zu einer Spezialbehandlung, von der ich dann nach drei Stunden mit 20 Wunden zurückgekommen bin. Und wie ich da gequält wurde von dem: Ich musste einen Eimer Wasser holen und auf einen großen Misthaufen, der größer war als ich, hinauftragen. Da durfte kein Tropfen danebengehen, 131

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obzwar es geregnet hat, und dann hat er mich ein paar Mal niedergeschlagen, weil einige Tropfen danebengegangen waren. Das war abstrus, aber das war ja typisch für Konzentrationslager in solchen Situationen. Wie ich seh, wie ich immer hinrennen musste, aus irgendeinem Teich, aus einem kleinen Bassin Wasser holen und dorthin bringen musste, und der mit seiner Pfeife dort gesessen ist und nur zugeschaut hat, da hab ich mich erinnert, da hab ich nur »Schema Israel« gesprochen. Mein Vater war damals noch am Leben, mein Bruder auch, also habe ich das Kaddisch noch nicht gekannt, das hab ich erst auswendig lernen müssen, nachdem mein Vater gestorben ist. Seit damals habe ich es so gehalten, dass ich aus gegebenen Situationen, aus gegebenen Zusammenhängen hebräisch bete und in den Psalmen lese, und ich lese seit der ersten Nacht im KZ mit Unterbrechungen, die ebenfalls durch das KZ entstanden sind, immer ein paar Seiten in den Psalmen. Das ist ja oft schon beinahe unheimlich, wie da der Bezug hergestellt werden kann, wenn Sie Psalmen zu lesen verstehen gelernt haben aus der Situation heraus. Es sind dort Bezüge auf den Tag, auf den morgigen, auf den heutigen, auf den gestrigen, auf den Alltag, auf das Alltagsleben. Und auf einmal stolpere ich dann irgendwie in einem Gebet über irgendetwas, was Bezug hat auf mein Leben, nicht nur an dem Tag, sondern überhaupt eine aktuelle Problematik.

Lapide: Ich verstehe Sie so gut wie ich jene Rabbinenversammlung von 10 Rabbinen in Auschwitz verstehe, die nach der Erzählung von Elie Wiesel über Gott zu Gericht gesessen sind und gesagt haben: Herr der Welt, in der Bibel hast du verboten, dass man einem Tag die Kuh und das Kalb schlachtet, an demselben Tag die Vogelmutter und das Küken umbringt, denn einen musst du am Leben lassen. Warum hältst du nicht an Israel, was du uns für die Vögel geboten hast, wo doch hier Väter und Söhne tagtäglich zusammen ermordet werden! Und nach dreitätiger Gerichtssitzung haben sie Gott schuldig gesprochen. 132

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Gleich nach dem Schuldspruch aber sagten sie einstimmig: Und jetzt lasst uns beten zum Herrn der Welt! Das ist ungefähr das, was Ihre ergreifenden Worte mir nahe bringen.

Frankl: Schauen Sie, es ist vielleicht die einzige Weise, in der ich meinen persönlichen Respekt vor Ihnen zum Ausdruck bringen kann, dass ich Dinge sage, die ich noch nie gesagt habe, sogar noch gar nicht gedacht habe, Ihnen anvertraue. Weil Sie auch meine Situation verstehen müssen. Man möchte gerne, macht sich’s leicht und möchte die Logotherapie abwerten, indem man sagt, das ist Weltanschauung, das ist persönliche Ideologie, das ist persönliche Religiosität von Herrn Frankl, das ist doch kein Wissenschaftler; er möchte durchs Hintertürl die Religion hereinlassen, nachdem wir endlich einmal die Pfaffen losgeworden sind usw. Nun, da ist in gewisser Weise auch ein Anteil Wahres dran. Denn die Logotherapie hält sich offen zur transanthropologischen – ich sage absichtlich nicht transpersonalen – Dimension. Mag daher die Religion für die Logotherapie auch noch so sehr »nur« ein Gegenstand, und nie ein Standort, sein, so liegt ihr dieser Gegenstand doch sehr am Herzen, und zwar aus einem einfachen Grund: im Zusammenhang mit Logotherapie meint Logos Geist und, darüber hinaus, Sinn. Unter Geist ist zu verstehen die Dimension der spezifisch humanen Phänomene, und im Gegensatz zum Reduktionismus versagt es sich die Logotherapie eben, sie auf irgendwelche subhumanen Phänomene zu reduzieren beziehungsweise von ihnen herzuleiten. Sie wertet die Religion nicht mit Freud als kollektive Zwangsneurose der Menschheit ab, den Herrgott als introjizierte Vaterimago usw. Sie tut das nicht. Aber eins hat sie getan. Indem sie Religion als ein menschliches Phänomen hundertprozentig ernst nimmt, ebenso ernst wie Sexualität usw., hat sie Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte hindurch, das kann ich heute rückschauend das erste Mal in meinem Leben zu sagen wagen, damit all den amerikanischen Pastoren, Priestern und 133

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Rabbinen das Rückgrat gestärkt. Wie sagte einer von ihnen: Da kommt ein Psychiater mit Wienerischem Akzent daher und sagt auf einmal, der Mensch sucht nach Sinn und nicht primär nach Lust; der Mensch besteht nicht aus Libido und Konflikt zwischen Überich und Ich und Es usw.; der Mensch ist nicht ein Produkt von Umwelt und Biochemie und was weiß ich. Der sagt Dinge, die eigentlich religiös sind in dem Sinne, in dem Einstein einmal gesagt hat, an einen Sinn des Lebens glauben heißt religiös sein. In dem Sinne, in dem Wittgenstein gesagt hat, an Gott glauben heißt daran glauben, dass das Leben einen Sinn hat. Ja, damit war deren Rückgrat gestärkt.

Lapide: Um zu diesem Lebenssinn zurückzukommen: Ich will kein Klischee hier verwenden, aber hatten Sie in den harten Jahren je einmal das Gefühl eines Geführtwerdens oder eines Getragenseins gehabt?

Frankl: Immer erst a posteriori, möchte ich einmal ganz blank behaupten, im Nachhinein. Frühestens 10 Jahre später weiß man eigentlich erst, wozu etwas gut war. Ein persönliches Beispiel, ich habe mich unlängst zufällig daran erinnert. Als ich wusste, ich geh’ jetzt weg, da hatte ich von Auschwitz nichts gewusst, aber man hat gewusst, es ist jetzt das Ärgste, das einem noch passieren kann, wo man hingesteckt wird von Theresienstadt aus. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich jemals so frei und innerlich lächelnd einer Situation gegenüber gesehen habe wie damals. Ich habe mein Gepäck in Ordnung gebracht, bin dann hinausgegangen in die Gettostraßen, durch die Straßen von Theresienstadt, habe keine Ahnung gehabt, was kommen wird, ich war innerlich bereit, und hatte in mir eine solche Leichtigkeit, die unvorstellbar war. Eine unheimliche Heiterkeit und Leichtigkeit. Ich hatte das Meinige getan. Genauso wie bei meinem Vater nach der dritten Pneumonie, er war halb verhungert, und ich habe ihn besucht in der 134

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Kaserne, das Lungenödem ist gekommen, ich habe ihm eine Morphiumampulle, die ich ins Lager geschmuggelt hatte, gegeben, sodass ich ihm diesen unmöglichen so genannten Todeskampf erspart habe. Ich habe ihn gefragt, hast du noch einen Wunsch, hast du noch Schmerzen, hast du mir noch irgendetwas zu sagen, dann bin ich noch ein paar Minuten dort gesessen, bis das Morphium gewirkt hat, bin weggegangen und habe gewusst, ich finde ihn später nicht mehr lebend und bin in eine anderen Kaserne gegangen – einer der seligsten Augenblicke meines Lebens. Ich hab das Meinige getan, ich bin der Eltern wegen in Wien geblieben und habe bis zu dem Tod ausgeharrt, habe ihm diesen Tod noch nach ärztlichem Ermessen erleichtert. Von dem Moment an hab ich das Gefühl, so, jetzt habe ich jemanden oben, so ganz infantil.

Lapide: Die katholische Vorstellung der Fürsprache – zum Beispiel Maria, die Mutter Gottes, als Fürsprecherin der Gläubigen bei Jesus, ihrem Sohn – geht zurück auf eine uralte jüdische Idee, die genau dasselbe sagt: Mögen Abraham, Isaak und Jakob für uns Fürsprecher im Himmel sein für unsere vielen Sünden.

Frankl: Ja, davon hab ich gar keine Ahnung gehabt, aber es war ein ausgesprochen infantiles Gefühl in dem Moment, ich hab es geliebt, dieses Gefühl. Ich hab es geliebt, ich hab es gern gehabt.

Lapide: Das sind 60 Generationen Ihrer Ahnen, die Ihnen das vermacht haben. Von Infantilität kann keine Rede sein. Die Idee der Fürsprecher im Himmel ist fast so alt wie das Judentum, denn unsere Ahnen sagten, nicht um unseretwillen mögest du uns verzeihen, Herrgott, denn wir sind es nicht würdig. Was immer du uns gegeben hast, ist unverdiente 135

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Gnade. Aber gedenke doch unseres Stammvaters Abraham, der bereit war, um deinetwillen seinen Sohn hinzuopfern gegen alle Logik, gegen alle Wissenschaft möchte ich hinzufügen, nur um deines großen Namens willen. Gedenke seiner und vergib uns kleinen Menschlingen alles, was wir verbrochen haben. Diese Idee ist höchstwahrscheinlich nicht cerebral, sondern fast intestinal von weiß Gott wie vielen Generationen vom Maharal, vielleicht noch vor dem Maharal auf Sie übergegangen. Und dieses, was Sie infantiles Glücksgefühl nennen, nenne ich eher ein urjüdisches Erlebnis der Pflichterfüllung und einer total unlogischen Geborgenheit, die wir mangels eines besseren Wortes als ein Sich-Verlassen auf Gott bezeichnen dürfen.

Frankl: Schon möglich, aber ich kann da natürlich nicht mit, denn sonst fange ich an zu sagen: wenn er sich auf Gott verlassen kann, dann braucht er ja keinen Fürsprecher. Aber das eben ist die Infantilität – wobei ich mit Infantilität nicht meine, ich würde es bloß genießen; es ist schon viel eher so wie bei jedem Mythos. Gott ist unsichtbar, sagt man. Einmal hat mir das einer vorgehalten; darauf habe ich ihn gefragt, sind Sie jemals auf einer Bühne gestanden? Sagt er, nein, warum? Ich sage ihm, auf einer Bühne sehen Sie überhaupt nichts vom Zuschauerraum. Dort, wo der Zuschauerraum ist, wo Hunderte von Zuschauern sind, dort sehen Sie ein großes schwarzes Loch. Aber Sie wissen, Sie spielen vor einem Publikum. Und mit dem Herrgott ist’s genauso. Der große Zuschauer sitzt da wie in einer Loge, Sie wissen nicht, wo, Sie können ihn nicht sehen. Aber Sie wissen, er ist da. Wisse, vor wem du stehst, steht über der Tora. Trage die Verantwortung so, wie der Schauspieler seine Rolle trägt.

Lapide: Gott ist unsichtbar und unbeweisbar. Zugegeben! Doch auch die Existenz der Liebe, der Hoffnung, des Mu136

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tes und des Seelenadels entzieht sich der Fotografie, der objektiven Wissenschaft und dem logischen Nachweis – nicht aber dem Glauben, der häufig zu viel tieferen Einsichten verhilft. Die schönsten und die größten Dinge in unserem Leben, so scheint es, beugen sich eben nicht dem Diktat der Rationalität. Ein heilsamer Dämpfer für all unsere Liliputaner-Arroganz! Ich glaube, das sollte eigentlich für einen religiösen Menschen – religiös im breitesten Sinne einen Menschen, der einen Sinn in seinem Leben sucht – genügen, denn ein beweisbarer Gott wäre doch nicht der Gott unserer Väter. Der wäre ein Mathematiker oder eine Formel oder eine Ideologie. Ich will noch eines hinzufügen: Die Aussage, ich glaube an Gott, den Schöpfer von Himmel und Erde, gehört eigentlich zu diesen Aussagen wie »ich glaube, meine Frau ist die schönste von allen«. Diese Aussage ist axiomatisch, sie ist aprioristisch, und sie genügt für ein erfülltes Leben. Sobald ich versuche, sie zu beweisen, beginnt der Verrat. Denn wenn ich eine Statistik machen wollte, ob meine Frau schöner oder hässlicher wäre als die 5000 Frauen meiner Umgebung, dann hege ich Zweifel, und sie hört auf, die schönste für mich zu sein. Sobald ich an diesem verborgenen, unsichtbaren und unbeweisbaren Gott zweifle und nach Beweisen hasche, bin ich irregeworden und versuche eigentlich, Gott zu entthronen und mein winziges Gehirn auf den leeren Thronstuhl zu setzen. Denn sobald ich ihn beweisen will, ist mein Gehirn der letzte Schiedsrichter und Gott muss sich beugen. Was mir nicht einleuchtet, so sagt mir dann die »Hure Vernunft«, wie Luther sie nennt, das gibt es nicht.

Frankl:

Dann habe ich die Ratio vergötzt …

Lapide: … und Gott entthront. Das heißt, solange ich Gott Gott sein lasse, bleibt er im Bereich des Ahnbaren, des Erspürbaren im besten Sinne und das nicht irrational, sondern ich würde eher sagen, prärational. Gott bleibt dann das, was 137

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über mein Menschenhirn haushoch erhoben ist. Ich würde sagen, dass das für einen homo religiosus, der sich keiner Orthodoxie beugen muss, noch irgendwelcher Dogmatik, wohl aber dem Herrn des Weltalls, vollauf genügen müsste. Und hier sehe ich den Weg zu einer Versöhnung zwischen Wissenschaft und Glauben. Nicht Religion, sondern Gottesglauben.

Frankl: Ja, das ist ja das, was ich vorhin gemeint habe, dieses schwarze Nichts, dieses Loch, dieses große, das man da sieht, wo der versteckte Zuschauer unentwegt uns beobachtet aus dem heraus, das wir ausfüllen mit Symbolen aus den symbolischen Urbedürfnissen des Menschen heraus. Und der eine sieht das hinein, der andere projiziert jenes, aber durchglüht bleibt dieses Symbol davon, dass es nur ein Hinweis ist auf das nicht Nachweisbare. Sie können beweisen, dass es irgendwelche Dinosaurier gegeben hat aus den Spuren, aus den Versteinerungen, aber Gott ist kein Petrefakt. Sie können ihn innerweltlich niemals beweisen. Und das geht so weit, dass ich die Teleologie, auf der ich Konrad Lorenz gegenüber bestanden habe, gar nicht als eine Teleologie fasse, sondern jetzt einmal als Theologie. Jetzt komme ich endlich darauf, dass es absolut nicht so untragbar ist für einen Menschen mit wissenschaftlicher Kinderstube, von der Schöpfung zu sprechen, von Gott als dem Schöpfergott. Das war für mich immer ein Ärgernis, weil ich in der Schöpfung von vorneherein einen einzigen großen Anthropomorphismus gesehen habe. Ich stamme ja aus einer Zeit, wo die Leute noch den Töpfer vor sich gesehen haben. Aber so ist es nicht. Sondern das Schöpfertum im heutigen Verständnis ist das, was nicht durch Zufall und Mutationen im Sinne von Jacques Monod erklärt werden kann, sondern es ist etwas, das von außerhalb des Systems kommen muss. Wie Jaspers sagt: Der Mensch verdankt seine Existenz nicht sich selbst. Der Mensch ist sich geschenkt von der Transzendenz. Das ist es einfach, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe nicht meine Eltern ausgesucht, ich habe nicht meinen Geburtszeitpunkt be138

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stimmt, ich weiß nicht, wann ich sterben werde. Ich habe mein Leben zu leben und hinzutreten zu dem, der mir dieses Geschenk gegeben hat. Hinzutreten, ich sage nicht dereinst, – man nimmt ja die ganze Zeitlichkeit nicht mit ins Grab, sondern in dem Moment sind wir ja jenseits von Zeit und Vergangenheit und Zukunft –, jedenfalls habe ich hinzutreten und so zu leben, dass ich vor ihn hintreten kann, ohne vor Scham zu versinken. Das ist alles, was ich verlangen kann.

Lapide: Ich glaube, das genügt. Das genügt für ein gläubiges, wissenschaftlich verantwortbares Leben zu Ende dieses 20. Jahrhunderts. Ich will, da wir zwei Juden sind, die über Gott gesprochen haben, vielleicht mit einem Mann schließen, den wir beide kannten, Papst Paul VI. Ich traf ihn zwischen 1956 und 1958 einige Male, als er Erzbischof in Milano war und ich dort als Konsul diente und er mich einmal für ein koscheres Abendessen eingeladen hat. Ich habe seine Worte für mich behalten. Aber da dieser Papst seit langem gestorben ist, fühle ich mich frei, die Geschichte zu erzählen. Während des Abendessens sagte er mir zwei Dinge, die vielleicht typisch sind für diesen großen, oft verkannten Mann. Es war kurz nach Ostern, in der Osternacht heißt es in der katholischen Liturgie: Möge doch Gott die dignitas populi hebraei, die Würde des jüdischen Volkes allen Völkern angedeihen lassen. Er sei nicht sicher, ob er, der Erzbischof von Milano, dieser Würde würdig sei, aber sie zu erlangen sei sein heißestes Begehren. Und zweitens sprach er über seine Vergangenheit im Vatikan, als er während der Kriegsjahre unter Pius XII. verantwortlich war für die unterschiedlichen caritativen Anstrengungen des Heiligen Stuhls. Da sagte er, dass es ihn nicht in Ruhe ließe, dass er nicht genug getan haben möge, und zweitens, dass er schwer an der Christenschuld am Judenleid trage. Deshalb habe er sich alljährlich am 9. Tag des hebräischen Monats Ab, am Tag der Tempelzerstörung, ein Fasten auferlegt, um zumindest symbolisch ein Stückchen persönliche Sühne zu leisten. Er 139

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bat mich, das niemandem zu erzählen, was ich bis heute nicht getan habe. Es gibt Gott sei Dank und es gab immer viele, viele anständige Christen, und dieser Papst ist nur einer von ihnen.

Frankl: Wissen Sie, weshalb mich das berührt? Weil mein Bruder, bevor er dann doch nach Auschwitz gebracht wurde und mit seiner Frau dort umgekommen ist, Jahre hindurch in Italien versteckt war und dort von der SS erst nach Jahren eingefangen worden ist. Bis dahin hatte er in einem italienischen Dorf auf Kosten des damaligen Papstes gelebt. Der hat für sie gesorgt, und das muss also, wie ich jetzt erfahre, zuerst einmal durch die Hände des späteren Paul VI. gegangen sein. Ich weiß sogar, dass mein Bruder beauftragt war, für den damaligen Papst, also Pius XII., eine große Huldigung zu zeichnen und zu schreiben aus Dankbarkeit dafür, dass dieser sie beschützt hatte. Dies alles muss daher also, wie ich heute durch Sie erfahre, durch die Hände des späteren Paul VI. gegangen sein. Es ist zu schade, dass ich das nicht gewusst habe, als wir bei Paul VI. bei einer Audienz gewesen sind. Denn Jahrzehnte später waren meine Frau und ich in Rom; damals lebte dort auch ein junger Salesianermönch, der jahrelang bei mir gearbeitet hat – Eugenio Fizzotti, der heute selbst Professor an der Salesiana Universität ist. Auf einmal kommt ein Anruf, ob ich bereit sei, eine Einladung für eine Privataudienz bei Paul VI. anzunehmen. Ich habe selbstverständlich angenommen. Mit dabei war damals ein Dolmetscher, ein Monsignore, aber Paul VI. hat uns deutsch begrüßt. Dann hat er auf Italienisch fortgesetzt; er hat gesagt, er wisse von mir, von meinen Büchern, von der Logotherapie, von meinem Leben im Konzentrationslager usw. Ich habe ihm dann – das war damals das erste Mal, dass ich so reagierte, denn ich habe seither weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit dazu gehabt, und es gab auch keinen anderen Weg, diesen Gedanken variiert zu formulieren. Aber damals war es das erste Mal – ich habe gesagt, er sähe nur das Positive, 140

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das ich getan habe, was ich erreicht habe, was ich geleistet haben mag, aber es mache mich traurig, was er sage, weil mir in diesem Augenblick nur noch mehr zu Bewusstsein kommt, was ich alles hätte tun sollen und nicht getan habe. Ich sagte ihm, er müsse verstehen, dass jemand, der so wie ich an der Bahnhofsrampe in Auschwitz gestanden ist – heute ist es genau 40 Jahre her – genau in der Mitte meines Lebens, und dann mit der statistisch nachweisbaren Unwahrscheinlichkeit von 1:29 mit dem Leben davon gekommen ist – dass jemand, der dann doch noch Jahrzehnte leben konnte, Bücher schreiben konnte – dass ein solcher Mensch sich jeden Tag aufs Neue fragen muss: Bin ich dessen würdig gewesen? Bin ich dem gerecht geworden? Dass man vor dem Hintergrund dessen sich täglich aufs Neue fragt, ob man dessen würdig war, und versucht, dieser Verantwortung gewachsen zu sein. Der Eindruck, den ich von Paul VI. bekommen habe, war der, dass das ein Mann ist, dessen Gesicht gezeichnet war von den schlaflosen Nächten, in denen er seinem Gewissen, sich selbst Entscheidungen abringt, zu denen ihn sein Gewissen zwingt. Obzwar er ganz genau weiß, dass sie nicht nur ihn, sondern seine ganze Kirche unpopulär machen. Er war gezeichnet von einer Demut, die unvorstellbar ist, das kann man sich nicht vorstellen. Meine Frau ist dort gestanden und hat die ganze Zeit einfach geweint; sie war erschüttert. Und dann haben wir uns verabschiedet. Er hat meiner Frau einen Rosenkranz geschenkt und mir ein Medaillon. Als wir uns zurückziehen, ruft er mir auf einmal auf Deutsch nach – bedenken Sie die Situation, der Papst ruft einem jüdischen Nervenarzt aus Wien nach Beendigung der fast durchwegs italienisch gehaltenen Audienz nach der Verabschiedung in deutscher Sprache nach: Bitte beten Sie für mich! Wörtlich. Unvorstellbar, unglaublich, wenn man es nicht erlebt hat, wenn man es nicht gesehen hat. Das war er.

Lapide: Vielleicht darf ich zum Schluss, damit nicht der Eindruck entstehe, der Papst war der einzig gute Christ, eine 141

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kurze Anekdote erzählen, die die Sache abrundet. Ich war, wie gesagt, damals israelischer Konsul in Mailand (1956/1958), als Italien das 10-jährige Jubiläum seiner Befreiung feierte. Eines Tages bekomme ich einen Brief, unterschrieben von 27 Israelis ganz verschiedener Herkunft und Berufe, die ein gemeinsamer Nenner eint: Sie haben 25 Monate ihres Lebens im Keller eines Franziskanerinnenklosters verbracht und verdanken dieser Tatsache ihr Überleben. Und nun, zehn Jahre später, wollen sie auf eigene Kosten zurückkehren, um den Nonnen einen Dankbesuch abzustatten. Sie schreiben mir, damit ich die Massenmedien alarmiere, mitkomme und dem ganzen Besuch einen offiziellen Charakter verleihe. Selbstverständlich, gesagt – getan. Eines Tages fährt ein Konvoi hinunter in dieses Kloster in der Kleinstadt. Ein wuchtiges Gebäude aus dem 13. Jahrhundert. Das müssen Sie sich vorstellen, die Quadersteine, die enge Pforte, vorn stehen 30 Nonnen schwarz gekleidet, in ihrer Mitte die Mutter Oberin, eine Dame von über 70, die schlecht sieht, nicht gut hört und die von zwei Schwestern gestützt wird. Es beginnen die Dankreden, und das, was Sie sich vorstellen können. Und nachdem das zwei Stunden gedauert hat, gehe ich zu der Oberin hin und sage: Signora, entschuldigen Sie das Getöse, aber die Welt hat schlechte Nachrichten zu Genüge; vielleicht sollten die Menschen auch einmal etwas Gutes hören. Und daher mussten alle diese Menschen da sein, die da knipsen, Lärm machen und schreiben. Nach diesen Worten sagt sie einen Satz, den ich nie vergessen werde: Sagen Sie, Herr Konsul, seid Ihr Kommunisten oder seid Ihr Faschisten? Darauf bin ich das erste Mal in meinem Leben die Antwort schuldig geblieben. Ich sage, Signora, seit zwei Stunden reden wir von der Bergpredigt, von der Nächstenliebe, vom Heiligen Land, von Jerusalem und der Bibel, und Sie stellen mir solch eine Frage?! Hierauf wird die alte Dame rot im Gesicht, stottert und sagt Folgendes: Sie wissen, Herr Konsul, ich bin eine alte Frau, Sie müssen etwas Rücksicht nehmen. Aber in dem Keller dort unten, den wir Ihnen gezeigt haben – wo die Nonnen apropos zwei Mal auf ihrem Hostienofen Matzen gebacken haben, damit die Juden im Keller 142

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nicht nur leben, sondern ein Pessach feiern konnten –, in demselben Keller, 600 Meter vom Gestapo-Büro entfernt, da haben wir 1942 Kommunisten versteckt, 1943–1945 Juden und 1946–1947 Faschisten. Jetzt bin ich ein bisschen durcheinander gekommen. Also Gott sei Dank gibt es auch solche Leute in unserer Welt. Mit anderen Worten und der langen Rede kurzer Sinn: Wir haben von der Trias von Leid, Schuld und Tod gesprochen, aber wir können als gläubige Menschen vielleicht mit der Trias Liebe, Hoffnung und Lebenssinn enden, denn das war schließlich Urgrund oder besser gesagt der Sinn unseres heutigen Dialogs. Ist das in Ihrem Sinne?

Frankl:

Ja, absolut, absolut.

Lapide: Dann schlage ich vor, dass wir gemeinsam schließen mit einem Gebet, das dem Rabbiner Leo Baeck zugeschrieben wird – verfasst um die Jahreswende 1946 –, das wie kaum ein anderes jene gläubige Hoffnungskraft zum Ausdruck bringt, die unsere Jugend nicht verlernen darf: »Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung. Aller Maßstäbe spotten die Gräueltaten; sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der Blutzeugen sind gar viele. Darum, oh Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihrer Leiden, dass du sie ihren Henkern zurechnest, sondern lass es anders gelten. Schreibe vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern und allen schlechten Menschen zugute und rechne ihnen an all den Mut und die Seelenkraft der anderen, ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei alledem, die Hoffnung, die sich 143

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nicht besiegt gab und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ, und alle Opfer, all die heiße Liebe, alle die durchpflügten, gequälten Herzen, die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben angesichts des Todes und im Tode. Alles das, oh mein Gott, soll zählen vor dir für die Vergebung der Schuld als Lösegeld, zählen für eine Auferstehung der Gerechtigkeit – all das Gute soll zählen und nicht das Böse. Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein, nicht mehr ihr Albdruck und Gespensterschreck, vielmehr ihre Hilfe, dass sie von der Raserei ablassen … Nur das heischt man von ihnen – und dass wir, wenn nun alles vorbei ist, wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen und wieder Friede werde auf dieser armen Erde über den Menschen guten Willens, und dass Friede auch über die anderen komme.«

Frankl:

Amen.