Piktogrammatik: Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung 9783839457436

Unser Wissen und Denken bildet sich immer auch durch grafisches Darstellen heraus, es wird durch bildliche Zeichen ansch

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Piktogrammatik: Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung
 9783839457436

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Annette Geiger, Bianca Holtschke [Hg.] Piktogrammatik. Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung

D e s i g n | B a n d 53

Annette Geiger (Prof. Dr.) lehrt Theorie und Geschichte der Gestaltung an der Hochschule für Künste Bremen. Als Kunst- und Kulturwissenschaftlerin forscht sie über die Kulturen des Ästhetischen in Kunst, Design und Alltag, insbesondere zur Geschichte von Produkt-, Mode- und Grafikdesign, zu Fotografie und Film, Bild- und Medientheorie. Als Monografie zuletzt erschienen: Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs, 2018. Dipl. Des. Bianca Holtschke studierte bis 2012 Integriertes Design an der Hochschule für Künste Bremen und an der Royal Academy of Art, Den Haag und arbeitet seit 2008 als freie Grafikerin, Typografin und Buchgestalterin. Aktuell promoviert sie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Thema Ihrer Dissertation ist die Referenzleistung grafischer Darstellungsweisen. Ihre Forschungsschwerpunkte und -interessen sind Design-, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Semiotik und Logik. An der Hochschule für Künste Bremen unterrichtet sie Semiotik und Designtheorie.

Annette Geiger, Bianca Holtschke [Hg.] Piktogrammatik. Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung

Mit freundlicher Unterstützung der Hochschule für Künste Bremen

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Bianca Holtschke mit Unterstützung von: Yannick Breuer und Saskia Van der Meer Lektorat und Korrektorat: Dr. Wolfram Bergande Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5743-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5743-6 https://doi.org/10.14361/9783839457436 Buchreihen-ISSN: 2702-8801 Buchreihen-eISSN: 2702-881X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

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ANNET TE GEIGER UND BIANCA HOLTSCHKE

Ein leit u ng – Grafisches Gestalten als Weltw issen u nd Bilderord nu ng

G RUND L AG EN D ER P IK TOG R A MM AT IK S EI T OT TO N EUR AT H

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Re/Präsentation im Zeitalter des Auges – Otto Neuraths methodische Anver wand lung der Kunst/Geschichte

ANNET TE GEIGER Vom f a l s c h e n Bi ld d a s R ic ht ige d e n ke n– P i k t o g r a m m at i k s e it Pl at on

ASTRIT SCHMIDTBURKHARD T

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DANIEL A STÖPPEL

Piktogramm und Revolution – Medientheoretische Ü berlegungen zur Genese der Bildstatistik aus der politischen Schwarzweißgrafik 1919–21 Piktogramme als Symbolsysteme – D i s k u r s , K o nve n t i o n a l i s i e r u n g , Kol l ek t ivsy mb ol

ROLF F. NOHR

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P IK TO G R A MM E D ES P O P UL Ä R EN

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CAROLIN SCHELER

D e r bi ld spr ac h l ic h e Kosm os i m c omp ut e r a n i m ie r t e n K i n of i l m Em oji a l s P i k t og r a m m at i k

LUK AS R. A. WILDE

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W I S S ENSB IL D UNG UND B IL D ER W I S S EN

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JOOSTEN MUELLER

Zu r pi k tog ra m m at i schen Da rstel lu ng e i n e s Vi r u s – Zw i s c h e n w i ss e ns c h a f t sh i st or i s c h e r Sp u r e n s u c h e u n d m o d el l ex p e r i m e nt el l e r Wi ss e n sge n e r ie r u n g

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BIANCA HOLTSCHKE Können Bi lder falsch sein?

P i k t orh e t or i k  – Ü b e r d a s Wi ss e n i m D e sig n

PIERRE SMOL ARSKI

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Z EI C H EN S E T Z EN

Ü b e r d ie Mög l ic h ke it e n d e r Z e ic h nu n g – Da r st el l e rl ex i kon

HANNES K ATER

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D e r Bi ld e r ge n e r ie r e n d e I mp u l s

SAMUEL NYHOLM

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Zu d e n

AUTO R*I N N E N

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS

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Annette Geiger, Bianca Holtschke

Einleitung Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung Der vorliegende Band geht zurück auf die Tagung „Piktogrammatik – Grafisches Gestalten als Weltwissen und Bilderordnung“, die im Juni 2019 an der Hochschule für Künste Bremen stattfand. Interdisziplinär ausgerichtet, zwischen Theorie und Praxis vermittelnd, möchten die hier gesammelten Beiträge nicht nur fragen, was die spezifische Funktionsweise von bildlichen Zeichen ausmacht, sondern auch eingehender untersuchen, wie diese im Gestaltungsprozess entwickelt werden. „Piktogrammatik“ ist dabei kein stehender Begriff in der Designtheorie. In unserem Zusammenhang soll er vor allem betonen, dass es sich um eine entwerferische Praxis handelt, um ein gestaltendes Handeln, das auf bestehendes Wissen zurückgreift, aber auch eigenlogische Wissensproduktion betreibt: Das gestaltete Bild zeigt, was so noch nicht sichtbar war, es gibt einer immateriellen Idee eine materielle Form. Mit Hilfe des Begriffs „Piktogrammatik“ lässt sich ein theoretischer Rahmen aufspannen, der den Blick auf die Systematik der Zeichen schärft und untersucht, wie aus einzelnen Zeichenelementen (Formen, Linien, Pfeilen, Konturen, Strukturen, Farben etc.) ganze Regelwerke und Verweissysteme komponiert werden. In bildlichen Darstellungen werden Formen und Farben eingesetzt, um Wissen und Denken, aber auch Wahrnehmen und Fühlen visuell erfahrbar und damit überhaupt zugänglich zu machen. Die dabei entstehenden Piktogramme wären nicht lesbar, würden sie nicht auf ein Zeicheninventar verweisen; jede Kommunikation setzt letztlich den Rahmen einer Grammatik voraus. Die Bildergrammatik beruht zwar auf der Idee des Abbildens von wahrgenommener Wirklichkeit, doch bedeutet dies sicherlich nicht, dass dabei die Realität selbst abgebildet werden könnte. Das Wirkliche wird vielmehr ge-

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12 deutet und bedeutet. Die Bildzeichen sind als Ermächtigung, gar Selbstermächtigung zu verstehen, die Zeichnung zeigt, dass man etwas erkannt und verstanden hat, dass man die entsprechende Erkenntnis durch eine abstrahierende Wiedergabe zu vermitteln weiß. Gerade weil die gestalterischen Freiheiten dabei größer sind als man denkt, bedarf es einer Grammatik der Bilder. Deren Regeln müssen eigens erstellt werden und ergeben sich nicht von selbst. Um diesen Zusammenhang zu ergründen, gilt es verschiedenste Forschungsansätze zur visuellen Gestaltung zusammenzuführen – anthropologische wie ästhetische, epistemologische wie rhetorische Fragen erweisen sich als gleichermaßen relevant: Welcher Ordnung und Sprache, welcher Logik der Modellierung und Formung unterliegen die visuellen Weisen der Welterzeugung? Welche Bildprozesse erweisen sich als nützlich und gelungen, welche als misslungen? Wie wird die ästhetische Ambivalenz von Bildern verhandelt, wie ihre normierende Wirkung auf die Gesellschaft? Seit Platon und Aristoteles diskutiert die Philosophie über die Legiti­m ität der grafischen Darstellung in Wissensprozessen. Wodurch werden Bilder bzw. visuelle Übersetzungen aller Art zu rechtmäßigen Vermittlern von Ideen und ab wann sind sie nur Lug und Trug, somit illegitime Verführung und Beeinflussung des Denkens? Den Wissensbegriff möchten wir in diesem Kontext nicht nur auf die Wissenschaften im engeren Sinne beziehen, sondern gerade auch im Hinblick auf Alltagspraktiken beleuchten – von der Gebrauchsgrafik bis zur Populärkultur. Es gilt somit alle Narrationen und Diskurse, die das Weltwissen des Menschen ausmachen, einzubeziehen. Folglich muss dem Vorhaben auch ein erweiterter Piktogramm-Begriff zugrunde gelegt werden: Als Piktogramme seien hier nicht nur klar geregelte Symbolsprachen wie z. B. Verkehrsschilder oder Gefahrenzeichen gemeint, die wiederum nationalen oder internationalen Konventionen gehorchen. Derartige Bedeutungszuweisungen, gar die lexikalische Präzision derselben, ist keine Voraussetzung für piktogrammatisches Denken und Gestalten. Denn auch wohldefinierte Karten und Diagramme, Gebrauchsanweisungen und Informationsgrafiken sind oft nur unter bestimmten Umständen erhellend und eindeutig. Ihre Verstehbarkeit hängt stark vom kulturellen Umfeld der Rezipient*innen ab, ihre Deu-

13 tungsspielräume sind oft weiter gefasst als es den Anschein hat. Ein bildliches Zeichen muss keineswegs Kunst bzw. Kunstwerk sein, um einer Interpretation zu bedürfen, das Rätsel der Verständlichkeit beginnt oft schon im alltäglichen Gebrauch von nützlichen Bildern: Eigentlich sollen sie einfach nur funktionieren, neutral und zweckrational, ohne ästhetisches Beiwerk, ohne Stil oder persönliche Handschrift. Aber selbst die größte Bemühung um Abstraktion und Reduktion im Sinne einer Neutralität des Gemeinten kommt nicht umhin, auf Generalisierungen und Stereotype zurückzugreifen, die wiederum konnotative Aufladungen nach sich ziehen. Sie generieren und strukturieren eine Wirklichkeit, die nur scheinbar objektiv und sachlich abgebildet wird. Piktogramme zeugen von Vorurteilen und Befangenheit, sie reproduzieren Rollen und Klischees, nur ist dies nicht immer offensichtlich. Das Bild wird unbewusst als „realitätsnah“ oder gar als „natürlich“ gelesen. Piktogramme erzeugen auf diese Weise ihre eigene „Wahrheit“, sie stellen Wirklichkeiten her. Jede noch so nüchterne Gebotstafel, jedes Leitsystem, jeder Orientierungshinweis als Übersichtskarte oder Handlungsanweisung enthält einen Kern an Projektion, als eigenstän­ dige Hypothese darüber, wie die Welt zu sein hat. Das piktogrammatische Deuten und Bedeuten begann historisch mit den ersten Bildern des Menschen überhaupt. Piktogramme erweisen sich letztlich als anthropologische Konstante in der Geschichte der Kommunikation. Doch hat sich ihre alltägliche Präsenz mit dem Entstehen der modernen Mediengesellschaft vervielfacht – seit der Erfindung des Buchdrucks und allen weiteren technischen Speicher- und Verbreitungsmedien. Die Reichweiten der nunmehr massenmedial reproduzierten Zeichen ermöglichten eine bisher ungekannte Globalisierung der Kommunikation insbesondere durch die Normierung internationaler Standards. Die Herausforderung, das Informieren und Orientieren über die Länder- und Sprachgrenzen hinweg zu ermöglichen, erkannte insbesondere der österreichische Nationalökonom, Wissenschaftstheoretiker und Volksbildner Otto Neurath (1882–1945): Die Aufgaben einer solchen Bildpädagogik systematisch zu denken und gestalterisch zu entwickeln unternahm seine Wiener Methode der Bildstatistik wie keine zuvor. Neuraths Ansatz bildet daher den Ausgangspunkt zahlrei-

14 cher Überlegungen in diesem Band. Wie zeitgemäß ist sein Denken noch, was kann heutiges Entwerfen noch von ihm lernen (s. die Beiträge von A. Geiger, A. Schmidt-Burkhardt, D. Stöppel)? Neuraths Vision, die Sprache der Wörter gänzlich durch eine Sprache der Bilder zu ersetzen, mag Utopie geblieben sein. Vom Buch zum Bericht, von der E-Mail zur SMS hat sich unsere Kultur auch weiterhin recht textlastig entwickelt. Doch lässt sich die Allgegenwart von bildlicher Kommunikation nicht minder feststellen: Ob Presse oder Internet, ob Flughafen, Fernbahn oder Fahrplan – ohne die Präsenz von Piktogrammen ist unser Alltag kaum mehr denkbar; ohne entsprechende Leitsysteme und Orientierungshilfen fänden wir uns nicht zurecht, Gebote und Verbote leiten die Sinne, steuern das Handeln, machen uns überhaupt erst handlungsfähig. Sicher würde es auch anders gehen, aber nicht in der Schnelligkeit und Präzision, in der Anschaulichkeit und Handhabbarkeit für das unmittelbare Verstehen und Umsetzen. Die alltagspraktischen Dimensionen der Piktogrammatik werden uns in den täglichen Routinen nur selten bewusst, aber sie liegen auf der Hand: Je besser ein Piktogramm funktioniert, weil es z. B. klar und eindeutig gestaltet wurde, desto eher übersehen wir es. Das Bild erscheint als derart „natürliche“ Form der gemeinten Sache, als hätte man sie gar nicht anders darstellen können (s. dazu den Beitrag von R. Nohr). Kraft dieser scheinbaren „Natürlichkeit“ der Zeichen vermögen sie unser Handeln und Denken so machtvoll zu lenken. Vor dem Hintergrund eines erweiterten Piktogramm-Begriffs sollte man die gestalteten Bilder aber nicht nur auf ihre Ordnungsfunktion reduzieren. Neben der Verlässlichkeit und Erwartbarkeit ihrer Bedeutungen können sie durchaus auch genutzt werden, um mit Konventionen zu brechen. Man kann sie ebenso gut für die spielerisch-ästhetischen, subversiven oder gar anarchischen Weisen des Bedeutens einsetzen: Vom Cartoon und Comic zum Zeichentrick, von der Logogestaltung zum character design, vom Graffiti über die Graphic Novel zum computeranimierten Film etc. werden gerade auch in der Populärkultur alternative Bildlichkeiten erprobt, die nicht ohne Einfluss auf die Piktogramm-Gestaltung bleiben (s. die Beiträge von L. A. Wilde und C. Scheler). In diesen Medien bzw. Gen-

15 res findet sich die Ordnung der Bilder immer wieder unterlaufen und erweitert. So dass man annehmen kann, dass die Gestaltung von Unterhaltung und das Design des Wissens oft mehr gemein haben als man denkt. Die Neutralität von Bildzeichen bleibt jedoch eine Utopie, ihr Medium ist immer schon Teil der Botschaft, wie grammatisch strikt auch immer konzipiert, die Ausschmückung hat stets Einfluss auf das Gemeinte und Gewusste. Auch Piktogramme kommen nicht ohne die Materialität der Kultur aus, sie sind auf ihre Rhetorik angewiesen: Die Frage nach der Wirksamkeit der Redekunst geht dabei weit über semiotische und strukturelle Fragestellungen hinaus (s. dazu den Beitrag P. Smolarski). Das Spannungsfeld aus eingehaltener Regel und freier Erfindung, aus Fakt und Fiktion bildet die zentrale Herausforderung bei der Unter­ suchung unserer Bildsprachen. Die Frage nach den Spielräumen und Freiheiten beim Entwerfen von informativen Bildern spitzt sich zu, wenn ihr Wahrheitsgehalt im Zentrum der Aussage steht: Wie richtig oder falsch können Bilder sein, die von sich behaupten unser Wissen über die Wirklichkeit korrekt wiederzugeben? Bilder, so kann man nur feststellen, können auf die verschiedensten Weisen scheitern; sie verfehlen die Kongruenz von Bild und Text, oder die grafischen Techniken selbst können misslingen, wenn es ihnen an innerer Logik fehlt (s. dazu die Beiträge von B. Holtschke und J. Müller). Gestaltete Bilder gehen nicht primär auf Apparate zurück bzw. auf deren technisierte bzw. objektivierte Aufnahme- und Wiedergabeverfahren, der Faktor „Mensch“ ist hier deutlich höher, denn die Abbildung illustriert seine Idee von Welt. Wie kann dann überhaupt die Kausalität bzw. Referenzialität der Darstellung gegenüber dem Dargestellten behauptet werden? Die Wahrheit im Bild entsteht als Konvention eines Kollektivs, das sich auf eine entsprechende Deutung einigt. Wie kommen solche Konventionen nun genau zustande, wie können sie so wirkmächtig werden, dass man sie nicht mehr hinterfragt, dass das Bild geradezu als Beweis gilt, dass etwas tatsächlich so ist? Bei Fotografie und Film wird eine Ähnlichkeit der Abbildung zu unserem Sehen behauptet, was aber bilden Bilder ab, die als ähnlich zu einer Idee oder Erkenntnis konzipiert sein sollen? Das Wissen benötigt Anschauungsmodelle, um be-

16 greifbar zu machen, wie man sich Dinge und Sachverhalte vorzustellen hat. Das bildliche Modell verkürzt und abstrahiert, doch der Informationsverlust wird nicht als solcher gedeutet, die Reduktion gilt vielmehr als Er­kenntnisgewinn. Bilder arbeiten aus dem Chaos der Wirklichkeit eine klare Struktur heraus und lassen dabei Irrelevantes weg. Strenge Codierungen zielen zunächst auf maximale Komplexitätsreduktion, Formeln ermöglichen das Aufzeichnen und Speichern, das Wiedererkennen und Weitergeben. Man mag die Piktogram­matik daher auch als Algorithmik der Bilder lesen, es werden Handlungsvorschriften gebildet, nach denen man frei, aber doch geregelt agieren kann – bis hin zur Schaffung künstlerischer Arbeiten (s. dazu den Beitrag von H. Kater). Doch trotz aller Regelwerke, anhand derer Bilder generiert werden, bleiben sie anfällig für Fehler. Denn anders als im bilderlosen Kalkül der reinen Mathematik und der programmierenden Informatik werden die gestalteten Bildsprachen, um die es in diesem Buch geht, noch vom Menschen entworfen, per Hand gezeichnet oder mit dem Computer designt. Die Rechner helfen zwar beim Berechnen, aber der Entwurf bleibt men­schlich, er bildet unsere Vorstellungkraft ab. Daher gibt es auch bei vermeintlich neutralen Grafen und Diagrammen, Karten, Koordinaten und Informationsgrafiken erhebliche Spielräume für das „wahr“ und falsch“ einer Abbildung. Neben der reibungslosen Erkennbarkeit der Aussagen macht der Anspruch der guten Vermittlung solche Darstellungen auch anfällig für Fragen der Schönheit. Zwar sollte gute Gestaltung dem tradierten Designdiskurs zufolge allein auf Funktionalität und Zweckrationalität ausgerichtet sein, aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Abbildungen, die wir als „gut“ gestaltet oder gar „schön“ aussehend empfinden, gemeinhin auch als anschaulicher, funktionaler und überzeugender gelten. Die Ästhetik geht der Funktion offenbar voraus. Indem René Magritte 1929 auf sein Gemälde, das eine Pfeife zeigt, den Satz schrieb „Dies ist keine Pfeife“ (Abb. 1), zeigte er genau dies: Die persuasive Schönheit einer Darstellung lässt uns glauben, sie sei selbst das, was sie zeigt. Die Betrachtung erfolgt als Projektion. Nicht von ungefähr nannte Magritte das Bild „La trahison des images“ (dt. ‚Der Verrat der Bilder‘), um uns auf diese Verführung aufmerksam zu machen. Der Comic-Theoretiker Scott McCloud

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Abb. 1: René Magritte: Der Verrat der Bilder, 1929

Abb. 2: Scott McCloud: Abbildung aus „Comics richtig lesen“, 1994

18 folgerte mit Verweis auf jenes Bild von Magritte (Abb. 2), dass gut gestaltete Illustration immer das Ziel hat, diese Verwechselung zu bewirken. Wir sollen glauben, also für „wahr“ halten, was wir sehen. Wir sollen vergessen, dass es sich um das Abbild einer Sache handelt und nicht um die Sache selbst. Dies leisten Bilder auf verschiedene Weise, manchen Verfahren gelingt es besser als anderen, daher folgert McCloud: „Manche Bilder sind eben symbolischer als 1 andere.“ Gelungene Piktogramme sind derart effizient auf dem Weg von der Idee zum Bild, vom Gedanken zur Darstellung, dass sie wie ein Kurzschluss funktionieren, Idee und Abbild verschmelzen geradezu. In unseren Piktogrammen deuten wir uns also immer auch selbst. Wir spiegeln uns darin, als Gesellschaft, als Epoche und Kultur (s. dazu den Beitrag von S. Nyholm). Trotz aller Freiräume des Gestaltens verfolgt die Piktogrammatik vor allem die Durchsetzung von Regeln, die jegliche schmück­ ende Willkür und subjektive Erfindung in Schach halten sollen. Insbesondere für die Konstitution der Wissenschaften ist diese Funktion höchst relevant. Denn auch das wissenschaftliche Wissen ist zeichenvermittelt. Wer an die entsprechende Wissensvermittlung denkt, hat wohl zuerst sprachliche Zeichen (Laut und Schrift) vor Augen, z. B. Fachartikel, Sammelbände und Monografien, wissenschaftliche Vorträge und Lehrveranstaltungen. Auch diese Einleitung reiht sich ein in das System der sprachlich vermittelten Wissenszeichen. Doch kommen neben diesen sprachlichen Zeichen auch pikturale Wissenszeichen zum Einsatz, etwa als Illustrationen, als grafische Übersichten, in Form von Schemazeichnungen oder Diagrammen, um wissenschaftliche Ergebnisse anschaulicher darzustellen. Innerhalb der großen Spanne pikturaler Darstellungen stellen Bilder, die Wissen vermitteln, eine besondere Kategorie dar. Sie treten an, um nachprüfbare Inhalte zu transportieren und müssen sich, genau wie wissenschaftliche Texte, an diesem Zweck messen lassen. Das unterscheidet die Gebrauchsgrafik, wie wir sie etwa in Lexika, Sachbüchern und Gebrauchsanweisungen antreffen, von 1 McCloud, Scott: Comics richtig lesen (‚Understanding Comics’ 1993), Hamburg: Carlsen 1994, S. 35.

19 Bildern in der freien Kunst. Bilder in diesem Sinne sind Zeichen. Das Wissensbild in den Wissenschaften denotiert das Dargestellte. Was befähigt diese Bilder für etwas anderes zu stehen? Offensichtlich findet in der grafischen Visualisierung eine Überführung von Daten und Theorien in eine bildliche Form statt. Die Verbindung zwi­schen dem Bild, zum Beispiel der Karte eines Gebietes, und der Sache, also dem Gebiet selbst, muss hergestellt werden, das heißt, es muss eine Kohärenz zwischen bestimmten Eigenschaften der Sache und bestimmten Eigenschaften des Bildes erzeugt werden. Dieses Verhältnis kann, es muss aber nicht, auf Ähnlichkeit beruhen. Manchmal, wie im Falle von Landkarten, wäre eine allzu große Ähnlichkeit sogar hinderlich, da eine sehr ähnliche Karte zu viele irrelevante Informationen erhalten würde, die ihrem intendierten Zweck entgegenstünden. Insbesondere in den Naturwissenschaften wird die Realität im Bild einer Abstraktion unterzogen. Es wird abstrahiert, stilisiert und typisiert. Dargestellt wird nicht die Sache wie sie ist, sondern eine Auswahl der jeweils als relevant befundenen Aspekte. Zudem ist Ähnlichkeit häufig gar nicht möglich: Allein aufgrund der notwendigen geometrischen Übersetzung der Kugelgestalt auf die Fläche sind beispielweise Atlanten der Erde keine Abbilder, sondern für den Informations- bzw. Wissenszweck erstellte Neukonstruktionen. Wissen, so könnte man folgern, ist auch nur eine Form des Entwerfens. Doch kommen Gebrauchsbilder nicht nur zum Einsatz, wenn man gewonnene Erkenntnis in eine anschauliche Darstellung zu übersetzen sucht. Modellierende Entwurfsskizzen sind – z. B. in Ar­ chitektur und Design, Illustration, Storyboard und Gebrauchsgrafik – ein notwendiges Hilfsmittel um überhaupt zu gestalten. Ohne Plan oder Bild kann es keine Realisierung geben. Man benötigt ein Modell, eine Skizze, einen Plan um anschaulich zu sehen, was man zu entwerfen im Begriff ist. Die Kommunikation über einen Entwurf ist erst möglich, wenn die anschaulichen Bilder vorliegen, sie bilden einen notwendigen Prozess beim Gestalten. Die grafischen Entwurfsverfahren, die hier Anwendung finden, folgen häufig keiner vorab festgelegten und standardisierten Systematik. Das liegt ganz einfach daran, dass Bilder i. d. R. nicht aus einem endlichen

20 Zeicheninventar bestehen, wie es etwa ein Alphabet bereitstellt. Während z. B. die Übersetzung lateinischer Buchstaben ins japanische Schriftsystem aufgrund der disjunkten Zeichen prinzipiell möglich ist, stellen sich bei der Übersetzung einer Entwurfsidee in ein Modell oder eine Skizze grundlegendere Fragen, denn für diese planerischen Bilder gibt es kein Alphabet, und ihre singulären Zeichen müssen häufig neu geschaffen werden. Die Transferleistung in visuelle Zeichen verlangt nach einer neuen Ordnung des Materials – und dies wiederum ist den Naturwissenschaften nicht fremd: Chemische Strukturformeln wären ein Beispiel für diese neue Ordnung. Mitunter werden Hinzufügungen, Auslassungen und Abweichungen notwendig um eine Sache piktural darzustellen. Die Gestalter*in steht vor der Aufgabe, eine adäquate Methode zu wählen. Legitim ist Bildlichkeit nur, wenn die Erzeugung einer Kohärenz zwischen Ausgangsmaterial und Darstellung gelingt. Logische Beziehungen im Ausgangsmaterial müssen in topologische Anordnungen in der bildlichen Darstellung übertragen werden. Man könnte also behaupten, die Logik einer Sache wird mithilfe von ästhetischen Entscheidungen sichtbar gemacht. Daraus ergeben sich vielfältige Strategien der bildlichen Veranschaulichung. Es sind viele unterschiedliche bildliche Darstellungen denkbar, die diese Aufgabe gleichwertig erfüllen – und doch sind sie nicht beliebig. Was im Layout sichtbar wird, benö­ tigt innere Logik, ist somit in Teilen immer selbstreferentiell. Rheto­rische bzw. ästhetische Persuasion ist in den Prozess der Gestaltung stets integriert, und pure Bereitstellung von Information grafisch nicht möglich. Wissenschafts- und Gesellschaftsgestaltung treffen sich und bilden Schnittstellen, die der vorliegende Band in den Vordergrund rücken möchte. Texte und Bilder sind menschengemacht und unter Rückgriff auf bestimmte Techniken, Materialien und Fertigkeiten entstanden. Bilder sind (wie sprachliche Äußerungen) in Abhängigkeit von unseren materiellen Möglichkeiten, Kenntnissen und Inte2 ressen verfasst, was eine Vielfalt von Weltbildern zur Folge hat. 2 In dem vorliegenden Band wurde darauf verzichtet, einheitlich zu gendern. Die Begründung erfolgt in dem Beitrag von

A. Geiger. Die Beiträge wurden so belas- sen, wie sie eingesandt wurden.

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Annette Geiger

Vom falschen Bild das Richtige denken Piktogrammatik seit Platon Vorbemerkung: Versuchsweise verwendet dieser Beitrag abwechselnd das generische Maskulinum und das generische Femininum. Das andere Geschlecht ist jeweils mitgemeint. Die Begründung für diese Strategie erfolgt im Text. Was ist ein Piktogramm? Auf den ersten Blick fällt uns die Definition nicht schwer: Komplexe Inhalte werden auf bildliche Symbole reduziert, damit sie klar und schnell erfassbar sind. Eingebettet in visuelle Systeme strukturieren Piktogramme unsere Orientierung und Wahrnehmung. Gebrauchsanweisungen und Verkehrsschilder steuern dabei gezielt unser Handeln und Verhalten. Pläne, Karten und Informationsgrafiken können auch größere Wissenszusammenhänge verdeutlichen, Comics und Bildergeschichten entwickeln umfassende Narrationen. Piktogrammatik ermöglicht uns standardisierte Zugänge zur Welt. Sprachliche Ausführungen werden durch bildliche Zeichen ersetzt, um die Komplexitätsreduktion in der Kommunikation zu erhöhen. Durch ihr hohes Maß an Konventionalität gelten Piktogramme als international bzw. inter­ kulturell einsetzbar. Zwar müssen die Zeichen und Zusammenhänge erst gelernt werden, so wie Verkehrsregeln auch, aber anschließend kann die Bildsprache als kollektiv unterstellbar gelten. All dies scheint so selbstverständlich, dass man meint, nicht weiter darüber nachdenken zu müssen. Das gute Design einer Bilderschrift hat sich an der guten Lesbarkeit zu orientieren – nicht mehr und nicht weniger. Doch was bedeuten Piktogramme als Kultur- und Wissensform? Wie organisiert sich unser Wissenszugang, wenn er bildlich strukturiert ist? Anders als die Sprachkritik, die als bewährter

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24 Zweig der Philosophie die Frage nach den Möglichkeiten des Wissens stets mitreflektiert, wird die Bildkritik nicht so konsequent auf die Epistemologie bezogen: An Bildern diskutiert man meist nur die Fehlleistungen, ihre Ähnlichkeit zur Wirklichkeit sei doch nicht mehr als Trugbild, Kopie, Schatten o. Ä. Mimetische Verfahren gelten als kulturell minderwertig, Analogiedenken wird als illegitime Vereinfachung gesehen. Unsere Kultur will sich in der Regel logozentrisch, denn die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens im semiotischen Duo von Signifikant und Signifikat gewährt höchstmögliche Präzision. Weil Sprache gar nicht erst versucht, die Wirklichkeit nachzuahmen, sei sie die überlegenere Kommunikationsform, so der tradierte Diskurs. Bilder bilden die Welt durch passiv rezipierende Wahrnehmungsorgane nur ab, Sprache hingegen stellt die Welt durch aktiv geformte Begriffe her, besagt ein weiteres Argument für die Überlegenheit des logos. Die Religion mag dafür ein Beispiel sein: Niemand hat Gott empirisch beobachtet, man kann ihn daher nicht in einer Abbildung zusammenfassen, zumindest nicht vollständig und adäquat. Ein Piktogramm Gottes wäre aus religiöser Sicht absurd. Nicht von ungefähr sind die monotheistischen Religionen um Schriften organisiert, die es auszulegen gilt. Nur die Sprache kann den jeweiligen Gott legitim darstellen, er geht nicht auf sinnliche Wahrnehmung zurück, sondern auf ein Wissen bzw. Glauben um die Existenz der Sache. Wenn im Christentum die alten Volkskirchen wegen der vielen Nichtleser trotz allem mit Bildern bzw. „Bibel-Comics“ ausgestaltet wurden, so gilt dies als niederes Hilfsmittel. Piktogramme verwendet man nur für einfach strukturiertes Denken, intellektueller bzw. spiritueller Anspruch hingegen hat mit Sprache verbunden zu sein, so das Vorurteil. Mein Beitrag möchte diese Sichtweise einmal in Frage stellen: Neben dem logozentrischen Denken gibt es auch ein piktozentrisches, das die menschliche Wissenskultur nicht minder geprägt hat. Die Analogie als bildliche Methode der Anschauung und Vermittlung konnte sich neben der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens stets behaupten. Die Vorteile des Bildes finden sich aus­ gerechnet bei Platon hervorragend beschrieben, allerdings muss man dabei das Bildersehen vom Bilderdenken unterscheiden. Platon

25 unterschied scharf zwischen den Trugbildern der visuellen Wahrnehmung auf der einen Seite und einer legitimen Form von Bild­ lichkeit auf der anderen – wie ich zeigen möchte, meinte er damit Piktogramme.

Vom Logo – zum Piktozentrismus Piktogrammatik ist der Triumph der Idee über die Sinne – ganz im platonischen Sinne: Alles Wahrnehmbare findet sich im Piktogramm derart abstrahiert, dass nur die Logik des Typischen erscheint und alles Zufällige, Willkürliche sich als überflüssig erweist. Aus der Vielfalt des Möglichen schält sich eine Art Idealbild heraus. Man blickt hinter die Diversität der Phänomene, um zu erkennen, wie etwas wirklich ist. Das mag allzu idealistisch klingen, aber es gibt Beispiele, denen man kaum widersprechen kann. So nehme man z. B. die Definition eines Punktes in der Geometrie: Ein Raumpunkt ist eine abstrakte Koordinate, die keine Ausdehnung hat; ein Zeichen, das einer Idee entspricht und nicht einem materialisierbaren Ding. Man definiert daher den Punkt als den Schnittpunkt zweier Geraden, in der Zeichnung wird er dargestellt durch ein Kreuz-Zeichen. Der eigentlich immateriell konstruierte Punkt ist damit „falsch“ wiedergegeben, denn die beiden sich schneidenden Geraden haben im Bild eine viel zu große Ausdehnung. Aber in der Betrachtung des Piktogramms vergisst man all das falsch Gesehene und denkt sich nur das Gemeinte dahinter. Die Idee kann nie erscheinen, sie ist zeichnerisch nicht darstellbar, aber wir denken vom falschen Bild trotz allem das Richtige. Der Vorteil des Piktogramms ist in der Geometrie vor allem didaktischer Natur: Man kann es selbständig begreifen, es wirkt selbsterklärend. Man braucht keine Lehrerin, die Gefahr laufen könnte, das zu vermittelnde Wissen durch Meinung oder gar Propaganda zu beeinflussen. Piktogramme erschienen Platon als immun gegen Ideologie und Sophistik – daher sein großes Interesse an dieser Bildform. Der Wert der Methode liegt in der Analogie von Signifikant und Signifikat: Bild und Idee fallen so weit als möglich zusammen. Aus dem gezeichneten Bild folgt ein Denkbild, das sich

26 von ersterem zwar emanzipieren muss, da es ja falsch ist, aber es ähnelt ihm noch immer (wie z. B. Platons Begriff methexis, dt. ‚Teilhabe‘, argumentiert). Die Idee bzw. das Wesenhafte bleibt mit dem Wahrnehmbaren durch Analogie verbunden, wie Platon z. B. im 7. Brief am Beispiel 1 des mathematischen Kreises erläutert  : Auf der niedersten Stufe steht das Wort „Kreis“ d. h. der sprachliche Ausdruck. Er ist willkürlich gefasst und heißt in jeder Sprache anders, als arbiträr festgelegter Begriff ähnelt er der Idee am wenigsten. Die Definition des Kreises durch eine sprachliche Beschreibung ist schon etwas präziser, indem sie festhält, dass ein Kreis durch das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte gebildet wird. Aber eine solche durch Begriffe gebildete Definition ist kompliziert, unanschaulich und daher schwer nachzuvollziehen. Der durch eine Zeichnung sichtbar gemacht Kreis hingegen vermag dies besser zu leisten: Wir erkennen unmittelbar, was gemeint ist. Dem Piktogramm des Kreises kommt nach Platon daher ein höherer Vermittlungswert zu als der begrifflichen Beschreibung desselben. Von der Zeichnung zur angestrebten Vernunfterkenntnis ist es nur ein kleiner Schritt, man erfasst die Idee des Kreises, indem man erkennt, dass es auf die Zeichnung gar nicht so sehr ankommt. Daher braucht man bei Platon auch keinen Künstler, der den Kreis als Ölgemälde besonders schön darstellen würde, jeder schief und krumm gekritzelte Kreis, z. B. mit dem Stock in den Sand skizziert, tut es auch – denn es geht ja um die Idee. Ähnliche Stufenleitern des Bilderdenkens als Überwindung des optischen Sehens bzw. des empirischen Beobachtens finden sich bei Platon bekanntlich auch im Liniengleichnis und im Höhlengleichnis. Platons Gleichnisse führen über anschaulich Bilder (der Linie, der Höhle usw.) zur Erkenntnis, sie wurden gewissermaßen als piktogrammatische Texte formuliert. So weit, so bekannt. Interessant wird diese Perspektive, wenn man die mathematischen Bilder Platons im Hinblick auf unsere heutigen Piktogramme weiterdenkt. Wissensvermittlung erscheint uns mittlerweile, im weiten historischen Bogen vom Buchdruck 1 Platon: Der siebente Brief, Stuttgart: Reclam 1964.

27 zum Beamer, ohne bildliche Aufbereitung gar nicht mehr möglich, gestaltete Informationsgrafik begegnet uns im Alltag allerorts. Doch wer würde schon auf die inhärenten Gesetze dieser Zeichensysteme achten? Dies unternahm erstmals der Nationalökonom, Wissenschaftstheoretiker und Volksbildner Otto Neurath (1882– 1945), er mag als Begründer der modernen Piktogrammatik gelten. Sein Ziel war die Volksaufklärung: Zusammen mit dem Grafiker Gerd Arntz entwickelte er eine neuartige Bildsprache, die den Menschen alle relevanten Fakten aus Wirtschaft und Gesellschaft anschaulich vermittelt, damit sie auf dieser Basis politisch bewusst handeln und denken können (Abb. 1). Was für Platon einst die Geometrie, war für Neurath daher die Statistik: Empirisch ermittelte Daten versuchte er mit Hilfe von Piktogrammen so zu vermitteln, dass man sich buchstäblich „ein Bild davon machen“ kann. Zahlenkolonnen, Mengen- und Größenverhältnisse, letztlich abstrakte Daten aller Art werden durch sein Darstellungssystem in eine leicht erfassbare Bildsprache transferiert. Statistische Größen sollen durch analoge Abbildungsverfahren so anschaulich werden wie z. B. Zahlengrößen in einem Rechenrahmen für die Grundschule (Abb. 2). Anders als im heute weit verbreiteten Verständnis waren Piktogramme für Neurath also nicht nur Hinweisschilder, Leitsysteme oder Verkehrszeichen. Bildpädagogik, so Neurath, ist die „Transformation von abstrakter wissenschaftlicher Erkenntnis in konkrete sozialrelevante Aussagen, von abstrakten Zahlen in leicht fassliche 2 Zahlen.“ Piktogramme ersetzen hier nicht so sehr Texte bzw. Worte, sie werden allem voran als Bilder gelesen, die Daten repräsentieren. Geschriebene Ziffern sind nach Neurath nichts anderes als Piktogramme, d. h. international vereinbarte „Zeichen der Mathe3 matiksprache“ . Die von ihm und Arntz ab 1925 entwickelte Bilderschrift Isotype (zunächst bekannt geworden als „Wiener Methode 2 3

Hier zitiert nach Bauer, Erwin K./Hart- mann, Frank (Hg.): Bildersprache. Otto Neurath – Visualisierungen, München: WUV 2006, S. 50. So schreibt Neurath: „Signs might give the same sort of help in ‚statistics‘ (making comparisons between amounts).



The books of this science are full of num- bers – the international signs of language of mathematics – and words are only used to give their sense.“ Neurath, Otto: International Picture Language. The first Rules of Isotype, London: Kegan Paul 1936, S. 17 f

28 Abb. 1: Growth in Number of Servants, Abb. aus Otto Neurath: International Picture Language, 1936

Abb. 2: Rechenrahmen für Grundschüler

der Bildstatistik“) beschreibt Neurath in seinem Buch International Picture Language (1936) folglich als „pictures giving ‚statistics‘ or the relation between amounts of different things – ‚amount pictures‘, or 4 ‚number-fact pictures‘.“ Neurath wollte sein Piktogramm-System nicht nur entwickeln, um die Alltagskommunikation zu erleichtern, sein Anspruch war viel umfassender: Er wollte die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden, indem er sie mit statistischen Methoden zunächst in Zahlen übersetzt und diese anschließend in Piktogrammen anschaulich darstellt. Es ging ihm um die Verzichtbarkeit des logos per se. Aller Text soll überflüssig werden, da man 4 O. Neurath: International Picture Langua- ge, S. 30.

29 die Welt mit Hilfe empirisch ermittelter Daten viel besser beschreiben kann. Oder um es mit Platon zu wenden: Für Neurath liefern Texte nur Trugbilder der Wirklichkeit; aber Bilder, die auf Zahlen zurückgehen, sind legitime Repräsentanten der Realität. Mehr Piktozentrismus als bei Neurath ist eigentlich nicht möglich, man benötigt hier die Sprache nicht mehr, denn man denkt und arbeitet in abbildbaren Daten. Nicht von ungefähr verstand Neurath seinen „logischen Empirismus“ als eine Einheitswissenschaft, die, strikt antimetaphysisch konzipiert, nur das als Welt 5 und Wirklichkeit zulässt, was man durch Empirie erheben kann. Was sich nicht in Zahlen darstellen lässt, gibt es nicht bzw. es hat keinen epistemologischen Wert für unser Denken und Handeln. So hat z. B. die Frage nach Gott schlicht nicht zu interessieren, da es keine empirische Evidenz für seine Existenz gibt. Eine Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften erübrigt sich in diesem Diskurs ebenfalls, denn alle relevante Realität lässt sich in zählbaren bzw. digitalen Codierungen ausdrücken – ganz ohne sprachliche Ausschweifung. Erkenntnis auf der Basis von Daten ermöglicht intersubjektiven Konsens, so die Logik von Neuraths 6 Universalismus. Das semiotische Dreieck aus Signifikat, Signifikant und Referent verallgemeinert Neurath zu einer Weltformel aus erhobenen Daten (Signifikat), abbildenden Piktogrammen (Signifikant) und der damit präzise erfassten Wirklichkeit (Referent). Da es nur noch eine Art der Erkenntnis gibt, braucht man auch nur eine Sprache, in der alle Bilder einem einheitlichen Code gehorchen, so Neurath über seine Isotype: „All pictures are part of a unit: they are using the same language. Signs of the same language are put together in 7 harmony with the same rules.“ Die piktogrammatische Einheitssprache verweist letztlich auf eine Art algorithmisches Denken: 5 6

Siehe weiterführend Symons, John/ Pombo, Olga/Torres, Juan Manuel (Hg.): Otto Neurath and the Unity of Science. Heidelberg u. a.: Springer 2011. Der Wiener Kreis, an dem Neurath mit- wirkte, forderte daher „[...] die Hervorhebung des intersubjektiv Erfassbaren; hier aus entspringt das Suchen nach einem neutralen Formelsystem, einer von den

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Schlacken der historischen Sprachen be- freiten Symbolik; hieraus auch das Suchen nach einem Gesamtsystem der Begriffe.“ Verein Ernst Mach (Hg.): Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Wien: Artur Wolf Verlag 1929, S. 15. O. Neurath: International Picture Langua- ge, S. 28 f.

30 Abb. 3: Men Living on the Earth, Abb. aus Otto Neurath: International Picture Language, 1936

Abb. 4: Signs for the 5 groups of men, Abb. aus Otto Neurath: International Picture Language, 1936

31 Die ermittelten Größen werden umgerechnet in Zeichenreihen, dabei wird eine Codierung angewendet, die nach einem festen Muster ausliest und verschlüsselt. Neuraths Pikotgrammatik bildet gewissermaßen das bildliche Pendant zur Lochkarte seines Zeitgenossen Alan Turing. Das Wissen über die Wirklichkeit wird chif­ friert, um im Piktogramm durch den Blick der Leserinnen wieder dechiffriert zu werden. Die Bilder fungieren als Denkbilder bzw. Masken für die dahinter liegenden Daten. Sprache benötigt man für deren Interpretation nicht, denn man decodiert ja nur. Die gestalteten Symbole der Isotype sind im obigen Sinne „falsche“ Bilder, von denen wir wiederum das Richtige denken müssen: Die Abbildung einer Figur zeigt nicht etwa einen einzelnen Menschen, gemeint ist eine quantitativ definierte Menschenmenge, die durch diese Figur repräsentiert wird. Eine Person ist nicht eine Person, sondern steht für viele Personen. Die Darstellung einer halbierten Figur bildet folglich nicht einen aufs Grausamste durchgeschnittenen Menschen ab, sondern meint natürlich die halbe Menge (Abb. 3). Die Teilung der Figur fordert Analogiedenken vom Leser und eben dies schätzt Neurath an Piktogrammen, sie ähneln dem Gemeinten mehr als die Wörter, so hält er fest: „The man has two legs; the picture-sign has two legs; but the word-sign ‚man‘ has 8 not two legs.“ Während die Sprache top down von oben nach unten regiert, also ihre Konzepte, Begriffe oder sogar Götter willkürlich erfindet, um die Welt anhand von arbiträren Wörtern zu beschreiben, weiß die Bildpädagogik als bottom up-Verfahren ihre gesicherte Ähnlichkeit zur Wirklichkeit zu wahren – zumindest wenn man, wie Neurath, das als Wirklichkeit versteht, was man in solchen Datenbildern bzw. Bilderdaten abzubilden versteht. Die grafische Gestal­tung der einzelnen Isotype-Piktogramme wollte Neurath dabei so neutral und sachlich wie möglich halten. Aber wie zeichnet man eigentlich eine menschliche Figur, so dass sie als objektiv bzw. empirisch überprüfbar gelten kann? Das Falschsein der Bilder kann dabei auch zum Problem werden. 8 O. Neurath: International Picture Langua- ge, S. 20.

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Stigma und Schablone: Wie könnte man falsche Bilder verbessern? Sobald man in Piktogrammen auch Menschen abbildet, werden sie als Zeichen gelesen, wie eine Gesellschaft „aussieht“. Wir sehen darin keine abstrakten Chiffren mehr, sondern uns selbst – z. B. nach Klasse oder Geschlecht, nach Herkunft, Einkommen oder Beruf sortiert. So dass sich die Betrachterin fragen muss: Sehe ich wirklich so aus? Werde ich hier richtig repräsentiert? Oder stülpt mir das Bild eine ungerechte bzw. diskriminierende oder gar rassistische Darstellung über? Es lag nicht nur an den Holz- und Linolschnitten der Isotype-Gestaltung, die bewusst als scherenschnitthafte Silhouetten entworfen wurden, das Denken von Neurath/ Arntz war an sich schon in Schubladen angelegt: Piktogramme wirken grundsätzlich generisch, d. h. verallgemeinernd, als abstrahierende Abbildungen werden sie zur Schablone. Sie zeigen nicht mehr die Vielfalt des Möglichen, sondern reduzieren auf eine minderkomplexe Form, die, übertragen auf die Gesellschaft, immer auch als Normierung und Festschreibung verstanden werden kann. Das Denken in Kategorien ist nie neutral, es neigt zur Klischee­ bildung, es differenziert nicht und bildet daher einen idealen Nährboden für Stigmatisierung. Neurath verfolgte zwar die Vision, dass seine internationale Bildersprache Harmonie und Einheit in der Welt stiften werde, da mit ihrer Hilfe über alle Nationalsprachen hinweg kommuniziert werden kann. Doch brachte sein Idealismus einen erheblichen blinden Fleck hervor: Die Arroganz des eurozentrischen Blicks gegenüber anderen Kulturen könnte in Neuraths Universalismus nicht deutlicher ausfallen. Arntz als engagierter Rätekommunist und Neurath als bekennender Sozialist hatten zwar die Arbeiterklasse stets im Sinn, hier lag ihnen an einer würdigenden Darstellung der 9 schlecht bezahlten Erwerbsarbeit. Für andere Kulturen und Kontinente galt diese Empathie jedoch nicht. 9

Insbesondere Gerd Arntz verstand seine Gestaltung stets politisch, er bemühte sich, die Schattenseiten des Kapitalismus aufzuzeigen (Armut auf der einen Seite,



Dekadenz, Morallosigkeit, Mord auf der anderen) und im Gegenzug den Proleta- rier zu heroisieren. Siehe weiterführend Frömming, Gesa: „Vom ‚Negersklaven‘

33 Die Erfassung der Weltbevölkerung teilten Neurath/Arntz in International Picture Language (1936) z. B. in fünf verschiedene Gruppen von Menschen ein (Abb. 3, 4): Sie werden als „weiße – rote – schwarze 10 – braune – gelbe Menschen“ erfasst, was offenlegt, dass sie nicht nach Erdteilen oder Kulturräumen unterschieden werden, sondern nach grafisch gut darstellbaren Hautfarben bzw. Rassen. Die entsprechenden Kopfbedeckungen zeigen, wen Neurath/Arntz damit meinten: Neben „weißen“, „schwarzen“ und „gelben“ Menschen, die man leicht identifizieren kann, werden Mittel- und Südamerikaner zu „roten“ gemacht, da man ihnen offenbar indianischen Ursprung zuschreibt. So wie alle „braunen“ wegen des Turbans wohl den muslimischen Teil der Welt bezeichnen sollen. Neurath/Arntz vermengen hier die Symbole von Religion und Herkunft, um eine klare Hierarchie unter den Menschen zu behaupten, natürlich mit den Weißen an der Spitze (Abb. 3). Der begleitende Text erläutert zudem, dass es technisch sehr einfach sei, allein mit der Druckfarbe Schwarz oder auch einem zusätzlichen Rot, die gesamte Menschheit abzu11 bilden: Hat man nur Schwarz für den Druck zu Verfügung, so die mittlere Zeile (Abb. 4), bildet man einfach die Weißen als weiß ab und alle anderen als schwarz. Auch „rote“, „braune“ und „gelbe“ werden unter schwarzer Hautfarbe subsummiert, damit die Überlegenheit der Weißen möglichst gut ins Auge sticht. Hat man als Druckfarbe auch noch Rot zur Verfügung, wie in der untersten Zeile vorgeführt, so kann man immerhin die „Roten“ richtig einfärben und grenzt die „Braunen“ und „Gelben“ einfach durch Schraffur als etwas heller Schwarz oder heller Rot ab, so dass auch hier nur Weiße wirklich weiß sind. Betrachtet man die Bekleidung bzw. die Kopfbedeckungen der Figuren, ergibt sich dasselbe Bild: Der weiße Mann trägt nicht etwa die Mütze des Arbeiters, sondern den Hut des Geschäftsmannes oder Beamten. Während der „geschwärzte“ Rest der Welt, erst gar zum ‚Sklaven des Kapitals‘: Der Topos des schwarzen Amerikaners in der Wei- marer Linken“, in: Blackness transnatio- nal. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4 (2006), https://www.studienverlag.at/

bookimport/oezgArchiv/media/ data0718/4264_oezg_2006_04_s081_ 101_froemming.pdf vom 18.12.2020. 10 O. Neurath: International Picture Langua- ge, S. 45. 11 Ebd., S. 48.

34 keinen Hut besitzt (Afrika), auf bäuerliche Tätigkeit herabgewürdigt (Asien, Lateinamerika) oder auf seine Religion (Islam) reduziert wird. Zudem suggeriert die mittlere Zeile, dass allein der weiße Mann ordentlich bekleidet arbeitet, während allen anderen People of Color hier über einen nackten Oberkörper konnotiert sind, so dass ihnen nur niedere, körperliche Tätigkeit zugeschrieben wird. Eine wahrhafte Bemühung um Neutralität kann man Neurath angesichts solcher Piktogramme kaum abnehmen, aber es ist davon auszugehen, dass er seine Darstellungen als sachlich und objektiv empfand. Neurath, so wird in der Literatur immer wieder betont, war als überzeugter Sozialist sicherlich kein NS-Anhänger. Als politisch Verfolgter des Roten Wiens und als Sohn eines jüdischen Vaters war er mehrfach zur Flucht gezwungen. Trotz allem war ihm rassistisches Gedankengut keineswegs fremd: Er hatte 1910 gemeinsam mit seiner ersten Frau Anna Schapire-Neurath das Buch Genie und Vererbung (1869) von Francis Galton vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Galton gilt als der Begründer der Eugenik, das Übersetzerpaar würdigt seine Leistungen in Vorwort und Einleitung ohne jede Kritik: Die „Lehre von der guten Zeugung“ zeige, dass Genie sich biologisch vererben müsse, um zur „Verbesserung unserer Rasse“ und 12 damit zur Verbesserung der sozialen Ordnung beizutragen. Das gezielte Herabwürdigen von Menschen anderer Kulturen gilt es an dieser Stelle jedoch vom allgemeinen Falschsein der Bilder zu unterscheiden. Ein beleidigender bzw. rassistisch motivierter Diskurs kann, wie hier, absichtlich verfolgt werden – und das ist natürlich falsch bzw. ethisch nicht vertretbar aus heutiger Sicht. Doch meint das allgemeine Falschsein der Bilder weniger die absichtliche Verfälschung des Bildes zu ideologischen Zwecken. Es geht vielmehr um die Gefahr des Generischen an sich: Die Abstraktionsleistung der Piktogrammatik macht bestimmte Aspekte an den Figuren sichtbar und andere unsichtbar, die man aber trotz allem mitdenken bzw. „richtigdenken“ soll. Auch dies ist an der gezeigten Abbildung von Neurath/Arntz leicht aufzuzeigen: Wenn es 12 Hier zitiert nach Sandner, Günther: Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien: Szolnay 2014, S. 36.

35 um die Darstellung der Menschheit an sich geht, sieht man stets männliche Figuren im Piktogramm. Frauen sind natürlich mitgemeint, aber die weibliche Hälfte der Welt ist unsichtbar, sie wird von der generischen Darstellungsform geschluckt. Wenn Frauenfiguren bei Neurath/Arntz explizit abgebildet werden, findet man sie z. B. als Braut, in Care-Berufen oder als Magd bzw. Dienstmädchen dargestellt (Abb. 1). Ansonsten skizzierten die Autoren die Welt im generischen Maskulinum, d. h. die Piktogramme zeigen einen Mann, wenn alle Menschen gemeint sind, und sie zeigen eine Frau, wenn nur Frauen gemeint sind. Dass diese Verallgemeinerung keineswegs nur ein Problem der Piktogrammatik darstellt, sondern bereits in der statistischen Erhebung der Gesellschaft zu massiven Verzerrungen führt, hat Caroline Criado-Perez in ihrem Buch Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert (2020) jüngst ausgeführt. Bis heute wird bei der statistischen Erhebung z. B. für die Sozialplanung von Stadt und Verkehr oder auch für die Ergonomie von technischen Geräten vornehmlich die männliche Bevölkerung in ihren Maßen, Bedürfnissen und Verhaltensweisen zugrunde gelegt. Die Spezifik von weiblichen Körpern, Tätigkeiten und Lebensläufen wird hierbei nicht miterhoben. Sollte man Neurath/Arntz neben dem rassistischen Diskurs also auch die gezielte Diskriminierung der Frau vorwerfen? Formal haben sie eigentlich alles richtig gemacht: Sie haben sich darauf verlassen, dass man von falschen Bildern, die nur Männer abbilden, das Richtige denkt, nämlich dass Frauen auch gemeint sind. Generisches Denken ist als universalistisches Denken stets gleichgültig gegenüber den real existierenden Unterschieden zwischen den Menschen. Es soll ja die Gleichheit aller Menschen betont werden, was wiederum die Forderung impliziert, dass man eine Bringschuld habe, sich auch als gleich zu sehen bzw. sich gleich zu machen. Zu betonen, dass man anders sei, stellt in dieser Logik einen Verrat am Gleichheitsideal dar. Die Nichtanerkennung von race, class & gender-Unterschieden in den westlichen Diskurskulturen (z. B. des Christentums, der Aufklärung u. a.) kann daher unter dem Deckmantel, wir seien doch alle gleich, zu offener Diskriminierung führen. Die Anderen müssten sich doch nur angleichen, dann wären

36 sie genauso gleich – so das implizite Gebot. Unmündigkeit, so befand schon Immanuel Kant, gilt es als selbstverschuldet zu betrachten. Wem die Emanzipation nicht gelingt, der trage selbst die Schuld. So dass im Umkehrschluss den „Ungleichen“ bzw. den zivilisatorisch „Versagenden“ kein besseres Schicksal zu gönnen ist als Ausbeutung und Versklavung. Sie hätten sich doch emanzipieren können – so die unverkennbare Arroganz jenes Diskurses der Aufklärung, der den Kolonialismus und Imperialismus eben nicht abgeschafft, sondern erst hervorgebracht hat. Generische Formen wie bei Neurath tragen daran sicherlich Mitschuld, sie regen an zu Stigmatisierung und neigen zum Unsichtbarmachen – beides unter dem Vorwand des Gleichheitsideals. Dass sie heute im Zentrum identitätspolitischer Angriffe stehen, muss daher nicht verwundern. Doch wie sollte man die generischen Bilder und Begriffe nun gestalterisch verbessern? Einmal mehr scheint die arbiträre Sprache hier ihr Genie zu beweisen: Das logozentrische Denken wirkt überlegen, weil man Begriffe gezielter ändern und anpassen kann. Doch wie gelungen sind die heutigen Korrekturen eigentlich? Gerade wenn man die bildliche Seite der Schreibweisen betrachtet, erscheint die gendersensible Sprache weitaus weniger sensibel als man meint. Der Unsichtbarkeit der Frauen und der diversen Geschlechter soll bekanntlich durch das Setzen einer Lücke entgegnet werden. Wir schreiben, um das generische Maskulinum auszumerzen, die männliche und weibliche Form hintereinander und fügen dazwischen eine gender gap, z. B. durch Sternchen oder Unterstrich o. Ä., um auch den unbestimmten Geschlechtern gerecht zu werden. Damit werde m/w/d gut sichtbar gemacht, durch eine kurze Pause bzw. Unterbrechung im Sprachfluss könne dies auch gesprochen werden – so der Diskurs. Doch was drückt das typografische Piktogramm der Lücke strenggenommen aus? Der geschaffene Zwischenraum inmitten des Wortes kann bildlich nur so interpretiert werden, dass zwei Geschlechter sichtbar werden dürfen, aber alles „andere“ wiederum in der Lücke zu verschwinden hat. Zwei Geschlechter existieren positiv durch Sichtbarwerden (m/w) und eines nur negativ durch erneutes Unsichtbarmachen (d). Auch beim Sprechen werden die zwei „normalen“ Geschlechter benannt und alles „andere“ verschwindet in

37 Abb. 5: Toilettenschild „m/w/d“

Abb. 6: Deutsches Gehwegschild

der Unaussprechbarkeit bzw. in einem geholperten sprachlichen Hicks. Das alles ist sicher gut gemeint, aber das Bild der Sprache fordert einmal mehr auf, vom falschen Zeichen das Richtige zu denken. Die Lösung der Lücke ist ihrerseits generisch, da sie im Fall von d nicht zeigt, wen sie meint. Dem identitätspolitischen Diskurs nach ist aber gerade das Unsichtbarmachen der Grund allen Übels. Der Entwurf einer gender gap ist sicherlich frauenfreundlicher, aber ansonsten so traditionell wie ehedem. Jeder Versuch, das Generische an Bildern zu korrigieren scheitert an der Nichtdarstellbarkeit des Diversen. Dies zeigen insbe­ sondere die piktogrammatischen Lösungen, die meist unbefrie­ digend bleiben. So z. B. in der aktuellen Diskussion um die Toi­letten-Beschilderung: Wie kann man das m/w/d-Symbol auf Unisexbzw. Whichever-Toiletten gelungen gestalten? Die nächstliegende Lösung, die man derzeit antrifft, versucht neben den Frauen im Rock und den Männer in Hosen auch noch das undeterminierbare Geschlecht durch eine halbe Hose und einen halben Rock darzustellen (Abb. 5). Auch das ist natürlich gut gemeint, aber was besagt das Piktogramm über diese dritte Figur? Sie erscheint als nichts Halbes und nichts Ganzes. Transgender-Personen, die für die Anerkennung ihres neuen Geschlechts gesellschaftlich kämpfen müssen, werden durch diese Grafik erneut diskriminiert. Sie werden

38 neben „­ richtigen“ Männern und „richtigen“ Frauen nur als Halbwesen dargestellt. Oder sollten mit der Darstellung nur Cross-Dressende, Dragqueens und Dragkings gemeint sein? Wie immer man es auch liest: Das korrigierte Bild bleibt falsch. Denn nicht zuletzt: Warum sollten Frauen eigentlich heute noch akzeptieren, dass sie stets im Rock dargestellt werden? Sie haben doch längst auch Hosen an. Der Aktivismus unserer Tage versucht in vielen Fällen das Falsche an Bildern zu korrigieren, ohne zu begreifen, dass das neue Bild nicht minder falsch ist, weil es noch immer generisch ist.

Aliens verstehen uns nicht: Vom Witz der Piktogrammatik Der identitätspolitisch motivierte Wille, das Generische an Piktogrammen durch eine Sichtbarkeitspolitik auszumerzen, die tatsächlich alle abbildet, kann schon aus darstellungslogischen Gründen nicht gelingen. Es bestünde die Gefahr, dass wir beginnen, Bilder nur noch buchstäblich zu lesen: Bin ich hier gemeint? Fühle ich mich hier gut repräsentiert? Muss ich einem Verbots- oder Gebotsschild überhaupt gehorchen, wenn ich darauf nicht adäquat abgebildet bin? Wie absurd sich das Bilderlesen in diesem Fall gestalten würde, mag ein kurzes Gedankenexperiment verdeut­ lichen: Man versetze sich in ein außerirdisches Wesen hinein, das die Erde besucht. Es würde versuchen, die Humanoiden beim Gebrauch ihrer Piktogramme zu beobachten und hätte das Prinzip des Generischen noch nicht verstanden. Es müsste verwundert feststellen: Männer, die einen Rock tragen, weil sie z. B. in eine schottische Tracht gekleidet sind oder im asiatischen Raum einen Wickelrock um die Lenden geschwungen haben, benutzen trotz allem die Toilette mit der Hose auf dem Piktogramm. Frauen, die ihren religiösen Glauben auch in ihrer Kleidung ausdrücken, gehen ganz selbstverständlich auf die Toilette mit dem kurzen Rock, obwohl sie ausschließlich längere Gewänder tragen (wie z. B. die christliche Nonnentracht, die muslimische Abaya oder Burka, den Sari in Indien oder den wadenlangen Rock im Judentum usw.). Die auf dem

39 Piktogramm gezeigte Rocklänge, die über dem Knie endet, lehnen sie doch eigentlich ab? Das Alien könnte zudem sehr erstaunen, dass Frauen an roten Fußgängerampeln stehen bleiben, obwohl doch ein „Ampelmännchen“ darauf abgebildet ist. Oder dürfen Frauen mit Rock bei Rot die Straße überqueren, Frauen in Hose hingegen sollten ebenso stehen bleiben wie männliche Hosenträger? Nachdem ein netter Mensch ihm das Prinzip des Generischen erläutert hätte, käme das Wesen abermals an seine Grenzen: Wie deuten diese seltsamen Humanoiden eigentlich das hierzulande noch immer gebräuchliche Fußgängerschild? Man sieht darauf eine Frau mit einem Mädchen an der Hand (Abb. 6). Das deutet nach den Regeln der menschlichen Piktogrammatik darauf hin, dass Männer nicht mitgemeint sind, denn als generisch für beide Geschlechter gilt nur die männliche Figur. Das zeigen einer Frau mit weiblichem Kind müsste also bedeuten: Diesen Weg dürfen nur Frauen in Begleitung eines Mädchens benutzen. Männer, Frauen ohne Kind und Frauen mit einem Jungen an der Hand haben also das Auto zu benutzen? Sehr verwundert würde der extra-terrestrische Blick zudem auf die heutige Bemühung blicken, Rollstuhlfahrerinnen nicht so passiv, starr bzw. unsportlich abzubilden, indem man eine dy­ namischere Körperhaltung für diese Personen wählt (Abb. 7). Die Korrektur des Piktogramms leuchtet uns sofort ein, eine Gehbehinderung sollte nicht generisch auf den ganzen Menschen bezogen werden, der schließlich viele andere körperliche Fähigkeiten besitzt bzw. sportlicher und beweglicher sein kann als sein gehender Mitmensch. Aber warum zeigt dieser Rollstuhl, so würde das Alien fragen, eigentlich immer nur ein Rad? Ein korrekt abgebildeter Rollstuhl müsste perspektivisch 4 Räder bzw. 2 Achsen haben oder in der strengen Seitenansicht zumindest 2 Räder aufweisen (vorne ein kleines, hinten ein großes). Sonst rollt der Rollstuhl nicht selbstständig, er müsste als einachsiges Gefährt von einer zweiten Person geschoben werden, was die sitzende Person wiederum als abhäng­ig erscheinen lässt. Das Alien käme zu dem Schluss: Ständig bilden diese verrückten Humanoiden auf ihren Piktogrammen etwas ab, was es entweder so nicht gibt, oder was etwas völlig anderes

40 Abb. 7: Piktogramm zum dynamischen Rollstuhlfahren

Abb. 8: Wickelraum-Piktogramm mit Frauenfigur

darstellt, als es meint – und trotz allem verstehen sie alle, was damit gemeint ist. Unsere sprachlichen und bildlichen Codes beruhen immer auf kognitiver Verzerrung. Erkennen ist Verzerren, d. h. Erkenntnis beruht stets auf einer Komplexitätsreduktion, die den Gegenstand der Erkenntnis verfälschend wiedergibt. Ein „richtiges“ Piktogramm gibt es folglich nicht, stets müssen wir etwas hinzudenken und greifen dabei auf gelernte Konventionen zurück, um die Bilder zu entschlüsseln. Das Piktogramm ist deshalb keine Lüge, es verweist nur auf kollektiv unterstellbare Vereinbarungen. Für das Beispiel der Geschlechtergerechtigkeit kann man also folgern, dass es eher darum geht, die Konventionen zu korrigieren und weniger die Falschheit des Bildes an sich. Denn unsere Vorstellungen und Denkmuster können sich ändern, doch die Unzulänglichkeit des generischen Piktogramms wird sich nicht beheben lassen. Gendersensibilität sollte also nicht durch eine vermeintlich „richtige“ Sprache erzwungen werden, sondern durch einen verbesserten Umgang mit derselben. Es gilt, die pragmatische Ebene der Kommunikation gerechter zu gestalten, denn in die grundsätzliche Verfasstheit von Bildern und Begriffen kann man letztlich nicht eingreifen. Die allzu einseitige und dominante Anwendung des generischen

41 Maskulinums könnte man z. B. aufweichen, indem man es abwechselnd mit einem generischen Femininum und neutralen Formen („Mensch“, „man“ etc.) verwendet. Man könnte einmal nicht von „Ärzten und Krankenschwestern“ sprechen, sondern von „Ärztinnen und Krankenpflegern“ – die anderen sind ja jeweils mitgemeint. Man könnte die Formen wechselnd bzw. immer wieder anders verwenden, um damit auszudrücken, dass alle Bilder und Begriffe, ebenso wie die Geschlechter, grundsätzlich divers und ambivalent sind und nicht starr; dass es um ein Spiel mit der Sprache geht und nicht um den Absolutheitsanspruch einer Sprachkorrektur, die ihrerseits Gefahr läuft in Ideologie zu münden. Es gilt durch den Gebrauch von Wort und Bild Diversität zu praktizieren und damit aufzuzeigen, dass es schlicht unmöglich ist, alle bzw. alles darin abzubilden. An der Gestaltung von Piktogrammen sieht man besonders deutlich, dass sie nicht zeigen, wie die Welt ist, sondern wie wir sie uns vorstellen. Sie drücken in der Regel nicht aus, wie bei Neurath angedacht, was es zu einem bestimmten Zeitpunkt statistisch messbar gibt. Vielmehr bringen sie über die bildliche Darstellung zum Ausdruck, was die Gesellschaft als ihre Lebenswirklichkeit wünscht und anstrebt, sie zeigen Projektionen mehr als Wirklichkeit. Letztlich bilden sie nur die Verzerrung ab, mit der wir generell in die Welt sehen. Das macht Bilder und Begriffe auf der einen Seite so gefährlich, da sie als normative Festlegung eingesetzt werden können. Auf der anderen Seite können wir sie aber auch als Chance wahrnehmen, das darzustellen, was es empirisch bzw. statistisch gesehen noch nicht gibt, was aber gesellschaftlich zu begrüßen wäre. So nehme man z. B. das Piktogramm für einen Wickelraum: In der Regel finden wir dort noch immer eine Figur mit Rock stehend an einem Wickeltisch abgebildet sowie ein abstrahiertes Kleinkind (Abb. 8). Statistisch gesehen mag es heute noch richtig sein, dass mehr Frauen Kinder wickeln als Männer. Aber man könnte es gezielt anders herum abbilden, d. h. die Abbildung einer generisch maskulinen Figur verwenden (Frauen sind ja mitgemeint), um zu mehr 13 gendersensibler Arbeitsteilung anzuregen. Es ist die Einseitigkeit bzw. die unreflektierte Verwendung von männlichen und weiblichen Zuschreibungen, die heute das Problem darstellt, aber nicht

42 die generische Form an sich. Gestaltung kann sensibilisieren für gesellschaftliches Umdenken, wenn die praktische Kommunikationsebene nicht das Sosein der Welt abzubilden sucht, sondern mit Szenarien spielt. Aus einem Spiel mit den generischen Formen könnte auch deutlich mehr Witz entstehen als wir es heute in einem Alltag gewohnt sind, der uns piktogrammatisch meist ohne jeden Humor regiert. So denke man sich einmal ein Notausgangsschild, auf dem kein „Strichmännchen‘“ abgebildet ist, sondern ein „Strichfrauchen“. Würden Männer dann im Ernstfall in eine andere Richtung laufen als vom entsprechend ausgerichteten Pfeil angegeben? Oder würden sie sich mitgemeint fühlen, so wie Frauen im Regelfall des generisch männlichen Piktogramms? Oder könnte man den Körper jener Figur an den gendersensiblen Stellen unsichtbar machen, so dass z. B. ein Kopffüßler, wie ihn kleine Kinder zeichnen, als generisches „Strichmenschchen“ (Abb. 9) zur Notausgangstür rennt? Vielfältigste gestalterische Lösungen sind hier möglich, denn es geht um Sensibilisierung und nicht um Korrektur. Je falscher die Bilder sind, desto besser können sie ihr grundsätzliches Falschsein thematisieren. Warum der gewitzte Umgang mit Form eigentlich die beste Lösung für nichtlösbare Probleme darstellt mag z. B. ein Toilettenpiktogramm verdeutlichen, das diverse fiktive Figuren neben real existierende stellt (Abb. 10). Sobald sich auch Meerjungfrauen, Aliens, R2D2 und Batman unter die Dargestellten mischen, wird deutlich, dass man die Figuren nicht als buchstäbliche Repräsentanten zu lesen hat. Doch könnte diese Ausführung wegen der populären Filmfiguren wiederum missverstanden werden als Zeichen der Hegemonie des westlich geprägten Mainstream-Kinos. Subversion und Ambivalenz gelungen zu gestalten ist heute wichtiger denn je, nur dann kann die berechtigte identitätspo­ litische Kritik am Universalismus Wege aufzeigen, die nicht ihrerseits in Normierung und Festschreibungen stecken bleiben. Otto Neurath hatte dafür noch kein Verständnis, sein Universalismus war eine Art Glaubensbekenntnis, das nur nüchterne Daten und 13 Solche Schilder sind bereits im Umlauf. Sie sind aber noch selten, oft wird ausgewichen auf die Abbildung eines

Kindes in Windeln, d. h. ohne begleitende Erwachsenen-Figur.

43 daher keinen Humor zulassen konnte. So kritisierte Neurath z. B. den Zeichenstil der Piktogramme seiner Zeit: „Heute ist die Dar­ stellungsweise meist naturalistisch, literarisch und besonders übel, 14 wenn sie witzig sein soll.“ Die unerträgliche Falschheit des Gen­ erischen, so möchte ich entgegen, ist aber mit Humor viel besser zu ertragen.

Abb. 9: Entwurf eines genderneutralen Notausgangsschilds (Grafik: Yannick Breuer)

Abb. 10: Toilettenschild mit Fantasie- und Filmfiguren

14 Hier zitiert nach E. Bauer/F. Hartmann: Otto Neurath, S. 11.

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Literaturverzeichnis Bauer, Erwin K./Hartmann, Frank (Hg.): Bildersprache. Otto Neurath – Visualisierungen, München: WUV 2006. Doudová, Helena/Jacobs, Stephanie/ Rössler, Patrick (Hg.): Bildfabriken. Infografik 1920-1945: Fritz Kahn, Otto Neurath et al., Leipzig: Spector Books 2017. Frömming, Gesa: „Vom ‚Negersklaven‘ zum ‚Sklaven des Kapitals‘: Der Topos des schwarzen Amerikaners in der Weimarer Linken“, in: Blackness transnational. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4 (2006), https://www.studienverlag. at/bookimport/oezgArchiv/media/ data0718/4264_oezg_2006_04_ s081_101_froemming.pdf vom 18.12.2020. Neurath, Otto: International Picture Language. The first Rules of Isotype, London: Kegan Paul 1936.

Platon: Der siebente Brief, Stuttgart: Reclam 1964. Sandner, Günther: Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien: Szolnay 2014. Symons, John/Pombo, Olga/Torres, Juan Manuel (Hg.): Otto Neurath and the Unity of Science, Heidelberg u. a.: Springer 2011. Verein Ernst Mach (Hg.): Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Wien: Artur Wolf Verlag 1929. Neurath, Marie/Kinross, Robin (Hg.): Die Transformierer: Entstehung und Prinzipien von Isotype, Zürich: Niggli 2017.

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Astrit Schmidt-Burkhardt

Re/Präsentation im Zeitalter des Auges Otto Neuraths metho­ dische Anverwandlung der Kunst/Geschichte 1919 verkündete Otto Neurath, damals Direktor des Deutschen Wirtschaftsmuseums in Leipzig: „Das Zeitalter, welches jetzt anbricht, wird gerade durch dies Ineinandergreifen und Zusammenwirken technischen und wirtschaftlichen Denkens und Schaffens gekennzeichnet sein. Wenn wir von ‚Technik‘ sprechen, so haben wir immer eine bewusste Gestaltung im Auge, deren Ziel und Weg klar beschrieben, womöglich berechnet werden kann. Dadurch unterscheidet sich die Technik von der Kunst, welche mit unbewussten Teilhandlungen und nicht näher bestimmbaren Allgemeinfolgen rechnen muss. Die ästhetischen Wirkungen einer Kirche, eines Bildes sind nicht in derselben Weise theoretisch ableitbar, wie etwa die Hubwirkungen einer Pumpe. Die Technik bringt eine Auswahl aus den Kausalzusammen1 hängen, mit denen sich die Physik und Chemie beschäftigt.“   Dem habilitierten Nationalökonomen schwebte eine systematische Gestaltung des sozialen Lebens und Wirtschaftens vor, eben die Planwirtschaft als „Gesellschaftstechnik“, die sich so fein justieren lassen könnte wie die Schrauben einer Maschine bzw. vorhersagbar wäre wie chemische Prozesse. 1 Neurath, Otto: Technik und Wirtschafts- ordnung, München: Callwey 1919, S. 2.

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48 Als sich Neurath am Vorabend der Münchner Räterepublik für die Kausalisierung von Fakten aussprach, war es um die volkswirtschaftliche Allgemeinbildung schlecht bestellt. Zudem gäbe es keine „Hilfsmittel der Darstellung“, um das neue Zeitalter angemessen 2 vermitteln zu können, so seine Kritik. Neurath hatte daher eine Art „Universalstatistik“ im Sinn, in die empirisches Wissen aus unterschiedlichsten Bereichen einfließen sollte, basierend auf engster 3 Zusammenarbeit von Technikern, Medizinern und Ökonomen. Damit war das Programm formuliert, das er 1925 mit der Gründung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien institutionalisieren sollte und mittels eines neuartigen Darstellungsverfahrens in die Praxis übertrug: der „Wiener Methode der Bildstatistik“. In Neuraths visionärer Ankündigung kommt aber zugleich noch etwas ganz anderes zum Ausdruck: eine grundlegende Skepsis, um nicht zu sagen Abneigung gegenüber den schönen Künsten, denen er die fragwürdige Note der Unberechenbarkeit attestierte. Nichts, aber auch gar nichts in dieser Aussage lässt erahnen, dass der angehende Piktogrammatiker gerade der Kunst aller Sparten und Epochen entscheidende Impulse für die Entwicklung seiner Bildstatistik verdankt, die im Wesentlichen auf leicht entzifferbaren Figurationen beruht.

„Information durch Malerei“ Ein „Genie“ zu sein, wurde damals wie seit Jahrhunderten vornehmlich Künstlern zugestanden. Neurath selbst erhielt dieses „Prädikat“ Anfang der 1970er Jahre, 25 Jahre nach seinem Tod, für sein bildpädagogisches, philosophisch-methodologisches und ökonomisches, soziologisches und sozialpolitisches Werk von dem USamerikanischen Kulturhistoriker William W. Johnston zugespro4 chen. Von 1981 bis 1998 wurden Neuraths Gesammelte Schriften in fünf Bänden mit rund 2.900 Druckseiten vorgelegt. Knapp ein Viertel davon entfallen auf die von Rudolf Haller und Robin Kinross 2 Ebd., S. 1 f. 3 Ebd., S. 14. 4 Vgl. Johnston, William M.: Österreichi-



sche Kultur- und Geistesgeschichte. Ge- sellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien: Böhlau 1972, S. 201.

49 herausgegebenen und längst nicht vollständigen bildpädagogischen Veröffentlichungen. Selbst wenn kunsthistorische Bezüge darin keine explizite respektive große Rolle spielen, ein Blick ins Register offenbart Neuraths lebenslange Beschäftigung mit ästhetischen, vor allem aber aisthetischen Fragen. Seine Auseinandersetz­u ng mit künstlerischen Arbeiten, so kursorisch sie immer wieder ausgefallen sein mag, zieht sich wie ein gedanklicher Leitfaden durch die bild- und museumsdidaktischen Überlegungen des Bildstatistikers. Doch erst die teils postum veröffentlichten Spätschriften oder die noch unpublizierte Korrespondenz vermitteln einen Eindruck vom ambivalenten Stellenwert, der den bildenden Künsten innerhalb seines visuellen Erziehungsprojekts zukommt. Neurath befasste sich eingehend mit den alten Meistern – Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel d. Ä., Domenico Ghirlandaio, Giorgione, Rembrandt, Jacob van Ruisdael, Leonardo da Vinci, Perugino und Tizian −, aber auch mit Eugène Delacroix, Gustave Courbet, Giovanni Segantini oder Vincent van Gogh; des Weiteren und unumgänglich mit den Säulenheiligen der Zeichnung, Grafik und Karikatur quer durch alle Nationalitäten und Epochen – Aubrey Beardsley, Wilhelm Busch, Daniel Chodowiecki, Émile Cohl, Honoré Daumier, James Gillray, William Hogarth und Giovanni Battista Piranesi; und selbst das Schaffen zeitgenössischer Künstler, Designer und Gebrauchsgrafiker war ihm bekannt: Heinz Allner, Peter Alma, Lotte Beese, Erwin Bernath, Frank Brangwyn, Ivan P. Ivanickij, K. R. James, Fritz Jahnel, Johanna Kampmann, Fernand Léger, El Lissitzky, Emil Männer, Erich Meixner, László Moholy-Nagy, Pablo Picasso, Walter Pfitzner, Georg Schrimpf, Hans Thomas, Jan Tschichold, August Tschinkel, B. R. Young, D. L. Young und Bruno Zuckermann. Mit vielen von ihnen hat Neurath eng zusammengearbeitet – allen voran mit Gerd Arntz, dessen gestalterischer Einfluss auf die Wiener Methode und der innere Zwiespalt, der sich daraus ergab, weiter unten noch genauer beleuchtet werden sollen. Die beträchtliche Anzahl von Künstlern aller Couleur, die sich in Neuraths eigenen Texten erwähnt finden bzw. mit denen er in persönlichem Austausch stand, lässt erahnen, dass von ihnen wichtige Impulse ausgegangen sind, sei es als abschreckendes

50 Beispiel, sei es als anregendes Vorbild für die Entstehung und Entwicklung der Bildstatistik. An der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit ­schätzte Neurath die „Sachdarstellungen“, namentlich Leonardos 5 Funktionszeichnungen von Körpern und Maschinen. Indessen verspürte er gegenüber „prätentiösen“ Werken, die in „stümperhafter Rembrandt-Manier“ die Funktionsweise von Dampfmaschinen zu illustrieren versuchten, eine tiefe Abneigung und hatte dabei impli6 zit die Impressionisten im Sinn. Gerade die Lektüre von Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1915) – was Auflagenzahl und Übersetzungen anlangt das wohl erfolgreichste kunstwissenschaftliche Buch – hatte Neurath darin bestärkt, dass „nicht 7 wenige Künstler ‚bewußt‘ anders malten, als sie sahen“   . Dieser als autonom verstandene Gestaltungswille seitens der Künstlerschaft diente Neurath als Argument gegen Oswald Spenglers kulturphilosophische Spekulationen mit ausgeprägter Metaphysiktendenz. Zudem und viel grundsätzlicher konnte man damit ebenso gegen jegliche ästhetische Überlegung in der Tradition Johann Joachim Winckelmanns einwenden: Sie trübe die erforderliche „historisch8 kühle Betrachtung“ der Dinge, die Neurath priorisierte. Einen solchen nüchternen Blick auf die Welt des Faktischen vermisste Neurath bei selbstzweckhafter Hochkunst schlechthin. Schlimmer noch: Die Mehrzahl naturalistischer Darstellungen von Fabriken, Maschinen, Straßen, Menschen gerade renommierter Maler würden sich für Aufklärungszwecke als „wenig geeignet“ erwei9 sen. Neurath beließ es nicht beim generellen Verdikt; er veranschaulichte es an einem konkreten Gemälde aus dem Louvre: „Die Französische Revolution wird durch ein zeitgenössisches Gemälde 5 6 7

Vgl. Neurath, Otto: „Das Sachbild“ (1930/31), in: ders.: Gesammelte bildpädagogische Schriften, hg. von Rudolf Haller/Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler- Tempsky 1991, S. 153–171, hier S. 153. Vgl. Neurath, Otto: „Von Hieroglyphen zu Isotypen“ [um 1944–45], in: ders.: Gesammelte bildpädagogische Schriften, hg. von Rudolf Haller/Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1991, S. 636–645, hier S. 639. Neurath, Otto: „Anti-Spengler“ (1921), in: ders.: Gesammelte philosophische

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und methodologische Schriften, Bd. 1, hg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1981, S. 139–196, hier S. 189. Vgl. Neurath, Otto: „Die Entwickelung der antiken Wirtschaftsgeschichte“ (1908), in: ders.: Gesammelte ökonomi- sche, soziologische und sozialpolitische Schriften, Teil 1, Bd. 4, hg. von Rudolf Haller/Ulf Höfer, Wien: Hölder-Pichler- Tempsky 1998, S. 110–118, hier S. 116. Vgl. O. Neurath: „Das Sachbild“, S. 154.

51 Sturm auf die Bastille, durch bekannte symbolisierende Darstellungen – irgendein heroisch aussehendes Mädchen schwenkt eine Fahne –, durch Porträts, Wiedergabe von heute noch bestehenden wich10 tigen Gebäuden, Waffen, Assignaten usw. […] gekennzeichnet.“  Für Neurath bestätigte Delacroix’ großformatiges Historienbild seine prinzipiellen Vorbehalte gegenüber einer nach individuellem Ausdruck strebenden Kunst. Mitunter waren es kleine Details, an denen er Anstoß nahm. Speziell an Wilhelm Buschs Zeichnungen etwa bemängelte Neurath die vielen Schraffuren, die den optischen Ein11 druck seines charakteristischen Zeichenstils schwächen würden. In den moralisierenden Darstellungen von Hogarth wiederum machte Neurath den Wandel von theologischen Darstellungen hin zu gesellschaftlichen Erziehungsbildern aus, zu denen er umstands12 los auch Arbeiten von Bosch und Bruegel zählte. Sein Schluss: Die Emotionalisierung des Betrachters durch Bilder sei stets zeitspezifisch, dagegen blieben Argumente zeitunabhängig. Das behauptete Neurath in völliger Ignoranz des Umstandes, dass nicht zuletzt deren geschichtliche Rahmenbedingungen einem permanenten Wandel unterlagen. Für den Kunstkritiker in eigener Mission stand fest: Bilder, die „schön“ anmuten oder den Betrachter in ihren Bann 13 schlagen, sind genau deshalb nicht leicht zu verstehen. Neurath unterteilte die Kunst in zwei Gruppen: jene, die mittels Farbe und Form Auskunft über soziokulturelle Phänomene gab, und jene, die durch Kolorit und Komposition zu beeindrucken suchte. Bruegel liefert ihm mit seinen detailreichen Genre- bzw. Historiengemälden diverse Anschauungsbeispiele für beide Zuordnungen. Die atmosphärischen Szenerien und Porträts von Rembrandt oder Ruisdael sowie die minutiös ausgearbeiteten Kupferstiche 14 Piranesis und Chodowieckis fielen dagegen in die zweite Kategorie. 10 11 12

Ebd., 163. Vgl. Neurath, Otto: From Hieroglyphics to Isotype. A Visual Autobiography, hg. von Matthew Eve/Christopher Burke, London: Hyphen Press 2010, S. 66. Neurath, Otto: „Visual Education. Humanisation versus Popularisation“ (Typo- skript, 1945), hg. von Juha Manninen, in: Elisabeth Nemeth/Friedrich Stadler (Hg.):

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Encyclopedia and Utopia. The Life and Work of Otto Neurath (1882–1945), Dord- recht: Kluwer 1996, S. 245–335, hier S. 280. Ebd., S. 272. Vgl. O. Neurath: From Hieroglyphics to Isotype, S. 76 f.; O. Neurath: „Visual Education“, S. 279.

52 Neuraths Zuschreibungen, so unzweideutig sie immer wieder ausfallen mochten, waren dabei mitnichten frei von Ambivalenzen; jedenfalls ließ er Selbstwiderspruch zu. Mehrfach schlug Kritik in Lob um und Lob in Kritik. Etwa dann, wenn die einerseits bean­ standete Detailversessenheit Piranesis an anderer Stelle gerade wegen ihrer präzisen Wiedergabe von Gebäuden einschließlich deren Benennung in Marginalien in ein positives Licht gerückt wurde oder wenn die moralisierenden Grafiken eines Chodowiecki, der von ihm ansonsten für didaktische Anliegen als wenig kompetent eingestuft wurde, es erlauben würden, Tugenden und Laster in ihren feinen Schattierungen zu studieren.15 Zu den frühen und nachhaltigsten Eindrücken, die Neurath von Bildwerken empfangen hat, gehören allerdings nicht die kanonisierten Repräsentanten neuzeitlicher Kunstgeschichte, sondern die Grab- und Wandmalereien des alten Ägypten. Diese waren im Kunsthistorischen Museum in Wien öffentlich zugänglich. Seit seiner Eröffnung im Oktober 1891 übte der im Neorenaissancestil errichtete Bau an der neu gestalteten Prachtstraße, dem Ring, eine große Anziehungskraft auf Jung und Alt aus. Auch Neurath, Jahrgang 1882, hat es in Begleitung seiner bildungsbürgerlichen Eltern regelmäßig besucht: „Sobald man hineinkam, bemerkte man den Widerspruch zwischen der verschwenderischen, überverzierten, pseudoromantischen Eingangshalle mit den vielen Säulen und dem ruhigen, bescheidenen Hauptraum der Ägypten-Abteilung. […] Die Wände waren mit ägyptischen Wandmalereien bedeckt, die mir sehr gefielen, weil ich jede Einzelheit verstehen konnte, ob sie nun vom täglichen Leben der Ägypter oder von Schlachten und Siegen erzählten. Reihenweise wurden Menschen vor einen Herrscher gebracht. Die ägyptische Vergangenheit breitete sich vor meinen Augen aus. Alles war ohne irgendeinen perspektivischen Versuch geordnet; das einzige Ziel war es, einen klaren Eindruck von der Situation zu vermitteln. Ich konnte sehen, was 15 Vgl. O. Neurath: From Hieroglyphics to Isotype, S. 58, 83; O. Neurath: „Visual Education“, S. 279.

53 die Menschen taten, ohne durch unbestimmte Hintergründe oder dunkle Ecken gestört zu werden. Alles war einfach, leicht erkennbar und erzählte klar, was zu erzählen war. Ich wußte nicht, was die Hieroglyphenschrift an Informationen hinzu­ 16 fügte. Mir genügte es, die Bilder zu verstehen.“

Abb. 1: Bab el Meluk. Grab Sethus I. (Detail), ca. 13. Jh. v. Chr.

So verständlich die altägyptischen Umrissfiguren dem jungen Neurath erschienen, so schwer tat er sich mit Artefakten der griechischen und römischen Antike. Statt vom echten Leben, von Fischern, Feldherren oder Kaufleuten zu handeln, stehen in ihren Bildgeschichten vorwiegend Götter, Helden und Krieger im Mittelpunkt. Selbst wenn die griechische Vasenmalerei und römische Reliefs mitunter dieselben Themen behandelten wie die

Abb. 2: Menschenrassen, um 1927

16 Neurath, Otto: „Von Hieroglyphen zu Iso- typen“ [um 1944–45], in: ders.: Gesam- melte bildpädagogische Schriften, hg.



von Rudolf Haller/Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1991, S. 636–645, hier S. 639.

54 Grabmaler­eien aus dem Pharaonenland, muteten sie ihm doch viel ­komplexer an, da sie in seiner Wahrnehmung mehr auf Wirkung und weniger auf Informationsvermittlung hin ausgerichtet waren.17 In der retrospektiven Erklärung seiner Kindheitseindrücke im unvollendeten Typoskript „From Hieroglyphics to Isotype“ sind alle für ihn wesentlichen Kriterien zusammengefasst, die Neurath auch an die eigene Bildstatistik angelegt hatte: klare Umrisse, vereinfachte Formen, monochrome Kolorierung, serielle Reihung und beliebige Kombinierbarkeit der Figuren bis hin zu einer Bilderschrift mit dem utopischen Anspruch, international verständlich zu sein (Abb. 1, 2). Am Ende seines Lebens, im englischen Exil, unternahm Neurath diverse Anläufe, „From Hieroglyphics to Isotype“ in eine druckreife Fassung zu bringen. Um eine globale Vermarktung zu begünstigen, hatte der Autor die Wiener Methode 1935 in „Isotype“ 18 umbenannt: „International System of Typography“. Ferner sollte Abb. 3: Otto Neurath: The Genealogy of Isotype, um 1945–47

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Vgl. ebd., S. 639 f. Die akronyme Begriffsbildung geht auf Marie Reidemeister (verh. Neurath) zurück. Vgl. Neurath, Marie: An was ich



mich erinnere. Erzählt und aufgeschrieben für Henk Mulder, 1980 und 1982, Typoskript, 119 S., Wien: Österreichische Nationalbibliothek (Ser. n. 31.8759), hier S. 64.

55 umfangreiches Anschauungsmaterial aus Neuraths Bibliothek und 19 Grafiksammlung die geplante Autobiografie illustrieren. Für den Buchdummy wurde eigens eine Montage von Elementen aller maßgebenden Einflüsse auf die Bildstatistik konzipiert, die unter Neuraths Ägide von Marie Neurath ausgeführt worden sein dürfte. Den Ausgangspunkt ebendieser als eckige Klammer angelegten Einflussgenealogie bildet die ägyptische Hieroglyphik – chronologisch vor heraldischen und handwerklichen Symbolen, vor Schlachtenplänen und Organigrammen, Landkarten, biologischen und technologischen Schaubildern sowie Diagrammen (Abb. 3).

Hieroglyphen für eine neue Zeit Als ausgesprochener „Augenmensch“ war Neurath ein ebenso überzeugter wie leidenschaftlicher Anhänger visueller Kommunikation, die auf dem formelhaften Grundsatz beruhte: „Was man mit einem 20 Bild zeigen kann, muss man nicht mit Worten sagen.“   Neuraths zugespitzte Formulierung spiegelt die intensive Auseinandersetzung mit Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus von 1921, der mit dem berühmten Gebot endet: „Wovon man nicht spre21 chen kann, darüber muß man schweigen.“   Diesen konklusorischen Imperativ hat Neurath später seiner ikonischen Zeige-Dok­ trin anverwandelt. Für die Mitglieder des Wiener Kreises, zu denen Neurath zählte, gehörte der Tractatus zur Paradelektüre wissenschaftlicher Weltauffassung, er wurde in den Donnerstagstreffen 22 des Kreises 1926/27 zweimal, jeweils Satz für Satz, laut vorgelesen. Neurath, den Wittgensteins logische Analysen zunächst überzeugt 19 Zu den diversen Textentwürfen vgl. Eve, Matthew: „Preface“, in: Otto Neurath: From Hieroglyphics to Isotype. A Visual Autobiography, hg. von dems./Christo- pher Burke, London: Hyphen Press 2010, S. xix–xxxi. 20 Neurath, Otto: „Isotype und die Graphik“ (1935), in: ders.: Gesammelte bildpädago- gische Schriften, hg. von Rudolf Haller/ Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler- Tempsky 1991, S. 342–348, hier S. 342 f.

21 Wittgenstein, Ludwig: Schriften, Bd. 1: Tractatus Logico-Philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1969, S. 83. 22 Vgl. Galison, Peter: „Aufbau/Bauhaus.  Logischer Positivismus und architektoni- scher Modernismus“, in: Deutsche Zeit- schrift für Philosophie, 43. Jg., H. 4, 1995, S. 653–685, hier S. 664.

56 hatten, ging jedoch alsbald auf unverhohlene Distanz zum „führenden Denker der Gegenwart“, den er zuvor noch auf eine Stufe mit 23 Albert Einstein stellte. Indes hatte er seine Meinung revidiert: ­Weite Passagen des Tractatus kämen einer „metaphysischen Nebenlehre“ gleich, die weniger Leitersprossen zum Weiterdenken bereithielte als vielmehr sinnleere Sätze und Wendungen, so lautete sein Generalvorwurf. Um seine Missbilligung an einem konkreten Beispiel zu demonstrieren, wählte Neurath Wittgensteins bereits zitierten Schlusssatz: Dieser sei „mindestens sprachlich irreführend“, da er vermittele, dass „es ‚ein Etwas‘ gäbe, von dem man nicht sprechen könne“. Und wie so oft mischte sich in Neuraths Kritik eine ironisch-süffisante Note: Falls man sich wirklich „metaphysischer Stimmung“ enthalten wolle, „so ‚schweige man‘, aber nicht ‚über 24 etwas‘“. Der kompromisslose Sophistik-Kritiker, der gern mit einem Elefanten signierte, setzte seinerseits auf konkrete Anschaulichkeit der Bildstatistik: „Wir brauchen nicht in Worten zu sagen“, so eine Rephrasierung seiner vielfach im selben Tenor gehaltenen Texte zur Bildpädagogik, „was wir mit Hilfe von Bildern klarmachen 25 können“. Wer mag, wird auch hier die herausklingende Anspielung auf Wittgensteins Formel nicht überlesen: „Was sich über26 haupt sagen läßt, läßt sich klar sagen“. Neuraths Ansinnen einer visuell fokussierten Aufklärung beruhte auf der eindrücklichen Wirkmacht einer nüchternen Bildsprache, die ohne Assoziationsreichtum oder semantisches Spekulationspotenzial auskam. In dieser Stoßrichtung war das zentrale Anliegen, neben den zu ver­m ittelnden Fakten, ein sozialreformerisches Programm zu ver­ anschaulichen. Seine Bemühungen um eine „Entbabylonisierung“ 23 24

Vgl. Neurath, Otto: „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“ (1929), in: ders.: Gesammelte philosophi- sche und methodologische Schriften, Bd. 1, hg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1981, S. 299–336, hier S. 332. Neurath, Otto: „Soziologie im Physikalis- mus“ (1931), in: ders.: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 2, hg. von Rudolf Haller/ Heiner Rutte, Wien: Hölder-Pichler- Tempsky 1981, S. 533–562, hier S. 535.

25 Neurath, Otto: „Internationale Bilder- sprache“ (1936), in: ders.: Gesammelte bildpädagogische Schriften, hg. von Rudolf Haller/Robin Kinross, Wien: Hölder- Pichler-Tempsky 1991, S. 355–398, hier S. 363. 26 Neurath zitiert aus dem Vorwort von Wittgensteins Tractatus logico-philoso- phicus, in: O. Neurath: „Wissenschaftli- che Weltauffassung“, S. 304.

57 der Kommunikation – getreu dem Motto: „Worte trennen, Bilder verbinden“ – verfolgten kein geringeres Ziel, als eine neue „Art Hie27 roglyphenschrift“ mit globaler Reichweite zu schaffen. Die lange Tradition allegorischer Darstellungen von der Antike über Leonardo und Dürer bis ins 19. Jahrhundert bestärkte Neurath in seiner Auffassung, dass sich das generelle wie intellektuelle Interesse am Dechiffrieren von Bildern für didaktische Zwecke 28 nutzbar machen ließ. Im Gegensatz zu Aby Warburg, der das Nachleben der Antike anhand von Pathosformeln untersucht hatte, arbeitete Neurath zukunftsorientiert an einer piktogrammatischen Arche­typik. War der eine mit psychologisch sprechenden Gesten im zeitlichen Längsschnitt befasst, so versuchte der andere, Standardfi­ guren zu entwickeln, die idealiter über Raum und Zeit hinweg allgemein verständlich sein sollten. Beide Ansätze berührten sich in ihrem besonderen Interesse an universellen Bildforme(l)n. Von daher war es nur folgerichtig, wenn der US-amerikanische Kunsthistoriker Meyer Schapiro Neurath 1942 nahelegte, mit dem Warburg Institute in London Kontakt aufzunehmen, namentlich mit dem 29 Kollegen Fritz Saxl. Neurath kam dieser Empfehlung nach, obwohl ihn von den „Warburg people“ mehr trennte als mit ihnen verband: „Ich interessiere mich vorwiegend für die technische Wirkmacht visueller Hilfsmittel, dafür, wie Menschen durch Anschauung lernen können, während Sie sich vorwiegend für die Art von Menschen interessieren, die visuelles Material herstellen bzw. es verwenden, sowie für die Geschichte der Veränderung [innerer] ‚Haltungen‘“, 30 ließ er Saxl nach ihrer Erstbegegnung unverblümt wissen. Ernst H. Gombrich, der in Neuraths Methode das Beispiel einer erfolgreichen Umcodierung schriftlicher Informationen für 27 Neurath hat sein Motto gern und oft wiederholt: Gesammelte bildpädagogi- sche Schriften, hg. von Rudolf Haller/ Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler Tempsky 1991, S. 205, 208, 242, 346, 359, 645. − Vgl. weiterführend Neurath, Otto: „Statistische Hieroglyphen“ (1926), in: ders.: Gesammelte bildpäda gogische Schriften, hg. von Rudolf Haller/Robin Kinross, Wien: Hölder-Pich- ler-Tempsky 1991, S. 40–50, hier S. 40.

28 Vgl. O. Neurath: „Visual Education“, S. 270. 29 Vgl. M. Schapiro an O. Neurath, Brief vom 12. August 1942, Typoskript, 3 S., hier S. 1, 3 [Noord-Hollands Archief, Haarlem, Wiener Kreis Archief, Nachlass Otto Neurath, Inv.-Nr. 267, Lisse, Niederlanden o. J., Microfiche 114]. 30 O. Neurath an F. Saxl, Brief vom 25.  August 1944, engl. Originalzit. in: Burke, Christopher: „Introduction“, in:

58 den Anschauungsunterricht erblickte, hat dafür den Begriff „Bilder­ lesen“ geprägt. Demnach würden Bilder „nicht in einem Zuge“, sondern „stückweise“ erschlossen, also sukzessive „gelesen“, um in der 31 Terminologie Gombrichs zu bleiben. Er, der seit 1936 dem Warburg Institute angehörte und ihm ab 1959 als Direktor vorstand, betonte die Analogie zwischen dem Lesen von Texten und jenem von Bildern. Während dieser Vergleich auf kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse zurückgriff, wurzelte Neuraths Entzifferungsakt vielmehr in einer von Johann Amos Comenius’ Orbis pictus (1658) hergeleiteten Rationalisierung der Semantik, die in unmittelbares Verstehen mündet. Drei Blicke waren dazu notwendig: der erste für das Wichtigste, der zweite für das weniger Wichtige und der dritte für Einzelheiten. Wenn es noch eines vierten oder gar fünften Blicks bedurfte, dann galt das Schaubild als schlecht, sprich pädagogisch 32 ungeeignet. Schon Gottfried Wilhelm Leibniz hatte eine Coupd’oeil-Erkenntnis für „Kunsttafeln“ gefordert, die sich als problematischer Allgemeinplatz durch die Literatur zur visuellen Didaktik zieht und durch die auf mehrere Blicke maximierte Anstrengung 33 geflissentlich überstiegen wurde. Hinter seiner Drei-Blicke-Dok­ trin verbirgt sich gewissermaßen Neuraths Dementi einer spontanen Evidenz im Leibnizschen Sinne. Gleichwohl bildete intuitiv sich einstellende Einsicht die Voraussetzung für Leibniz’ unvollendetes Projekt eines Atlas Universalis, in dessen Tradition Neurath sein bildstatistisches Mappenwerk Gesellschaft und Wirtschaft (1930) mit hundert Farbtafeln im DIN-A3-Format allzu gern sah. Neuraths Auffassung, dass Bilder nichts suggerieren (sollten), was es nicht gibt, dass sie gewissermaßen ontologisch aufrichtig Otto Neurath: From Hieroglyphics to Isotype. A Visual Autobiography, hg. von Matthew Eve/dems., London: Hyphen Press 2010, S. vii–xvi, hier S. xiii. 31 Gombrich, Ernst H.: „Vom Bilderlesen“ (1961), in: ders., Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 263–277, hier S. 271 f.; ders.: „Das Bild und seine Rolle in der Kommunikation“ (1972), in: ders.: Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 135–158, hier S. 146.

32 Vgl. O. Neurath: „Internationale Bilder- sprache“, S. 363; Neurath, Otto: „Die Museen der Zukunft“ (1933), in: ders.: Gesammelte bildpädagogische Schrif ten, hg. von Rudolf Haller/Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1991, S. 244 –257, hier S. 257; und dazu Pias, Claus: „Unschuldige Augen“, in: Frank Hartmann/Erwin K. Bauer (Hg.): Bilder- sprache. Otto Neurath. Visualisierungen, Wien: WUV 2006², S. 136–139, hier S. 138. 33 Vgl. G. W. Leibniz zit. in: Bredekamp, Horst: Die Fenster der Monade. Gottfried

59 seien, offenbart seine Distanz zu vielen Kunstströmungen des frühen 20. Jahrhunderts. Die „unbewußten Teilhandlungen“, Neuraths bereits zitierter Vorbehalt gegenüber der Kunst im Großen und Ganzen, wurde durch den Surrealismus allemal bestätigt. Andrerseits kamen zeitgenössische Entwicklungen, etwa der Deutsche Werkbund und das Bauhaus in Dessau, als gesamtkulturelle Bewegungen mit ihren ausgeprägt funktionalistischen Ansätzen Neuraths pointiertem Kunstverständnis entgegen. Um sich ein klareres Bild von den Avantgardeentwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg zu verschaffen, tauschte sich Neurath mit seinem Freund aus, dem Kunstkritiker Franz Roh. Welche Anschauungen ihn veranlassen würden, „bestimmte -ismen“ zuzu­ 34 lassen und andere nicht, wurde Roh gefragt. Die unmittelbare Antwort kennen wir nicht. Sie kann aber zumindest aus dessen Lagebericht „Zur jüngsten niederrheinischen Malerei“ geschlossen werden. Die Kölner Künstlergruppe „Die Progressiven“ gehörte zweifellos zu jenen „Ismen“, die Franz Roh mit wohlwollender Aufmerksamkeit bedachte. Im Frühjahr 1926 besuchten die beiden Freunde die Große Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (Gesolei) – das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum war dort vertreten – sowie die Schau der „Rheingruppe“ in der 35 Düsseldorfer Kunsthalle. Danach führte ihr Weg ins Atelier von Gerd Arntz, dessen Arbeit sie in letztgenannter Schau gesehen hatten. Den tieferen Grund dieses Besuchs kann man in Rohs Ausstellungsrezension nachlesen: „Wo es nötig wäre, Männer für Darstellung graphisch farblicher Symbole der Industrie oder jener neuen Anschaulichkeitsstatistik zu finden, wie sie der österreichische Wirtschaftssaal der Gesolei mit sinnlich noch nicht immer einwandfreier Stilisierung erstrebte, wäre bereits dieses noch jungen Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und der Kunst, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 158. 34 Vgl. O. Neurath an F. Roh, Brief vom 19. Juni 1924, Manuskript, 18 S., hier S. 5 [The Getty Research Institute, Los Angeles].

35 Auskunft zur „Rheingruppe“, die ab dem 2. Mai 1926 zu sehen war, verdanke ich Dr. Elisabeth Scheeben, Stadtarchiv, und Bernd Kreuter, Stadtmuseum, in Düssel- dorf.

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Menschen zu gedenken.“   Inhaltlich fokussierte Arntz’ Werk auf gesellschaftliche Missstände, wofür Neurath den Begriff „sozio­ 37 logische Grafik“ prägen wird. Formal zeichnete es sich durch eine ausgewogene Verbindung von „Konstruktivismus“ und „neuer Dinglichkeit“, vor allem aber „baukastenhafte Klarheit“ und „ausdrucksvolle Vereinfachung“ aus − alles Eigenschaften, die Neuraths Anspruch an allgemeinverständliche Sachbilder in hohem Maße 38 erfüllten. Trotz dieser Wertschätzung sollten noch zwei Jahre vergehen, bis Arntz das Angebot zur permanenten Mitarbeit am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum erhielt. Neuraths Wiener Methode der Bildstatistik entwickelte sich ab 1924/25 als Exerzitium des kontinuierlichen „Weglassens“, als Inbegriff guter (Bild-)Pädagogik – Informationsreduktion – galt das oberste Prinzip: „Wer am 39 besten wegzulassen weiß, ist der beste Lehrer.“   Die Konzentration auf das Wichtige führte zu tabellarischem Aufbau, zu klaren Rasterstrukturen aus Spalten und Zeilen, aber vor allem zu schematisierten Zeichen, die gleichwohl auf einer „logischen Symbolik“ 40 beruhten. Diese Standardfiguren, in Neuraths Diktion auch „Signaturen“ genannt, hat Arntz entscheidend geprägt und gestaltet: zunächst aus der rheinischen Ferne, 1928 probeweise in Wien und ab 1929 als grafischer Leiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums. Erst nach Jahren, so erinnerte sich Arntz später, wurde auf diese Symbole der lateinisch-griechische Kompositbegriff „Piktogramm“ angewandt. Für Arntz stammte dieses Wort aus den USA – wohl erst nachdem Neuraths ehemaliger Mitarbeiter Rudolf Modley 1934 zum Geschäftsführer der New Yorker Aktiengesell41 schaft Pictorial Statistics aufgestiegen war. 36 Roh, Franz: „Zur jüngsten niederrhei- nischen Malerei“, in: Das Kunstblatt, 10. Jg., Nr. 10, 1926, S. 363–368, hier S. 365.− Zur Evaluierung der Schaubilder, darunter auch die Bildstatistiken aus Wien, vgl. Fraenkel, Marta: „Allgemeine organisatorische Fragen der wissen schaftlichen Abteilungen“, in: dies. (Hg.): Ge-So-Lei. Große Ausstellung Düsseldorf 1926 für Gesundheitspflege, soziale Für- sorge und Leibesübungen, Bd. 2, Düsseldorf: Schwann 1927, S. 397–421, hier S. 411–421. 37 Vgl. O. Neurath: „Das Sachbild“, S. 159;

Arntz, Gerd: „Die ‚Nederlandsche Stich- ting voor Statistiek’ von 1940 bis 1965“, in: Friedrich Stadler (Hg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath − Gerd Arntz, Wien: Löcker 1982, S. 184. 38 Vgl. F. Roh: „Zur jüngsten niederrhei- nischen Malerei“, S. 365. 39 O. Neurath: „Das Sachbild“, S. 155; O. Neurath: „Isotype und die Graphik“, S. 343. 40 Vgl. O. Neurath: „Isotype und die Graphik“, S. 342. 41 Vgl. Arntz, Gerd/Danser, Max: „Ik was revolutionairder, linkser dan de Socialis-

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Modernisierung visueller Codes Noch bevor er Neurath 1926 kennenlernte, hatte Gerd Arntz in seinen Holzschnitten bereits Figuren konzipiert, die auf geometrische Grundformen reduziert waren; er mag sich daher wohl geradezu berufen gefühlt haben, der Bildstatistik seinen Stempel aufzudrü42 cken. Eben weil sein Stil so „unpersönlich“ war, gelang es Arntz im Laufe seiner Tätigkeit am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, den Schautafeln eine unverwechselbare Formensprache zu verleihen und sich damit gegen die „alten Reste“ Neurathscher Prägung 43 durchzusetzen. Arntz begriff den formalen, vom figurativen Kon­ struktivismus inspirierten Abstraktionsgrad seiner Symbole sogar als einen genuin künstlerischen Beitrag zur Wiener Methode, den er ab 1932 am Moskauer Allunionsinstitut für Bildstatistik für Sowjetaufbau und -wirtschaft (Izostat) weiterzugeben und ab 1934 am 44 Mundaneum-Institut in Den Haag auszubauen suchte. Daraufhin sei vom „Stil der Kölner Progressiven in der Wiener Bildstatistik“ die Rede gewesen, konstatierte Arntz mit merklicher Genugtuung; diese Einschätzung bestätigt ein Zitat von August Tschinkel, selbst ein „Progressiver“ und Mitstreiter in Wien: „Die größte Breitenwirkung, die jemals und nachhaltig vom Kreis der Gruppe auf die formale Gestaltung eines Zweiges der angewandten Grafik ausgegangen ist – ist die auf die Bildsta­tistik. Es sei auf die umwälzende formale Gestaltung hinge­ w iesen, die diese Bildstatistik aufweist, seitdem im Jahre 1928 Arntz die künstlerische Leitung der Werkstätten des ten“ (Interview), in: Pulchri, 8. Jg., Nr. 3, 1980, S. 3–6, hier S. 5; sowie weiterfüh- rend Christian, Alexander: Piktogramme. Kritischer Beitrag zu einer Begriffsbe- stimmung, Aachen: Shaker 2009, S. 21. 42 Vgl. Arntz, Gerd: „Otto Neurath, ich und die Bildstatistik“, in: Friedrich Stadler (Hg.): Arbeiterbildung in der Zwischen- kriegszeit. Otto Neurath − Gerd Arntz, Wien: Löcker 1982, S. 31–34, hier S. 32. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Arntz, Gerd: „Erinnern durch Abbil- den. Eine autobiographische Skizze“ (1982), in: ders.: Zeit unterm Messer. Holz-



und Linolschnitte 1920–1970, hg. von Rolf Schloesser, Köln: Leske 1988, S. 13–44, hier S. 24. − Speziell zu Arntz’ bildstatistischer Aufbauarbeit in Moskau: Minns, Emma: „Picturing Soviet Progress. Izostat 1931–4“, in: Christopher Burke/Eric Kindel/Sue Walker (Hg.): Iso- type. Design and Contexts, 1925–1971, London: Hyphen Press 2013, S. 257–281; Schmidt-Burkhardt, Astrit: Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, Bielefeld: Transcript 2017², S. 171–210.

62 Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums übernommen hatte. – Hier nun erwies sich die von den Formvorstellungen der Progressiven ausgehende Gestaltung der Signaturen als die den 45 Aufgaben einzig adäquate.“   Als nicht (mehr) adäquat wurden indessen die eckigen Formen empfunden, die Schöpfungen des österreichischen Zeichners Bruno 46 Zuckermann zu eigen waren, die man anfänglich verwendet hatte. Auch Arntz’ größte Herausforderung bestand schlussendlich darin, eine vereinfachte Darstellung des Menschen zu entwickeln, mit der zugleich soziale Unterschiede zum Ausdruck gebracht werden 47 konnten. Die gelungene Reduktion auf Wesentliches war dabei keine Folge von Distraktion getreu der Devise: „Augen weg, Ohren weg“. Die Grundfigur entstand vielmehr „von innen heraus“. Einmal fixiert, musste sie weiterentwickelt werden, damit sie sich gleichsam bewegen konnte und in gewisser Weise „handlungs­ fähig“ wurde. Und sie hatte so ausgewogen gestaltet zu sein, dass sie sich problemlos skalieren, auf Briefmarkengröße verkleinern sowie umgekehrt zu Wandprojektionen vergrößern ließ, ohne ihren Wie48 dererkennungswert einzubüßen. Viele Symbole leitete Arntz aus der „darstellenden Malerei“ ab – auch wenn sie nicht deren „Harmonisierung“ auf der Fläche erreichten. Um den „darniederliegenden Belehrungsmitteln“ zu neuem Aufschwung zu verhelfen, griff er gezielt auf „Erfahrungen der Malerei“ in der jüngsten Vergangenheit zurück – und meinte dabei vor allem seine eigene, sogenannte 49 „freie“ Kunst. Ein Beweis für Arntz’ tief verankertes Selbstverständnis als Künstler. 45 Vgl. G. Arntz: „Otto Neurath, ich und die Bildstatistik“, S. 33; Tschinkels Zitat: ebd., S. 32. − Das geringfügig abweichen- de Originalzitat in: Tschinkel, August: „Parallelen und Nachwirken“, in: Aus stellungskat. Hoerle und sein Kreis, Kunst- verein, Frechen: Kunstverein 1970, o. S. − Vgl. weiterführend Benus, Benjamin: „Figurative Constructivism and Socio- logical Graphics“, in: Christopher Burke/ Eric Kindel/Sue Walker (Hg.): Isotype. Design and Contexts 1925–1971, London: Hyphen Press 2013, S. 217–248; ders.: „Soziologische Grafik und ‚Kollektiv-

form‘“, in: Frank Hartmann (Hg.): Sach- bild und Gesellschaftstechnik. Otto Neu- rath, Hamburg: Avinus 2015, S. 49–77. 46 Vgl. M. Neurath: An was ich mich erinnere, S. 38. 47 Den Gemeinsamkeiten mit August Sanders typologischer Gesellschaftsstu- die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ wäre noch eigens nachzugehen. 48 Vgl. Arntz, Gerd: „Der Ludergeruch der Revolution“, in: Ästhetik und Kommunika- tion, 8. Jg., H. 29, 1977, S. 4–19, hier S. 13. 49 Vgl. Arntz, Gerd: „Bewegung in Kunst und Statistik“, in: A bis Z, Nr. 8, Mai 1930, S. 29 f.

63 Wie oben ausgeführt, zielte Neuraths Konzept auf nach strengen Regeln entwickelte „Sachbilder“ und stand damit im diametralen Gegensatz zur bildenden Kunst, die nach ästhetischer Anmutungsqualität strebt. In den Augen des Volksökonomen ließ sich durch die Eintragung von Mengen in Kartogrammen zwar mitunter eine „malerische Wirkung“ erzeugen. Hingegen wurden „malerische Kompositionen“ in „geschlossenen Flächen“ für statistische Zwecke ka50 tegorisch von ihm abgelehnt. Als Soziologe betrachtete Neurath Gemälde als Teil eines größeren „Gesellschaftsmusters“, weshalb sie nicht isoliert in einem Kunstmuseum präsentiert werden sollten, sondern kontextualisiert zusammen mit anderen Werken menschlicher Arbeit (Gebäude, Stadtentwicklung, Kleider etc.). Er ging so51 gar so weit, ein eigenes Museum der Zukunft anzudenken. An­ drerseits setzte Neurath für die eigene Arbeit durchaus auf künstlerischen Input, um bei den in aller Regel „langweiligen“ Sachbildern eine bessere Wirkung zu erzeugen. Allerdings hatte der „Gestalter“ hinter seiner Aufgabe zurückzutreten wie ein Architekt 52 hinter der Errichtung von zweckmäßigen Wohnungen. Das musste zu Spannungen führen. „Mit Künstlern ists schwer“, klagte Neurath im Sommer 1924 Franz Roh sein Leid und erklärte, warum: „Sie müssen wieder Handwerker werden. Keiner ist für [den] eng-umrissenen Auftrag, der die [Arbeiter-]Bewegung angeht[,] voll zu haben.“  53 Aus diesen Worten klingt nicht nur eine manifeste Hierarchie der Aufgabenbereiche, sondern es wurden zugleich die daraus resultierenden Schwierigkeiten benannt, künstlerische Mitarbeiter für das im Entstehen begriffene Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum zu finden. Denn welcher Maler wollte aus eigenem Antrieb, wie es Neurath selbstgefällig vorschwebte, „sein Malertum aus tiefster innerer Notwendigkeit entfalten[,] ohne dadurch den Organisator zu 54 stören!“   50 O. Neurath: „Das Sachbild“, S. 166. 51 Vgl. O. Neurath: „Die Museen der Zu- kunft“, S. 247. 52 Vgl. O. Neurath: „Das Sachbild“, S. 153 f.

53 O. Neurath an F. Roh, Brief vom 19. Juni 1924, 18 S., hier S. 14 [The Getty Research Institute, Los Angeles]. 54 Ebd., S. 6.

64 Beispielhaft sei der „proletarische Maler“ Georg Schrimpf genannt. Neurath versuchte vergeblich, ihn zur Gestaltung eines Umschlags für die um einen neuen Zeitstil ringende Monatsschrift Die Form 55 zu bewegen. Im Gegensatz zum Künstler stand für Neurath außer Zweifel, dass „Originalität“ keine erstrebenswerte Kategorie sei. Mehr noch: Reine Informationsvermittlung befand er als nachgerade würdige Aufgabe für Künstler, so wie für ihn informative Bilder 56 durchaus künstlerische Eigenschaften besitzen konnten. Für Neurath waren Leonardos „Erfahrungsaussagen“ in Gestalt technischer Entwürfe, die aus dessen Praxis als Festungsbauer herrührten, mithin höher einzustufen als dessen „phantasiereiche Neuschöp­ 57 fungen“. Kurzum: In Arntz und Neurath trafen unterschiedliche Charaktere und konträre Ansichten aufeinander: der eine formalanalytischer Grafiker mit bedachter Hand, der andere ein feuriger Geistmensch mit bisweilen sprunghaften Gedanken. Arntz war „Rätekommunist“, Neurath überzeugter Sozialist. Ersterer geriet etwa mit Letzterem darüber in Streit, dass seine politische Kleingruppe in den Bildstatistiken nie repräsentiert wurde, sondern summarisch in der großen Zahl von „Arbeitern“, sprich „Sozia­ 58 listen“ und „Kommunisten“, aufging. Doch die vielen gravieren­ deren Meinungsunterschiede äußerten sich nicht allein in von­ einander abweichenden politischen Positionsbestimmungen, sie betrafen überdies die Kunst als solches – für Arntz die weitaus größere Herausforderung. Neuraths unwiderrufliche Negierung der Bildstatistik als 59 „Kunstgebilde“ sorgte für reichlich Diskussionsstoff. Schließlich wollte Arntz in seinen bildstatistischen Arbeiten nicht nur „Quantität“, sondern desgleichen „Qualität“ zeigen. Er war bestrebt, mehr auszudrücken, als es „kühle“ Zahlenvergleiche vermochten, mehr 55 Vgl. ebd., S. 15. 18; sowie O. Neurath an F. Roh, Brief vom 19. September 1924, 2 S., hier S. 2 [The Getty Research Institute, Los Angeles]. 56 Vgl. O. Neurath: From Hieroglyphics to Isotype, S. 83 f. 57 Neurath, Otto: „Die neue Enzyklopädie“ (1938), in: ders.: Gesammelte philosophi-

sche und methodologische Schriften, Bd. 2, hg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1981, S. 863–871, hier S. 864. 58 Vgl. G. Arntz: „Der Ludergeruch der Re- volution“, S. 14; G. Arntz/M. Danser: „Ik was revolutionairder, linkser dan de Socialisten“, S. 5.

65 Abb. 4: Gerd Arntz: Wohnhaus (Detail: Arbeitsloser), 1927, Gemeentemuseum, Den Haag

Abb. 5: Anonymus [d. i. Walter Pfitzner]: Gerd Arntz entwirft den „Arbeitslosen“, um 1931

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aufzudecken, als Mengenangaben in ein Verhältnis zu setzen. Selbst hinsichtlich der Terminologie vertrat Arntz eine eigene Auffassung. Anstatt wie Neurath die Bezeichnung „Führungsbilder“ zu verwenden, sprach er begriffsgenauer von „Einführungsbildern“, die am oberen Rand der Schautafeln das Generalthema illustrier61 ten. Und gerade seine Art der Darstellung, insbesondere der menschlichen Figuren, musste er oft gegenüber den Mitarbeitern des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums durchsetzen, „man62 ches Mal“ sogar gegenüber Neurath. Selten genug war er selbst mit 63 den Ergebnissen zufrieden – trotz einer enormen Produktion. Er schuf etwa 1.140 Piktogramme bis um 1940 und, nach oben aufgerundet, 4.000 bis zum Jahr 1968; zahlenmäßig übersteigen sie sein 59 Vgl. O. Neurath: „Das Sachbild“, S. 161. 60 Vgl. G. Arntz: „Otto Neurath, ich und die Bildstatistik“, S. 31. 61 Vgl. Arntz, Gerd: „Zur Methode des Ge- sellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien“, in: A bis Z, Nr. 8, Mai 1930, S. 34.

Zu den „Führungsbildern“ vgl. O.  Neurath: „Internationale Bildersprache“, S. 373. 62 Vgl. G. Arntz: „Otto Neurath, ich und die Bildstatistik“, S. 31.

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künstlerisches Œuvre um ein Vielfaches. Sich seiner eigenen Leistung bei der Standardisierung der visuellen Codes bewusst, stellte Arntz schließlich die Bezeichnung „Methode Neurath“ für die in der Regel im Kollektiv entwickelten Mengenbilder infrage – dies allerdings erst nach Neuraths Tod, sodass er keine Widerrede zu be65 fürchten hatte. Grundsätzlich hatte Arntz Beruf und Berufung stets klar auseinandergehalten. Trotz seiner Involvierung in den Neurath-Zirkel suchte er jenseits davon konsequent nach alternativen Verbreitungskanälen für seine künstlerischen Werke. Neurath indes soll nach 1932 nicht mehr viel davon gesehen haben; zum Selbstschutz wählte der Holzschneider das sprechende Pseudonym 66 „A. Dubois“. Ungeachtet der Spannungen blieb die Arbeit für Neurath produktiv, wie anhand eines exemplarischen Motivs im Folgenden aufgezeigt wird.

Der „Arbeitslose“ – Arntz’ piktogrammatische Ikone Im Anschluss an den New Yorker Börsenkrach vom September 1929, der zu einer global ausgreifenden Wirtschaftskrise mit Wellen von Entlassungen weltweit führte, wurde die Arbeitslosigkeit zu einem 67 zentralen Gegenstand der Bildstatistik. Von deren unmittelbaren Auswirkungen konnte sich Arntz während eines Berlin-Besuchs einen eigenen Eindruck verschaffen. Für den Grafiker, der von seiner Kunst nie hatte leben können, besaß das Thema zusätzliche Brisanz. 63 Vgl. G. Arntz: „Der Ludergeruch der Re- volution“, S. 14. 64 Vgl. G. Arntz: „Die ›Nederlandsche Stich- ting voor Statistiek‹ von 1940 bis 1965“, S. 184; Broos, Kees: „Bildstatistik: Wien – Moskau – Den Haag 1928-1965“, in: Ausstellungskat. Gerd Arntz. Kritische grafiek en beeldstatistiek / Kritische Grafik und Bildstatistik, Gemeentemuse- um, Den Haag: Haags Gemeentemuseum 1976, S. 45–61, hier S. 55. – Neurath gibt 1935 bereits 2.000 Zeichen an, vgl. O.  Neurath: „Isotype und die Graphik“, S. 342. 65 Vgl. G. Arntz, Manuskript vom 3. Juli 1972, zit. in: K. Broos: „Bildstatistik“, S. 54;

G. Arntz: „Der Ludergeruch der Re- volution“, S. 14; G. Arntz/M. Danser: „Ik was revolutionairder, linkser dan de Socialisten“, S. 6. 66 Vgl. G. Arntz: „Die ›Nederlandsche Stich- ting voor Statistiek‹ von 1940 bis 1965“, S. 184. 67 Vgl. „Charts on Unemployment“, in: Kinross, Robin: „The Graphic Formation of Isotype 1925–40“, in: Christopher Burke/Eric Kindel/Sue Walker (Hg.): Iso type. Design and Contexts 1925–1971, London: Hyphen Press 2013, S. 107–185, hier S. 155–163.

67 Abb. 6: Nichterwerbstätiger (Detail aus: Berufsgliederung der Bevölkerung Wiens), um 1928

Abb. 7: August Sander: Arbeitslos, 1928

Abb. 8: [Gerd Arntz]: Arbeitslose (Detail), 1930

68 Tatsächlich sicherte ihm die rund zwölfjährige Zusammenarbeit mit Neurath eine solide Existenzgrundlage. Wohl nicht zuletzt daher wurde diese Zeit – unter Ausblendung der teils gravierenden Differenzen zwischen beiden Männern – von Arntz im Rückblick bisweilen in mildes Licht getaucht.68 Vor diesem Hintergrund ist ein Piktogramm, in dem Arntz’ künstlerische Ambitionen exemplarisch zum Ausdruck gelangten, besonders herauszustellen: der „Arbeitslose“ (Abb. 4). Die starke Identifikation des Grafikers mit seiner Kunstform, die 1929 voll ausgereift war, fand in einer Fotografie ihren Niederschlag (Abb. 5). Sie gehört zu einer Reihe von unsignierten Aufnahmen, die einzelne Produktionsstufen der Bildstatistik dokumentieren: von anfänglichen Recherchen bis zum finalen Layout der Tafeln. Diese nachgestellte Szene gewährt einerseits Einblick in den Wiener Arbeitsalltag von Arntz – und obendrein in dessen Schöpfungsakt. Gleichwohl deutet nichts auf die innere Konfliktlinie hin, die seine Tätigkeit bestimmte: der hohe Selbstanspruch als Künstler und die notwendige „Berufsarbeit“ als grafischer Abteilungsleiter.69 Wenn man die Silhouettenfigur des „Nichterwerbstätigen“ heranzieht, lässt sich Arntz’ gestalterisch immens prägende Wirkung auf die Wiener Bildstatistik ermessen (Abb. 6). In frontaler Ansicht ist die schablonierte Erscheinung mit devot gesenktem Kopf eine semantische Kippfigur: Die Körpersprache passt zu einem Arbeitslosen so gut wie zur Verbeugung eines Lakaien. Pose und Gestik bleiben offen und sind ambivalent auslegbar. Auf dieses Bildsymbol trifft zu, was Neurath der Sprache generell vorgehalten 70 hatte: nämlich Bedeutungsvarianz. Die Gefahr, dass derlei „Männerchen“ (Kurt Tucholsky) mit einem „Eckensteher“ oder „Zuhälter“ verwechselt werden könnten, lag für Arntz auf der Hand 68 Vgl. G. Arntz: „Otto Neurath, ich und die Bildstatistik“, S. 33. − Neuraths Bemü- hungen, Arntz 1945 erneut Arbeit zu ver- schaffen, dürfte dazu beigetragen haben, vgl. Neurath an Arntz, Brief von 1945, Typoskript, 2 S., in: Annink, Ed/Bruinsma, Max (Hg.): Gerd Arntz. Graphic Designer, Rotterdam: 010 Publishers 2010, S. 46 f. 69 Vgl. G. Arntz: „Der Ludergeruch der Revolution“, S. 14.

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Vgl. Neurath, Otto: „Einheit der Wissen- schaft als Aufgabe“ (1934), in: ders.: Gesammelte philosophische und metho- dologische Schriften, Bd. 2, hg. von Rudolf Haller/Heiner Rutte, Wien: Hölder- Pichler-Tempsky 1981, S. 625–630, hier S. 628 f.

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(Abb. 7). Immerhin wusste der Arbeiter als Adressat der Bilder, wie 72 ein Arbeitsloser aussah, dessen wähnte sich Neurath sicher. Aber wie stellt man ihn piktogrammatisch eindeutig dar? Um dieses Problem zu lösen, griff Arntz zu einem alten Trick aus der physiognomischen Lehre und drehte die Figur ins Ganzkör73 perprofil (Abb. 8). Der Kopf wurde leicht nach rechts gerückt, sodass er optisch zwischen den Schultern einsinkt, der Herrenhut mit schmaler Krempe ist nun gegen eine Schiebermütze getauscht. Die nach rechts abfallende Oberlinie der Kappe evoziert den Eindruck einer leicht gesenkten Haltung, obwohl der untere Mützenrand eine schnurgerade horizontale Linie bildet. Psychologie und optische Täuschung kulminieren hier auf subtile Weise. Die Gliederung der Figur in schwarze und weiße Flächen verstärkt noch den „geknickten“ Gesamteindruck der Gestalt. Er entsteht durch den abgewinkelten Arm mit den zur Untätigkeit gezwungenen Händen in den Taschen der Hose sowie deren sich nach unten verjüngendem Schnitt, sodass die Schuhe spiegelbildlich zur Mütze hervorspitzen. Dieses 74 Formsignal kommt der griechischen Majuskel „∑“ (Sigma) nahe. Damit hat Arntz lange experimentiert, obgleich sich nicht viele neue Varianten daraus ergaben. Die fast vollflächige Profilfigur, über die Arntz auf dem Foto sinniert, betont die aufrechte Haltung, 75 sodass dem Arbeitslosen die Würde belassen bleibt. Wiederum in Frontalstellung gebracht, drückt das Symbol mit der Nummer 1117 physische Kraft, Selbstbewusstsein bis hin zu demonstrativem Widerstand aus (Abb. 9). Bei aller Entindividualisierung des „Arbeitslosen“ ist seiner Gefühlshaltung ein expressives Moment eingeschrieben, mit dem Arntz seiner vielfach als sachlich-logisch beschriebenen Ästhetik eine emotionale Seite abgewonnen hat, die subtil auf die Empathie des Betrachters abzielt. Mehr noch: Der „Arbeitslose“ ist eines der ganz seltenen, wiewohl sprechenden Beispiele aus Arntz’ visueller 71 G. Arntz: „Der Ludergeruch der Revolu- tion“, S. 14. 72 Vgl. Neurath, Otto: „Optische Aufklä- rungsmittel“, in: Der Vertrauensmann, 5. Jg., Nr. 1, 1929, S. 1–4, hier S. 2. 73 Vgl. G. Arntz: „Der Ludergeruch der Revolution“, S. 14.

74 Diese Beobachtung verdanke ich Magdalena Lösch. 75 Vgl. Anonymus: „Visual Statistics“, in: Ed Annink/Max Bruinsma (Hg.): Gerd Arntz. Graphic Designer, Rotterdam: 010 Publishers 2010, S. 123–155, hier S. 126.

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Abb. 9: [Gerd Arntz]: Arbeitsloser, um 1930–33

Abb. 10: [Gerd Arntz]: Arbeitslose, 1930

Abb. 11: Gerd Arntz: Arbeitslose (Detail), 1931, Museum Ludwig, Grafische Sammlung, Köln

71 Rhetorik, wie innere psychosomatische Befindlichkeiten als Resultat äußerer sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen Gestalt annehmen. Als Reflexionsfigur bietet sich der „Arbeitslose“ an, nach den Ursachen von Entlassungen zu fragen – wirtschaftliches Kalkül, politische Motive oder eigene Untätigkeit. Die Umrissfigur gibt über all dies keine Auskunft, so wenig wie die Bildtafel „Arbeits­ lose“ aus dem Mappenwerk Gesellschaft und Wirtschaft, für die sie noch vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise geschaffen wurde (Abb. 10). Die politische Sprengkraft des Themas konnte bei ihrer Veröffentlichung 1930, auch ohne Angabe aktueller Zahlen, begründungslos vorausgesetzt werden. Neuraths ökonomische Systemkritik kam darin allemal zum Ausdruck. Neurath selbst hat stets argumentiert, dass soziale Tatsachen sowie deren Veränderungen nicht mithilfe der Fotografie dokumen76 tierbar wären. So könne zwar ein „Schnappschuss“ einen Arbeitslosen zeigen, wie er für Stempelgeld in der Schlange steht, der Rückgang der Arbeitslosigkeit in einem ganzen Land ließe sich auf diese 77 Weise aber nicht darstellen. Auch in diesem Punkt vertrat Arntz eine andere Ansicht: Das „Fehlen der Fotografie“ sei Voraussetzung dafür, die Führungs- bzw. Einführungsbilder so zu gestalten, dass deren Elemente wiederum anschlussfähige Motive für andere Bild78 statistiken bilden könnten. Wie auch immer die Ausschlusskriterien für Fotos lauten mochten, das „Mengenbild“ Neurathscher Prägung war entstanden, um mit jeder Figur bestimmte empirische Quantitäten des Sozialen zu repräsentieren. Dass durch Reihung der „Arbeitslosen“, wie auf Tafel 87 geschehen, gleichwohl der Eindruck des Schlange Stehens evoziert wird, darf als begrüßenswerter Nebeneffekt angenommen werden. Neurath, der schließlich mit einem gewissen Beglückungs­ mo­ment bildhafter Darstellungen für die Wiener Methode warb, hatte sie zwischen den Polen instruktiver Wissensvermittlung 79 einer­­­seits und imperativer Didaktik andrerseits entwickelt. Gegen 76 Vgl. O. Neurath: „Die Museen der Zukunft“, S. 251. 77 Vgl. O. Neurath: „Visual Education“, S. 297. 78 Vgl. G. Arntz: „Zur Methode des Gesell     

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schafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien“, S. 34. Vgl. O. Neurath: „Statistische Hierogly- phen“, S. 43.

72 die illustrative (Hoch-)Kunst in Stellung gebracht, die für ihn dem Generalverdacht des Subjektivismus unterlag, sollten statt „ästhetischer Gefühle“ sozialrelevante Fakten zur Anschauung ge80 langen. Arntz, der Druckgrafiker, der seine Rolle nicht als „Verschönerer des Alltags“, sondern als „Hersteller“ von „guten Formen“ für sozioökonomische Zusammenhänge erblickte, leitete viele Pik81 togramme aus seiner künstlerischen Grafikpraxis ab. Der Kreis schließt sich dort, wo die methodische Anverwandlung der Kunst für bildstatistische Zwecke wieder zurück auf Arntz’ freischaffen82 des Werk wirkte (Abb. 11). Darüber jedenfalls bestand zwischen Neurath und Arntz kein Dissens. 80 O. Neurath: „Die Museen der Zukunft“, S. 255. 81 Vgl. G. Arntz: „Bewegung in Kunst und Statistik“, S. 29.

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Vgl. weiterführend Arntz, Gerd: Zeit unterm Messer. Holz- und Linolschnitte 1920–1970, red. von Rolf Schloesser, Köln: Leske 1988, S. 101.

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Daniela Stöppel

Piktogramm und Revolution Medientheoretische Überlegungen zur Genese der Bildstatistik aus der politischen Schwarzweißgrafik 1919–21 Die Bildstatistik als politisches Projekt Dass Piktogramm-Systeme, wie sie heute in Gebrauch sind, nicht erst ab den späten 1960er Jahren von Grafikern wie Otl Aicher und Jean Widmer ‚erfunden‘ wurden, sondern auf die sogenannte Wiener Methode der Bildstatistik zurückzuführen sind, ist heute durch Ausstellungen und Publikationen auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Wenig betont wird im Zuge dieser allgemeinen Popularisierung des frühen Piktogramms jedoch der politische, also rätedemokratische und planwirtschaftliche Entstehungskontext der Bildstatistik, der sich, wie im Folgenden argumentiert werden soll, auch auf die formale Zeichenkonzeption des Piktogramms aus1 wirkte. 1

Zur notwendigen Neuperspektivierung der Bildstatistik unter politischen Ge- sichtspunkten vgl. Schweppenhäuser, Gerhard: „Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung“, in: ders.: Design, Philosophie und Medien. Perspektiven einer kritischen Entwurfs- und Gestaltungstheorie, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 95–110, insbesonde- re S. 100. Auch Johan F. Hartle betont



den Zusammenhang der Bildstatistik zu Neuraths Erfahrungen in der Rätezeit. Hartle, Johan F.: „Abbildlichkeit und Transparenz der Zeichen. Otto Neuraths sozialdemokratische Bildpolitik“, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.): Handbuch der Medienphilosophie, Darmstadt: WBG 2019, S. 137–143, insbesondere S. 138.

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78 Abb. 1: Arbeitslose, Abb. aus Gesellschaft und Wirtschaft,1930

Die Wiener Methode, die ab 1933 unter dem Begriff Isotype internationalisiert wurde, war von Otto Neurath (1882–1945) an dem 1925 von ihm in Wien begründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum gemeinsam mit einem interdisziplinären Mitarbeiterstab systematisch entwickelt worden und diente der anschaulichen, bildhaften Aufbereitung statistischer Daten, um vor allem die Arbeiterschaft über gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen zu informieren. Für die Bildstatistik charakteristisch sind Reihen gleichartiger, piktogrammartiger Zeichen, die das Abzählen und den direkten Vergleich von Mengenangaben ermöglichen sollen. (Abb. 1) Schon allein aufgrund ihrer institutionellen Einbettung in die Volks- und Arbeiterbildung ist die „Wiener Methode“ als politisches Projekt charakterisiert, das mit den sozialdemokratischen 2 Zielsetzungen des „Roten Wien“ korrelierte. Dorthin war Neurath 2

Dazu, dass Arbeiterbildung nach dem Verständnis Neuraths letztlich in eine Kollektivierung der Wissenschaft münden sollte, vgl. Dvorak, Johann: „Otto Neurath und die Volksbildung. Einheit der Wissenschaft, Materialismus und umfassende Aufklärung“, in: [Kat. Ausst.]



Arbeiterbildung in der Zwischenkriegs- zeit. Otto Neurath – Gerd Arntz, hg. v. Friedrich Stadler, Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien, Wien/München: Löcker 1982, S. 149–156.

79 1920 zurückgekehrt, nachdem ihn die österreichische Staatsregierung aus Bayern ausgelöst hatte, wo er wegen der Beteiligung an den beiden Räterepubliken zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren 3 verurteilt worden war. In München hatte Neurath als Direktor des Zentralen Wirtschaftsamtes während seiner nur etwa eineinhalbmonatigen Amtszeit Maßnahmen für die wirtschaftliche Sozialisierung Bayerns eingeleitet. Diese beruhten auf seinen während des Ersten Weltkrieges intensivierten Theorien zur Kriegswirtschaft und zur Sozialisierung Sachsens, wo er ab 1917 in Leipzig das Kriegswirtschaftsmuseum geleitet hatte. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, können die wirtschaftstheoretischen Grundlagen, auf denen Neurath seine Plan- und Naturalwirtschaft aufbaute, auch in 4 den Prinzipien der Bildstatistik nachgewiesen werden. So liegt sowohl Neuraths Wirtschaftstheorie als auch seiner Konzeption der Bildstatistik jeweils ein auf positiv gegebenen Mengen basierendes Prinzip sowie die Hypostasierung eines geschlossenen Systems zugrunde, das einer kybernetischen Regulierung unterliegt. Planund naturalwirtschaftliche Denkmodelle lassen sich in der Bildstatistik sowohl in der Typisierung der Einzelzeichen identifizieren, die Neuraths Idee der „Lebenslagen“ (Bedarfsgruppen, in die die Gesellschaft eingeteilt werden sollte) entsprechen, als auch in der Darstellung abgegrenzter Bildräume (wie der Weltkarte), welche mit geschlossenen Wirtschaftskreisläufen äquivalent gesetzt werden können. Planwirtschaft und Bildstatistik folgten mithin den gleichen wissenschaftlichen Grundlagen, die Rudolf Haller einmal als 5 „Neurath-Prinzip“ bezeichnet hat. Neuraths Aktivitäten auf dem Gebiet der Bildstatistik stellten also keinen Neuanfang oder Bruch mit seinen politischen Betätigungen in München dar, wie mitunter suggeriert, sondern setzten diese mit anderen Mitteln fort, und auch die Gründung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums fügt sich ohne Weiteres in ein radikaldemokratisches Gesamtpro3 4

Siehe (auch zu allen anderen biografi- schen Angaben zu Neurath): Sandner, Günther: Otto Neurath. Eine politische Biografie, Wien: Zsolnay 2014, S. 132–143. Stöppel, Daniela: „Otto Neuraths ‚Empiri- täten‘. Zum Verhältnis von Naturalrech- nung und Bildstatistik aus medientheore-

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tischer Perspektive“, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, Jg. 38 (2019), Nr. 67, S. 117–130. Haller, Rudolf: „Das Neurath-Prinzip: Grundlagen und Folgerungen“, in: [Kat. Ausst.] Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit, S. 79–87.

80 gramm ein, das Neurath seit etwa einem knappen Jahrzehnt sowohl auf theoretischem als auch auf praktischem Gebiet verfolgte. Möchte man den politischen Implikationen der Bildstatistik und damit der Frühform des modernen Piktogramms weiter nachgehen, erweisen sich aber nicht nur der historische Kontext ihrer Entstehung und ihre Inhalte als sozialistischem Gedankengut ver6 pflichtet. Sondern auch die spezifische Form des piktografischen Einzelzeichens, bei Neurath noch mit dem kartografischen Begriff „Signatur“ benannt, soll im Folgenden als eine politisch motivierte Bildform neu bestimmt werden. Ergänzend zu der in der Forschung vertretenen Auffassung, die spezifische Form des Piktogramms lasse sich mit den gleichzeitigen Elementarisierungsbestrebungen der 7 abstrakten Kunst parallelisieren, soll hier vor allem der spezifischen medialen Funktionalität der piktografischen Form als Kommunikationsmittel nachgegangen werden. So kann das Piktogramm mit anderen zeitgenössischen, unmittelbar politisch intendierten Bildmedien wie dem Plakat, dem Flugblatt, der Karikatur oder dem Bilderbogen stärker in Verbindung gebracht werden, als dies bislang geschehen ist. Diese Bildproduktion der unmittelbaren Revolutionszeit wird hier unter dem Begriff Schwarzweißgrafik subsumiert, welcher auf die damals populären Drucktechniken Holz- und Linolschnitt ebenso bezogen ist, wie er bereits auf eine spezifisch binäre Figur-Grund-Beziehung hinweist. Der kurze Zeitraum der Eisner-Regierung und der folgenden zwei Räterepubliken von November 1918 bis Mai 1919 bot in München aufgrund der Offenheit sowohl Kurt Eisners als auch Gustav Landauers für künstlerische Entwicklungen ein günstiges Klima, um die Stadt zu einem Experimentierfeld für neue, politisch motivierte Kunst- und Gestaltungsideen werden zu lassen. Neurath, der sich für gestalterische Fragen von Kindheit an interessierte, konnte diese vor allem druckgrafische Produktion während der Rätezeit in 6

Wieso es gerechtfertigt erscheint, die Bildzeichen der Wiener Methode als frühe Piktogramme zu bezeichnen: Burke, Christopher: „Introduction“, in: ders./Eric Kindel/Sue Walker (Hg.): Isotype. Design and contexts. 1925–1971, London: Hyphen Press 2013, S. 9–20.

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Vgl. Stöppel, Daniela: Visuelle Zeichen- systeme der Avantgarden 1910 bis 1950. Verkehrszeichen, Farbleitsysteme, Piktogramme, München: Schreiber 2014, S. 197–209.

81 Form von Zeitungsillustrationen, z. B. in den Zeitschriften Die Aktion, Der Weg, Süddeutsche Freiheit, Der Ziegelbrenner und Der Ararat, oder Flugblättern täglich unmittelbar wahrnehmen. Ziel ist mithin die Herausarbeitung von Analogien und Kontinuitäten des Piktogramms zur politischen Gebrauchsgrafik, weniger die Identifikation von disruptiven Innovationsleistungen. Im Sinne eines ideologiekritisch motivierten Ansatzes soll die Rekontextualisierung des Piktogramms im politischen Kontext 1918/19 dazu beitragen, die historischen Entstehungszusammenhänge einer scheinbar rein funktional motivierten Zeichenform, die heute ubiquitär unsere Alltagskommunikation prägt, weiter aufzuklären. Denn, was Arnold Gehlen 1960 seinen geschichtsvergessenen Zeitgenossen provokant in Erinnerung rief, nämlich dass 1918 die avantgardistische Kunst grundsätzlich noch eine „action directe“ 8 ins Volk gewesen sei, erweist sich bis heute als von anderen Diskussionen und Diskurssträngen weitgehend überlagert. Insbesondere die frühe abstrakte Kunst wird, sieht man von politisch aktiven Künstlern wie Otto Freundlich einmal ab, selten unter dem Ge9 sichtspunkt einer ihr inhärenten politischen Absicht verhandelt, vielmehr perpetuieren sich unter dem Primat der Entwicklungslogik Fragen nach den „Anfängen“ oder der „Erfindung“ der Abstraktion. Damit verbunden erscheint der ebenfalls immer noch weitgehend aufrechterhaltene Gegensatz zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, der zumeist mit der geforderten „Überwindung“ letzterer durch erstere einhergeht. Die desolate Literaturlage zum Thema Gegenständlichkeit im Kontrast zu einer Fülle von Abhandlungen zur Abstraktion macht dies deutlich. Auch die stilgeschichtlichen Einteilungen, wie in Expressionismus, Dada, Konstruktivismus oder Neue Sachlichkeit, haben nicht nur dazu beigetragen, wertende Chronologien eines „noch expressionistisch“ oder „schon abstrakt“ zu verfestigen, sondern ließen auch die welt8  9 

Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder, 2. neu bearb. Aufl., Frankfurt am Main/Bonn: Athenäum-Verlag 1965 [1960], S. 204. Eine der wenigen Publikationen, die die abstrakten Zeichensysteme der Avantgarden als neue politische Sprache deutet, war die Ausstellung „Süddeut- sche Freiheit“, vgl. [Kat. Ausst.]



Süddeutsche Freiheit. Kunst der Revo- lution in München 1919, bearb. v. Justin Hoffmann, hg. v. Helmut Friedel, Städtische Galerie im Lenbachhaus München 1993/1994, München: Städti- sche Galerie im Lenbachhaus 1993, insbesondere das Kapitel „Eine Sprache für eine neue Ordnung“ (ab S. 86).

82 anschaulichen Gemeinsamkeiten zwischen stilistisch unterschiedlich arbeitenden Künstler/innen zurücktreten. Leider haben weder die zahlreichen Ausstellungen 2019 zum Bauhaus-Jahr noch zur Bayerischen Rätezeit diese Aspekte tatsächlich be- oder verhandelt. Zuletzt sei angemerkt, dass die nach wie vor weitgehend aufrecht erhaltene Trennung in Kunst und Gestaltung einer Herausarbeitung der politischen Implikationen von „Design“ ebenfalls im Weg steht. Denn insbesondere durch die Künstlergeneration von 1918/19 wurden die Funktionen von „Kunst“, wie sie in der liberalbürgerlichen Gesellschaft bestanden hatten, radikal in Frage gestellt. An die Stelle von „Kunst“ sollte ein neuer Gestaltungsbegriff treten, der aber weder deckungsgleich mit den angewandten Künsten der Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts anzusehen ist, noch dem entspricht, was heute unter „Design“, einem Begriff, der im Deutschen als semantisch entpolitisiert gelten muss, gefasst wird. Auch das Piktogramm als Produkt „gestalterischer“ Betätigung ist von dieser allgemeinen Problematik betroffen, weshalb eine historische Rekonstruktion seiner genauen Entstehungsumstände wichtig erscheint, um seine politischen Implikationen spezifisch situieren zu können.

Diskussionen um Form und Inhalt Der Problematik, wie avancierte Form und politischer Inhalt korrelieren könnten, stellten sich besonders in den 1970er Jahren zahlreiche (Kunst-)historiker/innen der 68er-Generation, oft im Umfeld der Berliner NGBK, wo wichtige Ausstellungen zur Revolutionskunst, insbesondere der russischen, stattfanden. In ihrem Katalog zur Künstlergruppe der Kölner Progressiven diskutierten beispielsweise Katrin Sello, Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen und H. U. Bohnen deren figürlich-konstruktive Bildfindungen kontrovers und auf hohem reflexivem Niveau. Die Kölner Progressiven sind in Hinblick auf die Entstehung des Piktogramms insofern von größerer Relevanz, als Gerd Arntz, der später mit Otto Neurath engstens an der Form der Wiener Methode arbeitete, der Gruppe, die sich Mitte der

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1920er Jahre formierte, ebenfalls angehörte. Weitere wichtige Mitglieder der Progressiven waren Heinrich und Angelika Hoerle sowie Franz Wilhelm Seiwert, Otto Freundlich, Anton Räderscheidt und andere. Viele von ihnen können mit der Kunstproduktion der Münchner Rätezeit direkt oder zumindest indirekt in Verbindung gebracht werden. Die Beziehungen zwischen Bildstatistik und Kölner Progressiven sind, so eine Grundannahme dieses Aufsatzes, nicht nur „zufällig“ über die spätere Zusammenarbeit zwischen Neurath und Arntz zustande gekommen, sondern lassen sich auf gemeinsame während der Revolutionszeit entwickelte Grundsätze und auch persönliche Verbindungen zurückführen. Bekanntlich war es der Kunsthistoriker Franz Roh, der 1926 den Kontakt zwischen Neurath und Arntz herstellte. Dass Neurath und Roh sich bereits in München kennengelernt und gemeinsam mit Rudolf Carnap im privaten Kreis Seminare abgehalten hatten, wird in der For11 schungsliteratur indes nur selten erwähnt. Die neue Aufmerksamkeit in den 1970er Jahren für die wiederentdeckten Kölner Progressiven lässt eine gewisse Befriedigung darüber durchscheinen, in ihren Werken ein historisches Beispiel dafür gefunden zu haben, wie sowohl den formalen Ansprüchen avantgardistischer Kunst (des Westens) als auch den inhaltlichen 10 Siehe [Kat. Ausst.] Politische Konstruk- tivisten. Die „Progressiven“ 1919–33, NGBK Berlin, Berlin: NGBK 1975. Dort hatte man auch die Adaption der Bild- statistik durch zeitgenössische Gestalter sehr kritisch gesehen: So sei es, „nicht verwunderlich, wenn der bildpädagogi- sche Anspruch der Wiener Methode, die unterprivilegierten Massen über die sozialen Fakten und Zusammenhänge aufzuklären, sich heute reduziert auf die Regelung des Verkehrs in Flughäfen oder anläßlich der Olympiade auf das ab- strakte Kommunikationsdesign eines Otto Eichler [sic!].“ (Gillen, Eckhart: „Von der symbolischen Repräsentation zur Rekonstruktion der Wirklichkeit. Das Ver- hältnis von Bildstatistik und politischer Grafik bei Gerd Arntz“, ebd., o. S., Anm. 34). Eine rezente Publikation mit einem Titel wie gerd arntz. graphic designer ist indes so irreführend wie bezeichnend, da sich Arntz selbst wohl als Grafiker, aber wohl

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kaum als Grafikdesigner tituliert hätte, und richtet sich wohl auch eher an eine Klientel heutiger, sich tendenziell als unpolitisch verstehender „Graphikdesigner“ (Annick, Ed/Bruinsma, Max (Hg.): gerd arntz. graphic designer, Rotterdam: 010 Publishers 2010). Diese Sicht führt mit- unter zu starken historischen Verkürzung- en, wie bei Lynette Roth, die zur Rezeption der Arntz’schen Zeichen, die das „Fundament für ein zeitgemäßes PiktogrammSystem“ gelegt hätten, meint: „Die Designer mochten diese Piktogramme, mit denen Lesbarkeit und Zugänglichkeit eine Form gewannen.“ (Roth, Lynette: „Ma- lerei als ‚Waffe‘“, in: [Kat. Ausst.] köln pro- gressiv. 1920–33. Seiwert Hoerle – Arntz, hg. v. Lynette Roth, Museum Ludwig Köln, Köln: König 2009, S. 15–132, hier S. 21. Notizen dieser Seminare haben sich im Archiv Bildende Kunst, Nürnberg, Bestand Roh erhalten.

84 (des Klassenkampfes) entsprochen werden kann. Diese zweite Realismus-Debatte, die den Streit der 1930er Jahre zwischen George Lukacs auf der einen und Ernst Bloch und Bert Brecht auf der anderen Seite produktiv auf Problemstellungen der Kunst und Gestaltung 12 der Post-68er-Jahre übertrug, heute noch einmal aufzugreifen, wäre durchaus sinnvoll und könnte gerade in Hinblick auf jüngere Entwicklungen im Bereich des sogenannten „Artivism“ ein hilfreiches Instrument darstellen. Um das Piktogramm neu zu bestimmen erscheint es zunächst notwendig, die wertende Teleologie der Stilgeschichte zu ersetzen durch eine Chronologie des bloßen Datums. Dies kann helfen, die gemeinhin als „noch expressionistisch“ klassifizierte Revolutionsgrafik neutraler zu perspektivieren als dies bislang der Fall ist. Zugleich ist die als „bereits sachlich“ bewertete Bildproduktion des Konstruktivismus und der Kölner Progressiven (und damit des späteren Piktogramms) zu relativieren. Ähnliche Entwicklungslogiken wurden im Übrigen auch auf die Bildstatistik projiziert, wenn beispielsweise von einer Ablösung der eher naturalistisch beziehungsweise expressionistisch anmutenden Scherenschnitte der Anfangszeit durch die sachlich-systematischen Gestaltungen ab dem Eintritt von Gerd Arntz in das Gesellschafts- und Wirtschaftsmu13 seum die Rede ist. Dass bis etwa 1930 von einer linearen, kontinuierlichen Entwicklung der Bildstatistik allerdings kaum die Rede sein kann, hat Robin Kinross in einer akribischen Untersuchung zur Datierung des überlieferten bildstatistischen Materials inzwi14 schen herausgearbeitet. Dass Stil-Kategorisierungen wie „Naturalismus“, „Expressionismus“, „Neue Sachlichkeit“ oder „Konstruktivismus“ zudem in hohem Maße mit wertenden Implikationen verbunden sind, wurde 12 13

Vor allem H. U. Bohnen verhandelte die Bildstatistik in diesem Kontext: Bohnen, H. U.: Das Gesetz der Welt ist die Än- derung der Welt. Die rheinische Gruppe progressiver Künstler (1918–1933), Berlin: Kramer 1976, S. 117–140. Vgl. z. B. Nikolow, Sybilla: „‚We could not photograph social objects even if we tried.‘ Otto Neuraths Bildstatistik als Beobachtungs- und Darstellungsinstrument sozialer Fakten“, in: Elisabeth

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Nemeth/Wolfgang Pircher (Hg.): Tabellen, Kurven, Piktogramme. Techniken der Visualisierung in den Sozialwissenschaf- ten. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, Jg. 64, Nr. 1–2 (2009), S. 18–30, hier S. 23–24. Siehe Kinross, Robin: „The graphic formation of Isotype 1925–40“, in: C. Burke/E. Kindel/S. Walker (Hg.): Iso- type, S. 107–177, hier S. 110.

85 insbesondere von der linkspolitisch orientierten Kunstgeschichte ab den späten 1960er Jahren teils reflektiert, teils aber auch unkri15 tisch perpetuiert. So müsste vor allem die Polarisierung der miteinander verketteten Begriffe „Expressionismus“, „Emotionalität“ und „Individualität“, die einseitig dem Kapitalismus zugeordnet werden, zu Begriffen wie „Sachlichkeit“, „Objektivität“ und Kommunismus/Sozialismus auf der anderen Seite aufgehoben und strenger analytisch nach formalästhetischen, weltanschaulichen und letztlich moralischen Argumentationssträngen getrennt werden. Wenngleich auch der Expressionismus häufig in einem linken Spektrum angesiedelt gewesen war, wurde ihm nach und nach die Legitimation abgesprochen, tatsächlich politisch wirksam zu sein. Die sich daran anschließende grundsätzliche Frage, ob der Betrachter überhaupt emotional affiziert werden darf, durchzieht letztlich die Diskussionen bis hin zu den totalitären Systemen und stellt auch für die politische Gegenwartskunst unserer Zeit immer 16 noch ein ungelöstes Problem dar. Gleiches widerfuhr dem Naturalismus, der in seiner zeittypischen Ausprägung des Verismus ebenfalls als unsachlich abgetan wurde. Außerdem muss auch der Konstruktivismus einer fundamentaleren Kritik unterzogen werden: Denn fasst man den Begriff „expressionistisch“ auf einer übergeordneten Ebene im Sinne einer romantischen Idee von Versöhnung und einem Glauben an die allgemein kommunikative Kraft von Kunst und Gestaltung auf, wie dies beispielsweise bei Seiwert an seiner Orientierung an der Volkskunst deutlich wird, dann wird auch der Konstruktivismus als romantisches Projekt erkennbar. Carl Einstein hat dies als „utopisch 17 rational“ kritisiert. Die Kontinuitäten zwischen Expressionismus und Konstruktivismus liegen also nicht nur in dem Glauben einer 15 16

Vgl. Sello, Kathrin: „Einleitung“, in: [Kat. Ausst.] Politische Konstruktivisten, o. S. Zum Begriff der Sachlichkeit vgl. C. Burke: „The Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien (Social and economic museum of Vienna) 1925–34“, S. 84, Anm. 159. Allgemein zu dieser Thematik: Weinstein, Joan: The end of expressionism. Art and the November

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Revolution in Germany, 1918–19, Chicago u. a.: University of Chicago Press 1990; sowie Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.): Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzep- tion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Einstein, Carl: Die Kunst des 20. Jahrhun- derts, Berlin: Propyläen-Verlag 1926, S. 161.

86 universalen Kommunikation, sondern auch in einer gemeinsamen utopischen Zukunftsgläubigkeit, wodurch die scheinbar sachliche Orientierung des Konstruktivismus am technischen Fortschritt als metaphysisches Projekt deutlich wird. Auch die Ablösung von „Stil“ durch „Konstruktion“ muss in ihrer „versachlichenden“ Bedeutung revidiert werden, da sich gerade im „Konstruktiven“ ein letztlich ganzheitlich orientiertes Stilwollen konserviert. Was indessen alle drei „Stile“, Naturalismus, Expressionismus und Konstruktivismus verbindet, ist ihr deutlich formulierter Kommunikationsanspruch: der Naturalismus als Realismus, den aufgrund seiner Ähnlichkeit zur sichtbaren Welt jeder verstehen soll, der Expressionismus als Ausdruckskunst, die an eine allgemein menschliche Empfindungsfähigkeit appelliert, und der Konstruktivismus als eine nach visuellen Regeln aufgebauten Bildkonstruktion. Fruchtbarer für das Folgende erscheint also, die künstlerische Produktion der Revolutionszeit ohne die genannten stilgeschichtliche „Vorurteile“, also rein „formal“ zu betrachten. Dies soll hier am Beispiel zweier Holzschnitte von Fritz Schaefler demonstriert werden, die den ersten Ministerpräsidenten „Baierns“, Kurt Eisner, zeigen. Eine herkömmliche stilgeschichtliche Betrachtungsweise würde Schaeflers Bildfindung aufgrund der aufgelösten Außenform, der zackigen Linien und auch wegen der sentimental wirkenden Handhaltung als expressionistisch einstufen. Dies ist aus einer verständigungsorientierten Perspektive sicherlich nicht falsch, hat aber, wie dargelegt, den wertenden Beiklang, im Vergleich zu gleichzeitigen abstrakten oder konstruktivistischen Strömungen veraltet, „individualistisch“ oder sogar regressiv zu sein. Situiert man beide Eisner-Darstellungen aber in ihrem ganz spezifischen Entstehungskontext, wird deutlich, worin ihre spezifische mediale Leistung liegt. Veröffentlicht wurde der erste Holzschnitt kurz nach der Ermordung Eisners auf der Titelseite der Süddeutschen Freiheit am 10. März 1919. (Abb. 2) Der zweite erschien als ganzseitige Abbildung in der März-Ausgabe der Zeitschrift Der Weg, 18 deren Schriftleiter Schaefler seit Januar 1919 war. (Abb. 3) Es ist so18 Zu Schaefler sowie besonders den Eisner-Schnitten, siehe: Hoffmann, Justin: Künstler und ihre Revolution,



in: [Kat. Ausst.] Süddeutsche Freiheit, S. 29–60, hier S. 48–52.

87 Abb. 2: Fritz Schaefler: Kurt Eisner, 1919

Abb. 3: Fritz Schaefler: Kurt Eisner, 1919

mit anzunehmen, dass beide Schnitte etwa gleichzeitig entstanden sind. Beide beruhten auf fotografischen Vorlagen von Germaine Krull (Abb. 4 und 5), die in ihrem Münchner Atelier vornehmlich Persönlichkeiten des linkspolitischen Spektrums und der libertären Kunstwelt in einem für die damalige Zeit typischen pikturalen Stil aufnahm und auch Eisner mindestens viermal abgelichtet hat19 te. Vergleicht man die fotografischen Vorlagen mit den Schnitten, fällt neben der für Hochdruck-Techniken typischen spiegelbildlichen Umkehrung auf, dass Schaefler in beiden Fällen einen engeren Bildausschnitt wählte und damit stärker auf den Kopf Eisners fokussierte. Dieser wurde zudem im unteren Bereich nicht an einen 19 Vgl. Ebd. Die Datierung der Fotos ist nicht abschließend geklärt, aber das Foto



Eisners mit rasierten Wangen dürfte vor dem mit Vollbart liegen.

88 Abb. 4: Germaine Krull: Kurt Eisner, 1918

Abb. 5: Germaine Krull: Kurt Eisner, 1918

Körper angebunden, sondern erscheint von einer kreisförmigen Aureole umgeben. Der stärkste Eingriff liegt aber darin, dass Schaefler im Schnitt für den Weg den Kinnbart zu einem Backenbart uminterpretierte – vermutlich um eine gemeinsame Charakteristik zwischen den beiden Portraits herzustellen, die den fotografischen Aufnahmen fehlte, da sie offenbar zu unterschiedlichen Zeitpunkten gemacht worden waren. Schaefler charakterisierte die Persönlichkeit Eisners also nicht „individualistisch“, sondern eher schärfte er die bereits populären Aufnahmen Krulls für seine Zwecke nach. Entsprechend ihrer Memorialfunktion transformierte er sie zu einer stärkeren formalen Monumentalität und durchaus auch zu gesteigerter Expressivität. Die Ikonenhaftigkeit des markanten Kopfes wirkt zugespitzt, ohne die durch Krull vorgeprägte „Ikonenhaftigkeit“ zu verlieren. Auch das größere Format trägt zu einer Transformation ins Andachtsbildhafte bei.

89 Entscheidend für die hier verfolgte Fragestellung ist indes, dass Schaefler die weichen pikturalen Graustufen von Krulls Fotografien in die binäre Bildsprache des Holzschnittes übersetzte. Dies wird besonders an der Behandlung der Haare und des Bartes augenfällig, die Schaefler in tiefem Schwarz wiedergibt. Damit, und durch die erwähnte Korrektur des Kinnbartes zu einem Backenbart, wird eine gewisse Typenhaftigkeit Eisners herausgearbeitet, die trotz der starken Verfremdungseffekte der sich vielfach kreuzenden Linien auf Wiedererkennbarkeit abzielt. Das Schwarzweiß wird bei beiden Schnitten besonders an den großen schwarzen und weißen Flächen in der unteren Bildhälfte sichtlich betont. Schaeflers Freund Leo Scherpenbach charakterisierte diese Arbeitsweise entsprechend: „Schaefler strebt nach Einheit der Form. Die Wildheit und das Chaotische in seinen Arbeiten ist antreibend, belebend, aber nicht ver20 wirrend.“

Medientypische Potentiale des Holzschnitts Das Potential des Holzschnittes wurde von den Zeitgenossen in seiner formalen Reduktion gesehen. So meinte 1918 der Kritiker „Dietrich“ in einer Rezension der Ausstellung Der expressionistische Holzschnitt bei Goltz: „Es ist furchtbar aufregend zu malen, aber am aufregendsten sind die schwarzen und weißen Flächen. Firn und Abgrund, jeder Schnitt mit dem Messer ist ein Schnitt ins Innerste. 21 Dieses Holz ist Fleisch von deinem Fleisch.“ Diese zunächst etwas pathetisch und sehr „expressionistisch“ anmutende Charakterisierung berührt drei wesentliche medientheoretische Punkte: 1) Die herausfordernde Neuartigkeit der (alten) Technik; 2) deren binäre Grundlage und 3) ein essentialisiertes Wahrheitsversprechen, das man mit dem Holzschnitt verband. Letzteres ging mit einer Art totalen Identifikation einher, die hier christlich aufgeladen zugleich 20 21

Scherpenbach, Leo: „Die Graphiker die- ser Nummer“, in: Die Bücherkiste, Nr. 1 (März 1919), S. 4, zit. n. J. Hoffmann: Künstler und ihre Revolution, S. 50. „Dietrich“: „Gesichte“, in: Die Schöne



Rarität, Jg. 2, Nr. 4 (Juli 1918), S. 3, hier zit. n. Lochmaier, Katrin: „Der Kunsthändler Hans Goltz – ein ‚revolutionärer Konservativer‘“, in: [Kat. Ausst.] Süddeutsche Freiheit, S. 61–72, hier S. 68.

90 als Penetration, Inkarnation und Kommunion beschrieben wird. Zudem erweist sich das Medium Holzschnitt aufgrund seiner prinzipiell unbegrenzten Vervielfältigungsmöglichkeit als attraktiv. Dieser Aspekt verbindet Schaeflers Eisner-Schnitte mit Krulls Fotografien, die als Zeitungsillustrationen, Post- und Visitenkarten zirkulierten, also massenmedial verbreitet waren. Wenn sich Schaefler nun dieser Vorlagen bediente, und selbst das reproduktionsgrafische Medium der Zeitung für seine Veröffentlichung wählte, schrieb er sich damit nicht nur in die etablierte Eisner-Ikonografie ein, sondern auch in deren massenmediale Distribution. Wie viele ‚expressionistische‘ Druckgrafiken auf fotografischen Vorlagen beruhen, ist leider kaum untersucht. Fest steht jedoch, dass Zeitschriften wie Der Weg oft Drucke als Beilagen enthielten. Ihr Status war dabei zwar auch der einer wertsteigernden Beigabe, vor allem aber nutzte man diese schlicht als „Transportmittel“ für die propagandistische Verbreitung politischer Inhalte. Dies bestätigt ein Rezensent „O. H.“, der an der Zeitschrift Der Weg genau dies als besonders innovativ hervorhob: „Kritik wird hier selbst zur Kunst! Bildbeigaben [...] fast stets Originalholzschnitte. Dies eine Tat – weiteste Verbreitung 22 wertvoller Originale.“ Fotografie und Holzschnitt erweisen sich also für die zeitgenössische Massenkommunikation in gleicher Weise als geeignet, auch wenn heute das eine Medium ‚moderner‘ als das andere erscheinen mag. Über Gerd Arntz ist eine Äußerung des Basler Kunsthistorikers Georg Schmidt überliefert, der diesen Zusammenhang klar benannte: „Durch alle Zeiten hin war die Situation für alle Kunstäußerungen der revolutionären Klassen, einen voraussehenden Geist mit technisch primitiven Mitteln ausdrücken 23 zu müssen.“ Man bediente sich also gerade als politischer Künstler derjenigen Medien, die leicht verfüg- und handhabbar waren – und damit im besten Sinne ‚primitiv‘. Der Charakter der Schwarzweißgrafik muss zudem als genuin öffentlich beschrieben werden, auch wenn diese Öffentlichkeit fak22 H., O.: [Rezension von Der Weg], in: Die neue Bücherschau, Jg. 1919, Nr. 2, S. 30, hier zit. n. Lindner, Martin: „Illustrierte Zeitschriften der Revolution“, in: [Kat.  Ausst.] Süddeutsche Freiheit, S. 73–83, S. 75.

23 Zit. n. Arntz, Gerd: „Erinnern durch Ab- bilden. Eine autobiographische Skizze“, in: Gerd Arntz: Zeit unterm Messer. Holz und Linolschnitte 1920–1970, Köln: Leske 1988, S. 13–44, hier S. 16.

91 tisch nicht sehr groß war. Obschon sich die avantgardistischen Bildmittel für die breite Masse oft als unverständlich erwiesen, war die Schwarzweißgrafik im Sinne der „Antizipation einer kollektiven 24 Totalität“ prinzipiell auf universale Kommunikation ausgelegt. Dies rückt die Revolutionsgrafik in die Nähe anderer Bildmedien, die ‚gelesen‘ und verstanden werden wollen, wie des Bilderbogens oder der Karikatur. Typisch für diese sind Text-Bild-Kombinationen, in denen sich Bildaussagen und Textzeilen wechselseitig ergänzen. Gerade in der Revolutionsgrafik findet sich diese Verbin25 dung häufig, um politische Botschaften zu transportieren. Aloys Wachs Grafik Wir fordern unsere Zeit. Freiheit? (Abb. 6) kann als Beispiel für eine durchaus avancierte Einbindung von Text in die Gesamtkomposition dienen: In einem mehrfach gebrochenen, spruchbandartigen Streifen werden die Großbuchstaben der Wörter mit der Masse der Arbeiter verschränkt. Das Wort „Freiheit“ wird dabei eingeleitet von einer nach links oben weisenden Hand, während das „?“ an einem der Knicke platziert und damit von zwei Seiten lesbar ist. Der Schrift wird damit ein eigener, autonom organisierter Bildraum zugewiesen, zugleich kann die banderolenartige Verschlingung als Demonstrationsbanner und damit als Forderung der Revolutionäre gelesen werden. In der revolutionären Grafik finden sich aber auch einfachere Kombinationen, die mit einer gedruckten Textzeile unterhalb des Bildes auskommen. Darüber hinaus sind wenige Versuche bekannt, in denen, ähnlich wie in den Rosta-Fenstern Wladimir Majakowskis, das Bild den Text tendenziell ganz ersetzen soll, beziehungsweise, wie in den Münchner Bilderbögen, Text sehr sparsam und unmittelbar bildbezogen eingesetzt wird. So zeigt die Grafik Nicht so – aber so (Abb. 7) von Georg Schrimpf aus der von Hans Goltz herausgegebenen Zeitschrift Der Ararat die Möglichkeit einer deutschfranzösischen Völkersolidarität in bewusst einfacher Darstellungs24 K. Sello: Einleitung, o. S. 25 Eine physische Nähe zwischen Karikatur und avantgardistischen Bildfindungen ist beispielsweise in Der Aktion perma- nent gegeben, wo diese beiden Bild formen gleichwertig nebeneinander vor kommen. Während der Rätezeit stellte auch der so genannte „Münchner Bilder-

bogen“ ein beliebtes propagandistisches Medium dar. Abbildungen solcher Bilderbögen in: Gerstenberg, Günter: Räte in München, Anmerkungen zum Umsturz und zu den Räterepubliken 1918/19, Bodenburg: Verlag Edition AV 2019, S. 145–146 und S. 154–155.

92 Abb. 6: Aloys Wach: Wir fordern unsere Zeit. Freiheit?, 1919

Abb. 7: Georg Schrimpf: Nicht so – aber so!, 1918

weise auf. Dieser Kommunikationsanspruch rückte das Bild zwangsläufig in die Nähe von Sprache und Schrift, und damit in das Feld von Semantik und Syntax. Sowohl die Ausbildung einer Bildsemantik, also die Verdichtung der Bildform zur Schrifttype, als auch die einer Bildsyntax wurden zu zentralen gestalterischen Problemen, die insbesondere die sich als politisch verstehenden Künstler auf unterschiedliche Weise zu lösen versuchten. Die formale Auseinandersetzung mit dem Status des Bildes wurde insbesondere bei den Kölner Progressiven systematisch vorangetrieben und auch später für die Bildstatistik bestimmend. Zunächst soll hier darauf eingegangen werden, wie Künstler syntaktische Relationen konkret herstellten, bevor im Anschluss auf deren Auseinandersetzung mit der semantischen Zuspitzung der Einzelform (auf das Piktogramm) einzugehen sein wird.

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Syntaktische Bildorganisation im Zusammenhang mit wirtschaftstheoretischen Modellen Die Syntaxbildung ist am Beispiel von Seiwerts Serie Sieben Antlitze 26 der Zeit (Abb. 8) gut nachvollziehbar, die als Wendepunkt in seinem Schaffen angesehen wird. Gaßner ist der Auffassung, Seiwerts „Stilwandel“ habe in dieser Serie erstmals Ausdruck gewonnen, wenngleich diese „noch karikaturistisch gezeichnete Physiognomien“ aufweise, was sie in dem oben kritisierten Werteschema von „noch“ 27 und „schon“ positioniert. Legt man das Augenmerk aber nicht auf die Überwindung des Karikaturistischen, sondern fokussiert auf ihr medienhistorisches Potential, liegt die Leistung der Bildserie möglicherweise genau in der auch für die Karikatur typischen Kombination von bildhaft und textlich geäußerter Kritik. In den insgesamt sieben Strichzeichnungen, veröffentlicht im Dezember 1921 in der letzten, im Untergrund erschienenen Ausgabe des sonst nicht illustrierten, von Ret Marut in München herausgegebenen Ziegelbrenners, werden die gesellschaftlichen Zustände der Nachkriegszeit als von Kapital und alten Machtstrukturen geprägt polemisch kritisiert. Wie Presse, Schule, Kirche, Militär, Gewerkschaften, Wissenschaft und Kleinbürgertum den Profitinteressenten der Mächtigen dienen, ist Thema der sieben Darstellungen, die gleichwertig nebeneinanderstehen, also keine Dramaturgie oder Narration ausbilden. Bild und Text, und das ist letztlich der wesentliche Unterschied zu der oben beschriebenen Wach-Grafik, sind durch ein orthogonales System strikt voneinander getrennt. Diese Trennung, die man zunächst als eine rein formalistische, an De Stijl oder Konstruktivismus orientierte Formel bewerten mag, ist jedoch fundamentaler. Bild und Text werden nicht mehr in einem einzigen Möglichkeitsraum, wie die Banderole bei Wach, homogenisiert, sondern 26 „Sieben Antlitze der Zeit“, in: Der Ziegel- brenner Jg. 5, Nr. 35/40 (21. Dezember 1921), S. 2–8. 27 Gaßner, Hubertus: „Konstruktivistische Bildsprache und die Sprachlosigkeit des

Künstlers“, in: [Kat. Ausst.] Die Progressi ven, Galerie Brockstedt, Hamburg: Galerie Brockstedt 1975 [Teil der Aus- stellung Vom Dadamax zum Grün gürtel], o. S.

94 als disparat und damit gleichwertig eingesetzt. Dies lässt in Analogiebildung den Schluss zu, dass sich das relative Bildgefüge ebenfalls als Text lesen lassen soll. In der fünften Grafik wird dies besonders anschaulich: Das hochrechteckige Bildformat ist in vier inhaltliche Zonen aufgeteilt, das zentrale Thema gibt der mittig platzierte, rechtwinklig geknickte Schriftzug „Profit-wirtschaft“ an. Während die rechte untere Seite die Arbeiter als „Menschenmaterial“ zeigt, das über einen Transmissionsriemen mit dem darüber befindlichen Fabrikgebäude verbunden ist, und links Mietskasernen respektive „Drecklöcher = Proletarierwohnungen“ präsentiert, sind auf der mittleren linken Bildhälfte die Themen „Internationale Schiebung“ und „Profit“ mittels eines Frachtschiffes versinnbildlicht. Ganz oben links ist ein geldzählender Ordensträger dargestellt, der die Profite einstreicht. Die einzelnen Bereiche wurden zudem formal miteinander verschränkt: So ragen beispielsweise die über den Arbeitern wiedergegebenen Schornsteine in die Zone des Profiteurs hinein und machen so den (Ausbeutungs-)Zusammenhang zwischen den beiden Bereichen deutlich. Diese Verklammerung wird durch die teils waagrecht, teils senkrecht eingesetzten Schriftzüge noch verstärkt, die auch dazu anregen, die Grafik respektive das Heft zu drehen. Durch seine besondere formale Organisation erhält das Bild diagramm- und modellhaften Charakter. Diesen hat insbesondere Gaßner als bildliche Übersetzung der Organisationstheorien Alexander Bogdanows interpretiert, hier soll jedoch der Zusammenhang zur 28 Planwirtschaft stark gemacht werden. Die Befürworter der Planwirtschaft, wie beispielsweise Neurath, sprachen dem Kapitalismus, also dem Freihandel, ab, überhaupt als geschlossenes System zu funktionieren und damit tatsächlich organisierbar zu sein. Am Kapitalismus wurde vor allem kritisiert, dass er aufgrund von Zinsschwankungen, Spekulationskäufen und dergleichen eben nicht berechenbar, folglich willkürlich und damit auch für eine sozialistische Gesellschaft unbrauch29 bar sei. Neurath plädierte daher für die Vollsozialisierung, da eine 28 H. Gaßner: „Konstruktivistische Bildspra- che“, o. S.

29 Vgl. D. Stöppel: „Otto Neuraths ‚Empiritä- ten‘“.

95 Teilvergesellschaftung von Betrieben nicht zu einem berechenbaren Wirtschaftsplan führen würde. Ein „organisiertes“ Bild ist diesem Verständnis nach also analog zur sozialistischen, gelenkten Wirtschaftsordnung, ein unorganisiertes Bild analog zum kapitalistischen Freihandel zu verstehen. Wenn nun also Seiwert sich an diesen Vorstellungen orientiert, können seine Bilder nicht mehr, wie Gaßner vorgeschlagen hat, als indifferente Sowohl-als-auch-Darstellungen von kapitalistischer respektive sozialistischer Ordnung gelesen werden, sondern als eindeutige Stellungnahmen. Der rauchende Fabrikschornstein in der fünften Grafik der Sieben Antlitze beispielsweise kann so als eine Art „offenes Ende“ im kapitalistischen Wirtschaftssystem interpretiert werden, während das planwirtschaftliche Modell in der Verspannung von Arbeiter, Transmissionsriemen und Fabrik ein idealtypisch geschlossenes System repräsentiert. Arntz’ Grafik Arbeitslose von 1931 (Abb. 9) macht dies ebenfalls deutlich, wenn aus dem Schornstein der Fabrik Geldnoten flattern, die mit einer Schere vernichtet werden, und somit nicht in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen. Dass Arntz’ Bildfindung auf Seiwert zurückgeht, zeigt dessen Grafik Profit (Abb. 10), ebenfalls mit dem charakteristischen Schornstein, aus dem der Profit buchstäblich heraussteigt. Dies lässt den Schluss zu, dass es nicht nur die allgemeine Forderung nach einer kommunikativen Kunst war, die die Bildfindungen der Avantgarden zu systemhaft aufgebauten Bildfindungen anregte, sondern auch die Orientierung an planwirtschaftlichen Modellen. Als System wird in der zeitgenössischen Terminologie ein regelhafter Zusammenhang von Einzelelementen bezeichnet, den wir heute unter dem Begriff „Modell“ zu fassen gewohnt sind. Modelle indes folgen gemäß der Modelltheorie von Herbert Stachowiak drei Merkmalen: 1) dem Abbildungsmerkmal, 2) dem Verkürzungsmerk30 mal und 3) der pragmatischen Orientierung. Übertragen auf die Bildfindungen der Kölner Progressiven, aber auch auf die Bildstatistik, bedeutet dies, dass das Bildgefüge in 30 Siehe Mahr, Bernd: „Modellieren. Be- obachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs“, in:



Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, 2. Aufl., München: Fink 2009 [2003], S. 59–86, hier S. 79.

96 Abb. 8: Franz Wilhelm Seiwert: Sieben Antlitze der Zeit, 5. Bild, 1927

Abb. 9: Gerd Arntz: Arbeitslose, 1931

Abb. 10: Franz Wilhelm Seiwert: Profit, 1923

97 seinen Relationen Beziehungen des Dargestellten abbildet. So kann der Abbildungsforderung allgemein durch Homomorphie oder Iso31 morphie entsprochen werden, wie dies schon Leibniz formulierte. Einflussreich auf die hier diskutierte Generation von Wissenschaftlern und Künstler/innen war aber vor allem Gottlieb Freges Begriffs32 schrift. Frege führte den hier wichtigen Begriff der „Kompositionalität“ ein, der meint, dass die Relationen zwischen den untereinander verbundenen Gliedern isomorph gebildet werden sollen. Insbesondere die Zeichentheorie von Rudolf Carnap, mit dem sowohl Neurath als auch Roh um 1919 intensiv verkehrten, steht stark in dessen Nachfolge. Auch dort sind die Beziehungen zwischen den Zeichen abbildend zu verstehen. Das zweite Merkmal, das der Verkürzung, lässt sich auch als Abstraktion fassen. So werden in einem Modell idealerweise nur 10 bis 20 % überhaupt abgebildet, um damit aber etwa 60 bis 80 % des 33 Sachverhaltes erklären zu können. Besonders dieses Charakteristikum scheint wesentlich, um die konzeptuelle Grundlage der Grafik der Progressiven, aber auch die Bildstatistik, verstehen zu kön34 nen. Denn die pragmatische Orientierung, der dritte Aspekt des Modells, hängt damit unmittelbar zusammen: So reproduziert das Modell die Verhältnisse nicht nur, sondern lässt Interpretationsspielräume durchaus zu. In seiner Adaptionsfähigkeit auf andere Zusammenhänge liegt also auch ein handlungsorientiertes Potential. Dies ist sowohl für die Kölner Progressiven, die mit ihren Bildern gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur aufzeigen, sondern auch Aktionen direkt anregen wollten, als auch für die Konzeption der Bildstatistik wichtig. Wie Bernd Mahr im Rückgriff auf die Legende der Entstehung der Malerei bei Plinius darlegt, ist 35 ein Modell also immer ein Modell von, aber auch für etwas. Das Modell nimmt damit eine Mittlerfunktion ein: Es bildet Verhältnisse 31 Ebd., S. 82. 32 Frege, Gottlob: Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelspra che des reinen Denkens, Halle: Nebert 1879. 33 Siehe B. Mahr: „Modellieren“, S. 81 34 So hält auch Gaßner fest: „Den Bildzei- chen in Seiwerts Werken und in der

Statistik ist gemeinsam die Abstraktion vom Widerspruch der ges.[amten] Erscheinungen und deren Reduktion auf eine hypothetische Organisationsstruk- tur“. (H. Gaßner: „Konstruktivistische Bildsprache“, o. S.) 35 Siehe B. Mahr: „Modellieren“, S. 73.

98 nicht exakt ab, sondern abstrahiert, und eröffnet damit die Möglichkeit, von dieser Abstraktion eine pragmatische Orientierung abzuleiten.

Die Schwarzweißgrafik als binäres und diskretes Zeichensystem Bisher wurde in der Forschung, wie bereits erwähnt, bei der Interpretation der besonderen Form der Piktogramme, die sich durch eine systematisierte, oft geometrisierende Gegenständlichkeit auszeichnet, vor allem auf die Außenform des Konturs und/oder die synthetische Zusammensetzung des Piktogramms aus Einzelelementen fokussiert. Ich möchte im Folgenden jedoch verstärkt auf den Aspekt der binären Figur-Grund-Beziehung und deren Semantisierungspotential abheben, wie sie sich im idealtypischen Schwarz/Weiß des Piktogramms radikalisiert. Die Notwendigkeit, das Bild zum Zeichen werden zu lassen, ergab sich aus der geforderten Sprachähnlichkeit. Besonders Theorien zur Farbe als „Sprache“ hatten vor dem Ersten Weltkrieg eine hohe Relevanz. Dies änderte sich allerdings in nur wenigen Jahren, und die Form, im Sinne von Kontur oder Außenform, wurde dem Farb-Aspekt übergeordnet. Am Beispiel von Hans Richter, der wie die übrigen Zürcher Dadaisten an einer „Paradiessprache der Zeichen“ arbeitete und sich in der Münchner Rätezeit kunstpolitisch engagierte, lässt sich dies gut nachvollziehen: Den malerisch-„expressiven“ und äußerst buntfarbigen Stil seiner Visionären Portraits von 1917 (Abb. 11) gab er zugunsten von Schwarz-Weiß-Kompositionen auf. So wirkt ein Linolschnitt Richters von 1919, der später als „Dada-Kopf“ unter anderem als Titelblatt der Zeitschrift Dada Nr. 4/5 36 bekannt wurde (Abb. 12), auf den ersten Blick nicht weniger „visionär“: Unregelmäßige weiße und schwarze Formen wechseln sich rhythmisch ab, ein Kopf, wie ihn die Titelgebung insinuiert, ist erst 36 [Kat. Ausst.] Süddeutsche Freiheit, Kat-Nr. 25 und J. Hoffmann: Künstler und ihre Revolution, S. 45.

99 Abb. 11: Hans Richter: Visionäres Portrait – Selbstportrait, 1917

Abb. 12: Hans Richter: ohne Titel [Dada-Kopf], 1919

auf den zweiten Blick erkennbar: Die sehr hoch liegenden Augen sind vage links als schwarze und rechts als weiße Kreisform gegeben, die breite Nase schließt nach unten bis über die Bildmitte daran an, während sich im unteren Drittel ein Mund andeutet. Frontalund Profildarstellung kippen permanent ineinander und verlieren sich immer wieder im Ungegenständlichen, dabei kubistische Gestaltungsmittel aufgreifend. Die Farbe ist ganz aufgeben, zugunsten einer rein schwarz-weißen Gestaltung. Das Vexierbildhafte findet sich auch in dem etwas früher entstandenen Ölbild Dada-Kopf, Abb. 13, wo Richter anders als im Holzschnitt glattkantige Flächenbegrenzungen einsetzte. Während der Holzschnitt streng binär aufgebaut ist, bedient sich das Ölbild neben Schwarz und Weiß auch der Buntfarbe Rot. Außerdem kommt ein Farbverlauf zum Einsatz, der an Kasimir Malewitschs Bildfindungen erinnert. Derartige Verläufe gab Richter jedoch auf, und an seinen vielen weiteren Dada-Köpfen ist das Bemühen um harte Schwarz-Weiß-Kontraste in den Vordergrund gerückt.

100 Seine Auseinandersetzung „mit den positiven und negativen Formen“ mündete, wie er später schrieb, in eine regelrechte „schwarz37 weiß-Besessenheit“. Das prinzipiell unendliche und kontinuierliche Zeichensystem der Farbe hingegen wurde von Richter nicht weiter benutzt. Warum aber diese „Besessenheit“ für das Schwarzweiß, nicht nur bei Richter? Auch hier geben Seiwerts Sieben Antlitze der Zeit einen wichtigen Hinweis, insbesondere, wenn man den konkreten Publikationszusammenhang berücksichtigt: Der kleinformartige, heftartige Ziegelbrenner enthielt üblicherweise keinerlei Illustrationen oder Abbildungen. Seiwerts in dieser Hinsicht exzeptionelle Bildserie trat also funktional unmittelbar an die Stelle von Text, ist damit nicht als „Illustration“ zu verstehen, sondern als direkter Ersatz von Text. Den Grafiken vorangestellt ist eine einseitige, wohl von Ret Marut verfasste Einleitung, die ebenfalls den Titel „Sieben Antlitze der Zeit“ trägt. Darin wird explizit die Antinomie von Bild und Text thematisiert: „Der, der in dieser Form Antlitz gab ‚der‘ Zeit, meinte, die Zeichnungen stünden in krassem Gegensatz zu den Worten, die den Antlitzen folgen. Ich wollte, sie stünden in einem zehnfach stärkeren Gegensatz zu den Worten. Aber es gibt keinen ‚stärkeren‘ Gegensatz. Es gibt nur Gegensatz. Gegensatz, wie ich ihn empfinde, hat kein Adjektiv.“ Der hier konstatierte „Gegensatz“ bezieht sich primär auf einen weiteren Text der fraglichen Ziegelbrenner-Ausgabe, der auf die Grafiken folgt und als dessen Autor Ret Marut selbst angenommen werden muss. Dieser plädiert kompromisslos für die Gesellschaftsform der Anarchie und die vollständige Herrschaftslosigkeit über die Individuen. Damit richtet er sich auch gegen einen wirtschaftlich organisierten Sozialismus oder Kommunismus, steht also im „Gegensatz“ zu Seiwerts Grafiken, in denen ja die Betriebsorganisation und die Rätedemokratie gefordert werden. Eine persönliche Nähe zwischen Seiwert und Marut bestand bereits früh. So gewährte Seiwert Marut nach seiner Flucht aus München 38 1919 Unterschlupf. Ein Druck des Holzschnitts Profit (Abb. 10) aus 37 Richter, Hans: DADA. Kunst und Antikunst, Köln: DuMont 1978 [Nachdruck der 3. verb.  Aufl. von 1973, Erstausgabe 1964], S. 62.

38 Vgl. Bohnen, Uli: „Über Franz Wilhelm Seiwert“, in: Franz Wilhelm Seiwert: Schriften, hg. v. Uli Bohnen und Dirk Backes, Berlin: Kramer 1978, S. 7–9, hier S. 7.

101 dem Jahr 1923 auf die Rückseite eines von Marut in München verfassten Flugblattes aus dem Jahr 1919 zeugt ebenfalls von dieser Bekanntschaft. Ein „Gegensatz“ war also wohl zumindest zwischenmenschlich nicht gegeben, sondern bezog sich allein auf die weltanschaulichen Unterschiede zwischen beiden. Darüber hinaus kann der Begriff des antagonistischen Gegensatzes hier auch medientheoretisch fruchtbar gemacht werden, bezieht man ihn auf einen möglichen Gegensatz zwischen Bild und Text in Seiwerts Grafiken. Zunächst scheint es, als seien Text- und Bildaussage darin redundant angelegt: So erzeugt beispielsweise die Kopplung des Begriffs „Menschenmaterial“ mit den abgebildeten, resigniert wirkenden Arbeitern inhaltliche Übereinstimmung. Als Gegensatz muss man also wohl vielmehr den ganz grundsätzlichen Konflikt verstehen, der sich daraus ergab, dass Seiwert einerseits daran gelegen war, das Proletariat und den damit verbundenen ökonomischen Organisationszusammenhang als etwas potentiell Positives darzustellen, aber, angesichts der herrschenden Zustände, letztlich nur die Missstände benennen konnte. Gegenwart und Zukunft konnten ihm letztlich nur als maximaler Antagonismus erscheinen. Hierin zeigt sich die grundsätzlich dialektische Bildanlage Seiwerts, die 39 auch Gaßner problematisiert hat. Diese Dialektik wurde offenbar von den Zeitgenossen Seiwerts als durchaus drastisch empfunden, und mündete, wie es Marut durch den irreduziblen Begriff „Gegensatz“ in binärer Opposition ausdrückt, in einer Art Schwarzweißlogik, die das Gute vom Schlechten nur in maximaler Abgrenzung beschreiben kann. Die Schwarzweißgrafik gibt diesen Gegensatz in formaler Analogie wieder, da bereits in ihrer medialen Konstitution 40 eine binäre Logik angelegt ist. Dies geschah indes nicht nur intuitiv, sondern wurde von Künstlern und Kritikern systematisch reflektiert und auch in Hinblick auf eine eindeutige Semantisierbarkeit der Form zugespitzt. 39 H. Gaßner: „Konstruktivistische Bildspra- che“, o. S. 40 Vgl. zur binären Struktur des piktografi- schen Zeichens auch Reiß, Berthold:



„Ada“, in: ders.: Antinomia. Gesammelte Schriften 1989–2019, hg. v. Monika Bayer- Wermuth und Daniela Stöppel, München: Kunstraum München 2020, S. 274–276.

102 Gerd Arntz’ Auseinandersetzung mit dem Holzschnitt setzte etwa um 1919/20 ein, und dies, wie er sich später erinnerte, unter dem unmittelbaren Eindruck von Werken Hans Arps und anderer Dada41 Künstler. Seiwert und Hoerle hatten als Gruppe „stupid“ ebenfalls zunächst im dadaistischen Umfeld agiert. Arntz, der etwas jünger als die übrigen Mitglieder der Kölner Progressiven war, hatte sich früh politisiert und bereits um 1919/20 regelmäßig Zeitschriften wie 42 Die Aktion und den Ziegelbrenner gelesen. Weil letzterer im Rheinland zunächst von Hans Schmitz, dann von Seiwert vertrieben wurde, ist davon auszugehen, dass ihm beide Künstler zumindest in43 direkt bekannt waren. Da Arntz seine „Piktogramme“ sowohl in freien Grafiken, als auch ab 1926 in der Bildstatistik einsetzte, und er diese Bereiche zutreffend in „qualitativ-kritisch“ und „quantitativ-kritisch“ unterschied, was letztlich den Umstand bezeichnet, dass der Bildstatistik statistische Daten zugrunde lagen und seinen freien Grafiken inhaltliche, ist es gerechtfertigt, diese hier gleichwertig zu behandeln. Bei Arntz ist ähnlich wie bei Richter eine kontinuierliche Arbeit an und mit der Schwarz-Weiß-Form festzustellen, die bei ihm mit einer intensiven Beschäftigung mit dem darstellenden beziehungsweise abstrakten Gehalt des Bildes verbunden ist. Insbesondere eine Serie von 34 Holzschnitten aus dem Jahr 1921 zeigt, wie gegensätzliche Inhalte von Oben/Unten, Mann/Frau, Tag/Nacht, Plus/Minus und Ähnliches in starken Schwarz-Weiß-Kontrasten zu einer Übereinstimmung von Form und Inhalt gebracht werden sol44 len (Abb. 14). Der Eintritt von Gerd Arntz in das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum wird im Allgemeinen als wichtige Voraussetzung dafür betrachtet, um die Bildstatistik als idealtypisches Zeichensystem betrachten zu können. Nicht nur sein grafischer Stil schien mit den Ideen Neurath kongenial zusammenzupassen, sondern auch die Einführung neuer Techniken wird ihm zugeschrieben. In41 Siehe G. Arntz: „Erinnern durch Abbilden“, S. 16. 42 Ebd., S. 15. 43 Siehe Bohnen, Uli: „Zum Verständnis der politischen Vorstellungen der rheinischen

‚Gruppe progressiver Künstler‘“, in: [Kat. Ausst.] Die Progressiven, o. S., Anm. 31. 44 Abbildungen in: [Kat. Ausst.] köln pro- gressiv, S. 57.

103 des ist es nicht ohne weiteres einzusehen, warum der Wechsel vom Scherenschnitt zum Linolschnitt am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum zwingend auch eine formale „Verbesserung“ be45 deuten soll. Zwar lässt sich der Linolschnitt schneller und möglicherweise exakter reproduzieren, muss aber, wie der Scherenschnitt, ebenfalls ausgeschnitten und aufgeklebt werden. Im Gegensatz zum Scherenschnitt sind Binnenstrukturen im Linolschnitt jedoch einfacher darstellbar und müssen auch nicht per Schneidwerkzeug entfernt werden. Hierin liegt ein tatsächlicher Vorteil, denn dies erlaubte in stärkerem Maße kombinatorische Zeichen, wie die Verbindung einer Mensch-Silhouette mit einem Binnen-Zeichen für ein bestimmtes Gewerbe. Zwischenzeitlich hatte man am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum auch mit gegossenen Zeichentypen gearbeitet (Abb. 15). Diese scheinen aufgrund der drucktechnisch geforderten Linearität ohne die Möglichkeit zur Flächenfüllung formal unbefriedigend und möglicherweise auch durch die notwendige Einbettung in einen Satzblock wenig praktikabel gewesen zu sein, weshalb diese Praxis wieder aufgegeben wurde. Dass also der Linolschnitt sowohl technisch die befriedigendste Lösung darstellte, also auch formal den Bedürfnissen am besten entsprach, lag weniger an seiner einfachen Reproduzierbarkeit, sondern vor allem an der Möglichkeit trotz Binnenstrukturen den binären Charakter möglichst zu erhalten. So legte Neurath nachweislich Wert auf einen möglichst starken Schwarz-Weiß-Kontrast, und achtete darauf, dass die 46 Einzelzeichen möglichst wenig Binnenweiß enthielten. Diese binäre Grundanlage der Bildstatik rückt sie nicht nur in die Nähe revolutionärer Schwarzweißgrafik, sondern auch zu frühen informationsverarbeitenden Systemen wie Lochkartenmaschinen oder anderen Digital-Analog-Wandlern. Dass Neurath über binäre Zahlensysteme Leibniz’ und deren Zusammenhang zu 45 Vgl. S. Nikolow: „‚We could not photo- graph social objects even if we tried.‘ Otto Neuraths Bildstatistik als Beob achtungs- und Darstellungsinstrument sozialer Fakten“, S. 24: „Die Verände- rung trug zur Verbesserung der grafisch-künstlerischen Qualität der Bilder bei und schuf die Grundlage

dafür, dass Zeichen und Tafeln als iden- tische Kopien wie am Fließband produ- ziert werden konnten.“ Fälschlicherweise ist dort auch von Holzschnitttechnik die Rede. 46 R. Kinross: „The graphic formation of Isotype 1925–40, S. 129.

104 Abb. 13: Hans Richter: Dada-Kopf, 1918

Abb. 14: Gerd Arntz: Das Männchen, 1921

Abb. 15: Bildstatistische Tafel mit Signaturen im Buchdruckverfahren,1925

105 chinesischen Schriftzeichen reflektierte, geht aus seiner visuellen Autobiografie hervor, in der auch die binär aufgebaute „palpable 47 arythmetic“ von John Leslie erwähnt wird. Es ist in diesem Zusammenhang mehr als nur eine Randnotiz wert, dass Neurath in den 1940er Jahren, als er in Großbritannien mit Paul Rotha animierte Filme auf Isotype-Basis konzipierte, ins Auge fasste, darin elektronische Sounds und Stimmen einzuset48 zen. So existiert für den 1943 entstandenen Film World of plenty ein Skript für eine ursprünglich vorgesehene elektronische Stimme, die einleitend Folgendes sprechen sollte: „‚Isotype‘, that’s me. ‚Iso49 type‘. I talk in symbols.“ Diese „Isotype voice“ sollte mit einer menschlichen Stimme, die für die dokumentarischen Teile vorge50 sehen war, kontrastiert werden. Hier wird nicht nur deutlich, wie sehr Neurath Isotype als genuin künstliches System verstand, sondern auch, dass über die von elektronischen Modulatoren erzeugten Sounds die Diskretheit der Isotype-Zeichen noch hätte gesteigert werden sollen. „Wirklichkeit“ und „Modell“ gehören also verschiedenen Sphären an, die ästhetisch nicht miteinander vermischt werden sollten. Ein derartiger Aspekt der Virtualisierung erscheint nicht nur bei Neurath bereits mit einer signalhaften Binärstruktur gekoppelt, sondern auch El Lissitzky spricht von einer „Elektroni51 schen Bibliothek“ , was dem Neurath’schen Zeichenverständnis möglicherweise sehr nahekommt. Bei beiden kündigt sich aber auch ein Systemdenken an, dass später als Kybernetik problema52 tisch werden sollte. In diesem Zusammenhang lässt sich an die Forschungen Sybille Krämers zur Schriftbildlichkeit anschließen, die Schrift als 47 Neurath, Otto: From hieroglyphics to Iso- type. A visual autobiography, hg. v. Matthew Eve and Christopher Burke, London 2010, S. 95–97. 48 Burke, Christopher: „Animated Isotype on film 1941–7“, in: ders./Kindel, E./Walker S.  (Hg.): Isotype, S. 366–389, hier S. 372. 49 Ebd., S. 384. 50 Neurath, Otto: From hieroglyphics to Iso- type, S. 121. 51 Siehe Lissitzky, El: „Topographie der Typo graphie“ [1923], in: El Lissitzky. Maler Architekt Typograf Fotograf. Erinnerun- gen Briefe Schriften, übergeben v. Sophie

Lissitzky-Küppers, Dresden: Verlag der Kunst 1967, S. 356. 52 Vgl. dazu Martin, Reinhold: The Organi- zational Complex. Architecture, media, and corporate space, Cambridge/Mass. u. a.: MIT Press 2003. Er legt dar, wie die Vorstellung von selbstregulierenden Systemen über das New Bauhaus, Moholy-Nagy und György Kepes in den USA Fuß fasste und letztlich als „corpo- rate design“ ein ideologisches Weltbild erzeugte, das in die spätmodernen Bauten und Stadtstrukturen der 1960er Jahre mündete.

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disjunktes und endlich differentes Zeichensystem definiert. Dies meint, dass Schrift, anders als gesprochene Sprache, mit voneinander abgesetzten, also diskreten Zeichen operiert, und dass diese einem prinzipiell endlichen Zeichensatz angehören. So ist sie der Auffassung, dass Schrift nicht darauf basiert, einen bestimmten Buchstaben an seiner Form unmittelbar zu erkennen, um ihn einer bestimmten Referenz zuordnen zu können, sondern, diesen von den übrigen Zeichen des Systems unterscheiden zu können – A also in Differenz zu B, C, D zu identifizieren. Sie bezeichnet dies als Differentialitäts-Ikonik, und kann damit pikturale von notationaler Ikonizität unterscheiden. Während die pikturale auf ein identifizierendes Referenzerkennen ausgelegt ist, beruht die notationale Ikonizität auf einem Erkennen innerhalb eines relationalen Gefüges. Übertragen auf die Bildstatistik hieße dies: Die Signatur des Arbeitslosen beispielsweise wird nicht allein aufgrund ihrer Abbildhaftigkeit heraus als Arbeitsloser identifizierbar, sondern erschließt sich auch aus dem Kontext des Zeichensystems, in dem das Zeichen verwendet wird. Die oft konstatierte Ambivalenz der Piktogramme zwischen „natürlichem“ und „konventionellem“ Zeichen, also ihre gleichzeitige Unmittelbarkeit wie Voraussetzungshaftigkeit, wäre damit benannt, sowie der Umstand, dass Piktogramme sowohl einer pikturalen als auch einer notationalen Ikonizität folgen und damit Schrift und Bild gleichermaßen zuzuordnen sind. An dieser spezifischen medialen Herausforderung von Bild54 kommunikation arbeitete man im Kreis der Progressiven gezielt. Auch Seiwerts Formulierung „Der Inhalt hat die Form zu sich um55 zugestalten“ ist in dieser Hinsicht zu verstehen. Dass die besonderen medialen Eigenschaften des Piktogramms den Kölner Progressiven durchaus bewusst waren, verdeutlichen Ausdrücke wie „die zur Type vereinfachte Welt“ oder „in der Form vereinfacht zum 53 Krämer, Sybille: ‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: dies./ Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, 2. Aufl., München 2009 [2003], S. 157–176. 54 Auch die handschriftlich verfassten Briefe Seiwerts zeigen dies. So setzte er gelegentlich rebusartige Bildzeichen anstelle von Worten ein. Ganz allgemein

wirkt sein „Schriftbild“ als bewusste Aus- einandersetzung mit dem Buchstaben und dem Abstand zwischen den Wörtern. (Abb. in F. W. Seiwert: Schriften, S. 91 und S. 93). 55 Seiwert, Franz Wilhelm: „Offener Brief an den Genossen A. Bogdanow!“, in: ders.: Schriften, S. 23.

107 Symbol“.56 Diese reflektieren bereits den Aspekt der Schriftbildlichkeit respektive: Bildschriftlichkeit, der den modernen Piktogrammen eignet. Denn „Type“ meint hier die Schrifttype, also ein diskretes, schriftbildliches Zeichen, und auch „Symbol“ kann hier im Sinne eines eindeutig denotierten Zeichens semiotisch verstanden 57 werden. Auch im Kreis der Züricher Dadaisten, die auf vielfache Weise mit den revolutionären Künstlern der Münchner Rätezeit verbunden waren, dachte man intensiv über das Verhältnis von Text- und Bildsprache nach: So sah Hugo Ball „die Maler“ „als Verkünder der übernatürlichen Zeichensprache“, die mit einer „Rückwirkung auf die Bildgebung der Dichter“ verbunden sei. „Die symbolische Ansicht der Dinge“, meinte er, sei „eine Folge der langen Verwendung in Bildern.“ Und stellte sich letztlich die Frage: „Ist die Zeichenspra58 che die eigentliche Paradies-Sprache?“ Auch hier wird eine gewisse zeichentheoretische Reflexionshöhe deutlich, die zum Nachdenken über das wechselseitige Verhältnis zwischen symbolischen Aufladungen in Bild und Wort sowie deren Verhältnis zur empirischen Welt anregt.

Fazit: Das Piktogramm als paradoxes Zeichen Die spezifische Bildschriftlichkeit des Piktogramms führt zu den oft konstatierten Paradoxien, die im Piktogramm wirksam sind: maximale Transparenz auf das Bezeichnete einerseits und maximale Ikonizität des Bildzeichens auf der anderen Seite. Dies bedeutete für 56 Seiwert, Franz Wilhelm: „Seiwert über Arntz“, in: [Kat. Ausst.] Arntz Holzschnitte, Neuer Buchladen, Köln: Neuer Buchladen 1925 [Faksimile-Abdruck in: [Kat. Ausst.] gerd arntz. kritische grafik und bildstatis tik, Gemeentemuseum Den Haag, Kölni- scher Kunstverein, Nijmegen/Köln: Haags Gemeentemuseum, Kölnischer Kunstver- ein 1976, S. 26–27]. 57 Explizit thematisiert dies Seiwert um 1923: „Kristallisiert, von allem Zufälligen befreit, stiegen in klarem Schwarz und

Weiß Proleten, Maschinen, Fabriken auf. Diese Dinge erscheinen so klar, dass sie ohne Scheu sich mit Wortbildern vereini gen können und damit Anknüpfungs- punkte an schon Bekanntes schaffen: in Zeitung und Plakat.“ (Seiwert, Franz Wilhelm: „Propaganda – Kunst“, in: ders.: Schriften, S. 80). 58 Zit. nach Richter, H.: DADA, S. 44, dort keine Quellenangabe, vermutlich aus den Tagebüchern Balls.

108 Künstler wie Arntz oder Seiwert, das opake „Bild“-Zeichen zum transparenten „Schrift“-Zeichen umzuformen; und zwar zu einer Zeichenschrift, die man sich den Grundsätzen der Neuen Typografie gemäß idealiter als vollständig neutrales Vermittlungsmedium vorstellte, dessen eigene Medialität selbst nicht in Erscheinung treten sollte. Die Ikonizität der piktogrammatischen Bildzeichen wurde also gezielt, und dies auch über die systematische Verwendung eines binären Schwarz/Weiß, zurückgedrängt, ohne diese jedoch vollkommen eliminieren zu können, da über das Ikonische (im Sinne von gegenständlich/figürlich) die Beziehung zum Signifikat überhaupt hergestellt werden konnte. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sich sowohl die Druckgrafik der Kölner Progressiven als auch die bildstatistischen Signaturen in vielfacher Weise an die Schwarzweißgrafik der Revolutionszeit anschließen lassen. Nicht nur ihr öffentlicher Charakter und der damit verbundene Kommunikationsanspruch verbinden die Schwarzweißgrafik mit dem späteren Piktogramm, sondern auch ihre spezifische diskrete Form sowie ihr modellhafter Aufbau. Diese Merkmale vermittelten sich über planwirtschaftliche Theorien, die dadaistischen Zeichenexperimente und, nicht zuletzt über die – den unterschiedlichen avantgardistischen Kunstgruppierungen gemeinsame – utopische Suche nach einer „Paradies-Sprache der Zeichen“. Dieser letztlich romantische Anspruch auf eine universale Kommunikation lässt die problematische „Modernität“ des Piktogramms erneut deutlich werden.

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Rolf F. Nohr

Piktogramme als Symbolsysteme Diskurs, Konventionalisierung, Kollektivsymbol Die Beschäftigung mit Piktogrammen stellt uns vor eine doppelte Herausforderung: Zum einen wissen wir nicht, als was wir Piktogramme begreifen sollen – ob als Bilder oder als Schrift. Zum anderen fordern uns Piktogramme durch schiere Quantität heraus: Ihre rasante Emergenz und Konjunktur in der Moderne ist im Reich des Symbolischen ohne Konkurrenz. Letztere Herausforderung nötigt unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen zu einer Theoretisierung und Positionierung zum Piktogramm – erstere erschwert diese Positionierung ungemein. Mein Beitrag kann nun weder die eine noch die andere Herausforderung wirklich annehmen, tritt jedoch an, zumindest aus medienwissenschaftlicher Perspektive einen Vorschlag zu skizzieren, wie Piktogramme möglicherweise grundsätzlich theoretisch wie analytisch veranschlagt werden könnten. Mein Vorschlag beruht dabei im Wesentlichen darauf, die Annahmen der Diskursanalyse und -philosophie dahingehend zu lesen, Piktogramme weniger im schriftsprachlichen Sinne als materielle distinkte Objekte oder Symbole zu begreifen, sondern vielmehr als Bestandteile eines umfassenden Diskurssystems. Ich möchte das Piktogramm als eine stark kontextualisierte Materialisierung von spezifischen Wissensformationen diskutieren. Vor allem im Rückgriff auf die Prozesse der Konventionalisierung und das Konzept des Kollektivsymbols soll ein Ansatz skizziert werden, der Piktogramme als eine symbolische Artikulation zu begreifen versucht, die typisch für Bedeutungsproduktion und Wissensstabilisierung moderner Medialität ist.

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Nützliche Bilder Grundsätzlich verstehe ich Piktogramme als archetypische Vertreter einer Kategorie visueller Kommunikation und symbolischer 1 Niederlegung, die ich als „nützliche Bilder“ bezeichne. Dieser Terminus soll den ambivalenten Doppelstatus einer spezifischen Bildkategorie der Moderne andeuten. Er spielt auf die Beobachtung an, dass Bilder (und andere Symbolsysteme) gleichzeitig „dienlich“ sind – also einen funktionalen Status übernehmen – und andererseits „benutzbar“ sind, also einen operationalen Status einnehmen. Nützliche Bilder sind Bilder, die „nutzen“ und „benützt“ werden können, die gleichzeitig einen „passiven“ wie einen „aktiven“ Status einnehmen. Damit nehmen sie in der quantitativ-expandierten Zirkulation des Visuell-Symbolischen, die aktuelle Mediengesellschaften auszeichnet, eine Sonderstellung ein. Das Projekt der nützlichen Bilder versteht sich dementsprechend als eine Position innerhalb der bildwissenschaftlichen Debatte. Die von mir vertretene Position ist es, das „Objekt“ Bild als eine Materialisierung intersubjektiven (diskursiven) Wissens zu verstehen – und gleichzeitig den Prozess dieser Intersubjektivierung als einen Aushandlungsprozess zu verstehen. In einer solchen Denkungsweise steht der Begriff des Orientierungswissens im Zentrum: Im Rahmen einer an Michel Foucault orientierte Diskursanalyse und in der spezifischen Perspektive der kritischen Diskursanalyse (im Sinne beispielsweise Siegfried Jä2 3 gers oder Jürgen Links ) ist Wissen immer ein Aushandlungspro4 zess. Wo nun aber die genannten Ansätze – nicht zuletzt motiviert durch ihre Herkunft aus der Literatur- und Sprachwissenschaft – 1 2 3 4

Nohr, Rolf F.: Nützliche Bilder. Bild, Dis- kurs, Evidenz, Münster: Lit 2014. Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 4., unveränd. Aufl., Münster: Unrast-Verl 2004. Link, Jürgen: Versuch über den Norma- lismus. Wie Normalität produziert wird, 2., aktualisierte und erw. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag 1999. Im Folgenden soll ein Diskurs als „eine historisch-spezifische und spezielle, ge- regelte Formation von Aussagen [...], die einem spezifischen und speziellen



Gegenstandsbereich zugeordnet sind“ verstanden werden (S. Jäger: Kritische Diskursanalyse, S. 23). Diskurse sind – so verstanden – als artikulatorische Praxen zu verstehen, die „soziale Verhältnisse nicht passiv repräsentieren, sondern diese als Fluss von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit aktiv konstituieren und organisieren“ (Link, Jürgen: „kulturRRevolution – ein notwendiges Konzept. Interview“, in: DISS-Journal (14) 2005, S. 17–18).

115 solche Aushandlungsprozesse bevorzugt an schriftsprachlichen Artikulationen nachverfolgen, interessiere ich mich verstärkt dafür, diese Modelle der kritischen Diskursanalyse vorrangig auf das Visuelle und Bildliche bezogen weiterzuentwickeln. Es geht mir kurz gesagt darum, den Begriff der kritischen Diskursanalyse auf ein bildkritisches Analysieren hin zu erweitern. Dass dabei Diagramme, Piktogramme und andere „Bild-Text-Hybriden“ eine interessante Zwischenposition darstellen, liegt auf der Hand. Bilder manifestieren einen immer größer werdenden Teil unseres Wissens über die Welt – eine Welt, die wiederum diese Bilder zumeist ohne die Mithilfe von autorenhaften Subjekten zu generieren scheint. Ihr wesentliches Charakteristikum erhalten Bilder durch ihre Medialität, also die Tatsache, dass sie sich in einem kontinuierlichen gesamtgesellschaftlichen Zirkulationsprozess befinden, der in immer neuen Dynamiken immer neue Verfestigungen und Koppelungen von Bild- und Wissensclustern vornimmt. Die Funktionalität von symbolischen Systemen in einem solchen Zirkulationsprozess wird nicht zuletzt durch eine spezifische Naturalisierung sichergestellt: Solchermaßen dynamisierten Zeichenprozesse werden oft immer noch als schlichte Übertragungs- und Transportprozesse gelesen. Entscheidend ist es hier aber, diese medialen Prozesse als „eigensinnig“ sinnstiftende Akteure und Praktiken zu begreifen, die Teile eines ideologischen Systems der Machtaushandlung, der Produktion von „Wahrheiten“ und „Sichtbarkeiten“ sind. Gleichzeitig gilt es aber auch anzuerkennen, dass nicht alle visuellen Artikulationen einer (Bild-)Medienkultur gleich zu veranschlagen sind. Vielmehr bewegen wir uns in einer hochgradig strukturierten Topographie von Bildern, die auf unterschiedlichste Weise unterschiedlichste Prozesse der Wissensstabilisierung, Strukturierung von Alltäglichkeit oder der Aushandlung von hochspezifischen Wissensprozessen dient. Das Ensemble der nützlichen Bilder umfasst daher eine stratifizierte Landkarte unterschiedlichster Artikulationen: populäre Bilder, wissenschaftliche Bilder, belehrende und didaktische Bilder, glaubwürdige und unglaubwürdige Bilder, evidente Beweis-Bilder und inflationär stereotypisierte Bilderfluten, die aufgeladen und entkräftet werden, Bilder, die etwas „sagen“, und Bilder, die etwas

116 „zeigen“. Vor allem die Bildcluster, die mit einem hohen Maß an Augenscheinlichkeit oder Überzeugungskraft auftreten, empfehlen sich hierbei naturgemäß einer vorrangigen analytischen Bearbeitung: Gerade diese evidenten Bilder, die oftmals durch die Suggestion einer hochgradigen Augenscheinlichkeit auffallen, sind aufgrund ihrer Glaubwürdigkeits- oder Wahrheitsbehauptung in5 teressante Fallbeispiele. Die Aushandlung solcher Evidenzen soll aber in Bezug auf die Piktogramme an dieser Stelle zurückgestellt werden. Vielmehr möchte ich im Folgenden über die Funktionalität von Piktogrammen nachdenken und über ihren Wissenscharakter spekulieren. Gerade das Charakteristikum der Funktionalität erlaubt die Ambivalenz piktogrammatischer Artikulationen gut herauszuarbeiten. Betrachten wir beispielsweise Abb. 1, so erscheint intuitiv klar, dass das dort gezeigte Piktogramm keineswegs darstellen soll, dass die von mir präferierten Frühstücks-Cerealien eine große Menge von DNA enthalten, womöglich genetisch manipuliert sind oder sich in irgendeiner anderen Weise durch spezifische Prozesse auf Nukleinsäure-Basis von ihren Mitbewerberprodukten unterscheiden. Vielmehr will das Piktogramm nichts anderes tun als (werbend) darauf hinweisen, dass die Frühstücksflocken in „irgendeiner“ Weise „irgendetwas“ enthalten (im Beispiel: Folsäure), das „irgendwie“ positiv konnotiert sei: Jenseits des Zuckers und der leeren Kalorien beharren diese Frühstücksflocken darauf, wissenschaftlich, progressiv, laborativ optimiert zu sein – kurz: „Doppelhelix-gesund“ zu sein. Die Doppelhelix gehört zu den hochgradig diskursiv aufgeladenen (Wissenschafts-)Symbolen des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie ist ein archetypisches Beispiel für das, was ich mit dem nützlichen Bild zu bezeichnen versuche: Bilder in medialer Zirkulation, die sich von einem (ursprünglichen oder unterstellten) spezifisch-repräsentationalen Wissenszusammenhang befreit haben und in ihrer medialen Zirkulation für die Sphäre des populären Wissens Orientie5

Nohr, Rolf F.: „Das Augenscheinliche des Augenscheinlichen“, in: ders. (Hg.): Evi- denz – „… das sieht man doch!“, Münster: Lit 2004, S. 8–19.

117 rungsangebote zur Verfügung stellen – die nicht zuletzt funktionalistisch sind. In den Frühstücksflocken hallt keineswegs die komplexe Geschichte der Entdeckung oder Modellierung der DNA durch James Watson und Francis Crick (oder besser: Rosalyn Franklin) wider6, sondern letztlich eine diffuse diskursive Artikulation von Wissenschaftlichkeit, eine szientistische Rationalität, die sich letztlich auch in Werbung und PR operationalisieren lässt. Der Beginn einer solchen Rationalitätsstiftung liegt in der spezifischen epistemologischen Figur der Modellierung genauso wie in der Wissenschaftskommunikation begründet, ist gleichermaßen „Übersetzung“ und „Reduktion“ – gerinnt aber nur selten in einem so ikonischen Bild wie Abb. 2.

Abb. 1: Inhaltsangabe einer Packung Kelloggs Smacks (Detail), um 2005

Abb. 1: James Watson und Francis Crick vor dem Modell der von ihnen entdeckten Doppelhelix-Struktur der Desoxyribonukleinsäure, 21. Mai 1953

6 Vgl. dazu bspw. R. Nohr: Nützliche Bilder, S. 16 ff.

118 Nützliche Bilder scheinen daher oft aus spezifischen, geschlossenen Welten des hochspezialisierten Wissens abzustammen und von diesen Laboren aus Teil eines breitenwirksamen, kommonsensualen Systems zu werden. Mit dem Begriff des Labors soll der Spezifik der nützlichen Bilder Rechnung getragen werden. Diese Spezifik besteht vor allem darin, dass die Bilder so wirken, als würden sie aus einem gesellschaftlichen Teilbereich abstammen, der durch eine – wie auch immer geartete – „höhere Rationalität“ o. Ä. gekennzeichnet ist.7

Spezialdiskurs und Techno-Bilder Etwas präziser lässt sich diese Stratifizierung von Wissensordnungen mit der Terminologie der kritischen Diskursanalyse beschreiben: Hier wird der Prozess der Entstehung eines nützlichen Bildes (oder Piktogramms) als ein Übergang vom Spezialdiskurs zum Elementardiskurs beschrieben. Eine solche Unterscheidung basiert auf der Beobachtung, dass moderne Gesellschaften durch funktionale 8 Ausdifferenzierung charakterisiert sind, dass sie also durch abgrenzbare Praxis- und Wissensbereiche gekennzeichnet sind, die ihre jeweilig eigenen Aussagestrukturen in Form spezifischer Wis9 sensartikulationen organisieren. Um dem Rechnung zu tragen unterscheidet die kritische Diskursanalyse zumeist zwischen den Elementardiskursen, die den common sense gesellschaftlichen Wissens markieren, und den Spezialdiskursen. Erstere sind basale und intersubjektiv zumeist unumstrittene Äußerungsstrukturen der Soziokultur.10 Die Spezialdiskurse demgegenüber artikulieren sich 7

Wohlgemerkt sei hier dezidiert gegen eine Idee abgegrenzt, dass solches Orien- tierungswissen exklusiv in den Systemen und Feldern des Wissenschaftsbetriebs generiert wird. Zum Laborbegriff im Allgemeinen vgl. Knorr-Cetina, Karin: Wis- senskulturen. Ein Vergleich naturwissen- schaftlicher Wissensformen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; spezifisch vgl. R. Nohr: „Das Augenscheinliche“.

8 9 10

J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 180 f. Link, Jürgen/Parr, Rolf: „Semiotik und Interdiskursanalyse“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen: WDV 1997, S. 108–133; hier v. a. S. 123. J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 51 f.

119 in abgegrenzten und spezialisierten gesellschaftlichen Teilbereichen. Sie tendieren zu einem Maximum an immanenter Konsistenz und zur Abschließung gegen externes Diskursmaterial – ein archetypisches Beispiel sind fachdisziplinäre Wissenschaftsdiskurse.11 Solche Diskurse zeichnen sich durch den Versuch einer eindeutigen 12 Denotierbarkeit (als Ausschaltung von Mehrdeutigkeit) aus. Diese beiden Diskurstypen sind durch „übersetzende“ Strukturen verbunden (Interdiskurse). Diese sind nicht abgeschlossen, sondern zirkulieren variabel und flexibel durch alle Diskurse hindurch: Es ist eine Tendenz des Interdiskurses „Denotationen auf reiche Konnotationen (und damit „Literarizität) hin zu erweitern“.13 Die Interdiskurse stellen insofern den für die hier geführte Diskussion interessantesten Ort dar. Denn in den Interdiskursen wird eine Art der Übersetzung von Wissen in Orientierungswissen (im Sinne des Elementardiskurses) vorgenommen. So intuitiv sich dies gemeinhin organisieren mag – so operational und funktional findet dies statt, wenn beispielsweise aus abstraktem (textuellem), spezialdiskursivem Wissen eine Interdiskursivierung hergestellt wird – ein Piktogramm, ein Schaubild, eine Infografik. Dass solche Übersetzungsverfahren nicht nur Vereinfachungen sind, sondern epistemisch wirksam sind, lässt sich mit nochmaligem Verweis auf die Doppelhelix-Struktur der DNA (s. Abb. 2) verdeutlichen. In dieser Geschichte der „Manifest-Werdung“ von Wissen in Theorien, Paradigmen, Modellen und Bildern interagieren eine Vielzahl von Akteuren, Visualisierungen, Modellbildungen und Theo14 rien – und kulminieren im Modell bzw. Bild der doppelt gewundenen Molekülstränge. Diese Übersetzung findet aber eben nicht an der Schnittstelle zwischen Labor und Öffentlichkeit statt, sondern in komplexen Akten der Wissensaushandlung. Die spezifische Lesbarkeit der Interdiskurse entsteht durch eine doppelte Codierung: Das Ausgedrückte ist in jedem der beiden Diskurstypen lesbar – als 11

Link, Jürgen: „Aspekte der Normalisie- rung von Subjekten. Kollektivsym- bolik, Kurvenlandschaften, Infografik“, in: Ute Gerhard/ders./E. Schulte-Holtey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisie- rung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg, Synchron 2001, S. 77–92.

12 J. Link/R. Parr: „Semiotik und Interdis- kursanalyse“, S. 124. 13 Ebd. 14 Kay, Lilly E.: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frank- furt/M.: Suhrkamp 2005.

120 laboratives Molekülmodell genauso wie als Element einer Zutatenliste von Frühstücksflocken. Und in allen Wissensbereichen liefern die diskursiven Konstellationen Ankoppelungspunkte für Subjekte, die sich an sie adaptieren: „Die wichtigste Funktion solcher kultureller Interdiskurse ist die Produktion und Bereitstellung von diskursverbindenden Elementen und mit deren Applikation die Produktion und Reproduktion kollektiver und individueller Subjektivität, die in hochgradig arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaften leben können, ohne ständig in verschiedenste Spezialisierungen und Professionalisierungen auseinander gerissen zu werden.“15 Keineswegs sollte aber an dieser Stelle der Eindruck entstehen, dass der so beschriebene Übergang vom Spezial- zum Interdiskurs exklusiv für die Popularisierung hochspezialisierter Fachdisziplinen oder anderer Formen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gilt. Es geht mir an dieser Stelle keineswegs darum, die Genese von Piktogrammen als Produkt wissenschaftlicher Visualisierungsverfahren zu erklären. Ganz im Gegenteil möchte ich den Ansatz der Interdiskursivierung hier verlassen und ein grundsätzlicheres Modell zur Entstehung von nützlichen Bildern vorschlagen – und dabei explizit über den Korpus von sogenannten Wissenschaftsbilder hinausgehen. Was ich mit nützlichen Bildern bezeichne ist unspezifisch. Eine Abgrenzung zu anderen Bildkorpora lässt sich ad hoc noch am ehesten durch den ihnen innewohnenden „Abdruck des Realen“ konstituieren. Nützliche Bilder (und folglich: Piktogramme) tragen in sich eine spezifische semantische und/oder repräsentationale Markierung, die sie auf ihren Entstehungszusammenhang (Labore) zurückbezieht und sie in diesem Sinne mit einer spezifischen Lesbarkeit imprägniert. Ihre Operationalität entsteht aber nicht nur 15

Parr, Rolf/Thiele, Matthias: „Eine ‚vielge- stalte Menge von Praktiken und Diskur- sen‘. Zur Interdiskursivität und Televisua- lität von Paratexten des Fernsehens“,



in: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin: Akademie 2004, S. 261–282, hier S. 265.

121 aus diesem Abdruck, sondern aus einer spezifischen Materialität, die sich womöglich am ehesten noch über die technische Geste ihrer Gemachtheit, ihrer ausgestellten Produziertheit und Künstlichkeit beschreiben lässt. Den nützlichen Bildern wohnt eine spezifische 16 „Technizität“ inne, die vor allem über ihren Herstellungsprozess Auskunft zu geben scheint. Ein gutes Beispiel für eine solche operationale Technizität, die gleichzeitig ihre Künstlichkeit ausstellt und dennoch einen merkwürdigen Abdruck des Realen markiert, ist eine Röntgenaufnahme. Einerseits scheint diese meistenteils intuitiv lesbar und kann ohne größere Probleme in einen repräsentationalen Lektürezusammenhang eingebunden werden. Zum anderen ist eine Röntgenaufnahme das Produkt eines hochspezialisierten technischen Visualisierungsverfahrens, das in der Herstellung (und nicht zuletzt auch in der Lektüre) spezialisierte Kompetenzen aufruft. Eine Röntgenaufnahme als nützliches Bild oszilliert zwischen der Unmittelbarkeit des fotografischen (als Schlagwort: pencil of nature) und der Arbitrarität apparatemedizinischer Visualisierungsverfahren. Vilém Flusser hat in seiner zeichentheoretischen Arbeit auf die Ambivalenz solcher Visualisierungen hingewiesen und den Korpus solcher Bilder „Technobilder“ genannt. Gerade die Ambivalenz, wie sie beispielsweise an einer Röntgenaufnahme sichtbar wird, markiert für Flusser den novitären Status dieser Technobilder zwischen Operationalität und Ästhetik: „Beispielsweise ist eine Röntgenaufnahme eines gebrochenen Arms (eine ‚Landkarte‘ also) zugleich auch ein Modell für einen Arzt, wie der Arm zu behandeln ist (also ‚prospektiv‘) und sie ist ‚schön‘, insoweit sie wahr und gut ist“.17 Für Flusser sind diese technischen Bilder keine Symptome oder Indexe einer Wirklichkeit, sondern nur deswegen les- und ver18 handelbar, weil sie durch einen „einheitlichen Willen zur Form“ 16

Technizität möchte ich an dieser Stelle im weitest möglichen Sinne definieren, also im Sinne des Terminus techné, einer plan- vollen, durch eine Epistemik gerichteten, handelnden Erreichung eines Zieles.

17 18

Flusser, Vilém: Kommunikologie (Schriften, Bd. 4), hg. v. Stefan Bollmann, Mannheim: Bollmann 1996, S. 139. Ebd., 171.

122 19

geprägt und Teil einer grundsätzlich „kodifizierten Welt“ sind. Sie sind keine unvermittelten Abbilder einer äußeren Natur, sondern stets durch „Apparateprogramme“ vermittelt – auch wenn man es ihnen im fertigen Bild nicht mehr ansieht. Sie sind nicht näher an der Natur als traditionelle Bilder, sondern noch weiter von ihr entfernt: „Technobilder sind Flächen, die mit Symbolen bedeckt sind, welche Symbole linearer Texte bedeuten“.20 Eine Entschlüsselung der Technobilder gelinge nur, wenn man die hinter ihnen stehenden „Texte“ zu entschlüsseln vermöge; ihr Verständnis, so Flusser, sei nur auf einer technischen, kalkulatorischen Ebene möglich. Wer die technischen Bilder dagegen wie traditionelle Bilder zu lesen und zu verstehen versuche, bleibe ihnen gegenüber letztlich blind.21 Diese „Blindheit“ lässt sich am Beispiel (Abb. 3) womöglich schlaglichtartig verdeutlichen: Lese ich diese Röntgenaufnahme als traditionelles Abbildverfahren, so „sehe“ ich (je nach politisch-ästhetischem Background) entweder ein chauvinistisch-abstoßendes oder subtil-erotisches pin-up-Bild. „Lese“ ich es hingegen als Technobild, so rekurriert meine Lektüre sehr viel stärker auf eine Praxis der apparativen Produktion von Zeichen, die eher operativen oder aufzeichnenden Charakter haben – und in der Lektüre eine Art der ironischen Doppeldeutigkeit entfalten sollen.22 Es lässt sich an dieser Stelle eine Brücke zurück zur Diskurstheorie schlagen: Die Flusserschen Technobilder können leicht als Elemente des Spezialdiskurses identifiziert werden, die in einem Übersetzungs- oder Interdiskursivierungsverfahren zirkulieren und nunmehr anders gelesen werden bzw. eine neue Sinndimension erhalten (von der Denotierbarkeit zur Konnotierbarkeit). Begreifen wir eine solche Argumentation etwas epistemologischer, so wird spätestens an dieser Stelle auch deutlich, wohin meine Argumentation zur Entstehung und Funktionalität der Piktogramme abzielt: Ich möchte sie keineswegs unter dem Diktum des Visuellen begreifen, sondern eher aus der Perspektive des Symbolischen. Diese Set19 Ebd., 173. 20 Ebd., 139. 21 Ebd. 22 Dass am Bildbeispiel in beiden Lesewei- sen ein „schmierig-schaler“ Nachge-



schmack bleibt, mag eher der erstellen- den Werbeagentur und ihrem Kunden Eizo geschuldet sein und weniger dem Flusserschen Konzept.

123 zung hat zwei Konsequenzen: Zum einen wendet sich mein Argumentieren gegen die immer wieder formulierte Idee, dass die Urszene des Piktogramms (beispielsweise bei Otto Neurath oder Fritz Kahn) im Bild oder im Auge, kurz: im Primat des Visuellen wurzele.23 Zum anderen ist mit der Betonung des Zeichenhaften einer der wesentlichen „Tricks“ des Piktogramms benannt: Das Piktogramm appropriiert die Idee des Visuellen, um sich naturhaft zu generieren – oder präziser gesagt: Die intuitive Lesbarkeitssuggestion des Piktogramms (und des nützlichen Bildes insgesamt) entsteht aus seiner Naturalisierung, der gelingenden Verstellung seines arbiträren Status. Deswegen scheinen mir Argumente wie die Flussers oder der kritischen Diskursanalyse so relevant – betonen sie doch die Gemachtheit und Produziertheit des piktogrammatischen „Bildes“. An dieser Stelle wird erkennbar, wie nützliche Bilder und im speziellen Sinne Piktogramme einerseits in ihrer Genese beschrieben werden können (mittels der prozessualen Beschreibung, wie sie beispielsweise die kritischen Diskursanalyse zur Verfügung stellt) und wie sie als symbolische Repräsentationen erfasst werden können (im Sinne beispielsweise der Flusserschen Technobilder). Beide Perspektiven weisen nun aber noch auf einen spezifischen und für das Verständnis der Piktogramme essenziellen Prozess hin: den der Iteration, der Wiederholung, der Einübung und Einschleifung der spezifischen Text- und Bildhaftigkeit der Piktogramme sowohl in ihrer Genese als auch in ihrer zeichenhaften Dimension. Im nächsten Argumentationsschritt möchte ich darauf abheben, wie Piktogramme als nützliche Bilder aus einem spezifischen dynamischen Prozess einer mehrfach gestaffelten Wiederholungsstruktur zu ihrer spezifischen hybriden Textbildstruktur gelangen und sich naturalisieren. Wenn wir die Abbildungen 4 bis 7 betrachten, können wir – sehr verkürzt – eine spezifische „ikonographische Reihe“ rekonstruieren, die gleichzeitig auch als eine Herstellung eines Pikto23 Vgl. bspw. Stiegler, Bernd: „Das Zeitalter des Auges. Fritz Kahn und Otto Neurath“, in: Helena Doudova/Stephanie Jacobs/ Patrick Rössler (Hg.): Bildfabriken.



Infografik 1920–1945: Fritz Kahn, Otto Neurath et al., Leipzig: Spector 2017, S. 43–48.

124 Abb. 3: Röntgen Pin-Up Kalender des Monitor-Herstellers EIZO: Miss Oktober, 2010

Abb. 4: Die vermutlich erste Skizze eines Evolutionsbaums von Charles Darwin in seinen Notizbüchern zur Transmutation der Spezies, um 1837

Abb. 5: Ernst Haeckel: Stammbaum der menschlichen Entwicklung, 1874

125 gramms, eines Technobildes oder einer Interdiskursivierung beschrieben werden kann. Am Beginn dieser Serie steht eine Skizze Charles Darwins in einem seiner Notizbücher, mit der er sich einer bestimmten Ordnung der von ihm skizzierten Evolutionstheorie zu versichern sucht. Er skizziert eine Art von Baumstruktur, die eine spezifische Dynamik der Entwicklung und Höherentwicklung zu versinnbildlichen sucht: Nur vage erkennbar ist hier eine Baumstruktur zu erkennen. Nur wenige Jahrzehnte später datiert: Ein zwischenzeitlich kräftiger, klar auskonturierter und in seiner Entwicklungsdynamik eindeutig gerichteter Baum der Evolution (Abb. 5). Dieser manifestiert nicht nur die Materialisierung der Episteme der Darwinschen Theorie, sondern auch seine Weiterschreibung: Der Sozialdarwinist Ernst Haeckel setzt hier den Mensch als die Krone der Schöpfung ein, wie überhaupt der Prozess der Evolution in der Versinnbildlichung des Haeckelschen Baums ein dynamischer, linearer, zielgerichteter, geradezu ästhetischer Prozess zu sein scheint. Jahre später datiert (Abb. 6), eine eher typische, zeitgenössische Abbildung aus dem Museumsumfeld. Diese versucht nun die ideologischen Setzungen des Haeckelschen Evolutionsbaums zu umgehen – nimmt aber ebenso eine (wenngleich homogenisierende) Einordnung vor: An der Stelle, an der bei Haeckel der Mensch die Krone der Schöpfung war, ist Jahrzehnte später der Mensch (in Form einer Frau) Teil eines linearen Entwicklungsprozesses. Irgendwie auf Augenhöhe, irgendwie aber auch der (vorläufige) Endpunkt der Entwicklung. Die letzte Abbildung wiederum zeigt ein Piktogramm, das wesentlich auf Genetik und Abstammungslehre rekurriert, gleichzeitig aber auch den seitlich gekippten Baum aufnimmt und reduziert, somit also Onto- und Phylogenese hybridisiert und in einer typischen Piktogramm-Sprache zum genuinen Technobild wird. An dem somit knapp skizzierten Beispielbildersatz lässt sich nun eine Reihe von Beobachtungen festmachen. Zum einen können wir nachvollziehen, wie aus dem Spezialdiskurs der darwinschen Evolutionstheorie hier jeweils durch spezifische, elementardiskursiv prädisponierte Dynamiken Interdiskurs-Elemente exkludiert werden und, je nach spezifischer diskurspolitischer Position, in eine Visualisierung überführt werden. Zum anderen sehen wir, wie

126 sich hier latent eine spezifische Bild- oder besser: Sprachhaftigkeit verfestigt, die irgendwie zwischen Metapher, Schlagbild oder Stereotyp operiert und mit dem „Baum“ ein Symbol findet, das für „Evolution“ steht. Wir können nachvollziehen, wie (vor allem im letzten Beispiel) aus der tastenden Skizze Darwins ein Technobild entsteht. Vor allem aber ist zu erkennen, dass innerhalb weniger ausgesuchter Bild-Beispiele – über den zeitlich entfalteten Prozess der Zirkulation und Iteration – sich eine spezifische Ausdrucksebene zwischen Schrift und Bild manifestiert, variiert und weiterschreibt. Diese Ausdrucksebene kann nicht als ein Prozess der Reduktion und Abstraktion gelesen werden, sondern ist eher eine Aushandlung und eine Verdichtung von Signifikanz. Wir sehen am Beispiel, wie sich das Piktogramm des Baumes als eine zeichenhafte Niederlegung des Evolutionären über ein gestaffeltes Verfahren der Konventionalisierung stabilisiert.

Konventionalisierung Das Spannungsverhältnis von Reduktion, Normierung, Funktionalisierung und Konventionalisierung ist meines Erachtens entscheidend für das Verständnis des Piktogramms.24 Die Wiederholung, Konventionalisierung und Zirkulation ist aber gleichzeitig ein relevantes Strukturprinzip des Symbolischen wie auch des Medialen.25 Vor allem die Stereotypenforschung ist hier von Interesse:26 Hier 24 Ich möchte mich im Folgenden auf die Wiederholungsstruktur konzentrieren und die Reduktion ausklammern – wenn gleich sie eigentlich fast das stärkere Strukturprinzip in der Ausdifferenzierung des Piktogramms auszumachen scheint. Das Piktogramm zeichnet sich wesentlich durch seinen Modellcharakter aus: Es ist gekennzeichnet von der Weg- und Aus- lassung als nicht-relevant und/oder nicht funktional notwendig empfundener Attri bute. Die Reduktion ist zur Herstellung des Piktogrammatischen keine defizitäre Operation, sondern die Bedingung, die beispielsweise die „soziale Aufklärung“ erst ermöglicht: „[W]er am besten weg zulassen weiß, ist der beste Lehrer“

25 26

(Neurath, Otto: Gesammelte Werke, Band 3: bildpädagogische Schriften, hg. von Rudolf Haller und Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1991, S. 153–171, hier: S. 155, S. 163). Eines der diskursbegründenden Bücher der Kommunikationswissenschaft wie der PR ist die Stereotypentheorie Walter Lippmanns Public Opinion von 1922 (deutsch: ders.: Die öffentliche Meinung, München: Rütten & Loening 1964). Vgl. zusammenfassend: Schweinitz, Jörg: Film und Stereotyp. Eine Herausfor- derung für das Kino und die Filmtheorie; zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin: Akademie 2006.

127 Abb. 6: Stammbaum der Primaten (vom Lemuren zum Menschen) inklusive eines anhand in China gefundener Fossilien neu integrierten Proto-Affen (Grafik: Mark A. Klingler, Carnegie Museum of Natural History)

werden Stereotype als „aktiv formierte subjektive Konstrukte“ verstanden, die als kognitive Muster gelten können – vor allem aber als 27 „pragmatische Reduktionen aus einer Auswahl realer Invarianten“ zu betrachten sind. Die Integrationsfunktion des Stereotyps entsteht dabei aus seiner intersubjektiven Wirksamkeit. Für das hier vertretene Argument ist aber weniger die intersubjektive Integrationsfunktion des Stereotyps von Belang, sondern vielmehr seine funktionale Operationalität, die sich vor allem im Konzept der Schematisierung verdeutlicht. Stereotype entstehen aus einem Konventionalisierungsprozess heraus, der (auch) wahrnehmungstheoretisch gefasst werden kann. Verknappend zusammengefasst ist das Schema hier ein integraler und übergeordneter Teil der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung: Das Schema nimmt als Struktur Informationen auf, wenn diese den Sinnesorganen verfügbar sind, es organisiert die Aktivitäten zur Einbringung ergänzender Informationen in die unmittelbare Perzeptionsverarbeitung (und verändert diese damit) – und das Schema selbst wird durch die Erfahrung der Wahrnehmung verändert. Das Schema fungiert als ein Gegenüber der Wahrnehmung: Jede aktuelle Wahrnehmung trifft auf das präexistente Schema, welches über die Verarbeitung entscheidet, das Wahrgenommene also ordnet, und 27 Ebd., S. 7.

128 welches aus vorangegangener Wahrnehmung gebildet wurde.28 Es entsteht der sogenannte „Wahrnehmungs-Zyklus“ im Sinne eines Rückkoppelungs-Systems mit übergeordneter Steuerungsinstanz.29 Dieses wahrnehmungstheoretische Modell der Schemabildung bzw. der Verarbeitung perzeptueller Reize durch ihren strukturellen Vergleich mit bereits Wahrgenommenem und der Bearbeitung durch übergeordnete Schemata kann als Analogie zu Dynamiken der Herstellung medialer Bedeutungsproduktion verstanden wer30 den. Hier hat vor allem Hartmut Winkler in seinem Buch Diskurs31 ökonomie überzeugend argumentiert, dass das Prinzip der Schemabildung sinnvoll übertragen werden kann. Für Winkler (wie viele 32 andere Medientheoretiker ) ist gerade die Wiederholung das Strukturprinzip, das subjektive Sinnstiftungen der wiederkehrenden Oszillation symbolischer Systeme in den massenmedialen Prozessen 33 sichert: „Wahrnehmen ist insofern immer Wiedererkennen“. Gerade die forcierte Wiederholung (die heavy rotation) ruft, Winkler weiter folgend, mehrere Strukturprinzipien auf den Plan: zunächst die Temporalität (Wiederholung findet als zeitlicher Prozess statt und klärt damit die zeitliche Ausdehnung der Iteration bis hin zur Geschichtlichkeit). Dazu tritt dann die Verfestigung (die Wie28 Winkler, Hartmut: „Schemabildung – eine Maschine zur Umarbeitung von Inhalt in Form“, in: Tobias Conradi/Gisela Ecker/ Norbert Eke/Florian Muhle (Hg.): Sche mata und Praktiken, Paderborn: Wilhelm Fink 2012, S. 15–35. 29 Neisser, Ulrich: Kognition und Wirklich- keit. Prinzipien und Implikationen der kognitiven Psychologie, Stuttgart: Klett Cotta 1979, S. 43. 30 Nicht zuletzt findet sich dieser Übertrag schon in Kants Kritik der reinen Vernunft: „Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit al lein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hintereinander setze ….. , ist dies ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem ge wissen Begriffe gemäß der Menge (z. E.

tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bilde selbst, welches ich im letz teren Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allge- meinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe. In der Tat liegen unseren reinen sinn- lichen Begriffen nicht Bilder der Gegen stände, sondern Schemate zum Grunde“ (Kant, Immanuel: „Kritik der reinen Ver- nunft“, in ders.: Akademieausgabe Band III, Berlin: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften 1904/1911, S. 135). 31 Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. 32 Vgl. Parr, Rolf: „Wiederholen. Ein Struk- turelement von Film, Fernsehen und neuen Medien im Fokus der Medien theorie“, in: kulturrevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie (47) 2004, S. 33–39. 33 H. Winkler: „Schemabildung“, S. 19.

129 derholung als Schemabildung führt zu Einschleifungen, Verhärtungen, Materialisierungen, Routinen, Regelhaftem) und die Naturalisierung (je länger etwas wiederholt wird und je tiefer sich die Routinen eingraben, desto intuitiver, unbewusster, selbstverständlicher, naturhafter erscheint es uns).34 Konventionalisierung, Iterationen und Stereotypen bilden Teile eines Prozesses, innerhalb dessen das Symbolisch-Sprachliche des Bildes hergestellt und manifestiert wird. Diese Prozessteile sind wesentlich zur Erklärung, wie die angenommene Sprachlichkeit der Bilder zu einer intersubjektiven Bildsprache überformt werden kann, um die intuitive und kommunikable Verständlichkeit solcher Bildformen auf der Basis eines allgemeinen Wissens – also einer Art „visuellen Schema-Lexikons“ – zu klären. Und somit auch und vor allem, um zu klären, wie die Piktogramme zu ihrer ambivalenten Lesbarkeit gelangen.

Kollektivsymbol Diese Lesbarkeit durch Konventionalisierung und Schemabildung in speziellem Zuschnitt auf das Piktogramm lässt sich nun abschließend noch einmal deutlicher erklären, in dem wir noch einmal auf Diskurstheorie zurückgreifen. Was anfänglich unter dem Begriff des Orientierungswissens verhandelt wurde, lässt sich, wie schon im Zusammenhang mit dem Konzept des Spezialdiskurses dargelegt, auch als (Elementar-)Diskurs begreifen. Der Diskurs benutzt die symbolischen Systeme, um eine Form der kontinuierlichen und dynamisch-variablen Verhandlung von Bedeutung in Gang zu halten und zu materialisieren. So organisiert der Diskurs, was innerhalb einer Gesellschaft „wissbar“ ist. Dieses Wissbare ist auf eine Form der Aufschreibbarkeit angewiesen (also seine Materialisierung und in Konsequenz auch: seine daraus resultierende 35 Persistenz und Archivierbarkeit ), wenn es Persistenz oder Geschichte erzeugen will. Wissen muss aufschreibbar, in Symbole und Ordnungen überführbar sein, in intersubjektiv reproduzierbare 34 Ebd., S. 24 ff.

35 H. Winkler: Diskursökonomie, S. 117 f.

130 Abb. 7: Becris/Noun Project: Pedigree

Abb. 8: Schuhfabrik, Abb. aus Otto Neurath: International Picture Language, 1936

symbolische Formen übersetzt werden, um (jenseits des Subjekts selbst) effektiv zu sein. Der Diskurs steht dem Symbolischen also gegenüber: Er speist sich aus ihm (Denkweisen drücken sich in Zeichen und Symbolen aus) – gleichzeitig ist aber der Diskurs auch die (damit dialektische) Ordnungsfunktion der Zeichen und Symbole, er bestimmt, was die Symbole bedeuten. Deutlicher wird diese Ambivalenz noch im Konzept des Kollektivsymbols. Kollektivsymbole sind sogenannte Sinnbilder, die durch ihre tiefe Verankerung im Diskurswissen in der Lage sind, „komplizierte Diskussionszusammenhänge auf einfache, von jedermann ver36 stehbare Formeln zu bringen“. Entscheidend für die Etablierung einer wirksamen visuellen Metaphorik sind ihre Manifestation aus intersubjektiven Wissensbeständen und ihr Ankoppeln an ein bereits vorhandenes gesellschaftliches Wissen. Kollektivsymbole sind 37 somit „semantische Totalisierungsverfahren“, die auch dazu nützlich sind, bestimmte unterschiedliche Diskurstypen aufeinander zu beziehen und zu übersetzen – ähnlich wie dies bei den Spezialdiskursen zu beobachten ist. Die Kollektivsymbolanalyse betreibt 36 Parr, Rolf: „‚Gürtel enger schnallen‘. Ein Kollektivsymbol der neuen deutschen Normalität“, in: kultuRRevolution. zeit schrift für angewandte diskurstheorie, (37) 1998, S. 65–73, hier: S. 67. 37 Link, Jürgen: „Warum Foucault aufhörte



Symbole zu analysieren: Mutmaßungen über ‚Ideologie‘ und ‚Interdiskurs‘“, in: Gesa Dane/Wolfgang Eßbach (u. a.): An- schlüsse. Versuche nach Foucault, Tübin- gen: Diskord 1985, S. 105–114, hier S. 108.

131 folglich die Analyse der verschränkten diskursiven Zeichenkomplexe. Bedeutung entsteht hier auf symbolischer und intersubjektiver Ebene durch ein breites Spektrum von Integrations- und Kombinationsspielen, innerhalb derer große Allegorien, Embleme, Mythen, Stereotypen, Symbolbedeutungen, paradigmatische und syntagmatische Assoziationen untersucht werden. Die zeichenhafte Dimension der Kollektivsymbole ist im weitesten Sinne darstellbar als ein Auseinanderfallen des visuellen Kommunikats in eine Bildebene (pictura) sowie eine Ebene des eigentlich Gemeinten, eben des Sinns (subscriptio).38 „Kollektivsymbole [...] sind also in der Lage, höchst komplizierte Diskussionszusammenhänge auf einfache, von jedermann verstehbare Formeln zu bringen, indem unter den Signifikanten ihrer Bildelemente ganz verschiedene Signifikate integrierend ‚hindurchgleiten‘, was sie für den Journalismus [...] so interessant macht und Leser bzw. Zuschauer regelhaft auf sie zurückgreifen lässt.“39 Wo nun die klassische kritische Diskursanalyse eher nach rhetorischen Sprachbildern („der Konjunkturmotor stottert“) oder karikaturesken Stereotypen („der Michel muss den Gürtel enger schnallen“) fahndet, lässt sich in den eher visuellen Diskursartikulationen (auch) das Piktogramm als kollektiviertes symbolischen Wissen lesen.

Fazit Zu behaupten, dass mit einem solchen Konvolut an theoretischen Ansätzen das Piktogramm beschreibbar und theoretisch analysierbar geworden wäre, würde zu weit greifen. Natürlich wurde in der vorangegangenen Argumentation der Gegenstand Piktogramm viel zu homogen gefasst und seine historische Genese und Variation 38 J. Link/R. Parr: „Semiotik und Interdiskurs- analyse“, S. 109 ff.

39 R. Parr: „Gürtel enger schnallen“, S. 67.

132 nicht ausreichend gewürdigt. Zudem stehen die unterschiedlichen Theoriegebäude in der vorliegenden Skizze noch nicht-integriert nebeneinander. Dennoch meine ich andeuten zu können, wie Piktogramme ihre Funktionsdimension organisieren. Das Neurathsche Isotype einer Schuhfabrik (Abb. 8) stellt eine dezidierte Koppelung von Wis40 sen an Bild dar, wie ich versucht habe sie zu beschreiben. Das hier zu sehende Piktogramm-Ensemble operiert als abstrakte Referenzstiftung und generiert dabei ein klassisches Technobild. Die Funktionalität und Operationalität des entstehenden (Bild-)Zeichens verbleibt aber – entgegen seiner bildhaften Dimension – im Sprachhaften, es bedient sich einer spezifischen Grammatik und etabliert (gerade in der so sehr auf formale Logik zurückgeworfenen Konzeption Neuraths) ein Konvolut an Vokabeln. Die Isotype-Piktogramme funktionieren sprachhaft, bleiben letztlich arbiträr und spielen doch gleichzeitig mit einer gewissen (bildhaften) Naturalisierung, einer Transparenz ihrer Gemachtheit. Die Differenz von pictura und subsciptio, und die daraus entstehende Funktionalisierbarkeit ermöglichen die diskursive Anbindung und die Kollektivierbarkeit. Diese Kollektivierbarkeit und die expandierbare symbolische Dimension des Piktogramms basieren auf seiner permanenten intersubjektiven Zirkulation, seiner „Einübung“ in konventionalisierende Verfahren. Keineswegs sind Piktogramme sinnhaft evident – sie sind, ganz im Gegenteil, nur bedingt intuitiv lesbar. Sie bedienen sich immer eines diskursiven Wissens, in welches sie eingebettet sind, und welches während ihrer Lektüre aktiviert werden muss. Auch dieses diskursive Wissen wiederum muss in Iterationsverfahren wiederholt aufgerufen werden, um die jeweilige Einbindung (und gegebenenfalls Variation) sicherzustellen und einzuüben. Dabei ist es egal, ob wir auf die relativ interdiskursiv organisierte Sprachhaftigkeit der Neurathschen Isotype verweisen oder auf den 40 So Otto Neurath: „Der erste Schritt bei Isotype ist die Entwicklung leicht ver ständlicher Symbole, die man leicht im Gedächtnis behalten kann. Der nächste Schritt besteht darin, diese symboli- schen Elemente zu verbinden. Beispiels- weise haben wir ein Symbol für Schuh



und ein anderes für Fabrik. Durch Verbindung dieser beiden Symbole zur Bildung eines neuen können wir von einer Schuhfabrik sprechen.“ O. Neurath: Ge- sammelte bildpädagogische Schriften, S. 404.

133 komplexen, eher spezialdiskursiven Prozess der Herstellung eines Piktogramms für Abstammung und Evolution (s. Abb. 7) – ohne Einbindung in ein basales Orientierungswissen und die permanente Einschleifung und Schematisierung in Wiederholungsroutinen entsteht kein piktogrammatisches Wissen. Dieses Wissen ist nun vor allem funktional und operational. Es ist ein konkretes Wissen, ein Wissen, das gerade durch seine Naturhaftigkeit (also die Transparenz seines Symbolischen und seiner Gemachtheit) und seine Koppelbarkeit mit anderen symbolischen Systemen einen handlungstheoretischen Imperativ zu betonen scheint: „Sieh hin – das sieht man doch!“ Gerade dieser interpellative Charakter ist es, der noch einmal auf den Ausgangspunkt meiner Argumentation zurück verweist: Piktogramme sind im Großen und Ganzen über ihre Nützlichkeit zu lesen, also ihren operationalen und funktionalen Charakter. Sie sind nützliche Bilder.

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136

Carolin Scheler

Der bildsprachliche Kosmos im computeranimierten Kinofilm

137

Die im Titel etwas überspitzt gewählte Formulierung, es gebe nur einen bildsprachlichen Kosmos, in dem sich noch dazu alle computeranimierten Filme bewegten, erscheint auf den ersten Blick etwas zu simpel. Denn weder existiert nur ein solcher Kosmos, noch lässt sich genau festlegen, wann überhaupt die Rede von einem computeranimierten Film sein kann. Realfilme werden heutzutage derart häufig von komplexen computeranimierten Sequenzen komplementiert, dass der Übergang zum Animationsfilm ohnehin immer 1 fließender wird. Computergenerierte Bilder können sich also beinahe jeder beliebigen Bilderordnung anpassen. Die Zuspitzung im Titel ist demnach gezielt gewählt, um auf den Gegenstand dieses Beitrags sowie eine damit zusammenhängende Vermutung hinzudeuten: So scheint weltweit eine ganz bestimmte Gruppe von Computeranimationsfilmen zu existieren, darunter auch Kurz- und Werbefilme, die aus bildästhetischer Perspektive eine große Nähe zueinander aufweisen und deshalb den Eindruck vermitteln, als stammten sie alle aus einem eigenständigen bildsprachlichen Kosmos. Diesen zu ergründen ist die Absicht der folgenden Überlegungen. Die Abbildungen 1 bis 4 zeigen beispielhaft Standbilder aus Produktionen völlig unterschiedlicher Animationsstudios, davon je eines aus den USA, aus Europa, Australien und China. In durchweg allen Filmen finden wir einen leicht bewölkten, aber überwiegend blauen Himmel vor. Stets wirft die sanfte Nachmittagssonne ihre langen Schatten auf den Boden oder – wie in Abbildung 2 – sogar als Schattenspiel an die Wand. Die Figuren und Objekte erschei1

Der US-amerikanische Animations- und Filmtheoretiker Eric Herhuth versteht beispielsweise unter der Bezeichnung „animation“ jede Form der Bewegtbild- produktion. Animationsfilme bezeichnet er davon in Abgrenzung dezidiert als



„animated film“. Herhuth, Eric: Pixar and the Aesthetic Imagination. Animation, Storytelling, and Digital Culture, Oakland, CA: University of California Press 2017, S. 19.

138 Abb. 1: DESPICABLE ME (USA 2010, R: Pierre Coffin/ Chris Renaud)

Abb. 2: ÜBERFLIEGER – KLEINE VÖGEL, GROßES GEKLAPPER (Belgien/Deutschland/Luxemburg/Norwegen 2017, R: Toby Genkel/Reza Memari)

Abb. 3: DIE SCHUTZBRÜDER (China 2016, R: Gary Wang)

Abb. 4: HEINZ GEOFF – Werbespot für Heinz Beanz, (Australien 2017, R: Damon Duncan)

139 nen überaus plastisch, die großen Augen der Charaktere blicken immerzu treuherzig direkt in die Seele ihres Publikums. Darüber hinaus bewegen sich die warmen Bilder häufig in einem blau-gelben Farbspektrum, was den Eindruck einer eigenen Parallelwelt, von der alle diese Geschichten und Figuren erzählen, noch stärkt. Doch warum hinterlassen alle diese unterschiedlichen Produktionen aus so vielen Herkunftsländern visuell einen so homogenen Eindruck? Welcher Bilderordnung könnten sie unterliegen? Um sich diesen Fragen anzunähern soll zunächst die Geschichte computeranimierter Kinofilme nachgezeichnet werden. Eine zentrale Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Pixar Animation Studios. Das US-amerikanische Unternehmen hat mit TOY 2 STORY im Jahr 1995 den ersten computeranimierten Spielfilm produziert und damit nicht nur eine bahnbrechende technische Leistung hervorgebracht, sondern auch den Grundstein für ein neues Animationsgenre und damit einhergehend für diesen speziellen Look gelegt. Ein Blick auf die Technologie, die die Gründer von Pixar selbst in Pionierarbeit mitentwickelt haben, liefert jedoch Aufschluss darüber, dass dieser visuelle Code in keiner Weise vorgegeben ist. Wie zu Beginn angedeutet, ist ein wesentliches Merkmal der CGI-Technologie – CGI steht für computer generated imagery –, dass sie eigentlich keinen eigenen Look erzeugt. So wurde beispielsweise die 3 Cartoon-Serie SOUTHPARK nur in der frühen Phase ihrer Entstehungsgeschichte per Hand animiert, während sie inzwischen seit 4 vielen Jahren in einer CGI-Anwendung produziert wird. Die flächige Erscheinung der ausgeschnittenen Papierfiguren ist demzufolge eine als solche nicht erkennbare digitale Imitation. Ein gegensätzliches Beispiel für die Verwendung von CGI-Bildern stellt – wie eingangs erwähnt – die Erzeugung kamerarealistischer Bilder dar, die sich von realgefilmten Aufnahmen nicht unterscheiden und deshalb häufig für Spezialeffekte oder ganze Filmsequenzen in Spielfilmen zum Einsatz kommen. Regelmäßig wird also realgefilmtes Bildmaterial um computeranimierte Elemente oder 2 TOY STORY (USA 1995, R: John Lasseter). 3 SOUTHPARK (USA seit 1997, R: Trey Par- ker/Matt Stone/Eric Stough).

4 Vgl. https://southpark.cc.com/blog/ 2016/03/11/fan-question-do-you-hand- draw-every-scene vom 03.11.2016.

140 gelegentlich auch umgekehrt digital erzeugtes Bildmaterial um 5 realgefilmte Aufnahmen ergänzt. In keiner dieser Einsatzmöglichkeiten lässt sich die CGI-Technologie als eigenes bildgebendes Medium erkennen, denn wie ein Chamäleon nehmen die computergenerierten Bildelemente das Erscheinungsbild anderer Bildgebungsverfahren an. Die Technologie bleibt dadurch häufig vollkommen im Verborgenen, sie kommt zum Einsatz, gerade weil sie die Fähigkeit besitzt, sich unsichtbar zu machen. Dass für die Produktion der Pixar-Filme von derselben Technologie Gebrauch gemacht wird, verdeutlicht nun, dass sich das Animationsstudio bewusst für eine bestimmte Bildästhetik entschieden haben muss, die zudem in keiner Weise dazu gedacht war, die CGI-Technologie zu tarnen. Im Gegenteil, Pixar entwarf für TOY STORY eine Bildsprache, die die Technologie auf eine bestimmte Weise sichtbar machte und die durch ihre populärkulturelle Rahmung auch sehr sichtbar wurde. Während also kamerarealistische CGI-Bilder häufig als solche gar nicht zu erkennen sind, bekam das Bildgebungsverfahren mit den Pixar-Filmen erstmals ein eigenständiges Gesicht. So mag es gerade dem sehr hermetischen Charakter der Technologie geschuldet sein, dass sie seither häufig und weltweit mit genau diesem visuellen Code in Verbindung gebracht wird, sowohl von denjenigen, die Filme dieser Art produzieren, als auch von denjenigen, die sie rezipieren. Doch hat es diese neue, von Pixar sichtbar gemachte Ästhetik vorher noch nie gegeben? Und wenn doch, worauf könnte sie sich beziehen? Naheliegend wäre, dass Pixar sich an den Disneyfilmen orientiert hat. Immerhin ist die Unternehmensgeschichte des Computeranimationsstudios schon früh sehr eng mit dem Disney-Konzern verwoben: Zum einen ist Pixar heute rein formal ein Tochterunternehmen des Disney-Konzerns, zum anderen hat dieser schon seit TOY STORY die Distribution der PixarFilme übernommen. Und obwohl zudem bekannt ist, dass Walt Disney für das Gründungsteam von Pixar durchaus eine Inspirations5 Vgl. bspw. THE JUNGLE BOOK (USA 2016, R: Jon Favreau) und THE LION KING (USA 2019, R: Jon Favreau).

141 6

quelle darstellte , verfolgt dieser Beitrag die These, dass Pixar seit Beginn eine ganz eigenständige Ästhetik entwickelt hat: So soll hier angenommen werden, dass die Filme auf selbstreflexive Weise in bild- und produktionsästhetischer Hinsicht Bezüge zu US-amerikanischen malerischen Tendenzen herstellen, insbesondere zu den in den USA traditionell verankerten realistischen Strömungen. Damit vermitteln die von dem Studio entworfenen Bildwelten ein Wertesystem, das sich nun als visueller Code nicht nur durch andere Produktionsfirmen innerhalb der USA, sondern sogar weltweit verbreitet. Vor dem Hintergrund animationsgeschichtlicher Gesichtspunkte werden im folgenden Teil Perspektiven vorgestellt, die es zwar erlauben, Disney und Pixar in Beziehung zueinander zu setzen, sie aber dennoch losgelöst voneinander zu untersuchen. Der Bogen, der damit gespannt wird, führt am Ende schließlich zur hier formulierten These des malerischen Kosmos computeranimierter Kinofilme zurück. Ein erster Versuch, Disney und Pixar getrennt voneinander zu betrachten, gelingt vor allem dann, wenn der jeweilige Herstellungsprozess als Ausgangspunkt der Untersuchung genutzt wird. Im Gegensatz zu den Pixar-Filmen gehen die Disney-Filme in direkter Weise aus der Tradition des Zeichentrickfilms hervor, während bei Pixar die Verwendung des Computers seit Beginn fester Bestandteil der Produktion ist. Seit Langem nutzt auch Disney die CGI-Technologie, allerdings verfolgt das Studio dabei – anders als Pixar – keinen einheitlichen Look. Es ließe sich deshalb sogar behaupten, dass nicht Pixar Disney nachahmt, sondern umgekehrt, dass Disney Pixar nachahmt. Eine Gegenüberstellung der ersten von 7 Disney hervorgebrachten CGI-Produktion DINOSAUR mit der neu8 eren CGI-Produktion ZOOTOPIA kann das uneinheitliche Erschei6

Sowohl Ed Catmull, Gründungsmitglied von Pixar, als auch John Lasseter, der erste Animator bei Pixar, sind stark von Walt Disney geprägt. Catmull zeigte be- sonderes Interesse an Disneys Umgang mit technologischem Fortschritt in Verbindung mit Animation, Lasseter hin- gegen inspirierte vor allem die Ästhetik der frühen Cartoons. Im Rahmen seiner Anstellung bei Disney wurden seine Ideen jedoch als „a little too avant-

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garde“ empfunden, weshalb ihm nach nur kurzer Zeit gekündigt wurde. Vgl. Catmull, Ed/Wallace, Amy: Creativity, Inc. Overcoming the Unseen Forces That Stand in the Way of True Inspiration, New York, NY: Random House 2014, S. 8 & S. 33. DINOSAUR (USA 2000, R: Eric Leighton/ Ralph Zondag). ZOOTOPIA (USA 2000, R: Byron Howard/ Rich Moore).

142 nungsbild der computeranimierten Filme von Disney verdeutlichen: Während die neuere Produktion dem bunten, plastischen Pixar-Kosmos zu entspringen scheint, strebt der Film Dinosaur einen sehr fotorealistischen, beinahe dokumentarischen Stil an, der 9 die Sichtbarkeit des Mediums stark in den Hintergrund rückt. An10 dere CGI-Filme von Disney, wie zum Beispiel TANGLED , ahmen wiederum die gezeichneten Vorgänger nach, was auch von Filmkritiken reflektiert wurde: „‚Tangled‘ is the 50th animated feature from Disney, and its look and spirit convey a modified, updated but nonetheless sincere and unmistakable quality of old-fashioned Dis11 neyness.“ So ähnelt nicht nur die Figurengestaltung den früheren Zeichentrickcharakteren, auch die für Disney üblichen Musikeinlagen werden hier wieder aufgenommen, eine Erzählstrategie, ge12 gen die sich Pixar seit Beginn gewehrt hat. Neben den genannten CGI-Produktionen wurden bei Disney 13 auch Zeichentrickfilme noch lange produziert. Bemerkenswert ist an diesem breiten Spektrum, dass bis auf den Film DINOSAUR alle hier genannten Disney-Produktionen unter der kreativen Aufsicht von John Lasseter entstanden sind, der, nachdem Pixar von Disney im Jahr 2006 aufgekauft wurde, bis 2018 in beiden Produktionsstu14 dios Kreativdirektor war. Daraus lässt sich ableiten, dass ihm – entsprechend der hier verfolgten These – die ästhetischen Unterschiede zwischen den für Disney und den für Pixar produzierten Filmen durchaus bewusst sind. Unterstreichen lassen sich diese Beobachtungen auch aus Ed Catmulls Perspektive, der als Pionier der CGITechnologie an der Gründung Pixars beteiligt war und von den Gesprächen berichtet, die er vor der Übernahme durch Disney mit dessen ehemaligem CEO Bob Iger geführt hat: „For the first time in all the years that Pixar and Disney had worked together, someone 9 Angemerkt sei hier, dass die Dinosaurier in ein realgefilmtes Setting eingefügt wurden. Vgl. bspw. Price, David A.: The Pixar Touch. The Making of a Company, New York, NY: Vintage Books 2009, S. 227. 10 TANGLED (USA 2010, R: Nathan Greno/ Byron Howard). 11 https://www.nytimes.com/2010/11/24/ movies/24tangled.html vom 23.11.2010.

12 „Lasseter resisted the musical theater approach that Disney wanted, believing that musical numbers would take TOY STORY out of its reality.“ D. A. Price: The Pixar Touch, S. 128. 13 Vgl. bspw. WINNIE THE POOH (USA 2011, R: Stephen J. Anderson/Don Hall). 14 Vgl. D. A. Price: The Pixar Touch, S. 253. 15 E. Catmull/A. Wallace: Creativity, Inc., S. 246–247.

143 from Disney was asking what we were doing that made our company different. […] His [Iger’s] agenda was clear: reviving Disney Anima15 tion while also preserving Pixar’s autonomy.“ Die Selbstreflexivität der von Pixar erzeugten Bilder lässt sich demzufolge sogar aus unternehmerischer Perspektive als Programm auffassen. Zahlreiche der Filme thematisieren auf metareflexive Weise ihr eigenes Erscheinungsbild, zum Beispiel indem sie in einzelnen Szenen aus ihrem visuellen Code ausbrechen oder ihn explizit ansprechen. Der britische Animationstheoretiker Paul Wells beobachtet diese Metareflexivität auch auf der filmischen Erzählebene. Seiner Auffassung nach spiele die von Pixar verwendete CGI-Technologie für die selbstreflexive Erzählstrategie des ersten 16 Pixar-Films TOY STORY und seines Nachfolgers TOY STORY 2 eine 17 signifikante Rolle. Entsprechende Hinweise hierfür liefert er in seiner Studie Animation and America, in der er sich dezidiert mit der historischen Entwicklung der Animation innerhalb der USA auseinandersetzt. Er betrachtet den animierten Cartoon neben dem Western, dem Jazz und dem Broadway Musical als eine der vier be18 deutendsten einheimischen Kunstformen der USA. Seine zentralen Thesen werden nachfolgend kurz vorgestellt, um sie anschließend für die Frage nach einer Bilderordnung der Pixar-Filme fruchtbar zu machen. Bereits in seiner vorangegangenen Studie Understanding Animation entwickelte Wells die folgende Definition von Animation: „[A]nimation can redefine the everyday, subvert our accepted notions of ‚reality‘, and challenge the orthodox understanding and acceptance of our existence. Animation can defy the laws of gravity, challenge our perceived view of space and time, and endow lifeless 19 things with dynamic and vibrant properties.“ 16 17 18

TOY STORY 2 (USA 1999, R: John Lasster). Vgl. Wells, Paul: Animation and America, Edinburgh: Edinburgh University Press 2002, S. 151–171. Vgl. ebd., S. 1.

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Wells, Paul: Understanding Animation, London: Routledge 1998, S. 11. Er bezieht sich hier auf den tschechischen surrealis- tischen Animatoren Jan Svankmajer.

144 Obwohl die Definition keine Hinweise auf ein mögliches Erscheinungsbild von animierten Filmen liefert, erweist sich Wells’ erzähltechnische Anmerkung zur Fähigkeit der Animation, unsere Konzepte von Wirklichkeit herauszufordern, für die hier verfolgte Argumentation als zentral. Wells erkennt in dieser Eigenschaft der Animation subversive und avantgardistische Qualitäten, die schon in der filmischen Praxis angelegt waren, beispielsweise wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts in frühen Horror-Filmen Objekte in Bewegung gesetzt wurden, die üblicherweise kein Eigenleben besitzen. Dieser Umgang mit unserer materiellen Umwelt trage laut Wells bereits die „‚essence‘ of autonomy“ in sich und vertrete damit 20 „Modernist credentials“ . Diese Tendenzen erkennt Wells schließlich auch bei Winsor McCay, dem US-amerikanischen Pionier des gezeichneten Animationsfilms. In seinen Filmen ist er immer zunächst selbst an einer großen Leinwand zeichnend zu sehen, bis sich seine entworfenen Figuren plötzlich verselbstständigen und 21 ein Eigenleben entwickeln. Der metareflexive Umgang McCays mit diesem damals neuen Medium setzt sich im weiteren Verlauf der Animation innerhalb der USA fort. Auch die frühen Disneyfilme erfüllen diesen Anspruch noch, beispielsweise die SILLY SYMPHO22 NIES aus den 1920er- und 1930er-Jahren, gezeichnet von Disneys Kollegen Ub Iwerks. Die darin gezeigten Figuren und Objekte entziehen sich jeglicher Schwerkraft und besitzen die Fähigkeit, sich auf eine Weise zu deformieren, wie es in realgefilmten Aufnahmen niemals dargestellt werden könnte. Von besonderer Bedeutung ist für Wells die Methode, mit der Iwerks seine Animationen erstellte, denn sie unterscheidet sich in signifikanter Weise von dem Animationsverfahren, das Walt Disney nur eine kurze Zeit später in seinem Studio implementierte, um den Zeichenprozess zu automatisieren und ihn damit zu industrialisieren. Iwerks’ Prozess ließ sich nicht automatisieren, da er sich von Bild zu Bild individuell entwickelte und nur er als Zeichner wusste, welche Zeichnung auf die nächste folgen würde. Im Gegensatz zu der industrialisierten Methode bot dieser Ansatz einen gro20 P. Wells: Animation and America, S. 30. 21 Vgl. ebd., S. 29–30.

22 SILLY SYMPHONIES (USA 1929–1939, R: Walt Disney/Ub Iwerks et al.).

145 ßen kreativen Spielraum. Auch Winsor McCay hatte schon auf diese Weise gearbeitet. Disney etablierte schließlich ein Verfahren, bei dem die Animation vorher festgelegt werden konnte, indem zunächst zwei sogenannte Key-Posen und erst anschließend die ein23 zelnen Frames zwischen diesen Posen gezeichnet werden. Diese einschneidende Veränderung des Produktionsprozesses sei laut Wells im Wesentlichen dafür verantwortlich gewesen, dass sich Disneys Ästhetik zunehmend in eine konservative Richtung ent24 wickelte und damit avantgardistische Ansätze verdrängte. Die Entscheidung, die freien und expressiven Stilmittel der Animation durch eine konventionelle Filmsprache entsprechend der Hollywood-Industrie zu ersetzen, erscheint paradox, denn, so Wells: „[A]nimation is a ‚completely fake‘ medium by virtue of the fact that it does not use the camera to ‚record‘ reality but artificially 25 creates and records its own.“ Mit Umberto Eco definiert Wells deshalb die Spielfilme von Disney und alle anderen, die demselben 26 Prinzip folgen, als hyperrealistisch. Da dieser von Disney etablierte Ansatz seither nahezu unhinterfragt als Standard empfunden wird, schlägt Wells sogar vor, den Hyperrealismus Disneys als Maßstab zu nutzen, um den Grad der Abstraktion anderer Animationen zu bemessen. In seiner Studie Understanding Animation erarbeitet er hierfür vier Kategorien: „The design, context and action within the hyperrealist animated film approximates with, and corresponds to the design, context and action within the live-action film’s representation of reality. The characters, objects and environment within the hyperrealist animated film are subject to the conventional physical laws of the ‚real‘ world. 23 Vgl. P. Wells: Animation and America, S. 21. 24 Vgl. ebd., S. 23.

25 P. Wells: Understanding Animation, S. 25. 26 Vgl. ebd.

146 The ‚sound‘ deployed in the hyper-realist animated film will demonstrate diegetic appropriateness and correspond directly to the context from which it emerges (e. g. a person, object or place must be represented by the sound it actually makes at the moment of utterance, at the appropriate volume). The construction, movement and behavioural tendencies of ‚the body‘ in the hyperrealist animated film will correspond to the orthodox physical aspects of human beings and creatures in the 27 ‚real‘ world.“ Obwohl auch die Disneyfilme gelegentlich Sequenzen mit Bewegungen und Deformationen enthalten, die sich nur in der Sprache der Animation ausdrücken lassen – Wells thematisiert hier beispielsweise den übertrieben hohen Sprung von einer Klippe in dem 28 Film POCAHONTAS –, bleibt er bei der Überzeugung, dass die Disney-Produktionen grundsätzlich einer realistischen Motivation folgen, die sich klar von den Ansprüchen anderer, abstrakter Ansätze 29 abhebt. Viele der Aspekte, die Wells in Bezug auf Disney herausarbeitet, lassen sich in direkter Weise auf die Pixar-Filme übertragen, 30 auch sie sind in diesem Sinne hyperrealistisch. Im Schlusskapitel seiner Studie Animation and America bietet Wells jedoch selbst Anhaltspunkte, die Pixar aus diesem System – zumindest teilweise – 31 wieder herauslösen. Er nennt dieses Kapitel United States of the Art und kreiert damit einen charmanten und vielsagenden Wortwitz. Wie in einem Vexierbild changiert der Fokus zwischen den Wendungen United States und State of the Art. Der Stand der Dinge, den Wells hier im Ausklang seines Buchs anspricht, bezieht sich zum einen auf die Kunstform der Animation und zum anderen auf die 27 Ebd., S. 25–26. 28 POCAHONTAS (USA 1995, R: Mike Gabriel/Eric Goldberg). 29 Vgl. P. Wells: Understanding Animation, S. 26–27. 30 Unabhängig von Eco bezeichnen die Pixar Animation Studios intern selbst

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ihren Realismus als „hyper-reality“. Sie verstehen ihn als „stylized realism that had a lifelike feel without actually being photorealistic.“ D. A. Price: The Pixar Touch, S. 213. Vgl. P. Wells: Animation and America, S. 151–170.

147 im Jahr 2002 – also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Studie – inzwischen regelmäßig dafür zum Einsatz kommende Computertechnologie. Allein mit dem Titel gelingt es Wells, auf die komplexen Verquickungen hinzuweisen, die sich durch die enge Verbindung der beiden Felder zueinander und durch ihre jeweils enge Verknüpfung mit den USA ergeben. Wells verspricht sich damals von der noch recht neuen CGITechnologie sehr viel, er schreibt ihr nicht zuletzt die Fähigkeit zu, die Animation zurück zu ihrem subversiven Charakter zu führen, zurück zur Ästhetik der frühen Cartoons der 1930er und 1940er. Seine Überlegungen beziehen sich dabei vorrangig auf die ersten beiden TOY STORY-Filme. Lasseter sei es durch die Zusammenführung der Cartoon-Ästhetik mit der neuen Computertechnik gelungen, die Materialität von Objekten wieder besonders effektiv für die Sprache der Animation zu nutzen, um Gegenstände zum Leben zu erwecken und sie zu Charakteren zu machen. Wenn Wells über das Erscheinungsbild der computergenerierten Bilder spricht, verwen32 det er Formulierungen wie „synthetic gloss“ oder – in Bezug auf 33 die Charaktere – die Wendung „hyper-presence“ . Bereits in seiner vorangegangenen Studie Understanding Animation äußert er sich zur Ästhetik dieser neuen Technologie, hier allerdings in Zusammen34 hang mit dem Kurzfilm KNICK KNACK aus dem Jahr 1989: „It is the sheer plasticity and artificiality of the objects […] which computer 35 animation is adept in expressing.“ In seinem Kapitel United States of the Art führt er seine Erkenntnisse zur Bildästhetik schließlich mit den animationsästhetischen Aspekten zum Film TOY STORY zusammen: „Simply, the aesthetic possibilities afforded by CGI both recall and enhance the ‚openness‘ of the language of animation as 36 an interrogative tool in a quasi-realist context.“ Für Wells sind es 32 Ebd., S. 151. 33 Ebd., S. 155. 34 KNICK KNACK (USA 1989, R: John Lasseter). 35 P. Wells: Understanding Animation, S. 182. 36 P. Wells: Animation and America, S. 154. Herhuth teilt diese Ansicht mit Wells: „Many of the films produced by Pixar



Animation Studios build on this legacy of animation. Despite an ongoing interest in realistic animation, Pixar’s early features indicate that the digital era does not amount to a fixation on simulation or the suppression of playful, cartoon presentations.“ E. Herhuth: Pixar and the Aesthetic Imagination, S. 21.

148 insbesondere die Spielzeugfiguren in den TOY STORY-Filmen, die diese hinterfragenden Qualitäten der Animation verkörpern, da sie sich stets mit ihrem eigenen Status zwischen Spielfigur und ‚ech37 tem‘ Dasein auseinandersetzen müssen. Der erste Film erzählt von dem Selbstfindungsprozess des Space Rangers Buzz Lightyear. Sein Sich-selbst-Erkennen geschieht in dem Moment, in dem er begreift, dass er kein echter Space Ranger, sondern lediglich ein Spielzeug ist, das noch dazu in Serie hergestellt wird – ein Detail, das schließlich im zweiten Film ausgehandelt wird. Seine eigene selbstreflexive Fähigkeit bedeutet allerdings zugleich, dass er in besonderer Weise einzigartig ist – einzigartiger als seine seriellen Kollegen. Anhand dieser Erzählstränge und Figurenentwicklung wird deutlich, inwiefern die TOY STORY-Filme ihr eigenes Gemacht- und Künstlich38 Sein permanent hinterfragen. Laut Wells bringe jede neue technologische Errungenschaft im Bereich der Bewegtbildproduktion die Angst hervor, der kreative Ausdruck könne der Technik unterlegen sein. Die computergenerierten Bilder seien jedoch nicht nur besonders gut dazu geeignet, ihrem eigenen Determinismus oder auch technologischen Instrumentalismus konstruktiv zu begegnen, sondern auch einer ursprünglichen avantgardistischen Auffassung von Animation. Die TOY STORY-Filme machten sich, so Wells, diese Qualitäten dezi39 diert zunutze. Obwohl es schlüssig erscheint, dass die Technologie für Lasseters Animationsansätze gut geeignet ist, soll hier Wells’ Auffassung widersprochen werden, dass die CG-Bilder eine vorgegebene Ästhetik und eine damit verbundene „Veranlagung“ zur Selbstreflexivität bereits mitbringen. Es soll im Gegenteil behauptet werden, dass Lasseter nicht passiv auf eine solche Ästhetik reagiert, sondern umgekehrt, dass er sie aktiv mitgestaltet hat und damit erheblichen Einfluss auf das Erscheinungsbild computergenerier37 Vgl. P. Wells: Animation and America, S. 160. 38 Auch in zahlreichen anderen Pixar-Filmen lässt sich dieses selbstreflexive Moment wiederentdecken. Vgl. bspw. Stewen, Christian: „‚What kind of toy are you?‘ Zu Identitäten von Spielfiguren und digitalen

Bildern in John Lasseters TOY-STORY Filmen“, in: Johannes Wende (Hg.), Film- Konzepte. John Lasseter 33 (2014), München: edition text + kritik, S. 74–84. 39 Vgl. P. Wells: Animation and America, S. 169.

149 ter Animationsfilme nahm. Deshalb stellt sich nun erneut die Frage, warum die Bilder so aussehen, wie sie aussehen. An welche Bilderordnung hat sich Lasseter gehalten wenn nicht an die von Disney? Um den Kreis zur anfangs aufgestellten These zu schließen, folgen nun zwei Beispiele aus zwei verschiedenen Filmen, anhand derer die zu Beginn genannte Vermutung überprüft werden soll, dass die Bildgestaltung nicht nur in selbstreflexiver Weise geschieht, sondern sich zugleich auf eine US-amerikanische malerische Tradition bezieht. Eine in hohem Maße selbst- oder medienreflexive Szene findet 40 sich in der 2015 erschienenen Produktion INSIDE OUT . Der Film handelt von den fünf als Figuren dargestellten Grundemotionen Joy, Sadness, Fear, Anger sowie Disgust und spielt überwiegend in dem Kopf eines Mädchens namens Riley. Der Schauplatz ist in den meisten Szenen eine Art Schaltzentrale, nur selten ist das Mädchen von außen in ihrer Umgebung zu sehen. Die angesprochene selbstreflexive Szene ereignet sich im Unterbewusstsein Rileys und zeigt den Ort, an dem sich ihr abstraktes Denkvermögen entwickelt. Sadness ist die einzige der Emotionen, die alle Handbücher der Schaltzentrale gelesen hat, weshalb sie während dieser Szene ihr Fachwissen über die vier Stufen der Abstraktion verkünden kann, die die Figuren an diesem Ort an ihren eigenen – dreidimensionalen – Körpern erfahren: „non-objective fragmentation“, „deconstruc­ tion“, „twodimensional“ und „non-figurative“41. Obwohl diese Szene eigentlich von Rileys erster Begegnung mit ihren abstrakten Gedanken erzählt, nimmt die visuelle Umsetzung klaren Bezug auf malerische Methoden der Abstraktion. So erinnert die erste Stufe zum Beispiel an die kubistische Malerei Picassos und die letzte etwa an 42 Hans Arps sieben Arpaden (Abb. 5–7). 40 INSIDE OUT (USA 2015, R: Pete Docter/ Ronaldo del Carmen). 41 Vgl. ebd. 42 In der Vorbereitung für die Filme entstan- den mithilfe von Gips, Ölfarbe und Stoff- resten Studien für das Erscheinungsbild dieser Filmszene, die den hier gezeigten



Standbildern bereits sehr ähnlich sehen und die Nähe zu Picasso und Hans Arp noch stärker erzeugen. Vgl. Poehler, Amy/ Docter, Pete: The Art of INSIDE OUT, San Francisco, CA: Chronicle 2015, S. 136 u. 139.

150

Abb. 5: Normaler Zustand, INSIDE OUT (USA 2015, R: Pete Docter/ Ronaldo del Carmen)

Abb. 6: Non-objective fragmentation, INSIDE OUT (USA 2015, R: Pete Docter/ Ronaldo del Carmen)

Abb. 7: Non-figurative, INSIDE OUT (USA 2015, R: Pete Docter/Ronaldo del Carmen)

Mit jeder weiteren Abstraktionsstufe, die die drei Figuren einnehmen, steigert sich auch die Angst, sich selbst zu verlieren. Wenn sie sich nicht beeilen, so Sadness’ Befürchtung, bleiben sie womöglich alle für immer in diesem Zustand stecken. Ziel ist es, in ihre richtige, nicht abstrakte Welt zurückzukehren, in der sie sicher sind und wieder ihre ursprüngliche – figurative – Form annehmen können. Die Szene verdeutlicht, dass nicht nur Sadness als Filmfigur, sondern auch Pixar selbst sich mit der abstrakten Bildsprache in weni43 ger vertrautes Terrain begibt. 43 An dieser Stelle möchte ich Annette Geiger für ihren Hinweis danken, dass die Szene an einen Cartoon Winsor McCays aus der Reihe Little Nemo in Slumberland erinnert, worin ebenfalls metareflexiv mit dem Erscheinungsbild sowie der Angst, als abstrakte Strich- zeichnung zu erscheinen, umgegangen wird. Obwohl in beiden Fällen, also



bei McCay und bei Pixar, eine nichtabstrakte Darstellung Unbehagen auszulösen scheint, bringt die Selbstrefle- xivität als solche einen avantgardisti- schen Anspruch zum Ausdruck. Vgl. McCay, Winsor/Blackbeard, Bill/Fuchs, Wolfgang J.: Little Nemo in Slumberland 1905–1914, Köln: Taschen 2000, S. 194.

151 Ein weiteres Beispiel, in dem noch wesentlich expliziter auf europäische Malerei Bezug genommen wird, ist der Abspann von 44 WALL·E. In apokalyptischer Vorausschau erzählt der Film von einem Roboter, der als letzter Erdbewohner den Müll der Menschen aufräumt, während diese sich in einem Raumschiff im Weltall aufhalten. Der Abspann ist mit Bildern hinterlegt, die im Schnelldurchlauf verschiedene Stile der Malerei aufführen. Wie eine Reminiszenz an eine vergangene Zeit ziehen am Kinopublikum die Höhlenmalerei, ägyptische Wandmalerei, Mosaikkunst, chinesische Malerei und schließlich die Malstile Claude Monets, George Seurats und Vincent van Goghs vorbei. Die Motivation für diese Auswahl an Kunststilen lässt sich anhand der Handlung des Films nicht konkret erschließen. Der Abspann soll offenbar aufzeigen, dass mit dem Verlust der Zivilisation auch der tragische Verlust menschengemachter Kulturgüter einhergeht. Einen Effekt, den diese Referenzen allerdings in besonderer Weise auslösen, ist der, dass sie – wie auch im ersten Beispiel – zur hauptsächlich verfolgten Bildästhetik der Filme einen starken Kontrast bilden. Szenen wie diese veranschaulichen in selbstreflexiver Weise, dass ein anderer Stil nicht nur möglich wäre, sondern auch, welcher Stil in den Fil45 men eigentlich verfolgt werden sollte. Während demnach das figurative Erscheinungsbild bewusst angestrebt wird, ist noch immer die Frage offen, an welche Bilderordnung sich die Filme halten. Abschließend soll deshalb nun der 44 WALL·E (USA 2008, R: Andrew Stanton). 45 Ein Interview mit Kyoung Swearingen, einer ehemaligen Lichtregisseurin bei Pixar, konnte Aufschluss darüber geben, dass die Lichtstimmungen in den Filmen häufig von europäischer Malerei inspi - riert sind. Sie verwies dabei explizit auf den Impressionismus, aber auch auf die Barock-Malerei Caravaggios und Rembrandts. Auf die Frage, ob Malerei eine Rolle für die Gesamterscheinung der Filme spiele, entgegnete Swearingen, dass die Gestaltung der Bilder im Hinblick auf die spätere Leinwandprojektion stets von der zweidimensionalen Fläche aus gehe und die Malerei als flächiges Medium dafür definitiv als Vorbild diene. Animationsfilme hätten zudem – eher



als Realfilme – die Kraft, Bezüge zur Malerei überhaupt herzustellen. Voll- ständig nachgeahmt werden Gemälde in den Filmen allerdings nicht, und Bezüge zur US-amerikanischen Malerei stellte Swearingen ebenfalls nicht her. Auf die Frage, ob sie einen eigenen Stil habe, teilte sie ihre Vorstellung mit, dass alle Kunstschaffenden von kulturellen Ein- flüssen geprägt sind, die sie in ihre kreative Arbeit tragen. – Es liegen Auf- zeichnungen zu dem Interview vor, die jedoch vertrauliche Angaben zu an deren Beschäftigten des Animationsstudios enthalten und deshalb von der Gesprächs- partnerin nur in Teilen freigegeben wur- den. Swearingen, Kyoung: Telefoninter- view, 11. Februar 2020.

152 zu Beginn geäußerten Vermutung nachgegangen werden, dass die Filme sowohl auf bild- als auch auf produktionsästhetischer Ebene verschiedene malerische Traditionen der USA aufgreifen. So enthält TOY STORY zum Beispiel bildsprachliche Referenzen zur Pop Art Andy Warhols, gerade im zweiten Teil, der sich mit der Serialität von Buzz Lightyear als Konsumfigur befasst (Abb. 8, 9). Auch die Malerei Edward Hoppers scheint fortlaufend zitiert zu werden, wenn die computergenerierte Nachmittagssonne ihre langen Schatten wirft (Abb. 10, 11). Doch in den Vordergrund soll zum Schluss eine weniger präsente malerische Strömung gerückt werden: die in den USA traditionell verankerte Landschaftsmalerei.

Abb. 8: Andy Warhol: Campbell‘s Soup Cans, 1962, Museum of Modern Art, New York, NY

Abb. 9: TOY STORY 2 (USA 1999, R: John Lasseter)

153 Abb. 10: Edward Hopper: Sun on Prospect Street (Gloucester,Massachusetts), 1934, Öl auf Leinwand

Abb. 11: TOY STORY 3 (USA 2010, R: Lee Unkrich)

Hier sei beispielsweise die Hudson River School genannt, eine Gruppe von Malern, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts um den Künstler Thomas Cole formierte. Ähnlich wie Coles Gemälde The Oxbow (1835–36) zeigt beispielsweise eine Szene des Films THE GOOD DINO46 SAUR einen Fluss von einem erhabenen Blickpunkt aus in einem idyllischen und unberührten Tal (Abb. 12, 13). Doch über das Sujet hinaus lässt sich auch in der künstlerischen Haltung eine gedankliche Verwandtschaft zwischen Pixar und Cole herauslesen. Für beide sind intensive Recherchephasen von großer Bedeutung, um dann jedoch den Detailreichtum des Vorgefundenen in eigene fantasievolle Kompositionen zu überführen. Umfangreiche Recherche-Reisen vor Beginn jeder Pixar-Produktion sollen laut Catmull dazu anregen, statt zu kopieren, etwas Neues auf glaubwürdige Weise zu 47 kreieren. Diese Vorgehensweise klingt wie ein Echo von Coles eigenem künstlerischen Selbstverständnis: 46 THE GOOD DINOSAUR (USA 2015, R: Peter Sohn).

47 Vgl. E. Catmull/A. Wallace: Creativity, Inc., S. 198.

154 „If the imagination is shackled and nothing is described but what we see, seldom will any thing truly great be produced, either in painting or in poetry. […] But a departure from nature is not a necessary consequence in the painting of compositions: on the contrary the most lovely and perfect parts of nature may be brought together and combined in a whole that shall surpass in 48 beauty and effect any pictures painted from a single view.“ Folgt man nun Lasseters Auffassung zur Rolle der CGI-Technologie für die Bilderzeugung, so kann das computergestützte Verfahren beinahe als Destillat von Coles künstlerischer Haltung aufgefasst werden: „Lasseter calls computer animation ‚the mystical science‘: give the computer the right set of instructions to carry out, and you can create the impossible in a world with a physicality and seam49 lessness no other medium can.“ Pixars Verwendung der CGI-Technologie und die damit erzeugte Bildsprache antworten also auf den von Cole stark ausgeprägten Wunsch, die Physikalität der Welt nicht realistisch, sondern einen Eindruck von ihr idealisiert wiederzugeben. Obwohl Cole zu seinen Lebzeiten häufig dafür kritisiert wurde, sich in seinen Kompositionen zu weit von der gottgegebenen 50 Natur zu entfernen, hatte für ihn die unberührte Wildnis Amerikas einen bedeutenden kulturellen und auch spirituellen Wert. So verweist er in seinem 1836 erschienenen Essay on American Scenery immer wieder darauf, dass in Europa die reine Schönheit der Natur durch den Einfluss des Menschen gar nicht mehr zu erkennen sei. Er lehnte die Kultur Europas nicht ab, doch forderte er – auch mit seiner idealistischen Landschaftsmalerei – dazu auf, die sublime Erhabenheit der unberührten Wildnis zu erkennen und sie als kul51 turelles Gut schätzen zu lernen. Die US-amerikanische Kunsthis48 Cole, Thomas: Thomas Cole Papers, 1821–1863, Brief an Robert Gilmor vom 25. Dezember 1827, URL: https://nysl. ptfs.com/data/Library5/All Special Col- lections/Manuscripts/Thomas Cole Papers/Correspondence, 1820–1855/Cole and Gilmor, 1826–1837/pdf/SC10635 B3-F8-complete.pdf, New York, NY: New York State Library Digital Collections 2019. 49 Paik, Karen/Iwerks, Leslie: To Infinity

and Beyond! The Story of Pixar Anima- tion Studios, San Francisco, CA: Chronic- le 2007, S. 8. 50 Vgl. Novak, Barbara: American Painting of the Nineteenth Century. Realism, Idealism, and the American Experience, 3. Auflage, New York, NY: Oxford Univer- sity Press 2007, S. 43. 51 Vgl. Cole, Thomas: „Essay on American Scenery“, in: American monthly maga- zine 1 (1836), S. 1–12.

155 torikerin Barbara Novak fasst seine Haltung sehr bündig zusammen: „If we had no cultural traditions, we had at least our ancient 52 trees.“ Gleichzeitig antizipierte er mit Bedauern den graduellen Fortschritt der Nation und die damit einhergehende Gefahr, dass die Natur nicht für immer unberührt bleiben würde. Er betrachtete diese Dynamik jedoch als notwendige und natürliche Entwicklung 53 der kultivierten Gesellschaft. Der Fluss spielt laut dem US-amerikanischen Kunsthistoriker John Wilmerding in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle, denn die Wasserstraßen erleichterten den Weg in die unberührte, raue Landschaft. Sie trugen damit nicht nur zu einer äußerlichen Entwicklung der Nation, sondern auch zu einem inneren Wachs54 tum, einem neuen nationalen Selbstverständnis bei. Wie bereits Cole nimmt THE GOOD DINOSAUR die Symbolik des Flusses ebenfalls auf und auch hier, im Mikrokosmos des Films, steht er für die Heimkehr und das Erwachsenwerden des Protagonisten, für Orientierung und die Entwicklung des Selbstbewusstseins. Der Film Abb. 12: Thomas Cole: View from Mount Holyoke, Northampton, Massachusetts, after a Thunderstorm – The Oxbow, 1836, Öl auf Leinwand

Abb. 13: THE GOOD DINOSAUR (USA 2015, R: Peter Sohn)

52 B. Novak: American Painting of the Nine- teenth Century, S. 41. 53 Vgl. T. Cole: „Essay on American Scenery“, S. 12.

54 Vgl. Wilmerding, John: American Views. Essays on American Art, Princeton NJ: Princeton University Press 1991, S. 49.

156 reiht sich demnach nicht nur visuell, sondern auch in der inhaltlichen Motivation in die frühe Landschaftsmalerei der USA ein: „[B]y the first quarter of the nineteenth century, the young nation had developed a sufficient sense of self-awareness that its physical landscape […] and its spiritual substance [called for] metaphorical articulation. Out of these earlier aspirations now emerged America’s first full-scale landscape movement, appropriately named for a key waterway, the Hudson River School. The leading figures of this group […] were all to include the river as a 55 key component of their pictorial repertoire.“ Um der gewaltigen Natur gerecht zu werden, war es unter vielen Landschaftsmalern des 19. Jahrhunderts üblich, einen erhabenen Blickwinkel einzunehmen. Auch Fitz Henry Lane, der sich als Vertreter des sogenannten Luminismus vornehmlich mit maritimen Motiven befasste, kletterte gelegentlich auf die Aussichtsplattform von Segelschiffen, um von dort aus die Weite des Meeres einzufangen. Gedanklich stand Lane dem Transzendentalismus Ralph Waldo Emersons nahe, und so verwundert es nicht, dass auch über den Freund Emersons Henry David Thoreau bekannt ist, dass er in Bäume kletterte, um sich die Vielfalt der Natur besser erschließen zu 56 können. Auch der Film WALL·E nimmt in vielen Einstellungen einen erhabenen Blickwinkel ein, doch hier ist es insbesondere die Lichtstimmung, die beinahe durchgängig auf die Malerei Lanes rekurriert (Abb. 14, 15). Völlig ungewollt reagiert der Film damit auf einen Kommentar Novaks zur Fortführung der im 19. Jahrhundert entwickelten künstlerischen Haltung im 20. Jahrhundert: „A concomitant mode, practiced by many Hudson River men, as well as by such luminists as Lane and Heade, was quietistic, precise and conceptual. […] It is remarkable how these attitudes persist in the twentieth century, though disguised under new 57 styles and associated with different ambitions and intentions.“ 55 Ebd. S. 51. 56 Vgl. ebd., S. 72.

57 B. Novak: American Painting of the Nineteenth Century, S. 233.

157 Abb. 14: Fitz Henry Lane: Owl's Head, Penobscot Bay, Maine, 1862, Öl auf Leinwand

Abb. 15: WALL·E (USA 2008, R: Andrew Stanton)

Novak bezieht sich mit ihrer Beobachtung beispielsweise auf Vertreter des Abstrakten Expressionismus. Die Filme von Pixar werden von ihren Untersuchungen nicht berücksichtigt, weshalb sie auch nicht antizipiert haben wird, dass diese künstlerische Haltung nicht nur innerhalb der USA, sondern inzwischen im computeranimierten Kinofilm auch weltweit aufrechterhalten wird. Die bereits bei Lane stark ausgeprägte Lichtstimmung verschärft sich bei Frederic Edwin Church hin zu apokalyptisch anmutenden, beinahe brennenden Bildern. Seine expressiven Bilder nehmen metaphorisch die schweren Veränderungen auf, die sich schon im Vorfeld 58 des Amerikanischen Bürgerkriegs im Land vollzogen. Nicht nur in WALL·E finden sich diese Motive wieder, auch die europäische Pro59 duktion Überflieger – KLEINE VÖGEL, GROSSES GEKLAPPER nimmt Churchs Ästhetik beispielsweise auf (Abb. 16–18). So bekommen auf den Kinoleinwänden der ganzen Welt plötzlich Themen 58 Vgl. J. Wilmerding: American Views, S. 89. 59 ÜBERFLIEGER – KLEINE VÖGEL, GROS- SES GEKLAPPER (Belgien/Deutschland/



Luxemburg/Norwegen 2017, R: Toby Genkel/Reza Memari).

158 und Gemütsstimmungen ihren Platz, die sich auf die spirituelle Haltung der transzendentalistischen Malerei zurückführen lassen und sich in Form eines idealistischen Realismus verbildlichen. Deshalb lässt sich zusammenfassend zwar sagen, dass die Animationen von Pixar und den weltweiten „Nachahmern“ die avantgardistischen Ansätze der frühen Animationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufnehmen und kultivieren – so wie es Wells ganz schlüssig beobachtet –, doch muss ebenso festgestellt werden, dass zur selben Zeit der visuelle Code der Bilder häufig an eine Bildtradition anknüpft, die avantgardistischen Bildsprachen ferner nicht sein könnte. Während die Pixar Studios mit diesem paradoxalen Zustand ihrer Filme zu spielen scheinen, begegnet man dieser Ambivalenz in all den anderen Produktionen völlig unhinterfragt als ultimative Wahrheit des bildsprachlichen Kosmos computeranimierter Kinofilme.

159 Abb. 16: Frederic Edwin Church: Grand Manan Island, Bay of Fundy, 1852, Öl auf Leinwand

Abb. 17: ÜBERFLIEGER - KLEINE VÖGEL, GROßES GEKLAPPER (Belgien/Deutschland/ Luxemburg/Norwegen 2017, R: Toby Genkel/Reza Memari)

Abb. 18: WALL·E (USA 2008, R: Andrew Stanton)

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Literaturverzeichnis Catmull, Ed/Wallace, Amy: Creativity, Inc. Overcoming the Unseen Forces That Stand in the Way of True Inspiration, New York, NY: Random House 2014. Cole, Thomas: „Essay on American Scenery“, in: American monthly magazine 1 (1836). Cole, Thomas: Thomas Cole Papers, 1821–1863, Brief an Robert Gilmor vom 25. Dezember 1827, URL: https://nysl. ptfs.com/data/Library5/All Special Collections/Manuscripts/Thomas Cole Papers/Correspondence, 1820–1855/ Cole and Gilmor, 1826–1837/pdf/ SC10635-B3-F8-complete.pdf, New York, NY: New York State Library Digital Collections 2019. Herhuth, Eric: Pixar and the Aesthetic Imagination. Animation, Storytelling, and Digital Culture, Oakland, CA: University of California Press 2017. McCay, Winsor/Blackbeard, Bill/Fuchs, Wolfgang J.: Little Nemo in Slumberland 1905–1914, Köln: Taschen 2000. Novak, Barbara: American Painting of the Nineteenth Century. Realism, Idealism, and the American Experience, 3. Auflage, New York, NY: Oxford University Press 2007. Scott, Anthony O.: Back to the Castle, Where It’s All About the Hair. https:// www.nytimes.com/2010/11/24/movies/24tangled.html vom 23.11.2010. Paik, Karen/Iwerks, Leslie: To Infinity and Beyond! The Story of Pixar Animation Studios, San Francisco, CA: Chronicle 2007.

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Lukas R. A. Wilde

Emoji als Piktogrammatik

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Im Winter/Frühling 2020/21 eröffnet das Leopold-Hoesch-Museum Düren gemeinsam mit dem Kunstmuseum Freiburg und dem Den Haager Gemeentemuseum eine große Ausstellung zur Entstehungsund Entwicklungsgeschichte des modernen Piktogramms. Der weite Bogen, welchen die Kurator*innen Dr. Michaela Stoffels, Maxim Weirich und Anja Dorn im dazugehörigen Ausstellungskatalog zie1 hen, führt von Pionieren der Piktogrammentwicklung, von Otto Neurath und Gerd Arntz über Otl Aicher und Yukio Ōta, bis schließlich zu Shigetaka Kurita. Kurita entwickelte Ende der 1990er Jahre für das i-mode Projekt des japanischen Telekommunikationskonzerns NTT DoCoMO neuartige Bildsymbole, die im Jahr 1999 als emoji 絵文字 – wörtlich: „Bilder-Schriftzeichen“ – einem japanischen 2 Publikum zugänglich gemacht wurden. Die ursprünglichen 176 Bildsymbole, die aus regulären Shift-JIS-Zeichen (dem japani3 schen DBCS-Äquivalent zu ASCII) automatisiert in 12 x 12 vorgestaltete Pixel umgewandelt und in Nachrichten eingefügt werden konnten, waren noch merklich reduzierter und abstrakter als die heute international gebräuchlichen Emoji. Tatsächlich blieb die Möglichkeit, mit derlei Bildsymbolen schreiben zu können, lange eine japanische Besonderheit, die nur auf DoCoMO-lizenzierten Endgeräten zur Anwendung kommen konnte. Andere japanische Hersteller wie 1

Leopold-Hoesch-Museum und Museum für Neue Kunst Freiburg (Hg.): Die Gesell- schaft der Zeichen. Piktogramme, Lebenszeichen, Emojis, Köln: Verlag Walter König 2021. Teile des folgenden Beitrags wurden auch für diesen Ausstellungskatalog entwickelt und werden dort eben- falls nachzulesen sein als Wilde, Lukas R. A.: „Piktogrammatik Digital? Emoji zwischen Infantilisierung und internationaler Begriffsschrift“, im Druck, S. 224– 231. Vgl. auch Leopold-Hoesch-Museum Düren und Museum für Neue Kunst Freiburg: Die Gesellschaft der Zeichen. https://gesellschaftderzeichen.de vom Herbst 2020.

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Vgl. Moschini, Ilaria: „The ‚Face with Tears of Joy‘ Emoji. A Socio-Semiotic and Multimodal Insight into a JapanAmerica Mash-Up“, in: Hermes – Journal of Language and Communication in Business 55 (2016), S. 11–25. Europäische und amerikanische Eingabe- geräte verfügen über eine one-byte- Technologie, bei der jedes Schriftzeichen einem Byte (acht Nullen bzw. Einsen) entspricht; dies ergibt 256 mögliche Stan- dardzeichen. Japanische DBCS-Eingabe- geräte hingegen ordnen jedem Zeichen zwei Bytes zu (DBCS steht daher für double-byte character set), was genug Kombinationen für die Darstellung aller 2.136 gebräuchlicher jōyō kanji ermöglicht.

164 au schufen aber bald eigene Varianten (SoftBank war vermutlich so4 gar schon ein wenig schneller als DoCoMo). Erst am 6. Februar 2009 implementierte das kalifornische Unicode Consortium, das die internationalen Standards für digitale Kommunikation definiert, ein Set von 674 Emoji zur weltweiten Nutzung in Unicode Standard 6. Das Repertoire wird seither ständig erweitert: Im aktuellsten Standard Emoji 13.0, abgesegnet am 29. Januar 2020, wurden gegenüber dem Vorjahr 117 neue Exemplare implementiert – insgesamt gibt es 5 damit 3.304 Emoji (inklusive sogenannter skin tone modifier). Bislang wurde keines jemals wieder entfernt. Heute werden täglich Milliarden Emoji über digitale Endgeräte versendet. Reproduktionen von Kuritas „Originalen“ wurden 2016 ins MoMA, dem New Yorker Museum of Modern Art, aufgenommen; nur einer von unzähligen Indikatoren dafür, dass Emoji als vorläufiger Endpunkt einer langen Suche nach „universellen“ Piktogrammschriften angesehen werden können, die in der Gegenwart endlich von Menschen auf dem gesamten Globus genutzt werden. Auch das MoMA weiß: „Emoji tap into a long tradition of expressive visual language. Images and patterns have been incorpo6 rated within text since antiquity.“ Diese Genealogie scheint geradezu vorbestimmt, studiert man die verfügbare Literatur aus journalistischen und akademischen Kontexten. Während die genannten Ausstellungen die EmojiHistorie von ägyptischen Hieroglyphen und Otto Neuraths Sehnsucht nach einer Universalschrift her gewissermaßen teleologisch denken, wirft der Kulturwissenschaftler und Japanologe Jonathan Abel einen Blick vom Emoji zurück auf dessen „Ideengeschichte“, die eine fast identische Historie freilegt: „[W]e should consider emoji not simply as a fleeting fad in international youth culture but as the most effective, if unintended, fruition of a long series of attempts to refine the complexities of spoken language into a univer4 Vgl. Burge, Jeremy: „Correcting the Record on the First Emoji Set“, in: Emojipedia.org. https://blog.emojipedia. org/correcting-the-record-on-the-first emoji-set vom 08.03.2019. 5 Vgl. Unicode Consortium: „Unicode® Emoji Charts v13.0“, in: Unicode. https:// unicode.org/emoji/charts/index.html

vom 29.01.2020. 6 Zit. nach Galloway, Paul: „The Original NTT DOCOMO Emoji Set Has Been Added to The Museum of Modern Art’s Collec- tion“, in: MoMA. https://stories.moma. org/the-original-emoji-set-has-been added-to-the-museum-of-modern-arts collection-c6060e141f61 vom 26.10.2016.

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sal pictographic script“. Sind Emoji also tatsächlich die neueste Form des Piktogramms, dem endlich – und nun weltweit – der Ausbruch aus gesellschaftlichen Nischen und Spezialkontexten in jeden Bereich der alltäglichen Verständigung hinein gelungen ist? Ob dem so ist oder nicht, liegt ersichtlich am vorausgesetzten Piktogrammbegriff. Eine einheitliche und allgemein akzeptierte Definition gibt es nicht, auch wenn zumindest etymologisch unbestritten sein dürfte, dass ein Piktogramm irgendetwas mit „Schreiben durch Bilder“ bzw. „Bilderschriften“ zu tun haben sollte. Es geht also um einen Zwischenbereich der Schriftbildlichkeit, in dem das Ikonische, das Betrachten eines Bildes, und das Symbolische, das Lesen eines Textes, auf besondere Weise zusammengreifen. Wie Elisabeth Birk in ihrem bildphilosophischen Glossar-Artikel zum Lemma „Bilderschrift und Piktogramm“ argumentiert hat, verbergen sich hinter diesem unbestrittenen Ausgangspunkt aber sehr unterschiedliche Forschungsprogramme: „Wer in historischer Perspektive die Konstitutionsprinzipien von Schriften untersucht, wird hier andere Entscheidungen treffen als jemand der Schriften ausschließlich in ihrer Funktion als Notationssysteme für gesprochene Sprachen im Blick hat, und wieder andere Unterscheidungen werden sich ergeben, wenn man die Funktionsprinzipien von Schriften in der Syste8 matik zeichentheoretischer Überlegungen betrachtet.“ Mindestens wird man sich entscheiden müssen, ob man die Piktogrammatik als eine besondere Form der „Textlichkeit“ (oder „Vertextung“) erachtet, in welche die Eigentümlichkeiten des Ikonischen (je nach Perspektive) vorgerückt bzw. in welcher Spuren davon freizulegen sind – oder als eine besondere Form bzw. Verwendung von „Bildlichkeit“, welche gegenüber prototypische(re)n Gemälden 7

Abel, Jonathan: „Not Everyone [pile-of- poo]s. Or, the Question of Emoji as ‘Universal’ Expression“, in: Elena Giannoulis/ Lukas R. A. Wilde (Hg.): Emoticons, Kaomoji, and Emoji. The Transformation of Communication in the Digital Age, London, New York: Routledge 2020, S. 25–43, hier S. 25.

8 Birk, Elisabeth: „Das bildphilosophische Stichwort 28. Bilderschrift und Pikto- gramm“, in: IMAGE. Zeitschrift für inter disziplinäre Bildwissenschaft 30 (2019), S. 91–95. http://www.gib.uni-tuebingen. de/image/image?function=fnArticle& showArticle=545

166 oder Fotografien von einem merkwürdigen „Logos des Symbolischen“, also des Schriftlichen, kontaminiert wurde. So sollte es auch auf die Frage, ob Emoji nun Piktogramme sind – oder, vorsichtiger, ob sie typischerweise als solche verwendet werden –, keine eindeutige Antwort geben. Da diese Frage aber 9 meines Wissens kaum systematisch untersucht wurde, scheint sie mir besonders geeignet, verschiedene Facetten zweier unterschiedlicher Piktogrammbegriffe herauszuarbeiten und in Abgrenzung zueinander zu konturieren. Der erste wird auf die Ebene der Darstellung (1), insbesondere auf eine besondere piktogrammatische Ästhetik und ihre systematische Wiederholbarkeit, bezogen sein. Der nachfolgende Begriff hingegen fokussiert eher die Seite des Dargestellten (3), also einer, wenn es sie gibt, besonderen piktogrammatischen Semantik. Anhand von daran anschließenden Einordnungen zu Emoji (2) & (4) lassen sich diese keineswegs ineinander aufgehenden Dimensionen des Piktogrammatischen sehr sauber durchspielen und differenzierter verstehen.

Piktogrammatische Darstellungen Eine Möglichkeit, das Piktogrammatische zu denken, würde von der Schrift her argumentieren und sich dabei vom rein konventionellen Zeichen abgrenzen, welches nur aufgrund einer konventionellen Vereinbarung für etwas stehen kann. Piktogrammatisch wird ein Zeichen demnach dann, wenn es nicht völlig arbiträr ist, gegenüber anderen Bildformen gleichwohl aber noch von jedem Einzelgegenstand soweit abstrahiert (ästhetische Dimension), dass es in unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt werden und damit wiederholt „geschrieben“ werden kann. Eine anschließende Forderung wäre damit die nach einer möglichen Wiederholbarkeit als 9

Vgl. aber Evans, Vyvyan: The Emoji Code. How Smiley Faces, Love Hearts and Thumbs Up are Changing the Way we Communicate, London: Michael O’Mara Books Limited 2017, S. 163–170, sowie



grundlegend kunsthistorische Ausgangs- punkte bei Elkins, James: The Domain of Images, Ithaca: Cornell University Press 1999, S. 120–142.

167 variierbarer Typ (semiotische Dimension). Beides sind Fragen, die insbesondere von kommunikationswissenschaftlichen und designtheoretischen Zugängen zum Piktogramm bearbeitet worden sind. Alexander Christian hat etwa mit seiner Dissertation eine Studie vorgelegt, um entsprechende Tendenzen und Entwicklungen in der 10 Gestaltung aktueller Piktogrammsysteme genau zu erfassen. Bevor auf beide Aspekte genauer eingegangen werden kann, sollten zunächst einige Voraussetzungen zum verwendeten Begriff der Bildlichkeit geklärt werden, durch den sich Piktogramme von 11 „gewöhnlichen“ Schriftzeichen unterscheiden lassen sollen. Marcel Danesi hat in seiner Emoji-Monografie von einer „intrinsic semantic structure“ gesprochen, die bei den meisten Emoji stets vor12 ausgesetzt werden könne. An Quellen von Missverständnissen im Gebrauch besteht zwar kein Mangel, diese betreffen aber zumeist höherstufige „kulturelle Kodierungen“ (cultural codings), etwa wenn der ausgestreckte Daumen in verschiedenen Teilen der Welt etwas 13 Unterschiedliches konnotiert. Zumeist lässt sich aber voraussetzen, dass das entsprechende Emoji („Thumbs Up“, U+1F44D) zumindest als dieser Daumen erkannt wird. In der kognitiven Semiotik spricht man dabei zunächst vom Überschreiten einer bestimmten 14 ikonischen Kategorisierungsschwelle. Viele technisch-genealogische Vorläufer heutiger Emoji, besonders die „japanischen Emoticons“ der kaomoji 顔文字 (wörtlich: „Gesichts-Schriftzeichen“), können von Ungeübten im Kontrast nicht immer „als“ bestimmte dargestellte Gegenstände oder Gesichtsausdrücke erkannt werden. Dass etwa (・ω・)b ein Gesicht und ein „Thumbs Up“ darstellen soll, muss man möglicherweise wissen, um es zu „sehen“ (und um es in der 10 11

Christian, Alexander: Piktogramme. Tendenzen in der Gestaltung und im Ein- satz grafischer Symbole, Köln: Herbert von Halem Verlag 2017. Vgl. ausführlicher Wilde, Lukas R. A.: „The Elephant in the Room of Emoji-Research. Or, Pictoriality, to What Extent?“, in: E. Giannoulis/L. R. A. Wilde: Emoti- cons, Kaomoji, and Emoji, S. 171–196. Zum Stand der emoji-Forschung vgl. auch einführend Giannoulis, Elena/ Wilde, Lukas R. A.: „Emoticons, Kaomoji, and Emoji. The Transformation of Communication in the Digital Age“, in:

12 13 14

E. Giannoulis/L. R. A. Wilde, Emoticons, Kaomoji, and Emoji, S. 1–22. Danesi, Marcel: The Semiotics of Emoji. The Rise of Visual Language in the Age of the Internet, London: Bloomsbury Publishing 2017, S. 52. Ebd., 31. Vgl. ausführlicher Wilde, Lukas R. A.: Im Reich der Figuren. Meta-narrative Kommunikationsfiguren und die ‚Mangaisierung‘ des japanischen Alltags, Köln: Herbert von Halem 2018, S. 89–156 sowie L. R. A. Wilde: „The Elephant in the Room of Emoji-Research“.

168 Imagination entsprechend zu ergänzen)! Selbst zwischen Nachbarländern wie Japan und Korea kommt es bei kaomoji-Kommunikation 15 entsprechend häufig zu Missverständnissen. Erst durch zusätzliche kontextuelle Hinweise („Das hier sollen die Augen sein!“) können die entsprechenden Konfigurationen dennoch ikonisch kategorisiert werden. Da es unzählige Realisierungen eines grafisch dargestellten Gegenstandstyps gibt, besitzt jedes Bildobjekt seine 16 eigene „intensionale Identität“, welche sich nur begrifflich als gleich auffassen lässt, nicht jedoch phänomenal (als Wahrnehmungseindruck).

Emoji und Piktogrammatik #1: Darstellungen Wendet man diese Perspektiven auf Emoji an, so wäre zunächst fest17 zustellen, dass es die Gestaltung eines Emoji eigentlich nicht gibt. Ihre technische Standardisierung basiert auf der Koppelung zweier unterschiedlicher technologischer Kodierungsverfahren: einem internen Hexadezimal-Kode mit einem CLDR (Common Locale Data Repository) Eigennamen, welcher durch eine sogenannte „Glyphe“, einer vorgefertigten grafischen Repräsentation, ausgelesen und dargestellt werden kann. Nur die Ebene von Hex-Kode und CLDRName ist durch Unicode einheitlich festgelegt, während die tatsächlichen Gestaltungen der einzelnen Glyphen von der jeweiligen Plattform abhängen. WhatsApp, Twitter, Facebook etc. „interpretieren“ die Unicode-Beschreibung entsprechend sehr unterschiedlich (Abb. 1). Die von Apple designten Glyphen gelten derzeit als de-facto Standard. Jedes Plattform-spezifische Set an Interpretationen kann dabei wie eine digitale Schriftart (Times New Roman, Arial etc.) ver15 16

Vgl. Karpinska, Marzena/Kurzawska, Paula/Rozanska, Katarzyna: „Emoticons. Digital Lingua Franca or a CultureSpecific Product Leading to Misunderstandings?“, in: E. Giannoulis/ L. R. A. Wilde, Emoticons, Kaomoji, and Emoji, S. 67–82. Vgl. Blanke, Börries: Vom Bild zum Sinn. Das ikonische Zeichen zwischen Semiotik

und analytischer Philosophie, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2003, S. 55. 17 Vgl. neben Moschini, I.: „The ‚Face with Tears of Joy‘ Emoji“ insbesondere auch Berard, Bethany: „I Second that Emoji. The Standards, Structures, and Social Production of Emoji“, in: First Monday 9.3 (2018).

169 standen werden, die eine in sich mehr oder minder homogene Ästhetik aufweist und – ebenfalls analog zu Schriftarten – teils frei verwendbar, teils lizenzrechtlich geschützt ist. Durch diese Doppelkodierung scheinen sich tatsächlich viele bildtheoretische Prämissen in interessanter Weise zu verkehren: Lange Ekphrasis-Debatten und bildsemiotische Diskussionen haben sich an der Frage entzündet, ob Bilder sich analog zu (einer großen Zahl an) Sätzen, Prädikaten oder Informationen auffassen lassen oder ob ein jedes Bild im 18 Prinzip „unübersetzbar“ sei. Für Piktogramme gilt dies freilich bereits nicht mehr, sind sie doch gerade auf Wiederholbarkeit ausgelegt. Bei Emoji tritt nun sogar eine besondere Transkription vom Text zum Bild deutlich hervor: Die eigentliche „Identität“ eines Zeichens besteht in einer Unicode-Nummer und dem beschreibenden CLDR-Namen, etwa: „Burrito“ für U+1F32F; dieser Text erst wird von verschiedenen Plattformen und Betriebssystemen „piktorial übersetzt“ oder besser: interpretiert. Bethany Berard argumentiert daher zutreffend, der Name kodiere damit auf technologischer Ebene „a 19 dominant or traditional reading and an implied correct usage“. Die Glyphen, die wir sehen, stellen somit eine einzelsprachenunabhängige Transkription von Begriffen dar, die in verschiedenen piktorialen Varianten ausgegeben werden kann. Die bildliche Darstellung wird also so weit typifiziert, dass sie nicht nur wiederholbar, sondern eben auch variierbar erscheint, ohne ihre kommunikative Identität einzubüßen. Man beachte, dass mit alledem noch keinerlei Festlegung darüber verbunden ist, wofür die jeweilige Glyphe verwendet oder wie sie eingesetzt wird: Wichtig wäre in dieser Hinsicht nur, dass wir Typen von Inskriptionen unterscheiden und Wahrnehmungsunterschiede auf Darstellungsunterschiede verrechnen. Für Piktogrammsysteme ist dies viel diskutiert: Zahllose unterschiedliche Varianten eines Piktogramms können eine vollständig äquivalente Funktion übernehmen. Jeder Typ eines Piktogramms bildet sozusagen eine Insel 18

Vgl. etwa Mersch, Dieter: „Plastizität. Zur Frage der Übersetzung im Visuellen“, in: Claudia Benthien/Gabriele Klein (Hg.): Übersetzen und Rahmen. Praktiken

medialer Transformationen, Paderborn: Wilhelm Fink 2017, S. 39–58. 19 B. Berard: „I Second that Emoji“, n. pag.

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Abb. 1: „Partying face“ (U+1F973), „man bowing“ (U+1F647) und „robot“ (U+1F916) in den Glyphen von Free IOS Emoji, Twemoji und OpenMoji

Abb. 2: Das international gebräuchliche Notausgangs-Zeichen, entworfen von Yukio Ōta

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seiner eigenen Klasse. Dies entsprach auch explizit Kuritas Ab21 sicht: „I was working with the sense of creating a new alphabet“ – ein Alphabet, das aber aus Bild-Glyphen besteht. Zusammenfassend vertreten wohl die meisten Emoji-Forscher*innen die Ansicht, dass das Revolutionäre an Emoji keineswegs in den Glyphen selbst (ihrer Gestaltung oder Bedeutung) liegt, sondern an den Prozessen ihrer technologischen Standardisie22 rung! Hier nun wäre nicht nur der internationale Durchbruch des Piktogramms, sondern auch ein möglicher Begriffskern des Piktogrammatischen zu verorten! Obgleich keine einheitliche, plattformübergreifende Ästhetik für Emoji existiert, gibt es aber dennoch einige Gemeinsamkeiten und Tendenzen: In allen Ausgabeformaten handelt es sich um stark stilisierte Bilder, nahe an Sketchen oder Cartoons. Gerade in diesem letzten Aspekt lassen sich aber auch Unterschiede zu typischen piktogrammatischen Darstellungen ausmachen. Die meisten Emoji-Fonts sind schließlich keinesfalls an größtmöglicher Neutralität interessiert, sondern enthalten zahlreiche affektive Elemente, die auf Emotionen schließen lassen und den Eindruck von „Niedlichkeit“ hervorrufen sollen. Bereits Kurita hatte sich nach eigenen Aussagen nicht nur an den Tokyo Olympia 1964-Piktogrammen von Masaru Katzumie und Yoshiro Yamashita 23 orientiert, sondern auch an japanischen Manga (Comics); dies betrifft nicht nur die Übernahme von sogenannten keiyu, den Comicund Manga-typischen „Emanata“ (etwa Schweißtropfen, suiteki, als 24 Zeichen für Nervosität). In den meisten Emoji-Fonts besteht auch ein deutlicher Bezug zur sog. „kawaii“-Ästhetik niedlicher, runder, 25 affektiv aufgeladener Formen. Der klassische, piktografische „Helvetica-Mann“, den wir etwa von Ōtas international etabliertem Notausgangs-Schild kennen, besitzt im auffälligen Kontrast dazu keinerlei Gesichtszüge, keine Mimik, kein dargestelltes Innenleben 20 Vgl. Schirra, Jörg R. J.: Foundation of Computational Visualistics, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2005, S. 97. 21 Zit. nach I. Moschini: „The ‚Face with Tears of Joy’ Emoji“, S. 14. 22 Vgl. J. Abel: „Not Everyone [pile-of-poo]s“. 23 Vgl. Ōta, Yukio 太田幸夫: Pikutoguramu (emoji) dezain. Pictogram Design, Tokyo: Kashiwa Shobō 1987.

24 Vgl. Wallestad, Thomas J.: „Developing the Visual Language for Comics“, in: Expressive Culture 7 (2013), S. 3–13. 25 Vgl. Kinsella, Sharon: „Cuties in Japan“, in: Lise Skov/Brian Moeran (Hg.), Women, Media and Consumption in Japan, Rich- mond: Curzon Press 1995, S. 220–254.

172 26

(Abb. 2). Vor allem die „core emoji“, also die aus Smileys weiterent27 wickelte Gruppe (zunächst) gelber Gesichter, dienen primär der Darstellung von Emotionen und Affekten. Hier befinden wir uns allerdings bereits bei Fragen der Emoji-Semantik, die eine eingehendere Beschäftigung verdienen.

Piktogrammatische Semantiken Ein anderer Piktogrammbegriff könnte sich auf Seite des Dargestellten konzentrieren. Tatsächlich tun dies die meisten semiotischen und analytisch-philosophischen Bestimmungen von 28 Piktogrammen; mitunter wird die zuvor diskutierte Ebene der piktorialen Darstellung sogar als irrelevant für die Bestimmung des Piktogrammatischen erklärt. Was also wird dabei unter einer piktogrammatischen Semantik verstanden? Dass wir in der Lage sind, abgebildete Gegenstände „in“ einem Bild zu sehen – das Überschreiten der ikonischen Kategorisierungsschwelle –, setzen wir hier erneut bereits voraus. Stattdessen wäre nun aber zu fragen, ob es eine geregelte Verwendung gibt, in welcher das entsprechende Bildsymbol zu einer bestimmten kommunikativen Bezugnahme eingesetzt wird, die sich von „regulären“ Bildern (was auch immer darunter im Einzelnen verstanden wird) merklich unterscheidet. Søren Kjørup spricht in seinem Übersichtsartikel zur Semiotik des Piktogramms etwa davon, dass Piktogramme diskrete „Sprechakte“ und eine jeweils bestimmte „illokutionäre Kraft“ (illo29 cutionary force) übermitteln: Warnen, Auffordern, Verbieten usw. Nach Oliver R. Scholz besitzt eine solche Kraft zumeist auch „eine lokale Deixis. Ihre Bedeutung würde man natürlicherweise wieder26 Vgl. Challand, Skylard: „The Helvetica Man“, in: idsgn – A Design Blog. http:// idsgn.org/posts/the-helvetica-man vom 01.09.2009. 27 Vgl. M. Danesi: The Semiotics of Emoji, S. 42. 28 Vgl. neben Scholz, Oliver R.: Bild, Dar- stellung, Zeichen, S. 131–133, etwa Kjørup, Søren: „Pictograms“, in: Roland

29

Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebo- ek (Hg.): Semiotik. Semiotics. Ein Hand- buch zu den zeichentheoretischen Grund- lagen von Natur und Kultur. A Handbook on the Sign. Bd. 4, Berlin: de Gruyter 2004, S. 3504–3510. Ebd., S. 3507.

173 geben als ‚Hier ist...‘, ‚In unmittelbarer Nähe befindet sich...‘, ‚In die30 ser Richtung gelangt man zu...‘“. Innerhalb komplexerer Infografiken repräsentiert jedes Bildsymbol meistens ein abstraktes topic oder eine Gegenstandsklasse. Kjørup unterscheidet daher Kompaktsymbole mit feststehender Aussage – „Piktogramme“ – von einzelnen Bildsymbolen innerhalb kombinatorischer Darstellungssysteme: „Piktographen“. Termino31 logisch mag diese Differenzierung nicht ganz glücklich sein; sie ist aber auch nicht wichtig, um die Gemeinsamkeit beider Bereiche festzuhalten: Wer ein piktoriales Zeichen piktogrammatisch (oder auch „piktografisch“) auffasst, der versteht es in jedem Fall nicht als Bild eines dargestellten Einzelgegenstands, sondern als Zeichen für eine Klasse von Gegenständen: „The picture of a man on a restroom sign 32 does not refer to any particular man but to all men“. Krampen hat darauf hingewiesen, dass mit einem Piktogramm zumeist eine geschlossene Bedeutung verbunden sei. Sie könne nicht mehr weiter 33 in semantische Bestandteile zerlegt werden. Die konstitutiven Züge eines Piktogramms kommen zusammen, um, mit Oliver 34 R. Scholz gesprochen, ein klassifizierendes label zu bilden. Dies bedeutet zugleich, dass die Bildlichkeit eines Piktogramms zumeist nur in einer Eigenschaft (oder in der gemeinsamen Summe aller ihrer Eigenschaften) relevant ist, nämlich sich „restlos in Etiketten wie ‚Herrentoilette‘ oder in Handlungsanweisungen wie ‚Drucken‘ 35 übersetzen zu lassen“. Wichtig ist, dass diese Frage nun wiederum völlig unabhängig vom Aussehen und der Gestaltung des so verwendeten Bildes ist, wie das Beispiel der Toilettenkennzeichnungen bereits gezeigt hat. Auch wenn wir dort Fotos von bekannten Schauspieler*innen vor30 O. R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen, S. 159. 31 Ōta kritisiert die Missverständlichkeit bereits im Englischen: „What is written is -gram, while the tool or machine used for writing (or for transmitting records) is -graph, so it is better to use the term pictograms.“ (Y. Ōta: Pikutoguramu (emoji) dezain, S. 20). 32 McDonell, Neil: „Are Pictures Unavoid ably Specific?“, in: Synthese 57.1 (1983), S. 83–98, hier S. 85.

33 Vgl. Krampen, Martin: „Geschichte und Struktur von Piktogrammsystemen“, in: Hartmut Espe/Martin Adam (Hg.): Visu- elle Kommunikation. Empirische Analy- sen, Hildesheim: Olms 1986, S. 102–118, hier S. 109. 34 Vgl. O. R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen, S. 132. 35 Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem 2003, S. 198.

174 finden (wie es häufig in Gaststätten der Fall ist), bedeutet dies eben nicht, dass nur langhaarige Rockträger*innen zu der einen Toilette zugelassen werden, kurzhaarige Personen mit Hosen zu der anderen – und sicher nicht nur Personen, deren Nase den jeweiligen Stars ähnelt. Alle wahrnehmbaren Merkmale des Bildes wirken auch hier nur kollektiv als Klassifikator (label) für „Frauen“ und „Männer“. Die Auswahl der zur Verfügung stehenden sprachlichen label steht aber nicht durch den wahrnehmbaren Gegenstandstyp fest – sie bleibt notwendig kontingent. Bereits Nelson Goodman stellte treffend fest, „the object before me is a man, a swarm of atoms, a 36 complex of cells, a fiddler, a friend, a fool, and much more“. Jede Klassifizierung, jeder Schluss von dem, was wir im Bild sehen, zu dem label, auf das damit Bezug genommen werden soll, muss daher zu einem erheblichen Grad konventionell gestützt und „verregelt“ sein, möchte man Eindeutigkeit gewährleisten. Bei Verkehrszeichen und vielen anderen „offiziellen“ Piktogrammsystemen ist diese Relation daher auch festgeschrieben, etwa durch die 1948 gegründete International Organization for Standardization (ISO). Verfügt man über kein solches Handbuch, ist häufig ein 37 Schluss auf linguistische Basisebenen am effizientesten. Je weiter sich Rezipierende von diesen entfernen (statt „Apfel“ also „Obst“, oder noch allgemeiner: „Speisen“), desto ideogrammatischer (statt 38 piktogrammatischer) wird das Zeichen verwendet. Die in vielen Zügen und Bahnen angebrachten Verbotstafeln des Verzehrs von Speisen und Getränken zeigen nur exemplarische Nahrungsmittel, die jedoch ideogrammatisch auch für andere Objektklassen der gleichen, abstrakteren Kategorie stehen: etwa „Lebensmittel“ (Abb. 3). Das Piktogrammatische Verkehrsschild „Essen und Trinken verboten“ (DIN EN ISO 7010-P022) bezieht sich nicht auf bestimmte Lebensmittel bzw. Getränke, nicht einmal auf verschiedene Sorten, sondern auf die begriffliche Überkategorie generell. 36 Goodman, Nelson: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, London: Oxford University Press 1969, S. 5. 37 Vgl. L. R. A. Wilde: Im Reich der Figuren, S. 125–137.

38 Vgl. J. Elkins: The Domain of Images, S. 130–132 sowie Bergerhausen, Johan nes/Helmig, Ilka (Hg.): picto-, ideo, Düren, Freiburg: Leopold-Hoesch-Museum Düren und Museum für Neue Kunst Freiburg 2020.

175

Emoji und Piktogrammatik #2: Semantiken Was bedeutet all dies nun für die Semantik von Emoji? Zunächst scheinen Emoji-Glyphen geradezu auf piktogrammatische Kommunikation zugeschnitten zu sein. Dies liegt insbesondere an einer speziellen Innovation Kuritas, welche seine ursprünglichen Emoji deutlich von ihren „technologischen Ahnen“ differenziert, in deren Genealogie sie eigentlich gesehen werden müssen: Emoticons (bzw. ihre japanischen Varianten, kaomoji). Die Transformation des bekannten Smiley-Symbols in ein digitales Piktogramm geht zunächst auf Scott E. Fahlman zurück, der :-) und :-( zuerst 1982 in einem digitalen Diskussionsforum der Carnegie Mellon University 39 verwendete. Gemein ist diesen technohistorischen Vorläufern des Emoji nicht nur, dass sie nicht auf vorgefertigte Pixelgrafiken angewiesen sind (sondern sich im Prinzip beliebig ausbauen lassen), sondern auch, dass sie sich zu allermeist auf Gesichter und Figuren beschränken, die überwiegend in phatischer oder emotiver Funk40 tion eingesetzt werden. Bereits die Funktion der ersten Emoticons lässt sich dadurch beschreiben, als Humorindikatoren zu fungieren. Mit den emotiven Funktionen moderner Emoji meint man allgemeiner die Markierung von emotionalen Untertönen, einer Perspektive oder Bewertung, die weit über Humor hinausgehen kann (etwa der Kennzeichnung von Verärgerung). Die phatischen Funktionen meinen ein Herstellen, Markieren oder Modifizieren von sozialen Beziehungen, wie es etwa ein Gruß oder eine Verabschiedung tut. Kris M. Markman und Sae Oshima sowie Eli Dresner und Susan C. Herring haben diese und andere Emoji-Funktionen als Modifikation der „illokutionären Kraft“ einer verbalen Aussage untersucht 39 Vgl. Krohn, Franklin: „A Generational Approach to Using Emoticons as Non Verbal Communication“, in: Journal of Technical Writing and Communication 43 (2004), S. 321–328.

40 Vgl. Katsuno, Hirofumi/Yano, Christine R. : „Face to Face. On-Line Subjectivity in Contemporary Japan“, in: Asian Studies Review 26.2 (2002), S. 205–233.

176 41

(wie warnen, auffordern, behaupten usw.). Auch die meistgebräuchliche Emoji-Gruppe der gelben (oder anders getönten) Gesichter (die core emoji) wird überwiegend in derlei Verwendungen eingesetzt. Sie erfüllen, zahlreichen linguistischen Untersuchungen zufolge, seltener referenzielle Funktionen, sondern modulieren die Schrifttexte, bieten einen Ersatz für fehlende prosodische oder 42 körperliche Ausdrucksmöglichkeiten, leisten „emotional labour“. Dass Emoji in der Tradition der Piktogrammatik diskutiert werden, verdanken sie daher umso stärker einer zweiten Gruppe, die Kurita neben allerlei Smiley-Gesichtern erstmals ebenfalls in das Repertoire an Emoji aufgenommen hatte und die auch im Unicode-Zeichensatz ständig erweitert werden: Bildsymbole für Objekte und allerlei andere konkrete Referenten. Als die US-amerikanische Library of Congress offiziell Fred Benensons Emoji-Übersetzung von Melvilles Moby Dick erwarb, sahen Forscher*innen wie Ilaria Moschini darin einen Indikator, dass „emojis can be used, like pic43 tograms, to vehicle ideas not only emotions“. Erst Emoji für Objektklassen scheinen dem Piktogrammatischen daher prototypisch zu entsprechen. Auch da die Identität eines Emoji ohnehin in keiner bestimmten bildlichen Realisierung – sondern einer funktionalen Beschreibung aus Hex-Kode und CLDR-Name – besteht, entsprechen Emoji bereits auf dieser Ebene linguistischer labels: „Burrito“. Diese Kodierung enthält – dies erscheint mir entscheidend – aber keinerlei Anweisungen über die Verwendung der Zeichen und damit auch keine Fixierung einer Semantik, die über eine Abstraktion der primären Bildinhalte auf linguistische Basisebenen hin hinausreicht. Anders als in Piktografiesystemen, für die eine kombinatorische Syntax konstitutiv ist, und anders als pikto41

Markman, Kris M./Oshima, Sae: „Prag- matic Play? Some Possible Functions of English Emoticons and Japanese Kaomoji in Computer-Mediated Discourse“, Konferenzbeitrag auf der Internet Researchers Annual Conference I. R. 8.0, Vancouver, 17.–20. Oktober 2007. https: //osf.io/preprints/socarxiv/qa764; Dresner, Eli/Herring, Susan C.: „Functions of the Non-verbal in CMC. Emoticons and Illo- cutionary Force“, in: Communication Theory 20 (2010), S. 249–268.

42 Vgl. Stark, Luke/Crawford, Kate: „The Conservatism of Emoji. Work, Affect, and Communication“, in: Social Media + Society 1.2 (2015), S. 1–11 sowie Fanasca, Marta: „‚Impact taisetsu da!’. The Use of Emoji and Kaomoji in Dansō Escort Blogs Between Gender Expression and Emotional Labor“, in: E. Giannoulis/ L. R. A. Wilde, Emoticons, Kaomoji, and Emoji, S. 85–103. 43 I. Moschini: „The ‚Face with Tears of Joy’ Emoji“, S. 12.

177 grammatische Kompaktzeichen (wie Verkehrsschilder), die nur in Zusammenhang mit einer kodierten Illokution und einer lokalen Deixis verwendbar sind, existieren für Emoji gerade keine allgemein gültigen, allgemein akzeptierten oder allgemein verständlichen Verwendungsregeln. Sie bleiben den einzelnen Anwender*innen überantwortet. Danesi argumentiert daher dafür, dass es eben keine Syntax (oder mit Saussure: keine langue) für Emoji gäbe, sondern dass ihr Gebrauch einer episodischen und tatsächlich narrativen Logik (in der parole) entspreche: „it involves the ability to unders44 tand visual sequences, as in a comic book“. Die labels, die eine Emoji-Glyphe dabei referenzialisieren kann, sind zudem keineswegs eindeutig. Bei der „Transkription“ in Verbalsprache fällt auf, dass bereits die damit substituierte Wortart stark kontextabhängig ist (dasselbe Emoji kann analog zu einem Substantiv, einem Adjektiv oder einem Verb eingesetzt werden). Auch auf Ebene höherstufiger Abstraktionen kommt es immer wieder zu den interessantesten 45 Missverständnissen; eben auch, da diese zumeist impliziter und kulturabhängig sind. Ein ideogrammatischer Gebrauch ist ebenso üblich, obgleich der Begriff hier etwas zu eng erscheint. Dass das Emoji für die japanische Flagge (U+1F1EF) wohl selten für eine konkrete Fahne und auch nur in wenigen Fällen für den Gegenstandstyp „Japan-Flagge“ herangezogen werden dürfte – sondern für das Land „Japan“ bzw. eine vage Vorstellung von „Japanischkeit“ –, scheint deutlich. Danesi hat viele dieser Fälle unter dem Überbegriff der „kulturellen Kodierungen“ (cultural codings) untersucht, die häufig keineswegs sta46 bil und eindeutig verständlich sind. Die von Vyvyan Evans gewählte Bezeichnung eines (sich ständig wandelnden) „Emoji-Kodes“ – in Kontrast zu einer „Emoji-Sprache“ – meint daher, dass diese jeweilige Kodierung sich stets nur relativ zu bestimmten Kulturkreisen bzw. sozial, geschlechts- oder altersmäßig differenzierten Gruppen bestimmen lässt. 44 Danesi, Marcel: „Emojis. Langue or Pa role?“, in: Chinese Semiotic Studies 15.2 (2019), S. 243–258, hier S. 248. 45 Vgl. Siever, Christina M.: „‚Iconographetic Communication’ in Digital Media. Emoji

in WhatsApp, Twitter, Instagram, Face book – From a Linguistic Perspective“, in: E. Giannoulis/ L. R. A. Wilde, Emoti cons, Kaomoji, and Emoji, S. 127–147. 46 M. Danesi: The Semiotics of Emoji, S. 32.

178 Bei all diesen Mehrdeutigkeiten scheinen Emoji damit semantisch gerade keinen Piktogrammen zu entsprechen – und weit weg von Otto Neuraths Ideal einer rationalen visuellen Sprache zu stehen: „simple to teach and to learn, and at the same time comprehensive 47 and exact“. Emoji, so wieder mit Danesi, „were designed artificially as a universal langue, but they have ended up being interpretive 48 codes that vary according to users of specific languages“. Die bislang noch wenig untersuchten Prinzipien von Danesis episodischen bzw. narrativen Gebrauchsmustern zielen in eine andere Richtung: „It is not syntax or morphology that guide the distribu49 tion of the emojis in a text, but narrative structure“. Sobald ein Zeichen narrativ eingesetzt wird, behaupten die Verwender*innen die (fiktive oder nicht-fiktive) Existenz eines Einzelgegenstandes in einer möglichen Welt. Wir befinden uns nicht mehr auf Ebene der Begriffe oder labels, sondern der Ebene von (dar50 gestellten) Einzelgegenständen. Erneut tritt hier also der Mangaund Comic-Zusammenhang hervor. Die Emoji-Ästhetik scheint – in den allermeisten grafischen Realisierungen – besonders darauf ausgelegt, individuelle (fiktive oder nicht-fiktive) Szenen und Protagonist*innen zu erzeugen. Danesi spricht entsprechend von einem „shift away from a linear mode of processing information“, hin zu 51 einem „imaginative mode“. Hier wäre insbesondere auf die core emoji zurück zu kommen, deren mimische Affekte auf ein intentionales und emotionales Innenleben – eben auf Figuren – schließen lassen (Abb. 4). Und gerade dies geht dem „Helvetica-Mann“ ab, dessen Semantik im unmarked case auf Ebene eines linguistischen Klassifikators (eben: „eine Person“) verankert bleibt. Die core emoji hingegen leiden, lachen und schwitzen, sie laden zu emotionaler Anteilnahme ein. 47 Neurath, Otto: Empiricism and Sociology. With a Selection of Biographical and Autobiographical Sketches, hg. v. Marie Neurath/Robert S. Cohen, Dordrecht: Springer 1973 [1924], S. 224. 48 M. Danesi: „Langue or Parole?“, S. 251. 49 Ebd., S. 255; zum narrativen Gebrauch von emoji vgl. auch Kavanagh, Barry: „A Cultural Exploration of the Use of Kaomoji, Emoji, and Kigō in Japanese Blog-Post Narratives“, in: E. Giannoulis/ L. R. A . Wilde:

Emoticons, Kaomoji, and Emoji, S. 148–167. 50 Vgl. ausführlicher Wilde, Lukas R. A.: „Vom Bild zur Diegese und zurück. Bild theoretische Rahmenüberlegungen zum narrativen Verstehen“, in: Andreas Veits/ Lukas R. A. Wilde/Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Einzelbild & Narrativität. Theorien, Zugänge, offene Fragen, Köln: Herbert von Halem 2020, S. 88–123. 51 M. Danesi: „Langue or Parole?”, S. 243.

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Abb. 3: Das Piktogrammatische Verkehrsschild „Essen und Trinken verboten“ (DIN EN ISO 7010-P022)

Abb. 4: Ob sie lieben (U+1F60D), leiden (U+1F62B) oder in Mark und Bein erschrecken (U+1F631): Die Kern-Emoji regen dazu an, individuelle Figuren in affektiven Situationen zu imaginieren (Free IOS Emoji-Glyphen)

Abb. 5: Telegram- Stickersets zu „crying face” (U+1F622), „fearful face” (U+1F628) und „face blowing a kiss” (U+1F618) als weitergehende Transkriptionen distinkter Emoji-Semantiken

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Zusammenfassungen und Ausblicke Das Einzige, was die gelbgesichtigen core emoji noch mit klassischen Piktogrammbegriffen verbindet, ist ihre technologische Standardisierung als wiederholbare und variierbare Bildinskriptionen. In dieser Hinsicht jedoch scheint das Piktogrammatische auf eine Weise durchzuschlagen, die über die piktoriale Transkription linguistischer labels sogar noch weit hinausgeht, denn: Für viele der emotionalen Nuancen, die wir mit den core emoji ausdrücken können, verfügen wir über gar keine begrifflichen Unterscheidungen. Sie bieten damit ein Repertoire an Emotionen, die wir sprachlich gar nicht so genau differenzieren können. Dennoch scheinen Emoji hier ein distinkt gegliedertes Repertoire an technologisch mediierten Emotionen herauszubilden, was sich insbesondere an ihrer neuesten technischen Weiterentwicklung beobachten lässt: an digitalen Sticker, wie sie verschiedene Messenger anbieten. Die Sticker des Messengers Telegram könnten etwa als weiterführende Transkriptionen der core emoji oder, salopp gesprochen, als „Emoji zweiter Ordnung“ angesehen werden (Abb. 5). Anstelle der bestehenden Glyphen lassen sich hierbei hochauflösende und zunehmend auch animierte Grafiken einfügen, die ebenfalls in Sets hoch- und heruntergeladen werden können. Ein Set besteht dabei beispielsweise aus den Superheld*innen des Marvel-Universums, ein zweites aus den Protagonist*innen der französischen BlacksadComicserie, ein drittes aus cartoonisierten Darstellungen von William Shakespeare. Erneut müssen jedoch alle bildlichen Darstellungen mit einem bestimmten Unicode-Emoji verbunden werden, so dass Nutzer*innen mittels eines Services namens „Sticker Bot“ eine prinzipiell unbegrenzte Menge aus individuellen Variationen jeder Emoji-Glyphe auswählen können. Hier noch von verschiedenen „Schreibweisen“ bzw. „Schrifttypen“ der gleichen Bildinskription zu sprechen, wäre eine einigermaßen unintuitive Überdehnung des Piktogrammbegriffs, schließlich steht bei Stickern gerade die individuelle Gestaltung im Vordergrund. Stattdessen könnte man womöglich eher davon sprechen, dass ein Repertoire an mimisch-gestischen Ausdrucksweisen selbst „piktogrammatisiert“, also in

181 distinkte, wiederholbare Posen überführt wird. Da die Forschung zu Stickern, ihren Verwendungsweisen und Semantiken bislang aber noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckt, sind diese Überlegungen allenfalls als Ausblicke und Anschlussfragen zu verstehen. Emoji sind in mancherlei Hinsicht grundlegend piktogrammatisch aufgebaut; auf Ebene ihrer Darstellung betrifft dies besonders ihre Wiederholbarkeit durch eine technologische Doppelkodierung zwischen Unicode und Glyphe; auf Ebene des Dargestellten wäre hierbei besonders die Absage an individuelle Referenzobjekte zu verstehen, insofern sie bei ihrer Implementierung zunächst generellen Termen – labels bzw. Klassifikatoren – entsprechen. Bereits auf Ebene der Gestaltung bedienen die meisten Glyphen jedoch zugleich ein gegensätzliches Register. Die cartoonhafte Manga-Ästhetik dient vor allem der Darstellung von Affekten und Emotionen, was sich besonders zur szenischen Konkretion eignet und dem rationalen Ethos einer „Begriffsschrift mit Bildern“ diametral entgegenläuft. So überrascht es auch nicht, dass ihr konkreter Gebrauch zumeist narrativ motiviert ist, wo sie zum Darstellen von konkreten (fiktiven oder nicht-fiktiven) Situationen und Szenen eingesetzt werden. In piktogrammatischer Hinsicht ist dabei nicht nur interessant, dass Emoji analog zu linguistischen Begriffen eingesetzt werden (können) und dabei mitunter auch Sprachgrenzen überwinden – und somit zwischen Einzelsprachen vermitteln –, sondern dass sie umgekehrt gerade dort ein distinktes Repertoire, ein System, herausbilden, wo unsere sprachlichen Unterscheidungen gar nicht fein genug sind: in bildlich dargestellten Affekten und Emotionen, die textliche Äußerungen zumeist zwar nicht ersetzen, wohl aber nuanciert erweitern können.

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Joosten Mueller

Zur piktogrammatischen Darstellung eines Virus Zwischen wissen­ schaftshistorischer Spurensuche und modellexperimenteller Wissensgenerierung „Traditionally, symmetry has been something people have found aesthetically appealing, whether it is seen in a diamond, a flower or the face of a supermodel. But symmetry isn’t always so desirable. Some of the most deadly viruses on the biological books, from influenza to herpes, from polio to the AIDS virus, 1 are constructed using the shape of an icosahedron.“ 2

Das Ikosaeder ist das in der Virologie mit Abstand am häufigsten verwendete Ikon zur Darstellung eines Virus. Dies knüpft an eine lange Darstellungstradition an: Viren, deren Hüllen der ikosaedrischen Symmetrie folgen, als ikosaedrische Körper darzustellen, ist ein Standard fachwissenschaftlicher Wissensvermittlung und Wissenskommunikation. In dem vorangestellten Zitat wird das Virus auf zwei Arten mit dem Ikosaeder in Zusammenhang gebracht: Symmetrie (symmetry) und Silhouette (shape). Es mag zunächst offensichtlich erscheinen, dass ein „ikosaedrisches Virus“ neben 1 Sautoy, Marcus du: Number Mysteries, London: Fourth Estate 2011, S. 69. 2 Dies gilt für die biologische wie auch



medizinische Virologie. Die Recherchen dieses Beitrags widmen sich vor allem der biologischen Virologie.

187

188 ikosaedrischer Symmetrie auch in Form und Silhouette dem Ikosaeder gleicht, die Legitimation des Zusammenhangs zwischen ikosaedrischer Symmetrie und Silhouette war jedoch für Jahrzehnte eine Herausforderung für die mikrobiologische Forschung. Dieser Beitrag widmet sich der historischen Spurensuche dieses Denkens, stellt die Anfänge der modernen Virusforschung der 1950er und frühen 1960er Jahre, welche ein grundlegendes Verständnis über die Struktur ikosaedrischer Viren hervorbrachte, dar und verknüpft dieses Verständnis mit Theorien und Visualisierungsverfahren der aktuellen virologischen Forschung. In diesem Kontext wird unter anderem die Frage verfolgt, inwieweit ikosaedrische Virushüllen tatsächlich mit dem Ikosaeder, abgesehen von seinen Symmetrieverhältnissen, verwandt sind. Gibt es direkte Hinweise auf eine tatsächliche Ähnlichkeit in Form und Silhouette? Was liegt der Vorstellung vom Ikosaeder als Piktogramm des Viruspartikels zugrunde? Und was rechtfertigt bei der Vielzahl existierender Virusfamilien einen einzelnen geometrischen Körper als Repräsentanten? Ergänzt wird die Spurensuche durch einen Modellversuch. Dieser knüpft an historische Versuchsreihen an, um unter Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse möglichst zu erweiterten, neuen Antworten und Zusammenhängen zwischen ikosaedrischer Symmetrie und Silhouette zur Legitimation des Ikosaeders als Viruspiktogramm zu gelangen.

Bildbesprechung Die folgende Ausführung widmet sich dem Beispiel einer typischen Illustration, in der ein Viruspartikel in Form eines Ikosaeders dar3 gestellt wird. Die Illustration wurde einem virologischen Lehrbuch entnommen. Im Mittelpunkt der schematischen Darstellung in Abbildung 1 steht ein Rechteck mit abgerundeten Ecken, das von vier fingerförmigen, leicht nach rechts geneigten Ausstülpungen auf der Oberseite geprägt ist. Das eierschalenfarbige Objekt wird von 3 Lostroh, Phoebe: Molecular and Cellular Biology of Viruses, London: Taylor & Francis 2019, S. 57.

189 einer einzigen, kraftvoll bestimmten Linie umrissen. Diese schafft eine klare Trennung zwischen Innen- und Außenraum. Innerhalb des durch die Trennlinie begrenzten Raumes ist eine Ellipse zu erkennen. Der geringfügig heller gefärbte Körper schwebt leicht versetzt zum Zentrum der umgebenden Struktur und ist durch keine klare Linie begrenzt. Er ist von einem schemenhaften Umriss umgeben, welcher den Eindruck von diffuser Dreidimensionalität erweckt. Abb. 1: Beispiel einer schematischen Darstellung eines Virus als Ikosaeder in der virologischen Lehrliteratur

Abb. 2: Infektiöses Viruspartikel in behüllter (A) und unbehüllter Form (B)

190 In auffallendem Kontrast zu den organischen, weichen Formen und Farben des zentralen Objektes stehen vier kleinere geometrische Körper am oberen rechten Rand des Bildes. Bei den kugeligen Körpern handelt es sich um Ikosaeder. Sie sind in einem satten Orange eingefärbt und in unterschiedliche Richtungen ausgerichtet. Das erste Ikosaeder ist am oberen Ende einer der fingerförmigen Ausstülpungen verortet, die anderen reihen sich entlang der Außenlinie des rechteckigen Körpers bis etwa zur Hälfte des Objektes auf. Ergänzt werden diese durch drei Pfeile, die anscheinend einen Prozess oder eine Bewegung andeuten. Das vierte und unterste Ikosaeder unterscheidet sich von den anderen, da es mit einem seiner Eckpunkte auf einer kleinen, ypsilonförmigen Struktur andockt. Dieses Ypsilon weist einen entscheidenden Unterschied zu allen anderen Elementen innerhalb der schematischen Zeichnung auf: Es durchbricht die Grenze zwischen rechteckigem Objekt (Innenraum) und der Umgebung, in der sich die Ikosaeder befinden (Außenraum). Das Element durchdringt nicht nur die Linie des Rechtecks, es dringt auch vollständig in den Innenraum ein – es ist sowohl im Innen- wie auch im Außenraum präsent und stellt somit eine direkte Verbindung zwischen diesen her. Zieht man an diesem Punkt die Bildunterschrift hinzu, erschließt sich auch für den fachfremden Betrachter, welche Szenerie die beschriebene Darstellung illustrieren möchte: „Some viruses browse on the surface of host cells before the irreversible binding step of attachment. The virus browses along the surface of the epithelia cell until it encounters its receptor, where it binds with high 4 avidity.” Das rechteckige Objekt wird hier offensichtlich als Repräsentant einer tierischen Zelle, genauer einer Epithelzelle, verwendet. Im Inneren lässt sich der Zellkern vermuten. Bei den fingerförmigen Ausstülpungen handelt es sich um Mikrovilli, wie sie bei einigen Arten von zylinderförmigen Epithelzellen (Zylinderepithel) vorkommen. Zylinderepithelzellen kleiden beispielsweise die Darmschleimhaut von Tieren und Menschen aus und sind dort am Stoffaustausch beteiligt. Die orangefarbenen Ikosaeder stellen ein 4 P. Lostroh: Molecular and Cellular Biology of Viruses, S. 57.

191 Viruspartikel dar, welches seinen Weg über die Zelloberfläche zu einem Rezeptor sucht. Mit diesem strebt es eine irreversible Bindung an. Die Bindung (und damit die Durchbrechung zwischen Innen- und Außenraum) wird auch als der Anfang des Vermehrungszyklus des Virus angesehen. Durch das Eindringen kann das Virus die vorhandenen Zellorganellen zur eigenen Vermehrung nutzen. Der Prozess endet oft mit der Zerstörung der Wirtszelle beim Verlassen der neu replizierten Viren. Auffällig an dieser schematischen Darstellung ist nicht die Illustrierung des Beginns des Lytischen Zyklus, auch nicht die Visualisierung der Epithelzelle, sondern die Darstellung des Viruspartikels als Ikosaeder. Die hier vorgestellte Illustration stellt nur ein Beispiel für die in den Naturwissenschaften tradierte Darstellungsform von Viruspartikeln als Ikosaedern dar. Diese Art der Visualisierung ist in nahezu allen Lehrbüchern und Atlanten der Mikrobiologie und Virologie (nicht nur innerhalb der Biologie, sondern auch in den Medizinwissenschaften) verbreitet. Vor allem finden Ikosaeder (seltener auch eine vereinfachte Variante in Form eines Sechsecks, die die Silhouette eines Ikosaeders andeuteten soll) piktogrammartig Anwendung in Graphiken, welche vorrangig versuchen, innerzelluläre Prozesse abzubilden (wie im Beispiel von Abb. 1 Prozesse, die wichtig für die virale Replikation sind).

Hintergrund 1: Virushüllen Unbehüllte Viren bestehen lediglich aus einer Proteinhülle samt innenliegendem Genom (Abb. 2 B), behüllte Viren dagegen verfügen über eine zusätzliche Hülle aus Lipiden und Glykoproteinen 5 (Abb. 2 A). Die Form des Ikosaeders bezieht sich vor allem auf das Kapsid von unbehüllten Viren. Das Kapsid ist eine Proteinhülle, die das Virusgenom (Erbinformation in RNA- oder DNA-Form) umschließt; sie schützt dieses und ist gleichzeitig ein intrazelluläres 6 Transport- und Kommunikationsmittel. Darüber hinaus können 5 Vgl. Madeley, C. R./Field, Anne M.: Virus Morphology, New York: Churchill Living- stone 1988, S. 9.

6 Vgl. Cann, Alan J.: Principles of Molecular Virology, Oxford: Academic Press 2012, S. 25–27.

192 Viruskapside auf verschiedene Arten aufgebaut sein: nach helikaler Symmetrie (helikale Viren), nach ikosaedrischer Symmetrie (sphärische oder ikosaedrische Viren) oder auch als komplexe Viren (z. B. 7 Pockenvirus, Filovirus).

Historische Spurensuche Die Erforschung von Viren sah sich von Beginn an mit einem großen Problem konfrontiert: Offensichtlich existierten neben Bakterien noch kleinere, „lebendige“ Formen, die Tiere und Pflanzen erkranken lassen – diesen ließen sich jedoch nicht sichtbar machen. War es bereits mit frühen Mikroskopen möglich, Einzeller und Bakterien sichtbar zu machen, so gab es lange Zeit eine Barriere, Einblicke in noch kleinteiligere Bereiche der Mikrobiologie zu erlangen. Es sollte bis 1935 dauern, als es Wendell Stanley gelang, Viren in kristalliner Form zu konservieren und diese somit für die Kristallstruk8 turanalyse nutzbar (und damit erstmals auch sichtbar) zu machen. Einhergehend mit dieser Technik und unterstützt durch die in den 1940er-Jahren entwickelte Elektronenmikroskopie erlebte die strukturvirologische Forschung einen gewaltigen Aufschwung. Es war erstmals möglich, ganze Viruspartikel sichtbar und damit für eine 9 Strukturforschung zugänglich zu machen. Im Folgenden werden ausgewählte relevante Protagonisten sowie Teile ihrer Arbeit vorgestellt, die sich zu Beginn der modernen Virusforschung mit ikosaedrischen Viruskapsiden auseinandergesetzt haben. Von der ersten Sichtbarmachung eines Viruspartikels bis zu ersten Theorien über den strukturellen Aufbau sollten einige Jahre vergehen. Erste Hypothesen lieferten zwei Pioniere auf dem Gebiet der Strukturbiologie: der britische Physiker und Biochemiker Francis Crick und der amerikanische Molekularbiologe James Watson. Ihr größter Erfolg war die gemeinsame Entschlüsselung der DNA7 8

Vgl. ebd. Vgl. Morgan, Gregory J.: „Early Theo- ries of Virus Structure“, in: Conformatio- nal Proteomics of Macromolecular Architecture, Singapore: World Scientific Publishing Company 2004, S. 3.

9

Vgl. Morgan, Gregory J.: „Early Theories of Virus Structure“, in: Conformational Proteomics of Macromolecular Architec- ture, Singapore: World Scientific Publi- shing Company 2004, S. 3.

193 Struktur, deren Entdeckung in dem Artikel „Molecular Structure of Nucleic Acids“ in der Zeitschrift Nature im Jahre 1953 veröffentlicht 10 wurde. Im darauffolgenden Jahr stellten sie gemeinsam die Hypothese auf, dass sowohl sphärische wie auch helikale Viren aus einer Vielzahl von identischen (kopierten) Untereinheiten (Subunits) bestehen und eine kubische Symmetrie – genau genommen eine iko11 saedrische Symmetrie – aufweisen. Dabei stützten sie ihre Arbeit fast ausschließlich auf Erkenntnisse, die sie durch Kristallstrukturanalysen gewonnen hatten. Sie veröffentlichten ihre These jedoch nicht umgehend, sondern erst nach einer Überarbeitung im Jahr 1956. Der Grund hierfür war, dass es ihnen bis dahin nicht möglich war, Beweise für ihre Vermutung vorzulegen. Dies änderte sich im Jahr 1955, als es dem Biophysiker Donald Caspar gelang, die ikosaedrische, fünfzählige Drehachsensymmetrie anhand von Kristallen 12 des Tomato-Bushy-Stunt-Virus nachzuweisen. Das Manuskript von Crick und Watson erschien anschließend unter dem Titel „Structure of Small Viruses“ in der Märzausgabe des Nature Jour13 nals. Die 5-fach-Rotationssymmetrie, die Donald Caspar bei sphärischen Viruskapsiden nachgewiesen hatte, ließ den Schluss zu, dass eine strukturelle Ableitung nur aus zwei platonischen Körpern möglich ist: dem Dodekaeder und dem Ikosaeder. Beide Körper weisen sowohl eine 2-fach, 3-fach und 5-fach Symmetrie auf. Bei der Vorstellung ihrer Theorie gingen Watson und Crick auch direkt auf mögliche Fehlinterpretationen ein: Die vorgestellten Symmetrien müssen nicht zwangsläufig die tatsächliche Form eines Viruspartikels widerspiegeln. Vielmehr handelt es sich um eine Darstellung von Symmetrieeigenschaften, projiziert auf einen definierten geometrischen Körper mit symmetrisch übereinstimmendem Aufbau. Sie stellten elektronenmikroskopische Bilder von Viren vor, welche das Aussehen eines Polyeders aufwiesen oder Silhouetten zeigten, 14 die denen von Maulbeeren ähneln. Viren sind entsprechend viel10 11

Vgl. Watson, James D./Crick, Francis H. C.: „Molecular Structure of Nucleic Acids: A Structure of Deoxyribose Nucleic Acid“, Nature 171 (1953), S. 737–738. Vgl. Watson, James D./Crick, Francis H. C.: „Structure of Small Viruses“, in:

12 13 14

Nature Journal, Vol. 177 (1956), S. 473. Vgl. G. J. Morgan: „Early Theories of Virus Structure“, S. 31. Siehe J. D. Watson/F. H. C. Crick: „Struc- ture of Small Viruses“, S. 473–475. Siehe ebd., S. 474.

194 seitig und können in unterschiedlichsten Formen vorkommen, was eine klare Trennung von Symmetrie und Form notwendig macht.

Hintergrund 2: Ikosaedrische Symmetrie Das Ikosaeder selbst (von griechisch eikosáedron für Zwanzigflächer) ist ein konvexer Körper aus der Reihe der platonischen Körper. Jedes Ikosaeder besitzt 12 Ecken, 30 Kanten und 20 Flächen. Die für den Aufbau ikosaedrischer Viren relevante Symmetrie ist die Drehsymmetrie des Ikosaeders (2-, 3- und 5-fache Rotationssymmetrie). Bei der 2-fachen Symmetrie denke man sich an jener Stelle, die mit einem schwarzen Punkt markiert ist (Abb. 3 a, Kanten), eine Drehachse durch den Körper hindurch. Anhand dieser Drehachse kann der Körper um 180° gedreht werden – und liegt anschließend in der neuen Position 2 genauso wie vorher in Position 1. Bei der 3-fachen Symmetrie (Abb. 3 b, Flächen) kann der Körper dreimalig um 120° gedreht werden, um jedes Mal in selbiger Draufsicht vorzuliegen. Ebenso verhält es sich mit der 5-fachen Symmetrie (Abb. 3 c, Ecken), bei welcher nach jeder erneuten 72°-Drehung des Körpers dieselbe Symmetrie zu erkennen ist. Aufbauend auf den theoretischen Annahmen von Francis Crick und James Watson sowie eigenen Experimenten mit der Kristallstrukturanalyse stellte Donald Caspar im Jahr 1956 eine Hypothese vor: Er teilte den Standpunkt Cricks und Watsons, dass ein Virus aus einer Vielzahl identischer Subunits besteht, wobei sich 15 jede einzelne Subunit äquivalent zu jeder anderen verhält. Er vertrat jedoch (anders als Crick und Watson) die These, dass es eine festgelegte Anzahl an äquivalenten Subunits geben müsse: Er ging davon aus, dass 60  Subunits vorhanden sein müssen, um die 16 ikosaedrische Struktur zu bilden. Entsprechend würde jede der 20 Dreiecksflächen eines Ikosaeders in drei Subunits unterteilt (Abb. 4). 15 Vgl. G. J. Morgan: „Early Theories of Virus Structure“, S. 15–16.

16 Vgl. ebd.

195

Abb. 3: Ikosaedrische Drehsymmetrie

Abb. 4: Ikosaeder (mit jeweils 3 Subunits pro Dreiecksfläche; entsprechend 60 Subunits gesamt)

Hier wird deutlich, wie geometrische Vorstellungen und deren Symmetrien erstmals theoretisch auf Viruskapside übertragen wurden bzw. wie der Aufbau von Viruskapsiden auf geometrische Körper übertragen wurde. Anhand eines geometrischen Modells (in diesem Fall des geometrischen Körpers des Ikosaeders) wurde versucht, den Aufbau einer Virusstruktur abzuleiten. Gleichzeitig wurde mit den geometrischen Strukturen selbst nach alternativen Virusstrukturen gesucht. Es stellte sich Anfang der 1960er Jahre durch neuartige, höherauflösende elektronenmikroskopische Bilder heraus, dass die morphologischen Einheiten auf der Oberfläche ikosaedrischer Viren niemals genau 60 Stück (oder ein Vielfaches von 60) betragen, sondern dass deren Zahl in den meisten Fällen 17 sehr viel größer ist. 17 Caspar, Donald L. D./Klug, Aaron: „Physi- cal Principles in the Construction of Regular Viruses“, In: Cold Spring Harbor



Symposia on Quantitative Biology, Vol. 27 (1962), S. 9.

196 Donald Caspar und Aaron Klug konnten mit ihrer Arbeit Physical Principles in the Construction of Regular Viruses, die sie 1962 vorstellten, grundlegende Theorien für ein weitreichendes Verständnis von Struktur und Aufbau ikosaedrischer Viren schaffen. Diese Theorien sollten nicht nur die Forschung der kommenden Jahrzehnte prägen, sondern konnten zum Teil bis heute ihre Relevanz bewahren. Durch die Forschungsergebnisse Watsons, Cricks, Caspars und Klugs konnten erste Fragen zum Aufbau sphärischer Viren beantwortet und in einen Zusammenhang mit den Symmetrien des Ikosaeders gebracht werden. Darüber hinaus wurde erkannt, dass identisches Symmetrieverhalten nicht unbedingt auf über­einstimmende Form und Silhouette der Virushülle schließen lässt. Dies ließ sich anhand einer Vielzahl unterschiedlich anmutender Silhouetten in Elektronenraster-Mikroskop-Aufnahmen nachweisen. Ein weiterer bedeutender Wissenschaftler, der sich zeitgleich zu Caspar und Klug, allerdings mit grundsätzlich anderer Methodik, der Struktur sphärischer Viren annäherte, war Paul Kaesberg. Nach der Veröffentlichung zur 5-fachen Symmetrie sphärischer 18 Viren veröffentlichte Kaesberg im selben Jahr einen Artikel zum 19 Thema Structure of Small Spherical Viruses . Im Gegensatz zu Donald Caspar, der seine Erkenntnisse in erster Linie mithilfe von Kristallstrukturanalysen erlangte, forschte Kaesberg vorrangig mit Hilfe der Elektronenmikroskopie. Ausgangspunkt seiner Schlüsse zur Struktur sphärischer Viren waren Beobachtungen an einer Reihe verschiedener Viruspartikel mit gering-komplexer Struktur, die unter dem Elektronenmikroskop eine sechseckige Kontur aufzuweisen schienen. Kaesberg beobachtete, dass einige der von ihm untersuchten sphärischen Viren (darunter vor allem Mosaik-Pflanzenviren) einen Schatten erzeugten, der durch mehrere gerade Kanten begrenzt wurde (Abb. 5, links). Zur Untersuchung präparierte Paul Kaesberg gefriergetrocknete, gereinigte Hüllen verschiedener Viren wie dem Gelbe-RübenMosaikvirus und erzeugte unter Zuhilfenahme von Uranium den Effekt von Schattenwürfen, die unter dem Elektronenmikroskop 18 Siehe Caspar, Donald L. D.: „Structure of Bushy Stunt Virus“, in: Nature 177 (1956), S. 475–476.

19 Kaesberg, Paul: „Structure of Small ‚Spherical‘ Viruses“, in: Science Vol. 124 (1956), S. 626–628.

197 sichtbar wurden (Abb. 5, links). Die Beobachtungen aus diesem Experiment zeigten deutlich, dass der Schlagschatten der einzelnen Viruspartikel aus vier bis fünf geraden Kanten zusammengesetzt war (Abb. 5, links), was Kaesberg zusammen mit den Ergebnissen aus Kristallstrukturanalysen zu der Annahme führte, dass sämtliche kleinen, sphärischen Viren unter bestimmten Umständen 20 eine symmetrische Polyederform besitzen. Zur näheren Bestimmung, um welche Art von Polyeder es sich handeln könnte, begann er mit Polyeder-Papiermodellen zu experimentieren. Durch diesen experimentellen Modellprozess konnten im ersten Schritt Tetraeder, Oktaeder und Hexaeder als mögliche Körper ausgeschlossen werden, da diese bei Draufsicht nicht mit den zu erkennenden hexagonalen Strukturen der elektronenmikroskopischen Aufnahmen übereinstimmten. Im zweiten Schritt seines Modellprozesses untersuchte Kaesberg die beiden übrig gebliebenen Polyeder Ikosaeder und Dodekaeder. Er experimentierte mit den Papier-Polyedern und erzeugte mit einer Lichtquelle Schattenwürfe von diesen. Sein Ziel war es, eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen elektronenmikroskopischer Aufnahme und dem Modellschattenwurf zu erhalten (Siehe Abb. 5, rechts). Aus seinen Ergebnissen schloss er, dass der oft in mikroskopischen Aufnahmen zu erkennende spitze Schatten nur schwerlich mit einem Dodekaeder nachzubilden war. Allein das Ikosaeder eignete sich, dieses Schattenbild exakt nachzustellen. Die Ergebnisse veranlassten ihn zu der Annahme, dass die vier Virusarten, die er als Grundlage für seine Experimente genutzt hatte, möglicherweise alle die 21 Form symmetrischer Ikosaeder aufwiesen. In seinem Artikel stellt er nicht nur seine Modellexperimente theoretisch vor, er präsentiert auch die durch Elektronenmikroskopie erzeugten Bilder sowie die fotografisch festgehaltenen Schattenexperimente mit dem Ikosaeder-Papiermodell nebeneinander (siehe Abb. 5). Zwei Jahre später führten Robley C. Williams und Kenneth M. Smith mit dem sphärischen Tipula iridescent virus ähnliche Schattenwurf-Experimente 22 durch. Das Tipula iridescent virus besteht aus einer sehr großen 20 Vgl. ebd., S. 627.

21 Vgl. ebd.

198 Abb. 5: Elektronenmikroskop-Aufnahmen gefriergetrockneter Kapside des GelbeRüben-Mosaikvirus mit durch Uranium erzeugten Schattenwürfen (links) und Ikosaedermodelle (rechts), welche die Schattenwürfe der Virenkapside (links) nachstellen

Abb. 7: Gefriergetrocknete Partikel des Tipula iridescent virus mit Doppelschattenwurf

Abb. 6: Ikosaeder Papiermodell mit Doppelschattenwurf

199 Zahl einzelner Subunits, die eine sehr viel komplexere ikosaedrische Struktur bilden als jene Viren, mit denen Kaesberg arbeitete. Williams und Smith bot die geringe Auflösung von Kaesbergs Aufnahmen zu viel Interpretationsspielraum. Sie erhofften sich durch die Nutzung eines sehr viel größeren Viruspartikels eine bessere 23 Auflösung ihrer Schattenwürfe. Neben einer höheren Auflösung gingen Williams und Smith noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur einen Schatten, sondern zwei Schatten desselben Viruspartikels zur gleichen Zeit erzeugten (Abb. 6). Hierfür wurden die Lichtquellen in einem Winkel von 60° aufgestellt, wodurch gleichzeitig zwei unterschiedliche Ansichten des Partikels durch den Schatten sichtbar wurden. Durch diesen Kunstgriff bei den elektronenmikroskopischen Aufnahmen (wie auch bei den Papiermodellexperimenten) wurde das erzeugte Schattenbild noch spezifischer. Die Vergleichbarkeit zwischen Virusaufnahme und Modellaufnahme wurde deutlich gesteigert (Abb. 7). Williams und Smith kamen mit ihren verfeinerten Methoden zum selben Schluss wie Kaesberg: Die Ähnlichkeiten zwischen mikroskopischen Virusaufnahmen und fotografischen Modellaufnahmen liegen so nah beieinander, dass davon ausgegangen werden kann, dass die untersuchten sphärischen Viren tatsäch24 lich eine ikosaedrische Form aufweisen. Durch mikroskopische sowie modellorientierte Experimente konnte belegt werden, dass Silhouetten und Schattenwürfe konkrete Hinweise auf eine ikosaedrische Form von einzelnen Virusarten liefern. Von Interesse scheint hier insbesondere der Umgang mit Modellexperimenten, die nicht nur zur internen Validierung von labortechnischen Aufnahmen genutzt wurden, sondern zur Stützung der These Eingang in die finalen wissenschaftlichen Publikationen erlangten. 22 Siehe Williams, Robley C./Smith, Kenneth M.: „The Polyhedral Form of the Tipula Iridescent Virus“, in: Biochi- mica et biophysica acta, 28(3) (1958), S. 464–469.

23 Vgl. ebd., S. 465. 24 Vgl. ebd., S. 465–468.

200

Hintergrund 3: Viruskapsidklassen Virushüllen an sich bestehen wie bereits erläutert aus einer Vielzahl identischer Bausteine, den Subunits. Die Subunits fügen sich zu größeren Strukturen zusammen, diese wiederum fügen sich zu einer geschlossenen Hülle zusammen. Der komplexe Zusammenschluss der vielen asymmetrischen Einzelbausteine kann in seiner Gänze auf verschiedene Deltaeder mit ikosaedrischer Symmetrie (sogenannte Ikosadeltaeder) projiziert werden. In Caspars und Klugs 25 Publikation des Jahres 1962 wurde ein Triangulationssystem vorgestellt, das einen Zusammenhang zwischen Ikosaeder und Virushülle mit ikosaedrischer Symmetrie herstellt. Das Ikosaeder an sich besteht aus 20 Dreiecksflächen. Um die Komplexität einer Virushülle zu beschreiben, wird die Triangulationszahl T verwendet. Durch Multiplikation der T-Zahl mit der Anzahl der ikosaedrischen Dreiecksflächen lässt sich die Anzahl der Elemente, aus denen der jeweilige Deltaeder zusammengesetzt ist (und auf den die Virusstruktur 26 projiziert wird), berechnen. Ein Deltaeder mit ikosaedrischer Symmetrie setzt sich aus 12 pentagonalen Elementen zusammen, den für das Ikosaeder typischen „Dreiecksspitzen“ oder „Pyramiden“. Diese bestehen aus jeweils 5 gleichseitigen Dreiecken (Abb. 8). Um einer ikosaedrischen Symmetrie zu folgen, darf ein Deltaeder weder aus mehr noch aus weniger als 12 pentagonalen Elementen bestehen. Ist ein Ikosadeltaeder komplexer, so entstehen durch das Aneinanderlagern der Dreiecksflächen zwischen den pentagonalen Elementen auch hexagonale Flächen, so genannte hexagonale Kapsomere (Abb. 9). Je größer bzw. komplexer ein die Virushülle repräsentierender Körper ist, desto größer ist die Anzahl der hexagonal angeordneten Dreiecksflächen, aus denen er zusammengesetzt ist. Die gleichbleibende Anzahl der 12 pentagonalen Pyramiden sorgt in erster Linie für die Fähigkeit, eine geschlossene Hülle zu bilden. 25 Siehe D. L. D. Caspar/A. Klug: „Physical Principles in the Construction of Regular Viruses“, S. 1–24.   

26 Vgl. ebd., S. 13.

201 Abb. 8: Pentagonales Element, zusammengesetzt aus fünf gleichseitigen Dreiecksflächen

Abb. 9 Hexagonales Element, das innerhalb drei auf einandertreffender pentagonaler Elemente entsteht und aus sechs gleichseitigen Dreiecksflächen besteht

Abb. 10: Ikosadeltaeder: Vergleich verschiedener Kapsidklassen

Abb. 11: Viruskapsidklassen

202 Caspar und Klug stellten mithilfe einer Reihe fotografierter, aus Papier gebauter Ikosadeltaeder-Modelle dar, wie unterschiedlich komplexe Viruskapside geometrisch rekonstruiert werden können (Abb. 10). Hierbei zeigte sich, dass drei Grundarten von Ikosadeltaedern auftreten. Diese werden von Mannige und Brooks auch als „the 27 three virus capsid classes“ bezeichnet (Abb. 11). Die Papiermodelle a und b (Abb. 10 und Abb. 11 (T = 4)) entsprechen der ersten Klasse, es handelt sich um Ikosaeder (icosahedron). Die Modelle e bis einschließlich h (Abb. 10 mit Abb. 11 T = 7 und T = 19) entsprechen Klasse 2 (hoch facettierte (highly faceted) Viruskapsiden). Die Polyeder der zweiten Klasse weisen Krümmungen auf und 28 existieren deshalb in rechts- und in linksdrehender Form. Polyedermodell c und d sind Beispiele für die dritte Kapsidklasse und stellen die sogenannten Pentakisdodekaeder (pentakisdodecahedron) dar (Abb. 10 mit Abb. 11 T = 3 und T = 12). Bei den Repräsentanten der dritten Klasse handelt es sich sowohl bei den Papiermodellen (Abb. 10) als auch bei den schematischen Zeichnungen (Abb. 11) um sogenannte nicht-konvexe Pentakisdodekaeder. An dieser Stelle soll lediglich angemerkt werden, dass es zwei Arten von Pentakisdodekaedern gibt: Das konvexe Pentakisdodekaeder unterscheidet sich vom nicht-konvexen Pentakisdodekaeder unter anderem dadurch, dass es aus gleichschenkligen, aber nicht gleichseitigen Dreiecken aufgebaut ist. Bei Betrachtung der von Kaesberg mittels elektronenmikroskopischer Schattenwürfe und mittels Modellschattenwürfen untersuchten Viruskapside (Gelbe-Rüben-Mosaikvirus, Squash-Mosaikvirus, Gurkenmosaikvirus, Trespenmosaikvirus) fällt auf, dass es sich ausschließlich um solche (T = 3 oder Pseudo-T = 3) mit geringer Komplexität handelt (Abb. 12). Interessant erscheint hier die Tatsache, dass alle vier Viruskapside zur dritten Kapsidklasse gehören. Bei dem von Williams und Smith untersuchten Partikel (Tipula iridescent virus) handelt es sich um ein sehr viel komplexeres (und entsprechend auch größeres) Virus. Wenn allerdings mithilfe der 27

Mannige, Ranjan V./Brooks, Charles L., 3rd: „Periodic Table of Virus Capsids: Implications for natural selection and design“, in: PloS one, 5(3) (2010), S. 1–7.

28 Vgl. D. L. D. Caspar/A. Klug: „Physical Principles in the Construction of Regular Viruses“, S. 13.

203 29

„Periodic Table of Virus Capsids“ nach Mannige und Brooks die Kapsidklasse für das Tipula iridescent virus festgestellt wird, so gehört auch dieses (T = 147) zur Kapsidklasse 3 (Abb. 13). Demnach wurden von Kaesberg, Williams wie auch von Smith ausschließlich Schattenwürfe von Viruskapsiden der dritten Klasse untersucht. Zum Vergleich zogen alle Wissenschaftler die Schattenwürfe eines Ikosaeder-Papiermodells heran, das jedoch zur ersten Kapsidklasse zu zählen ist. Es wurden keine Virushüllen der ersten oder zweiten Kapsidklasse untersucht, ebenso wenig wie Modelle der zweiten oder dritten Klasse für Schattenwurfexperimente verwendet wur30 den. In beiden Quellen gibt es keinen Hinweis darauf, dass noch weitere geometrische Modelle als Vergleichsobjekt für die Schattenbilder verwendet wurden. Virus

Virusfamilie

T-Zahl

Viruskapsid

Ver­ such

Vergleichsmodell

Gelbe-RübenMosaikvirus

Tymoviridae

T=3

Klasse 3

KB

Klasse 1

Squash-Mosaikvirus

Secoviridae

PseudoT=3

Klasse 3

KB

Klasse 1

Gurkenmosaikvirus

Bromoviridae

T=3

Klasse 3

KB

Klasse 1

Trespenmosaikvirus

Bromoviridae

T=3

Klasse 3

KB

Klasse 1

Tipula Iridescent Virus

Tridoviridae

T=147

Klasse 3

W/S

Klasse 1

Abb. 12: Vergleich der von Kaesberg (KB) und Williams/Smith (W/S) untersuchten Viren

Auch wenn die Schattenwurfexperimente Kaesbergs, Williams’ und Smiths vor diesem Hintergrund unvollständig erscheinen, so erlangten die Wissenschaftler doch erste wertvolle Erkenntnisse nicht nur über Virusstrukturen, sondern auch über deren Beschaffenheit 29 30

Vgl. R. V. Mannige/C. L. Brooks III: Perio- dic Table of Virus Capsids: Implications for natural selection and design, S. 1–7. Siehe R. C. Williams/K. M. Smith: „The



Polyhedral Form of the Tipula Iridescent Virus“, S. 464–469 und P. Kaesberg: „Structure of Small ‚Spherical‘ Viruses“, S. 626–628.

204 und Silhouette. Bereits Kaesberg beschreibt, dass es nicht möglich ist, mit allen gefriergetrockneten Kapsiden ähnlich komplexer Vi31 ren einen ikosaedrischen Schattenwurf zu erzeugen. Ein Beispiel, das er diesbezüglich benennt, ist das Poliovirus (Familie Picornaviridae, Pseudo-T = 3).

Aktuelle Kapsid-Rekonstruktionen Heutzutage ist es durch Datenbanken wie die RCSB-Proteindaten32 bank möglich, auf genaue, dreidimensionale Rekonstruktionen von Kapsidstrukturen (berechnet aus Kristallographie-Daten) zuzugreifen (Abb. 14–16). Doch auch diese hochauflösenden räumlichen Daten können nach rein optischen Parametern kein eindeutiges Verständnis erzeugen, ob verschiedene ikosaedrische Kapside von ihrer Silhouette her eher einer Sphäre oder einem Ikosaeder zuzuordnen sind. Werden das rekonstruierte Kapsid eines Trespenmosaikvirus (Abb. 14), eines Gelbe-Rüben-Mosaikvirus (Abb. 15) und das eines Poliovirus (Abb. 16) miteinander verglichen, spiegeln diese die große Variationsvielfalt von ikosaedrischen Kapsiden bei gleicher Komplexität (T = 3) wider. Es treten Varianten von Kapsiden auf, die eher sphärisch anmuten (Poliovirus), bei anderen ist ein hexagonaler Umriss auszumachen (Trespenmosaikvirus). Lediglich das Kapsid des Gelbe-Rüben-Mosaikvirus ähnelt durch seine sehr markanten, pentagonalen Pyramiden optisch der Form eines Ikosaeders. Aufgrund des in einschlägigen Datenbanken vorliegenden Formenreichtums ikosaedrischer Viruskapside derselben Kapsidklasse kann die Frage nach der tatsächlich vorliegenden Form oder Silhouette nicht ohne weiteres aus der Symmetrie abgeleitet werden. 31 Siehe P. Kaesberg: „Structure of Small ‚Spherical‘ Viruses“, S. 626–628.

32 RCSB Protein Data Bank, http://www. rcsb.org/ vom 20.03.2020.

205

Modellexperiment Im folgend dargestellten Modellexperiment sollen anhand des Ver33 suchsaufbaus der Experimente von Kaesberg sowie von Williams 34 und Smith Doppelschattenwürfe von verschiedenen geometrischen Körpern erzeugt, die fotografisch dokumentierten Ergebnisse mit den Ergebnissen der Original-Versuchsreihen verglichen und die Schlüsse Kaesbergs, Williams und Smiths durch neue Erkenntnisse über die Schattenwürfe unterschiedlicher Kapsidklassen validiert werden. Für den Doppelschattenwurf wurden zwei verschiedene Lichtquellen (einfache Lampen) benutzt, die in einem Winkel von 60° zueinander montiert wurden. Im ersten Teil des Experiments wurde der Doppelschattenwurf eines Ikosaeder-Papiermodells erzeugt (Abb. 17). Hierbei waren zwei verschiedene, sich leicht überlappende Schatten, die aus fünf geraden Kanten (oberer Schatten) und vier geraden Kanten (unterer Schatten) bestehen, festzustellen. Der obere Schatten endet spatenförmig, nahezu im 90°-Winkel abgeflacht, während der untere Schatten eine Spitze bildet. Die Charakteristika der entstandenen Schatten decken sich mit den Modellaufnahmen von Kaesberg (Abb. 5) sowie Williams und Smith (Abb. 6). 35 Kaesbergs Überlegungen , ob sphärische Kapside die Form eines Ikosaeders oder eines Dodekaeders bilden, schlossen das Dodekaeder aus, da es seinen Experimenten zufolge kaum möglich war, den für das Ikosaeder charakteristischen spitzen Schatten zu erzeugen. Innerhalb des von ihm 1956 publizierten Textes ist kein Schattenwurf eines Dodekaeders abgebildet. Im zweiten Schritt des Experiments wurde deshalb ein Doppelschatten für das Papiermodell eines Dodekaeders erzeugt. Um eine größere Vergleichbarkeit zu erreichen, wurde auch bei dieser Aufnahme (Abb. 18) das Prinzip des Doppelschattenwurfes nach Williams und Smith gewählt. Das Ergebnis zeigt zwei nahezu identische Schatten, die sich ähnlich wie schon der Schatten des 33 Vgl. ebd., S. 626–628. 34 Vgl. R. C. Williams/K. M. Smith: „The Polyhedral Form of the Tipula Iridescent Virus“, S. 464–469.

35 Vgl. P. Kaesberg: „Structure of Small ‚Spherical‘ Viruses“, S. 626–628.

206

Abb. 13: Periodensystem ikosaedrischer Viren

Abb. 14: Trespenmosaikvirus

Abb. 17: Ikosaeder, Papiermodell Doppelschatten

Abb. 15 Gelbe-RübenMosaikvirus

Abb. 16 Menschliches Poliovirus

Abb. 18: Dodekaeder, Papiermodell Doppelschatten

207 Ikosaeders leicht überlappen. Zudem ist zu erkennen, dass eine „Doppelung“ des an der Spitze abgeflachten Schattens, bestehend aus fünf Kanten, vorliegt. Wie wahrscheinlich von Kaesberg an einem einfachen Schattenwurf nachvollzogen, ist auch in einem Doppelschattenwurf kein spitz zulaufender Schatten (wie der eines Ikosaeders) zu erkennen. Da in den vorgestellten mikroskopischen Experimenten ausschließlich Viruskapside der dritten Klasse berücksichtigt und diese ausschließlich mit den Schattenwürfen von Modellen der ersten Klasse verglichen wurden, widmet sich der dritte Teil dieser Versuchsreihe dem Modell eines nicht-konvexen Pentakisdodekaeders (T = 3) als Repräsentant der dritten Viruskapsidklasse. Bei dem in Abbildung 19 zu erkennenden Doppelschatten eines nicht-konvexen Pentakisdodekaeders sind im Vergleich mit dem Schattenwurf des Ikosaeders aus Abbildung 16 in den Grundzügen große Ähnlichkeiten zu erkennen. Insbesondere der für das Ikosaeder charakteristische, spitz zulaufende Schatten ist nahezu identisch. Beim oberen, spatenförmigen Schatten sind leichte Deformationen an drei Kanten zu erkennen. Diese Kanten sind nicht gerade, sondern leicht konkav nach innen geneigt. Die beiden Kanten, die die Spitze des unteren Schattens bilden, besitzen ebenfalls eine leicht konkave Neigung. Wenn die Eckpunkte beider Abbildungen verglichen werden, so scheinen sie in ihrer Anordnung und Position identisch. Obwohl Kaesberg, Williams und Smith ihre elektronenmikroskopisch aufgenommenen Schatten von Viruskapsiden der dritten Klasse mit dem Modell eines Ikosaeders (also dem Kapsid der ersten Klasse) verglichen haben, scheint dies keine Auswirkungen auf die Korrektheit ihrer Schlussfolgerungen zu haben. Die beiden Schatten (Abb. 17, 19) sind hinsichtlich ihrer Silhouette zwar nicht vollkommen identisch, jedoch deckungsgleich in ihren Eckpunkten. Dieses Modellexperiment kann daher die Richtigkeit der Schlüsse der oben genannten Autoren stützen. Als vierter Teil der Versuchsreihe wurde der Doppelschattenwurf eines Ikosadeltaeder-Modells, das Virenkapside der zweiten Klasse darstellt, erzeugt. In der Aufnahme (Abb. 20) ist das Papier-

208 modell eines Ikosadeltaeders (T = 7) mit Doppelschattenwurf zu sehen. Im Vergleich mit Abbildung 17 und 19 fällt auf, dass sich auch diese Schatten stark ähneln. In Abb. 20 ist eine leicht deformierte Variation des stumpfen oberen Schattens zu erkennen; das stumpfe Ende erzeugt einen Knick, der fast einen weiteren Eckpunkt definiert. Die Spitze des unteren Schattens unterscheidet sich deutlich von denen bei Ikosaeder und Dodekaeder, da die beiden Kanten, die die Spitze bilden, weder gerade (wie in Abb. 17) noch konkav (wie in Abb. 18) geformt sind. Vielmehr stülpen sie sich leicht konvex nach außen. Bei einem Vergleich von Abbildung 17 mit Abbildung 20 wird deutlich, dass auch hier die Eckpunkte des spitzen unteren Schattens nahezu identisch positioniert sind. Der fünfte und letzte Teil der Versuchsreihe untersucht einen konvexen Pentakisdodekaeder und dokumentiert dessen Doppelschattenwurf (Abb. 21). Der konvexe Pentakisdodekaeder wird häufig in virologischer Lehrliteratur verwendet, um die ikosaedrischen T = 3-Virusstrukturen zu projizieren. Die Korrektheit solcher Projektionen ist anzuzweifeln. Eine Erklärung, warum dieser Körper weniger gut zur Repräsentation ikosaedrischer Viruskapside geeignet ist, wurde bereits anhand vergleichender Geometrie sowie der Herleitung einer geometrischen Verwandtschaft zwischen dem Ikosaeder und dem konvexen sowie dem nicht-konvexen Pentakisdode36 kaeder entwickelt und validiert. Weder der obere noch der untere Schatten des konvexen Pentakisdodekaeders wies eine signifikante Ähnlichkeit zu einem der Schatten aus Abb. 17 oder 19 auf. Beide Schatten ähneln Ellipsen, der obere Schatten weist ein leicht stumpfes Ende auf, ebenso wie der untere Schatten eine flache Spitze formt. Allerdings weicht die Form dieser Spitzen weit von den zum Vergleich stehenden Schatten ab. Die Kanten sind gerade, beide Schatten haben sieben deutlich erkennbare Eckpunkte. Weder Anzahl noch Positionierung der Eckpunkte deckt sich mit einem der vorangegangenen Schattenwürfe. 36 Siehe Mueller, Joosten: Picornaviridae – Zum Gestalten von Modell- und Visua- lisierungskonzepten in der Virologie,

Berlin: Humboldt Universität zu Berlin 2019, S. 63–64 und S. 74–75.

209 Abb. 19: Nicht-konvexer Pentakisdodekaeder, Papiermodell Doppelschatten

Abb. 20: Ikosadeltaeder, Papiermodell Doppelschatten

Abb. 21: Konvexer Pentakisdodekaeder, Papiermodell Doppelschatten

210 Der direkte Vergleich von Schattenwürfen des konvexen und nichtkonvexen Pentakisdodekaeders mit den Schatten des Ikosaeders gibt einen weiteren Anhaltspunkt dafür, dass allein das nicht-konvexe Pentakisdodekaeder zur Projektion von T = 3-Virusstrukturen wie auch zur Repräsentation von Kapsiden der Klasse 3 geeignet ist. Innerhalb des Modellexperimentes wurden verschiedene Doppelschatten erzeugt und miteinander verglichen. Ausgangspunkt und Vergleichsgrundlage bildete der Schatten eines Ikosaeders. Anhand eines Doppelschattenwurfes des Dodekaeders konnte die Argumentation Kaesbergs bestätigt werden, welcher sich gegen das Dodeka37 eder als Ursprungsform sphärischer Viren aussprach . Vor allem durch den direkten Vergleich von Ikosaeder als Repräsentant der Kapsidklasse  1 (Abb. 17) und nicht-konvexem Pentakisdodekaeder als Repräsentant der Klasse 3 (Abb. 20) konnten die Schlüsse von Kaesberg, Williams und Smith validiert werden. Mit Abbildung 18 (Ikosadeltaeder, T = 7) konnte erstmals anhand eines Modells ein Schattenwurf für die Kapsidklasse 2 dokumentiert werden. Ließen sich beim Ikosaeder gerade Kanten, beim nicht-konvexen Pentakisdodekaeder leicht konkave und beim Ikosadeltaeder leicht konvexe Kanten feststellen, so wurde deutlich, dass trotz dieser leichten Variationen in der Schattenform alle drei Körper über weitestgehend 38 identisch positionierte Eckpunkte verfügen. Im Rahmen der Betrachtung der Eckpunkte konnte das konvexe Pentakisdodekaeder als nicht geeignet für die Projektion von Form und Struktur ikosaedrischer Viren eingestuft werden. Weder Form noch Verhältnis zwischen Kanten und Eckpunkten wiesen Parallelen zu einem der anderen Modelle auf. 37 Siehe P. Kaesberg: „Structure of Small‚ Spherical‘ Viruses“, S. 626–628. 38 Durch die manuelle Positionierung der Objekte sowie etwaige Größenunter schiede der Modelle können bei diesen Experimenten Ungenauigkeiten auf treten. Von Hand geschnittene, gefalzte und zusammengeklebte Modelle können mit dem bloßen Auge nicht erkennbare Deformationen aufweisen. Diese können



jedoch Einfluss auf die Ausprägung der Schattenwürfe haben. Es erscheint sinnvoll, die Versuchsreihe innerhalb einer größer angelegten Aufnahmenreihe mit mehreren Modellen gleichen Typs durchzuführen. So könnten gegebenenfalls vor- handene Ungenauigkeiten innerhalb der Modelle erkannt und Fehlinterpreta- tionen vermieden werden.

211

Schlussbemerkungen Dass sich das Ikosaeder als Piktogramm in der Bildsprache der virologischen Lehre und Forschung etabliert hat, scheint sehr praktische, gar pragmatische Gründe zu haben. Es müssen keine spe­ zifischen, graphisch aufwendigen Illustrationen in Schemata eingebunden werden, dies erleichtert die institutsinterne Dokumentations- und Graphik-Erstellung. Das Ikosaeder hebt sich von der ansonsten im biologischen Kontext für schematische Schaubilder und -tafeln verwendeten Formensprache deutlich ab: Hier werden vor allem Kreise, Punkte, Ellipsen oder freie organischen Formen für die Bildkomposition ebenso wie für die Darstellung einer Vielzahl mikrobiologischer Komponenten verwendet. Das Ikosaeder wird hingegen ausschließlich als Ikon für ikosaedrische Viren genutzt. In diesem Beitrag wurde die wissenschaftliche Legitimation für die Eignung des Ikosaeders als Virus-Piktogramm durchgeführt. Es wurden unterschiedliche Ansätze, die sich der Verwandtschaft zwischen sphärischen Viren und dem Ikosaeder widmen, zusammengeführt. Dabei konnte die historische Entdeckung der ikosaedrischen Symmetrie als strukturelle Grundlage von Viruskapsiden nachvollzogen werden. Modellbasierte Schattenwurfexperimente wurden mit aktuellen Forschungsergebnissen zu ikosaedrischen Kapsiden in Verbindung gebracht. Durch eigene Mo­ dellexperimente wurden mikrobiologische Thesen validiert und neue Erkenntnisse über die Schattenbildung unterschiedlicher Kapsidklassen gewonnen. Die Kritik an einer fehlenden Allgemeingültigkeit des Ikosaeders als Piktogramm für alle (unbehüllten) ikosaedrischen Viren ist nicht von der Hand zu weisen. Die Schattenwürfe der untersuchten Klasse 3-Viruskapside erzeugen einen ikosaedrischen Schatten. Auch bei strukturellen Rekonstruktionen ausgewählter Viren ist eine Ähnlichkeit zur ikosaedrischen Form zu erkennen. Außer der Gemeinsamkeit der ikosaedrischen Symmetrie können allerdings keine verlässlichen, verallgemeinernden Aussagen hinsichtlich der Form sphärischer Viren getroffen werden. Da die Lehre von Struktur, Aufbau und Symmetrie ikosaedrischer Viren zur virologischen Grundausbildung gehört, ist davon

212 auszugehen, dass ein richtiges Lesen und Verstehen des Piktogramms innerhalb der Fachwissenschaft gewährleistet ist. Über Biologie und Medizin hinaus kann jedoch nicht von einer korrekten Einordnung des Ikons ausgegangen werden. Insbesondere im Rahmen einer an eine breitere Öffentlichkeit gerichteten Wissenschaftskommunikation und im über Fachbereichsgrenzen hinausgehenden Ausstellungskontext ist es wenig verwunderlich, dass auf weniger schematische Illustrationen und Modelle zurückgegriffen wird. Neben der Fehlinterpretation besteht hier die Gefahr, dass sich falsche Vorstellungen über die Struktur (und vor allem das Aussehen) ikosaedrischer Viren manifestieren. Auf Grundlage modell- und bildbasierter Evidenz ist zu rechtfertigen, dass ein einzelner Deltaeder Repräsentant für eine große Vielzahl von Vertretern verschiedener Virenfamilien diverser Komplexitäten ist. Die ikosaedrische Symmetrie kann dabei als der kleinste gemeinsame Nenner angesehen werden. Das Ikosaeder besitzt eine starke ikonische Wirkung. Gepaart mit seinem hohen Wiedererkennungswert macht sie das Ikon trotz aller wissenschaftlichen Ungenauigkeit in Herleitung und Begründung zu einem wertvollen und vielseitig nutzbaren Piktogramm eines Virus.

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213 Morgan, Gregory J.: Early Theories of Virus Structure, In: Conformational Proteomics of Macromolecular Architecture, Singapore: World Scientific Publishing Company 2004. Mueller, Joosten: Picornaviridae – Zum Gestalten von Modell- und Visualisierungskonzepten in der Virologie, Berlin: Humboldt Universität zu Berlin 2018. Sautoy, Marcus du: Number Mysteries, London: Fourth Estate 2011. Watson, James D./Crick, Francis H. C.: „Molecular Structure of Nucleic Acids: A Structure of Deoxyribose Nucleic Acid“, in: Nature 171 (1953), S. 737–738. Watson, James D./Crick, Francis H. C.: „Structure of Small Viruses“, in: Nature Journal, Vol. 177 (1956), S. 473–475. Williams, Robley C./Smith, Kenneth M.: „The Polyhedral Form of the Tipula Iridescent Virus“, in: Biochimica et biophysica acta, 28(3) (1958), S. 464–469. RCSB Protein Data Bank, http://www. rcsb.org/ vom 20.03.2020.

214

Bianca Holtschke

Können Bilder falsch sein? So tun als ob „Wenn einmal eines fernen Tages auf der Welt durchgehend Friede und Harmonie und sogar Verstand und Vernunft walten, so stiften sie [die Grafiker] doch unbeeindruckt und unbelehrbar weiter Unfug und Verwirrung. Denn alles, was sie nicht ­einmal halb verstehen noch auch nur verstehen wollten, setzen sie gleichwohl hartnäckig in noch dazu zumeist farbige, knall1 farbige Bilder um [...].“ Die Aufgabe von Bildern und Darstellungen in Publikationen ist es, komplexe Inhalte visuell zugänglich zu machen. Doch sind Bilder, die zu Missverständnissen führen, keine Seltenheit. Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel und Brigitte Kronauer nehmen in Ihrer Kulturgeschichte der Missverständnisse dieses Phänomen in den Blick. Mein Beitrag knüpft an ihre Beobachtung an. Bilder können aus ganz unterschiedlichen Gründen scheitern. Es gibt verwirrende Bilder, Bilder, die nicht zum Text passen, Bilder ohne Verständnis für die Sache, ungünstige bildliche Anordnungen, missverständliche Analogien und Bilder mit eigensinnigen Ambitionen, die von der Sache ablenken, statt sie zu erhellen. Eine eigene Kategorie kann für jene Bilder eröffnet werden, die intendiert irreführen oder bewusst fehlleiten, um einen Überblick über die Spanne der möglichen Verfehlungen zu geben. Es soll im Folgenden aber keine Typologie der bildlichen Fehler vorgestellt, stattdessen sollen die Vorbedingungen für fehlerhafte bildliche Darstellungen geprüft werden. „Falsch“ meint in diesem Text nicht im moralischen Sinne falsch, sondern wird hier in Bezug zu der Aussage gesetzt, die mit einem Bild getroffen werden soll. Auffällig ist, dass es – wenn überhaupt – nur für eine Teilmenge 1 Henscheid, Eckhard/Henschel, Gerhard/ Kronauer, Brigitte: Kulturgeschichte der

Missverständnisse: Studien zum Geistes- leben, Leipzig: Reclam 2002, S. 475.

215

216 Abb. 1: Kasimir Malewitsch: Schwarzes Quadrat, 1920

Abb. 2 a: Jakub Scholtz/James Unwin: Darstellung eines Schwarzen Lochs mit fünffacher Erdmasse, 2020

aller bildlichen Artefakte möglich zu sein scheint, über Fragen der Richtigkeit oder Falschheit in diesem Sinne zu urteilen. Wenn wir uns beispielsweise fragen, ob Malewitschs Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (Abb. 1) „richtig“ ist, merken wir schnell, dass mit der Frage etwas nicht stimmt. Offensichtlich gelingt Malewitsch die Darstellung eines schwarzen Quadrats auf weißem Grund, doch die Feststellung, sein Bild sei deswegen „richtig“, erscheint in diesem Zusammenhang verfehlt. Um die Frage halbwegs angemessen erscheinen zu lassen, müssen wir einige Änderungen am Setting vornehmen: Stellen wir uns also probeweise vor, wir erführen, die Kunstgeschichte habe einen Fehler begangen und Malewitsch habe nicht Kunst, sondern in Wirklichkeit den Grundriss eines Hauses darstellen wollen. Dieser quadratische Plan sei nur irrtümlich 1915 in die Kunstausstellung 0,10 gelangt. Wäre es nun gerechtfertigt, das schwarze Quadrat in dieser Weise zu beurteilen? Kann für dieses schwarze Quadrat, vor dem Hintergrund erneuerter kunsthistorischer Erkenntnisse, Falsifizierbarkeit reklamiert werden?

217 Gegenstand dieses Beitrags sind Bilder in ihrer pragmatischen Aufgabe als Informationsvermittler. Diese können als Zeichen untersucht werden, denn „als Bilder von X sind sie ipso facto Zeichen von 2 X.“ Bild-Zeichen haben, wie sprachliche Aussagen, Inhalte, die auf etwas referieren. Sie leisten die Transkription von etwas in bildliche Zeichen. Dieses „Etwas“ ist je nach Fall gegenständlich oder ungegenständlich: Theorien, Prozesse, Relationen statistischer Daten, Ereignisse oder mentale Konzepte können darunter gefasst werden – auch der quadratische Grundriss eines Hauses. Allgemeiner können wir von Denotaten sprechen. Bleiben wir vorerst bei unserem Quadrat-Beispiel. Möglicherweise wären wir geneigt, im Rahmen der fiktiven MalewitschRezeption, die Seiten des Quadrats nachzumessen, und es stellte sich heraus, dass die vier Seiten nicht exakt gleich lang sind, wie es sich für ein Quadrat gehört. Ist das Schwarze Quadrat nun falsch? Hat Malewitsch sein Bestreben, den quadratischen Grundriss eines Hauses darzustellen, also verfehlt? Schließlich ist ein Quadrat klar definiert, als eine geometrische Figur mit vier gleich langen Seiten. Man könnte folglich annehmen, eine geometrische Figur mit vier ungleichen Seiten als Quadrat zu bezeichnen, sei notwendig fehlerhaft. Ich möchte mit Jan Wöpking behaupten, dass das Quadrat von Malewitsch auch dann nicht falsch wäre, wenn die Seiten nicht, wie augenscheinlich dargeboten, gleich lang wären. Denn würde Falschheit mit Ungenauigkeit gleichgesetzt, wäre es nicht möglich, überhaupt ein Quadrat, ja überhaupt irgendetwas zur Darstellung zu bringen, denn ein Bild kann sein Denotat nicht exakt darbieten. Richtige pikturale Repräsentation ist, so meine Prämisse, nicht gleichzusetzen mit Ähnlichkeit oder gar Identität, und Falschheit ist damit etwas im Kern anderes als Ungenauigkeit. Man stelle sich zum Vergleich eine grobe Skizze eines Quadrates in einem Schulheft vor. Der kindliche Zeichner war nicht sehr sorgsam: Die vier Seiten sind noch deutlich unterschiedlicher als bei Malewitsch 2

Scholz, Oliver Robert: „‚Mein teurer Freund, ich rat’ Euch drum/Zuerst Collegium Syntacticum‘ – Das Meisterargu- ment der Bildtheorie“, in: Klaus SachsHombach/ Klaus Rehkämper (Hg.):



Bildgrammatik: Interdisziplinäre For- schungen zur Syntax bildlicher Darstel- lungsformen, Magdeburg: Scriptum Verlag 1999, S. 33–45, hier S. 36.

218 und obendrein verwackelt, aber unter der Zeichnung steht gut leserlich: „Quadrat“. Diese Skizze ist allein deswegen als ein Quadrat anzusehen, weil der Schüler ein Quadrat zur Darstellung bringen wollte und es in weiteren Rechenoperationen wie eines behandelt hat. Mit Jan Wöpking möchte ich behaupten, dass die Kriterien, die entscheiden, ob ein Bild einen propositionalen Gehalt hat, nicht im Bild selbst, stattdessen zu einem bedeutenden Teil außerhalb der konkreten bildlichen Realisierungen zu suchen sind. Wöpking schreibt: „Eine graphische Inskription als ein geometrisches Objekt zu behandeln, bedeutet, dass man in der Lage ist, Schlussfolgerungen folgender Art zu ziehen: Wenn dies ein Quadrat ist, dann sind seine Seiten gleich lang. Dieser Schluss muss unabhängig von der Tatsache sein, dass das empirische Quadrat vor mir vier Seiten unter3 schiedlicher Länge hat.“ Es ist in dieser Sicht folglich nebensächlich, wie lang die Seiten des Quadrates tatsächlich sind. Relevant ist, dass die Skizze behandelt wird, als ob wir ein Quadrat vor uns hätten. Das Bild wird also in Relation zum Kontext betrachtet und dieser ist teils begrifflich verfasst, insofern dem Bild Eigenschaften zugeschrieben werden, die es nicht von sich aus augenscheinlich-piktural mitbringt. Ein Zeichen oder Zeichensystem als Darstellung eines Denotats X zu behandeln ist eine Tätigkeit, der bestimmte begrifflich verfasste Regeln zugrunde liegen, die den Regeln eines Spiels nicht unähnlich sind. Wir bestimmen, wie wir das, was wir sehen, zu behandeln haben und welche Regeln gelten sollen. Entscheidend ist nicht die konkrete grafische Realisierung, sondern dass wir so tun, als ob 4 das, was wir sehen, das ist, was wir sehen sollen. Die Bestimmungen eines Bildes, das wir als Bild für etwas behandeln, limitieren die darauffolgenden Möglichkeiten, wie mit dem Bild umgegangen werden kann. Wir machen das konkrete Bildzeichen, etwa ein Quadrat, zum Repräsentanten von X, insofern wir mit dem Bild in dieser Weise reglementiert verfahren. Ein Zeichen 3

Wöpking, Jan: „Raum und Begriff. Zur Wiederentdeckung der epistemischen Bedeutung von Diagrammen in der Geometrie“, in: Christoph Ernst/Peter Isenböck/Joachim Renn (Hg.): Kon-

4

struktion und Geltung: Beiträge zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie, Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 233–258, hier S. 243. Vgl. ebd., S. 242.

219 ist ein Zeichen für etwas nur, solange und insofern wir es als solches definieren, also das Spiel gemäß seiner Regeln spielen, mit anderen Worten: solange wir so tun als ob.

Die These des Informationsziels Wie wir an dem Beispiel „Quadrat“ sehen können, wird die Entscheidung, ob ein Bild freie Kunst, der Grundriss eines Hauses oder eine geometrische Figur ist, nicht durch das Bild selbst festgelegt, sondern durch Intention und den Kontext, der sich aus dieser ergibt. Das Bild ist auf sprachliche Zusatzinformationen angewiesen, um eine Referenzfunktion zu erlangen. Das kann eine Legende neben der Darstellung sein, oder der zugehörige Text in einer Zeitschrift oder einem Fachbuch, oder auch die Einordnung in eine Ausstellung. Richtigkeit oder Falschheit entscheidet sich laut Wöpking darin, die richtigen Konsequenzen aus der Festlegung zu ziehen, die Figur sei ein Quadrat. Die Verbindlichkeit entsteht aus der Festlegung, die dem Bild von außen zugeteilt wurde. Ein Bild ohne hinzugefügtes Regelwerk ist erst einmal nur das, was es ganz augenscheinlich ist: Es bietet dar, was gesehen werden kann, ohne aber eine Behauptung aufzustellen. Schauen wir noch einmal auf die Zeichnung im Heft: Die Zeichnung ist auch dann falsch, wenn der Schüler den Kontext nachträglich verschöbe, ohne das Quadrat entsprechend der Verschiebung umzudefinieren. Der Schüler könnte versuchen, mit den Eigenschaften des Quadrates den Flächeninhalt eines Kreises zu berechnen, ohne in Bildunterschrift oder Legende ausgewiesen zu haben, dass es sich um einen derartigen Versuch handelt, das augenscheinliche Quadrat also vielmehr von nun an als Kreis zu behandeln sei. Was bei Ausweisung des Vorhabens einen legitimen Versuch darstellen würde, muss nun, ohne diese Bestimmung zum Kreis, als ein Regelverstoß gelten. Halten wir fest: Erst durch diese Hinzufügung eines Kontextes erhält das Bild propositionalen Gehalt. Erst dann nimmt es bestimmte Wahrheitsbedingungen an und ist je nach Lage wahr oder falsch. Ich möchte so weit gehen zu sagen, dass alles ein Bild für

220 5

alles sein kann , ganz im Sinne von Goodmans Leitsatz, nach dem 6 „fast alles [...] für alles andere stehen kann“ – allerdings mit einer unabdingbaren Einschränkung: Zuvor muss intentional festgelegt worden sein, was in dem speziellen Fall zur Darstellung gebracht werden soll. Es ist auf diese Art möglich, frei zu entscheiden, welche 7 (geometrische) Figur wie verwendet werden soll. Mit Ellipsen beispielsweise so umzugehen, als seien sie Kreise, ist ein klassisches mathematisches Verfahren, um einen Beweis durch Kontraposition 8 zu erbringen. Als Befugnis dies zu tun, genügt allein eine Ankündigung in der Legende, im begleitenden Text, einer Bildunterschrift o. Ä. Es ist eine Entscheidung, die durch den Kontext bestimmt wird. Meine These lautet: Das Bild ist nur dann ein Bild von X und damit falsifizierbar, wenn eine Festlegung hinsichtlich der Intention des Bildes stattgefunden hat, wenn also ein Informationsziel bestimmt wurde. Voraussetzung dafür, dass ein Bild zum Bild für etwas anderes wird, ist ein Bestimmtwerden zum Bild von X und da9 mit das Erfüllen der Funktion einer Referenz. Unterschieden werden muss hier zwischen dem Zustand der Referenzlosigkeit und einer falschen Darstellung – was eine jeweils andere Sachlage darstellt. Die Grundbedingung für Falsifizierbarkeit ist, dass es die Möglichkeit einer Referenz prinzipiell gibt, denn mit der Behauptung, etwas könne „wahr“ oder „falsch“ sein, setzen wir den Bezug auf ein Außen voraus. Die Möglichkeit „wahr“ oder „falsch“ zu sein, beginnt daher bei der Prämisse, dass jenes, worauf referiert wird, von jenem zu unterscheiden ist, welches referiert. Das gilt für sprachliche und pikturale Aussagen gleichermaßen. Ein Bild ist umso aussagekräftiger, je mehr Festlegun­ gen vorgenommen worden sind, aber umso fehlbarer ist es auch. Die 5 6 7 8 9

Inwiefern das im Einzelfall sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst: Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015, S. 17. Vgl. J. Wöpking: Raum und Begriff, S. 242. Vgl. ebd., S. 241. Diese These ist angelehnt an die „Falsi- fizierbarkeit als Abgrenzungskriterium“ von Karl Popper: Wie „uns ein theore- tisch-wissenschaftlicher Satz um so mehr



Positives über ‚unsere Welt‘ mitteilt, je mehr er auf Grund seiner logischen Form mit möglichen besonderen Sätzen in Widerspruch geraten kann“, so ist auch in bildlichen Zeichen die Festlegung der Aussage die Voraussetzung für ihre Widerlegung. Popper, Karl R.: Logik der Forschung, Tübingen: Mohr Siebeck 1994 [Die Einheit der Gesellschaftswissen- schaften 4], S. 15.

221 Intention eines Bildes ist demnach bestimmend für den propositionalen Gehalt. Es sind die Kontexte, Regeln, Setzungen und Z ­ uschreibungen, welche die Bedingungen für die Falsifizierbarkeit eines Bildes erst schaffen. Die hier vertretene These des Informationsziels besagt, dass ein Bild dann als falsifizierbar gelten kann, wenn das Ziel des Bildes konkret genug formuliert ist, um theoretisch widerlegbar zu sein. Bilder, deren Informationsziel nicht oder unzureichend bestimmt ist, sind nicht falsifizierbar.

Grafische Idealisierungen oder warum scheinbar „falsche“ Bilder mitunter funktional sind Der schwarze Kreis auf weißem Grund, den wir auf Abbildung 2a sehen, hätte gut in Malewitschs Ausstellung in Petrograd 1915 gepasst. Es handelt sich hierbei aber nicht um Kunst. Es ist kaum zu erschließen, worum es geht, solange der Kontext fehlt: Gezeigt wird eine Darstellung eines Schwarzen Lochs mit fünffacher Erdmasse 10 (Abb. 2b). Der Gegensatz zwischen der Entität, die sich beharrlich der Vorstellung entzieht, und der Trivialität ihrer Darstellung ist ungehörig. Und doch, so möchte ich behaupten, findet eine Repräsentation statt. Obwohl die Repräsentation ihrem Gegenstand in keiner Weise ähnlich ist, repräsentiert sie ihn. Ebenso wie Genauigkeit oder Ungenauigkeit ist auch Ähnlichkeit keine notwendige Bedingung für Richtigkeit, denn welches Bild eines schwarzen Lochs könnte in gerechtfertigter Weise als einem schwarzen Loch ähnlich bezeichnet werden? Die fotografischen Bilder, welche das Team des Event-Horizon-Teleskops veröffentlichten (das zweite im April 2020; Abb. 3), zeigen im Grunde nicht viel mehr als einen schwarzen Fleck, mit verschwommenen, gelb-roten Rändern. Dass die Ränder in der Illu­ 10

Scholtz, Jakub/Unwin, James: „What If Planet 9 Is a Primordial Black Hole?“, in: Physical Review Letters 125 (2020), Nr. 5, S. 5.

Beispiel online unter https://www.science alert.com/forget-all-your-troubles-for-a- while-by-giggling-at-these-weird-and- wild-science-illustrations vom 19.04.2020.

222

Abb. 2 b: Jakub Scholtz/James Unwin: Darstellung eines Schwarzen Lochs mit fünffacher Erdmasse, 2020

Abb. 3: The Event Horizon Telescope: Darstellung eines Schwarzen Lochs, berechnet aus Aufnahmen des Event-Horizon-Teleskops, 2019

223 stration geschärft und der Fleck exakt gerundet ist, ist als ein Akt der Idealisierung zu verstehen. Der Geistes- und Sozialwissenschaftler Woosuk Park bezeichnet das Phänomen als „intentional 11 misrepresentation of reality for its better representation.“ Ein Vorgehen, das in wissenschaftlichen Illustrationen häufig Anwendung findet und bei dem, einer Karikatur ähnlich, charakteristische Aspekte eines Sachverhalts hervorgehoben, überzeichnet oder erst ins Bild gebracht werden, sodass die Darstellung als eine intendierte Abweichung von der Realität zu verstehen ist. In wissenschaftlichen Idealisierungen finden wir, kurz gesagt, absichtsvolle Diskrepanzen zwischen der Darstellung des Denotats und seinen tatsächlichen Eigenschaften. Um dies besser zu verdeutlichen, schauen wir uns ein zweites Beispiel an. In Abbildung 4 sehen wir eine Reihe Illustrationen, die 12 im Jahr 1993 in der Fachzeitschrift Aquatic Mammals erschienen ist. Sie können ebenfalls im Sinne Parks als „intentional misrepresentation“ aufgefasst werden, denn auch hier liegt eine intendierte grafische Abweichung von der Realität vor: Die Walrösser scheinen einem Science-Fiction-Film entsprungen zu sein, denn sie haben Scheinwerferaugen, mit denen sie den Meeresboden und ihre Artgenossen beleuchten. Der wahre Sinn erschließt sich erst, wenn man die Bildunterschrift liest. Dargestellt wird das geschätzte Walross-Gesichtsfeld in vier verschiedenen Situationen. Die fiktiven Lichtkegel sind ein visuelles Hilfsmittel, das der Betrachter*in grafisch verdeutlicht, wie das Walross z. B. auf dem Meeresboden nach Nahrung sucht. Ich möchte – im Gegensatz zu Park – diese Idealisierung nicht als „de13 pictive misrepresentation“ verstanden sehen. Anders auch als Martin R. Jones, auf den sich Park bezieht, bin ich nicht der Ansicht, Idealisierung in der Darstellung gehe mit Unwahrheit einher: 11 12

Park, Woosuk: „Misrepresentation in Con- text“, in: Foundations of Science 19 (2014), Nr. 4, S. 363–374. Kastelein, R. A./Zweypfenning, R. C. V.  J./Dubbeldam J. L./Born, E. W.: „The anatomy of the Walrus head (Odobenus rosmarus). Part 3: The eyes and their function in Walrus ecology“, in: Aquatic

Mammals 19 (1993), Nr. 2, S. 61–92, hier S. 86 f. Beispiel online unter: https:// sciencealert.com/forget-all-your-troubles for-a-while-by-giggling-at-these-weird and-wild-science-illustrations vom 19.04.2020. 13 Park, W.: Misrepresentation in Context, S. 369.

224 14

„idealization to require the assertion of a falsehood“. Diese Auffassung widerspricht der oben formulierten Prämisse, denn die Kategorisierung in richtige und falsche Repräsentation auf Grundlage von Ähnlichkeitswerten setzt im Umkehrschluss voraus, der Grad der pikturalen Unähnlichkeit sei proportional zur Inkorrektheit eines Bildes. Schaut man sich die Walrösser in den Illustrationen an, muss festgestellt werden, dass ihre Unähnlichkeit zu leibhaftigen Walrössern nicht nur in ihren Scheinwerferaugen zu finden ist. Parks und Jones’ Argumentation impliziert, es handele sich, sobald die intendierte Abweichung getilgt würde, um ein Bild, das richtig sei, denn die Unwahrheit liege allein in der Hinzufügung. Doch wäre, würde man die „Scheinwerfer“-Kegel entfernen, die Darstellung einem Walross ebenfalls nur eingeschränkt ähnlich. Auch dann handelte es sich noch immer um eine zweidimensionale, schwarz-weiße Darstellung in einer Zeitschrift mit handlichem Format, die sich in vielen weiteren Aspekten von einem leibhaftigen Walross unterscheidet. Ähnlichkeit kann daher kein geeignetes Maß für die Richtigkeit des Bildes darstellen und Unähnlichkeit 15 entsprechend nicht als Maß von Falschheit herangezogen werden. Beide Darstellungen dieses Abschnitts, der schwarze Kreis und das Walross, sind abstrahiert, das heißt auf die notwendigen visuellen Informationen beschränkt. Diese Unähnlichkeit ist aber kein Unglück und steht der Wissensvermittlung nicht im Wege, sondern ist vielmehr eine Notwendigkeit. Die Denotate (in diesem Fall ein schwarzes Loch und zwei Walrösser) enthalten einen Überschuss an Information, der mithilfe von Abstraktionen und Auslassungen (bezüglich der Fellfarbe, der Größe, der Dimensionen etc.) gebändigt werden muss. So gesehen ist der schwarze Kreis auf weißem Grund eine „idealere“ Repräsentation eines Schwarzen Loches als etwa die Fotografie, denn der schwarze Kreis ist abgedichtet gegen Interpretation. Das fotografische Bild enthält im Gegensatz dazu noch einen (wenngleich geringen) Informationsüberschuss. 14

Jones, Martin R.: „Idealization and Abstraction: A Framework“, in: Martin R. Jones/Nancy Cartwright (Hg.): Correcting the Model: Idealization and Abstraction in the Sciences, Amsterdam: Rodopi 2005, S. 175.

15

Park hingegen möchte in seinem Artikel gerade die Ähnlichkeit als Maß für die Richtigkeit rehabilitieren und kritisiert Goodmans Trennung zwischen Ähnlich- keit und Repräsentation. Vgl. W. Park: Misrepresentation in Context, S. 369 ff.

225

Abb. 4: R. A. Kastelein/R. C. V. J.  Zweypfenning/J. L.  Dubbeldam/E. W. Born: The estimated visual field of each walrus eye in 4 situations: (A) Looking rearward on land. (B) While threatening or fighting on land, (C) Looking forward on land, and (D) Digging for food in the ocean floor, 1993

226 Dieser Informationsüberschuss verunmöglicht – zumindest für den Laien – die Unterscheidung zwischen den für die Repräsentation wesentlichen und den zufälligen Details: Aufgrund der Unanschaulichkeit und Unfassbarkeit des Ausgangsmaterials („Schwarzes Loch“) würde jedes zufällige Detail im Bild als bedeutungstragend verstanden werden und Unsicherheiten hervorrufen. Der schwarze Kreis ist daher – zumindest für ein Laienpublikum – eine ideale grafische Vereinfachung des Denotats. Denn was könnte eine einfachere und zielführendere Darstellung eines schwarzen Lochs sein als ein schwarzer Kreis auf weißem Grund?

Grafischer Relativismus So gesehen entspricht der schwarze Kreis auf weißem Grund Edward Tuftes Leitsatz „What can be done with fewer is done in vain 16 with more.“ Gemäß Tuftes Verständnis von guter Informations17 grafik sollen komplexe Ideen mit „clarity, precision, and efficiency“ kommuniziert und Fehlinterpretationen vermieden werden („avoid 18 spurious reading of the data.“) Doch sind Klarheit, Präzision, Effizienz und Zuverlässigkeit noch keine Garantie dafür, dass Bilder richtig sind. Die Tufteschen Ideale sind vielmehr erst die Voraussetzung für die Beurteilung der Richtigkeit eines Bildes gemäß der oben formulierten These des Infomationsziels. 19 Bruno Latours Essay „Wir sind nie modern gewesen“ zeigt ex negativo, was Tufte von gelungenen Darstellungen fordert. Mit seinem Essay hat Latour einen Gegenentwurf zur Modernisierungstheorie vorgelegt. Insbesondere die Differenzierung zwischen Gesellschaft und Natur soll hier problematisiert werden. Deutlich wird die subjektive Haltung des Autors, denn Belege fehlen fast gänzlich, und es überwiegen mehrdeutige und vage Formulierungen. Begleitet wird der Essay von einer ganzen Reihe Diagramme und Graphen, 16 17

Tufte, Edward Rolf: Visual Explanations: Images and Quantities, Evidence and Narrative, Cheshire: Graphics Press 2005, S. 73. Tufte, Edward Rolf: The visual display of quantitative information, Cheshire:

18 19

Graphics Press 1995, S. 51. Tufte, E. R.: Visual Explanations, S. 70. Latour, Bruno: Wir sind nie modern ge- wesen – Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 2008.

227 die im Kontrast zum Text einen Anschein von wissenschaftlicher Strenge und Quantifizierbarkeit entstehen lassen. Bei näherer Betrachtung entziehen sich auch diese einer konkreten Deutung. In den Abbildungen 5 bis 8 sehen wir Darstellungen mit verschiedenen grafischen Elementen (wie Achsen, Pfeile, Geraden, Linien usw.), die an die mathematische Disziplin der Graphentheorie erinnern, jedoch nicht gemäß deren Regeln angewendet werden. Ein abweichender Umgang wird nicht ausgewiesen; Achsen werden nicht beschriftet und grafische Elemente wie Kreise, Dreiecke, Vierecke, Pfeile, Pole, Gabelungen, Linien und Kreise werden in keiner Legende erklärt. In welcher Beziehung die X- und die Y-Achse zueinander stehen, wird ebenfalls nicht definiert. Diese Diagramme können mathematisch wenig vorgebildete Leser*innen gewiss beeindrucken oder gar einschüchtern, müssen aber zwangsläufig stutzig machen, sobald sich jemand ernsthaft mit der Materie befasst. Gemäß meiner These sind Latours Darstellungen nicht falsifizierbar, weil sich Latour nicht auf ein Informationsziel festlegt. Seine Diagramme sind nicht konkret genug formuliert, um widerlegbar zu sein. Offensichtlich ist Latours Ziel nicht die Erhellung eines Sachverhalts oder die Klärung einer Frage. Zum Zwecke dieses Zieles wäre es notwendig gewesen, Zeichen gemäß ihrer Bestimmung anzuwenden oder aber im Sinne eines Informationsziels angemessene neue Zeichenrepertoires einzuführen. Latours (Kommunikations-) Zweck scheint ein anderer zu sein. Auffallend ist, dass Darstellung und Text in einem Aspekt kongruent sind. Beide entziehen sich einer unmissverständlichen Deutung. Diese Art der Offenheit lässt Raum für Interpretationen. Die Spekulationen darüber, was Latour mit den Diagrammen zum Ausdruck bringen möchte und inwiefern diese mit dem Text verknüpft sind, sind nicht zufällig Thema von mehreren wissenschaft20 lichen Artikeln. Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Spekulationen einsteigen, denn von einem wissenschaftlichen Essay ist zu 20 Vgl. zum Beispiel Schüttpelz, Erhard: „Übung an Weltbildern. Bruno Latours Diagramm der Modernisierungstheo- rien“, in: Zeitschrift für Kulturwissen-

schaft 7 (2013), Nr. 1, S. 145–166. on- line unter http://www.degruyter.com/ view/j/zfk.2013.7.issue-1/zfk.2013.0114/ zfk.2013.0114.xml vom 16.09.2018.

228 Abb. 5: Bruno Latour: Reinigungs- und Übersetzungsarbeit, 2008

Abb. 6: Bruno Latour: Reinigung und Vermittlung, 2008

erwarten, Mittel zu wählen, die zumindest für den eigenen Fachbereich verständlich, nachvollziehbar und überprüfbar sind und Spekulationen obsolet machen. Da eine mathematische Auseinandersetzung mit den Graphen ausbleiben muss, entfalten die Bilder eine Wirkung jenseits graphentheoretischer Regelwerke. Dass sie uneindeutig sind, scheint ihren visu­ellen Reiz noch zu erhöhen, denn gerade weil die dargestellten Graphen im mathematischen Sinn unterbestimmt sind und eben gerade nicht zur Erhellung beitragen, erscheinen sie tiefschürfend und rätselhaft. Diese Rätselhaftigkeit regt an, sich an einer Deutung zu versuchen und die vermeintlich bedeutungsvollen Diagramme zu verstehen. Diese Latourschen Bilder sind, um ein Zwischenresümee zu ziehen, jenseits davon falsch oder richtig zu sein. Sie vermitteln stattdessen eine Gleichgültigkeit gegenüber eben diesen Kriterien. Vor dem Hintergrund von Latours eigenen theoretischen Prämissen ist es nicht weit gegriffen, zu behaupten, dass die Unzugänglichkeit

229 Abb. 7: Bruno Latour: Die moderne Verfassung und ihre Praxis, 2008

Abb. 8: Bruno Latour: ‚Sie‘ und ‚Wir‘, 2008

seiner Darstellungen (neben der Unzugänglichkeit des Textes) programmatisch für seinen Theorieansatz ist. Der Verdacht liegt nahe, die Normen wissenschaftlichen Schreibens und Darstellens würden gezielt verfehlt. Ein Vorgehen, das sich schlüssig in das Programm des epistemischen Relativismus einfügt. Diffuse, unverständliche und beliebige Bilder stellen gemäß dieser Theorierichtung keinen Mangel dar und sind stattdessen Ausdruck der eigenen Denkweise. Auch bildliche Darstellungen müssen hier als einige Instantiierungen unter vielen anderen, gleichermaßen gültigen gelten, von denen keine näher an der Wahrheit sei als die andere. Womit letztlich egal ist, ob Nachlässigkeit oder ein relativistisches Weltverständnis Ausgangspunkt für den sorglosen Umgang mit Graphen ist, denn Ersteres erfährt in dieser Denkrichtung ganz nebenbei eine Aufwertung und ist von Letzterem nur schwer zu unterscheiden. Mit dieser Zeichenverwendung wird die Möglichkeit versäumt, das Potenzial grafischer Darstellungen zu nutzen, denn

230 nicht selten können grafische Zeichen in Sachverhalten für Verständnis sorgen, die sonst nur schwer skriptural zum Ausdruck gebracht werden können.

Piktogrammatik oder in welcher Hinsicht jedes Bild richtig ist Manchmal gelingt es, das Potenzial von Bildzeichen zu nutzen und mit ihrer Hilfe einen neuen Blick auf einen Sachverhalt zu eröffnen. In einem Comic des Zeichners Thomas Perrodin wird eine Entwicklung menschlicher Gesellschaft von Höhlen über Ackerbau bis hin zu Großstädten dargestellt. Perrodin bringt in seinem titellosen Comic, so könnte man behaupten, seine ganz eigene Modernisierungs21 theorie ins Bild. Es werden vier Zivilisationen in einer chronologischen Abfolge gezeigt: Je entwickelter die Zivilisationen sind, desto mehr Verknüpfungen gibt es zwischen ihnen (Abb. 9 a–p). Die Piktogramme, die Perrodin wählt, haben nur geringe Ähnlichkeit zu ihren Denotaten. Sie sind stark abstrahiert. Diese abstrahierten bildlichen Zeichen stehen in einer topologischen Beziehung zueinander. Perrodin bestimmt die grafischen Elemente, ihre Relationen sowie die Art und Weise, wie sie sich im Laufe der einzelnen Zeitabschnitte verändern. Seine Bildzeichen sind verknüpft mit Transformationsregeln. Erst beides zusammen bringt eine Kulturgeschichte menschlicher Gesellschaften ins Bild. Es gilt, will man das Comic verstehen, die Zeichen und ihre Transformationsregeln zu erfassen und sie ähnlich einer Schrift zu lesen. Perrodins Regelwerk erlaubt vielfältige Anordnungen der grafischen Elemente und ist damit einer Sprache ähnlich. Sein Regelwerk bietet, wie eine Sprache, mehr Möglichkeiten als für eine bloße Repräsentation der im Comic enthaltenen Information notwendig gewesen wären. Mit jeder Neuordnung würde im formalen Sinne eine neue Aussage erschaffen, und das Comic würde mit einer anderen Anordnung der Elemente eine andere Kulturgeschichte der 21 Perrodin, Thomas/Al Ibn, La Yannis: Un Fanzine carré numéro D., Satigny: Eigenverlag 2014.

231 Menschheit erzählen. C. S. Peirce schreibt davon, dass ikonische Zeichen nur von der Möglichkeit dessen zeugen, das sie repräsentieren: „It is true that ordinary Icons, – the only class of Signs that remains for necessary inference, – merely suggest the possibility of that which they represent, being percepts minus the insistency and per22 cussivity of percepts.“ Matthias Bauer und Christoph Ernst greifen diesen Peirceschen Gedanken in ihrem Buch Diagrammatik auf: „Wenn man mit Peirce annimmt, dass sich aus den Relationen, die ein Diagramm veranschaulicht, Schlüsse ziehen lassen, kann man eigentlich auch nicht bestreiten, dass diese Schlüsse mit den Relationen, die ihre Grundlage bilden, verschwinden würden, bzw. sich 23 andere Schlüsse ergeben, wenn man die Relation ändert.“ Bauers und Ernsts Schlussfolgerung ist in gewisser Weise richtig und gilt für Darstellungen generell, denn jede neue bildliche oder schriftliche Darstellung bringt etwas Neues in die Welt, nämlich eine neue Darstellung, die neue Relationen aufzeigt. In dieser Sicht wird in jeder Darstellung, in jedem Diagramm und jedem anderen Bild-Zeichen eine jeweilige Aussage neu hergestellt. Die Frage nach der Richtigkeit oder Falschheit wird in dieser Sicht ausgeklammert. Sie gewinnt erst Relevanz, wenn wir das Informationsziel berücksichtigen. Betrachten wir, um dies zu verdeutlichen, ein bekanntes Beispiel: In diagrammatischen Zeichnungen wurden Himmelskörper zu unterschiedlichen Zeiten in jeweils unterschiedliche Relationen zueinander gesetzt. Im geozentrischen Weltbild auf Abbildung 10 hat die Erde die zentrale Stellung im Universum und wird von ande24 ren Himmelskörpern umkreist. Im Gegensatz dazu nimmt im heliozentrischen Weltbild in Abbildung 11 die Sonne die zentrale Position ein. Die Planeten, und mit ihnen die Erde, bewegen sich um die 25 Sonne herum. Aus dem ersten Bild kann der Schluss gezogen werden, dass sich die Sonne um die Erde dreht, während aus der zweiten Abbildung der genau gegenteilige Schluss gezogen werden kann, 22 Peirce, Charles S.: Mathematical philoso- phy, Den Haag: Mouton Pub. Humani- ties Press 1976 [The New Elements of Mathematics 4], S. 317 f. 23 Bauer, Matthias/Ernst, Christoph: Dia- grammatik: Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungs- feld, Bielefeld: Transcript 2010, S. 84.

24 Vgl. „geocentric model“, in: Britannica, online unter http://www.britannica.com/ science/geocentricmodel vom 29.12.2020. 25 Vgl. „heliocentrism“, in: Britannica, online unter http://www.britannica.com/ science/heliocentrism vom 29.12.2020.

232

233

Abb. 9 a –p: Thomas Perrodin: Ohne Titel (Abstrakte Darstellung der Entwicklung von vier Zivilisationen), 2014

234 nämlich, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Folglich könnte behauptet werden, es sei gleichzeitig wahr, dass sich die Erde um 26 die Sonne und die Sonne um die Erde drehe, denn die Darstellungen zeigen jeweils ihre eigene Wahrheit – unabhängig von der Intention, welche die Urheberin verfolgte. Vielen konstruktivistischen Auslegungen dieser Schlussfolgerung liegt ein Kategorienfehler zugrunde. In den Worten des Sprachphilosophen John Searle: „Das generelle Fehlermuster besteht darin, die soziale Relativität des Vokabulars und die Herstellung von Beschreibungen im Rahmen dieses Vokabulars einerseits zu verwechseln mit der sozialen Relativität der mittels dieses Voka27 bulars beschriebenen Tatsachen andererseits.“ Die konfligierenden Wahrheiten haben nur so lange Bestand, wie die Bilder allein für sich und ohne einen Bezug zum Außen betrachtet werden. Searle geht es darum, die Unterscheidung zwischen den beschriebenen

Abb. 10: Geozentrisches Weltbild. Abb. der Autorin nach Claudius Ptolemäus, 2. Jhd n. Chr.

Abb. 11: Heliozentrisches Weltbild. Abb. der Autorin nach Nicolaus Copernicus, 1543

26 Vgl. Pfister, Jonas: Werkzeuge des Philo- sophierens, Stuttgart: Reclam 2015, S. 15.

27 Searle, John R.: „Die Angst vor Wissen und Wahrheit“, in: Merkur 64 (2010), Nr. 728, S. 1–11, hier S. 5.

235 Objekten im Bild und den Tatsachen herauszuarbeiten. Schon Peirce hat seinerzeit versucht, diese Art der Verwirrung aus der Welt zu schaffen, und eine klare Unterscheidung der beiden Kategorien eingeführt: „Namely, we have to distinguish the Immediate Object, which is the Object as the Sign itself represents it, and whose Being is thus dependent upon the Representation of it in the Sign, from the Dynamical Object, which is the Reality which by some means 28 contrives to determine the Sign to its Representation.“ Das unmittelbare Objekt ist demnach der Gegenstand, wie ihn das Zeichen 29 repräsentiert. Das dynamische Objekt ist das Außen des Zeichens. Im unmittelbaren Objekt kann alles zur Darstellung gebracht werden, unabhängig von objektiven Tatsachen.

Warum nicht jedes Bild notwendig falsch ist Regelwerke sind, wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben, auch in Bildern keine Seltenheit. In der Kunst- und Designgeschichte lassen sich Beispiele finden, in denen formale Regeln des Bildaufbaus Anwendung gefunden haben. Man denke zum Beispiel an die räumliche Darstellung in der Malerei, in Zeichnungen, an Baupläne und Dreitafelprojektionen oder auch an kartographische Darstellungen mit ihren unterschiedlichen Methoden, das geographische Gebiet darzustellen. Was auch immer in Kunst, in der Architektur, in technischen Zeichnungen, in der Kartographie oder im Design zur Darstellung gebracht werden soll, stets gibt es eine Fülle der Methoden und Möglichkeiten, einen Sachverhalt zu präsentieren, zu ordnen oder zu organisieren. Unterschiedliche Regelwerke generieren dabei unterschiedliche Darstellungen, wobei die Verbindung von Bildzeichen zu ihren Denotaten ganz offensichtlich mindestens teilweise auf konventionalisierten Regeln beruht. Es ist möglich, eine Sache auf verschiedene Art und Weise darzustellen, 28 Peirce, Charles S.: The Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Bde. 1–6, hg. v. Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge: Harvard University Press

1933–1935, Bde. 7 u. 8 hg. v. Arthur W.  Burks, Cambridge: Harvard University Press 1958, CP 4.536. 29 Ebd.

236 und die Wahl der Darstellungsmethode hat selten etwas mit einem höheren Grad an Korrektheit oder Richtigkeit zu tun, ist stattdessen weitaus häufiger Konvention. Entsprechend beruht zum Beispiel auch der Eindruck der Ähnlichkeit einer perspektivischen Darstellung zu seinem Denotat teilweise auf konventionellen Regeln. Es liegt, wie wir sehen, auch im Bild, ein arbiträres Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem vor. Diese Arbitrarität wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Quelle der Skepsis gegenüber bildlichen und schriftlichen Repräsentationen. Dass Darstellungen ein und derselben Sache auch ganz verschieden aussehen können, ließ Zweifel an der generellen Möglichkeit der Repräsentation aufkommen und sorgt für anhaltende Diskussionen, innerhalb derer oft der Schluss gezogenen wird, bildliche wie schriftliche Repräsentation könne es letztlich gar nicht geben. Ein Vertreter dieser repräsentationskritischen Sicht auf wissenschaftliche Darstellungen ist unter einigen anderen der Philosoph Hans Jörg Sandkühler. So schreibt Sandkühler von „(Re-)Präsentation [...], um die mit dem Begriff ‚Repräsentation‘ oft verbundene Annahme einer abbildenden Reproduktion bewusstseinsunabhängiger Realität zu vermeiden und um die Bewusstseins- bzw. Zeichen- und Interpretationsabhängigkeit der Präsenta30 tion von phänomenaler Wirklichkeit zu betonen.“ Was Sandkühler hier zum Ausdruck bringt ist charakteristisch für jene Strömung seit den 1980er-Jahren, die „Krise“ oder „Kritik“ der Repräsentation genannt wird und sowohl skripturale wie auch pikturale Darstel31 lungen in den Wissenschaften generell verdächtig erschienen lässt. Ausgangspunkt der Kritik ist die Beobachtung, dass jedes Bild, jede Darstellung und auch jeder Text Darstellungsmittel benötigen, die Konventionen unterliegen, und dass ihre Herstellung damit nicht von ihrem kulturellen Kontext losgelöst betrachtet werden kann. Es ist eine richtige Erkenntnis, dass wissenschaftliche Repräsentationen, ganz gleich ob in Bild oder Text, anders ausgefallen wären, wären die Rahmenbedingungen ihrer Entstehung andere gewesen. Unbestreitbar führen andere Darstellungskonventionen 30 Sandkühler, Hans Jörg: Kritik der Re- präsentation: Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissens

kulturen und des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 14. 31 Vgl. hierzu ebd., S. 9–16.

237 zu anderen Darstellungen. Doch spricht diese Erkenntnis tatsächlich gegen eine prinzipielle Möglichkeit zu repräsentieren? Sind, wie gerne behauptet wird, alle Darstellungen nur Fiktionen oder gar Manipulationen? Bei näherem Hinsehen wird die Repräsentation erst dann zu einem Problemfall, wenn, wie bei Sandkühler, vom theoretischen Bezugspunkt einer „abbildenden Reproduktion“ ausgegangen wird. Da jede Darstellung eine Abweichung von diesem Ideal darstellt, könne es folglich Repräsentation nicht geben. Die Philosophin Sybille Krämer macht in ihrem Aufsatz „Karten erzeugen doch Welten, oder?“ mit Bezug auf Christian Jacob von dem Begriff der „transparenten Darstellung“ Gebrauch, den sie den „opaken Darstellungen“ gegenüberstellt. Auch Krämer verwendet „Abbildung“ als Bezugsgröße und schreibt mit Bezug auf kartographische Darstellungen: „Transparenz und Opazität, ‚Abbildung‘ und ‚Konstruktion‘ schließen sich nicht aus, sondern sie schließen 32 sich ein.“ – In Karten stünden stets beide Konzepte in einem „Wech33 selverhältnis“ zueinander. Es gäbe demnach transparente Anteile 34 in Karten, die „abbilden“, und opake Anteile, die „erzeugen“. Blickt man auf die Bedeutung der Begriffe „Transparenz“ und „Opazität“, ergibt sich ein Problem. Transparenz ist der Kehrwert von Opazität. Ihr Verhältnis ist ein sich ausschließendes, ein „Einschluss“ logisch nicht möglich. Doch eine Kritik an dieser Gegenüberstellung von Krämer und Jacob muss schon früher ansetzen, denn problematisch ist schon die Anwendung des Begriffes „Transparenz“ auf bildliche Darstellungen. Keine Karte stellt ihr Gebiet „durchsichtig“ dar. Eine solche Karte wäre keine Karte des Gebietes, sondern das Gebiet selbst. Bildliche Darstellungen sind, wie ich behaupten möchte, immer „opak“. So wie weder die Walrösser noch die schwarzen Löcher in transparenter Weise bildlich dargestellt werden können, ist schwerlich etwas zu ersinnen, was transparent ins Bild gebracht werden könnte. Bildliche Repräsentation ist notwendigerweise ein Konstrukt und als solches „opak“. Sie ist eine Auswahl der (für den Zweck der Darstellung) relevanten Merkmale. Informative Bilder sind heuristische Werkzeuge und als solche das Ergebnis einer ge32 Krämer, Sybille: „Karten erzeugen doch Welten, oder?“, in: Soziale Systeme 178 (2012), S. 153–167, hier S. 155.

33 Ebd., S. 154. 34 Ebd., S. 153.

238 zielten Konstruktion, eines erkenntnisgeleiteten Prozesses und anders nicht denkbar. Wenn sie etwas abbilden, dann Konzepte einer Sache und nicht die Sache selbst. Darstellen ohne kulturell eingebundene Darstellungsmittel und Konventionen ist nicht möglich, und daher können bildliche Repräsentationen kaum anders als nicht-transparent sein. Von der Repräsentationskritik ist es nur ein kleiner Schritt hin zu jener Bildskepsis, die in jedem Bild und jeder wissenschaftlichen Darstellung machtpolitische Implikationen vermuten lässt. Doch nur weil es keine transparente und im Anschluss daran auch keine neutrale Darstellung gibt, ist nicht jede Darstellung eine Fiktion oder gar Manipulation. Intendierte Manipulation und Falschdarstellung, die es zweifelsohne gibt, ist scharf zu trennen von der schlichten Notwendigkeit der Darstellungsmittel und der Konstruktion der Bezugnahme. Nur etwas, dass nicht die Sache selbst ist, kann die Sache abbilden, auf sie Bezug nehmen.

Fazit Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel und Brigitte Kronauer mahnen in Ihrer Kulturgeschichte der Missverständnisse den Sachverstand desjenigen an, der die Bilder gestaltet, und ich gebe ihnen recht: Die Grafiker*in muss zuerst einmal Kenntnis haben von dem, was sie zur Darstellung bringen will oder soll. Diese Ausgangslage hält unzählige grafische Möglichkeiten bereit. Es kann im Grunde frei entschieden werden, welche Zeichen und Zeichenelemente ins Bild gesetzt werden sollen und mit welchen Regeln sie verbunden werden. Die damit zusammenhängende Erkenntnis, dass zeichenhafte Repräsentationen in keiner natürlichen Verbindung mit ihren Denotaten stehen, ist gewiss bedeutsam. Eine Legitimation für beliebige Zeichennutzung liefert diese Erkenntnis aber nicht. Im Gegenteil: Die Arbitrarität der Zeichen macht ihre Festlegung gerade notwendig. Ist einmal entschieden, dass diese oder jene ungelenke Zeichnung ein Quadrat darstellt und diese oder jene Illustration das Sichtfeld eines Walrosses thematisiert, sind die Spielregeln bestimmt. Das Quadrat ist infolgedessen kein Kreis, und das Bild

239 der Walrösser zeigt keine Figuren aus einem Science-Fiction-Roman. Es wird entschieden, welches Bild für welches Referenzobjekt steht. Abweichung vom Denotat ist dabei kein Mangel, sondern eine Notwendigkeit, und manchmal sind es gerade die intendierten Hinzufügungen, Auslassungen und Abstraktionen, die ein Bild als effektiven Informationsvermittler und Repräsentanten erst qualifizieren. Richtigkeit und Falschheit ist unabhängig von den Größen Transparenz, Ähnlichkeit und Neutralität zu beurteilen und ist an der Intention desjenigen zu messen, der das Bild zum Informationsvermittler bestimmt hat. Diese Intentionalität macht die Elemente des Bildes prinzipiell austauschbar, zumindest solange die Festlegung stattgefunden hat, denn bis dato ist es gänzlich unwichtig, welches Zeichenelement für welches Denotat stehen soll. Fassen wir zusammen: Die Kategorien richtig und falsch ergeben nur relativ zu einem vorgegebenen Verwendungszweck Sinn, und die Mittel, die zum Einsatz kommen, sind frei wählbar. Sobald aber intentional festgelegt ist, welches bildliche Zeichen für welches Denotat steht und mit welchen Regeln diese zu verknüpfen sind, ist die Arbitrarität in gewisser Weise fixiert, und es ist in der Folge nicht mehr gleich gültig, wie mit den arbiträren Zeichen umgegangen wird. Der Gestalter*in kommt die Aufgabe zu, Bilder zu entwerfen, die ihren Informationszweck erfüllen, das heißt in diesem Zusammenhang: Bildelemente und Regelwerke zu konstruieren, die es vermögen, dort für Verständnis zu sorgen, wo skripturale Medien mitunter an ihre Grenzen stoßen. Darstellungen, die ihren Zweck erfüllen, sind analog zu informativen Texten mit Klarheit, Präzision und Effizienz formuliert. Sie erhellen einen Sachverhalt und stehen ihrer eigenen Überprüfbarkeit nicht im Wege.

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242

Pierre Smolarski

Piktorhetorik

243

Über das Wissen im Design Vorbemerkungen Ich habe drei kurze Vorbemerkungen zu machen: Ich werde im Weiteren das Verhältnis von Design und Rhetorik behandeln, genauer rede ich über Design als Rhetorik. Auf eine Beispielpräsentation und bildliche Anschauungen verzichte ich dabei. Erstens, weil sich mein Beitrag vor allem auch an praktizierende Designer und Designerinnen richtet, die sicherlich selbst die passenden Übertragungen in ihr Metier finden werden. Zweitens, weil Beispiele verführerisch sind und das in zweifacher Hinsicht: Bilder laden zum Schauen ein und befriedigen eine Schaulust, die vom Text ablenken kann. Vor allem aber sind Beispiele stets ein Hinzu-Erzähltes und haben eine paradigmatische Anziehungskraft, so dass Diskussionen oft an den Beispielen kleben, die doch nur für etwas bestimmtes, nicht aber für alles stehen sollten. Auf Bilder zu verzichten heißt rhetorisch aber auch: der Verzicht auf überwältigende Evidenz, auf sichtbaren Witz und auf die Zerstreuung derjenigen, die Texte ohnehin nur als Bleiwüsten verstehen. Das ist der Preis. Die zweite Vorbemerkung betrifft die Reichweite meiner Auseinandersetzung. Ich möchte nicht den klassischen Topos bedienen, wonach das Problem so groß und ich so klein bin, kein Entschuldigungssermon, aber ich möchte doch betonen, dass die rhetorischen Theorien um so vieles reicher sind, als das, was ich nun im Weiteren machen werde, dass hier allenfalls von einem Teaser gesprochen werden kann. Viele Aspekte der rhetorischen Theorien, die auch für das Design fruchtbar sind oder fruchtbar gemacht werden können, bleiben hier vollkommen außen vor oder werden allenfalls in den Zwischenräumen meiner Sätze erahnbar: etwa die philosophische Auseinandersetzung mit dem Weltbezug des Designs als ein rhetorisches res-verba-Problem, die rhetorische Situiertheit

244 des Menschen in gestalteten Sinnzusammenhängen oder auch – ganz praktisch – die rhetorische Findungskunst von Ideen. Eine letzte Vorbemerkung zu meinem Verständnis von Designtheorie: Die Aufgabe von Theorie ist es nicht, den Praktikern zu sagen, was sie tun und noch weniger, was sie tun sollen. Das wissen sie selbst. Die Aufgabe von Theorie ist die kritische und streitbare Einordnung von Praxis in größere Zusammenhänge, und Kritik heißt die Bedingungen und Grenzen des Möglichen aufzuzeigen. Verstünde man die Designtheorie selbst als Teil von Gestaltung, so wäre das Wort, genauer der Begriff, ihr Gestaltungsmittel, und ihre wesentliche Methode wäre das gekonnte Zusammenspiel von Witz (Erkennen von Ähnlichkeiten) und Scharfsinn (Erkennen von Unterschieden). Wo sie sich allein auf den Witz verlässt, wird sie schließlich selbst zu einem. Das heißt insbesondere auch, dass es nicht die Aufgabe von Theorie ist Praxis zu inspirieren. Ein offener Geist lässt sich von vielerlei inspirieren, vom Zwitschern der Vögel im Wald oder vom Plätschern des Baches. Aber Theorie zwitschert nicht und sie plätschert auch nicht. Mit dieser letzten Vorbemerkung möchte ich einsteigen.

Horror Termini Das Designfeld expandiert in den letzten Jahren oder wenigstens wird seine vermeintliche Expansion ständig postuliert. Vielleicht sind das die Verführung durch das Wort „Gestaltung“ und der ungeübte Umgang mit Begriffen im Designfeld. Vielleicht hat dieser Expansionsdrang auch andere Gründe: Vielleicht ist „klassisches“ Grafikdesign (was auch immer man darunter verstehen will) langweilig geworden, vielleicht folgt man schlichtweg der Logik eines Kreativitätsimperativs, vielleicht glaubt man in einer docta ignorantia an die Omnipräsenz und Omnipotenz des Designs, vielleicht – auch das ist möglich – hat man in einer Welt des Do-it-Yourself und zunehmender Technisierung und Digitalisierung einfach Angst vor der Bedeutungslosigkeit einer ganzen Disziplin; ich weiß es nicht. Innerhalb der explodierenden Designbegriffe und der damit verbundenen Designzuständigkeiten wirkt jede begriffliche Arbeit

245 bevormundend, festnagelnd und einschränkend, sie erscheint deshalb auf verlorenem Posten. Das, so scheint es mir, ist letztlich der Zustand dessen, was sich „Designtheorie“ nennt; sie erbt den horror termini, die Angst vorm Begriff, aus der Designpraxis und verliert damit das einzige Werkzeug brauchbarer Theoriebildung. Das mag eine vereinfachende Darstellung sein, sie mag überspitzt und provokant sein, aber sie drängt sich mir auf, wenn Design verstanden wird als alles, was mit Welt, Wissen, Ordnung oder Unordnung zu tun hat, also: Gott und die Welt; wobei Gott allenfalls dann kein Design wäre, wenn er nicht von dieser Welt ist. Da er aber dennoch etwas mit der Ordnung dieser Welt zu tun hat – ganz gleich ob es ihn gibt –, ist auch Gott Design. Das ist absurd. Wer den Designbegriff endlos dehnt, braucht an diesen Begriff schließlich keine Frage mehr richten; mehr noch, er kann es auch nicht mehr. Wenn Design alles ist und alles Design ist, dann ist jede Frage an diese Totalität sinnlos, dann kann es eine sinnvolle Theorie des Designs gar nicht mehr geben und vielleicht lesen sich eben wegen dieser Totalisierung viele Designtheorien wie Offenbarungstexte. Es braucht also schon so etwas wie Mut oder einen Willen begrifflich – und das heißt immer auch „in Grenzen“ – zu denken, oder allgemeiner: Wenn Designtheorie mehr als eine potentiell erfolgreiche, pseudo-spirituelle Aphorismensammlung und auch mehr als eine endlose Verklärung eines Handwerks sein soll, dann braucht es Urteilskraft (ars iudicandi). Ich werde im Folgenden mich daher an einem engen Designverständnis orientieren und von da aus versuchen, das Verhältnis von Design und Wissen zu problematisieren. Design ist die Kunst des Zur-Geltung-Bringens, bisweilen auch noch enger eine Überzeugungskunst. Dieses Verständnis zu erklären, wird Inhalt meines Beitrages sein.

Kunst/Techne Wenn ich sage, Design sei eine Kunst, dann meine ich damit nicht „Kunst“ im heute üblichen Sinne. Design und Kunst im modernen Verständnis haben wenig miteinander gemeinsam. Design als

246 Kunst geht von einem Kunstbegriff aus, der mit Kunst das wiedergibt, was die Lateiner ars und die Griechen techne genannt haben. Man könnte also durchaus und womöglich treffender beim Design von einer Technik sprechen. Der Begriff der techne steht – und damit wird auch schon der Weg zur Frage nach dem Wissen angedeutet – bei den Griechen zwischen Theorie und Praxis. Design ist also weder eine Wissenschaft noch reine Praxis. Vielmehr steht es zwischen dem Bereich, in dem es um Wissen geht, und dem Bereich, in dem es um das Handeln geht. Eine Kunst in diesem Sinne ist ein erlernbares und daher auch lehrbares methodisches Werkzeug, das einer bestimmten Funktion dient. Im Falle der Kunst, die als Design heute diskutiert werden soll, ist das antike Vorbild die Rhetorik. Wenn heute viel über die Verantwortung im Design, oder das Verhältnis von Design und Gesellschaft geredet wird, dann kann man den Interessierten gern auf die Rhetorik verweisen, die alle diese Punkte bereits durchgesprochen hat: vom philosophischen Vorwurf, die Rhetorik sei doch nur Werbung, sie habe nicht die Wahrheit zum Gegenstand, sondern nur die Wahrscheinlichkeit, also das was dem Anschein nach wahr ist – was ein korrekter Vorwurf ist –, bis hin zur Frage, welche ethischen Grundsätze eigentlich einen Redner auszeichnen müssen, der weiß, dass mit den Mitteln der Rhetorik auch verführt werden kann. Rhetorik ist eine Gesellschaftskunst, weil sie ihre Glaubwürdigkeiten nur aus dem Bereich des gesellschaftlich Akzeptierten beziehen kann und weil ihr ganzer Ehrgeiz auch wieder in die Diskussionen um gesellschaftliche Belange zurückgeht. Also auch die heute oft aufgeworfene Formel „Design und Demokratie“ ist für die Rhetorik breit diskutiert. Beide Gründungsmythen, der Mythos der Gründung der Rhetorik als Redekunst, die zur Zeit des Aufkommens der Demokratie als politischer Herrschaftsform wichtig wird, und der Mythos der Gründung des Designs als Gestaltungstechnik, die mit der Massenproduktion als Wirtschaftsfaktor aufkommt und bis heute eine wichtige Stütze der kapitalistischen Produktion ist – beide Gründungsmythen stehen in einem engen gesellschaftlichen Bezug. Ich

247 kann nur dazu einladen, diesen Bezug einmal näher zu fassen. Da1 rum soll es aber hier nicht gehen. Zurück zur Kunst, zur techne. Es ist ein alter Streit, ob die Künste eigentlich lernbar sind, oder ob die Befähigung zu ihnen einem nicht in die Wiege gelegt sein muss. Innerhalb dieses Streits, der mal den Ausschlag in die eine Richtung nahm und die totale Beherrschung im Lobpreis des Lernens und der gerade aufkommenden neuen Wissenschaft, der Pädagogik, postulierte – „gebt mir ein Kind und ich mache euch daraus, was ihr wollt“ –, mal in die andere Richtung ausschlug und vom ingenium, dem Genie sprach, dessen Witz allenfalls göttlicher Funke, nicht aber Erzeugnis konzentrierten Lernens und Übens sein kann, innerhalb dieses Streits also, hält man es heute eher pragmatisch und spricht von 10 Prozent Inspiration und 90 Prozent Transpiration. Ein Spruch, der auf Edison zurückgeht und auch schon über 100 Jahre alt ist. Die Kraft zu großen Gedanken, sagt Pseudo-Longinus, kann man nicht lernen, die gezielte und überwältigende Formung dieses Gedankens aber schon. Die antiken Sophisten versprachen als Rhetoriklehrer denen, die einmal politische Ämter übernehmen sollen, das Überzeugen zu lernen. Man analysierte erfolgreiche Reden, man übte das Reden im kleinen Kreis, dann im größeren, man fixierte Grundregeln der überzeugenden Kommunikation und bisweilen nannte man die wichtigsten von diesen „Geheimtipps“, wobei im Grunde alle die gleichen Geheimtipps hatten. Wenn etwa jemand durch seine Rede Emotionen erregen soll, hohes Pathos also, wie Zorn oder Trauer, aber auch leidenschaftliches Glühen für eine Sache, so ist der Tipp Quintilians: 1

Zum rhetorisch-sophistischen Wissens- begriff und seinem Akosmismus siehe: Hetzel, Andreas: Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld: Transcript 2011. Zum konjekturalen Wissen in Design und Rhetorik siehe: Mainberger, Gonsalv K.: Rhetorische Vernunft. Oder das Design der Philosophie, Wien: Passagen 1994. Zum ethischen Verständnis und dem virbonus-Ideal, siehe vor allem: Cicero:



De Oratore. Siehe auch: Oesterreich, Peter L.: Philosophie der Rhetorik, Bamberg: C. C. Buchner 2003. Zum Verhältnis von Rhetorik und Design allge- mein siehe Smolarski, Pierre: Rhetorik des Designs. Gestaltung zwischen Sub- version und Affirmation, Bielefeld: Transcript 2017. Zum Verhältnis von Rhe- torik und Stadt siehe: Smolarski, Pierre: Rhetorik der Stadt. Praktiken des Zeigens, Orientierung und Place-Making im urbanen Raum, Bielefeld: Transcript 2017.

248 „Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich, wenigstens nach meinem Empfinden, darin, sich selbst der Erregung hinzugeben. Denn es kann doch zuweilen sogar lächerlich wirken, Trauer, Zorn, Empörung wiederzugeben, wenn wir nur unsere Worte und Miene, nicht aber auch unser Inneres darauf einstellten. Denn woran liegt es denn sonst, dass das, was Trauernde im ersten Schmerz ausrufen, durchweg am allerbedeutendsten wirkt, und dass der Zorn zuweilen auch Menschen ohne jede kunstgerechte Schulbildung Redegabe verleiht, als daran, dass aus ihnen die Kraft ihres eigenen Denkens 2 und Fühlens und die Echtheit ihrer ganzen Wesensart spricht?“ Horaz brachte es vor ihm bereits auf die einfache Merkformel: 3 „Willst du, dass ich trauere, so weine erst einmal selbst.“ Die rhetorische Kunst kennt viele Regeln, Gesetze und vor allem Tugenden: Rede klar, verständlich, in einfachen Worten, „schau dem Volk aufs Maul“ wie Luther sagte, rede sprachlich korrekt und vor allem kurz und nicht langweilig. Die rhetorischen Todfeinde sind der Überdruss und die Langeweile. Im Design ist es nicht anders. Aber die rhetorischen Regeln und Gesetze sind von anderer Art als die juristischen, moralischen oder wissenschaftlichen Gesetze. Das zeigt sich am deutlichsten beim Regelverstoß: Gegen Naturgesetze kann man nicht verstoßen, zumindest nicht, wenn es welche sind. Gegen moralische Gesetze sollte man nicht, gegen juristische darf man nicht verstoßen. Aber gegen rhetorische Regeln kann man nicht nur, man sollte zuweilen auch gegen sie verstoßen. Der rhetorisch begründbare Regelbruch ist Teil des rhetorischen Regelsystems. Genau das grenzt rhetorische Regeln von den oben genannten am deutlichsten ab, und schließlich zeigt sich auch genau hierin die starke Parallele rhetorischer Regeln zum Bereich der Gestaltung. Denn: Folgt man der Deviationstheorie rhetorischer Figuren, so sind alle Stilfiguren im Grunde nichts anderes als Verstöße gegen die Tugenden der Rhetorik oder zumindest deutliche Abweichun2 Quintilian: Ausbildung des Redners, I, VI, 2, Darmstadt: WBG 2011, S. 26.

3 Horaz: Ars Poetica, Stuttgart: Reclam 1972, S. 102f.

249 gen vom gewöhnlichen Sprachgebrauch. Und selbst wenn man ihr nicht folgt, sind es noch die meisten. Metaphern und Synekdochen sprechen uneigentlich aus, was doch eigentlich gesagt werden sollte, Ellipsen sind Verstöße gegen die Grammatik und Wiederholungen gegen den Stil. Und ist nicht jede gelungene Gestaltung auch eine Mischung aus breiter Regel- und Konventionsbefolgung bei gleichzeitiger gezielter – und eben darauf kommt es an – und damit bewusster Regelverletzung? Wenn dem so sein sollte, braucht es Regeln, man muss sie kennen und beherrschen. Erst dann können sie auch intelligent gebrochen werden. Design ist aus rhetorischer Perspektive eben ein Handwerk, das man beherrschen kann – allerdings nicht in der griechischen Bedeutung des Wortes Handwerk, obwohl auch Designer zuweilen Banausen sind. Das heißt aber auch: Es ist keine Wissenschaft. Die Regeln der rhetorischen Künste sind nicht fest, sie können und müssen zuweilen gebrochen werden, und sie gelten nicht per se über unterschiedliche Zeiten und Gesellschaftsformen hinweg. Es ist wie bei jedem Handwerk eine Sache der eigenen Erfahrung und eines Lernens aus den Erfahrungen anderer, ein Lernen, das umso besser geht, wenn innerhalb der Kunst Begriffe und Konzepte entwickelt werden, die eine Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden ermöglichen. Aus der Designtheorie in ihrem horror termini sind diese Begriffe und Konzepte kaum zu erwarten und auch die praktische Lehre tut sich schwer und vor allem selten zusammen, um über solche Begriffe zu reden. Gleichwohl sind sie in vielen Bereichen ja da, entwickelt durch das Designhandwerk selbst und fixiert in der für jedes Handwerk charakteristischen Literaturgattung, dem Ratgeber. Um diese auch gezielter weiterzuentwickeln hätten die Praktiker zwar die Erfahrung, aber ihnen fehlen oft genug die Worte. Als Randnotiz: Ich halte die rhetorischen Begrifflichkeiten zwar für überaus passend und fruchtbar in der Anwendung. Aber es sind zu viele, sie sind in der Regel für die Rede und nicht für das Design verfasst und sie sind auf Latein oder Griechisch. Sie müssten daher überprüft, gebündelt und übersetzt werden. Hierbei zu helfen wäre eine schöne Aufgabe für die Designtheorie, getragen muss es aber von denen werden, die gestalten. Ob das allerdings der Mühe

250 wert ist, wo doch die Lehrbereitschaft im Design anders als die Begrifflichkeiten mitunter seine recht engen Grenzen hat, ist eine andere Frage.

Zur Geltung bringen Kommen wir zurück zur Kunst. Ich hatte Design als die Kunst des Zur Geltung-Bringens benannt. Jede Kunst hat ihre Aufgabe. Über die konkrete Aufgabe der Rhetorik wurde bisweilen gestritten, und es kann also gar nicht von einer Rhetorik gesprochen werden, sondern mindestens von drei Spielarten: einer vorrangig griechischen Kunst der Überzeugung in politischen und juristischen Reden, einer eher kaiserzeitlichen, römischen Kunst der Affekterregung und einer barrocken allgemeinen Kunstlehre. Ich halte die griechische Rhetorik für die fruchtbarste im Design, während die barocke eher für die Kunst im modernen Sinne taugt. Aber auch das ist streitbar. Innerhalb dieser griechischen Lehre ist es Aristoteles, der gegen Platon und dessen Vorwurf von der moralischen Verwerflichkeit der Rhetorik auf der einen Seite und gegen die Sophisten und ihrer Überschätzung der rhetorischen Wirkmacht auf der anderen Seite sagt: Rhetorik ist die Kunst bei jedem Anlass das zu finden, was 4 möglicherweise glaubwürdig ist. Eine Kunst des Findens also! Des Findens von Glaubwürdigem, weil nur dieses Glaubwürdige eine Sache überzeugend darstellen kann, weil nur dieses Glaubwürdige die zur Verhandlung stehende Sache „zur Geltung bringen“ kann. Der Rhetoriker beherrscht also Techniken das Glaubwürdige zu finden; Techniken, die das aufspüren sollen, was in einem konkreten Fall vor einem mehr oder weniger bekannten Publikum in einer bestimmten historischen Situation als glaubwürdig empfunden wird; und zwar nicht zwingend vom Redner, sondern vom Publikum. Er redet für dieses, nicht für sich. Hieran sind sofort zwei Einschränkungen in Bezug auf Fragen des Wissens deutlich: Zum einen ist das Glaubwürdige nicht zwingend das Wahre. Es geht um Anschlussfähigkeit in den rhetorischen Künsten, also um einen Appell an das, 4 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, I.2, 1355 b26.

251 was das Publikum schon weiß, glaubt, hofft oder fürchtet. Es geht nicht um Wahrheit. Zum anderen ist das Glaubwürdige, das rhetorisch gefunden werden kann, nicht absolut, nicht von zwingendem Charakter, sondern nur das möglicherweise Glaubwürdige. Das Wissen des Rhetorikers wie des Designers, ist also eines, das doppelt eingeschränkt ist: Es ist nicht absolutes Wissen, sondern ein Wissen um das, was man den Gemeinsinn, den sensus communis nannte, ein Wissen um die Gemeinplätze, um den Alltagsverstand. Und dieser Alltagsverstand ist die Basis aller erfolgreichen Rede, und letztlich auch aller erfolgreichen Gestaltung. Von hier aus nimmt der Redner seinen Ausgang, hierher kehrt er im Regelfall auch wieder zurück. Das reicht von der Umrechnung großer Flächen in Fußballfelder oder von Spendenbeträgen in Cappuccino-Preise oder der Angabe von einer Milliarde als eintausend Millionen bis hin zu klassischen Topoi wie dem Topos des Mehr und des Weniger, zu dem Aristoteles das Beispiel gibt: Wenn nicht einmal die Götter alles wissen, dann ich erst recht nicht. Nach demselben Muster lassen sich unzählige weitere Argumentationen stricken, die alle darauf hinauslaufen: Wenn nicht einmal X, wo doch X wahrscheinlicher ist als Y, dann erst recht nicht Y. Wahr ist das oftmals nicht, aber wahrscheinlich. Der erfolgreiche Redner ist womöglich „revolutionär“ in dem, was er sagt, aber sicherlich nicht in dem, wie er es sagt. Wer darin glänzen will, sollte an einem Literaturwettbewerb teilnehmen, nicht aber an einer Debatte. Und im Design ist es doch ähnlich: Von einem „revolutionären“ Design wird ja nicht gesprochen, weil es den Alltagsverstand hebt, weil es Bewusstsein herstellt, sondern revolutionär – wenn man den Begriff überhaupt verwenden will – ist nur die Sancta Simplicitas, das Herunterbrechen, Vereinfachen, nutzbar und handhabbar Machen. Human Centered Design und User Experience Design ist gut, wenn der Benutzer möglichst keinerlei Erfahrung mit diesem Design macht und auch keine Erfahrung mit diesem Design braucht, sondern wenn es reibungslos, störungsfrei funktioniert, kurz: wenn möglichst nichts durch das Design gelernt oder bewusst wird, sondern allenfalls durch das, was durch das Design als bedienbar nun zugänglich ist. In gleichem Sinne – und damit komme ich zum Schluss – kann eine gute Rede Sachverhalte verständlich machen,

252 Wissen vermitteln, Kompetenzen steigern. Aber zugleich Wissen und Bewusstsein über die Techniken der – sei sie nun zum Guten oder Schlechten – rhetorischen Manipulation vermitteln, das kann sie nicht.

Wissen? Ich fasse einige Thesen bezüglich des Verhältnisses von Design und Wissen noch einmal schlaglichtartig zusammen, dann lässt sich leichter über die unbezweifelbare Strittigkeit jeder dieser Thesen diskutieren: Wenn es im piktogrammatischen Überschwange heißt, grafische Gestaltung sei für unser Wissen unverzichtbar und Design sei eine Bedingung von Wissen überhaupt, dann ist das zwar trivialerweise wahr, wenn Design einfach alles ist, weil dann ja nur gesagt wird, dass irgendetwas eine Bedingung für Wissen sei, aber es ist auch tautologisch. Mit meinem engeren Designverständnis und der Rückbindung an die rhetorischen Künste ist das Verhältnis von Design und Wissen komplexer: allein schon, weil es mehrere Arten des Wissens gibt und Design nicht in gleichem Maße und vor allem nicht zur gleichen Zeit zu allen diesen Wissensformen Zugang ermöglicht. Es gibt ein technisches Wissen, dass genauer bezeichnet eigentlich kein Wissen, sondern ein Können des Designers ist; er beherrscht sein Handwerk. Es gibt ein Alltagswissen, dass nicht bloß ein Wissen ist, sondern auch Elemente eines Glaubens, Wünschens, Hoffens enthält und daher besser als ein Alltagsdenken oder Alltagsmeinen bezeichnet werden kann. Von diesem Alltagsdenken muss der Designer wissen, weil er nur hier die Anknüpfungsstellen seiner Gestaltung findet, allerdings ist dieses Wissen etwas, was treffender mit dem Ausdruck Erfahrung bezeichnet wäre. Es zeichnet eben den erfahrenen Designer aus, dass er um das Alltagsdenken weiß. Und dann gibt es noch das Wissen, dass beim Rezipienten, dem Benutzer oder dem Publikum durch Design hergestellt werden kann. Dieses Wissen ist wiederum zweierlei: Es könnte ein Wissen der durch Design vermittelten Gegenstände sein, also ein Wissen, in dessen Dienst der Designer steht und das nicht von ihm

253 kommt. Hier ist Design eine Vermittlungsform für Inhalte, die es selbst weder hervorgebracht hat noch verantwortet. Es könnte aber auch ein Wissen um die gestalterischen Techniken selber sein, wobei diese Form der Selbstreflexivität im Design eher untypisch ist – aus gutem Grund: Dann würde es zu viele Friktionen hervorrufen und könnte nicht mehr bloß funktionieren, wäre also kein „gutes“ Design. Design kann also für Wissensvermittlung sinnvoll sein, allerdings ebenso wie die Rhetorik, eher postulierend, mitunter auch begründend, nicht aber diskursiv, nicht transparent. Wie jede rhetorische Kunst auf einer dissimulatio artis, einem Verbergen ihrer Wirkmechanismen beruht, so muss auch das Design, wenn es wirken will, die eigene Künstlichkeit verbergen. Als Fazit kann man sagen: Es gibt mannigfaltige Verbindungen zwischen Design und Wissen, zum Teil widersprechen sich sogar bestimmte Wissensformen im Design, so dass von einer Omnipotenz des Designs keinerlei Rede sein kann und es die Aufgabe der Designtheorie wäre, das Design in den Grenzen seiner Möglichkeit zu untersuchen. Der Wissensbegriff im Design ist eben oft recht „dünn“, vielleicht so dünn wie in dem Wort „Kompetenz“ oder gar „Input“. Das ist etwas, das man in eine Schachtel legt um es bei Gelegenheit wieder rauszunehmen – Output. Interessant wäre es für mich, letztlich durch die Praxis selbst, Beispiele kennenzulernen, wo durch Design mehr erreicht wird, nämlich Aus-Ein-Ander-Setzung, ein Zerlegen der Schachtel. Es ist allerdings fraglich, ob das dann noch Design ist.

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Literaturverzeichnis Hetzel, Andreas: Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld: transcript 2011. Horaz: Ars Poetica, Stuttgart: Reclam 1972. Mainberger, Gonsalv K.: Rhetorische Vernunft. Oder das Design der Philosophie, Wien: Passagen 1994. Oesterreich, Peter L.: Philosophie der Rhetorik, Bamberg: C. C. Buchner 2003. Quintilian: Ausbildung des Redners, Darmstadt: WBG 2011. Smolarski, Pierre: Rhetorik des Designs. Gestaltung zwischen Subversion und Affirmation, Bielefeld: transcript 2017. Smolarski, Pierre: Rhetorik der Stadt. Praktiken des Zeigens, Orientierung und Place-Making im urbanen Raum, Bielefeld: transcript 2017.

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Hannes Kater

Über die Möglichkeiten der Zeichnung

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Darstellerlexikon Während meines Kunststudiums zeichnete ich viel und geriet immer wieder in Situationen, in denen ich als obsessiver oder gar manischer Zeichner vorgestellt wurde – meine Selbstwahrnehmung war und ist aber eine andere: Ich zeichne spielerisch und forschend, zergliedernd und ordnend, mal konzentriert und aufmerksam, mal abgelenkt und nebenbei. Hier unter­suche ich Linienqualitäten systematisch, dort kritzle ich einfach herum. Je mehr ich zeichnete, desto mehr wünschte ich mir bessere Optionen um Erinnerungen, Denkverläufe und Assoziationen präzise und für mich decodierbar in eine Zeichnung einschreiben bzw. aufzeichnen zu können. „Ideographie“, d. h. Schrift, die nicht aus abstrakten Schriftzeichen wie a, b, c, sondern aus stilisierten Bildern besteht, war für mich keine Lösung, denn für die Anordnung und Reihung solcher Zeichen whätten sämtliche Bildqualitäten aufgegeben werden müssen. Nicht die Gesetze der Schrift interessierten mich,sondern die von Bildern. Das Zeichenfinden sollte sich aus dem Zeichnen selbst ergeben. Manche Zeichenfindungen drängten sich mir geradezu auf, andere entwickelten und veränderten sich orga-nisch beim Zeichnen. Die Zeichen, die sich bewährten, nannte ich Darsteller. Mit einem Mal konnte ich mit meiner Art zu Zeichnen auch „denken“. Wobei „Denken“ nicht (nur) eine Anwendung von sprachlich Formulierbarem meint. Meine Darsteller und andere Elemente der Zeichnung, etwa Pfeile oder auch Zeichenzusammenhänge, machten sich ein Stück weit selbstständig, sie starteten ein Eigenleben. Sie wurden im Operationsraum der Zeichnung sozusagen zu sich verhaltenden Akteuren, die untereinander agieren können. Zeichnen wird so ein Instrument nicht nur zur Abbildung, sondern auch zur Herstellung von Sachverhalten.

258 Ich tat also mein Möglichstes, um die selbstregulative Funktion des operativen Zeichnens weiter zu fördern: Das Papier bzw. die Wand oder der Raum bei den großen Arbeiten wurden ein Operationsraum für Systeme von Handlungsweisen. Meine Darsteller und anderen operativen Optionen (z. B. Pfeile) avancieren auf diese Weise zu Operatoren im Suchraum der Zeichnung und zum Medium der Suche.

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