Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung: Beiträge zur Geschichte und Wirkung des Wiener Kreises 9783110850215, 9783110102758


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German Pages 429 [432] Year 1985

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Table of contents :
Vorwort
Statt einer Einleitung
Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises
Die Vorgeschichte des Wiener Kreises
Die politische Praxis Otto Neuraths während der Räterepublik in Bayern
Die Konstitutionsphase
Hertz, Wittgenstein und der Wiener Kreis
Wittgenstein, Schlick und das Apriori
Wittgenstein’s Demythologization of Recognition: an Indictment of Logical Empiricism
Die öffentliche Phase
Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis und „Verein Ernst Mach“
Wissenschaftliche Weltauffassung, Volkshochschule und Arbeiterbildung im Wien der Zwischenkriegszeit. Am Beispiel von Otto Neurath und Edgar Zilsel
Zerspaltung und Einheit: vom logischen Aufbau der Welt zum Physikalismus
Die Metaphysik beim Wiener Kreis
Das Neurath-Prinzip – Grundlagen und Folgerungen
Hans Reichenbachs Beziehung zum Wiener Kreis
Logischer Positivismus und Phänomenologie: Felix Kaufmanns Methodologie der Sozialwissenschaften
Edgar Zilsel zur Methodologie einer exakten Geisteswissenschaft
Internationalisierung, Emigration und Auflösung
Die Korrespondenz zwischen Otto Neurath und Rudolf Carnap aus den Jahren 1934 bis 1945 – ein vorläufiger Bericht
Die verspätete Aufklärung. Wiener Kreis und kritische Theorie in der Epoche des Faschismus
Vertreibung und Emigration des Wiener Kreises zwischen 1931 und 1940
Nachwirkungen
Waismann über Willen und Motiv
Nonkognitivismus
Sachregister
Personenregister
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Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung: Beiträge zur Geschichte und Wirkung des Wiener Kreises
 9783110850215, 9783110102758

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Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung

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Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung Beiträge zur Geschichte und Wirkung des Wiener Kreises herausgegeben von Hans-Joachim Dahms

Walter de Gruyter · Berlin · New York

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der Deutschen

Bibliothek

Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung: Beitr. zur Geschichte u. Wirkung d. Wiener Kreises / hrsg. von Hans-Joachim Dahms. — Berlin; New York: de Gruyter, 1985. ISBN 3-11-010275-7 N E : Dahms, Hans-Joachim [Hrsg.]

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei — p H 7, neutral)

© 1985 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: H . Heenemann G m b H & Co, Berlin 42 Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Inhaltsverzeichnis Vorwort Statt einer

VII Einleitung

Hans-Joachim Dahms (Göttingen): Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises

1

Die Vorgeschichte des Wiener Kreises Erich Mohn (München) : Die politische Praxis Otto Neuraths während der Räterepublik in Bayern Die

30

Konstitutionsphase

Ulrich Majer (Hannover): Hertz, Wittgenstein und der Wiener Kreis Peter Simons (Salzburg) : Wittgenstein, Schlick und das Apriori . . Gordon Baker (Oxford): Wittgenstein's Demythologization of Recognition : an Indictment of Logical Empiricism

40 67 81

Die öffentliche Phase Friedrich Stadler (Wien) : Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis und „Verein Ernst Mach" Johann Dvorak (Wien): Wissenschaftliche Weltauffassung, Volkshochschule und Arbeiterbildung im Wien der Zwischenkriegszeit. Am Beispiel von Otto Neurath und Edgar Zilsel Michael Heidelberger (Berlin): Zerspaltung und Einheit: vom logischen Aufbau der Welt zum Physikalismus Eckehart Köhler (Wien) : Die Metaphysik beim Wiener Kreis . . . . Rudolf Haller (Graz): Das Neurath-Prinzip — Grundlagen und Folgerungen Andreas Kamiah (Osnabrück) : Hans Reichenbachs Beziehung zum Wiener Kreis Ingeborg Helling (Bielefeld): Logischer Positivismus und Phänomenologie: Felix Kaufmanns Methodologie der Sozialwissenschaften Wolfgang Krohn (Bielefeld) : Edgar Zilsel zur Methodologie einer exakten Geisteswissenschaft

101

129 144 190 205 221

237 257

VI Intemationalisierung,

Inhaltsverzeichnis

Emigration und Auflösung

Rainer Hegselmann (Essen): Die Korrespondenz zwischen Otto Neurath und Rudolf Carnap aus den Jahren 1934 bis 1945 — ein vorläufiger Bericht 276 Karl Müller (Wien) : Die verspätete Aufklärung. Wiener Kreis und kritische Theorie in der Epoche des Faschismus 291 Hans-Joachim Dahms (Göttingen): Vertreibung und Emigration des Wiener Kreises zwischen 1931 und 1940 307 Nachwirkungen Joachim Schulte (Bologna) : Waismann über Willen und Motiv . . . 366 Wolfgang R. Köhler (Frankfurt) : Nonkognitivismus 379 Sachregister

403

Personenregister

411

Vorwort In der Philosophie scheint in den letzten Jahren eine Orientierungskrise um sich zu greifen. Sie äußert sich bei den einen mehr im Mißbehagen am Verlauf der Diskussionen in ihrem engeren Sachgebiet, bei den anderen mehr darin, daß die Philosophie zu den vielfältigen Problemen unserer Zeit anscheinend nicht viel aus ihrer Sicht zu sagen weiß. In einer solchen Situation ist es naheliegend, sich entweder direkt den philosophischen Aspekten unserer Zeitprobleme zuzuwenden oder aber die Ausgangspunkte aufzusuchen, die die gegenwärtige Situation in der Philosophie so haben entstehen lassen, wie sie sich darbietet. Dabei kann zwar auch die Beschäftigung mit bisher zu Unrecht vernachlässigten oder ganz in Vergessenheit geratenen Alternativen zum gegenwärtigen Philosophieangebot eine Orientierungsperspektive eröffnen. Es kann aber auch lohnen, sich einmal historisierend denjenigen Traditionen zuzuwenden, denen man sich — in wie abgeschwächter Form auch immer — selbst zugehörig fühlt. Eine solche Aufarbeitung einer philosophischen Tradition darf sich aber weder im rein Antiquarischen erschöpfen noch allzu voreilig die Brücke zur heutigen Diskussionslage schlagen. Sie muß zunächst in der Tat versuchen herauszubringen, in welcher geschichtlichen Situation aufgrund welcher Umstände welche Probleme zur Bearbeitung aufgesucht wurden und warum welche Lösungen vorgeschlagen oder verworfen wurden, da die heutigen Standarddarstellungen der jeweiligen Tradition auf solche Fragen vielfach überhaupt keine oder durch die heutige Sicht verzerrte Antworten geben. Sie muß dann aber auch versuchen, die dabei gewonnenen Erkenntnisse für die heutige Diskussion wieder fruchtbar zu machen, sonst bleibt sie in nostalgischen Betrachtungen stecken. Aus solchen mehr allgemeinen Überlegungen ist die Idee entstanden, den Wiener Kreis des logischen Empirismus zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Denn die von ihm propagierte wissenschaftliche Weltauffassung, seine inhaltliche Schwerpunktsetzung auf Logik und Wissenschaftstheorie und schließlich seine an der mathematischen Logik geschulten methodischen Standards sind für immer größere Bereiche der Philosophie prägend und geradezu stilbildend geworden. Außer

Vili

Vorwort

diesen Gründen für eine Beschäftigung mit dem Wiener Kreis sprechen aber auch noch ganz besondere Umstände für eine erneute Auseinandersetzung, die mit den komplizierten Tradierungsumständen seiner „Lehre" im deutschsprachigen Raum zusammenhängen. So hat sich etwa im Gefolge des berühmten Positivismusstreits in der deutschen Soziologie in weiten auch philosophisch interessierten Kreisen die Ansicht breitgemacht, der Wiener Kreis sei eine etwas weltfremde, vorwiegend an logischer, mathematischer und physikalischer Grundlagenforschung interessierte, ansonsten aber gegenüber den Problemen seiner Zeit gleichgültige oder implizit konservative Gruppierung gewesen. Dieses zum Teil auch von Nachkriegsexponenten des „Positivismus" selbst genährte Vorurteil bedarf angesichts seiner — nicht zuletzt in diesem Band reichlich dokumentierten — Falschheit dringend einer Erklärung, die allerdings in diesem Band nicht ausführlicher versucht wird, weil sie in einen anderen Untersuchungszeitraum, nämlich die deutsche und österreichische Nachkriegszeit, hineinführen würde. Hier muß es genügen, auf die komplizierten Prozesse der Emigration fast sämtlicher Kreismitglieder und seiner Lehre aus Osterreich, die veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen in den verschiedenen Aufnahmeländern (einschließlich der Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den dort heimischen philosophischen Traditionen und den anderen Emigrationsphilosophien) sowie den — nur sehr zögernd und nicht durch persönliche Rückwanderung von Kreismitgliedern — erfolgten Reimport seiner Lehre in das Österreich und die beiden Deutschlands der Nachkriegszeit hinzuweisen. Diese Umstände machen es wahrscheinlich, daß die „Botschaft" des Wiener Kreises — wie im übrigen natürlich auch seine ehemaligen Mitglieder — auf dem Weg durch diese Stationen auch selbst bedeutende Änderungen durchgemacht hat. Trotzdem bleibt weiterhin erklärungsbedürftig, wie sich in einer anderen Gruppierung deutscher Emigrationsphilosophie, deren Reimport im übrigen mit der Rückkehr einiger ihrer führenden Exponenten aus der amerikanischen Emigration einherging, nämlich der Frankfurter Schule, derart manifeste Fehleinschätzungen bilden konnten. Denn daß der Konservatismusvorwurf fehl am Platze ist, zeigen die neueren Arbeiten, die sich eingehender historisch mit ihm befaßt haben, recht deutlich. Im Gegenteil ist danach die Einschätzung richtig, daß sich der Wiener Kreis intensiver als jede andere Wissenschaftlergruppierung des deutschsprachigen Raums in der Zwischenkriegszeit um eine Verbindung von Philosophie und Wissenschaft mit aufklärerischer und popularisierender Praxis bemüht hat.

Vorwort

IX

Die Untersuchungen, auf denen diese Einschätzung fußt, gehen wie die übrigen Beiträge dieses Bandes auf Diskussionen zurück, die während einer Tagung über die Geschichte des Wiener Kreises im Frühjahr 1982 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattgefunden haben. Die hier gesammelten Aufsätze sind gegenüber den damals gehaltenen Referaten jeweils korrigiert und zum Teil beträchtlich erweitert. Inhaltlich beschränken sich die Beiträge nicht auf die Aufhellung des zeitgeschichtlichen politischen und sozialen Hintergrunds des Wiener Kreises. Vielmehr enthält der Band auch mehr systematisch orientierte Arbeiten, die sich entweder mit einzelnen „Programmpunkten" des logischen Empirismus, seiner Stellung zur Lehre anderer philosophischer Strömungen oder bisher wenig beachteten Nachwirkungen befassen. Uberhaupt wurde bei der Auswahl der Beiträge bewußt Wert auf die Behandlung von Aspekten gelegt, die das gängige Bild des Kreises ergänzen und korrigieren. Dabei ist es natürlich, daß Kreismitglieder in den Vordergrund rücken — wie etwa Neurath, Zilsel oder auch Kaufmann — die lange Zeit zu Unrecht weniger beachtet wurden. Die Aufeinanderfolge der einzelnen Beiträge ist eine historische. Diese Präsentationsweise soll die Wechselwirkungen von zeitgeschichtlichem und philosophiehistorischem Kontext mit Bezug auf den Wiener Kreis verdeutlichen und — zusammen mit den Bemerkungen, die ich in meinem einleitenden Charakterisierungsversuch vorangestellt habe — Voraussetzungen für eine Diskussion des Stellenwerts von „externen" und „internen" Faktoren seiner Entwicklung bereitstellen. Im einzelnen wird also versucht, die jeweiligen Beiträge einer Entwicklungsphase des Kreises zuzuordnen. Als solche Phasen lassen sich m. E. die folgenden unterscheiden : 1. Vorgeschichte (bis 1922) 2. Konstitutionsperiode (bis 1928) 3. öffentliche Phase in Wien (bis 1934) 4. Internationalisierung, Auflösung, Emigration (bis 1938) 5. Nachwirkungen. Dabei lassen sich die Einschnitte zwischen der ersten und zweiten Phase mit der Berufung Hahns und Schlicks nach Wien, zwischen der zweiten und dritten Phase mit der Veröffentlichung der Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung: der Wiener Kreis", der Gründung des Vereins „Ernst Mach", dem Erscheinungsbeginn der Zeitschrift „Erkenntnis" sowie verschiedenen Publikationsreihen noch

χ

Vorwort

einigermaßen ziehen. D a g e g e n überdecken sich die dritte und vierte Phase teilweise, wenngleich ihre Abgrenzung mit dem Verbot des Vereins „Ernst M a c h " im Gefolge der Februarereignisse 1934 und dem „Anschluß" Österreichs durch die deutschen Nationalsozialisten 1938 äußerlich gegeben ist. Denn internationale Kontakte geringerer Intensität hatte es auch schon vor 1934 gegeben, und einzelne Kreismitglieder waren auch schon vorher emigriert. Natürlich lassen sich nicht alle von Mitgliedern des Kreises behandelten Themen jeweils einer der skizzierten Entwicklungsphasen des Kreises zuordnen, und so macht auch in einzelnen Fällen die Zuordnung der Beiträge dieses Bandes zu den historischen Kapiteln Schwierigkeiten. Aber grob läßt sich doch sagen, daß in den verschiedenen Entwicklungsphasen auch verschiedene Themenschwerpunkte bei seiner Arbeit im Vordergrund standen. S o war in der Konstitutionsphase die Auseinandersetzung mit Wittgensteins Tractatus, in der öffentlichen Phase außer den verschiedenen Popularisierungsbestrebungen die Metaphysikkritik und der Aufbau der Einheitswissenschaft auf physikalistischer Basis bestimmende Themen, später rückten der Enzyklopädiegedanke und die Auseinandersetzung mit ausländischen philosophischen Schulen (wie etwa den polnischen Logikern oder den amerikanischen Pragmatisten) in den Vordergrund. Dadurch ist die Mehrzahl der Beiträge dieses Bandes schon einer Entwicklungsphase zugeordnet. Bei einigen hätten sich vielleicht auch andere Zuordnungen angeboten, und verschiedene waren überhaupt nur mit Schwierigkeiten den Abschnitten zuzuordnen, weil sie Themen behandeln, die mehrere Phasen überdecken. Die dadurch vielleicht nahegelegte übliche Aufteilung in historische Beiträge einerseits und systematische andererseits wäre aber mit Sicherheit dem Versuch, die Wechselwirkung von inneren und äußeren Determinanten der Entwicklung des Kreises zu beleuchten, noch weniger gerecht geworden. Zum Schluß möchte ich all denen danken, die am Zustandekommen der vorbereitenden Bielefelder T a g u n g und dieses Bandes beteiligt waren. Mein D a n k gilt insbesondere den Verantwortlichen des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, das die genannte T a g u n g organisiert und betreut hat, und der Stiftung Volkswagenwerk, die dafür die Finanzierung übernahm. Er gilt ferner allen Teilnehmern der T a gung und unter ihnen besonders denen, die ihre Diskussionsbeiträge zur Verfügung stellten und sich der Mühe unterzogen, ihre ursprünglichen Texte zum Teil erheblich zu verändern.

Vorwort

XI

Schließlich danke ich Frau Grit Müller und Herrn Prof. W e n z e l vom Verlag de Gruyter für die freundliche und umsichtige Betreuung des Manuskripts. Die Konzeption der T a g u n g und damit indirekt auch dieses Bandes ging vor allem auf Gespräche mit Rainer Hegselmann und Friedrich Stadler zurück. Ohne ihren Rat und vor allem ihre T a t w ä r e das Unternehmen nicht zustande gekommen. Göttingen, April 1985

Hans-J. Dahms

HANS-JOACHIM DAHMS

Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises I D e m Wiener Kreis des logischen Positivismus wird seit etwa der Mitte der siebziger Jahre wieder ein stärkeres Interesse entgegengebracht, das bisher seinen Niederschlag vor allem im Nachdruck von Werken seiner Mitglieder, daneben aber auch schon in einer wachsenden Zahl von Abhandlungen in der Sekundärliteratur gefunden hat. Wenn man die thematische Tendenz der Arbeiten über den Wiener Kreis betrachtet, fällt ein zunehmendes Interesse an historischen Fragestellungen und darunter vor allem solchen auf, die die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe in die Beschreibung einbeziehen, vor denen sich die Arbeit des Kreises abgespielt hat 1 . Allmählich beginnt sich als Folge dieser Entwicklung schon unser Bild vom Wiener Kreis zu verändern 2 . Denn die zutage geförderten Erkenntnisse sind mit dem Vorurteil einer vor allem an logischer, mathematischer und physikalischer Grundlagenforschung interessierten, im übrigen aber gegenüber den politischen Prozessen ihrer Zeit indifferenten Gelehrtengruppe nicht länger zu vereinbaren. Insbesondere das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Otto Neuraths 3 , die aufklärerischen Popularisierungsbestrebungen im Verein „Ernst Mach" 4 und die Aktivitäten im Rahmen der Wiener Volkshochschule und Erwachsenenbildung 5 sind hier zu nennen. Darüber hinaus verdient die Beteiligung von Kreismitgliedern an der theoretischen Diskussion in der österreichischen Sozialdemokratie sowie die verschiedenen internationalen Kontakte der Gruppe und einzelner ihrer Mitglieder nähere Beachtung. 1

2 3 4 5

Siehe dazu vor allem die Arbeiten: Mohn 1978, Nemeth 1982, Dvorak 1981, Stadler 1979, 1982 a und 1982 b und Glaser 1981. Siehe dazu Haller 1982 a und Wartofsky 1982. Stadler 1982 a. Stadler 1982 b und Stadlers Aufsatz in diesem Band. Dvorak 1981, 3. Kapitel (S. 33—40) und Dvoraks Aufsatz in diesem Band.

2

Hans-Joachim Dahms

Diese Bezüge sind von erheblichem historischen Interesse. Denn an ihnen kann nicht nur die Geschichte des Wiener Kreises erhellt, sondern auch exemplarisch das Verhältnis von Wissenschafts- und Geistesgeschichte einerseits und allgemeiner politischer Geschichte der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen andererseits studiert werden. Bei der Einbeziehung der genannten Faktoren in die Betrachtung ist allerdings nicht ohne weiteres selbstverständlich, daß sich auch unser Verständnis von den philosophischen Ideen des Kreises ändern muß. Denn es wäre ja durchaus denkbar, daß man die für eine allgemeine Kulturgeschichtsschreibung allenfalls wesentlichen Ergänzungen und Korrekturen des Wiener-Kreis-Bildes für philosophiegeschichtlich und erst recht systematisch gesehen als unerheblich oder sogar irrelevant einstuft. Im Folgenden werde ich die Relevanz der Betrachtung des historischen und politischen Kontextes des Kreises für das Verständnis seiner „Lehre" diskutieren. Dabei gehe ich in drei Schritten vor. Zunächst versuche ich, den Wiener Kreis in eine allgemeine Typologie wissenschaftlicher Arbeitsformen einzuordnen. Aus diesen Überlegungen ergeben sich auch einige methodische Gesichtspunkte, die für die Geschichtsschreibung des Kreises und ähnlich gelagerter wissenschaftlicher Kooperationsformen von Nutzen sein können. Dann gehe ich zur Beantwortung der Frage über, wodurch eine Arbeitsform der Art, wie sie der Kreis darstellt (die ich eine „enzyklopädische" nennen werde), zu charakterisieren ist. Dabei bespreche ich drei mögliche Antworten und zwar — sozusagen in absteigender Linie kognitiven Gehalts — zuerst seine „Lehre", dann seine „Methode" und schließlich seine „Einstellungen". Damit ist dann aber noch nicht die Frage beantwortet, welches relative Gewicht diese einzelnen Komponenten als einheitsstiftende und charakterisierende Elemente des Kreises gehabt haben. Deshalb gehe ich zuletzt in einem dritten Schritt diese Frage an. Anhand zweier Beispiele, nämlich zuerst der Metaphysikkritik im Zusammenhang mit seiner Sinntheorie und dann der Entstehung des Physikalismus als eines empiristischen Reduktionsprogramms, werde ich zu zeigen versuchen, daß ein angemessenes Verständnis wesentlicher Teile auch der Lehre und Methode des Kreises nicht ohne die Einbeziehung seiner weltanschaulichen und politischen Einstellungen zu erreichen ist.

Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises

3

II Ich beginne also mit der Typologie wissenschaftlicher Arbeitsformen und mit der Einordnung des Wiener Kreises in diese Typologie. Unter einer Arbeitsform verstehe ich jede Art und Weise, wissenschaftliche Resultate individuell oder kollektiv zu erzielen. Außer durch die Ausdifferenzierung in der Dimension Individualität bzw. Kollektivität ergibt sich eine weitere Unterteilung durch die Betrachtung der an solchen Arbeitsformen beteiligten Fächer. Diese beiden Gesichtspunkte (nämlich Individualität/Kollektivität einerseits und Repräsentanz einzelner Fächer andererseits) sind im übrigen natürlich voneinander unabhängig, da ja sowohl einzelne Individuen gleichzeitig mehrere Fachgebiete bearbeiten als auch wissenschaftliche Kollektive einzelne Fächer vorantreiben können. Ich beschränke mich im Folgenden allerdings auf die Betrachtung der kollektiven Arbeitsformen. Diese scheinen mir im wesentlichen in drei Gruppen zu fallen, nämlich die auf einzelne Disziplinen oder Teildisziplinen bezogenen Wissenschaftlergemeinschaften („scientific communities"), für deren naturwissenschaftliche Spielart mit Kuhns Begriff des Paradigma bzw. der disziplinären Matrix ein allgemeines Charakterisierungsschema angegeben worden ist6, zweitens fächerübergreifende Arbeitsformen, die ich interdisziplinäre Gemeinschaften nenne, und schließlich drittens die enzyklopädischen Gemeinschaften, die alle Wissenschaftsbereiche (oder zumindest alle wesentlichen) und die Philosophie übergreifen. Die Kategorie der interdisziplinären Gemeinschaften wäre dann noch weiter zu unterteilen, etwa nach dem Gesichtspunkt, welche Fächer beteiligt sind und in welcher Proportion dies der Fall ist. Außerdem kommen noch zeitliche und räumliche Koordinaten ins Spiel, also die Frage, über welche Zeiträume sich eine solche Kooperation erstreckt und ob sie an einem O r t konzentriert ist oder nicht. Parallele Unterscheidungen der zuletzt genannten Art sind im übrigen für die einzelfachlichen Wissenschaftlergemeinschaften zu treffen. Zusätzlich wird man nach dem Gesichtspunkt der Lebensdauer und Kooperationsintensität etwa zwischen den länger andauernden, aber eher locker zusammenhängenden Traditionen und den relativ kürzer andauernden, aber intensiver intern kooperierenden Schulen unterscheiden, wobei sich eine Schule als wissenschaftliche Kooperationsform freilich noch durch wei6

Kuhn 1970, S. 181 ff.

4

Hans-Joachim Dahms

tere Merkmale auszeichnet wie etwa das Moment einer sozialen Gliederung, die sich im Autoritätsgefälle zwischen Schuloberhaupt und sonstigen Schulmitgliedern ausdrücken kann. Die alle Wissenschaftszweige und die Philosophie umfassenden enzyklopädischen Gemeinschaften dürften im wörtlichen Sinne in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte relativ selten anzutreffen sein. Was dagegen in einem etwas weiteren und liberaleren Sinn als enzyklopädische Gemeinschaft zählt, ist im übrigen schwer zu bestimmen. Denn weil eine Beteiligung sämtlicher Wissenschaftsbereiche an einer wissenschaftlichen Arbeitsform ab einem gewissen Differenzierungsgrad der Wissenschaften nicht mehr zu erreichen ist, spielt hier die Frage eine große Rolle, ob denn wenigstens die wesentlichen Bereiche des Wissenschaftsspektrums beteiligt sind. Entsprechend kommt dem Gesichtspunkt bei enzyklopädischen Gemeinschaften im Sinne eines entsprechenden Selbstverständnisses eine große Bedeutung zu, welche einzelnen programmatisch erfaßten Wissenschaftsbereiche denn überhaupt und in welchen Proportionen in ihnen repräsentiert sind, um den erhobenen Anspruch auch zu rechtfertigen. Für das faktische Auftreten solcher enzyklopädischer Gemeinschaften ist ferner sozusagen ein zeitlicher Schnitt zu legen, der etwa durch den Beginn der Neuzeit markiert ist. Denn vorher war die enzyklopädische Gemeinschaft wegen der erst rudimentär vorhandenen Ausdifferenzierung der verschiedenen Wissenschaftszweige einerseits und wegen fehlender Kommunikationsmöglichkeiten (Buchdruck, wissenschaftliche Zeitschriften etc.) andererseits noch häufiger anzutreffen. Dagegen läßt das allmähliche Erscheinen dieser Kommunikationsmöglichkeiten sowie die fortschreitende Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften diese Arbeitsform zunehmend seltener werden. In diesem Jahrhundert gehören schon außerordentliche organisatorische Anstrengungen dazu, die zunehmenden sozusagen zentrifugalen Tendenzen der wissenschaftlichen Spezialisierung auch nur für einen begrenzten Zeitraum durch eine enzyklopädische Zusammenarbeit zu überwinden. Als exemplarische Fälle enzyklopädischer Kooperationsformen möchte ich nur zwei Bewegungen nennen, nämlich die historischen französischen Enzyklopädisten der Aufklärung und die logischen Empiristen des Wiener Kreises und der parallelen Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie. Diese beiden Bewegungen haben im übrigen außer einer Reihe von zeitbedingten Unterschieden auch eine mindestens ebenso bemerkenswerte Reihe von Gemeinsamkeiten, unter de-

Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises

5

nen die hervorstechendste die Verfolgung eines nicht nur auf den wissenschaftlichen Bereich beschränkten Aufklärungsprogramms sowie die Abwehr all der Kräfte ist, die solchen aufklärerischen Bestrebungen im Wege stehen, unter denen insbesondere Religion und Metaphysik sowie die gesellschaftlichen Kräfte zu nennen sind, die sich ihrer als Legitimation bedienen. Für die Selbsteinschätzung des Wiener Kreises ist im übrigen die Anknüpfung an das enzyklopädische Selbstverständnis der französischen Aufklärer genauso maßgebend gewesen wie in negativer Hinsicht die Abgrenzung gegen die verschiedenen Traditionen der deutschen „Schulphilosophie", insbesondere des Neukantianismus. Die heftige Polemik gegen die Schulphilosophie hat Mitgliedern des Wiener Kreises übrigens den — vielleicht nicht ganz unberechtigten — Gegenvorwurf eingetragen, sie seien selbst „erkenntnistheoretisch ungeschulte" Philosophen 7 . O b der Wiener Kreis seinem enzyklopädischen Anspruch und vor allem dem proklamierten Bruch mit der „Schulphilosophie" tatsächlich auch gerecht geworden ist, ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Es scheint jedenfalls, daß die fachliche Zusammensetzung des Kreises — von der Ausbildung seiner Mitglieder her gesehen — ein deutliches Ubergewicht der Logiker, Mathematiker und Physiker hatte, wohingegen die Sozialwissenschaftler und erst recht die Geisteswissenschaftler unterrepräsentiert waren. Allerdings reicht der Gesichtspunkt der Berufsausbildung für eine solche Beurteilung nicht aus, da die Kreismitglieder in ihren Publikationen vielfach sehr unterschiedliche Wissensgebiete bearbeitet haben, die auch außerhalb ihrer ursprünglichen Ausbildungsgebiete lagen. Hier wäre eine Gesamtauswertung der vom Wiener Kreis publizierten Arbeiten erforderlich, die hier natürlich nicht einmal angedeutet werden kann. Was dagegen die Frage der Abgrenzung gegenüber der Schulphilosophie betrifft, scheint eine kritische Untersuchung insbesondere der Nachwirkungen des Wiener Kreises angebracht. Es könnte durchaus sein, daß dabei herauskäme, daß der Wiener Kreis, der im Zeichen des Kampfes gegen jede Schulphilosophie begann, auf die Dauer gesehen — wenn auch unabsichtlich — selbst nur eine neue Schulphilosophie mit Anzeichen einer zunehmenden Abschließung gegenüber anderen wis-

7

Siehe dazu die Kontroverse zwischen Zilsel und Max Adler in den Bänden 1930—1932 des „Kampf", dem theoretischen Organ der S D A P O .

6

Hans-Joachim Dahms

senschaftlichen und philosophischen Strömungen und einer eigenen beginnenden Scholastik begründet hat 8 . Eine allgemeine Theorie für die Beschreibung und Charakterisierung nicht-naturwissenschaftlicher Wissenschaftlergemeinschaften und erst recht von interdisziplinären und insbesondere der hier interessierenden enzyklopädischen Arbeitsformen liegt nach meiner Kenntnis bisher nicht vor. Deshalb ist es vielleicht von Nutzen, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie naturwissenschaftliche „scientific communities" charakterisiert worden sind, um daran sozusagen im Kontrastverfahren einige Hypothesen über die Eigenschaften enzyklopädischer Gemeinschaften zu gewinnen. Zu einer disziplinären Matrix, durch die eine Wissenschaftlergemeinschaft charakterisiert worden ist, gehören bekanntlich folgende Bestandteile: symbolische Generalisierungen (insbesondere N a turgesetze), die sogenannten Modelle, mit denen gewisse heuristische Analogien gemeint sind, die Gruppe der Werte, in die einerseits mehr innerwissenschaftliche Standards und Methoden, andererseits allgemeine Einstellungen ethischer oder politischer Art gehören, und schließlich die Paradigmen als exemplarische Errungenschaften der bisherigen Anwendung der Disziplin. Schon für die naturwissenschaftlichen Fächer ist umstritten, ob sie durch das Vorliegen genau einer disziplinären Matrix charakterisiert werden können („paradigm-monopoly-thesis") 9 oder ob sie, zumindest in gewissen Fällen, in konkurrierende Gruppen oder Schulen und entsprechend in eine Pluralität von interdisziplinären Matrizen zerfallen. Für die Geisteswissenschaften und insbesondere für die Philosophie ist aber deutlich, daß eine Charakterisierung durch genau eine Matrix, wie sie vielleicht noch bei gewissen Naturwissenschaften möglich ist, nicht gelingen kann. In Ermangelung der für die Naturwissenschaften geforderten „symbolischen Generalisierungen" wird die Charakterisierung der Geisteswissenschaften allerdings eher auf ihre (nicht symbolisiert dargestellte) „Lehre" zusätzlich zu etwa vorhandenen Modellen und Analogien, Methoden und Einstellungen Rekurs nehmen müssen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das Verhältnis von innerwissenschaftlichen methodischen Standards und sonstigen Einstellungen, das ja 8 9

So ähnlich äußert sich auch Wartofsky 1982, S. 81. Siehe dazu etwa Kuhn 1970 (als Befürwortung der These) und Feyerabends Aufsatz in Lakatos 1970 als Kritik derselben.

Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises

7

von Kuhn für den Fall der naturwissenschaftlichen scientific communities nicht weiter problematisiert worden ist10. Für den speziellen Fall wissenschaftlicher Arbeitsformen, den die enzyklopädischen Gemeinschaften darstellen, steht wegen der Vielzahl in ihnen integrierter wissenschaftlicher Disziplinen zu vermuten, daß die Möglichkeit inhaltlicher Charakterisierung durch eine „Lehre" gegenüber den Komponenten der „Methode" und den sonstigen Einstellungen vergleichsweise noch weiter zurücktritt. Diese Lehre wird im übrigen auch nicht in der bloßen Addition der Ergebnisse der in der enzyklopädischen Gemeinschaft repräsentierten Wissenschaften bestehen können, sondern eher in einer zusammenfassenden und einheitlichen Darstellung oder in dem Versuch, das Verhältnis dieser Wissenschaften zueinander und zur Philosophie zu beschreiben. Bevor ich im Folgenden dazu übergehe, den Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises anhand der Komponenten „Lehre", „Methode" und „Einstellungen" zu unternehmen, möchte ich aus den allgemeinen Betrachtungen wissenschaftlicher Arbeitsformen in diesem Abschnitt noch einige Schlußfolgerungen ziehen, die das methodische Vorgehen bei diesem Charakterisierungsversuch betreffen: 1. Es scheint nicht vertretbar, eine kollektive Arbeitsform durch das Werk eines einzelnen Mitgliedes charakterisieren zu wollen (etwa: „Carnap und der Wiener Kreis""). Dies gilt besonders für Bewegungen, für die kollektive Zusammenarbeit und der Verzicht auf klare soziale Gliederungen, wie sie etwa bei Schulen anzutreffen sind, Bestandteil ihres Wesens und auch Selbstverständnisses sind. 2. Eine das Kollektiv als Beschreibungseinheit ins Auge fassende Betrachtungsweise kann nicht die Summe aller feststellbaren Einzelheiten beschreiben wollen, sondern gewissermaßen nur durch ihren Durchschnitt, das, was allen Mitgliedern der Gemeinschaft oder wenigstens Gruppen von ihnen gemeinsam ist. Das schließt es insbesondere aus, jede einzelne Äußerung oder Aktivität einzelner Mitglieder als eine Angelegenheit der Gesamtheit anzusehen. Darunter fallen etwa Dinge, die von einzelnen Mitgliedern vor der Entstehung oder nach der Auflösung einer enzyklopädischen Gemeinschaft gesagt und getan wurden oder die

10 11

Kuhn 1970 diskutiert S. 185 die außerwissenschaftlichen Werte kaum. Siehe das so iiberschriebene Kapitel in Stegmüller 1976.

8

Hans-Joachim Dahms

von Mitgliedern während der Existenz der Gemeinschaft, aber in möglicherweise ganz anderen sozialen Rollen12 geäußert worden sind. Umgekehrt treten Fragen eines faktisch erzielten Konsenses oder einer sonst vorhandenen Ubereinstimmung in den Vordergrund, die es gestatten, bestimmte Positionen als exemplarisch oder repräsentativ für die Gemeinschaft oder eventuelle Untergruppen auszuzeichnen.

III Wie könnte man also den Wiener Kreis durch eine gemeinsame Lehre zu charakterisieren versuchen? Es ist klar, daß eine enzylopädische Bewegung der Stellung der durch sie integrierten wissenschaftlichen Disziplinen zueinander sowie der Funktion der Philosophie relativ zu diesen Wissenschaften besondere Aufmerksamkeit schenken muß. Dementsprechend schlage ich vor, die Lehre des Wiener Kreises tentativ wie folgt zu charakterisieren: 1. 2.

3. 4.

Reduktion der Philosophie auf Wissenschaftstheorie, Aufspaltung der Wissenschaften in zwei Klassen, nämlich die analytischen (Logik und Mathematik) und die synthetischen (alle empirischen Wissenschaften), „Logizismus" als Reduktionsprogramm für die analytischen Wissenschaften (nämlich der Mathematik auf Logik) und „Physikalismus" als Reduktionsprogramm für die synthetischen Wissenschaften (nämlich aller empirischen Disziplinen auf die Physik).

Diese Punkte beschreiben im übrigen nicht in dem Sinne eine „Lehre", als handele es sich jeweils schon um bewiesene Thesen oder bereits durchgeführte Programme, sondern mehr im Sinne für notwendig gehaltener und aussichtsreicher Zielperspektiven. Ihr kognitiver Gehalt ist also von vornherein geringer als der einzelwissenschaftlicher Theorien. Aber bei einem kurzen Durchgang durch die genannten Programmpunkte zeigt sich sofort, daß eine gemeinsame Lehre des Wiener Kreises 12

Solche Abgrenzungen sind unter Umständen im Einzelfall schwierig zu ziehen (sind etwa die Tätigkeiten von Neurath als Direktor des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums oder von Zilsel als Volkshochschuldozent als Aktivitäten des Wiener Kreises anzusprechen oder nicht?).

Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises

9

selbst in diesem abgeschwächten Sinne zu keinem Zeitpunkt bestanden hat. Beginnen wir mit der Reduktion der Philosophie auf Wissenschaftstheorie, dem ersten Programmpunkt! Es trifft zwar zu, daß einige Kreismitglieder diese Aufgabenbestimmung der Philosophie vorgeschlagen haben, insbesondere ist etwa an Carnaps dictum zu denken: „Philosophie ist Wissenschaftslogik" 13 . Aber dieser Vorschlag wurde keineswegs im Kreis allgemein akzeptiert. Er würde eine doppelte Beschneidung des traditionellen Kanons der Philosophie implizieren: zuerst die Reduktion der Philosophie auf Erkenntnistheorie (unter Ausschluß zunächst der gesamten praktischen Philosophie, also Ethik und politischer Philosophie, sowie weiter Bereiche der theoretischen Philosophie wie etwa O n tologie und Metaphysik) und dann sozusagen in einem zweiten Schritt die Reduktion der Erkenntnistheorie auf Wissenschaftstheorie (unter Ausschluß traditioneller Fragestellungen der Erkenntnistheorie wie etwa der Konstitution der Dinge der Außenwelt, der Existenz und Erkennbarkeit des Fremdpsychischen etc.). Beide Reduktionsschritte sind bei weitem nicht von allen Mitgliedern des Kreises mitvollzogen worden. So haben etwa Schlick, Kraft und Menger Bücher über praktische Philosophie publiziert, wobei Kraft und Menger im übrigen auch nicht wie Schlick die Ethik als Untersuchung der tatsächlich vorliegenden Normen und Werte verstanden, sondern als eine normative Disziplin. Als andere Vertreter des Wiener Kreises die Elimination der praktischen Philosophie wegen der angeblichen Sinnlosigkeit ethischer und moralischer Sätze betrieben und der Wiener Kreis deswegen als Ganzer kritisiert wurde, hat Schlick im übrigen ausdrücklich bestritten, daß die Philosophieauffassung des Wiener Kreises eine solche Elimination der Ethik zur Folge habe 14 . Wenn nun die Reduktion der Philosophie auf Wissenschaftstheorie in diesem Punkt durchaus umstritten war, scheint doch die „Überwindung der Metaphysik" zu den erklärten gemeinsamen Zielen des Kreises gehört zu haben. Ich komme darauf noch im Zusammenhang mit der Frage zurück, welchen Einfluß die weltanschaulichen und politischen Einstellungen des Kreises auf die Entwicklung seiner Lehre gehabt haben. Es wird sich dort zeigen, daß die scheinbare Einigkeit in der Ableh13 14

Carnap 1934. Schlick 1938, S. 397 f.

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nung der Metaphysik keine sehr bestimmte Doktrin ist, da unter „Metaphysik" von den verschiedenen Mitgliedern des Kreises sehr Verschiedenartiges verstanden wurde. Den genannten zweiten Reduktionsschritt, also die Reduktion der Erkenntnistheorie auf Wissenschaftstheorie, haben ebenfalls keineswegs alle Mitglieder des Kreises mitvollzogen. So ist ja etwa der Phänomenalismus von Carnaps „Logischer Aufbau der Welt" zum Teil als ein Versuch zur Lösung der Konstitutionsproblematik der Dinge der Außenwelt durch Sinnesdaten zu verstehen, der mit spezifisch wissenschaftlicher Erkenntnis noch gar nichts zu tun hat, sondern ein Beitrag zur Klärung unserer Alltagserkenntnis ist. Im Kapitel über „Wirklichkeitsprobleme" der „Allgemeinen Erkenntnislehre" Schlicks wird ein anderes traditionelles Problem der Erkenntnistheorie, nämlich die Frage nach der Realität und Erkennbarkeit der Außenwelt, als zum Bestand der Philosophie zugehörig abgehandelt und ausdrücklich festgestellt, daß diese Fragestellung weder durch die Wissenschaften noch durch den Alltagsverstand gelöst werden könne 15 . Allerdings sind dies Äußerungen, die in die erste Phase des Wiener Kreises fallen. Die spätere Abwendung vom Phänomenalismus hin zum Physikalismus brachte ja dann in der T a t die Konstitutionsproblematik dadurch „zum Verschwinden", daß die Dinge der Außenwelt nun als unproblematisch hingenommen wurden und nicht länger aus Sinnesdaten konstruiert werden mußten. Auch Schlick ließ sich später davon überreden, daß die Frage nach der Realität der Außenwelt ein sinnloses „Scheinproblem" sei. Aber alles in allem ergibt die Betrachtung der Aufgabenstellung und des als genuin angesehenen Problemsbestandes der Philosophie im Wiener Kreis kein einheitliches Bild. Wenn auch in einigen wichtigen Punkten eine allmähliche Konvergenz der Auffassungen festzustellen ist, so wurde diese doch durch fortdauernde und sich noch verschärfende Divergenzen (etwa in der Einschätzung des Stellenwertes der praktischen Philosophie) ausbalanciert. In mindestens einem wichtigen Punkt, nämlich der Uberwindung der Metaphysik ist zudem, wie sich zeigen wird, die Ubereinstimmung lediglich verbaler Natur. Werfen wir deshalb einen Blick auf den zweiten Programmpunkt, die Aufspaltung der Wissenschaften in analytische und synthetische ! Die 15

Schlick 1979, S. 204.

Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises

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Charakterisierung des logischen Empirismus durch die analytisch/synthetisch-Dichotomie ist ja nicht erst von Quine als ein Dogma (des Empirismus) bezeichnet worden, sondern vielfach auch von den Vertretern des Wiener Kreises selbst als wesentliches Grundelement seiner Lehre genannt worden. Es wäre also zu vermuten, daß wenigstens in diesem Punkt Einigkeit im Kreis bestanden hätte. Um diese Vermutung zu prüfen, ist wiederum zu fragen, welche philosophischen Positionen eigentlich durch die analytisch/synthetisch-Dichotomie ausgeschlossen werden. Diese Optionen fallen formal gesehen trivialerweise zunächst in zwei Gruppen, nämlich diejenigen, die weniger als zwei grundlegende Erkenntnis- bzw. Satzarten zugestehen, und andererseits solche, die mehr als zwei fordern. Die erste Gruppe fällt ihrerseits wieder in zwei Kategorien, nämlich einerseits diejenigen, die synthetische Erkenntnis als alleinige Erkenntnisart ansehen und deshalb auch bemüht ist, den Sätzen der Logik und Mathematik empirischen Status zu geben (wie das etwa bei J. St. Mill oder noch beim frühen B. Russell der Fall ist) und andererseits solche, die sozusagen im Gegenzug auch den üblicherweise als empirisch angesehenen Sätzen (etwa den Gesetzen der Physik) analytischen Status zusprechen (wie das etwa bei einigen Anhängern eines extremen Konventionalismus der Fall ist, die Naturgesetze als Definitionen und Definitionen als analytisch ansehen). Die zweite Gruppe (diejenigen also, die mehr als nur zwei Sorten von Sätzen fordern) wäre zunächst formal danach zu klassifizieren, wie viele und welche Satzarten sie zusätzlich zu den analytischen und synthetischen postuliert. Ich beschränke mich hier auf die Betrachtung derjenigen, die mit Kant außer synthetischen und analytischen Sätzen noch eine dritte Klasse fordern, nämlich die synthetisch apriorischen, in die etwa gewisse Sätze der Mathematik, insbesondere der Geometrie, sowie allgemeine Grundsätze der Wissenschaften wie das Kausalprinzip fallen. Es scheint nun, daß der Wiener Kreis jedenfalls in der Überwindung eines synthetischen Monismus, der auch die Sätze der Logik und Mathematik als empirisch auffaßt, einen Fortschritt gegenüber früheren Auffassungen des klassischen Empirismus sah16 und daß dieser Standpunkt von seinen Mitgliedern einheitlich vertreten wurde. Dagegen fällt die Stellungnahme der Mitglieder des Wiener Kreises zu den verschiedenen Formen des sozusagen analytischen Monismus, insbesondere zum Kon16

Siehe dazu etwa die Programmschrift des Wiener Kreises in Neurath 1981, 308 f.

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ventionalismus, außerordentlich uneinheitlich aus. Aber alles in allem ist doch bei vielen Vertretern des Wiener Kreises, die ursprünglich den Konventionalismus nahestanden, eine allmähliche Distanzierung gegenüber dieser wissenschaftstheoretischen Doktrin festzustellen 17 . Relativ kompliziert liegen die Dinge auch bei der Stellungnahme von Mitgliedern des Kreises gegenüber den Anhängern trichotomischer Erkenntnislehren. Diese Theorien, die die Einrichtung einer speziellen Kategorie synthetisch-apriorischer Sätze zu fundieren suchten, waren im übrigen in der damaligen Zeit im deutschsprachigen Raum der Philosophie besonders stark verbreitet, etwa in den verschiedenen Schulen des Neukantianismus und in der phänomenologischen Schule Husserls. In der Phänomenologie wurde etwa die Unvereinbarkeit gewisser Wahrnehmungsurteile (etwa: „dieser Fleck meines Gesichtsfeldes ist sowohl rot als auch grün") wie auch die Einsicht in gewisse Werturteile als Beispiele synthetisch-apriorischer Erkenntnis angegeben. Im Wiener Kreis waren nun die Stellungnahmen zu den intuitionistischen Wertlehren etwa Schelers und Hartmanns durchweg negativ, jedenfalls soweit von ihnen synthetisch apriorische Erkenntnis für die Einsicht in Wertverhältnisse in Anspruch genommen wurde. Dies trifft auch auf Viktor Kraft zu, der ja eine eigene Wertlehre entwickelt hat. Dagegen zeigen etwa die Diskussionen zwischen Wittgenstein, Schlick und Waismann, daß im Wiener Kreis kein fester Standpunkt gegenüber der Wahrnehmungslehre Husserls und dessen These, es gäbe zwischen gewissen Wahrnehmungsurteilen Folgerungs- und Widerspruchsverhältnisse, die zwar nicht rein logisch, aber auch nicht rein empirisch seien, eingenommen wurde 18 . Im Ganzen zeigt sich damit, daß die analytisch/synthetisch Dichotomie als Dogma des (logischen) Empirismus zwar von allen Mitgliedern des Wiener Kreises gegenüber den reinen Empiristen verteidigt wurde, daß aber gegenüber bestimmten Problemlagen, die von anderen Philosophen und Schulen als Beispiele für das Vorliegen von mehr als zwei Satzarten angeführt wurden, nicht immer einheitliche Standpunkte vertreten wurden. Trotzdem ist dies Dogma des logischen Empirismus gegenüber allen weiteren Programmpunkten der bei weitem konsensfähig17

18

Dies gilt besonders für Carnap, wie aus dessen noch unveröffentlichtem Briefwechsel mit Dingler hervorgeht. Siehe dazu etwa S. 67 f. und 78 f. in McGuinness 1967 und allgemein zur Frage der Behandlung des synthetischen a priori im Wiener Kreis den Artikel von Simons in diesem Band.

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ste im Wiener Kreis gewesen. Denn es wird sich zeigen, daß die nun zu besprechenden Reduktionsprogramme einerseits sehr verschieden interpretierbar waren und auch tatsächlich sehr verschieden interpretiert wurden, und andererseits selbst trotz dieser verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten nicht von den Mitgliedern des Kreises gemeinsam vertreten wurden. Beginnen wir mit dem Logizismus, demjenigen Rekonstruktionsprogramm, das die Reduktion der Mathematik auf Logik forderte bzw. die Reduzierbarkeit der ersteren auf die letztere behauptete. Hier ist zunächst zu bemerken, daß der Begriff „Logizismus" gar kein fest umrissenes Programm kennzeichnet. Denn je nachdem, was unter Logik verstanden wird (man denke als Extremfällen etwa an die extrem enge Auslegung des Wittgensteinschen Tractatus, in dem nur Tautologien zur Logik gezählt werden, oder an die extrem weite Fassung des Logikbegriffs durch die verzweigte Typentheorie Russells, innerhalb derer die Wittgensteinsche Logik nur ein winziges Fragment bildet), welche Teile der Mathematik auf die Logik reduziert werden sollen und schließlich auch, welche Reduktionsverfahren als zulässig angesehen werden, ergibt sich durch unterschiedliche Kombination dieser drei Elemente schon formal gesehen eine Vielzahl verschiedener Logizismusbegriffe. Daß diese verschiedenen Möglichkeiten nicht nur abstrakt existieren, zeigt etwa die Verschiedenartigkeit der verschiedenen Zahldefinitionen bei Frege und Russell einerseits und in Wittgensteins Tractatus 19 andererseits. Im Wiener Kreis nun waren sicherlich einige Mitglieder Anhänger des Logizismus, so vor allem Carnap 20 und H a h n , und zwar eines Logizismus im Russellschen Sinne. Eigenartigerweise beziehen sich aber die Logizisten des Wiener Kreises immer wieder zur Berufung auf Wittgensteins Tractatus 21 , obwohl dort die Sätze der Mathematik ausdrücklich als Gleichungen und nicht als Tautologien charakterisiert werden. Gleichungen gehörten aber für Wittgenstein nicht wie die Tautologien zur Logik, sondern konstituierten einen eigenen Bereich von nicht empirischen „Scheinsätzen". Für den mittleren Wittgenstein und in seinem Gefolge für Waismann gilt dann erst recht, daß sie keine Logizisten waren, 19

20 21

Siehe die Zahldefinition in 6.02 und Wittgensteins Kommentar zur Frege/Russellschen Definition der natürlichen Zahlen in 6.031 des Tractatus. Carnap 1931 Zum Beispiel in der Programmschrift (in: Neurath 1981, S. 309)

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sondern den intuitionistischen Ideen von Brouwer und Weyl nahestanden. Die Differenz zum Logizismus macht sich wiederum besonders in einer abweichenden, von Weyl übernommenen Zahlauffassung bemerkbar. Außer Wittgenstein und Waismann vertrat auch Karl Menger eine Spielart des Intuitionismus. Für die außerordentlich große Spannweite der verschiedenen Auffassungen in der Philosophie der Mathematik ist im übrigen der Umstand bezeichnend, daß das später berühmt gewordene Toleranzprinzip, das ursprünglich von Menger 22 als Vermittlungsvorschlag zwischen verschiedenen Spielarten des Intuitionismus vorgeschlagen worden war, dann von Carnap auf die Behandlung von Kontroversen zwischen den drei Hauptoptionen im mathematischen Grundlagenkonflikt (Logizismus, Formalismus, Intuitionismus) ausgeweitet wurde, bevor es schließlich jedwede philosophische Kontroverse schlichten helfen sollte. Schließlich ist nun als Abschluß der Betrachtung der „Lehre" des Wiener Kreises sein Reduktionsprogramm für die empirischen Wissenschaften zu betrachten, nämlich der Physikalismus. Was mit „Physikalismus" im Wiener Kreis eigentlich gemeint war, wie er entstand und wie er argumentativ verwendet wurde, ist ziemlich schwer zu ermitteln. Schon die Interpretation dieser Reduktionsprogrammatik schwankte zwischen der Forderung, als genuine Sätze der empirischen Wissenschaften nur Aussagen über räumlich und zeitlich fixierbare Vorgänge und Ereignisse und solche Aussagen, die sich auf diese reduzieren ließen, zuzulassen, und spezifischeren Anknüpfungen an die Physik, nämlich der Forderung, alle übrigen Wissenschaften in letzter Instanz (wenn auch über eine unter Umständen lange Reihe von Zwischenschritten) auf gewisse physikalische Theorien zurückzuführen 23 . Diese beiden Interpretationen des Physikalismus sind natürlich nicht identisch, denn der ersten Forderung ist schon mit einer erkenntnistheoretischen Anknüpfung an den naiven Realismus des common sense Genüge getan — die Gegenstände und Ereignisse der Alltagswelt erfüllen nämlich im allge22

Menger hat die Entstehung des Toleranzprinzips näher in Menger 1 9 7 9 , S. 11 — 17, geschildert.

23

Diese Schwankungen des Begriffs „Physikalismus" treten beim Vergleich von Neurath 1981, S. 431 ( „ D e r Physikalismus v e r t r i t t . . . die These, daß alles, von dem man sinnvoll reden kann, räumlich-zeitliche Ordnungen sind") und ebenda, S. 4 2 5 („. . . die These des Physikalismus, der bloß die physikalische N a t u r der Einheitswissenschaft betont, dagegen die Art, wie Physik betrieben wird, offen läßt; wesentlich ist, daß sie nur auf eine Art betrieben wird, daß es nur eine A r t von Objekten g i b t . . . ") deutlich zu T a g e .

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meinen die Forderung, räumlich und zeitlich fixierbar und so beschreibbar zu sein — während die zweite Interpretation überhaupt erst mit Physik zu tun hat. Bei dieser Interpretation entsteht dann aber sogleich die (der Problematik beim Logizismusbegriff im übrigen völlig analoge) Frage, welcher Begriff von Physik bzw. welche konkrete physikalische Theorie es denn sein soll, auf die die Reduktion aller übrigen empirischen Wissenschaften erfolgen soll. Zusätzlich zur Frage der Reduktionsbasis, den zulässigen Reduktionsverfahren und den zu reduzierenden Theorien kommt aber (anders als beim Logizismus) für den Physikalisten die Frage hinzu, in welcher methodischen Reihenfolge denn die verschiedenen empirischen Wissenschaften reduziert werden sollen. Auch stellt sich hier das Problem schärfer, wie im Falle einer prinzipiellen Undurchführbarkeit einzelner Reduktionsschritte verfahren werden soll: sollen dann die einzelnen nicht reduzierbaren Wissenschaften oder Theorieteile eliminiert, physikalistisch umformuliert oder unter Umständen zu einer Liberalisierung des Physikalismus selbst verwendet werden? V o n diesen Interpretationsfragen, über die nie eine Klärung im Wiener Kreis herbeigeführt wurde, einmal abgesehen, ist zudem zu prüfen, ob denn bei aller vorhandenen Unklarheit im Begriff des Physikalismus wenigstens eine einheitliche Stellungnahme zu diesem Reduktionsprogramm im Kreis vorhanden war. Zum Zwecke dieser Prüfung ist es wieder nützlich, sich kurz zu vergegenwärtigen, welche Optionen denn durch den Physikalismus ausgeschlossen wurden. D a der Physikalismus für alle empirischen Wissenschaften nicht nur einen einheitlichen Gegenstandsbereich, sondern auch einen einheitlichen Methodenkanon forderte, schloß er zunächst alle philosophischen Optionen aus, die einen wissenschaftstheoretischen Dualismus verschiedener Wissenschaftsbereiche mit je eigenen Verfahrensweisen vorsah (und hätte natürlich erst recht wissenschaftstheoretische Positionen ausgeschlossen, die noch mehr als zwei unterschiedliche Wissenschaftsbereiche und Methodenkanons vorsehen 24 ). Ein Methodendualismus sowie die Behauptung gänzlich verschiedener Gegenstandsbereiche bestimmter empirischer Wissenschaften war nun in der deutschsprachigen Philosophie schon mindestens seit der Jahrhundertwende weit verbreitet und wurde mit vielfältigen Abgrenzungsversuchen fundiert. Dabei handelte es sich durchaus nicht nur um die verschiedenen Versuche, den Naturwissen24

Also insbesondere die trichotomische Klassifizierung der Wissenschaften durch „erkenntnisleitende Interessen" durch H a b e r m a s .

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Schäften einen sachlich und methodisch verschiedenen Bereich der Geisteswissenschaften gegenüberzustellen, wie das etwa mit dem Intentionalitätskriterium für die Abgrenzung von physischen und psychischen Prozessen in der Nachfolge Brentanos in der Phänomenologie, der Entgegensetzung von an nomothetischem Gesetzeswissen interessierten N a turwissenschaften und den an idiographischer Beschreibung einzelner Personen und Handlungen interessierten Geisteswissenschaften in der Heidelberger Schule des Neukantianismus oder schließlich Diltheys Formel von erklärender Naturwissenschaft und verstehender Geisteswissenschaft angegangen worden war. Vielmehr mußte sich jedes Physikalismuskonzept auch in Frontstellung zu Wissenschaftstheorien fühlen, die schon für Teilbereiche der Naturwissenschaft besondere Gegenstandsbereiche, besondere methodische Verfahren und besondere Erkenntnisziele reklamierte, wie das etwa der Neo-Vitalismus 25 mit seiner Gegenüberstellung von mechanisch erklärbarer unbelebter Natur und mechanisch nicht mehr aufzuklärender belebter Natur (und all den daran anknüpfenden Ganzheitslehren) tat. Der Wiener Kreis dachte nun weder, was das Programm des Physikalismus, noch, was die Ablehnung der genannten dualistischen Wissenschaftsklassifikation anbetrifft, einheitlich. Insbesondere Schlick, der sich schon in der „Allgemeinen Erkenntnislehre" mit Berufung auf Kant für die Zeitlichkeit als einziges Kriterium der Realität festgelegt und im Konflikt um die „Geisteswissenschaften" für die dualistische Auffassung der Neukantianer ausgesprochen hatte 26 , äußerte sich mit der zunehmenden Radikalisierung der mit dem Physikalismus verbundenen Programmatik der Einheitswissenschaft auch zunehmend polemischer, indem er letztere etwa als „Einheizwissenschaft" buchstabierte. Auch der der Phänomenologie nahestehende Felix Kaufmann 2 7 hatte naheliegenderweise nichts mit dem Physikalismus im Sinn. Wenn man hinzunimmt, daß Carnap erst unter dem Einfluß Neuraths von seinem früher vertretenen phänomenologischen Reduktionismus zum Physikalismus übergegangen war, ergibt sich im Ganzen ein ziemlich uneinheitliches Bild in einer zentralen Frage der neopositivistischen Programmatik, ja es wird sozusagen im Gegenzug erklärungsbedürftig, wieso es überhaupt zur

25

26 27

Die ausführlichste Auseinandersetzung des Wiener Kreises mit dem Vitalismus findet sich in Kapitel IV („Kausalität, Finalität und Vitalismus") von Frank 1932. Schlick 1979, S. 220—223, 99. Vergleiche damit aber etwa Neurath 1981, S. 438! Siehe dazu in diesem Band den Aufsatz von Helling.

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Propagierung des Physikalismus als empiristischem gramm gekommen ist.

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Reduktionspro-

Die Ergebnisse dieser kurzen Untersuchung der „Lehre" des Wiener Kreises zusammenfassend kann gesagt werden, daß eigentlich nur in einem einzigen Punkt allseitiger Konsens herrschte, nämlich in der Verteidigung der analytisch/synthetisch-Dichotomie gegenüber radikalempiristischen Positionen, dagegen in allen anderen Punkten sich ein uneinheitliches Bild von wechselnden Koalitionen und im Zeitverlauf sich verändernden Konstellationen ergab. Angesichts dieses weitgehend negativen Befunds in der Frage, ob der Wiener Kreis durch eine gemeinsame Lehre charakterisiert werden kann, ist es naheliegend, sich seine „Methode" als nächsten Kandidaten zu wählen, der eine Vereinheitlichung, wenn schon nicht in inhaltlichen Resultaten, dann doch wenigstens in einem gemeinsamen Vorgehen bewirkt hat.

IV Was einzelne Mitglieder des Wiener Kreises immer wieder als Charakteristikum des logischen Empirismus angegeben und was auch in der Programmschrift des Kreises als Kennzeichen der wissenschaftlichen Weltauffassung aufgeführt wird, das ist die Methode der logischen Analyse. Dieser Methode kommt deshalb für die Kennzeichnung des Wiener Kreises besondere Bedeutung zu, weil sie die differentia specifica gegenüber älteren Formen des Positivismus (etwa denen Comte's oder Machs und Avenarius') bilden sollte. Verschiedentlich wurde auch ein besonderer Punkt daraus gemacht, daß die gesamte Philosophie nicht durch besondere Ergebnisse (etwa so etwas wie „philosophische Sätze") charakterisiert werden sollte, sondern als eine analysierende Tätigkeit 28 , deren Ziel das Klarwerden des Sinns von Sätzen sei. In einem solchen Kontext erhält die logische Analyse als in der analysierenden Tätigkeit der Philosophie einzuhaltendes Verfahren noch zusätzliches Gewicht. Zwar sind von Vertretern des Wiener Kreises selbst gelegentlich Versuche unternommen worden, die Kontinuität seines Philosophieverständnisses mit der Tradition der abendländischen Philosophie dadurch 28

Der locus classicus für diese Haltung ist natürlich Wittgenstein 1921, 4.112. Ähnlich Schlick 1938, S. 36 und Neurath 1979, S. 87.

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nachzuweisen, daß ja auch schon die sokratische Methode des Zergliederns und Definierens von Begriffen eine Art von logischer Analyse gewesen sei29. Aber es kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß der Wiener Kreis neben den englischen Vertretern der analytischen Philosophie (etwa Russell und Moore) die erste philosophische Gruppierung gewesen ist, die die Mittel der neuen Logik Freges, Russells und Wittgensteins in den Dienst seiner Art von logischer Analyse gestellt hat. Wenn man sich aber genauer ansieht, was im einzelnen von den Mitgliedern des Wiener Kreises unter „logischer Analyse" verstanden worden ist, wird man eine große Vielfalt der verschiedensten Theorien entdecken. Zunächst einmal wurde unter „logischer Analyse" das Verfahren der Definition bzw. Erläuterung von Begriffen und Ausdrücken sowie der Klärung des Sinns von Sätzen verstanden. Daß der Wiener Kreis nach den bekannten Schwierigkeiten seiner ersten Sinntheorie, nämlich des Verifikationismus („Der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation") mit der Analyse des Sinns von Naturgesetzen teils zu verschiedenen Liberalisierungen des Empirismus einschließlich einer Aufgabe des Verifikationismus, teils zu Revisionen des Verständnisses des Sinns von Naturgesetzen (etwa als „Anweisungen zur Bildung von Aussagen" statt wie bisher als Sätzen) Zuflucht nahm, ist bekannt und braucht hier ebensowenig referiert werden wie das Schicksal der einander in rascher Folge abwechselnden neuen Sinntheorien und Sinnkriterien. Hier kommt es mir nur darauf an zu zeigen, daß die Uneinigkeit über den Begriff der logischen Analyse nicht erst bei den verschiedenen Liberalisierungen des Empirismus begann, sondern von Anfang an das vorgebliche Instrument der Sinnklärung zu einem unscharfen Werkzeug machte. Ich meine damit die Unklarheiten, die schon in der Auslegung der ersten Sinntheorie des Wiener Kreises, nämlich des Verifikationismus, durch seine verschiedenen Mitglieder bestanden. In der Interpretation der meisten Kreismitglieder war der Verifikationismus identisch mit der Sinntheorie des Tractatus. Insbesondere das empiristische Sinnkriterium („ein Satz ist nur dann sinnvoll, wenn er verifizierbar ist") wurde als eine Konsequenz des Tractatus angesehen. Inzwischen ist verschiedentlich nachgewiesen worden, daß die Sinntheorie des Tractatus mit dem Verifikationismus nicht viel gemeinsam hat29a. Denn grob gesagt ist die Sinntheorie des Tractatus realistisch, der Sinn 29

S o schreibt Schlick 1938, S. 396 über Sokrates: „Socrate fut le premier vrai philosophe . . . il fut un chercheur du sens des propositions . . ." 29 >Siehe dazu neuerdings Dahms 1981 und Schulte 1982.

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von Sätzen wird dort durch Wahrheitsbedingungen festgelegt, dagegen ist die Sinntheorie des Verifikationismus nicht-realistisch, denn hier wird ein Satzsinn durch Verfahren der Verifikation festgelegt, also nicht etwas, was in der realen Welt der Fall ist, sondern etwas, was wir tun, um festzustellen, was der Fall ist. Ein weiterer bedeutsamer Unterschied der genannten Sinntheorien besteht in der Frage, worauf sie angewandt werden sollen. Sind nämlich nach der realistischen Sinntheorie des Tractatus die Sätze der Mathematik (und übrigens auch der Logik und gewisser Sätze der Mechanik) sinnlose Scheinsätze, so sind diese Sätze aber andererseits ausdrücklich Anwendungsfälle der späteren verifikationistischen Sinntheorie, ja es besteht Grund zu der Annahme, daß der Verifikationismus als Ganzer vom mittleren Wittgenstein aufgebracht wurde, um bestimmte Probleme der intuitionistischen Philosophie der Mathematik zu lösen. Schließlich ist das berühmte Sinnkriterium des logischen Empirismus nur eine Konsequenz des Verifikationismus, nämlich für den Extremfall, daß ein Satz nicht verifizierbar ist, weil es für ihn keine Verifikationsmethode gibt. Dagegen gibt der Verifikationismus auch in den Fällen, wo ein Satz Sinn hat, an, worin dieser Satzsinn besteht. Insbesondere folgt aus dem Verifikationismus, daß (äußerlich) gleiche Sätze verschiedenen Sinn haben, wenn sie verschiedene Verifikationsmethoden haben, und daß umgekehrt (äußerlich) verschiedene Sätze den gleichen Sinn haben, wenn sie auf dieselbe Weise verifiziert werden. Im Ganzen steht der Verifikationismus damit der pragmatistischen und operationalistischen Sinntheorie (aus denen sich analoge Korrolare ergeben) wesentlich näher als der realistischen Sinntheorie des Tractatus. Das Erstaunliche ist nur, daß weder dieser Umstand noch die erhebliche Differenz zwischen der Sinntheorie des Tractatus und dem Verifikationismus von den Mitgliedern des Wiener Kreises bemerkt worden zu sein scheint. Wirklicher Gebrauch ist im Wiener Kreis auch nur von einem winzigen Teil der gesamten verifikationistischen Sinntheorie gemacht worden, nämlich von einem ihrer Korrolare, dem Sinnkriterium, das sich bestens als Kampfmittel im Feldzug des Kreises gegen „die Metaphysik" zu eignen schien. Darauf komme ich noch zurück. Im Ganzen bleibt für die Methode des Wiener Kreises, nämlich die mittels spezieller Sinntheorien spezifizierte logische Analyse, festzustellen, daß nicht erst seit den Schwierigkeiten des ursprünglich propagierten Verifikationismus mit dem Sinn von Naturgesetzen, sondern schon bei der Interpretation dieser ersten Sinntheorie die Auffassungsunter-

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schiede erheblich waren, obwohl das vielen Mitgliedern des Kreises nicht bewußt gewesen zu sein scheint 30 .

V Werfen wir nun zum Schluß dieses Abschnitts einen kurzen Blick auf die letzten Kandidaten, die als einheitsstiftende Elemente für eine Charakterisierung des Wiener Kreises in Frage kommen, nämlich die Gruppe der „Einstellungen". In der Programmschrift des Kreises „Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis" 31 werden etwa folgende Einstellungen ausdrücklich genannt: 1.

die spezifisch wissenschaftliche Einstellung, die in dem dictum zum Ausdruck kommt: „was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar säet gen , 2. die „antimetaphysische" (und nicht nur metaphysikfreie) Einstellung und schließlich 3. die „Einstellungen zu den Lebensfragen". Zur Erläuterung der letzteren heißt es dort: „(Sie) lassen eine merkwürdige Ubereinstimmung erkennen. Diese Einstellungen haben eben eine engere Verwandtschaft mit der wissenschaftlichen Weltauffassung, als es auf den ersten Blick, vom rein theoretischen Gesichtspunkt aus scheinen möchte. So zeigen zum Beispiel die Bestrebungen zur Neugestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, zur Vereinigung der Menschheit, zur Erneuerung der Schule und der Erziehung einen inneren Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Weltauffassung; es zeigt sich, daß diese Bestrebungen von den Mitgliedern des Kreises bejaht, mit Sympathie betrachtet, von einigen auch tatkräftig gefördert werden" 32 . Diese „Einstellungen zu den Lebensfragen" sind sicherlich im Sinne der anfangs genannten Kuhnschen Unterscheidung außerwissenschaftlicbe Einstellungen, wenngleich eine „engere Verwandtschaft mit der wissenschaftlichen Weltauffassung" behauptet wird. Diese Behauptung wurde im übrigen nicht von allen Mitgliedern des 30

31 32

Carnap behauptet in seinem berühmten Aufsatz „Überwindung der Metaphysik . . ." mehrfach fälschlich die Äquivalenz einer ganzen Reihe von gänzlich verschiedenen Sinntheorien. Abgedrucktin Neurath 1979. Neurath 1979, S. 85.

Versuch einer Charakterisierung des Wiener Kreises

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Kreises geteilt. Deshalb müßte sehr im Einzelnen untersucht werden, welche einzelnen Bestrebungen, die im obigen Zitat aufgeführt wurden, von den einzelnen Mitgliedern tatsächlich getragen wurden und in welcher Intensität dies geschah. Denn zwischen der bloßen Bejahung von gewissen Bestrebungen bis zur eigenen tatkräftigen Förderung ist ja immerhin auch ein wesentlicher Schritt. Diese Untersuchung kann hier natürlich nicht unternommen werden. Immerhin ist darauf hinzuweisen, daß schon die schwächste der genannten Partizipationsformen an gesellschaftlichen Reformen, nämlich deren bloße Bejahung, eine für die Hochschullehrerschaft der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Raum völlig ungewöhnliche Einstellung war 33 . Sie bildet deshalb keine zu unterschätzende Gemeinsamkeit eines großen Teils der Kreismitglieder, deren aufklärerische Aktivitäten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen im übrigen in vielen Fällen weit über die bloße Bejahung von Reformen hinausgingen und zwar auch dann, wenn sie dem sogenannten „rechten Flügel" des Kreises angehörten. Es scheint nun so, als seien die beiden anderen genannten Einstellungen, nämlich die „spezifisch wissenschaftliche" und die metaphysikfreie bzw. antimetaphysische im Sinne einer Aufteilung der gesamten Einstellungen des Kreises auf inner- bzw. außerwissenschaftlichen „Werte" eindeutig der erstgenannten Gruppe, den innerwissenschaftlichen Werten, zuzuordnen. Dies scheint aber möglicherweise nur so. Denn die in der „spezifisch wissenschaftlichen Einstellung" zum Ausdruck kommende Forderung nach Klarheit und Genauigkeit der Artikulation dessen, was sich überhaupt sagen läßt, und die entsprechende Forderung zum Schweigen über all das, was sich nicht so aussprechen läßt, hat ja zweifellos ein Pendant in anderen kulturellen Bereichen außerhalb der Philosophie und Wissenschaften. In der funktionalistischen Architektur, der „Neuen Musik" der Wiener Schule und in der Literatur etwa Musils finden sich jeweils parallele Forderungen zum Verzicht auf unnötige Schnörkel („Ornament als Verbrechen") einerseits und Klarheit und Durchsichtigkeit des gestalteten ästhetischen Materials andererseits. Deshalb drängt sich die Vermutung auf, daß die genannte „spezifisch wissenschaftliche Einstellung" lediglich die auf den Wissenschaftsund Philosophiebetrieb bezogene Spezialisierung eines viel umfassende33

Im Deutschen Reich läßt sich deren Anzahl etwa an der Zahl der ersten nach dem „Arierparagraphen" des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" durch die Nationalsozialisten am 13. 4. 1933 beurlaubten Hochschullehrer ablesen. D a bei handelte es sich um insgesamt 16 Personen.

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ren neuen Lebens- und Gestaltungsprinzips ist. Diese Vermutung kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden 34 . Für die metaphysikfreie bzw. antimetaphysische Einstellung als Gemeinsamkeit der Kreismitglieder gilt noch mehr als bei der „spezifisch wissenschaftlichen Einstellung", daß ihre Zuordnung zu den „innerwissenschaftlichen Werten" nicht ohne weiteres klar ist. Wie schon angedeutet, ist die Metaphysikkritik des Wiener Kreises im Zusammenhang mit seiner Sinntheorie zu sehen. Sie stellt gegenüber traditionellen „linken" Formen der Metaphysik- und Religionskritik gerade insofern ein Novum dar, als sie nicht etwa auf die soziale Funktion der kritisierten Metaphysik abstellt, sondern auf deren mangelnden Sinngehalt, der sich bei näherer Analyse im Auftreten von syntaktischem oder semantischem Unsinn manifestieren soll. Aber durch den Hinweis auf diesen Zusammenhang von Metaphysikkritik und Sinntheorie ist die Frage noch nicht entschieden, ob die Metaphysikkritik im Wiener Kreis erst eine Konsequenz einer bestimmten Sinntheorie war oder ob umgekehrt der Wiener Kreis bzw. einige seiner Mitglieder diese Sinntheorie akzeptiert haben, weil sie sich von ihr eine Verschärfung des Kampfes gegen die Metaphysik durch den Sinnlosigkeitsvorwurf erhofften, eines Kampfes, den sie im übrigen schon vorher unabhängig von einer speziellen Sinntheorie geführt hatten. Von der Entscheidung dieser Alternative hängt ersichtlich die Beantwortung der Frage ab, ob die „antimetaphysische Einstellung" des Kreises eher in die Gruppe der seinen Mitgliedern gemeinsamen innerwissenschaftlichen oder seiner sozusagen externen Werte einzuordnen ist. Diese Frage gehört aber schon in einen allgemeineren Kontext, denn sie führt in das Problem, ob sich durch die Betrachtung außerwissenschaftlicher Charakteristika des Wiener Kreises nur eine philosophisch letztlich unerhebliche Ergänzung unseres bisherigen Wissens über ihn erreichen oder ob sich auch ein besseres Verständnis einzelner Stücke seiner „Lehre" oder auch wichtiger Veränderungen derselben erzielen läßt.

34

Siehe dazu aber ausführlich die Arbeiten von Toulmin 1973 und Nemeth 1981 sowie Glaser 1981.

Versuch einer Charakterisierung des W i e n e r Kreises

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VI Dies Problem soll nun exemplarisch an zwei Punkten diskutiert werden, nämlich am schon genannten Aufkommen der Metaphysikkritik im Wiener Kreis und am Wechsel seines Reduktionsprogramms für die empirischen Wissenschaften, nämlich dem Ubergang vom Phänomenalismus zum Physikalismus. D a diese Themen ohnehin in diesem Band, wenn auch in anderem Zusammenhang, zur Sprache kommen, kann ich mich im Folgenden auf einige ergänzende Bemerkungen beschränken. Beginnen wir mit der Einstellung des Kreises gegenüber der Metaphysik! Hier sind wiederum einige Differenzierungen zu treffen, die sich auf das Metaphysikverständnis, die gefühlsmäßige Einstellung gegenüber der Metaphysik als auch schließlich auf die Bereitschaft zur Bekämpfung derselben beziehen. Zunächst einmal wurde unter Metaphysik von den verschiedenen Mitgliedern des Kreises ganz Verschiedenerlei verstanden. Denn da die verifikationistische Sinntheorie mit ihrem Sinnkriterium ja von einigen Kreismitgliedern ausdrücklich auf die Mathematik angewendet wurde, während sie von anderen auf empirische (bzw. vorgeblich empirische) Aussagen beschränkt blieb, wurde von diesen Kreismitgliedern der Bedarf zur Reinigung von Wissenschaftszweigen vom Sinnlosigkeitsverdacht erheblich weiter ausgelegt als von den übrigen Mitgliedern. Diese orteten Metaphysik vor allem im Ubergangsbereich von Philosophie und Religion und in gewissen Residuen auch in einzelnen Wissenschaftszweigen sowohl der Natur- 3 5 als auch der Sozialwissenschaften 3 6 . Aber eine Antwort auf die Frage, was denn nun eigentlich Metaphysik sei, wird man in den Schriften des Wiener Kreises vergeblich suchen. An ein traditionelles Metaphysikverständnis im Sinne der philosophischen Klassiker wird im allgemeinen nicht angeknüpft und dies schon deshalb nicht, weil die meisten Kreismitglieder etwa Aristoteles' Metaphysik aus eigener Lektüre nicht gekannt haben dürften. Deshalb ist es auch erklärlich, daß die meisten Beispiele, an denen der Kreis seine Metaphysikkritik exemplifizierte, entweder Autoren betraf, die selbst explizit und mit positiver Wertung zum T h e m a Metaphysik in den zwanziger Jahren

35 36

Siehe dazu besonders Frank 1932 passim. Neurath 1981, darin besonders Kapitel S. 4 2 4 - 5 2 7 .

5

(„Metaphysische

Gegenströmungen"),

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Stellung genommen hatten 37 oder solche, deren Verfahrensweisen man aus den verschiedensten Gründen nicht für einwandfrei hielt38. Als gemeinsamer Nenner all der Theorien und Behauptungen, die mit dem Verdikt „Metaphysik" belegt wurden, wird man deshalb nicht mehr ausmachen können als „Inbegriff all dessen, das nach Auffassung des Wiener Kreises nicht mit einer verifikationistischen Sinntheorie (bzw. deren späteren Abschwächungen) in Ubereinstimmung zu bringen ist". Abgesehen davon, daß dadurch der Metaphysikbegriff von den Schwankungen in der Entwicklung der empiristischen Sinntheorie abhängig gemacht wird, wird dadurch auch gleichzeitig die Metaphysikkritik des Wiener Kreises zirkulär, weil sie nicht in der Lage ist, einen von der beabsichtigten Kritik unabhängigen Metaphysikbegriff anzubieten. „Metaphysik" scheint demnach ein ebenso inhaltlich unbestimmter, aber gleichzeitig ubiquitär verwendbarer Kampfbegriff des Wiener Kreises gewesen zu sein, wie dies später parallel für den Positivismusvorwurf der Frankfurter Schule gilt. Wenn dies die Bestimmung und Funktion des Metaphysikbegriffs im Wiener Kreis gewesen ist, so kann nicht verwundern, daß Metaphysik von all seinen Mitgliedern vehement abgelehnt wurde. Es ist nur ein Zeichen für den allmählichen späteren Zerfallsprozeß des Kreises, daß einzelne seiner Mitglieder diesen Sinnlosigkeitsverdacht auch gegenüber anderen Mitgliedern äußerten 39 . Trotz einer übereinstimmenden Ablehnung (einer im übrigen ja nicht begrifflich genauer gefaßten Metaphysik) gab es nun aber schon divergierende gefühlsmäßige Einstellungen ihr gegenüber. Während für Neurath und Carnap Metaphysik das bete noir schlechthin darstellte, gab es vor allem aus dem sogenannten „rechten Flügel" des Kreises auch versöhnliche Äußerungen. Besonders drastisch läßt sich der persönliche Konflikt von intellektueller Ablehnung und gefühlsmäßiger Bindung an Wittgensteins Zitat des Augustinschen dictum ablesen: „Was, du Mistvieh willst keinen Unsinn reden" 39a . Waismann rechnete sich selbst und

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Insofern ist es kein Wunder, daß sich Carnap 1932 die Beispiele für „metaphysischen Unsinn" größtenteils aus Heideggers Metaphysikvorlesung nimmt. 38 S o bringt Neurath 1981, S. 458 die ja nun wirklich sehr gemischte Gesellschaft S o m bart, Spann, Scheler und Max Weber als Beispiele für metaphysisches D e n k e n in der Soziologie. 39 Siehe dazu etwa in diesem Band die Darstellung des allmählichen Entfremdungsprozesses zwischen Carnap und Neurath, in dem der Metaphysikvorwurf eine wichtige Rolle gespielt hat, durch Hegselmann. 39l M c G u i n n e s s , S. 69.

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auch Schlick zu den „eher metaphysisch Gestimmten" 40 . Aus dem Zusammenspiel oder Widerstreit zwischen intellektueller Einsicht in den kognitiven Status der Metaphysik einerseits und der inneren Einstellung zu ihr andererseits erklären sich im übrigen auch die unterschiedlichen Grade der Bereitschaft bei den verschiedenen Kreismitgliedern, innerhalb des akademischen Raums und auch außerhalb der Wissenschaft den Kampf gegen die Metaphysik aufzunehmen. Wie Wittgenstein in seiner Kritik an der Programmschrift des Kreises mit Recht bemerkt hat, ist Metaphysikkritik, zumal in Österreich, durchaus keine neue Erfindung gewesen. Ich möchte nun die These vertreten, daß ein starkes Motiv für die Akzeptanz der in rascher Folge einander ablösenden Sinntheorien durch einen Großteil des Wiener Kreises darin bestanden hat, die traditionelle Metaphysikkritik durch den Sinnlosigkeitsverdacht überbieten zu können. Denn von religiösen und metaphysischen Bindungen hatten sich die meisten längst freigemacht, bevor sie zum Kreis stießen. Einige hatten auch bereits eine propagandistische Auseinandersetzung gegen Metaphysik und Religion begonnen. Die bereits skizzierte Rezeption und Verwendung der verifikationistischen Sinntheorie, die von dieser nicht nur auf empirische Aussagen beschränkten und sehr viel umfassenderen Konzeption nur schließlich das „empiristische Sinnkriterium" übrigließ, mit dem dann der Kampf gegen die Metaphysik geführt wurde, macht deutlich, daß in einer entscheidenden Wendung des Wiener Kreises weniger Überlegung als „extern" motiviertes Wunschdenken ausschlaggebend gewesen ist. Ähnliche Motive wie beim Zusammenhang von Metaphysikkritik und Akzeptanz einer verifikationistischen Sinntheorie scheinen nun auch bei einem anderen wesentlichen Abschnitt in der „Theoriendynamik" des Wiener Kreises bestimmend gewesen zu sein, dem Ubergang vom frühen positivistischen Phänomenalismus zum späteren Physikalismus. Von verschiedenen Kreismitgliedern wird der Anstoß dazu Neurath zugeschrieben, und das ist auch wohl schon deshalb richtig, weil auch Carnap, der ja im „Logischen Aufbau der Welt" schon eine pysikalistische Alternative zu einem phänomenalistischen Konstitutionssystem angedeutet hatte 41 , den Umschwung der Wirkung der Argumente Neuraths zurechnet, für den in dieser Frage „the strongest motive for this 40 41

Siehe Waismanns Vorwort zu Schlick 1938, S. X X X . Carnap 1928, §§ 59 und 62 sowie das Vorwort zur zweiten Auflage, S. XII.

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position" das Faktum war, „that, during the last hundred years, materialism was usually connected with progressive ideas in political and social matters, while idealism was associated with reactionary attitudes" 42 . Neuraths Motive, wie sie hier geschildert werden, haben starke Anklänge an die Positivismuskritik Lenins in „Materialismus und Empiriokritizismus". Diese Kritik hat Neurath offenbar stark beeinflußt, denn er schreibt in seiner „Empirischen Soziologie": „Lenin hat in seinem . . . Buch gegen den Empiriokritizismus, dessen antimetaphysischer Haltung er nicht gerecht wird, mit dem Blick des politisch Mißtrauischen eine Reihe von Äußerungen empiriokrizistisch, positivistisch eingestellter Forscher aufgefunden, die von einer gemeinhin übersehenen, groben idealistisch-metaphysischen Grundeinstellung dieser Forscher ausgiebig Zeugnis ablegen . . . Dies durchaus berechtigte Mißtrauen gegenüber den vorhandenen Vertretern der genannten Richtungen erschwert die Verbindung zwischen Soziologie auf materialistischer Basis und der wissenschaftlichen Weltauffassung, solange letztere nicht in einem klar ausgebauten Physikalismus die Bestrebungen des historisch überlieferten Materialismus konsequent ausbaut und alles, was auch nur entfernt nach idealistischer Philosophie, also Halbtheologie, aussieht, eliminiert" 43 . Wenn also kein Zweifel darüber bestehen kann, daß für Neurath der Ubergang zum Physikalismus in Wahrheit einen Ubertritt zum Materialismus erbringen sollte, der seinerseits weitgehend politisch motiviert war und mit irgendwelchen Anknüpfungen an die neueren Entwicklungen in der Physik herzlich wenig zu tun hatte, so ist doch andererseits klar, daß dies nicht gleichzeitig die Gründe gewesen sind, aus denen heraus andere Mitglieder des Kreises dieser Wendung zugestimmt haben. Auch in diesem Fall sind politische Präferenzen, gefühlsmäßige Einstellungen und intellektuelle Einsichten miteinander auf komplizierte Weise miteinander verflochten, die sich zudem bei verschiedenen Kreismitgliedern noch in unterschiedlichen Konstellationen zu einer Gesamtentscheidung zusammengesetzt haben. Die Metaphysikkritik und die Durchsetzung des Physikalismus im Wiener Kreis sind nach den hier skizzierten Überlegungen Beispiele dafür, wie sich außerwissenschaftliche Einstellungen und Präferenzen auf

42 43

Schilpp 1963, S. 51. Neurath 1981, S. 524.

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die Theoriebildung und -dynamik in dieser enzyklopädischen Gemeinschaft ausgewirkt haben. Diese Beispiele ließen sich noch vermehren. Andererseits soll natürlich nicht behauptet werden, daß geradezu alle Entwicklungen in der „Lehre" des Kreises außerwissenschaftlichen Ursachen entspringen. Im Gegenteil scheint der Kreis nach dem Verbot seiner Popularisierungsbestrebungen durch das Dollfuß-Regime 1934 und seine Zerstreuung in verschiedene Länder und Städte durch die Emigration eine zunehmende Akademisierungstendenz durchgemacht zu haben, als deren Folge der Einfluß der außerwissenschaftlichen Einstellungen auf die Aktivitäten der ehemaligen Kreismitglieder immer mehr nachließ und die Auseinandersetzung mit den philosophischen Strömungen in den Emigrationsländern einen wachsenden Raum einnahm. Im Ganzen ergibt sich aber, daß der Wiener Kreis ohne Einbeziehung des allgemeineren Kontextes historischer und politischer Hintergründe auch in wesentlichen Punkten seiner Theoriebildung nicht adäquat verstanden werden kann. Wenn man dabei die verschiedenen Komponenten einer überindividuellen Charakterisierungsmöglichkeit des Kreises, nämlich seine Lehre, seine Methode und seine Einstellungen nebeneinander hält, ergibt sich ein ziemlich verwirrendes, uneinheitliches und außerdem im Zeitverlauf rasch wechselndes Bild wechselnder Divergenzen und Koalitionen in Detailfragen, die durch den gemeinsamen Impetus einer über die Grenzen der Philosophie und Einzelwissenschaften hinausgehenden Aufklärung zusammengehalten werden. Aber wie es scheint, ist nicht einmal dieses einigende Band sehr stark gewesen, und man wird sicherlich in der Philosophiegeschichte Beispiele von sehr viel weitgehenderen Ubereinstimmungen finden können, ohne daß sich daraus eine relativ stabile und über Jahre fruchtbare Zusammenarbeit ergeben hätte. Der relativ starke Zusammenhalt im Wiener Kreis trotz in sehr vielen theoretischen und praktischen Fragen unterschiedlichen Auffassungen verlangt deshalb nach einer weiteren Erklärung, die hier nicht gegeben, sondern nur angedeutet werden kann. Für das Fach Philosophie an der Wiener Universität in der Zwischenkriegszeit ist ja schon gezeigt worden, daß die Vertreter des Kreises eine gegenüber den Vertretern der „Metaphysik" recht prekäre Außenseiterrolle gespielt haben, die sich an einer großen Anzahl von Konflikten mit anderen philosophischen und vor allem auch politischen Richtungen an der Hochschule und mit dem zuständigen Ministerium

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zeigte 44 . Diese Außenseiterrolle hatte eine empiristische, auf Aufklärung zielende Philosophie jedoch erst recht unter den Vertretern der akademischen und populären Philosophie im deutschsprachigen Raum im Ganzen : hier gaben etwa nach dem Kriterium der Auflagenhöhe im akademischen Bereich der vom Wiener Kreis bekämpfte Heidegger 45 und im populären philosophischen Schrifttum der gleichfalls vom Kreis befehdete Oswald Spengler 46 den T o n an. Angesichts dieser doppelten Außenseiterposition scheint es wahrscheinlich, daß der Wiener Kreis und das von ihm betriebene Programm wissenschaftlicher Weltauffassung ein Versuch war, gegen den heraufziehenden Irrationalismus und seine politischen Nutznießer eine aufklärerische Koalition von Wissenschaft, Philosophie und popularisierender Aufklärung zustande zu bringen. Das Besondere dieses Versuchs besteht nicht so sehr darin, daß er letztlich an der Ubermacht der Gegner scheitern mußte, sondern daß er überhaupt unternommen wurde.

Literaturverzeichnis Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928. Die logizistische Grundlegung der Mathematik, Erkenntnis 2 ( 1 9 3 1 ) , 9 1 —103. Uberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2 (1932), 219—241. Die Aufgabe der Wissenschaftslogik, Wien 1934. Hans-Joachim Dahms, Verifikationismus und Mathematik bei Wittgenstein, in: Edgar Morscher und Rudolf Stranzinger: Ethik. Grundlagen, Probleme und Anwendungen, Wien 1 9 8 1 , 4 4 3 - 4 4 7 . Johann Dvorak: Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis, Wien 1981. Philipp Frank: Das Kausalgesetz und seine Grenzen, Wien 1932. Ernst Glaser: Im Umfeld des Austromarxismus, Wien 1981. Rudolf Haller: N e w Light on the Vienna Circle, The Monist 65 (1982), 25 — 35. Schlick und Neurath. Ein Symposium, Amsterdam 1982 ( = Grazer Phil. Studien 16/17, 1982).

44

45

46

Siehe dazu Stadler 1979. An der Richtigkeit dieser empirisch fundierten Darstellung ändern auch die polemischen Bemerkungen von Kampits in Kadrnoska 1981, S. 409 und 422 nichts. Die Auflagenhöhe von „Sein und Zeit" dürfte bis zum Ende des Wiener Kreises die Gesamtauflage sämtlicher Schriften seiner Mitglieder übertroffen haben. Neuraths „Anti-Spengler" (in Neurath 1981, S. 139-196) ist neben Leonard Nelsons polemischer Schrift „Spuk. Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagekunst Oswald Spenglers". (Leipzig 1921) die geistreichste zeitgenössische Kritik des damals erfolgreichsten deutschsprachigen Popularphilosophen.

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Rainer Hegselmann: Normativität und Rationalität, Frankfurt 1979. Franz K a d m o s k a (Hrsg.): Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938, Wien 1981. Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962, 1970 2 . Imre Lakatos und Alan Musgrave: Criticism and the Growth of Knowledge, London 1970. Brian McGuiness (Hrsg.) Wittgenstein und der Wiener Kreis, Frankfurt 1967. Karl Menger: Selected Papers in Logic and Foundations, Didactics, Economics, D o r d recht 1979. Erich Mohn: Der logische Positivismus. Theorie und politische Praxis seiner Vertreter, Frankfurt 1978. Elisabeth Nemeth : Otto Neurath und der Wiener Kreis — Revolutionäre Wissenschaft als Anspruch, Frankfurt 1981. Otto N e u r a t h : Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, Hrsg.: Rainer Hegselmann, Frankfurt 1979. Gesammelte philosophische und methodologische Schriften (2 Bände), Hrsg.: Rudolf Haller, Wien 1981. Paul A. Schilpp (Hrsg.): T h e Philosophy of Rudolf Carnap, La Salle 1963. Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918, 1925 2 , Frankfurt 1979. Gesammelte Aufsätze 1926—1936, Wien 1938. Joachim Schulte: Bedeutung und Verifikation: Schlick, Waismann und Wittgenstein, in: Rudolf Haller: Schlick und Neurath. . . (s. o.), 241-254. Friedrich Stadler: Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrunds und Standorts des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien, in: Hai Berghel, Adolf Hübner, Eckehart Köhler (Hrsg.): Wittgenstein, der Wiener Kreis und der kritische Rationalismus, Wien 1979, 4 1 - 5 9 . Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit: Otto Neurath, Gerd Arntz, Wien 1982. Vom Positivismus zur wissenschaftlichen Weltauffassung (am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 bis 1934). Wien 1982. Stephen Toulmin und Allan Janik: Wittgenstein's Vienna, N e w York 1973. Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Wien 1952, Stuttgart 1976 6 . Marx Wartofsky: Positivism and Politics. T h e Vienna Circle as a Social Movement, in: Haller (Hrsg.): Schlick und Neurath . . . (s. o. 79—102). Ludwig Wittgenstein : Logisch-Philosophische Abhandlung, Leipzig 1921.

ERICH M O H N

Die politische Praxis Otto Neuraths während der Räterepublik in Bayern Noch ehe die politische Praxis Neuraths dargestellt wird, sind zwei Vorbemerkungen notwendig. Die erste bezieht sich auf verschiedene, in der Sekundärliteratur immer wieder vorzufindende Be- und Verurteilungen seiner politischen Praxis oder — oft daraus abgeleitet — seiner Person als Wissenschaftler; hier deutet sich insofern ein wesentliches Dilemma an, als fast all diese Beurteilungen häufig bestimmten politischen und weniger wissenschaftlichen Interessen geschuldet sind. Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf die Quellenlage, die, soweit sie aus der Zeit um 1919 stammt, ebenfalls zumeist politisch-parteilich ist. Dies trifft selbstverständlich auch auf Neuraths eigene Darstellung der Ereignisse und die Legitimation seines politischen Handelns zu. Niemand kannte Otto Neurath, der Mitte Januar 1919 in München ,auftauchte' und dem damaligen Ministerpräsidenten Kurt Éisner seine Mitarbeit anbot. Der damals 37jährige legimitierte sich zwar mit verschiedenen Referaten vor den revolutionären Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten, hatte sich aber als Privatdozent für Volkswirtschaftslehre 1 nirgend früher — sieht man von wenigen Referaten kurz zuvor in Sachsen ab 2 — in sozialistischen Zeitschriften einen wissenschaftlichen oder einen gar revolutionären Namen gemacht; im Gegenteil: Teile seiner Publikationen vor 1919 stellen volkswirtschaftlich und politisch geradezu das Gegenteil dessen dar, was politischer Anspruch der Räterepublik in Bayern war. Schon über seine offizielle Funktion während der nur von Mitte Januar bis Mitte Mai 1919 dauernden Tätigkeit kursieren unterschiedliche Versionen: so war er weder, wie fälschlich behauptet, Präsident des Zentralrats, Vorsitzender des Sozialisierungsausschusses, Volksbeauf' Seit 1917 war Neurath Privatdozent in Heidelberg; zuvor — in Wien — Lehrer an einer höheren Handelsschule. 2 O. Neurath: die Sozialisierung Sachsens.

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tragter für die Sozialisierung noch gar Sozialisierungsminister, sondern Präsident des Zentralwirtschaftsamtes, zeitlich angestellter Leiter einer Staatsbehörde, die vom Kabinett — also parlamentarisch und nicht etwa räterepublikanisch-legitimiert — eingerichtet war. Sein Sozialisierungskonzept, wesentlicher Bestandteil seiner politischen Tätigkeit, begreift Neurath als ein „gesellschaftstechnisches Gutachten" 3 . Die Sozialisierung mußte demzufolge durch die historische Entwicklung kommen, und er — als Wissenschaftler, aber als eigentlich ,unpolitischer' Wissenschaftler, wie er häufig formulierte — hält persönlich zwar die Sozialisierung für „wünschenswert" 4 , begründet seine Parteinahme jedoch nicht als politischen Akt, sondern als Produkt eines Entschlusses 5 . Hinter diesem Entschluß steht — und dies wird später noch aufgegriffen werden — scheinbar eine Kritik am bestehenden Kapitalismus, von dem er allerdings auch fast immer von der gestehenden Wirtschaftsordnung' spricht. Zum einen sieht er die Krisenhaftigkeit, zum anderen die unbegründete und unbegründbare Einkommensverteilung dieser gestehenden Wirtschaftsordnung'. Welche direkten Reaktionen Neurath vor den revolutionären Arbeitern, Bauern und Soldaten erfuhr, ist unbekannt; deren Ziel lag ja in einer Räterepublik mit demokratisierten Strukturen im Bereich der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, die zum Teil syndikalistisch-anarchistisch begründet wurden. Bekannt ist, was Neurath sagte: sozialisiert werden müsse von oben nach unten, es sei gesellschaftstechnisch gleichgültig, ob man in einer Monarchie, einer Kriegswirtschaft oder eben in einer Räterepublik sozialisiere; von demokratischen Strukturen, von revolutionären Veränderungen hält er — sieht man von einigen Wortradikalismen ab — nichts 6 . Planmäßigkeit, Ordnung, Zentralisierung, eine ,Oben-Unten'-Hierarchie sind die politischen Leitbilder seiner Sozialisierungsvorstellung. Der Inhalt ist gekennzeichnet durch die „planmäßige Verwaltung", durch „zwangsweise Zusammenlegung" von Produktions- und Konsumtionseinheiten zu Großorganisationen. Diese sind konzipiert analog den Organisationsformen des Heeres; d. h. hier überträgt Neurath seine kurz zuvor in der österreichischen Kriegswirtschaft gemachten Erfahrungen. 3 4 5 6

ders.: Wesen und Weg der Sozialisierung, Gesellschaftstechnisches Gutachten, S. 3. ders.: W. Schumann: Wirtschafts- und Lebensordnung. ders.: Wesen und Weg der Sozialisierung, a. a. O., S. 3. ders.: Die Sozialisierung Sachsens, S. 10 und: Wesen und Weg der Sozialisierung, S. 7.

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Diese Konzeption versucht Neurath marxistisch zu legitimieren: auf der einen Seite hätten Marxisten immer wieder ökonomische Konzentrationserscheinungen begrüßt, auch wenn deren Folgen für die Arbeiterschaft „unerwünscht" 7 gewesen wären, jetzt könne man geplant die Konzentration forcieren. Hier sieht er sich als Vollstrecker einer historischen Entwicklung, die er mit dem Namen „Marxist" belegt: „Für jeden Marxisten versteht es sich von selbst, daß erst eine neue Wirtschaftsordnung die Errungenschaften der Revolution in jeder Hinsicht sicherstellen kann. Diese Wirtschaftsordnung kann nur eine sozialistische sein" 8 . Zusammen mit Hermann Kranold und Wolfgang Schumann erarbeitete er einen Sozialisierungsgesetzentwurf, der vor allem die Aufgaben und Kompetenzen des Zentralwirtschaftsamtes judifiziert und der die Konzentration als Inhalt der Sozialisierung beinhalten soll. Seine Tätigkeit im Amt des Präsidenten des Zentralwirtschaftsamtes beginnend erst ab Ende März 1919 ist zu kurz, als daß sie hätte politisch relevant werden können; zudem waren zu diesem Zeitpunkt im Reich und in Bayern schon mehrere politische Entscheidungen gefallen, die (fast) jegliche Form der Sozialisierung, also auch die Neurathsche, verunmöglichten 9 . Neurath gliedert sein Amt, benennt Schumann zum Leiter der Aufklärungs-, Kranold zum Leiter der Kontrollzentrale, er selber — politischer Ausdruck seiner Ordnungsvorstellung — leitet die Zentrale der Organisation. Er wollte auch Rudolf Hilferding, einen der damals bekanntesten marxistischen Ökonomen, zur Mitarbeit gewinnen, aber dieser ist schon nach einer Stunde Unterredung wieder abgereist 10 , wohl aus der Einsicht, daß er Neuraths technokratisch-organizistische Vorstellungen nicht als marxistisch ansah. Während der ersten — der parlamentarischen — Phase unter Ministerpräsident Eisner hatte Neurath keinerlei politische Funktion; er agitierte lediglich. Unter Ministerpräsident H o f f m a n n , ebenfalls noch im Rahmen der parlamentarischen Phase, wurde er Präsident des Zentralwirtschaftsamtes, beteiligte sich dann aber mit am Sturz von H o f f m a n n . Während der zweiten, der räterepublikanischen Phase unter Führung des Zentralrats (u. a. Niekisch, Toller, Mühsam, Landauer) ist nur eine politische Maßnahme bekannt, derentwegen er später auch einen Prozeß erhielt: eine Maßnahme, die zur Geldfluchtkontrolle beitragen sollte 7 8 9 10

ders.: Wesen und W e g der Sozialisierung, S. 5. Kranold/Neurath/Schumannscher Sozialisierungs-Entwurf, S. 73. E. Mohn: D e r logische Positivismus, Frankfurt 1977. O. Neurath, Bayerische Sozialisierungserfahrungen, S. 18 ff.

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und rein fiskalpolitischer Natur war. Während der dritten, der kommunistischen Phase konnte er politisch überhaupt nicht mehr intervenieren; zudem ging es zwischen Mitte und Ende April nur noch um das politische Uberleben der Räterepublik, was allerdings militärisch nicht gelingen konnte. Neurath erhielt einen Prozeß wegen Beihilfe zum Verbrechen des Hochverrats, wurde zu 1 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt, gegen Zahlung von 40.000 Reichsmark freigelassen, vermutlich gegen Levien ausgetauscht; er durfte für mehrere Jahre Deutschland nicht betreten und verlor somit seine noch während des Weltkriegs erhaltene Privatdozentenstelle in Heidelberg". Bemißt man das praktisch-politische Handeln an dem Kriterium der Wirksamkeit, dann war Neuraths Handeln sicherlich nicht wirksam. Man kommt um den Eindruck nicht umhin, Neurath habe die politische Situation nicht erkannt; er machte gravierende taktische Fehler (er intrigierte mit konservativen Bauernführern, um den Kommunisten die N a turalwirtschaft zu ermöglichen) und vermochte zusätzlich nicht, die politischen Strukturen im Zentralrat zu durchschauen. Die schon während der parlamentarischen Phase angeordnete Reduktion der Sozialisierungstätigkeit, die der einzige USPD-Minister (Simon) für Neurath hinnehmen mußte, war das endgültige politische ,Aus' für Neurath: sozialisiert werden durfte nur noch im Bereich des Kohle- und Bergbaus; und diesen gab es nur in einem kleinen Dorf (Hausham), das politisch zu der damaligen Zeit von München aus gar nicht regierbar war 1 2 . Dieser Ausschnitt aus Neuraths Leben ließe sich leicht als Episode abtun oder als Problem eines Intellektuellen mit der Macht behandeln. Aber es lassen sich über die Person Neuraths hinausgehend einige Verallgemeinerungen ziehen. Dabei ist jedoch die Beurteilung der Person Neuraths wie auch die seiner politischen Tätigkeit umstritten. Von bürgerlicher' Seite wurde Neurath scharf angegriffen: kein anderer Mann habe die Räterepublik auch nur annähernd so belastet wie Neurath, habe die „Volksgenossen" in „unübersehbares Unheil, in tiefste N o t gestürzt" 13 . Doch dies ist sicherlich genauso falsch wie die Behauptung, Neurath sei „Marxist" (Toller), „Radikaler" (Stampfer) oder „Bürgerlicher" 11

12 13

vgl. die Akten des Staatsarchivs München, StAnw. I Nr. 2139; zusätzlich die Akten des Geheimen Staatsarchivs, München, Nr. GSt AM MA 99514 und 102017. vgl. Münchener Neueste Nachrichten vom 1.4.1919. vgl. a. a. O. vom 15.5.1919.

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(Frölich); keine dieser Attributierungen ist haltbar, Neurath war weder Marxist noch Bürgerlicher. Marxist war er nun nicht etwa deswegen nicht, weil er sich in seinen Analysen nicht auf das Marx'sche Werk bezogen hätte — er nimmt von diesem erst Jahre später und dann fast nur durch Sekundärquellen Kenntnis —, sondern weil seine geldtheoretischen, fiskalpolitischen Überlegungen keinen Raum freilassen für eine Warenanalyse und — ihr folgend — eine abgeleitete Mehrwerttheorie; Profit verwechselt er mit Unternehmergewinn, sein gesamtes Denken behält die Subordination des Arbeiters unter die bestehenden Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bei. Er behauptet auch die Notwendigkeit einer Einführung des taylorisierten Arbeitsprozesses zu einer Zeit (1919), in der die Taylorisierung sich bei weitem gesellschaftlich noch nicht durchsetzen konnte. Gemessen an der Form kapitalistischer Vergesellschaftung ist er seiner Zeit voraus, d. h. er schafft — gemessen am status quo — eine Antizipation, die er als „Utopie" begreift. Das, was „gestern als Phantastenwerk galt, erscheint heute bereits als wissenschaftliche Vorarbeit für die Gestaltung der Zukunft" 1 4 , aber dies entspricht eben weder den revolutionären Zielen der Räterepublik noch ist es eine Umsetzung von marxistischen oder reformistisch-sozialdemokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftsvorstellungen. Neurath ist aber auch nicht mit der Charakterisierung b ü r g e r l i cher' zu treffen: Seine Vergesellschaftungsvision transzendiert gleichzeitig den bestehenden Konkurrenzkapitalismus durch die Vorstellung einer staatlich gesteuerten zentralisierten Ökonomie, einer taylorisierten Produktion und einer bestehende Marktgesetzlichkeiten nicht berücksichtigenden Verteilungsstruktur. Diese Vorstellung steht näher an der sog. ,Neuen Ökonomischen Politik', wie sie von Stalin in der UdSSR verwirklicht wurde, als an der Realentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in der Zeit der Weimarer Republik. Relativiert man die negative Bewertung, die heute dem Begriff „Ordnungsfanatiker" — so charakterisierte ihn Schippel 15 — anhängt, dann entspricht dies am ehesten Neuraths Position, denn ,Ordnung', ,Planmäßigkeit', ja sogar Einheitlichkeit' sind die dahinterliegenden Dimensionen seiner Sozialisierungsvorstellung, einer Vorstellung, die einerseits später für die Theorieentwicklung relevant, die andererseits je14 15

O . Neurath: Die Utopie als gesellschaftstechnische Konstruktion, S. 228. M. Schippel, Die Sozialisierungsbewegung in Sachsen, S. 21.

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doch früher historisch entwickelt wurde. Entstanden sind diese Wirtschaftsvorstellungen bei seinen Analysen der geldtheoretischen und -praktischen Entwicklung im Zusammenhang mit den Balkan-Kriegen und dem 1. Weltkrieg 16 , als Kriegswirtschaftstheorie und -politik. Zentralisation von Wirtschaftsunternehmen unter staatlicher Leitung, Verstaatlichung des Kohlebergbaus und Zentralisation der Devisen- und Kreditpolitik durch Kompetenzerweiterung der Nationalbank sind wirtschaftspolitische Anregungen, die er vor dem und während des 1. Weltkriegs schon forderte. Wirtschaftlich (scheinbar) notwendige Maßnahmen rechtfertigen in diesem Zusammenhang die Interessen der kriegführenden Staaten (Österreich und Deutschland) und stützen z. B. den Imperialismus ideologisch ab, wenn er es für das Deutsche Reich als notwendig erachtet, sich die Baumwollgebiete Mesopotamiens einzuverleiben ,7. Aber wie kann man derartig Heterogenes erklären? Es scheint, daß bei Neurath immer wieder zwei unterschiedliche Theoriefragmente synthetisiert werden sollen. Auf der einen Seite steht die angesprochene Geldtheorie, mit der er eine ,geldfreie', naturalwirtschaftliche Ökonomie zu rechtfertigen sucht. Ziel ist hier eine „vernunftmäßige Konstruktion der Gesellschaft" die den Staat, und zwar den bestehenden Staat, im Mittelpunkt hat. Für einen Wissenschaftler ist eine bestimmte Form ökonomischer Vergesellschaftung lediglich „wünschenswert", zur H e r stellung bedarf es eines „Entschlusses" und wissenschaftliche Aussagen sind in diesem Kontext unpolitisch, eben: ,,gesellschaftstechnische(.) Gutachten" Auf der anderen Seite bemerkt Neurath, daß ,Geldfreiheit'/,Naturalwirtschaft' als solche legitimationsbedürftig sind. Die Kritik am bestehenden Kapitalismus, der sich über das Geldprinzip (als Äquivalent) vermittelt, rechtfertigt für ihn noch keine ,neue' Gesellschaftsform. Im Versuch einer diesbezüglichen Legitimation macht sich nun eine zweite Theorieebene geltend, die während der Sozialisierungsphase mit dem ,Utopie'-Argument weitergeführt wurde. Schon früher — in seiner Dissertation 20 — suchte er ein Gegenkonzept zum ökonomischen Aquiva16

17 18 19 20

vgl. seine vielen kleineren Beiträge in: „Der Österreichische Volkswirt" (bibliographiert in E. Mohn, a. a. O., S. 239 ff). O. N e u r a t h : Einführung in die Kriegswirtschaftslehre, S. 125. ders.: Die Entwicklung der antiken Wirtschaftsgeschichte, S. 506. ders.: Wesen und W e g der Sozialisierung, Gesellschaftstechnisches Gutachten. ders.: Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft.

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lent ,Geld', das er in der ,Ehre' sah; später wurde dies Äquivalent umformuliert in das Messen von ,Glücksvorstellungen', utilitaristisch begründet und sollte eine ,Felicitologie', eine Glückseligkeitslehre, ergeben. Mit diesem Theorieaspekt begründet sich dann später auch die H o f f n u n g ,Statistik als Mittel im Klassenkampf' benutzen zu können. Hinter diesem reformistischen Ansatz stehen Theoretiker wie BallodAtlanticus, Fourier, Hertzka und — obwohl nicht expliziert — ein populärwissenschaftlich-interpretierter Poincaré. Wie sich jedoch für einen Wissenschaftler ein praktisch-politisches Eingreifen rechtfertigt, bleibt für Neurath ungelöst; er entwickelt keine Handlungstheorie. Die Tatsache, daß er 1911/1913 und 1919 in zwei völlig unvergleichbaren politischen Zusammenhängen inhaltsidentische Empfehlungen abgab, muß irritieren. In der möglichen Begründung von ,Handeln' konkurrieren mehrere Argumentationen. Auf der einen Seite steht der „Entschluß", auf der anderen bleibt ,Ratlosigkeit': Wir seien wie Wanderer, die, verirrt, nicht wüßten, welcher Weg einzuschlagen sei und in dieser Situation bliebe nur das Losen oder das Knöpfeabzählen handlungsbegründend 2 1 . An anderer Stelle meint er jedoch, alle H a n d lungsmöglichkeiten seinen begrenzt, wir seien wie Schiffer, die auf offenem Meer ihr Boot umbauen müßten 2 2 oder es sei das, „was sich so auf den Höhen des menschlichen Geistes abspielt, ( . . . ) der Widerhall von Veränderungen, die in den breiten Massen vor sich gehen" 23 . Hinter den politisch unterschiedlich-verwertbaren Ableitungen aus Neuraths Theorie stehen jedoch identische Prinzipien, mittels derer die Kriegswirtschaft und die Sozialisation — in der geschilderten Form — als notwendig durchzuführen begriffen werden. Eine erste interessante Verallgemeinerung eröffnet sich, denn diese Prinzipien sind identisch mit denjenigen, die später die Organisationsform von Wissenschaft im „Wiener Kreis" bestimmen: Einheitlichkeit und Planmäßigkeit. So steht denn auch als Ziel der „Wissenschaftlichen Weltauffassung": „Im grössten Stil planmässige gedankliche Gemeinschaftsarbeit ist als Allgemeinerscheinung wohl nur möglich in einer planmässig durchorganisierten Gesellschaft" 24 .

21 22 23

24

ders.: D i e Verirrten des Cartesius und das Auxiliarmotiv, S. 58. ders.: Protokollsätze, S. 206. ders.: D i e konfessionelle Struktur Osteuropas und des näheren Orients und ihre politisch nationale Bedeutung, S. 483. ders. : W e g e der wissenschaftlichen Weltauffassung, S. 124.

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Mit Hilfe anderer Argumentation ließe sich darüber hinaus auch zeigen, daß neben Einheitlichkeit und Planmäßigkeit noch die wissenschaftsorganisatorischen Prinzipien ,Willkürlichkeit' und Zweckmäßigkeit' traten. Es wäre ein anderes Thema zu prüfen, inwieweit wissenschaftsexterne Faktoren, wie sie beispielhaft Neuraths politisches Wirken und Neuraths „Lokomotiv-Funktion" innerhalb des organisatorisch sich verfestigenden „Wiener Kreises" bestimmten, auch auf die Inhalte der Theorien Einfluß hätten. Ein derartiger Versuch müßte zuerst eine theoretische Präzisierung der Fragestellung erhalten, um dann an den Theorien von Neurath u n d / o d e r anderer Mitglieder des „Wiener Kreises" überprüft werden. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß weder Mitglieder des Kreises selber (z. B. Adjukiewicz und Neurath) noch andere Theorien (z. B. die schematische Fassung des Basis-Überbau-Theorems innerhalb des Marxismus) dies zufriedenstellend leisten 25 . Adjukiewicz' Argument, Weltbildvorstellungen seien in theoretischen Auseinandersetzungen entscheidungsmitbestimmend, ließe sich hierbei zum immanenten Ansatz benutzen, um dann zu zeigen, inwieweit fast überall dort, wo theoriegeschichtlich scheinbar nur immanente Auseinandersetzungen eine Entscheidung beeinflußten, das theorie-immanente Argument mit einem ,Weltbild'-Argument zumindest gestützt wurde. Hierzu nur ein Beispiel: die Art und Weise, wie bisher der Ausgang der ,Protokollsatzdiskussion' theoretisch bearbeitet wurde, bezieht sich weitgehend auf Fragen der theoretischen Reichweite des jeweiligen, u. a. des Carnapschen und des Neurathschen Ansatzes. Unterschlagen wird dabei zumeist die Bedeutung, die Argumentationspassagen zukommt wie der, zur „Ausschaltung des Absolutismus" 26 beitragen zu wollen; Carnap sah in seiner Konzeption der Protokollsätze eine „größere Freiheit", während Neuraths Position ,,de(r) Vorzug einer größeren Einheitlichkeit des Systems" 27 zukäme. Auch Edgar Zilsel, Mitglied des „Wiener Kreises", behauptet, „daß sich gegen die Ungleichmäßigkeit des älteren Standpunktes Carnaps auch das soziale Gefühl sträubt. Es ist merkwürdig: was unsozial ist, er25

26 27

Das dahinterliegende grundsätzliche Problem ist m. E. bislang noch nicht befriedigend gelöst; in meiner Dissertation habe ich einige erklärende Ansätze dargelegt und selber einen zu geben versucht, bin aber zwischenzeitig der Ansicht, daß hier nur weitergehende Forschung endgültige Klarheit erbringen könnte. R. Carnap: Über Protokollsätze, S. 228. a. a. O., S. 215.

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Erich Mohn

weist sich bei sorgfältiger Analyse immer auch als wissenschaftlich anfechtbar" 28 . Das politische Handeln Neuraths war weder marxistisch noch b ü r gerlich', sondern Produkt einer Weltbildvorstellung, die Teile der bestehenden Realität beinhaltete, Teile aber antizipierte. Im politischen Handeln und seiner Begründung fanden sich ökonomische und gesellschaftspolitische Kategorien, die weder als ,Uberbau' über eine formbestimmte bestehende gesellschaftliche ,Basis' gedeutet werden konnten noch von dieser unabhängig waren. Diese Kategorien finden sich an anderen Stellen wieder. Es sind ,Weltbild'-Vorstellungen, die auch in theoretischen Problemstellungen virulent wurden, und es wäre eine Aufgabe, die Theorie- und die politische Geschichte des „Wiener Kreises" neu zu schreiben, um Neuraths Argument, das Denken sei Werkzeug und abhängig von sozialen Zusammenhängen, als Prüfungsmaßstab an den eigenen Theorien fungieren zu lassen.

Literaturverzeichnis Carnap, Rudolf, Über Protokollsätze, in Erkenntnis, Bd. I. Mohn, Erich, Der logische Positivismus. Theorien in politischer Praxis seiner Vertreter, Frankfurt 1977. Neurath, Otto, Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft; erschienen in den Jahrbüchern f ü r Nationalökonomie und Statistik, Jena 1906 und 1907. — Die Entwicklung der antiken Wirtschaftsgeschichte, erschienen in den Jahrbüchern f ü r Nationalökonomie und Statistik, Jena 1908. — Die Verirrten des Cartesius und das Auxiliarmotiv, erschienen in Jahrbuch der Philosophischen Gesellschaft an der Universität Wien (Wissenschaftliche Beilage zum 26. Jahresbericht), Leipzig 1913. — Die konfessionelle Struktur Osteuropas und des näheren Orients und ihre politisch nationale Bedeutung, erschienen in Archiv f ü r Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Tübingen 1914. — Einführung in die Kriegswirtschaftslehre, abgedruckt in „Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft", München 1919. — Die Utopie als gesellschaftstechnische Konstruktion, in „Durch die Kriegswirschaft zur Naturalwirtschaft", München 1919. — Die Sozialisierung Sachsens (1. Auflage erschienen im Verlag des Arbeiter- und Soldatenrates im Industriebezirk Chemnitz, 1919; 2. Auflage München/Berlin 1920). — Wesen und W e g der Sozialisierung, München 1919.

28

E. Zilsel: Bemerkungen zur Wissenschaftslogik, S. 146.

Politische Praxis O . Neuraths während der Räterepublik in Bayern — (zusammen mit W. Schumann), Können wir heute sozialisieren?, Leipzig 1919. — Bayerische Sozialisierungserfahrungen, Wien 1920. — Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung, in Erkenntnis Bd. I. — Protokollsätze, in Erkenntnis Bd. III. Schippel, Max, Die Sozialisierungsbewegung in Sachsen, Dresden 1920. Zilsel, Edgar, Bemerkungen zur Wissenschaftslogik, in Erkenntnis Bd. III.

ULRICH MAJER

Hertz, Wittgenstein und der Wiener Kreis „Es ist meist kein gutes Zeichen, wenn sich Gelehrte allzu eifrig mit der Begründung und Geschichte ihrer Disziplin beschäftigen, anstatt exakte neue Aussagen über die von ihnen behandelten Gegenstände zu machen." schreibt O. Neurath im Jahre 1930 im ersten Band der Zeitschrift 'Erkenntnis'. 1 Entgegen der Berechtigung dieses Zitates, will ich mich in meinem Vortrag ausdrücklich mit der Geschichte beschäftigen, und zwar mit der Geschichte des Einflusses des 'Tractatus' 2 auf den Wiener Kreis (WK) ; denn ich bin der Meinung, daß die Wirkung des 'Tractatus' auf den W K eine durchaus irrationale war, die nur historisch verstanden werden kann. Was meine ich damit? Nun, negativ gesprochen, daß es keinen sachlich systematischen Gesichtspunkt gibt, unter dem man sich den eruptionsartigen Einfluß des Tractatus auf den W K rational erklären kann. Positiv ausgedrückt, daß die Wirkung des 'Tractatus' auf den Wiener Kreis von historischen Zufällen abhing und auf kontigente Umstände gegründet war, die man nun einmal nicht systematisch, d. h. von einem allgemeinen Gesetz her erklären kann, sondern die man nur historisch, d. h. unter Berücksichtigung auf zeitbedingte Umstände und singuläre Bedingungen aufklären kann. Eine solche Aufklärung versuche ich im folgenden zu geben. Dabei kommt es mir nicht nur darauf an, gewisse irrationale Momente im Einfluß des 'Tractatus' auf den W K herauszustreichen, die zu einem Bruch in der Entwicklung des W K führten, sondern mindestens ebensoviel ist mir daran gelegen, gleichsam als Hintergrund für den Bruch, gewisse Kontinuitäten in der Entwicklung sowohl des W K als auch vor allem in der Entstehung der „Bild-Theorie" von Helmholtz über Hertz zu Wittgenstein aufzuzeigen. Denn es ist in erster Linie das Aufeinandertreffen zweier philosophisch konkurrierender Traditionen, die zu den Erschütterungen des W K durch den 'Tractatus' führten. 1 2

N e u r a t h , S. 106. Wittgenstein.

Hertz, Wittgenstein und der Wiener Kreis

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Der wichtigste unter allen kontigenten Umständen ist die eigenartige Rezeptionslage gewesen, in welcher der 'Tractatus' von den Mitgliedern des WK aufgenommen und verstanden wurde. Ich sage nicht, daß der 'Tractatus' selbst ein Zufall war; im Gegenteil, er war das Produkt einer individuell systematischen Anstrengung. Ich sage auch nicht, daß die Rezeption als solche, d. h., daß der 'Tractatus' überhaupt von den Mitgliedern des WK begierig gelesen wurde, ein Zufall war — obwohl man das sagen könnte, wenn man an den Berliner Kreis um H. Reichenbach denkt, in dem der 'Tractatus' so gut wie keine Rolle gespielt hat — ich sage nur, daß die Art und Weise, wie der 'Tractatus' von führenden Mitgliedern des WK verstanden und interpretiert wurde, ein Zufall war, d. h. von historischen Umständen abhing, für die es keine von der Sache her zu rechtfertigende Erklärung gibt. Ein Zufall übrigens, der für die Entwicklung des Wiener Kreises und damit des logischen Empirismus höchst bedeutsam war — oder, wie ich besser sagen sollte — ein äußerst konsequenzreicher Zufall war. Denn daran lassen die Äußerungen führender Mitglieder des WK keinen Zweifel, daß es gerade der 'Tractatus' war, dem sie die entscheidenden Impulse für ihre Philosophie verdanken: So spricht M. Schlick in bezug auf den 'Tractatus' von „Der Wende in der Philosophie" und meint damit Wittgensteins „Einsicht in das Wesen des Logischen selber". 3 Worin aber bestand dieser Zufall? Nun, ich behaupte, in einer Reihe von Mißventändni$sen, die man bei aufmerksamer, vor allem aber vorurteilsfreier Lektüre des 'Tractatus' hätte vermeiden können. Diese Mißverständnisse haben die Entwicklung des WK und damit des logischen Empirismus beeinflußt, und man kann sagen, daß ohne diese Mißverständnisse die Entwicklung des logischen Empirismus höchstwahrscheinlich anders, jedenfalls aber stetiger verlaufen wäre, als sie unter dem Einfluß des 'Tractatus' verlaufen ist. Wie, das wird zumindest der Möglichkeit nach, so hoffe ich, am Ende noch deutlich werden, wenn die Mißverständnisse erst einmal aufgeklärt sind. Worin bestanden nun diese Mißverständnisse? Diese Frage kann man nicht beantworten, bevor man nicht die doppelte Frage beantwortet hat, 1. wie sollten denn die Mitglieder des WK den 'Tractatus' verstehen und 2. wie haben sie den 'Tractatus' tatsächlich verstanden oder, vorsichtiger formuliert, was glaubten sie, verstanden zu haben (ich denke 3

Schlick, S. 6. Ahnlich, wenn auch nicht ganz so entschieden, äußern sich H . Hahn, R. Carnap und F. Waismann, die im ,Tractatus' vor allem eine neue Auffassung der Logik erblickten.

42

Ulrich Majer

hier in erster Linie an Schlick, Hahn, Carnap und Waismann)? Es ist das Eigentümliche der zu beleuchtenden historischen Situation, daß sich der erste Teil der Frage relativ eindeutig beantworten läßt, während die Beantwortung der zweiten Teilfrage einige Schwierigkeiten bereitet. Man kann nämlich heute geradezu beweisen — was damals unmöglich schien — in welchen Grenzen der 'Tractatus' zu verstehen ist, in welchen historischen und sachlichen Bezügen dieser steht. Umgekehrt aber ist es nach Lage der Dinge schwer zu sagen, welche Rezeption der 'Tractatus' seitens des W K tatsächlich erfahren hat. Wir sind hier auf Vermutungen angewiesen, da es m. W. keine „offizielle", gleichsam durch den Kreis abgesegnete Lesart oder Exegese des 'Tractatus' gibt. 4 Alles, was es gibt, sind, soweit ich sehe, gewisse Topoi, auf welche sich die Mitglieder des W K als zentral für ein angemessenes 'Tractatus'-Verständnis geeinigt haben. „Zentral" in dem Sinne, daß diese Topoi jedenfalls Bestandteile einer jeden 'Tractatus'-Exegese sein sollten, gleich wie diese im einzelnen auch immer ausfallen würde. Diese Topoi alleine reichen jedoch noch nicht aus, um die Rede von Mißverständnissen bei der 'Tractatus'Rezeption zu rechtfertigen. Dazu bedarf es zweier weiterer Feststellungen, welche die historische und sachliche Einordnung des 'Tractatus' durch den W K näher beleuchten. Zunächst aber will ich die drei wichtigsten Topoi nennen und ihren Zusammenhang mit anderen, nicht 'Tractatus'-spezifischen Problemen kurz andeuten: 1.

2.

4

Die Sätze der Logik sind Tautologien: Zusammen mit der sogenannten logizistischen These ergibt das die Aufgabe, die gesamte Mathematik als 'tautologisch' zu beweisen. (Schlick, H a h n , Waismann, Carnap) Die Philosophie ist keine Wissenschaft neben anderen Wissenschaften, d. h., sie stellt keine Sätze auf, die wahr oder falsch sind, sondern sie analysiert die Sätze der Wissenschaft. Zusammen mit der

Das von Waismann geplante Buch „Sprache, Logik, Philosophie" sollte eine allgemeinverständliche Darstellung der Philosophie des ,'Tractatus' aus der Sicht des WK enthalten. Zu diesem Zwecke sollte das Buch von Wittgenstein — nicht von den Mitgliedern des WK — abgesegnet werden. Dazu kam es jedoch nie. Wir können über die Gründe nichts Genaueres sagen, als daß Wittgenstein sich vermutlich mißverstanden fühlte. Posthum (1965) ist das Buch nach mehrfacher Umarbeitung unter dem Titel „Principles of Linguistic Philosophy" dann doch noch veröffentlicht worden, ohne jedoch den Anspruch auf eine offizielle Lesart der Philosophie Wittgensteins, geschweige denn des ,Tractatus' erheben zu können; vgl. in diesem Zusammenhang das Nachwort der Herausgeber von „Logik, Sprache Philosophie", der authentischen Fassung von Waismanns Werk.

Hertz, Wittgenstein und der Wiener Kreis

3.

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antimetaphysischen Einstellung ergibt das die Aufgabe, die Metaphysik durch logische Analyse der Sprache zu überwinden, nicht sie durch Gegenbehauptungen zu bekämpfen. (Schlick, Carnap, Waismann) Der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation: Zusammen mit der Dichotomie von analytischen und synthetischen Sätzen ergibt das die Aufgabe, jeden Satz entweder als analytisch-tautologischen oder als empirisch-synthetischen, d. h. als signifikanten Satz zu erweisen (da er anderenfalls zu den sinnlosen, den metaphysischen Scheinsätzen gehört). Die empirische Signifikanz wiederum erfordert, daß man den Sinn jedes Satzes mit sog. „theoretischen" Begriffen auf den Sinn von „Beobachtungssätzen" zurückführt, deren Sinn unmittelbar evident ist, d. h., von denen man weiß, ob sie wahr oder falsch sind. (Schlick, Carnap, Neurath)

Betrachtet man diese Topoi jedoch ein wenig genauer, so stellt man als erstes fest, daß sie mit dem 'Tractatus' nur in einem losen oder gar keinem, jedenfalls in keinem direkten und wohl definierten, sondern eher schief liegenden Zusammenhang stehen. Zweitens fällt auf, daß die Topoi selber auslegungsfähig sind bzw. der Präzisierung bedürfen und drittens, daß sie in bezug auf den 'Tractatus' auch keineswegs vollständig sind. Ich nenne als Beispiel für den ersten Punkt nur die 'Verifikation', von der im 'Tractatus' nichts, aber auch rein gar nichts zu finden ist. 5 Entsprechendes läßt sich für die beiden anderen Punkte zeigen. So ist, um den ersten Topos herauszugreifen, keineswegs klar, wie die Tautologie-These zu verstehen ist: Soll sie sich nur auf die Logik und Arithmetik oder auch auf die Geometrie und die (mathematische) Physik beziehen? Sollen außer den logischen Urzeichen und Tautologien auch Definitionen zugelassen sein, und wie sollen diese aussehen? Die Fragen ließen sich auf die anderen Topoi ausdehnen. Andererseits wird die hochinteressante und vom logischen Empirismus im grundsätzlichen differierende Wissenschaftstheorie des 'Tractatus' (vgl. 6.3 ff.) durch keines der drei Topoi auch nur annähernd abgedeckt, geschweige denn 5

Die Sätze 4.024 und 4.431, die man als Beleg gerne anführt, gehören in einen völlig anderen Kontext. Sie beziehen sich auf Freges Erklärung der logischen Begriffe durch Wahrheitsbedingungen und haben mit der These vom Sinn des Satzes als der Methode seiner Verifikation nicht das geringste zu tun, denn Frege hat zeit seines Lebens die Auffassung vertreten, daß man zunächst den Sinn eines Satzes erfaßt haben müsse, ehe man ihn als wahr oder falsch beurteilen kann. Wittgenstein schließt sich in 4.024 ausdrücklich dieser Auffassung an.

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adäquat beschrieben. Auf diesen wichtigen Umstand werde ich im Hauptteil meines Vortrages noch näher eingehen. Aus all dem darf man jedoch nicht unmittelbar den Schluß ziehen, hier lägen explizite Mißverständnisse des 'Tractatus' vor. Denn es könnte sein, daß diese Topoi in erster Linie systematische Gesichtspunkte repräsentieren, die man in Anlehnung an den 'Tractatus' formuliert hat, und nicht so sehr eine explizite 'Tractatus'-Exegese darstellen, die man auf Grund einer genauen Text-Analyse gewonnen hat. Da diese Möglichkeit nicht von der H a n d zu weisen ist, muß man sich nach anderen Argumenten, d. h. Quellen des 'Tractatus'-Verständnisses durch den W K umschauen. Ich schlage in diesem Zusammenhang vor, die historische Einordnung als eine solche Quelle des 'Tractatus'-Verständnisses zu nehmen, die der 'Tractatus' seitens des W K erfahren hat. Akzeptiert man dies, dann ergibt sich — ganz grob gesprochen — folgendes Bild der 'Tractatus'-Rezeption durch den WK. 1.

2.

Der 'Tractatus' steht in der Frege-Russell-Tradition, m. a. W. er versucht, deren Einsichten und Ergebnisse in das Wesen von Logik, Mathematik und Sprache weiter auszubauen. Dabei hat Wittgenstein bereits gewisse Fortschritte durch den Nachweis des tautologischen Charakters der Logik erzielt. Diese gilt es, auf die gesamte Mathematik zu übertragen. Der 'Tractatus' enthält eine vollkommen neue und eigenständige Bild-Theorie, nämlich die von den Gedanken als logischen Bildern der Tatsachen, welche insbesondere ein besseres Verständnis gerade der empirischen Sätze und Theorien und ihres Zusammenhangs mit der Welt erlaubt.

Freilich, man könnte dieses Bild der 'Tractatus'-Rezeption noch wesentlich genauer zeichnen und auf viel mehr Einzelheiten eingehen. Doch das Gesagte genügt bereits, um folgende Behauptung aufzustellen: Die beiden Thesen bekunden zusammengenommen ein doppeltes Mißverständnis: nämlich erstens das Mißverständnis, als handele es sich bei dem 'Tractatus' um eine Fortsetzung der Frege-Russell-Tradition; und zweitens das Mißverständnis, als sei die Bild-Theorie des 'Tractatus' etwas vollkommen Neues, vorher nicht Dagewesenes, gleichsam eine Erfindung Wittgensteins. Fast das genaue Gegenteil ist der Fall; denn: ad 1. Der 'Tractatus' ist vor allem ein Bruch mit der Frege-Russell-Tradition, wobei ich in erster Linie Frege im Auge habe. Man hat sich

H e r t z , Wittgenstein und der W i e n e r Kreis

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in diesem Punkt wohl allzulange vom Gleichklang der Worte wie „Wahrheit", „Gedanke", „Satz", „Sinn", „Bedeutung" sowie „Gleichheit" etc. irreführen lassen, ohne zu bemerken, daß dabei in aller Regel dieselben Worte bei beiden Autoren ganz Verschiedenes bedeuten. ad 2. Die sog. Bild-Theorie hat es auch bereits vor dem 'Tractatus' gegeben, und zwar, bis auf eine verständliche Ausnahme, mit allen „Essentials", die auch für den 'Tractatus' wesentlich sind. Wittgenstein hat sie von Hertz übernommen und für seine Zwecke ausgebaut. Leider kann ich aus Zeitgründen auf das erste Mißverständnis nicht näher eingehen, obwohl es, gemessen an seiner Wirkung, das schwerwiegendere ist: Hat es doch zu der gänzlich irrigen Annahme geführt, man könne und müsse Freges Philosophie durch den 'Tractatus' verstehen, weil die Tiefe der Fregeschen Einsichten in Logik, Semantik und Sprachphilosophie nur an den Wirkungen zu erkennen sind, die sie auf seine Nachfolger wie Russell und Wittgenstein gehabt haben. 6 Demgegenüber kann ich dem Leser nur versichern — und muß den Beweis an dieser Stelle schuldig bleiben — daß Freges Wirkung auf Wittgenstein vor allem eine negative gewesen ist; „negativ" in dem logischen Sinne, daß Wittgenstein in fast allen entscheidenden Punkten Frege widersprochen hat. Er hat von Frege gleichsam nur das formal-logische Gerippe, nicht aber die zugehörige Philosophie übernommen. So lehnt Frege jede korrespondenztheoretische Definition der Wahrheit ab — Wahrheit ist nicht definierbar — dagegen ist die korrespondenztheoretische Definition der Wahrheit für Wittgenstein ein essentieller Bestandteil seiner Bild-Theorie. Das Wahre und Falsche sind für Frege Gegenstände; Wittgenstein verneint dies. Für Frege sind Gedanken etwas Objektives, zeitlos Existierendes, die keines Trägers, auch nicht des Menschen, bedürfen; für Wittgenstein dagegen sind Gedanken in erster Linie etwas Subjektives: Bilder, die durch unseren Geist erzeugt werden. Der Satz ist für Frege kein Bild der Wirklichkeit, sondern nur der Ausdruck eines Gedankens, der auf die Bedeutung hinführt; der Satz ist ein Name des Wahren oder Falschen. Für Wittgenstein dagegen ist der Satz kein Name, sondern ein Bild des Gedankens und dieser wiederum — das ist 6

Diese T e n d e n z wird z. B. von M. D u m m e t t in seinem neuesten Buch „ T h e Interpretation of Freges Philosophy" vertreten, mit der er sich gegen die Ansicht von H . Sluga zur W e h r setzt, man müsse F r e g e von seinen V o r g ä n g e r n L o t z e , Trendelenburg etc. her verstehen; vgl. ,Preface', S. X V ff.

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entscheidend — ein Bild der Wirklichkeit; beide bilden die Wirklichkeit wahr oder falsch ab. Die Liste der Beispiele ließe sich leicht fortsetzen, doch die wenigen Andeutungen mögen genügen, um den Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Mißverständnis klarzumachen: Wittgenstein wollte im 'Tractatus' die Bild-Konzeption der Sprache bzw. der Gedanken, die ihm von Hertz und anderen Physikern wie Maxwell und Helmholtz bekannt war, mit den logischen Einsichten von Frege und Russell vereinigen oder, genauer gesagt, er wollte die BildTheorie von Hertz um die Logik von Frege und Russell ergänzen. Daher die Betonung der Frege-Russell-Tradition! Er hat sich dabei jedoch in allen Fragen, in denen es zum Konflikt zwischen der Bild-Konzeption von Hertz und der Urteils-Konzeption von Frege kam — und es mußte zwangsläufig zu derartigen Konflikten kommen, denn beide Konzeptionen sind miteinander unverträglich, ihre Theorien widersprechen sich —, eindeutig für die Bild-Konzeption von Hertz und gegen die Urteils-Konzeption von Frege entschieden, und zwar ausnahmslos. Freges Einsichten haben also nicht nur nicht positiv im 'Tractatus' fortgelebt, sondern sind von Wittgenstein bereits im 'Tractatus' — leider erfolgreich — bekämpft worden. Ich werde mich im folgenden nur mit dem zweiten Mißverständnis beschäftigen und zunächst zeigen, daß Wittgenstein in der T a t die Bild-Theorie des 'Tractatus' im wesentlichen von Hertz übernommen hat. Der Beweis für diese Behandlung kann — trotz aller Länge — nur skizzenhaft sein; es kann nur die Idee des ganzen, dreiteiligen Beweises entwickelt werden. Abschließend werde ich fragen, wieso die Mitglieder des W K die Tatsache übersehen konnten, daß die Bild-Theorie des 'Tractatus' aus der Tradition von Hertz stammt. Diese Tatsache ist so offensichtlich, daß das Mißverständnis des W K , Wittgenstein habe die Bild-Theorie gleichsam erfunden, nach Aufklärung verlangt. Ich werde am Ende versuchen, einige Gründe aufzuzeigen, die dieses Mißverständnis plausibel, wenn auch nicht entschuldbar machen.

Die Entwicklung

der Bild-Theorie von Kirchboffbis

zum

'Tractatus'

Ich werde die Skizze des Beweises der Übernahme der Bild-Theorie von Hertz in den 'Tractatus' in drei Abschnitte einteilen : I.

Die erkenntnistheoretischen Vorbedingungen f ü r die Entstehung der Bild-Theorie bei Kirchhoff und Helmholtz : Deskriptivismus und Symbolismus.

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H e r t z , Wittgenstein und der Wiener Kreis

II.

Die Synthese von Kirchhoffs's Deskriptivismus und Helmholtzscher Zeichentheorie zur konventionalistisch — intuitionistischen BildTheorie bei H . Hertz. III. Die Übersetzung der Hertzschen Bild-Theorie in die Sprache des 'Tractatus' und ihre Ergänzung zur logischen Bild-Theorie durch Wittgenstein.

I. Die Entstehung der Bild-Theorie:

Deskriptivismus

und

Symbolismus

Der gemeinsame Ausgangspunkt der hier in Rede stehenden Entwicklung ist die Wende von der Erklärung zur Deskription: In den dürren Worten Kirchhoffs ausgedrückt, ist es die Aufgabe der Mechanik, „die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben und zwar vollständig und auf die einfachste Weise. Ich will damit sagen, daß es sich nur darum handeln soll, anzugeben, welches die Erscheinungen sind, die stattfinden, nicht aber darum, ihre Ursachen zu ermitteln". 7 Mit dem Slogan „Beschreiben statt Erklären" war jedenfalls für den deutschen Sprachraum eine erkenntnistheoretische Wende allergrößten Ausmaßes eingeleitet, nämlich weg von der aprioristischen TranszendentalPhilosophie Kants und hin zum Empirismus englischer Prägung. Ich kann jetzt nicht auf die sachlichen Hintergründe für diese Entwicklung eingehen, die in dem Aufkommen der Elektrodynamik als einer Nahwirkungstheorie zu suchen sind; ich kann nur die Warnung aussprechen, diesen Slogan nicht mit Newtons 'hypothesis non fingo' zu verwechseln, denn Newton ging es darum, die „Fernkräfte" zu erklären, Kirchhoff aber darum, sie zu eliminieren. D a Kirchhoff aber ohne den allgemeinen Begriff der Kraft nicht auskommen konnte, wollte er wenigstens den Sinn genau festlegen, in welchem von Kräften überhaupt die Rede sein darf. 8 Mit anderen Worten, Kirchhoff ist ein strikter Phänomenalist, der außer den Erscheinungen bzw. den diesen korrespondierenden Vorstellungen von Raum, Zeit und Materie nichts zuläßt, was diesen ursächlich zugrunde liegt; der insbesondere die Verstandes-Kategorien Substanz—Akzidens, Ursache—Wirkung etc. ablehnt und folge-

7 8

Kirchhoff, Vorrede, S. III. Nebenbei bemerkt nimmt die Mechanik von Kirchhoff exakt die sog. R a m s e y - S n e e d Lösung für den Begriff der K r a f t vorweg, die von Stegmüller in jüngster Zeit g a n z allgemein für das Problem der sog. ,theoretischen Begriffe' vertreten wurde.

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Ulrich Majer

dessen die Mechanik ohne den Begriff der Kraft auf die Beschreibung der Bewegungen beschränken will. Diesem strikten Phänomenalismus entspricht nun — und hierin kündigt sich etwas völlig Neues an — eine bestimmte rudimentäre Semantik als sprachphilosophischer Ausdruck der zugrunde liegenden Erkenntnistheorie und Ontologie. Diese läßt sich im Ansatz als eine einfache Abbild-Semantik charakterisieren : 1.

2.

3.

4.

Die Phänomene und nur die Phänomene werden abgebildet. Die Abbildung hat vollständig und einfach zu sein; d. h., sie hat alle Phänomene durch die geringst mögliche Zahl von Zeichen abzubilden. Sie soll also keine überflüssigen Zeichen, keine leeren Bildterme enthalten. Letztere Forderung läßt sich aus Gründen unserer geistigen Organisation nicht voll verwirklichen. Sie stellt ein Optimierungsproblem dar. Die Abbildung der Phänomene durch Zeichen erfolgt in einem Darstellungsraum, das ist der Raum unserer Vorstellungen. Dieser ist von gleicher Komplexität und struktureller Ähnlichkeit wie der Raum der Phänomene. So erscheint uns z. B. die Bewegung als die räumliche Veränderung des Ortes der Materie mit der Zeit. Entsprechend wird die Bewegung abgebildet in den Vorstellungen von Raum, Zeit und Materie. Die Mathematik ist eine formallogische Wissenschaft: d. h., sie behandelt die Zeichen, seien es nun natürliche oder künstliche, nach festen Form-Regeln, wie z. B. denen des Differentialkalküls. Auf diese Weise „gelangt man durch rein mathematische Betrachtungen zu den allgemeinen Gleichungen der Mechanik". 7 Sie sind gewissermaßen nichts anderes als eine formale Entwicklung des Inhaltes der Zeichen. Aufgrund der Ähnlichkeit unserer Vorstellungen mit den Erscheinungen besteht zwischen beiden, Zeichen und Bezeichnetem, eine Homomorphie. Diese allein garantiert, daß die Gleichungen der Mechanik zur Beschreibung der Phänomene dienen können. Die Gleichungen sind noch nicht die Beschreibungen, sie dienen nur dazu. Für eine Beschreibung müssen gewisse ihrer Zeichen durch ganz bestimmte sinnverwandte Phänomene interpretiert werden, d. h. durch Werte, welche für die freien Variablen substituiert werden. Durch diese Einsetzung erhält man eine vollständige Beschreibung. Hilfsbegriffe wie „Masse" und „Kraft" besitzen in dieser Be-

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Schreibung überhaupt keine selbständige, sondern nur eine partiell definierte Bedeutung. Aus einer ganz anderen Richtung kommen die Überlegungen von Helmholtz zur Zeichentheorie: Ausgehend von sinnesphysiologischen Untersuchungen auf den Gebieten der optischen und akustischen Wahrnehmungen kommt Helmholtz zu dem Ergebnis: „daß die Qualität unserer Empfindungen, ob sie Licht, Wärme, Ton oder Geschmack usw. sei, nicht ν on dem wahrgenommenen äußeren Objekte, sondern von den Sinnesnerven (abhängt), welche die Empfindung vermitteln: Licht wird erst Licht, wenn es ein sehendes Auge trifft; ohne dieses ist es nur Ätherschwingung" schreibt er 1855 „Über das Sehen des Menschen". 9 Aus diesem, wie er selbst sagt, für die Theorie unseres Erkenntnisvermögens höchst wichtigem Umstand: „daß die Art unserer Wahrnehmungen ebenso sehr durch die Natur unserer Sinne, wie durch die äußeren Objekte bedingt (sei)" 10 zieht Helmholtz — und er war sich dessen wohl bewußt — sprachphilosophisch sehr bedeutsame und radikale Konsequenzen in Form einer neuartigen Zeichentheorie, die ich als Symbolismus gekennzeichnet habe. Ich kann nur die zentralen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte dieser Zeichentheorie andeuten und ihre wichtigsten sprachphilosophischen Implikationen für eine Bild-Theorie der Semantik aufweisen, wobei ich speziell die Semantik physikalischer Theorien im Auge habe. 1.

2.

9

Die Ablehnung der Ahnlichkeitstheorie zwischen Zeichen und Bezeichnetem: Zwischen der Qualität unserer Empfindung und dem äußeren Objekt (der Empfindung) besteht keinerlei Identität oder auch nur Ähnlichkeit: Deshalb sind die Empfindungen nur Zeichen und keine Bilder der äußeren Objekte. Denn zwischen einem Bild und einem Abgebildeten muß eine Ähnlichkeit oder Artverwandtschaft bestehen; „für ein Zeichen (dagegen) genügt es, daß es zur Erscheinung komme, so oft der zu bezeichnende Vorgang eintritt, ohne daß irgend welche andere Art der Übereinstimmung als die Gleichzeitigkeit des Auftretens zwischen ihnen existiert". " Die Forderung der Konstanz von Zeichen und Bezeichnetem: Die Empfindungen erfüllen die Forderung der Konstanz an die Zeichen: gleiche Objekte unter gleichen Bedingungen durch gleiche Zeichen zu

Helmholtz (1), „Über das Sehen des Menschen", Bd. I, S. 98. ibid., Bd. I, S. 99. " ibid., „Uber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft", Bd. I, S. 393. 10

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3.

a)

12

13 14

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bezeichnen. Man beachte, daß diese Forderung gerade die Inverse zu der Standardforschung ist: mit gleichen Zeichen gleiche Objekte zu bezeichnen. Denn die letzte Forderung läßt genau das zu, was die erste in aller Regel verbietet: gleiche Objekte durch verschiedene Zeichen zu bezeichnen. 12 Ich möchte bereits hier darauf aufmerksam machen, daß Wittgenstein eben diese Konstanzforderung an die Zeichen übernimmt, wenn er in T L P 5.53 schreibt: „Gleichheit des Gegenstandes drücke ich durch die Gleichheit des Zeichens aus, und nicht mit Hilfe eines Gleichheitszeichens. Verschiedenheit der Gegenstände durch Verschiedenheit der Zeichen". Dies ist um so bemerkenswerter, als diese Forderung Ausdruck einer ganz bestimmten Erkenntnistheorie ist, nämlich der Helmholtz-Hertzschen und nicht etwa der Fregeschen. Die objektive Deutung der Zeichen bzw. Symbolfolgen: Empfindungen als sinnliche Zeichen müssen — wie jedes Zeichen — unter Beachtung der Konstanzforderung gedeutet (interpretiert) werden. Diese Deutung ist im wesentlichen eine Sache des Verstandes auf der Basis der Erfahrung. Der Verstand muß über gewisse Kategorien und Grundsätze bereits a priori verfügen, denn er muß Schlüsse ziehen, um auch nur zur Erkenntnis eines einzigen Gegenstandes der Außenwelt gelangen zu können: „Denn nur durch Schlüsse können wir überhaupt das erkennen, was wir nicht unmittelbar wahrnehmen" 1 3 — und „wir nehmen nie die Gegenstände der Außenwelt unmittelbar, sondern wir nehmen nur Wirkungen dieser Gegenstände auf unsere Nervenapparate wahr, und das ist vom ersten Augenblicke unseres Lebens an so gewesen". 14 schreibt Helmholtz „Uber das Sehen des Menschen". M. a. W., um auch nur eine einzige wirklich objektive Deutung unserer inneren Symbolfolgen von Empfindungen zu der Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes zustande zu bringen, müssen wir schließen, und dieses Schließen setzt gewisse Kategorien und Grundsätze des reinen Verstandes im transzendentallogischen Sinne Diese semantisch so bedeutsame Forderung spricht Helmholtz erstmals in der Arbeit über „Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens" aus: „Die wesentliche Forderung an ein gutes Zeichen ist seine Constanz, d. h. daß das gleiche Object immer das gleiche Zeichen mit sich führt." Helmholtz (1), Bd. I, S. 322. ibid., „Über das Sehen des Menschen", Bd. I, S. 112. ibid., Bd. I, S. 115.

Hertz, Wittgenstein und der Wiener Kreis

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von Kant voraus, wie ζ. Β. das Kausalgesetz von Ursache und Wirkung. b) Die Begründung der Geometrie erfolgt dagegen bei Helmholtz im wesentlichen auf empirischem Wege, in Analogie zu dem räumlichen Sehen: Wir lernen durch unsere Sinne anhand der Erfahrung den Raum drei-dimensional, mit einer bestimmten Metrik behaftet, zu sehen. (Es bestehen hier jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten, auf die ich jetzt nicht eingehen kann, welche die Apriorität der räumlichen Anschauung betreffen, die Helmholtz nie ernsthaft bestritten hat.) c) Was nun allerdings unzweideutig aus der Erfahrung gewonnen wird, das sind die Gesetze der Erscheinungen „wie zu verschiedenen Zeiten auf gleiche Vorbedingungen gleiche Folgen eintreten." 15 Die Empfindungen qua Folgen von sinnlichen Zeichen sind nämlich in einer ganz speziellen Hinsicht nun doch wieder Bilder — und nicht nur Zeichen — „nämlich die Abbildung der Gesetzmäßigkeiten in den Vorgängen der wirklichen Welt". 16 Wieso? „Jedes Naturgesetz sagt aus, daß auf Vorbedingungen, die in gewissen Beziehungen gleich sind, immer Folgen eintreten, die in gewissen Beziehungen gleich sind. Da gleiches in unserer Empfindungswelt durch gleiche Zeichen angezeigt wird, so wird der naturgesetzlichen Folge gleicher Wirkungen auf gleiche Ursachen auch eine ebenso regelmäßige Folge im Gebiete unserer Empfindungen entsprechen." 17 stellt Helmholtz 1878 über „Die Tatsachen in der Wahrnehmung" fest. An dieser Argumentation, insbesondere dem letzten Schritt, ist mehreres bemerkenswert: (α) Die uneingeschränkte Gültigkeit der Kausalbeziehung ist die absolute Voraussetzung dafür, daß unsere Empfindungsfolgen Bilder der Gesetzmäßigkeit in den Erscheinungen sind, (ß) Gesetzmäßigkeiten werden vom Verstände begriffen auf Grund eines Induktionsschlusses: „wir vertrauen darauf es habe sich bewährt und werde sich bewähren in aller Zeit und in allen Fällen." 17 In diesem Sinne sind die Naturgesetze allgemeine Hypothesen. (γ) Wäre die Welt vollkommen ungeordnet, gäbe es auch keine Gesetze und a fortiori für den Verstand nichts zu begreifen; denn das a 15 16 17

ibid., „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft" Bd. I, S. 394. ibid., „Die Tatsachen in der Wahrnehmung", Bd. II, s. 222. ibid., Bd. II, S. 222 ff.

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priori gültige Kausalgesetz „spricht das Vertrauen auf die vollkommene Begreifbarkeit der Welt aus". Für die Anwendbarkeit des Kausalgesetzes haben wir aber keine andere Bürgschaft als den „Erfolg·" 17 (δ) Mit der Entdeckung von Naturgesetzen ist die Bildung wissenschaftlicher Begriffe unauflöslich verbunden, denn Gesetze zu entdecken, heißt ja letztlich nichts anderes als das Invariante in dem zeitlichen Wechsel der Erscheinungen zu begreifen. Der Begriff ist also nichts anderes als das objektivierte Gesetz in den Erscheinungen. Wir können daher als vierten und letzten Punkt der Helmholtzschen Zeichentheorie festhalten: 4. „Bilder" sind Zeichen genau nur dann, wenn sie gesetzliche Zusammenhänge abbilden: Nur gesetzliche Zusammenhänge können abgebildet werden! Die einzige Ähnlichkeit, die zwischen den Folgen von Empfindungen qua inneren Zeichen bzw. Symbolen und der zeitlichen Abfolge der Erscheinungen der äußeren Gegenstände besteht, ist der gesetzliche Zusammenhang beider: Nur in bezug auf diesen läßt sich daher von einer Abbildung im echten Sinne sprechen. Bilder sind die Zeichenfolgen nur insofern sie die Gesetze der Erscheinungen abbilden. Bevor ich Helmholtz verlasse und zu Hertz übergehe, muß ich noch eine Anmerkung machen: Wie Sie vielleicht bemerkt haben, hat Helmholtz unterderhand den Begriff der Sprache so erweitert, daß er von den Sinnesempfindungen als einer „durch unsere Organisation uns mitgegebenen Sprache" sprechen kann, „in der die Außendinge zu uns reden; aber diese Sprache müssen wir durch Übung und Erfahrung verstehen lernen, eben so gut wie unsere Muttersprache". 18 Mit anderen Worten: Sprache in dem engen Sinne einer von uns erzeugten Laut- oder Zeichenfolge entsteht erst mit der bewußten Begriffsbildung. Aber auch ohne diese denken und schließen wir unbewußt; wir können es nur nicht ausdrücken. Diese Bemerkung ist sehr wichtig, wenn wir jetzt zu Hertz kommen.

18

ibid., „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft", Bd. I, S. 3 9 3 .

H e r t z , Wittgenstein und der Wiener Kreis

II. Die Synthese von Deskriptivismus und Symbolismus: Die von H. Hertz

53 Bild-Theorie

Heinrich Hertz vereinigt in der Einleitung zu seinem Buch „Die Prinzipien der Mechanik" den Deskriptivismus von Kirchhoff mit der Zeichentheorie seines Lehrers Helmholtz, und er drückt diese Synthese in dem berühmt gewordenen Satz aus: „Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien, von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung erfüllbar sei, müssen gewisse Ubereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geist". Und er fügt, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, hinzu: „Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Ubereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderungen liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgend eine weitere Ubereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht und haben auch keine Mittel zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung". 19 Um die Leistung von Hertz richtig würdigen zu können, muß man bedenken, daß es Helmholtz nicht gelungen war, zu einer wirklich konsistenten Position vorzudringen, in welcher der deskriptivistische Standpunkt Kirchhoff's mit seiner eigenen Zeichentheorie widerspruchsfrei verbunden ist. Zwar erkennt Helmholtz den deskriptivistischen Standpunkt von Kirchhoff ausdrücklich an, daß es die Aufgabe der Mechanik sei, „die in der Natur vorkommenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben" (Vorlesungen über Theoretische Physik, Einleitung §6). Er fährt dann aber fort (nachdem er erklärt hat, daß dieses Beschreiben nur durch das Aussprechen der Gesetze erfolgen kann, welche den Phänomenen zugrunde liegen) : „Andererseits ist aber doch zu erwähnen, daß auch die abstracteste Bezeichnungsweise ihre Vorteile hat, um das Gesetz als solches zu charakterisieren, und daß die Bildung eines solchen Abstractums mit seiner substantivischen Bezeichnung doch auch durch Momente gegeben ist, die ebenfalls in der Natur 19

H e r t z (1), Alle Zitate sind der Einleitung zu den „Prinzipien der Mechanik" entnommen, S. 1 ff., welche die kompakteste und präziseste Darstellung der Theorie der Bilder enthält, welche m. W. jemals von einem Physiker gegeben wurde.

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der Sache liegen" 20 M. a. W. Helmholtz ist nicht in der Lage, den strikt phänomenalistischen Deskriptivismus Kirchhoffs, welcher jeden abstrakten, die Erscheinungen transzendierenden Begriff bzw. Schluß bedingungslos ablehnt, mit seinem eigenen Symbolismus transzendentallogischer Prägung konsistent zu verbinden. Daß dies in der T a t als bloße Konjunktion unmöglich ist, ist leicht einzusehen, denn für Helmholtz beruhte die Zeichentheorie und damit der Abbildungsbegriff auf der apriorischen Gültigkeit des Kausalgesetzes und anderer Kategorien im transzendentallogischen Sinne. Für eine wirkliche Synthese — im Unterschied zu einer bloßen Konjunktion — mußte daher eines von beiden aufgegeben werden, entweder der Deskriptivismus in seiner strikt phänomenalistischen Form oder die Zeichentheorie in ihrer transzendentallogischen Begründung. Hertz wählte im wesentlichen den zweiten Weg, d. h., er entschied sich in der Hauptsache für den Deskriptivismus und gegen die transzendentallogische Rechtfertigung der Zeichentheorie. Denn er erkannte, daß die transzendentallogische Rechtfertigung aufgegeben werden kann, ohne an der Zeichentheorie selbst, an ihrer formalen Fassung und ihrem epistemischen Gehalt, etwas Entscheidendes ändern zu müssen. Alles, was geändert werden mußte, war die Rechtfertigung der Zeichentheorie: An die Stelle einer transzendentallogischen Begründung trat eine quasi empirisch-induktive Rechtfertigung. 2 1 „Quasi", weil Hertz einen ganz eigentümlichen, teils konventionalistischen, teil intuitionistischen Vorbehalt machte: „Die inneren Scheinbilder der Symbole", von denen im Zitat die Rede war, sind nämlich von uns gemacht, es sind unsere Vorstellungen von den Dingen. Und weil das so ist, entscheidet nicht allein die Erfahrung, sondern auch die Eigenschaften unseres abbildenden, d. h., denkenden und anschauenden Geistes über die zweckmäßige Auswahl der Bilder. In einem Satz gesagt: Die Auswahl der Bilder ist empirisch unterdeterminiert — es kann mehrere Bilder zu demselben Phänomenbereich geben — die Auswahl wird durch unsere Intuition, sowohl die intellektuelle wie die sinnliche, mitbestimmt. Hertz übernimmt also die Helmholtzsche Zeichentheorie — das zeigt der Ausdruck „Scheinbilder oder Symbole" — und gibt ihr eine neue, mit dem Deskriptivismus verträgliche, konventionalistische Rechtfertigung auf intuitionisti20 21

Helmholtz (2), Einleitung, s. 3. Es wurde also nur der Punkt (iii-ct) der Helmholtzschen Zeichentheorie geändert. Die Punkte (i), (ii) und auch (iii-ß, γ , δ) sowie selbstverständlich auch Punkt (iv) wurden von Hertz ungeändert in seine Bild-Theorie übernommen.

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scher Basis: Logik, Erfahrung und Anschauung entscheiden über die konsistente, richtige und zweckmäßige Auswahl der Bilder. Es ist hier leider nicht möglich, auf die vielen interessanten Aspekte der Hertzschen Bild-Theorie einzugehen, wie sie in den 'Prinzipien der Mechanik' dargelegt sind, es können nur die wichtigsten Punkte hervorgehoben werden: 1.

2.

3. a)

b)

c)

Hertz unterscheidet streng zwischen den inneren Bildern, unseren Vorstellungen von Dingen, und der äußeren, insbesondere der wissenschaftlichen Darlegung der Bilder. Die Bilder sind durch die Forderung der Ubereinstimmung in den Folgen nicht eindeutig bestimmt; es kann zu denselben Folgen von Erscheinungen mehrere, voneinander abweichende Bilder geben, welche die Forderung erfüllen. Entsprechendes gilt für die Darstellung der Bilder durch Zeichen, Definitionen und Sätze. Daher sind gewisse Auswahlkriterien an die Bilder bzw. ihre Darlegung zu stellen : Die Bilder müssen logisch zulässig, bzw. konsistent sein, d. h., sie dürfen nicht den Gesetzen unseres Denkens widersprechen; was den Bildern um der logischen Konsistenz willen zukommt, ist einzig und allein gegeben durch die Eigenschaften unseres denkenden Geistes. Die Bilder müssen richtig sein, d. h., ihre (internen) Beziehungen dürfen den (externen) Beziehungen der äußeren Dinge nicht widersprechen, sie müssen jener einen fundamentalen Korrespondenzforderung genüge tun; was den Bildern um der Richtigkeit willen zukommt, ist allein enthalten in den Erfahrungs-Tatsachen, die zum Aufbau der Bilder gedient haben. Darum können die Bilder jederzeit durch neue Erfahrungen widerlegt werden. Die Bilder müssen deutlich und einfach, kurz zweckmäßig sein, d. h., sie sollen so viel wesentliche Beziehungen zwischen den Gegenständen wie möglich abbilden und so wenig überflüssige oder leere Beziehungen zwischen den Zeichen enthalten wie unbedingt nötig, d. h., sie sollen nach Möglichkeit keine leeren Bildbeziehungen enthalten, aber auch keine wirklichen Beziehungen auslassen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, daß sich leere Beziehungen — ich zitiere Hertz — „nicht ganz werden vermeiden lassen, denn sie kommen den Bildern schon deshalb zu, weil es eben nur Bilder

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und zwar Bilder unseres besonderen Geistes sind und also von den Eigenschaften seiner Abbildungsweise mitbestimmt sein müssen." 22 Ich breche hier ab, obwohl im einzelnen noch sehr viel — auch Kritisches — dazu zu sagen wäre, und erwähne nur noch die wichtigsten Konsequenzen, die diese Bildtheorie für die Darstellung der Mechanik hat. 23 1.

2.

3. a)

22 23

Es gibt mehrere Darstellungen der Mechanik insofern es mehrere Bilder gibt; Hertz vergleicht in der Tat drei solche Darstellungen bzw. Bilder der Mechanik: Die Mechanik von Newton mit Kraftbegriff, die Mechanik mit Energiebegriff und seine eigene Darstellung ohne Kraftbegriff. Das zweckmäßigste dieser Bilder — Konsistenz und Richtigkeit vorausgesetzt — ist dasjenige, welches am meisten die wirklichen Beziehungen widerspiegelt und am wenigsten leere Bildterme enthält. In diesem Sinne versucht Hertz den Begriff der Kraft aus der Mechanik fernzuhalten und allein mit verallgemeinerten kinematischen Begriffen zu operieren und mit Hilfe eines einzigen Bewegungsgesetzes den gesamten Phänomenbereich der Mechanik zu beschreiben. Die Darstellung seiner Mechanik zerfällt in zwei Teile, die streng getrennt sind. Der erste Teil : Dieser hat es nur mit den Eigenschaften unseres Geistes und daran anknüpfenden Definitionen zu tun; dazu gehören erstens „die Formen der eigenen Logik des Aussagenden" und zweitens „die Gesetze der inneren Anschauung" und drittens der kinematisch definierte Begriff des „Masseteilchens". Hertz betont in der Vorbemerkung zum ersten Buch: „Sie haben mit der äußeren Erfahrung desselben keinen anderen Zusammenhang als ihn diese Anschauungen und Formen etwa haben." Charakteristischerweise werden zwar die Gesetze der Anschauung als die Formen von Raum und Zeit erläutert, aber nichts Bestimmtes über die Formen der Logik gesagt, als daß sie die „Gesetze unseres Denkens" sind. Es bleibt daher zu vermuten, daß Hertz von der Logik und ihren Gesetzen Hertz, Einleitung, S. 3 (Hervorhebung vom Verfasser) Was hier für die Mechanik gesagt wird, gilt in analoger Weise auch f ü r die Elektrodynamik, die zu verstehen f ü r H e r t z überhaupt der Anlaß war, seine Bildtheorie zu entwickeln. Das geht deutlich aus der „Einleitenden Ubersicht" zu den „Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft" von 1894 hervor, vgl. H e r t z (2), Gesammelte Werke Bd. II, in welcher H e r t z verschiedene „Bilder" der Elektrodynamik miteinander vergleicht.

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b)

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keine genaueren Kenntnisse hatte, als sie in mathematisch-physikalischen Kreisen jener Zeit üblich waren — und diese waren zumindest in ihrer expliziten Form äußerst mangelhaft, Der zweite Teil : Dieser hat es nur mit dem einen allgemeinen empirischen Bewegungsgesetz der Mechanik und seiner Entwicklung in Anwendungen zu tun. Hier erst werden unter Zeiten, Räumen und Massen „bestimmte Zeiten, bestimmte räumliche Größen, bestimmte Massen" verstanden — denn so Hertz — „Wir machen nämlich jene Begriffe zu Zeichen für Gegenstände der äußeren Erfahrung, indem wir festsetzen, durch welche sinnliche Wahrnehmungen wir bestimmte Zeiten, räumliche Größen und Massen festlegen wollen." 24

Indem ich nun zum ,Tractatus' übergehe, möchte ich bemerken, daß die Mechanik von Hertz ein höchst bedeutsames Kapitel über „Dynamische Modelle" enthält, von dem her erst die Bildtheorie von Hertz in ihrer großen Allgemeinheit und Tiefe richtig verstanden werden kann: „Das Verhältnis eines dynamischen Modells zu dem System als dessen Modell es betrachtet wird, ist dasselbe, wie das Verhältnis der Bilder, welche sich unser Geist von den Dingen bildet, zu den Dingen." 25 Der Witz dieses Modellbegriffes besteht, äußerst kurz gesagt, darin, daß es nicht auf die Anzahl der „Massenpunkte" in einem System ankommt, sondern nur auf die Anzahl der vorhandenen „Freiheitsgrade" der Bewegung, die das System insgesamt besitzt, damit ein System ein dynamisches Modell eines anderen sein kann. So sind z. B. ein System von n-Massenpunkten mit 3n-Freiheitsgraden im drei-dimensionalen physikalischen Raum und ein System mit genau einem Massenpunkt und 3n-Freiheitsgraden im 3n-dimensionalen Phasenraum dynamische Modelle voneinander, gdw. sich ihre Bewegungen ineinander transformieren lassen.

III. Die Übersetzung der Bild-Theorie von Hertz in die Sprache des, Tractatus ' Bevor ich die Übersetzung der Hertzschen Bild-Theorie in die Sprache des ,Tractatus' und ihre Behandlung durch Wittgenstein auch nur andeute, seien zwei Gesichtspunkte mit Nachdruck betont: 24 25

H e r t z (1), S. 157/158. ibid., S. 1 9 7 - 1 9 9 .

58 1.

2.

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Der ,Tractatus' enthält in einer Hinsicht eine ganz wesentliche Ergänzung und Präzisierung der Hertzschen Bildtheorie: Er füllt nämlich jene soeben bezeichnete Lücke aus, die Hertz hinsichtlich der „Formen der Logik" mangels einer genaueren Kenntnis „der Gesetze des Denkens" hatte bestehen lassen. Wittgenstein kennt „die großartigen Werke Freges und die Arbeiten seines Freundes Herrn Bertrand Russell" und kann von daher die empfindliche logische Lücke schließen. Diese Ergänzung geschieht aber in dem von H e r t z vorgezeichneten Rahmen der Bildtheorie, d. h., sie überschreitet deren formale Grenzen nicht und hält sich an die vorgegebenen erkenntnistheoretischen Bestimmungen. Das sieht man u. a. an folgenden drei Punkten:

Erstens, der Grundgedanke des Tractatus ist: „daß die logischen Konstanten nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt." (TLP-4.0312) D. h. „abbilden" in einem referentiellen Sinne können nur die deskriptiven, nicht aber die logischen Konstanten. Anders gesagt, nur die Elementarsätze bilden ab, und zwar Sachverhalte, während die logisch zusammengesetzten, die komplexen Sätze stets neben den deskriptiven Konstanten Zeichen enthalten, die nichts abbilden, weil die Logik der Tatsachen, d. h. die Gesetze des Denkens von Sachverhalten, sich nicht vertreten läßt. 26 Das entspricht genau der Auffassung von Hertz, daß es sich bei den „Gesetzen des Denkens" um Eigenschaften unseres subjektiven Geistes handelt, die nichts aus der Welt der äußeren Gegenstände abbilden — leere Bildbeziehungen lassen sich nicht ganz vermeiden — die aber eben darum uneingeschränkt gelten. Zweitens, die Sätze der Logik sind entweder Tautologien oder Kontradiktionen (TLP 4.46). Tautologie und Kontradiktion sagen nichts, sie sind bedingungslos wahr bzw. falsch. (TLP 4.461) „Tautologie und Kontradiktion sind nicht Bilder der Wirklichkeit. Sie stellen keine mögliche Sachlage dar." (TLP 4.462) D. h., anders als die Elementarsätze sind die logischen Sätze nicht auf Grund ihrer Ubereinstimmung bzw. Nicht-Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit wahr oder falsch, sondern 26

Dies erkennt man bereits an den Istelligen logischen Begriffen wie „Bejahung" und „Verneinung", die ja nichts aus der Welt im normalen Sinne des Wortes, d. h. keine Sachverhalte abbilden, sondern nur das „Bestehen" oder „Nicht-Bestehen" von Sachverhalten ausdrücken, eben das, was Wittgenstein positive und negative Tatsachen nennt. Es besteht hier jedoch eine Inkongruenz, insofern Wittgenstein die Welt nicht allein aus Sachverhalten, sondern aus positiven Tatsachen bestehen läßt, d. h. aus Gedanken über Sachverhalte (T.L.P. 1.1,2,2.04).

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einzig und allein auf Grund ihrer Form. Dieser tautologische Charakter der Logik entspricht der formalistischen Auffassung der Logik bei Kirchhoff und Hertz, im Unterschied zu der transzendentalen, d. h. auf Inhalte bzw. Gegenstände bezogenen Logik bei Helmholtz. Drittens reduziert Wittgenstein im ,Tractatus' die Vielheit der logischen Zeichen im Sinne von Frege und Russell auf ein einziges logisches „Urzeichen", das sog. „Joint denial". (TLP 5.502) Diese Reduktion — so vermute ich — ist Ausdruck der Kirchhoff/Hertzschen Einfachheitsforderung, nach der man die Zahl der leeren Bildbeziehungen bzw. Zeichen auf ein Minimum zu beschränken hat, auch wenn diese sich nicht ganz vermeiden lassen, weil es eben nur Bilder unseres besonderen Geistes sind. Für die eigentliche Ubersetzung der Bildtheorie von Hertz in die Sprache des „Tractatus" hat man von der langen Passage T L P 6.341 auszugehen, in welcher Wittgenstein seine wissenschaftstheoretischen Ansichten zur Physik in Form einer „Netzanalogie" darlegt: „Die Newton'sche Mechanik z. B. bringt die Weltbeschreibung auf eine einheitliche Form . . . Diese Form ist beliebig, denn ich hätte mit dem gleichen Erfolge ein Netz aus dreieckigen oder sechseckigen Maschen verwenden können. Es kann sein, daß die Beschreibung mit Hilfe eines Dreiecks-Netzes einfacher geworden wäre; das heißt, daß wir die Fläche mit einem gröberen Dreiecks-Netz genauer beschreiben könnten als mit einem feineren quadratischen (oder umgekehrt) usw. Den verschiedenen Netzen entsprechen verschiedene Systeme der Weltbeschreibung." Zunächst hat man die „Netzanalogie" als eine Analogie, und zwar als eine Analogie zu der Hertzschen Bildtheorie zu durchschauen, um sodann ihre verschiedenen Teile, wie z. B. die Netze mit dreieckigen und viereckigen Maschen, als analog zu der Ansicht von Hertz entschlüsseln zu können, daß es verschiedene Bilder der Mechanik, z. B. mit und ohne Kraftbegriff, gibt. Sodann hätte man die verschiedenen Termini wie „einfach", „deutlich", „zweckmäßig" usw. sinngemäß zu übersetzen, was nicht schwierig, aber ein bißchen langatmig ist. Auch ohne die Ubersetzung explizit anzugeben, hoffe ich, daß bereits hier deutlich ist, daß Wittgenstein den konventionalistischen Standpunkt von Hertz ohne „Wenn und Aber", d. h. vorbehaltlos übernimmt. Dies ist eine äußerst wichtige Feststellung, nicht nur weil sie beweist, daß Wittgenstein (im ,Tractatus') ein Konventionalist ist — ein Umstand, den bislang niemand bemerkt zu haben scheint —, sondern auch, weil ohne

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diese Erkenntnis die nachfolgenden Passagen des ,Tractatus' völlig im dunkeln bleiben. Wie bereits bemerkt, war der Konventionalismus bei Hertz kein zufälliges Ergebnis, sondern das Resultat der gelungenen Synthese von Deskriptivismus und Symbolismus zu einer neuen Bildtheorie; der Konventionalismus ist das eigentliche Charakteristikum dieser neuen Bildtheorie. Dies muß man im Auge haben, wenn man die folgende Passage T L P 6.342 über die „gegenseitige Stellung von Logik und Mechanik" verstehen will: Es liegt in dem konventionalistischen Charakter dieser Bildtheorie begründet, daß die Darstellung der Mechanik in zwei Teile zerfällt: den a priorischen Teil, der alles enthält, was mit unserer „Abbildungsweise" zusammenhängt, die Gesetze des Denkens und der Anschauung, und den empirischen Teil, der alles, was aus der Erfahrung stammt, in einem einzigen Grundgesetz zusammengefaßt. Dieser Schnitt — wenn wir die Zerlegung so bezeichnen wollen — geht mitten durch die Mechanik hindurch; ihr apriorischer Teil rechnet zur Logik im weiteren Sinne, d. h., er ist eine tautologische Erweiterung der Sprache der Logik, also der logischen Konstante(n) und Variablen, um deskriptive Konstanten und Variablen in Form einer einzigen riesigen Tautologie, welche den Zustandsraum vollständig aufspannt, in den die Sachverhalte abgebildet werden sollen. Aber die Mechanik in ihrem apriorischen Teil ist selbst noch keine „Weltbeschreibung, sondern nur der Plan dazu" (TLP 6.343), indem sie die allgemeinen Begriffe zur Verfügung stellt, die wir zur Beschreibung der Welt brauchen. Eine Beschreibung erhält man erst in dem empirischen Teil, indem man durch Abbildung einzelner Sachverhalte in den logischen Raum der Tatsachen, d. h. dem Raum des Bestehens oder Nicht-Bestehens von Sachverhalten, und ihrer induktiven Verallgemeinerung zu einem (oder mehreren) einfachen empirischen Gesetzen gelangt: „Dieser Vorgang [der Induktion] hat aber keine logische, sondern nur eine psychologische Begründung," (TLP 6.2631), d. h. für Wittgenstein ebenso wie für Helmholtz und H e r t z : wir wissen nicht, sondern wir glauben nur — und in diesem Sinne sind die Naturgesetze nichts anderes als allgemeine Hypothesen. Ist man einmal so weit in der Ubersetzung gekommen, dann versteht man auch Wittgensteins Bemerkungen zur Kausalität: „Wenn es ein Kausalitätsgesetz gäbe, so könnte es lauten: ,Es gibt Naturgesetze'. Aber freilich kann man das nicht sagen: es zeigt sich" (TLP 6.36). Und zwar versteht man es, als eben jene Zurückweisung der transzendentalen Auffassung der Kausalität durch Hertz, wie sie noch von Helmholtz ganz im Sinne Kants vertreten wurde zugunsten einer empirischen Induktion Hume-

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scher Prägung. Damit ist schließlich auch der Sinn des Satzes T L P 6.371 verständlich: „Der ganzen modernen Weltauffassung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze Erklärungen der Naturerscheinungen seien". Sie sind es eben nicht — jedenfalls nicht in irgendeinem metaphysischen oder transzendentalen Sinn —, sondern nur die Beschreibung der Phänomene, sonst nichts. 27 Hier schließt sich fürs erste der Kreis, und wir halten als Resultat fest: Wittgenstein übernimmt jedenfalls in seiner wissenschaftstheoretischen Auffassung voll und ganz den Standpunkt von Hertz. Ubernimmt Wittgenstein aber auch die Bildtheorie von Hertz? Ja, für die naturwissenschaftlichen Sätze und Gesetze (Theorien) steht dies zweifelsfrei fest. Da nun aber für Wittgenstein „die Gesamtheit der wahren Sätze die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der N a turwissenschaften) ist" (TLP 4.11), so muß man annehmen, daß Wittgenstein auch seine allgemeine Theorie vom „Gedanken als logisches Bild der Tatsachen" (TLP 3) bzw. vom „Satz als Bild der Wirklichkeit" (TLP 4. Ol) von Hertz übernommen hat, denn die Sätze der Naturwissenschaften bilden das einzige ernsthafte Beispiel der allgemeinen Bildtheorie des ,Tractatus'. Es würde hier zu weit führen, diese Behauptung in allen Einzelheiten zu belegen; es sei nur nochmals daran erinnert, daß die Einführung der Logik (von Frege und Russell) jedenfalls den Rahmen der Hertzschen Bildtheorie nicht sprengt — weil Wittgenstein die Interpretation der Logik an die Bildtheorie anpaßt —, sondern nur ausfüllt und präzisierend ergänzt. Ich will die Ubersetzung mit dem Hinweis schließen, daß die Korrelation zwischen Wittgenstein und Hertz in der T a t so eng ist, daß sie sich nicht nur auf die Bildtheorie, sondern auch auf den „ontologischen" Anfang des „Tractatus" erstreckt: Dieser ist m. E. nichts anderes als eine Verallgemeinerung der „Ontologie", wie Hertz sie in den „Prinzipien der Mechanik" darlegt: Die Gegenstände qua Substanzen entsprechen den Hertzschen „Massenteilchen". Sie sind einfach — im Sinne von nicht zusammengesetzt — unveränderlich und unzerstörbar. Ein Massenteilchen kann nicht zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten sein; ihre Anzahl ist aus prinzipiellen Gründen nicht abso27

Schon H e r t z hatte in den ,Prinzipien der Mechanik' erkannt, daß zu einer vollständigen Erklärung der Erscheinungen im ursprünglichen Sinne des Wortes außer ihrer Beschreibung durch das Grundgesetz (also ihrer DN-Erklärung), auch die Erklärung eben dieses Grundgesetzes gehören würde; vgl. H e r t z (1) Bemerkung Nr. 5 auf S. 163. Auf diese Bemerkung beziehen sich T L P 6.371 und 6.372.

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lut bestimmbar usw. Darum kann man auch nicht sagen, wieviel Namen es in der Sprache und damit a fortiori, wieviel Elementarsätze es gibt: „Es gibt keine ausgezeichneten Zahlen". (TLP 5.454) Auch wenn das meiste leider nur angedeutet werden konnte, so hoffe ich doch, daß das Gesagte genügt, um folgende Feststellung treffen zu können: Die Bildtheorie des ,Tractatus' ist keine neue „Erfindung" von Wittgenstein, sondern sie steht eindeutig in der Tradition der Bildtheorien der Physiker des 19. Jahrhunderts: Kirchhoff, Helmholtz, (Maxwell) 28 und vor allem Heinrich Hertz. (Und man muß um der Deutlichkeit willen hinzufügen: In keiner anderen, insbesondere nicht in der Frege-Russell-Tradition.)

Schlußbemerkung: mögliche Gründe für das Mißverständnis Um nun auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Warum haben die Mitglieder des W K den Zusammenhang der Bildtheorie des jTractatus' mit der Bildtheorie von Hertz und der älteren Tradition nicht gesehen? Die Tatsache eines sachlichen Zusammenhanges ist so offensichtlich (wenn man die Sache — und das heißt hier den ,Tractatus' — erst einmal richtig verstanden hat), daß das Mißverständnis des W K , Wittgenstein habe die Bildtheorie „erfunden", 2 9 nach einer Erklärung bzw. nach Aufklärung verlangt. 30 Zunächst scheint es, daß Mißverständnis sei so unglaublich, daß es gar nicht wahr sein kann, daß die Mitglieder des W K den Zusammenhang der Bildtheorie des ,Tractatus' mit derjenigen von Hertz nicht gesehen haben. Dafür würden folgende Gründe sprechen:

28

29

30

Auf Maxweil konnte ich im Rahmen dieser Arbeit leider nicht eingehen. Der größte Teil seiner Schriften ist in Deutschland nicht greifbar. Ich bin aber H e r r n Prof. B. McGuiness aus Oxford zu D a n k verpflichtet f ü r den Hinweis, daß sich auch bei Maxwell die „Bild-Terminologie" durchgängig findet, und Wittgenstein die Schriften von Maxwell zum großen Teil gekannt haben dürfte. Den Mythos von der „Erfindung" hat Wittgenstein später selbst genährt, indem er u. a. von Wright erzählte, „seine Idee von der Sprache als Bild der Wirklichkeit" sei ihm anläßlich der Betrachtung eines schematischen Bildes gekommen, in welcher „der mögliche Verlauf eines Automobilunglückes rekonstruiert" war (vgl. die „Biographische Skizze" von Wrights in N. Malcolm: L. Wittgenstein 1958). Ein Mißverständnis kann man natürlich nicht rational erklären; es bleibt, was es ist: Irrational. Man kann nur erklären, durch welche Irrtümer und Vorurteile es zustande kam, mehr nicht. N u r in diesem Sinne ist hier von Erklärung die Rede.

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(α) Sie hielten den Zusammenhang für so selbstverstänlich, daß sie ihn keiner Erwähnung für wert hielten, (ß) Sie hielten die Bildtheorie des ,Tractatus' für so viel bedeutungsvoller, daß ein Vergleich mit Hertz ganz unangemessen gewesen wäre, (γ) Sie waren historischen Rückzügen gegenüber grundsätzlich abgeneigt, weil sie nur an der Behandlung systematischer Fragen und deren Fortschritt interessiert waren. Zwar ließen sich diese Einwände im einzelnen widerlegen; ich meine jedoch, daß sich diese Einwände, die ja alle auf eine Zurückweisung der Erklärungsbedürftigkeit hinauslaufen, vor allem aus systematischen Gründen von selbst erledigen — aus Gründen, die zugleich eine indirekte Antwort auf die Frage geben: Wie wäre eigentlich die Entwicklung des,Wiener Kreises' und a fortiori des,Logischen Empirismus' verlaufen, wenn wenigstens dieses eine Mißverständnis nicht bestanden hätte? Wenn die Mitglieder des W K wirklich bemerkt hätten — so mein Einwand gegen die Gründe für die Nicht-Erklärung — daß die Bildtheorie des ,Tractatus' aus der Tradition von Hertz stammt, dann hätten sie wenigstens das eine oder andere der folgenden Dinge tun müssen: 1.

2.

31

Sie hätten sich mit dem Konventionalismus von Hertz bzw. von Wittgenstein auseinandersetzen müssen — so wie sie sich mit allen anderen konventionalistischen Positionen kritisch auseinandergesetzt haben (Poincaré, Duhem, Dingler) — und entweder den Hertz/Wittgensteinschen Konventionalismus akzeptieren, kritisieren oder verwerfen müssen. Nichts von alledem ist geschehen, weil gar keine Auseinandersetzung stattfand. Vermutlich haben sie gar nicht bemerkt, daß Wittgenstein ein Konventionalist ist, weil sie den Zusammenhang des ,Tractatus' 6.3.41 ff. mit den ,Prinzipien der Mechanik' von Hertz nicht verstanden haben. Damit ist ihnen aber ein wesentlicher Gesichtspunkt, um nicht zu sagen, das „Hertz" der Wittgensteinschen Bildtheorie entgangen. 31 Sie hätten sich fragen müssen, ob die a priorische Gültigkeit nicht nur der Geometrie sondern auch der gesamten Kinematik einschließlich der Definition des „Massenteilchens" mit ihren sonstigen logisch-empiristischen Grundsätzen verträglich ist. D. h., ob sie ebenfalls wie Wittgenstein und Hertz behaupten wollen, daß GeoDer Hertzsche Konventionalismus — daß man sich verschiedene mehr oder weniger zweckmäßige Bilder machen kann — bleibt ja auch gerade für die spätere Philosophie der „Sprachspiele" von Bedeutung.

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3.

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metrie und Kinematik einen gleichsam logisch-analytischen Status haben, weil sie nicht zu dem objektiv Abgebildeten sondern zu unserer subjektiven Abbildungsweise, zu unserer Intuition gehören — eine Ansicht, die sie ansonsten entschieden bekämpft haben. Vermutlich ist ihnen gar nicht aufgegangen, daß die Apriorität von Geometrie und Kinematik eine spezifische Konsequenz der konventionalistisch-intuitionistischen Bildtheorie des ,Tractatus' ist, weil sie den Zusammenhang mit Hertz nicht bemerkt haben. Sie hätten sich nicht fragen müssen, aber doch fragen können, warum eigentlich die Bildtheorie des ,Tractatus' im Unterschied zu Freges Semantik eine inhomogene Semantik ist, d. h. eine Semantik, die in bezug auf die deskriptiven Konstanten referentiell, in bezug auf die logischen Konstanten aber gerade nicht referentiell angelegt ist (während Freges Semantik rein referentiell ist). Sie hätten dann vielleicht bemerkt, daß diese Inhomogenität im wesentlichen auf die Anregung von Hertz zurückgeht, die Trennung zwischen Geist und Natur gerade so zu legen, daß der Geist die Natur zwar (referentiell) abbildet, er selber aber, als der Abbildende, gerade nicht (referentiell) mit abgebildet werden kann. So aber berufen sich die Mitglieder des W K auf Wittgenstein und Frege gleichzeitig, ohne zu sehen, daß beide Positionen miteinander unverträglich sind.

Die Liste dessen, was hätte geschehen müssen, wenn die Mitglieder des W K den Zusammenhang zwischen Wittgenstein und Hertz bemerkt hätten, ließe sich leicht im Detail fortsetzen — ich habe hier nur die auffälligsten Punkte benannt. Doch nichts von alledem ist geschehen! Ja, die Wissenschaftstheorie des ,Tractatus' und ihre nachweislich enge Verbindung mit der Bildtheorie des ,Tractatus' ist nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Daraus kann man nur den Schluß ziehen, daß die Mitglieder des W K den sachlichen Zusammenhang des ,Tractatus' mit der Bildtheorie von Hertz nicht gesehen haben. Also muß man sich nach einer Erklärung für dieses, wie gesagt, nicht allein a-historische, sondern auch systematische Mißverständnis umschauen. Ja, es ist in erster Linie der systematische Gesichtspunkt, der nach einer Erklärung verlangt, und dieser liefert auch den Schlüssel zum Zustandekommen des Mißverständnisses: Aus den verschiedensten Fachgebieten und Traditionen stammend, besaßen die Mitglieder des W K alle eine gemeinsame Lücke: Es fehlte

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ihnen an einer qualifizierten Vorstellung von Logik — nicht der Logik überhaupt, sondern einer ganz bestimmten Philosophie der Logik — die mit ihrer übrigen, weitgehend dem Positivismus Mach's und dem englischen Empirismus verpflichteten Philosophie in Einklang zu bringen war. Genauer gesagt, bestand die Lücke darin, daß weder Rationalismus noch Empirismus eine vernünftige Erklärung für die Gültigkeit mathematischer Sätze bot: Der Rationalismus erklärte ihnen gleichsam zu viel — auf Grund einer unklaren und mit Metaphysik überladenen Vorstellung von Logik erklärte er nicht nur die Mathematik, sondern große Teile der empirischen Wissenschaften für ,a priori' gültig — der Empirismus zu wenig — auf Grund seiner psychologistischen Vorstellung von Logik konnte er nicht einmal die Gewißheit der mathematischen Sätze erklären. 32 Diese Lücke schien der ,Tractatus' zu schließen, indem er ihnen die Logik in einer scheinbar metaphysik-freien und zugleich a-psychologischen Verfassung lieferte: in Form der Tautologien, erklärt auf der Basis der Invarianz ihres Wahrheitswertes w. Mit der tautologischen Auffassung der Logik schien man endlich jenen, wie Schlick sich ausdrückt, ,Einblick in das Wesen des Logischen selber' gewonnen zu haben, nach dem man so lange vergeblich gesucht hatte. Die tautologische Auffassung der Logik genau zu verstehen und kennenzulernen, vor allem aber auch auf ihre eigenen Fragen und Probleme anwenden zu können, waren die Mitglieder des W K offenbar so beschäftigt, daß sie darüber alle anderen Fragen vergaßen, insbesondere auch die nach den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des tautologischen Charakters der Logik und damit der Bildtheorie des ,Tractatus'. Der ,Tractatus' selbst schien in dieser Hinsicht eine deutliche und einfache Sprache zu sprechen: „Den großartigen Werken Frege's und den Arbeiten meines Freundes, Herrn B. Russell, schulde ich einen großen Teil der Anregungen zu meinen Gedanken" schrieb Wittgenstein im Vorwort zum ,Tractatus'. In der T a t hatte Wittgenstein die Idee, die logischen Begriffe und damit die Logik durch Wahrheitswertfunktionen zu explizieren, von Frege übernommen. Was er selbst hinzugefügt hatte, war eine — von Frege her gesehen — ganz neue Art der Semantik: Die Bildtheorie des ,Tractatus'. Damit schien für die Mitglieder des W K der n

Diese Ansicht kommt deutlich in den eingangs zitierten Aufsätzen von Schlick, H a h n , Carnap und Waismann im ersten Band der ,Erkenntnis' zum Ausdruck — und wurde auch später, z. B. auf der zweiten T a g u n g f ü r Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Königsberg, vertreten.

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Fall klar. Was also nach weiteren historischen Quellen suchen? Die BildTheorie des „Tractatus" — und damit die Idee der Tautologie — war Wittgensteins Beitrag zur philosophischen Begründung der Logik und Mathematik. Diese Erklärung beansprucht nicht die einzig mögliche zu sein, sie beansprucht nur die nächstliegende zu sein, was die sachlichen Gründe für das Zustandekommen des Mißverständnisses anbelangt. Weitere Aspekte werden hinzutreten müssen, z. B. Wittgensteins Schwenk zum Intuitionismus, um das Ausmaß der Irritation des t r a c t a tus' auf den W K verständlich zu machen.

Literaturverzeichnis Carnap, R. : „Die alte und die neue Logik". Erkenntnis, Bd. I (1930). Dummett, M.: „The Interpretation of Freges Philosophy". Duckworth, London (1981). Hahn, H . : „Die Bedeutung der wissenschaftlichen Weltauffassung, insbesondere für Mathematik und Physik". Erkenntnis. Bd. I, (1930). Helmholtz, H . : „Vorträge und Reden", Bd. I/II. 5te Aufl., Vieweg, Braunschweig (1903). — : „Vorlesungen über Theoretische Physik". Ambrosius Barth, Leipzig (1903). Hertz, H. : „Die Prinzipien der Mechanik". Gesammelte Werke, Bd. III (1894). unveränderter Nachdr.: Wiss. Buchges., Darmstadt (1963). — : „Untersuchungen über die Ausbreitung der Elektrischen Kraft". Gesammelte Werke, Bd. 11 (1894). Kirchhoff, G.: „Vorlesungen über Mathematische Physik". Bd. I, Mechanik, Teubner, Leipzig (1877). Neurath, O . : „Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung". Erkenntnis, Bd. I (1930). Schlick, M.: „Die Wende der Philosophie". Erkenntnis, Bd. I (1930). Waismann, F.: „Logische Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs". Erkenntnis, Bd. I (1930). — : „Logik, Sprache, Philosophie". Ed. G. P. Baker, B. McGuiness, J . Schulte Reclam (1976). — : „Principles of Linguistic Philosophy". Ed. R. Harre, McMillan, London (1965). Wittgenstein, L.: „Tractatus logico-philosophicus". Annalen der Naturphilosophie, Bd. 14 (1921). Wright, G. H. von: „Biographische Skizze", in Malcolm: „Ludwig Wittgenstein, Ein Erinnerungsbuch". Oldenbourg Verlag (1958).

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Wittgenstein, Schlick und das Apriori In dem Artikel „Gibt es ein materiales Apriori?" schreibt Schlick: Der Empirismus, den ich vertrete, glaubt sich klar darüber zu sein, daß alle Aussagen, prinzipiell gesprochen, entweder synthetisch a posteriori oder tautologisch sind; synthetische Sätze a priori scheinen ihm eine logische Unmöglichkeit zu sein. Muß er diesen Standpunkt, den er gegenüber der Kantischen Philosophie mit Leichtigkeit zu verteidigen vermochte, angesichts der von Husserl und seiner Schule scheinbar zur Grundlage einer neuen Philosophie gemachten Sätze etwa aufgeben? Ist es etwa eine synthetische Aussage a priori, daß jeder Ton eine bestimmte Höhe hat, daß ein grüner Fleck nicht auch zugleich rot ist? 1

In diesem 1930 erschienenen Artikel erreicht Schlicks Kritik der Phänomenologie ihren Höhepunkt. Der Versuch, sinnvolle Sätze in genau zwei große Gruppen zu teilen, war nicht neu — man denke etwa an Humes Unterschied zwischen matters of fact und relations of ideas. Eine Passage, worauf sich spätere Empiristen öfters berufen haben, ist diese von Hume: When we run over libraries, persuaded of these principles, what havoc must we make? If we take in our hand any volume; of divinity or school metaphysics, for instance; let us ask, Does it contain any abstract reasoning concerning quantity or number? No. Does it contain any experimental reasoning concerning matter of fact and existence? No. Commit it then to the flames: for it can contain nothing but sophistry and illusion. 2

Schon in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre versuchte Schlick Kants synthetische Urteile a priori zu beseitigen, eine Aufgabe, die er zu seiner Zufriedenheit durchführte. Damals attackierte er nicht — oder zumindest nicht direkt — den Anspruch der Phänomenologen, synthetische (oder, wie man auch sagte, materiale) Sätze a priori begründet zu haben — nur kritisierte er als unklar bzw. psychologistisch Husserls Begriffe

1 2

Schlick [2], S. 25. Hume [2], letzter Paragraph.

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der Ideation und Evidenz.3 Es ist auch fraglich, ob die logischen Mittel, über die der Fachphilosoph also Nicht-Mathematiker Schlick im Buch verfügte, eine erfolgreiche Beseitigung zugelassen hätten. Als es einige Jahre später zur Diskussion der phänomenologischen Beispiele kam, war er logisch etwas gereifter. In dieser Richtung wurde er entscheidend von Ludwig Wittgenstein beeinflußt. Im Buch zeigt sich Schlicks Naivität in Passagen wie: das mathematische Schließen sei „nichts anderes als ein Aneinanderreihen von Syllogismen im Modus Barbara" (S. 128) Die moderne symbolische Logik, wie sie z. B. B. Russell ausgebildet hat, ist zweifellos ein viel brauchbareres Hilfsmittel des Schließens als die Syllogistik, aber sonst beweisen alle Gründe, mit denen die Herrschaft des Syllogismus angegriffen wird, in Wirklichkeit nur, daß das lebendige Denken des Menschen sich nicht in regulären Syllogismen bewegt — und das ist eine unbestreitbare psychologische Tatsache —, sie beweisen aber nicht, daß die Darstellung eines absolut strengen Zusammenhanges von Wahrheiten, sofern sie eben schlechthin exakt und lückenlos sein soll, nicht immer erfolgen könne in syllogistischer Form. (S. 130) „Reine Begriffswissenschaften (wie die Arithmetik z. B.) bestehen in diesem [weiteren] Sinne eigentlich nur aus Definitionen." (S. 94) Schlicks Begriff der Analytizität stellt keinerlei Verbesserung gegenüber derjenigen von Kant (ja, sogar von Leibniz) dar: Unter „analytischen" Urteilen sind solche zu verstehen, die einem Subjekt ein Prädikat beilegen, das im Begriff des Subjekts bereits enthalten ist. Es ist in ihm enthalten, kann nur heißen: es gehört zu seiner Definition. (S. 96) Synthetisch nannten wir mit Kant solche Urteile, die von einem Gegenstande etwas aussagen, was noch nicht im Begriff des Gegenstandes liegt. (S. 382) D i e uralte Kritik, diese Definition nehme nur Sätze der SubjektPrädikat-Form in Betrachtung, scheint Schlick nicht berücksichtigt zu haben. Verglichen mit solchen Ideen, müßte die Vertrautheit Wittgen-

3

Schlick kritisierte — ad hominem — Husserls Verwendung des Begriffs Evidenz etwa so: — der große Kritiker des Psychologismus soll solche psychologischen Begriffe nicht zur Begründung seiner positiven Lehre verwenden. Man kann — ad hominem erwidern: Schlick verwendet auch psychologische Begriffe in seiner positiven Lehre; z. B. eine Prognose wird — zeitlich punktuell — bestätigt durch einen nicht kommunizierbaren Fundamentalsatz. Wir erkennen diese Bestätigung durch ein Gefühl der Befriedigung. Außerdem unterscheidet Schlick nicht zwischen psychologischer und epistemischer Gewißheit. (Diese Information verdanke ich Dr. Rudolf Stranzinger.)

Wittgenstein, Schlick und das Apriori

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steins mit den Prinzipien und Symbolismen von Russell und Frege ihn als Vertreter der modernen Logik an Schlick empfehlen. Besonders Wittgensteins Begriff der Tautologie scheint sich Schlick zu Herzen genommen zu haben. N u n konnte er formale Wahrheiten adäquater als vorher abgrenzen. Sehen wir im Tractatus nach, so stellt sich heraus, daß Wittgenstein die scharfe Trennung zwischen formalen Sätzen (Tautologien, Kontradiktionen und — in der Mathematik — Gleichungen) einerseits und Sätzen der empirischen Wissenschaften andererseits ähnlich wie H u m e zieht, und ähnlicherweise schließt er auch damit die Sätze der Metaphysik als ohne Sinn aus. (Wittgenstein — im Unterschied zu H u m e — sieht zwar ein, daß der Status seiner eigenen Sätze ein Problem darstellt (6.54), aber das ist für die eigentliche Diskussion des Apriori nicht von unmittelbarer Bedeutung.) Wittgensteins Betrachtung der Farbeninkompatibilität — immer ein Musterbeispiel des synthetischen Apriori — ist kurz, interessant, und unbefriedigend (6.3751): D a ß z. B. zwei Farben zugleich an einem Ort des Gesichtsfeldes sind, ist unmöglich, und zwar logisch unmöglich, denn es ist durch die logische Struktur der Farbe ausgeschlossen. Denken wir daran, wie sich dieser Widerspruch in der Physik darstellt: Ungefähr so, daß ein Teilchen nicht zu gleicher Zeit zwei Geschwindigkeiten haben kann; das heißt; daß es nicht zu gleicher Zeit an zwei Orten sein kann; das heißt; daß Teilchen an verschiedenen Orten zu einer Zeit nicht identisch sein können. (Es ist klar, daß das logische Produkt zweier Elementarsätze weder eine Tautologie noch eine Kontradiktion sein kann. Die Aussage, daß ein Punkt des Gesichtsfeldes zu gleicher Zeit zwei verschiedene Farben hat, ist eine Kontradiktion.)

Was diese logische Struktur ist, verheimlicht uns Wittgenstein zwar nicht — aber einige Punkte sind zu bemerken. Erstens sagt er nicht „die logische Struktur der Farbwörter, -begriffe oder -sätze", sondern „der Farbe" — also die Sache selbst. Zweitens zeigt der plötzliche Sprung in die Physik, daß Wittgensteins Begriff der Analyse hier kein bloßer logischer oder linguistischer ist; die Analyse ist hier eher physikalisch zu betrachten. Drittens, sagt er „logische Struktur", wo manche „ontologische" oder „physikalische" gesagt hätten. Dadurch konnte er die Verbindung zwischen einer solchen Analyse und dieser Art von Sätzen beibehalten. Viertens, ein Farbsatz wie ,Dieser Punkt ist zugleich rot und grün' ist wörtlich eine Kontradiktion. Das Argument wird in der Form

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eines Enthymems gegeben; die fehlenden Prämissen bleiben mir allerdings unklar. Es könnte sein, daß Wittgenstein hier an die Hertz'schen Theorie der Farben gedacht hat. Hertz versucht, Farbe durch die Bewegungen von Teilchen zu erklären. Die Massenteilchen der Hertz'schen Mechanik dürfen sich nicht gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten befinden. Der Satz, daß sich Teilchen a zu Zeit t zugleich an Stelle 5, und an S2 Φ S, befindet, scheint mir aber keine logische Kontradiktion zu sein, wie Wittgenstein glaubt, sondern ein Satz derselben Art wie der problematische , G i s t zugleich rot und grün'. Die starke logische Unabhängigkeit, die Wittgenstein von den Elementarsätzen fordert, war eigentlich die erste wichtige These des Traktats, die er aufgab, als er sich wieder der Philosophie zuwandte. Rückblickend können wir die Probleme, die zur mittleren Philosophie geführt haben, bereits im Tractatus aufspüren. Da sagt Wittgenstein (2. 0131): Der Fleck im Gesichtsfeld muß zwar nicht rot sein, aber eine Farbe muß er haben: er hat sozusagen den Farbenraum um sich. Der T o n muß eine H ö h e haben, der Gegenstand des Tastsinns eine Härte, usw.

Wüßte man nicht, daß sich Wittgenstein nicht zum synthetischen Apriori bekannt hat, so könnte man glauben, dies wären Beispiele einer Theorie der synthetischen Wahrheiten a priori — etwa die Gegenstandstheorie Meinongs — der übrigens auch das Wort „Farbenraum" verwendet — oder die Phänomenologie Husserls. Die Dynamik der folgenden Entwicklung entsteht dadurch, daß Wittgenstein zwar die ausschließlich logische Natur der Notwendigkeit beibehalten will, aber er erkennt auch das Unbefriedigende an seiner Lösung. Den entscheidenden Schritt machte er im zweiten und letzten, zu seinen Lebzeiten erschienenen Werk, „Some Remarks on Logical Form". Liest man heute diesen Aufsatz, den Wittgenstein sogar bei der Veröffentlichung ableugnete, so soll man sich nicht durch die abwertenden Bemerkungen von Miss Anscombe ablenken lassen. 4 Dieses einzige konventionell geschriebene Werk Wittgensteins ist ein Meisterwerk im kleinen, und die darin zu findenden Tendenzen sind entscheidend für Wittgensteins spätere Entwicklung. Im Vergleich mit vielen sogenannten „Werken" Wittgensteins, die aus Notizen seiner Schüler zusammengestellt worden sind, ist der Aufsatz sicherlich nicht von minderer Bedeutung, und verdient nicht das Urteil Wittgensteins, er habe hier nur Wert4

Vgl. ihre Bemerkungen zum Nachdruck von Wittgenstein [2], S. 31.

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loses geschrieben. Außerdem wird der Aufsatz von Schlick neben dem Tractatus explizit erwähnt. 5 Wittgenstein befaßt sich mit Sätzen, die über Phänomenales etwas aussagen. (Als Nebeneffekt der expliziten Behandlung Wittgensteins des Phänomenalen hätte vielleicht das Mißverständnis entstehen können, die Gegenstände des Tractatus seien Sinneseindrücke — damit, daß Wittgenstein eine phänomenalistische Interpretation des Werks gewürdigt habe.) Er versucht nicht, wie im Tractatus, solche Sätze gegen physikalische Sätze zu tauschen, aber die Art der Analyse, die er hier empfiehlt, ist wiederum keine bloße linguistische, sondern „die logische Untersuchung der Phänomene selbst" (S. 32), eine Phrase, die unwillkürlich an Husserl erinnert. Das neue Ergebnis Wittgensteins ist, daß Zahlen (rationale sowie irrationale) in der Struktur der Elementarsätze (atomic propositions) vorkommen müssen. Diese Einsicht wendet er bei Inkompatibilitätssätzen an: And numbers will have to enter these forms when — as we should say in ordinary language — we are dealing with properties which admit of gradation, i. e. properties as the length of an interval, the pitch of a tone, the brightness or redness of a shade of colour, etc. It is a characteristic of these properties that one degree of them excludes any other. One shade of colour cannot simultaneously have two different degress of brightness or redness, a tone not two different strengths, etc. And the important point here is that these remarks do not express an experience but are in some sense tautologies. Every one of us knows that in ordinary life. If someone asks us "What is the temperature outside?" and we said "Eighty degrees", and now he were to ask us again, "And is it ninety degress?" w e should answer, "I told you it was eighty." We take the statement of a degree (of temperature, for instance) to be a complete description which needs no supplementation. Thus, when asked, we say what the time is, and not also what it isn't. 6

Ein Satz wie „Rot existiert an Platz Ρ zur Zeit Τ & Blau existiert an Platz Ρ zur Zeit T " ist kontradiktionsdrtzg („some sort of contradiction"). In diesem Falle erlaubt uns die Sprache — so Wittgenstein — Sätze zu formen, die eine größere logische Mannigfaltigkeit haben als die tatsächlichen Möglichkeiten — es gibt kein logisches Produkt von sich einander ausschließenden Sätzen; wir können nur drei Zeilen der entsprechenden Wahrheitstafeln schreiben. Der Satz, in dem ein solches Produkt vorzukommen scheint, ist sinnlos (nonsensical), (S. 37). Die 5 6

Schlick [2], S. 29. Wittgenstein [2], S. 34—5.

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phänomenalen Sätze werden daher von nun an von Wittgenstein als elementar betrachtet. Dieser Schritt signalisiert den Ubergang v o m extremen logischen Atomismus des Traktats zu einem logischen Molekularismus, w o nicht einzelne Sätze, sondern Satzsysteme, „an die Wirklichkeit angelegt werden". S o beschreibt Wittgenstein seine Meinungsänderung in den G e sprächen mit Schlick, Waismann u. a., worüber wir uns in Waismanns posthum erschienenen N o t i z e n Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis informieren können. Wittgenstein vergleicht das Satzsystem der Farbsätze mit einem Maßstab, und spricht von einer Farbenskala. {WWK, S. 6 3 f . ) Die Gespräche, die für uns hier wichtig sind, fanden Ende 1929 — Anfang 1930 (in den Weihnachtsferien) statt — also nach der V e r ö f fentlichung Wittgensteins Aufsatz für die Aristotelian Society, und vor dem Vortrag von Schlicks „Gibt es ein materiales Apriori?" Schlick wirft selber die Frage des synthetischen Apriori quasi ad hoc auf: S C H L I C K : Was kann man einem Philosophen erwidern, der meint, daß die Aussagen der Phänomenologie synthetische Urteile a priori sind? WITTGENSTEIN: . . .

Nehmen wir nun die Aussage: „Ein Gegenstand ist nicht rot und grün zugleich." Will ich damit bloß sagen, ich habe bisher einen solchen Gegenstand nicht gesehen? Offenbar nicht. Ich meine: „Ich kann einen solchen Gegenstand nicht sehen", „Rot und grün können nicht im selben Ort sein". Hier würde ich nun fragen: Was bedeutet hier das Wort „kann"? Das Wort „kann" ist offenbar ein grammatischer (logischer) Begriff, nicht ein sachlicher. Gesetzt nun, die Aussage: „Ein Gegenstand kann nicht rot und grün sein" wäre ein synthetisches Urteil und die Worte „kann nicht" bedeuten die logische Unmöglichkeit. Da nun ein Satz die Negation seiner Negation ist, muß es auch den Satz geben: „Ein Gegenstand kann rot und grün sein." Dieser Satz wäre ebenfalls synthetisch. Als synthetischer Satz hat er Sinn, und das bedeutet, die von ihm dargestellte Sachlage kann bestehen. Bedeutet also „kann nicht" die logische Unmöglichkeit, so kommen wir zu der Konsequenz, daß das Unmögliche doch möglich ist. Hier blieb Husserl nur der Ausweg, daß er erklärt, es gäbe noch eine dritte Möglichkeit. Darauf würde ich erwidern: Worte kann man ja erfinden; aber ich kann mir darunter nichts denken. (WWK, S. 67—8.) Wittgensteins Argumentation ist hier etwas unklar. Eine genauere Analyse verdeutlicht, so sehen wir, daß Wittgenstein 2 Thesen aus dem Tractatus voraussetzt:

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1.

Es gibt nur eine logische Notwendigkeit bzw. Unmöglichkeit (vgl. 6.375). 2. Hat ein Satz Sinn, so könnte er wahr sein. Fügen wir folgende angenommene Prinzipien hinzu 3. Die Negation eines synthetischen Satzes ist ebenfalls synthetisch. 4. Die Negation eines sinnvollen Satzes ist ebenfalls sinnvoll. 5. Ein Satz ist synthetisch gdw er sinnvoll ist. (4) ergibt sich aus (3) und (5) oder (3) aus (4) und (5). Nun sehen wir die Struktur des Arguments. (A) Angenommen, der Satz ρ sei synthetisch und notwendig, dann: (Β) (C) (D) (Ε) (F) (G) (H)

ρ ist logisch notwendig (A, 1) ρ ist sinnvoll (A, 5) ~ ρ ist sinnvoll (C, 4) ~ ρ könnte wahr sein (D, 2) ρ könnte falsch sein (E) ρ kann nicht falsch sein (A) daher (Reductio ad absurdum) es gibt keinen solchen Satz.

In diesem Argument scheint mir Wittgenstein nicht weiter zu kommen. Alles Wichtige wird bereits in den Prinzipien vorausgesetzt: das Argument funktioniert nur, um Schlüsse daraus zu ziehen. Die Prinzipien (3) & (4) sind unbestreitbar, aber die Prinzipien (1), (2) und (5) könnten angezweifelt werden. Das letzte scheint eigentlich harmlos zu sein; es klingt wie ein linguistisches Prinzip, aber es ist kein solches im Kontext der Wittgenstein'schen Theorie vom Sinn. Als Wittgenstein bemerkte, daß ein Satz wie „Dies ist zugleich ganz rot und ganz grün" keine Kontradiktion — im Sinne des Tractatus — sei, also nicht die Form ρ & —ρ hat, so müßte er, um die Prinzipien aufrechtzuerhalten, auch solche Sätze zu den sinnlosen rechnen. Das letztlich bestreitbare und von den Phänomenologen bestrittene Prinzip scheint mir (1) zu sein. Dies gab Wittgenstein nie auf. Nur mußte er, um die neuen Sätze darin unterzubringen, seinen Begriff des Logischen erweitern. Aus „logisch" wurde „logisch — grammatisch" oder „syntaktisch", und die Einheit der Logik bzw. Grammatik — ihre Explikation durch Wahrheitsfunktionen wie im Tractatus — ging verloren, da Wittgenstein die logische Syntax von verschiedenartigen Satzsystemen untersuchen mußte.

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Diese Erweiterung — und Lockerung — des Begriffs Logik scheint Schlick zunächst beunruhigt zu haben; doch blieb Wittgenstein hartnäkkig dabei: SCHLICK: H a t man nicht das G e f ü h l , daß die logischen K o n s t a n t e n (die Wahrheitsfunktionen) etwas Wesentlicheres sind als die besonderen Regeln der Syntax, daß etwa die Möglichkeit, ein logisches P r o d u k t „ p . q " zu bilden; allgemeiner, gewissermaßen u m f a s s e n d e r ist als die Regeln der Syntax, daß rot und blau nicht am selben O r t sein können? D i e erste Regel enthält ja nichts von Farbe und Ort. WITTGENSTEIN: Ich glaube nicht, daß hier ein Unterschied besteht. D i e R e geln f ü r das logische P r o d u k t etc. sind ja nicht loszulösen von anderen Regeln der Syntax. Beide gehören z u r M e t h o d e der Abbildung der Welt.

{WWK, S. 80—1)

Obwohl diesbezüglich vorübergehend empfindlicher als Wittgenstein, scheinen Schlick inzwischen die Feinheiten der Wittgensteinischen Betrachtung verloren gegangen zu sein, als er zur eigenen Kritik kam. Er nahm an, Wittgenstein habe ihn bei seiner Kritik an Husserl völlig unterstützt. Außerdem hatte Wittgenstein eine Methode, die angeblichen synthetischen Sätze a priori zu entschärfen — sie seien doch logischanalytisch — wahr oder falsch. Schlicks Behandlung der Beispiele erinnert stark an Wittgensteins Aufsatz. Aber wo Wittgenstein zwischen Kontradiktion und Ausschließung unterscheidet, wirft Schlick sämtliche Sätze in einen Topf (er verwendet das Wort unverträglich') ; wo Wittgenstein anerkennt, daß nicht alles Schließen die Form einer Tautologie hat, verwendet Schlick die folgenden Begriffe als gleichbedeutend: analytisch wahrer Satz Satz wahr vermöge seiner bloßen Form (22) Tautologie (tautologischer Satz) (22) Satz von rein begrifflicher Natur (28) logisch gültiger Satz (28) Sie sind außerdem trivial; sie sagen nichts; sie teilen uns nichts über die Wirklichkeit mit (27). Schließlich scheint Schlick wieder einmal zur früheren Naivität zurückzukehren, als er alle diese Sätze als Äquivalenzen ansieht. (25) Die Negationen der analytischen Sätze sind (wie bei Wittgenstein) sinnlose Wortverbindungen, deren Gebrauch durch entsprechende logische Regeln verboten ist (29). Nur fragt sich Schlick nicht, ob die apriorischen — also analytischen — Sätze auch sinnvoll sind. Laut Wittgen-

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stein müssen sie auch sinnlos sein. Mir scheint aber, daß Schlick ,sinnlos' mit,unverständlich' (daher mit,unsinnig') verwechselt hat, und dadurch den wichtigen Traktatschen Unterschied sinnlos/unsinnig überfahren hat. Wittgenstein dürfte vielleicht unrecht gehabt haben, die Logik so zu erweitern, daß die Sätze der Phänomenologen logisch gültig würden. Schlicks diesbezügliche Beunruhigung scheint aber nicht lange gedauert zu haben; seine Wiedergabe der Wittgensteinschen Lösung lautet: D e r Irrtum, der v o n den Verfechtern des materialen Apriori begangen wird, erklärt sich dadurch, daß man sich nie klar gemacht hat, daß Farbbegriffe und ähnliche genau so gut eine formale Struktur haben w i e etwa Zahlen oder räumliche Begriffe, und daß diese Struktur ihre Bedeutung restlos bestimmt. D e r erste, der meines Wissens die richtige A u f l ö s u n g der S c h w i e rigkeit gegeben hat, ist Ludwig Wittgenstein (siehe seinen Tractatus l o g i c o philosophicus und eine Abhandlung in den Proceedings of the Aristotelian Society), dem wir überhaupt fundamentale, für alle künftige Philosophie schlechthin entscheidende logische Aufklärungen verdanken. . . . so gehört es zur logischen Grammatik der Farbworte, daß ein solches W o r t eine bestimmte Eigenschaft beschreibt, die dadurch nur so bezeichnet ist, daß ich dieselbe Eigenschaft nicht n o c h einmal durch ein anderes Farbwort b e z e i c h n e n kann. 7

Schlicks Skeptizismus in bezug auf Husserls Methode der Feststellung des Apriori — der Wesensschau — ist eine andere Sache, und dürfte wohl berechtigt sein. Doch die entscheidenden Beispiele, die Schlick diskutiert, sind von ihm durchaus als a priori akzeptiert. Der Streit befaßt sich eher mit dem Begriff des Analytischen, und in diesem Punkt sind sowohl Wittgenstein (der wahrscheinlich Husserl nicht gelesen hatte) als auch Schlick Husserl gegenüber ungerecht; ja sie betrachten seine Definition der Analytizität überhaupt nicht. Schlick kritisiert nur den unkantischen Gebrauch des Begriffs ,a priori' bei den Phänomenologen. Hätten sie sich jedoch mit Husserls Diskussion befaßt, so wären sie vielleicht darauf gekommen, daß Husserl einen engeren Begriff hat als sie. Husserls explizite Diskussion befindet sich in den Logischen Untersuchungen, aber an einer Stelle, an der man es nicht erwarten würde; in der dritten Untersuchung, „Zur Lehre von den Ganzen und Teilen", §12. Schlick gibt zwar nicht an, daß er dies gelesen hat, aber das Beispiel von Husserl: „Dieses Rot ist verschieden von diesem Grün" kommt 7

Schlick [2], S. 29—30.

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in der dritten Untersuchung vor, und nicht, wie im WWK

der Heraus-

geber angemerkt, im I I / 2 auf S. 2 0 3 (also in der 6. Untersuchung) — w o es um den Unterschied adäquate/inadäquate Anschauung geht.) ( WWK 176-7) Laut Husserl sind analytische Sätze solche, die ihre Wahrheitswerte nicht ändern, wenn wir die darin vorkommenden inhaltlichen oder materialen Begriffe beliebig variieren, und nur die formalen Begriffe konstant halten. Ersetzen wir sämtliche Begriffe mit Inhalt durch das bloß formale ,Etwas' — oder, wie wir — und Wittgenstein — es lieber machen würden (vgl. ,Some Remarks' S. 31), durch Variablen (vgl. H u s serls Beispiel), so erhalten wir ein formales oder analytisches Gesetz. Analytische Gesetze sind unbedingt allgemeine (und somit von aller expliziten oder impliziten Existenzialsetzung von Individuellem freie) Sätze, welche keine anderen Begriffe als formale enthalten, also wenn wir auf die primitiven zurückgehen, keine anderen als formale Kategorien. Den analytischen Gesetzen stehen gegenüber ihre B e s o n d e r u n g e n , welche durch Einführung s a c h h a l t i g e r Begriffe und ev. individuelle Existenz setzender Gedanken (z. B. dies, der Kaiser) erwachsen. Wie überhaupt Besonderungen von Gesetzen Notwendigkeiten ergeben, so Besonderungen analytischer Gesetze analytische Notwendigkeiten. Was man „analytische Sätze" nennt, sind in der Regel analytische Notwendigkeiten . . . Analytisch notwendige Sätze, so können wir definieren, sind solche Sätze, welche eine von der sachlichen Eigenart ihrer (bestimmt oder in unbestimmte Allgemeinheit gedachten) Gegenständlichkeiten und von der ev. Faktizität des Falles, von der Geltung der ev. Daseinssetzung völlig unabhängige Wahrheit haben; also Sätze, die sich v o l l s t ä n d i g „ f o r m a l i s i e r e n " und als Spezialfälle oder empirische Anwendungen der durch solche Formalisierung gültig erwachsenden formalen und analytischen Gesetze fassen lassen. In einem analytischen Satze muß es möglich sein, jede sachhaltige Materie, bei voller Erhaltung der logischen Form des Satzes, durch die leere Form etwas zu ersetzen, und jede Daseinssetzung durch Ubergang in die entsprechende Urteilsform „unbedingter Allgemeinheit" oder Gesetzlichkeit auszuschalten . . . Haben wir den Begriff des analytischen Gesetzes und der analytischen Notwendigkeit, so ergibt sich eo ipso der des synthetischen Gesetzes a priori und der synthetisch-apriorischen Notwendigkeit. Jedes reine Gesetz, das sachhaltige Begriffe in eine Weise einschließt, die eine Formalisierung dieser Begriffe salva veritate nicht zuläßt (m. a. W. jedes solche Gesetz, das keine analytische Notwendigkeit ist), ist ein synthetisches Gesetz a priori. Besonderungen solcher Gesetze sind synthetische Notwendigkeiten; darunter natürlich auch empirische Besonderungen, wie z. B. dieses Rot ist verschieden von diesem Grün.8 8

Husserl, LU I I I , ξ 12 ( I I / l , S . 2 5 4 - 6 . )

Wittgenstein, Schlick und das Apriori

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Analytische Sätze sind also die, die aus solchen Gesetzen als Substitutionsinstanzen entstehen, bzw. durch Formalisierung in solche Gesetze verwandelt werden können. D i e Tatsache, daß Sätze Materiales enthalten, hinderte Husserl keineswegs — wie Schlick vermutet — sie gegebenenfalls zu den analytischen zu rechnen. Ferner unterscheidet Husserl innerhalb der formalen Kategorien zwischen formalen Bedeutungskategorien (später: apophantische Kategorien) und formalen gegenständlichen Kategorien, Kategorien der formalen Ontologie — ein Unterschied, den Wittgenstein nie erkannte. Ich vermute folgenden Ursprung der Husserlschen Definition: Ein Einfluß, der historisch sowie systematisch in Frage kommt, ist Bernard Bolzano, der von Husserl verehrte böhmische Logiker. Bolzano lieferte nicht nur die endgültige Kritik des kantischen Begriffs; er schlug selbst eine Definition vor, die nach heutigen Standards fast akzeptabel ist, und sogar u. a. Quine antizipiert. Laut Bolzano sind diejenigen Sätze (an-sich) analytisch, von denen sich zumindest eine Idee variieren salve veritate aut falsitate läßt. Darunter sind diejenigen logisch-analytisch, von denen sämtliche nicht-logischen Ideen sich variieren lassen, ohne daß sich der Wahrheitswert ändert. Wenn es aber auch nur eine e i n z i g e Vorstellung in einem Satze gibt, welche sich willkürlich abändern läßt, ohne die Wahr- oder Falschheit desselben zu stören; d. h. wenn alle Sätze, die durch den Austausch dieser Vorstellung mit beliebigen andern zum Vorscheine kommen, entweder insgesammt wahr oder insgesamrñt falsch sind, vorausgesetzt, daß sie nur Gegenständlichkeit haben: so ist schon diese Beschaffenheit des Satzes merkwürdig genug, um ihn von allen, bei denen dieß nicht der Fall ist, zu unterscheiden. Ich erlaube mir also, Sätze dieser Art mit einem von K a n t entlehnten Ausdrucke a n a l y t i s c h e , alle übrigen aber, d . h . bei denen es nicht eine einzige Vorstellung gibt, die sich ihrer Wahr- oder Falschheit unbeschadet willkürlich abhändern ließe, s y n t h e t i s c h e S ä t z e zu nennen. So werde ich z. B. die Sätze: „Ein Mensch, der sittlich böse ist, verdient keine Achtung," und: „Ein Mensch, der sittlich ist, genießet gleichwohl einer fortwährenden Glückseligkeit," ein Paar analytische Sätze nennen; weil es in beiden eine gewisse Vorstellung, nämlich die Vorstellung Mensch gibt, die man mit jeder beliebigen andern, z. B. Engel, Wesen u. s. w., dergestalt austauschen kann, daß der erste (sofern er nur Gegenständlichkeit hat) jederzeit wahr, der zweite jederzeit falsch bleibt. In den Sätzen dagegen: Gott ist allwissend, ein Dreieck hat zwei rechte Winkel, wüßte ich nicht eine einzige Vorstellung nachzuweisen, welche in ihnen willkürlich abgeändert werden könnte, mit dem Erfolge, daß jener beständig wahr, dieser beständig falsch verbliebe. Dieß wären mir sonach Beispiele von synthetischen Sätzen.

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2. Einige sehr allgemeine Beispiele von analytischen Sätzen, die zugleich wahr sind, haben wir an folgenden Sätzen: A ist A; A, welches Β ist, ist A; A, welches Β ist, ist B; Jeder Gegenstand ist entweder Β oder Nicht Β u. s. w. Die Sätze der ersten Art, oder die unter der Form: A ist A, oder: A hat (die Beschaffenheit) a, enthalten sind, pflegt man mit einem eigenen Namen i d e n t i s c h e , auch t a u t o l o g i s c h e Sätze zu nennen. 3. Die Beispiele von analytischen Sätzen, die ich so eben anführte, unterscheiden sich von jenen der n°. 1. darin, daß zur Beurteilung der analytischen Natur der erstem durchaus keine anderen als logische Kenntnisse nothwendig sind, weil die Begriffe, welche den unveränderlichen Theil in diesen Sätzen bilden, alle der Logik angehören; während es zur Beurtheilung der Wahr- oder Falschheit der Sätze von der Art der n°. 1. ganz anderer Kenntnisse bedarf, weil hier Begriffe, welche der Logik fremd sind, einfließen. Dieser Unterschied hat freilich sein Schwankendes, weil das Gebiet der Begriffe, die in die Logik gehören, nicht so scharf begrenzt ist, daß sich darüber niemals einiger Streit erheben ließe. Zuweilen könnte es gleichwohl von Nutzen seyn, auf diesen Unterschied zu achten; und so könnte man die Sätze der Art wie n°. 2. l o g i s c h analytische oder analytische in der e n g e r e n Bedeutung; jene der n°. 1. dagegen analytische in der w e i t e r n Bedeutung nennen. 9 Trotz einiger Unterschiede scheint mit die Ähnlichkeit zu Husserl, besonders in der Idee der Variation, deutlich zu sein. Sowohl Husserl als auch Bolzano, wie vor ihnen Kant und Leibniz, haben das Problem der impliziten oder versteckten Analytizität nicht zufriedenstellend überwinden können; genau mit diesem Punkt beginnt Quines Kritik der Analytizität. W e d e r für Bolzano noch für Husserl wäre ein Satz wie „Nichts kann zugleich überall rot und überall grün sein" analytisch; wir könnten etwa ,rot' durch ,rund' oder ,purpur' ersetzen : Ahnliches gilt für die anderen Beispiele. Es wäre auch nicht plausibel zu sagen, daß die Definition von ,rot' das Merkmal nicht grün einschließt: D i e Sätze sind also auch nicht implizit analytisch. Wittgensteins Einsicht, daß Begriffe bzw. Sätze nicht allein sondern in Systemen vorkommen, wird als solche von Husserl nicht erkannt. T r o t z d e m haben die Pläne Husserls, verschiedene apriorische materiale (synthetische, regionale) O n t o l o g i e n zu schmieden, vieles gemeinsam mit Wittgensteins späteren Versuchen, die Grammatik oder formale Struktur der verschiedenen Sprachspiele zu untersuchen. In seiner mittleren Periode verwendet Wittgenstein gelegentlich den Terminus „Phänomenologie" für ein solches Studium. Was

9

Bolzano, § 148 (II, S. 8 3 - 4 . )

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ihn aber von Husserl ständig trennt ist seine weitere Fassung des Logischen. Farbsätze waren oft Beispiele im Streit um die Analytizität. Solche Sätze überzeugten auch Wittgenstein, daß die Forderung der logischen Unabhängigkeit für Elementarsätze zu streng war. Nicht zuletzt wegen dieser Sätze glauben manche, daß das Verifikationsprinzip des logischen Empirismus doch an Sätzen wie ,Blau gleicht grün mehr als purpur' gescheitert ist. (Schlick scheint (S. 30) vergessen zu haben, daß Farbbegriffe andere Farbbegriffe subsumieren oder sich überschneiden können.) Letzlich ist es also eine Ironie, daß genau die Art von Farbsätzen bei H u m e zu finden sind. H u m e scheint außerdem sich ihres Sonderstatus bewußt zu sein: 'Tis evident, that even different simple ideas may have a similarity or resemblance to each other; nor is it necessary, that the point or circumstance of resemblance shou'd be distinct or separable from that in which they differ. Blue and green are different simple ideas, but are more resembling than blue and scarlet; tho' their perfect simplicity excludes all possibility of separation or distinction. 10

Solche Sätze passen nicht in das kantische Bild des Erzempiristen : es gab sogar einen Philosophen, der aufgrund solcher Sätze eine neue Hume-Interpretation versuchte. Dieser Philosoph, dessen Aufsatz „Kants Auffassung des Humeschen Problems" 1908 erschien, war ein Phänomenologe, der begabteste aller Husserl-Studenten, Adolf Reinach. Aber es ist sicher, daß weder Schlick noch Wittgenstein Reinach gelesen haben. Zusammenfassend: Die Kritik Wittgensteins und Schlicks an Husserl übersieht, daß Husserl die Grenzen des Analytischen enger zieht als sie. Der bolzano'sche-husserl'sche Begriff, trotz der zugegebenen Schwierigkeiten mit der sogenannten impliziten Analytizität, scheint nicht minderwertig als der übliche von den Neopositivisten stammende Begriff zu sein, und hat auch den Vorteil, daß man Materiales in die Logik nicht miteinbezieht. Die philosophischen Untersuchungen Wittgensteins und des Wiener Kreises werden zumeist als ein Vorsprung in der Genauigkeit der Philosophie dargestellt. Man muß aber anerkennen, daß in bezug auf manche Punkte, einige vorangehende Traditionen — etwa die der früheren, vortranszendentalen Phänomenologie — erheblich genauer waren. 1 1 10 11

H u m e [1], S. 637 (Appendix). Wesentliche Anregungen verdanke ich Dr. Kevin Mulligan und Dr. Barry Smith.

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Peter Simons

Literaturverzeichnis Bolzano, Β. Wissenschaftslehre. Aalen: Scientia, 1981. Hume, D. A Treatise of Human Nature, ed. L. A. Selby-Bigge, rev. P. H. Nidditch. O x f o r d : Clarendon, 1978. — An Enquiry concerning Human Understanding, ed. L. A. Selby-Bigge, rev. P. H . Nidditch. O x f o r d : Clarendon, 1975. Husserl, E. Logische Untersuchungen. 5. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 1968. Reinach, A. „Kants Auffassung des Humeschen Problems", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 141 (1908), 176 — 209; auch in: Gesammelte Schriften, Halle: Niemeyer, 1921, S. 1 — 35. Schlick, M. Allgemeine Erkenntnislehre, 2. Aufl. Berlin: Springer, 1925; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979. — „Gibt es ein materiales Apriori?", in: Gesammelte Aufsätze 1926—1936, Wien: Gerold, 1938; Hildesheim: Olms, 1969, S. 19—30. Waismann, F. Wittgenstein und der Wiener Kreis, Hg. B. F. McGuinness. O x f o r d : Blackwell, 1967. Auch als Ludwig Wittgenstein, Schriften, Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967. Wittgenstein, L. Tractatus Logico-Philosophicus, in: Schriften 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969, S. 1 - 8 3 . — „Some Remarks on Logical Form", Aristotelian Society Supplementary Volume 9 (1929), 162—71. Auch in: I. M. Copi & R. W . Beard, Hg., Essays on Wittgenstein's Tractatus, London: Routledge & Kegan Paul, 1966, S. 31—7. (Seitenangaben beziehen sich auf diesen Nachdruck.)

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Wittgenstein's Demythologization of Recognition: an Indictment of Logical Empiricism 1. The myth of recognition in logical empiricism Logical empiricism arose from the confluence of two distinct streams of thought. O n e flowed out of Wittgenstein's Tractatus, the other out of a renaissance of classical empiricism visible in such works as Schlick's Allgemeine Erkenntnislehre and Russell's Our Knowledge of the External World and The Analysis of Mind. Understanding of logical empiricism depends on a proper appreciation of its points of continuity and discontinuity with the central ideas of each of these two separate sources of inspiration. Recognition (Wiedererkennen) is a concept with a prominent role in logical empiricism. Being an epistemic concept, it played no explicit part in the Tractatus; it was banished by the rigorous exclusion of all psychological considerations from logic. By contrast, this concept did have an important role in the revival of empiricism. It is a major ingredient of the reasoning of Schlick's Allgemeine Erkenntnislehre. The concept of recognition plays two distinct roles in Schlick's empiricism, one logical, the other epistemological. The first one concerns the application of concepts and the formation of judgments. Complex concepts are analyzed into their constituents, and each of these into its constituents, etc., until 'simple concepts' or 'indefinables' are finally reached. 'Der Inhalt der einfachsten Begriffe wird in der Anschauung aufgezeigt' i.e. in definition by ostension or 'konkrete Definition'. The application of these concepts always involves 'die Wiedererkennung eines Wahrnehmungsbildes' 2 . Consequently recognition is the ultimate foundation for application of concepts and hence for the formation of judgments out of concepts. The second role of recognition is to provide 1

[8] p. 29, cf. p. 35.

2

[8] p. 27.

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the foundations of knowledge. Schlick arrives at this thesis by analyzing an everyday instance of knowledge, namely his knowledge that a certain object moving in the distance is a dog. This statement signifies that he has 'in jenem braunen Etwas die Merkmale . . . wiedererkannt, die ein Gegenstand haben muß, um als Tier bezeichnet zu werden' 3 . Generalizing, Schlick concludes that 'Erkenntnis ist die Zurückfiihrung des einen auf das andere . . . Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden' 4 . Of course, in many cases the justification of a knowledge claim will rest on inferences from other judgments already known to be true, but if a chain of inferences is to yield knowledge, it must end in premises known to be true without inference. Such statements can be established as true or false simply on the basis of observation, e.g. by whether a recognized object has a recognized property. 5 Consequently judgments whose truth can be recognized are the ultimate foundations of knowledge. 6 Recognition underpins reason; on it depends the possibility of success in applying concepts to experience and the possibility of empirical knowledge. Schlick stresses that recognition is the most basic concept of epistemology. Like Locke's or Hume's, Schlick's empiricism has an overt psychological component. H e treats as one essential preliminary to the theory of knowledge the task of determining 'welcher ganz bestimmter Process mit diesem Worte "Erkennen" bezeichnet werden soll' 7 . Given the crucial role of recognition in knowledge, he takes part of his proper task to be an investigation of the nature of the mental process of recognition. H e contends that recognition essentially consists in the comparison of a perception with a mental image which occasions a feeling of familiarity characteristic of a (sufficient degree of) match between the perception and this image. In the simplest case, what makes recognition possible is the fact of a person's having a more or less definite image or idea which has been acquired through previous perceptions and which has been associated with a particular word (e.g. ' H u n d ' or 'Tier') ; recognition consists here in an appearance's fitting a mental image. 8 'Im allgemeinen, werde ich einen H u n d ganz richtig als Hund erkennen, indem das 3 [8] p. 6. 4 [8] pp. 10, 13. 5 [8] pp. 38, 48, 63. 6 [9] p. 186. 7 [8] Ρ- 4. 8 [8] Ρ- 5.

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W a h r n e h m u n g s b i l d in g e n ü g e n d e m G r a d e übereinstimmt mit irgendwelchen V o r s t e l l u n g e n von T i e r e n , die ich irgend einmal gesehen h a b e und als H u n d bezeichnen lernte' 9 . J u d g m e n t s a b o u t immediate experience are g r o u n d e d in pairs of such acts of r e c o g n i t i o n ; e.g. the report 'This s n o w is cold' arises out of r e c o g n i z i n g s o m e t h i n g simultaneously as snow and as being cold. 1 0 T h e i m a g e that serves f o r the p u r p o s e of c o m p a r i s o n in recognition is a m e m o r y i m a g e " — o r at least it depends on the reliability of m e m o r i e s of previous experiences. T h e application of a concept in c o n s e q u e n c e of a match between a perception and an i m a g e secures a correct application only if this i m a g e is itself an accurate representation of s o m e t h i n g abstracted f r o m experience. T h e r e f o r e the ability to apply concepts and to f o r m j u d g m e n t s is vulnerable to philosophical attack by a r g u m e n t s establishing scepticism a b o u t the past. T o imp u g n so-called 'event m e m o r y ' is to undermine the cognitive f o u n d a tions of l a n g u a g e - u s e . In Schlick's view, the philosophical clarification of the concept of recognition involves the a n a t o m i z a t i o n of a p s y c h o l o g i c a l process into the essential constituent mental elements and processes. A t the s a m e time, he is e a g e r to exclude f r o m his theory of k n o w l e d g e all of the merely psychological a n d genetic detail that d e f a c e d the w o r k of the classical empiricists. P h i l o s o p h y must be p u r g e d of intrusion f r o m psyc h o l o g y . Schlick's strategy is to f o r s w e a r a n y analysis of the detail of 'die W i e d e r e r k e n n u n g s v o r g a n g ' I 2 , leaving to p s y c h o l o g y the clarification of such mental mechanisms. Y e t he commits himself in a d v a n c e to the analysis of recognition as a psychological p r o c e s s of s o m e sort, and this itself might be d e e m e d the m o s t d a m a g i n g aspect of the sin of psychologism. T h e logical role of recognition in Schlick's empiricism w a s transformed u n d e r the impact of the Tractatus. Wittgenstein e f f e c t e d a revolution by repudiating the venerable philosophical d o g m a that there is only a loose a n d external relation between thoughts and their expression in l a n g u a g e . T h e central project of the Tractatus is to delineate the essential structure of any possible l a n g u a g e capable of describing reality. T h e laws of logic are n o l o n g e r presented as true generalizations a b o u t c o n cepts and j u d g m e n t s , but rather the ineluctable c o n s e q u e n c e s of the re' [8] [8] » [8] 12 [8] 10

p. 16. pp. 38, 48. p. 13. pp. 7, 13.

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quirements for assigning meanings to words and sentences. Similarly, philosophical analysis is no longer a matter of breaking judgments and concepts down into ultimate simple concepts, but a matter of finding definitions to transform any meaningful sentence into a truth-function of elementary sentences each of which consists solely of simple names in immediate combination. The Tractatus is explicitly concerned with symbols. Analysis exposes the meanings of words and sentences. Important modern doctrines emerged for the first time. In particular, the meaning (sense) of a sentence is identified as its truth-conditions, and the principle that a word has a meaning only in the context of a sentence is used to express the priority of sentence-meaning over word-meaning. The Tractatus depicts a language as a formal calculus, as a complex system of expressions interrelated by definitions, formation- and transformationrules (the logical syntax of language). This network is given content by its projection onto reality, i.e. by the correlations of names with simple objects which bring elementary propositions into immmediate contact with states of affairs. The 'interpretation' of the indefinables transforms an empty calculus into a language capable of describing reality. The immediate effect of grafting the doctrines of the Tractatus onto the rootstock of empiricist thought is a transmutation of theses about conceptformation and concept-application into theses about the explanation and use of words. This involves a subtle metamorphosis in the conception of the logical role of recognition. Instead of mediating between conceptformation and concept-application, recognition is now held to mediate between ostensive definitions and the actual employment of indefinable expressions in describing the world. The fact that the Tractatus leaves the matter of correlating language with reality wholly schematic and opaque facilitated its marriage with empiricism. (It no more contained theses about ostensive definition and recognition than it formulated the principle of verifiability.) According to the empiricist tenets of the Vienna Circle, the only admissible candidate for giving 'interpretations' to unanalyzable names were demonstration or confrontations with instances to which these names could be correctly applied; i.e. what came later to be called 'ostensive definition' ('hinweisende Erklärung') 1 3 was considered to be indispensible for securing content to the symbols of any possible language by effecting a 'con13

The technical expression 'ostensive definition' was coined by W. E. Johnson, Logic Vol. I (Cambridge, 1921), pp. 94 ff., and hence its use postdates the Tractatus.

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nection between language and reality'. Thus the Vienna Circle subscribed to a rational reconstruction of the Tractatus. Early attempts were succinctly presented in various versions of Waismann's 'Thesen'. 14 It is unclear to what extent these representations were viewed as deliberate modifications, to what extent as an unfolding of what was implicit in the Tractatus. (Both this unclarity and the direction of development of such interpretations owed much to Wittgenstein's own fresh philosophical reflections, the substance of which was directly imparted to Schlick and Waismann.) Nonetheless, the pivotal role of ostensive definition is represented as one of the Grundgedanken of the Tractatus. Wir können einem Zeichen auf zwei Arten Bedeutung geben: 1. Durch Aufweisung . . . 2. Durch Definition. ... Die Definition verbleibt innerhalb der Sprache. Die Aufweisung tritt aus der Sprache hinaus und setzt die Zeichen in Verbindung mit der Wirklichkeit. 15

Schlick went even farther by connecting the primacy of ostensive definition with Wittgenstein's conception of philosophy as an activity of clarifying meaning: 'die letzte Sinngebung geschieht mithin stets durch Handlungen, sie machen die philosophische Tätigkeit aus' The Vienna Circle amplified this schematic picture into an articulated set of theses about the logical nature and role of ostensive definition. Ostensive definitions constitute the ultimate foundations of language by giving the explanations of the indefinables. They are essential for any possible language — a precondition for any symbol to have a 'factual meaning' 17 . They must be unambiguous and final, indeed somehow immune to misinterpretation if they are to constitute the termini of explanations of meaning. They correlate words with entities actually observed, and somehow this correlation must settle all aspects of the correct use of an unanalyzable expression. Ostensive definitions, by making actual applications of the defined expression, impart a rule for correct use of this expression; this rule is that anything similar to the indicated exemplar (to a relevant degree in relevant respects) should have the expression applied to it. Consequently the actual formulation of an ostensive definition does not make explicit the rule to be understood; this rule is not stated, but inferred. The meaning of an indefinable cannot be put 14

One version is reprinted in [13] as Anhang Β, but there are known to have been others (cf. [13] p. 183). [13] p. 246. " [9] p. 36. 17 [7] P- 9. 15

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into words; it is ineffable and must be shown. All of these theses are characteristic of logical empiricism. 18 The shadowy companions of these logical theses about ostensive definition are a group of psychological theses directly inherited from empiricism. In particular, applying an indefinable is held to consist in a mental act of recognition. 'In order to give [the name "blue"] to the colour I am seeing, . . . I have to recognize the colour as that particular one I was taught to call "blue". This involves an act of recognition, or association' Indeed, if the application-rule for an indefinable is formulated in terms of similarity with certain paradigms, then the recognition of an instance to which the term is applicable seems to decompose into an act of remembering something (the paradigms) and an act of comparing a given object with another entity 20 . Pari passu, the typical impermanence or unavailability of samples used in ostensive definitions generates a problem in accounting for the persistence of correlations between words and the world, unless recourse is made to mental representations (especially images) ; a permanent image is the most obvious candidate for mediating between one application of a term (in an ostensive definition) and a second application to a fresh instance. Without an act of recognition conceived as comparing a present perception with a mental image there would be no apparent connection between an ostensive definition and the subsequent applications of a word. The ostensive definition would not then seem to 'enter into' applications of the defined term; it would be merely a causal antecedent, a matter of mere history. If there is no such thing as action at a distance in respect of rules 21 , then a process of recognition is required as an intervening mechanism to relate ostensive definition to word-use. Recognition and ostensive definition must be the twin foundations of language. Recognition plays a second crucial role in logical empiricism. It unifies the two fundamental doctrines about meaning, namely that ostensive definition alone gives language empirical content and the principle that the meaning of a sentence is the method of its verification. T h e reasoning is straightforward, being merely a transformation of a standard em18

19 20

21

For a detailed exposition of these theses together with citations of textual evidence, see [1], [9] p. 195. [9] PP· 175, 189. Carnap used the self-explanatory term 'Aehnlichkeitserinnerung' ([2] §§ 78, 108). [15] p. 14.

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piricist doctrine about the foundations of knowledge into a doctrine about the essential nature of empirical discourse. T h e elementary sentences yielded by logical analysis according to the Tractatus may be compared directly with reality to establish their truth or falsity. Their verification is immediate, i.e. not dependent on inference; apparently it must therefore be a matter of recognition. But the ability to recognize each of the entities corresponding to its simple constituents is not only necessary for understanding an elementary sentence, but also sufficient for recognizing whether or not it is true. Consequently recognition, in its role as the essential intermediary between ostensive definitions and applications of indefinables, also delivers the capacity to verify elementary sentences and thus indirectly the ability to verify any meaningful sentence. V e r m a g ich einen Satz prinzipiell nicht zu verifizieren, . . . dann w e i ß ich offenbar gar nicht, w a s der Satz eigentlich behauptet; ich w a r dann nämlich nicht imstande, den Satz zu interpretieren, indem ich v o n seinem Wortlaut mit H i l f e der D e f i n i t i o n e n zu möglichen Gegebenheiten fortschreite, denn sowie ich dazu imstande bin, kann ich eben dadurch auch den W e g zur Verifikation im Prinzip angeben. 2 2

The recognition of the truth of an elementary sentence is merely a complex act consisting of constituent acts of recognition corresponding to each sentence-constituent. Thus recognition cements the principle of verifiability to ostensive definitions. '. . . [T]here is no way of understanding any meaning without ultimate reference to ostensive definitions, and this means, in an obvious sense, reference to "experience" or "possibility of verification'". 23 A more august role for a 'mental process' can hardly be imagined! In the view of the Vienna Circle, recognition is the foundation of language and knowledge, indeed the basis of linguistic competence as well.

2. Direction signals Having obtained an Ubersicht of the central semantic ideas of logical empiricism (and of their evolution), we could now proceed in various different directions. There are many respects in which this vision of language is important: 22 23

[9] p. 90. [9] p. 341.

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1. Logical empiricism contains an Urbild of word-meaning that is influential at the lower echalons of philosophical activity. Undergraduates are readily captivated by the thesis that explanations of meaning consist of verbal analyses breaking concepts down into simpler concepts together with ostensive definitions linking unanlyzable concepts with reality. How else could language function? (As Keynes presciently observed, the plain facts of today are often the wildest theories of fifty years ago.) It would be interesting to explore why this picture has this immense plausibility and attractiveness. 2. Theses about ostensive definition and recognition in logical empiricism have a double significance in respect of Wittgenstein's thought during the 1930's. On the one hand, they constitute the focal point of many of his critical remarks. Logical empiricism, especially in the writings of Schlick, Carnap, and Feigl, crystallized out in a remarkably pure form the conception of language which Wittgenstein termed 'the Augustinian picture' 24 , and whose influence, he thought, pervaded the philosophical reflections of Frege and Russell as well as the whole tradition of empiricism. Consequently, attention to logical empiricism can greatly clarify the targets of Wittgenstein's critical remarks. On the other hand, these criticisms are arguably the most devastating indictment ever presented of the main tenets of logical empiricism. The confrontation of these sets of antithetical ideas with each other and the reasoned assessment of the outcome should be a major philosophical event in the tradition of analytic philosophy. Logical positivism contained both insights and misconceptions whose depths have not yet been plumbed. 3. There are important historical, as well as philosophical, lessons to be learned from Wittgenstein's criticisms. He actually faced Schlick and Waismann with much material critical of the prevalent conception of ostensive definition and recognition, and less directly some other members of the Vienna Circle were also exposed to his ideas. Their failure to assimilate, or even to argue against, the main lines of his criticisms is remarkable. So too was their aptitude for seizing on certain ones of his observations and reinterpreting them in the light of their own purposes and preconceptions. Perhaps the most noteworthy instance was the interpretation put upon Wittgenstein's suggestion that ostensive definition should not be viewed as connecting language with reality, but rather as a movement within langauge. 25 Schlick embraced one related notion (that 24

[17] SS 1 ff. " Cf. [10], pp. 401 ff.

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ostensive definition can be seen as a translation into gesture-language 26 ) but not another (that samples used in ostensive definitions 'belong to language' 27 ). Carnap, by contrast, perverted the suggestion into the claim that ostensive definitions are implicit translations into verbal formulae describing the spatio-temperal location of the indicated sample (object) 28 , and even Waismann later slid back into this opinion. 29 It would be fascinating (though no doubt in part impossible) to trace in detail what percolations of ideas there were from Wittgenstein's reflections into the thinking of the different members of the Circle. This might provide valuable clues to the historian of ideas about patterns of circulation of ideas within the Circle. 4. Because Wittgenstein's central criticisms of logical empiricism have not been properly assimilated into modern analytic philosophy, they have a high degree of topicality for current developments in philosophical semantics. There is now a renewal of fundamental misapprehensions about ostensive definitions, a chronic failure to describe correctly their normative role in language-use. As in the 1930's, this is accompanied by a mythology about recognition. The difference is that ostensive definition was then deified, whereas now it is damned. It is important to see that both attitudes are absurd, and a key to recognizing this is to clarify the notion of recognition by purging it of prevalent distortions. On these four tasks, I shall neglect the first and third altogether. I shall extract from Wittgenstein's remarks what appear to be the central points about recognition and to indicate their relevance to modern projects for constructing theories of meaning. This will not amount to a portrait of his thinking, but merely a sketch of how to execute the second and fourth projects.

3. Wittgenstein's demythologization of recognition Although Wittgenstein's initial resumption of philosophical activity took the form of introducing modifications and extensions to the doctrines of the Tractatus, his work gradually envolved into a presentation of 26 27 28 29

[9] p. 194. [10] pp. 404 ff., [17] § 50. But cf. [9] p. 174. [3] § 25. [11] p. 151.

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fundamental criticisms and ultimately turned into a repudiation of the whole framework of thinking that informed the Tractatus. H e rejected the contention that the business of philosophy is logical analysis; he attacked the conception of language as a calculus together with an interpretation and the conception that speaking a language consists in the operation of a calculus of bidden rules. In addition, he rejected the dogma that knowledge has foundations, in particular criticizing as incoherent the Cartesian conception that immediate experience provides such foundations. This whole campaign of argument and conceptual clarification amounted to a sweeping condemnation of the entire point of view underlying logical empiricism. An integral part of this radical shift in his conception of language is a thorough exploration and reassessment of the concept of an ostensive definition. Against the sublimation of such explanations in logical empiricism, he points out their fallibility ('die hinweisende Definition kann in jedem Fall so und anders gedeutet werden' 3 0 ), not their worthlessness. H e observes that they do not alone settle the entire grammar of defined expressions; there are typically further sets of rules of use such as the mutual exclusion of parallel determinates under a determinable (e.g. the incompatibility of colours) and the need to establish criteria of identity (e.g. for persons, colours, or tones). H e stresses that a single expression may be given more than one correct explanation; in particular, the possibility of giving an analytic definition does not exclude the legitimacy of ostensive definitions, nor vice versa. 31 H e suggests allocating the sample used in an ostensive definition to language or to grammar in order to avoid the misleading implications of the idea that ostensive definition forges a link between language and the world. H e insists that every significant expression can be explained, suggesting that the philosophical notions of indefinability and indescribability rest on confusions. Wittgenstein presents a barrage of criticisms of the logical positivists' conception of ostensive definition. The key to his clarification of ostensive definition is his emphasizing and exploiting the internal connection between meaning and explanation (of meaning) together with his stressing the status of explanations as rules of word-use. An ostensive definition (e.g. 'This is brown') is a pro30 31

[17] § 28. In this respect, he acknowledged a wider competence of ostensive definition than the logical empiricist did, noting that number-words and names of directions might be thus explained ([17] §28).

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per explanation of word-meaning; this fact is part of the agreement in definition on which the possibility of linguistic communication rests. The rule expressed by such an explanation is precisely what the explanation says, not something else somehow implied by, but not explicitly stated in, this formulation (e.g. a norm of relevant similarity). Wittgenstein condemns the account of ostensive definition in logical empiricism because it fails to square with these platitudes. It completely misrepresents the normativity of ostensive definition. In particular, the application of a word must be distinguished sharply from an ostensive definition (just as the measurement of an object must be distinguished from the calibration of a ruler). Unless this distinction is made clear, the normativity of the explanation becomes a mystery. This feature of ostensive definition can only be rescued by creating a supplementary theory, viz. by assimilating such definitions to application-rules framed in terms of similarity to paradigms and by calling for an act of recognition to mediate between the ostensive explanations and the subsequent applications. But this leaves an apparently intractable problem; how is an ostensive definition 'involved in' subsequent applications to the defined expression? 32 Wittgenstein's answer has the charm of extreme simplicity and transparency. An ostensive definition functions as a substitution-rule. What it licenses is the substitution of a demonstrative together with a gesture towards a sample for the definiendum; 3 3 i.e. it authorizes the replacement of a word by a complex and partly concrete symbol. This idea has great power. It accounts directly for the use of ostensively defined terms in any sentential context in which they may occur (even in nondeclarative sentences, indirect statements, or clauses dominated by modal operators or verbs expressing propositional attitudes). Moreover, it accounts for the inclination towards viewing ostensive definitions as complete explanations of the meanings of certain words by displaying internal relations as the products of the use of samples simultaneously in the explanation of more than one expression (e.g. the use of a sample of white and one of black jointly in the explanation of the relation-expression 'darker than' 3 4 ). Conceiving of ostensive definitions as substitution-rules would seem to be an important insight. N o n e of the logical positivists welcomed this idea, though it was presented in writing to Schlick and Waismann and perhaps disseminated 32 33 34

[15] pp. 12 f. [15] p. 109, [16] § 45. [19] pp. 75 f.

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more widely. Why did they find it unacceptable? In part, no doubt, they would not have thought it to provide a firm anchor for language in the world. A substitution-rule is a double-edged tool. Although an ostensive definition so conceived might be used to translate a wholly verbal language into a partly concrete one, it might also be used in reverse to eliminate gestures and samples and thereby to sever all direct connections between discourse and the world. Another and perhaps deeper ground for antipathy to Wittgenstein's proposal lay in the attachment of logical empiricism to the picture of language as a calculus of rules. Partly concrete rules (i.e. rules in whose formulations concrete symbols occur) simply do not fit into a calculus of meaning-rules at all.35 Such a rule cannot be part of a computer programme; it would stand aloof from anything that would be counted as a calculation or proof. Consequently only by abandonning the preconception that language is a calculus can ostensive definitions be countenanced as substitution-rules governing partly concrete symbols, and no logical empiricist (quite understandably, though mistakenly) was prepared to surrender this beam from the structural framework of his thinking. Logical empiricists were determined not to recognize as correct Wittgenstein's description of the normative role of ostensive definitions. As a direct consequence Wittgenstein held that they had a distorted conception of recognition. He must have had logical empiricism principally in view when he remarked : V o n den Vorgängen, die man 'Wiedererkennen' nennt, haben wir leicht einen falschen Begriff; als bestünde das Wiedererkennen immer darin, daß wir zwei Eindrücke miteinander vergleichen. 36

He noted a related mistake in the idea that the hallmark of recognition is a uniform feeling of familiarity 37 . Wittgenstein devoted considerable attention to correcting this misleading picture of recognition in the period 1932—4. His main points are familiar: 1. Recognition is not a unitary mental process, but a family of processes.38 It is not some hidden act that all intelligent applications of words have in common. (Similarly, the feeling of familiarity is not a unitary phenomenon; rather 'there are a great many different experiences, 35

This point still weighs with modern philosophers bent on constructing theories of meaning for a language. " [16] § 118, [17] S 604. 37 [15] p. 129. 38 [15] p. 88.

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some of them feelings, which we might call "experiences (feelings) of familiarity'". M ) 2. Among paradigmatic cases of recognition are many instances of inference or reasoning 40 . An expert may recognize a canvas as a lost Rembrandt portrait after painstaking examination of pigments and brushstrokes and a study of archives. This humdrum observation reveals confusion in the philosopher's using 'recognize' in contrast with 'infer'. He thinks of an analytic (or 'verbal') definition as providing the basis for an inference; e.g. that the defined sortal 'triangle' correctly applies to a given object. Hence he is tempted to consider ostensive definition not to provide any such grounds of inference and to suppose that the applications of ostensively defined expressisions must depend on immediate recognition, e.g. of the colours of objects. For how could analysis come to an end where inference was still legitimate? This conception is a muddle. Many unambiguous words may be correctly defined both ostensively and verbally; here the philosopher's picture of word-application runs straight into an impasse. Though many ostensive definitions do not provide grounds justifying applications of the defined expressions, some may do so, e.g. the ostensive definition of 'one metre long' by reference to a metre-stick. Conversely, many uses of a predicate, even if it is open to analytical definition, involve no inference that a given object has a particular property (e.g. uses of predicates in simple questions or orders or in the observation 'That coin is circular'). A bogus contrast between 'recognition' and 'inference' both feeds on and contributes to an oversimplification of the network of internal relations enveloping the explanation and application of words. 3. A correlative confusion is the idea that ostensive definitions are immune to the possibility of misinterpretation. Philosophers are prone to ascribe all error to mistaken inference from what is really given. Hence, where inference is absent, there must be infallibility in apprehension. Recognition seems, therefore, to afford the only secure foundations for knowledge (as Schlick openly argued). This is ludicrous. How could anybody suppose that recognition-judgments were infallible? (Or that ostensive definitions could not be misinterpreted?) Two points may foster this absurdity. First, many of the statements that the philosopher has in mind have no grounds, e.g. the statement that a ripe tomato presented » [15] p. 181; cf. [16] S § H 5 f f . 40 Cf. [16] § 119.

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in optimal circumstances is red. Consequently such statements cannot be corrected by challenging the evidence on which they are based. But error would be excluded only if mistake were always a product of mistaken inference from evidence. Secondly, 'recognize' is a success-verb like 'remember' or 'know'; it makes no sense to describe somebody as recognizing Rembrandt's 'Night Watch' if he is in fact looking at Botticelli's 'Primavera'. But recognition-statements are thereby rendered no less fallible than memory claims. The very idea of the infallibility of recognition is the symptom of fundamental confusion. 4. The idea that recognition consists of comparison with a mental image is mistaken. 'In den meisten Fällen des Wiedererkennens findet kein solcher Vergleich statt'.41 The misconception that it must occur is an exemplary case of postulating an unfamiliar process because 'as one might roughly put it, the grammar of a word seems to suggest the necessity of a certain intermediate step'.42 The illusion in the case of recognition arises from a pair of sources. First, it is appropriate to ask, and typically to answer, the question 'How do you recognize . . . ' or 'How did you recognize . . .?'. Though really a request for the justification or grounds for a cognitive statement, this question may appear to call for the exact description of a mental process. Secondly, the mistake of regarding an ostensive definition as an application of the defined word leaves an apparent puzzle about how to relate this first application to a speaker's later applications of the same word. The obvious solution is to hypothesize that the original application leaves a trace in the mind (a mental image) and then to fabricate a mechanism incorporating this trace into subsequent word-applications. One confusion breeds another. 5. The contention that the application of an ostensively defined word requires justification by comparing what is perceived with a mental image leads to a vicious infinite regress. The force of the justification turns on a correct identification of the mental image, just as match of a portrait with a face identifies a person only if the correct label is attached to the portrait. So now a second mental image would be required to identify the first one. And so on ad infinitum.43 6. The idea that recognition turns on a feeling of familiarity is equally mistaken. Like parallel accounts of desire and expectation, this reduces the internal connection between recognition and what is recog[16] S 118. [15] p. 130. « [15] pp. 3, 12; [17] S 265. 42

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nized into an external connection. 44 A claim to recognize the Prime Minister is not correct in virtue of the fact that a perceived person arouses a feeling of familiarity in virtue of matching my picture of the Prime Minister. Only the Prime Minister can be recognized as the Prime Minister, 45 just as only my eating an apple can satisfy my desire to eat an apple or only a rifle shot can fulfil my expectation that there will be a rifle shot. 46 All these connections are forged in language. 7. Where it makes sense to speak of recognition, it must make sense to speak of misrecognition (just as a knowledge claim makes sense only where mistake is possible47). Hence if it were truly remarkable that one can recognize the taste of sugar, it would have to be less remarkable that one should not recognize this taste! 48 As a consequence of the possibility of misrecognition, match with a mental image cannot constitute a criterion of correctness for the application of an ostensively defined expression 49 , and therefore the supposition that such acts of recognition mediate between ostensive definition and word-application, even if conceded, would not endow ostensive definitions with the status of standards of correct use. One key to removing philosophical confusions about recognition is to realize that recognition is an ability, not a mental process. In this respect, 'recognize' resembles 'know', 'understand', and 'remember'. Philosophers are wrongly inclined to view these expressions as descriptions of mental processes and therefore to seek clarification of their meanings by detailed scrutiny of what happens in a person's mind when he recognizes, understands, or remembers something. Finding nothing obvious in common in the various cases of recognition (or understanding, remembering, etc.), they conclude that there must be some hidden common process which may be subconscious or lightning-quick and therefore difficult to detect by careful introspection. Wittgenstein made a preliminary step towards rectifying these confusions by urging that such terms as 'recognize' stand for a whole family of processes variously related to each other. Soon he realized that the ways of speaking about typical mental processes (e.g. contemplation, expectation, weighing up reasons) are 44

[14] § 21.

45

[16] [14] [17] [18] [16]

46 47 48 49

§ 118. $ 25; [16] S 108. p. 221. §659. § 118; 17 S 271.

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usually inappropriate in connection with 'understand', 'know', or 'recognize', whereas the ways of speaking about typical abilities are in order. Hence he characterizes 'understanding' and 'remembering' as akin to abilities, and he calls the mental happenings revealed by introspection (e.g. Erinnerungserlebnisse) mere Begleiterscheinungen of these abilities. 50 Comparison of 'recognize' with 'remember' is particularly instructive since in both instances philosophers have been tempted to offer analyses turning on comparisons with mental images. An adult who remembers his schooldays well can do a variety of things : perhaps he can retell many characteristic incidents, recreate an atmosphere, respond to certain jokes, or show understanding of the behaviour and reactions of children. These manifestations of an ability are the criteria of his remembering, and no description of the contents of his consciousness would confirm or disconfirm our judgment that he does remember his schooldays. The use of 'recognize' runs along a parallel track. A person who recognizés another person can do various things: perhaps he can name the other person, describe his occupation or interests, converse appropriately with him about common past experience, etc.51 To categorize recognition as a mental process is to go astray among confused questions and nonsensical answers. To view it as an ability is to set foot on the path leading to sound understanding. The second key to a proper conception of recognition is a sharp distinction between causes and reasons, or between mechanisms and grounds. The question 'How do (did) you recognize . . . ? ' is a request for someone to state the grounds for an identification, and his reply may give grounds more or less adequate to support the cognitive claim that he can (did) recognize something. But justifications always come to an end. Hence a speaker may (in certain cases) refuse to answer the question 'How did you recognize ...?'. If somebody says 'This is a pencil', then we are inclined to press the question 'How did he recognize "pencil" as the name for this sort of thing?'. The proper reply might be 'He just reacted in this particular way by saying this word'. 52 The languagegame, as it were, begins from such cases of 'recognition'. (If there is no such thing as recognition without grounds, then we must deny that recognition takes place at all in these cases.) From confusing questions 50

[17] p. 231. Cf. [16] § 118. " [15] p. 128. 51

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about justification with questions about causes, we are tempted to hold that there must be a non-trivial anwer to the question 'How did you recognize . ..?' in every case. Moreover, the postulation of comparison with mental images seems to provide an ever-available general answer in the form of a mechanism operated more or less consciously. A person who identifies a friend correctly must, it seems, have done so somehow. 'If I hadn't kept his image in my memory, I couldn't have recognized him!' (Or similarly, 'if his name didn't have a sense as well as a reference, I couldn't have attached it to a given person'.) To such manoeuvres Wittgenstein replies : 'Aber hier gebraucht man eine Metapher, oder man spricht eine Hypothese aus'.53 He constructs a hypothetical mental mechanism instead of clarifying the concept of recognition (e.g. the criteria for somebody's having recognized something). The conception of recognition prominent in Schlick's account of ostensive definition is an explanatory theory constructed to answer a nonsensical (or at least pholosophically irrelevant) question. The mythology of recognition arises in large measure from a failure to distinguish the legitimate normative question 'How did you recognize .. . ?' from the fruitless (because unintelligible) psychological question about the mechanism of a putative mental process. Schlick's antipsychologism is insufficiently radical to extricate him from fundamental error. It is the first move that damns his account, the initial assumption that recognition is a mental process. Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden. . . . Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.) 54

Refusal to consider any details of the putative process of recognition is powerless to secure salvation after the commission of an initial mortal sin. Wittgenstein's demythologizing of the concept of recognition is a part of his campaign of criticism of the Augustinian picture of language. He shows that recognition no more constitutes the foundations of language than ostensive definition does.

" [16] S 118; cf. [15] pp. 117 ff. 54 [17] § 308.

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4. Coda It is natural to suppose that modern philosophers enjoy wisdom and breadth of vision vastly superior to anything apparent in the thought of the logical empiricists. Consequently it might well be presumed that Wittgenstein's criticism of Schlick's misconceptions about recognition and his positive clarification of this concept are of merely antiquarian interest. This would be to lose the benefit of remarks that are topical and genuinely illuminating even today. Logical empiricists made a mystery of ostensive definition, raised the figment of their imagination on a pedestal, and revered utterances with the seemingly miraculous powers of linking words with reality. Their attitude now seems laughable. Ostensive definitions are apt to seem worthless to us because they can be misunderstood in every case, however hedged around with category indicators and lists of positive and negative instances of application. Moreover, we now pride ourselves in having exposed the muddle fostering the notion that the meanings of unanalyzable expressions are ineffable: precise statements in a suitable metalanguage (e.g. '"x is green" is true if and only if χ is green') express how the basic terms of a language are correlated with entities in the world. In modern semantics, the homophonic T-sentence has assumed the throne earlier usurped by ostensive definition and the pretender has been banished altogether from the realm of a theory of meaning for a natural language. Despite this coup d'état, recognition has remained l'éminence grise, the power behind the throne. Homophonic T-sentences give the impression of triviality. Indeed, it seems that somebody who grasped no more than the conventions for using quotation-marks to mention expression might recognize that any sentence of the form "'x is 0" is true if and only if χ is 0' was true without having any notion of what '0' might mean. A natural riposte is to claim that such a person would not really understand what is expressed by a biconditional of this form unless he knew what '0' meant. But since '0' ex hypothesei cannot be analyzed, and since ostensive definitions have been banned from consideration, the only available criterion for knowing what '0' means seems to be the ability to recognize whether or not particular applications of '0' are correct. Although the explanation of how words make contact with reality has changed, the notion that the basis of a language is the correlation of certain symbols with entities in the world remains intact, and this un-

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questioned but questionable assumption ensures that recognition retains its pivotal role as the foundation for linguistic competence. Moreover, understanding is still misconceived as a mental act or state (perhaps, in the case of understanding sentences and other complex expressions, as the end of a mental process of computation), and if recognition is to be the proper manifestation of understanding unanalysable expressions, then it too must be viewed wrongly as an act, state, or process. Philosophers who build theories of meaning are coy about making explicit their conception of understanding and recognition, but this reticence about psychological matters does not effectively mask their presuppositions or guarantee their immunity against criticism based on a programme of purging the concepts of meaning, explanation, and understanding of unwarranted psychological accretions. It might even happen that clarification of the concept of recognition would dissolve away some of the central controversies in modern semantics. T w o are formulated with the aid of the term 'recognition'. First, there is a dispute about whether philosophical semantics must contain some analogue of Frege's sense/reference distinction. T h e need for such a distinction is presented as a generalization from the observation that understanding a proper name requires knowing how to recognize its bearer, i.e. having a means or procedure of identifying or recognizing an entity as its bearer. 5 5 Although the rider is added that the ascription of a sense to a name requires no analysis of the way in which recognition of its bearer is actually effected, 5 6 it is clear that this explanation of the sense/reference distinction makes no sense at all unless recognition is viewed as a mental process. Secondly, there is the clash between 'realism' and 'anti-realism' in semantics. Anti-realism is characterized as explaining sentence-meanings in terms of conditions which we recognize as establishing the truth or falsity of statements, while realism acknowledges as intelligible truth-conditions conditions which we need not be capable of recognizing as obtaining whenever they obtain. 5 7 Realism admits the legitimacy of the idea of recognition-transcendant truth, while anti-realism tailors truth to our means or methods of recognizing statements to be true or false. 5 8 Whether it makes sense to treat persons, ob-

55 56 57 58

[4] pp. 78, 93, 95; [6] pp. 247, 424. [6] pp. 186 f. [5] pp. 466 {{., 586 ff., 624; [6] p. X X X I V . [5] p. 515; [6] pp. 23 f., 358 f.

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jects, properties, situations, circumstances, proofs, facts, and truthvalues as objects of recognition is open to doubt, and even more dubious is the evident commitment in this debate to regarding recognition as a mental process. Neither of these passion-provoking issues in modern semantics can readily be raised without using the term 'recognition', and hence they cannot be resurrected once it is acknowledged how badly this term is abused and its use distorted in philosophical discussions. Therefore Wittgenstein's attempt to demythologize the concept of recognition may still have valuable lessons to teach us now.

Bibliography G. P. Baker and P. M. S. Hacker, 'Wittgenstein and the Vienna Circle: the Exaltation and Deposition of Ostensive Definition' (forthcoming). R. Carnap, Der Logische Aufbau der Welt. — Logische Syntax der Sprache. M. Dummett, Frege: Philosophy of Language (Duckworth, London, 1973). — Truth and Other Enigmas (Duckworth, London, 1978). — The Interpretation ofFrege's Philosophy, (Duckworth, London, 1981). H. Feigl, 'Logical Empiricism' in Feigl and Sellars, Readings in Philosophical Analysis. M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre (first edition). — Gesammelte Aufsätze. F. Waismann, Logik, Sprache, Philosophie. — How I See Philosophy. L. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus. — Wittgenstein und der Wiener Kreis. — Philosophische Bemerkungen. — The Blue and Brown Books. — Philosophische Grammatik. — Philosophische Untersuchungen. — Zettel. — Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (third edition).

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Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis und „Verein Ernst Mach"* * Ergänzter und überarbeiteter Text eines Referates, gehalten auf der internationalen Arbeitstagung „Die Geschichte des Wiener Kreises", 26. bis 28. Februar 1982 am „Zentrum für interdisziplinäre Forschung" (ZiF) der Universität Bielefeld. Dieser Beitrag wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes zur österreichischen Wissenschaftsphilosophie erstellt, das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert wurde (P 4517). Er ist eine schwerpunktartige Zusammenfassung eines Teils meines Buches: V o m Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung". Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 bis 1934. Wien/München: Locker Verlag 1982. (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Band 8/9. Hrsg.: Erika Weinzierl und Wolfgang Huber.)

Vom Selbstverständnis der Mitglieder des Wiener Kreises als Vertreter einer wissenschaftlichen Philosophie und Weltauffassung ausgehend, scheint die aufklärerische Tendenz zur Verbreitung und Popularisierung der eigenen Lehren plausibel. 1 Sie steht auch in der volksbildnerischen Tradition empiristischer Philosophen und Wissenschaftler in Österreich-Ungarn (Ernst Mach, Ludwig Boltzmann, Friedrich Jodl, Wilhelm Jerusalem, Adolf Stöhr), wie auch im Kontext sozialliberaler Volksbildungsarbeit. Im Wiener Kreis wird daher in konsequenter Weise und mit systematischer Absicht an Theorie und Praxis der (spät)aufklärerischen bis sozialistischen Strömungen in der Zeit der Monarchie angeknüpft und im Rahmen der Wiener Volksbildungsbewegung in einer dichotomischen Kulturlandschaft umgesetzt, schließlich im „Verein Ernst Mach" institutionalisiert. Das ist schon deswegen bemerkenswert, weil diese organisatorische Variante der wissenschaftlichen Kommunikation in der Philosophieund Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine gewisse Rarität darstellt, da die dominierenden wissenschaftlichen Schulen und Schulphilosophien gewöhnlich innerhalb des akademischen Gettos ohne ge1

vgl. Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis. Hrsg. vom Verein Ernst Mach (Hans Hahn, Otto Neurath, Rudolf Carnap). Wien 1929.

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seilschaftliche Verankerung, politische Profilierung und Rückmeldungsbedürfnisse wirkten. Um so überraschender ist das Fehlen dieser „Außenkontakte" in den üblichen Darstellungen zur Geschichte des Wiener Kreises, zumindest deren Marginalisierung oder Neutralisierung zugunsten einer rein inhaltlichen Problemgeschichte in deskriptiver Absicht. 2 Daraus ergeben sich einige prinzipielle Konsequenzen : — eine rein internalistische Problemgeschichte ist ungenügend. — es müssen alle möglichen philosophischen und wissenschaftlichen bzw. alle wissenschaftlich relevanten und politisch-weltanschaulichen Aktivitäten im weitesten Sinne rekonstruiert und mitberücksichtigt werden. — daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer externalistisch-internalistischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung mit interdisziplinärer, biografischer und institutioneller Ausrichtung. — das Selbstverständnis des Wiener Kreises und die einschlägige Philosophiegeschichtsschreibung muß mit historisch fundierter Quellenarbeit und der Analyse der „objektiven" Funktion nach dem Kriterium der Praxis konfrontiert werden. — die Trennung von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie ist arbiträr und methodologisch nicht sinnvoll. — die Geschichte des Wiener Kreises muß auch vor dem Hintergrund des konkret-historischen soziokulturellen Umfeldes geschrieben werden, wobei die Sozialgeschichte seiner Zeit Grundlage und Voraussetzung einer derartigen Darstellung sein muß, auch wenn diese sozialen Determinanten aus technischen Gründen nur angedeutet werden können. 3 2

3

V . K r a f t , Der Wiener Kreis. D e r U r s p r u n g des Neopositivismus. Ein Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte. W i e n / N e w Y o r k 1968. R. Karnitz, Positivismus. Befreiung vom D o g m a . M ü n c h e n / W i e n 1973. O . Hänfling, Logical Positivism. O x f o r d 1981. Mit teilweisen externalistischen Ansätzen : J . Joergensen, T h e Development of Logical Empiricism. C h i k a g o / L o n d o n 1951. (Foundations of the Unity of Science. T o w a r d an International Encyclopedia of Unified Science. Ed. by O . N e u r a t h / R . C a r n a p / C h . Morris. Vol. II, N u m b e r 9). D e m g e g e n ü b e r stehen neuere integrative Versuche: F. Stadler (Hrsg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. O t t o N e u r a t h — G e r d Arntz. W i e n / M ü n c h e n : Österreichisches Gesellschafts- und W i r t s c h a f t s m u s e u m / L ö c k e r V e r l a g 1982. ( N e b e n Studien- und Erinnerungsteil mit Ausstellungskatalog: O t t o Neurath und sein Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien 1925—1934. Politische G r a f i k von Gerd Arntz und den Konstruktivisten). D a z u der Beitrag von J. D v o r a k in diesem Band.

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Im folgenden soll am Beispiel der Popularisierungsbestrebungen von Wiener Kreis-Mitgliedern im gesellschaftlichen Zusammenhang die Notwendigkeit eines derartigen Paradigmenwechsels in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung aufgezeigt und ein Teilbereich im Hinblick auf einen solchen Erklärungszusammenhang überblicksartig präsentiert werden. Dies wird am Beispiel des „Verein Ernst Mach" im Zusammenhang mit der Wiener Volksbildungs- und Schulreformbewegung versucht, um damit einen Baustein zu einer noch ausstehenden Globalgeschichte des Wiener Kreises zu liefern. Gleichzeitig wird mit Inhalt und Methode der Popularisierungsversuche das politische und wissenschaftliche Selbstverständnis und der soziokulturelle Standort bestimmt. Dabei zeigt sich im Kontext des Kulturkampfes der Ersten Republik die starke Interdependenz von „wissenschaftlicher Weltauffassung" und fortschrittsorientierter Kulturbewegung. Dadurch kann auch die Gegenwartsrelevanz aufklärerischer Wissenschaftskonzeption auf einer breiteren Informations- und Interpretationsbasis diskutiert und die heutige Wissenschaftskritik mit historischen Erklärungs- und Diskursmodellen betrieben bzw. konfrontiert werden. Obwohl der „Verein Ernst Mach"von 1929 bis 1934 ein wirksames institutionelles Sprachrohr des Wiener Kreises darstellte, wurde seine Geschichte bislang einfach ignoriert, was einige Rückschlüsse auf die unzureichende und nivellierende Historiografie zuläßt. 4 In personeller Hinsicht zeigt sich seine Bedeutung darin, daß die wichtigsten Mitglieder des Wiener Kreises im Verein aktiv tätig waren, andererseits inhaltliche Bezüge offensichtlich sind: Es ist der Versuch, das Konzept der Wissenschaftlichen Weltauffassung — als Minimalplattform im Wiener

4

Ahnliche neuere Ansätze holistischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung: R. Hegselmann, Otto Neurath — Empiristischer Aufklärer und Sozialreformer, In: O. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus. Hrsg. R. Hegselmann, Frankfurt/M. 1979. E. Mohn, Der logische Positivismus. Theorien und politische Praxis seiner Vertreter. Frankfurt/M.—New York 1977. E. Nemeth, Otto Neurath und der Wiener Kreis. Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als politischer Anspruch. Frankfurt/New York 1981. J. Dvorak, Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis. Wien 1981. F. Stadler, Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung". Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Osterreich von 1895 bis 1934. Wien/München: Locker Verlag 1982. Bislang wurde in der einschlägigen Literatur der Mach-Verein mit dem Wiener Kreis gleichgesetzt oder als zweitrangige Volksbildungseinrichtung, als Anhängsel des Wiener Kreises subsumiert. Eine historische Betrachtung muß beide Sichtweisen als verkürzt oder unangemessen kritisieren.

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Kreis — durch V o r t r ä g e und Publikationen zu verbreiten. So ist die Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung. D e r Wiener Kreis" (1929) beispielsweise die erste Veröffentlichung des Vereins und die Namensgebung weist auf die Bedeutung des Naturwissenschaftlers Ernst Mach als einen der wichtigsten Vorläufer des Logischen Empirismus (oder Neopositivismus) des Wiener Kreises. G a n z allgemein kann am Beispiel der Mach-Rezeption in Osterreich die starke Kontinuität empiristischen Denkens und „positivistischer" Methodologie in Wissenschaft, Kultur und Politik exemplifiziert werden. Schließlich ist der institutionelle Aspekt schon dadurch bedeutsam, daß mit dem „Verein Ernst Mach" ein organisatorischer und gesetzlicher Rahmen f ü r einen G r o ß teil des Wiener Kreises realisiert w u r d e und damit, abgesehen von einem kollektiven Willensbildungsprozeß, trotz vorhandener interner wissenschaftlicher und weltanschaulicher Differenzen eine Plattform f ü r eine sich als geistige Bewegung verstehende Forschergemeinschaft geschaffen wurde. D a d u r c h hat sich im wesentlichen das Prinzip der Solidarität und Kollektivarbeit gegenüber individueller „privatkapitalistischer" Wissensproduktion am freien Ideenmarkt durchgesetzt und es wurden — mit allen möglichen Kompromissen — nach außen die Gemeinsamkeiten vor persönliche und sachliche Unterschiede gestellt. Auch war man sich im Mach-Verein der gesellschaftlichen und kulturellen V e r a n k e r u n g in der Kulturbewegung des „Roten W i e n " bewußt und hat damit Bezüge zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und politischem Alltag der Ersten Republik zu realisieren versucht.

1. Zur österreichischen

Mach-Rezeption

Ernst Mach 5 repräsentiert zusammen mit seinem engen Freund Josef Popper-Lynkeus den Prototyp des liberalen, sozialreformerischen Bürgertums, das empiristisch-antimetaphysische Naturwissenschaft z u r 5

vgl. F. Stadler, Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung"a. a. O. Teil 1 : Positivismus als Lebensform. Zur Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in ÖsterreichUngarn 1 8 9 5 - 1 9 1 8 . Grundlegend dazu: J. T. Blackmore, Ernst Mach. His Work, Life, and Influence. Berkeley/Los Angeles/London 1972. Κ. D. Heller, Ernst Mach. Wegbereiter der modernen Physik. W i e n / N e w York 1964. J. Thiele, Wissenschaftliche Kommunikation. Die Korrespondenz Ernst Machs, Kastellaun 1978. R. S. Cohen/R. J. Seeger (eds.), Ernst Mach: Physicist and Philosopher. Dordrecht 1970.

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Grundlage einer aufklärerischen Praxis machte. In diesem kulturellen Syndrom von „Spätaufklärung" wird eine weltanschaulich-politische Amalgamierung von Humanismus, Pazifismus, Sozialreform und Szientismus vollzogen, die in nuce eine Vorwegnahme des — als emanzipatorisches Werkzeug aufgestellten — Wissenschaftsprogramms im Wiener Kreis darstellt. Schlagworte wie Pragmatismus, Empirismus, Sensualismus, Phänomenalismus, historisch-kritische Methode, Ökonomie-Prinzip und Sprachkritik markieren das Bezugsfeld und die Intention einer wissenschaftlichen Philosophie und Weltauffassung als Alternative zur „Scheinprobleme" produzierenden akademischen Schulphilosophie. Dabei ist ein ausgeprägtes Entwicklungsdenken mit biologischer, psychologischer und soziologischer Fundierung und einer interdisziplinären Methode in Blickrichtung auf eine enzyklopädische „Orchestrierung der Wissenschaften" (Otto Neurath) 6 erkennbar. V o r dem Hintergrund des kakanischen „Kohärenzphänomens" 7 im Wien der Jahrhundertwende, d. i. die hohe innere Kommunikationsintensität der Fin de siècle-Intelligenz in überschaubaren Literatenzirkeln und Diskussionsgruppen, gelingt mit der Konturierung der Mach-Rezeption neben einer thematischen Analyse wissenschaftlicher Kommunikation zugleich auch eine (wissens)soziologische Erklärungsskizze, ein kulturelles Soziogramm mit entsprechenden gesellschaftlichen Randbedingungen. Am Beispiel des bis zum heute noch nachwirkenden Streits um Erkenntnistheorie, Funktion und Definition von „Positivismus" 8 — als Synonyma werden bekanntlich Empiriokritizismus, Phänomenalismus, Sensualismus, Empirismus auf der philosophischen Börse gehandelt — können gleichzeitig epistemologische, methodologische und politische Diskurse durchgespielt werden, die modellhaft in der (praktisch6

7

8

O. Neurath, The Orchestration of the Sciences by the Encyclopedia of Logical Empiricism. In: Philosophy and Phenomenological Research. 25 V o l . 6 , No. 4, 1946, S. 496—508. Auch in: O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. 2 Bände. Hrsg. von R. Haller und H. Rütte. Wien: Holder-Pichler-Tempsky 1981. vgl. die Darstellungen von: A. Janik/St. Toulmin, Wittgensteins Vienna. N e w York 1973. C. E. Schorske, Fin de siècle-Vienna. Politics and Culture. New York 1980. Das größere Österreich. Geistiges und soziales Leben von 1880 bis zur Gegenwart. Hrsg. von K. Sotriffer. Wien 1982. (Abschnitte 1, II). G. Wunberg (Hrsg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981. Th. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt 1976.

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ideologisch motivierten) Lenin-Kritik an Mach, Richard Avenarius und ihrer bis in die Gegenwart spürbaren Wirkungsgeschichte kulminieren.' Damit werden die im „Verein Ernst Mach" und im Wiener Kreis thematisierten Dualismen Materialismus—Idealismus, Realismus—Positivismus, sowie die Abgrenzung der metaphysischen, spekulativen Schulphilosophie von Philosophie als Sprachanalyse und materialistische (physikalistische) Einheitswissenschaft ins Spiel gebracht und historisch evaluiert. Außerdem antizipierte Mach zusammen mit seinen empiristisch orientierten Kollegen wichtige Zielsetzungen und Aktivitäten in dem später nach ihm benannten Verein: schulreformerische und volksbildnerische Popularisierungen waren praktische Folgen des aufklärerischen Selbstverständnisses, das sich in der Abfassung von Schulbüchern, „Populärwissenschaftlichen Vorlesungen" (1896), Gründung von Volkshochschulen und Beteiligung an „Volkstümlichen Universitätskursen" niederschlug. 10 Die folgenden Marginalien zur Mach- Wirkungsgeschichte illustrieren die gemeinsame Problemorientierung und soziale Verankerung einer interdisziplinären Kulturgemeinschaft im umfassenden Spektrum von Philosophie, Natur- und Sozialwissenschaften, Politik und Kunst: In dem Maße nämlich, wie Mach selbst die inhaltlich-methodologischen Gemeinsamkeiten und strukturellen Analogien in seinem Œuvre, in Physik, Psychologie, Wissenschaftsgeschichte und -methodologie, zum Tragen kommen ließ, ermöglichte er eine schillernde, disziplinenüberschrei9

10

vgl. den Beitrag von K. Müller in diesem Band, in dem der Positivismus-Streit durch Historisierung und Entmythologisierung eine neue Diskussionsbasis bekommt. Dazu auch: F. Stadler, Grundfrage oder Scheinfrage der Philosophie? Historisierung als Kritik des Positivismusstreites. P. Weingartner/J. Czermak (Hrsg.), Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Akten des 7. Intern. Wittgenstein-Symposiums. Wien 1983. S. 521 ff. Dazu die Beiträge in: Analyse und Kritik. Heft 1, 1979. vgl. die Beiträge von J. Thiele, Ernst Mach als ein Wegbereiter der gymnasialen Schulreform. In: Neue Sammlung, Jg. 4, 1964, S. 221—231. ders., Die Methodenlehre Ernst Machs und ihre Anwendung auf Probleme des exemplarischen Lernens. In: Schweizerische Hochschulzeitung, Jg. 37, 1964. ders., Ernst Mach als Pädagoge. IN: Schweizerische Hochschulzeitung. 1963, S. 219—222. ders., Schulphysik vor 70 Jahren. In: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht. 19, S. 1 5 - 1 7 . 1966. O. Blüh, Ernst Mach— His Life as a Teacher and Thinker. In: R. S. Cohen/R. J. Seeger (eds.), Ernst Mach. Physicist and Philosopher, a. a. O. S. 1—22. Dazu allgemein: H. Altenhuber, Zur Geschichte der Universitätsausdehnung in Österreich. In: Erwachsenenbildung in Österreich. Heft 4, 5, 1972 und Heft 11, 1974.

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tende Rezeption. Obwohl er jede autonome Philosophie abseits vom aktuellen Forschungsbetrieb ablehnte, konnte er gerade bei „wissenschaftlichen Philosophen" eine anregende erkenntnistheoretische und methodologische Aufnahme bewirken, die beispielsweise bei Wilhelm Jerusalem oder Heinrich Gomperz explizit zum Ausdruck kommt. Weniger beabsichtigt scheint Machs literarischer Impuls für die nominalistische Sprachkritik von Fritz Mauthner oder die antimetaphysische Sprachanalyse von Adolf Stöhr und Richard Wahle, während der bereits in der Literaturgeschichtsschreibung behandelte Konnex von Positivismus und Impressionismus11 eine starke Berufung auf Machs depersonalisierenden Ich-Begriff bei „Jung — Wien" (Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg) aufweist. Diese Rezeption findet in der programmatischen Stilisierung der Lehre Machs zur „Philosophie des Impressionismus" durch Hermann Bahr ihren pointierten Ausdruck, der das „Ich" als „unrettbar" proklamierte. 12 Robert Musil spielte in seiner Dissertation „Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs" (1908)13 mit der Synthese von Philosophie, Naturwissenschaft, Technik und Literatur zur Überwindung des Dualismus von Gefühl und Verstand unter Einbeziehung des Machschen Ich-Begriffs, seiner Denk-Okonomie und des funktionalistischen Möglichkeitssinnes. Er gesteht trotz seiner diesbezüglichen Skepsis noch in den dreißiger Jahren : „Nicht von Goethe, Hebbel, Hölderlin werden wir lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski, Couturat, Russell, Peano . .." 14 Es kann wohl auch nicht sehr überraschen, wenn der von Musil geschätzte österreichische Autor Franz Blei, der beim MachPendant Richard Avenarius in Zürich promovierte, in seinem autobiographischen Romanfragment ebenfalls einen antimetaphysischen IchBegriff einbringt. Ha Allein die Namensliste der umfangreichen Korrespondenz Ernst Machs spiegelt die Tatsache, wie stark am Beispiel seiner Person der (naturwissenschaftliche Diskurs am Höhepunkt der zweiten wissenschaftlichen Revolution veranschaulicht werden kann: so finden sich 11

M. Diersch, Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin 1977. 12 H. Bahr, Dialog vom Tragischen, Berlin 1904. 13 R. Musil, Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980 2 . 14 R. Musil, Tagebücher. Hrsg. von A. Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976. 2 Bde., Bd. 1, S. 20. 14 a F. Blei, Prinz Hippolyt und andere Essays. Leipzig 1903.

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darunter die wichtigsten Vertreter des deutschen Monismus und Positivismus wie Josef Petzoldt, Wilhelm Ostwald, Ernst Haeckel, die für die Herausbildung des Logischen Empirismus bedeutsamen französischen Physiker und Konventionalisten Henri Poincaré, Pierre Duhém, Abel Rey und die amerikanischen Pragmatisten um William James und Paul Carus, während Bertrand Russell erst in den zwanziger Jahren Mach als Vorläufer seines „neutralen Monismus" nennt. Das erkenntnistheoretische Dauerthema der Wissenschaftsgeschichte, die Frage nach Materialismus oder Idealismus bzw. „Realismus" versus „Positivismus" kann (und wurde größtenteils) am Beispiel der Rezeption und Kontroversen von Mach, Ludwig Boltzmann, Max Planck, Friedrich Jodl und Albert Einstein thematisiert und muß in die Entstehungsgeschichte von Relativitäts- und Quantentheorie eingebunden werden. Dabei wird, trotz vieler objektiver und persönlicher Differenzen, die wichtige Rolle Machs als geistischer Mentor und Innovator manifest, so daß man von einem positivistischen Ursprung mit „realistischem" Ausgang bei Einstein sprechen kann 1 5 und der Mythos vom Gigantenkampf zwischen Mach und Boltzmann einigermaßen demontiert wird. Bedenkt man ferner die — auf weite Strecken kritische — Auseinandersetzung von Franz Brentano 1 6 und seiner Schüler (Edmund Husserl, 17 Christian von Ehrenfels, Alexius von Meinong 1 8 , Alois Höfler) mit dem antimetaphysischen „Sensualismus" und die ähnlich gelagerte Kritik der rivalisierenden Gestalts- und Kognitionspsychologen Carl Stumpf, Oswald Külpe und seines Schülers Karl Bühler so wird die seinerzeitige intensive methodologische und epistemologische Diskussion in Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Mathematik und Physik erschließbar. Die methodologische Nähe zur Schule der liberalen Grenznutzenlehre 15

16

17

18

19

G. Holton, Thematische Analyse der Wissenschaft. Die Physik Einsteins und seiner Zeit. Frankfurt/M. 1981. (stw 293). F. Brentano, Bemerkungen zu Ernst Machs „Erkenntnis und Irrtum". Hrsg. von R. Chisholm. Amsterdam 1982. H. Lübbe, Positivismus und Phänomenologie.: Mach und Husserl. In: Beiträge zur Philosophie und Wissenschaft (W. Szilasi zum 70. Geburtstag.). München 1961. S. 1 6 1 - 1 8 4 . ders., Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach, Husserl, Schapp und Wittgenstein. Freiburg 1972. Philosophenbriefe. Aus der wissenschaftlichen Korrespondenz von Alexius Meinong. Hrsg. von R. Kindinger. Graz 1965. S. 89—93. D. F. Lindenfeld, The Transformation of Positivism. Alexius Meinong and European Thought, 1880—1920. Berkeley/Los Angeles/London 1980. Κ. Bühler, Die Krise der Psychologie. F r a n k f u r t / M . - B e r l i n - W i e n 1978 2 . S. 3 ff.

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um Carl Menger und zur empirischen Sozialforschung 20 um Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel erweitert die interdisziplinäre Wirkung auf Soziologie und Nationalökonomie, und es war nur ein kleiner Schritt zur politischen Relevanz des „Positivismus". Sie kulminierte folgenreich in W. I. Lenins Buch „Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie" (1909). Diese, im wesentlichen historisch bedingte, politisch motivierte Streitschrift gegen die sozialdemokratischen Machianer in Rußland, als Kritik an der nach Meinung Lenins idealistischen bürgerlich-reaktionären Philosophie von Mach und Avenarius unter dem Deckmantel moderner Naturwissenschaft, wirkt bis heute als philosophische und politische Markierung zwischen „Materialismus" und „Idealismus" bzw. Bolschewismus (Marxismus-Leninismus) und Austromarxismus. 21 Vor allem der Einstein-Freund Friedrich Adler war ein Propagandist einer MachMarx-Synthese: „Machismus . . . ist die der Marxschen Geschichtsauffassung entsprechende Naturauffassung" 22 . Mit ihm plädierten in Osterreich David Josef Bach, Gustav Eckstein, Josef Schumpeter, Karl Polanyi, Carl Grünberg, Rudolf Goldscheid, Ludo Moritz Hartmann und mit Einschränkungen auch Otto Bauer für Empirismus und Funktionalität statt Kausalität, sowie für Nominalismus und schließlich für Marxismus als sozialwissenschaftliche Methode gegenüber mechanistischen und ökonomischen Basis-Überbau-Konstruktionen. In diesem Zusammenhang sind, — in einer Linie mit A. Pannekoek und K. Korsch 23 — auch Edgar Zilsel, Otto Neurath und Philipp Frank zu nennen 24 , die mit Mach einerseits die Abgrenzung gegenüber Lenin 20

21

22

25

24

P. Lazarsfeld, Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung. In: T. Parsons/E. Shils/P. Lazarsfeld: Soziologie — autobiografisch. Stuttgart 1975. S. 149 f. E. Glaser, Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus. Wien/München/Zürich 1981. S. 48—76. F. Adler, Ernst Machs Uberwindung des mechanischen Materialismus. Wien 1918. S. 162 f. A. Pannekoek, Lenin als Philosoph. Kritische Betrachtungen der philosophischen Grundlagen des Leninismus. Amsterdam 1938. K. Korsch, Karl Marx. Marxistische Theorie und Klassenbewegung. Reinbek bei Hamburg 1981. ders., Marxismus und Philosophie. Hrsg. von E. Gerlach. Frankfurt/M., Köln 1975. E. Zilsel, Philosophische Bemerkungen. In: Der Kampf. Bd. 22, 1929, S. 178 —186. Dazu auch: J. Dvorak, Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis, a. a. O. Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis a. a. O. Vgl. die entsprechenden Beiträge über O. Neurath in: F. Stadler (Hrsg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit a. a. O. Ph. Frank, Modern Science and its Philosophy. Cambridge 1949.

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mitvollziehen und in Mach, neben P. Duhém, H. Poincaré, A. Rey, Wittgenstein und Russell, den bedeutendsten Vorläufer der „wissenschaftlichen Weltauffassung" im Wiener Kreis sehen. Dabei behauptete Frank in Anbetracht des Scheinproblems einer „wahren Welt" sogar eine Konvergenz von Logischem Empirismus und Dialektischem Materialismus. Die überragende Rolle Machs bei der Herausbildung des Neopositivismus ist bereits von Philipp Frank selbst instruktiv beschrieben worden 25 , so daß die starke Rezeption im Wiener Kreis — trotz vorhandener antiphänomenalistischer Positionen bei Viktor Kraft, Moritz Schlick, Herbert Feigl — als logische Folge erscheint. 26 Dabei wird vor allem der ausgeprägte Empirismus, das naturwissenschaftliche Paradigma, die (antimetaphysische) Einheitswissenschaft, der epistemologische und ontologische Monismus sowie der aufklärerische Impetus positiv aufgenommen und mit dem neuen sprachanalytischen Instrumentarium (symbolische Logik und Mathematik) weiterentwickelt. Ahnlich stark — obwohl in der bisherigen Literatur kaum beachtet — scheint die Aufnahme von Popper-Lynkeus bei mehreren Wiener Kreis-Mitgliedern gewesen zu sein27: Philipp Frank, Richard von Mises, Moritz Schlick und besonders Otto Neurath schätzten die empiristische, antimetaphysische, sprachkritische Erkenntnislehre und diesseitsorientierte Weltauffassung. Auch Neuraths Beschwörung der „Allgemeinen Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage" im Zusammenhang mit seinem (Voll-)Sozialisierungsprogramm ist hier zu nennen. Dementsprechend wird in der Programmschrift des Wiener Kreises im Zusammenhang mit seiner Vorgeschichte auf beide Denker Bezug genommen: Mach „war besonders darum bemüht, die empirische Wissenschaft, in erster Linie die Physik, von metaphysischen Gedanken zu reinigen. Es sei erinnert an seine Kritik des absoluten Raumes, durch die er ein Vorläufer Einsteins wurde, an seinen Kampf gegen die Metaphysik des Dinges an sich und des Substanzbegriffs, sowie an seine Untersuchungen über den Aufbau der wissenschaftlichen Begriffe aus letzten Elementen, den Sinnesdaten. In einigen 25 26

27

ebda., S. 1 - 5 2 . Als Monografie neben vielen anderen Darstellungen bei Neurath, Joergensen, Feigl, Carnap, Ayer, Ph. Frank, Kraft sowie bei Blackmore, Janik/Toulmin : R. von Mises, Ernst Mach und die empiristische Wissenschaftsauffassung. Den Haag 1938. (Einheitswissenschaft. Schriften hrsg. von O. Neurath/in Verb, mit R. Carnap/J. Joergensen und Ch. Morris. Heft 7). I. Belke, Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus (1838 —1921) im Zusammenhang mit allgemeinen Reformbestrebungen des Wiener Bürgertums um die Jahrhundertwende. Tübingen 1978.

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Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis

P u n k t e n hat die w i s s e n s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g ihm nicht recht g e g e b e n , z u m Beispiel in seiner S t e l l u n g n a h m e g e g e n die A t o m i s t i k u n d in seiner Erw a r t u n g der F ö r d e r u n g der Physik durch die S i n n e s p h y s i o l o g i e . D i e w e sentlichen P u n k t e seiner A u f f a s s u n g aber sind in der W e i t e r e n t w i c k l u n g p o sitiv verwertet w o r d e n . " 2 8 . . . „Etwa g l e i c h z e i t i g mit M a c h wirkte in W i e n sein A l t e r s g e n o s s e und Freund Josef P o p p e r - L y n k e u s . N e b e n seinen physikalisch-technischen Leis t u n g e n seien seine g r o ß z ü g i g e n , w e n n auch unsystematischen philosophischen Betrachtungen e r w ä h n t ( 1 8 9 9 ) , s o w i e sein rationalistischer W i r t schaftsplan (allgemeine N ä h r p f l i c h t , 1878). Er diente b e w u ß t d e m Geist der A u f k l ä r u n g , w i e a u c h durch sein Buch über V o l t a i r e b e z e u g t wird. D i e A b l e h n u n g der M e t a p h y s i k w a r ihm mit m a n c h e n anderen W i e n e r S o z i o l o g e n . . . gemeinsam."2'

2. Popularisierungsbestrebungen „Verein

im Wiener Ernst

Kreis

— Am

Beispiel

des

Mach™

D e r historische H i n t e r g r u n d u n d die V o r g e s c h i c h t e s o w i e die soziokulturelle Standortbestimmung des 1928 gegründeten Vereins n e n n u r i m K o n t e x t d e r s o g e n a n n t e n „ S p ä t a u f k l ä r u n g " in verstanden

werden.31

Dieses weltanschaulich-politische

kön-

Osterreich

Vorfeld

weist

auf die erste Z i e l s e t z u n g des V e r e i n s , nämlich die Popularisierung W i s senschaftlicher Weltauffassung und

(natur)wissenschaftlicher

Philoso-

phie — s o w i e auf die O f f e n t l i c h k e i t s p h a s e des W i e n e r Kreises ab 1 9 2 9 bis z u seiner, s c h o n a n f a n g d e r d r e i ß i g e r J a h r e d u r c h i n n e r e u n d ä u ß e r e U m s t ä n d e b e d i n g t e n , D e s i n t e g r a t i o n . 3 2 In d i e s e m g r ö ß e r e n E r k l ä r u n g s 28 29 30

31

32

Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis a. a. O., S. 10 f. ebda., S. 12. F. Stadler, Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung" a. a. O. Teil 2: Spätaufklärung durch „Wissenschaftliche Weltauffassung". Der Verein Ernst Mach als Popularisierungsorgan des Wiener Kreises 1928 —1934. F. Stadler, Spätaufklärung und Sozialdemokratie in Wien 1918 —1938. Soziologisches und Ideologisches zur Spätaufklärung in Österreich. In: F. Kadrnoska (Hrsg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. W i e n / M ü n chen/Zürich 1981. S. 441—473. H . Feigl. T h e Wiener Kreis in America. In: D. Fleming/B. Bailyn (Eds.), T h e Intellectual Migration: Europa and America, 1930—1960. Cambridge/Mass. 1969, S. 630—673. R. Carnap, Intellectual Autobiography. In: P. A. Schilpp (ed.), T h e Philosophy of Rudolf Carnap. La Salle, Illinois 1963. Ph. Frank, Modern Science and its Philosophy. Cambridge, Mass. 1949. (Introduction). F. Stadler, Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrunds und Standorts des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien. In: H . Berghel/A. H ü b n e r / E . Köhler (Hrsg.), Wittgenstein, der Wiener Kreis und der Kritische Rationalismus. Akten des Dritten Internationalen Wittgenstein-Symposiums Kirchberg/W. Wien 1979, S. 4 1 - 5 9 .

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Zusammenhang ist die Wiener Volksbildungsbewegung als sozialer und geistiger Bezugsrahmen zusammen mit der internen Problemgeschichte mit zu berücksichtigen. Erst die Aufbereitung des geistigen Klimas der Monisten, Freidenker und Aktivisten der Ethischen Bewegung im Umfeld sozialdemokratischer und liberaler Kulturbewegung eröffnete damals ideologische, weltanschauliche und wissenschaftliche Anknüpfungs- und Artikulationsmöglichkeiten mit Institutionalisierung auf Vereinsbasis von 1928 bis 1934. Das Ideologem der aufbruchs- und jugendbewegten Strömung der „Spätaufklärung" kann schlagwortartig mit Humanismus, Kosmopolitismus, Fortschritts- und Vernunftorientierung, Sozial- und Lebensreform, Szientismus, Antimetaphysik, Materialismus und nichtreligiöse Ethisierung mit im wesentlichen radikalbürgerlicher Sozialtechnik markiert werden. Die meisten dieser Vereinigungen waren in dem 1919 gegründeten Dachverein „Freier Bund kultureller Vereine" lose organisiert. Zu diesen zählten: Der „Allgemeine österreichische Frauenverein", die „Ethische Gesellschaft" bzw. „Ethische Gemeinde", „Die Bereitschaft. Verein für soziale Arbeit und zur Verbreitung sozialer Kenntnisse", der „Eherechtsreformverein", der „Monistenbund in Osterreich" mit dem „Wiener Akademischen Monistenbund", der „Österreichischer Freidenkerbund", die „Sozialpädagogische Gesellschaft. Vereinigung für Volks- und Jugenderziehung" sowie in lockeren Verbindungen die „Arbeitsgemeinschaft österreichischer Friedensvereine", der Verein „Allgemeine Nährpflicht" und kleinere (lebens)reformerische Gruppierungen. Der Großteil an Publikationen dieser Reformbewegung wurde in den Verlagen „Brüder Suschitzky-Anzengruberverlag" (z. B. in der Reihe „Der Aufstieg. Neue Zeit- und Streitschriften") und im „Verlag der Wiener Volksbuchhandlung" 3 5 gedruckt. Im Hintergrund spielten die Freimaurer für Koordination, Innovation und Finanzierung all dieser Vereinigungen eine bedeutsame organisatorische und ideologische Rolle, die bisher kaum in der offiziellen Historiografie belegt wurde. Viele dieser Vereinsmitglieder pflegten Kontakt und Mitarbeit in der Wiener Schulreformbewegung, aber auch im „Verein Ernst Mach" und im „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum" von Otto Neurath. Soziologisch ist bei all diesen marginalisierten Vereinigungen eine Aneignung und Uberlagerung durch die Sozialdemokratie erkennbar, die im 33

H . Schroth, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1894—1934. Eine Bibliographie. Wien 1977, (Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 7).

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wissenschaftlichen Profil des „Verein Ernst Mach" bemerkenswerterweise nicht so stark zum Tragen kommt. Hier wurde Einheitswissenschaft auf materialistischer (physikalistischer) Basis mit dem Endziel einer „Enzyklopädie" und „wissenschaftliche Weltauffassung" in nichtdialektischer Variante vorgetragen und publiziert. Eine grobe Gesamteinschätzung dieser Aufbruchsbewegungen mit aufklärerischem Bildungspathos wird auch die Mechanismen von Technophilie, Rationalisierung, Menschenökonomie und Gesellschaftstechnik sowie Statistik und Sozialismus in einer von zwei kulturellen Lagern bestimmten Gesellschaft mit dem immunisierenden „Roten Wien" im Zentrum und einer rechtsdriftenden „Peripherie" als konstitutive soziale Faktoren berücksichtigen müssen. 34 Die Frage nach der Interdependenz von sozialer und wissenschaftlicher Revolution wird den Rahmen für die Präzisierung der Typologien des „geistigen Arbeiters", des ideologischen Überbaus, der „proletarischen Weltanschauung" und der wissenschaftlichen Vernunft abgeben. Wissenschaft und Alltag der Massen werden durch die inzwischen schon stärker beleuchteten Begriffe von „Arbeiterkultur" und „Arbeiterbildung" rekonstruiert. 35 Durch die österreichischen Monisten und Freidenker werden in diesem Wechselspiel antimetaphysische, naturwissenschaftliche und sozialistische Inhalte transportiert. In dem 1914 durch Freidenker gegründeten „Osterreichischen Monistenbund" dominierten Vorstellungen von Entwicklungsdenken und Gesellschaftstechnik auf der Grundlage positivistischer Soziologie, wobei man mit einem natürlichen Weltbegriff und Rekurs auf wissenschaftliche Vernunft arbeitete. In diesem Sinne wirkten die wichtigsten Vertreter wie Friedrich Jodl, Wilhelm Börner, Wla34

35

vgl. J. Weidenholzer, Auf dem Weg zum „Neuen Menschen". Bildungs- und Kulturarbeit der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Wien 1981. (Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 12). C. Botz/H. Hautmann/H. Konrad/J. Weidenholzer (Hrsg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. Wien/München/Zürich 1978. A. Pfoser, Literatur und Austromarxismus. Wien 1980. D. Langewiesche, Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik. Stuttgart 1979. „Mit uns zieht die neue Zeit". Arbeiterkultur in Österreich 1918 — 1934. Ausstellungskatalog, Wien 1981. Arbeiterkultur in Österreich 1918 — 1945. Wien 1981. (Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung). F. Stadler (Hrsg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit a. a. O. H. Maimann/S. Matti (Hrsg.), Die Kälte des Februar. Österreich 1933 — 1938. Wien 1984.

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dimir MiSar, Paul Kammerer, Rudolf Goldscheid und Edgar Herbst, der den „Wiener Akademischen Monistenbund" auf Hochschulboden in ideologischer Defensive leitete. Abgesehen vom schillernden, vieldeutigen Monismus-Begriff 36 — im wesentlichen ein Eklektizismus aus Positivismus, kritischem Realismus und Materialismus — ist in unserem Zusammenhang die Tatsache relevant, daß als Mitglieder, Autoren und Vortragende u. a. Moritz Schlick, Otto Neurath, Herbert Feigl figurieren und eine inhaltliche Konvergenz zwischen „Monismus" und den Grund-Aussagen der Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis" vorhanden ist. Die stärker am Proletariat orientierten Freidenker forcierten Antimetaphysik auf naturwissenschaftlicher Grundlage mit höherem Organisationsgrad und stärkerer Öffentlichkeitsarbeit. Der 1921 (wieder)gegründete „Freidenkerbund Österreichs" mit seinem sozialreformerischen Programm (Trennung von Kirche und Staat, Schul- und Eherechtsreform etc.) zählte 1931 ca. 45 000 Mitglieder, publizierte in einer Auflage von 50 000 die Zeitschrift „Der Freidenker" und formulierte als Zielsetzung seiner Arbeit die „Pflege des freien Gedankens, d. i. Ausbau und Verbreitung einer auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden sozialistischen Weltanschauung und Lebensführung." 37 Als „Philosophie" deklarierte man Elemente des Monismus, empirischen Rationalismus und „epikureischen Marxismus" in Anlehnung an Otto Neuraths Schrift „Lebensgestaltung und Klassenkampf" (1928), während man sich in der Praxis der damals beliebten Sozialtechnik und Menschenökonomie (Goldscheid) verpflichtet fühlte. Der Freidenkerbund war stark an der Vorgeschichte des „Verein Ernst Mach" als Initiator und organisatorischer Rahmen wie auch als weltanschaulich-politischer Faktor beteiligt, was allein durch die Tatsache vermittelt wird, daß von seinen wichtigsten Mitgliedern, Funktionären und Autoren ein Großteil Mitglieder des späteren Mach-Vereins wurden, (wie z. B. Carl Kundermann, Franz Ronzal, Robert und Steffi Endres, Karl Bechinie, Bruno Schönfeld, Wladimir Misar, Josef Karl Friedjung, Heinrich Vokolek und Emil Machek). Eine ähnlich weltanschaulich-wissenschaftliche Orientierung mit dem Ziel einer Ethisierung von Erziehung und Politik finden wir in der von Wilhelm Börner (1882—1951) geleiteten 36

37

vgl. R. Eisler, Geschichte des Monismus. Leipzig 1910. L. Herzberg, Die philosophischen Hauptströmungen im Monistenbund. In: Annalen der Philosophie, Bd. VII, 1928, S. 1 1 3 - 1 3 5 , 1 7 7 - 1 9 9 . Der Freidenker, 27. Jg., 1922. S. 2.

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„Ethischen Gemeinde". In dieser Vereinigung wurde im Anschluß an die naturalistisch-militaristische Ethik von Friedrich Jodl für Pazifismus, Monismus, Freidenkertum, Frauenbewegung und Psychoanalyse gearbeitet und in der sozialreformerischen Praxis eine umfassende SexualStraf- und Lebensreform angestrebt. Eine praktische Manifestation war die Einrichtung von sogenannten „weltlichen Sonntagsfeiern" als Alternative zum Religionsunterricht. Als Sympathisanten und Förderer finden sich hier u. a. Moritz Schlick, Rudolf Carnap und Viktor Kraft zusammen mit den übrigen (späteren) Mach-Vereinsmitgliedern Hans Thirring, W. MiSar und B. Schönfeld. In dem von Josef Popper-Lynkeus ins Leben gerufenen Verein „Allgemeine Nährpflicht" wurde im Kleinen Sozialutopie zwischen Liberalismus und Sozialismus abseits von Tages- und Parteipolitik mit dem Ziel geprobt, eine Sozialisierung von Nahrung, Obdach und Kleidung in natura in einer partiell marktlosen Wirtschaft bei gleichzeitig freier Marktwirtschaft zu erreichen. 38 In dieser Gruppierung mit eher geringem praktischen Effekt — 1929 werden an die 1000 Mitglieder gezählt — wirkten als Anhänger neben vielen anderen, größtenteils jüdischen Intellektuellen, auch wieder Moritz Schlick, Otto Neurath, Richard von Mises und Heinrich Loewy. Die Vorgeschichte des Vereins von 1926 bis 1928 fällt mit der nichtöffentlichen Phase des Wiener Kreises zusammen und die Gründung des Vereins um die Jahreswende 1928/1929 markiert zugleich mit der Publikation der Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis" (1929) den Beginn der öffentlichen Phase und die Internationalisierung von 1929 bis 1936, wobei die Desintegrationserscheinungen (mit Emigration, internen Differenzen) praktisch ab 1930 beginnen. 39 Die von Neurath im Ausland oganisierten „Internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft" bis 1939 bildeten noch einmal eine 38 39

vgl. F. P. Hellin/R. Plank, Der Plan des Josef Popper-Lynkeus. Bern 1979. Bei der Strukturierung der Geschichte des Wiener Kreises bietet sich die Aufgliederung in vier Phasen an: 1. Der Diskussionszirkel von 1907 bis zum ersten Weltkrieg u. a. mit Philipp Frank, Hans Hahn, Otto Neurath und Richard von Mises. 2. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Beginn der Donnerstag-Abend-Treffen unter Moritz Schlick ab 1924, in der Hans Hahn eine bedeutende Rolle als Initiator spielte. 3. Die nichtöffentliche Phase von 1924 bis 1928. In diese Zeit fallen die Kontakte mit Wittgenstein. 4. Die Öffentlichkeitsphase mit der Publikation der Programmschrift, der Gründung des „Verein Ernst Mach" und der Organisation der 1. Internationalen Tagung in

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demokratische Sammlungsbasis für den ehemaligen Wiener Kreis auf breiter interdisziplinärer Ebene. 40 Am Ende der nichtöffentlichen Phase existierte im Wiener Kreis das Selbstverständnis einer eigenen Bewegung, was sich auch in der Herausgabe einer hauseigenen Zeitschrift ab 1930, der „Erkenntnis", niederschlug. Gleichzeitig wurde mit der Gründung des „Vereins Ernst Mach" im November 1928 das Bedürfnis nach einer eigenen Popularisierungsinstitution konkret umgesetzt. Am 11. April 1927 wurden die Statuten des „Allgemeinen Naturwissenschaftlichen Bildungsvereins Ernst Mach" vom Freidenkerbund mit dem Gründungszweck im Wiener Magistrat eingebracht, „durch Einrichtung von Kursen, Abhaltung von Vorträgen und Vorlesungen, durch Führungen und Exkursionen, durch Beistellung fachwissenschaftlicher Literatur naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten." 41 In dieser Phase war noch kein Wiener Kreis-Mitglied beteiligt, während bei der tatsächlichen Gründungsversammlung am 23. 11. 1928 im „Verein Ernst Mach. Verein zur Verbreitung von Erkenntnissen der exakten Wissenschaften" bereits Otto Neurath über „Ernst Mach und die exakte Weltauffassung" referierte und im Proponentenkomitee aufscheint.42 Den Vorsitz übernahm — nicht ohne Vorbehalte gegen eine propagandistische Vereinstätigkeit und parteiliche Linie — Moritz Schlick (bis zur Auflösung des Vereins im Februar 1934), was eine stärkere Partizipation des Wiener Kreises bewirkte. So finden wir unter anderen Funktionären als Obmann-Stellvertreter Hans Hahn, als Schriftführer und Stellvertreter Otto Neurath und Rudolf Carnap und unter den Beisitzern Edgar Zilsel und Heinrich Löwy. Obwohl bereits im Aufruf zur Gründungsversammlung unter der Parole „Wissen ist Macht" die Naturbeherrschung durch Wissenschaft, Technophilie und eine ausgeprägte Fortschrittsideologie plakativ zum Ausdruck gebracht wurde, ist in der folgenden Zeit ein Rückgang der freidenkerischen Dominanz zuPrag 1928/1929, die man bis 1934 mit Internationalisierung und verstärkten Publikationsbemühungen datieren kann.

40

41 42

Gleichzeitig damit beginnt ab 1930 der äußere und innere Auflösungsprozeß mit Emigrationen, Abwanderungen und der Ermordung von Moritz Schlick im Jahre 1936, bis die letzten epigonalen Diskussionszirkel 1938 gestoppt werden und die endgültige Auflösung besiegelt ist. Die Weiterentwicklung im Ausland ist praktisch schon ein neues Kapitel der Wirkungsgeschichte des Wiener Kreises. Vgl. die entsprechenden Berichte in der „Erkenntnis" (1934 ff.) bzw. im „Journal of Unified Science" (1939 f.). Vereinsstatuten. Wiener Stadtarchiv. Verein Ernst Mach. Vereinsbüro, Bundespolizeidirektion Wien.

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gunsten eines (neopositivistischen) Profils zu erkennen, wobei die philosophisch-weltanschauliche Diskussion dem Paradigma von Einheitswissenschaft und Interdisziplinarität weicht. Die Organisationsund Problemgeschichte des Vereins beginnt also neben der reinen Vortragstätigkeit 4 3 zugleich mit der Herausgabe der von Carnap, Hahn und Neurath gezeichneten Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis." (Wien: Artur Wolf Verlag 1929). Diese Selbstdarstellungsbroschüre, sehr wahrscheinlich von Neurath, Hahn und Carnap in zwei Arbeitsgängen verfaßt 4 4 , dokumentiert in pointierter Form das Selbstverständnis der jungen neopositivistischen Bewegung, liefert im Anhang eine Standortbestimmung des „Verein Ernst M a c h " mit Zielsetzung und Langzeitprogramm und ist schließlich selbst durch ihre Entstehungsgeschichte ein Spiegel für die innere pluralistische und antagonistische Physiognomie des Wiener Kreises auf der Basis eines wissenschaftlichen Minimalkonsenses. Dieser manifestiert sich in einer Abgrenzung „Wissenschaftlicher Weltauffassung" von geisteswissenschaftlicher „Weltanschauung" und in der Berufung auf die Prinzipien der Diesseitigkeit, Lebensverbundenheit, Interdisziplinarität, antimetaphysischen Tatsachenforschung sowie im Hinweis auf liberale und sozialistische Volksbildungstraditionen in Österreich mit „Bestrebungen zur Neugestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, zur Vereinigung der Menschheit, zur Erneuerung der Schule und Erziehung." 4 5 Wissenschaftliche Weltauffassung sollte ein Mittel zur Emanzipation der Intellektuellen und der Massen sein, wie die Zielvorstellungen für die Arbeit im „Verein Ernst M a c h " formuliert wurden, nämlich „. . . V o r t r ä g e und V e r ö f f e n t l i c h u n g e n über den augenblicklichen Stand wissenschaftlicher W e l t a u f f a s s u n g e n veranlassen, damit die B e d e u t u n g exakter Forschung f ü r Sozialwissenschaften und N a t u r w i s s e n s c h a f t e n g e z e i g t wird. S o sollen gedankliche W e r k z e u g e des m o d e r n e n Empirismus g e f o r m t werden, deren auch die öffentliche und private L e b e n s f ü h r u n g b e d a r f . " 4 6

Die Tatsache, daß diese aufklärerische Diktion vom „philosophischen" Flügel um Schlick, Waismann unter dem Einfluß von Wittgen43 44

45 46

vgl. auch die laufenden Berichte in der „Erkenntnis" von 1930—1933. Zur Entstehungsgeschichte: H. L. Mulder, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis. In: Journal of the History of Philosophy, Bd. 6, 1968, S. 368 — 390. Korrespondenz Schlick und Neurath, Wiener Kreis-Archiv Amsterdam. Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis a a. O. S. 14. ebda.

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stein, aber auch von anderen Wiener Kreis-Mitgliedern nicht goutiert wurde, signalisiert bereits die wissenschaftlichen Profile mit differierendem Selbstverständnis, die im philosophischen und politisch-weltanschaulichen Antagonismus zwischen Schlick und Neurath extrem zum Ausdruck kamen. 47 Im September 1929 wurde in Prag vom „Verein Ernst Mach" gemeinsam mit der Berliner „Gesellschaft für Empirische Philosophie" die „1. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften" veranstaltet, wodurch der Wiener Kreis erstmals als Bewegung unter starker Kritik von Seiten der Schulphilosophie an die internationale Öffentlichkeit trat. 48 Die dort gehaltenen Vorträge der meisten Mitglieder über Kausalität und Wahrscheinlichkeit, Grundlagen der Mathematik und Logik bedeuteten — zusammen mit der vorherigen Gründung des „Verein Ernst Mach" und der ein Jahr später erfolgten Herausgabe der Zeitschrift „Erkenntnis" durch Rudolf Carnap und Hans Reichenbach „im Auftrage der Gesellschaft für empirische Philosophie und des Verein Ernst Mach" — den Beginn der öffentlichen Phase des Wiener Kreises, seiner Internationalisierung, zugleich seiner stärkeren inneren Ausdifferenzierung, wie zum Beispiel im Schlick-Wittgenstein-Kreis 49 , in Karl Mengers „Mathematischen Kolloquium" 50 , im peripheren Heinrich Gomperz-Zirkel und ähnlich losen Diskussionsgruppen. Eine besondere Rolle spielte jedoch der interdisziplinäre Diskurs in den Vorträgen und Arbeitsgruppen des neugegründeten Mach-Vereins. Die Vorträge (von 1929 bis 1934 ca. 50) zeigen die Beteiligung des größten Teils des Wiener Kreises und seiner Sympathisanten, aber auch vieler anderer in- und ausländischer empiristischer Wissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen der Natur- und Sozialwissenschaften: 51 1929: J. Frank: Moderne Weltauffassung und moderne Architektur. H . H a h n : Überflüssige Wesenheiten. (Occams Rasiermesser). 47

48 49

50

51

vgl. F. Stadler, O t t o Neurath—Moritz Schlick: Zum philosophischen und weltanschaulich-politischen Antagonismus im Wiener Kreis. In: Schlick und Neurath — Ein Symposion. Hrsg von R. Haller. Amsterdam 1982. S. 451—463. Erkenntnis, Bd. 1, 1 9 3 0 / 3 1 , S. 93 — 340. Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche. Aufgezeichnet von F. Waismann. Hrsg. von B. F. McGuinness. Frankfurt/M. 1967 (L. Wittgenstein Schriften 3). K. Menger, T h e N e w Logic. In: ders., Selected Papers in Logic and Foundations, Didactics, Economics. D o r d r e c h t / B o s t o n / L o n d o n 1979. (Vienna Circle Collection 10). Ein Uberblick über die Vortragstätigkeit scheint schon aus dokumentarischen Gründen sinnvoll: Die Zusammenstellung basiert auf den laufenden Berichten in der „Erkenntnis" ab 1 9 3 0 / 3 1 .

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119

H . Vokolek: Begabungsproblem und Vererbungslehre. R. Carnap: Von Gott und Seele. Scheinfragen der Metaphysik und Theologie. 1930: O. Neurath: Einheitswissenschaft und Marxismus. M. Schlick: Uber wissenschaftliche Weltauffassung in den USA. Wl. Misar: Probleme der Astronomie. H . Feigl: Naturgesetz und Willensfreiheit. R. Carnap: Einheitswissenschaft auf physischer Basis. E. Zilsel: Der Geniekult, ein soziologisches Problem. J. K. Friedjung: Unwissenschaftliches in der Erziehung. O. Bauer: Industrielle Rationalisierung und Wissenschaft. Im Rahmen der „Studiengruppe für wissenschaftliche Zusammenarbeit" unter Mitwirkung des „Verein Ernst Mach", Leitung R. Carnap : H . Feigl, Statistische Gesetzlichkeit. L. Bertalanffy: Entropieproblem und Normbegriff in der Biologie. W. Marinelli : Statistische Methoden in der Biologie. E. Zilsel: Über Induktion. H . Zeisel: Konjunkturstatistik. K. Polanyi : Wirtschaftsstatistik. H . Hartmann: Die Psychoanalyse und das Problem der Illusionen. R. Strigi: Die ökonomischen Kategorien. E. Brunswik: Gestaltpsychologie mit Demonstrationen. W. Reich : Trieblehre der Psychoanalyse. Halpern: Zum Kausalbegriff der Quantentheorie. 1931: O. Neurath: Magie und Technik. R. Gicklhorn: Zellphysik. Ph. Frank: Physikalische und biologische Gesetzmäßigkeit. O. Neurath: Empirismus in der Pädagogik. M. Schlick: Probleme der Kausalität. Im Rahmen der Vortragsreihe „Probleme der Einheitswissenschaft", veranstaltet vom Wiener Volksbildungsverein in Verbindung mit dem „Verein Ernst Mach" : O. Neurath: Einheitswissenschaft und Empirismus der Gegenwart. Soziologie in physikalischer Sprache. R. Carnap: Die Sprache der Physik. Psychologie in physikalischer Sprache.

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Friedrich Stadler

F. Waismann: Logik, Sprache, Philosophie. H . H a h n : Mathematik und Wissenschaft. Im Rahmen eines wöchentlichen Seminars „Moderne Wissenschaft", veranstaltet vom „Verein Ernst Mach" : H . Hahn : Einleitungsvortrag. F. Waismann: (Leiter der Abteilung „Physik") Im Rahmen der Vortragsreihe „Physikalismus" des „Verein Ernst Mach": O. Neurath: Empirismus in Vergangenheit und Gegenwart. Psychologie und Soziologie in physikalischer Sprache. H . H a h n : Sprache der Physik. F. Waismann: Logik und Sprache. H . H a h n : Mathematik und Wissenschaft. 1932: Ph. Frank: Philosophische Strömungen in der Sowjetunion. O. Neurath: Das Fremdpsychische in der Soziologie. H . H a h n : Sein und Schein. M. Schlick: Philosophische Strömungen in den USA. H . H a h n : Logik und Wirklichkeit. (geplante) Vorträge gemeinsam mit dem „Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie" : H . Hartmann: Empirismus in der Psychoanalyse. M. Pappenheim: Reflexologie. O. Neurath: Einheitswissenschaft und Psychologie. H . Gomperz: Entstehung der Atomistik. 1933/34: (es liegen keine Berichte in der „Erkenntnis" vor, obwohl bis zur Auflösung im Februar 1934 laut Quellen im Vereinsarchiv referiert würde). Diese Liste der Vortragenden und Themen zeigt sehr deutlich die interdisziplinäre Ausrichtung und den kollektiven Arbeitsstil. So wird beispielsweise die Nähe der Wissenschaftlichen Weltauffassung zur modernen Architektur, speziell zur Neuen Sachlichkeit des Bauhauses ersichtlich, wo Otto Neurath, Rudolf Carnap und Herbert Feigl als Vortragende wirkten. 52 Die Hörerzahlen im Mach-Verein überstiegen laut Auskunft von Zeitgenossen nicht diejenigen bei Vorträgen an Volks52

vgl. H. M. Wingler, Das Bauhaus. Weimar—Dessau—Berlin 1919—1933. Wiesbaden 1975. S. 170. Korrespondenz O. Neurath, Moritz Schlick. Wiener Kreis-Archiv, Amsterdam.

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hochschulen. 53 Es gab also im Durchschnitt keinen Massenbesuch, doch haben Neurath und Carnap öfter den Vortragssaal gefüllt. Im Jahre 1930 sind im Vorstand des Vereins Schlick, H a h n , Vokolek und unter den 22 Vorstandsmitgliedern neben mehreren Freidenkern noch Neurath, Carnap, Zilsel, Julius Tandler und Hans Thirring. Schlick blieb bis zur Auflösung des Vereins dessen Obmann, obwohl er sich von „propagandistischer" und politischer Arbeit zu distanzieren versuchte. 54 Ab 1930 wurde neben der Popularisierung empiristischer (physikalistischer) Einheitswissenschaft die Integration der Psychoanalyse in das naturwissenschaftliche Gesamtkonzept auf behavioristischer Basis — allerdings mit geringem Erfolg — versucht. Immerhin referierten beispielsweise Heinz Hartmann und Josef Karl Friedjung mit der Diktion, im Rahmen einer verwandten wissenschaftlichen Gemeinschaft mitzuarbeiten. 55 In ähnlichem Geist sprach Otto Bauer über Rationalisierung 56 in einem Vortrag, der offenbar im Diskussionskreis Bauer, Neurath, Zilsel angeregt wurde. 57 In ihrer Bedeutung stark unterschätzt oder kaum beachtet wurde bisher die im Rahmen des Mach-Vereins gegründete „Studiengruppe für wissenschaftliche Zusammenarbeit", die seit 1930 einen regelmäßigen Arbeitskreis bedeutender Wissenschaftler unter der Leitung von Rudolf Carnap in der Wiener Arbeiterkammer organisierte und als Ziel vorgab, „durch Referate mit anschließenden Diskussionen, insbesondere über die neueren Methoden, Probleme, Begriffsbildungen in den verschiedenen Fachgebieten . . ., eine Annäherung der Fachwissenschaften und eine Klärung ihrer Stellung im Rahmen der Gesamtwissenschaft herbeizuführen." "Dementsprechend arbeiteten dort wie oben ersichtlich z. B. die Biologen Ludwig Bertalanffy und Marinelli, der So53

54 55

56

57 58

Auskunft Univ. Prof. Paul Neurath, W i e n / N e w York. D a z u auch Hinweise in den Carnap-Tagebüchern, Carnap-Archiv Pittsburgh. Schlick-Korrespondenz, Wiener Kreis-Archiv, Amsterdam. Zu Integrationsversuchen bezüglich Psychoanalyse: M. jahoda. Aus den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Forschung in Osterreich. In: Zeitgeschichte. 8. Jahr, Jänner 1981, H e f t 4. S. 1 3 3 - 1 4 1 . dies., Im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. In: F. Stadler (Hrsg.) Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. a. a. O. S. 43 ff. Zur (natur)wissenschaftlichen Interpretation der Psychoanalyse: H . Hartmann, Die Grundlagen der Psychoanalyse. W i e n 1927. O Neurath, Einheitswissenschaft und Psychologie. W i e n 1933. (Einheitswissenschaft 1). vgl. O . Bauer, Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg. 1. Band: Rationalisierung—Fehlrationalisierung. Wien 1931. In: Otto Bauer Werkausgabe, Bd. 3. Wien 1976. Gespräche mit Univ. Prof. Eduard März, Wien und Margarete Schiitte-Lihotzky, Wien. Erkenntnis, Bd. I, 1 9 3 0 / 3 1 , S. 79.

122

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ziologe Hans Zeisel, die Nationalökonomen Karl Polanyi und Richard Strigi sowie die Psychologen bzw. Psychoanalytiker Egon Brunswik, Else Frenkel-Brunswik und Wilhelm Reich mit den Neopositivisten, von denen später einige in den „Foundations of the Unity of Science" als Autoren aufscheinen. 59 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Verbindungen von Wiener Kreis und den Begründern der empirischen Sozialforschung in Österreich (Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda, Hans Zeisel) hingewiesen, die außer personellen Bezügen auch epistemologische und methodologische Affinitäten erkennen lassen.60 Eine bemerkenswerte Aktivität war die im Februar/März 1931 vom Wiener Volksbildungsverein in Verbindung mit dem „Verein Ernst Mach" veranstaltete Vortragsreihe „Probleme der Einheitswissenschaft", die als Vorarbeit für die Publikationen der Reihe „Einheitswissenschaft" (1933 ff.) und als Popularisierungsversuch der seit 1929 herausgegebenen akademischen „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung" betrachtet werden kann." 59

Neurath, Frank, Carnap, Zilsel, Feigl, Brunswik. vgl. H a n s Zeisel, Die Wiener Schule der Motivforschung. In: Zukunft, 9 / 1 6 , 1968. S. 17. P. Lazarsfeld, Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung a. a. O . S. 150. ders., Vorwort zur neuen Auflage von: M. J a h o d a / P . F. Lazarsfeld/H. Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie. Frankf u r t / M . 1978. S. 20. " In der Reihe „Einheitswissenschaft" (hrsg. von O. Neurath, R. Carnap, Ph. Frank, H . H a h n , später J. Joergensen und Ch. Morris) erschienen: H . 1 : O. Neurath, Einheitswissenschaft und Psychologie, 1933. H . 2: H . H a h n , Logik, Mathematik und Naturerkennen, 1933. H . 3: R. Carnap, Die Aufgabe der Wissenschaftslogik, 1934. H . 4: O. Neurath, Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?, 1935. H . 5: Ph. Frank, Das Ende der mechanistischen Physik, 1935. H . 6: N e u r a t h / B r u n s w i k / H u l l / M a n n o u r y / W o o d g e r , Zur Enzyklopädie der Einheitswissenschaft. 1938. H . 7: R. v. Mises, Ernst Mach und die empiristische Wissenschaftsauffassung, 1938. In der Reihe „Schriften zur Wissenschaftlichen Weltauffassung" (Hrsg. von Ph. Frank und M. Schlick) erschienen: Bd. 2: R. Carnap, Abriß der Logistik, 1929. Bd. 3: R. v. Mises, Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit, 1928. Bd. 4: M. Schlick, Fragen der Ethik, 1930. Bd. 5: O. Neurath, Empirische Soziologie, 1931. Bd. 6: Ph. Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, 1932. Bd. 7: O. Kant, Zur Biologie der Ethik, 1932. Bd. 8: R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, 1934. Bd. 9: K. Popper, Logik der Forschung, 1935. 60

Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis

123

Neurath diagnostizierte in seinem Vortrag in gewohnt kämpferischer Note schlagwortartig als „Letzte Konsequenz des Empirismus: Wissenschaft ohne Philosophie! Befreiung vom Druck der Metaphysik und Theologie, als Parallelerscheinung zur Befreiung vom Druck sozialer Zustände: Empirismus und Einheitswissenschaft mit Sozialbehaviorismus und Sozialepikureismus kennzeichnend für die Gegenwart. Klarheit, Strenge, Lebensnähe. Alle wissenschaftliche Arbeit erkannt als Funktion der sozialen Situation .. ,"62 Die allgemeine Vortragstätigkeit wurde durch ein wöchentliches Seminar des Mach-Vereins unter dem Titel „Moderne Wissenschaft" ergänzt, wobei als allgemeine Tendenz im Jahre 1931 eine stärkere Verwissenschaftlichung bei gleichzeitiger Popularisierung, ein Trend von der physikalistischen Einheitswissenschaft zur „neutraleren" wissen-

62

Bd. 10: J. Schächter, Prolegomena zu einer kritischen Grammatik, 1935. Bd. 11 : V. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre. 1937. In der „Library of Unified Science Series" erschienen: R. v. Mises, Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauffassung. 1939. H . Kelsen, Vergeltung und Kausalität. 1941. Im Rahmen der „International Encyclopedia of Unified Science" (Hrsg. von O. N e u r a t h / R . C a r n a p / C h . Morris) : O. N e u r a t h / N . Bohr/J. Dewey/B. Russell/R. C a r n a p / C h . Morris, Encyclopedia and Unified Science. 1938. V. F. Lenzen, Procedures of Empirical Sciences, 1938. Ch. Morris, Foundations of the T h e o r y of Signs, 1938. L. Bloomfield, Linguistic Aspects of Science, 1939. R. Carnap, Foundations of Logic and Mathematics, 1939. J. Dewey, Theory of Valuation, 1939. E. Nagel, Principles of the T h e o r y of Probability, 1939. J. H . Woodger, The Technique of T h e o r y Construction, 1939. G. D e Santillana/E. Zilsel, The Development of Rationalism and Empiricism, 1941. O. Neurath, Foundations of the Social Sciences, 1944. Ph. Frank, Foundations of Physics, 1946. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen noch : E. Finlay-Freundlich, Cosmology. F. Mainx, Foundations of Biology. E. Brunswik, The Conceptual Framework of Psychology. T h . S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions. A. Edel, Science and the Structure of Ethics. G. Tintner, Methodology of Mathematical Economics and Econometrics. C. G. Hempel, Fundamentals of Concept Formation in Empirical Science. J. Joergensen, The Development of Logical Empiricism. Alle Monografien gesammelt in: Foundations of the Unity of Science. Toward an International Encyclopedia of Unified Science. 2 Vims. Ed. by O. N e u r a t h / R . C a r n a p / C h . Morris. T h e University of Chikago Press. C h i k a g o / L o n d o n 1970 f. O. Neurath, in: Erkenntnis, Bd. 2, 1932, S. 311.

124

Friedrich Stadler

schaftlichen Weltauffassung, sowie ein Zurückdrängen des politischideologischen Freidenkertums zu konstatieren ist, wie sich in der Vortragsreihe „Physikalismus" im Oktober/November 1931 (von Neurath, Hans H a h n und Friedrich Waismann) zeigte. Im folgenden Jahre 1932 berichteten u. a. Philipp Frank und Moritz Schlick über philosophische Strömungen in der Sowjetunion bzw. in den USA, während gemeinsam mit dem „Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie" die Unifizierungsversuche durch Heinz Hartmann, Martin Pappenheim und Otto Neurath optimistisch fortgeführt wurden, während Heinrich Gomperz in seinem Vortrag zur Entstehung der Atomistik Kritik am Sinnkriterium im Wiener Kreis übte. Für die Jahre 1933/34 haben wir keine direkten Nachrichten über die Vortragstätigkeit in der „Erkenntnis", als eine der Folgeerscheinungen der Zerstörung der Demokratie in Osterreich spätestens seit dem 12. Februar 1934. Die Auflösung des „Verein Ernst Mach" zeichnete sich schon 1933 im Klima verschärfter innenpolitischer Lage (NS-Terror, Antisemitismus, Ausschaltung des Parlaments durch die Rechtsparteien, Auflösung des Republikanischen Schutzbundes, Gründung der „Vaterländischen Front" . . .) mit der Auflösung des Freidenkerbunds am 19.6. 1933 durch die Dollfuß-Regierung wegen „Uberschreiten des Wirkungskreises" ab. 63 In der letzten Ausschußliste des Vereins scheinen neben Schlick, Hahn, Neurath, Neider, Carnap, Ph. und J. Frank, Zilsel, Löwy u. a. noch vier Mitglieder des Freidenkerbundes auf. 64 Nach dem Verbot der S D A P O und ihrer Suborganisationen wurde am 23. 2. 1934 von den neuen autoritären Machthabern die Einstellung der Tätigkeit und der Antrag auf Auflösung des „Vereins Ernst Mach" polizeilich verfügt, und zwar mit der offiziellen Begründung des Verbots der SDAP („Verein Ernst Mach in Wien, von dem amtsbekannt ist, daß er für diese Partei tätig war"). 6 5 In zwei Protestbriefen formulierte Moritz Schlick in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des aufgelösten Vereins — seinem konservativ-liberalen Selbstverständnis und seiner apolitischen Gesinnung entsprechend — die Einwände mit dem Hinweis auf die angeblich rein wissenschaftliche Tätigkeit, die absolut unpolitischen Vorträge. Er negierte jede Verbindung zur sozialdemokratischen Partei und betonte sogar seine persönliche Distanzierung. 66 Diese konvergierte 63 64 65 66

Wiener Zeitung, 23. 6. 1933. Ausschußliste Verein Ernst Mach, Vereinsbüro Wien, 20. 10. 1933. Vereinsbüro BPDion Wien 1152/34. Schlick an H R Ganz, 2. 3. 1934. Wiener Stadtarchiv und Vereinsbüro.

Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis

125

mit Schlicks Unterstützung der Vaterländischen Front als — seiner Meinung nach — wirksames Bollwerk gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. 6 7 Die Behörden wie die Regierung des autoritären Ständestaates beurteilten die objektive Rolle des „Verein Ernst M a c h " wie schon zuvor die des Wiener Kreises im Geiste ihrer antiliberalen und antidemokratischen Ideologie des „neuen Osterreich" realistischer und lehnten das Ansinnen Schlicks kategorisch ab. Ein zweiter Protestbrief Schlicks 6 8 mit einer Neutralitätserklärung gegenüber Politik und Religion in bezug auf die Arbeit im Mach-Verein und einem Sympathie-Bekenntnis für die Dollfuß-Regierung fruchtete ebensowenig aufgrund seines politischen Verblendungszusammenhangs und es ist verständlich, daß die Protestbriefe Schlicks von Carnap und Neurath aus dem Ausland wegen der darin vorgebrachten Argumentation kritisiert wurden. 6 9 S o faßte Neurath, der als Opfer des neuen Kurses emigrieren mußte, seinen Unmut über Schlick in den Worten „Mit Dollfuß gegen Einheitswissenschaft" drastisch zusammen. 7 0 Schlicks Ambivalenz bestand in erster Linie wohl darin, daß er in seinem sokratischen Ethos die reine Wissenschaft und Philosophie in guter Absicht auch unter politischen Bedingungen retten wollte, unter denen gerade die „wertfreie", empiristische wissenschaftliche Weltauffassung zum ideologischen Gegner wurde. Sein permanenter Kampf um Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen am Philosophischen Institut gegen die konservativ bis reaktionäre Professoren- und Studentenschaft sowie gegen die antipositivistisch eingestellte Ministerialbürokratie 7 ', schließlich die feindseligen Reaktionen der ständestaatlichen Ö f fentlichkeit auf die Ermordung Schlicks 7 2 am 22. Juni 1936 zeigten schließlich die tatsächlich marginalisierte und defensive Position des ohnehin bereits durch äußere Umstände aufgelösten Wiener Kreises als ei67

68 69 70 71

72

Schlick-Korrespondenz, Wiener Kreis-Archiv Amsterdam. Vgl. dazu Schlicks posthum erschienenes Büchlein „ N a t u r und Kultur". Wien/Stuttgart 1952. Schlick an Sicherheitskommissär Wien, 23. 3. 1934. Carnap-Tagebücher, Universität Pittsburgh. Neurath an Carnap, 18.7. 1934. Wiener Kreis-Archiv Amsterdam. F. Stadler, Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrunds und Standorts des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien. In: Wittgenstein, der Wiener Kreis und der Kritische Rationalismus. Akten des 3. Internationalen Wittgenstein-Symposiums Kirchberg W. Hrsg. von H . Berghel/A. H ü b n e r / E . Köhler. Wien 1979. S. 4 1 - 5 9 . M. Siegert, Mit der Browning philosophiert. Der Mord an Moritz Schlick am 22. Juni 1936. In: Forum, Juli/August 1981, H e f t 331/332. Gekürzt in: L. Spira (Hrsg.), Attentate, die Osterreich erschütterten. Wien 1981. T. Cless-Bernert, Der Mord an Moritz Schlick. In: Zeitgeschichte. H . 7, April 1982.

126

Friedrich Stadler

nes der letzten Symbole für fortschrittlich-demokratische Wissenschaft im (austro)faschistischen Osterreich. 73

3. Zusammenfassende

Bemerkungen

In der Gründungsphase (1926—1928) existierte eine starke ideelle und organisatorische Verwurzelung des Mach-Vereins in der Wiener Volksbildungsbewegung, die vor allem durch Freidenker, Monisten und Vertretern der Ethischen Bewegung hergestellt wurde. Der stärkere Einfluß von Wiener Kreis-Mitgliedern ab 1928 manifestierte sich in einer zunehmenden Verwissenschaftlichung gegenüber kulturkämpferischen Ideologemen, die bis 1934 auf eine szientifische Neutralisierung der Inhalte und (allerdings stark codierte) Terminologie der „Wissenschaftlichen Weltauffassung" aufgrund des politischen Rechtskurses zusteuert. Die organisatorische Verankerung und soziokulturelle Einbettung in der spätaufklärerischen Strömung war — zusammen mit dem Feindbild „Liberalismus—Sozialismus" — der Grund für die prompte Auflösung des Vereins in der Folge des 12. Februar 1934, die sich bereits mit der Auflösung des Freidenkerbundes ein Jahr zuvor abzuzeichnen begann. Schlicks Argumentation gegen die Auflösung ist symptomatisch für die Rolle des subjektiv apolitischen Intellektuellen im Sog realpolitischer Faschisierung und für den wissenschaftlichen wie weltanschaulichen Pluralismus bzw. Antagonismus im heterogenen Wiener Kreis, der nicht mit dem „Verein Ernst Mach" gleichgesetzt werden kann. Umgekehrt ist dieser Verein auch nicht das popularisierende Privatunternehmen einiger „linker" Mitglieder des Wiener Kreises, sondern eine typische Institution der sozialdemokratischen Kulturbewegung mit Massenbasis, die schließlich eine notwendige Bedingung für Existenz und Wirken des Mach-Vereins ausmacht. Damit ist der gesellschaftliche Bezug mit objektiver Zielgruppe, nämlich der Arbeiterbewegung und fortschrittlicher Intellektueller, ebenso konstituiert wie das Selbstverständnis und Identifikationsmuster für die Aufklärungsarbeit im Wiener Kreis, die sich bis 1934 auch auf eine beachtliche Partizipation an den Volkshochschulen und an der Schulreformbewegung erstreckte. So wie die Wissenschaftliche Weltauffassung in den Kursen an Volkshochschulen eine dominie73

E. Weinzierl, Hochschulleben und Hochschulpolitik zwischen den Kriegen. In: Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit. Hrsg. von N . Leser. Wien 1981.

Popularisierungsbestrebungen im Wiener Kreis

127

rende Rolle spielte, wurde unabhängig davon auf Seiten des Wiener Kreises die „wissenschaftlich orientierte Volksbildung" als verwandte Strömung reklamiert 74 und die konkrete Volkshochschultätigkeit von Herbert Feigl, Friedrich Waismann, Edgar Zilsel, Viktor Kraft und Otto Neurath untermauert. 7 5 Mit ähnlich solidarischem Elan engagierten sich Hans H a h n , Edgar Zilsel und Otto Neurath für die Glöckelsche Schulreformbewegung 7 6 in Theorie und Praxis mit dem Bewußtsein, beim Aufbau einer besseren Lebensordnung mitzuarbeiten und zur Humanisierung und Demokratisierung der Gesellschaft beizutragen. In diesem Zusammenhang ist als herausragende Leistung das „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum" von Otto Neurath zu nennen, das in Teamarbeit mit Hilfe der „Wiener Methode der Bildstatistik" vor-bildliche Massenaufklärung und Volksbildung in Zusammenarbeit mit der Wiener Schulreform leistete und einen heute noch attraktiven Standard für ein Sozialmuseum und eine Kommunikationsgrafik 7 7 setzte. Das inhaltliche Programm der Einheitswissenschaft — auch hier ist nur eine partielle Ubereinstimmung mit der Arbeit im Wiener Kreis gegeben — weist bereits auf den im Ausland erweiterten Enzyklopädismus der Unity of Science-Bewegung als offenes und pluralistisches Wissenschaftsmodell — mit analog aufklärerischem Impetus, jedoch ohne Massenpublikum. Die Gegenwartsrelevanz der „Wissenschaftlichen Weltauffassung" ist mit einer kooperativen und kollektiven interdisziplinären Arbeit unter theoretischer Unifizierung oder etwa der Notwendigkeit von „Weltmodellen" gegeben. Ebenso ist eine humane Popularisierung von Wissenschaft in aufklärerischer Absicht ohne Simplifizierung und als transparentes Verfahren gegen undemokratische Wissenschaftstechnologie und unkontrollierbare „big science", die von Alltagserfahrung und common sense abgehoben sind, aktuell. Die Humanisierung müßte dann allerdings die damals ansatzweise vorhandene Inklusion der sozialen und 74 75 76

77

Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis a. a. O. S. 10. Vgl. die laufenden Berichte des Vereins „Volksheim" in Wien 1918 ff. J. Dvorak, Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis a. a. O . (3. Kapitel: Schulreform und Volksbildung). F. Stadler, Universität und Schulreform in der Ersten Republik. In: Universität, Schulreform und Volksbildung. Zweites Hietzinger Symposium 26.127. März 1982. Hrsg. v o n W . Filia. Wien 1982. F. Stadler (Hrsg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit a. a. O. ders., Bildstatistik in der Schule: O t t o Neurath und sein Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Ein Beitrag zur Wiener Schulreform 1925 —1934 in seiner heutigen Bedeutung. In: Zeitgeschichte. Aug./Sept. 1979, H e f t 11/12. S. 401 — 421.

128

Friedrich Stadler

politischen Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs mitreflektieren und eine absolute Subjekt-Objekt-Dichotomie mit einem empiristischen, theoretischen und kulturellen Pluralismus bzw. Relativismus überwinden. N u r dann könnte im Anschluß an die Arbeit im Wiener Kreis die konkrete Utopie nach dem Vorbild der französischen Enzyklopädisten realisiert werden, die auf der Basis eines einheitlichen Welt- und Erkenntnisbegriffes Wissenschaft und Alltag als durchdrungen zeichnet, ganz im Sinne der damaligen Losung: „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf". 78

78

Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis a. a. O . S. 30.

JOHANN DVORAK

Wissenschaftliche Weltauffassung, Volkshochschule und Arbeiterbildung im Wien der Zwischenkriegszeit Am Beispiel von Otto Neurath und Edgar Zilsel I. Zur Interpretation

des Wiener

Kreises

Das herkömmliche Bild des Wiener Kreises ist das eines Philosophenzirkels, der sich besonders mit Fragen der Logik, gelegentlich etwas Erkenntnistheorie und schließlich Sprachphilosophie beschäftigte und dabei empirisch und anti-metaphysisch ausgerichtet war. 1 Weitgehend ausgespart bleiben üblicherweise politische und gesellschaftliche Implikationen des Wissenschaftsprogramms des Wiener Kreises, ja die Existenz eines derartigen Programmes wird bestritten, da die Programm-Schrift von 1929 2 bloß als Manifest des sogenannten linken Flügels betrachtet wird. Mehr noch: politisches Engagement einzelner Mitglieder des Wiener Kreises erscheint als private Marotte, als Tätigkeit neben und außerhalb der ernsthaften wissenschaftlichen, philosophischen Beschäftigung; politische Praxis ist dann auch bloß Ergebnis individueller, irrationaler Entscheidungen, die nichts mit dem rationalen Wissenschafts-Programm zu tun haben und aus ihm auch nicht abgeleitet werden können. 1

2

Charakteristisch d a f ü r ist die Darstellung Victor Krafts : „Es bestand eine gemeinsame G r u n d r i c h t u n g : Das w a r die Wissenschaftlichkeit der Philosophie. Die strengen A n f o r derungen wissenschaftlichen Denkens sollten auch f ü r die Philosophie gelten. . . . U b e r diese allgemeine Einstellung hinaus bestand aber auch eine weitgehende Ubereinstimm u n g in den Grundanschauungen. Es w a r der Empirismus, wie er namentlich von Russell vertreten w u r d e . . . Eine noch engere Gemeinsamkeit in den Grundlagen gab die neue Logik, wie sie Whitehead und Russell . . . ausgebildet hatten. Einen gemeinsamen Ausgangspunkt bildete auch die Philosophie der Sprache, die Ludwig Wittgenstein . . . in seinem Tractatus logico-philosophicus, 1922, entwickelt hatte. In der Auseinandersetzung mit seinen G e d a n k e n , in der sie fort- und umgebildet und z u m Teil überholt w u r d e n , entfaltete sich zu einem großen Teil die Arbeit des Wiener Kreises." Victor K r a f t , D e r Wiener Kreis ( W i e n / N e w Y o r k 1968) 11 f. R. C a r n a p / H . H a h n / O . N e u r a t h , Wissenschaftliche Weltauffassung — D e r W i e n e r Kreis (Wien 1929).

130

Johann Dvorak

In den letzten Jahren wurde zwar in mehreren Arbeiten auf radikale gesellschaftspolitische Zielsetzungen im Zusammenhang mit dem Wiener Kreis hingewiesen, die Beteiligung von Mitgliedern des Wiener Kreises an Schulreformbewegung, Volks- und Arbeiterbildung hervorgehoben . . . 3 aber genützt hat dies offensichtlich wenig, wie am Beispiel eines Ende 1981 erschienenen, durchaus repräsentativen, Sammelbandes über „österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938" 4 zu sehen ist. Darin schreibt ein an der Wiener Universität wirkender Philosoph in einem Beitrag über Wittgenstein und den Wiener Kreis von „der offiziellen Universitätsphilosophie", „zu der der Wiener Kreis ja letztlich zu zählen ist, wenngleich sich die Versuche häuften, ihm eine märtyrerähnliche Außenseiterstellung auf den Leib zu schreiben" 5 ; weiters davon, „daß zwischen den führenden Vertretern . . . sowohl in wissenschaftlicher als auch in politischer Hinsicht durchaus nicht immer Einmütigkeit bestand": „Carnap, Neurath und H a h n bildeten sowohl in ihrer aggressiven antimetaphysischen Grundhaltung als auch in ihrer politischen Einstellung auf Seiten der Sozialdemokratie und des Austromarxismus einen gleichsam radikalen Flügel . .., während Schlick, Waismann, Juhos, Kraft und Zilsel (!) in politischer Hinsicht als bürgerlich-liberal anzusehen waren und die Thesen des Wiener Kreises auch weniger dogmatisch verfochten." 6 Angesichts derartiger Versuche einer Korrektur der Geschichte des Wiener Kreises, bevor diese überhaupt adäquat geschrieben worden ist, scheint es notwendig, sich einige wesentliche Bestandteile der Programmatik des Wiener Kreises zu vergegenwärtigen.

3

W. N . Bartley, Wittgenstein (Quartet Books, 1977); E. Mohn, D e r logische Positivismus ( F r a n k f u r t / M a i n / N e w York 1977); R. Hegselmann, Normativität und Rationalität ( F r a n k f u r t / M a i n / N e w York 1979); F.Stadler, Bildstatistik in der Schule: O t t o Neurath und sein Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum; J. Dvorak, Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis (Wien 1981), Kapitel 3 und 5; E. N e m e t h , Otto Neurath und der Wiener Kreis ( F r a n k f u r t / M . / N e w York 1981).

4

F. Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang (Wien 1981). P. Kampits, D a s Sagbare und das Unsagbare, in: F. Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang (Wien 1981) 409. ibid., 418. Zilsel war Sozialist; die wenigen an der Universität W i e n tätigen Mitglieder des Wiener Kreises waren eine isolierte und verfemte Minderheit; ein Habilitationsversuch Zilsels wurde verhindert, Waismann verlor — wahrscheinlich auf Grund des vorherrschenden Antisemitismus — seine Stellung als wissenschaftliche Hilfskraft. Cf.: F. Stadler, Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrundes und Standorts des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien, in: Wittgenstein, D e r Wiener Kreis und der kritische Rationalismus (Wien 1979) 41 — 59.

5

6

Wissenschaftliche Weltauffassung

131

1929 wurde im Rahmen der „Veröffentlichungen des Vereines Ernst M a c h " die Schrift „Wissenschaftliche Weltauffassung — Der Wiener Kreis" publiziert. 7 Im Geleitwort wird darauf hingewiesen: der „«Wiener Kreis» der wissenschaftlichen Weltauffassung . . . besteht aus Menschen gleicher wissenschaftlicher Grundeinstellung; der einzelne bemüht sich um Eingliederung, jeder schiebt das Verbindende in den Vordergrund, keiner will durch Besonderheit den Zusammenhang stören. . . . Der Wiener Kreis ist bestrebt, mit Gleichgerichteten Fühlung zu nehmen und Einwirkung auf Fernerstehende auszuüben. Die Mitarbeit im V e r e i n E r n s t M a c h ist der Ausdruck für dieses Bemühen". Die Bemühungen gingen dahin, sowohl „die Leistungen der einzelnen Forscher auf den verschiedenen Wissenschaftsgebieten in Verbindung und Einklang zu bringen", als auch „durch Vorträge und Veröffentlichungen" einer weiteren Öffentlichkeit den „augenblicklichen Stand der Wissenschaftlichen Weltauffassung" zu vermitteln. Beabsichtigt war, „Denkwerkzeuge für den Alltag zu formen, für den Alltag der Gelehrten, aber auch für den Alltag aller, die an der bewußten Lebensgestaltung irgendwie mitarbeiten." Es sollten „die gedanklichen Werkzeuge des modernen Empirismus geformt werden, deren auch die öffentliche und private Lebensgestaltung bedarf". 8 Ein wesentliches Ziel der Bestrebungen der Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung war die Einheit der Wissenschaft; aus dieser Zielsetzung ergab sich „die Betonung der Kollektivarbeit". „Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen abgelehnt. . . . Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge. Hier zeigt sich die Verwandtschaft mit den Sophisten, nicht mit den Piatonikern; mit den Epikureern, nicht mit den Pythagoreern; mit allen, die irdisches Wesen und Diesseitigkeit vertreten. Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel." Bemerkenswert ist, in welchem Maße die Notwendigkeit geplanter, gemeinsamer, zusammenhängender Arbeit der Wissenschaftler hervorgehoben wird. D a z u hatte Rudolf Carnap schon im Mai 1928 im V o r wort zu seinem Buch „ D e r logische Aufbau der Welt" gemeint: „Die hier niedergeschriebenen Gedanken fühlen sich getragen von einer 7 8

Cf.Anm.2. ibid., 14 f.

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Schicht von tätig aufnehmend Mitarbeitenden. . . . der Einzelne unternimmt nicht mehr, ein ganzes Gebäude der Philosophie in kühner T a t zu errichten. Sondern jeder arbeitet an seiner bestimmten Stelle innerhalb der einen Gesamtwissenschaft." 9 Und Otto Neurath vertrat dann in seinem 1931 erschienenen W e r k „Empirische Soziologie" die Ansicht: „Die Entfaltung der modernen Wissenschaft, die schließlich das ganze Leben einbezieht, festigt die enge Verbindung der Theoretiker mit den Praktikern." „An die Stelle des ,Philosophieren' tritt dann ,Arbeit an der Einheitswissenschaft'. Alle Bemühungen um Klarheit und Selbstbesinnung sind dann nicht verselbständigt, sondern eingefügt in einen handwerklichen Betrieb, der ein Werkzeug des Lebens bauen hilft." 10 Edgar Zilsel (selbst Vorstandsmitglied im Verein Ernst Mach) hatte schon 1921 als Aufgabe der Philosophie umschrieben, ein „einheitliches Gebäude der Wahrheit zu errichten, das die ganze Natur und alle Ziele des Lebens und der Kunst umspannt"; das Ziel wäre „die Synthese des Einzelwissens und lebendigen Handelns zu einer einheitlichen Weltanschauung". Philosophie hätte demnach zu versuchen, „nicht nur die Einheit des Wissens herzustellen", sondern auch „mit den Grundproblemen des Forschers die des lebendig handelnden Menschen, mit dem menschlichen Erkennen sein Sollen und Fühlen zu vereinen". 11 Philosophie ist bei Zilsel an menschlichem Handeln und menschlicher Handlungsfähigkeit orientiert, sie soll Zusammenhänge herstellen zwischen den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen ebenso wie zwischen Wissenschaft und Alltagsleben. Was bei Zilsel 1921 noch im traditionellen Sprachgebrauch „Philosophie" heißt — wobei dieser begriff abgegrenzt wird gegen die übliche „Schulphilosophie" — heißt später „Einheitswissenschaft", wobei Wissenschaft als kollektive Tätigkeit begriffen wird, als bewußt geplante und betriebene, zusammenhängende, gemeinsame Arbeit der verschiedenen Spezialisten, als Beitrag zur Verbesserung des menschlichen Daseins. Wissenschaft soll nicht länger abgehoben und getrennt sein vom Alltagsleben der Masse der Bevölkerung. Rationales Denken, Planen und Handeln soll nicht länger bloß eine Angelegenheit von Experten

9 10 11

Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt (Ullstein-Bücher, 1979) XVII, X X . Otto Neurath, Empirische Soziologie (Wien 1931) 17 f. Edgar Zilsel, Der einführende Philosophieunterricht an den neuen Oberschulen, in: Volkserziehung (1921) 325, 328.

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sein, zum „Herrschaftswissen" gehören, sondern Sache möglichst aller Menschen. Das Vorhaben der Einheitswissenschaft war keine willkürlich erfundene und propagierte Idee, sondern Ausdruck eines bereits im Gang befindlichen Industrialisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses der Wissenschaft: wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Umsetzung in Technologien, technische Erfindungen waren im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts in zunehmendem Maße in industrielle Produktionsprozesse eingegliedert worden; nicht mehr der genialische Gelehrte in der Studierstube sondern der Mitarbeiter einer (öffentlich oder privat finanzierten) Forschungsanstalt oder Forschungsabteilung innerhalb eines Industriekonzerns war und ist der Normalfall eines Wissenschaftlers. Allerdings erfolgte diese „Industrialisierung" der Wissenschaft unter dem Aspekt privat-kapitalistischer Profitinteressen und somit keineswegs zum Nutzen möglichst aller Menschen; dieser Art von kapitalistischer Vergesellschaftung entspricht dann auch die Isolierung der Wissenschaft vom Leben und ihre Zerstückelung. Dem gegenüber bemühten sich Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises um eine nicht-kapitalistische Vergesellschaftung der Wissenschaft. Und dies sollte in dem Maße gelingen, in dem die wissenschaftliche Weltauffassung „die Formen des öffentlichen und privaten Lebens" durchdringen und „die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten" helfen würde. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Einsichten durften demnach auch nicht länger das Monopol einiger weniger sein, sondern waren möglichst allen Menschen zugänglich zu machen: alle sollten „tätig oder aufnehmend" mitarbeiten. Von daher ergibt sich auch mit Notwendigkeit der enge Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und Bildungsarbeit. Der wahre Radikalismus der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises bestand keineswegs im Physikalismus oder in diversen Parteizugehörigkeiten sondern in der Neubestimmung der gesellschaftlichen Stellung und Aufgaben der Wissenschaft, in dem Versuch einer radikalen Demokratisierung von Wissenschaft, einer systematischen Verbindung von Wissenschaft, Bildung und Alltagsleben. Dieses Wissenschaftsprogramm wurde in wesentlichen Zügen bis in die Emigrationszeit beibehalten und findet seinen Niederschlag noch in Neuraths Enzyklopädie-Projekt; praktisch umgesetzt wurde das Programm zumindest ansatzweise im Rahmen der Wiener Volksbildung der

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20er und frühen 30er Jahre. N u r ansatzweise deswegen, weil nur wenige Jahre Zeit blieb, ehe Austrofaschismus und Nationalsozialismus sowohl die vorhandenen Ansätze in der Volksbildung als auch jede Perspektive einer umfassenden Neugestaltung der Gesellschaft gründlich zerstörten. Jene Vorstellungen einer nicht-kapitalistischen Vergesellschaftung von Wissenschaft, einer Demokratisierung von Wissenschaft, waren und sind nur zu verwirklichen zusammen mit einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft — dies war gerade den Sozialisten unter den Mitgliedern des Wiener Kreises durchaus bewußt, und für sie bedeutete daher die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft zugleich die vollendete Durchsetzung des Wissenschaftsprogramms. Natürlich waren keineswegs alle Mitglieder des Wiener Kreises Befürworter des Sozialismus, aber es ist immerhin auffällig, wie viele von den sogenannten Gemäßigten und Konservativen Beiträge zur Gesellschaftsveränderung leisteten, in der Schulreformbewegung (Popper, Wittgenstein), in der Volksbildung (Waismann, Kraft), im Verein Ernst Mach (Schlick), also bereit waren, ein beträchtliches Stück gemeinsamen Weges mit den Radikalen (Neurath, H a h n , Zilsel, Carnap) zu beschreiten. Das hatten Carnap, H a h n und Neurath schon in ihrem „Manifest" von 1929 reflektiert: „Freilich wird nicht jeder einzelne Anhänger der wissenschaftlichen Weltauffassung ein Kämpfer sein. Mancher wird, der Vereinsamung froh, auf den eisigen Firnen der Logik ein zurückgezogenes Dasein führen; mancher vielleicht sogar die Vermengung mit der Masse schmähen, die bei der Ausbreitung unvermeidliche , T r i v i a l i s i e r u n g ' bedauern, Aber auch ihre Leistungen fügen sich der geschichtlichen Entwicklung ein." 12

Von entscheidender Bedeutung war wohl, daß der Wiener Kreis mit der Gründung des Vereines Ernst Mach 12a eine stabile Organisationsform als bürgerlich-rechtlicher Verein mit Statuten, Zielsetzungen, Funktionären gefunden hatte: der Beitritt zum Verein bedeutete auch ein Bekenntnis zu den in den Statuten niedergelegten Zielsetzungen; es ist kein Zufall, daß die Programmschrift im Gefolge der Vereinsgründung entstand und in den wesentlichen Punkten mit den Zielen des Vereins übereinstimmte. Daher wäre auch in den Beurteilungen der politischen Differenzen zwischen „Gemäßigten" und „Radikalen" das Kriterium der Praxis anzuwenden: es existierten zwar unterschiedlich Mei12 I2a

Carnap/Hahn/Neurath, op. cit., 30. Cf. den Beitrag von F. Stadler in diesem Band.

Wissenschaftliche Weltauffassung

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nungen, Sympathien und Antipathien, aber es gab vor allem einen organisierten Arbeitszusammenhang in Form des Vereins, dem man weiterhin angehörte.

II. Volkshochschule und

Arbeiterbildung

Rudolf Carnap, H a n s H a h n und O t t o N e u r a t h hatten 1929 in der Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung — D e r Wiener Kreis" die Verbundenheit mit „Bestrebungen . . . zur Erneuerung der Schule und Erziehung" hervorgehoben und sich selber in der Tradition liberaler Gelehrter im Wien des 19. Jahrhunderts gesehen, die im Geiste der Aufklärung agiert und sich von daher auch der Volksbildung angenommen hatten. „Diesem Geist der Aufklärung ist es zu verdanken, daß Wien in der wissenschaftlich orientierten Volksbildung führend gewesen ist. Damals wurde unter Mitwirkung von Victor Adler und Friedrich Jodl der Volksbildungsverein gegründet und weitergeführt; die „volkstümlichen Universitätskurse" und das „Volksheim" wurden eingerichtet durch Ludo H a r t m a n n , den bekannten Historiker, dessen antimetaphysische Einstellung und materialistische Geschichtsauffassung in all seinen W e r k e n zum Ausdruck kam. Aus dem gleichen Geist stammt auch die Bewegung der „Freien Schule", die die Vorläuferin der heutigen Schulreform gewesen ist." 13 Edgar Zilsel schrieb im V o r w o r t zu seinem 1926 erschienenen Buch „Die Entstehung des Geniebegriffs": „ D e r Verfasser ist an den W i e n e r V o l k s h o c h s c h u l e n als Lehrer der Philosophie und Physik tätig. N u n spiegeln sich die g e g e b e n e n Bedingungen der V o l k s h o c h s c h u l e auch in ihrer Art Wissenschaft zu treiben : enge Abgrenz u n g der einzelnen Fächer ist der Entwicklungsstufe der Lehranstalt nicht gemäß, denn ein junger Organismus will Früchte, nicht H o l z ; der B e z u g auf große Probleme ist unentbehrlich, denn polemische Auseinandersetzungen über gelehrte Einzelfragen allein v e r m ö g e n die H ö r e r s c h a f t nicht zu interessieren; metaphysisch gefärbte Unsachlichkeit hat keinen Reiz, denn Arbeiter und Angestellte — sie überwiegen unter den W i e n e r V o l k s h o c h schülern — stehen auch dem schöngeistigen Wissenschaftsbetrieb, auch dem Literatentum ferne. . . . Für den Fall, daß die U n t e r s u c h u n g sich als fruchtbar für die Wissenschaft erweisen sollte, m ö g e sie den W i e n e r V o l k s hochschulen Ehre machen. Sie könnte dann b e z e u g e n , daß heute schon g e 13

ibid., 10.

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rade an der Volkshochschule die l e b e n d i g e Wissenschaft eine Stätte gefunden hat."14 Daß an Volkshochschulen Wissenschaft betrieben wird, erscheint heute als völlig abwegiger Gedanke, war aber im Wien der Zwischenkriegszeit Wirklichkeit (nicht zuletzt deswegen, weil bedeutenden Gelehrten jede Universitäts-Karriere von den etablierten Universitätsprofessoren verbaut wurde): an den Wiener Volkshochschulen hatten die fortgeschrittensten Ergebnisse der Wissenschaft, die im bürgerlich-akademischen Wissenschaftsbetrieb umstritten und verfemt waren (von der Relativitätstheorie bis zur Psychoanalyse), ebenso ihren festen Platz, wie neue Modelle der wissenschaftlichen Tätigkeit und der Bildungsarbeit. Es existiert ein enger struktureller Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und vernünftiger Bildungsarbeit: vor allem dann, wenn Bildung als Prozeß der Herstellung des Zusammenhanges zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, individuellen und gesellschaftlichen Lebens-Perspektiven begriffen wird. Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung, wie eben Otto Neurath, Edgar Zilsel, Friedrich Waismann, Viktor Kraft, unterrichteten an den Wiener Volkshochschulen. Die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Verbindung mit Weltbild und Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer dürfte der damaligen Wiener Volksbildung (vor allem im Bereich des Volksheimes Ottakring) in beträchtlichem Umfang gelungen sein. Die Volkshochschule erreichte damals alle Schichten der Bevölkerung, Arbeiter und Angestellte waren in manchen Jahren sogar — verglichen mit ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung — erheblich überrepräsentiert. 15 Obwohl die strikte Einhaltung weltanschaulicher und politischer Neutralität zu den Grundsätzen der Wiener Volkshochschulen gehörte, waren offenbar zahlreiche Arbeiter der Meinung, daß die angebotenen Programme für ihr Leben von Bedeutung sein und sie in die Lage versetzt werden könnten, den Aufbau des eigenen Weltbildes und Lebensplanes zu betreiben. Die von ihren Prinzipien her politisch wie weltanschaulich n e u t r a l e Wiener Volksbildung war von ihrer Wirkung her keineswegs neutral oder unpolitisch: sie scheint durchaus Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt zu haben, die es den einzelnen Teilnehmern ermöglichten, 14 15

Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffs (Tübingen 1926) V. N. Kutalek/H. Fellinger, Zur Wiener Volksbildung (Wien/München 1969) 199.

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selbständig weiter zu denken und gemeinsam mit andern die gesellschaftlichen Verhältnisse besser zu verstehen und zu gestalten; die Volksbildung leistete so einen wichtigen Beitrag zur Bildung der Arbeiterklasse. Daher ist die Wiener Volksbildung der 1. Republik auch nicht von der Arbeiterbildung zu trennen. Man kann allerdings von einer funktionellen Arbeitsteilung zwischen der sozialdemokratischen Bildungsarbeit und der Volksbildung sprechen. Während die Bildungsarbeit der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Österreichs (SDAP) sich wesentlich auf Funktionäre-Schulung beschränkte, erfüllte die Volksbildung die Funktion der organisierten Massenbildung. Otto Neurath unterrichtete sowohl an Volkshochschulen wie an der Parteihochschule der SDAP und nahm auch Anteil an der freigewerkschaftlichen Bildungsarbeit; dabei war Arbeiterbildung für ihn wesentlich Massenbildung: „Die Arbeiterbildung trägt zur Entfaltung des einzelnen bei. Sie beeinflußt sein Handeln, seine Freude an Menschen und Dingen, seine Eingliederung in die organisierte Arbeiterschaft. Dabei spielt die Aufklärung über Menschen und Dinge, über Zusammenhänge aller Art eine entscheidende Rolle. Weniger die Erregung von Begeisterung, die Schilderung herrlicher Ziele steht im Vordergrund, weit mehr die rein sachliche Beschreibung dessen, was ist. Der kämpfende sozialistische Arbeiter muß wissen, welche Aussichten die Arbeiterbewegung hat, welche H e m m u n g e n vorauszusehen sind, weil möglichst richtige Voraussagen das Vertrauen stärken, die Zuversicht erhöhen, Enttäuschungen weniger aufkommen lassen." 16

Aber die Rolle der Bildungsarbeit darf nicht isoliert gesehen werden von der damit zu verbindenden Umgestaltung der Lebensverhältnisse insgesamt. Was Neuraths Überlegungen dabei von andern in der Arbeiterbewegung vertretenen Auffassungen unterscheidet, ist, daß er zunächst die reale Lebenslage der arbeitenden Klassen, ihren realen Bewußtseinsstand (und dessen Ursachen) untersucht und davon ausgehend Schwerpunkte der Bildungsarbeit setzt; fremd ist ihm jede moralisierende Haltung, jeder Bildungsidealismus — „Bildung" ist ihm kein höheres Gut, sondern Werkzeug im alltäglichen Leben. Während gemäß der kautskyanisch-leninistischen Konzeption von der Stellung der Intelligenz in der Arbeiterbewegung den wissenden Intellektuellen die Rolle der Verbreitung der Wahrheit unterm unwissenden Proletariat zukommt, setzt Neurath an bei den bereits im Gange be16

O t t o Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, in: Arbeiter-Zeitung, 13. Oktober 1929, p. 17.

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findlichen gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen, sieht, daß die Arbeiter Interesse an Bildung nur haben können im Zusammenhang mit der damit zu verknüpfenden unmittelbaren Verbesserung ihrer materiellen Lebensverhältnisse. „In der Arbeiterbewegung wird etwas von der kommenden Menschheitsgemeinschaft vorweggenommen. D e r einzelne freilich wird für jene Zukunft und ihr Glück vor allem dann große O p fer bringen und für sie kämpfen, wenn auf diese Weise auch die N o t des Tages gelindert wird." 1 7 Die wissenschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises bedeutete auf dem Gebiete der Volksbildung eine Fortsetzung und wesentliche Weiterentwicklung der aufklärerischen Bemühungen bürgerlicher G e lehrter in der Spätzeit der Habsburgermonarchie; im Bereich der Arbeiterbildung unterschied sie sich deutlich von den im austromarxistischen Lager vorherrschenden Tendenzen und Versuchen, eine Art Ersatzreligion für Arbeiter zu schaffen, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Arbeiter selbst bereits weitgehend areligiös und antiklerikal eingestellt waren.

III. Wissenschaftliche

Weltauffassung, Materialismus und die Kultur der Arbeiterklasse

O t t o Neurath und Edgar Zilsel setzten sich mehrmals mit wissenschafts- und bildungstheoretischen Positionen auseinander, die innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie ζ. B. von Max Adler vertreten wurden und die ihnen eine Beeinträchtigung der Wissenschaft wie der Bildungsarbeit zu bedeuten schienen; Otto Neurath stützte sich dabei auf eine materialistische Kultur-Theorie, die dazu verhelfen sollte, den realen Bewußtseinsstand der Arbeiter zu erklären und in der Bildungsarbeit an ihn anzuknüpfen, während Edgar Zilsel die Versuche einer neukantianischen Revision der Marxschen T h e o r i e und einer Aufspaltung der Wissenschaft durch M a x Adler kritisierte. Edgar Zilsel nahm die Rezension eines Buches von Max Adler zum Anlaß, sich mit dem Problem des Materialismus auseinanderzusetzen. Max Adler hatte sich in seinem „Lehrbuch der materialistischen G e schichtsauffassung" bemüht, Marx und Engels vor dem Anwurf des „Materialismus" in Schutz zu nehmen. S o meint er im Anschluß an ein 17

Otto Neurath, Lebensgestaltung und Klassenkampf, in: Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 1 (Wien 1981) 228.

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Marx-Zitat (nämlich die erste These ad Feuerbach), in dem als „Hauptmangel alles bisherigen Materialismus" bezeichnet wird, „daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv": „Hier also bezeichnet es Marx als den Grundfehler des Materialismus, daß er für die menschliche Tätigkeit keinen Raum gelassen hat, indem er nur das Objekt kennt, nur materielle Zusammenhänge, so daß er auch alles Geistige nur als etwas äußerlich Angeschautes, als Produkt der Materie betrachten kann, nicht aber es in seiner innerlichen, subjektiven Aktivität zu erfassen imstande ist." 18

N u n war Marx weder ein Anhänger der Innerlichkeit, noch kritisierte er am Materialismus, daß dieser nur materielle Zusammenhänge kennt. Zum Wesen des Marxschen Materialismus gehört, daß die Frage, ob und was denn der Mensch überhaupt erkennen könne, ebenso bedeutungslos wird wie die, ob eine Welt unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existiere: für den Menschen erfolgt die Erkenntnis der Welt nicht bloß durch Anschauung und Spekulation, sondern durch tätige Aneignung, durch Arbeit. Daher existiert für den Menschen niemals die Welt an sich, die äußere Natur an sich, als bloßes Objekt der Betrachtung, der Erkenntnis, sondern stets schon als Bestandteil einer (vom Menschen) bearbeiteten Welt, einer (durch menschliche Arbeit) angeeigneten Natur. Von daher ist auch eine — gar erkenntnistheoretisch begründete — prinzipielle Trennung der Welt-Erkenntnis in eine der N a tur und eine der Gesellschaft für Marx völlig uneinsichtig gewesen und ergibt sich auch seine Auffassung von der Notwendigkeit der Einheit der Wissenschaft. Max Adler dagegen interpretiert Marx dahingehend, daß für ihn „der prinzipielle Unterschied zwischen einer sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Betrachtung" 19 existiere und daß bei ihm „die Herausbildung seines eigenen Standpunktes auch nach der bewußten Überwindung Hegels auf der Linie der scharfen Unterscheidung einer gesellschaftlichen Naturgesetzlichkeit von der bloßen physischen Naturgesetzlichkeit" liege. 20 18

19 20

Max Adler, Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung, l . B a n d (Berlin 1930). Zit. wird nach der 1964 im Europa-Verlag unter dem Titel „Grundlegung der materialistischen Geschichtsauffassung" erschienenen Ausgabe, op. cit., 74. ibid., 165. ibid., 163.

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Marx und Engels haben — nach Adlers Meinung — „den logischen Unterschied des sozialwissenschaftlichen Standpunktes gegenüber dem naturwissenschaftlichen" bewußt formuliert. 2 1 Edgar Zilsel, der sich um eine Synthese von wissenschaftlicher Weltauffassung und Marxismus bemühte 2 2 , wendete sich gegen den Versuch Max Adlers, unter Berufung auf Marx und Engels, eine prinzipielle Trennung der Erkenntnis-Bereiche in die der Natur und die der Gesellschaft einzuführen und gleichzeitig damit das Geistige gegenüber dem bloß Physischen hervorzuheben. Zilsel weist zunächst auf eine wichtige Wurzel antimaterialistischer Einstellung in der christlichen Auffassung hin, nämlich daß „alles Leibliche eher niedrig, das Seelische, Geistige hingegen edel und erhaben sei"; diese Art der Ablehnung des Materialismus, meint er, sei jedenfalls für die Arbeiterbewegung bereits weitgehend belanglos geworden. Er fährt fort: „Nicht belanglos ist jedoch ihre wissenschaftsartige Verdünnung, die in den Kreisen unserer Intellektuellen und besonders unserer Schulphilosophie heimisch ist. D e r Materialismus gilt dort nicht mehr als teuflisch, aber als etwas anderes: als ,seicht', als ,flach'. J a , was heißen denn diese merkwürdigen Worte eigentlich? Die Lehre von den mechanisch stoßenden Atomen ist wissenschaftlich überholt: die Behauptung, Psychisches lasse sich aus Stoffvorgängen einfach ableiten, hat sich bisher nicht bewährt und ist höchstwahrscheinlich auch für alle Zukunft falsch; der Materialismus ist zu eng, denn die verwickelten Probleme der seelischen Innenwelt überschreiten seinen Rahmen. Aber wenn nur dies gemeint ist, warum sagt man es denn nicht, warum nennt man ihn denn nicht überholt, eng, falsch? W a r u m heißt er seit fünfzig Jahren stets flach, platt, seicht? Dieser — warum sollen nicht auch wir einmal Kant zitieren? — dieser neuerdings erhobene vornehme T o n in der Philosophie scheint zu glauben, es sei u n f e i n , in der guten G e sellschaft bei jedem seelischen Zusammenhang immer wieder von diesem plebejischen Gehirn zu reden. Es ist nämlich viel tiefer in der Wissenschaft 21 22

ibid., 162. S o schrieb er ζ. B.: „Jenes wirkliche Leben zum Beispiel, das sich heute in der Philosophie zu regen beginnt, wurzelt doch nur in der Mathematik und Naturwissenschaft unserer Zeit, vor allem in der mathematischen Physik; es fehlt dieser Philosophie, so jung und kühn sie ist, sehr zu ihrem Schaden das Verständnis und das Interesse für G e schichte und Gesellschaft. An dem marxistischen Sozialismus aber kann man historisch denken und die gewaltigen Probleme der Gesellschaft sehen lernen, kann man lernen, daß die Geschichte unter allen gesetzmäßigen N a t u r v o r g ä n g e n der verwickeltste und auch Naturwissenschaft gesellschaftlich bedingt ist." „ ( D e r marxistische Sozialismus) stellt nämlich eine Verschmelzung naturwissenschaftlicher und historisch-soziologischer G e d a n k e n g ä n g e dar, eine Verschmelzung, die sehr selten, für die philosophische Gesamttheorie aber unentbehrlich ist." E d g a r Zilsel, Philosophische Bemerkungen, in: D e r K a m p f , X X I I (1929) 186.

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schöngeistige Seelenlyrik zu treiben o d e r s o lange professoral-scholastisch sich in „Erkenntnistheorie" zu verwickeln, bis man richtig die E r f a h r u n g s tatsache vergessen hat, daß Seelisches separat nie v o r k o m m t . D i e Verbind u n g zwischen den W o r t e n materialistisch und seicht hat sich g e n a u in jenen J a h r z e h n t e n eingestellt, in denen Proletarier anfingen Seelengespenster abzulehnen und auch sonst u n b e q u e m zu w e r d e n . " 2 3

Während der theoretische Kampf gegen den Materialismus verbunden war mit der Verklärung des Geistigen und der Verachtung der Arbeit, hatten die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung ihre Tätigkeit in der N ä h e alltäglicher Arbeit angesiedelt; durch ihre Betonung kollektiver wissenschaftlicher Arbeit wiesen sie ein hohes Maß an Affinität zur Kultur der Arbeiterklasse auf. Die Kultur der Arbeiterklasse ist zum Unterschied von der des Bürgertums keine individualistische, sondern eine kollektive: der einzelne Arbeiter ist hilf- und wehrlos den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft ausgeliefert; nur wenn die Arbeiter sich in möglichst großen Organisationen zusammenschließen, sind sie in der Lage, ihre Interessen wahrzunehmen. Was sie produzieren, sowohl in den Fabriken wie auch kulturell, produzieren sie kollektiv. „ G e r a d e innerhalb der Arbeiterschaft entwickelt sich der Sinn d a f ü r , daß der einzelne s o gut wie nichts, die geschlossene F r o n t der Arbeiterschaft unerwartet viel erreicht! U n d so wird die G e m e i n s c h a f t , die Solidarität z u r obersten Richtschnur. Sie wird vor allem geschätzt, g e f ö r d e r t , unterstützt! Nicht-Solidarität wird z u m schlimmsten S c h i m p f ! S a g t einer, der den Streik gebrochen, der Streik habe seine persönlichen G r u n d a n s c h a u u n g widersprochen, so m a g das innerhalb einer bürgerlichen G e m e i n s c h a f t als Entschuldigung gelten, selbst dann, wenn man den Streikbrecher s t r a f t ; innerhalb sozialistischer Arbeitermassen wird g a r o f t die Antwort sein : W a s geht uns deine persönliche U b e r z e u g u n g an, wir verlangen vor allem Solidarität!"24

Mit den kulturellen Errungenschaften der Arbeiterklasse — der S o lidarität, des gemeinsamen Handelns, der Ausformung von Massenorganisationen (Gewerkschaften, Arbeiterparteien) — werden schon jetzt zumindest ansatzweise die Prinzipien und Praktiken einer künftigen besseren Lebensweise entfaltet. Es wäre aber falsch, dies auf individuelle lebensreformerische Bestrebungen reduzieren zu wollen. D a s Proletariat 23

24

Edgar Zilsel, Materialismus und marxistische Geschichtsauffassung, in: Der Kampf, X X I V (1931) 73 f. Otto Neurath, Lebensgestaltung und Klassenkampf, in: Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften (Wien 1981) 233.

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kämpft nicht für die Verwirklichung irgendwelcher Ideale, „sondern vor allem um sein tägliches Dasein zu verbessern". 25 Daher erscheint in den Augen bürgerlicher Weltverbesserer, die infolge ihrer privilegierten gesellschaftlichen Stellung Zeit haben, sich mit Fragen individueller Lebensreform, alternativen Lebens, ausführlich zu beschäftigen, die alltägliche Lebensweise vieler Arbeiter so gar nicht zukunftsfroh und neuen Trends aufgeschlossen, sondern kleinlich und konservativ. Otto Neurath erklärte das folgendermaßen : „Der ,Geist der neuen Zeit' zeigt sich im Proletariat mehr dort, w o gemeinsam Großes unternommen wird, als dort, w o der einzelne Proletarier sein persönliches Leben einrichtet. Stadtanlage und W o h n u n g sind nur als Beispiel gedacht. Die Gestaltung des persönlichen Lebens wird im Proletariat nicht intensiv in Angriff genommen. Es kann aber auch nicht viel anders sein. In bürgerlichen Kreisen hat man für Fragen der Lebensreform viel mehr Zeit. . . . Diese Fragen können sich Proletarier aber nur selten stellen, denn der Kampf des Tages nimmt ihre Kräfte für andere Dinge ununterbrochen in Anspruch. Es gilt zunächst, weit Gröberes und Derberes ins reine zu bringen, für des Lebens Notdurft zu sorgen, die Arbeitslosen zu sichern, nicht ihre Wohnungseinrichtungen zu ändern." 26

Allerdings sind gerade diese Verbesserungen der Lebenslage der arbeitenden Klassen verbunden mit Prozessen der Aufklärung und Selbstaufklärung, mit Wissenschaft und Bildung. Angesichts der Tatsache, daß das Bürgertum — insbesondere in Mitteleuropa — sich aller aufklärerischen Traditionen entledigt hatte und den Kulten des Irrationalismus huldigte, während das Proletariat eine rationale Gestaltung der Gesellschaft anstrebte, bestand durchaus die H o f f n u n g : „Gerade das Proletariat wird zum Träger der Wissenschaft ohne Metaphysik." 27 Die wissenschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises war eine Philosophie der Praxis; ihr Ende fand sie nicht, weil sie an theoretische Grenzen gestoßen war und ihr Programm neu formuliert werden mußte — ihre Bemühungen wurden von außen zerstört: durch das klerikal-faschistische Regime in Osterreich und den Nationalsozialismus in Deutschland. Die theoretischen Diskussionen in der Zeitschrift „Erkenntnis" mußten nach 1933 in einer Art Sklavensprache geführt werden; politi25 26 27

ibid., 293. ibid., 236 f. ibid., 293.

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sehe Implikationen der wissenschaftlichen Weltauffassung waren jedenfalls zu leugnen. Um so leichter fiel es später, in Darstellung und Interpretation des Wiener Kreises, dessen Tätigkeit auf Bereiche wie formale Logik, Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie einzuschränken und darüber hinausreichende Aspekte auszuklammern. Die umfassende Konzeption einer Demokratisierung von Wissenschaft und Bildung, einer Verbindung von wissenschaftlicher Tätigkeit, Bildungsarbeit und Alltagsleben, hat durchaus aktuelle Bedeutung: zu überlegen ist, wie an das Programm des Wiener Kreises theoretisch wie praktisch anzuknüpfen wäre.

M I C H A E L HEIDELBERGER

Zerspaltung und Einheit: vom logischen Aufbau der Welt zum Physikalismus Einleitung Die Mitglieder des frühen „Wiener Kreises" 1 waren wohl alle mehr oder weniger Anhänger eines „logischen Positivismus". Nach dieser Auffassung steht am Anfang jeden Erkennens das „unverarbeitete, erlebnismäßig Gegebene" 2 , der „unmittelbare Erlebnisinhalt" 3 , wovon und nur wovon sich alle anderen Gegenstände der Erkenntnis herleiten. Dieser empiristisch-positivistische Ansatz wird verknüpft mit der Methode der logischen Analyse : Mit den Mitteln der Logik soll der Nachweis erbracht werden, daß und wie die einzelnen Gegenstände der Erkenntnis auf das Gegebene zurückführbar sind. Alle solchen Aussagen galten als sinnlos, die nicht entweder auf das Erlebnisgegebene zurückgeführt werden können oder der Logik und Mathematik angehören. Der große Versuch des Wiener Kreises in diesem Programm war Rudolf Carnaps Buch „Der logische Aufbau der Welt", an dem Carnap seit ca. 1922 gearbeitet hatte und das 1928 erschien 4 . Carnap stellt darin 1

Dieser Aufsatz setzt schon eine grobe Vertrautheit mit der Geschichte des Wiener Kreises und verwandter Gruppen voraus. Die nach meiner Auffassung bisher beste Darstellung gibt Frank (1949), 1 — 52. Weitere Darstellungen: Hegselmann (1979), Stegmüller (1965), Mohn (1977) Schnitzler (1980), Joergensen (1951), Kraft (1968), Carnap (1963), Feigl (1969). Wichtig ist auch die Sicht, die Neurath von der Vorgeschichte gibt: Neurath (1936). Vgl. auch Neider (1977) und Mengers Vorwort zu H a h n (1980). Nützlich auch Krügers Einführung zu Krüger (1970), 13 — 37 und Ayer (1959), (1977), (1981).

2

Carnap (1928), § 75, S. 105. Carnap (1930/31), 24. Carnap (1963), 16 und im Vorwort zur zweiten Auflage vom „logischen Aufbau", das 1961 geschrieben wurde: (1928), X. Eine prägnante Zusammenfassung der wichtigsten Ideen des „Aufbaus" findet sich in Neurath (1929), 317 f. Stegmüllers Darstellung (1965), 387-392, gibt auch eine erste Idee der logisch-technischen Seite. K r a f t (1968), 77-105, ist ausführlicher. Vgl. auch Joergensen (1951), 29-40. Frank (1949), 33, sieht den „Aufbau" als Synthese von Poincaré und Mach. Mit Carnap habe die neue Philosophie ihre „klassische" Ausgestaltung bekommen. Stegmüllers (1967) Besprechung der zweiten Auflage von Carnap (1928) gibt eine Einschätzung von der gegenwärtigen Lage der analytischen Philosophie her gesehen.

3 4

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ein sogenanntes „Konstitutionssystem" der Begriffe auf. Ein solches System soll einerseits zeigen, wie man alle Begriffe stufenweise aus wenigen Grundbegriffen ableiten kann, „so daß sich ein Stammbaum der Begriffe ergibt, in dem jeder Begriff seinen bestimmten Platz findet" 5 . Andererseits soll aus den so möglichen Stammbäumen derjenige gewählt werden, der die den Begriffen entsprechenden Erkenntnisgegenstände nach ihrer „erkenntnismäßigen Primarität" 6 ordnet. Dabei ist „ein Gegenstand ,erkenntnismäßig primär' in bezug auf einen andern, den ,erkenntnismäßig sekundären', wenn der andere durch die Vermittlung des ersteren erkannt wird und daher zu seiner Erkennung die Erkennung des ersten voraussetzt" 6 . Der Stammbaum der Begriffe ist also in zweierlei Hinsicht geordnet, in bezug auf die logische Konstitution (Definierbarkeit) der späteren Begriffe durch frühere und in bezug auf die erkenntnistheoretische Zurückführbarkeit der späteren Begriffe auf die früheren. Die nicht mehr weiter zurückführbaren und nicht mehr definierbaren Grundelemente des Konstitutionssystems sind die „Elementarerlebnisse", die T o talität eines momentanen Bewußtseinsvorganges oder Erlebnisses. Von dieser so genannten „eigenpsychischen Basis" aus werden die anderen Gegenstandsarten konstituiert: als nächstes die physischen Gegenstände, dann die fremdpsychischen und schließlich die geistigen. Unter den geistigen Gegenständen versteht Carnap kulturelle, historische, soziologische Gegenstände, überhaupt alle „Gebilde, Eigenschaften, Beziehungen, Vorgänge, Zustände usw. der Technik, der Wirtschaft, des Rechts, der Politik, der Sprache, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion u. s. f." 7 . Auch die ethischen Gegenstände sind konstituierbar, entweder aus „Werterlebnissen" oder direkt aus den physischen Gegenständen 8 . Carnap betont immer wieder, daß die einzelnen Gegenstandsarten selbständig sind, daß man sie sich nicht aus anderen Gegenständen zusammengesetzt denken darf. Wenn aber die Wissenschaft als Konstitu5 6 7 8

Carnap (1928), § 1, S. 1. Carnap (1928), §54, S. 74. Carnap (1928) J 151, S. 202. Siehe dazu Carnap (1928), § 152, S. 203 f. In § 59, S. 81, beruft sich Carnap auf Wilhelm Ostwald, Die Philosophie der Werte, Leipzig 1913: „Es könnte fraglich erscheinen, ob in einem Konstitutionssystem mit physischer Basis auch das Gebiet der Werte Platz findet. Dieser Zweifel ist jedoch beseitigt durch die von Ostwald [Werte] gegebene Ableitung der Werte verschiedener Arten auf energetischer Grundlage (im Anschluß an den zweiten Hauptsatz der Energetik, mit Hilfe des Dissipationsbegriffes)".

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tionssystem aufgebaut werden kann, ist trotzdem sichergestellt, daß die Wissenschaft der „logischen Bedeutung ihrer Aussagen nach" ein einheitliches Gegenstandsgebiet darstellt: „Das Konstitutionssystem zeigt", so schreibt Carnap, „daß alle G e g e n stände sich aus ,meinen Elementarerlebnissen' als Grundelementen konstituieren lassen; mit anderen W o r t e n (denn das bedeutet der Ausdruck k o n stituieren'): alle (wissenschaftlichen) Aussagen lassen sich unter Beibehaltung der logischen W e r t e u m f o r m e n in Aussagen über meine Erlebnisse (genauer: über B e z i e h u n g e n z w i s c h e n ihnen). Jeder Gegenstand, der nicht selbst eins meiner Erlebnisse ist, ist somit ein Quasigegenstand; sein N a m e ist ein abkürzendes Hilfsmittel, um über meine Erlebnisse z u sprechen. U n d zwar ist der N a m e innerhalb der Konstitutionstheorie und damit innerhalb der rationalen Wissenschaft nur e ine Abkürzung; ob er außerdem n o c h etwas ,an sich Bestehendes' bezeichnet, ist eine Frage der Metaphysik, die innerhalb der Wissenschaft keinen Platz hat" 9 .

Von vielen empiristischen Philosophen, angefangen mit Hume und Locke über Mach, James und Russell ist immer wieder versichert worden, daß alle Begriffe auf das Gegebene zurückführbar sind; Carnap ist in der konkreten und detaillierten Durchführung dieses Programms noch am weitesten gegangen. Sein Versuch ist aber nicht bloß als eine akademische Fingerübung zu bewerten, sondern steht im Zusammenhang mit anderen Bestrebungen seiner Zeit. „Die Grundeinstellung und die Gedankengänge dieses Buches", so schreibt Carnap im Vorwort zum „Aufbau", „sind nicht Eigentum und Sache des Verfassers allein, sondern gehören einer bestimmten wissenschaftlichen Atmosphäre an, die ein Einzelner weder erzeugt hat, noch umfassen kann" 10 . Die besagte Grundeinstellung ergibt sich in erster Linie aus dem Streben nach der Einheit der Wissenschaft. „Als Ziel [der wissenschaftlichen Weltauffassung] schwebt die Einheitswissenschaft vor", heißt es in der Programmschrift des Wiener Kreises von 1929 Das Streben nach der Einheit der Wissenschaft ist aber nicht die einzige Grundeinstellung, die den Mitgliedern des Wiener Kreises gemeinsam ist. Eine weitere ebenso wichtige Einstellung bestimmt das Streben nach Einheit von Wissenschaft und Leben. Am Ende der Programmschrift steht der Satz: „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf "12 « 10 11 12

Carnap (1928), $ 160, S. 220. Carnap (1928), S. XIX (Vorwort zur ersten Auflage). Neurath (1929), S. 305. Neurath (1929), S. 315.

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Im folgenden möchte ich zeigen, wie dieser Wunsch nach Versöhnung von Wissenschaft und Leben in Konflikt gerät mit dem Aufbau einer einheitlichen Gesamtwissenschaft, wie ihn sich der frühe Wiener Kreis mit Carnaps Versuch vorgestellt hatte. Aus diesem Konflikt heraus erwuchs eine neue philosophische Position, der Physikalismus, dem sich viele Anhänger des Wiener Kreises später zuwandten.

Das Problem der Einheit der Wissenschaft Ursprünglich sah der Wiener Kreis seine Aufgabe darin, traditionelle philosophische Probleme durch logische Analyse der Sprache zu klären, Begriffe und Aussagen der empirischen Wissenschaften zu analysieren und von metaphysischen Elementen zu befreien. Bald kamen aber Hans Hahn, Philipp Frank und vor allem Otto Neurath zur Uberzeugung, daß dies noch nicht ausreicht 13 . Es müsse noch zusätzlich ein Verfahren zur Integration der verschiedenen Spielarten des menschlichen Denkens gefunden werden, das nicht selbst wieder metaphysisch ist. Gerade bei Naturwissenschaftlern beobachtete man häufig eine Neigung, zwar die einzelnen Sparten der menschlichen Erkenntnis, also die Wissenschaften, als metaphysikfrei anzusehen und auch so zu betreiben, aber in der philosophischen „Zusammenschau" der Wissenschaften sich wieder metaphysischer Konzeptionen zu bedienen. Als Alternative zu diesem Vorgehen bot sich an, den von Mach vorgezeichneten Weg zu gehen und einen Zusammenhang der Grundbegriffe der einzelnen Wissenschaften schon auf der Objektebene nachzuweisen l 4 . Auch Moritz Schlick war dieser Gedanke nicht fremd. Schon in seiner „Allgemeinen Erkenntnislehre" von 1918 spricht er von der Einheit der Erkenntnis : „Wir sind . . . von der Uberzeugung durchdrungen, daß alle Qualitäten des Universums, daß alles Sein überhaupt insofern von einer und derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zugänglich gemacht werden kann. In diesem Sinne bekennen wir uns zu einem Monismus. Es gibt nur eine Art des Wirklichen — das heißt für uns : wir brauchen im Prinzip nur ein System von Begriffen zur Erkenntnis aller Dinge des Universums, und es gibt nicht daneben noch eine oder mehrere Klassen von erfahrbaren Dingen, für die jenes System 13

n

Frank (1949), S. 36. Siehe Frank (1938).

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nicht paßte" 15 . Und noch einmal betont er 1930 die Einheit der Wissenschaft: „Nicht erst sub specie aeterni, sondern schon auf dem Standpunkt, den wir als Philosophen heute einnehmen können, gibt es nur einen Begriff der Wissenschaft, nur eine Methode, nur eine Wirklichkeit als Gegenstand der Erkenntnis. Die Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften ist etwas Praktisch-Provisorisches, die Unterschiede zwischen den einzelnen Disziplinen reichen nicht bis zum innersten Kern, der uns allein interessiert" 16 . Als Carnap 1926 nach Wien umzog, brach sich die Uberzeugung Bahn, daß mit der Konstitutionsmethode des „logischen Aufbaus der Welt" die gewünschte Einheit der Wissenschaft überzeugend demonstriert werden könne 1 7 . Die Einheit wird nicht erreicht durch eine metaphysische Zusammenschau qualitativ unterschiedlicher Bereiche, sondern durch Nachweis der Einheit schon des Gegenstandsbereiches. Dieser Nachweis wird geführt durch Konstruktion eines einheitlichen Begriffssystems, das heterogen erscheinende Bereiche miteinander verbindet und so von einer einzigen Art von Gegenständen zu sprechen erlaubt. „Die Gegenstände zerfallen nicht in verschiedene, unzusammenhängende Gebiete, sondern es gibt nur ein Gebiet von Gegenständen und daher nur eine Wissenschaft" 18 , schreibt Carnap 1928 und bei Schlick heißt es 1929: „Dadurch, daß die Erkenntnis von einzelnen wahren Sätzen zu immer allgemeineren aufsteigt, schließen sich die Teile von selbst zu einem Ganzen zusammen. . . . So ist die Wissenschaft eine Einheit. Sie ist kein Mosaik, kein Hain, in dem verschiedene Baumarten nebeneinander stehen, sondern ein Baum mit vielen Zweigen und Blättern. Sie gibt die Erkenntnis der Einen Welt, die auch nicht in verschiedene Wirklichkeiten auseinanderfällt" W o mit solcher Emphase eine Einheit gefordert wird, muß die Erfahrung von Uneinheitlichkeit vorangegangen sein. Carnap spricht vom „Zerfall", vom „Zerfall der Gesamtwissenschaft in die einzelnen beziehungslos nebeneinander stehenden Teilwissenschaften" 20 , von der „Zerspaltung der Wissenschaft" 21 . 15

17 18 19

20 21

Schlick (1918), S. 276 f. Eine kurze Übersicht von Schlicks Buch findet sich in Neurath (1929), S. 325 f. Schlick (1930), S. 18. Siehe Frank (1949), S. 33-38; besonders S. 37. Carnap (1928), § 4, S. 4. Schlick (1929), S. 381 f. Auch Hahn (1933), S. 5 und 27, fordert die Einheit der Wissenschaft. Carnap (1928), $ 2, S. 2 f. Carnap (1931), S. 432.

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Mit dieser Zerspaltung und dem Zerfall ist nicht die Aufteilung der Wissenschaft in verschiedene, nebeneinander herlaufende Gebiete gemeint, wie sie die Arbeitsteilung notwendigerweise erfordert, sondern einerseits die Aufteilung der Wissenschaften in qualitativ unterschiedliche Gegenstände, Erkenntnisquellen und Methoden und andererseits die Absonderung der Einzelwissenschaften von der Philosophie, der man eine übergeordnete Funktion zuweist. Beide Einstellungen waren im deutschen Sprachraum und besonders in der idealistischen Philosophie weit verbreitet. Ein typischer und einflußreicher Vertreter dieser Einstellungen ist der südwestdeutsche Neukantianer Heinrich Rickert, den Moritz Schlick ausdrücklich in seinen Vorlesungen über Naturphilosophie (1932/33) als Exponenten der Gegenmeinung herausgegriffen hat, mit dem sich Richard von Mises auseinandersetzte und der auch von Neurath häufig kritisiert wurde 2 2 . In Weiterbildung der Unterscheidung zwischen „nomothetischen" und „idiographischen" Wissenschaften (d. h. zwischen naturwissenschaftlichen Gesetzeswissenschaften und historischen Ereigniswissenschaften), die Windelband in seiner Straßburger Rektoratsrede 1894 getroffen hatte, sieht Rickert eine unüberwindbare Kluft zwischen den Kulturwissenschaften und den Naturwissenschaften: „Als Hauptgliederung der empirischen Realwissenschaften stellen wir die historischen Kulturwissenschaften den generalisierenden Naturwissenschaften gegenüber und heben hervor, daß genau das, was die historischen Kulturwissenschaften behandeln, für die naturwissenschaftliche, generalisierende Begriffsbildung eine niemals z u überschreitende G r e n z e ist. Vielleicht wird man freilich finden, daß [bei dieser Gliederung] nicht nur die Mannigfaltigkeit, sondern zugleich auch die Einheitlichkeit' der W i s senschaft vernachlässigt sei. D o c h das ist in der T a t unsere M e i n u n g : die Aufgabe, die der Mensch den empirischen Wissenschaften stellen muß, ist allein durch T e i l u n g der wissenschaftlichen Arbeit z u bewältigen. D e r G e d a n k e eines ,Monismus' der empirisch wissenschaftlichen M e t h o d e bleibt eine logische Utopie" 2 3 .

Und an anderer Stelle heißt es : „Es gibt nicht allein in unsern vorwissenschaftlichen Kenntnissen zwei prinzipiell verschiedene Wirklichkeitsauffassungen, die generalisierende und die 22

23

Schlick (1932/33), S. 3, Mises (1930), S. 892. Für Neuraths Kritik an Rickert siehe das Namensregister von Neurath (1981), S. 1030. Dort sind 10 Verweise auf Rickert angegeben. Rickert (1929), S. 620.

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individualisierende, sondern es entsprechen ihnen auch zwei in ihren letzten Zielen und ebenso in ihren letzten Ergebnissen logisch prinzipiell verschiedene Arten der wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit. Das Ziel der einen ist die Darstellung des mehr oder weniger Allgemeinen, das Ziel der anderen die Darstellung des mehr oder weniger Individuellen. Alle Übergänge und Zwischenformen vermögen an dem logischen Gegensatz dieser beiden T e n d e n z e n nichts zu ändern" 2 4 . W e n n überhaupt jemand, dann hat für Rickert nur der Philosoph die Mittel, diesen Gegensatz zu überbrücken. D i e Wissenschaften selbst können hier keine Verbindungen schaffen : „Das menschliche Denken wird auch wieder die Brücke zwischen den logisch verschiedenen Methoden zu schlagen haben und über die Differenzierung hinaus nach einer Einheit streben. Aber diese Aufgabe fällt nicht den empirischen Spezialwissenschaften zu, sondern von hier aus gewinnt die P h i l o s o p h i e ihr eigentümliches Arbeitsgebiet. Die Frage, ob ihr eine Gesamterkenntnis des Weltganzen erreichbar ist, haben wir hier nicht zu entscheiden. Es genügt, wenn wir nachweisen können, daß weder auf dem naturwissenschaftlichen generalisierenden noch auf dem historischen individualisierenden Wege solche Gesamterkenntnis möglich wird" 25 . Rickert beurteilt die Aussicht, daß die Philosophie die nach der Arbeit der Spezialwissenschaften noch o f f e n e n Fragen lösen kann, eher skeptisch. Er trifft sich darin mit der Ansicht, die E. D u B o i s - R e y m o n d 1872 in seiner einflußreichen und berühmten Rede „Uber die Grenzen des Naturerkennens" ausgedrückt hat, daß der Naturforscher gewisse Fragen auf ewig nicht wird lösen können: „Ignorabimus" 26 . Diese Ansicht war unter den Naturwissenschaftlern weit verbreitet. Es gab aber auch weitergehende Richtungen in der Philosophie, die D u Bois-Reymonds „Ignorabismus" ablehnten und in der Philosophie die Möglichkeit sahen, diejenigen Fragen, die außerhalb der Wissenschaften auftauchen, zu lösen; so z. B. die intuitive Metaphysik Bergsons.

24 25 26

Rickert (1929), S. 478 f. Rickert (1929), S. 621. DuBois-Reymond (1872). In dieser Rede, die DuBois vor der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Arzte gehalten hat, behandelt er zwei Grenzen des Naturerkennens: die Beziehung von Kraft und Stoff und das Verhältnis von Materie und Bewußtsein. 1880 kommen in der Rede über „Die sieben Welträtsel" noch der Ursprung der Bewegung und die Willensfreiheit als unlösbare Rätsel hinzu. (Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, Hrsg. S. Wollgast, H a m b u r g 1974, S. 159-187). Auch Mises (1930), S. 892, wendet sich gegen DuBois.

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Carnaps „logischer Aufbau der Welt" möchte mit all diesen Ansichten ein Ende machen: „Da nach der Konstitutionstheorie jede Aussage der Wissenschaft im Grunde eine Aussage über die zwischen den Elementarerlebnissen bestehenden Beziehungen" 27 ist, und das Bestehen solcher Beziehungen grundsätzlich entscheidbar ist, ist auch jede sinnvoll gestellte Frage entscheidbar, und zwar alle Fragen auf dieselbe Weise. Daher gibt es keine echten Grenzen zwischen verschiedenen menschlichen Erkenntnisweisen. Es gibt auch keine Grenze für die Wissenschaft, jenseits deren unlösbare oder auf nichtempirischem Wege lösbare Fragen auftauchen 2 8 . Es ist nicht notwendig (in den Worten von Philipp Frank), „neben dem grünenden und wachsenden Baum der Wissenschaft ein graues Gebiet anzunehmen, in dem die ewig unlösbaren Probleme ihren Sitz haben, bei deren Beantwortung man sich seit Jahrhunderten nur um seine eigene Achse dreht, daß es also keine Grenze gibt, wo die Physik in die Philosophie übergeht"29.

Das Problem der Zugänglichkeit des Gegebenen Da Carnap für seinen einheitlichen Aufbau eine eigenpsychische Basis wählt, muß er ein grundlegendes Problem lösen, das ich das Problem der Zugänglichkeit des Gegebenen nennen möchte. Erst wenn ich das, was mir in der Erfahrung gegeben ist, vergleichen kann mit dem, was meinem Nachbarn gegeben ist, und wenn ich Erkenntnisse, die ich über das mir Gegebene gewonnen habe, übermitteln kann, dann kann es objektive Erkenntnis geben. In den Worten von Henri Poincaré, der zusammen mit Mach von entscheidender Bedeutung für den frühen Wiener Kreis war 3 0 : „Dies ist also die erste Bedingung der Objektivität: was objektiv ist, muß mehreren Geistern gemein sein und folglich von einem dem anderen übermittelt werden können, und da diese Übermittlung

27 28

29 30

Carnap (1928), $ 183, S. 259. Der § 180 von Carnap (1928) hat die Überschrift: „Über die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis" (S. 253). Vgl. auch § 183: „Rationalismus?", wo Carnap schreibt: „Es gibt zwar für uns kein ,Ignorabimus'; trotzdem gibt es unter den Lebensrätseln vielleicht unlösbare. Dies ist kein Widerspruch. ,Ignorabismus' würde bedeuten: es gibt Fragen, deren Antwort zu finden uns grundsätzlich versagt ist. Die ,Lebensrätsel' sind aber keine Fragen, sondern Situationen des praktischen Lebens". (S. 260). Frank (1930/31), S. 157. Frank (1949), S. 10 ff. und 33.

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nur durch die Rede vor sich gehen kann . . . , sind wir gezwungen, zu schließen: Ohne Rede keine Objektivität" 31 . Das Problem der Zugänglichkeit des Gegebenen wurde zu einem entscheidenden Problem, das die Diskussion im Wiener Kreis beherrschen sollte. Hinter diesem Problem verbergen sich zwei Fragen, die eng miteinander zusammenhängen: Erste Frage: Können zwei Menschen dasselbe erleben? Dies ist die Frage nach der (intersubjektiven) Vergleichbarkeit der Erlebnisse. Zweite Frage: Können zwei Menschen dasselbe erkennen? Dies ist eine Frage nach der (intersubjektiven) Ubertragbarkeit der Erkenntnisse. Auf die erste Frage gibt Carnap zur Antwort, daß „das Material der individuellen Erlebnisströme völlig verschieden, vielmehr überhaupt inkomparabel ist, da eine Vergleichung zweier Empfindungen oder zweier Gefühle verschiedener Subjekte im Sinne ihrer unmittelbaren Gegebenheitsqualität widersinnig ist" 32 . Eine ähnliche Antwort hat auch Schlick gegeben in seiner „Erkenntnislehre" und in dem Aufsatz „Erleben, Erkennen, Metaphysik" von 1926: „Ob diese Farberlebnisse [anderer Individuen] den meinen gleich sind oder nicht, ist irrelevant und überhaupt auf ewig unentscheidbar" 33 . „Es gibt keine Methode, es ist keine denkbar, mit Hilfe deren die beiden Rot [ein Rot, das ich erlebe und ein Rot, das ein anderer erlebt] verglichen und die Frage entschieden werden könnte [ob die beiden Rot dieselbe Farbe sind]. Die Frage hat also keinen angebbaren Sinn, ich kann nicht erklären, was ich eigentlich meine, wenn ich behaupte, daß zwei verschiedene Individuen qualitativ gleiche Erlebnisse haben" 34 . Wenn man von der Unvergleichbarkeit der Erlebnisinhalte ausgeht, scheint es ganz unmöglich zu sein, einen Weg zur Ubertragbarkeit der Erkenntnisse zu finden, da ja jede Aussage, wenn sie Erkenntnis beanspruchen wollte, dies nur mit Bezug auf ein unvergleichbar Gegebenes tun könnte.

31 32 33 34

Poincaré (1905), S. 197. Carnap (1928), § 66, S. 90 f. Schlick (1918), S. 240. Schlick (1926), S. 3.

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Schlick und Carnap finden einen Ausweg durch Bezug auf die Struktureigenschaften des Gegebenen. Diesen Ausweg hatte Poincaré als erster skizziert. Auch er ging davon aus, daß wir kein Mittel haben, die Empfindungen anderer Menschen mit den eigenen zu vergleichen: „Die Empfindungen sind also nicht zu übermitteln, oder vielmehr alles, was reine Eigenschaft an ihnen sind, ist nicht zu übermitteln und auf ewig undurchdringlich. Dem ist aber nicht so bei den Beziehungen zwischen diesen Empfindungen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist alles, was objektiv ist, ganz eigenschaftslos und nur reine Beziehung" 35 . Wie können die Beziehungen zwischen den Erlebnissen das Problem lösen? Der Argumentationsgang ist in etwa folgender: Zuerst weist man nach, daß für irgendwelche Gegenstandsgebiete „die Kennzeichnung einzelner Gegenstände durch bloße Strukturaussagen ohne Aufweisung" (d. h. hinweisende Definition) möglich ist 36 . Der Gegenstandsbereich darf nur nicht zu eng und die Beziehungen, in denen die einzelnen Gegenstände zueinander stehen, müssen nur mannigfaltig genug sein. Wenn dies allgemein gilt, dann kann auch der durch den Erlebnisstrom gegebene (weite und mannigfaltige) Bereich der einzelnen Erlebnisse strukturell charakterisiert werden. Es können also die Erlebnisse durch die Angabe der Beziehungen, in denen sie zu anderen Erlebnissen stehen, genau bestimmt werden. Und bezüglich dieser Beziehungen erreichen wir eine Vergleichbarkeit der Erlebnisse 37 . Carnap nennt dieses Verfahren die „Intersubjektivierung" und Schlick spricht vom „Eliminationsprozeß der Qualitäten". Um im Beispiel mit dem Farberlebnis zu bleiben: Wenn ich mit einem anderen zusammen eine rote Fläche betrachte, können wir zwar unsere Farberlebnisse nicht vergleichen, aber wir können uns über die Beziehung dieser Farbe zu anderen Farben einigen: diese Farbe ist heller

35

36 37

Poincaré (1905), S. 198. Im Unterschied zu Poincaré sind bei Carnap die Elementarerlebnisse primär und die Empfindungen werden erst später aus den Erlebnissen konstituiert. Auch D u h e m (1906), S. 30 sieht, unter Berufung auf Poincaré, in den Beziehungen, die eine Theorie zwischen den Beobachtungsergebnissen herstellt, die eigentliche Objektivitätsleistung der Theorie. Carnap (1928), $ 15, S. 19. D i e tiefschürfendste Kritik der strukturellen Kennzeichnung bei Carnap gibt Kambartel (1968). Allerdings hat er übersehen, daß auch Carnaps Methode nicht rein formalistischer Natur ist. Carnap schränkt die Kennzeichnung der Grundrelationen auf sogenannte „fundierte" Relationen ein; das sind solche Relationen, denen erlebbare, natürliche Relationen entsprechen (Hinweis von Andreas Kamiah). Siehe Carnap (1928), § 1 5 4 f.

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als jene, es ist dieselbe Farbe wie jene, sie steht im Spektrum links neben jener Farbe, sie spielt mehr ins Gelbliche als jene Farbe usw. Die Vergleichbarkeit der Erlebnis strukturen genügt nun für Schlick und Carnap, um die gewünschte Übertragbarkeit der Erkenntnisse zu gewährleisten. Erkenntnisse sind intersubjektiv übertragbar, wenn die Strukturen der Erlebnisströme übereinstimmen, wenn sie einander eindeutig zugeordnet werden können. So sagt Schlick: „Wir würden uns restlos verständigen und niemals anderer Meinung über unsere Umgebung sein können, falls nur (und dies ist schlechterdings die einzige Voraussetzung, die gemacht werden muß) die innere Ordnung seiner Erlebnisse mit derjenigen der meinen übereinstimmt. Auf ihre ,Qualität' kommt es überhaupt nicht an, es ist nur erforderlich, daß sie sich auf dieselbe Weise in ein System bringen lassen" 38 . Von der Möglichkeit der Ubereinstimmung der Ordnungen der Erlebnisse hängt für Carnap sogar überhaupt die Möglichkeit der Wissenschaft ab: „Gewisse Struktureigenschaften stimmen für alle Erlebnisströme überein. Auf die Aussagen über solche Struktureigenschaften muß sich die Wissenschaft beschränken, da sie objektiv sein soll. Und sie kann sich auch auf Strukturaussagen beschränken, . . . da alle Erkenntnisgegenstände nicht Inhalt, sondern Form sind und als Strukturgebilde dargestellt werden können" 3 9 . Carnap reflektiert nicht weiter über die vorwissenschaftliche Sprache und ist mit dem Ergebnis zufrieden, daß es vom subjektiv erlebten Gegenstand einen Weg gibt zur Intersubjektivierung und damit zur Welt der Wissenschaft. „Obwohl der subjektive Ausgangspunkt aller Erkenntnis in den Erlebnisinhalten und ihren Verflechtungen liegt, ist es doch möglich, . . . zu einer intersubjektiven, objektiven Welt zu gelangen, die begrifflich erfaßbar ist, und zwar als eine identische für alle Subjekte" 40 . „Das Konstitutionssystem ist eine rationale Nachkonstruktion des gesamten, in der Erkenntnis vorwiegend intuitiv vollzogenen Aufbaues der Wirklichkeit"^. In Umkehrung eines Wortes von Freud könnte man Carnaps Programm so zusammenfassen: Was Ich ist, muß Es werden; was individuelles subjektives Erleben ist, muß rationale Nachkonstruktion werden. Das Problem der Zugänglichkeit des Gegebenen hatte also eine Lösung gefunden. In der Folgezeit traten aber bald Zweifel daran auf, ob 's 39 40 41

Schlick Carnap Carnap Carnap

(1932), (1928), (1928), (1928),

S. 97 f. § 66, S. 91. § 2, S. 3. § 100, S. 139.

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diese Lösung tatsächlich befriedigend ist. Die Diskussionen kreisten nicht so sehr um das Problem, ob bei der logischen Konstitution der Gegenstände Fehler gemacht wurden oder ob andere Methoden zur Konstitution höherer Gegenstände entwickelt werden müssen. Es wurde vielmehr diskutiert, ob das Carnapsche System (wenn man einmal annimmt, daß es auch alle höheren Gegenstände einwandfrei konstituiert) wirklich alle Erkenntnisse auszudrücken gestattet — mit anderen W o r ten, ob neben der so konzipierten Gesamtwissenschaft nicht doch noch ein subjektiver Weg zur Erkenntnis möglich bleibt und damit der Universalitätsanspruch nicht eingelöst wäre 42 . Mit Carnaps Ansatz taucht zunächst das Problem auf, daß man sich die intersubjektive Welt der korrekt konstituierten Gegenstände durch eine eigentümliche Schattenwelt begleitet denken kann. Wenn es auch richtig ist, daß die Erlebnisse aus meinem Erlebnisstrom durch bloße Strukturaussagen gekennzeichnet werden können, so ist es doch dadurch nicht unmöglich geworden, die einzelnen Erlebnisse weiterhin mittels „Aufweisung", d. h. hinweisender Definition, zu identifizieren. Das bedeutet aber, daß ich jede Aussage, die sich zur Kennzeichnung des Erlebnisstromes bloßer Strukturangaben bedient, ersetzen kann durch eine Aussage, in der nur von einer Kennzeichnung durch Aufweisung Gebrauch gemacht wird. Ich könnte also über das Gegebene wahre Aussagen machen noch bevor ich überhaupt über die Mittel verfüge, meine Aussage mit der Aussage anderer Menschen zu vergleichen. Wenn man sich genauere Gedanken macht über die Eigenschaften der so gewonnenen Aussagen über die „Schattenwelt", dann gerät man in große Schwierigkeiten. Ich möchte den Aussagen über die „Schattenwelt" einen Namen geben, damit ich mich im folgenden besser darauf beziehen kann. Ich möchte sie „Materialaufweisungen" nennen, da ja im Gegensatz zu den Strukturaussagen auf das Material des Erlebnisstroms, also die Qualitäten, mit Hilfe von Aufweisungen (hinweisende Definitionen) direkt Bezug genommen wird. Wir haben gesehen, daß nach Poincaré, Schlick und Carnap Erlebnisse nicht vergleichbar sind und nur Strukturaussagen intersubjektive 42

Siehe Neider (1977), S. 29 und Ayer (1977), S. 133: „The discussion appeared to centre w e e k after week o n the topic of what they called Protokollsätze, the basic deliverances of perception, with Schlick maintaining that they must be descriptive of sense-experiences, about which the subject could not be mistaken and Neurath arguing against him that one must start at the level of physical objects, and that no beliefs were sacrosanct."

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Gültigkeit beanspruchen können. Also haben alle Materialaufweisungen subjektiven Charakter und sind nicht übertragbar. Muß man den Materialaufweisungen deswegen auch ihren Erkenntnischarakter absprechen? In Carnaps System zumindest nicht. Zwar bildet, wie er schreibt, „die intersubjektive Welt... das eigentliche Gegenstandsgebiet der Wissenschaft. Die Wissenschaft enthält aber nicht nur intersubjektive Aussagen, sondern auch solche nichtintersubjektiven, denen intersubjektive entsprechen oder die in intersubjektive umgeformt werden können" 43 .

Noch aus einem anderen Grunde kann man nicht so leicht den Materialaufweisungen ihren Erkenntnischarakter absprechen. Wenn auch die Materialaufweisungen nicht intersubjektiv sind, so sind sie deswegen doch nicht notwendigerweise willkürlich, d. h. nicht in mein Belieben gestellt. Wenn die Beschaffenheit eines auf Grund meiner Erlebnisse konstituierten Gegenstandes „nicht von meinem Willen abhängt, d. h. wenn ein auf eine Änderung des Gegenstandes gerichtetes Willenserlebnis diese Änderung nicht zur Folge hat" 44 , dann ist dieser Gegenstand in einem gewissen Sinne sogar „unabhängig von meinem Bewußtsein", d. h. er ist objektiv zu nennen. Die Überlegungen zum Erkenntnis- und Objektivitätscharakter der Materialaufweisungen führen zu dem Ergebnis, daß es neben den intersubjektiv zugänglichen Sätzen der Wissenschaft empirische Erkenntnisse gibt, die nur für das einzelne Subjekt gültig sind, aber deswegen doch unabhängig sind vom Belieben des Einzelnen. Anders ausgedrückt: Es gibt Sätze, die nicht intersubjektiv verifizierbar sind und sich doch auf das Gegebene beziehen. Diese Situation wird noch prekärer, wenn wir die zwischenmenschlichen Beziehungen mitberücksichtigen, d. h. wenn wir fragen, wie es sich mit Materialaufweisungen verhält, die sich auf den anderen Menschen beziehen. Im Konstitutionssystem tritt mir die Seele des anderen Menschen als „Fremdpsychisches" entgegen; ich ziehe Schlüsse auf sein Gefühlsleben; die Breite der Erfahrungen, die mir im Erleben anderer Menschen und mit anderen möglich ist, ist identisch mit den Erfahrungen, die ich bisher mit mir selbst gemacht habe. Daran findet auch das Verständnis für den anderen seine Grenze: Die „ganze Erlebnisreihe des anderen Menschen [d. h. die Reihe der Erlebnisse, mit denen mir der andere Mensch gegeben ist] besteht dabei in nichts 43 44

Carnap (1928), § 149, S. 200. Carnap (1928), $ 176, S. 246; vgl. auch § 66, S. 390.

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a n d e r e m als einer U m o r d n u n g meiner Erlebnisse und ihrer Bestandteile. Für den Anderen können allerdings Erlebnisse konstituiert werden, die mit keinem meiner Erlebnisse übereinstimmen. Aber die Bestandteile des neuartigen Erlebnisses des Anderen müssen als Bestandteile meiner Erlebnisse v o r k o m m e n , denn . . . w a s mir nicht seiner Art nach von mir aus bekannt ist, auf das kann ich auch nicht bei dem anderen Menschen aus den A u s d r u c k s v o r g ä n g e n , die ich beobachte, schließen" 4 5 .

Wenn wir uns nun zu den intersubjektiven Aussagen über das Fremdpsychische wieder die ihnen entsprechenden nichtintersubjektiven Materialaufweisungen konstruieren, dann heißt das, daß alles, was reine Qualität am anderen ist, mir direkt gegeben ist, ich aber dem anderen (analog zur Qualität des Farberlebnisses) davon keine Mitteilung machen kann. Hier zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß die im Konstitutionssystem Carnaps neugewonnene Einheit der Wissenschaft nicht ohne große Verluste abgegangen ist. Nicht nur das eigene, noch vorwissenschaftliche Erleben verliert an erkenntnismäßigem Wert und an Verbindlichkeit. Auch das Erlebnis der Gemeinschaft mit anderen Menschen wird letzten Endes als bloßer Schein dargestellt. Es entsteht das Dilemma, daß alles mir Gegebene, soweit es auch andern vertraut sein kann, nicht mein eigenes Erleben ist; und alles mir Gegebene bleibt, soweit ich es als Qualität erlebe, dem andern fremd. Zwar ist alles, was ich an Erkenntnis gewinnen kann, letztlich mit Hilfe des Konstitutionsverfahrens intersubjektiv ausdrückbar. U n d doch haben Materialaufweisungen den intersubjektiven Aussagen, denen sie entsprechen, etwas voraus. Die Einheit der Wissenschaft wird dadurch zu einem hohen Preis erkauft: Nicht nur daß mein Erlebnis weiterhin von den Erlebnissen der anderen Menschen getrennt bleibt, sondern es wird dazu noch mein Sprechen über mein Erlebnis, solange es noch nicht konstituiert ist, getrennt vom wissenschaftlichen Sprechen darüber. D a s intuitive, vorwissenschaftliche, noch nicht logisch konstituierte Sprechen über eigene Erlebnisse und die anderer Menschen gerät in den Verdacht der Metaphysik. Es wird radikal abgeteilt von der rational gerechtfertigten Sprache des Wissenschaftlers, die sich logisch einwandfrei konstituierter Begriffe bedient.

45

Carnap (1928), § 140, S. 186.

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Das Problem der Einheit von Wissenschaft und Leben Die Tatsache, daß in Carnaps System die Möglichkeit, über Qualitäten in der vorwissenschaftlichen Sprache zu sprechen, nicht ausgeschlossen ist, bringt die Idee der Einheit der Wissenschaft in keine ernste Gefahr. Es wird jedoch die Uberzeugung in Frage gestellt, daß die Welt der Wissenschaft die ganze Welt ist. In der Welt der eigenen Erlebnisse und im subjektiven Sprechen darüber scheint noch eine „Wahrheit" zu stecken, die dem intersubjektiv konstituierten Sprechen fehlt. (Neurath spricht später von der „sinnleeren Verdoppelung", wenn man der Welt der Wissenschaft die Welt der Erlebnisqualitäten gegenüberstellt; von den zwei Sprachen, der monologisierenden, subjektiven und der intersubjektiven). Auch diese Verdoppelung wäre erträglich gewesen, wenn damit nicht eine andere Zielvorstellung des Wiener Kreises im Kern getroffen worden wäre, nämlich die Idee von der Einheit von Wissenschaft und Leben. Diese Idee war ebenso stark im Wiener Kreis verwurzelt wie die Uberzeugung von der Einheit der Wissenschaft. Sie geht vielleicht noch tiefer. Es ist die Idee, daß nicht nur die Erkenntnisweisen der Wissenschaft eins sind, sondern daß auch zwischen Alltag und Wissenschaft keine Kluft besteht, daß vielmehr im Zugang, den wir im vorwissenschaftlichen alltäglichen Leben zu der Welt haben, keine andere Wahrheit liegt als in der Wissenschaft. Im Zusammenhang mit der Krise des mechanistischen Weltbilds und dem Aufkommen der Relativitäts- und Quantentheorie ist wieder und wieder die Künstlichkeit und Ferne der neuen Wissenschaft vom alltäglichen Erleben betont worden. Auch innerwissenschaftlich gesehen ist die Verbindung, die zwischen den theoretischen Begriffen der neuen Theorien und den einzelnen Beobachtungen besteht, viel länger, komplexer und schwieriger zu handhaben als die Verbindung, die die älteren Theorien erforderten. Philipp Frank spricht im Rückblick auf jene krisenhafte Zeit der Physik von einer Kluft zwischen Theorie und Erfahrung: „ T h e a l t e r a t i o n b r o u g h t a b o u t in t h e g e n e r a l c o n c e p t i o n o f a s c i e n t i f i c t h e o r y w a s a greater e m p h a s i s o n the g a p b e t w e e n the structural system and the experimental confirmation"46. 46

Frank (1949), S. 20. Vgl. auch Frank (1928), S. 122: „Unter den im Laboratorium tätigen jungen Physikern hört man sehr o f t klagen, daß die modernen physikalischen Theorien ,unanschaulich' geworden sind. G a n z besonders gelten diese Klagen den beiden genialsten und erfolgreichsten Theorien unserer Zeit: der Relativitätstheorie und der Quantentheorie."

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D i e T e n d e n z , die sich in der Betonung und Problematisierung dieser Kluft ausdrückte, kam der Neukantianischen Philosophie sehr stark entgegen, die von Anfang an eine schroffe Grenze zwischen wissenschaftlicher und natürlicher Erfahrung g e z o g e n hat. Zur Illustration kann auch hier wieder auf Rickerts Buch über die „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" zurückgegriffen werden. Es wird darin die natürliche alltägliche Erfahrung, das unmittelbare Leben in gewisser Weise gleichgesetzt mit der Anschauung, dem anschaulichen Gehalt der Gegenstände, der (auch nach Kant selbst) als „Materie der Empfindungen" dem D e n k e n vorgegeben sei. Rickert schreibt: „Das Resultat, zu dem wir bei Beantwortung der Frage gekommen sind, welches Verhältnis die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zur Anschaulichkeit der Wirklichkeit hat, bleibt daher für jede Naturwissenschaft in derselben Weise gültig. Einen Gegensatz zwischen dem Inhalt der Begriffe einerseits und der sinnlich anschaulichen Wirklichkeit andererseits möglichst scharf herauszuarbeiten, ist gerade der Sinn und Zweck der Naturwissenschaft. Die Erzeugung einer derartigen Kluft ist das notwendige Resultat jeder Betrachtung der Wirklichkeit als ,Natur', d. h. mit Rücksicht auf das Allgemeine. Welches auch immer der Inhalt der Begriffe sein mag, zur empirischen Welt des sinnlich Anschaulichen steht er in um so entschiedenerem Gegensatz, je weiter fortgeschritten im logischen Sinne die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ist" 47 . In einer Fußnote hierzu wird aus Max Plancks „Die Einheit des physikalischen Weltbildes" zitiert und als Bestätigung angeführt. An anderer Stelle heißt es: „Die Wirklichkeit können wir ihrem Inhalt nach wohl unmittelbar ,erleben' oder ,erfahren', aber sobald wir den Versuch machen, sie durch die Naturwissenschaft zu begreifen, entweicht uns immer gerade das von ihr, woraus sie als Wirklichkeit besteht. Nur mit dem unmittelbaren Leben, niemals mit den Begriffen der Naturwissenschaft kommen wir an das inhaltlich erfüllte Wirkliche heran" 4 8 . D i e „Wirklichkeit in ihrer Anschaulichkeit und Individualität" bleibt vom Inhalt der verallgemeinernden Naturwissenschaft getrennt:

47

48

Rickert (1929), S. 196. Auf der selben Seite heißt es: „Sehr zutreffend wird das Verhältnis der physikalischen Theorie zur unmittelbar anschaulichen Wirklichkeit auch von dem Physiker Planck dargestellt . . . " Die Schrift Plancks ist zuerst erschienen in der Physikalischen Zeitschrift, 10, 1909. Rickert (1929), S. 199.

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„Über die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Welt der Begriffe und der Welt der realen Anschauung kommt keine Erkenntnis des Wirklichkeitsganzen hinweg" 49 .

Gerade diese Kluft zu überbrücken und die ganze Wirklichkeit dem Zugriff der Wissenschaft zu öffnen, war ein wesentliches Ziel der neuen wissenschaftlichen Weltauffassung. Dies stellt besonders Hans Reichenbach in seinem programmatischen Beitrag zur ersten Nummer der Zeitschrift „Erkenntnis" im Jahre 1930 heraus. Er gibt dem Neukantianismus, ohne ihn direkt zu nennen, insoweit recht, als er zugibt, daß man beim gegenwärtigen Zustand der Naturwissenschaften und verleitet durch den metaphysischen Charakter mancher Alltagsbegriffe sehr wohl zum Schluß kommen kann, daß eine Kluft zwischen Begriff und Anschauung besteht. Er hält diese Kluft jedoch nur für eine scheinbare, die Ausdruck einer historisch gewachsenen „Entfremdung zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt des täglichen Lebens" ist. Wenn diese Entfremdung aber der Sache nach nicht besteht, kann man sie überwinden. Folgerichtig wirft Reichenbach der traditionellen Philosophie vor, daß sie „anstatt die Resultate der Fachwissenschaft zu verarbeiten und umzusetzen in eine neue Art, die Wirklichkeit zu sehen, . . . die Grenzen zwischen Wissenschaft und Tageswelt nur umso schärfer aufgerichtet" 50 hat. Sie hält fest am „Ballast althergebrachter Vorstellungen", an „traditionellen Gefühlswelten" und an „Phantasiewelten" 51 , deren Ungültigkeit der Wissenschaft schon lange klar war und deren Scheitern auch dem Mann auf der Straße klarzuwerden beginnt: „Wenn der Weg der Wissenschaft. . . ein Weg der Ernüchterung war, ein Weg, dessen Entfernung von traditionellen Phantasiewelten nicht ohne moralische Kraft ertragen werden konnte, so liegt gerade darin ein Zug, der sich in gleicher Form in dem Entwicklungsprozeß wiederfindet, den das Weltbild des Tagesmenschen seit einiger Zeit mit soziologischer Notwendigkeit durchläuft. Denn die Entseelung und Entzauberung der Welt ist Grundzug nicht nur der Naturforschung, sie ist zugleich Grundzug unseres täglichen Daseins, ist die Kategorie, unter der wir unsere Gegenwart zu sehen haben. . . . Der Zusammenbruch traditioneller Gefühlswelten ist heute das Problem jedes Einzelnen, für das Leben des Tages, und die physikalische Wissenschaft, so sehr ihre Wendung logischer Kritik entsprang, vollzieht darin nichts anderes als ihre Eingliederung in eine soziologische Tendenz unserer Zeit"52. 49

Rickert(1929), S. 175. Reichenbach (1930/31), S. 50. 51 Reichenbach (1930/31), S. 68 und 70. 52 Reichenbach (1930/31), S. 70. 50

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Das Streben nach Einheit von Wissenschaft und Leben, das Ziel, die „Fachwissenschaft und tägliches Leben zu innerer Einheit zu bringen", ist also nicht eine bloße akademische Denksportaufgabe, sondern hat ihren tiefen sozialen Sinn: „Wir sehen die Arbeit neuer Naturphilosophie nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer fachwissenschaftlichen Bedeutung, als einer Klärung naturwissenschaftlicher Grundbegriffe, wir sehen sie vielmehr auch unter dem sozialen Gesichtspunkt, . . . daß nur die Aufzeigung der Kontinuität zwischen Tageswelt und Welt der Fachwissenschaft jene Eingliederung wissenschaftlichen Kulturgutes zu vollziehen vermag, unter deren Unvollziehbarkeit wir gegenwärtig noch leiden müssen" 53 .

Und wenig später heißt es: „Es gibt. . . nicht zwei Welten verschiedener Erkenntnisarten, sondern es gibt nur eine Wahrheit, und ihre Forderung bestimmt in gleicher Weise das Verhalten des Gelehrten und des Ungelehrten" 54 .

Was heißt es, die Entfremdung zwischen Wissenschaft und Leben zu überwinden? Für Reichenbach ist dann die Einheit erreicht, wenn klar gemacht ist, wie die Welt der Wissenschaft zusammenhängt mit den „Erlebnisbeständen", die der Nichtwissenschaftier „Welt, Umwelt, Wirklichkeit, Leben nennt" 55 . Die Welt der Wissenschaft soll als natürliche und nur graduell verschiedene Erweiterung der Alltagswelt erwiesen werden. Ähnlich wollte Schlick schon 1918 zeigen, daß das W o r t Erkennen „in der Wissenschaft keineswegs einen neuen, ganz besonderen Sinn bekommt" und keine „tiefere und erhabenere Bedeutung als im täglichen Gebrauche" hat, „sondern daß das Wesentliche beim Erkennen hier wie dort ganz dasselbe ist" 56 . Für Hans Hahn, Philipp Frank und besonders Otto Neurath heißt Einheit von Wissenschaft und Leben noch mehr. Die Entfremdung zwischen beiden Bereichen ist nur dann wirklich aufgehoben, wenn die Wissenschaft, das heißt: das objektive, nicht-metaphysische, nicht-theologische Denken auch für das Alltagsleben bestimmend geworden ist.

53 54 55 56

Reichenbach ( 1 9 3 0 / 3 1 ) , S. 51. Reichenbach ( 1 9 3 0 / 3 1 ) , S. 69 f. Reichenbach ( 1 9 3 0 / 3 1 ) , S. 49. Schlick (1918), S. 8. Vgl. auch Schlick (1932a), S. 184: „Scientific thinking is not essentially different from thinking in everday life, it is only a higher stage of it. Scientific knowledge is a continuation of practical knowledge, such as human beings need in order to exist and live well."

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Michael Heidelberger „The w h o l e original Viennese group", so erinnert sich Philipp Frank später, „was convinced that the elimination of metaphysics n o t only w a s a question of a better logic but w a s of great relevance for the social and cultural life. T h e y were also convinced that the elimination of metaphysics w o u l d deprive the groups that w e call t o d a y totalitarian of their scientific and philosophic basis and w o u l d lay bare the fact that these groups are actually fighting for special interests of s o m e kind" 5 7 .

Diese Einstellung wurde auch programmatisch im Manifest des Wiener Kreises von 1929 festgehalten. Es heißt da: „Wir erleben, wie der Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des U n t e r richts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben, und das Leben nimmt sie auf58.

1930 sieht Neurath die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung „eingebettet in einem umfassenden Wandlungsprozeß, der die Ausdehnung des wissenschaftlichen Geistes auf alle Gebiete des tätigen Gemeinschaftslebens mit sich bringen wird" 59 . Für Philipp Frank ist wie für Reichenbach der Zusammenhang zwischen vorwissenschaftlichem anschaulichem Erleben und der Wissenschaft wiederhergestellt, wenn die wissenschaftlichen Theorien auf „Beziehungen zwischen Ablesungen von Meßinstrumenten, also im letzten Grunde auf Beziehungen zwischen Sinnesempfindungen zurückgeführt" worden sind 60 . Frank legt aber noch etwas mehr als Reichenbach Nachdruck auf die Forderung, daß diese Fundierung im Erleben auch zu einer Uberwindung metaphysischer Anschauungen, die sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltag anzutreffen sind, führen muß: Er nennt zwei Teile dieser „metaphysischen Weltanschauung": einmal die atomistisch-mechanistische Auffassung, „nach der alles Geschehen in letzter Linie auf die Bewegung absolut harter kleiner Teilchen im Leeren zurückgeführt werden kann" sowie die „idealistische Philosophie mit ihrer Sonderstellung der geheimnisvollen Dreizahl von Raum, Zeit, Kausalität (oder Raum, Zeit, Materie)" 61 . Die Entfremdung zwischen Wis57

58 59 60 61

Frank (1949), S. 34. Zur „original Viennese group" gehören für Frank er selbst, Neurath und Hahn. Feigl (1969), S. 631, rechnet auch noch Richard von Mises hinzu. Neurath (1929), S. 315. Neurath (1930/31), S. 391. Frank (1928), S. 125. Frank (1928), S. 124.

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senschaft und Leben ist also nicht nur durch mangelnde Fundierung der wissenschaftlichen Theorien im Erleben entstanden, sondern auch durch die Verwechslung von erfolgreichen metaphysischen Auffassungen, an die man seit einigen hundert Jahren gewöhnt ist, mit direkter und natürlicher Anschaulichkeit. Deshalb kann man mit dem Niedergang des atomistisch-mechanistisch-idealistischen Ideals auch nicht die H o f f n u n g verbinden, „auf die Uberwindung der wissenschaftlichen Weltauffassung überhaupt zugunsten einer rein intuitiven, d. h. je nach den individuellen oder parteimäßigen Wünschen gefärbten" 6 2 . Auch wenn der Materialismus in seiner alten Formulierung inadäquat ist, ist nicht bewiesen, daß alles metaphysisch ist, sondern nur, daß Anschauung neu definiert werden muß. Der Wiener Kreis und die Gruppe in Berlin sind sich einig darin, daß, wie Carnap es formulierte, „die Wissenschaft, das System begrifflicher Erkenntnis. . . keine Grenzen hat" 63 . Für Neurath ergibt sich jedoch ein Unterschied in der Methode des weiteren Vorgehens. Er scheint nicht davon überzeugt zu sein, daß allein die Fundierung der Wissenschaft im Erleben über kurz oder lang auch zur Uberwindung der durch Gewohnheit tief verwurzelten, in der Uberlieferung erstarrten metaphysischen Alltagsauffassungen führt. Während Schlick, Carnap, Reichenbach und in gewissem Maße auch Frank sich so lange in ihr Studierzimmer zurückziehen können, bis die Wissenschaft aus dem Alltagsleben rational nachkonstruiert und die Kluft zwischen beiden Bereichen geschlossen ist, kann Neurath seinem Ziel nur näherkommen, wenn er zwischen einzelnen theoretischen Konstruktionen und einzelnen praktischen Maßnahmen hin und her pendelt. Dies ergibt sich für ihn aus seiner Analyse der Sozialwissenschaften. Die Sozialwissenschaften haben es nach seiner Auffassung sehr häufig mit einmaligen Vorgängen und Ereignissen zu tun, die in gewissen historischen Situationen in das Organisationsgefüge der Gesellschaft verändernd eingreifen, z. B. Revolutionen, strukturelle Reformen, große Kriege u. ä. Auch wenn diese Vorgänge häufig den Anschein erwecken, als wären sie schon einmal dagewesen, so sind sie doch tatsächlich neuartig, denn sie treten ja niemals in identischen Situationen auf. Jede sozialwissenschaftliche Theorie, deren Gesetze sich für diejenigen sozialen Vorgänge bewährt haben, die unter wenig variierten Randbedingungen 62 63

Frank (1928), S. 125. Carnap (1928), § 180, S. 253.

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ablaufen, muß nun bei Eintritt einer tiefergehenden Veränderung der Gesellschaft der neuen Situation Rechnung tragen. Die Theorie muß wieder neu formuliert werden. Mit der alten Theorie wäre nur derjenige Geschichtsverlauf vorhersagbar gewesen, der ohne die neue Veränderung der Randbedingungen eingetreten wäre. Die Ausarbeitung der neuen Theorie ist nun ebenfalls wieder ein dynamischer Prozeß : J e weiter die Veränderung zurückliegt, desto größer ist die Menge der Erfahrungen, auf die man sich stützen kann, und desto größer sind die Chancen für eine hohe Prognosekraft der Theorie. „Für die Wissenschaft geht der Weg vom Einmaligen zum Einmaligen über die den Vorgängen angepaßten Gesetze" 6 4 . N u n gibt es aber in jeder Gesellschaft Menschen, die bewußt oder unbewußt an einer richtigen Prognose des weiteren Geschichtsverlaufs nicht interessiert sind. Sie liefern entweder Scheinprognosen oder lehnen die Möglichkeit zur Prognose ganz ab. Der Grund für dieses Verhalten liegt in dem metaphysischen Charakter ihrer Theorien, die sie über die Gesellschaft haben: „Die Metaphysik ermöglicht es, gewisse soziologische Zusammenhänge zu verschleiern. Metaphysik ermöglicht die Anlehnung an die den Kirchen nahestehenden Gruppen, mit denen die heute herrschenden Klassen in erheblichem U m f a n g e zusammenarbeiten" 6 5 . T r ä g e r und Förderer der wissenschaftlichen Arbeit kann deshalb nur derjenige Teil der Gesellschaft sein, der keinerlei Interesse an unwissenschaftlicher Praxis und leerer Scheinwissenschaft hat, sondern nur an wissenschaftlich geleiteter Praxis und metaphysikfreier Wissenschaft. Für Neurath ist das die Arbeiterklasse: „Begreiflich, daß die M e n s c h e n g r u p p e n , welche die Beseitigung der jetzigen O r d n u n g anstreben, die neue O r d n u n g auch als H o r t der W i s s e n s c h a f t ansehen lernen, insbesondere als H o r t der unmetaphysischen S o z i o l o g i e . Begreiflich, daß die M e n s c h e n g r u p p e n , welche praktisch an der U m g e s t a l t u n g der herrschenden O r d n u n g arbeiten, daß die sozialistisch gerichteten Arbeitermassen der S o z i o l o g i e auf materialistischer Basis verständnisvoll g e g e n überstehen und sich ihrer bedienen . . . D e r M a r x i s m u s als modernste S o ziologie auf materialistischer Basis (das heißt letzten E n d e s der Physikalismus — die modernste F o r m des Materialismus) ist daher aufs engste mit der Arbeiterbewegung v e r b u n d e n " 6 6 .

Daß dieser Sicht eine Aufteilung der Gesellschaft in Klassen zugrundeliegt, ist für Neurath kein unabdingbarer Standpunkt. Er sagt 64 65 66

Neurath (1931), S. 502. Neurath (1931), S. 519. Neurath (1931), S. 519.

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vielmehr: „Man kann besser prognostizieren, von heute auf morgen, von gestern auf heute, wenn man Klassenschicksale ins Auge faßt" 6 7 . Wenn also Neurath die „Ausdehnung des wissenschaftlichen Geistes auf alle Gebiete des tätigen Gemeinschaftslebens" zum Ziele hat, so kann er das dadurch tun, daß er die Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften durch Ausschaltung jeglicher Metaphysik und dauernder Anpassung an die Erfahrungen verbessert, er muß aber auch die Gesellschaftsschichten, die der Verschleierung wirklicher gesellschaftlicher Verhältnisse entgegenwirken wollen, mit praktischen Aktionen unterstützen. Eine solche praktische Arbeit verändert aber ihrerseits die gesellschaftlichen Randbedingungen — also muß die Theorie im nächsten Schritt wieder dieser Veränderung angepaßt werden. Die veränderte Theorie ihrerseits macht andere Voraussagen als die überholte Theorie und läßt dadurch andere praktische Handlungen und politische Entscheidungen sinnvoll erscheinen als sie es nach der vorher gültigen Theorie gewesen wären, usf. Theorie und Praxis bedingen einander, oder, wie Neurath es formuliert: „die bewußte soziale Lebensgestaltung erzeugt Theorie und wird von ihr beeinflußt" 68 . „So wie bestimmten Völkern zu bestimmten Zeiten theologische Lehren eigentümlich sind, die man mehr oder minder aus anderen sozialen Erscheinungen ableiten kann, so kann man auch das Auftreten wissenschaftlicher Lehrmeinungen aus sozialen Zuständen abzuleiten versuchen. Durch Änderung der sozialen Verhältnisse werden diese Lehren geändert. Die Wandlung der Lehren ist nicht nur Symptom, sondern auch mitbedingender Faktor der sozialen Veränderungen — eine innige Verknüpfung von wissenschaftlicher Lehre und sozialer Lebensgestaltung, die nicht übersehen werden solfi69.

Nach dieser Charakterisierung der Bestrebungen, Wissenschaft und Leben zu vereinigen, stellt sich die Frage, ob Carnaps eindrucksvolle Lösung des Problems der metaphysikfreien Einheit der Wissenschaft auf rein empirischer Basis auch gleichzeitig das Problem der Einheit von Wissenschaft und Leben lösen kann. Wir haben bei der Diskussion des „logischen Aufbaus" gesehen, daß durch die Methode der rationalen Nachkonstruktion das intuitive, vorwissenschaftliche Sprechen als noch 67 68 69

Neurath (1931), S. 520. Neurath (1931), S. 525. Neurath (1932), S. 567 f.

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nicht gerechtfertigt abgetrennt wird von der strengen wissenschaftlichen Sprache. Neben der Einheitswissenschaft bleibt noch das intuitive, vorwissenschaftliche Sprechen als eine etwas zwielichtige Sache zurück. Dies muß aber bedeuten, daß auch der Alltag, das „Leben" selbst einen zwielichtigen Status erhält, der eher die Abwertung des Alltags als seine Verbindung mit der Wissenschaft bedeutet. Im „Aufbau" gibt es sogar Passagen, die nahelegen, daß noch-nicht-wissenschaftliches Sprechen zur selben Kategorie gehört wie die Metaphysik: „Daß auch die intuitive Metaphysik zu ihrer Darstellung Worte benutzt, darf nicht z u der Meinung verleiten, als b e w e g e sie sich d o c h im Gebiet der Begriffe und gehöre damit zur (rationalen) Wissenschaft. D e n n w e n n wir auch als begrifflich nur bezeichnen dürfen, was durch W o r t e und sonstige Zeichen ausdrückbar ist, so ist d o c h nicht alles begrifflich, was sich der W o r t e bedient. Auch in anderen Lebenssphären als in der der begrifflichen Erkenntnis werden W o r t e gebraucht, z. B. in der praktischen Willensübertragung von Mensch zu Mensch [Hervorhebung v o n mir, M. H . ] , in der Kunst, in dem z w i s c h e n Wissenschaft und Kunst stehenden Gebiet des M y thos . . . und in anderen Gebieten. N u r dann k ö n n e n W o r t e als Zeichen v o n Begriffen angesehen werden, w e n n sie entweder definiert sind oder w e n i g stens definiert w e r d e n k ö n n e n ; genauer: w e n n sie in ein erkenntnismäßiges Konstitutionssystem entweder eingeordnet sind oder wenigstens eingeordnet werden können" 7 0 .

Der ganze Bereich des Sprechens im praktischen Leben, von dem noch nicht gezeigt ist, daß er in ein Konstitutionssystem eingeordnet werden kann (und das ist der weitaus größte Teil), kann also keinerlei Erkenntnis für sich beanspruchen. Die Tatsache, daß die Menschen in diesem Bereich erfolgreich miteinander umgehen, obwohl sie auf dieser Ebene noch gar keine Erkenntnis besitzen, bleibt völlig ungeklärt und muß in Carnaps System wie das Verhalten von Nachtwandlern erscheinen. Wie kann nun der Konflikt gelöst werden — wie soll eine neue Einheit der Erkenntnis aussehen, die auch noch die Versöhnung mit dem Alltag herbeiführt?

70

Carnap (1928), § 182, S. 259.

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Wahrheit durch privates Erlebnis: Schlicks Konstatierungen An dieser Stelle trennen sich die Wege der einzelnen Mitglieder des Wiener Kreises, es werden unterschiedliche Entwürfe zur Lösung des Konflikts weiterverfolgt. Schlick möchte das Problem dadurch lösen, daß er die strukturelle Kennzeichnung nicht nur, wie Carnap, für wissenschaftliche Aussagen reserviert, sondern auf die ganze Sprache, also auch auf die vorwissenschaftliche, ausweitet. Während bei Carnap es immerhin noch möglich ist, daß man in der nichtwissenschaftlichen (oder in einer noch unvollkommenen wissenschaftlichen) Sprache Eigenschaftsbeschreibungen verwendet, die (noch) nicht in eine Beziehungsbeschreibung umgeformt sind, ist diese Möglichkeit für Schlick ganz ausgeschlossen. Jeder Satz der Sprache, der verständlich ist, ist in Wirklichkeit eine mehr oder weniger eindeutige Strukturaussage und drückt formale Beziehungen aus: „Alle erlebten Qualitäten, Farben, Töne, Gefühle, kurz alle inhaltlichen Bestimmungen des Bewußtseinsstromes" sind „schlechthin subjektiv und unbeschreibbar für eine Mitteilung". Schlick hält es für eine „unbezweifelbare Tatsache, daß alles Qualitative und Inhaltliche an unseren Erlebnissen ewig privatim bleiben muß und auf keine Weise mehreren Individuen gemeinsam bekannt zu werden vermag" 71 . Was bleibt, sind die „formalen Beziehungen", wie sie in der „logischen Lehre von der impliziten Definition'" bestimmt werden. „Das Wesen dieser Art von Definition" besteht für Schlick darin, „daß sie Begriffe festlegt, ohne im geringsten auf etwas Inhaltliches hinzuweisen, ohne auf irgendwelche qualitativen Merkmale zurückgreifen zu müssen". Daraus zieht er folgenden Schluß: „Es ist, so paradox es klingen mag, buchstäblich wahr, daß alle unsere Aussagen, von den gewöhnlichsten des täglichen Lebens [Hervorhebung von mir] bis zu den kompliziertesten der Wissenschaft, immer nur formale Beziehungen der Welt wiedergeben, und daß schlechthin nichts von der Qualität der Erlebnisse in sie eingeht" 72 .

Schlick „löst" also das Problem der Zugänglichkeit des Gegebenen dadurch, daß er das Erlebnis in seiner Qualität als allgemein unzugäng-

71 72

Schlick (1926), S. 4 f. Schlick (1926), S. 5 f.

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lieh hinstellt, unzugänglich für das wissenschaftliche als auch alltägliche Sprechen. Wenn auch für Schlick der Inhalt des Erlebens nicht mitteilbar ist, so bedeutet das nicht, daß das Erlebnis selbst nun funktionslos geworden wäre. Im Gegenteil: D a s Erleben („the content", wie Schlick in seinen englischen Texten sagt) wird zu dem Knotenpunkt, an dem das strukturelle Geflecht unseres Sprechens über die Welt mit der wirklichen Welt zusammenhängt: „Observation involves content (,data of consciousness' in the ordinary questionable way of speaking), and just because it does this can it link our symbols to the (real) world — or I should rather say: the two phrases involving content' and Jinking to reality' are equivalent in their use" 7 3 .

Jedes Erkennen, wenn es von der Welt handelt, setzt notwendigerweise ein Erleben voraus; erst dieses Erleben macht den „leeren Rahmen" der Strukturen zu „wirklichem Wissen". In dieser Ansicht geht Schlick über Carnaps „ A u f b a u " hinaus. Carnap hat nämlich dort nur eine Aufgabe gelöst, die sich demjenigen stellt, der die Gesamtwissenschaft nicht nur im Sinne einer einheitlichen Sprache, sondern auch im Sinne einer Klasse von Erkenntnissen aufbauen will. Carnap hat gezeigt, wie die Begriffe der Wissenschaft einwandfrei konstituiert werden können. Eine weitere, notwendige Aufgabe besteht darin, Kriterien anzugeben, wann eine mit Hilfe korrekt konstituierter Begriffe gemachte Aussage tatsächlich wahr ist, d. h. eine Erkenntnis darstellt. Carnap gibt nur wenige allgemein gehaltene Hinweise, wie er sich die Lösung dieser Aufgabe denkt. Er scheint eine Aussage dann für wahr zu halten, wenn sie verifiziert ist: „Verifikation bedeutet j a : Nachprüfung an den Erlebnissen" 7 4 . Diese Lösung ist in dieser Form jedoch ganz unzureichend. In Carnaps System bleibt es nämlich offen, ob schon dann von einer verifizierten Aussage gesprochen werden kann, wenn ich diejenigen Elementarerlebnisse, von der die Aussage spricht, tatsächlich habe, oder ob nicht vielmehr erst dann eine Verifikation erfolgt ist, wenn noch zusätzlich sichergestellt ist, daß die erlebten Gegenstände intersubjektiv übertragbar sind. Schlick wählt den ersten W e g : N u r diejenigen Sätze über die Welt werden als wahr akzeptiert, die ich selbst als wahr erlebe, auch wenn alle anderen Menschen sich darin von mir unterscheiden mögen: 73 74

Schlick (1932a), S. 207. C a r n a p (1928), § 179, S. 253.

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„Auf jeden Fall w ü r d e ich, w e l c h e s Weltbild ich auch konstituiere, seine Wahrheit immer nur an der eigenen Erfahrung prüfen; diesen H a l t würde ich mir niemals rauben lassen, meine eigenen Beobachtungssätze würden immer das letzte Kriterium sein. Ich w ü r d e s o z u s a g e n ausrufen: ,Was ich sehe, das sehe ich"' 7 5 !

Mit dieser Aufwertung des eigenen Erlebnisses geht eine Aufwertung der eigenen Beobachtungssätze, der Aussagen über gegenwärtig Wahrgenommenes einher. Schlick nennt solche Aussagen auch „Konstatierungen". Sie beziehen sich auf den subjektiven Erlebnisinhalt, indem sie wie mit einer Gebärde durch Worte wie „hier", „jetzt" u. ä. auf das Erlebte hinweisen : „Was die W o r t e ,hier', ,jetzt', ,dies da' usw. bedeuten, läßt sich nicht durch allgemeine D e f i n i t i o n e n in W o r t e n , sondern nur durch eine solche mit H i l f e v o n A u f w e i s u n g e n , Gesten angeben. , D i e s da' hat nur Sinn in Verbindung mit einer Gebärde. U m also den Sinn eines solchen Beobachtungssatzes zu verstehen, muß man irgendwie auf die Wirklichkeit hindeuten" 7 6 .

Wenn den Konstatierungen eine so eminent wichtige Bedeutung zukommt, dann muß gefragt werden, welchen Platz sie in einem System wie dem Carnaps einnehmen könnten. Wie wir gesehen haben, stellt Carnap die These auf, daß die Wissenschaft mit bloßen strukturellen Kennzeichnungen auskommt. Kennzeichnungen durch Aufweisung können im vorwissenschaftlichen Sprechen oder im unvollkommenen wissenschaftlichen Sprechen durchaus vorkommen, aber die Wissenschaft gebraucht solche Aufweisungen höchstens als Abkürzungen für strukturelle Kennzeichnungen. Wenn also die Physik z. B. Farbnamen wie „blau" verwendet, so ist dies nur eine sprachliche Vereinfachung für einen komplizierten Ausdruck, der die physikalische Einheit der Schwingung einer Welle in Beziehung bringt zur Schwingung von blauen Lichtwellen. Carnap kann also für seine Einheitswissenschaft die Materialaufweisungen, wie wir sie nannten, ganz vernachlässigen. Für Schlick kommt aber die Wissenschaft ohne Konstatierungen nicht aus. Sie bilden zwar nicht das Fundament der Erkenntnis, aber geben den „Zusammenhang der Wissenschaft mit der Wirklichkeit", sie bilden die „unerschütterlichen Berührungspunkte von Erkenntnis und Wirklichkeit" 77 .

75 76 77

Schlick (1934), S. 302. Schlick (1934), S. 308. Schlick (1934), S. 310.

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Die unterschiedliche Auffassung zwischen Carnap und Schlick soll an einem Beispiel näher erläutert werden. Nehmen wir den Satz „hier jetzt blau", der unter bestimmten Umständen sowohl für Carnap eine Materialaufweisung als auch für Schlick eine Konstatierung darstellen könnte. In Carnaps System würde mit diesem Satz eine Materialaufweisung vorliegen, wenn mindestens eines der Wörter „blau", „hier", „jetzt" nicht oder noch nicht explizit als strukturelle Kennzeichnung definiert ist. Da in diesem speziellen Beispiel alle drei Terme leicht in Beziehungsausdrücke überführt werden können, wäre für Carnaps Einheitswissenschaft der Satz „hier jetzt blau" auf jeden Fall entbehrlich und könnte vollständig in einen Satz überführt werden, der nur strukturelle Kennzeichnungen enthält. Für Schlick liegt der Fall anders. Der Satz „hier jetzt blau" ist dann eine Konstatierung, wenn „hier" und „jetzt" nur mit Hilfe von Aufweisungen, Gesten auf die Wirklichkeit hindeuten. Dies bedeutet aber, daß „hier" und „jetzt" nicht ersetzt werden können durch einen Beziehungsausdruck oder eine strukturelle Kennzeichnung. Wenn man in dem Satz „hier jetzt blau" die Hinweise „hier" und „jetzt" ersetzt durch Orts- und Zeitangaben, d. h. strukturelle Kennzeichnungen, so stellt man eine Hypothese auf, die auf den Umgang mit Maßstäben und Uhren rekurriert, der möglicherweise fehlerhaft war. Beim direkten Bezug auf die Wirklichkeit in Verbindung mit einer Gebärde kann jedoch aus logischen Gründen kein Irrtum vorliegen, denn hier fällt die „Feststellung des Sinnes und die Feststellung der Wahrheit" zusammen, der „Vorgang des Verstehens" ist „zugleich der Vorgang der Verifikation". Konstatierungen sind daher „die einzigen synthetischen Sätze, die keine Hypothesen sind"7*. Warum sind nun für Schlick die Konstatierungen unentbehrlich? Sie sind unentbehrlich für die Erkenntnisgewinnung. Denn angenommen sie wären entbehrlich, dann hieße das, man käme nur mit strukturellen Kennzeichnungen aus. Die strukturelle Kennzeichnung, wie wir gesehen haben, stützt sich jedoch auf den Umgang mit Maßstäben und Uhren u. ä., der mit Irrtum behaftet sein kann. Wenn wir die Ausdrücke, die wir beim Beschreiben des Umganges mit Maßstäben und Uhren verwenden, wieder nur strukturell fassen, kommen wir wieder nur zu einem Satz, der hypothetisch ist, und so fort bis ins Unendliche. Würden wir einen solchen Regreß zulassen, dann kämen wir mit der Wissenschaft 78

Schlick (1934), S. 308 und 310.

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nie zu einer Erkenntnis, nicht einmal zur simplen Erkenntnis, daß ein singulärer Beobachtungssatz wahr ist. Wollen wir aber mit der Wissenschaft die „Befriedigung echter Wirklichkeitserkenntnis" erreichen, dann müssen wir Konstatierungen verwenden. Konstatierungen werden damit aber nicht Teil der Wissenschaft. Die Sätze der Wissenschaft sind nämlich „samt und sonders Hypothesen, sobald man sie vom Gesichtspunkt ihres Wahrheitswertes, ihrer Gültigkeit betrachtet" 79 . Dies rührt daher, daß echte Konstatierungen im Gegensatz zu wissenschaftlichen Aussagen nicht aufgeschrieben werden können. Schreibt man sie auf, so ist der Moment, an dem man die Konstatierung äußerte, schon verflossen und man stellt über ein Ereignis zu einem früheren Zeitpunkt eine Hypothese auf, die sich nur auf das fehlende Erinnerungsvermögen stützen kann. „Man kann auf den Konstatierungen kein logisch haltbares Gebäude errichten, weil sie schon fort sind in dem Moment, in dem man zu bauen anfängt. W e n n sie zeitlich am Anfang des Erkenntnisprozesses stehen, sind sie logisch zu nichts nutze. Ganz anders aber, wenn sie am Ende stehen: sie sind die Vollendung der Verifikation (oder auch Falsifikation), und in dem Augenblick ihres Auftretens haben sie ihre Pflicht schon erfüllt" 80 .

Wirklichkeitserkenntnis wird so für Schlick, überspitzt formuliert, zu einer privaten ,Utopie des Augenblicks'. Welche Konsequenzen hat dies nun für das Problem von der Einheit von Wissenschaft und Leben? Auf der einen Seite ist die Trennung zwischen wissenschaftlichem Sprechen und zwischen vorwissenschaftlichem, alltäglichem Sprechen aufgehoben: hier wie dort werden nur strukturelle Kennzeichnungen verwendet. Es gibt aber eine Ausnahme: die Konstatierungen, die nicht vollständig in Struktur überführt werden können und die doch für mich als erkennendem Subjekt unabdingbar notwendig sind. Dies bedeutet aber, daß die fraglos angenommene gemeinschaftliche Verbindlichkeit der Verwendung alltäglicher Sprache aufgelöst und in die verschiedenen Verifikationserlebnisse der einzelnen Individuen aufgestückelt wird. Damit wird die Kluft, die zwischen Alltag und Wissenschaft bestanden hat, an anderen Stellen nur um so tiefer aufgerissen, nämlich zwischen meiner Konstatierung und deiner Konstatierung.

79 80

Schlick (1934), S. 310. Schlick (1934), S. 304 f.

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Schlick gerät mit dieser „Lösung" des Problems in eine gefährliche N ä h e zu den Thesen von Rickert. Für Rickert (s.o., S. 159) kommen wir nur mit dem unmittelbaren Leben, niemals mit den Begriffen der N a t u r wissenschaft an das „inhaltlich erfüllte Wirkliche" heran. Für Schlick bringt die Wissenschaft als eine Ansammlung von Hypothesen selbst keine Wirklichkeitserkenntnis. Erst die Konstatierung, die jeder f ü r sich allein d u r c h f ü h r t als ein direktes Hindeuten auf die Wirklichkeit, verschafft „uns die Befriedigung echter Wirklichkeitserkenntnis" 8 1 . Aber sobald wir die Konstatierung als wissenschaftlichen Baustein verwenden wollen, ist sie schon fort. Die wissenschaftliche Sprache ist zwar von der gleichen Art wie der stabile (aufschreibbare) Teil unserer Alltagssprache. Die Kluft zwischen privater Konstatierung und gemeinsamer, intersubjektiver wissenschaftlicher Erkenntnis ist jedoch nicht überbrückt.

Neuraths Kritik am logischen Aufbau Einen ganz anderen W e g als Schlick schlägt N e u r a t h zur Lösung des Konflikts zwischen Wissenschaft und Alltag ein. Bei ihm wird der einzelne am Ende nicht zur fensterlosen M o n a d e wie bei Schlick, sondern zu einem sozusagen von allen Seiten durchsichtigen Wesen. U m diese U m k e h r u n g verstehen zu können, möchte ich erst zeigen, wie N e u r a t h bei seiner Kritik an Carnap vorgeht. Carnap hatte schon 1925 eine erste Fassung des „Aufbaus" vollendet. Er trug noch im selben Jahr im Diskussionskreis um Schlick in Wien seine Ideen vor. Als er sich 1926 dann fest in Wien verpflichtet hatte, wurde das Manuskript der ersten Fassung, das noch den Titel „Konstitutionssystem der Begriffe" trug, im Kreis gelesen und diskutiert 8 2 . Neurath veröffentlichte 1928, als die revidierte Fassung im D r u c k erschien, eine Besprechung des Buches (sowie der gleichzeitig erschienenen Schrift Carnaps „Scheinprobleme in der Philosophie") in der Monatsschrift der österreichischen Sozialdemokratie „Der K a m p f " (hrsg. von Friedrich Adler). Er preist die beiden W e r k e als Beiträge zum „empirischen Rationalismus", der den „Kampf" der Aufklärer und Materialisten in einer der Gegenwart angemessenen Formulierung weiterführt.

81 82

Schlick (1934), S. 309. Carnap (1963), S. 19 f. und Feigl (1969), S. 635. Feigl berichtet, daß der Titel „Der logische Aufbau der Welt" auf einen Vorschlag von Schlick zurückgeht.

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D e r Rationalismus „stemmt sich der herrschenden bürgerlichen Philosophie entgegen, die immer mehr theologisierenden Denkrichtungen sich zuwendet". Es werden „theologisierende N e i g u n g e n " bei Historikern und N a t i o n a l ö k o n o m e n kritisiert, Max Scheler und der Philosoph August Wilhelm Messer werden namentlich solcher N e i g u n g e n bezichtigt. Neurath charakterisiert dann den „Aufbau" Carnaps als Versuch, der zeigt, „wie man ein geschlossenes Weltbild nach Ausschaltung aller zufälligen und wechselnden Sinneseindrücke bekommen kann. [Carnap] . . . unternimmt es, die Sinneseindrücke auf Grund bestimmter Anordnungen zu kennzeichnen, von Anordnungen, in denen ,rot', ,hart', ,laut', ,Cis' usw. nicht auftritt, sondern nur das, was an diesen Tatbeständen mathematisch-logisch erfaßbar ist — und das reicht ausi Von Einfühlung jeglicher Art, von der persönlichen Einstellung als Ausgangspunkt, kehrt sich Carnap bewußt ab. Er kennt nur Einsicht, die von Menschen jeglicher Art erfaßt werden kann ! Anordnung ist das Allgemeinste, das Universellste, das wir an den Dingen erfahren! In seinem Bestreben, den logischen Aufbau der Welt zu gestalten, ringt er auch um die ,ideale Sprache' und bemüht sich zu zeigen, wie man bei ,vollkommener Einsicht' verfahren müßte" 83 . D o c h Neurath kritisiert nun gerade diese Idee der vollkommenen Einsicht als eine irreale Fiktion, die höchstens als Instrument für gegenwärtige Kämpfe von N u t z e n sein kann. D a aber die geschichtliche Entwicklung nach seiner Auffassung immer nur für kurze Abschnitte verallgemeinerbar und durchschaubar ist, ist ein endgültiger logischer Aufbau der W e l t utopisch! W a s wir an Klarheit in der einen Frage gewinnen, können wir in anderen Fragen auch wieder verlieren. Neurath schreibt in seiner Besprechung weiter: Carnap „neigt dazu, von einer Vorwegnahme voller Einsicht ausgehend, unseren jetzigen Zustand als eine Art Vorstufe zu betrachten! Diese Einstellung rührt vielleicht daher, daß er, von der Physik und den Naturwissenschaften überhaupt ausgehend, die Sozialwissenschaften nicht eingehend analysiert. Er hätte sonst vielleicht manches vorsichtiger gefaßt und insbesondere der Frage Raum geschenkt, wie man nun die Erkenntnis fördern könne, solange man ,saubere' und ,unsaubere' Denkweisen in bunter Mischung benützen müsse, was übrigens vielleicht immer nötig sein wird! Die Sauberkeit logischer Ordnung gewährt Eindeutigkeit! Das ist richtig! Wie aber überwindet man die Vieldeutigkeit, die schon durch die Auswahl allein eintritt auf anderen Gebieten, zum Beispiel denen der Sozialwis-

"

Neurath (1928), S. 296.

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Michael Heidelberger senschaften? H i e r tritt in der Wirklichkeit die zeit- und klassengebundene Ideologie an die Stelle der logischen Eindeutigkeit! D e r Kollektivismus gibt dem einzelnen den Halt, der aus der Sache selbst nicht immer erfließen kann, w o h l nie erfließen wird" 8 4 !

Noch zehn Jahre später bezeichnet Neurath Carnaps „Aufbau" als „imaginative construction" und stellt sie (keinesfalls in ironischem Sinne) auf eine Stufe mit den „stimulative imaginative novels" von H. G. Wells85. Für Neuraths Einstellung ist die Überzeugung zentral, daß der Bereich der „unsauberen Denkweisen" nicht einfach als vorläufiger und prinzipiell überwindbarer Mangel angesehen werden kann. Vielmehr sind „die Vielfältigkeit und Unbestimmtheit wesentlich". „Man mag alle diese Programme [der Einheitswissenschaft und des Empirismus] so systematisch w i e nur möglich erfüllen und den logischen Aufbau möglichst sorgfältig durchzuführen trachten, wir gelangen nicht zu ,einem' System der Wissenschaft, das gewissermaßen an die Stelle der ,wirklichen Welt' treten könnte, alles bleibt mehrdeutig und in vielem unbestimmt. ,Das' System ist die große wissenschaftliche Lüge"86.

Auf Carnap übertragen würde das heißen, daß der „Logische Aufbau" zwar als Klärung eines Teils wissenschaftlicher Denkweisen durchaus von Nutzen ist, daß aber dadurch kein Rezept gegeben ist, wie man mit den Unbestimmtheiten des Lebens generell umzugehen hat. Carnaps „Aufbau" sagt nichts (und kann nichts sagen) über den Bereich, in dem die Unbestimmtheit am deutlichsten sichtbar ist, im alltäglichen Sprechen und Leben. Wenn ein „logischer Aufbau" auch die Einheit von Leben und Wissenschaft mit einschließen soll, dann muß zusätzlich noch sichergestellt werden, daß auch diejenigen Erkenntnisansprüche wissenschaftlich kritisierbar bleiben, die den Charakter der Unbestimmtheit haben. Es genügt also nicht der Nachweis, daß zumindest im Medium der Wissenschaft Erkenntnisse intersubjektivierbar und damit übertragbar sind. Es muß vielmehr gezeigt werden, daß auch im Bereich der unwissenschaftlichen, vorwissenschaftlichen und alltäglichen „unsauberen" Denkweisen die Möglichkeit und Verbindlichkeit von Erkenntnissen gewährleistet werden kann, auch wenn eine wissenschaftliche Konstitution der verwendeten Begriffe noch nicht abzusehen ist. 84 85

Neurath (1928), S. 296. Neurath (1938), S. 12 und 13. Neurath (1935), S. 626.

Z e r s p a l t u n g u n d Einheit

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Fragwürdiger noch als Carnaps Aufbau mußte von dieser Einstellung aus Schlicks „Lösung" des Problems der Zugänglichkeit des Gegebenen und des Problems der Einheit von Wissenschaft und Leben erscheinen. Bei Carnap ist die Welt des Alltags wenigstens noch in einer utopischen Ferne intersubjektiv konstituierbar, während es für Schlick mit den Konstatierungen Aussagen über die Welt gibt, die prinzipiell niemals intersubjektivierbar sind. Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen, die Menschen im Umgang miteinander erheben, wird dadurch bei Schlick letztlich ganz unmöglich gemacht. Wahrheit wird zu einem privaten psychischen Akt des Individuums. Die „Augenblicke der Erfüllung und des Verbrennens sind das Wesentliche. Von ihnen geht alles Licht der Erkenntnis aus", wie Schlick schreibt 87 . Durch Schlicks Fassung der Verifikation wird entwertet, was durch Carnaps „Aufbau" an Intersubjektivität der Erkenntnisse gewonnen zu sein schien.

Verbindlichkeit durch intersubjektive Kontrolle: Neuraths Physikalismus 1928 noch scheint Neurath in der Besprechung des „Aufbaus" der Meinung gewesen zu sein, man könne Carnaps Programm so ergänzen und durch neue Akzente verschieben, daß Schlicks Vorgehen nicht mehr damit verträglich wird. 1931 jedoch drückt er die Uberzeugung aus, daß Carnaps System tiefgreifend verändert werden muß. Er hält die eigenpsychische Basis des Systems dafür verantwortlich, daß man zu einer solchen Theorie wie der von Schlick kommen kann. Auch die vorwissenschaftliche und alltägliche Sprache ist schon intersubjektiv, sie benötigt dazu nicht erst die Weihe der Wissenschaft. „Beim Versuch, ein Konstitutionssystem zu schaffen, hat Carnap, der bisher die Arbeiten des Wiener Kreises wohl am weitesten in der Richtung des Empirismus vorwärts geführt hat, zwei Sprachen unterschieden, eine m o nologisierende' (,phänomenale') Sprache und eine ,intersubjektive' (,physikalische'). Er sucht die physikalische aus der phänomenalen abzuleiten. Meiner Ansicht nach läßt sich aber zeigen, daß diese Teilung nicht durchführbar ist, daß vielmehr nur eine Sprache von vorneherein in Frage kommt, nämlich die physikalische. Man kann von Kindesbeinen an die physikalische Sprache lernen. W e n n jemand eine Voraussage macht, die er selbst kontrollieren will, muß er mit Änderungen seines Sinnessystems rechnen, muß er

Schlick (1934), S. 310.

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Uhren und Maßstäbe anwenden, kurzum, auch der isoliert gedachte Mensch bedient sich bereits der ,intersensualen' und ,intersubjektiven' Sprache. Der Voraussagende von gestern und der Kontrollierende von heute sind gewissermaßen zwei Personen"88. Neurath schlägt hier eine neue Lösung des Konfliktes zwischen Wissenschaft und Alltag vor, die sich von Schlicks Lösung radikal unterscheidet und von Carnaps Ansatz nur die Hälfte übernimmt. Für N e u rath beziehen sich die Aussagen der Wissenschaft nun nicht mehr auf die eigenen Erlebnisse (wie bei Carnap und Schlick), vielmehr auf räumlichzeitliche Objekte. U n d dies gilt von Anfang an: die physischen G e g e n stände (und alle weiteren „höheren") werden nicht mehr aus den eigenpsychischen Gegenständen aufgebaut, sondern die räumlich-zeitlich beschreibbaren Gegenstände bilden die unterste Stufe, aus der alle weiteren Gegenstände konstituiert werden 8 9 .

88 89

Neurath (1931a), S. 419 f. Es soll hier nicht untersucht werden, wer den Physikalismus als erster „erfunden" hat. Normalerweise gibt man Neurath die Priorität. Vgl. jedoch Haller (1979), S. 304: „Schließlich scheint auch die Idee des Physikalismus . . . auf ihn [Neurath] zurückzugehen, wenngleich die ,Priorität' dieser Konzeption sowohl von Wittgenstein wie von Carnap ,beansprucht' wird". Und ähnlich Haller (1982), S. 27: „Wittgenstein accused Carnap 1932 of having taken from him the main ideas of physicalism." Haller stützt sich dabei auf bisher nicht veröffentlichte Briefe Carnaps an Neurath und Wittgenstein an Carnap resp. Schlick (Persönl. Mitteilung). Vgl. auch Neider (1977), 29 f., wo Neider berichtet, daß er als erster die Idee gehabt habe. Carnap hat in (1928), § 59, S. 80 f., und § 63, S. 84 f., die „Systemform mit Basis im Physischen" behandelt und sie als „die f ü r den Gesichtspunkt der Realwissenschaft geeignetste O r d n u n g der Begriffe" (S. 81) bezeichnet, sie aber dennoch zurückgewiesen, da sie nicht die erkenntnismäßige O r d n u n g der Begriffe wiedergebe. Im Vorwort von 1961, S. XII, zu Carnap (1928) und in Carnap (1934), S. 248 f., wird der Physikalismus als gemeinsame Schöpfung von Carnap und Neurath dargestellt, wobei der N a m e ,Physikalismus' von Neurath stamme (S. 249). In Carnap (1963) S. 52, wird es eher so dargestellt, daß die These von Neurath ist und die präzise Ausführung durch Carnap geliefert wurde. Feigl gibt in (1969a), S. 8, eine Interpretation, nach der Wittgenstein der Urheber des Physikalismus war: „Carnap throughout all his pronouncements . . . has rejected the metaphysical doctrines . . . as being cognitively meaningless, but he has come to endorse the conceptual framework of an empirically realistic physicalism as a preferable reconstruction of common sense and especially of science. This seems to be essentially the position as that taken by Wittgenstein in the Tractatus (5.62) . . . and (5.64)". Diese beiden Stellen lauten: „. . . was der S o l i p s i s t . . . meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich. . . . " und: „Hier sieht man, daß der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt. Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität".

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Das Argument, das Neurath hier gegen den Aufbau eines Systems mit eigenpsychischer Basis vorbringt, zielt auf die Konsistenz in der Verwendung einer eigenpsychischen (d. h. noch nicht intersubjektivierten phänomenalen, ,monologisierenden') Sprache. Wenn nicht grundsätzlich die Möglichkeit besteht, eigenpsychische Aussagen an raumzeitlichen Bestimmungen zu überprüfen, dann hat der einzelne keine Kontrollinstanz, an der er die Konsistenz seiner eigenen Verwendung dieser Aussagen überprüfen kann. Wenn aber solche Kontrollinstanzen bestehen, dann ist die eigenpsychische Sprache schon intersubjektiv, ihre Verwendung kann auch von einem andern kontrolliert werden. Bestehen aber keine solchen Möglichkeiten, die Aussagen an raum-zeitlichen Bestimmungen zu überprüfen, dann sind sie metaphysisch und damit sinnlos. Eine Sprache, für deren Gebrauch raum-zeitliche Bestimmungen als Kontrollen dienen, nennt Neurath physikalistisch. Es kommen darin solche Ausdrücke vor, mit denen die Physik die physischen Gegenstände als räumlich-zeitliche Objekte, Ereignisse oder Prozesse charakterisiert. Physikalische Aussagen im engeren Sinne werden in einer speziellen Sprache der Physik, wie ζ. B. der Mechanik, Elektrodynamik usw. gemacht. Nach diesen Definitionen ist also die physikalistische Sprache reicher als die physikalische; es können in ihr auch solche Bestimmungen vorkommen, die zwar nach der Physik als räumlich-zeitlich gelten, jedoch nicht eigens in der Physik zum Gegenstand gemacht werden. So sind ζ. B. die räumlich-zeitlichen Begriffe des Alltags Teil der physikalistischen Sprache. Die Sprache des Behaviorismus ist physikalistisch, aber nicht physikalisch — das Verhalten des Menschen ist zwar nach physikalischen Kriterien (d. h. raum-zeitlich) bestimmbar, aber trotzdem nicht eigentlich Gegenstand der Physik. Der Physikalismus ist also ein System, das „die physikalische Natur der Einheitswissenschaft betont, dagegen die Art, wie Physik betrieben wird\ offenläßf90. Doch selbst der Physikalismus könnte möglicherweise eines Tages überwunden werden, wenn sich ein anderes Sprachsystem herausbilden sollte, das bessere Voraussagen zuläßt und andere intersubjektive Kontrollmöglichkeiten als die der raum-zeitlichen Bestimmungen vorsieht. Der Standpunkt des Physikalismus ist „nur historisch bestimmt: ,der Physikalismus ist die Form, in der unsere Zeit Einheitswissenschaft betreibt'" 91 . 90

"

Neurath (1931), S. 425. Neurath (1934), S. 617.

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Wenn Neurath den Physikalismus als Alternative zu Carnap und Schlick propagiert, dann verpflichtet er sich zum Nachweis, daß der Physikalismus nicht mit den Schwierigkeiten der Systeme von Carnap und Schlick belastet ist. Man müßte also zeigen können, daß der Physikalismus die Einheit der Wissenschaft gewährleistet und den Konflikt zwischen Wissenschaft und Alltag löst, ohne sich, wie Schlick und Carnap, nur noch mehr in das Problem der Zugänglichkeit des Gegebenen zu verstricken. Das Problem der Zugänglichkeit des Gegebenen war entstanden in Reaktion auf die Fragen nach der Vergleichbarkeit der Erlebnisse und der Ubertragbarkeit der Erkenntnisse. Die physikalistische Sprache hat nun gerade die Eigenschaft, daß nur solche Termini in ihr vorkommen (neben den logischen Konstanten), die für raum-zeitliche Bestimmungen stehen, d. h. intersubjektiv kontrollierbar sind. Also sind auch insbesondere solche Sätze, in denen wir über unsere wechselseitigen Erlebnisse sprechen, an raum-zeitlichen Bestimmungen kontrollierbar und damit vergleichbar. Als Beispiel führt Neurath an, wie ein Farbwort, z. B. ,blau', „in die Einheitssprache einzugliedern ist. Man kann es im Sinne der Schwingungszahl v o n elektromagnetischen W e l l e n verwenden. Man kann es aber auch im Sinne einer ,Feldaussage' v e r w e n d e n und damit meinen: W e n n ein (in bestimmter W e i s e definierter) sehender Mensch als Probekörper in den Bereich dieses [blauen] W ü r f e l s kommt, dann verhält er sich in bestimmter physikalistisch beschreibbarer W e i s e , er sagt z. B.: ich sehe ,blau'" 9 2 .

Im Physikalismus stellt sich also der Vergleich von Erlebnissen, z. B. Farberlebnissen, die zwei Menschen haben, genauso unproblematisch dar wie etwa der Vergleich von zwei Tischen (oder wie der als unproblematisch angesehene Vergleich von Strukturen in Schlicks und Carnaps Systemen): Zwei Menschen haben ein gemeinsames „Blau-Erlebnis", z. B. wenn sie unter Normalbedingungen bei Konfrontation mit einem blauen Gegenstand diesen übereinstimmend als blau bezeichnen. Die physikalistische Sprache ist gerade so gewählt und definiert, daß die Erlebnisse bezüglich der räumlich-zeitlichen Bestimmungen des Erlebten vergleichbar sind. Da es überdies keine Erlebnisse gibt, die auf andere Weise als durch Vergleich räumlich-zeitlicher Eigenschaften vergleichbar wären und da alle Erlebnisse auf diese Weise vergleichbar sind,

Neurath (1931b), S. 538.

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ist auch die Ubertragbarkeit der Erkenntnisse universal gewährleistet. Es gibt keine so sonderbaren Gebilde wie die privaten Materialaufweisungen für Carnaps System oder wie die flüchtigen Konstatierungen bei Schlick — schon deren Begriff ist sinnlos. Die Einheit der Wissenschaft erreichen Neurath wie Carnap durch die Einheitlichkeit der Gegenstände der Wissenschaft. Während bei Carnap die einmal konstituierten Begriffe das feste und unerschütterliche Fundament der Wissenschaft bilden, sind für Neurath alle Begriffe grundsätzlich wandelbar und durch andere ersetzbar, solange sie sich nur auf Raum-Zeitliches beziehen. Damit rückt bei Neurath der Physikalismus als Methode in den Vordergrund. Während die streng konstituierte Wissenschaft für Carnap ein System mit fester hierarchischer, erkenntnistheoretischer Ordnung bilden wird, bleibt für Neurath die Wissenschaft immer im Fluß, auch wenn die Einheit der Wissenschaft einmal erreicht sein sollte. Die Forderung nach raum-zeitlicher Bestimmbarkeit der Gegenstände schließt nämlich keine Eindeutigkeit ein. Es sind immer mehrere Möglichkeiten des physikalistischen Sprechens über die Welt denkbar, die sich evtl. sogar in manchen Fällen ausschließen können. Vgl. das Beispiel oben mit dem Farbwort „blau": Es kann als Ausdruck für eine spezielle Schwingungszahl von Wellen verwendet werden oder als Ausdruck für das Sprachverhalten eines Menschen in einer normalen Situation. Das eine kann mit dem anderen immer zusammengehen. Es kann aber auch zum Konflikt kommen, d. h. die entsprechende physikalische Schwingung liegt vor, aber der Mensch in der Normalsituation beschreibt den vorliegenden Gegenstand nicht als blau, oder umgekehrt. Dann ist es allein unsere Entscheidung, welche Sprechweise wir als die verbindlichere vorziehen. „Ich würde meinen, daß sogar dann, w e n n die v o n mir selbst bevorzugte Formulierung unseres Programms allgemein sich durchgesetzt hätte — mehr kann ich d o c h w o h l nicht voraussetzen — Multiplizität der Wissenschaft möglich wäre, so daß die für kollektive Arbeit und Verständigung nötige Einheitlichkeit selbst dann nur historisch erreicht werden könnte, durch besondere Entschlüsse o d e r durch das Leben auf gemeinsamer sozialer und technischer Basis" 93 .

Mit dieser Konzeption ist schon die wichtigste Barriere zwischen Wissenschaft und Alltag gefallen — beide stellen sich nicht als System

93

Neurath (1935), S. 625.

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dar, beide sind sich darin gleich, daß sie nicht abgeschlossen, sondern mehrdeutig und in vielem unbestimmt sind. Der Konflikt zwischen Alltag und Wissenschaft wird vollends gelöst, indem die Methode des Physikalismus als universale Methode genommen wird, die für alltägliches vorwissenschaftliches wie wissenschaftliches Sprechen gleichermaßen zutrifft. Auch die Gegenstände des Alltags sind raum-zeitliche Gegenstände, und nur solche. Und die Art und Weise, wie die Wissenschaft ihre Aussagen kontrolliert, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Art und Weise, wie im größten Teil der Alltagssprache Aussagen kontrolliert werden. Wissenschaftliche Sprache ist nichts weiter als die von den letzten Schlacken der Metaphysik gereinigte, geordnete und vereinheitlichte Alltagssprache. Wenn wir streng wissenschaftlich sprechen wollen, dann müssen wir nach Carnaps und Reichenbachs Auffassung zuerst einmal unsere ganze Sprache logisch konstituiert haben. Das heißt, daß wir die wissenschaftliche Lösung der meisten praktischen Probleme, die zwischen den Menschen anstehen, auf eine lange Zukunft verschieben. Da aber auf diese Zukunft normalerweise nicht gewartet werden kann und selbst die ideale Zukunft keine Eindeutigkeit bringt, müßte in Carnaps Ansatz für den Alltag eine Lösung ohne die Wissenschaft, d. h. ohne eine rationale Kritik gefunden werden. Der kritische wissenschaftliche Geist hätte, streng genommen, im Alltag keinen Platz. Ganz anders bei Neurath: sein Wissenschaftsbegriff hat zwar auch normative Züge, denn metaphysische Begriffe müssen als sinnlose Ausdrücke auch aus unserer Alltagssprache entfernt werden. Aber wir können unsere bisherige Sprache in Wissenschaft und Alltag unbesehen so lange weiterverwenden, bis uns auffällt, daß der eine oder andere Begriff nicht physikalistisch definiert ist. Dann müssen wir uns entweder auf eine physikalistische Definition einigen oder den Begriff aus der Sprache streichen. „Man kann streng physikalistisch und d e n n o c h durchaus u n g e z w u n g e n unter V e r w e n d u n g traditioneller W o r t e sprechen. Es ist ein Irrtum z u meinen, daß man im Sinne der Einheitswissenschaft immer nur sehr präzise und komplizierte W e n d u n g e n verwenden müsse. Man muß nur alles auf P r o t o kollsätze zurückführen können [d. h. auf Beobachtungsaussagen, „in denen wahrnehmende Personen und Reiz ausübende D i n g e auftreten" 9 4 .]. Man

94

Neurath (1931b), S. 537.

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kann ganze Abhandlungen gewissenhaft im Stil der Einheitswissenschaft abfassen, ohne daß es die Leser überhaupt merken, weil die Eigenart der Abhandlung vor allem in der Weglassung gewisser Termini besteht" 9 5 . D a N e u r a t h metaphysische Begriffe nicht nur d e s w e g e n verwirft, weil sie sinnlos sind, sondern auch weil sie, w i e wir g e s e h e n haben (s. o. S. 28 f.), eine ideologische, d. h. den wahren Zustand der Gesellschaft verschleiernde Funktion haben, wird der Teil der Alltagssprache, der schon o h n e Mithilfe wissenschaftlicher Kritik physikalistisch ist, sehr stark aufgewertet: „In gewissem Sinne geht die hier vertretene Auffassung von einem gegebenen Zustand der Alltagssprache aus, die im wesentlichen physikalistisch beginnt und gemeinhin erst allmählich metaphysisch durchsetzt wird. Darin liegt ein Berührungspunkt mit dem natürlichen Weltbegriff' bei Avenarius. Die Sprache des Physikalismus ist sozusagen nichts Neues; sie ist die Sprache, die gewissen ,naiven' Kindern und Völkern vertraut ist" 96. „Die physikalistische Alltagssprache geht aus der bisherigen Alltagssprache hervor, aus der nur gewisse Teile wegfallen, manches anders verknüpft wird, abgesehen von gewissen Ergänzungen" 9 7 . D i e „erkenntnismäßige O r d n u n g " der G e g e n s t ä n d e und Begriffe, wie sie Carnap im „Aufbau" konzipiert hatte, ist nun radikal aufgelöst. D i e natürlichen, schon o h n e unser Zutun physikalistischen T e i l e der Alltagssprache sind nun primär, o h n e indes ein festes hierarchisches System z u erzeugen. A m A n f a n g des ersten Bandes der Encyclopedia of Unified Science schreibt N e u r a t h (1938) : „The thesis of physicalism . . . emphasizes that it is possible to reduce all terms to well-known terms of our language of daily life . . . More and more scientists stress the fact that in the end one must test all theories by means of the language of daily life" 98. U n d in einem anderen Aufsatz desselben Jahres heißt es : „Von unseren Alltagsformulierungen werden wir als Empiristen immer wieder ausgehen, mit ihrer Hilfe werden wir als Empiristen immer wieder unsere Theorien und Hypothesen überprüfen. Diese groben Sätze mit ihren vielen Unbestimmtheiten sind der Ausgangspunkt und der Endpunkt all unserer Wissenschaft"99.

»5 Neurath 96 Neurath 97 Neurath 98 Neurath " Neurath

(1933), S. 596. (1931b), S. 540 f. (1931b), S. 539. (1938), S. 19. (1938a), S. 871.

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Michael H e i d e l b e r g e r

Wenn auch die Alltagssprache der Ausgangspunkt der Wissenschaft ist, so ist sie doch nicht „erkenntnismäßig primär" im Sinne von Carnap (s. o. S. 145). Daß die eine Sprache der anderen vorausgeht, ist eine historisch gewachsene Ordnung, die unter gewissen Bedingungen, die möglicherweise sehr künstlich wären, auch umgekehrt auftreten könnte. Die Aufwertung der Alltagssprache in Neuraths Einheitswissenschaft hat einen doppelten Naturalismus zur Folge. Nicht nur die unbelebte und belebte, soziale und geistige Welt ist auf die raum-zeitlichen Bestimmungen als die natürlichsten Eigenschaften zurückführbar, auch die Sprache, in der diese Bestimmungen letztlich ausgedrückt werden, ist die natürlichste von allen. Die Aufgabe der Einheitswissenschaft besteht nun darin, einerseits die Alltagssprache von allen Bestimmungen zu befreien, die sich im Lauf der Geschichte aus metaphysischen Denkweisen in die Alltagssprache „eingeschmuggelt" haben, andererseits alle metaphysischen Elemente aus der Wissenschaft auszumerzen. Erst so kann für Neurath eine wahre Einheit von Wissenschaft und Leben zustande kommen.

Schluß In Neuraths Physikalismus werden die drei Probleme gelöst, von denen der Wiener Kreis ausgegangen war: — Unsere Erlebnisse sind vergleichbar und unsere Erkenntnisse übertragbar, weil alles Sprechen über Erlebnisse auf raum-zeitliche Bestimmungen rückführbar ist und an solchen Bestimmungen überprüft werden kann. — Die Wissenschaft bildet eine Einheit, weil sie sich einer einheitlichen empirischen Sprache bedient, der Raum-Zeit-Sprache. — Und schließlich: Es gibt keine Kluft zwischen Alltag und Wissenschaft, weil die Sprache, mit der wir uns im Alltag miteinander verständigen, der O r t ist, von dem jedes wissenschaftliche Sprechen seinen Ausgang genommen hat und auf das es auch heute noch zurückgeführt werden muß. An dieser Stelle kann nicht näher darauf eingegangen werden, wie die Diskussion zwischen Schlick, Carnap, Neurath und anderen Anhängern der wissenschaftlichen Weltauffassung tatsächlich verlaufen ist, welche Gründe und Gegengründe im einzelnen vorgebracht wurden und

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welche innere Entwicklung der Physikalismus dann selbst später genommen hat 100 . Nur soviel sei gesagt, daß Carnap sich ein großes Stück weit von Neuraths Ideen überzeugen ließ, daß aber Schlick die Lösung nicht akzeptieren konnte. Eines sollte aber durch die hier gegebene Darstellung klargeworden sein, daß die Abwendung von der erkenntnismäßigen Ordnung des logischen Aufbaus der Welt und der Ubergang zum Physikalismus nicht dadurch erklärt werden kann, daß man lediglich auf die Intersubjektivität und Universalität der physikalistischen Sprache hinweist. („Universal" verstanden als „ausreichend für alle Wissenschaften" 101 .) Auch der Aufbau der Wissenschaft mit eigenpsychischer Basis 100

101

Neben den in 1) genannten Darstellungen vergleiche: Rütte (1979). Von H . Rütte wird in Neurath (1981), S. IX, das Erscheinen eines ganzen Buches zu diesem Thema angekündigt: Wahrheit und Basis empirischer Erkenntnis. Studien zur österreichischen Philosophie, Bd. 5, Amsterdam (Rodopi). Dieses Werk war mir noch nicht zugänglich. In allen mir bekannten Darstellungen des Ubergangs vom Konstitutionssystem auf eigenpsychischer Basis zum Physikalismus fehlt ein Vergleich zwischen beidem. Meist wird lediglich die Intersubjektivität und Universalität der physikalistischen Sprache hervorgehoben. Der genannte Ubergang kann aber nur dann verständlich gemacht werden, wenn man Gründe dafür anführt, warum das eine System besser erschien als das andere. Es genügt also nicht, die Intersubjektivität und Universalität des Physikalismus nachzuweisen, sondern man muß auch zeigen, warum ein System mit eigenpsychischer Basis weniger intersubjektiv ist! Für dieses Versäumnis und die daraus resultierende Verdunklung ist wohl zum Großteil Carnap selbst verantwortlich. Im ersten Aufsatz, in dem Carnap den Physikalismus vertritt (Carnap (1931)), wird die physikalische Sprache als universal, intersubjektiv und intersensuell erwiesen, wobei eine Auseinandersetzung mit dem „Aufbau" unterbleibt. Ähnlich Carnap (1963): „In my view, one of the most important advantages of the physicalistic language is its intersubjectivity, i. e. the fact that the events described in this language are in principle observable by all users of the language." (S. 51 f.) Auf ähnliche Weise gehen K r a f t (1968), S. 148, Joergensen (1951), S. 78, Ayer (1959), S. 19 f. und Stegmüller (1965), S. 392, vor. Eine Ausnahme bildet Carnap in seinem Vorwort von 1961 zu (1928), S. XII, wobei man allerdings sehr genau hinschauen muß, um einen Unterschied zu bemerken. Carnap bemerkt dort, die Basisform im Physischen habe den Vorzug, daß in bezug auf beobachtbare Eigenschaften und Beziehungen physischer Dinge „eine größere intersubjektive Übereinstimmung besteht. Die von Wissenschaftlern in der vorsystematischen sprachlichen Verständigung verwendeten Begriffe sind von dieser Art. Daher erscheint mir ein Konstitutionssystem auf einer solchen Basis besonders geeignet f ü r eine rationale Nachkonstruktion der Begriffssysteme der Realwissenschaften". Der Physikalismus ist also intersubjektiver als das System auf eigenpsychischer Basis, weil er auch den intersubjektiven Gebrauch von solchen Begriffen zuläßt, die der Alltagssprache angehören und noch nicht eindeutig konstituiert sind ! Die Notwendigkeit, diesen „vorsystematischen", noch nicht konstituierten alltäglichen Bereich miteinzubeziehen, ergibt sich nur aus der Bemühung, das Problem der Einheit von Wissenschaft und Leben befriedigend zu lösen. Universalität und Intersubjektivität der Wissenschaft sind auch ohne Einschluß des vorsystematischen Bereichs gewährleistet, wie der „Aufbau" gerade gezeigt hat. Feigl in seinen Erinnerungen erwähnt den Physikalismus nicht. Wahrscheinlich hat er wegen seiner Abwesenheit in den USA die wichtigsten Diskussionen zur relevanten

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war ja mit dem Anspruch vorgelegt worden, die Intersubjektivität und Einheit der Wissenschaft zu gewährleisten! Im Wiener Kreis war man allgemein der Auffassung, daß dieser Anspruch auch eingelöst worden ist, wie ein Zitat aus dem Manifest von 1929 bezeugt: „Hauptthese der Konstitutionstheorie: Es gibt ein alle Begriffe der Wissenschaft umfassendes Konstitutionssystem. . . . Alle Wissenschaft hat ,intersubjektive', das heißt f ü r alle Subjekte gültige Erkenntnis zum Ziel. Das Konstitutionssystem kann aber als Basis nur ,meine' Erlebnisse verwerten. Die Durchführung zeigt, daß trotz dieser auf das Ich beschränkten Basis (,methodischer Solipsismus') jenes Ziel der Intersubjektivität erreicht wird" 102.

Der Übergang zum Physikalismus muß vielmehr gesehen werden im Zusammenhang mit dem starken Bewußtsein, daß die „Wissenschaft" und das „Leben" wieder zusammengebracht werden müssen, daß die Entfremdung zwischen der Wissenschaft als einem Teil der Kultur und dem Erfahrungshorizont des alltäglichen Denkens und Handelns überwunden werden muß, um an die Stelle der unwissenschaftlichen Leitbilder, die als brüchige Götzenbilder erkannt worden sind, eine vernünftige wissenschaftliche Alternative zu setzen. In den Worten von Reichenbach, 1930: „Die Entseelung und Entzauberung der Welt ist Grundzug nicht nur der Naturforschung, sie ist zugleich Grundzug unseres täglichen Daseins, ist die Kategorie, unter der wir unsere Gegenwart zu sehen haben. . . . Der Zusammenbruch traditioneller Gefühlswelten ist heute das Problem für das Leben jedes Einzelnen, für das Leben des Tages, und die physikalische Wissenschaft, so sehr ihre Wendung logischer Kritik entsprang, vollzieht darin nichts anderes als ihre Eingliederung in eine soziologische Tendenz unserer Zeit" 103 .

Zeit nicht miterlebt. Für ihn ist nur der Trend zum Realismus wichtig, der eine Folge der Wende zum Physikalismus war: „Perhaps the most important and constructive aspect in the transition [from logical positivism] to logical empiricism was the element of empirical or scientific realism that became increasingly prominent in our views. Reichenbach and I had already opposed the phenomenalistic reduction during the twenties. In this regard w e were closer to the views of Zilsel and Popper. W e regretted that Schlick had abandoned his early critical realism, and w e tried to reinstate it in a more defensible form. This was achieved through the liberalization of the empiricist criterion of meaning. Verifiability was replaced by (at least indirect and incomplete) testability; or, as we now usually put it, by confirmability or disconfirmability". Feigl (1969), S. 657. Vgl. auch oben, Anm. 89. 102 103

Neurath (1929), S. 317. Reichenbach (1930/31), S. 70.

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Diese Tendenz ist auch für den Wiener Kreis nicht stehengeblieben. Nach der Versprengung und der Emigration der Mitglieder und vieler seiner Sympathisanten und nach der Ermordung Schlicks im Jahre 1936 geht die Erinnerung an die Grundprobleme, von denen die Diskussion ihren Ausgangspunkt genommen hat und der Zusammenhang mit einer speziellen Problemsituation allmählich verloren. Carnap und Frank spielen später den Unterschied zwischen dem „logischen Aufbau" mit eigenpsychischer Basis und dem Physikalismus herunter und stellen ihn hin als eine Geschmackssache, je nach dem, welche Sprache einem besser gefällt l04 . Der Physikalismus büßt allmählich wichtige Eigenschaften ein: es ist nicht mehr die Rede von den Unbestimmtheiten der Beobachtungsaussagen, die Verwurzelung der Wissenschaftssprache in der „groben" Alltagssprache wird vergessen, die Idee von der historischen Genese der Wissenschaftssprache aus der Alltagssprache wird abgelöst von einem neuen erkenntnismäßigen Fundamentalismus 105 . Die Idee eines systematisch konstruierten eindeutigen Systems, die auch schon dem „logischen Aufbau" zugrunde lag, gewinnt in anderer Form wieder die Oberhand. Es entsteht diejenige Auffassung, die man heute gemeinhin als die klassische Formulierung des logischen Empirismus ansieht, der sogenannte „Received View of Theories" 106 . Unter Physikalismus versteht man nun vorwiegend eine grundlagentheoretische Position in der Psychologie l07 . Erst nachdem der logische Empirismus und die analytische Philosophie seit den sechziger Jahren (weithin ohne Kenntnis ihrer eigenen Geschichte) den historischen Charakter des wissenschaftlichen Denkens ernst zu nehmen begannen, ist auch für den logischen Empirismus selbst ein deutlicherer Blick auf die frühe Geschichte der Idee von der wissenschaftlichen Weltauffassung möglich geworden.

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Frank (1949), S. 36 und Carnap (1963), S. 50; vgl. S. 46. Zu untersuchen wäre, welche Rolle die Tarski-Semantik in diesem Zusammenhang gespielt hat. Jedenfalls hat sich Carnap von der Neurathschen Kohärenztheorie der Wahrheit wieder einer Korrespondenztheorie zugewendet. Vielleicht war er der Auffassung, daß die Korrespondenztheorie auch einen fundamentalistischen Theorieaufbau fordert. Diese Bezeichnung wurde von Putnam 1962 eingeführt und hat sich inzwischen fast allgemein durchgesetzt; siehe z. B. Suppe (1977), S. 3 ff. Auch Suppe stellt die Geschichte der Wissenschaftstheorie so dar, als ob der „Received View" schon vom frühen Wiener Kreis entwickelt worden sei. Vgl. z. B. das Buch von Κ. V. Wilkes, Physicalism, London 1978.

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ECKEHART KÖHLER

Die Metaphysik beim Wiener Kreis"' 1. Von allen Ansätzen des Wiener Kreises war die Ablehnung der Metaphysik der penetranteste, der bestechendste, aber auch der abstoßendste. Dabei war es eigentlich gar nicht so, daß der Wiener Kreis die Ausrottung der Metaphysik zu seinem zentralen Hauptanliegen gemacht hätte, so als erschöpfe er sich in einer Art materialistischer Ideologiekritik. Die radikalen Sprüche gegen Metaphysik sind immer wieder stillschweigend umgangen bzw. offen revidiert worden, wo immer es klar geworden war, daß eine tolerante Haltung in bezug auf die aktuelle Wissenschaftspraxis dies erfordere. Der Wiener Kreis teilte nicht Brouwers Einschränkung der Mengenlehre, Logik und klassischen Mathematik auf effektiv konstruktive Verfahren; er teilte nicht Machs Ablehnung des Atomismus und der Relativitätstheorie; er teilte nicht Watsons Achtung psychischer Begriffe wie Introspektion oder des Unbewußten. Die Haltung zu den von Quine mit Recht sogenannten „ontologischen Bindungen" war also merkwürdig tolerant und pragmatisch: das „Ockamsche Messer" hatte man wenig Lust zu wetzen. Ferner reichte das Interesse an Metaphysik nicht einmal hin, um von dem radikalen Unterschied zwischen dem logischen Begriff von Aristoteles und den Rationalisten Descartes und Leibniz einerseits, und dem mystischen, dialektischen Begriff der Neuplatoniker Plotin und Proklos und der deutschen Idealisten Fichte und Hegel andererseits Notiz zu nehmen. 1 Das Hauptanliegen des Wiener Kreises war statt dessen die Ausarbeitung einer „positiven" Wis* Vortrag gehalten an der Arbeitstagung „Die Geschichte des Wiener Kreises", 26. II. 1982, Z e n t r u m f ü r interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld; überarbeitete Fassung. Arbeit d u r c h g e f ü h r t im R a h m e n des Projekts N r . 4517 des österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung: „Wissenschaftsphilosophie in Osterreich 1918—1938". Projektleiter: Prof. D r . Edgar Morscher, Universität Salzburg, und Prof. D r . Erika Weinzierl, Universität Wien. Mitarbeiter: Mag. D r . Friedrich Stadler und Karl Müller, beide Wien. 1 Zum logischen Begriff Aristoteles', s. Fußnote 4. Die Lücke der Geschichtsschreibung über Metaphysik von einem dem Wiener Kreis nahestehenden Standpunkt ist z. T. von Topitsch (1958) gefüllt w o r d e n , dessen an Ideologiekritik reiches W e r k leider keine Behandlung der Ontologie und des Begriffsbildungsapparats der mathematischen Wissenschaften enthält. Uberhaupt ist die Literatur speziell über die Geschichte der Ontologie

D i e Metaphysik beim Wiener Kreis

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senschaftstheorie, und die Achtung der Metaphysik war eine Abwehr gegen philosophische Strömungen, die nicht Schritt hielten mit dem damaligen Umschwung der Wissenschaft. Dies ist der entscheidende Punkt bzgl. des Metaphysik-Begriffs des Wiener Kreises, 2 wie unten weiter ausgeführt wird. Trotz alledem war die Verfemung der Metaphysik die auffälligste und wohl auch am stärksten einigende Thematik des Wiener Kreises. Alle wichtigen Mitglieder, von Schlick bis Neurath, waren Feuer und Flamme für Ausschaltung, und insbesondere die Arbeiten Carnaps aus den frühen dreißiger Jahren haben es geradezu zum Programm gemacht, eine echt metaphysikfreie Wissenschaftstheorie aufzubauen. Mein Anliegen wird es hier sein, zu zeigen, daß dieses Programm nicht gelingen kann, weil es schlechthin übersieht, daß gerade die zwei wichtigsten Gegenstände der Wissenschaftstheorie, die Beobachtungsbasis und die Logik, eminent metaphysisch sind, weil sie für empirische Untersuchungen jeweils a priori feststehen müssen. Daß Beobachtungsbasis und Logik als Metaphysik gelten, ist zwar mehrfach im Wiener Kreis bemerkt worden; 3 aber jedes Bestreben, diese Tatsache unparteiisch anzusehen, ist von der festen Uberzeugung im Keim erstickt worden, daß die bei „Schulphilosophen" herrschende Metaphysik (etwa Kants transzendentale Deduktion, Hegels Dialektik, Heideggers Nihilismus) gemessen an der neuen Logik und Wissenschaft auf die Schutthalde gehört. Man hat eine unbändige W u t auf Obskurantismus, Irrationalismus, unkontrollierte Spekulation gehabt. Metaphysik sei so wie Theologie nicht unter allgemein anerkannte Forschungskriterien zu bringen, die es erlauben, durch intersubjektiv gültige Prüfungsmethoden zu definitiven Ergebnissen zu gelangen. Die Anwendung des herrlich prägnanten Sinnkriteriums verschärfte diese Einsicht aufs äußerste. N u n war der Wiener Kreis keineswegs gegen das a priori Gültige, das durch die analytischen Sätze der Logik und der Beobachtungsbasis wiedergegeben wird. Für einen Sympathisanten des Wiener Kreises, der

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vom Standpunkt der modernen Logik aus gesehen bisher recht rückständig geblieben, mit Ausnahme der Schriften von Heinrich Scholz (s. Fußnote 4). Außerdem hervorzuheben sind die Gebiete der Leibniz- sowie der Bolzano-Studien; s. Weingartner (1983) und Morscher (1969), (1973), D a ß Metaphysik-Kritik nicht das wesentliche Merkmal war, zeigt sich eindeutig an den engen Beziehungen des Wiener Kreises zur (eher Aristotelischen) Lemberg-Warschauer-Schule, wie auch zu Popper, der nie Metaphysik abgelehnt hat. Ζ. B. Schlick (1931) wies energisch Weinbergs Zurechnung der Logik zur Metaphysik mit dem Hinweis auf deren tautologischen Charakter zurück.

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Eckehart Köhler

auch nur ein wenig in der Geschichte der Metaphysik bewandert ist, ist es nachgerade peinlich feststellen zu müssen, daß dieses a priori Gültige bereits bei Aristoteles, gerade schon als das Wesen der Metaphysik angesehen wird. 4 N u n hat der Wiener Kreis herzlich wenig mit Aristoteles zu tun haben wollen, weil dieser sich so hervorragend für eine starre Scholastik verwenden läßt; und, es muß gesagt werden, gerade seine metaphysischen Schriften waren die undurchsichtigsten und fragwürdigsten seines ganzen Opus. Nur kommt man bei einer geschichtlichen Beurteilung über die Auseinandersetzung mit Metaphysik nicht darum herum, den Aristotelischen Begriff als maßgebend anzunehmen. 5 Demnach ist es eine äußerst gravierende und heikle Frage bei der Deutung des logischen Empirismus des Wiener Kreises, wie es möglich gewesen ist, die Metaphysik auszuschalten, aber gleichzeitig das (wohlgemerkt antipsychologistische!) a priori Gültige der analytischen Sätze zu verteidigen. Die Antwort war, daß das a priori Gültige sich gar nicht auf irgendeine „Realität", geschweige denn eine transzendente, platonische, 6 bezieht, 4

Nach Aristoteles war Metaphysik (immer als „erste Philosophie", manchmal „erste Wissenschaft" bezeichnet) zunächst eine Wissenschaft im Sinne der Analytica Posteriora, d. h. nach Scholz (1930) eine axiomatisch-deduktive Theorie. Aris, kennzeichnete sie ständig als die Lehre von den „Axiomen"(d. h. der — logischen! — Gesetze des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten, der Identität, an einer Stelle fügte er Syllogistik zu den „Axiomen" hinzu sowie vereinzelt sonstige logische Gesetze, insbesondere relationstheoretische) und der Substanz (d. h. Angabe fundamentaler Gegenstandsarten und deren Beschaffenheit, der Wesensbegriff, die abstrakten Begriffe der Mathematik und Ideenlehre). Die Axiome entsprechen also ungefähr der Logik, die Substanz ungefähr der Beobachtungsbasis plus Begriffe höherer Ordnung, etwa Mengen. Er kennzeichnete Metaphysik wiederholt methodologisch als anwendbar in jeder Einzelwissenschaft (d. h. insbes. in jedem Individuenbereich) sowie ontologisch als Wissenschaft vom Seienden als solchen (ov T| ov), d. h. Gegenstände ohne nähere Beschreibung; beide Kennzeichnungen sind explizierbar durch logische Allgemeingültigkeit. Theologie spielt eine völlig untergeordnete Rolle: Gott wird in einem offenbar spät komponierten Buch ohne jeglichen Verweis auf andere Bücher der Metaphysik definiert als unbewegter Beweger, also (kosmologisch-)physikalisch, nicht ontologisch. Substanz wird gekennzeichnet als (wohl technomorphe) Zusammensetzung von Materie und Form, während der (biomorphe) Begriff der Entelechie in den metaphysischen Büchern kaum aufscheint; d a f ü r spielen Kategorien, Schlußregeln, semantische Fragen und Mathematik die führenden Rollen. Siehe Köhler (1968), (1969).

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Die Lemberg-Warschau-Schule um Lukasiewicz und Lesniewski stammte über T w a r dowski vom Aristoteliker Brentano ab. Siehe Skolimowski (1967). Auch Leibniz, Bolzano und Peirce fanden die Aristotelische Scholastik fruchtbar und versuchten nicht, Metaphysik von Logik zu trennen; s. z. B. Burkhardt (1980), § 5.04: „Logik und Metaphysik". Übrigens kann man der Aristotelischen Metaphysik nicht anlasten, Transzendenzthesen zu beinhalten; gerade hierin liegt ihr Unterschied zum Piatonismus: Auch „unsinnliche" Dinge wie Zahlen und Formen werden als immanent in Gegenständen angesehen, was direkt zum Nominalismus als Gegensatz zur Platonisch-Christlichen Theologie führte.

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sondern auf Sprachkonventionen über die Verwendung von Sätzen. Dieser Sprachkonventionalismus rührte zunächst von zwei Entwicklungen her: a) der von Neurath und Wittgenstein stark geförderten Auffassung der Logik und Beobachtungsbasis als Angelegenheiten der Sprache; b) der von Menger vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen unter Logizisten, Intuitionisten und Formalisten hergeleiteten Auffassung, daß verschiedene Logiken nebeneinander bestehen und je nach Verwendungszweck ihre Berechtigung haben (Carnaps „Toleranzprinzip" geht auf diese Auffassung zurück 7 ). Für die Wendung zum Sprachkonventionalismus war die letztere Entwicklung ganz entscheidend. Denn merkwürdigerweise war die bis dahin erfolgte Wendung zur Sprache gar nicht konventionalistisch gemeint: Für den Wittgenstein des Traktats war „die Sprache" eindeutig und unverrückbar (ihre Funktion war ja gerade, die möglichen Welten abzubilden), und für Neurath war weder Logik eine Sache des „Entschlusses", 8 noch ließ er je an der einzig vertretbaren physikalistischen Beobachtungsbasis rütteln. Trotz des offenbar zunächst antikonventionalistischen Absolutismus Neuraths und des frühen Wittgenstein förderte deren linguistische Auffassung den Sprachkonventionalismus Carnaps erheblich, und zwar wegen der naheliegenden Annahme, daß Sprache eine menschliche Institution sei. 2. Obwohl ich mich im folgenden hauptsächlich auf Carnap konzentrieren werde, ist es sehr wichtig, sich die z. T. kraß unterschiedlichen Motivationen von Neurath und Wittgenstein bezüglich Metaphysik klarzumachen. Zunächst war beiden gemeinsam der zutiefst moralische Charakter der Ausschaltung der Metaphysik aus der Wissenschaft, wobei Moral sich bei beiden, und unabhängig von ihnen auch bei Schlick, auf Glückseligkeit bezieht; nach beiden ist die Versuchung, metaphysische Sätze zu behaupten, schädlich für eine glückliche Lebensführung. N u r liegt der Schaden für Neurath in irrigen Handlungen, vor allem im politischen Bereich, während er für Wittgenstein in der Verletzung seiner ästhetischen Askese lag. Es versteht sich, daß diese Haltungen gegenseitig Spott und H o h n anregten. Neurath hielt Metaphysik f ü r den Absolutismus eines „Pseudorationalismus", 9 der sichere Erkenntnis da vortäuscht, wo es keine geben kann. Darunter fallen alle Varianten von

7 Carnap (1934) § 17; Menger (1930), (1933). » Neurath (1934), S. 350. 9 Neurath (1913). Siehe die Darstellung in Nemeth (1981), S. 177.

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Absolutismus und Theologie, Metaphysik und Mystik, Transzendenzlehren sowie überhaupt alle „Wirklichkeits"-Hypothesen, die alle eine schädliche Rolle spielen, analog zu Marxens Religion als Opiat und als Mittel der Versklavung. Im Gegensatz hierzu hielt Wittgenstein gerade das Mystische, die Religion und das Transzendente für weit wichtiger als alle Wissenschaft, beseelen und durchdringen sie doch alles im Leben; nur kann man sie nicht mit Worten beschreiben, so wie Gott nach der „negativen Theologie" nicht vom menschlichen Verstand zu fassen ist.10 Eine der wichtigsten Einsichten des Traktats war in der T a t die Feststellung, daß in gewissen einfachen empirischen Sprachen logische Strukturen nicht darstellbar, also nicht „sagbar" und insofern transzendent sind. Inzwischen ist es natürlich durch die Entwicklung der Metamathematik und Semantik klar, was hier fehlt: Ausdrucksmittel über ganze Sprachsysteme — die übrigens Wittgenstein selbst in seinen „Erläuterungen" ständig benutzte, aber unter dem Vorbehalt, sie wie ein Gerüst später wegwerfen zu müssen. " Die Sachlage ist offenbar die, daß Wittgenstein, abgesehen von den unablässigen Gefühlsstürmen, die ihn an jeder systematischen Entwicklung einer Theorie hinderten, es aus einer ästhetischen Haltung heraus verabscheute, über lebensimmanente Gegenstände hinaus zu Abstraktionen explizit überzugehen; so, wie wenn ein Meisterhandwerker plötzlich mit bohrenden Fragen über Wesen und Zweck seiner Arbeit belästigt wird, oder wenn man während einer Orgie das Erlebnis unterbricht und versucht, das Ganze explizit begreifen zu wollen. Solche Dinge gehören sich nicht, sie sind schlechter Lebensstil. Jedoch haben solche transzendierenden Abstraktionen sehr wohl anderswo ihren angemessenen Platz, und es ist sogar eine Art Kulturprimitivismus, ihre Ausarbeitung zu untersagen. Um so wichtiger ist hier die Feststellung, daß Wittgenstein im Traktat fortwährend durch 10

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Aufschlußreich ist Wittgensteins (1969) Brief Nr. 23 an Ludwig von Ficker: „. . . der Sinn des Buches ist ein Ethischer. [ . . . ] . . . mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es, streng, nur s o zu begrenzen ist." Wittgenstein (1922), $ 6.45. Kennzeichnend f ü r diese Haltung war der Streit im Wiener Kreis über Carnaps Forderung einer Metasprache im Sinne seiner Logischen Syntax (1934). Waismann als Vertreter Wittgensteins blieb stur dagegen, offenbar aus dem einzigen Grunde, daß Wittgenstein es so wolle. Schon 1914 hat Russell Wittgenstein eine Metalogik vorgeschlagen, was auf taube Ohren stieß. Neurath teilte durchaus Wittgensteins Zustimmung zu dem Loosschen Diktum „Ornament ist Verbrechen" (was Neider verwendete, um Neurath zu überzeugen, seinen Bart abzurasieren). Doch war Neurath gegen Wittgensteins Ablehnung der Metalogik; Neurath (1931), (1933).

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nach ihm streng so gekennzeichnete „sinnlose" Erläuterungen selber doch Metaphysik betrieb, was völlig richtig von Neurath während des Durcharbeitens des Traktats um 1926 im Wiener Kreis bis zum Überdruß eingewendet wurde. Die Auflehnung des Wiener Kreises gegen Metaphysik muß man weiters auf dem Horizont einer kulturellen „Erhebung" gegen Absolutismus beurteilen, deren Geist vielleicht am treffendsten von Nietzsche geprägt wurde. Tatsächlich gehen die Parallelen zwischen Wiener Kreis und Nietzsche ins einzelne·.Ua a) Leugnung eines Objektes für die Logik, b) Sprachauffassung der Logik, c) Angleichung der Mathematik zur Logik, d) damit verbundene Aufgabe der Kantischen apriorischen Synthetik, sowohl in Mathematik wie in Physik, e) entschiedene Ablehnung der Metaphysik und f) proto-„existentialistische" Auffassung der Wissenschaftsmethode als Lebensform. 3. Die Einstellung des Wiener Kreises zur Metaphysik war darum viel radikaler als frühere skeptische Lehren von Nominalisten und Idealisten, weil diese die Metaphysik eigentlich bloß beschränken wollten, während der Wiener Kreis Neurath in der Ablehnung jedweder „Realitätsthese" bzw. „Wirklichkeitsthese" folgte. Dies zeigte sich charakteristischerweise daran, daß man (mit der Ausnahme von Hahn 1 2 ) eben nicht zum Ockamschen Messer griff, um ein überwucherndes metaphysisches Gestrüpp zurückzuschneiden — die Methode der nominalistisch und extensionalistisch veranlagten Forscher Quine und Goodman, die ausdrücklich Ontologie betrieben. Vor allem Carnap und Menger verwahrten sich im Sinne des Toleranzprinzips dagegen, ontologisch anspruchsvolle Theorien wie Mengenlehre, die Leibniz-Wittgensteinsche Lehre der möglichen Welten und die Lehre des Kontinuums aus der Wissenschaft zu streichen. Dagegen besann man sich also, anstatt eines „Ockamschen Messers", dessen Verwendung zum besseren Gedeihen einer übrigbleibenden Metaphysik gereichen sollte, eines offenbar viel radikaleren Prinzips: des Sinnkriteriums. Motiviert durch Neuraths radikale Forderung, nicht nur transzendente Wesen, sondern überhaupt jede Wirklichkeitsthese abzulehnen, verwendete Carnap das Sinnkriterium, um auch die Sinnlosigkeit und daher Unhaltbarkeit eben der Wirklichkeitsthesen " a Aufschlußreich die Ausführungen bei Beth (1938) und (1965), S. 176 ff. Einschlägiges findet man auch bei Del N e g r o (1923). 12 H a h n (1930).

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nachzuweisen. 13 Das Argument verläuft ganz analog zu Wittgensteins Beobachtung, daß logische Strukturen einer Sprache nicht explizit als Gegenstände innerhalb der Sprache selbst behandelt werden können und daß man daher auch nicht innerhalb dieser Sprache die Tatsache ausdrücken kann, daß Sätze von bestimmter Struktur logisch wahr bzw. kontradiktorisch sind. Genauso wies Carnap darauf hin, daß die Kennzeichnung einer Beobachtungsbasis als real, physikalisch, phänomenal, ideal usw. innerhalb derselben Sprache nicht ausgedrückt werden kann und daß die unterschiedlichen metaphysischen Deutungen der Beobachtungsbasis bezüglich der Verwendung der Sprache mit jener Beobachtungsbasis irrelevant sind. Diese Einsicht ist insofern sehr wertvoll, als sie besagt, daß solche metaphysischen Thesen außerhalb des Rahmens der Ausdrucksmittel der jeweiligen Sprache fallen. Die Angelegenheit wird sofort sehr heikel, wenn man sich, wie Carnap, Zugang zu einer Metasprache verschafft, denn in dieser lassen sich all die transzendenten Sachverhalte ausdrücken, die sich immanent innerhalb der Objektsprache nicht ausdrücken lassen, wie logische Wahrheit, mögliche Welt usw., aber auch, ob die Basis realistisch, phänomenalistisch, physikalistisch o. ä. ist; und es wird eben dort möglich sein, doch noch verschiedene metaphysische Deutungen zu untersuchen, weil sie gerade die Anwendung der Sprache beeinflussen. Es stellt sich nämlich heraus, daß Carnaps Argument in den Scheinproblemen §§9, 10 nur mit Annahme der empirischen Äquivalenz der verschiedenen Deutungen der Beobachtungsbasis sticht (Carnap hat sogar wahrscheinlich stillschweigend die schärfere Annahme der Identität der verschiedenen Deutungen gemacht, was das Resultat trivialisiert). Denn unter den unterschiedlichen Deutungen der Beobachtungsbasis werden unterschiedliche Beobachtungs- oder Meßverfahren den Beobachtungsprädikaten der Objektsprache zugeschrieben, wobei die verschiedenen, etwa physikalistischen oder phänomenalistischen Meßverfahren jeweils gleiche Resultate ergeben sollen (ob dies meßtechnisch immer durchführbar ist, sei dahingestellt). Aber obwohl die unterschiedlichen Deutungen unter diesen Umständen tatsächlich in der Objektsprache nicht zu unterscheiden sind, sind sie doch wegen Kostenunterschieden, Zuverlässigkeitsunterschieden u. dgl. auf der Metaebene zu unterscheiden. N u n ist es höchst interessant zu sehen, wie Carnap den gerade erreichten metasprachlichen Standpunkt bei Problemen der Beobachtungs13

Carnap (1928 b), §§ 9, 10, (1931), (1934).

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basis nutzte. , 3 a Hier erwies es sich, daß die (1928 b) als sinnlos aufgegebenen Unterscheidungen einen präzisen und leicht ermittelten (metasprachlichen!) Sinn bekommen: phänomenalistische (,,K"-)Begriffe beziehen sich auf Gehirnvorgänge (am Körper) eines Beobachters, während physikalische („D"-)Begriffe sich direkt auf äußere Dinge beziehen. Die (nunmehr offensichtlich sinnvolle) Wahl einer bestimmten Beobachtungsbasis erfolgt dann mit Bezug auf meßtechnische sowie theoretische Effizienz, deren Ausrechnung innerhalb derselben Beobachtungsbasis in einen Zirkel geriete. Verschiedene metaphysische Standpunkte sind also offensichtlich insofern doch sinnvoll. Daß sie sinnvoll sind, hat Carnap auch vom Anfang bis zum Ende mehr oder minder deutlich gesagt. Im Logischen Aufbau §§ 54, 58 behauptet Carnap die „erkenntnismäßige Primarität" (!) der eigenpsychischen Basis. Später ist Carnap von Neurath zum Physikalismus überredet worden. 1 4 Zuletzt behauptet Carnap, 1 5 Ontologie müßte nach pragmatischen Kriterien beurteilt werden. Leider ist es ihm bis zum Ende nie voll zum Bewußtsein gekommen, daß diese pragmatischen Kriterien selbst als erkenntnistheoretische Normen in eine Metatheorie einzugehen haben, obwohl er ansatzweise die Ethik in einer höchst interessanten Behandlung 16 als normative Werttheorie formulierte. 4. Wir sahen, daß es die konsequente Durchführung des Sinnkriteriums gewesen ist, die zu einer bisher nie vorhandenen Radikalisierung im Kampf gegen Metaphysik führte. Aber wir sahen auch, daß der Schritt zu einer Metatheorie diese Wirkung des Sinnkriteriums wieder 13a

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Dies wurde erstmals von Carnap (1932 b), § 1, unternommen in einer sehr wichtigen und viel zu wenig beachteten Erwiderung auf Neurath (1932), wo die „Protokollsätze" vom Absolutismus der vorherigen atomaren Elementarsätze bereinigt werden. Wichtig ist vor allem die erstmalige Unterscheidung zwischen internen und externen ontologischen Fragestellungen (hier bzgl. der nichtlogischen Beobachtungsbegriffe), die Carnap (1950) erst viel später zu großem Anklang bzgl. logisch-mathematischer Axiome wieder aufgriff. Carnap (1932 a), §§ 5, 6. Bergmann (1954) betrachtete logischen Positivismus längst als durchtränkt mit Metaphysik. Carnap (1950). Carnap (1963), „Replies" § 32 B, C, S. 1000 ff. Es handelt sich um die Einführung eines Modalbegriffs „utinam", der sogenannte „optatives" darstellen soll. O f f e n b a r hat Carnap diesen Begriff stillschweigend von Menger (1939) übernommen, der seinerseits das zu Unrecht in Vergessenheit geratene Ethik-Buch des Grazer Logikers Ernst Mally (1926) verwendet hatte.

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aufhebt, weil hier gerade die interessanten, aber bisher „unaussprechlichen" Spracheigenschaften (logische Struktur, Beobachtungsbasis) jetzt explizit ausgedrückt werden können. Es ist nun merkwürdig, daß Neurath gerade das Sinnkriterium fernhielt (weil es von Wittgenstein stammt?); vielleicht hat er geahnt, daß es letzten Endes die Metaphysik doch nicht ausschaltet. Auf jeden Fall war die Situation reif für einen neuen Ansturm auf Metaphysik. Es galt jetzt nämlich zu zeigen, daß eine Sprache auch in ihrer Beschreibung durch eine Metatheorie metaphysikfrei bleibt — was um so interessanter wäre, als gerade dabei die „metaphysischen Voraussetzungen" der Sprache explizit werden. Dieser große Wurf ist von Carnap in seiner Logischen Syntax der Sprache versucht worden, die gründlichste und intensivste Anstrengung in der Geschichte der Philosophie, die Metaphysik total auszuschalten. Hierin galt es nun, die Sprache als physikalisches Gebilde von Zeichen und deren Verhältnissen zueinander aufzufassen und alle sonst metaphysischen Eigenschaften (logische Strukturen, Realitätsbezüge) als rein physikalisch-syntaktische Eigenschaften auszuweisen. Dies wäre die definitive Realisierung von Neuraths Physikalismus-Programm zur Ausschaltung der Metaphysik. 17 Wichtig hier war vor allem der Ansatz des Formalismus von Hilbert, der von jeder semantischen Deutung der Zeichen absah. In diesem Zusammenhang war es nun für Carnap besonders wichtig, das große, von Gödel nachgewiesene Manko im Formalismus-Programm: dessen Unvollständigkeit und das daraus folgende Fehlen eines (effektiven) Widerspruchsfreiheitsbeweises zu überwinden. Dies war auch wichtig vom Standpunkt des Logizismus, dem Carnap immer anhing, da er eine vollständige Erfassung aller mathematischen Strukturen durch die logischen anstrebte. 18 Das Gelingen von Carnaps Syntax-Programm bedeutete darüber hinaus die Krönung von Wittgensteins Bemühung, Logik und Mathematik als sinnleere Tautologien auszuweisen, was durch den nicht-effektiven Begriff der syntaktischen Analytizität tatsächlich gelingt. 19 17

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Natürlich deutet schon der Terminus „Physikalismus" an, welcherart Metaphysik der „Antimetaphysiker" Neurath vertritt: eine Version des Materialismus; s. Fischer (1982). Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß Neurath eine (natürlich behavioristische) Semantik vertritt: .„Gleiche Sätze' sind zu definieren als Reize die bei bestimmten Reaktionsprüfungen gleiche Reaktionen hervorrufen." Neurath (1932), S. 209. Carnap (1935); auf Englisch in (1937). Siehe hierzu die hervorragende Rezension von Kleene (1939). Carnap (1934), S. 39, 135 (s. bes. § 52).

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Was passiert nun aber mit dem Sinnkriterium in der Logischen Syntax? Der Sinn von logischen Strukturen wird durch rein syntaktische Strukturen gedeutet. Der Sinn der Beobachtungsbasis wird aber durch Ubersetzungen von verschiedenen Realitätsthesen in die „formale Redeweise" als syntaktische Abbildungen von empirischen Verhältnissen aus der „inhaltlichen Redeweise" wiedergegeben. 20 Ist es nun gelungen, Metaphysik auszuschalten? Nein, und zwar aus zwei Gründen, a) Erstens macht schon die syntaktische Metasprache sehr starke ontologische Voraussetzungen. Beschreibt Carnap sie doch als „Mathematik und Physik der Sprache", 2 ' und diese werden selbstverständlich „inhaltlich" verwendet. Insbesondere stellt es sich heraus, daß Carnap im „Gültigkeitskriterium" Zeichenmengen von (mindestens) abzählbar unendlicher Größe verwendet; weiterhin verwendet er nicht-effektive (also transfinite!) Ableitungsregeln (die „Folge-Verfahren", § 3), um die Vollständigkeit seiner „Sprache II" nachzuweisen, in welcher u. a. der Kontinuumsbegriff und damit zusammenhängende Integrale und Differentiale zum Zwecke der Darstellung physikalischer Theorien bezeichnet werden. Ferner setzt er natürlich die übliche Beobachtungsbasis der Physik selbst voraus, um syntaktische Strukturen zu beschreiben. b) Zweitens wird wiederholt unterderhand eine Semantik mitgeschleppt, deren Zeichen stillschweigend doch als sinnvoll verwendet werden. Dieser Tatbestand tritt überall dort zutage, wo Carnap auf Ubersetzungen zurückgreift. 2 2 Es ist doch eine Binsenweisheit, daß die Semantik, also eine vollentwickelte Wahrheitstheorie, direkt auf Ubersetzungsregeln aufgebaut werden kann; denn die „syntaktische Zuordnung", die durch eine Ubersetzung erfolgt, setzt doch die Feststellung einer (semantischen!) Synonymität voraus. Carnap hat an wesentlichen Stellen die Semantik in die „reine" Syntax hereingeschmuggelt. Carnaps mucksmäuschenstiller Ubergang zum Tarskischen Semantik-Begriff um 1935 23 zeigte denn, daß sein H e r z doch bei den Realitätsthesen schlug. 24 20 21 22 23

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Carnap (1934), § 79. Carnap (1934, § 73, p. 210. Carnap (1934), SS 61, 62. Hervorragend geschildert in C o f f a (1977). Übrigens war Semantik Carnaps Arbeitstitel für die Logische Syntax, deren Titel von Neurath angeregt wurde. Siehe auch Neuraths Bericht (1935) zur allgemeinen Stimmung nach Tarskis bahnbrechender Darstellung seiner Semantik. Am tödlichsten für das Syntax-Programm erscheint mir folgendes Zitat (Neurath (1935), S. 400): „ R O U G I E R gab der Anschauung nicht weniger Kongreßmitglieder Ausdruck, als er witzig bemerkte, früher hätte er gemeint, Vertreter des logischen Empirismus müßten geradezu Angst haben, wenn der

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Also doch Metaphysik! Der alte Eifer versiegte. Übrig blieben nur mehr schwache Nachklänge aus der Zeit der Scheinprobleme.25 5. W o z u nun der ganze Zirkus? Hatte die Metaphysik-Zermalmung überhaupt einen Sinn gehabt? Eine positive Antwort finden wir in dem früheren Zustand der Metaphysik selbst, 26 denn sie war tatsächlich rückschrittlich, obskurantistisch, antiwissenschaftlich. 27 Vor allem Neurath pochte immer wieder auf Bezüge Metaphysik zu Aberglauben, Messianismus, Okkultismus, Irrationalismus und Mystik. 28 Heutzutage sind viele dazu geneigt, solche Geistesströmungen für unwichtig zu halten, weil sie im Zuge der Industrialisierung, Säkularisierung und Demokratisierung als überwunden gelten. Zur Zeit des Wiener Kreises sah die Lage aber gar nicht so rosig aus. Uberall agierten Vertreter der verschiedensten Richtungen des Irrationalismus in Politik und Kunst. Aber in keinem Bereich schlugen Irrationalisten so unverfroren Purzel wie in der Metaphysik; darum mußte diese dem Wiener Kreis als Schundabladeplatz des abendländischen Geistes erscheinen. Es nimmt dann insofern gar nicht wunder, daß es einmal zu einer gewaltigen Empörung gegen den auch und besonders in der akademischen Philosophie geläufigen Unfug gekommen ist, und in dieser Hinsicht ist die Empörung des Wiener Kreises doch sehr begrüßenswert und sogar beispielhaft für die ganze Philosophiegeschichte.

Kellner einen Kalbsbraten serviere, nun auf der Speisekarte nachzusehen, ob das dem Menü entspreche, denn sie sähen es als unzulässig an, einen Satz mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Nun habe man aber die Darlegungen TARSKIS und L U T M A N - K O K O S Z Y N S K A S gehört, und jeder Vertreter des logischen Empirismus könne aufatmen . . ." Neurath beschreibt hier auch seine am selben Kongreß geäußerte Enttäuschung mit der Einführung eines ontologischen Inhalts durch die Semantik; diese Enttäuschung führte zu der späteren Mißstimmung mit Carnap über dessen semantische Arbeiten. 25 26

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Carnap (1963), „Replies", S. 933. Eine sehr lebendige Beschreibung der Situation findet man in Linke (1961). Er war kein Anhänger des logischen Empirismus, obwohl er dessen Wissenschaftlichkeit, vor allem Carnaps, lobte. Er schildert mit großer Sachkenntnis die Verheerung der „Sauberkeit" der logischen Methode, vor allem durch Dilthey, Scheler und Husserl (!), deren Endresultat Heidegger gewesen sei. Noch schärfer urteilt Kraft (1932), in soliden Erörterungen über Husserl und Dilthey. Carnap (1928 a), § 182 lehnte die Möglichkeit einer wissenschaftlichen, aber nicht-begrifflichen, rein intuitiven Metaphysik mit einem treffenden Hinweis auf Bergsons (1903) irrationalistische Lebensphilosophie ab. Ähnlich urteilt auch Schlick (1913), (1926). Siehe Nemeth (1981), III, 2.

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Schuld an dieser Situation in den deutschsprachigen Ländern hatte vor allem die deutsche Romantik und die ihr eigene Philosophie, der deutsche Idealismus. Die Romantik tendierte schon am Anfang dazu, irrationalistisch, anti-aufklärerisch und volkstümelnd bis völkisch zu sein. Zu ihren philosophischen Vertretern gehörten u. a. Hegel, dessen Apologetik des Totalitarismus durch eine „begriffsverflüssigende" Dialektik — eine Fortsetzung der okkultistischen, gnostischen Emanenzlehre Plotins — begründet war; 2 9 ferner Fichte mit seiner nihilistischen, proto-faschistischen Metaphysik der Tat, der Erkenntnislehre des Setzens eines unbedingten Ich. Und eröffnet wurde diese Pandora-Büchse von keinem geringeren als Kant mit seinem beklagenswerten Unverständnis der Logik und seinen unerkennbaren „Dingen-an-sich" neben der dennoch postulierten „transzendentalen Einheit der Apperzeption", derzufolge alle echten Naturgesetze synthetisch-apriorische Anschauungsformen des Ichs sind. 30 Jeder heutige Logik-Historiker, der pflichtgemäß Station bei Kant macht (nicht zu reden von Fichte, Hegel oder Schelling), kann nicht viel mehr tun als den Kopf zu schütteln, wenn er Vergleiche mit den großen Beispielen wie Aristoteles, Leibniz, Frege und Russell anstellt! Seit Kant war nämlich, abgesehen von hervorragenden aber kaum beachteten Leistungen von Fries, Bolzano und Peirce, das Niveau der logischen Exaktheit dermaßen gesunken 31 , daß man nach ihm nur von einem Zeitalter der Verdunkelung sprechen kann, das sich erst mit Frege und Russell wieder verflüchtigte. Der Anklang, den der antimetaphysische Standpunkt erst Ernst Machs und dann der verwandte des Wiener 29 30

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Topitsch (1967), S. 15 ff. Siehe das großartige, wenn auch allzu unerbittliche Kant-Buch von Aebi (1947). Dieses gründlichste Buch, das je über Kant geschrieben wurde, erntete blendende Rezensionen im Ausland, wurde aber in Deutschland sträflich verschwiegen und praktisch unterdrückt durch die Philosophenzunft, weil es einer schonungslosen Entlarvung der KantTradition gleichkommt. Besonders hervorzuheben ist Aebis Darstellung des Ubergangs von Kant zu Fichte und Hegel und, wie diese seine irrationalsten Momente aufgriffen. Der Zeitgenosse Bolzano war sich der verheerenden Wirkung von Kants transzendentalem Apriorismus völlig bewußt: „. . . es müsse eine seiner Lebensaufgaben werden, der heillosen Verwirrung, die Kant, ohne es selbst zu ahnen, durch seine Philosopheme in Deutschland veranlaßt hat — durch die Verbreitung deutlicher Begriffe — nach seinen Kräften zu steuern." Zitiert nach Morscher (1973), S. 33. Auch der eher bedächtige und neutrale Philosophiehistoriker Hans Wagner (1977) geißelte den deutschen Idealismus: „Von dem, was Kant an ,Disziplin' von der reinen Vernunft gefordert hatte, blieb da wohl kaum mehr etwas übrig.", und preist einen „blühenden und früchtetragenden Empirismus", „weil diese Denkbewegung unleugbare Fortschritte gebracht hat, die der Systematiker so oder so zu integrieren gezwungen ist." Und dies in der Eröffnungsrede zur deutschen Hegeltagung 1975!

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Kreises gefunden haben, besonders in der reißerischen Darstellung von Ayers Language, Truth and Logic, ist eindeutig zu erklären als Erlösungserscheinung von der Verdunkelung der Metaphysik des deutschen Idealismus. Der Wiener Kreis war samt und sonders geschlossen gegen Kants transzendentale Philosophie sowie gegen Hegels Dialektik. Auf dem Hintergrund der damaligen Schulbildungen kann diese Tatsache als besonders einigender Faktor angesehen werden. Zwar ist es unrichtig zu behaupten, der Wiener Kreis habe allein den deutschen Idealismus mit einer Metaphysik-Kritik treffen wollen; man denke bloß an das Schindluder, das die Neuplatonisten mit ihrer Magie über den νοΰς trieben. Ich behaupte nur, daß ohne das schlechte Beispiel, das der deutsche Idealismus und Kant dargeboten hatten, der Wiener Kreis diesen W e g nie eingeschlagen hätte. 6. Heute ist es nicht so, daß man sich nun resignierend mit Metaphysik „zufriedengeben" muß, weil sie etwa „unausweichlich" oder „unabwendbar" ist wie eine Erbsünde der Wissenschaft. Die Tatsache ist vielmehr die, daß Metaphysik schlicht und einfach mit der angewandten Logik zusammenfällt. 32 Die abendländische Metaphysik, die in Griechenland begründet wurde, hat großartige Leistungen vollbracht: die modernen Wissenschaften, welche die ganze Welt erobern. Wie Aristoteles sagte, fängt das Philosophieren mit dem Wundern an, und wir stellen fest: Am bewunderungswürdigsten ist diese Metaphysik.

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Eckehart Köhler

P. A. Schilpp (1963) : The Philosophy of Rudolf Carnap, Lasalle, Illinois. M. Schlick (1913): „Gibt es intuitive Erkenntnis?", Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, 37. — (1926): „Erleben, Erkennen, Metaphysik", Kantstudien 31. — (1931): Rezension von S. Weinberg: Erkenntnistheorie, Erkenntnis 2, S. 466. H . Scholz (1930): „Die Axiomatik der Alten", Blätter für Deutsche Philosophie, 4; auch in Scholz (1961). — (1940): „Was ist Philosophie", in Scholz (1961). — (1941): Metaphysik als strenge Wissenschaft, Köln. — (1961): Mathesis Universalis, Basel. H . Skolimowski (1967): Polish Analytic Philosophy, London. F. Stadler (Hrsg.) (1982): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath—Gerd Amtz, Wien. E. Topitsch (1958): Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien. — (1967): Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied und Berlin. H . W a g n e r (1977): „Mehr als ein Jahrhundert seit dem Ende des deutschen Idealismus" Hegel-Studien, Beiheft 17; und in: — (1980): Kritische Philosophie. Systematische und historische Abhandlungen, Hrsg. v. K. Bärthlein und W. Flach, Würzburg. P. Weingartner (1983): „The Ideal of the Mathematization of all Sciences and of ,More Geometrico' in Descartes and Leibniz", in W. R. Shea (Hrsg.) Nature Mathematicized. Historical and Philosophical Studies in Classical Modem Natural Philosophy, Dordrecht, Holland. L.Wittgenstein (1922): Tractatus Logico-Philosophicus, London. — (1969) : Briefe an Ludwig von Ticker (Hrsg. von G. H . Wright und W. Methlagl), Brenner Studien I, Salzburg.

RUDOLF HALLER

Das Neurath-Prinzip — Grundlagen und Folgerungen Nach den gewaltigen geistigen Eruptionen am Ende des alten und am Beginn des neuen Jahrhunderts, aus deren Strom sich unsere Denkbemühungen und Forschungen noch immer nähren, scheint eine Zeit des Atemholens, der Aufarbeitung und Rückschau gekommen. Man spürt wieder die Quellen auf, sucht die Fixsterne der Vergangenheit, um sich in dem Wirrwarr der Gegenwart neu zu orientieren. Diese unleugbare Tatsache scheint jedenfalls einer der Gründe, warum es heute auch zu einer Renaissance des Interesses für den Wiener Kreis, aber auch für seine direkten und indirekten Ahnen oder, um es in der Form einer Neurath-These, die ich auch als prägend für meine eigene Betrachtung finde, auszudrücken: diese Tatsache scheint auch einer der Gründe, warum es heute nicht nur ein weltweites Interesse für die österreichische Literatur unseres Jahrhunderts, für die bildende Kunst und Architektur gibt, sondern auch für das, was man Osterreichische Philosophie nennen kann. Unter dieser Perspektive ist es kein Zufall, daß in den letzten zehn Jahren mehr Arbeiten Neuraths und mehr Ubersetzungen seiner Veröffentlichungen und mehr Publikationen über ihn als in aller früheren Zeit erschienen sind. Zugegeben, wir können für uns nicht in Anspruch nehmen, diese Bewegung in Gang gesetzt zu haben. Aber wir brauchen unser Licht auch nicht unter den Scheffel zu stellen. Nicht weniges wurde hier früher gesehen als anderswo, aber es blieb die „antizipierende Resonanz", von der Neurath spricht, aus. Und daran liegt ja im wesentlichen nicht so viel. Ein solcher Punkt betrifft auch die Geschichte des Wiener Kreises, deren Grundzüge von Neurath selbst stammen. Um seine eigene These von der Einheitlichkeit der Kollektivarbeit im Kreis zu stützen, hat Neurath in den Darstellungen meist von den essentiellen Differenzen innerhalb des Kreises abgesehen. Sie spiegelten sich nur in der Frage der Bezeichnung und in der Frage, welche Mitglieder der Donnerstagsrunden denn echte und welche unechte Mitglieder des Wiener Kreises heißen sollten. So kam es zu dem Mythos der Einheitlichkeit der Grundansich-

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ten jener Forschergruppe, die die Philosophie unseres Jahrhunderts so tief beeinflußt hat wie keine andere und in deren Nachfolge die gesamte analytische Philosophie der zweiten Jahrhunderthälfte steht. 1 Aus dem Abstand wachsen die Differenzen hervor. Und so auch die Gestalt Neuraths. In seinem mit Fleiß zusammengetragenen, kenntnisreichen, nicht immer sehr verläßlichen Werk, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, bezeichnet William Johnston ihn als eines der am meisten vernachlässigten Genies des 20. Jahrhunderts. Und das ist richtig, Neurath war ein Universalgenie: Er arbeitete produktiv auf den Gebieten der Nationalökonomie, der Wirtschaftsgeschichte, der Soziologie, der mathematischen Logik, der Philosophie, der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, der Literaturgeschichte, der Pädagogik, der Bildstatistik, der Politologie, der Städteplanung und Wohnbauforschung, der Museumskunde u. s. w. Er hat in einem seiner Lebensabschnitte mehr geleistet als viele während ihres ganzen Lebens. Hans Hahn, Philipp Frank und Neurath danken wir den „ersten Wiener Kreis", ohne den es nie zur Gründung des Wiener Kreises gekommen wäre. Diese Wissenschaftler diskutierten am Ende des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts die Probleme der Machschen Philosophie und die Diskrepanzen zwischen einer positivistischen und einer konventionalistischen Interpretation der Wissenschaften. Aber erst als H a h n über Czernowitz und Bonn und Neurath über Leipzig und München am Beginn der zwanziger Jahre wieder nach Wien zurückgekehrt waren, wurden die Diskussionen neu aufgenommen. Und durch die von Hahn betriebene Berufung Moritz Schlicks nach Wien war zu diesem ersten Wiener Kreis auch ein professioneller Philosoph hinzugekommen. Da er der einzige Ordinarius für Philosophie im Kreis war, war ihm die Rolle des primus inter pares nahezu selbstverständlich zugewiesen. Welche Rolle Neurath im Kreis und für den Kreis spielte, ist noch immer nicht hinreichend erforscht, obschon er, der sicher die dynamischste Kraft ausstrahlte, der wesentliche Organisator des Kreises und seiner Bewegung blieb und auch in philosophicis einen steten und wachsenden Einfluß ausübte — trotz fehlender akademischer Position. 2

1

2

Vgl. R. Haller, „New Light on the Vienna Circle", in: The Monist, V o l . 6 5 (1982) p. 25—37. Vgl. R. Haller, „Uber O t t o Neurath", in: Ders., Studien zur österreichischen Philosophie Kap. VII, Amsterdam: Rodopi 1979. Vgl. R. Haller, „Der erste Wiener Kreis", im Erscheinen in FS. f ü r C. G. Hempel.

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Schon in der Logischen Syntax von 1934 weist Carnap auf Neurath hin: „Neurath — so heißt es dort — hat in den Diskussionen des Wiener Kreises manche These besonders frühzeitig, oft als erster und besonders radikal vertreten und dadurch, obwohl seine Formulierungen oft nicht unbedenklich sind, auf die Untersuchungen sehr fruchtbar und anregend eingewirkt; so z. B. durch seine Forderung einer einheitlichen Sprache, die nicht nur die verschiedenen Wissenschaftsgebiete, sondern auch die Protokollsätze und die Sätze über Sätze umfassen soll; durch die Betonung des Umstandes, daß alle Bestimmungen der physikalischen Sprache auf Entschluß beruhen, und daß die Sätze niemals endgültig gesichert sind, auch nicht die Protokollsätze; ferner durch seine Ablehnung der sog. vorsprachlichen Erläuterungen und der Wittgensteinschen Metaphysik. Neurath hat die Bezeichnungen ,Physikalismus' und ,Einheitswissenschaft' vorgeschlagen." 3 Aus einer solchen Stelle erkennt man schon den Stellenwert, den er im Kreis einnimmt, in dem er zum eigentlichen Antipoden Wittgensteins und damit auch Schlicks wurde. Es wäre völlig verkehrt, wollte man das politisch deuten. Neurath war durchdrungen von der Aufgabe, die wissenschaftliche Weltauffassung müsse alle Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringen, und davon, daß die Gestaltung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens allein durch rationale Grundsätze erfolgen sollte. Aus diesem Grunde war ihm die Metaphysik der eigentliche Feind und jeder Rückfall in diese auch ein Rückschlag der Aufklärung, durch die allein die wissenschaftliche Weltauffassung sich durchsetzen könnte. Ludwig Boltzmann spricht einmal in einem nicht veröffentlichten Brief an Franz Brentano davon, daß die Metaphysik von solcher Art sei, daß sie eine Migräne bringt, die einen Brechreiz verursacht. Deshalb sei die Aufgabe der Philosophie, „die Menschen von dieser Migräne zu heilen". Und Ernst Mach bezeichnet es als die biologische Aufgabe der Wissenschaft, dem vollsinnigen menschlichen Individuum eine möglichst vollständige Orientierung zu geben — ohne Metaphysik, zumal kein Standpunkt in dieser Orientierung absolut bleibende Geltung habe. Das sind nur zwei bescheidene Zeugnisse aus dem Hintergrund jener Periode der österreichischen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, dem dieser wahrhaft positivistische Geist, der nicht positivistisch sein 3

R. Carnap, Logische Syntax der Sprache. 2. unveränderte Auflage. Wien 1968, p. 248.

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wollte, entstammt. Neurath war von seiner Ausbildung her Sozialwissenschaftler, er hatte in Wien und Berlin Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie studiert und sich 1917 in Heidelberg für politische Ökonomie habilitiert und vor seinen bekannten Schriften im Rahmen des Wiener Kreises mehr als 150 Abhandlungen veröffentlicht, von denen nur wenige überhaupt philosophische Fragen betrafen; die meisten behandeln sozio-ökonomische Probleme von der antiken Wirtschaftsgeschichte bis zu den Aufgaben der Kriegswirtschaft. Man hat in der bisherigen Literatur alle diese Schriften Neuraths so gut wie unberücksichtigt gelassen. Und doch hätte ein Blick auf sie gezeigt, daß eine Reihe methodologischer Fragen bereits in ihnen angeschnitten und behandelt worden war, daß aber auch über die Grundprinzipien und Inhalte einer sozialepikureischen Aufklärungsphilosophie eine Ausgangsklarheit herrschte, die wieder zu erlangen ein Ziel positivistischer Wissenschaftsentwicklung blieb. Die methodologischen Probleme Neuraths gipfeln alle in dem Gedanken der Einheit aller Wissenschaften. Neurath sah sich zu Recht als der sozialwissenschaftliche Experte des Kreises an und mit Carnap, Hahn und Frank, wie bereits oben erwähnt 4 , als Repräsentanten des Wiener Kreises, soweit dieser als eine antimetaphysische Bewegung, die den Grundprinzipien der wissenschaftlichen Weltauffassung zum Siege verhelfen soll, verstanden wird. Bereits in den frühesten Arbeiten von Neurath fällt seine sowohl empiristische wie antimetaphysische Einstellung auf. Wenn ein Begriff analysiert wird, so stellt Neurath zunächst die Frage, ob der Begriff selbst sinnvoll ist und eine Anwendung im Alltagsleben oder in der Wissenschaft hat. 5 Ergibt die logische Analyse kein eindeutiges Resultat, so bedarf es der Entscheidung der Mitglieder der Gelehrtenrepublik, um zu einer Einigung zu kommen. Uber grundlegende Fragen der Lebensordnung wie über die verschiedenen Ansichten über die beste Lebensordnung läßt sich eine solche rationale Entscheidung nicht mehr fällen und auch nicht erwarten. Aber selbst in einem solchen Fall findet Neurath

4 5

Siehe oben, p. 2. Vgl. O. Neurath, „Das Problem des Lustmaximums" (1912), in: Jahrbuch der Philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien 1912, Leipzig: J. A. Barth 1913; wieder abgedruckt in: Ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften (Hrsg. R. Haller und H . Rütte), 2 Bde., Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1981 (in der Folge als G S angeführt), p. 48.

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das „Knöpfeabzählen", also eine rein zufällige Wahl ehrlicher als eine, die durch die Heranziehung einer „unzulänglichen metaphysischen Theorie" erfolgt. 6 Desgleichen zeigt sich auch die fallibilistische Position, die Neurath im Streit um die Grundlagen der Erkenntnis einnimmt, schon in diesen frühesten Abhandlungen. Auch hier taucht wieder das Bild des Knöpfeabzählens auf, das dazu verwendet wird, die Unbegründetheit einer Entscheidung zu symbolisieren. Es gibt — so Neurath — viele Situationen des praktischen Lebens, wo der Mensch im Grunde keine andere Möglichkeit hat, als willkürlich seine Entscheidung in einer Wahl zu treffen. Descartes hatte aus der Tatsache, daß ein System des Wissens all der Dinge, die der menschliche Verstand begreifen könne, noch nicht existierte, die Konsequenz gezogen, daß das Handeln des Menschen im praktischen Sinne sich von Regeln leiten lassen solle, die ihm in solcher Unsicherheit dennoch Sicherheit verleihen. Genau diesen Gedanken provisorischer Regeln analysiert Neurath und kommt zu dem Ergebnis, daß es eben nicht nur ehrlich, sondern auch rational gerechtfertigt sei, im Zustande des Nichtwissens, welche Entscheidung unter möglichen Entscheidungen ,die richtige' sei, das Los entscheiden zu lassen. Wer hingegen meint, auch in solchen Situationen seiner Einsicht trauen zu können, der täusche sich entweder selbst oder verfiele der Heuchelei, beides Folgen eines mißverstandenen Rationalismus, den Neurath Pseudorationalismus nennt. Ein Pseudorationalist ist sonach jener, der auch dort noch Gründe, Rechtfertigungen und Einsichten vorgibt, wo keine sind und keine gegeben werden können. Zumindest im Bereich praktischen Handelns sei Descartes einem derartigen Fehler nicht verfallen. Wohl jedoch auf theoretischem Gebiet, denn „auch das Denken bedarf der provisorischen Regeln in mehr als einer Hinsicht". In der Begründung dieser Forderung entwirft Neurath in nuce die Postulate eines kritischen Fallibilismus, ohne jedoch dem Pseudorationalismus, dem andere unterlagen, zu verfallen: 7 „Wer eine Weltanschauung oder ein wissenschaftliches System schaffen will, muß mit zweifelhaften Prämissen operieren. Jeder Versuch, von einer Tabula rasa ausgehend, ein Weltbild zu schaffen, in dem an definitiv richtig erkannte Sätze weitere gereiht werden, ist notwendigerweise voll Erschlei' Ebd., p. 55. 7 O. Neurath, „Die Verirrten des Cartesius und das Auxiliarmotiv" (1913), in: Jahrbuch der Philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien 1913, wieder abgedruckt in: GS, p. 59.

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Rudolf Haller chungen. D i e Erscheinungen, w e l c h e n wir b e g e g n e n , sind derart miteinander verbunden, daß sie nicht durch eine eindimensionale Kette v o n Sätzen beschrieben werden können. D i e Richtigkeit jedes Satzes hängt mit der aller anderen zusammen. Einen einzelnen Satz über die W e l t kann man überhaupt nicht formulieren, ohne gleichzeitig zahllose andere stillschweigend mit z u benützen. A u c h v e r m ö g e n wir keine Aussage z u fällen, o h n e unsere g a n z e vorhandene Begriffsbildung in V e r w e n d u n g z u nehmen. W i r müssen einerseits die Verbindung jedes Satzes, der v o n der W e l t handelt, mit allen anderen, die über sie ausgesagt werden und andererseits die V e r b i n d u n g jedes G e d a n k e n g a n g e s mit unseren früheren konstatieren. W i r k ö n n e n die bei uns v o r g e f u n d e n e Begriffswelt variieren, ihrer entledigen k ö n n e n wir uns nicht. Jeder Versuch, sie v o n Grund auf z u erneuern, ist schon selbst in seiner Anlage ein Kind der vorhandenen Begriffe."

Dreierlei fällt an dieser Textstelle in die Augen: Erstens spricht Neurath bereits hier sehr klar das Prinzip der Kohärenz eines Systems aus, das später als entscheidend für die Einordnung empirischer Sätze herausgestellt wird: Die Wahrheit eines Satzes hängt mit der Wahrheit aller übrigen zusammen. Zweitens, es gibt keine zweifelsfreie Erkenntnis, es gibt daher auch kein irrtumsfreies System der Wissenschaft. Es gibt keine tabula rasa, auf der ein System aufgeschrieben werden könnte. Denn, drittens, alle unsere Begriffe, die wir verwenden, hängen zusammen. Damit nimmt Neurath das Prinzip der Totalität oder Ganzheit der Erkenntnis vorweg, das die Theorie des Holismus charakterisiert: Insofern jeder Satz des Systems und jeder Satz über die Welt mit allen anderen zusammenhängt, ist auch die Wahrheit jedes einzelnen Satzes von der Wahrheit aller Sätze abhängig. Dementsprechend steht auch immer die Wahrheit des ganzen Systems in Frage und nie die eines isolierten Satzes. Der Dezisionismus, der in der Abhandlung über die Verirrten des Cartesius deutlich hervortritt, wird auch in der späteren Diskussion über den Status der Protokollsätze beibehalten: „Alle Realsätze der Wissenschaft (d. s. empirische Sätze; R. H.), auch jene Protokollsätze, die wir zur Kontrolle verwenden, werden auf Grund von Entschlüssen ausgewählt und können grundsätzlich geändert werden." 8 Auch die Frage nach den Kriterien einer solchen Wahl wird 1934 nicht 8

O. Neurath, „Radikaler Physikalismus und ,Wirkliche Welt'", in: Erkenntnis 4 (1934), wiederabgedruckt in: Ders., GS, p. 613; C. G. Hempel, „Zur Wahrheitstheorie des logischen Positivismus" (1935), wieder abgedruckt in: (Hrsg. G. Skirbekk) Wahrheitstheorien, Frankfurt 1977, p. 96f.; vgl. dazu H. Rütte, „Neurath kontra Schlick. Zur Wahrheitsdiskussion im Wiener Kreis", in : Wittgenstein, der Wiener Kreis und der kritische Rationalismus. Akten d. 3. intern. Wittgenstein-Symposiums (Kirchberg 1978), Hrsg. H. Berghel u. a., Wien: Holder-Pichler-Tempsky 1979, p. 479f.

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wesentlich anders als 1913 beantwortet: .„Falsch' nennen wir einen Realsatz, den wir mit dem Gesamtgebäude der Wissenschaft nicht in Einklang bringen können."' Angesichts der Nicht-Übereinstimmung eines Satzes mit dem Gesamtsystem sind immer zwei Möglichkeiten offen, eine Ubereinstimmung dennoch herzustellen: Entweder man ändert den einzuordnenden Satz oder man ändert das System. 10 Ich habe dieses von Neurath ausgesprochene Prinzip Neurath-Prinzip genannt, weil es in überzeugender Klarheit das Adaptionsprinzip bei Veränderungen innerhalb wissenschaftlicher Forschung bildet. Dieses Prinzip ist nämlich auch das Prinzip des Wandels wissenschaftlicher Theorien. Betrachtet man diesen Wandel, so ist davon auszugehen, daß eines der Grundmotive wissenschaftlicher Forschung immer das Prinzip der Vereinheitlichung und Vereinfachung war. Diesem Prinzip zufolge gilt es zu versuchen, die unendliche Anzahl möglicher Urteile über die Welt auf immer weniger Prinzipien und Axiome zu reduzieren, wobei als Devise der Auswahl Ockhams Prinzip der Sparsamkeit gilt. D. h. es wird ontologisch jene Entscheidung ausgezeichnet, die bei gleicher Erklärungskraft (und Bestätigungsfähigkeit) die geringste Anzahl von Entitäten annimmt oder voraussetzt. Nicht mit dem System verträgliche Sätze müssen also zur Änderung des Systems, also zu ihrer eigenen Abänderung führen. Das ist das Erzeugungsprinzip neuer Theorien. Auf die Frage, wodurch eine solche Änderung letztlich bestimmt sei, antworten Neurath und Carnap : durch die „historische Tatsache", daß die Mehrheit der Wissenschaftler de facto bestimmte Protokollaussagen akzeptiert. Damit wird die Kuhnsche These, die später so anstößig gewirkt hatte, vorweggenommen, daß nämlich letztlich der Uberzeugungswandel der Mitglieder der Gelehrtenrepublik für die Annahme oder Ablehnung einer Theorie verantwortlich sei. Es scheint durchaus einleuchtend, daß, wer die im Protokollsatz ausgedrückte Einzelbeobachtung nicht als Entscheidungsbasis akzeptieren kann, weil solche Aussagen gleichfalls abänderbar wären, das Protokoll, d. i. die Einzelbeobachtung, wie Mach, weder als Erkenntnis noch als Irrtum, d. h. weder als wahr noch als falsch interpretieren kann und 9 10

Ebd. R. Haller, „Uber Otto Neurath", in: Ders., Studien zur Osterreichischen Philosophie, Amsterdam 1979, p. 104 f., und Ders., „Geschichte und wissenschaftliches System bei Otto Neurath", in: Wittgenstein, der Wiener Kreis und der kritische Rationalismus. Akten des J. intern. Wittgenstein-Symposiums (Kirchberg 1978), Hrsg. H. Berghel u. a., Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1979.

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deshalb die Akzeptierung oder Ablehnung des Gesamtsystems durch die Mitglieder der Gelehrtenrepublik als ultima ratio anbieten muß. Neurath sieht im Kollektiv der Forscher jene „Säuberungsmaschine", die die Verträglichkeit der wissenschaftlichen Aussagen mit dem System überprüft und es von Fremdkörpern, also von Widersprüchen, freihält. „Unser Denken — so heißt es bei Neurath — ist ein Werkzeug, es ist abhängig von sozialen und geschichtlichen Verhältnissen. Man sollte das nie vergessen. Wir können nicht gleichzeitig den Ankläger und den Angeklagten spielen und uns überdies noch auf den Stuhl des Gerichtes setzen. Unser heutiges Denken stellen wir früherem Denken gegenüber, aber wir haben keine Möglichkeit, von einem Punkte außerhalb über beide abzuurteilen." 11 Der logisch-erkenntnistheoretische Hintergrund, den ich bei meinem Kongreßbeitrag nicht expressis verbis berücksichtigt habe, liegt in der auf Poincaré und Duhem zurückgehenden Einsicht, „daß mehr als ein in sich widerspruchsloses Hypothesensystem einen gegebenen Tatsachenkomplex befriedigen kann." 12 Damit ist die unbestreitbare, aber wissenschaftstheoretisch schwer zu systematisierende Tatsache gemeint, daß jede Tatsache, wie jedes Ereignis, mit unendlich vielen Beschreibungen verträglich ist und daher unendlich viele Beschreibungen, die sie zum Gegenstande haben, zuläßt. An die Stelle der Wirklichkeit, mit der ein Satz verglichen werden müßte, können daher „mehrere miteinander nicht verträgliche, in sich widerspruchslose Satzgesamtheiten treten". 13 Das ist nichts anderes als eine Konsequenz von Duhems Prinzip, übertragen auf den Zusammenhang von Satz und Wirklichkeit. N u n sollte man aus dem Gesagten nicht voreilig schließen, daß Neurath der Willkür in der Theorienwahl und Theorienbeurteilung T ü r und T o r geöffnet habe. In der Auseinandersetzung mit Spengler — Neuraths Anti-Spengler erschien im gleichen Jahr wie die köstlich-polemische Schrift von L. Nelson 1 4 — weist er immer wieder darauf hin, daß auch das, was zunächst unvergleichbar scheint, das uns am weitesten Entfernte, in bestimmten Hinsichten mit unserem Erkenntnissystem ver11

12

13 14

O. Neurath, „Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung", in: Erkenntnis 1 ( 1 9 3 0 / 3 1 ) , wiederabgedruckt in: Ders., GS, p. 384. O. Neurath, Anti-Spengler, 1921, wieder abgedruckt in: GS, p. 187; vgl. R. Haller „Geschichte und wissenschaftliches System bei O t t o Neurath". O. Neurath, „Radikaler Physikalismus und .Wirkliche Welt'", GS, p. 613. L. Nelson, Spuk. Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagekunst Oswald Spenglers, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, pp. 349—552.

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gleichbar und darum auch verständlich ist. Während die heutigen Relativisten und Anti-Positivisten die Unvergleichbarkeitsthese gerne auf aufeinanderfolgende Theorien beschränken und an diesen dann Inkompatibilität, Inkommensurabilität zeigen möchten, hatte Spengler an vielen Stellen seines Werkes eine solche Unvergleichbarkeit für alle wesentlichen Kulturgebilde behauptet: „Der faustische Erfinder und Entdecker ist etwas Einziges. D i e U r g e w a l t seines Wollens, die Leuchtkraft seiner Visionen, die stählerne Energie seines N a c h d e n k e n s müssen jedem, der aus fremden Kulturen herüberblickt, unheimlich und unverständlich sein, aber sie liegen uns allen im Blute." 1 5

Neurath weist auf die Inkonsequenz hin, die darin liegt, einerseits eine allgemeine Gestaltlehre von Kulturen bieten zu wollen und andererseits auf die Unverständlichkeit zu pochen oder einen Gegensatz geradezu von der Art von ,wahr' und ,falsch' zu postulieren. Wenn also Spengler sagt: „Was für uns wahr ist, das ist für eine andere Kultur falsch" und behauptet, dies gelte für „jedes Resultat wissenschaftlichen Nachdenkens", dann antwortet Neurath mit der Gegenfrage: „Ist die Mechanik, die Geometrie der Antike für uns falsch? W a r sie es für die Araber? Wäre unsere Physiologie für Aristoteles falsch? Ist sie es für die Chinesen?" 16 Es ist keineswegs so, daß Neurath die Unterschiede, die er schließlich auch aus eigenen Studien gut kannte, verwischen will. Aber er stellt nüchtern die Frage, wie es dazu komme, daß Spengler sich selbst als frei von diesem prinzipiellen Mißverstehen annehmen könne, wenn er doch zu erweisen trachte und wisse, daß alle übrigen sich „ständig mißverstehen". Natürlich kann man der Inkommensurabilitätsthese, wie sie bei Kuhn und Feyerabend vertreten wird, nicht die Naivität nachsagen, die Spenglers Globaltheorie so angreifbar macht. In mancher Hinsicht müßten sich die Genannten ja auf Neurath berufen, nicht nur wo es um die Position eines durch die Mitglieder der Gelehrtenrepublik — dem Kollektiv der Forscher — angenommenen und befestigten Paradigmas geht, sondern auch wegen der Theorie des Holismus, die Neurath vertritt. Nichtsdestoweniger aber bietet Neurath auch das Fundament der Kritik dieser zum Teil auf ihn zurückgehenden Anschauung. Der Kern dieser Kritik besagt, daß ein Vergleich nur möglich ist zwischen

15

16

O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. (Ungekürzte Sonderausgabe) München 1973, p. 1186. O. Neurath, Anti-Spengler, GS, p. 188.

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Gegenständen und Gebilden, die einen gemeinsamen Bezug haben. Wenn wir statt Paradigma Weltanschauung oder Kosmos sagen, dann gilt: „Jeder Kosmos umfängt Tatbestände, die durchaus eindeutig mit Tatbeständen anderer Kosmen verknüpft sind, und neben die wechselnden Aufmachungen tritt ein Dauerndes, Gemeinsames. Die Tatsachen, daß die Jahreszeiten einander folgen, daß Feuer brennt und Wein berauscht, sind allen Weltanschauungen gemeinsam." 17

Natürlich sind das primitive Beispiele, aber sie weisen in die richtige Richtung. Daß Ausdrücke in verschiedenen Theorien und Weltanschauungen verschieden sind und auch, daß sie verschiedene Bedeutung haben, schließt nicht notwendigerweise aus, daß sie den gleichen Bezugsbereich haben. 18 Auch wenn Neuraths Argumente nicht völlig überzeugen können, wenn er etwa auf den Besitz ,gleicher' Empfindungen bei verschiedenen Menschen per analogiam schließt, so wird man doch der Konklusion, daß nämlich bei eindeutiger Zuordnung der jeweiligen Äußerungen gleiche oder zumindest höchst ähnliche Tatsachen zugrunde liegen, zustimmen können. Wie schon früher bemerkt, war sich Neurath bereits 1913 darüber im klaren, daß historische und vergleichende Theorien nicht auf einer tabula rasa aufbauen. Und erst recht ist ihm die dynamische, historisierende Betrachtungsweise der Wissenschaft geläufig, wendet er sie doch sowohl bei der Betrachtung der Wirtschaftsgeschichte wie auch bei der Darstellung des Theoriewandels in der Optik selbst an. Aber er betont immer wieder, nicht in den Fehler der Ubertreibung und erst recht nicht in den Fehler des Pseudorationalismus verfallen zu wollen, den er ja Popper, wie ich meine zu Recht, zum Vorwurf macht. Es mag offen bleiben, ob ihm die Vermeidung dieses Fehlers selbst immer gelingt, zumal seine eigenen Formulierungen häufig der Präzision, der sie bedürften, entbehren. Welches Bild der Wissenschaftsentwicklung bringt nun Neurath vor der Entstehung des Wiener Kreises mit? Nach dem bisher Gesagten ist klar, daß wir es keineswegs mit dem Bild der kanonischen Auffassung 17 18

O. Neurath, Anti-Spengler, GS, p. 190. Vgl. R. Haller, „Eine Bemerkung zu Theorie und Deskription", Abstracts des IV. Int. Kongresses f ü r Logik, Methodologie und Philosophie der Wissenschaften, Bukarest 1971 (p. 145).

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der Wissenschaft als Akkumulation des Wissens zu tun haben. Das wird noch deutlicher, wenn man sich die Kernstelle aus dem Anti-Spengler vergegenwärtigt, in der Neurath gegen Spenglers Supposition „Jeder Mensch hat seine Welt" seine eigene Position entwickelt, die in dem berühmt gewordenen und von Neurath auch in späteren Schriften öfter wiederum verwendetem Bilde von den Schiffern, die auf offenem Meer ihr Schiff umbauen müssen, gipfelt. 19 Eine wesentliche Voraussetzung aller Reflexion wie aller Theorienbildung liegt in der Tatsache begründet, daß wir mit einem Vokabular und einem Begriffsschatz antreten, die wir vorfinden, und von dieser Voraussetzung ist die Tatsache abhängig, daß alle Änderungen des Begriffsschatzes, mit Hilfe dessen wir die Welt beschreiben, wiederum innerhalb dieser Sprache vollzogen werden. Sobald wir jedoch im Denken oder in der Explikation der Begriffe fortschreiten „wird eigentlich jedesmal das gesamte Begriffsgebäude in seinen Verhältnissen, in seinem Schwerpunkt verschoben, jeder Begriff nimmt mehr oder weniger an diesem Wandel teil". 20

Genau genommen, müßte man dementsprechend nach jeder Fortschrittsphase „das bisher Gesagte in geändertem Sinne wiederholen". N u r so ließe sich eine kontinuierliche Transformation des alten Wissensbestandes in den neuen bewerkstelligen, denn es sei unmöglich, ein Stück endgültig fertigzustellen. Darum müsse man auch Begriffe verwenden, denen unscharfe Ränder wesentlich sind, und mit diesen selbst nicht restlos klaren Begriffen gebt man daran, ein nicht bestimmtes, verschlungenes „Gewirr" der Klärung zuzuführen. Die erste Metapher, die Neurath anbietet, um diesen partiellen Fortschritt, der immer nur Aspekte aufdeckt und dennoch das Insgesamt des Begriffsgerüstes mitverändert, zu verdeutlichen, ist das Bild eines Bergmannes, „der an einer Stelle des Bergwerkes die Lampe hebt und Klarheit verbreitet, während alles andere im tiefsten Dunkel liegt". 21 Neurath vergleicht sodann die Pläne und Skizzen, die der Bergmann benützt, mit unserem begrifflichen Instrumentarium, das nicht nur konventionelle Festsetzung, nicht bloß Hilfsmittel im Dienste der ökonomischsten Erfassung der Realität ist, sondern selbst beanspruchen darf, 19 20 21

Vgl. O . Neurath, Anti-Spengler, GS, p. 183 ff. Ebd. Ebd., p. 184.

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„Erkenntnis", d. h. ein Wissen zu sein. Aber es fragt sich natürlich, wodurch die definitorischen Bestimmungen, die ja auch unter die Klasse der Festlegungen begrifflicher Beziehungen fallen, von echten Beschreibungen unterschieden sind. Und indem Neurath auf seine Quelle Duhem hinweist, macht er deutlich, worin die Modifikation des Machschen Positivismus bestehen soll. Insofern spielt die Metaphysik — Neurath sagt „Weltanschauung" — bei allen Theorien eine unübersehbare Rolle. Es scheint mir angemessen, wegen der Bestimmtheit des von Quine übernommenen Bildes die Textstelle wörtlich zu bringen: 22 „ D a ß man es immer mit einem g a n z e n Begriffsnetz, nicht mit isolierbaren Begriffen zu tun hat, versetzt jeden D e n k e n d e n in die schwierige Lage, unaufhörlich die g a n z e Begriffsmasse, die er auf einmal ja d o c h nicht übersieht, zu berücksichtigen, das N e u e aus dem Alten herauswachsen z u lassen. D u h e m hat besonders nachdrücklich gezeigt, daß jede Aussage über irgendein V o r k o m m n i s durchtränkt ist mit H y p o t h e s e n aller Art, die letzten Endes Ableitungen aus unserer g a n z e n Weltanschauung sind. W i e Schiffer sind wir, die auf o f f e n e m Meer ihr Schiff umbauen müssen, o h n e je v o n unten auf frisch anfangen zu können. W o ein Balken w e g g e n o m m e n wird, muß gleich ein neuer an die Stelle k o m m e n , und dabei wird das übrige Schiff mit H i l f e der alten Balken und angetriebenen H o l z s t ü c k e vollständig neu gestaltet w e r d e n — aber nur durch allmählichen Umbau."

Es ist aus dem Zusammenhang klar, daß mit den „alten Balken" unsere bisherige Begriffsapparatur gemeint ist, aus der eben das Neue „herauswachsen" soll. Es gibt in diesem Sinne keine Revolution im Erkenntnisfortschritt, sondern ein stetes Umbauen nach dem NeurathPrinzip, entweder das System oder die mit ihm in Konflikt geratenen besonderen Sätze zu verändern. Selbstverständlich ist dieser Fallibilismus von Poppers dramatisierter Abwandlung zu unterscheiden. Für Popper stellt der Konflikt zwischen einem besonderen Satz und einer Theorie dann eine Falsifikation dar, wenn es ein mit dem System unverträglicher Basissatz ist, dessen Negation aus dem System ableitbar ist, der als falsifizierende Instanz auftritt. Die Auffassung, wonach der empirische Gehalt eines Satzes der Klasse der Falsifikationsmöglichkeiten äquivalent ist, legt es nahe, diesen Gehalt zu steigern, weil gerade dadurch die Prüfbarkeit erhöht wird. Wenn aber die jeweilige Falsifikationsmöglichkeit den Gehalt erhöht, so vernichtet jede auch noch so belanglose defacto-Falsifikation das ganze System auf Grund des von Popper übernommenen aristotelischen Modus tollens: 22

Ebd.

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„Durch diese Schlußweise wird das ganze System (die Theorie einschließlich der Randbedingungen), das zur Deduktion des falsifizierten Satzes ρ verwendet wurde, falsifiziert, so daß man zunächst von keinem einzelnen der Sätze dieses Systems behaupten kann, daß die Falsifikation gerade ihn trifft." 23

Aber mit einem so engen Begriff der Falsifikation zerstört man die ganze Wissenschaft, wie sowohl N e u r a t h als auch C a r n a p sogleich erkannten. Als das auffallendste Beispiel einer solchen Instanz gilt das experimentum crucis, weil ja die P r ü f u n g über den rechtmäßigen Bestand der T h e o r i e entscheiden soll, d. h. entscheiden soll, welche von den k o n kurrierenden H y p o t h e s e n bzw. T h e o r i e n zu eliminieren ist. D u h e m hatte zeigen k ö n n e n , daß ζ. B. die N e w t o n s c h e Gravitationshypothese sich nicht auf induktivem W e g e aus den Beobachtungsaussagen Keplers ableiten läßt, sondern daß sie den Keplerschen Gesetzen widerspricht. Aber anstelle die Kepler-Gesetze d a r u m als falsifiziert zu eliminieren, schlägt er bloß vor, jeweils das vollständige System der physikalischen T h e o r i e mit der Gesamtheit experimenteller T a t s a c h e n zu vergleichen. D e n n — so heißt es in Ziel und Struktur der physikalischen Theorien: „Man jagt einer Chimäre nach, wenn man irgendeine der Hypothesen der theoretischen Physik von den anderen Annahmen, auf denen diese Wissenschaft ruht, zu trennen sucht, um sie isoliert der Kontrolle der Beobachtung zu unterwerfen; es schließt nämlich die Verwirklichung und Interpretation jedes beliebigen Experimentes der Physik die Anerkennung einer ganzen Gruppe theoretischer Lehrsätze in sich." 24

W ä h r e n d also P o p p e r diesen Teil der konventionalistischen M e t h o dologie nicht ü b e r n i m m t und die konventionalistische Lösung nur auf die Basissätze beschränken möchte, hält N e u r a t h vornehmlich den holistischen Ansatz a u f r e c h t und lehnt daher eine enge T h e o r i e des Experimentes und der Falsifikation als unangemessen und wirklichkeitsfremd ab. C a r n a p folgt in der Verteidigung des Holismus ab der Logischen Syntax gänzlich den N e u r a t h s c h e n Vorschlägen. D a h e r sollen f ü r die physikalische Sprache — d. i. die Einheitssprache der Wissenschaft — folgende Prinzipien gelten 2 5 : (1) „Keine Bestimmung der physikalischen

23 24

25

Popper, Logik der Forschung, 1966 2 , p. 45. P. D u h e m , Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Ubers, v. Friedrich Adler mit einem V o r w o r t von E. Mach (1908). Mit einer Einleitung und Bibliograpie hrsg. v. L. Schäfer, Hamburg 1978, p. 266 f. Vgl. zu den Punkten (1) bis (5) R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, (1935) zweite unveränderte Auflage.

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Rudolf Haller

Sprache ist endgültig gesichert; alle Bestimmungen werden nur mit dem Vorbehalt aufgestellt, daß man sie unter Umständen abändern wird." (2) Da der logische Gehalt jedes Gesetzes über den logischen Gehalt einer endlichen Klasse von Protokollsätzen hinausgeht, kann es keine Regeln in der Induktion geben. (3) Gesetzesaussagen sind daher immer Hypothesen. (4) Für Hypothesen gibt es im strengen Sinne keine Widerlegung, denn wenn sich eine Hypothese „als L-unverträglich mit gewissen Protokollsätzen erweist, so besteht ja grundsätzlich die Möglichkeit, die Hypothese aufrecht zu halten und auf die Anerkennung der Protokollsätze zu verzichten." Aus dem gleichen Grunde kann für eine Hypothese keine vollständige Bestätigung erbracht werden. (5) Und deshalb gibt es auch keine Nachprüfung einer isolierten Hypothese. Die Nachprüfung betrifft „im Grunde nicht eine einzelne Hypothese, sondern das ganze System der Physik als Hypothesensystem (Duhem, Poincaré)." 26 Es ist keine Frage, daß Carnap hier in allen Punkten den Auffassungen von Neurath gefolgt ist, der sie als erster im Wiener Kreis (und natürlich auch vor Popper) vertreten hatte. Und obschon Carnap selbst durch Poppers (hauptsächlich in privaten Gesprächen vorgetragene) Theorie der Falsifikation beeindruckt war und alles unternahm, um den unbekannten Hauptschullehrer zu fördern, vertritt er in der Frage der Hypothesenfalsifikation — dem entscheidenden Teil der Logik der Forschung — den Standpunkt, daß es im strengen Sinn eine Widerlegung (Falsifikation) einer Hypothese nicht geben kann — also genau Neuraths Auffassung. Neurath hatte sonach keinem Satz eine Ausnahmestellung im System der Erkenntnis einräumen wollen. Darum mußte die entscheidende Frage offen bleiben, die Frage nämlich, welche Eigenschaften einer Theorie zukommen müssen, damit wir sie anderen möglichen und ,wirklichen' Hypothesensystemen vorziehen. Die Widerspruchsfreiheit eines Systems kann ja allemal nur als eine notwendige Bedingung und niemals als hinreichende Bedingung für die Akzeptierung eines Systems angesehen werden. Neuraths Antwort auf diese gewichtige Frage stellt den pragmatischen Aspekt in den Vordergrund und benützt auch das pragmatische Argument des Erfolges der Theorie. Der Gradmesser des Erfolges einer Theorie besteht nun in der Ubereinstimmung mit den mit ihr verträglichen Protokolls ätzen. Hierin sieht Neurath die Begründung des Empi26

R. Carnap, ebd. p. 246.

Das Neurath-Prinzip — Grundlagen und Folgerungen

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rismus. Wenn auch die Protokollsätze nicht endgültig fixiert und fixierbar sind, so sind sie doch innerhalb eines Satzsystems „das letzte, auf das man zurückgreift". 2 7 Aber da Protokollsätze eben auch revidierbare Sätze sind — „Wir verzichten nicht auf den Richter, aber er ist absetzbar" — bleibt kein festes Fundament der Erkenntnis, es gibt „keine sakrosankten Sätze". Demgegenüber kann man einwenden, daß bei einer solchen Permissivität das von uns tatsächlich verwendete System weder eine Auszeichnung erfährt, noch in einem Zusammenhang zur Realität, zu den Tatsachen der Wirklichkeit gebracht werden kann. Wie Edgar Zilsel es formulierte: „Ohne erlebtes Relationssubstrat, ohne Gegebenheiten, die bezeichnet werden, hängen alle Zeichengebäude in der Luft, ist niemals eine Struktur als die Struktur der erlebten Welt vor völlig beliebigen anderen Strukturen auszuzeichnen." 2 8

Benützt man Wittgensteins Unterscheidung zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, dann läßt sich der gleiche Gedanke auch so ausdrücken: „Jede sagbare Definition der Wissenschaft umfaßt nicht etwa ein einziges, sondern beliebig viele einander koordinierte und gegeneinander unverträgliche Satzsysteme." 2 9

Zilsel benützt hier die Wittgensteinsche Dichotomie von Sagbarem und Unsagbarem, um einen entscheidenden Einwand gegen die Kohärenzauffassung vorzubereiten. Wäre nämlich das Sagbare nur darauf beschränkt, Sätze mit Sätzen zu verbinden, dann könnte man niemals über ein solches Satzsystem hinausgelangen. Daher formuliert er das Dilemma einer empirischen Wissenschaftstheorie als eines zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren: Entweder beschränkt man sich auf solche Satzsysteme, dann kann es deren beliebig viele, einander widersprechende geben, von denen keines ausgezeichnet ist, oder man zeichnet eines aus, als eine Einheitswissenschaft, die auf das Unsagbare angewendet wird. In diesem Dilemma, das das Dilemma der Begründung der Wissenschaft heißen könnte, hat Neurath das eine H o r n konsequent ausgebaut: 27

28 29

O. Neurath, Einheitswissenschaft und Psychologie, Wien 1933, wiederabgedruckt in: GS, p. 591. E. Zilsel, „Bemerkungen zur Wissenschaftslogik", in: Erkenntnis 3 ( 1 9 3 2 / 3 3 ) , p. 159. Ebd. p. 152.

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Rudolf Haller

den „Enzyklopädismus", wie er die spätere und reifere Form des historischen Konventionalismus nennt. Darin war er der Pionier der sogenannten Antipositivisten Kuhn, Toulmin, Feyerabend etc., die ihm mehr verdanken, als bis heute offenkundig geworden ist. Sein Lösungsvorschlag des Adaptionsprinzips ist auch der Lösungsvorschlag von W . van Orman Quine, dessen These der Unterbestimmtheit einer Theorie durch (ihre) Daten die wiedererweckte und modernisierte Form der Begründung des Neurath-Prinzips darstellt. So dankt die zeitgenössische Wissenschaftstheorie dem Mitbegründer des Wiener Kreises nicht nur die soziologische Kritik der Standard- oder kanonischen Auffassung wissenschaftlicher Systeme, sondern auch die Uberwindung einer unhistorischen Betrachtungsweise der wissenschaftlichen Forschung. So gesehen mutet es jedenfalls seltsam an, wenn dieses Verdienst den sogenannten Anti-Positivisten zugeschrieben wird. Der Wiener Kreis war viel bunter und dynamischer, als uns seine bisherigen Darstellungen haben glauben lassen. Und es besteht heute kein Zweifel mehr, daß Neurath es war, der dem Kreis die kräftigsten Farben verlieh, einfach dadurch, daß er die empiristische Aufklärung über sich selbst — und das heißt auch über Wittgenstein — hinauszuführen trachtete.

ANDREAS KAMLAH

Hans Reichenbachs Beziehung zum Wiener Kreis Als Stegmüller in Innsbruck längst zweifach promoviert war, lernte er 1948 in Alpach Karl Popper kennen; dieser erzählte ihm von einer Zeitschrift, von der er bislang noch nie gehört hatte, mit dem Namen Erkenntnis und von einer Gruppe von Philosophen, dem Wiener Kreis, welcher bedeutsame Ideen gehabt hatte, die auch zu der damaligen Zeit (nach dem zweiten Weltkrieg) durchaus noch beachtenswert waren. Stegmüller hatte von diesen Philosophen noch nie gehört. Er verstand aber Poppers Hinweis, lieh sich über die Fernleihe alle Bände der Erkenntnis aus und las sie durch. So jedenfalls hat Stegmüller erzählt; ob es die ganze Wahrheit ist, oder ob diese Darstellung ein kleines Stück anekdotischer Selbststilisierung enthält, weiß ich nicht. Immerhin ist die Erzählung nicht untypisch für die Nachkriegszeit in Osterreich und Deutschland. Die Mitglieder des Wiener Kreises waren im Ausland und hatten kaum Spuren hinterlassen. Es dauerte bekanntlich zwei Jahrzehnte, bis man wieder von ihnen sprach, und in den 60er Jahren wagten sich wieder einige Verlage an Neuausgaben ihrer Bücher. Carnaps Logischer Aufbau der Welt erschien 1961. Aus dem Umkreis des Wiener Kreises erschienen Wittgensteins Werke ab 1960 und Poppers Logik der Forschung 1966. Heute sind wir sogar wieder so weit, daß der Wiener Kreis Gegenstand philosophiehistorischer Forschung geworden ist. O b das seine Ideen wieder lebendig werden läßt oder nur in eine Glasvitrine im Museum stellt, ist noch nicht ganz ausgemacht. Dennoch gehört diese Gruppe von Philosophen inzwischen zum Bestand der klassischen deutschen Philosophie und kann von niemandem mehr einfach übergangen werden. Anders steht es mit einer zweiten etwas weniger bedeutenden Gruppe, die mit dem Wiener Kreis zusammen die Zeitschrift Erkenntnis trug, mit der Berliner „Gesellschaft für empirische Philosophie". Zu dieser Gruppe gehörten Reichenbach, W. Dubislav, K. Greiling, A. H e r z berg und andere.

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Andreas Kamiah

Die Gesellschaft für empirische Philosophie veranstaltete genau so wie der Wiener Kreis eine Vortragsreihe. Jeden Monat fand in der Charité in Berlin ein Vortrag statt (im Hörsaal der zweiten medizinischen Klinik). Unter diesen Vorträgen finden sich solche von Reichenbach, wie „Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie", von Dubislav, wie „Die Grundlagenkrise der Mathematik", aber auch Vorträge vieler bedeutender Wissenschaftler über damals aktuelle Probleme im philosophischen Grenzbereich der Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Die Offenheit der Gesellschaft für Fragen der Psychoanalyse, der Biologie, der Physik und der Gesellschaftswissenschaften geht aus der Liste dieser Vorträge klar hervor. Unter den Referenten finden sich Namen wie z. B. W. Köhler, K. Korsch, L. v. Bertalanffy, F. Künkel, L. Meitner, W. Ostwald, K. Lewin 1 . O b aber über diese Vortragsreihe hinaus noch eine gemeinsame philosophische Arbeit in der Gesellschaft für empirische Philosophie stattgefunden hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Überhaupt weiß ich über den Berliner Kreis — wenn ich ihn einmal so nennen darf — so gut wie nichts. Vor meinem Auge stehen nur einzelne Personen, vor allem Hans Reichenbach, der vielleicht die überragende philosophische Figur der Berliner ist. In der Folge werde ich mich auch vor allem mit ihm und seinem Verhältnis zum Wiener Kreis befassen. Im Vordergrund steht dabei die Frage: Gibt es Gegensätze zwischen den Wienern und Reichenbach als Repräsentant der Berliner? Oder handelt es sich hier um eine einzige homogene Gruppe? H a t ein Name wie Reichenbach ein Heimatrecht auf einer Tagung über den Wiener Kreis? Ich glaube, daß die meisten Mitglieder des Wiener Kreises keinem Lokalpatriotismus gehuldigt haben im Gegensatz zu Victor Kraft in seinem Buch Der Wiener Kreis (1950). Sie begriffen sich stets als Teil einer internationalen Bewegung. Und allein die Tatsache, daß sie die Zeitschrift Erkenntnis mit den Berlinern zusammen trugen, ist ein äußeres Zeichen für das gemeinsame Anliegen. Dennoch gibt es gewisse Unterschiede. Zunächst reichte der Einfluß Wittgensteins nicht wirklich bis nach Berlin. Reichenbach zitiert ihn nicht häufig und kennt nur den Tractatus. D a f ü r ist allerdings Russell hier wie dort gut bekannt. Dann hat die Berliner Gruppe natürlich nicht an den internen Diskussionen teilgenommen, die im Wiener Kreis zum Physikalismus und zur Kohärenztheorie der Wahrheit geführt haben.

1

Siehe die „Chronik" in Erkenntnis

1, S. 72 und 2, S. 30.

Hans Reichenbachs Beziehung zum Wiener Kreis

223

Und drittens war in Deutschland der Einfluß des Kantianismus stärker als in Osterreich und damit auch die Auseinandersetzung mit ihm. Greiling kommt wohl ohnedies aus der Schule der Neufriesianer, die damals in Leonard Nelson ihren wichtigsten Führer besaß (siehe P. Schroeder 1980). Reichenbach ist in seiner Dissertation 1915 noch Kantianer, geht in seiner Habilitationsschrift 1920 zu einer Art von konventionalistisch relativiertem Kantianismus über und trennt sich erst danach schrittweise von dieser Lehre. Sicherlich unterschied sich speziell Hans Reichenbach in seinem Temperament außerordentlich von Leuten wie Wittgenstein, Schlick oder Carnap. Er war kein introvertierter Philosoph und hätte schon allein aus diesem Grunde nie ein Werk wie den Logischen Aufbau der Welt schreiben können. Reichenbach war praktisch und technisch außerordentlich begabt, konnte druckreif aus dem Stegreif reden und besaß ein beträchtliches Organisationstalent. Eine solche überdies pyknische, agile Persönlichkeit paßt sicherlich schlecht zu einem Astheniker wie Wittgenstein, und eine derartige weltzugewandte Einstellung, wie Reichenbach sie besaß, mußte von vornherein immun sein gegen Erkenntnistheorien, welche die Belange der Wissenschaften nicht im vollen Umfange berücksichtigten. Reichenbach war auch in seiner Kenntnis der Physik den meisten Mitgliedern des Wiener Kreises überlegen. Reichenbachs weltzugewandte Einstellung ergibt sich sowohl aus seinen philosophischen Äußerungen als auch aus seiner eigenen Biographie. Als Student war er aktiv als Führer von jugendbewegten Studentengruppen tätig und später um 1918/19 Vorsitzender der „Sozialistischen Studentenpartei" in Berlin 2 . Davon zeugen zahlreiche programmatische Schriften und Artikel in studentischen Zeitschriften (siehe die Bibliographie in H . Reichenbach 1978, Bd. 2, S. 413ff.). Nach dem ersten Weltkrieg arbeitet Reichenbach auch als Ingenieur in der neu entstandenen Rundfunkindustrie. Er verfaßte ein Büchlein mit dem Titel Was ist Radio (1924), das zwei Auflagen erlebte. Von ihm existiert auch ein zerlegbares Papiermodell eines Radioapparats (1924 a), ein Beweis für sein großes didaktisches Talent. Man wird vielleicht in folgender Au2

Über H a n s Reichenbachs Tätigkeit als Führer in der freistudentischen Bewegung, „der bekannte Freistudenten-Führer" (S. 49) und sein späteres Engagement als 1. Vorsitzender der sozialistischen Studentenpartei Berlin (SSPB) informiert uns U . Linse (1974, S. 12 ff. und S. 48 ff.). Möglicherweise ist Hans Reichenbach auch der „Herr Reichenbach" im Protokoll des 1. Vertretertages der freideutschen Jugend in Marburg (siehe W. Kindt 197, S. 5 3 2 — 5 5 9 ) . Siehe hierzu auch M. Reichenbach 1978.

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Andreas K a m i a h

ßerung Reichenbachs einen Niederschlag seiner soeben genannten Erfahrungen sehen (1931, S. 60): „Wer heute über den Sinn des Daseins etwas sagen will, der hüte sich vor Begriffsanalysen; er gehe als Angestellter oder Arbeiter in die Fabriken, oder als Arzt unter die Kranken, oder als Mitkämpfer in soziale Bewegungen — dann hat er zur Wertbildung unseres Zeitalters etwas zu sagen. Aber er verzichte auf rationale Konstruktionen — die überlasse er dem theoretischen Denken, der wertfreien Erforschung der Sachverhalte, in der allein wissenschaftliche Philosophie bestehen kann."

(Ähnlich äußert sich Reichenbach auch später, 1968, S. 332 — 333.) All dies zeigt, daß H a n s Reichenbach alles andere als ein grüblerischer nach innen gekehrter Denker war, vielmehr war er kommunikationsfreundlich, weltoffen und praktisch veranlagt, von einem für deutsche Philosophen durchaus untypischen Charakter. Wie wirkt sich nun Reichenbachs Mentalität und seine Ausrichtung an Technik und Naturwissenschaften auf mögliche Differenzen zum Wiener Kreis aus? Wir finden deren vor allem zwei, Reichenbachs Ablehnung des Positivismus und seine Begründung von Wahrscheinlichkeit und Induktion. In diesen beiden Punkten unterscheidet sich Reichenbach jedoch nicht von allen Vertretern des Wiener Kreises. Herbert Feigl z. B. hat gegenüber dem Induktionsproblem ganz ähnliche Auffassungen vertreten und wurde später Realist (K. R. Popper 1979, S. 304 Anm. 105). Reichenbachs Differenzen mit Carnap und Waismann werden bereits 1929 auf der 1. T a g u n g für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Prag deutlich. Damals fand eine Diskussion über Wahrscheinlichkeit und Induktion statt, die in Erkenntnis abgedruckt ist (Bd. 1, S. 260 —285). Carnap formuliert hier sehr klar die These, daß keine wissenschaftliche Aussage mehr sein kann als ein Bericht über bisherige Erfahrungen (S. 269) : „In seiner Entgegnung auf Herrn W a i s m a n n machte nun Herr R e i c h e n b a c h eine Bemerkung, an die ich meine z w e i t e F r a g e anknüpfen möchte. Er sagte nämlich, daß eine Wahrscheinlichkeitsaussage über die Zukunft, wenn man die W a i s m a n n s c h e Interpretation annehmen würde, nichts weiter enthalten würde als einen Bericht über das in der Vergangenheit Erfahrene, also nichts mehr besagen würde, als wir schon wissen. Ich möchte hier wieder die besondere Anwendung auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff beiseite lassen und die prinzipielle Frage stellen: D a r f eine wissenschaftliche Aussage mehr sagen, als wir schon wissen? Vermutlich wird hier Herr R e i c h e n b a c h mit „nein" antworten und hinzufügen, man

Hans Reichenbachs Beziehung zum Wiener Kreis

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müsse aber einen Unterschied machen zwischen dem, was wir unmittelbar aus der Erfahrung wissen, und dem, was wir erst mittelbar daraus erschließen. Daraufhin würde ich dann meine Frage so stellen: Können wir mit Hilfe irgendeines Schlußverfahrens aus dem, was wir wissen, auf etwas „Neues" schließen, das in dem Gewußten nicht schon enthalten ist? Ein solches Schlußverfahren wäre offenbar Zauberei. Mir scheint, das müssen wir ablehnen." Carnaps schonungslose Erkenntniskritik, die über Leichen von wissenschaftlichen Theorien geht, w e n n es sein muß, konnte Reichenbach unmöglich akzeptieren. Sein Standpunkt ist der der Wissenschaftstheorie, die zunächst einmal die Wissenschaften zu akzeptieren versucht, ehe man sie kritisiert (S. 270) : „Ich sagte . . ., daß wir als Erkenntnistheoretiker nicht die Aufgabe haben, über Wahrscheinlichkeitsaussagen zu Gericht zu sitzen . . . Ich finde, daß wir verpflichtet sind, die Erkenntnis so zu nehmen, wie sie ist, und sehen müssen, was für Operationen in der Erkenntnis vorliegen . . . Ich glaube . . ., daß man Aussagen zulassen kann, die im Sinne der klassischen Logik unentscheidbar sind. Ich glaube, daß man Wahrscheinlichkeitsfragen deshalb zulassen darf, weil es eine induktive Entscheidbarkeit gibt, wie es das tatsächliche Verhalten eines jeden Menschen beweist. . . Hierdurch ist nun auch die Antwort auf die zweite Frage gegeben. Vom Standpunkt der klassischen Logik darf ich natürlich nicht auf etwas schließen, was mehr aussagt, als ich schon weiß. Aber wir kommen mit einem derartigen Verfahren weder in der Wissenschaft noch im täglichen Leben aus. Die Frage von Herrn C a r n a p , ob der Wissenschaftler etwas aussagen darf, was er nicht weiß, klingt so, als ob ihm von der Wahrscheinlichkeitstheorie etwas beinahe Unmoralisches zugemutet würde. Gewiß darf der Wissenschaftler nicht Beliebiges aussagen, was mit seinem Wissensbestand in keinerlei Zusammenhang steht; es liegt aber völlig anders, wenn er für das Hinausgehen über seinen Wissensbestand das Induktionsprinzip zugrunde legt. Meine Antwort auf Herrn C a r n a p s Frage lautet also: Ja, aber es gibt bestimmte Prinzipien, nach denen dieses Hinausgehen über den Wissensbestand geregelt sein muß, wenn es erlaubt sein soll." Reichenbach vertrat 1929 noch nicht seine spätere Rechtfertigung des Induktionsprinzips. Damals glaubte er die Logik um eine Wahrscheinlichkeitslogik erweitern zu müssen, die sich ebensowenig rechtfertigen läßt, wie die Logik selbst. Das tut hier aber nichts zur Sache. Entscheidend ist, daß er sich an der wissenschaftlichen Praxis orientiert und daß er nicht bereit ist, diese auf dem Altar der Erkenntniskritik zu opfern. Zeigt bereits die Diskussion um das Induktionsprinzip, wie der Studentenpolitiker und Radiotechniker gegen den philosophischen Rigoris-

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Andreas Kamiah

mus eines Carnap oder Schlick immun ist, so wird dies bei seiner Ablehnung des Positivismus um so deutlicher. So wie wir in der Bildung von Theorien, die ja stets Prognosen ermöglichen, über die uns gegebenen Erfahrungsdaten hinausgehen, so tun wir das auch in der Annahme nicht wahrgenommener Dinge. Reichenbach beruft sich in einem Vortrag auf dem Kantkongreß 1925 für beide Erkenntnisleistungen auf dasselbe Induktionsprinzip und bezeichnet seinen Standpunkt dabei als Realismus (1925, S. 172). Auch in seinem Handbuchartikel (1929) entscheidet sich Reichenbach für den Realismus (auf S. 22). Der Realismus scheint ihm dort nicht wie der Positivismus zu komplizierten Deutungen der Redeweise von der Existenz äußerer Dinge wie z. B. Häusern gezwungen zu sein. Er kommt zumindest der natürlichen Einstellung mehr entgegen als der Positivismus (1929, S. 19 — 20; engl. Übers. 1978, S. 142—145) und damit damals auch Reichenbachs Tendenz, das natürliche Weltbild nicht durch einen rigorosen erkenntnistheoretischen Ansatz umzudeuten. Studenten gegenüber hat er sich als „naiven Realisten" bezeichnet 3 . Wesley C. Salmon hat ihn nun kürzlich für den gegenwärtigen scientific realism in Anspruch genommen. Er schreibt: „Nicht nur rein geographisch [d. h. als Berliner] darf Reichenbach nicht als logischer Positivist angesehen werden, denn er bezog in grundlegenden philosophischen Fragen eine von diesen abweichende Position." (1977, S. 12; 1979 a, S. 40). „Eines seiner wichtigsten Anliegen ist die Zurückweisung jeglicher Art von Phänomenalismus, einer Auffassung, die von einigen früheren Positivisten vertreten wurde." (1977, S. 15; 1979a, S. 43). „. . . sein Beitrag zur Ausarbeitung und Begründung [im englischen Text: his profound elaboration and defense] der These des wissenschaftlichen Realismus [of the thesis of scientific realism] ist für die gegenwärtige Diskussion . . . von besonderer Bedeutung." (1977, S. 22; 1979a, S. 51)

Ich möchte mich nun mit der Frage beschäftigen, ob diese Gegenüberstellung: „Hier Wiener Positivisten, dort der Berliner Realist" gerechtfertigt ist, oder ob hier eine Legende aufgebaut werden soll. Es ist bereits fraglich, ob man den Wiener Kreis als positivistisch bezeichnen darf. Darüber hinaus hängt alles davon ab, was man unter „Positivismus" und „Realismus" versteht. Wir werden versuchen, hier eine partielle terminologische Klärung vorzunehmen und geraten schließlich zu dem Ergebnis, daß Reichenbach dem Wiener Kreis in der Frage der

3

Dies berichtet ein früherer Hörer von Reichenbach, Herr Studdir. i. R. Günter Anders.

Hans Reichenbachs Beziehung zum Wiener Kreis

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Realität physikalischer Dinge doch wohl noch wesentlich näher stand als den heutigen amerikanischen scientific realists und daß seine Auszeichnung als Realist durchaus mit Fragezeichen versehen werden muß. Stellen wir die Frage, ob ein Philosoph Realist ist, so müssen wir zunächst wissen, was damit gemeint ist. Und hier beginnen bereits die Schwierigkeiten. Wenn R. Carnaps Büchlein „Scheinprobleme in der Philosophie" nicht ganz vergeblich geschrieben worden ist, dann kann man heutzutage die These des Realismus nicht mehr so primitiv formulieren wie etwa Mario Bunge das tut. Er spricht von der „assumption that there are certain physical objects — e.g. electrons — that is certain things out there, independent of my mind*." (1967. S. 58) Carnap würde hier sofort fragen: Was heißt „independent of my mind" oder „an sich"? „Wenn zwei Geographen, ein Realist und ein Idealist, ausgeschickt werden, um die Frage zu entscheiden, ob ein an einer bestimmten Stelle in Afrika vermuteter Berg nur legendär sei oder wirklich existiere, so kommen sie beide zu dem gleichen (positiven oder negativen) Ergebnis." (R. Carnap 1961, S. 324) Fragen sich nun die beiden Geographen, ob dieser Berg nicht nur wirklich existiere sondern auch W I R K L I C H oder REAL sei, an sich vorhanden „independent of the mind", dann müssen sie zumindest sagen, was sie außer dem, das der Berg nicht legendär ist, noch damit meinen. Unsere Umgangssprache hilft uns hier nicht weiter. Dem Verdacht Carnaps, die Rede von „real" sei nicht „sachhaltig", sondern sinnlos, muß zumindest wirksam begegnet werden, wenn man heutzutage die Realismusthese noch diskutieren will. Man kann nicht so tun, als sei nichts gewesen. Es ist einfach deprimierend zu sehen, wie Philosophen auch heute noch so reden, als hätten Wittgenstein und Carnap nie gelebt. Reichenbach selbst tut das allerdings nicht. Er gibt der Realismusthese einen ganz bestimmten Sinn, indem er sie diskutiert (und wie wir sehen werden, empfiehlt, da man sich zum Realismus nur entscheiden kann). Damit dürfen dann alle diejenigen Philosophen, die entweder einen metaphysischen Realismus vertreten (der nichts besagt, da er nicht „sachhaltig" ist) wie Mario Bunge und alle diejenigen, die in einem ganz anderen Sinne sich als Realisten bezeichnen, Hans Reichenbach nicht als Parteigänger in Anspruch nehmen. Die philosophische Richtung des scientific realism ist offenbar in Amerika weit verbreitet. Salmon schreibt: 4

Kursivsetzung von mir.

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„Scientific realism is a popular doctrine nowadays, and most contemporary philosophers of science probably do not feel any pressing need for additional arguments to support this view" (W. C. Salmon 1979b, S. 424). Die meisten dieser Philosophen sind nun durchaus vertraut mit dem logischen Empirismus, mit Carnap, Hempel, Reichenbach und anderen verwandten Autoren, wie können sie aber dann auf eine Position zurückfallen, die von Carnap überzeugend als metaphysisch und sinnleer entlarvt worden ist? Fragt man einen heutigen amerikanischen scientific realist danach, was sein Realismus denn nun eigentlich besage, dann reagiert er im allgemeinen verwundert, denn er hält seinen Realismus für eine selbstverständliche Banalität. Er wird vielleicht kontern: „Sie sind doch nicht etwa Positivist", so als ob es sich dabei um etwas ganz Abwegiges handle. Carnaps Standpunkt, daß sowohl der Realismus als auch der Idealismus sinnlos sind, wird dabei ebenfalls zum Positivismus gerechnet. Wie können wir uns das erklären? Ich glaube, daß die heutigen Realisten ein anderes Problem diskutieren als die Realisten früherer Zeiten. Die Frage lautet nicht mehr: „Wenn ich die Dinge, die ich vor mir sehe, so sehen könnte, wie sie wirklich sind, würde ich sie dann überhaupt noch sehen oder vielmehr gar nichts?" Die Frage ist also nicht die nach dem richtigen anschaulichen Bild der Welt, sondern es geht dabei darum, wann zwei Aussagen den gleichen Sinn haben. Sagt jemand „Die Aussagen A und Β haben den gleichen Sinn, wenn die Wahrheit von A dieselben Erlebnisse für mich zur Folge hat wie die Wahrheit von B", so ist er Solipsist. Sagt jemand „Die Aussagen A und Β haben den gleichen Sinn, wenn die Wahrheit von A und die Wahrheit Β dieselben Erlebnisse für verschiedene Personen in verschiedenen denkbaren Situationen zur Folge hat", so ist er Positivist bzw. Phänomenalist. Sagt jemand „Die Aussagen A und Β haben den gleichen Sinn, wenn die Wahrheit von A und Β dasselbe Verhalten der elementaren Bausteine der Materie zur Folge haben", so ist er Materialist, also ein Realist von einer bestimmten Art. (Zur Erläuterung: Ich sage, die Wahrheit von A hat den Sachverhalt s zur Folge, wenn S, die Beschreibung von s aus A analytisch ableitbar ist.) Es scheint danach durchaus plausibel, daß die Unterschiede zwischen dem Solipsisten, Phänomenalisten (Positivisten) und Materialisten auf die Anerkennung verschiedener Sinngleichheitsrelationen zurückge-

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führt werden kann. — Aber bisher habe ich nur vermutet, daß sich die amerikanischen scientific realists durch ihre Sinngleichheitsdefinition wesentlich von ihren Kontrahenten, den „Instrumentalisten" unterscheiden. Wir müssen dazu noch ihre Selbstdarstellung hören. Ich glaube nach der Lektüre verschiedener Autoren (J. J. C. Smart, G. Maxwell, W. Seilars), daß G. Bergers Charakterisierung der heutigen realistischen Position im Handbuch wissenschaftstheoretiscber Begriffe im wesentlichen richtig ist. Berger ist der Meinung, Carnap und Hempel seien Instrumentalisten und meinten, die theoretischen Terme in naturwissenschaftlichen Theorien seien nur Hilfsmittel zur Beschreibung der in einer Beobachtungssprache formulierbaren Konsequenzen der Theorie, in der sie vorkommen (G. Berger 1980). „Die Instrumentalisten behaupten, daß Sätze mit theoretischen Ausdrücken . . . nur Mittel zur Systematisierung der Beschreibung unserer Beobachtungen und Voraussagen sind: sie erklären sie nicht." Der Realist lehnt dann den Instrumentalismus ab. Er begreift sich als Nicht-Instrumentalist. Zwei Theorien Tt und T2, die beide dieselben möglichen Beobachtungen zur Folge haben, müßten gleichwertige Mittel zur Systematisierung dieser Beobachtungen sein, ergo: Die Theorien 71 und T2 haben dann für den Instrumentalisten den gleichen Sinn. Damit wäre der Instrumentalismus dadurch zu charakterisieren, daß er zwei theoretische Aussagen mit den gleichen Konsequenzen in der Beobachtungssprache für sinngleich hält, während sie für den Realisten verschiedenen Sinn haben, wenn sie nicht logisch äquivalent sind. Der Instrumentalist kann zugleich Phänomenalist sein, wenn seine Beobachtungssprache nur mögliche Erlebnisse beschreibt. Damit haben wir eine Formulierung der verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen Solipsismus, Phänomenalismus (Positivismus) usw. gefunden, die nicht mehr im früheren Sinne metaphysisch ist, nicht mehr die Frage beantwortet: Was ist das richtige Bild von der Welt, jenes, in dem ich von einer Menge von Dingen umgeben bin, vielleicht auch von Atomen und Molekülen, oder jenes, in dem außer meinen Wahrnehmungen nichts existiert? Die neue Formulierung äußert sich vielmehr zu einem durchaus sinnvollen Nachfolgeproblem: Was ist die richtige Relation der Bedeutungsgleichheit? Wir können stattdessen auch fragen: Was ist die richtige Sprache zur Beschreibung nicht weiter zurückführbarer Sachverhalte? Dabei wird angenommen, daß zu einer Sprache stets auch Bedeutungspostulate gehören. Aus diesen Bedeutungspostulaten läßt sich ableiten, welche

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Aussagen gleiche und welche verschiedene Bedeutung haben. Somit gehört zu jeder Sprache auch eine Relation der Bedeutungsgleichheit, und erkenntnistheoretische Fragen werden damit Fragen nach der Wahl der richtigen Sprache. Als derartiges Sprachproblem stellt sich die Frage nach der Existenz der Dinge in der Außenwelt für den späteren Carnap dar (1950; 1976, S. 55): „Entscheidet sich jemand für die Dingsprache, so kann man durchaus sagen, er habe die Dingwelt anerkannt. Das ist aber nicht so zu verstehen, als glaubte er an die Wirklichkeit der Dingwelt; einen solchen Glauben, eine solche Annahme oder Behauptung gibt es nicht, es handelt sich um keine theoretische Frage. Die Dingwelt anerkennen heißt nicht mehr als eine bestimmte Sprachform verwenden, . . . Der Zweck, dem die Sprache dienen soll, etwa die Übermittlung von Tatsachenwissen, bestimmt, was für die Entscheidung von Bedeutung ist. Zu den entscheidenden Gesichtspunkten dürften die Leistungsfähigkeit, Fruchtbarkeit und Einfachheit der Dingsprache gehören. Diese Fragen sind sicher theoretischer Natur; doch sie sind nicht dasselbe wie die Frage des Realismus. Es sind ja keine ja-neinFragen, sondern Fragen des Grades. Die übliche Dingsprache ist für die meisten Zwecke des Alltagslebens tatsächlich sehr leistungsfähig, das sagt unsere Erfahrung. Doch das darf man nicht etwa so beschreiben : „Die Leistungsfähigkeit der Dingsprache spricht für die Wirklichkeit der Dingwelt", sondern so: „Sie spricht für die Verwendung der Dingsprache."

Carnap unterstreicht diesen Standpunkt noch einmal ganz deutlich in den Entgegnungen auf die Beiträge zu seinem Schilpp-Band (1963, S. 863, 868 ff.). Carnap unterscheidet den metaphysischen oder ontologischen Realismus und Phänomenalismus vom methodologischen oder lingualistischen Realismus und Phänomenalismus (S. 863). Die ersten beiden Positionen sind sinnlos und drücken nur ein Lebensgefühl aus. Die methodologischen Versionen des Realismus und Phänomenalismus hingegen bestehen in der Wahl gewisser Sprachen (S. 863) : „Phenomenalism in the second, methodological or linguistic sense, may be understood as the proposal of a phenomenalistic language as the basis of the total language." Können wir eine derartige methodologische oder lingualistische Fassung des Nachfolgeproblems der Frage nach der Existenz äußerer Dinge bereits bei Hans Reichenbach vorfinden? Versteht er vielleicht selbst bereits das alte Außenweltproblem auf diese Weise? Reichenbach hat zweifellos von seinem Aufsatz „Metaphysik und Naturwissenschaft" (1925) bis zu seinen Philosophical Foundations of Quantum Mechanics (1944) eine gewisse Entwicklung durchgemacht.

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Dennoch fällt bereits bei seinem früheren Aufsatz auf, daß sich für Reichenbach das Problem auf der sprachlichen Ebene stellt, als Frage der Zurückführbarkeit der Aussagen a¡ über reale Dinge auf solche d' über Wahrnehmungen (1925, S. 170f.): Er schildert den Positivismus: „Wir werden schließlich das ganze System a von Existenzialaussagen a¡, das den Inhalt der Erfahrungen des täglichen Lebens und der gesamten Wissenschaft umschließt, ersetzen können durch das System a' der Aussagen a'i, welches nur über Empfindungen berichtet". (S. 171). Reichenbach lehnt diese positivistische Position ab. Zu a' muß noch W, das metaphysische Wahrscheinlichkeitsaxiom hinzukommen, um a erhalten zu können. ( W s t e h t stellvertretend für so etwas wie die induktive Logik. Auf eine genauere Formulierung von Umgehe ich hier nicht ein.) Somit war Reichenbach im Jahre 1925 tatsächlich methodologischer oder lingualistischer Realist und damit konsequenterweise auch Metaphysiker. Er vertrat damals noch den Standpunkt, daß die deduktive Logik nicht die gesamte Rationalität ist, die zu den Wahrnehmungen hinzukommen muß, damit daraus Erfahrung wird. Wie wir bereits gesehen haben, hat er eine solche Position noch 1929 in Prag gegen Carnap verteidigt. Es zeigt sich darin ein Rest seines früheren Kantianismus. In den folgenden Jahren hat Reichenbach sich immer mehr Ideen des Wiener Kreises zu eigen gemacht. Er bekannte sich 1936 zum logischen Empirismus. Dabei hat seine neue „Rechtfertigung" des Induktionsprinzips sicher eine große Rolle gespielt, die er Anfang der dreißiger Jahre glaubte, gefunden zu haben. Erst durch die Lösung des Humeschen Problems war für ihn der logische Empirismus möglich. Das dritte Mal behandelt Reichenbach den Realismus in Experience and Prediction. Wenn nun aber Positivismus und Realismus sich durch verschiedene Sprachen auszeichnen, zusammen mit zwei Bedeutungsäquivalenzrelationen, dann ist eine Entscheidung zugunsten des einen oder anderen nur möglich, wenn zwischen zwei Sprachen und den zugeordneten Bedeutungsäquivalenzen für die Erkenntnis entschieden werden kann. Eine solche Entscheidung ist rein willkürlich und konventionell, wenn die beiden Sprachen äquivalent sind, sich jeder Sachverhalt in beiden gleich gut ausdrücken läßt. Das ist aber bei der positivistischen und der realistischen Sprache nicht der Fall. Die realistische Sprache gestattet Wahrscheinlichkeitsschlüsse und damit mehr Voraussagen. Die realistische Sprache ist ausdrucksreicher als die idealistische. Wir hatten aber bereits von G. Berger vernommen, daß theoretische Terme für den Instrumentalisten die empirischen Daten nicht erklären,

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für den Realisten aber sehr wohl. Wie läßt sich das verstehen? Das Argument tritt bereits bei John Locke auf und findet sich immer wieder in den verschiedensten Varianten bei vielen Realisten. Eine Fassung ist folgende (W. C. Salmon 1979 b, S. 418 —419): Wir würden nicht erklären können, daß bei allen (mindestens 20) verschiedenen Methoden, die Loschmidtsche Zahl zu messen, immer ungefähr dasselbe herauskommt, wenn es nicht tatsächlich 10 23 Moleküle in einem Mol eines chemischen Stoffes gäbe. Es wäre sehr unwahrscheinlich, wenn die seltsame Ubereinstimmung der über 20 Methoden rein zufällig zustande käme. Verallgemeinert man das Argument, so kommt man zu folgendem Resultat: Es könnten sehr wohl zwei verschiedene Hypothesen X und X einen Phänomenbereich gleich gut beschreiben. Diese beiden Hypothesen stehen daher im gleichen logischen Verhältnis zu den beobachtbaren Erscheinungen. Aber möglicherweise erklärt den beobachtbaren Sachverhalt E weit besser als X- Die Hypothese X macht E viel wahrscheinlicher als Xàa.s tut. Daher macht £ die Hypothese X viel wahrscheinlicher als X. Daraus ergibt sich, daß die Hypothesen X und !Çnach einer anderen als der positivistischen Sinngleichheitsrelation durchaus verschiedenen Sinn haben können, wenn diese die Wahrscheinlichkeitsbeziehungen von X und X zu E berücksichtigt. Die veränderte Sinngleichheitsrelation lautet bei Reichenbach (1938, S. 54): „Zwei Sätze haben die gleiche Bedeutung, wenn sie aufgrund jeder möglichen Beobachtung das gleiche Gewicht (den gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad) erhalten."

Diese Sinngleichheitsrelation kennzeichnet dann die realistische Sprache. Sowohl die positivistische als auch die realistische Sprache sind durch ihre Sinngleichheitsrelationen gekennzeichnet. Bei der einen wird nur verlangt, daß zwei Aussagen in gleichen logischen Beziehungen zu möglichen Beobachtungen stehen. Bei der anderen kommen die wahrscheinlichkeitstheoretischen Beziehungen dazu. Die Entscheidung zwischen beiden Sprachen ist daher die einer „volitional bifurcation" einer echten Verzweigung und muß daher aus praktischen Erwägungen heraus gefällt werden. Reichenbach sagt: Wenn du Voraussagen willst, bei denen Wahrscheinlichkeiten eine Rolle spielen — ob du das willst, mußt du selbst wissen — ist die realistische Sprache dafür besser. Reichenbachs Formulierungen in Experience and Prediction zeigen dies in eindeutiger Weise. Er sagt, er habe „the difference of the positivistic and realistic conception of the world" formuliert „as the difference of two languages"

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(S. 145). Er benutze dabei eine „form of consideration, which has been applied particularly by Carnap" (S. 145). „The conception of the difference in question as a difference of language corresponds also to our idea that the question of meaning is a matter of decision, and not of truth-character." Im Gegensatz zu Reichenbach halten viele Realisten den Realismus für eine Hypothese, an deren Wahrheit sie glauben und nicht für eine Angelegenheit der Entscheidung. Reichenbach wird aber noch deutlicher: „. . . we consider meaning as· a matter of free decision, and ask for the consequences to which each form of decision leads, and thus for the advantages and disadvantages . . ." (S. 146). Aber auch wenn diese Entscheidung frei ist, sagt er: „We should not like to say that the decision in question is arbitrary" (S. 146). Sie ist vielmehr eine „volitional bifurcation" (S. 147), da eine Entscheidung ja vorteilhafter sein kann als eine andere. So ist zum Beispiel die Sprache des phänomenalistischen Solipsisten nicht falsch: „We do not . . . say that the egocentric language is „false" (S. 147), „. . . the decision for the egocentric language leads to a scientific system of a restricted character which does not correspond to the system constructed by the realistic language in its full extension" (S. 147). Die Sprache des Solipsisten leistet also weniger als die des Realisten und ist damit weniger brauchbar. „The pragmatic idea that the definition of meaning is to be chosen in adaption to the system of human actions . . . decides, therefore, against a strictly positivistic language" (S. 150). Die realistische Sprache wird somit als Instrument aufgefaßt, das besser ist als andere. Reichenbach vertritt auch bezüglich einzelner Aussagen einen „Instrumentalismus": „Propositions are tools with which we operate; all we can demand is to be able to manipulate these tools" (S. 159). Die Stoßrichtung des letzten Satzes ist allerdings eine etwas andere. Reichenbach will damit sagen, daß die Bedeutung einer Aussage nicht in irgendwelchen Bildern besteht, die den ausgesagten Sachverhalt widerspiegeln. Dennoch geht aus dem Bisherigen klar hervor, daß Reichenbachs Grundeinstellung eher eine instrumentalistische als eine realistische ist. Er hatte am Anfang der dreißiger Jahre eine Art pragmatischer Wende vollzogen, die besonders in seiner Rechtfertigung des Induktionsprinzips zum Ausdruck kommt (siehe z.B. 1933, S. 416—425; 1949, S. 469—482; 1968, S. 258—280). Auch in diesem Zusammenhang betont er, das Induktionsprinzip halte er nicht für wahr, sondern er habe sich nur dafür entschieden, es bei seinen Handlungen zugrunde zu legen. Wieder liegt hier der Tenor auf der Entscheidung im Unterschied zum Glauben an die Wahrheit eines Prinzips. D i e Konsequenz ist die, daß die Entscheidung für oder g e g e n den Realismus eine praktische Entscheidung ist und keine theoretische, ganz wie später bei Carnap. U n d nun ist die große Frage: Ist einer Realist, der sich aus praktischen Gründen für eine realistische Sprache entscheidet? Sagen die Realisten nicht, ihre These sei wahr? U n d ist der, der sich für den Realismus entscheidet und nicht an ihn glaubt, nicht in Wahrheit ein Instrumentalist? Ich glaube, daß Reichenbach eigentlich die Realisten in seinem Buch Experience and Prediction enttäuschen muß. Er ist darin nicht mehr einer von ihnen.

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Das vierte Mal tritt das Problem des Realismus in einem etwas anderen Kontext auf, dem der Grundlagen der Quantenmechanik. Hier gibt es wieder zwei Sprachen, eine zur Beschreibung der Phänomene und eine zweite, die außer diesen auch die sogenannten Interphänomene beschreibt. Wieder ist zwischen beiden Sprachen zu wählen, aber nun handelt es sich nicht mehr um eine volitional bifurcation, sondern um eine arbitrary decision, eine willkürliche Wahl zwischen äquivalenten Möglichkeiten. Damit wird die Entscheidung vollends willkürlich, der Realismus Geschmackssache. Reichenbach hat sich mehr denn je v o m eigentlichen Realismus abgewandt. Reichenbach diskutiert die Frage der Existenz unbeobachteter Dinge am Beispiel eines Baumes und seiner Fortexistenz, wenn ihn niemand sieht. „Wir müssen vielmehr sagen, daß es mehr als eine wahre Beschreibung unbeobachter Objekte gibt, daß eine Klasse gleichwertiger Beschreibungen existiert und daß alle diese Beschreibungen mit gleichem Recht benutzt werden können. Die Anzahl dieser Beschreibungen ist nicht begrenzt. So können wir mit Leichtigkeit eine Annahme einführen, derzufolge sich der Baum jedesmal in zwei Bäume spaltet, wenn wir nicht hinsehen" (1949, S. 30). Die Beschreibung, bei der sich die Dinge, wenn sie niemand sieht, genau so verhalten, als wenn sie beobachtet würden, nennt Reichenbach „Normalsystem". Dieses ist einfacher als andere mögliche Beschreibungen, beruht aber auf einer Konvention. „Diese Konvention ist z. B. selbstverständlich vorausgesetzt, wenn wir sagen, daß unser Haus an seinem Platz bleibt, solange wir abwesend sind" (S. 31). Sie ist eine Regel in der Sprache der normalen Beschreibung. „Man muß sich natürlich darüber klar sein, daß die Wahl der Sprache den Charakter einer Definition hat und daß die Einfachheit des Normalsystems dieses System nicht wahrer macht als andere" (S. 31). Wieder ist davon die Rede, daß die realistische sprachliche Beschreibung nicht wahrer ist als die phänomenalistische, aber nun sind im Unterschied zu Experience and Prediction die verschiedenen Beschreibungen gleichwertig und die realistische Auffassung wird zur reinen Konvention. So redet kein Philosoph mehr, der sich selbst als Realist bezeichnet. Als Ergebnis möchte ich festhalten, daß Reichenbach sich dem W i e ner Kreis und Carnap immer mehr angeglichen hat, während jener sich gleichzeitig v o m logischen Positivismus immer weiter fortentwickelte. Man soll die D i f f e r e n z e n zwischen Reichenbach und den Wienern nicht überbetonen. Im gewissen Sinne ist er durchaus einer v o n ihnen. Ich glaube nicht, daß Reichenbach in seinen Gedanken Schlick, Waismann und Carnap ferner ist als etwa O t t o Neurath. Im übrigen ist es fast ein historischer Zufall, daß Reichenbach nicht in W i e n gewesen ist. Bevor Carnap dort seine Dozentenstelle bekam, wurde auch Reichenbach dort

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in Betracht gezogen 5 . (Reichenbachs und Carnaps Wege haben sich mehrfach überkreuzt. 1930 lehnte Reichenbach einen Ruf nach Prag ab 6 , den Carnap dann annahm und nach Reichenbachs Tod wurde Carnap sein Nachfolger in Los Angeles.) Vielleicht hätten ihre Wege auch umgekehrt laufen können. Was hätte das an der Philosophie des Wiener Kreises geändert? Vielleicht nicht einmal so viel.

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Das war 1925—26, siehe H . Feigl 1968, S. 634. Siehe die „Rundschau" in Erkenntnis 1, S. 420 und 2, S. 309.

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Maria Reichenbach: The Theory of Relativity and A Priori Knowledge, Berkeley-Los Angeles: Univ. of California Pr., enthält eine Einleitung der Übersetzerin, 44 S. — , 1924, Was ist Radioζ Stuttgart: Verl. die Zeit. —, 1924 a, Der Radioapparat. Ein zerlegbares Modell zum Zwecke der Selbstheiehrung und für den Unterricht an gewerblichen Fachschulen, Wiesbaden: Pestalozzi Verl.-Anst. — , 1925, „Metaphysik und Naturwissenschaft", Symposion 1, 158—176. — , 1929, „Ziele und Wege der physikalischen Erkenntnis." Handbuch der Physik (hrsg. von H . Geiger und K. Scheel), Bd. 4, Allgemeine Grundlagen der Physik. Berlin: Springer. S. 1 - 8 0 . - , 1930, mit E. Zilsel, W. Dubislav, H. Härlen, R. Carnap, R. v. Mises, O . Neurath, T o r nier, K. Greiling, Hostinsky: „Diskussion über Wahrscheinlichkeit" Erkenntnis 1, 260—285. —, 1931, Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie. Leipzig: Meiner. Engl. Übers, in Reichenbach 1978. —, 1933, „Die logischen Grundlagen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs." Erkenntnis, Bd. 3, S. 401 —25. abgedruckt in L . K r ü g e r (Hrsg.) Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften, Köln—Berlin 1970: Kiepenheuer und Witsch. — , 1936, „Logistic Empiricism in Germany and the Present State of its Problems." The journal of Philosophy. 33, 141—60. —, 1938, Experience and Prediction An Analysis of the Foundations and the Structure of Knowledge. Chicago : Univ. of Chicago Pr. —, 1944, Philosophic Foundations of Quantum Mechanics. Berkeley—Los Angeles: Univ. of California Pr., Deutsche Übers.: 1949. — , 1949, The Theory of Probability — An Inquiry into the Logical and Mathematical Foundations of the Calculus of Probability. Engl. Übers, der Wahrscheinlichkeitslehre (1935) von Ε. H . Hutten und Maria Reichenbach (2. Ausg.), Berkeley—Los Angeles: University of California Press. — , 1949, Philosophische Grundlagen der Quantenmechanik, (Übers, von Reichenbach 1944, übers, von Maria Reichenbach), Basel: Birkhäuser. —, 1968, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Braunschweig 1968: Viehweg. H . Reichenbach, 1977, Gesammelte Werke in 9 Bänden, Bd. 1: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie (enthält unter anderem 1968 und W. C. Salmon 1977), Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg. H . Reichenbach, 1978, Selected Writings: 1909—1953 (Hrsg. von M. Reichenbach u. R. S. Cohen), 2 Bde. (enthält unter anderem in englischer Sprache 1913, 1925, 1929, 1931, M. Reichenbach 1978), D o r d r e c h t / B o s t o n / L o n d o n : Reidel. M. Reichenbach, 1978, „Introductory Note to Part I", in H . Reichenbach 1978, S. 91 — 101. W. C. Salmon, 1977, „Einleitung zur Gesamtausgabe. Hans Reichenbachs Leben und die Tragweite seiner Philosophie", in H . Reichenbach 1977, S. 5 — 81. — (Hrsg.), 1979, Hans Reichenbach: Logical Empiricist, D o r d r e c h t / B o s t o n / L o n d o n : Reidel. —, 1979a, „The Philosophy of Hans Reichenbach", in W . C . Salmon (Hrsg.) 1979, S. 1 — 84 ; bis auf redaktionelle Änderungen identisch mit W . C. Salmon 1977. —, 1979 b, „Why Ask, ,Why?'? — An Inquiry Concerning Scientific Explanation", in W. C. Salmon (Hrsg.) 1979, S. 4 0 3 - 4 2 5 . P. Schroeder, 1980, Artikel „Greiling, Kurt" i n j . Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie, Philosophie und Wissenschaftstheorie, M a n n h e i m / W i e n / Z ü r i c h : Bibliogr. Inst.; S. 813. W. Sellars, 1963, Science, Perception, and Reality, London: Routledge and Kegan Paul. J. J. C. Smart, 1963, Philosophy and Scientific Realism, London: Routledge and Kegan Paul. L. Wittgenstein, 1960, Werke, Bd. 1, Frankfurt: Suhrkamp.

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Logischer Positivismus und Phänomenologie : Felix Kaufmanns Methodologie der Sozialwissenschaften Einleitung Am 26. 6. 1929 bittet Rudolf Carnap (im Namen des Vereins Ernst Mach) Felix Kaufmann um seine Publikationsliste zwecks Vorbereitung der Broschüre „die Wiener Schule der wissenschaftlichen Weltauffassung" (so Carnap), deren Publikation, von Carnap, Hahn und Neurath unterzeichnet, den offiziellen Beginn des Wiener Kreises markiert 1 . Felix Kaufmann (1895—1949), Privatdozent für Rechtsphilosophie (im Brotberuf Manager), lehnt ab, wodurch laut Carnap „selbstverständlich . . . Ihre wissenschaftlichen und persönlichen Beziehungen zu unserem Kreis nicht im geringsten gestört (werden)". 2 In der Tat nimmt Felix Kaufmann in Wien regelmäßig an den Sitzungen des Kreises teil und diskutiert nach seiner Emigration (Professor für Philosophie an der New School for Social Research, New York) in Korrespondenz und Publikationen mit dessen Mitgliedern. In Wien ist Kaufmann neben dem Verein Ernst Mach Angehöriger des Kreises um Kelsen, des „GeistKreises" und des L. Mises Seminars. 3 Obwohl die gleichzeitige Teilnahme an mehreren Diskussionszirkeln üblich ist, bezeichnet in diesem Fall die Breite der Gegenstände — Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft, Rechtswissenschaft, Sozial- und Geisteswissenschaft und Nationalökonomie das intellektuelle Profil des Mannes — Kaufmann publiziert in allen diesen Gebieten — und seine Funktion als Vermittler

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Vgl. N e u r a t h 1973, S. 4 8 / 4 9 , S. 54. N a c h l a ß Felix K a u f m a n n (08078 — 08063), Sozialwissenschaftliches Archiv Konstanz, Universität Konstanz. (Eine Auswahl aus dem Nachlaß wird von der Autorin vorbereitet.) N e u r a t h (1930/31) nennt K a u f m a n n unter den „dem W i e n e r Kreis . . . nahestehende(n) Forscher(n) (Kaila, K a u f m a n n , K r a f t , Menger, Reidemeister, Zilsel u. a.)" (zitiert nach 1981a, S. 390). Die von R. Haller mündlich mitgeteilte Zugehörigkeit K a u f m a n n s z u m G o m p e r z Kreis w u r d e duch meine N a c h f o r s c h u n g e n nicht bestätigt.

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neuer philosophisch-methodologischer Auffassungen für die genannten Einzelwissenschaften. 4 Das Folgende arbeitet die philosophischen Grundzüge der Position Kaufmanns in der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre als Vermittlung von Ideen des Wiener Kreises, der Phänomenologie und der Verstehenden Soziologie heraus, wobei „Wiener Kreis" zunächst grob vereinfachend als Einheit behandelt und nur für die Behandlung von zentralen Punkten von Kaufmanns Methodologie nach unterschiedlichen Auffassungen differenziert wird. 5 Nach Publikationen in Rechtsphilosophie (1921, 1929), Nationalökonomie (1925, 1930/31) und Philosophie der Mathematik (1930) 6 erscheint 1936, fünf Jahre nach Otto Neuraths „Empirische Soziologie" (1931) und „Soziologie im Physikalismus" (1931c) und vier Jahre nach Alfred Schütz' „Sinnhafter Aufbau der sozialen Welt" (1932) Felix Kaufmanns „Methodenlehre der Sozialwissenschaften". Darin stimmt Kaufmann in folgenden Punkten mit der Position des Wiener Kreises überein: — Das Ziel jeder empirischen Wissenschaft ist die Prognose von Ereignissen. Bezüglich dieses Zieles gibt es keinen Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. — Gesetze und Anfangsbedingungen werden für Prognosen sowohl in den Natur- als auch den Sozialwissenschaften benötigt. — Natur- und Sozialwissenschaften erfordern intersubjektive Begriffsbildung. — Logische und empirische Wahrheit von Aussagen muß streng getrennt werden. — Metaphysische Aussagen sind abzulehnen, weil sie sinnlos sind und Scheinprobleme aufwerfen. Kaufmann lehnt die Positon des Wiener Kreises in folgenden Punkten ab: Dies geht aus Interviews der Autorin mit Zeitgenossen, u. a. Haberle und RosensteinRodan ( Ö k o n o m e n ) hervor. Für eine dataillierte Schilderung der Biographie Kaufmanns, seine Beziehungen innerhalb des Wiener geistigen Millieus der Zeit und in der Emigration siehe Felix Kaufmann: Methodological Writings in the Social Sciences, D o r d r e c h t / B o s t o n / L o n d o n (im Erscheinen), (I. K. Helling, Hrsg.). Für eine kritische Diskussion siehe meine Einleitung in Kaufmann, im Erscheinen. Für Kaufmanns Beziehung zur Sozialphänomenologie von Alfred Schütz, siehe Helling 1985, zur Annäherung an D e w e y in der Emigration Helling, 1985. Für eine ausführliche Bibliographie siehe Kaufmann 1978.

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— Aussagen über psychische Tatsachen sind nicht auf Aussagen über physische Tatsachen reduzierbar. — Die Unterscheidung zwischen äußerem Verhalten und innerer Erfahrung bedeutet nicht, daß objektive Aussagen nur über Beobachtungen des äußeren Verhaltens möglich sind und daß nur das äußere Verhalten prognostiziert werden kann. — Theoretische Aussagen können nicht vollständig in Atomsätze über Beobachtungen äußerer Ereignisse übersetzt werden. — Die Bedeutung einer Aussage ist nicht identisch mit der Methode ihrer Verifikation. Ν

Wie ist diese Position Kaufmanns zwischen Ablehnung und Befürwortung des Wiener Kreises zu verstehen? Ich betrachte Kaufmanns phänomenologischen Erfahrungsbegriff als das grundlegende Element seiner Position und entwickle im folgenden die oben aufgelisteten Zustimmungen und Ablehnungen zu Positionen des Wiener Kreises unter Bezug auf Kaufmanns Erfahrungsbegriff.

Verifikation

und Erfahrung

In seinem Aufsatz „Phänomenologie und logischer Positivismus" (1940) schreibt Kaufmann, daß kontrollierte Uberprüfung von Erfahrung der einzige W e g sei und lehnt mit den logischen Positivisten metaphysische Spekulationen und Intuition als Erkenntnisquellen ab. Mit den logischen Positivisten glaubt er, daß in der Philosophie durch die Verwechslung von logischer Wahrheit und faktischer Wahrheit und durch Ansprüche auf notwendige Wahrheit für Tatsachenaussagen viel Verwirrung entstanden ist. Die logischen Positivisten beschreiten den richtigen Weg, gehen ihn aber nicht weit genug : Anstatt die Struktur von Erfahrung zu analysieren, geben sie sich mit einer „sensualistischen" Auffassung von Erfahrung zufrieden. Indem sie Erfahrung als ein unmittelbar Gegebenes ansehen, fassen sie Verifikation als ein einfaches, strukturloses Ereignis auf und, anstatt die Beziehung zwischen der Bedeutung eines Urteils und der Art und Weise seiner Bestätigung zu analysieren, setzen sie die beiden gleich. Kaufmann, von der Phänomenologie Husserls beeinflußt, besteht demgegenüber darauf, daß Erfahrung eine komplexe Struktur hat, die im Aufbau von Erfahrungswissenschaft berücksichtigt werden muß. Die Tatsache, daß für das erfahrende Subjekt eine

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Erfahrung psychologisch schnell und einfach ist, darf nicht als strukturelle Einfachheit mißverstanden werden. Erfahrung ist weder vollkommen passiv (rezeptiv) noch vollkommen aktiv (spontan), sondern jede Erfahrung besteht aus passiven und aktiven Elementen, die nicht einfach getrennt werden können. Die Synthese von Wissenselementen, welche den Inhalt von Urteilen darstellt, geschieht auf verschiedenen Ebenen (Schichtenstruktur der Erfahrung). Schon die Identifikation der Erfahrung eines Gegenstandes einer bestimmten Art beinhaltet die Erinnerung oder Aktivierung früherer Erfahrung und die Antizipation zukünftiger Erfahrung, „so daß das Wahrnehmungsurteil betreffend die Wirklichkeit eines Dinges der Außenwelt keineswegs als schlichte Feststellung über sinnliche Eindrücke — rezeptive Befunde — aufzufassen ist, sondern, daß es offene Reihen von Annahmen in sich schließt, die auf intertemporale, intersensuelle und interpersonelle (intersubjektive) Bewährung abgestellt sind". 7 (1936a, S. 11) Daraus leitet sich Kaufmanns Position in der Verifikationsproblematik ab: Weil jedes Tatsachenurteil mehr enthält als die Registrierung einer isolierten Erfahrungssituation, kann es durch eine Aussage über eine solche Situation nicht definitiv und endgültig verifiziert werden. Es kann jedoch empirischer Kontrolle unterworfen und verändert werden. Bezüglich Kaufmanns Beziehung zum Wiener Kreis fällt auf, daß Kaufmann die empiristische Frage nach den Wahrheitsbedingungen von Aussagen aufgreift, um phänomenologisch zu begründen, daß es keine isolierten Verifikationsakte geben kann. Dennoch ist die Verifikationsproblematik von größter Wichtigkeit für ihn: Wegen des offenen Horizonts jeder Erfahrung und ihrer Eingebundenheit in Erfahrungszusammenhängen (Husserl) übersteigt zwar der Sinn einer Aussage immer eine gegebene Methode ihrer Verifikation, jedoch ist Verifikation ein notwendiges Element, um den Sinn einer Aussage festzustellen: „In der Idee des Seienden als eines ,Horizonts offener Möglichkeiten', (sind) neben wohlbestimmten Zugangswegen auch Leerstellen für zunächst noch unbestimmte weitere Erfahrungen, die sich — so wird antizipiert — einstimmig in den Zusammenhang der bereits charakterisierten Erfassungsweisen fügen sollen, eingeschlossen. Dieser ,Transzendenz' des Seins gegenüber jeder fest umgrenzten Anzahl nicht nur von Einzelerlebnissen, sondern auch von Erlebnistypen, entspricht die Transzendenz des In der Sache ähnlich, jedoch nicht als Analyse der Erfahrung, sondern der Gültigkeit von Protokollsätzen argumentiert Schlick (1934, S. 83) gegen Neurath und Carnap.

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Urteilssinns gegenüber jeder festumgrenzten Anzahl von Wahrheitsbedingungen . . . diese ,Transzendenz' (darf) nicht als Aufhebung der Korrelation, nicht als absolute Transzendenz mißdeutet werden . . . denn jede Determinierung von zunächst noch offenen Möglichkeiten erfolgt wiederum durch Angabe der Erfassungsweise, eines empirischen Zugangsweges (1936a, S. 16) . . . Der Urteilssinn . . . ist. . . ,mehr' als ein Inbegriff festumgrenzter, abgeschlossener Wahrheitsbedingungen; er schließt jedoch kein Moment ein, welches ohne Bezug auf den Verifizierungsprozeß wäre." (1936a, S. 18) Was also ist für Kaufmann die Funktion der Wahrnehmung im Erkenntnisprozeß? Im Vergleich zu Urteilen, die kein Sinnesmaterial enthalten, haben Wahrnehmungsurteile einen besonderen Status im Erkenntnisprozeß, sie bilden „Knotenpunkte" im Zusammenhang des Erfahrungswissens. Aufgrund des Anteils von Sinnesmaterial, das in einem Urteil enthalten ist, kann man zwischen unmittelbarer Erfahrung und Erinnerung, zwischen Realität und Phantasie unterscheiden. Die Wahrnehmungserlebnisse können jedoch nicht von erworbenem, habitualisiertem (vorprädikativem) Wissen, in das sie im Prozeß der Urteilsbildung eingeordnet werden, getrennt werden. Daher gibt es kein voraussetzungsloses Wissen, daher kann unser Wissen von der Welt nicht aus isolierten Atomsätzen konstruiert werden oder durch sie dargestellt werden. Was sind jedoch die Konsequenzen der Erfahrung für die Ebene wissenschaftlicher Theorie und wissenschaftlicher Forschung? Kaufmann formuliert ein „Prinzip der finiten Formulierung", welches das Problem eines infiniten Regresses lösen soll, der aus der prinzipiellen Endlosigkeit der Verifizierungsreihen — begründet in der „Unabgeschlossenheit der Erfahrung" — entstehen kann: „Dem Horizontcharakter der Erfahrung (entspricht) ein regressus indefinitus in der Verifizierung von Urteilen: Er ist indefinit, weil es keinen Punkt innerhalb des Regresses gibt, der sich als dessen Endpunkt logisch aufzwingen würde, aber er ist nicht infinit, weil er de facto immer an irgendeinem Punkt abgebrochen wird und werden muß. Wer die Fehlvorstellung voraussetzungsloser Erkenntnis überwunden hat, dem erscheint dieser Sachverhalt nicht mehr paradox." (1936a, S. 18) Kaufmann rechtfertigt sein Prinzip der finiten Formulierung nicht auf pragmatische Art durch die Notwendigkeiten wissenschaftlicher Praxis, sondern phänomenologisch durch die Struktur der Erfahrung und Wahrnehmung. Die zentrale Rolle, die vom Wiener Kreis der empirischen Kontrolle wissen-

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schaftlicher Aussagen gegeben wird, wird von Kaufmann nicht angegriffen, vielmehr gibt er dem Begriff empirische Kontrolle eine andere Bedeutung, die ich folgenderweise zusammenfasse: Verifizierung besteht nicht aus einem einzelnen Akt, sondern aus einer Reihe von Kontrollen, die in einstimmiger (im phänomenologischen Sinn) Erfahrung resultieren. Die Wahrheit eines Wahrnehmungsurteils hängt ab von der Wahrheit anderer Urteile, daher ist es immer möglich, einen Beobachtungstest dann abzulehnen, wenn er nicht mit der Theorie übereinstimmt. Tatsachen sind theorieabhängig. Wie unterscheidet sich Kaufmanns Position von den verschiedenen Formulierungen des Verifikationsprinzips, die innerhalb des Wiener Kreises diskutiert worden sind? Zunächst (unter dem Einfluß Wittgensteins) werden Atomsätze als elementare Aussagen und als mit den Beobachtungstatsachen direkt vergleichbar aufgefaßt. Sie werden Protokollsätze genannt und als absolut gültige Sätze aufgefaßt (vgl. Kraft, 1968): „Sätze, die selbst nicht einer Bewährung bedürfen, sondern als Grundlage für alle übrigen Aussagen der Wissenschaft dienen" (Carnap 1931, S 438). Für Neurath „werden immer Aussagen mit Aussagen verglichen, nicht etwa mit einer , W i r k l i c h k e i t ' . . . " (1981a, S. 418 [1931c]). Er bestreitet die Möglichkeit „einer aus sauberen Atomsätzen aufgebauten idealen Sprache" als „metaphysisch", desgleichen den besonderen Status von Protokollsätzen (ursprünglich, keiner Bewährung bedürftig, nicht streichbar) : „Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen. Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können. N u r die Metaphysik kann restlos verschwinden. Die unpräzisen Ballungen (unanalysierte Termini der Trivialsprache) sind immer irgendwie Bestandteil des Schiffes . . . Jedes Gesetz und jeder physikalische Satz der Einheitswissenschaft oder einer ihrer Realwissenschaften kann solche Änderung erfahren. Auch jeder Protokollsatz . . . In der Einheitswissenschaft bemühen wir uns, ein widerspruchsloses System von: Protokollsätzen und Nichtprotokollsätzen (einschließlich der Gesetze) zu schaffen. Wird uns nun ein neuer Satz vorgewiesen, so vergleichen wir ihn mit dem System über das wir verfügen, und kontrollieren nun, ob der neue Satz im Widerspruch mit dem System steht oder nicht. Wir können, falls der neue Satz im Widerspruch mit dem System steht, diesen Satz als unverwendbar strei-

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chen . . . , oder aber man kann den Satz ,annehmen' und dafür das System so abändern, daß es, um diesen Satz vermehrt, widerspruchslos bleibt. . . Das Schicksal, gestrichen zu werden, kann auch einem Protokollsatz widerfahren . . . , es gibt weder ursprüngliche Protokollsätze', noch gibt es Sätze, die ,keiner Bewährung bedürfen'." (1932/33, S. 204 ff.). Carnap (1932/33, S. 215 ff.) übernimmt Neuraths Auffassung: „Jeder konkrete Satz der physikalistischen Systemsprache kann unter Umständen als Protokollsatz dienen . . . es (ist) Sache des Entschlusses, welche Sätze man jeweils als derartige Punkte der Zurückführung, also als Protokollsätze verwenden will. Sobald man will, — etwa wenn Zweifel auftreten oder wenn man die wissenschaftlichen Thesen sicherer zu fundieren wünscht — kann man die zunächst als Endpunkte genommenen Sätze ihrerseits wieder auf andere zurückführen und jetzt diese durch Beschluß zu Endpunkten erklären. In jedem Fall muß man mit der Zurückführung zum Zwecke der Nachprüfung irgendwo haltmachen. In keinem Fall aber ist man gezwungen, an einer bestimmten Stelle haltzumachen. Man kann von jedem Satz aus noch weiter zurückgehen; es gibt keine absoluten Anfangssätze für den Aufbau der Wissenschaft." Vehement wendet sich Kaufmann gegen das Verifikationsprinzip in seiner ursprünglichen starken Fassung (Waismann 1930/31, S. 229, Carnap 1931, S. 432 ff.), jedoch ist die Stellung, die Kaufmann den Protokollsätzen und der Beobachtung im wissenschaftlichen Verfahren zuschreibt, nicht sehr unterschiedlich von Neuraths oder Carnaps abgeschwächter Formulierung von 1932/33. 8 Kaufmann behauptet, daß der Grund für das Versagen des starken Verifikationsprinzips in der Mißachtung der Struktur der Erfahrung liegt, daß die Theorie der Wissenschaft Protokollsätze nicht als nichtauflösbare Einheiten betrachten darf. Kaufmanns Position in der Verifikationsfrage läßt sich abschließend durch zwei Zitate F. Waismanns illustrieren. 1930/31 (S. 229) führt Waismann das von Kaufmann abgelehnte starke Verifikationsprinzip ein: „Kann auf keine Weise angegeben werden, wann ein Satz wahr

Auch das Prinzip der „finiten Formulierung" hat verfahrensmäßig die gleichen Konsequenzen wie die obigen Carnap/Neurath-Zitate. Von Neurath trennt Kaufmann vor allem dessen Physikalismus, während er Neuraths Auffassung bezüglich der Protokollsätze ausdrücklich zustimmt (beides in Kaufmanns Nachruf auf Neurath 1945, Kaufmann-Nachlaß 001105-001118). Auch in der Frage von Gesetzesaussagen besteht Nähe. Für Kaufmann sind Gesetze Regeln des Schließens. Für Neurath „Anweisungen, um zu Voraussagen über Einzelabläufe zu kommen" (1981a, S. 418 [1931b]).

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ist, so hat der Satz überhaupt keinen Sinn, denn der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation . . . eine Aussage, die nicht endgültig verifiziert werden kann, ist überhaupt nicht verifizierbar." 1949 (hier zitiert nach 1963, S. 154 ff.) stellt er die Frage: „Wie k o m m t es, daß grundsätzlich eine Erfahrungsaussage nicht schlüssig verifizierbar ist?" O h n e K a u f m a n n oder die Phänomenologie zu erwähnen, f ü h r t er als Grund einen „Faktor (an), der, soweit ich weiß, nie erwähnt wurde, obwohl er sehr wichtig ist und w a h r h a f t naheliegt: die .Porosität' der meisten unserer empirischen Begriffe . . . Jede Beschreibung erstreckt sich sozusagen in einen H o r i z o n t offener Möglichkeiten; wieweit ich auch fortschreite, ich werde stets diesen H o r i z o n t mit mir tragen . . . die U n vollständigkeit unserer Verifikation (wurzelt) in der Unvollständigkeit der Definition dabei gebrauchter Ausdrücke, und die Unvollständigkeit der Definition wurzelt in der Unvollständigkeit empirischer Beschreibungen. Das ist einer der Gründe, warum die Objektaussage ρ nicht schlüssig verifiziert werden und auch nicht aufgelöst werden kann in Aussagen S I , S2, . . . Sn, die Beobachtungen enthalten." Diese Begründung stimmt mit K a u f m a n n s Ablehnung des starken Verifikationsprinzips von 1936a (siehe oben) überein.

Das psycho-pbysische

Problem

Wie hängt Kaufmanns Erfahrungsbegriff mit seiner Position bezüglich des Behaviorismus und des im Wiener Kreis vertretenem Physikalismus zusammen? Für eine Antwort auf diese Frage müssen zunächst folgende Elemente seiner Analyse skizziert werden: subjektive und intersubjektive Elemente in der Naturwissenschaft, innere und äußere E r f a h r u n g , der Inhalt von Annahmen in der N a t u r - und Sozialwissenschaft und die Struktur von sozialen Tatsachen. K a u f m a n n beschuldigt sowohl den Behaviorismus und Physikalismus als Spielarten des „Naturalismus" als auch den Introspektionismus als Spielart des „Antinaturalismus", daß sie aus der Tatsache, daß innere Erfahrungen nur einer Person direkt gegeben sind, falsche Folgerungen ziehen: Behaviorismus und Physikalismus schließen, daß solche Erfahrungen, weil sie nicht äußerlich beobachtbar, nicht intersubjektiv kontrollierbar sind und daher überhaupt nicht wissenschaftlich behandelt werden könnten. D e r Introspektionismus schließt, daß das Wissen von

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inneren Erfahrungen eine spezifische Evidenz hat und daher eine total unterschiedliche Methodologie. Für Kaufmann teilen beide falsche Annahmen über die Elimination subjektiver Elemente im Erkenntnisprozeß der Naturwissenschaften und falsche Annahmen über direkte Beobachtungen. Dagegen bietet Kaufmann die folgenden Argumente an: Jede Erfahrung äußerer Ereignisse beinhaltet innere Erfahrung (die spontanen Elemente der Erfahrung, die oben beschrieben wurden). Indem die Naturwissenschaften Meßinstrumente benutzen, erreichen sie nicht eine Objektivität, die von den „subjektiven" Gefühlen der Wärme, Länge usw. unabhängig wäre, sondern benutzen diese, da ζ. B. Längenwahrnehmung „subjektiv" ist. Der Begriff der intersubjektiven Kontrolle setzt die Existenz eines Alter ego voraus, welche nicht auf äußere Beobachtungen reduziert werden kann. Der Sinn von Zeichen und von Sprache in der Wissenschaft setzt eine Beziehung zwischen psycho-physischen Subjekten voraus, welche keine Eigenschaft der Zeichen als solche ist. Der Unterschied zwischen den Methoden der Naturwissenschaften und den Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften besteht darin, daß bei ersteren physische Tatsachen, bei letzteren Korrelationen zwischen physischen und psycho-physischen Tatsachen zur Aufstellung von Gesetzen benutzt werden. Physische Tatsachen entsprechen der äußeren und psychische Tatsachen der inneren Erfahrung. Jedoch können äußere und innere Erfahrung nicht vollständig isoliert werden, da sie eng ineinander verwoben sind. Die Inhalte der inneren Erfahrung wie z. B. Erinnern und Phantasieren sind äußere Tatsachen (Erlebnisse) oder Tatsachen des eigenen Leibes (Gefühle). Dagegen setzt die äußere Erfahrung, indem sie die Identifizierung und Unterscheidung von Gegenständen voraussetzt, innere Erfahrung voraus. Daher erfordert das Problem der Beziehung zwischen psychischen und physischen Gegenständen des Wissens eine Analyse der Erfahrungsschichten und ihrer gegenseitigen Implikationen. Kaufmann definiert als den Kern des wissenschaftlichen Wissens sozialer Tatsachen das sinnhafte Verstehen von Handlungen anderer Personen oder von Gegenständen, die als Symptome von Handlungen aufgefaßt werden. Sinnhaftes Verstehen erfordert keine besonderen Erkenntnisquellen wie z. B. Einfühlung. Sinnhaftes Verstehen ist eine Synthese äußerer und innerer Erfahrung, und daher können Begriffe von sozialen Tatsachen aus Begriffen von physischen und psycho-physischen Tatsachen konstruiert werden. Soziale Tatsachen sind im Gegensatz zu psychischen Tatsachen nicht intramental. Die Besonderheit psycho-phy-

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sischer Tatsachen im Gegensatz zu physischen Tatsachen ist, daß zusätzlich zu den Bewußtseinssynthesen, die die physischen Gegenstände konstituieren, noch eine andere Ebene von Synthesen dazukommt: Die physischen Tatsachen werden interpretiert als Symptome von Bewußtseinsakten anderer Personen. Damit haben wir den Kern von Kaufmanns Position bezüglich der Unterschiede von Natur- und Sozialwissenschaft: Sie sind nicht total unterschiedlich, weil ihre Gegenstände im Bewußtsein durch die oben angeführten spontanen und rezeptiven Elemente konstituiert werden (jedoch nicht im Bewußtsein enthalten sind). Sie sind unterschiedlich, weil die implizierten Synthesen von anderer Art sind. Beobachtbare Tatsachen, sowohl physische als auch psycho-physische (soziale), werden immer schon innerhalb eines Erfahrungszusammenhangs wahrgenommen. Um ein in der analytischen Handlungsphilosophie beliebtes Beispiel anzuführen (Anscombe 1953): Wenn wir das Hinundherbewegen von John's Arm als Gruß wahrnehmen, nehmen wir eine zusätzliche Deutung zu der Identifizierung eines sich bewegenden menschlichen Arms vor. Der physische Gegenstand wird so als ein Symptom für einen Bewußtseinsakt gedeutet. Solche regulären Zuordnungen von physischen Gegenständen und Bewußtseinsakten (Mimik, Gesten, Sprachzeichen) haben nichts Privates an sich, weil sie in gemeinsame Deutungsschemata eingeordnet werden. 9 Bezüglich der Kontrollierbarkeit solcher Zuordnungen weist Kaufmann darauf hin, daß wir im Alltag ständig auf ihrer Basis Voraussagen machen. Für die regelmäßigen Zuordnungen von physischen Gegenständen und Bewußtseinsakten führt Kaufmann den Begriff „Symptombeziehung" ein, den er als „Erkenntnisgrund" vom „Realgrund" unterscheidet: „Ein Sachverhalt S1 heißt ,Symptom für einen Sachverhalt S2' wenn aus dem Vorliegen von S1 Schlüsse auf das — vergangene, gegenKaufmann will sowohl hinter den Vergleich von Aussagen mit Tatsachen (früher Wiener Kreis, Carnap 1932/33a) als auch hinter den Vergleich von Aussagen mit Aussagen (InterSubjektivität der Sprache, Neurath 1932/33, S. 211) zurück: „Freilich bedeutet die f ü r den Physikalismus charakteristische These, daß alle Erkenntnis in einer Beziehung zwischen Sätzen bestehe, einen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem naiven Realismus, der in ihr eine Übereinstimmung zwischen dem Denken und denkunabhängigen Dingen oder Geschehnissen erblickt, aber sie bringt die . . . ernste Gefahr einer Verquickung zweier verschiedener Begriffe von Objektivität mit sich, nämlich desjenigen der intersubjektiven Wahrnehmbarkeit des Zeichenmaterials, d. i. von Lautverbindungen oder von Figuren mit demjenigen der intersubjektiven Uberprüfbarkeit des vom Zeichensetzenden vermeinten und mitgeteilten Sachverhaltes. Dadurch entsteht der Anschein, als würde im Zeichenmaterial sein Sinn (Gehalt) als eine Art qualitas occulta zukommen" (1936a, S. 143).

L o g i s c h e r Positivismus und P h ä n o m e n o l o g i e

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wärtige, zukünftige — Bestehen von S2 gezogen werden können. D a ß aber solche Schlüsse erfolgen können, besagt nichts anderes, als daß zwischen S l und S2 eine Realbeziehung — ein empirischer Zusammenhang — besteht. Diese Realbeziehung muß, wie sich aus der obigen D e finition ergibt, nicht von der Art sein, daß das Symptom (,Erkenntnisgrund') für einen Sachverhalt mit einer seiner Ursachen (,Realgrund') zusammenfällt. Es kann vielmehr auch eine Wirkung dieses Sachverhaltes sein oder zufolge gemeinsamer Ursachen seine regelmäßige Begleiterscheinung . . . D e r Sinn (die Bedeutung) des Symptoms S l ist nun nichts anderes als der Sinn des Urteils über S 2 , welches sich auf die Kenntnis von S l stützt. Man nennt ein solches Urteil eine Deutung von S l , die Begriffe „Symptomsinn" und „Deutung" sind sohin korrelativ. Man begreift nun ohne weiteres, daß die Symptombeziehungen weder ein-mehrdeutige noch mehr-eindeutige Beziehungen sind. Es kann nämlich einerseits ein Sachverhalt S l als Symptom für verschiedene Sachverhalte S 2 , S3 . . . S4 fungieren, andererseits kann jeder dieser Sachverhalte S 2 , S3 . . . S 4 allenfalls auch aus anderen Sachverhalten als aus S l erschlossen werden. Ferner . . . : W e n n man sagt: daß aus dem Sachverhalt S l der Sachverhalt S2 erschlossen wird, so ist dieses — wie die rationale Nachkontruktion zeigt — nicht so zu verstehen, als wäre das isolierte Wissen von S l Erkenntnisgrund für das S2 betreffende Wissen. W i e wir dargetan haben, setzt ja jeder Schluß von einer Tatsache auf eine andere Tatsache allgemeine Annahmen über Tatsachenverknüpfungen voraus; die Realbeziehung, die der symptomatischen Beziehung entspricht, ist keine Beziehung zwischen zwei bestimmten Einzeltatsachen als solchen, sondern zwischen zwei beliebigen Tatsachen der angegebenen Art. Man nennt die der Deutung zugrundeliegenden allgemeinen Annahmen Deutungsschemata . . . Die Behauptung, S l sei ein Symptom für S 2 , ist unvollständig, solange nicht ein die symptomatische Verknüpfung herstellendes Deutungsschema angegeben wird. Es ist aber zu beachten, daß S l allenfalls aufgrund verschiedener Deutungsschemata als Symptom von S2 fungieren kann" (1936a, S. 154 ff.). Beim sinnhaften Verstehen von Handlungen und Handlungsergebnissen schließen wir von physischen Fakten, ζ. B. Körperbewegungen, auf psycho-physische Fakten, Intentionen, Handlungen. Die Unterscheidung zwischen Realgründen (Ursachen) und epistemischen Gründen (Symptomen) ist wichtig für die Methodologie der Sozialwissenschaften, weil Sinndeutung sich auf das Auffinden der Symptomgründe richtet. Dieser Unterschied ist jedoch für die Methoden einer empirischen Wissenschaft nicht we-

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sentlich in dem Sinne, daß Bedeutungsphänomene kein autonomes Gebiet des Wissens unabhängig von Tatsachen dastellen (vgl. Kaufmann 1936a, S. 154 ff., 1936b, S. 64 ff.). Annahmen über die Gedanken anderer Personen können als Hypothesen aufgefaßt werden, die ebenso wie Hypothesen über nicht direkt beobachtbare Gegenstände, wie ζ. B. Atome in der Physik, indirekt bestätigt werden können. 1944 formuliert Kaufmann diese Auffassung erneut in der Sprache der Protokollsätze: „It is eronious to conceive of human actions as observable physical facts, and this applies to artefacts and institutions. In all these instances there is indeed reference to the observation of physical facts, but we do not observe actions qua actions, artefacts qua artefacts, institutions qua institutions and, therefore, we cannot say that they are given in observation. Accordingly we may state that every interpretation of social facts presupposes a fundamental interpretation, namely that of the underlying physical fact as a social fact (1944, S. 166) . . . T h e chief difference between rules of procedure concerning propositions about the psychophysical world, and those concerning propositions about the physical world is that the protocol proposition are of a different kind. In the psycho-physical domain they imply interpretations by which psycho-physical facts are correlated with physical facts. But the two kinds of protocol propositions have an essentially similar status in scientific procedure. Both can be sufficient conditions for the acceptance or elimination of singular popositions. This is one reason why they are seldom properly distinguished. Another reason ist that particular sets of observation later are often automatically' interpreted as psycho-physical phenomena" (1944, S. 126). Wenn Kaufmann soziale Tatsachen als Korrelationen zwischen physischen und psycho-physischen Tatsachen auffaßt, was unterscheidet ihn dann vom Physikalismus, der verlangt, „daß alle Aussagen Bestimmungen in bezug auf räumlich-zeitliche Ordnung enthalten" (Neurath 1931b, zitiert nach 1981a, S. 419)? Für Kaufmann liegt „der Nerv der Argumentation des Physikalismus . . . in der Analyse des Sinns von Sätzen, die zu dem Ergebnis führt, daß der Sinn eines Satzes durch seine Wahrheitsbedingungen festgelegt ist, welche durch die einschlägigen Kontrollaussagen festgelegt werden. Demgemäß ist ein scheinbarer Satz sinnleer, wenn er prinzipiell nicht durch Beobachtungen nachprüfbar ist, und sind zwei Sätze dann und nur dann sinngleich, wenn sie unter denselben Bedingungen wahr bzw. falsch sind" (1936a, S. 136). Kaufmann setzt sich mit Hempel (1935)

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und Carnap (1935) auseinander. Beiden gegenüber besteht er darauf, daß durch die Übersetzung psychologischer in physikalische Aussagen die psychologischen Aussagen nicht aus dem wissenschaftlichen Aussagensystem eliminiert werden. Er richtet sich nicht gegen die Möglichkeit solcher Ubersetzung, sondern gegen die vorgebrachten Begründungen. Hempel vertritt laut Kaufmann (1936a, S. 137) die Ubersetzbarkeit psychologischer Sätze in physikalische Sätze, weil „die Kontrollsätze für jeden beliebigen Satz der Psychologie . . . sämtlich Aussagen mit raumzeitlichen Bestimmungen (sind) und auf Introspektion beruhende Sätze nur dann überprüfbar sind . . . und Wissenschaftscharakter besitzen, wenn sie eine behavioristische Deutung zulassen." Kaufmann bestreitet, daß alle Protokollsätze für psychologische Aussagen physikalische Sätze sind (so auch Duncker 1932/33 gegen Carnap). Eine „entscheidende Wendung" liegt laut Kaufmann (1936a, S. 140) bei Carnap (1935) vor, der „nicht mehr die Sinngleichheit psychologischer und physikalischer (nur raum-zeitliche Bestimmungen enthaltender Sätze) behauptet, sondern . . . bloß, daß physikalische und psychologische Sätze äquipollent (gehaltsgleich), d. h. gegenseitig auseinander ableitbar seien und daher diese durch jene ersetzt werden könnten . . . nicht nur unter alleiniger Verwendung der logisch mathematischen Regeln . . . sondern auch dann, wenn man daneben noch außerlogische Regeln v e r w e n d e t . . . die auf allgemein anerkannten Naturgesetzen beruhen . . . naturgesetzliche (physikalische) Aquipollenz." Kaufmann weist darauf hin, daß man zur Begründung der naturgesetzlichen Aquipollenz allgemeine empirische Aussagen über den Zusammenhang zwischen psychologischen und physikalischen Tatsachen benutzen muß. Aus diesen allgemeinen Aussagen, so Kaufmann, können psychologische Begriffe nicht entfernt werden. 1 0 Als Ergebnis seiner Kritik zieht Kaufmann die folgenden Schlüsse über die Beziehungen von direkter und indirekter Verifizierbarkeit und über das Operieren mit physikalischen und psychologischen Begriffen in der Sozialwissenschaft: „Sofern man sich im Besitze eines empirischen Verfahrens befindet, welches eine eindeutige Zuordnung zwischen psychischen Abläufen und raum-zeitlichen — durch äußere Beobachtung erfaßbaren — Geschehnissen anzunehmen gestattet, kann man zuerst diese Beobachtungen vollziehen und ordnen — also innerhalb einer aus10

Für Carnaps Argument scheint dies nicht wichtig, der Einwand träfe nur eine Behauptung logischer Gehaltsgleichheit physikalischer und psychologischer Sätze, die nicht vorliegt.

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gedehnten Phase des Verfahrens bloß mit raum-zeitlichen Tatsachen operieren — und erst zum Schluß das Ergebnis psychologisch deuten" (Kaufmann 1936a, S. 142). Kaufmanns Position schließt die Benutzung naturwissenschaftlicher Methoden in den Sozialwissenschaften keineswegs aus, sondern ihre Fruchtbarkeit wird eine empirische Frage. Diese Position Kaufmanns ist von radikalen interpretativen Ansätzen, die eine allgemeine Korrelation zwischen beobachtbaren äußeren und nicht beobachtbaren inneren Ereignissen nicht annehmen, ebenso weit entfernt wie von radikalen behavioristischen Positionen. 1 1 U m K a u f m a n n s Ansichten in den historischen Kontext zu stellen, ist ein kurzer Blick auf Hempels spätere Position (1972, S. 14) bezüglich der Reduktion oder Übersetzung psychologischer Termini in physikalische Termini nützlich: „Die Erklärung menschlichen Handelns durch psychologische Faktoren setzt also nicht nur genau ein charakteristisches Manifestationsgesetz f ü r jeden Faktor voraus, sondern ein kompliziertes N e t z w e r k gesetzesartiger V e r k n ü p f u n g e n von psychologischen Attributen miteinander und mit physikalischen Attributen . . . Die . . . psychologischen Attribute sollen nicht als streng physikalistische oder behavioristische Dispositionen verstanden werden."

Verstehen als Methode der Soziologie: gemäßigte

Einheitswissenschaft

Die Darstellung der Ansichten Kaufmanns gegenüber dem Behaviorismus/Physikalismus sollte die Elemente hergestellt haben, die f ü r eine Einordnung der verstehenden Methode der Sozialwissenschaften innerhalb seiner methodologischen Analyse notwendig sind. „Sozialwissenschaften" definiert K a u f m a n n als „alle diejenigen Wissenschaften, die sich die D e u t u n g fremdmenschlichen sozialen Verhaltens — bzw. der Symptome f ü r solches Verhalten — zum Ziele setzen" (1936a, S. 208). Solche D e u t u n g oder „Fremdverstehen" setzt — wie alle Formen der Sinndeutung — die grundlegende Annahme der Existenz anderer bewußtseinsbegabter Menschen voraus (vgl. Schütz und Luckmann, 1974). Die spezifische Evidenz des Verstehens kann nicht als Wahrheitskrite1

Damit gerät er in eine schwierige Lage: während Schütz ihm einen „kausalen Verstehensbegriff" vorwirft (unveröffentlichter Schütz-Nachlaß, Sozialwissenschaftliches Archiv Konstanz, siehe Helling 1985), werfen Carnap und Hempel ihm in Briefen (1934) vor, daß er den Physikalismus falsch verstehe (Kaufmann Nachlaß II 63-168 — Bemerkungen zur Methodenlehre).

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rium für wissenschaftliche Sätze über soziale Tatsachen dienen. Für die Frage, wie Aussagen über soziales Handeln überprüft werden können, stützt sich Kaufmann auf die phänomenologischen Analysen von Schütz (1932) über die Struktur der Wahrnehmung der sozialen Welt: „Die Art der Verifizierung und damit der Sinn jener Urteile (über den Sinn fremden Handelns) ist von der relativen zeitlich-örtlichen Lage von Urteilendem und Handelndem abhängig" 12 (Kaufmann 1936a, S. 157). Die Wahrheitsbedingungen von Aussagen über den Sinn von Handlungen variieren mit der Direktheit bzw. Indirektheit der Symptome, die für die Etablierung der Gültigkeit der Urteile benutzt werden. Der Begriff „objektiver Sinn" hat keine verfahrensmäßige Bedeutung ohne die Angabe eines Deutungsschemas. Für Kaufmann besteht diese Variation des Sinns von Urteilen relativ zu Deutungsschemata prinzipiell auch in den Naturwissenschaften, wird jedoch durch die Praxis, daß eine etablierte Hierarchie von Arten, Daten in Erfahrungszusammenhänge einzuordnen besteht, verdeckt: „Ein Großteil der geisteswissenschaftlichen Urteile (gilt) ebenso wie ein Großteil der naturwissenschaftlichen Aussagen nur relativ auf ein anzugebendes Bezugssystem, und das Problem der Auffindung universeller Invarianten, d. h. solcher Sätze, deren Wahrheit oder Falschheit durch den Ubergang von einem Bezugssystem zu einem anderen Bezugssystem nicht berührt wird, ist hier ebenso akut geworden wie dort" (1936a, S. 161). Kaufmann argumentiert für eine modifizierte einheitswissenschaftliche Position, indem er die Ähnlichkeit von Verstehen und Erklären behauptet. Ebenso wie es nicht eine und nur eine Erklärung einer Tatsache gibt, gibt es nicht nur ein Verstehen einer sozialen Tatsache. In beiden Fällen müssen die folgenden Fragen gestellt werden: Welche Daten (physikalische Daten, psycho-physikalische Daten) werden als Grundlage der Erklärung bzw. des Verstehens benutzt? Welche allgemeinen Erfahrungsgesetze werden als Grundlage der Erklärung bzw. des Verstehens benutzt? Unter welchen Bedingungen soll die Erklärung bzw. das Verstehen eines Erfahrungsgegenstandes akzeptiert werden? Erklärung und Verstehen werden beide als die Einstellung von Tatsachen in 12

Hier haben wir einen der nicht wenigen Fälle, in denen Kaufmann, der in der logischen Analyse die Gleichsetzung von Sinn und Verifikation ablehnt, diese in der Beschreibung von Verfahren der empirischen Uberprüfung von Aussagen gleichsetzt: diese Stellen bestätigen, daß Kaufmanns Opposition zum Wiener Kreis sich weniger auf Verfahrensfragen der empirischen Wissenschaft richtet, sondern auf deren Begründung und Gefahren der Ontologisierung.

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allgemeine Erfahrungszusammenhänge definiert, und in beiden Fällen sind Gesetze und Anfangsbedingungen notwendig. Die Verknüpfung zwischen der Behauptung der Nichtreduzierbarkeit sozialer Fakten und eines einheitswissenschaftlichen Verfahrens wird in Kaufmanns europäischer Periode durch eine „konventionalistische" Gesetzesauffassung gebildet: „Jedes Erfahrungsgesetz läßt sich also auf die Form bringen: Wenn Tatsachen der Arten e, f, g . . . in einem angegebenen Bereich auftreten, so treten Tatsachen der Arten m, η, ρ . . . in einer bestimmten Umgebung der erstgenannten Tatsachen auf" (1936a, S. 58). Die zeitliche Folge von Ursache und Wirkung ist kein notwendiges Element von Erfahrungsgesetzen. Die mathematische Genauigkeit von Gesetzen ist keine Eigenschaft der Realität, sondern eine Angelegenheit der Sprache, in der die Gesetze ausgedrückt werden. Absolute Validität von Erfahrungsgesetzen kann (wie bei Neurath) nur durch Konvention hergestellt werden. Da „Gesetze nichts als rationale Konstruktionen sind", gibt es keinen Grund, warum solche Konstruktionen nicht auch von sozialen Tatsachen gemacht werden können: „Wie ganz allgemein Gesetze nichts anderes sind als generelle Annahmen — also rationale Konstruktionen — die aufgrund vorerworbener Erfahrung aufgestellt wurden und sich nun weiterhin an den Tatsachen zu bewähren haben, so sind die idealtypischen Deutungsschemata rationale Konstruktionen eines sinnhaft verständlichen Handelns, wobei die Beziehung auf vorerworbene Erfahrung darin liegt, daß sie im Einklang mit den durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten erfolgt und die Bewährung darin, daß sie in der Realität wenigstens in irgendeiner Annäherung beobachtet werden können . . . Die Gesetzlichkeit, auf die es für die soziologischen Regeln ankommt, ist Verstehensgesetzlichkeit" (Kaufmann 1936a, S. 228). Konsequent definiert Kaufmann „Gesellschaft als ein Anwendungsbereich bestimmter Deutungsschemata (Verstehensgesetze) für soziale Beziehungen" (1936a, S. 208). Der Begriff der sozialen Beziehung zwischen Personen wird von Max Weber bestimmt als die Chance, daß soziales Handeln einer bestimmten Art auftreten wird. In seiner Umformulierung von Weber verbindet Kaufmann das phänomenologische Interesse an Interpretation (physische Bewegungen werden durch Deutungen zu Handlungen, Einstellung innerhalb eines einstimmigen Erfahrungszusammenhanges) und die empiristische Frage nach Wahrheitsbedingungen und Prognose: „Daß eine solche Chance vorliegt, bedeutet jedoch nichts anderes, als daß sich unter der Annahme des Bestehens ei-

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ner solchen wechselseitigen Orientierung die in Frage kommenden Handlungen zutreffend deuten lassen, wobei das wichtigste Kriterium einer zutreffenden Deutung in der Bewährung der darauf basierenden Prognosen zukünftiger Handlungsabläufe liegt" (Kaufmann 1936a, S. 207). Kaufmanns Definition des Begriffes Gesellschaft als eines Anwendungsfeldes für bestimmte Gesetze muß im Zusammenhang mit seiner allgemeineren philosophischen Position gesehen werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem Problem der Universalien und der Bedeutung objektiver Urteile, wie sie von Husserl entwickelt wurde. Er stellt seine Position in der auch heute noch weitergehenden HolismusIndividualismus-Debatte als eine Anwendung seiner Position im Universalienstreit dar: „Die sorgfältige Analyse der sozialwissenschaftlichen Begriffe macht es nämlich offenbar, daß zwar die Annahme sozialer Realitäten oder idealer sozialer Wesenheiten, welche in dem Sinne selbständig wären, daß ihnen spezifische, die physische und psycho-physische Erfahrung transzendierende Erkenntnisquellen entsprächen, durchaus abwegig ist; daß ihnen aber diejenige Selbständigkeit zukommt, die ein Abstraktionsprodukt gegenüber der exemplarischen Erfahrung, die den Ansatzpunkt für Abstraktion bildet, besitzt" (Kaufmann 1936a, S. 205). Beispiele für Deutungsschemata sind die Regeln des Kartenspiels und die Regeln von Verhalten in Organisationen. Die Regeln eines Kartenspiels können als Deutungsschemata benutzt werden, mit dem das Verhalten der Spieler verstanden und prognostiziert werden kann. Diese Regeln sind invariant bezüglich individueller Spieler, Zeit, O r t und anderer Attribute des Spiels in demselben Sinne, wie der Sinn eines Urteils im objektiven Sinn invariant ist bezüglich der okkasionellen Aspekte und Elemente des Urteilens. Die Regeln sind nicht ideale Gegenstände, die sich selbst in Fällen von Kartenspielen realisieren, sondern Abstraktionsprodukte des intendierten Sinns, in denen die okkasionellen Daten der Intentionen (wer, wann, wo) offengelassen werden. Bezüglich Webers (1973) Darstellung des Wesens und der Funktion von Idealtypen für die Sozialwissenschaften behauptet Kaufmann, daß Weber die Unterschiede überbetonte. Indem er das ideale Gesetz des freien Falls im leeren Raum als ein Beispiel benutzt, weist er darauf hin, daß man ebenso wie beim Umgehen mit idealisierten Gesetzen in der Naturwissenschaft beim Arbeiten mit solchen Gesetzen in der Sozialwissenschaft entscheiden muß, „ob man sie isoliert auf die Wirklichkeit anwenden, d. h. zu Prognosen benutzen, oder aber als ergänzungsbedürftige Partialgesetze aufgefaßt wissen will" (Kaufmann 1936 a, S. 229). Das-

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selbe Argument wird von Hempel (siehe auch Hempel und Oppenheim 1936) noch 1963 in seiner Analyse der Idealtypen zentral angewandt.

Schlußbemerkung Warum argumentiert Kaufmann noch 1936 gegen Positionen, die innerhalb des Wiener Kreises von maßgebenden Männern aufgegeben worden sind (starkes Verifikationsprinzip, Ursprünglichkeit der Protokollsätze) oder im Begriff sind, modifiziert zu werden (radikaler Physikalismus)? Zunächst ist auf den Zweck von Kaufmanns Buch hinzuweisen: die Klärung von Positionen im sozialwissenschaftlichen Methodenstreit, nicht die Verbreitung eigener Theorien, soll eine Theorie der sozialwissenschaftlichen Induktion vorbereiten. Zu diesem Zweck werden allgemeine und spezifische Fragestellungen jeweils auf philosophische Grundpositionen und deren Entwicklung (gleichsam von Plato bis Neurath) bezogen. Darüber hinaus ist zum Zeitpunkt des Erscheinens der Methodenlehre die Diskussion nicht abgeschlossen, der von Neurath aus wissenschafts-politischen Gründen beschworene Eindruck der Einheitlichkeit des Wiener Kreises liegt nicht im Interesse Kaufmanns, der Mythos des „received view" ist noch nicht geboren. Trotz der verschiedenen Variationen (z. B. Schlick, Neurath) und Modifikationen der Positionen des Wiener Kreises bezichtigt Kaufmann seine Vertreter eines „sensualistischen" Vorurteils 13 . Von dieser Kritik ausgehend, will er dessen Diskussionen nach zwei Seiten hin öffnen: Er fragt wie das „Gegebene" in der Erfahrung gegeben ist (Öffnung zur Phänomenologie). Er läßt sich auf keine „Liste der verbotenen Wörter" (Neurath 1931a, 1931b; 1932/33) ein, sondern untersucht, wie Aussagen, die solche Begriffe wie Motive, Geist, objektiver Sinn etc. enthalten, innerhalb der Verfahren empirischer Sozialwissenschaft überprüft werden können. Somit verwendet er die Methoden des Wiener Kreises, logische Analyse und das Aufstellen von Prüfungsverfahren für Aussa-

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Kaufmann teilt somit die Auffassung, die Haller (1981, S. XIII) späteren Adepten zuschreibt, „der Logische Positivismus wäre . . . an eine primitive empiristische Erkenntnistheorie gebunden gewesen, deren Reduktionismus nur unmittelbare Erfahrungsdaten als Basis allen Wissens zuließe".

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gen, für solche Probleme, die vom Wiener Kreis unter Metaphysikverdacht gestellt werden.

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Ingeborg Helling

— (1932/33), Protokollsätze, Erkenntnis 3, 204 ff. — (1934), Radikaler Physikalismus und wirkliche Welt, Erkenntnis 4, 346 ff. — (1973), Empiricism and Sociology, Dordrecht/Boston (M. Neurath, R. S. Cohen, Hg.). — (1981a, b) Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, 2 Bd., Wien (R. Haller und H . Rütte, Hg.). Schütz, A. (1932), Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien. — und Luckmann, Th. (1974), T h e Structures of the Life World, London. Schlick, M. (1934), Über das Fundament der Erkenntnis, Erkenntnis 4, S. 79 ff. Waismann, F. (1930/31), Logische Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, Erkenntnis 1, 229 ff. — (1949), Verifiability, Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. Vol 19, zitiert nach Waismann, F. (1968) Verifizierbarkeit, in R. Bubner (Hg.) Sprache und Analysis, Göttingen, 154 ff. Weber, M. (1973), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen (J. Winkelmann, Hg.).

WOLFGANG KROHN

Edgar Zilsel zur Methodologie einer exakten Geisteswissenschaft 1. Edgar Zilsel und der Wiener Kreis Mit ironisierender Ubertreibung könnte man den Wiener Kreis eine empiristische Schule ohne Empirie nennen. Das Interesse der Mitglieder war überwiegend auf die Methodologie der Wissenschaft und auf die Rekonstruktion von Einzelwissenschaften gerichtet, nicht auf die Erforschung neuer Objektbereiche. Edgar Zilsel war hier eine Ausnahme. In einer Auseinandersetzung mit Max Adlers „Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung" (1930) wirft er Adler vor, in dem gesamten Werk nur „drei konkrete Beispiele aus der wirklichen Geschichte" anzuführen 1 und stellt dann fest: „Es würde meiner wissenschaftlichen Uberzeugung widersprechen, methodologische und formale Untersuchungen wiederzugeben, . . . bevor entschieden ist, wieweit sie sich als fruchtbar für die empirische Forschung bewähren" 2 . In einer Rezension von Otto Neuraths Buch „Empirische Soziologie", (1931), stellt Zilsel trotz einer im T o n insgesamt freundschaftlichen und sachlich zustimmenden Darstellung fest, „daß das Buch an dem lebendigen Inhalt der Soziologie gar nicht innerlich interessiert ist — jedenfalls viel weniger als an der Propagierung der logischen Grundgedanken der Wiener Philosophenschule. So tritt in dieser „empirischen Soziologie" die fruchtbare Empirie zurück hinter der Logik." 3 Zilsel war kein Gegner methodologischer Erörterungen. Aber ganz im Gegenteil zu den meisten Mitgliedern des Wiener Kreises war für ihn das entscheidende Kriterium einer Methode deren Fruchtbarkeit oder Sterilität für die mit ihr ausgeübte Forschungspraxis. Es sei nebenbei bemerkt, daß auch Wittgenstein nicht viel anders auf die programmatischen Tendenzen des Kreises reagierte: „Was die ' 2 3

E. Zilsel, Partei, Marxismus, Materialismus, Neukantianismus. In: Der Kampf, Bd. 24, 1931, S. 213—220, S. 217. Ibid, S. 214. Rezension von E. Zilsel über O . N e u r a t h : Empirische Soziologie. In: Der Kampf, Bd. 25, 1932, S. 91 — 94, S. 93.

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Wiener Schule leistet, muß sie zeigen nicht sagen . . . Das Werk muß den Meister loben" 4 . Eine solche Einstellung bewahrt Zilsel auch gegenüber seinen eigenen methodologischen Arbeiten, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde. Sie ist vielleicht ein Grund dafür, daß Zilsel eine Randfigur des Wiener Kreises blieb. Eine weitere Uberzeugung Zilsels mag ebenfalls zu dieser Distanz beigetragen haben. In der zitierten Rezension von Otto Neuraths „Empirischer Soziologie" spricht er abschätzig von der „Wiener Philosophenschule". Diese Abschätzigkeit rührt her von einem grundlegenden Mißtrauen Zilsels gegen alle philosophischen Schulen. Es zeigt „eine 350-jährige Erfahrung, daß alle fruchtbaren philosophischen Richtungen wirklich merkwürdigerweise immer außerhalb der Schulen entstanden und, in Schulbetrieb verwickelt, immer erstickt sind" 5 . Nicht nur haben die philosophischen Schulen, sondern die Schulphilosophie insgesamt hat mit wenigen Ausnahmen nichts zur Entwicklung der Wissenschaften beigetragen. „Während Baco, Descartes, Hobbes, Spinoza, Locke, Leibniz, H u m e und alle die kleineren Geister außerhalb aller Universitäten, Schulen und Schülerorganisationen aber in engster Verflechtung mit der zeitgenössischen Wissenschaft die Philosophie der Neuzeit hart kämpfend geschaffen haben, herrschten an den Universitäten, abgekapselt gegen die neue Welt des aufsteigenden Bürgertums, die Schüler des Thomas von Aquin, die neuplatonisch-theologisierende Schule von Cambridge. Mit diesen Philosophenschulen möge man die Neukantianer und Phänomenologen der Gegenwart vergleichen und mit den späteren Kartesianern der Klosterschule von Port-Royal, mit den Wolffianern der deutschen Universitäten, nicht aber mit philosophierenden Staatsmännern, Brillenschleifern und Mathematikern . . . Unter den nicht wenigen Philosophen der Neuzeit, die die Geistesentwicklung wissenschaftlich beeinflußt haben, sind in Wirklichkeit nur zwei berufsmäßige Professoren . . . Kant und Hegel" 6 . Die Kritik an der Schulphilosophie hätten wohl viele Mitglieder des Kreises geteilt, — aber die Anwendung auf die „Wiener Schule" doch für abwegig gehalten. Es kann noch einen dritten Grund für die relative Distanz Zilsels zum Wiener Kreis geben : Er war kein Angehöriger der Universität, sondern lehrte an Wiener Volkshochschulen. Darüber hinaus war sein H a 4

5 6

zitiert nach McGuiness, Introduction. In: F. Waismann, Wittgenstein und der Kreis, herausgegeben von B. F. McGuiness, Frankfurt, Suhrkamp 1967, S. 18. Op. cit. (Anm. 1), S. 219. Ibid. S. 219.

Wiener

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bilitationsgesuch an der Wiener Universität gescheitert, weil seine Auffassung von Philosophie als eng mit der empirischen, einzelwissenschaftlichen Forschung verknüpft, auf die Gegnerschaft konservativer Philosophen und Pädagogen getroffen war 7 . Obwohl G o m p e r z und Schlick für ihn eintraten und Cassirer ein sehr positives auswärtiges Gutachten schrieb, mußte Zilsel sich entschließen, seinen Antrag zurückzuziehen, um einer drohenden ungünstigen Abstimmung zuvorzukommen. Sehr wahrscheinlich hat dieser V o r g a n g Zilsels Kritik an der Schulphilosophie verstärkt. Das folgende Zitat faßt seine Einstellung zusammen: „Am schönsten gedeihen Schulen vielmehr dort, wo die stets sehr widerspenstige Erfahrung am weitesten entfernt ist: in der Theologie und in der Philosophie. Wir sind viel zu sehr daran gewöhnt, daß gerade die Philosophen seit Jahrtausenden ,Schulen' bilden, um zu bemerken, wie interessant und folgenschwer diese Tatsache, die gerade heute wieder stark hervortritt, eigentlich ist. Gewiß haben Gründer und Mitglieder von Philosophenschulen häufig nur die Absicht, in freier Zusammenarbeit ihre gemeinsamen Probleme zu lösen; und doch wird, wie eine zweitausendjährige Erfahrung zeigt, der Gesichtskreis der Schulmitglieder durch die beständige Berührung allzu gleichartiger Denker schnell sich einengen, werden Schuldogmatismus, Schulkameraderie und Schulzank die fruchtbare Forschung bald erschlagen. Soziologische Entwicklungen verlaufen eben recht unabhängig von den Absichten der beteiligten Individuen." 8 D a es aus dem Kontext nicht eindeutig hervorgeht, ob diese Bemerkungen auch die „Wiener Philosophenschule" treffen sollen, muß diese Einschätzung dem Leser überlassen bleiben. Auch die historisch dokumentarische Zuordnung Zilsels zum Wiener Kreis bereitet einige Schwierigkeiten. Sicherlich gehörte Zilsel früh zu dem Diskussionszirkel um Moritz Schlick. Auch scheint er im V o r stand des Vereins Ernst Mach gewesen zu sein. 9 Aber die Äußerungen der Kreismitglieder über Zilsels Zugehörigkeit bleiben widersprüchlich. Auch die neueste und bisher vollständigste Übersicht hierzu von J . Dvorak verändert diesen Eindruck nicht. 10 Während Victor K r a f t ihn zu den führenden Teilnehmern rechnet, bezeichnet Feigl ihn neben Popper als einen der wertvollsten und hilfreichsten Kritiker, der sich niemals dem 7 8

9 10

Cf. J. Dvorak, Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis. Wien, Locker, 1981, S. 20 ff. E. Zilsel, Soziologische Bemerkungen zur Philosophie der Gegenwart. In: Der Kampf, Bd. 23, 1930, S. 417 f. Cf. die Darstellung in Erkenntnis, Bd. 1, 1930/31, S. 74. Cf. J. Dvorak, op. cit (Anm. 7), S. 30.

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Kreis anschloß. Ayer bezeugt Zilsels Teilnahme an den Diskussionen über die Protokollsätze; Neurath bezeichnet ihn als dem Wiener Kreis nahestehend. Es ist nicht ausgeschlossen, daß durch historische Forschung diese Details aufgeklärt werden können. Unter philosophischer Perspektive ist es jedoch vielleicht aufschlußreicher, Zilsels sachliche Einstellung zu dem Programm des Wiener Kreises zu erörtern. Ohne Frage teilte Zilsel die Grundgedanken des logischen Empirismus. Aber er hegte Zweifel, ob das Programm der Einheitswissenschaft auf der Basis der Protokollsatztheorie und allgemeiner, überhaupt auf der Basis einer wissenschaftstheoretischen oder methodologischen Programmatik vorangetrieben werden könnte. Der Kern seines Einwandes war, daß eine raumzeitliche Universalsprache nach carnapschem Muster nicht zwangsläufig zu einer Einheitswissenschaft führen müsse, sondern viele miteinander unverträgliche „Einheitswissenschaften" zulasse, die alle an verschieden gewählten Protokollsätzen verifizierbar wären. Zilsel entwickelt diesen Einwand in einem Aufsatz „Bemerkungen zur Wissenschaftslogik". " Wenn dieser Einwand richtig ist, dann wird das Programm der Einheitswissenschaft zu einer formalen Angelegenheit, die den „Logiker" interessieren kann. Der „Philosoph", dem es auf die „fruchtbare empirische Forschung ankommt", wird einen anderen Weg beschreiten: Er wird nicht ohne weiteres auf die räumlich-zeitliche Universalsprache setzen, sondern „die wohl weit inhaltsschwerere Frage" aufwerfen, „ob sämtliche Gebiete der heutigen Spezialwissenschaften durch einheitliche Gesetze verknüpfbar sind. Dies ist ein empirisches, d. h. von den üblichen Protokolls ätzen abhängiges Problem. Zunächst wären auf kulturwissenschaftlichem Gebiet überhaupt Gesetze aufzufinden . . . Die Entdeckung kultureller Gesetze wird eine weit interessantere Vereinheitlichung der Wissenschaften herbeiführen, als die räumlich-zeitliche Universalsprache." 12 Es ist nicht bekannt, ob hinter dieser Kritik sich ein weitreichender Konflikt verbirgt. Zunächst handelt es sich in der T a t nur um unterschiedliche Strategien, die den „Logiker" von dem an empirischem Material arbeitenden Forscher trennen. In dem Zitat ist zudem ein zweiter Punkt der Divergenz zwischen Zilsel und den meisten anderen Mitgliedern des Kreises angedeutet: Zilsel war vielleicht der einzige Teilnehmer, der es als eine notwendige und lösbare 11

12

E. Zilsel, Bemerkung S. 143 — 161. Ibid. 154.

zur

Wissenschaftslogik.

In:

Erkenntnis

Bd. 3,

1932/33,

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Aufgabe erachtete, die Sozialwissenschaften einschließlich der Geschichtswissenschaft mit den Naturwissenschaften zu verknüpfen, — also nicht Programme der Einheit zu formulieren, sondern diese Einheit zu erzeugen. Als Modell einer möglichen Gesamtphilosophie diente ihm dabei der Marxismus. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1929 „Philosophische Bemerkungen" heißt es dazu „Er stellt nämlich eine Verschmelzung naturwissenschaftlicher und historisch-soziologischer Gedankengänge dar, eine Verschmelzung, die sehr selten, für die philosophische Gesamttheorie aber unentbehrlich ist. Jenes wirkliche Leben zum Beispiel, das sich heute in der Philosophie zu regen beginnt, wurzelt doch nur in der Mathematik und Naturwissenschaft unserer Zeit, vor allem in der mathematischen Physik; es fehlt dieser Philosophie, so jung und kühn sie ist, sehr zu ihrem Schaden das Verständnis und das Interesse für Geschichte und Gesellschaft. An dem marxistischen Sozialismus aber kann man historisch denken und die gewaltigen Probleme der Gesellschaft sehen lernen, kann man lernen, daß die Geschichte unter allen gesetzmäßigen Naturvorgängen der verwickeltste und auch Naturwissenschaft gesellschaftlich bedingt ist". 13 Wie noch zu sehen sein wird, darf Zilsels Hinweis auf den Marxismus nicht in dogmatischem Sinne gelesen werden. Es ist ja gerade seine These, daß die Einheitswissenschaft nicht von oben nach unten, sondern nur von unten nach oben hergestellt werden kann. Und von unten nach oben heißt: Suche nach einfachen funktionellen Verknüpfungen, die schrittweise generalisiert und in logische Zusammenhänge gebracht werden können. Diese Kärnerarbeit hat im Wiener Kreis aber außer ihm keiner auf sich nehmen wollen. Soweit mir bekannt ist, hat auch keins der Mitglieder diese Aufgabe, die Zilsel dem Wiener Kreis wohl gern angedient hätte, ernsthaft geprüft oder gar übernommen. Insgesamt betrachtet erscheint es einleuchtend, daß diese unterschiedlichen Auffassungen über den Weg zur Einheitswissenschaft und die Bedeutung, die daraus den Kulturwissenschaften zufallen würde, eine so unterschiedliche Orientierung der Arbeitsrichtungen mit sich brachte, daß für Zilsel der geistige Umkreis des Wiener Kreises als für seine Pläne zu eng erscheinen mußte. Das empirische Feld, auf dem Zilsel die Grundsätze des logischen Empirismus hat fruchtbar machen wollen, ist die historische Forschung. Sein besonderes Interesse galt hier der Wissenschafts- und Ideenge13

E. Zilsel, Philosophische Bemerkungen. In: Der Kampf, S. 186.

Bd. 22, 1929, S. 178—186,

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schichte einschließlich der Entstehung und Funktion von Ideologien und der Möglichkeit ihrer soziologischen Erfassung und Erklärung. Für seine Zugangsweise zu diesem Forschungsfeld sind zwei Einflüsse grundlegend: einerseits Zilsels weit zurückreichendes Interesse an der mathematischen Statistik und ihren Möglichkeiten, in komplexen Objektbereichen Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren; andererseits Zilsels Ausgangspunkt beim marxistischen Geschichtsmodell. 1916 hat Zilsel ein Buch mit dem Titel „Das Anwendungsproblem" veröffentlicht. Das Buch ist eine Überarbeitung seiner Dissertation. Das Vorwort beginnt mit den Sätzen „Wir Menschen können uns Gedankengebäude errichten, wir können Theorien konstruieren, es ist uns gelungen zahlreiche Wissenschaften zu schaffen. Diese Gedankengebäude sind verhältnismäßig einfach, präzis, rational, die Natur hingegen ist verwickelt, vage, irrational." 14 Es ist hier nur von Natur, noch nicht von Geschichte die Rede. Und wie Zilsel ausführt, steht er noch weitgehend auf dem Boden des Neukantianismus. 15 Aber die hier angedeutete Problemstellung ist genau diejenige, die für die Form seiner historischen Untersuchungen bestimmend sein wird. Der marxistische Einfluß bestimmt dagegen zunehmend die inhaltlichen Ziele seiner Arbeit. Der erste große literarische Ertrag davon ist sein Buch über „Die Entstehung des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus" aus dem Jahre 1926. Frühe Fassungen dieser Arbeit haben übrigens dem genannten gescheiterten Habilitationsverfahren zugrunde gelegen. Die Arbeit über den Geniebegriff, zu der es eine frühe, noch kaum gesellschaftstheoretisch orientierte Fassung mit dem Titel „Die Geniereligion" aus dem Jahre 1918 gibt, ist noch stark ideologiekritisch orientiert. Erst in den dreißiger Jahren und besonders im amerikanischen Exil schält sich allmählich die Aufgabe heraus, in deren Bearbeitung Zilsels wissenschaftliches Werk kulminiert: Der Versuch einer wissenschaftlichen Erklärung der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft. An sich ist die Kopplung der beiden Interessenfelder Zilsels (mathematische Statistik und Marxismus) im Wiener Kreis nichts Ungewöhnliches. In den Motivlagen vieler Mitglieder vermischen sich erkenntnistheoretische, aufklärerische und sozialistische Impulse. Man kann wohl dennoch festhalten, daß Zilsel der einzige unter den Mitgliedern war (wenn er ein Mitglied war), der in ihrer Kopplung eine Forschungsstra14 15

E. Zilsel, Das Anwendungsproblem. Cf. ibid. S. VI.

Leipzig, Barth, 1916, S. V.

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tegie für empirische Arbeiten sah, die zudem ein Beitrag zur Philosophie als Gesamttheorie sein können. Diese Strategie soll in den nächsten Abschnitten entfaltet werden.

2. Die Suche nach soziologischen Gesetzen der

Intellektualgeschichte

Wenn man nach einer Gemeinsamkeit zwischen Zilsels mathematisch-naturwissenschaftlichem und seinem marxistischen Hintergrund sucht, stößt man auf den Begriff des Gesetzes. Der Marxismus geht von der Möglichkeit einer gesetzmäßigen Erfassung der gesellschaftlichen Entwicklung aus. Darüber hinaus stellt er Hypothesen über die Ableitung gesellschaftlicher Strukturen aus wenigen grundlegenden Strukturen auf. Diese Ziele einer gesetzmäßigen Erfassung und kausalen Erklärung der gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklung sind es, denen Zilsel mit den Mitteln der naturwissenschaftlichen Forschung näher kommen will. Da im Marxismus auch behauptet wird, daß die historischen Gesetze „im Rücken" der Individuen und sogar konträr zu deren intuitivem Verständnis ihrer eigenen Handlungen wirken, liegt es nahe, zu ihrer Erfassung auf das Instrument der statistischen Analyse zurückzugreifen. In einer emphatischen Erklärung gegen die kulturphilosophischen Strömungen seiner Zeit schreibt er in dem Aufsatz „Soziologische Bemerkungen zur Philosophie der Gegenwart" (1930): „Die Suche nach Gesetzen ist vielmehr jener Umstand, der seit vier Jahrhunderten die Kultur Europas von sämtlichen anderen Kulturen, die jemals aufgetreten sind, geistig am tiefsten unterscheidet. . . Das philosophisch-physikalische Heldenzeitalter hat von Galilei und Descartes bis Newton der Gesetzesforschung zuerst die leblose Natur erobert; Lamarck und Darwin haben das Gesetz in das Reich der Lebewesen vorangetragen; . . . zuletzt erst bei Comte, Hegel und Marx wurden auch die Menschengruppen gesetzlich aufgefaßt, beginnt die gesetzliche Erforschung der Gesellschaft und der Geschichte. Durch vier Jahrhunderte also ist das Gesetz auf dem Vormarsch. Das und nur das ist Neuzeit, ist Wissenschaft" '6. Und etwas früher in demselben Aufsatz appelliert er mit geradezu baconischer Sprachkraft an die Gelehrtenwelt: „Der organisierte Kapitalismus betreibt planmäßig Statistik der Gütererzeugung, Statistik des Handels, Statistik der Bevölkerungsbewegung; er bemüht sich heute, 16

Op. cit. (Anm. 8), S. 421.

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wirtschaftliche Konjunkturen ebenso zu erforschen und zu prognostizieren wie das Wetter. Würde man da nicht erwarten, daß unsere Wissenschaft auch das Geistesleben der Gesellschaften statistisch-gesetzlich zu erforschen sucht, daß unsere Philosophie mit Feuereifer daran arbeitet, die Geisteswissenschaften, die von angeblaßten mythologischen Resten und humanistischen Uberlieferungen noch ganz durchsetzt sind, endlich mit der Naturwissenschaft zu einer Gesamttheorie zu verschweißen? Wenn es heute ein Problem gibt, das ungelöst und wissenschaftsverbindend, das also wahrhaft philosophisch ist, so ist es doch wohl das Problem der historischen Gesetze." 17 Der Vormarsch der Gesetzesforschung hat für Zilsel nicht nur eine innerwissenschaftliche, sondern auch eine politische Bedeutung. Im historischen Rückblick zeigt sich, „daß Ursache und Gesetz der Sturmbock waren, mit dem das aufsteigende Bürgertum das übersinnliche Weltbild und die Uberlieferung der ländlich-naturwirtschaftlich-adeligen Gesellschaft zertrümmert hat. "1S Und in einer verallgemeinerten Fragestellung sagt er: „Sind nicht Ursachenforschung und gesetzliche Berechnung immer die gefährlichste Angriffswaffe gegen jede Art von Traditionalismus gewesen?" 19 Die sozialistische Bewegung, jedenfalls als wissenschaftlicher Sozialismus, gewinnt ihren Rückhalt eben nicht nur in der Begründung einer politischen Programmatik, sondern auch in der Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung. In einem anderen Zusammenhang — gelegentlich einer Analyse des Kerns religiöser Gefühle — scheut Zilsel nicht davor zurück, dem Gesetzesbegriff auch eine affektive Konotation zu geben. „Das Bedürfnis, ein Heiliges zu finden", könne ein Sozialist „neu bereichert, vor der gesetzlichen Geschichte fühlen" 2 0 . Allerdings wäre es verfehlt, in diesen emphatischen Äußerungen einen marxistischen Dogmatismus zu erblicken. Der Marxismus ist für Zilsel stets nur eine Philosophie als Gesamttheorie, die sich auf der einen Seite in den Fachwissenschaften bewähren muß, und die auf der anderen Seite aus den Ergebnissen erst begründet aufgebaut werden kann. Zilsel kämpft hier an zwei Fronten. Gegen Carnap und Neurath hält er an der Idee einer Philosophie fest, die nicht auflösbar ist in Einzelwissenschaften, sondern in die letztlich die Einzelwissenschaften einmünden müssen. Er glaubt nicht an den Erfolg einer „Arbeit an 17 18 19 20

Ibid. S. Ibid. S. Ibid. S. Op. cit.

411. 421 f. 422. (Anm. 13), S. 182.

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der Einheitswissenschaft", wie sie Neurath propagiert 21 , sondern ist von der Notwendigkeit einer Wissenschaftsphilosophie überzeugt, gerade weil Kultur- und Naturwissenschaften von so ungleichartiger Gestalt sind. Auf der anderen Seite kämpft er gegen den Parteidogmatismus, der politische Mitgliedschaft und Aktivität mit unbewiesenen Theoremen des Materialismus und der marxistischen Geschichtsauffassung zu verknüpfen sucht. Sehr deutlich formuliert Zilsel diesen Standpunkt in einem Aufsatz mit dem Titel „Partei, Marxismus, Materialismus, Neukantianismus" (1931): „Gerade weil ich Marxens Geschichtstheorie in ihrer radikalsten Fassung für richtig halte, wehre ich mich gegen ihren Mißbrauch. Sie ist ja noch gar nicht anständig bestätigt und überprüft. Man soll sie endlich an der geschichtlichen Empirie bewähren, statt sie zu bekämpfen, zu verbessern oder durch Erkenntnistheorie zu verballhornen. Und auch ihre Stempelung zu einem Parteidogma schädigt gleichermaßen Partei und Theorie. Jeder Wissenschaftler weiß um die gewaltigen Schwierigkeiten, die jeder weitgespannten Theorie notwendig anhaften. Da ich Wissenschaftler bin, würde ich einer Partei, die 400 000 Mitgliedern die Zustimmung zu einer unerhört heiklen, nur durch die sorgfältigsten Untersuchungen zu bestätigenden Theorie wirklich zumutet, überhaupt nicht angehören wollen, denn so eine leichtfertige Partei müßte auch politisch früher oder später Schiffbruch erleiden." 22 Zilsel hat seine Vorstellungen über die Möglichkeit der Erkenntnis historischer Gesetze insbesondere in den beiden Aufsätzen „Die Physik und das Problem der historisch-soziologischen Gesetze" sowie „Geschichte und Biologie" formuliert 23 . In diesen Aufsätzen entwickelt Zilsel seine Vorstellungen zum historisch-soziologischen Gesetzesbegriff und der Möglichkeit der Gesetzeserkenntnis in forschungspragmatischer Absicht. Sie können daher auch nur im Kontext ihrer Anwendung diskutiert werden. Denn ihre pragmatische Funktion verlangt zweierlei: die einfache und problemlose Anwendung in der empirischen Forschung sowie eine Erfolgskontrolle der Methodologie durch die erzeugten Resultate. Dies jedenfalls ist Zilsels Auffassung, und diese weicht erheblich 21

22 23

Vergi. O. Neurath; Empirische Soziologie. Wien, Springer, 1931, S. 18. Vergi, auch R. Hegselmann; Otto Neurath — Empiristische Aufklärer und Sozialreformer. In: O. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, H g . von R. Hegselmann, Frankfurt, Suhrkamp 1979, S. 7 — 7 8 , S. 41 ff. Op. cit. (Anm. 1), S. 214 f. Cf. E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. H g . von W. Krohn, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 2 0 0 — 2 1 1 und S. 2 1 2 — 2 1 9 .

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von den forschungspragmatisch wenig ergiebigen methodologischen Ansätzen zur physikalistischen Einheitswissenschaft ab. Die Möglichkeit einer Gesetzeserkenntnis in den Geisteswissenschaften wurde von der zeitgenössischen Philosophie überwiegend bestritten. Insbesondere der südwestdeutsche Neukantianismus (Rickert, Windelband) und die Lebensphilosophie Diltheys hatten versucht, die Eigenständigkeit der Kulturwissenschaften herauszuarbeiten. Sie argumentierten, daß der Beurteilung der Kulturwissenschaften nach Maßgabe der naturwissenschaftlichen Methodologie und dem dann zwangsläufig schlechten Urteil über den Zustand dieser Wissenschaften ein grundsätzliches Mißverständnis der Kulturwissenschaften zugrunde läge. In den Kulturwissenschaften ginge es grundsätzlich nicht um Objekte im physikalischen Sinn, also um raum-zeitlich beobachtbare Veränderungen, sondern um Werte und um Sinn. Und darüber hinaus wäre das Interesse in den Kulturwissenschaften nicht auf die abstrakte Verallgemeinerung, sondern auf die konkrete Einzelheit gerichtet. Damit sei das gesamte naturwissenschaftliche Instrumentarium unbrauchbar und müsse durch spezifische kulturwissenschaftliche Methoden ersetzt werden. Die beiden zu Schlagworten gewordenen Gegensatzpaare waren: ideographische versus nomothetische Wissenschaften, sowie Verstehen versus Erklären. Beide Schulen hatten Einfluß auf die sich herausbildende Soziologie (Max Weber, W. Sombart, G. Simmel, R. Stammler, Alfred Weber u. a.). Zilsel nimmt die Auseinandersetzung mit diesen Denkrichtungen auf, aber nur bis zu dem Punkt, an dem sich die Argumente für eine strikte Trennung der Kulturwissenschaften von den Naturwissenschaften als unhaltbar erweisen und also der Versuch, historische Gesetze suchen zu wollen, nicht als widersinnig qualifiziert werden kann. Sein Hauptargument wird sein, daß die Philosophen der Kultur- und Geisteswissenschaften von einem falschen Verständnis der Naturwissenschaften ausgehen. O b dennoch schließlich die Geschichte oder auch die Gesellschaften zu komplex u n d / o d e r zu heterogen seien, als das in ihnen Gesetze gefunden werden könnten, ist vollständig eine Frage der empirischen Forschung, die mit methodologischen Überlegungen nicht entschieden werden kann. Der erste der genannten Aufsätze beginnt mit der folgenden Bemerkung: „Die Frage nach der Existenz von Gesetzen in der Geschichte ist häufig diskutiert worden. Eine neuerliche Diskussion kann dennoch nützlich sein, weil einige Mißverständnisse bestehen, die von Verteidigern wie Gegnern historischer Gesetze durch fehlerhafte Vergleiche mit

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den Naturwissenschaften aufgebracht worden sind". Zilsel setzt sich die Aufgabe „das Problem durch Anwendung einiger dem Physiker und Astronomen gewohnten Vorstellungen auf die Bedingungen, die für die Geschichte charakteristisch sind, zu erklären versuchen." 24 Diesen Klärungsversuch gebe ich unter einige Stichworte zusammengefaßt wieder. Wahl der Größenordnung. Bei jeder Untersuchung eines Phänomens ist die Wahl der Größenordnung der Variablen entscheidend. Bei Gesetzen der Entwicklung, zu denen die der Geschichte überwiegend gehören, sieht man sofort, daß historische Gesetze eine Größenordnung unterhalb biologischer Entwicklungen (und also zwei unterhalb geologischer) anzusetzen sind und eine Größenordnung höher als die der individuellen Reaktionen. 25 Diese trivialen Feststellungen, die auch durch Verfeinerung der Skala nicht viel gewinnen, sind zugleich ein erstes Beispiel dafür, wie nützlich sie dennoch sein können. Denn welcher Historiker würde auch nur versuchen, die Größenordnungen seines Objektfeldes mit derselben Sorgfalt festzulegen, mit der ein Naturwissenschaftler dies zu tun versucht? Man sieht auch sofort, daß an diesem Vorgehen weitgehend die Chance einer Quantifizierung überhaupt hängt. Würde man alle auftretenden Variablen eines Effektes qualitativ gleichartig berücksichtigen, würde man ebenso schnell wie die Historiker zu überkomplexen Wechselwirkungszusammenhängen kommen, in denen etwa mechanische Kräfte, stoffliche Widerstände, die Entropie, der Einfluß des Meßinstrumentes auf den Ablauf des Experiments und vieles mehr beteiligt wären, wenn man je zu derartigen Unterscheidungen überhaupt gelangt wäre. Gesehen also gegen den Hintergrund der traditionellen historisch-philosophischen Arbeitsweise, bei der einerseits Ereignisse und Personen in den Vordergrund gestellt werden und andererseits diese auf dem Hintergrund von Geschichtsmächten, deren Änderung kaum noch als historischer Prozeß analysiert wird, projiziert werden, gewinnt die Forderung Zilsels, die Wirkungen der Variablen, mit denen umzugehen ist, nach Größenordnungen zu trennen, durchaus an Bedeutung. Der Typus historischer Gesetze. Historische Variablen wirken allesamt unterhalb biologischer Veränderungen und oberhalb individueller Veränderungen. Positiv ausgedrückt: Sie wirken in der Veränderung von Traditionen. Aus dieser groben Bestimmung ergibt sich bereits, daß 24 25

Ibid. S. 200. Ibid. S. 214.

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ihnen das Verhalten „großer Gruppen" zugrunde liegt. In der Analogie zur Naturwissenschaft geredet, handelt es sich bei historischen Gesetzen also um Makrogesetze, nicht um Mikrogesetze. Die Mikrogesetze, die das Verhalten einzelner Menschen betreffen, sind Gegenstand der Psychologie; historische Gesetze dagegen umfassen „Kulturen, Staaten, Nationen, Berufe, Klassen, usw." 26 . Die Vermutung, daß es zwischen Mikrogesetzen und Makrogesetzen, in unserem Fall also zwischen psychologischen und historisch-soziologischen Gesetzen eindeutige begriffliche Verbindungen geben muß, kann durchaus genauso trügerisch sein, wie in einigen Bereichen der Physik. Zwar neigt man intuitiv zu der Vorstellung, daß die Begriffe, mit denen große Gruppen beschrieben werden können, „letztlich" auf individuelles Verhalten zurückführbar sein müssen. Aber dies muß nicht der Fall sein. Die Variablen etwa, die das Verhalten von Gasen bestimmen (Druck, Temperatur) sind nicht zurückführbar auf diejenigen, die die Gasmoleküle beschreiben (Elastizität, Stoß). Ein reduktionistischer Nominalismus, sei er im Sinne Neuraths behavioristisch oder im Sinne der Lebensphilosophie durch Einfühlung oder Verstehen geprägt, kann jedenfalls nicht auf die Naturwissenschaft der Zeit begründet werden, sondern allenfalls auf eine überholte mechanistisch-atomistische Entwicklungsphase. 27 Der Vergleich historischer Gesetze mit den Gasgesetzen dient Zilsel des weiteren dazu, die zunehmenden Schwierigkeiten herauszustellen, die die historische Forschung gegenüber der naturwissenschaftlichen hat: — Es gibt keine abgeschlossenen historischen oder kulturellen Systeme. Die Kulturen sind gegeneinander durchlässig. Je weiter Kulturen in Zeit und Raum voneinander entfernt sind, desto unabhängiger sind sie zwar, desto schwieriger ist dann aber auch eine geregelte komparative Datenerhebung. — Die Größe der „großen Gruppen" ist in der Geschichte um Größenordnungen kleiner als bei Gasen (wenn man Moleküle mit Individuen gleichsetzt). Auch aus diesem Grunde muß jede historische Datenerhebung erheblich schlechter sein, als die physikalische. — Individuen verhalten sich in den betrachteten Gruppen nicht völlig ungeordnet (entgegen der Boltzmann-Hypothese der molekularen

26 27

Ibid. S. 203. Cf. ibid. S. 210.

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Zufallsbewegung). D. h. eine statistische Erfassung ihres Verhaltens muß mit dem Einfluß von Hierarchien, Rollen usw. rechnen. — Der Einfluß der Individuen auf historische Prozesse ist höchst unterschiedlich, bedingt durch ihre Positionen und Begabungen. Auch dies widerspricht der Annahme der Gastheorie. Die Reihe dieser Schwierigkeiten wird noch erweitert durch die Unmöglichkeit des Experimentierens und der Herstellung von Laborsituationen. Dennoch erlaubt sie nicht den Schluß, daß der Historiker vor prinzipiell andere Probleme gestellt sei als der Naturwissenschaftler. Allenfalls sind seine Probleme dem Grade nach diffiziler. Vergleicht man die Geschichtswissenschaft nicht mit der klassischen Mechanik, sondern etwa mit der Geophysik, d. i. „die Physik der Erdbeben und Meeresströmungen, der Vulkanforschung und Meteorologie" 2 8 , dann wird man zu dem Schluß kommen, „daß historische Phänomene kaum schwieriger vorherzusagen (sind) als das Wetter, und gewiß nicht schwieriger als Erdbeben und Vulkanausbrüche. Was würden Wissenschaftler von einem Geophysiker denken, der die Suche nach geophysikalischen Gesetzen wegen ihrer Ungenauigkeiten aufgibt?" 29 Die Struktur historischer Gesetze. Wenn man sich durch den Vergleich mit der Geologie veranlaßt auf den bescheidenen Standpunkt stellt, daß die Geschichtswissenschaft und die Gesellschaftswissenschaft Gesetzeswissenschaften in ihren ersten Anfängen sind, dann folgt für die Struktur der zu erwartenden Gesetze noch einiges weitere: — Man kann nicht erwarten, anfangs mehr als empirische Korrelationen zu entdecken, die sich mit einer ziemlich geringen Verläßlichkeit auffinden lassen. Das bedeutet, daß für viele Korrelationen keine „Erklärungen" angegeben werden können, die ihre Existenz plausibel machen. Solche isolierten Gesetze gibt es in vielen Bereichen der Naturwissenschaften ebenfalls. — Man kann nicht erwarten, daß die verschiedenen Gesetze sich leicht in ein logisch-deduktives System bringen lassen, also in eine Theorie fügen. Logisch-deduktive Systeme sind charakteristisch für einfache und gut entwickelte Objektbereiche. — Mit den beiden genannten Gesichtspunkten und mit dem zusätzlichen, daß man es in diesem Bereich überwiegend mit Makrogeset28 29

Ibid. S. 202. Ibid. S. 203.

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zen zu tun hat, hängt auch zusammen, daß es nicht leicht gelingen wird, in den empirischen Korrelationen klare Ursachen-Wirkungsverhältnisse zu rekonstruieren. (Auf diesen Punkt wird weiter unten zurückgekommen.) — Man kann nicht erwarten, daß die Gesetze quantitativ sind. Hierfür wird häufig genug die meßtechnische Basis fehlen. Aber es ist eine fehlerhafte Ansicht, daß Gesetze quantitativ sein müssen. Eine qualitative Formulierung des Hebelgesetzes etwa nach dem Muster „was an Kraft gespart wird, muß an Weg zugesetzt werden" würde für viele Prognosen und Konstruktionen Dienste leisten, auch wenn keine quantitative Erfassung des Zusammenhanges gelungen wäre. Durch das Vorbild der klassischen Mechanik wird der Umstand völlig zu Unrecht verdeckt, daß in den meisten Wissenschaften Gesetze zunächst nur in qualitativer Form aufgestellt werden können. Zilsel stellt diese Abgrenzungen und Unterscheidungen auf, nur um die Möglichkeit der Auffindung historischer Gesetze, nicht um deren Realität zu demonstrieren. Er beschließt seinen Aufsatz über „Die Physik und das Problem der historisch-soziologischen Gesetze" mit den Sätzen: „Letztlich werden historische Gesetze durch das philologisch genaue Sammeln und Vergleichen des Materials entdeckt und nicht durch allgemeine methodologische Diskussionen wie die unsere." 30 Zum Schluß dieses Abschnittes sei noch einmal der Vergleich mit der sogenannten verstehenden Soziologie und der ideographischen Methode gesucht. Zilsel versucht offenbar, zwei Dinge getrennt zu halten: Die Schwierigkeit, in komplexen Gebieten auf Gesetze zu stoßen, und die ontologische Eigenständigkeit von Objektbereichen. Die ontologische Eigenständigkeit des historisch-sozialen Objektbereiches (wenn es diese gibt) hat mit der Schwierigkeit, dessen Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, logisch nichts zu tun. Gegen Neuraths physikalistische Soziologie hält Zilsel in einer Rezension dieses Buches fest, daß die Eigenständigkeit des Objektbereiches, die durch das Auftreten von Sinnvorstellungen, Werten, Motiven usw. bestimmt ist, Verstehen und Einfühlung verlangen. Ein konsequenter Reduktionismus nach Neuraths Motto, demgemäß Wille, Ziele, Motive „Traumgebilde einer absterbenden Theologie" seien 31 , ist für Zilsel ebenso absurd, wie es in den physikalischen Wissenschaften ein Verzicht auf Begriffe wie Entropie, Druck 30 31

Ibid. S. 211. Zitiert nach Zilsels Rezension (cf. Anm. 3), S. 93.

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usw. wäre, an deren Stelle dann nur noch beobachtbare Zeigerausschläge usw. ständen. In der Rezension heißt es dann weiter „Ist denn wirklich so viel damit gewonnen, wenn festgestellt ist, in der Soziologie handle es sich lediglich um räumlich-zeitliche Vorgänge? Auf einen konkreten Fall, etwa auf die gegenwärtige Wirtschaftskrise angewandt, ergibt diese Feststellung doch nicht mehr als die Erkenntnis, beim Studium der Krise seien nur Vorgänge zu erforschen, die sich räumlich an der Erdoberfläche und zeitlich im 20. Jahrhundert abspielen." 32 Aber mit Neurath hält Zilsel daran fest, daß, was immer das Sinnverstehen und die Einfühlung zu Tage fördern mögen (Ideen, Motive, Werte, Normen), dieses an beobachtbaren Äußerungen auftreten muß, die als Kennzeichen psychischer und mentaler Zustände individueller und kollektiver Art dienen. Ist aber diese Forderung erfüllt, dann ist auch die Datenbasis gewährleistet, auf der der Versuch, Gesetze zu finden unternommen werden kann. Gegen die zur ausschließlichen Methode der Kulturwissenschaften hochstilisierten ideographischen und verstehenden Verfahren wendet Zilsel dann andererseits ein, daß sie keinesfalls ein Substitut der Suche nach Gesetzen sein können. Sie dienen zwar der zweckmäßigen Begriffsbildung; man kann beispielsweise den Begriff des literarischen H u manisten, der in Zilsels Renaissance-Studien eine bedeutende Rolle spielt, natürlich nur herausbilden durch „sinnhaftes Verstehen", ebenso wie man ihre Gegenstücke in China, Indien, Persien erst recht nur durch einen Nachvollzug fremder Sprachen und Kulturen finden kann. Aber ob der literarische Humanismus eine gesetzmäßige Erscheinung ist, die mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit angebbaren Variablen auftritt, kann man keineswegs durch introspektive Methoden erkennen oder gewährleisten. Denn diese Frage kann allein aus Erhebung entsprechender Daten entschieden werden, die normalerweise das Einfühlungsvermögen eines einzelnen Gelehrten ohnehin übersteigt. Und die Entscheidung kann durchaus der Intuition, d. h. der Reduktion auf uns Vertrautes, entzogen sein. Da es sich bei historischen Gesetzen um Makrogesetze handelt, muß man sogar mit der Möglichkeit rechnen, daß einzelne historische Gesetze überhaupt nicht einsichtig gemacht werden können, soweit Einsicht auf der Ebene mikrosozialen Geschehens definiert ist.

32

Ibid. S. 93.

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3. Historische Forschung — historische Gesetze Die historischen Analysen Zilsels beziehen sich auf verschiedene Gegenstände: Auf die Entstehung des modernen Persönlichkeitsideals und des Geniekults der Renaissance; auf die soziologische Analyse von Ideologien; sowie auf die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft. 33 Hinter diesen drei Themen steht ein gemeinsames Forschungsprogramm, auch wenn Zilsel dieses nirgends explizit formuliert hat. Zum einen handelt es sich bei ihnen jeweils um Varianten von intellektualgeschichtlichen Tatbeständen (in einer marxistischen Terminologie, die Zilsel nicht benutzt, um „Überbauphänomene"). Zum anderen stehen sie in einer historischen Kontinuität: Der Geniekult und das persönliche Ruhmesideal gehen historisch der Herausbildung des „wissenschaftlichen Geistes" vorher und bilden vermutlich mehr als eine kontingente Voraussetzung des letzteren. Ideologien dagegen sind Versuche, der Konsequenz des wissenschaftlichen Denkens auszuweichen. Daß Zilsel selbst diesen Zusammenhang seiner historischen Arbeiten sieht, geht meines Erachtens aus einer frühen und einer späten Äußerung hervor. Die frühe Äußerung findet sich in dem W e r k „Die Entstehung des Geniebegriffs" (1926). Hier stellt er den Ruhmesidealen der Renaissance die späteren Ideale der frühen Neuzeit gegenüber: „Die Naturbeherrschung nämlich wäre ein sachliches Kulturideal, das der gesellschaftlichen Entwicklung des 15. Jhdts. noch nicht ganz entspricht. Noch etwa fünf Menschenalter werden verstreichen, bis dieses und die verwandten Ideale der Förderung der Menschheit und des Kulturfortschrittes der Alleinherrschaft der Gloria empfindlichen Eintrag tun werden, bis in den Tagen Bacos und Descartes die fortschreitende Rationalisierung der Gesellschaft nach der Wirtschaft auch das Geistesleben erfassen und die geistig Tätigen zu einer planvollen Zusammenarbeit unter gemeinsamen sachlichen Idealen aufrufen wird." 34 Etwas später heißt es dann: „Erst in einem späteren Band wird dieser geistige Umschwung 33

34

Zur ersten Gruppe gehören die Bücher E. Zilsel: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal. Leipzig, Wien; Braunmüller, 1918. E. Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen, Mohr, 1926. Zur zweiten Gruppe gehören die Aufsätze op. cit. (Anm. 8); E. Zilsel, Die geistige Situation der Zeit. In: Der Kampf, Bd. 25, S. 168 —176; E. Zilsel, Die gesellschaftlichen Wurzeln der romantischen Ideologie. In: Der Kampf, Bd. 26, 1933, S. 154—164. Zur dritten Gruppe gehören die Aufsätze, die in dem Band op. cit. (Anm. 23) gesammelt sind. Op. cit. (Anm. 33, Die Entstehung des Geniebegriffs) S. 122 f.

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und sein Einfluß auf alle Neuheitsideale, wird die wirkliche Neuzeit ausführlich darzustellen s e i n , . . ," 35 Ein solcher zweiter Band ist nie erschienen. Aber im amerikanischen Exil, also etwa ab 1938, arbeitet Zilsel an einem Projekt, dem er den Titel gab „The Rise of the Scientific Spirit". Daß er diese Arbeit in Kontinuität zu seiner früheren sieht, geht aus einem Abschnitt des Projektes hervor, dem er den Titel gegeben hat „The Methods of Humanism". Da die Humanisten gerade diejenigen literarischen Intellektuellen waren, die das Glorienideal professionell trugen, kann man davon ausgehen, daß die späten Arbeiten des amerikanischen Exils die in dem frühen Buche angekündigte Fortsetzung darstellen. 36 Es ist hier natürlich nicht der Ort, Zilsels Ergebnisse materialiter vorzustellen oder gar zu beurteilen. Hier sollen nur einige Hinweise auf die Verwendung des Gesetzesbegriffs in diesen Forschungen gegeben werden. Es werden kapitelweise zuerst einschlägige Materialreihen aufgestellt (meist auf der Basis von Sammelbiographien), dann werden die Ergebnisse formuliert und „Erklärungsversuche" gegeben: schließlich wird am Ende des Buches ein „Endergebnis" formuliert: „Gesetze über den Geniebegriff". 37 Der Begriff der Erklärung bleibt dabei etwas unklar. In der Sache wird er von Zilsel meistens — auch in den späteren Aufsätzen — so verwendet, daß spezielle Strukturen als Funktionen allgemeinerer Strukturen interpretiert werden. In dieser funktionalistischen Interpretation ist der Erklärungsbegriff dann von dem Ursachenbegriff zu trennen. Zilsel benutzt dabei hauptsächlich drei Stufen der Allgemeinheit: Die unterste Stufe der Allgemeinheit bilden die Ähnlichkeiten zwischen Werken, Ideen, Lebenspraxen u. ä. der Intellektuellen. Diese individuellen Daten werden dann in einer Berufsgruppenanalyse funktional geordnet. Berufsgruppen legen die spezifischen Arbeitsbedingungen, Arbeitsziele, Wertmuster, soziale Abhängigkeiten und Gegnerschaften der Intellektuellen fest. Wenn die statistischen Daten dies hergeben, können daher die Tätigkeiten der Intellektuellen insoweit als Funktionen der Berufsbedingungen erklärt werden. Mit diesem Ansatz unterscheidet Zilsel dann intellektuelle Gruppen wie (hier ohne Systematik aufgezählt) : Humanistische Literaten, höhere Handwerker, Universitätsgelehrte, freie philoso35 36

37

Ibid. S. 126. Der Aufsatz „The Methods of Humanism" stammt aus dem Nachlaß. Er ist bisher nicht veröffentlicht und wird in Kürze in einem von mir herausgegebenen Sammelband in den U S A erscheinen. Op. cit. (Anm. 33) S. 101 ff.; 209 f.; 323 ff.

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phische Schriftsteller, Mitarbeiter in Forschungslabors u. a. m. In einem dritten Schritt sind diese Berufsgruppen wiederum als Funktionen sozioökonomischer Entwicklungen zu erklären. Als solche haben etwa zu gelten (wieder ohne Systematik aufgezählt) : Entstehung der spätmittelalterlichen Stadtkulturen, die absolutistische Staatsform, Entstehung des Industriekapitalismus, Entstehung des Industrieproletariats, u. a. m. Am Ende des Aufsatzes über „Die gesellschaftlichen Wurzeln der romantischen Ideologie" heißt es: „Einige allgemeine Bemerkungen sind noch beizufügen. Unsere Skizze hat wohl gezeigt, daß ideologische Abläufe erst zustande kommen durch das Zusammenwirken der großen Klassenkämpfe mit dem Wechselspiel der kleinen gesellschaftlichen Untergruppen. Insbesondere jene kleine Gruppen, die die Ideologien eigentlich verbreiten — Schriftsteller, Künstler, Philosophen usf. —, sind geistesgeschichtlich von Wichtigkeit; ihre jeweilige gesellschaftliche Situation sollte von der marxistischen Geistesgeschichte eingehender berücksichtigt werden." 3 8 Zilsel hütet sich allerdings davor, den Funktionsbegriff zu strapazieren. Die „Erklärung" von intellektuellen Phänomenen über die professionellen Funktionen hat ihre Grenzen schon überall dort, wo strukturelle Änderungen auftreten, also neue intellektuelle Berufsgruppen entstehen oder alte verschmelzen, etc. Eine Erklärung vermittels einer funktionalen Analyse ist eben auch keine kausale Erklärung, also keine der gesellschaftlichen Dynamik. Zilsel hat mehrfach darauf verwiesen, wie problematisch Kausalannahmen bei Makrogesetzen sind. Schon in den Naturwissenschaften enthalten solche Gesetze häufig weder einen Hinweis auf die zeitliche Reihung, noch einen Hinweis auf die Differenzierung von abhängigen und unabhängigen Variablen. Häufig ist eine solche Differenzierung auch Ergebnis einer willkürlichen (z. B. technischen) Wahl. Der Streit über die Kausalität in der Geschichtsauffassung (z. B. die „materialistische" Hypothese) wird für Zilsel daher bisher hauptsächlich gespeist aus 1) fehlenden verläßlichen Erkenntnissen (funktionelle Gesetze) und 2) wissenschaftstheoretisch unklaren Begriffsbildungen. Zilsel geht bei seinem eigenen Versuch „Gesetze über den Geniebegriff" zu formulieren vorsichtig zu Werke. Der so betitelte Schlußabschnitt des Werkes formuliert die Gesetze daher auch lediglich als thesenartige Zusammenfassungen der Ergebnisse, bei denen sämtliche 38

Op. cit. (Anm. 33, Die gesellschaftlichen Wurzeln . . .) S. 163.

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Orts- und Zeitangaben fortgelassen sind, also die gefundenen Zusammenhänge eine rein hypothetische Darstellung erfahren können. Immerhin sind diese „Gesetze" dadurch so formuliert, daß sie auf jede Kultur zutreffen sollen, und also durch komparative Forschung bestätigt, widerlegt oder modifiziert werden können. Noch prägnantere Formulierungen dieser Gesetze gibt Zilsel in dem Aufsatz „Die Physik und das Problem der historisch-soziologischen Gesetze" 39 . Er selbst würde davor warnen, den Ergebnischarakter dieser Gesetze zu überschätzen. Er sieht in ihnen nur vorläufige, weitgehend auf Vermutungen gestützte, empirisch unzulänglich abgesicherte Gesetze, die als Gesetze auch nur gerade den wissenschaftstheoretischen Minimalanforderungen genügen. Aber sie sind für ihn zugleich von paradigmatischer Bedeutung für die Zielrichtung einer kooperativ betriebenen und komparativ vorgehenden historisch-soziologischen Wissenschaft. Er hat nicht über Methodologien, sondern über Beispiele konkreter historischer Arbeit Mitarbeiter werben wollen. Daher sollte man nicht vergessen, daß der eigentliche Ertrag seiner Arbeit in den — hier nicht dargestellten — historischen Analysen zu finden ist, nicht aber in den von diesem Kontext abgetrennten Reflexionen auf die Möglichkeiten und Strukturen historisch-soziologischer Gesetzeserkenntnisse.

39

Op. cit. (Anm. 23) S. 206 f.

RAINER HEGSELMANN

Die Korrespondenz zwischen Otto Neurath und Rudolf Carnap aus den Jahren 1934 bis 1945 — Ein vorläufiger Bericht Der hier behandelte Teil des Briefwechsels zwischen Neurath und Carnap setzt ein im März 1934, 2 also zu einer Zeit, wo Neurath wegen einer ihm in Osterreich nach den Februarkämpfen drohenden Verhaftung nicht mehr nach Osterreich zurückkehren konnte und Holland als Stätte für die Fortsetzung seiner bildstatistischen wie auch der im engeren Sinne philosophischen' Arbeit — ein Terminus, den Neurath niemals akzeptiert hätte, — gewählt hatte. 3 Wie schwer die Fortsetzung der Arbeit unter Exilbedingungen sein würde, muß Neurath geahnt haben. In einem Brief an Carnap, verfaßt während der Fahrt von einem Besuch bei der Warschauer Logiker-Gruppe nach Den Haag, — im übrigen eine Schiffsfahrt, denn Deutschland und Österreich mußten von ihm aus verständlichen Sicherheitsgründen großräumig umfahren werden — schreibt er: „Ich fahre still und friedlich dahin, döse und futtere, strecke mich paradiesisch an Deck und bereite mich darauf vor, am Hungertuch zu knabbern, was ich hoffentlich mit Grazie tun werde" (N an C, 5.4.34). Es kam denn auch ebenso schlimm wie befürchtet. Zur bekannten Prager Vorkonferenz, also jener Konferenz, die der Vorbereitung des ersten Internationalen Kongresses für Einheit der Wissenschaft dienen sollte, hätte Neurath mit eigenen Mitteln nicht mehr reisen können, und erst ein Kredit von Carnap und Frank machte die Teilnahme an der im wesentlichen von ihm organisierten Konferenz möglich (vgl. Ν an C, 6.8.34; C an N, 10.8.34; Ν an C, 13.8.34; N. an C. 20.8.34). Die finanzielle Situation besserte sich zunächst wenig. In den Briefen dieser ersten 1

2

3

Eine deutsch- und eine englischsprachige Edition dieser Korrespondenz wird zur Zeit vorbereitet von Marie N e u r a t h , H e n k Mulder und Rainer Hegselmann. Dies ist nicht die gesamte Korrespondenz. In die Briefe aus der Zeit vor 1934 konnte ich bisher allerdings noch nicht einsehen. Für biographische und politische Details vgl. die im Literaturverzeichnis angegebenen Arbeiten (7) und (12), S. 1 — 83.

Die Korrespondenz zwischen O t t o Neurath und Rudolf Carnap 1934—1945

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Jahre berichtet Neurath häufig von den „greulichen Geldschwierigkeiten im Büro" (N an C, 14.11.34); immer wieder fordert er Carnap auf, die Augen nach möglichen Financiers offenzuhalten. Eine Möglichkeit, Neurath aus seiner Misere zu helfen, sah Carnap, seit mehreren Jahren Professor in Prag, Ende 1935. Neurath sollte nämlich — so der Plan — zum Lehrstuhlvertreter Carnaps während dessen durch eine längere USA-Reise bedingten Abwesenheit werden (vgl. C an N , 26.11.35). Neurath selbst sah in einer solchen Lehrstuhlvertretung einen neuen Start zu einer akademischen Laufbahn (vgl. Ν an C, 2.12.35). Aber auch diese H o f f n u n g zerschlug sich. Im Prag des Jahres 1936, also zwei Jahre vor der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch das faschistische Deutschland, hatte der Antisemitismus die universitären Institutionen bereits soweit erobert, daß eine Lehrstuhlvertretung durch einen Nicht-Arier — und dies war Neurath — nicht mehr möglich war. „Die Welt ist schweinisch eingerichtet" schreibt Carnap an Neurath im Juni 1936, wo er ihm mitteilen muß, daß er sich keine H o f f n u n g e n mehr auf die Lehrstuhlvertretung machen kann (vgl. C an Ν, 11.6.36). Erst nach Abschluß eines günstigen Verlagsvertrages verbesserte sich die materielle Lage Neuraths. Mit der Verbesserung der materiellen ging nun allerdings eine dramatische Verschlechterung der politischen Lage einher, auf die Carnap und Neurath häufiger in ihren Briefen eingehen. „Der Niedergang Europas ist schauerlich" (C an N , 20.10.38), schreibt Carnap nach dem Münchener Abkommen aus dem Sommer 1938. Was die allgemeine Unsicherheit bezüglich eines Kriegsausbruchs und der möglichen militärischen Konstellationen betrifft, schreibt Neurath im Juli 1939: „Erst knapp bevor es losgeht weiß jedes Volk, wen es nun eigentlich auf eine gewisse Zeit zu hassen und zu töten habe" (N an C, 21.7.39). Nach dem Uberfall Hitlerdeutschlands auch auf die neutralen Niederlande im Mai 1940 war Neurath auf abenteuerlichem Wege nach England geflüchtet. Erneut wurde Neurath mit dem Problem der Existenzgründung und -Sicherung konfrontiert. Schon bald ausgefüllt mit Arbeiten für das britische Informationsministerium fühlte er sich „like a soldier — against Hitler and this plague", wie er an Carnap in einem Brief kurz vor Weihnachten 1942 schreibt (vgl. Ν an C, 22.12.42). 4 Immer wieder sind Carnap und Neurath bestürzt über die Schrecken des 4

Wie Marie Neurath mir berichtete, führten Carnap und Neurath nach Ausbruch des Krieges ihre Korrespondenz in englischer Sprache, um dem englischen bzw. amerikanischen Zensor die Arbeit zu erleichtern.

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Krieges; so schreibt Neurath: „ . . . what a world in which we are pleased by looking at the American Flying Fortresses in the sky, returning from Germany and France" (N an C, 22.12.42). — Von Kriegsbeginn an sind sowohl Neurath wie Carnap vom Sieg der Alliierten überzeugt. Längst nicht alle Mitglieder des Wiener Kreises und seiner S y m p a thisanten' hatten sich so früh außerhalb des politischen Einflußbereichs Hitlerdeutschlands begeben wie Carnap und Neurath. Mit der Festigung der faschistischen Gesellschaftsstrukturen im Innern, der Zerschlagung der Tschechoslowakei, dem sogenannten ,Anschluß Österreichs' im Jahre 1938 und dem Uberfall auf Polen 1939 verschlechterten sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen aller, die sich noch im Reich bzw. nun plötzlich in dessen militärischem Herrschaftsbereich befanden, dramatisch. Der Briefwechsel dokumentiert das Bemühen von Neurath und Carnap, allen nun so stark Gefährdeten zur Flucht zu verhelfen, und dies auf jede nur erdenkliche Weise. Wichtig waren in diesem Zusammenhang vor allem Einladungen renommierter Universitäten, Bemühen um Stipendien, Affidavits, Visa und Arbeitsstellen. Geholfen werden mußte u. a. Tarski, Greiling, Zilsel, Rose Rand und Hollitscher. Allerdings gelang nicht einmal immer die Beschaffung von Visa, so im Falle Greilings, der schließlich in einem Konzentrationslager ermordet wurde; und für die allermeisten derjenigen, denen die Flucht ins Ausland gelang, bedeutete dies den Beginn neuer Leiden. Schon im April 1938 schreibt Carnap an Neurath, daß es nun immer schwieriger werde, Akademiker in den USA unterzubringen (C an N, 21.4.38). Neurath berichtet von „intellektuellen Freundinnen", die in London nun als Dienstmädchen tätig seien (N an C, 12.5.39) und fährt dann fort: „Wie Josef Frank sagt: früher wurde man von Seeräubern entführt, um Sklave zu werden, jetzt wird mans freiwillig" (a.a.O.). Der kriegsbedingte Rückgang der Studentenzahlen an amerikanischen Universitäten einerseits, die Kürzungen universitärer Budgets andererseits machten die eh schon schwierige Stellensuche in den USA dann fast aussichtslos. Die politische Entwicklung nach 1933 war nicht nur für einzelne in häufig tragischer Weise folgenreich, sondern betraf natürlich auch Planung und Schicksal von wissenschaftlichen Großprojekten, wie es z. B. Kongresse, Zeitschriften und wissenschaftliche Reihen sind. In einem Brief aus dem November 1934 berichtet Neurath von Leuten „die bereits ihre Reisepläne an die Kriegsprognosen anpassen" (N an C, 14.11.34). Eben eine solche Kriegsprognose läßt ihn selbst als Termin eines 2. Internationalen Kongresses das Frühjahr 1936 vorschlagen, denn — so

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seine Prognose — : „Das Gas dürfte . . . eher sich den Sommer aussuchen" (N an C, 18.4.35). Im Juli 1937 hat die sukzessive Faschisierung des damaligen Deutschlands einen Punkt erreicht, wo behördlicherseits Informationen über „Erkenntnis" vorliegen. Felix Meiner, in dessen gleichnamigen Verlag „Erkenntnis" bis dahin erschienen war, schreibt in einem Brief an Carnap vom 14.7.37, daß ihm „das weitere Verbleiben von Professor Reichenbach in der Herausgeberschaft der ,Erkenntnis' als untragbar bezeichnet worden (ist), nicht nur weil er Nichtarier ist, sondern hauptsächlich, weil er in der Nachkriegszeit politische Äußerungen in Reden und Broschüren getan hat, die ihn für den heutigen Staat unmöglich machen" (F. Meiner an Carnap, 14.7.37). Meiner teilt dann weiter mit, daß man sich in der Reichsschrifttumskammer jedenfalls nach Auskunft eines Referenten allerdings darüber klar sei, daß bei internationalen Zeitschriften „ein gewisser Prozentsatz jüdischer Mitarbeiter" (a.a.O.) nicht zu vermeiden sei. Neurath und Carnap, die die „Erkenntnis" so lange wie möglich in Deutschland erscheinen lassen wollten, dachten in Anknüpfung an diesen, in gewisser Hinsicht pragmatisch gehandhabten Antisemitismus des zuständigen Schrifttumskammer-Referenten an eine Lösung, die insgesamt den Effekt gehabt hätte, daß Reichenbach Mitglied eines größeren Gremiums geworden wäre. Dazu kam es allerdings nicht mehr, denn der Meiner Verlag stellte die Arbeit an der „Erkenntnis" ein, und zwar aus Gründen, die zugleich ein Schlaglicht auf die Gelehrtenkreise, insbesondere die philosophischen, im Deutschland des Jahres 1937 werfen. Felix Meiner schreibt: „Zwar war das Ministerium, wenigstens nach den mündlichen Äußerungen des Referenten zu schließen, mit der gefundenen Lösung einverstanden, aber das hinderte ja nicht, daß trotzdem in Gelehrtenkreisen unter der Oberfläche gegen meinen Verlag agitiert wird mit dem Hinweis darauf, daß ich ja doch nicht imstande sein werde, zu verhindern, daß auch einmal ein Jude in dieser Zeitschrift veröffentlichen werde. Und es gibt eben Kreise, die dies für unmöglich befinden, in einem Verlag etwas zu veröffentlichen, der noch irgendwelche Beziehungen zu Juden h a t . . . . Das ist mir natürlich sehr betrüblich. Denn hätte ich damit rechnen können, daß die offiziellen wissenschaftlichen Kreise in ihren Forderungen noch über die Forderung des Ministeriums hinausgingen, dann hätte ich Ihnen und mir die schwierigen Verhandlungen ersparen können" (Felix Meiner an C, 14.9.37). — Wir wissen heute noch sehr wenig über die Wissenschaften unter dem Nationalsozialis-

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mus. Wie mir scheint, deuten die Bemerkungen Meiners über das Verhalten der philosophischen Gelehrtenkreise jedoch auf Abgründe hin, die dringend historischer Aufklärung bedürfen. Es wäre ein Mißverständnis, würde man annehmen, die umfangreiche Korrespondenz zwischen Neurath und Carnap handle ausschließlich von den politischen Ereignissen der damaligen Zeit, den Schwierigkeiten des Lebens und Uberlebens, den Schwierigkeiten wissenschaftlichen Arbeitens unter so extremen Bedingungen oder habe im wesentlichen der Organisation und Koordination im Zusammenhang von Fluchtmöglichkeiten für persönlich oder philosophisch Nahestehende gedient. Rein umfangsmäßig betrachtet nehmen nämlich zwei Dinge den größeren Teil der Korrespondenz ein: Zum einen sind dies Koordinations- und Organisationsprobleme im Zusammenhang der logisch-empiristischen Bewegung·, dies betrifft vor allem Vorbereitung und Durchführung der verschiedenen internationalen Kongresse in Paris, Kopenhagen, Cambridge/England und Cambridge/USA; es betrifft auch die Einrichtung von Periodika, nachdem ab 1938 „Erkenntnis" nicht mehr bei Meiner und die von Schlick und Frank herausgegebene Reihe „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung" nicht mehr bei Springer erscheinen konnten. Großen Raum nimmt darüber hinaus die Planung der Enzyklopädie ein, bezüglich derer Autoren, Themen, Terminologien, Reihenfolgen usw. geklärt werden mußten. „Die Technik des Enzyklopädieherausgebens während großer Kriege muß auch erst erlernt werden", schreibt Neurath in diesem Zusammenhang im April 1940 an Carnap und fügt dann, um ihm Mut zu machen, hinzu: „Diderot und d'Alembert hatten es schlechter als wir, das kann ich Dir versichern" (N an C, 10.4.40). Neben der Klärung solcher Koordinations- und Organisationsprobleme nimmt dann jedoch die Klärung sachlicher Probleme, die sich im Rahmen der Ausarbeitung der logisch-empiristischen Konzeption stellen, einen mindestens ebenso breiten Raum innerhalb der Korrespondenz ein. — Man kann in dem Briefwechsel sechs verschiedene Großkontroversen zwischen Neurath und Carnap unterscheiden: Eine erste, sehr früh einsetzende Kontroverse, die immer wieder aufgenommen wird, betrifft die Frage, ob Poppers „Logik der Forschung" als ein Beitrag zur Klärung von Sachfragen verstanden werden kann, wobei dieser Beitrag das Prädikat ,empiristisch' verdient — wie Carnap meinte, oder aber, ob diese Arbeit Poppers zufolge ihres positiven Verhältnisses zur traditionellen Philosophie, des Ausschlusses von bestimmten Hypothesentypen, des ,absolutistischen' Verständnisses der Falsifi-

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kation und der Konzeption eines experimentum crucis selber als antiempiristisch, ja sogar als Metaphysik zu gelten hat — wie Neurath meinte (vgl. ζ. Β. Ν an C, 9.2.35, 8.7.35; C an N, 10.7.35, 4.2.44). Eine zweite, ebenfalls früh einsetzende Kontroverse, die aber in Briefen nach 1935 nicht mehr von sehr großer Bedeutung ist, betrifft die Frage der Form der Protokollsätze bzw. die Verbindlichkeit gerade der von Neurath vorgeschlagenen Form und für die etwa ,„Karls Protokoll, Karl formuliert sehend: zwei Teilstriche fallen zusammen'" (N an C, 25.6.35) ein Beispiel ist. Eine dritte Kontroverse betrifft die Frage, ob Russells Arbeit „An Inquiry into Meaning and Truth" ih Rückfall in die Metaphysik zu bewerten ist, wie Neurath meinte, oder aber als Arbeit mit im Prinzip empiristischer Orientierung gelten kann, was Carnaps Auffassung war. Diese in den Jahren 1942 und 1943 geführte Kontroverse nimmt einen sehr breiten Raum ein, weil das Buch zwischen Neurath und Carnap fast Seite für Seite diskutiert wird (vgl. C an N, 27.1.42; Ν an C, 17.7.42; C an N, 15.3.43; Ν an C, 25.9.43). In einer vierten Kontroverse streiten Neurath und Carnap über die Frage der Erfolgschancen einer Formalisierharkeit der Wissenschaften: Während Neurath die Auffassung vertritt, daß die vorliegenden Ansätze eher als „logische Fassaden" (N an C 14.2.38) anzusehen seien, allenfalls „islands of systematization" existieren könnten (N an C, 25.9.43) und eine Enzyklopädie der Wissenschaften als das Systematisierungsmaximum anzusehen sei (vgl. Ν an C, 27.8.38), ist Carnap sehr viel optimistischer: Zwar sei eine Vollformalisierung empirischer Wissenschaften gegenwärtig noch verfrüht, dennoch sei das Projekt ,Vollformalisierung' erstens erstrebenswert und zweitens, wenn auch über Zwischenstufen, aussichtsreich anstrebbar (vgl. C an N, 15.3.38, 21.4.38, 8.8.38). Eine sehr heftige fünfte Kontroverse entspann sich zwischen Neurath und Carnap um Sinn und Zweck der Semantik und insbesondere um deren Kompatibilität mit dem, was Neurath und Carnap jeweils Empirismus nennen. Als sechste Großkontroverse ließe sich schließlich noch eine historische Kontroverse angeben, nämlich die Frage, ob der Wiener Kreis eher von Russell, Wittgenstein und den Warschauer Logikern, insbesondere Tarski beeinflußt und geprägt wurde, wie Carnap meinte (vgl. C an N, 2.6.35, 15.5.35, 26.3.35, 11.4.35, 11.6.36), oder aber „von den Franzosen" (N an C, 21.6.35), also Poincaré und Duhem — wie Neurath meinte.

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Von den hier angeführten Großkontroversen der Neurath-CarnapKorrespondenz ist die Protokollsatzdebatte bekanntlich eine öffentliche Debatte gewesen, und man kann auch nicht sagen, daß im Rahmen des Briefwechsels neue Argumente ins Spiel gebracht würden. 5 Daß Neurath und Carnap, was die Beurteilung der „Logik der Forschung" betrifft, unterschiedliche Auffassungen hatten, könnte man auch ihren unterschiedlichen Rezensionen dieser Schrift entnehmen. 6 Die in Neuraths Rezension vorgebrachten Einwände sind keine anderen als die im Briefwechsel vorgebrachten, allerdings ist auffällig, daß die Einwände im Briefwechsel erheblich schärfer und ohne die Rücksichten, die man in Publikationen nimmt, formuliert sind. Was die restlichen vier Großkontroversen betrifft, so handelt es sich hier jedoch um Kontroversen, die als explizite nur in der Korrespondenz auftauchen. Von diesen restlichen Kontroversen scheint mir der Streit über die Semantik eine Art Schlüsselkontroverse in dem Sinne zu sein, daß durch ihre Rekonstruktion Meinungsdifferenzen zwischen Neurath und Carnap zutage gefördert werden können, die möglicherweise zugleich Erklärungen für einen Teil anderer Kontroversen liefern, insbesondere, was die letztgenannte, historische Kontroverse betrifft. Keine der sachlichen Kontroversen zwischen Neurath und Carnap wurde mit einer Heftigkeit geführt wie diejenige, die sich im Anschluß an Carnaps Schrift „Introduction to Semantics" im Jahre 1942 entspann. Daß eine heftige Kontroverse ausbrechen würde, muß Neurath geahnt haben. 7 Mit bangem Erwarten schreibt er über das Buch, dessen Zusendung durch Carnap er mehrmals anmahnt: „I do not look without fear at your actions" (Ν an C, 29.7.42). Schon nach einer ersten kurzen Lektüre der Schrift verfaßt Neurath einen Brief an Carnap, in dem es heißt: „I am really depressed to see here all the Aristotelian metaphysics in full glint and glamour, bewitching my dear friend Carnap through and through. As often, a formalistic drapery and hangings seduce logically minded people, as you are very much" (N an C, 15.1.43). Eine Bemerkung Carnaps im Vorwort des Buches, nach der ein metaphysischer Gebrauch der Semantik ein Mißbrauch sei, weist Neurath zurück; er

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Vgl. ζ. B. die Arbeiten (1) und (9). Vgl. die Arbeiten (3) und (10). Dies konnte Neurath im übrigen auch sehr leicht, denn immer mal wieder, wenn auch eher am Rande, sei es von Briefen, sei es von Kongressen, stritten sich Neurath und Carnap spätestens seit 1935 um die Brauchbarkeit semantischer Begriffe.

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schreibt: „Your remarks that semantics may be misused by metaphysicans do not help you, because they are only continuing your actions" (a.a.O.). Neurath hat in verschiedenen Briefen Einwände vorgebracht, die man zu insgesamt vier Einwendungen zusammenfassen kann: Erstens könnten semantische Begriffe allenfalls in bezug auf Kalküle, nicht aber in bezug auf realwissenschaftliche Zusammenhänge Anwendung finden. So sei die Auflösung gewisser Paradoxien vielleicht für Mathematik und Logik interessant, im Rahmen der empirischen Einzelwissenschaften sei das aber völlig irrelevant. Zweitens müsse die Redeweise von ,Wahr' und ,Falsch', wenn sie denn überhaupt brauchbar sein solle, irgendwie auf Begriffe im Umkreis von Akzeptierung' zurückgeführt werden. In Carnaps Verwendungsweise von ,wahr' und ,falsch' werde hingegen ein Punkt außerhalb der Welt präsupponiert, von dem aus über Wahrheit und Falschheit geurteilt werde. Durch die für „Introduction to Semantics" konstitutive Designationsrelation, die Gegenstandskonstanten Gegenstände, dann aber auch Prädikaten Attribute und Sätzen Propositionen zuordnet, würden drittens Existenzannahmen gemacht, die völlig unakzeptabel seien. Viertens schließlich sei ein ontologisches Element allerdings bereits durch Russells Existenzquantor in die Logik gekommen, und in dessen Tradition stehe die Semantik nun. — In Konsequenz dieser Einwände schreibt Neurath: „I have the feeling to continue your Logical Syntax period, before you became Tarskisized with Aristotelian flavour (which I detest)" (N an C, 1.4.44). Betrachtet man die vier hauptsächlichen Einwände Neuraths, dann fällt auf, daß zwei der vier Einwände auf Mißverständnissen beruhen: Der Einwand, die semantischen Begriffe seien im Bereich der Einzelwissenschaften irrelevant, übersieht zunächst die Intention, die Carnap mit seiner Semantik verfolgt; was den Wahrheitsbegriff betrifft, schreibt Carnap nämlich: „In any case, the concept of truth as I deal with it is meant as systematization of the inexact term ,true' as used by scientists and in everyday life" (C an N , 29.1.43). Für die Explikation dieses Gebrauchs dient Tarskis Wahrheitskonvention als eine Adäquatheitsbedingung. In einem Brief vom 4.2.1944 kann Carnap Neurath die Verwendung einer ganzen Reihe von Begriffen wie ,deskriptiv', ,tautologisch' usw. vorhalten, die zu rekonstruieren gerade die Aufgabe der Carnapschen Semantik ist. Der erste Einwand von der Irrelevanz der semantisch rekonstruierten Begriffe ist dann insofern ein Mißverständnis, als

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dieser Einwand sich gegen die Explikationsbedürftigkeit einer Reihe von Begriffen wendet, wohingegen er sich im Interesse einer gewissen Triftigkeit dagegen wenden müßte, daß die Explikation auf gerade diese semantische Weise erfolgt. Ein Mißverständnis ist sicher auch der vierte Einwand, der auf ein ontologisches Moment im Russellschen Existenzquantor abhebt. Es ist schwer zu sagen, wie dieser Einwand überhaupt zu verstehen ist. (Den Hinweis Carnaps, daß der Existenzquantor doch durch den Allquantor definierbar sei, hat Neurath übrigens damit beantwortet, daß er auch Zweifel an der Brauchbarkeit des Allquantors habe; vgl. Ν an C, 1.4.44.) Man könnte den Einwand vielleicht im Sinne der bei Neurath noch dunklen und später von Quine dann präzise formulierten These, daß die ontologischen Voraussetzungen von Sprachen in den Wertebereichen von durch Quantoren gebundenen Variablen zu suchen sind, verstehen. 8 Bei einer solchen Deutung wird der Einwand zwar verständlich, aber auch falsch. Man dürfte sich nun nämlich nicht gegen die Verwendung von Quantoren überhaupt, sondern gegen bestimmte Wertebereiche von Variablen, die Klassen oder andere abstrakte Entitäten enthalten, wenden. Jedenfalls unproblematisch wären durch Quantoren gebundene Variablen, die konkrete, d. h. in Raum und Zeit existierende Gegenstände als ihren Wertebereich haben. Sind aber auch der zweite und dritte Einwand Neuraths Mißverständnisse? Carnap hielt alles, was Neurath im Zusammenhang mit Semantik vorbrachte, für ein sehr großes und zugleich ärgerliches Mißverständnis (vgl. C an N, 15.3.43). Jedenfalls, was den dritten Einwand betrifft, demgemäß in der Carnapschen Semantik inakzeptable Existenzannahmen gemacht würden, scheint mir, daß Neurath keinem Mißverständnis der Carnapschen Position aufgesessen ist; was sich an diesem Einwand vielmehr zeigt, das ist — so meine im folgenden begründete These —, daß Neurath und Carnap zwei verschiedenen Konzeptionen von Empirismus bzw. Physikalismus angehangen haben.9

» Vgl. ζ. B. die Arbeiten (14), (15). D i e Semantik Carnaps wurde nicht nur von Neurath kritisiert, sondern auch von anderen analytisch orientierten Philosophen. Vgl. dazu etwa die Arbeiten (8) und (17), die an Carnaps Schrift „Meaning and Necessity" gerade jenen Grundzug kritisierten, gegen den sich Neurath mit seinem dritten Einwand bereits anläßlich des Erscheinens von „Introduction to Semantics" wendete.

9

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Die Redeweise von Physikalismus ist bei Neurath nicht einheitlich und man kann m. E. mindestens drei Begriffsvarianten unterscheiden: In einer ersten Variante ist der Physikalismus eine umfassende Anschauung. Dieser Begriff ist zugrunde gelegt, wenn Neurath, die physikalistische Auffassung charakterisierend, schreibt: „Daß man nicht Sätze mit Fakten vergleicht,.. . Daß man alles physikalisch formulieren k a n n , . . . daß alles Dinge seien" (N an C, 28.5.35). Gegen diesen Physikalismusbegriff protestierte Carnap (vgl. C an N , 2.6.35), und darauf ist wohl auch zurückzuführen, daß man in einer Reihe von Publikationen Neuraths als zweite Variante den Begriff des Physikalismus auch in seiner Carnapschen Verwendungsweise findet, also im Sinne der These von der Ubersetzbarkeit eines jeden kognitiv signifikanten Satzes in eine physikalische Sprache. Eine dritte Variante des Neurathschen Physikalismusbegriffs kann man dann in folgender Bemerkung über Dewey in einem Brief an Carnap sehen. Neurath schreibt dort: „Dewey ist nämlich einig mit uns, daß man nur von Dingen redet, die ein ,Wo' und ,Wann' haben (Physikalismus) . . ." (N an C, 11.1.39). — Offensichtlich ist es demnach so, daß die dritte Variante des Neurathschen Physikalismusbegriffs den Physikalismus mit dem Nominalismus geradezu identifiziert, während die erste Variante den Nominalismus jedenfalls zu einem der Bestimmungsstücke des Physikalismus macht. Berücksichtigt man weiterhin, daß Neurath im Rahmen der Kontroverse um die Semantik als Argument vorlegt: „Can I say I see propositions? No. Therefore I try to eliminate the term proposition" (N an C, 25.9.43), und damit wiederum auf den Grundsatz des Nominalismus rekurriert, dann wird man festhalten müssen: Wie auch immer schließlich der Name für das Insgesamt jener Essentials, die eine, wissenschaftliche Weltauffassung' im Sinne Neuraths ausmachen, ausfallen wird — Physikalismus, Empirismus, o. ä. —, der Nominalismus wird als eines der Essentials angesehen werden müssen. — Und eben dies trennt Neurath von Carnap. Für den Carnapschen Empirismusbegriff dürfte zweierlei konstitutiv gewesen sein: einmal die These, daß die sinnvollen Sätze in analytische und synthetische zerfallen, und zum anderen die These, daß synthetische Sätze in irgendeiner Weise mit wirklichen oder möglichen Erfahrungen verknüpft sind. Diese beiden Essentials des Carnapschen Empirismus erzwingen allerdings in der T a t keinen Nominalismus, und sie geben auch kein Argument gegen die Semantik her, denn deren Sätze sind — ein gegebenes semantisches Regelsystem unterstellt — allesamt

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analytisch. Man könnte also in gewissem Sinne sagen: Der Carnapsche Empirismus ist mit einer platonistischen Ontologie vereinbar, da er eben ontologisch neutral ist.10 In dem Streit um die Semantik trifft demnach ein ontologisch nicht neutraler, nominalistischer Empirismus zusammen mit einem ontologisch neutralen, also gegebenenfalls auch abstrakte Entitäten verwendenden Empirismus. Man kann davon ausgehen, daß Neurath die Aufgabe auch nur eines seiner Essentials einer wissenschaftlichen Weltauffassung für Rückfall in die Metaphysik hielt. Mit „Introduction to Semantics" war damit ein Freund in Denkformen zurückgefallen, denen — nach Ansicht Neuraths — doch ihr gemeinsamer, lebenslanger Kampf bisher gegolten hatte. Aus einer solchen Situationssicht erklärt sich wohl auch das sehr starke Moment von persönlicher Enttäuschung, das in allen Briefen Neuraths im Rahmen dieser Kontroverse präsent ist. Die Korrespondenz zwischen Neurath und Carnap endet auf eine Weise, die mit Begriffen beschrieben werden muß, die irgendwo zwischen ,Zerwürfnis' und ,an die Substanz gehende Krise einer großen Freundschaft' liegen. W a r schon die Auseinandersetzung über die Semantik sehr heftig, so fühlte sich Neurath durch die Verhaltensweise Carnaps im Zusammenhang des Erscheinens der von Neurath verfaßten Schrift „Foundations of the Social Sciences" zutiefst verletzt. Die Schrift sollte als H e f t Nr. 1 des 2. Bandes der Enzyklopädie, die von Carnap, Morris und Neurath herausgegeben wurde, erscheinen. Ein erstes Manuskript dieser Arbeit hatte Neurath bei seiner plötzlichen Flucht angesichts des Uberfalls Hitlerdeutschlands in Holland zurücklassen müssen. Das dann in England von ihm neu geschriebene Manuskript hatte Carnap — durch verschiedene, eher zufällige Umstände bedingt — erst zu einem Zeitpunkt zu Gesicht bekommen, in dem Änderungen aus verschiedenen Gründen schon nicht mehr möglich waren. Weil Carnap die Arbeit jedoch für in einem Ausmaße überarbeitungsbedürftig ansah, daß er seine Mitherausgeberschaft nicht für verantwortbar hielt, veranlaßte er eine Fußnote des Inhalts, daß er aus verschiedenen Gründen für dieses H e f t nicht die Herausgeberverantwortung trage. Nachdem Carnap ihm diesen Vorgang in einem Brief vom 7. Oktober 1944 geschildert hat, schreibt Neurath, zutiefst betroffen, zurück: „I ask myself, how can a 10

Es ist eine gute Stütze für die Rekonstruktion, daß es Carnap in der 1950 erschienenen Arbeit „Empiricism, Semantics, and Ontology" explizit ablehnt, den Nominalismus zu einem Essential des Empirismus zu machen und statt dessen für einen ontologisch neutralen Empirismusbegriff plädiert.

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friend grieve me so much, and without manifest reason" (N an C, 18.11.44). — Neurath kann in dieser Verletzung auch keinen Einzelfall mehr sehen; er hält sie eher schon für ein typisches Beispiel für die Art seiner Behandlung im Wiener Kreis und der logisch-empiristischen Bewegung überhaupt: Wie selten habe Carnap ihn zitiert, wo er ihn nicht nur hätte zitieren können, sondern sogar hätte zitieren müssen (vgl. Ν an C, 18.11.44). Durch die Ablehnung von ihm verfaßter Artikel sei er, Neurath, erst zur Gründung der Reihe „Einheitswissenschaften" gezwungen worden (vgl. Ν an C, 18.11.44). Wie herablassend habe ihn Schlick behandelt (vgl. Ν an C, 24.9.45). Durch das Gerede von ,Einheizwissenschaft' sei er von Hahn immer wieder provoziert worden (vgl. N a n C, 16.6.45). Neurath macht nun sowohl für seine Behandlung durch Carnap, wie auch für seine vielen sachlichen Kontroversen mit ihm, eine einheitliche Gesamteinstellung Carnaps verantwortlich, die er mit den Begriffen ,platonistisch', ,preußisch', puritanisch' beschreibt (vgl. Ν an C, 24.9.45). Diese Haltung habe nicht nur politisch verheerende Folgen; sie führe auch zu einer Affinität gegenüber dem antipluralistischen Absolutismus der Popperschen „Logik der Forschung", und sie sei ebenfalls verantwortlich für Carnaps Anschluß an eine semantische Metaphysik à la Tarski (24.9.44). Als Erinnerung an Zeiten größerer Gemeinsamkeit und vielleicht auch als eine Art ,Aufforderung zur Umkehr' ist es dann wohl gemeint, wenn Neurath an Carnap schreibt: „ . . . you giant of logical analysis highly admired by me, and man who unveils the secrets of so many metaphysicans . . . " (N an C, 18.11.44). Carnap seinerseits macht Neurath im Rahmen dieser Auseinandersetzung verschiedenste Vorwürfe, die vom Vorwurf der Intoleranz bis zum Vorwurf der Lernunfähigkeit reichen (vgl. C an N, 23.8.45). Die Auseinandersetzung mit Neurath mache ihn arbeitsunfähig und lasse ihn nicht mehr schlafen (vgl. C an N, 23.8.45). Wohl um auch seinerseits eine Brücke zu bauen, schreibt Carnap am 23.8.1945, und dies ist der letzte Brief, den Carnap an Neurath richten kann, über dessen Rolle in der Bewegung des Logischen Empirismus: „Your temper and way of acting is different from most of us; it is more energetic, active, driving, aggressive. Consequently, it has fallen to you to be the driving force in our movement and all its various activities. W e all are grateful and appreciative for this; we all realize where our train would still be stuck if we hadn't had the big locomotive" (C an N, 23.8.45). — Weil der „ehrliche Makler", wie Neurath sich selbst in Briefen aus den Jahren 1936 und

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1938 einmal bezeichnete (vgl. Ν an C, 1.7.36, 16.5.38), am 22. Dezember 1945 starb, konnte es zu der großen mündlichen Verhandlung aller Kontroversen — und auf diese mündliche Verhandlung hatten Carnap und Neurath gleichermaßen gehofft — nicht mehr kommen. Betroffen von Neuraths plötzlichem T o d schreiben Rudolf und Ina Carnap an Neuraths Witwe: „It is good that he was still able to see the downfall of the Nazis and their cause. His death is a tragic loss not only to you and to his friends, and the Unity of Science Movement, but also to the cause of democracy, to the fight against fascism . . . . W e only hope that both of you always knew that in spite of heated arguments Carnap always felt that he was a close friend of Neurath's. Ah, but there could have been more of the kindness which Neurath always considered as the most important consideration" (Ina und Rudolf Carnap an Marie Neurath, 2.1.46). Kann man das eher tragische Ende der Korrespondenz zwischen Neurath und Carnap erklären oder jedenfalls eine Erklärungsskizze angeben? Ich glaube, man kann. Im Rahmen einer solchen Erklärungsskizze sind jedenfalls zwei Faktoren zu berücksichtigen: erstens die im Zusammenhang des Streits um die Semantik herausgestellten unterschiedlichen Auffassungen bezüglich des Nominalismus als eines Essentials einer empiristischen Konzeption; zweitens die sehr verschiedenen Lebensumstände und -bedingungen Carnaps und Neuraths; ganz offensichtlich nämlich hat Carnap unter dem Gesichtspunkt, wem die für wissenschaftliches Arbeiten günstigeren Lebensumstände zugefallen sind, den besseren Part ,erwischt'. Letzteres scheint mir verantwortlich dafür zu sein, daß ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeiten Neuraths sehr stark einen eher programmatischen Charakter hat. Carnaps Arbeiten hingegen haben sehr stark den Charakter detailliertester Analysen. Was den mißverständnisfreien, rationalen Kern des Streits über die Semantik betrifft, wird man sagen dürfen, daß in ihm ein programmatischer Nominalismus mit einer realistischen Semantik auf relativ hohem Ausarbeitungsstand zusammenstieß. Dies heißt natürlich auch, daß in diesem Streit keine auch nur annähernd so gut ausgearbeitete Alternative zur in der Tat auf abstrakte Entitäten zurückgreifenden Semantik Carnaps existierte, während zugleich die persönlichen Lebensumstände Neuraths die Ausarbeitung einer nominalistischen Semantik oder Bedeutungstheorie, eine Ausarbeitung, die, um mit Carnaps Semantik konkurrieren zu können, sicherlich mehrere Jahre Arbeit verlangt hätten, gar nicht zuließen.

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Sind diese Überlegungen zutreffend, dann könnte sich die Situation im Streit um die Semantik für Carnap so dargestellt haben, daß Neurath den Wert,ehrlicher', empiristischer Arbeit nicht mehr zu schätzen wisse. Nimmt man dann weiter an, daß Carnap nun an Neuraths Schrift „Foundation of the Social Sciences" für begriffliche Präzision einen Maßstab anlegte, wie man ihn an Detailanalysen, nicht aber an Programme anlegen würde, dann wird das Verhalten Carnaps im Zusammenhang der Publikation dieser Schrift plausibel. Zugleich ist jedoch klar, daß Neurath angesichts des Verhaltens von Carnap sich nun seinerseits um die Anerkennung ,ehrlicher', empiristischer Arbeit gebracht sehen mußte, und dies durch jemanden, der gerade noch ein Grundprinzip des Empirismus im Sinne Neuraths ,verraten' hatte.— Und der das alles tat, war auch noch der beste Freund. Meine Erklärungsskizze ist sehr vage und enthält eine große Menge von impliziten Plausibilitätsüberlegungen. Vielleicht ist sie völlig falsch. Wie auch immer. Eines scheint mir allerdings wichtig: Wenn wir schon durch Erforschung von Korrespondenzen in eine Privatheit eindringen, die doch generell das Recht auf NichtÖffentlichkeit hat, so sollten wir in bezug auf die Betroffenen ein Prinzip achten, das Brecht in einem anderen Zusammenhang seine „Nachgeborenen" einzuhalten bittet, nämlich „Gedenkt unserer mit Nachsicht".

Literaturverzeichnis Carnap, Rudolf: [1] Über Protokollsätze: Erkenntnis 3 ( 1 9 3 2 / 3 3 ) 215 — 228. — : [2] Logische Syntax der Sprache, Wien 1934. — : [3] Karl Popper — Logik der Forschung: Erkenntnis 5 (1935) 2 9 0 — 2 9 4 . — : [4] Introduction to Semantics, Cambridge (Mass.) 1942. — : [5] Meaning and Necessity, Chicago 1947. — : [6] Empiricism, Semantics, and Ontology: Revue Internationale de Philosophie 4 (1950) 2 0 - 4 0 . Hegselmann, Rainer: [7] Otto Neurath — Empiristischer Aufklärer und Sozialreformer: O . Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus (hgg. v. R. Hegselmann), Frankfurt 1979, 7 — 78. Nagel, Ernest: [8] Rudolf Carnap — Meaning and Necessity: Journal of Philosophy 45 (1948) 4 6 7 - 4 7 2 . Neurath, O t t o : [9] Protokollsätze: Erkenntnis 3 ( 1 9 3 2 / 3 3 ) 2 0 4 — 2 1 4 — : [10] Pseudorationalismus der Falsifikation: Erkenntnis 5 (1935) 353 — 365. — : [ 11 ] Foundations of the Social Sciences (International Encyclopedia of Unified Science, Vol. 2, N o . 1) Chicago 1944. — : [12] Empiricism and Sociology (Edited by Marie Neurath and Robert S. Cohen), Dordrecht 1973. Popper, Karl R.: [13] Logik der Forschung, W i e n 1934.

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Rainer Hegselmann

Quine, Willard ν. O . : [14] Notes on Existence and Necessity. Journal of Philosophy 40 (1943) 1 1 3 - 1 2 7 . — : [15] From a Logical Point of View, Cambridge (Mass.) 1953. Russell, Bertrand: [16] An Inquiry into Meaning and Truth, London 1940. Ryle, Gilbert: [17] Rudolf Carnap — Meaning and Necessity: Philosophy 24 (1949) 69—76.

KARL MÜLLER

Die verspätete Aufklärung Wiener Kreis und Kritische Theorie in der Epoche des Faschismus Zeitgenossen stehen, Hermann Broch zufolge 2 , sowohl den R e v o l u t i o n e n ihrer überkommenen Vergangenheit als auch den T r a d i t i o n e n in ihren gegenwärtigen Revolutionen weitgehend blind gegenüber. Themenzentriert würde dies implizieren, daß die laufende Diskussion zur Wissenschaftslogik dadurch charakterisiert sein müßte, die revolutionäre Vergangenheit einer mittlerweile etablierten analytischen „Schulphilosophie" zu verdrängen und die momentanen Revolutionierungen seitens möglicher Alternativen — unbeschadet ihrer Genese — zu disqualifizieren 3 oder zu ignorieren 4 .

1. Die verunglückte

Rezeption

Am konkret-historischen Fall, dem systematischen Vergleich zwischen dem Wiener Kreis und dem Frankfurter Institut im Kontext der 1930er Jahre 5 wird eine solche Tabuisierung auch noch durch die augen1

1 3

4

5

Dieser Artikel bietet einen kursorischen Ausschnitt aus einem umfänglicheren Projekt, das sich eine systematische Explikation von interdisziplinären Lösungsstrategien im Rahmen der österreichischen Wissenschaftsphilosophie, und hier vor allem des Wiener Kreises, zum Ziel nimmt. Zusammen mit zwei weiteren, von E. Röhler und F. Stadler bearbeiteten Teilen, soll damit eine systematisch-wissenschaftssoziologische Synopsis zur „Wissenschaftlichen Philosophie und Wissenschaftsphilosophie in Osterreich 1848 bis 1938" (Finanzierung: Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) erstellt werden. H . Broch: Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, Frankfurt am Main 1974, S. 16. Vgl. beispielsweise die Sammlungsbewegung gegen das Finalisierungsvorhaben in K. H ü b n e r et al. (Hrsg.): Die politische Herausforderung der Wissenschaft, H a m b u r g 1976. Vgl. etwa die einseitig vollzogene Räumung der Frankfurter Schule in der Neuauflage von E. Topitsch, P. Payer (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, zehnte veränderte Auflage, Königstein/Ts. 1980. Es muß gesondert betont werden, daß diese komparativ-systematische Analyse nur einem s p e z i e l l e n Segment beider Gruppierungen gilt:

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scheinlich divergierenden Forschungsschwerpunkte sowie durch die einschlägige Frankfurter Positivismuskritik befördert. Es scheint hier nämlich außer der Einheit von mitteleuropäischem Ort und faschistischer Zeit tatsächlich sehr wenig zu sein, was diese zwei Richtungen aufeinander verweisen könnte. Dominieren auf der Frankfurter Seite die Sozialwissenschaften, streuen die Interessen des Wiener Kreises um Logik, Mathematik, Physik; da Gesellschaftstheorie, dort raum-zeitliche Protokollsätze; hie Dialektik und Kapitalismuskritik, drüben Widerspruchsfreiheit und der „Index verborum prohibitorum". Zudem weisen sich die sich ständig radikalisierenden Stellungnahmen, die Horkheimer, Marcuse oder Adorno für den Wiener Kreis erübrigen, eindeutig und abschlägig negativ aus. Horkheimers mittlerweile klassischer Angriff gegen den Positivismus läßt sich in drei Thesen fassen : — N u r wer die Vision von einer glücklicheren und vernünftigen Zukunft trägt, vermag die ihn umgebenden Wirklichkeiten auch zu durchschauen. Der hoffnungslose Rekurs aufs Gegebene, wie ihn der Logische Empirismus vollzieht, eliminiere naturgemäß jede aufklärerische Intention nach Konstruktion oder Kritik. Die schlechte Versöhnung mit den sedimentierten einzelwissenschaftlichen Datenmengen sei letzthin alles, was ein einheitswissenschaftliches Programm als Ziel zu offerieren vermag. — S o erscheint es sinnvoll, die Aktivitäten des Wiener Kreises in zwei Abschnitte zu separieren: in eine S e m i n a r p h a s e , die sich seit 1924 um die D o n n e r s t a g a b e n d e in der Boltzmanngasse zentriert und deren H a u p t a k t e u r e Wittgensteins „ T r a c t a t u s " , Schlick, Waismann, C a r n a p , H a h n , Feigl und die übrigen Seminaristen bilden; und in eine Ö f f e n t l i c h k e i t s p h a s e , die mit der Konstituierung des Vereins Ernst Mach 1928 und der Programmschrift 1929 anhebt, deren P r o g r a m m p u n k t e durch die Begriffstrias „Einheitswissenschaft — Physikalismus — Wissenschaftslogik" zu skizzieren wären und deren Protagonisten in N e u r a t h , Frank, C a r n a p , H a h n und später im internationalen Kollektiv von Einheitswissenschaftlern zu orten sind. Die zunächst noch graduelle Desintegration dieser Offentlichkeitsphase des Wiener Kreises läßt sich mit dem J a h r 1939, dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs datieren. — D a s Weltkriegsjahr 1939 markiert aber ebenso eine W e n d e in der Evolution der Kritischen Theorie. Mit 1939 findet ein kohärentes Wissenschaftsprogramm, das mit dem Amtsantritt M a x Horkheimers installiert worden war, zwar keinen abrupten Abbruch, wird aber immer stärker modifiziert und in Richtung der „Dialektik der A u f k l ä r u n g " verschoben. Wenn weiterhin somit v o m W i e n e r K r e i s die R e d e ist, dann von dieser O f f e n t l i c h k e i t s p h a s e ; u n d wenn im folgenden das Frankfurter Institut zu W o r t kommt, dann in seinen Positionen aus den dreißiger Jahren. N u r auf d i e s e P e r i o d e h i n wird die anschließende Diskussion über Frankfurt und Wien konzentriert sein.

Die verspätete Aufklärung



293

Der k o g n i t i v essentiellste Grund für diesen k o n s e r v a t i v e n Charakter des Positivismus liege in dem von ihm organisierten Rückzug aus aller Theorie. Denn „die T a t s a c h e n der Wissenschaft und die W i s s e n s c h a f t selbst sind A u s schnitte aus dem L e b e n s p r o z e ß der Gesellschaft, und um wirklich zu begreifen, was es jeweils mit den T a t s a c h e n wie mit dem wissenschaftlich G a n z e n auf sich hat, muß man den Schlüssel z u r historischen Situation haben, d. h. die richtige gesellschaftliche T h e o r i e " 6 .

N u r die Chronik laufender Ereignisse; keine Interpretation und erst recht keine alternative Praxis könnte ein Positivist der möglichen Verwandlung der Welt zum Tollhaus und zum Gefängnis entgegenhalten. —

Konsequenterweise d e g e n e r i e r e der Logische Empirismus zur gefälligen „Dienstmagd für die geltenden Zwecke der Industriegesellschaft". Das Faktum wird so zum Fatum. Aus dieser wissenssoziologisch vollzogenen Interessenerkenntnis heraus diagnostiziert Horkheimer das einheitswissenschaftliche Programm denn auch als typisches Symptom einer sich zu Ende gelebten bürgerlichen Epoche: „ N e u r o m a n t i s c h e Metaphysik und radikaler Positivismus g r ü n d e n beide in der traurigen V e r f a s s u n g eines großen Teils des B ü r g e r t u m s , das die Zuversicht, durch eigene T ü c h t i g k e i t eine Besserung der Verhältnisse herbeizuf ü h r e n , restlos a u f g e g e b e n hat und aus A n g s t vor einer entscheidenden Änd e r u n g des Gesellschaftssystems sich willenlos der H e r r s c h a f t seiner kapitalkräftigsten G r u p p e n u n t e r w i r f t " 7 .

Herbert Marcuse sieht sich in seiner Rezension der „International Encyclopedia" bereits im Rücken der Einheitswissenschaft und attackiert schon weniger das vollbrachte Werk denn seine motivationale Fundierung: „ D i e G e f a h r liegt in den Motiven, die das U n t e r n e h m e n tragen, und diese sind nicht aus ihm heraus angreifbar. Schlecht und unwahr sind die V o r a u s setzungen, auf G r u n d deren gearbeitet wird, die Arbeit selbst m a g sehr fein und sehr exakt sein 8 .

6

7 8

M. Horkheimer: Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in: Zeitschrift für Sozialforschung ( = ZfS) Jg. VI (1937), S. 28. Ebda., S . l l . H. Marcuse: Besprechung der „International Encyclopedia of Unified Science", in: Studies in Philosophy and Social Science ( = SPSS) Vol. V i l i (1939), S. 232.

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Karl Müller

Exaktheit kann diese Arbeit aber nur deshalb reklamieren, weil sie bereits bedeutungsleer geworden und nur durch die „Ausschaltung aller wirklichen Probleme aus der T h e o r i e " ' unifiziert worden sei. Nimmt man zu alledem noch den pointiert gegenaufklärerischen Vorwurf aus der „Dialektik der Aufklärung" — „Sie (gemeint Juliette, K.M.) operiert mit Semantik und logischer Syntax wie der modernste Positivismus, aber nicht wie dieser Angestellte der jüngsten Administration richtet sie ihre Sprachkritik vornehmlich gegen Denken und Philosophie, sondern als Tochter der kämpfenden Aufklärung gegen die Religion" 1 0 —

oder den Nachfolgestreit aus den sechziger Jahren zum Positivismus hinzu samt Adornos Verdikt „ D e r Positivismus ist Geist der Zeit analog zur Mentalität von J a z z f a n s "

wobei das Jazzsubjekt dahingehend bestimmt wird, daß es „vor kollektiven, vom Grundrhythmus repräsentierten Anforderungen versagt, stolpert, 'herausfällt', als herausfallendes jedoch in einer Art Ritual als allen anderen Ohnmächtigen Gleiches sich enthüllt und, um den Preis seiner Selbstdurchstreichung, dem Kollektiv integriert wird" 1 2 ,

dann ließe sich daraus leichterdings die Konsequenz herleiten, daß Frankfurt und Wien konträre Forschungsparadigmata repräsentieren, deren Vergleich nicht näher lohne. Bei so viel Evidenz für die andere Seite muß darum der Konnex zwischen diesen zwei Richtungen erst langsam, Stück um Stück, restituiert werden: ausgehend von kontingenten Ähnlichkeiten organisatorischer Provenienz oder politischer Präferenzen bis hin zu den inhaltlichen Parallelen, den Zielkonvergenzen und den Resultaten. 2. Der äußere

Zusammemhalt

a) Für beide Gruppen charakteristisch ist zunächst die Form ihrer alternativen Institutionalisierung, die sich im wesentlichen jenseits der staatlich konzessionierten Bildungskanäle vollzieht. Das Frankfurter In9 10

11

12

Ebda., S. 228. M. Horkheimer, T . W. A d o r n o : Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, fünfte Auflage, Frankfurt am Main 1978, S. 87 f. T . W. A d o r n o : Einleitung zu ders. et al: D e r Positivismusstreit in der deutschen S o z i o logie, zweite Auflage, D a r m s t a d t — N e u w i e d 1972, S. 70. Ebda., S. 59.

D i e verspätete Aufklärung

295

stitut, das satzungsgemäß zwar auf ein Naheverhältnis zur Universität verpflichtet war 13 , kann sich finanziell wie bezüglich seiner Personalrekrutierung weitgehend autonom zu seiner Umwelt entwickeln. Ahnliches gilt auch für den Wiener Kreis in seiner Offentlichkeitsphase, dessen organisatorische Zentren in Wien und später in Den H a a g „innengesteuert" bleiben und zudem auf keine verstetigte externe Alimentierung zurückgreifen können. Diese zunächst triviale Gemeinsamkeit spiegelt allerdings schon eine tief ergehende Verbindung wider: Wien wie Frankfurt formieren sich im Kontext ihrer akademischen Umgebung als marginalisierte Gruppierungen, die signifikant von der geisteswissenschaftlichen oder der philosophischen Orthodoxie wie auch von den prävalenten studentischen Erkenntnisinteressen jener Jahre divergieren. Einzig dem naturwissenschaftlichen „Mainstream" wissen sich Wien wie Frankfurt nahezu gleichermaßen verpflichtet: „In der Gegenwart, in der die herrschenden gesellschaftlichen Formen weitgehend zu Hemmungen der menschlichen Kräfte geworden sind, bieten gerade die abstrakten Zweige der Wissenschaft, Mathematik und theoretische Physik, die vornehmlich innerwissenschaftlichen Tendenzen folgen, eine weniger verzerrte Erkenntnis als der unmittelbar mit dem Leben zusammenhängende Wissenschaftsbetrieb" u .

b) Die Differenzen zwischen einer damals dominanten Philosophie und Geisteswissenschaft gegenüber den Wiener und Frankfurter Programmen werden noch klarer, wenn man auf wissenschaftssoziologische Kriterien wie den Verwertungskontext oder das Selbstverständnis rekurriert: Ist das philosophisch-geisteswissenschaftliche Establishment der zwanziger und dreißiger Jahre hier definitiv in einen b i l d u n g s b ü r g e r l i c h e n Rezeptionszusammenhang eingebunden 15 , so stehen Wien wie

13

14 15

Vgl. dazu M. Jay: Dialektische Phantasie. D i e Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt am Main 1981, S. 21 — 61; P. Kluke: Das Institut für Sozialforschung, in: W. Lepenies (Hrsg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, S. 3 9 0 — 4 2 9 ; U . Migdal: D i e Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Frankfurt — N e w York 1981. M. Horkheimer: Angriff, a.a.O., S. 5. Für Deutschland vgl. etwa F. K. Ringer: T h e Decline of the German Mandarins. T h e German Academic Community 1890—1933, Harvard University Press 1969; für den v ö l k i s c h - n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n „Sidestream" der Weimarer Republik siehe auch die als Primär- und Sekundärquelle gleichermaßen interessierende Darstellung von Ph. Frank: Albert Einstein. Sein Leben und seine Zeit. Mit einem V o r w o r t von Al-

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Frankfurt in einem N a h e Verhältnis zu den organisierten Arbeiterschaften. Gerade in diesem Punkt gehen aber die Ähnlichkeiten tiefer. Denn die meisten Mitglieder beider Richtungen fühlen sich zugleich als H e i m a t l o s e zwischen den linken Lagern: Von der Sozialdemokratie und dem Proletariat als dem „Herzen" ihres emanzipatorischen Programms feieren sie beidesamt im Laufe der dreißiger Jahre nach und nach Abschied 16 . Und zur Kommunistischen Partei wie zur Sowjetunion, speziell in und nach den ersten Moskauer Prozessen, halten sie insgesamt ein zunehmend kritisch-reserviertes Verhältnis. Es war somit nur konsequent, wenn der Wiener Kreis und das Frankfurter Institut von den Faschismen vor allem aus p o l i t i s c h e n Gründen in die Emigration oder in die Diaspora getrieben wurden.

3. Der innere

Zusammenhalt

Sind die bisherigen Familienähnlichkeiten höchstens wissenschaftssoziologisch relevant, indem sie zwei Richtungen Nachbarlichkeit im umgreifenden sozialen Verband attestieren, stehen des weiteren die materiellen Bezugspunkte zwischen Wien und Frankfurt zur Disposition : a) Zunächst wäre hier auf die m u l t i d i s z i p l i n ä r e Agglomeration hinzuweisen, durch die sich die beiden Gruppierungen auszeichnen. Wien versammelt um sich das gesamte Spektrum der Wissenschaften —

16

bert Einstein, Braunschweig—Wiesbaden 1979; als Impressionen aus der österreichischen Szenerie vgl. etwa K . J . Siegfried: Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns. Zur politischen Funktion seiner Gesellschaftslehre und Ständestaatkonzeption, Wien 1974; oder H. Zoitl: Akademische Festkultur, in F. Kadrnoska (Hrsg.): Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938, Wien—München—Zürich 1981, S. 1 6 7 - 2 0 4 . „Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis" — so M. Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, Z f S Jg. V I (1937), S. 267; systematischer wird dieser Ablösungsprozeß dokumentiert bei H. Dubiel: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1978, besonders S. 66 ff. Für den Wiener Kreis und hier wiederum für Neurath läßt sich ab 1934 eine sukzessive „Universalisierung" konstatieren. Für Neurath firmiert ab diesem Zeitpunkt mehr und mehr die Idee der „Freiheit einer W e l t g e s e l l s c h a f t " als Referenzrahmen wissenschaftlich-politischer Praxis. Vgl. dazu etwa O. Neurath: International Planning for Freedom, in: T h e New Commonwealth Quarterly, April 1942, S. 281 — 292.

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Logik, Mathematik, die Natur- und die Sozialwissenschaften; Frankfurt zentriert sich zwar um die Sozialwissenschaften allein, hält aber, wie schon gezeigt, die seinerzeitigen Formal- und Naturwissenschaften noch für durchaus in Ordnung und für wert, akzeptiert zu werden. b) Dieses multidisziplinäre Netzwerk wird — und hier liegt eine ganz essentielle Parallele — durch e m p i r i s c h orientierte und kontrollierte Normalwissenschaften geknüpft. Die Inklusion heterogener Wissenschaftsdisziplinen diente somit keiner Synthese mit „Flügeln" oder „einem H e r z voll Liebe" 17 , sondern blieb einem erfahrbaren Rechtfertigungskontext verpflichtet. Zur Einlösung der Frankfurter Intention, „die V o r g ä n g e des Gesellschaftslebens nach dem Stand der jeweils möglichen Einsicht z u begreifen, . . . muß die Sozialforschung eine Reihe v o n Fachwissenschaften auf ihr Problem zu konzentrieren und für ihre Z w e c k e auszuwerten trachten . . . Sie wird dabei zusammenfassender Begriffsbildungen und theoretischer V o r a u s s e t z u n g e n aller Art nicht entraten können, aber im Gegensatz zu breiten Strömungen der gegenwärtigen Metaphysik schließen ihre Kategorien die weitere Aufhellung und berechtigten Widerspruch durch die empirische Forschung nicht aus" 1 8 .

c) Speziell e i n e Komponente dieser multidisziplinären Mannigfaltigkeit wurde dabei — und dies gilt vor allem für die Historiografie des Wiener Kreises, durch eine Tradition internalistischer, perspektivisch stark fragmentierter Rekonstruktionen nahezu verschüttet: Das Wiener und Frankfurter Gesamtwissenschaftswerk wird nämlich als a r b e i t s t e i l i g o r g a n i s i e r t e s K o l l e k t i v vorwärts getrieben; im Regelfall stehen damit die Positionen je e i n e s Gruppenteils stellvertretend für das ganze Programm. Oder beispielhafter formuliert: Pollock, Mandelbaum und Maier repräsentieren die Kritische Theorie in den Bereichen National· und Planungsökonomie; und in g l e i c h e r W e i s e zeichnen Carnap für die Sprachkonstruktion oder Neurath für die Sozialwissenschaf17

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So ein Aufsatztitel bei W. Rehder: Physik . . . und ein Herz voll Liebe. Die spekulative Physik der deutschen Romantik, in H. P. Dürr (Hrsg.) : Der Wissenschaftler und das Irrationale. Zweiter Band. Beiträge aus Philosophie und Psychologie, Frankfurt am Main 1981, S. 485—500. Als dringliche gegenwartsrelevante Marginalie sei nur angefügt, daß für Wien und Frankfurt im Herzen voll Liebe noch Platz war für die e m p i r i s c h e Analyse jener Prozesse, welche die Leiden in der Gegenwart vermehren und ihr mögliches Glück behindern. Die jetzt etablierte empirische Sozialforschung, welche dieses m ö g l i c h e G l ü c k r a n d o m i s i e r t ; und die momentane wissenschaftsalternative Anakreontik, welcher d i e s e E m p i r i e weitgehend e n t g l e i t e t ; beiden gleichermaßen könnte das Frankfurter oder auch das Wiener Programm zum Maßstab eigener Leerstellen dienen. M. Horkheimer: Vorwort zur ZfS, Jg. I (1932), S. I—III passim.

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ten und die „große Vision" im einheitswissenschaftlichen Kontext verantwortlich. Das Forschungsdesign selbst, mit dem diese arbeitsteilige Orchestrierung des Wissenschaftsgefüges realisiert werden sollte, folgt in beiden Richtungen allerdings entlang u n t e r s c h i e d l i c h e r Pfade: Das Frankfurter Programm läßt sich idealerweise als ein permanenter Rückkoppelungsprozeß zwischen einer philosophisch orientierten Gesellschaftstheorie mit fachdisziplinären empirischen Kontrollinstanzen beschreiben. Durch generelle und mitunter noch diffuse Arbeitshypothesen über soziale Strukturen und Prozesse; durch die Disaggregierung solcher Hypothesen auf das Niveau einzelwissenschaftlich entscheidbarer Probleme; durch Modifikationen im Bereich der umgreifenden Gesellschaftstheorie, welche durch solche Konfirmierungen oder Falsifizierungen provoziert worden sind; durch erneute Transformation einer nunmehr revidierten Gesellschaftstheorie auf die Stufen disziplinarer Problemlösungen; durch solche iterativen Feedbacks sollte sich im Laufe der Zeit immer deutlicher so etwas wie eine unifizierte Gesellschaftstheorie herauskristallisieren, welche „auf die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit abzielt" ". Wissenschaftliche Arbeitsteilung bedeutet damit im Rahmen der Kritischen Theorie das verstetigte Wechselspiel zwischen einem „harten Kern" von allgemein verbindlichen gesellschaftstheoretischen Grundannahmen mit seinen nach den divergierendsten Richtungen unternommenen fachdisziplinären Ausdifferenzierungen 2 0 . Die Wiener Lösungsstrategie vollzieht sich hingegen nicht theorienvermittelt, sondern über das Medium von Sprache und Sprachkonstruktion, genauer: via physikalistische Einheitssprache und Wissenschaftslogik 21 . Und wissenschaftliche Arbeitsteilung meint im Wie" Ebda., S. III. Vgl. dazu etwa H . Dubiel. Wissenschaftsorganisation, a. a. O . ; G. W. Küsters. D e r Kritikbegriff der Kritischen Theorie Max Horkheimers. Historisch-systematische Untersuchung zur Theoriegeschichte, Frankfurt—New York 1980; A. Schmidt: Zur Idee der Kritischen Theorie. Elemente der Philosophie Max Horkheimers, Frankfurt am Main— B e r l i n - W i e n 1979.

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D i e folgende Zitatenselektion empfiehlt sich als knappe Umschreibung dieser beiden Zentraltermini: „Die These des Physikalismus besagt, daß die physikalische Sprache eine Universalsprache der Wissenschaft ist, d. h. daß jede Sprache irgendeines Teilgebietes der Wissenschaft gehalttreu in die physikalische Sprache übersetzt werden kann" (S. 248).

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ner Fall zweierlei: einerseits die fachspezifischen Transformationen der angestammten Wissenschaftssprachen auf eine allen Disziplinen konforme p h y s i k a l i s t i s c h e B a s i s ; und andererseits die Reformulierung vorrätiger einzelwissenschaftlicher Theorien durch ein einheitliches w i s s e n s c h a f t s l o g i s c h e s Instrumentarium. Erst d u r c h diese kooperative Herstellung einer disziplinübergreifenden Kontrollsprache; und erst w ä h r e n d dieses kollektiv betriebenen Prozesses der wissenschaftslogischen Rekonstruktion heterogener Wissenschaftssparten sollte sich, den einheitswissenschaftlichen Intentionen gemäß, dann nach und nach eine hochkomplexe Struktur verwirklichen, welche die an sich bestehenden oder fehlenden V e r bindungslinien im wissenschaftlichen N e t z w e r k offenlegt und seine redundanten oder sinnlosen Elemente eliminiert 22 . Man wird kaum fehlgehen, den B e g i n n dieses einheitswissenschaftlichen Programms mit einem Vortrag Neuraths auf der Prager Konferenz v o m September 1929 anzusetzen: „Der Weg ist gefunden, den wir gehen. Eine Zeitlang schien es, daß Vertreter des Empirismus nur isolierte Einzeldisziplinen betreiben könnten, deren Vereinigung von 'zufälligen' Erfolgen der Forschung abhänge, während wir jetzt wieder die Möglichkeit vor uns sehen, ein umfassendes Gefüge der

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„Wissenschaftslogik ist nichts anderes als logische Syntax der Wissenschaftssprache ...Die logische Syntax will ... ein Begriffsgebäude, eine Sprache liefern, mit deren Hilfe die Ergebnisse logischer Analyse exakt formulierbar sind. Philosophie wird durch Wissenschaftslogik, d. h. logische Analyse der Begriffe und Sätze der Wissenschaft ersetzt" (S. III f.). Beide Zitate sind entnommen aus R. Carnap: Logische Syntax der Sprache, zweite unveränderte Auflage, W i e n — N e w York 1968. Es wäre extrem irreführend, die Einheitswissenschaft als „reduktionistisches" Programm zu qualifizieren, innerhalb dessen sämtliche wissenschaftlichen Theorien durch die „disziplinare Matrix" der Physik substituiert werden sollten. Vielmehr liegen die m ö g l i c h e n einheitswissenschaftlichen Resultate, die sich aber erst im V o l l z u g der physikalistischen Transformation und der wissenschaftslogischen Konstruktion ergeben, in Erkenntnissen über interdisziplinäre Querverbindungen und Begriffsäquivalenzen, über Chancen f ü r partielle Reduktionen etc. etc. Einheitswissenschaft, wäre sie s o fortgeführt worden, hätte in ihrem Rahmen zwar Wissenschaftsanarchie als Maxime propagiert — „Das ist die Grundidee des ganzen Unternehmens — daß man sich mit etwas befassen muß, das man kaum eine bestimmte Basis nennen kann; daß man es mit keiner Art von System zu tun hat; daß man stets auf der Suche sein muß und stets f ü r Überraschungen bereit" (O. Neurath: Zur Diskussion: N u r Anmerkungen, keine Replik, in ders.: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, herausgegeben von R. Haller und H . Rütte, Bd. zwei, Wien 1981, S. 112) sie hätte aber damit sicherlich bedeutend w e n i g e r Anarchie kreiert, als durch d i s z i p l i n a r e Diskursformen zuzüglich ihres Bemühens um Rationalität über die letzten Jahrzehnte faktisch erreicht worden ist.

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E i n h e i t s w i s s e n s c h a f t dadurch zu schaffen, daß wir die Ergebnisse der Einzelforschung auf Grund begrifflicher Präzisierung und Transformation miteinander verbinden, so Lücken aufdecken und der Gesamtforschung dienen. Wir können wieder, entschlossen und kühn die E r f a h r u n g verstandesmäßig meisternd, hoffen, daß in größtem Ausmaß Vereinheitlichung und Verknüpfung möglich sei. Wir befinden uns wieder in ähnlicher Stimmung wie einst Hegel, mit dem wir — allerdings auf anderer Basis — sagen können: 'Der Mensch kann von der Größe und der Macht des Geistes nicht groß genug denken'" 23 .

d) Diese unzeitgemäß gewordene Form kollektiver Arbeit leitet zu einer weiteren inhaltlichen Parallele über, die prima vista vielleicht paradox erscheint: Beide Programme sind im wesentlichen k r i t i s c h gehalten, d. h., sie sind stark durch das Moment einer besseren und vernünftigen Zukunftsgesellschaft sowie durch die Praxis ihrer Herbeiführung geprägt und motiviert. Daß die Kritische Theorie einer Welt, die „nicht die ihre (ist), sondern die des Kapitals" 24 , Wege weist, sich zum bewußten Subjekt zu konstituieren, läßt sich sowohl vom Selbstverständnis als auch von den Institutsarbeiten her problemlos dokumentieren. Hier ist es natürlich der Wiener Kreis, für den eine konzise Beweisführung erforderlich wird. Identifiziert man aber zunächst den Logischen Empirismus n i c h t als atheoretische oder theorienfeindliche Gegebenheitslehre 25 ; akzeptiert man fernerhin den Charakter k o l l e k t i v e r Arbeit im Wiener Kreis und ordnet damit die sozialwissenschaftlichen Publikationen Neuraths als repräsentative Elemente des Gesamtprogramms ein; disqualifiziert man weiters die a u f k l ä r e r i s c h e n und „volksbildnerischen" Momente der ganzen Richtung nicht bloß vordergründig als Epiphänomene oder bürgerliche Missionierung; berücksichtigt man weiters, was für eine historische Rekonstruktion eigentlich selbstverständlich sein müßte, auch den i n o f f i z i e l l e n Diskussionsablauf im Wiener Kreis, die „ungebundene Rede" in Briefen, Notizen und dem anderen archivarischen Material; und inkludiert man schließlich all 23

24 25

O. Neurath: W e g e der wissenschaftlichen Weltauffassung, in ders.: Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. eins, S. 385. M. Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, a. a. O., S. 262. „Kurzum, man muß bereits eine ungefähre Theorie haben, um überhaupt richtig Fragen an die Beobachtungen stellen, um erfolgreich statistische Daten verbinden zu können" — so O . Neurath: Empirische Soziologie. D e r wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, in ders.: Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. eins, S. 500; selbst der frühe und rigorose „Logische Aufbau" Carnaps war ja schließlich kein Entwurf zur Elimination sondern zur K o n s t i t u t i o n theoretischer Terme.

D i e verspätete Aufklärung

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die kulturellen, politischen u. a. Dimensionen der f a s c h i s t i s c h e n Zeit, in der sie alle lebten; d a n n wird sich allerdings die These schwer abweisen lassen, daß der Wiener Kreis in seiner Offentlichkeitsphase, nicht früher u n d a u c h n i c h t s p ä t e r 2 6 die dominanten Embleme einer k r i t i s c h e n Bewegung führt. Denn keine v e r n ü n f t i g e sozialistische Gesellschaft hätte je auf Topoi wie Wissenschaftslogik, enzyklopädische Integration oder bildsprachliche Kommunikation verzichten können; und keine w i r k l i c h e faschistische Gesellschaft hat je derlei bei sich erübrigt oder gar forciert. Aus einer anderen Blickrichtung gesehen: „ D i e k r i t i s c h e T h e o r i e ist v o n a n d e r e m S c h l a g . S i e k e h r t s i c h g e g e n d a s W i s s e n , auf das m a n p o c h e n kann. Sie k o n f r o n t i e r t G e s c h i c h t e mit der M ö g l i c h k e i t , d i e stets k o n k r e t in ihr s i c h t b a r w i r d " 1 7 .

Wenig charakterisiert die „geistige Situation" der dreißiger Jahre besser als der Hinweis, daß die Arbeiten des Wiener Kreises sich nicht zum Pochen eigneten; und daß in der klassischen Frage des Logischen Empirismus nach der B e d e u t u n g von Ausdrücken bereits bruchstückhaft das bessere Leben schien. Der Verbund von Wiener Kreis und Kritik war damit sicherlich f r a g i l und an die Existenz sehr s p e z i f i s c h e r Randbedingungen geknüpft. Aber andererseits — Programme für a l l e Jahreszeiten taugen in k e i n e r besonders gut 28 . e) Aber diese kritisch-aufklärerische Intention war nicht bloß Sache der sozialen Umgebung; d i e W i s s e n s c h a f t s e l b s t sollte, und hier liegt wohl die tiefste Verbindung dieser zwei Richtungen, auf diese kritischen Impulse hin restrukturiert werden. Mit der Diffusion einer kapitalistischen Weltökonomie war bekanntermaßen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine zunehmende I n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g und P r o f e s s i o n a l i s i e r u n g des Wissenschaftsgefüges verbunden. Damit setzte sich aber gleichzeitig ein disziplinarer Differenzierungsprozeß in

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Horkheimers Positivismuskritik war damit einige Jahre z u f r ü h angesetzt; 1937 mußte der Logische Empirismus erst zu dem werden, als den ihn Horkheimer attackiert. M. Horkheimer: Autoritärer Staat, in ders.: Gesellschaft im Übergang. Aufsätze, Reden und Vorträge 1942—1970, herausgegeben von W. Brede, zweite Auflage, Frankfurt am Main 1981, S. 23. Zur kontingenten Allianz von Wiener Programm und Gesellschaftskritik vgl. speziell R. Hegselmann: Otto Neurath — Empiristischer Aufklärer und Sozialreformer, in O . Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, herausgegeben von R. Hegselmann, Frankfurt am Main 1979, S. 53 ff.

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Gang, dem jedwede Feedbacks zu seinen Ursprungsdomänen fehlen 2 9 : Selbst Synthesebewegungen, wie etwa die versuchte Unifizierung von Soziologie und Psychologie führen bereits in der zweiten Wissenschaftlergeneration zur Kreierung einer dritten Disziplin, im gegenständlichen Fall der Sozialpsychologie. Es ist g e g e n diese jahrzehntelang g e s t ö r t e Kommunikation gerichtet, wenn Wien wie Frankfurt in der Zwischenkriegszeit eine innerwissenschaftliche Synthese quasi „von links" anstreben. Was Wien mit der Einheitswissenschaft, Frankfurt mit dem Konzept der Sozialforschung anvisieren, sind letztlich Versuche einer t r a n s d i s z i p l i n ä r e n R e o r g a n i s a t i o n 30 von Wissenschaft: Mit den Kongressen für Einheitswissenschaft und mit der projektierten Transformation aller Wissenschaftssprachen auf eine physikalistische Basis; mit den Publikationen des Frankfurter Instituts, die von sehr heterogenen Blickpunkten aus um dasselbe Stück einer immer transparenter werdenden Gesellschaftstheorie kreisen; mit alledem und anderem mehr sollte sukzessive die Kooperation zwischen Disziplinen i n s t i t u t i o n a l i siert, k o g n i t i v b e w e r k s t e l l i g t und e m a n z i p a t o r i s c h a u s g e r i c h t e t werden 31 . Diese kollektive Arbeit an der Wissenschaft, so beim Visionär N e u rath, antizipiert damit die ankommende sozialistische Zeit und ist — gleichzeitig ungleichzeitg — ein aktives Element auf dem W e g dorthin: 29

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31

Genau betrachtet laufen hier simultan zwei Prozesse: einerseits die Auffächerung in mehr und mehr Einzelwissenschaften (dazu siehe besonders W. Swoboda: Disciplines and Interdisciplinarity. A Historical Perspective, in J. Kockelmans (Hrsg.) : Interdisciplinarity. Reflections on Historical, Epistemological, Educational and Administrative Issues, University Park Pennsylvania 1978, S. 49—92); und andererseits die Transformationen dieser Fachdisziplinen selbst von „little science" zu „big science" (vgl. dazu das gleichnamige Buch von D. J. de Solla Price: little Science, Big Science. Von der Studierstube zur Großforschung, Frankfurt am Man 1974). Nach E. Jantsch bedeutet Interdisziplinarität die Existenz einer quer durch die Disziplinen laufenden Terminologie und Methodologie; Transdisziplinarität — wiederum nach Jantsch — impliziert eine disziplinenkonforme „Axiomatik" samt der dadurch evozierten sukzessiven A u f l ö s u n g disziplinärer Grenzen. Vgl. dazu E. Jantsch: Technological Planning and Social Futures, London 1972, S. 215 ff. Es könnte scheinen, als repräsentiere dieses normative Element speziell in der Kritischen Theorie, den letzten Rest aus vorwissenschaftlicher Zeit. (Vgl. etwa als Kritik H . Albert: Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, Tübingen 1982, besonders S. 31 ff.). Eine detailliertere Analyse als die vorliegende würde aber zeigen, daß sich diese emanzipatorische Intention über Steuerungsvariablen realisierte, die im Design der kanonisierten empirischen Sozialforschung als notwendige, aber nicht n ä h e r p r o b l e m a t i s i e r t e Entscheidungsprozesse firmieren (Problemselektion, „Intentionstiefe", Verwertungszweck etc.). In a l l e n diesen Punkten blieb die e m a n z i p a t o r i s c h e Ausrichtung mit e m p i r i s c h e r Forschung k o m p a t i b e l ; sie stellte z u s ä t z l i c h e Kriterien für ihre Anwendung bereit.

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„ D a s Bürgertum machte seine Revolution, als es bereits Professoren, Juristen, Verwaltungsspezialisten, Dichter in großer Zahl i n n e r h a l b der alten feudal-absolutistischen O r d n u n g erzeugt hatte; mit revolutionärer Kunst, mit Revolutionsliedern begann der Angriff. Anders das Proletariat. Es muß e r s t d i e G e s e l l s c h a f t s - u n d W i r t s c h a f t s o r d n u n g umstürzen, ehe es sich der Kunst und Wissenschaft führend bemächtigen kann. Wissenschaft und Kunst sind heute vor allem in den H ä n d e n der herrschenden Klassen und werden auch als W e r k z e u g des Klassenkampfes gegen das Proletariat verwendet. N u r eine kleine Zahl von Gelehrten und Künstlern stellt sich auf die Seite der kommenden Ordnung und setzt sich gegen jede Form reaktionärer Denkweise zur W e h r " n . D i e Kritische T h e o r i e , so M a x H o r k h e i m e r , bildet w e d e r v o n ihrem T h e m a h e r n o c h v o n d e r A r t i h r e r A r b e i t ein „ R a d in e i n e m M e c h a n i s m u s , d e r sich in G a n g b e f i n d e t " 3 3 : „Aus der rätselhaften Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, Verstand und Sinnlichkeit, menschlichen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung in der heute chaotischen Wirtschaft, dieser Übereinstimmung, die in der bürgerlichen Epoche als Zufall erscheint, soll in der zukünftigen das Verhältnis vernünftiger Absicht und Verwirklichung werden. D e r K a m p f um diese Zukunft spiegelt die Übereinstimmung gebrochen wider, indem ein Wille, der sich auf die Gestaltung der Gesellschaft im ganzen bezieht, bewußt schon im Aufbau der Theorie und Praxis wirksam ist, die dahin führen soll. In der Organisation und Gemeinschaft der K ä m p f e n d e n erscheint trotz aller Disziplin, die in der Notwendigkeit, sich durchzusetzen, begründet ist, etwas von der Freiheit und Spontaneität der Z u k u n f t " 3 4 .

4. Der

Abbruch

Viele und andere Parallelen oder Unstimmigkeiten zwischen Frankf u r t u n d W i e n m ü s s e n hier u n g e s t r e i f t b l e i b e n : m e t h o d o l o g i s c h e Ä h n lichkeiten w i e die S e p a r i e r u n g v o n G e n e s e u n d G e l t u n g 3 5 ; d i e p a r t i e l l e T r e n n u n g v o n normativen und empirischen A u s s a g e n 3 6 ; die B e s o n d e r -

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O . N e u r a t h : D i e 'Philosophie' im K a m p f gegen den Fortschritt der Wissenschaft, in ders.: Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. zwei, S. 572. M. H o r k h e i m e r : Traditionelle und kritische Theorie, a.a.O., S. 269. Ebda., S. 271. Vgl. etwa M. H o r k h e i m e r : Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, Z f S J g . I (1932), S. 1. Vgl. etwa M. H o r k h e i m e r : Materialismus und Metaphysik, Z f S J g . II (1933) besonders S. 9 ; oder ders.: Materialismus und Moral, Z f S J g . II (1933), speziell S. 181.

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heit sozialwissenschaftlicher Prognosen 3 7 ; die Offenheit, Unabgeschlossenheit beider Programme; disziplinäre Gemeinsamkeiten wie die H o c h schätzung der Psychoanalyse oder das virulente Interesse für Planungsökonomie; und auch die Divergenzen und Mängel aller Art wie etwa die vergleichsweise vielen sozialwissenschaftlichen Leerstellen im einheitswissenschaftlichen Design 3 8 ; die nicht nur ex post besehen völlig insuffiziente Ausarbeitung eines praktischen Rationalitätsprogramms im Wiener Kreis; der relativ unkritische Rekurs auf die zuhandenen Naturwissenschaften durch das Frankfurter Institut u.v.a.m. Die vorliegende Skizze strebte sicherlich nicht nach Vollständigkeit als ihrem Primärziel. B e i d e Programme bleiben jedoch unvollendet. Emigration, Weltkrieg und neue Milieus bedingen ihre Zersplitterung oder, im Fall des Frankfurter Instituts, ihren Perspektivenwechsel. Mißt man das, was s p ä t e r geschah, am Diktum Walter Benjamins „Ich bin entschlossen, unter allen U m s t ä n d e n m e i n e S a c h e z u tun,

aber

n i c h t u n t e r j e d e m U m s t a n d ist d i e s e S a c h e d i e g l e i c h e . S i e ist v i e l m e h r e i n e Entsprechende"39,

dann darf b e z w e i f e l t werden, daß nach 1945 E n t s p r e c h e n d e s geleistet wurde. Für die versprengten Reste des Wiener Kreises entfiel der stets brüchige Zusammenhalt von Programm und Kritik. Der transdisziplinäre Enzyklopädismus welkte rapide und die Systeme des „American way of life" oder der Sozialen Marktwirtschaft offerierten schließlich genügend ausgegrenzte Freiräume für den logischen Aufbau der Analytischen Philosophie. Aber auch die neue Frankfurter Globalsicht — „ D e r W e g der Gesellschaft, den wir schließlich zu sehen b e g a n n e n , und w i e w i r i h n h e u t e b e u r t e i l e n , ist g a n z a n d e r s . W i r s i n d z u d e r U b e r z e u g u n g g e -

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Mochte auch die Gesellschaft „Eine" sein, so war sie es doch in Wien und Frankfurt nicht im Hinblick auf das Potential ihrer zukünftigen Möglichkeiten. Zu den ähnlichen Konsequenzen, die sich daraus für die Interpretation und die Bedeutsamkeit von Prognosen im sozialen Kontext ergebe, vgl. beispielsweise M. Horkheimer: Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften, ZfS Jg. II (1933), S. 4 0 7 — 4 1 2 ; O . N e u rath: Grundlagen der Sozialwissenschaften, in ders. : Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. zwei, S. 925—978.

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Bereiche wie „Popular Culture"; Sozialpsychologie; Literatursoziologie, N a t i o n a l ö k o nomie etc; sie w a r e n im Wiener Kreis spärlich durchsetzt. G. Scholem: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975, S. 289.

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langt, daß die Gesellschaft sich zu einer total verwalteten Welt entwickeln wird. Daß alles geregelt sein wird, alles!"40 — bot wenig Raum für H o f f n u n g und stimulierte erst recht nicht dazu, die disziplinare Forschung noch z u s ä t z l i c h zu ordnen oder zu unifizieren. Nicht verwunderlich ist es daher, wenn sich langsam eine Inversion des Interesses festsetzt; wenn die a l t e Sprache in den a l t e n Programmen wieder die szientifische Neugierde weckt. Rekapituliert man nochmals die materiellen Bezugsebenen zwischen dem Wiener Kreis und der frühen Frankfurter Schule — ihr m u l t i d i s z i p l i n ä r e r Konnex, ihre a r b e i t s t e i l i g e Organisation, das i n t e r - und t r a n s d i s z i p l i n ä r e Design, ihre k r i t i s c h e Motivation — e x t e r n gegenüber der Gesellschaft und i n t e r n im Umgang mit der Wissenschaft selbst —, dann manifestieren sich darin Dimensionen eines Reflexionsniveaus und faktischer Problembewältigng, die sich über die Dekaden als ungebrochen innovativ erhalten haben. Die I n s t a n d s e t z u n g dieser Programme, samt den dazu nötigen Adaptionen, entspricht damit weniger einer archäologischen Pflicht denn der kritischen Tugend.

Literaturverzeichnis Adorno, T. W.: Einleitung zu ders. et al.: D e r Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, zweite Auflage, Darmstadt—Neuwied 1972. Albert, H . : Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, Tübingen 1982. Broch, H . : Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, Frankfurt am Main 1974. Carnap, R.: Logische Syntax der Sprache, zweite unveränderte Auflage, W i e n — N e w York 1968. Dubiel, H . : Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1978. Frank, Ph. : Albert Einstein. Sein Leben und seine Zeit. Mit einem V o r w o r t von Albert Einstein, Braunschweig—Wiesbaden 1979. Hegselmann, R.: Otto Neurath — Empiristischer Aufklärer und Sozialreformer, in O . N e u r a t h : Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, herausgegeben von R. Hegselmann, Frankfurt am Main 1979. Horkheimer, M.: Vorwort zur Zeitschrift f ü r Sozialforschung ( = ZfS) Jg. I (1932). —: —: —: —: 40

Bemerkungen Materialismus Materialismus Zum Problem

über Wissenschaft und Krise, ZfS Jg. I (1932). und Metaphysik, ZfS Jg. II (1933). und Moral, ZfS Jg. II (1933). der Voraussage in den Sozialwissenschaften, ZfS Jg. II (1933).

M. Horkheimer: Kritische Theorie gestern und heute, in ders.: Gesellschaft im Übergang, a.a.O., S. 165.

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Karl Müller

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HANS-JOACHIM DAHMS

Vertreibung und Emigration des Wiener Kreises zwischen 1931 und 1940* I. Einleitung Die akademische Emigration aus Mitteleuropa hat als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung in den Ländern, aus denen sie stattfand, nach 1945 ein merkwürdiges Schicksal gehabt. So erschien in der Bundesrepublik schon relativ früh, nämlich 1955, Helge Pross' kleines Buch „Die Deutsche Akademische Emigration nach den Vereinigten Staaten 1933—1941". Aber in den nachfolgenden 30 Jahren ist dann kaum zu diesem Thema gearbeitet worden. Erkenntnisse über die akademische Emigration kamen meist nur am Rande von Forschungen über die politische oder literarische Emigration zu Stande, und dürften deshalb wissenschafts- oder philosophiehistorisch Interessierten weitgehend unbekannt geblieben sein. Wer sich überhaupt mit dem genannten Thema beschäftigen wollte, mußte und muß sich heute noch an die in den Aufnahmeländern der Emigration, vor allem in den USA, erschienenen Standardwerke von Fermi (1968) oder von Fleming und Bailyn (1968) halten. Da diese die Emigration jedoch hauptsächlich aus der Perspektive des Aufnahmelandes sehen, kann man aus ihnen zwar einen Eindruck davon erhalten, welchen Gewinn die einzelnen Wissenschaftszweige und die gesamte Kultur in diesen Ländern durch die Emigration erfahren haben. Welchen unermeßlichen — und auf Generationen hin unwiderbringlichen 1 *

1

Dieser Aufsatz ist der einzige Beitrag dieses Bandes, der nicht auf der im Vorwort genannten Bielefelder Konferenz (auch nicht auszugsweise) vorgetragen wurde. Er entstand in den beiden ersten Monaten dieses Jahres, weil ein mehrfach angekündigter Beitrag zum Thema Emigration nicht beim Herausgeber eintraf. Für Anregungen und kritische Bemerkungen danke ich den Herren Becker (Göttingen), Dr. Hegselmann (Essen), Dr. Stadler (Wien) und Prof. Thiel (Erlangen). Die optimistische Bewertung von Thiel (1984, S. 255), „daß der Anschluß an den Ausbildungsstand und das Forschungsniveau der wissenschaftlich führenden Nationen erst im Laufe einer Generation und mit dem Heranwachsen einer neuen Wissenschaftlergeneration in Deutschland und Osterreich wiedergewonnen werden konnte", kann ich nicht teilen.

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— Verlust die faschistischen „Säuberungen" und die anschließende Emigration im wissenschaftlichen Bereich und der Kultur der Herkunftsländer angerichtet haben, wird jedoch meist nicht so leicht ersichtlich. Ziel der folgenden Bemerkungen ist es, diesen Verlust für einen kleinen Teilausschnitt, nämlich den Logischen Positivismus und seine Vertreter in Osterreich und der Tschechoslowakei anschaulicher zu machen. Für diese Bewegung sieht die Literaturlage ähnlich wie für die akademische Emigration im Ganzen aus: das schiere Faktum der Emigration Logischer Positivisten war in weiten Kreisen etwa der Bundesrepublik so weit in Vergessenheit geraten, daß Wolfgang Köhlers 2 1979 in einer Tageszeitung publizierte Erinnerung daran, daß es neben der Frankfurter Schule auch eine „andere" deutschsprachige Emigrationsphilosophie gegeben hat, schon einen gewissen Neuigkeitswert hatte. Seitdem sind — vor allem aus Anlaß der 50jährigen Wiederkehr der nationalsozialistischen Machtübernahme — einige Artikel erschienen, die sich mit dem Thema befassen wie die Arbeiten von Hegselmann (1983), Kamiah (1983) und vor allem Thiel (1984). Trotzdem muß auch hier jede Darstellung der akademischen Emigration ihren Ausgangspunkt bei dem schon genannten amerikanischen Standardwerk von Fleming und Bailyn nehmen. Denn dort hat Herbert Feigl, einer der letzten heute noch lebenden Exponenten des Wiener Kreises — dem wir im übrigen auch die Bezeichnung „Logischer Positivismus" als „Firmennamen" der Bewegung verdanken — einen Beitrag mit dem Titel „The ,Wiener Kreis' in America" veröffentlicht 3 . Wer sich ernsthaft für das Thema interessiert, wird um eine Lektüre dieses Artikels ohnehin nicht herumkommen. Die folgenden Bemerkungen sind deshalb auch nicht als Wiedergabe des Feigl-Artikels konzipiert, sondern verstehen sich als Bemühungen, das von ihm gezeichnete Bild in verschiedenen Richtungen zu ergänzen. Die Notwendigkeit solcher Ergänzungen ergibt sich schon aus dem Umstand, daß Feigl als allererster Emigrant des Wiener Kreises, der zudem zuletzt 1935 zu Besuch in Wien gewesen war, den Verlauf der Emigration nur aus der Ferne verfolgen konnte und besonders auf die Emigrationsmotive und markante auslösende Ereignisse kaum eingeht. Außerdem sieht Feigl wie schon Fermi die Emigration hauptsächlich aus dem Blickwinkel des wissen2 3

siehe W . Köhler (1979). im Folgenden zitiert nach Feigl (1981 c).

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schaftlichen Zugewinns für die USA und der dort bewirkten Veränderungen. Für den deutschen Sprachraum stellt sich dagegen natürlich auch die Frage des Verlusts und seiner Konsequenzen für die wissenschaftliche und philosophische Situation in den Nachfolgestaaten des früheren „Großdeutschen Reiches". Nach diesen Überlegungen fallen meine Bemerkungen in folgende Teile: Zunächst werde ich einige Vorbemerkungen über das Verhältnis von Logischem Positivismus und Faschismus* machen. Dann wird der Verlauf der Emigration des Wiener Kreises aus Wien und Prag in seinen verschiedenen Etappen geschildert. Schließlich wird kurz die Frage der Kontinuität des Logischen Positivismus — sowohl in den Aufnahme- als auch in den Herkunftsländern der Emigration — angeschnitten und eine Erklärungsskizze für das erstaunliche Auseinanderfallen von historischer Realität und späterem Eindruck vom „Positivismus" geliefert. Als Quellen ziehe ich dabei jeweils die autobiografischen Äußerungen von Vertretern und Zeitzeugen des Logischen Positivismus heran. Außer dem bereits zitierten Bericht Feigls sind dabei die Erinnerungen Carnaps 5 als eines weiteren prominenten Mitglieds des Kreises und von Popper 6 als seiner „offiziellen Opposition" besonders zu erwähnen. Hinzu kommen kürzere Äußerungen anderer Mitglieder, Erinnerungen von Verwandten, Bekannten und Freunden, wie sie in Erinnerungsbänden, Festschriften und Nachrufen zu finden sind. Nützlich waren mir auch die Einleitungen, Vor- und Nachworte zu Neuauflagen von Schriften der Logischen Positivisten sowie die inzwischen erschienene Sekundärliteratur, die gelegentlich auch schon ungedruckte Quellen wie Tagebücher und Briefe auswertet. Mein Versuch einer systematischen Zusammenstellung der jetzt schon zugänglichen Informationen wird aber zeigen, daß diese Quellen eine strengeren historischen Maßstäben genügende und auch Aktenmaterial und Interviews mit Zeitzeugen einbeziehende Untersuchung nicht ersetzen kann. Ich wäre schon zufrieden, wenn hervortritt, wo die hauptsächlichen Informationslücken liegen und entsprechender Recherchierbedarf besteht.

4

5 6

Unter den Oberbegriff „Faschismus" fällt dabei — unter anderem — der Austrofaschismus und der deutsche Nationalsozialismus. in: Schilpp (1963). in: Schilpp (1974).

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II. Logischer Positivismus

und Faschismus

Bevor ich mit der Schilderung des Verlaufs der Emigration beginne, ist eine Vorüberlegung angebracht, deren Ergebnisse sich dann auch als strukturierendes Auswahlmotiv f ü r das historische Material durch die folgenden Abschnitte ziehen wird. Ich meine die Frage des Verhältnisses von Logischem Positivismus und Faschismus. Für die wissenschaftliche Emigration trifft zu, was auch f ü r die Emigration ganz allgemein gilt, daß es nämlich sowohl rassische bzw. religiöse als auch politische G r ü n d e f ü r Vertreibung und Emigration gab. Zwar trafen in einer Anzahl von Fällen mehrere G r ü n d e gleichzeitig in einer Person zusammen. Im Deutschen Reich gilt das insbesondere hinsichtlich der wissenschaftlichen Emigration f ü r diejenigen H o c h schullehrer, die schon im April 1933 zwangsbeurlaubt wurden, bevor man sie dann später nach dem Berufsbeamtengesetz bzw. dem Reichsbürgergesetz entließ bzw. in den vorzeitigen Ruhestand versetzte. Im ganzen gesehen sind jedoch die Personen, die ausschließlich (oder auch) aus G r ü n d e n „politischer Unzulässigkeit" von den H o c h schulen vertrieben wurden, bei weitem in der Minderheit gegenüber den ausschließlich aus rassischen bzw. religiösen G r ü n d e n Verfolgten. Dies gilt auch f ü r die von den Universitäten vertriebenen und emigrierten Philosophen. Deutliches Zeichen d a f ü r , daß die Mehrzahl der damals im deutschen Sprachraum dominierenden philosophischen Schulen wie der Neukantianismus, die Phänomenologische Schule und die Lebensphilosophie Diltheyscher P r ä g u n g nicht schon wegen des Gehalts der von ihnen vertretenen Lehren oder einer besonderen Neigung zu im Faschismus als mißliebig angesehenen politischen Positionen von den H o c h schulen verdrängt w u r d e n , ist das Faktum, daß sie sich infolge der faschistischen Säuberungspolitik jeweils in eine Gruppe spalteten, die in die Emigration gehen mußte, und in eine andere, meist größere, die im Lande bleiben konnte. Ein ebenso deutlicher Hinweis f ü r die dem Faschismus feindliche H a l t u n g der „Frankfurter Schule" ist es, daß sämtliche ihrer Vertreter emigrierten, obwohl nicht alle von ihnen Juden waren. Wie sah es nun bei den Logischen Positivisten aus? Mußten sie gehen, weil sie „Nichtarier" waren oder weil sie — unabhängig von ihrer Abstammung — wegen ihrer politischen H a l t u n g oder ihrer philosophischen Lehre als „zersetzend" oder „unzuverlässig" galten? H i e r ist nun festzustellen, daß in der T a t viele Logische Positivisten, wenngleich auch

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bei weitem nicht alle und durchaus nicht so viele, wie die rechtsgerichtete Propaganda es seinerzeit glauben machen wollte, Juden waren 7 . Wenn das der Fall war, galt es aber in aller Regel nur im Sinne der nationalsozialistischen Definition des „Nichtariers", für den bereits ein Großelternteil mosaischen Glaubens ausreichte, und nicht im Sinne eines eigenen entsprechenden Glaubensbekenntnisses 8 . Aber wie stand es mit der „politischen Zuverlässigkeit": wären sozusagen die aus rassischen Gründen entlassenen bzw. die durch Emigration einer Entlassung zuvorkommenden Vertreter des Logischen Positivismus auch dann aus, politischen Gründen entlassen worden, wenn sie Arier gewesen wären, und wie sah es mit der „politischen Zuverlässigkeit" der „Arier" unter ihnen aus? Die Beantwortung dieser Fragen hat einerseits einen biographischen Aspekt, der in den weiteren Abschnitten dadurch behandelt wird, daß ich bei der jeweils kurzen persönlichen Vorstellung eines jeden Vertreters des Logischen Positivismus auf seine politische Haltung und Abstammung eingehe, soweit mir diese Verhältnisse bekannt sind 9 . Sie haben aber auch — mit dem biographischen Aspekt natürlich eng verbunden — eine inhaltliche Seite, die mit der Lehre des Logischen Positivismus und seiner Einordnung in die kulturelle und politische Landschaft der Zwischenkriegszeit zusammenhängt, die hier vorweg behandelt werden soll. Wie sieht also das inhaltliche Verhältnis von Logischem Positivismus und Faschismus aus? Eine Teilantwort auf diese Frage hat R. Hegselmann mit seinem Hinweis 10 gegeben, daß der Logische Positivismus sowohl mit seinen Maßstäben theoretischer als auch praktischer Rationalität im Gegensatz zum Faschismus gestanden habe. Allerdings ist es ihm schwergefallen, die Gegnerschaft von Positivismus und Faschismus auch durch Äußerungen zu belegen. Die Situation hier ist in der Tat merkwürdig. Man meint es mit Händen fassen zu können, daß Anhänger einer wissenschaftlichen Weltauffassung, die an den

7

8 9

10

Stadler spricht deshalb in Stadler (1979), S. 53 von „Antisemitismus ohne Judentum", Matejka (1983) von „Judisierung", die er als Kampfmittel am Beispiel Schlicks erläutert (S. 216 f.), Siehe zum Fall Schlick auch Siegert (1981). Siehe dazu die Angaben über Religionszugehörigkeit in Strauss/Röder (1983). Dabei waren mir besonders die Arbeiten von Mohn (1978) und Stadler (1979) nützlich. Weitere biographische Hinweise finden sich bei Thiel (1984) und in der dort auf S. 229 f. angegebenen Literatur. in Hegselmann (1973), S. 73.

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neuesten Entwicklungen in Mathematik und Physik anknüpften, sich schon von daher in prinzipiellem Gegensatz zu Strömungen sehen mußten, die diese Entwicklungen mit weniger wissenschaftlichen als vielmehr weltanschaulichen, rassischen und politischen „Argumenten" schon vor 1933 bekämpft hatten und nach Hitlers Machtübernahme die Zeit gekommen sahen, die Vertreter der verhaßten „undeutschen" Wissenschaften zu vertreiben und an ihre Stelle die Propagandisten von Konzepten wie „Deutsche Physik" und „Deutsche Mathematik" zu setzen. Daß die Anhänger einer wissenschaftlichen Weltauffassung zudem gleichzeitig häufig tatkräftige Vertreter von Ideen des Pazifismus, der Völkerverständigung und weitgehender sozialer Reformen waren und diese Parallelen von theoretischer und praktischer Einstellung auch öffentlich herausstellten, mußte diese Gegnerschaft noch verstärken. Das Eigenartige ist nur, daß sich in den Publikationen von Vertretern des Logischen Positivismus kaum direkte Auseinandersetzungen mit dem Faschismus nachweisen lassen". Die Gründe dafür kann man nur vermuten. Sie dürften außer in Hemmungen zu entsprechenden Analysen durch die mangelnde soziologische Vorbildung der meisten Logischen Positivisten hauptsächlich darin zu sehen sein, daß der Nationalsozialismus — zumindest aus österreichischer Sicht — vor der Machtübernahme wegen seiner wissenschaftlichen Dürftigkeit kein bevorzugtes Studienobjekt darstellte. Diese Machtübernahme selbst scheint aus Sicht der österreichischen Linken dann auch „unerwartet" gekommen zu sein. So hieß es etwa in der Mai-Nummer 1933 des „Kampf", des theoretischen Organs der österreichischen Sozialdemokratie, in dem auch Mitglieder des Wiener Kreises wie Otto Neurath und Edgar Zilsel regelmäßig publizierten: „Der deutsche Faschismus ist in dem Augenblick zur Macht gekommen, als er auf seinem Tiefpunkt in den letzten zwei Jahren stand" 12 , da die N S D A P Ende 1932 eine Wahlniederlage nach der anderen erlitten hatte, das Prestige der Partei erschüttert, ihre Kassen leer und wegen der Aktivitäten der Strasser-Gruppe eine Spaltung der Partei gedroht habe. Bei hypothetischen Wahlen im Dezember 1932 hätte die Partei ihren gesamten Aufstieg seit Anfang der 30er Jahre wieder verspielen können. Davor habe sie nur „die großkapitalistisch-feudale Clique, die Verschwörung Papen-Thyssen-Schacht-Kalckreuth"

siehe aber a u c h schon die A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit dem „Edelfaschisten" F r e y e r (so Zilsels C h a r a k t e r i s i e r u n g ) in Zilsel (1932). im Artikel eines „ G e r m a n i c u s " (1933).

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bewahrt. N u r eine „systematische und dauerhafte Erziehung zur Wahrhaftigkeit" könne eine ähnliche Niederlage der Arbeiterbewegung in Österreich verhindern. Zwischen dem Mai-Heft 1933 und dem Februar-Heft 1934 des „Kampf", der dann infolge der Niederlage in der militärischen Machtprobe zwischen österreichischer Arbeiterbewegung und Austrofaschisten verboten wurde, finden sich dann aber noch zwei hochinteressante Artikel von einem gewissen Rudolf Richter, nämlich „SA philosophiert" und „Das Dritte Reich und die Wissenschaft". Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich kein anderer als das Wiener-Kreis-Mitglied Edgar Zilsel ' 3 , der auch an unverkennbaren Ähnlichkeiten der Argumentation und des Stils mit seinen anderen „Kampf-Beiträgen unschwer als Autor zu erkennen ist. Warum Zilsel ebenso wie der Verfasser des soeben zitierten Artikels ein Pseudonym gewählt hat, ist nur zu vermuten: er fühlte sich wohl in seinen Stellungen als Wiener Mittelschullehrer und Dozent der Wiener Volkshochschule nach dem Dollfußputsch vom März 1933 gefährdet. Diese Einschätzung erwies sich durchaus als realistisch, da er Anfang 1934, also kurz nach dem Erscheinen seines letzten Artikels in der Dezember-Nummer des „Kampf" verhaftet wurde und in der Folge seine Stelle an der Volkshochschule verlor 14 . Da die beiden genannten Artikel Zilsels die einzigen Auseinandersetzungen von Vertretern des Logischen Positivismus mit dem Faschismus sind und bisher fast völlig übersehen wurden, werde ich ihren Inhalt und Stellenwert hier kurz schildern. Der erste Beitrag „SA philosophiert" 15 ist eine Analyse einer Hitlerrede, die dieser am 3.9. 1933 auf dem Nürnberger Parteitag der N S D A P gehalten hatte, als deren Verfasser Zilsel aber Goebbels oder Rosenberg vermutet. Diese Rede unterzieht Zilsel einer kritischen Betrachtung, weil sie als „philosophische Grundlage" der NS-Bewegung angesehen werden könne. Für bemerkenswert hält Zilsel dabei, daß das „Dritte Reich" im Unterschied zum „italienischen Gewaltstaat" überhaupt die „Bildungsschminke" benutze. Das erklärt er sich aus dem Umstand, daß „Hochschüler, Intellektuelle, Literaten in der aufsteigenden Nazibewegung" eine erhebliche Rolle gespielt hatten. Der Hauptzweck

13 14 15

siehe dazu Dvorak (1981), S. 29 und 102. Behrmann (1976), S. 44. siehe Zilsel (1933 b); wegen der relativen Kürze des Artikels gebe ich f ü r die folgenden Zitate keine Fundstellen.

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der Rede bestehe nun darin, den „faschistischen Gewaltapparat. . . mit beseeligendem Machtrausch zu erfüllen", ohne daß aber an dem kapitalistischen Privateigentum gerüttelt werde. Dieser Zweck solle durch eine Verbindung der bekannten nationalsozialistischen Rassendogmatik mit der Staatstheorie des Soziologen Gumplowicz (der von Zilsel als „Krakauer Jude" vorgestellt wird) erreicht werden. Die Kritik Zilsels richtet sich nun teils auf die deskriptive Falschheit der einzelnen Bestandteile dieser Verbindung, teils auf die Fragwürdigkeit ihrer Kombination, die sich in verschiedenen Inkonsequenzen niederschlage. "Wenn man nämlich sowohl Staats- als auch Eigentumsentstehung rassisch erklären wolle, dann müßten heute eigentlich die „heroischen SS- und SA-Leute . . . das ihrer angeborenen Höherwertigkeit entsprechende Privateigentum besitzen, die minderwertigen Zivilisten keines oder allenfalls ein weit geringeres". Zilsel läßt es jedoch bei der Konstatierung von „krassen Widersprüchen und biologischen und soziologischen Schnitzern" nicht bewenden. Auch bei bloßen Prognosen über das Schicksal des Nationalsozialismus bleibt er nicht stehen: zwar sei „die staatsphilosophische Grundlage des deutschen Faschismus . . . unhaltbar, widerspruchsvoll und verlogen. Widerwissenschaftliche Gebilde mögen in Zeiten eines primitiven Ackerbaus und eines traditionellen Handwerks viele Jahrhunderte überdauern; in der Zeit der Präzisionsmaschinen werden sie nicht alt werden". Aber sogleich fügt er dieser Prognose hinzu: „der bewaffnete faschistische Gewaltapparat (ist nicht, der Verf.) mit wissenschaftlichen Untersuchungen zu beseitigen. Da werden schon sehr andere Mittel notwendig werden". Entsprechend sieht Zilsel „gewaltsame und tränenreiche Befreiungsjahre" bevorstehen. Nach der Vernichtung des Faschismus und der Beseitigung des „kapitalistischen Irrsinns" sieht er dann eine Zeit kommen, „in der wissenschaftliche Erkenntnis und persönliche Freiheit eine Heimat haben werden. Und menschliche Güte". Diese Zeit hat Zilsel nicht mehr erlebt. Von größerem philosophie- und wissenschaftshistorischem Interesse ist dann Zilsels zweiter Artikel als Rudolf Richter, der in der Dezembernummer des „Kampf" erschienene Beitrag „Das Dritte Reich und die Wissenschaft" 16 . Um den Stellenwert dieses Beitrags abschätzen zu können, muß man wissen, daß außerhalb Deutschlands schon einiges über den Hitlerterror und seine Folgen veröffentlicht worden war. Besonders Zilsel (1933 c); hierfür gilt das Gleiche wie für Zitate aus dem vorhergehenden Artikel.

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ist etwa das im August 1933 in Basel erschienene und bald in 17 Sprachen übersetzte „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror" zu erwähnen. Es enthielt im Kapitel „Der Vernichtungsfeldzug gegen die Kultur" eine Zusammenstellung dokumentarischen Materials über Entlassungen von Hochschullehrern, die Bücherverbrennungen und die Vernichtung des Berliner Sexualwissenschaftlichen Instituts. Auch einige dem Wiener Kreis nahestehende Personen sind als Verfolgte erwähnt wie die beiden Mathematiker von Mises und Reidemeister, von denen der letztere selbst dem Wiener Kreis bis zu seiner Berufung nach Königsberg angehört hatte. Von einer systematischen Bewertung der eingetretenen Verluste für das wissenschaftliche Leben in Deutschland war diese Dokumentation aber noch weit entfernt. Eben diese Aufgabe setzt sich nun Zilsel in dem genannten Artikel. Er beginnt mit der Schilderung der Entfernung derjenigen Mitglieder der Universitäten, die „durch ihre wissenschaftliche Bedeutung, durch ihre Beziehung zum Sozialismus oder durch andere Umstände bemerkenswert erschienen". Dazu gehörten zunächst einmal die Gruppe der im April als erste Beurlaubten, darunter Emil Lederer, Gustav Radbruch, Hermann Heller, Max Horkheimer und der aus Osterreich stammende Hans Kelsen. Für Logische Positivisten sind natürlich die Philosophen und Naturwissenschaftler von besonderem Interesse. Zilsel erwähnt als aus politischen Gründen entlassene Philosophen den (zum damaligen Zeitpunkt schon in seinem Exil in Marienbad ermordeten) früheren Hannoveraner Philosophen Theodor Lessing, den Gießener von Aster 17 sowie den Breslauer Neukantianer Marek 18 . Von nichtsozialistischen Philosphen erwähnt Zilsel u. a. als „Führer des Neukantianismus" Ernst Cassirer. Allerdings ist bei Zilsel eine gewisse ideologisch bedingte Verengung des Blickfeldes nicht zu übersehen, wenn er etwa die Enlassung des philosophischen Neovitalisten Hans Driesch „besonders merkwürdig" findet, da auf ihn „im Grunde die ganze Ganzheitsphraseologie des Dritten Reichs zurückgeht", oder wenn er die Lehrstuhlniederlegung Eduard Sprangers kommentiert und dabei bemerkt, daß die geisteswissenschaftliche Richtung, der Spranger zuzurechnen sei, durch „metaphysische Sinndeutung, sterile Typeneinteilungen und hochtraVon Aster hatte auch schon in „Erkenntnis" veröffentlicht; siehe etwa von Aster/Vogel (1931). Marek hatte wie Zilsel im „Kampf" publiziert; interessant auch sein Beitrag zu Gumbel (1938), dem wichtigsten Sammelband von antifaschistischen Wissenschaftlern im Exil.

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bende Phraseologie" die exakte Ursachenforschung unterminiert und „als Schrittmacher des Faschismus gewirkt" habe. Gar nicht verwundert zeigt sich Zilsel dagegen über das Engagement Martin Heideggers für den Nationalsozialismus. Dieser war noch kurz vor Erscheinen des Artikels auf einer nationalsozialistischen Propagandaveranstaltung aus Anlaß der Reichstagswahlen vom 12. November 1933 und der gleichzeitigen Volksabstimmung über den Austritt aus dem Völkerbund hervorgetreten. Zilsels Charakterisierung Heideggers als eines Mannes, „der früher das ,nichtende Nichts' wesensgeschaut" habe, erinnert deutlich an die polemische Auseinandersetzung Carnaps mit Heidegger in „Uberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache", die Heideggers Freiburger Antrittsrede von 1929 als Anschauungsmaterial für — nach dem Kriterium der Verifizierbarkeit — sinnleeres Gerede ausgeschlachtet hatte, bevor Heidegger sich kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bis zu seiner Rektoratsniederlegung im Frühjahr 1934 als Befürworter der Nationalsozialisten 19 zu betätigen begann. Insofern schwingt bei Zilsels Bemerkung: „schmählicherweise waren auch instinktlose Sozialisten auf seinen übersinnlichen Schwatz hineingefallen" auch ein gewisser Stolz darüber mit, daß dies den Logischen Positivisten jedenfalls nicht passiert war. Angesichts der Schwerpunkte des Logischen Positivismus und auch der physikalischen Vorbildung und der Interessen Zilsels ist es nicht überraschend, daß er die nationalsozialistischen „Säuberungen" in den Naturwissenschaften und hier insbesondere in der Mathematik und Physik breiter darstellt. Denn: „Geradezu gewütet h a t . . . der deutsche Faschismus in den exaktesten Wissenschaften, in Physik und Mathematik". Zilsel beginnt hier mit dem Rücktritt Einsteins von seiner Stelle in der Berliner Akademie der Wissenschaften als Protest gegen die nationalsozialistische Rassenpolitik und spart bemerkenswerterweise nicht mit vorsichtiger Kritik. Denn Einstein habe „kaum den richtigen Weg gewählt" und „in gewisser Hinsicht. . . sogar ungewollt der Denkweise des dritten Reiches Hilfsdienste geleistet". Denn deutsche Kultur und Wissenschaft würden wohl etwas länger leben als die „Hitlerschande". Dann wird die Demontage der Naturwissenschaften in Göttingen, der „Weltmetropole der Mathematik", angeprangert. Für die Physik wird besonders die Lehrstuhlniederlegung des Nobelpreisträgers von 1925 James Franck erwähnt, der, obschon „Nichtarier", gleichwohl als „Frontkämpfer" des 19

siehe dazu die Arbeiten von Ott.

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ersten Weltkriegs nicht vom „Arierparagraph" des Berufsbeamtengesetzes betroffen gewesen wäre 2 0 . Als Konsequenz davon, daß „Einstein, Schrödinger, Laue, Max Born, James Franck von den Gleichschaltern aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb ausgeschaltet" waren, sieht Zilsel, daß „an den Hochschulen Deutschlands, die bis vor kurzem die Welt befruchtet haben, die mathematisch-physikalische Forschung von den Faschisten einfach niederträchtig für Jahrzehnte zertrümmert worden" sei. Möglicherweise, um die deutschen Vertreter des logischen Positivismus vor Verfolgung zu schützen, vielleicht aber auch, weil sie bis dahin zum großen Teil keine akademisch einflußreichen Stellungen hatten erreichen können, erwähnt Zilsel als einziges ehemaliges Mitglied des Wiener Kreises den in Königsberg entlassenen Kurt Reidemeister („Großmütter in Ordnung; sucht den Denunzianten") und das Mitglied der zum Wiener Kreis parallelen Berliner „Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie" 203 Wolfgang Köhler. Köhler, „der jene Zusammenhänge, an die dann die ,Ganzheits'-Phraseologen ihre Mythologie anknüpfen, seit langem exakt zu untersuchen bemüht" sei, habe schon im Frühjahr eine Warnung vor störenden Eingriffen in den Wissenschaftsbetrieb veröffentlicht. Andere Mitglieder der „Berliner Gesellschaft" wie von Mises und Reichenbach werden jedoch nicht erwähnt, obwohl sie bereits zu diesem Zeitpunkt entlassen worden waren. Wichtig an Zilsels Beitrag ist, daß er nicht nur den personellen Verlust und seine Folgen betrachtet sowie die Frage der Neubesetzung der so „freigewordenen" Stellen, sondern auch institutionelle Faktoren einbezieht, wie etwa die Einführung des Führerprinzips in die Hochschulverwaltung, die Einführung von Geländesportlagern als Habilitationsvoraussetzungen, den Druck auf Verlage und Buchhandel. 20 20a

siehe zu diesen Vorgängen Dahms (1985 a) und Rosenow (1985). Auf die „Berliner Gesellschaft" kann ich im Rahmen dieser Darstellung ebensowenig eingehen wie auf die Göttinger und Miinsteraner Gruppen, mit denen der Wiener Kreis kooperierte. Für eine Gesamtdarstellung des logischen Positivismus wäre das ebenso unerläßlich wie die Einbeziehung der Kooperation mit den polnischen Logikern und verschiedenen skandinavischen Gruppen. Zur Orientierung verweise ich für die „Berliner" auf Stadler (1982 b), S. 207—212 und Thiel (1984), S. 232 ff., für die „Göttinger" auf Rosenow (1985), Schappacher (1985) und Thiel (1984), S. 235 ff. und f ü r die „Münsteraner" auf Thiel (1984), S. 250 ff. Die Münsteraner Gruppe um Heinrich Scholz ist von den genannten deutschsprachigen Gruppen die einzige gewesen, die nicht ganz oder in ihrer großen Mehrheit emigrierte wie die anderen und dadurch eine gewisse Kontinuität in der Behandlung der mathematischen Logik in Deutschland sicherstellen konnte.

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Zilsel kann sich nicht vorstellen, daß der Faschismus ein Auseinanderklaffen von wissenschaftlicher Forschung und effektivem Wirtschaftsbetrieb auf längere Zeit überleben könnte. Denn: „Die Gleichschaltung des Denkens, das Verbot der wissenschaftlichen Kritik wird zuerst und schnell alle politisch belangvollen Wissenschaften zerstören; langsam würde die Entwöhnung, Gedanken zu prüfen, bevor man sie annimmt, weitergreifen und sämtliche anderen Theorien vernichten, auch die der Politik am fernsten stehenden; eine die Autoritäten kommentierende Scholastik einerseits, eine verschwommene Mythologie andererseits würde an die Stelle der gesamten Wissenschaft treten; allmählich würden die Erfinder zu fehlen beginnen, die neue Maschinen ausdenken, dann die Ingenieure, die die gebräuchlichen berechnen, bauen und reparieren und zuletzt wären keine Arbeiter mehr da, die sie imstand halten und bedienen könnten. Wer die Wissenschaft isoliert betrachtet, mag das für eine Übertreibung halten; wer soziologisch denkt, dem ist es eine schauerliche Selbstverständlichkeit". Zilsel ist sich aber sicher, daß der Faschismus schon lange, bevor es soweit kommt, „in Blut und Tränen untergehen wird" und daß „unsere Zeit, die Zeit des Sozialismus . . . nahe bevor" steht. D a f ü r scheint er sich aber schon auf längere Zeiträume eingestellt zu haben, denn dies solle geschehen, „bevor auch nur Jahrzehnte vergangen sein werden". Man solle auf jeden Fall, „wenn der T a g da sein wird, energisch tun, was notwendig ist". Für Österreichs Sozialdemokraten und Gewerkschafter war dieser Tag schon 2 Monate nach Erscheinen des Artikels gekommen. Obwohl sie anders als die deutsche Arbeiterbewegung „energisch taten, was notwendig ist" und der faschistischen Heimwehr bewaffneten Widerstand leisteten, waren sie den besser bewaffneten Kräften des Gegners nicht gewachsen. Es fragt sich nun natürlich, wie repräsentativ Zilsels Stellungnahmen gegen den Faschismus für den Wiener Kreis und die Bewegung des logischen Positivismus insgesamt waren. Es kann hier aber kein Zweifel darüber bestehen, daß die bedingungslose Gegnerschaft gegen den deutschen Nationalsozialismus im logischen Positivismus ganz allgemein war. Für den linken Flügel des Wiener Kreises mag dies nicht verwundern. Erwähnenswert ist immerhin, daß auch Rudolf Carnap, der sich mit den Exponenten des linken Flügels politisch völlig einig wußte, sich aber für weniger begabt hielt, seinen Standpunkt in der Öffentlichkeit auch wirkungsvoll zu vertreten,

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sich in öffentlichen Vorträgen in Brünn und Bratislava „offen über die Lage in Deutschland, Österreich, Italien und über die Auflösung des Mach-Vereins" ausgesprochen hatte 21 . Die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wurde vom rechten Flügel des Wiener Kreises voll geteilt. So soll Moritz Schlick in seinem „Haß gegen den Nationalsozialismus" die Publikation eines antinationalsozialistischen Pamphlets in der Schweiz geplant haben 22 . Angesichts seiner früheren Bekanntschaft mit Einstein (den er schon seit 1910 kannte), weiter seiner von Einstein geschätzten Publikation über die allgemeine Relativitätstheorie und des Umstands, daß die neue Physik im Dritten Reich als „entartet" ausgerottet werden sollte, ist Schlicks H a ß schon aus wissenschaftsimmanenten Gründen verständlich, von seiner freidenkerischen Weltanschauung einmal ganz abgesehen. Warum es zu der geplanten Publikation nicht gekommen ist, wissen wir nicht. Auch der als „gemäßigter" Vertreter der „Berliner Gesellschaft" geltende von Mises hat eine entsprechende Publikation geplant, die auch unter dem Titel: „Die Mathematik und das dritte Reich" im Manuskript existieren soll 23 . Ihr Inhalt ist mir nicht bekannt. Möglicherweise ist er Mises' dann später im türkischen Exil erschienenen „Problèmes des deux races" verwandt. Die Arbeit soll nach Ludwig Marcuses Angabe 24 eine Formel enthalten, die auf deutsch ausgedrückt lautet: „Es besteht eine Wahrscheinlichkeit von 85 % , daß das Talent der deutschen Juden für Physik und Chemie mindestens 20mal, höchstens 42mal größer ist als das der deutschen Nichtjuden". Unterschiede der beiden Flügel des Wiener Kreises haben sich in der Einschätzung des Faschismus also nicht in der Beurteilung des N a tionalsozialismus niedergeschlagen, wohl aber gab es — zumindest zeitweise — Differenzen in der Beurteilung des Austrofaschismus. Diese zeigten sich besonders in den Reaktionen auf die Auflösung des Vereins Ernst Mach, des Popularisierungsorgans des Wiener Kreises, die später noch beschrieben werden soll. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist nur wichtig, daß Moritz Schlick sich im Sinne der „Wahl des kleineren Übels" vom autoritären Dollfußregime erhofft hatte, daß dieses die „Ausbreitung jenes (nationalsozialistischen, der Verf.) Geistes mit allen Kräften verhindert". Für diese Fehleinschätzung Schlicks ist nun wohl 21 22 23 24

Stadler (1982 b), S. 204. ebenda, S. 202 und Fußnote 340 auf S. 276. Mohn (1978), S. 238, besonders Fußnote 6. Marcuse (1960), S. 166.

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nicht nur „seine akademische Trennung von Wissenschaft und Politik" 25 verantwortlich zu machen, sondern vor allem der Umstand, daß das Dollfußregime zumal an der Universität Wien Maßnahmen angeordnet hatte, die in der Tat den Anschein antinationalsozialistischer Absichten zu bestätigen schienen. Denn der Ständestaat hatte an allen österreichischen Universitäten immerhin zehn nationale bzw. nationalsozialistische, aber nur zwei liberale und einen sozialdemokratischen Professor aus politischen Gründen von ihren Posten entfernt, während einer der führenden Austromarxisten, Max Adler, bis zu seinem Tode im Jahre 1937 weiter Vorlesungen an der Universität halten konnte 2 6 . Ahnlich wie sich einige der entlassenen Nationalsozialisten sogleich als Märtyrer der Bewegung ins Deutsche Reich aufgemacht hatten und dort einigen Einfluß gewannen 2 7 , hatten sich in umgekehrter Richtung schon vorher Professoren aus dem Deutschen Reich nach Osterreich geflüchtet und hatten dort eine Anstellung bekommen. Einer davon, der antinazistische katholische Weltanschauungsphilosoph Dietrich von Hildebrand, war Schlicks Kollege am Philosophischen Seminar geworden 2 8 . Die bei Schlick zu beobachtende anfangs mildere Beurteilung des Ständestaates, die durchaus auch in gewissen sozialdemokratischen Kreisen anzutreffen war, dürfte sich später — nicht zuletzt nach den noch zu schildernden Erfahrungen von Mitarbeitern seines Instituts mit dem Ständestaat — relativiert haben. Es ist angesichts der Gegnerschaft des logischen Positivismus zum Nationalsozialismus und auch (von Schlicks zeitweise illusionärer Einschätzung des Dollfußregimes abgesehen) zum Austrofaschismus kein Wunder, daß die Faschisten ihrerseits im logischen Positivismus ihren Gegner sahen. Dies drückt sich natürlich in einer bestimmten Haltung des Staates seinen Vertretern gegenüber aus, die von ihm von den Hochschulen vertrieben wurden. Es schlägt sich aber auch in den Schriften der philosophischen Parteigänger des Faschismus nieder, der im Positivismus in der T a t „eine Variante des Kulturbolschewismus" 29 sah.

" 26 27

28 29

so Stadler (1982), S. 202. Weinzierl (1981), S. 79. so der ehemalige Rektor der Universität Wien von Gleispach, der Kurse der nationalsozialistischen „Dozentenakademien" leitete, an die sich — als einziger deutscher Philosophieprofessor, der sie durchlaufen mußte — nach 1945 offenbar nur Gadamer (1977), S. 56 f. erinnern konnte. Stadler (1979), S. 49. S o Hegselmann (1983), S. 73.

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Diese Einschätzung kommt besonders bei den Reaktionen auf bestimmte Ereignisse wie die Auflösung des Vereins Ernst Mach oder die Ermordung Schlicks heraus. Aber auch in den in der faschistischen Ära gedruckten Philosophiebüchern ist sie zu verfolgen. Dort nahm sie allerdings nicht immer die Form einer Mischung von derartig unverhülltem H a ß und profunder Ahnungslosigkeit an, wie in den von Thiel 30 mitgeteilten Äußerungen eines L. G. Tirala. Eine Kombination von frontaler Ablehnung und gleichzeitiger weitgehender Unkenntnis ist hier allerdings ebenfalls die Regel. Dies trifft auch auf die von Viktor Kraft in seinem Buch über den Wiener Kreis genannten Walter Del Negro und Gerhard Lehmann zu. So schildert Del Negro in seinem mehr populär gehaltenen Buch „Die Deutsche Philosophie der Gegenwart" im Kapitel „Der Positivismus und verwandte Richtungen" die „positivistische Einstellung" als „das geistesgeschichtliche Korrelat der Industrialisierung und Verstädterung, der reinen Zivilisation und des Intellektualismus" 31 , eine nach den damaligen Konnotationen insbesondere von „Industrialisierung" und „Verstädterung" ziemlich „unfreundliche" Kritik. Uber den Neopositivismus des Wiener Kreises heißt es dann: „Der Neopositivismus hat den heftigsten Kampf nicht nur gegen Metaphysik, sondern gegen alle philosophischen Bemühungen überhaupt aufgenommen, hat die ,Schulphilosophie' mit Spott und Verachtung überschüttet und ihre Daseinsberechtigung rundweg abgeleugnet. Er verbindet Machs sensualistische Vorstellungen mit der Logistik, also der mathematisierten Logik und sucht seinen Aufstellungen durch das logistische Gewand den Anschein unüberbietbarer Exaktheit zu geben. Die Neuerung gegenüber Mach liegt also allein auf formalistischem Gebiet" 32 . Das anspruchsvollere Werk Gerhard Lehmanns bespricht in einem Kapitel „Phänomenalistische Wirklichkeitstheorie" in einer gemischten Gesellschaft von Hans Driesch, H u g o Dingler, Heinrich Maier und Erich Jaensch auch Rudolf Carnap. Sich 1943 noch „mit der logistisch verfahrenden Naturphilosophie, insbesondere mit den Gedanken des ,Wiener Kreises' zu beschäftigen", hielt Lehmann weder „für sehr zeitgemäß noch für sachlich erforderlich" 3 3 . Für Carnap macht er eine Ausnahme, nicht ohne ihn als „Emigranten" zu kennzeichnen und dadurch 30 31 32 33

Tirala (1936), zitiert nach Thiel (1984), S. 251. Del N e g r o (1942), S. 7. a. a. O., S. 8. Lehmann (1943), S. 256.

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von vornherein als suspekt hinzustellen. N a c h d e m er Carnaps Arbeiten bis 1928, insbesondere den „Logischen Aufbau der Welt" mehr oder weniger zutreffend referiert hat, kommt er zu dem Ergebnis: „Die Naivität des Anspruchs, mit solchen (unzulänglichen) Mitteln die Welt zu „konstruieren", bleibt jedenfalls unverkennbar" 3 4 . Demgegenüber gibt es nur sehr wenige Autoren, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus einigermaßen informiert und korrekt mit dem logischen Positivismus auseinandergesetzt haben. D a z u gehört das offenbar aus Versehen noch 1935 in zweiter Auflage gedruckte Buch „Philosophie der Gegenwart" des schon längst wegen „politischer U n z u verlässigkeit" aus dem Staatsdienst entlassenen Ernst von Aster und mehrere Arbeiten von Max Bense, der noch 1941 in seinem kleinen Buch „Aus der Philosophie der Gegenwart" mit seinen Kapiteln „Erweiterung der Logik" und „Erneuerung der Erkenntnistheorie" über den logischen Positivismus informativ berichtet und anscheinend sich auch f ü r das Erscheinen von Heinrich Scholz' „Metaphysik als strenge Wissenschaft" eingesetzt hat 3 5 . Nach diesen Überlegungen dürfte es hinreichend klar sein, daß den Vertretern des logischen Positivismus ihr Emigrationsschicksal nicht als zufällige Nebenfolge des Umstands, daß einige von ihnen Juden waren, zugestoßen ist, sondern unabhängig von rassischen Gesichtspunkten in der Gegnerschaft der von ihnen vertretenen „wissenschaftlichen Weltauffassung" mit der Ideologie und Praxis des Faschismus begründet war. D e m Verlauf der Emigration müssen wir uns nun zuwenden. III. Der Verlauf der Emigration Bevor ich mit der Schilderung der verschiedenen Etappen der Emigration des Wiener Kreises beginnen kann, sind einige Bemerkungen zu seiner Zielsetzung und Mitgliedschaft angebracht. Zur inhaltlichen Charakteristik des Wiener Kreises muß ich auf meinen Einleitungsartikel sowie auf die ähnlich gelagerten Bemühungen von Hegselmann und Karnitz verweisen 36 . D a ß die positive A n k n ü p f u n g an die Ergebnisse und Arbeitsmethoden der neuen Logik, Mathematik und Physik und die Ablehnung jeder Religion und Metaphysik im geisti34 35

3

'

a. a. O., S. 299. siehe zu Bense auch Thiel (1984), S. 251; zu dessen Eintreten für Scholz siehe das Vorwort von Scholz (1941). Hegselmann (1979), S. 1 0 - 1 8 und Karnitz (1973), S. 116 ff.

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gen Umfeld der Zwischenkriegszeit in Osterreich und besonders in Deutschland von vornherein eine Frontstellung innerhalb des Wissenschaftsbereichs gegen die späteren Vertreter von Konzepten von „Deutscher Physik" und „Deutscher Mathematik" und außerhalb des akademischen Betriebs gegen klerikale und gegenaufklärerische Kräfte implizierte, ist schon betont worden. Zum Verständnis des Folgenden ist es aber wichtig, noch auf einige weitere Punkte hinzuweisen: zum einen waren am Wiener Kreis (wie auch an der Berliner „Gesellschaft") Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen beteiligt, zum anderen setzte er sich aus Personen ganz unterschiedlichen Alters und entsprechend auch ganz verschiedener Stellung in der akademischen Hierarchie — vom fortgeschrittenen Studenten bis zum Lehrstuhlinhaber — sowie auch aus Nichthochschulangehörigen zusammen. Diese enzyklopädische Zusammensetzung sind ebenso wie die Hochschulgrenzen überwindende Popularisierung Teile des Selbstverständnisses des „Kreises" und, gemessen an den sonst damals im Universitätsbereich anzutreffenden Zirkeln, völlig ungewöhnlich. Besonders die beabsichtigte Außenwirkung schlug sich einerseits in der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, der „Erkenntnis", sowie von verschiedenen Veröffentlichungsreihen wie den „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung" und der Veranstaltung von eigenen Tagungen wie denen von Prag 1929 und Königsberg 1930 und später großen internationalen Kongressen nieder 37 . Andererseits wurde Außenwirkung im Bereich der Wiener Volkshochschule und Erwachsenenbildung und im Schulwesen betrieben. Für die letzteren Zwecke hatte sich der Wiener Kreis im Verein Ernst Mach ein eigenes Popularisierungsorgan geschaffen. Für die Schilderung der Emigration kommt es zunächst jedoch hauptsächlich auf die Frage an, wer im einzelnen Mitglied des Kreises war. Da so etwas wie Vereinssatzungen nicht existierten, sondern offenbar nur Kreismitglied wurde, wer von Moritz Schlick zu seinen „Donnerstagabenden" eingeladen wurde, ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Ich verlasse mich für das Folgende auf die der Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis" 38 als Anhang beigegebene Liste von Mitgliedern und dem Kreise nahestehenden Autoren, wenngleich unter Weglassung einiger Namen, die später nicht 37 38

Siehe dazu Thiel (1984), S. 244—48. abgedruckt in Haller/Rutte (1981), S. 2 9 9 - 3 3 6 .

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mehr wissenschaftlich hervorgetreten sind. Es handelt sich also um: G u stav Bergmann, Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Philipp Frank, Kurt G o dei, Hans Hahn, V i k t o r Kraft, Karl Menger, O t t o Neurath, Olga Hahn-Neurath, Moritz Schlick und Friedrich Waismann. Dazu ist wohl auch noch von den als „nahestehend" bezeichneten Edgar Zilsel zu zählen 3 9 und, wenngleich mit gewissen Abstrichen, Felix Kaufmann 4 0 . Später kam noch Bela von Juhos hinzu. V o n den Genannten hielt sich allerdings Frank als Professor für theoretische Physik in Prag nur besuchsweise in Wien auf, ebenso wie seit 1931 Rudolf Carnap, so daß man von einer Filiale des Kreises in Prag sprechen kann. Die Auswanderungsbewegung von Mitgliedern des Wiener Kreises läßt sich nun in folgende Abschnitte teilen : 1. bis zum Februar 1934, 2. vom Februar 1934 bis zum Juni 1936 3. vom Juni 1936 bis zum M ä r z 1938 4. nach dem M ä r z 1938. Die grobe Einteilung dieser Abschnitte ist dabei durch die markanten Ereignisse des Februar 1934, die Ermordung Schlicks 1936 und den „Anschluß" Österreichs an das Deutsche Reich 1938 gegeben. Nicht jede beliebige grenzüberschreitende Wanderung ist schon per se als Emigration zu bezeichnen. Mit Helge Pross verstehe ich im folgenden unter Emigration „die unfreiwillige Auswanderung von einzelnen oder von Gruppen in ein fremdes Land" 4 1 . Pross erläutert den für die Definition zentralen Begriff der „Unfreiwilligkeit" dann so: „Sie (die Emigration, der Verf.) ist die Folge direkter oder indirekter — politischer, sozialer, religiöser oder ökonomischer — Achtung, die dem G e ächteten nur die Alternative läßt, entweder zu emigrieren, oder mit der Verkümmerung bzw. dem Ende seiner bisherigen Existenz zu rechnen. D e r Geächtete gerät ohne persönliches Verschulden in eine Zwangslage, die durch eine entscheidende Veränderung in den politischen Bedingungen des Staates heraufbeschworen ist. Die Obrigkeit zwingt also (direkt oder indirekt) zur Emigration" 4 2 . Welchen Interpretationsspielraum der Begriff der Unfreiwilligkeit bzw. des Zwangs noch lassen, wird an den 39

40 41 42

D i e unterschiedlichen Ansichten zu Zilsels Mitgliedschaft stellt D v o r a k ( 1 9 8 1 ) , S . 30 dar. siehe dazu den Artikel von I. Helling in diesem Band. Pross ( 1 9 5 5 ) , S . 18. ebenda.

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ersten grenzüberschreitenden dauerhaften Wanderungen von Mitgliedern des Wiener Kreises nach dessen öffentlicher Konstituierung deutlich. 1. bis zum Februar 1934 Denn im Jahre 1931 verließ Rudolf Carnap Wien, um eine Stelle in Prag anzunehmen, Herbert Feigl ging in die USA, um dort zunächst ein Stipendium und anschließend eine Stelle anzutreten. Handelte es sich dabei, drei Jahre vor den Februarereignissen des Jahres 1934, schon um Emigration, also um unfreiwillige Wanderung? Für Carnap liegt der Fall relativ klar: er war jedenfalls kein Jude bzw. „Nichtarier". Andererseits war ihm vor seiner Ankunft in Wien im Jahre 1926 der Ruf eines „roten Professors" 4 3 vorausgeeilt. Schon vor dem ersten Weltkrieg hatte sich Carnap in Jena bei den Wandervögeln engagiert, war auf der Jahrhundertfeier des „Hohen Meißner" des freideutschen Jugendtages dabei und bei dieser Gelegenheit zum „Leiter des Druckamtes" 4 4 bestimmt worden. Nach dem ersten Weltkrieg hatte Carnap den „Aufruf an die Freideutsche Jugend", herausgegeben von der „Demokratisch-sozialistischen Gruppe der Freideutschen Jugend", mitunterzeichnet, einer Gruppe, die sich am „Revolutionssonntag", dem 10. 11. 1918 konstituiert hatte 45 . Insofern konnte Carnap in seiner Autobiographie mit Recht schreiben: „Thus the general trend of our political thinking was pacifist, antimilitarist, anti-monarchist, perhaps also socialist" 46 . Auch nach seiner Ubersiedlung 1926 nach Wien war Carnap als „somewhat Utopian social reformer" bekannt. Vielleicht war er bei seiner Habilitation im Jahre 1926 gerade wegen seines politischen Hintergrunds einer Feuerprobe hinsichtlich seiner religiösen Kenntnisse unterzogen worden. Er wurde nämlich gefragt, ob er die Lehre von der Allgegenwart Christi kenne. Das mußte er zwar verneinen. Glücklicherweise konnte er ihren ungefähren Inhalt aber erraten. Daraufhin war Carnap habilitiert worden, anders als das spätere Kreismitglied Edgar Zilsel, dessen Habilitation man mit fadenscheinigen Vorwänden torpediert hatte 47 . 43 44 45 46 47

Mohn (1978), S. 11. a. a. O., S. 93; siehe dazu auch Neider (1977), S. 28. Mohn (1978), S. 84. a. a. O., S. 9. Zu diesen Vorgängen siehe Stadler (1979), S. 48 f.

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Da Carnap selbst sich zu seinem Weggang nach Prag nicht anders äußert, hatte er dafür wohl aber ausschließlich berufliche Gründe. Auf die ungleich schwieriger zu beantwortende Frage, ob sein Weggang von Prag in die USA ein Fall von Emigration ist, komme ich noch zurück. Anders als bei Carnap lag die Sache 1931 bei Herbert Feigl. Denn Feigl war jüdischer Abstammung 4 8 und hatte die Folgen dieses Umstands schon bei seinem Studienbeginn 1921 in München zu spüren bekommen. Dort war „twelve years before Hitler's rise to power, the anti-Semitism . . . already quite noticeable" 49 . Feigl ging dann nach Wien und promovierte dort 1928 bei Moritz Schlick. Schlick war auch davon überzeugt, daß sein Lieblingsschüler sich in Wien habilitieren und damit Privatdozent werden könnte. Aber nach Lage der Dinge war das eine zu optimistische Einschätzung. Denn das sprichwörtliche „Privatdozentenelend" des wissenschaftlichen Nachwuchses hatte sich in Folge der Weltwirtschaftskrise weiter verschärft und zu einer allgemeinen Verschlechterung der Anstellungsmöglichkeiten an den Hochschulen geführt. Zusätzlich hatte sich nun aber im Zusammenspiel von nationalsozialistischen Studenten und Hochschullehrern der „deutschen Gemeinschaft", die regelmäßig Proskriptionslisten jüdischer und politisch unerwünschter Hochschullehrer zirkulieren ließen 50 , die Atmosphäre so weit verschlechtert, daß Feigls Einschätzung „that my chances for a teaching position in an Austrian or German university were extremely slim" 51 durchaus realistischer was als Schlicks Hoffnungen. Wie Menger bemerkt, galten derartige Schwierigkeiten nicht nur für Philosophen wie Feigl, sondern auch für Mathematiker und sogar solche vom Kaliber Kurt Gödels und Abraham Walds 52 . Solche Schwierigkeiten zwangen auch gelegentlich zu Umorientierungen im Studium und anschließenden Karrieren außerhalb der Wissenschaft. Bestes Beispiel im Wiener Kreis dafür ist wohl der Werdegang Gustav Bergmanns. Bergmann hatte — unter anderem bei Karl Menger — ein Studium der Mathematik begonnen, promovierte dann in Philosophie (1928) und ließ dann 1935 noch eine juristische Promotion folgen. Anschließend ging er bis zu seiner Emigration 1938 einer juristi-

48 49 50 51 52

Feigl (1981b), S. 1. a. a. O. S. 5. Stadler (1979), S. 52 f. Feigl (1981 c ) S . 73. Menger (1979), S. 17.

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sehen Tätigkeit nach 52a . Vor diesem Hintergrund kann man bei Feigl, der beschloß, sich nach der Beendigung eines Studienaufenthalts in den USA auf eine Stelle an amerikanischen Universitäten zu bewerben und damit auch schließlich Erfolg hatte, durchaus schon von Emigration sprechen". Denn der österreichische Staat war schon 1931 nicht mehr in der Lage oder willens, das Gleichheitsgebot seiner Verfassung auch für Angehörige rassischer Minderheiten zu garantieren. Feigl wird es im übrigen nicht gerade begeistert haben, daß man sich vor seiner Einstellung in den USA unter anderem erkundigt hatte: „Is he a Jew?". Anders als das in Osterreich geschehen wäre, hatte der so befragte C. I. Lewis darauf geantwortet: „I am sure I don't know, but if he is, there is nothing disturbing about it" 54 . Das Jahr 1933 hatte trotz der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und vor allem dem anschließenden Dollfußputsch in Osterreich (mit der Auflösung des Parlaments, Beschränkungen der Pressefreiheit, Verbot der kommunistischen Partei etc.) keine weiteren Auswanderungen von Mitgliedern des Wiener Kreises ausgelöst. Aber der österreichische Freidenkerbund, einer der Träger des Vereins „Ernst Mach", war aufgelöst worden und der Weg des Vereins damit eigentlich vorgezeichnet 55 . Auch die Entwicklung der Verhältnisse in Deutschland hatte Unruhe und erste Reaktionen ausgelöst. Otto Neurath, der in diesem Jahr noch nicht emigrierte, sah sich nach einem geeigneten Aufenthaltsort für die Fortsetzung seiner Arbeiten an der bildstatistischen Aufklärungsarbeit nach Wiener Methode um, die er im Wiener „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum" initiiert und zu weltweitem Ansehen gebracht hatte 56 . Interessant dabei ist, daß er trotz gerade laufender Arbeiten im Rahmen eines Werkvertrages mit der Regierung der Sowjetunion und trotz der später vielfach fälschlich aufgetauchten Gerüchte, er sei Kommunist, Moskau nie ernstlich als Exilort in Erwägung gezogen hat 57 . Prag, das nach der Machtübernahme Hit52a 53

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57

Thiel (1984), S. 230. Feigl sieht sich selbst als Emigranten; siehe dazu Feigl (1981 b) S. 7 und Thiel (1984), S. 229. D a s Lexikon von Strauss/Röder berücksichtigt Feigl w e g e n der Wahl des „Stichtages" nicht. Feigl ( 1 9 8 1 c ) , S. 54. Stadler (1982 b) S. 194 ff. siehe dazu Hegselmann ( 1 9 7 9 b ) S. 47 ff. und vor allem den Ausstellungskatalog über die Arbeit des Museums von Stadler (1982 a). siehe dazu und zum Folgenden die Erinnerungen von Marie Neurath in M. N e u r a t h / C o h e n (1973), S. 62 ff.

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lers vielen deutschen oppositionellen Parteien, Gruppen und Individuen als Zufluchtsort diente, wurde ihm von einem Bekannten, einem tschechischen Minister ausgeredet. Die USA und auch Großbritannien lagen wohl andererseits von seinem Heimatland schon zu weit weg, so daß Neurath als Standort für seine „International Foundation for Visual Education" Den H a a g (Niederlande) wählte, das immer noch im Zweifelsfall „free access to the western world" 5 8 zu bieten schien. Nach ähnlichem Muster, wenngleich in wesentlich größerem Maßstab hatte zuvor in Deutschland Max Horkheimer die Umsiedlung seines Frankfurter Instituts für Sozialforschung vorbereitet Das Jahr 1933 brachte aber noch ein besonderes Ereignis mit sich, das schon andeutet, daß die Position des Wiener Kreises im damaligen Nazideutschland schon in jedem Fall unhaltbar geworden wäre. Dort hatte es nämlich H u g o Dingler für richtig gehalten, dem Vorwort zu seinem Buch „Grundlagen der Geometrie" einige Bemerkungen beizugeben, die die „zeitnahe Denkweise" Dinglers wie auch die prekäre Situation des logischen Positivismus im deutschen Faschismus beleuchten. Dingler schrieb im genannten Vorwort unter anderem : „Das rein formalistisch-rechnerische Denken, welches den Kalkül nicht als vielfach nützliches Hilfsinstrument, sondern als die Sache selbst, als das Absolutum betrachtet (Einstein, der sog. Wiener Kreis, Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie in Berlin, Kreis der Zeitschrift ,Erkenntnis' bei Felix Meiner, im Bereiche des Naturphilosophischen besonders auch die Zeitschrift ,Die Naturwissenschaften' von Arnold Berliner), und das eine so starke Analogie zur sinnlosen Verabsolutierung von Organisationsformen im politischen Bolschewismus (auch in soziologischer und personeller Richtung) zeigt, wird hier in seiner vollen Unfruchtbarkeit und Hohlheit nachgewiesen und im Gegensatze dazu dem wirklich schaffenden Tun und schöpferischen Denken des Menschen in der Idee wieder sein volles Recht gegeben" 60 . Diesen Angriff auf „die ganze Richtung" hatte Dingler dann noch mit einer persönlichen Spitze auf Hans Reichenbach, der zusammen mit Carnap Herausgeber von „Erkenntnis" war, versehen: „Die Ausführungen dieser Schrift sind natürlich nur für den bindend und überzeugend,

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ebenda. Jay (1976), S. 48 ff. Dingler (1933), S. IV.

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der die Regeln des logischen und systematischen Denkens anerkennt. Diese Bemerkung ist heute leider nicht mehr überflüssig. U m sich nämlich den recht unangenehmen Wirkungen streng systematischen D e n kens auf den Bestand der Relativitätstheorie und ihrer Annexe, die sich in steigendem Maße geltend machen, rechtzeitig zu entziehen und diese Wirkungen zu neutralisieren, schreiten die Relativisten zur Leugnung der logischen Regeln und Gesetze. S o proklamiert H e r r Hans Reichenbach, Einsteins nominierter Leibphilosoph . . . dem Sinne nach etwa, daß die Logik etwas sei, das von dem jeweils,obersten' Physiker jeweils festgesetzt werden müsse (offenbar so, daß dessen ,Theorie' dabei richtig wird)..."61. Dinglers Handlungsweise ist bemerkenswert. E r hatte sich in den zwanziger Jahren vor allem als Kritiker der Einsteinschen Relativitätstheorie einen Namen gemacht und dabei den Umstand, daß er letzter Assistent Ernst Machs gewesen war, wohl nicht immer ganz korrekt ausgeschlachtet 6 2 . Mit dem Wiener Kreis hatte er trotzdem gute Beziehungen gepflegt. S o hatte er mit Carnap vor dessen Fortgang nach Wien in regem Gedankenaustausch gestanden, ohne Carnap freilich von der Falschheit der Relativitätstheorie überzeugen zu können 6 3 . Auch in der von ihm nunmehr so heftig kritisierten „Erkenntnis" hatte er schon selbst publiziert und hier waren auch seine Publikationen besprochen worden 6 4 . Sein persönlicher Angriff auf Reichenbach als „Leibphilosoph Einsteins" (auf Einsteins K o p f hatten die Nationalsozialisten immerhin eine Prämie von 50 000 Reichsmark ausgesetzt) 6 4 3 mußte Reichenbach als Versuch erscheinen, ihn als Herausgeber der „Erkenntnis" unmöglich zu machen und womöglich die Einstellung oder „Gleichschaltung" der Zeitschrift zu bewirken. Reichenbach reagierte prompt mit einer E r klärung „In eigener Sache" 6 5 , in der er Dinglers Erklärungen der Sache und der Form nach kritisierte. Dabei sah er sich genötigt, „noch auf die

61

a. a. O . , S. VI. Die Hypothese, daß Dingler 1 9 3 4 , „wie es heißt wegen lobender Ä u ßerungen über die Leistungen Einsteins" (Thiel ( 1 9 8 4 ) , S. 2 4 2 ) , seine Stelle an der T H Darmstadt verloren habe, ist nach den hier zitierten Äußerungen nicht besonders gut gestützt. Falsch auf jeden Fall ist die Ansicht, Dinglers „ W e n d e gegen die m o derne theoretische Physik" sei „wenig später" (ebenda), also erst nach seiner Entlassung „sichtbar" geworden.

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siehe dazu die Arbeiten von Wolters.

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S o C a r n a p in Schilpp ( 1 9 6 3 ) , S. 15. siehe von A s t e r / V o g e l ( 1 9 3 1 ) . W i c k e r t ( 1 9 7 2 ) , S. 9 4 . Reichenbach ( 1 9 3 4 ) .

64 64a 65

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politische Entgleisung hinzuweisen, die Herrn Dingler in diesem Zusammenhang passiert ist. Unsere wissenschaftliche Richtung dadurch bekämpfen zu wollen, daß man sie mit dem politischen Bolschewismus in Zusammenhang bringt — das ist ein Verfahren, gegen das sich aller wissenschaftliche Anstand sträuben sollte. V o r allem dann, wenn es sich um eine Zeitschrift handelt, die durch die rein sachliche Auswahl ihrer Mitarbeiter ihre politische Unabhängigkeit gezeigt hat, und die, der Natur ihres Interessengebiets nach, mit Politik schlechterdings nichts zu tun hat" 66 . Diese Erklärung und eine Dingler ebenfalls bloßstellende des H e r ausgebers Felix Meiner bewahrte die „Erkenntnis" wohl nur deshalb vor der unmittelbaren „Säuberung" und „Gleichschaltung", weil bei ihr als einer internationalen Zeitschrift mit Reichenbach ein — damals schon von der Hochschule entlassener und zudem emigrierter — Jude als H e r ausgeber hingenommen werden mußte. Es wäre sicher interessant zu erfahren, wer die „gelehrten Kreise" gewesen sind, die später nach Äußerungen Meiners gegen den Verlag mit Hinweis auf den jüdischen Mitherausgeber „unter der Oberfläche agitiert" hatten und es „für unmöglich befinden, in einem Verlag etwas zu veröffentlichen, der noch irgendwelche Beziehungen zu Juden hat" und mit ihren Säuberungsforderungen noch über die Vorstellungen des Reichserziehungsministeriums hinausgingen 67 . Der geschilderte Vorgang ist nun in zweierlei Hinsichten von historischem Interesse. Erstens nämlich ist schon der Zeitpunkt von Dinglers Vorgehen bemerkenswert: diese Attacke ist sicherlich einer der allerersten Versuche zur Gleichschaltung des philosophischen Zeitschriftenwesens im Dritten Reich. Die einflußreichen „Kantstudien" kamen etwa erst 1935 an die Reihe 68 . Auch die Versuche von Vertretern der „Deutschen Physik" und „Deutschen Mathematik", bei denen Dingler wiederum eine führende Rolle spielte, das naturwissenschaftliche Zeitschriftenwesen gleichzuschalten, datieren erst von 1935 69 . Sie blieben weitgehend erfolglos und führten in der Folge zur Gründung eigener Zeitschriften wie der „Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft" und der „Deutschen Mathematik".

67

68 69

a. a. O. S. 76. alle diese Zitate aus einem Brief Meiners an Carnap v o m 14. 9. 1937, zitiert nach Hegselmanns Beitrag in diesem Band, S. 279. siehe dazu D a h m s (1985 b). siehe Richter (1980), S. 126.

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Zweitens hatten diese Vorgänge nach 1945 noch ein ausgedehnteres Nachspiel. Viktor Kraft interpretierte nämlich an einer der wenigen Stellen, an denen er überhaupt auf den politischen Stellenwert des Wiener Kreises und des Logischen Positivismus eingeht, Reichenbachs Erklärung als ein Indiz dafür, daß „eine politische Tendenz, wie sie Neurath manchmal in die Veröffentlichungen hineinzutragen versuchte und wie sie Dingler . . . dem Wiener Kreis vorgeworfen hat" mit seinen Bestrebungen, „die rein philosophische waren, nichts zu tun" gehabt habe 70 . Man fragt sich, was Reichenbach, der gewiß wie Neurath, H a h n und Carnap eine enge Verbindung von wissenschaftlicher Weltauffassung und radikaler Gesellschaftsreform sah, in seiner speziellen Situation als enger Freund Einsteins und bereits von den Nationalsozialisten an der Universität Berlin entlassener und mittlerweile nach Istanbul emigrierter Hochschullehrer anders hätte tun sollen. Daß er zwar keine Analogie zwischen „formalistisch-rechnerischem Denken" und einer „sinnlosen Verabsolutierung von Organisationsformen im politischen Bolschewismus", aber eine enge Verbindung zwischen den aufklärerischen Intentionen wissenschaftlicher Weltauffassung und einer sozialistischen Gesellschaftsreform sah, hätte er wohl kaum in eine Erklärung schreiben können, deren Ziel die Kontinuität der „Erkenntnis" sein sollte. 2. Vom Februar 1934 bis zum Juni 1936 Die Februarereignisse des Jahres 1934, bei denen der Widerstand der Osterreichischen Arbeiterbewegung von den militärisch überlegenen Kräften der faschistischen Heimwehren unter Mithilfe des Osterreichischen Bundesheeres niedergeschlagen wurde, markierte für diese Bewegung mit dem Verbot der Sozialdemokratie und den Hunderten ihr angeschlossenen Unterorganisationen und mit ihr verbundenen Gruppen einen tiefen Einschnitt 71 . Auch für den Wiener Kreis waren die Folgen weitgehend, denn sie führten einerseits zur Emigration seines politisch exponiertesten Mitglieds und unermüdlichen organisatorischen Motors Otto Neurath und zum Verbot seines Popularisierungsorgans, des Vereins Ernst Mach. Äußerungen von Mitgliedern des Kreises zu diesen Ereignissen, wie die bereits erwähnten von Carnap, hat es zwar gegeben,

70 71

Kraft (1951), Fußnote 1 auf S. 3 f. siehe dazu neuerdings die eindrucksvollen Ausstellungskataloge von Maimann (1981) und Maimann/Mattl (1984) sowie die dort angegebene Literatur.

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aber sie sind mir dem Inhalt nach nicht bekannt. In der Kommentierung Poppers („the final suicide of the Social Democratic Party brought about the end of democracy in Austria" 72 ) werden die Opfer der Ereignisse mit den Tätern vertauscht. Wesentlich plausibler scheint es mir, davon auszugehen, daß das Faktum des bewaffneten, wenn auch erfolglosen Widerstandes es der österreichischen Arbeiterbewegung wesentlich leichter als der deutschen gemacht hat, nach 1945 von neuem zu beginnen. Wie sahen nun die Folgen der Februarereignisse für den Wiener Kreis aus? Otto Neurath hatte den Februar in Moskau verbracht 73 , wo er Arbeiten im Rahmen eines Werkvertrags mit der sowjetischen Regierung zu erledigen hatte. Währenddessen war in Wien in seinem Gesellschaftsund Wirtschaftsmuseum eine polizeiliche Hausdurchsuchung durchgeführt worden, bei der man sich besonders für seine Personalakte interessiert hatte, was seine damalige Mitarbeiterin und spätere Frau Marie geb. Reidemeister sich nur damit erklären konnte, daß Neurath als Kommunist denunziert worden sein mußte. Sie warnte daraufhin Neurath telegraphisch und verschlüsselt, nicht nach Wien zurückzukehren und statt dessen in die Tschechoslowakei zu Carnap zu gehen. Durch Vermittlung eines österreichischen Konsuls in Schweden bekam Neurath einen Paß ohne die verräterischen sowjetischen Visa und emigrierte über Polen und Dänemark — das Deutsche Reich weiträumig umfahrend — in sein vorbereitetes Exil in Den Haag. Seine Frau Olga, mit der zusammen er mehrere Arbeiten über logische Themen verfaßt hatte, folgte kurze Zeit später von Wien aus. Damit war gerade das politisch exponierteste Mitglied des Wiener Kreises das erste, das Wien nach 1933 den Rücken kehrte. Diese Tatsache wird erklärlich, wenn man bedenkt, daß Neurath gleichzeitig bei weitem auch das gefährdetste Mitglied gewesen sein dürfte. Zwar hatte er nicht etwa zum Parteivorstand der SDAPÖ gehört. Aber seine exponierte Stellung in der österreichischen Siedlungsbewegung, im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und als regelmäßiger Autor in führenden austromarxistischen Organen hatten ihn schon lange in rechten Kreisen unliebsam gemacht. Deutlicher Ausdruck dafür ist die Schlie72 73

so Popper in Schilpp ( 1974), S. 8 5. siehe dazu und zum Folgenden die Erinnerungen Marie Neuraths in M. Neurath/ Cohen 1973), S. 62.

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ßung des Museums, die in der — inzwischen im Brünner Exil erscheinenden — Mai-Nummer 1934 des „Kampf" als wichtiges Resultat der „Zerstörung der österreichischen Volksbildung" angeprangert wurde: „Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Otto Neuraths hat man beseitigt, weil man seine Methoden der Bildstatistik für ,marxistisch' oder bolschewistisch' hält" 74 . Erst recht war eine Gefährdung Neuraths im Deutschen Reich gegeben, da die nationalsozialistische Regierung einen ehemaligen „Novemberverbrecher", als der Neurath als hoher Funktionär der Sozialisierung in der bayerischen Regierung H o f f m a n n und auch später noch in der kurzen Phase der Räterepublik 75 ja in der NS-Diktion galt, sicherlich nicht — auch nicht als Ausländer — ungeschoren das Reichsgebiet hätte passieren lassen. Was mit Neurath hätte geschehen können, läßt sich ermessen, wenn man das spätere Schicksal seines Sohnes Paul zum Vergleich nimmt. Dieser war nämlich 1934 zur Fortsetzung seines Studiums in Wien geblieben 75a und gehörte dann nach dem „Anschluß" 1938 zu den ersten österreichischen Häftlingen, die in das KZ Dachau (und später nach Buchenwald) gebracht wurden 7 5 b . Die weiträumige Umfahrung des Hitlerreiches auf dem Fluchtweg nach Holland war insofern dringend nahegelegt. Mit Neurath verlor der Wiener Kreis zunächst einmal seinen organisatorischen Motor und den Mann, der — wenngleich nur als Z.Vorsitzender hinter dem als Repräsentationsfigur vorgeschobenen Moritz Schlick — den Anschluß des Kreises an die Wiener progressive Volksbildungsszene im Verein Ernst Mach in Gang gehalten hatte. Das zweite Resultat der Februarereignisse für den Wiener Kreis war nun, daß dieser Verein polizeilich verboten wurde. Das Verbot ist im Rahmen des Verbots des S D A P Ö und ihrer Organisationen und Suborganisationen zu sehen. Denn in seiner Begründung hieß es, daß es „amtsbekannt (sei, der Verf.), daß er für diese Partei tätig war und noch ist" 76 . Schlicks persönliche Vorstellung beim zuständigen Beamten Ende Februar und ein ausführliches Protestschreiben änderten am Verbot nichts mehr. Wesentlich später wurde es mit gleicher Begründung durch 74 75 75a 75b

76

Brägel (1934); siehe dazu neuerdings Exenberger (1983). siehe dazu den Beitrag von Mohn in diesem Band. P. Neurath in M. N e u r a t h / C o h e n , S. 38. Strauss/Röder S. 859; siehe dazu auch seine nach Freilassung und Emigration in die USA (1941) geschriebene Doktorarbeit „Social Life in the German Concentra^ tion Camp Dachau and Buchenwald". Stadler (1982b), S. 196.

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Vermögenseinzug und Löschung im Vereinsregister abgeschlossen. Auf Einzelheiten des Vorgangs braucht hier nicht eingegangen zu werden. Immerhin ist erwähnenswert, daß Schlick den Verein in seinem Brief als „absolut unpolitisch" hinstellte und sich insbesondere um den Nachweis bemühte, daß er trotz der Zusammensetzung seines Vorstands, der Adresse des Vereinssitzes im Wiener Arbeiterviertel und einer Rede des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Otto Bauer im Verein nicht mit der sozialdemokratischen Partei zu tun gehabt habe. Er sei selbst jedenfalls nie in seinem Leben Mitglied einer Partei gewesen „am allerwenigsten der sozialdemokratischen" 77 . Es wundert nicht, daß Neurath und Carnap gegen den Inhalt des Briefes Stellung nahmen. Der Rückschlag für den Wiener Kreis wurde im selben Jahr noch durch ein weiteres Ereignis verstärkt, das allerdings nicht im Zusammenhang mit den Februarereignissen zu sehen ist. Ich meine den Tod Hans Hahns. In gewissem Sinne ist es sicher nicht übertrieben, wenn Philip Frank in seinem Nachruf in „Erkenntnis" von H a h n „als dem eigentlichen Begründer des ,Wiener Kreises'" 78 spricht. Denn schon vor dem ersten Weltkrieg hatte H a h n mit Frank und Neurath einem Diskussionszirkel angehört, der als Keimzelle des späteren Wiener Kreises angesehen werden kann. Der 1921 von Bonn nach Wien berufene H a h n hatte dann nach dem ersten Weltkrieg gegen erheblichen Widerstand die Berufung Moritz Schlicks ein Jahr später betrieben und auch als erster in seinem Seminar die „Principia Mathematica" von Russell und Whitehead sowie Wittgensteins „Tractatus" behandelt. Auch in öffentlichen Vorträgen war H a h n verschiedentlich als Verfechter der Ideen des Kreises aufgetreten. Sein T o d war insbesondere aber auch ein Verlust für den linken Flügel des Wiener Kreises und die Linke auf der Universität Wien insgesamt, denn in der Tat war Hahn „a socialist of deep conviction" 79 gewesen, der „in several phases of the social-democratic movement" aktiv gewesen war. So war H a h n Obmann der kleinen, aber sehr aktiven „Vereinigung sozialistischer Hochschullehrer" in Wien gewesen und hatte sich schon sofort nach seiner Berufung durch Proteste gegen rassische Diskriminierung von Studenten den Zorn nationaler Kreise zugezogen 80 . Sein Name — er war nach seiner Abstammung Jude — er77 78 79 80

a. a. O., S. 198. Frank (1934); siehe zum Folgenden auch die Einleitung von Menger in H a h n (1980). Menger in H a h n (1980), S. XVII. Stadler (1979), S. 52 f.

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schien mehrfach auf Proskriptionslisten gegen jüdische und marxistische Professoren. Er mußte sich Diffamierungen wegen der „Wühlereien der judäo-marxistischen Hochschullehrer" gefallen lassen. Als die Polizei bei den Juli-Ereignissen 1927 81 unter demonstrierenden Zivilisten ein Blutbad angerichtet hatte und der Universitätsrektor zu einer Spende für die Opfer aus den Reihen des Polizeikorps aufrief, hatte H a h n sofort mit einer Spende an das „Hilfskomitee der sozialdemokratischen Partei und Gewerkschaft" reagiert 82 , ein Vorgehen, das wiederum in bezeichnendem Gegensatz zu Poppers Einstellung zu den genannten Ereignissen steht. Popper hatte die Politik der sozialdemokratischen Führung in diesem Zusammenhang „irresponsible and suicidal" 83 genannt. Über die Hochschule hinaus hatte sich H a h n als Mitglied des Wiener Stadtschulrates für die Wiener Schulreform engagiert. Auch außerhalb Österreichs war Hahns Name durch seine Unterschrift als einziger Ausländer unter die „Protesterklärung republikanischer und sozialistischer Hochschullehrer" 8 4 vom Juli 1931 gegen das Vorgehen der Deutschen Studentenschaft gegen den Heidelberger sozialistischen und pazifistischen Statistikprofessor Emil Gumbel bekannt geworden. Diese Liste ist weitgehend identisch mit der Liste der ersten Opfer nationalsozialistischer „Säuberungen" im Lehrkörper der deutschen Hochschulen. Hahns Lehrstuhl wurde später nicht wieder besetzt 85 . Dem Nachruf auf Hans H a h n geht in „Erkenntnis" unmittelbar der Bericht Kurt Greilings über den 8. Internationalen Philosophiekongreß in Prag voraus, der mit der Prager Vorkonferenz für den 1935 in Paris geplanten „ersten Kongreß für Einheit der Wissenschaft" verbunden war. Auf dem Prager internationalen Kongreß beherrschten die logischen Positivisten in vielen Sektionen schon die Szene. Wesentliche Kontakte ins Ausland wurden hier geknüpft. Hier begann die Internationalisierung der Bewegung des logischen Positivismus in großem Maßstab. Angesichts der gleichzeitigen Verhältnisse in Wien muß man jedoch zu dem Schluß kommen, daß die Internationalisierung die Kehrseite des Umstands ist, daß der logische Positivismus an seinem Ursprungsort Wien jede Möglichkeit öffentlicher Wirksamkeit eingebüßt hatte. Dieser 81 82 83 84 85

siehe dazu Kulemann (1979), S. 347 ff. Stadler (1979), S. 53. in Schilpp (1974), S. 85. abgedruckt in Gumbel (1979), Anhang S. 9 f. Stadler (1979), S. 51.

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Zusammenhang ist von den Vertretern der Bewegung auch durchaus so gespürt worden. So schreibt Gustav Hempel rückblickend: „Der stärkste Antrieb zur Verbreitung des logischen Empirismus bestand tragischerweise in dem Aufbrechen der Wiener, Berliner und anderer Gruppen unter dem ideologischen Wahnsinn und dem Terror des Nationalsozialismus" 86 . Nach 1934 hatte Moritz Schlick den Wiener Kreis — nun ausschließlich als akademischen Zirkel und ohne weitere öffentliche Wirkungsmöglichkeit — weitergeführt. Währenddessen mußte er erleben, daß seine Mitarbeiter und er auch im akademischen Bereich immer geringere Gestaltungsmöglichkeiten hatten. Bezeichnend dafür ist das Schicksal Friedrich Waismanns, der mit Herbert Feigl zusammen zu den Lieblingsschülern Schlicks gehört hatte. Waismann hatte am Philosophischen Institut zunächst unentgeltlich als wissenschaftliche Hilfskraft, seit 1930 als Bibliothekar gearbeitet 87 . Im Januar 1936 wurde die Nichtverlängerung seines Vertrages verfügt, eine Aktion, die im Zusammenhang mit entsprechenden Vertragsauflösungen bei (gleichfalls jüdischen) Assistenten bei Schlicks Kollegen Reininger und Bühler zu sehen ist. Schlicks Protest blieb ungehört, sein Vorschlag, Waismann wenigstens als wissenschaftliche Hilfskraft anzustellen, wurde kommentarlos übergangen. Dabei hatte Waismann sich schon durchaus einen Namen in der Philosophie gemacht. Unter seinen publizierten Arbeiten und Vorträgen war ein Aufsatz über das Reduzibilitätsaxiom und vor allem seine Prager Rede über die „Logische Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs", die die erste publizierte Fassung des berühmten Verifizierbarkeitsprinzips enthielt und auch Carnaps spätere Konzeption einer induktiven Logik vorbereitete 88 . Zum Zeitpunkt seiner Entlassung war sein mit einem Vorwort von Karl Menger versehenes Buch „Einführung in das mathematische Denken" gerade ebenso im Druck wie sein Aufsatz „Uber den Begriff der Identität", der schließlich zu seinem folgenschweren Zerwürfnis mit Wittgenstein führte, dessen Tractatus er als ersten Band der „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung" in eine leichter verständliche Form hatte bringen sollen. Schlick beklagte sich nach seinem erfolglosen Vorstoß zugunsten Waismanns nicht zu Unrecht, daß „der akademische U n t e r r i c h t . . . ge-

8' 87 88

Hempel (1981), S. 209. siehe dazu und zum Folgenden Stadler (1979), S. 58. siehe dazu die Einleitung von Reitzig in Waismann (1973).

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genwärtig schon sehr schwer" 89 sei. Das muß nur kurz vor seinem gewaltsamen T o d gewesen sein. 3. V o m Juni 1936 bis zum März 1938 Die Ermordung Moritz Schlicks am 22. Juni 1936 ist inzwischen vor allem von Siegert 90 auf ihre Hintergründe untersucht worden. Dabei ist klargeworden, daß der Attentäter, Schlicks ehemaliger Student Nelböck aus einer Mischung von Rachemotiven handelte, die teils aus dem Gefühl resultierten, von Schlick wirtschaftlich ruiniert worden zu sein, teils auf — ebenfalls unbegründete — Eifersuchtsvorstellungen Nelböcks zurückzuführen sind. Insofern hat sich Feigls aus der Ferne getroffene Einschätzung bestätigt, der Mörder sei „not a political assassin but a paranoid personality" 91 gewesen, obwohl Nelböck nach dem „Anschluß" politische Motive für sich geltend machen wollte und etwa darauf hinwies, „daß er durch seine Tat und die hierdurch erfolgte Beseitigung eines jüdischen, volksfremden und volksschädliche Lehrsätze verbreitenden Lehrers dem Nationalsozialismus einen Dienst erwiesen und wegen dieser T a t auch für den Nationalsozialismus gelitten habe". 92 Dies ist nur die eine Seite. Denn statt den Mord zu verurteilen oder zu bedauern, nahmen verschiedene „nationalgesonnene" Publikationsorgane die T a t zum Anlaß, ihren langgehegten H a ß auf den „zersetzenden" logischen Positivismus und seine Vertreter abzureagieren und damit die T a t im Nachhinein zu rechtfertigen. In der maßgeblichen katholischen Wochenschrift „Schönere Zukunft", die im Verein mit der offiziösen Zeitung des Dollfußregimes „Reichspost" auch bereits im Mai 1933 die nationalsozialistischen Bücherverbrennungen im Nachbarstaat begrüßt hatte 923 , äußerte sich ein „Prof. Austriacus" etwa so: „Jetzt werden die jüdischen Kreise nicht müde, ihn als den bedeutendsten Denker zu feiern. Wir verstehen das sehr wohl. Denn der Jude ist der geborene Ametaphysiker, er liebt in der Philosophie den Logozismus, den Mathematizismus, den Formalismus und Positivismus, also lauter Eigenschaften, die Schlick in höchstem Maße in sich vereinigte. Wir möchten aber 89

Stadler (1979), S. 54. siehe dazu vor allem Siegert (1981 a) und (1981 b) und die Bemerkungen von Stadler in Pfoser/Stadler (1983). 9 ' Feigl (1981 c), S. 81. 92 Siegert (1981 a), S. 130 f. 92 > Pfoser in Pfoser/Stadler (1983), S. 5 ff. 90

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doch daran erinnern, daß wir Christen in einem christlich-deutschen Staat leben, und daß wir zu bestimmen haben, welche Philosophie gut und passend ist. Die Juden sollen in ihrem Kulturinstitut ihre jüdische Philosophie haben! Aber auf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universität im christlich-deutschen Österreich gehören christliche Philosophen! Man hat in letzter Zeit wiederholt erklärt, daß die friedliche Regelung der Judenfrage in Osterreich im Interesse der Juden selbst gelegen sei, da sonst eine gewaltsame Lösung derselben unvermeidlich sei. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der J u d e n f r a g e ! " 9 2 b Diese Folgeerscheinungen des Attentats sind auch einem entfernteren Beobachter der österreichischen Szenerie, der als deutscher Emigrant im Wiener Kreis als „Kreis aller Kreise" 9 3 „eine feste B u r g " und in der „Gottlosigkeit positivistischer Färbung eine gute Wehr und W a f f e n " verspürt hatte, nicht verborgen geblieben, nämlich J e a n Amery. Er erinnerte sich nämlich an den „deutlich vernehmbaren Beifall der kleriko-faschistischen Rechten" 9 4 zum Attentat des „rechtsorientierten querköpfigen Studenten". U m so mehr wird den Mitgliedern des Kreises, insbesondere den in Wien verbliebenen, die wachsende Progromstimmung bewußt gewesen sein. S o erklärt sich wohl auch, daß in den Nachrufen seiner Lieblingsschüler Waismann und Feigl von diesen Dingen keine Rede ist. 95 Zum damaligen Zeitpunkt eine Auseinandersetzung mit den geistigen Nutznießern des Attentats zu beginnen, wäre nicht nur sinnlos, sondern geradezu selbstmörderisch gewesen. D a die Ermordung Schlicks von einem publizistischen Angriff auf den „zersetzenden jüdischen Positivismus" begleitet worden war, ist es nicht verwunderlich, wenn die noch in Wien verbliebenen Mitglieder nun versuchten, sich ins Ausland in Sicherheit zu bringen. Mit dem W e g g a n g Feigls in die U S A und Carnaps nach Prag 1931, der Emigration Neuraths 1934 und dem T o d Hahns im gleichen Jahr sowie der Ermordung Schlicks war der Kreis inzwischen um seine prominentesten Mitglieder gebracht. An dem kleinen Kreis, der nun weiter unverzagt unter der Leitung Friedrich Waismanns tagte, scheint sich 92b 93 94 95

zitiert nach Stadler, ebenda S. 19. Amery (1971), S. 36. Amery (1980), S. 197; siehe d a z u die Belege bei Siegert und Stadler a. a. O . Waismanns V o r w o r t zu Schlick (1938) ist die umgearbeitete Fassung einer Gedenkrede, die Waismann im O k t o b e r 1936 in der Philosophischen Gesellschaft der Universität Wien gehalten hatte. Siehe auch den N a c h r u f Feigl (1938).

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nun aber nur noch der „harte Kern" von in Wien verbliebenen logischen Positivisten beteiligt zu haben. Das Jahr 1936 brachte trotz der Ermordung Moritz Schlicks keine weiteren Emigrationsbewegungen für den Wiener Kreis. Erwähnenswert ist aber die Emigration eines Mannes, der dem "Wiener Kreis schon deshalb nie angehört hatte, weil er von Schlick nicht zu den berühmten Donnerstagabenden eingeladen worden war 96 , der aber in verschiedenen Hinsichten enge Verbindungen zum Kreis gehabt hatte, nämlich Karl Popper. Popper hatte nach seinem Lehrerexamen und seiner Doktorarbeit keine Karriere an der Universität machen können, sondern war als Gymnasialprofessor an eine Wiener Mittelschule gegangen, ähnlich wie das Wiener-Kreis-Mitglied Edgar Zilsel. Daneben hatte er sich in verschiedenen sozialen Bereichen, unter anderem auch in der sozialistischen Mittelschülerorganisation, betätigt. Dem Wiener Kreis war er dadurch verbunden, daß er einen Vortrag 97 vor Mitgliedern des Kreises gehalten hatte und sein frühes wissenschaftstheoretisches Hauptwerk „Logik der Forschung", das die Gedanken dieses Vortrags weiter ausführte, als Band 9 in die „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung" aufgenommen wurde. Während Poppers Ideen von Carnap und Feigl, mit denen er auch zusammen Urlaub machte und häufig diskutierte, mit Interesse und Sympathie betrachtet wurden, begegnete ihnen Otto Neurath und auch der „Berliner" Hans Reichenbach wesentlich kritischer. Seine „Logik der Forschung" hatte auch im Ausland Aufmerksamkeit erregt und eine Anzahl von Besprechungen ausgelöst. So war Popper denn in den Jahren 1935 und 1936 für eine längere Zeit zu Vorträgen in Großbritannien eingeladen gewesen 98 . Bei dieser Gelegenheit war ihm angesichts der ungünstigen Perspektiven in Osterreich für eine akademische Karriere — Popper war ebenfalls seiner Abstammung nach Jude — empfohlen worden, sich auf eine Stellenausschreibung in Neuseeland zu bewerben. Gleichzeitig hatte er Kontakte mit dem „Academic Assistance Council", das sich um Stellenvermittlungen für Emigranten bemühte. Fast gleichzeitig erhielt Popper nun die Einladung für eine Lehrtätigkeit in Neuseeland und für eine Lehrposition in Cambridge. Da letztere nur für Emigranten in Frage kam, stellte er seine Präferenzen 96 97 98

Popper in Schilpp (1974), S. 66. Die Grundgedanken des Vortrags sind in Popper (1933) widergegeben. siehe dazu und zum Folgenden Popper in Schilpp (1974), S. 87 f.

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für Cambridge zurück und bat darum, an seine Stelle Friedrich Waismann nach Cambridge einzuladen, was auch geschah. Popper kam im März 1937 in Neuseeland an. Den „Anschluß" Österreichs im März 1938 nahm er dann offenbar zum Anlaß, seine T o talitarismustheorien unter dem Titel „Das Elend des Historizismus" publikationsreif zu machen. Während er sich bis dahin zurückgehalten hatte, „to publish anything against Marxism: where they still existed on the Continent of Europe the Social Democrats were after all the only political forces still resisting tyranny" 99 , sah er jetzt keinen Anlaß mehr, mit seiner Kritik hinter dem Berg zu halten. Daraus entstanden außer dem „Elend des Historizismus" noch seine „Offene Gesellschaft und ihre Feinde". Es ist bisher nur wenigen aufgefallen, daß darin jeweils eine politische, Sozial- und Geschichtsphilosophie vertreten wird, die den Lehren aller Mitglieder des Wiener Kreises, die auf diesen Gebieten veröffentlicht haben, in den meisten Punkten entgegengesetzt ist. Darauf wird im Zusammenhang mit einigen Überlegungen über das Erscheinungsbild des Nachkriegspositivismus im deutschsprachigen Raum noch einzugehen sein. Im Jahre 1937 emigrierte dann noch ein weiteres Kreismitglied, nämlich Karl Menger, der seit der Ermordung Schlicks auch nicht mehr an den Sitzungen des Kreises teilgenommen hatte. Menger hatte als Schüler Hans Hahns Mathematik studiert und sich früh mit seinen Forschungen zur Dimensionstheorie einen Namen gemacht. Dadurch war er in Kontakt zum holländischen Mathematiker Brouwer gekommen 101 , der sich als einer der Väter des „Intuitionismus" in der Mathematik und außerhalb durch seine extremen politischen Ansichten ein Profil erworben hatte. Menger hielt sich von 1925 bis 1927 als Assistent Brouwers in Amsterdam auf, bis ihm Brouwers Machenschaften bei der Verwaltung eines Nachlasses und seine zunehmenden antisozialistischen und reaktionären Tiraden unerträglich wurden. Hans H a h n hatte sich in der Zwischenzeit darum bemüht, Menger als Nachfolger des nach Königsberg weggegangenen Kurt Reidemeister in Wien unterzubringen, nach dessen Fortgang der Lehrstuhl für Geometrie unbesetzt geblieben war. Diesen trat Menger 1927 an. Vom gleichen Jahr datiert auch seine Mitgliedschaft im Wiener Kreis, an dessen Sitzungen er jedoch nicht regel99 100 101

ebenda, S. 90. Menger (1979), S. 3. siehe zu Mengers Amsterdamer Jahren und insbesondere zu seinem Verhältnis zu Brouwer Menger (1978).

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mäßig teilnahm und dessen „Öffentlichkeitsarbeit" er ebenso wie gewisse seiner sozialwissenschaftlichen Theorien reserviert betrachtete. Das hinderte ihn aber nicht daran, zusammen mit H a h n und anderen Mitgliedern der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät eine öffentliche Vortragsreihe unter dem Titel „Krise und Neuaufbau in den exakten Wissenschaften" zu betreiben. Diese Reihe wurde mit großem Interesse in Wiens „extraacademic intelligentsia" aufgenommen, die, „until Hitlers' invasion brought it all to an abrupt end, . . . was teeming with physicians and engineers, lawyers and public servants, businessmen and bankers, seriously interested in the ideas and the philosophy of science", eine Umgebung, wie sie Menger nach seinen Worten „never found . . . anywhere else" 102 . Menger war schon für das Wintersemester 1930/31 zu einer Vortragsreihe in den USA gewesen. 1937 emigrierte er dorthin, wurde Professor an der University of Notre Dame (Indiana) und ging 1946 bis zu seiner Emeritierung 1971 an das Illinois Institute of Technology in Chicago 103 . Er kam so den Folgen des „Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 zuvor. 4. Nach dem März 1938 Der gewaltsame Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich durch den Einmarsch der deutschen Truppen beendete schließlich die noch verbliebene Aktivität des Wiener Kreises, zwang den größten Teil der bis dahin noch in Wien verbliebenen Mitglieder in die Emigration und beendete für die wenigen, die im Land blieben, bis zum Kriegsende ihre Hochschullaufbahn bzw. ihre Weiterqualifikation an der Hochschule. Anders als das vorherige langsame Abbröckeln des Kreises durch die Emigration einzelner in Folge einschneidender Ereignisse bewegte sich die dem Anschluß folgende Entlassungswelle, die den Auslöser für die anschließende Emigration bildete, in den Bahnen staatlichen Verwaltungshandelns. Das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" vom 13. 3. 1938104 gliederte Österreich in Artikel I als „ein Land des Deutschen Reiches" ins Reichsgebiet ein und enthielt für die Regelung von Einzelheiten die entspre102 103

Ό"

Menger (1979), S. 17. Strauss/Röder (1983), S. 803 f. Reichsgesetzblatt (RGBl) 1938 I, S. 237.

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chenden Verordnungsermächtigungen. Schon zwei Tage später wurde die Vereidigung der Beamten des Landes Osterreich 105 auf den „Führer und Reichskanzler" Adolf Hitler auf dem Erlaßwege geregelt. Jüdische Beamte waren dabei nicht zu vereidigen, wobei Juden wie im „Reichsbürgergesetz" vom September 1935 als Personen mit mindestens drei „der Rasse nach volljüdischen Großeltern" definiert und zusätzlich Personen mit zwei solchen Großeltern als „Geltungsjuden" unter bestimmten weiteren Bedingungen erfaßt wurden. Nach diesen Vorbereitungen folgte am 31. Mai 1938 die „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums" 106 , die im Titel zwar nicht ganz, im Aufbau aber weitgehend das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 kopierte. Es enthielt also mit § 3 einen „Arierparagraphen", dem zufolge „jüdische Beamte, Beamte, die jüdische Mischlinge sind und Beamte, die mit einer Jüdin (einem Juden) verheiratet sind", in den Ruhestand zu versetzen waren. Nach § 4 konnten darüber hinaus Beamte „die nicht die Gewähr bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten", in den Ruhestand versetzt werden. Diese Bestimmungen betrafen alle Beamten, also nicht nur Hochschullehrer. Edgar Zilsel war einer von denen, die nie eine Stellung an der Universität hatten erlangen können. Er war statt dessen Mittelschullehrer und Volkshochschuldozent geblieben und hatte sich auch frühzeitig in der Schulreform und Arbeiterbildung engagiert. Der S D A P O gehörte er seit 1920 an und seit 1929 hatte er wie Neurath regelmäßig im „Kampf" publiziert. Seit dieser Zeit datiert auch seine Zusammenarbeit mit dem Wiener Kreis. Daß Zilsel schon einmal, nämlich im Frühjahr 1934, mit den faschistischen Herrschaftsträgern in Konflikt geraten war und daraufhin seine Tätigkeit als Volkshochschuldozent verlor, haben wir schon gesehen. Der „Anschluß" brachte für Zilsel als Staatsbeamten und Juden im Sinne der genannten Verordnung nun die Zwangspensionierung' 0 7 . Sein Ruhegehalt wurde nur „für den Bezug und Genuß im Inlande" ausbezahlt und verfiel damit bei einer Emigration. Trotzdem wanderte Zilsel mit Frau und Sohn zuerst nach Großbritannien aus, kurze Zeit später ging

>°5 106 107

RGBl 1938 I, S. 245. RGBl 1938 I, S. 607. siehe dazu Dvorak, S. 23 f.

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er dann weiter in die USA. Die Gründe für seine Ausreise in die USA kennen wir nicht. Sein Schicksal in den USA wird noch zur Sprache kommen. Wie sah nun die Lage an der Universität Wien aus? An der gesamten Universität Wien wurden in Ausführung des „Säuberungs-Erlasses" — mitten im bereits angefangenen Sommersemester 1938 — mehrere Hundert Professoren und Dozenten in den Ruhestand versetzt bzw. um ihre Lehrbefugnis gebracht. An der am härtesten betroffenen Medizinischen Fakultät waren es 15 von 29 Professoren und 165 von 286 Dozenten, an der Philosophischen Fakultät 97 von 267 Professoren, Dozenten und Lehrbeauftragten 108 . Am Philosophischen Institut fielen den Säuberungen nicht nur logische Positivisten zum Opfer. Auch andere Personen, die aus Nazideutschland geflohen waren und die erst der Ständestaat an der Universität eingesetzt hatte wie der „antinazistische christliche Weltanschauungsphilosoph" Dietrich von Hildebrand, der Ende 1934 als Nachfolger von Heinrich Gomperz, Schlicks Ordinarienkollegen, berufen worden war, wurde entlassen und emigrierte nach abenteuerlicher Flucht in die USA. Wie wirkte sich nun aber der „Anschluß" auf die an der Hochschule verbliebenen Mitglieder des Wiener Kreises aus? Wie wir gesehen haben, war Friedrich Waismann schon seit 1936 nicht mehr am Philosophischen Institut beschäftigt worden. Im Winter 1937/38 hielt er sich — vermutlich der bereits bei Popper erwähnten Einladung des Hilfskomitees folgend — in Cambridge auf und beobachtete von dort besorgt die Entwicklung in Osterreich im Frühjahr 1938 109. Der „Anschluß" verhinderte, daß sein seit Mitte 1937 druckfertiges Manuskript von „Logik, Sprache, Philosophie" noch bei Springer in Wien erscheinen konnte. Waismann kehrte dann nur noch kurz nach Wien zurück, um sofort mit Frau und Kind endgültig nach Großbritannien zu emigrieren. Offenbar hat er von dort aus noch versucht, sein Manuskript durch die Vermittlung Neuraths bei einem holländischen Verlag in deutscher Sprache unterzubringen. Daraus wurde dann jedoch letztlich nichts, weil Manuskript samt Verlagsgebäude nach dem Einmarsch der deutschen Truppen durch eine Brandbombe zerstört wurden.

alle diese Angaben nach Weinzierl (1981), eine — nicht ganz vollständige — namentliche Liste enthält Kröner (1983). siehe dazu das N a c h w o r t der Herausgeber in Waismann (1976), S. 653.

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Nach der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses von Waismann und der Ermordung Schlicks im Sommer 1936 war Viktor Kraft der einzige am Institut im Staatsdienst beschäftigte Vertreter des Wiener Kreises gewesen. Bemerkenswert ist von seinen Vorkriegswerken seine „Wissenschaftliche Wertlehre", die 1937 als 10. und letzter Band der genannten Schriftenreihe erschien und durch den „Anschluß" um die wohlverdiente Wirkung gebracht wurde. Nach Schlicks „Fragen der Ethik" und Mengers „Moral, Wille und Weltgestaltung" war es immerhin schon das dritte von Mitgliedern des Wiener Kreises veröffentlichte Buch über ethische Fragestellungen gewesen. Kraft wurde mitten im bereits angefangenen Sommersemester 1938 die Lehrbefugnis entzogen 110 . Das war die Methode, mit der man in Deutschland bereits seit 1933 außerordentliche Professoren (diese Position hatte Kraft damals inne) und Privatdozenten aus dem Lehrkörper entfernt hatte. Die Gründe dafür habe ich nicht ermitteln können : Kraft war weder Jude noch hatte er sich politisch sonderlich exponiert, wenn man von seinem Engagement in der freigeistigen „Ethischen Geimeinde" absieht, der auch Schlick und Carnap angehört hatten 111 . Kraft wurde nun an die Bibliothek überwiesen und 1939 auch dort zwangspensioniert" 2 . Kraft war einer von zwei Mitgliedern des Wiener Kreises, die nicht emigrierten. Bis 1945 hat er keine einzige wissenschaftliche Arbeit in Osterreich veröffentlichen können, einige Artikel konnte er wenigstens im Ausland publizieren. 113 Während dieser Zeit war er ebenso wie das andere in Osterreich gebliebene Mitglied des Wiener Kreises, Bela Juhos, von der Weiterentwicklung des logischen Positivismus und der Philosophie überhaupt im westlichen Ausland weitgehend abgeschnitten. Auf Krafts und Juhos' Tätigkeit nach dem zweiten Weltkrieg werde ich noch zurückkommen. Außer in der philosophischen Fakultät hatten zum Zeitpunkt des Anschlusses noch in der juridischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät Mitglieder des Wiener Kreises Lehraufträge gehabt, nämlich Felix Kaufmann für Rechtsphilosophie und Kurt Gödel für Mathematik. Kaufmanns Verhältnis zum Wiener Kreis ist etwas unklar: Während er in der „Programmschrift" weder als Mitglied des Kreises noch 110

Frey (1975), S. 2.

111

Stadler (1982 b), S. 163 f. Frey (1975), S. 2. siehe die Bibliographie der Werke Krafts in Frey (1975b).

"2 113

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als „nahestehend" bezeichnet wird, führt ihn Neurath in seinen „Historischen Anmerkungen" als „nahestehend"" 4 . Kaufmann, der 1920 mit einer juristischen Arbeit promoviert worden war, hatte mit seiner Habilitation 1922 den Titel eines Privatdozenten erworben. Da die Befähigung zum universitären Lehramt aber nicht mit einem Gehalt verknüpft war, hatte er sich nach einem „Brotberuf" umsehen müssen. So hatte er die Lehrtätigkeit an der Universität, die er bis 1938 ausübte, nur dadurch aufrechterhalten können, daß er als Manager des österreichischen Zweigs des Mineralölkonzerns „Shell" tätig war 115 . Ob Rücksichten auf seine berufliche Position dazu geführt haben, daß er nicht in der „Programmschrift" des Wiener Kreises genannt sein wollte 116 , wissen wir nicht. Es ist auch durchaus möglich, daß Kaufmann, der sich auf rechtsphilosophischem Gebiet seinem Lehrer Hans Kelsen und im allgemeinen philosophischen Bereich mehr der husserlschen Phänomenologie verpflichtet fühlte, sich nicht auf die stark positivistische Orientierung des Wiener Kreises festlegen wollte. Seinen wissenschaftlichen und persönlichen Beziehungen zum Wiener Kreis tat seine Distanzierung allerdings keinen Abbruch: er nahm mehrfach an Kongressen der logischen Positi visten teil und veröffentlichte auch mehrfach in „Erkenntnis". Die Abende des „Schlick-Kreises" besuchte er regelmäßig. Kaufmann war schon kurz nach der Verleihung der venia legendi erstmals auf antisemitischen Proskriptionslisten aufgetaucht 117 und der Umstand, daß er es trotz der außerordentlichen Spannweite seiner wissenschaftlichen Interessen (die außer Rechtsphilosophie Grundlagenprobleme der Mathematik und die Methodologie der Sozialwissenschaften einschlossen) in Wien nie zum Professor gebracht hat, ist wohl im Zusammenhang damit zu sehen. Kaufmann wurde nach dem „Anschluß" sofort seine Lehrerlaubnis entzogen. Er emigrierte daraufhin in die USA und wurde dort lecturer an der „New School for Social Research" in New York. Kaufmann starb 1949. Das letzte Mitglied des Wiener Kreises, das noch an der Universität Wien lehren durfte, war damit Kurt Gödel. Gödels Verbindungen zum Kreis sind vielfältig und sowohl für seinen eigenen wissenschaftlichen

114 115 116 117

Neurath ( 1 9 3 0 a ) , S. 390. siehe dazu die Einleitung von N a g e l in Kaufmann (1978), S. 1. siehe dazu den Beitrag von Helling in diesem Band, S. 237. Stadler (1979), S. 52 f.

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Werdegang wie für denjenigen der Mitglieder, mit denen er in engerem Kontakt stand, von Wichtigkeit. Aber obwohl Gödel wegen seiner akademischen Lehrer Hahn und Menger (in Mathematik) und Schlick (in Philosophie) sowie seiner Gesprächspartner Feigl und besonders Carnap zu Recht als „ein Produkt des Wiener Kreises"" 8 bezeichnet werden kann, stand er ihm doch in vielen Hinsichten distanziert gegenüber. Nicht nur der politische und intellektuelle Aktivismus seit Beginn der öffentlichen Phase des Kreises scheint ihn abgestoßen zu haben. In Grundlagenfragen der Mathematik war er von vornherein platonistisch orientiert, seine philosophischen Lieblingsautoren waren Leibniz und — in diesem Jahrhundert — Husserl. Auch wenn Gödel häufiger am „Schlick-Kreis" teilnahm, ergriff er selten das Wort. Die Prager und Königsberger Tagungen von 1929 und 1930 scheinen auch die einzigen Gelegenheiten gewesen zu sein, wo er sich bei Kongressen der logischen Positivisten beteiligte. Im Anschluß an mehrere Reisen in die USA, zu denen er nach seinen aufsehenerregenden Beweisen der Vollständigkeit der Prädikatenlogik erster Stufe (in seiner 1929 angenommenen Doktorarbeit) und der „Unvollständigkeit der Principia Mathematica und verwandter Systeme" eingeladen worden war, kehrte er zuletzt von einem Aufenthalt an der Notre Dame Universität nach Wien zurück, an der er 1938 — zusammen mit Karl Menger — Vorlesungen gehalten hatte. Er wurde dann im Sommer 1939 zum Wehrdienst gemustert" 9 und zu seiner Verwunderung trotz seiner großen Krankheitsanfälligkeit für tauglich befunden. Etwa zum gleichen Zeitpunkt wurde er, der trotz seiner bahnbrechenden Arbeiten in Wien über den Status eines Privatdozenten noch nicht hinausgekommen war, zum „Privatdozenten neuer Ordnung" gemacht, bezog also von diesem Zeitpunkt ab auch (wenngleich bescheidene) Diäten. Bei dieser Gelegenheit mußte er auch einen „Ariernachweis" führen. Man kann also davon ausgehen, daß Gödel kein Jude war, obwohl er wegen seiner engen Kontakte etwa zu Hans Hahn als suspekt galt und auch später nach seiner Emigration verschiedentlich als Jude angesehen wurde. Gödel, der nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden war, bemühte sich nach Kriegsausbruch intensiv um eine Ausreisemöglichkeit. 118 119

Gödels Verhältnis zum Wiener Kreis beschreibt E. Köhler (1986), S. 1 f. Diese und die folgenden Informationen über Gödel entnehme ich Dawson (1984), der sie aus seinen Forschungen im Gödel-Nachlaß gewonnen hat. Dementsprechend sind die Angaben in Strauss/Röder (1983), S. 384 über seinen Emigrationzeitpunkt zutreffend, aber ergänzungsbedürftig.

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Noch 1940 gelang ihm — sicherlich als einem der letzten Emigranten aus dem „Großdeutschen Reich" überhaupt — die Ausreise: wegen der zu gefährlichen Schiffsverbindungen über den Atlantik wählte er den Weg über Litauen, Lettland, dann weiter mit der sibirischen Eisenbahn in die Mandschurei und schließlich per Schiff von Yokohama nach San Francisco. Gödel arbeitete in den USA am Institute for Advanced Studies in Princeton, das er schon 1934 in seiner Aufbauphase besucht hatte. Mit dieser letzten Emigration war nicht nur der Wiener Kreis vollständig zerstört, auch von seinen früheren Mitgliedern in Wien waren — bis auf wenige Ausnahmen — fast alle in die Emigration gegangen. 5. Emigration Logischer Positivisten aus der Tschechoslowakei Der logische Positivismus ist in der Tschechoslowakei seit deren Gründung als einer der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie nur an der Deutschen Universität in Prag vertreten worden. An dieser Hochschule, die als eine von drei Institutionen von der tschechischen Republik Masaryks und Benes' für die deutsche Minderheit betrieben wurde 120 , wirkte seit seinem 28. Lebensjahr Philipp Frank als jüngster Professor der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät und Nachfolger Einsteins auf einem Lehrstuhl für theoretische Physik. In Fachkreisen war er vor allem durch Arbeiten zur Relativitätstheorie und sein zusammen mit R. Mises verfaßtes Lehrbuch „Die Differentialgleichungen der Mechanik und Physik" (Braunschweig 1925) bekanntgeworden. Anders als die meisten seiner Kollegen interessierte sich Frank auch zunehmend für die kulturellen, sozialen und politischen Bezüge seiner Wissenschaft und war davon überzeugt, daß „scientific work, no matter how seemingly remote from practical life, had great influence on human behaviour" 121 . Wahrscheinlich hat ihn dazu schon die Polemik geführt, die Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus" gegen Frank als ganz jungen Mann geführt hatte 122 . Die Leninsche Machkritik, die Frank als weitgehend unberechtigt ansah und auf Mißverständnisse Lenins bei der Beurteilung von Machs „neutralem Monismus" zurückführte, hat ihn zeitlebens beschäftigt. Interessant ist dabei, daß Frank l2C 121

122

Bergmann in Cohen/Wartofsky (1965), S. IX. So die Erinnerungen von Hilda von Mises, ebenda S. XXII; ähnlich Carnap ebenda, S. XI. Lenin (1949), S. 161.

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Ende der 20er Jahre trotz Lenins Verdikt in die Sowjetunion eingeladen wurde, ein Besuch, der ihm offenbar großen Eindruck gemacht hat, wie man aus dem Umstand ersehen kann, daß er darauf in mehreren Kapiteln seines in den „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung" erschienenen Buchs „Die Kausalität und ihre Grenzen" mit positiver Wertung zurückkommt und daß er auch im Wiener Kreis, dessen regelmäßiger Gast er war, über diese Reise berichtete 123 . Die Verhältnisse zwischen Tschechen und Deutschen in der Tschechoslowakei und auch an den verschiedenen Hochschulen in Prag und ihrem Personal waren schon in den zwanziger Jahren zunehmend gespannt. Franks früherer Schüler und späterer Kollege R. Fürth erinnert sich daran, daß Frank einer derjenigen Professoren gewesen sei, der trotz dieser Spannungen bei wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Anlässen stets „on the best terms" mit seinen tschechischen Kollegen war. Auch habe er „strongly resisted any attempts of Nazi sympathizers amongst staff and students of the university to apply racial doctrines to the admission of students or the appointment of staff" 124 . Im Jahr 1931 konnte Frank — gegen „considerable opposition" — durchdrücken, daß Rudolf Carnap von Wien als außerordentlicher Professor nach Prag berufen wurde. Später wurde dort, ebenfalls auf Betreiben Franks, für Carnap in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät ein Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie eingerichtet, der außer Schlicks Lehrstuhl in Wien der einzige dieser fachlichen Ausrichtung im gesamten deutschen Sprachraum gewesen sein dürfte. Damit hatte sich der Wiener Kreis in Prag so etwas wie eine Filiale geschaffen. Es ist kein Wunder, daß Prag nach den Februarereignissen des Jahres 1934 in Osterreich, die ein öffentliches Auftreten des logischen Positivismus dort unmöglich machten, zum Ausgangspunkt der internationalen Phase der Bewegung wurde. Denn das Jahr brachte den VIII. Internationalen Kongreß für Philosophie in Prag. Ernest Nagel, der auch selbst unter dem Titel „Reduction and Autonomy" einen Vortrag über das heute viel diskutierte Problem intertheoretischer Relationen gehalten hatte, stellte außer dem sachlichen Gehalt der Diskussionen auch die Atmosphäre dieses Kongresses dar 125 . So erwähnt er einige sehr be123 124 125

Stadler (1982 b), S. 182. Fürth in Cohen/Wartofsky (1965), S. XVI. Nagel (1934). Interessant ist ein Vergleich mit dem Bericht Greilings über dasselbe Ereignis in „Erkenntnis" 1934, weil dort — wohl aus politischen Gründen — viele der bei Nagel genannten Details ausgespart sind.

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zeichnende Begleitumstände wie die Ansprache des tschechischen Außenministers Benes (die Regierung Masaryk war gerade wiedergewählt worden), der sich gegen jede Form von „social mysticism and opportunism which aimed simply at the exercise of power" aussprach oder das Faktum, daß der frühere Berliner Professor Reichenbach als Mitglied der türkischen Delegation auftreten mußte. Nicht nur die Sektion über „Krise der Demokratie" war mit Kontroversen über das Schicksal Europas angefüllt, die von Befürwortern der verschiedenen Faschismen und Anhängern der Demokratie bestritten wurde. Die ganze Hilflosigkeit des philosophischen Antifaschismus zeigte sich im Abschluß des Kongresses bei der Annahme einer Resolution, in der die versammelten Philosophen „the faith of their great predecessors in the liberty of thought and conscience" 126 bekräftigten : sie war so allgemein formuliert, daß auch die italienische Delegation sie enthusiastisch befürwortete. Es wäre sicherlich lohnend, auch die folgenden internationalen Philosophiekongresse in dieser Zeit im Kontext der sich verschärfenden politischen Begleitumstände und deren Verarbeitung durch die Philosophen zu interpretieren. Die Ausbreitung des Faschismus machte sich mehr und mehr auch in der Tschechoslowakei bemerkbar. Carnap erinnert sich so: „The Nazi ideology spread more and more among the German speaking population of the Sudeten region and therewith among the students of our university and even among some of the professors. Furthermore there was the danger of an intervention by Hitler." 127 Auch die Spannung zwischen den verschiedenen Fachvertretern der Philosophie in den beiden zuständigen Fakultäten muß sehr groß gewesen sein. So erfuhr Carnap, daß seine Ansicht, ethische Normen seien wissenschaftlich nicht begründbar, von seinem Fachkollegen Oskar Kraus in der philosophischen Fakultät als „gemeingefährlich" eingestuft worden war 128 . Angesichts der eigenen Schilderung Carnaps und der übrigen Begleitumstände muß man seinen Fortgang von Prag in die USA eindeutig als einen Fall von Emigration ansehen 129 . 126 127 128 129

a. a. O . . S . 601. Carnap in Schilpp (1963), S. 34. Carnap in Schilpp (1963), S. 81 ff.; Hegselmann (1984), S. 10. siehe dazu einerseits Lehmann (1943), S. 293 und andererseits Kraft (1968), S. 6, Fußnote 3. Daß Kraft es auch noch nach Kriegsende für erforderlich hält, Carnap gegen einen 1943 ausgesprochenen „Vorwurf" der Emigration in Schutz zu nehmen, ist ein bemerkenswertes Faktum, das entweder auf die Entstehungszeit von Kraft (1951) hinweist oder die Kontinuität von Vorbehalten gegen Emigranten in der Nachkriegszeit in Österreich.

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Er nahm eine Einladung zur 200-Jahrfeier der Universität Harvard an und fuhr im Dezember 1935 in die USA. Charles Morris, mit dem er seit 1933 in Korrespondenz stand und den er beim Prager Kongreß 1934 persönlich kennengelernt hatte, sorgte dann dafür, daß Carnap im Winter 1935/36 zuerst Gastprofessor und ab Oktober 1936 ordentlicher Professor an der Universität Chicago wurde, wo er bis 1952 blieb. Nach Erinnerungen von Beteiligten scheint seine Berufung in Chicago zunächst auf Widerstand gestoßen zu sein130; der Plan, gleichzeitig auch seinen Herausgeberkollegen bei der „Erkenntnis", Hans Reichenbach, nach Chicago zu holen, scheiterte131. In Prag war es nicht möglich, Otto Neurath als Carnaps Vertretung durchzusetzen. Gegen Neurath, der mit dieser Vertretung die Hoffnung auf eine akademische Laufbahn verbunden hatte, scheinen auch rassische Gründe gesprochen zu haben 132 . 1938 folgte Philipp Frank in die USA nach. Uber die Gründe seiner Entscheidung und den Hergang seiner Emigration weiß ich nichts. Er war von 1933 bis 1953 Professor in Harvard und gründete 1948 das „Institute for the Unity of Science", dessen Präsident er bis 1965 war. Vom früheren Personal der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der deutschen Universität Prag blieb in der Folge niemand übrig 133 : von den fünf Lehrstuhlinhabern emigrierten außer Carnap und Frank noch ihre beiden Kollegen Fürth und Bergmann. Der fünfte, Berwald, wurde in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager umgebracht. Von der philosophischen Fakultät mußte auch Carnaps philosophischer Kollege und zeitweiliger Kontrahent Oskar Kraus emigrieren. Er ging ebenso wie der damalige Student Stephan Körner nach Großbritannien. Mit der Vertreibung und anschließenden Emigration des Großteils des Wiener Kreises aus Wien und Prag — und im übrigen auch der gleichgesonnenen Berliner „Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie" und der „Göttinger Gruppe" und weiterer Einzelpersonen aus dem Deutschen Reich — sowie der Ausschaltung des in Österreich verbliebenen kleinen Rests aus dem akademischen Leben war die Tradition des logischen Positivismus in Mitteleuropa zunächst einmal unterbrochen. 130 131 132 133

Hartshome in Cohen/Wartofsky (1971), S. XLIV. Morris a. a. O, S. XLVIII. siehe dazu den Artikel von Hegselmann in diesem Band, S. 271. siehe zu diesen Vorgängen in Prag Bergmann (S. IX) und Fürth (S. X V ) in Cohen/ Wartofsky (1965) sowie die Emigrantenliste der Prager Hochschulen in Kröner (1983), S. 72 ff.

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Einen Eindruck von der Tiefe und Dauerhaftigkeit dieses Einschnitts erhält man aber erst, wenn man außer der faschistischen „Säuberungspolitik" in die Betrachtung einbezieht, was die Nationalsozialisten an die Stelle der Vertriebenen setzten. Das fängt an bei der Einsparung, U m w i d m u n g oder (häufig politischen Gesichtspunkten untergeordneten) Politik der Wiederbesetzung der „freigewordenen" Stellen, setzt sich f o r t bei der drastischen quantitativen Reduktion und erheblich durch neue Studienordnungen, Promotionsverfahren und vor allem zusätzliche „nichtwissenschaftliche Leistungen" f ü r den Erwerb der D o zentur geänderten Selektion des wissenschaftlichen Nachwuchses und endet bei den kriegsbedingten Verlusten. H i n z u kommt die politische Kontrolle des wissenschaftlichen Zeitschriften-, Verlags- und Büchereiwesens und der Abschluß von fast allen Kontakten zum Ausland, die wenigstens teilweise als Korrektiv hätten wirken können. Eine detaillierte Schilderung dieser Verhältnisse gehört hier nicht zum Thema 1 3 4 Ihre Auswirkungen berühren aber direkt den Problemkreis der Kontinuität — oder bezüglich der Herkunftsländer der Emigration besser gesagt: der Diskontinuität — auch des logischen Positivismus nach 1945, dem wir uns nun zuwenden müssen. IV. Kontinuitätsfragen

in den Zielländern der Emigration

Die Frage der Kontinuität des logischen Positivismus nach der Emigration ist ein ziemlich schwer zu überschauendes und zu beurteilendes Problem. U m es einigermaßen befriedigend diskutieren zu können, müßten die philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen in den Aufnahmeländern auf Gemeinsamkeiten mit dem logischen Positivismus überprüft, die Bekanntschaft der amerikanischen und englischen Philosophen mit dem logischen Positivismus und umgekehrt seine Bekanntschaft mit der amerikanischen (etwa dem Pragmatismus) und der englischen Philosophie (etwa der analytischen Tradition Russells und Moores) vor der Emigration, die Interaktionsverhältnisse in der Emigrationsperiode und die dabei und danach ausgeübten W i r k u n g e n auf die verschiedenen beteiligten Seiten untersucht werden. Zusätzlich wären Austauschprozesse mit anderen Emigrationsschulen (etwa den polnischen Logikern) zu besprechen. W e n n es w a h r ist, daß der logische P o In Dahms (1985b) sind diese Aspekte am Beispiel des philosophischen Seminars in Göttingen ausführlicher behandelt.

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sitivismus seine spezifische Ausprägung als reformerisch ausgerichtete „wissenschaftliche Weltauffassung" auf dem europäischen Kontinent durch seine intensive Kooperation mit einem breiten Spektrum von aufklärerisch wirkenden Gruppen und Bewegungen gewann 1 3 5 , dann ist natürlich andererseits die Frage zu stellen, wie sich das andersartige kulturelle und politische Umfeld 1 3 6 in den Aufnahmeländern der Emigration auf das Erscheinungsbild des logischen Positivismus ausgewirkt hat. Die meisten dieser Fragen können hier nicht diskutiert werden. Ich beschränke mich auf einige thesenartige Hinweise auf den P r o z e ß der Auswanderung und die schließliche räumliche Verteilung der Emigranten sowie auf die W i r k u n g e n und Rückwirkungen in den Aufnahmeländern. W e n n man die Emigrationsbewegung des Wiener Kreises mit denen anderer deutschsprachiger Gruppen und Schulen vergleicht, fällt zweierlei auf. Einerseits machten die „Wiener" auf dem W e g in die „Endverbleibsländer" der Emigration kaum Zwischenstationen (wenn man von O t t o Neuraths längerem Aufenthalt in den Niederlanden und Edgar Zilsels kurzem Zwischenstop in Großbritannien absieht). Dies steht in deutlichem Unterschied zum Verhalten der Mitglieder der „Berliner Gesellschaft", von denen von Mises und Reichenbach längere Zeit eine Lehrtätigkeit in der 1933 neugegründeten Universität Istanbul ausübten 137 , während die damals weniger arrivierten Mitglieder O p p e n heim, Hempel und Greiling sich f ü r mehrere Jahre in Brüssel aufhielten 138 . Andererseits zerstreuten sich sowohl die „Wiener" als auch die „Berliner" in der Emigration, wobei die Mitglieder des Wiener Kreises nicht nur in verschiedene Aufnahmeländer (außer in die U S A auch nach Großbritannien), sondern im H a u p t a u f n a h m e l a n d U S A auch in verschiedene Regionen und Städte gingen. G a n z im Unterschied dazu konnten die Mitglieder der Frankfurter Schule durch die Verpflanzung des Instituts nach N e w Y o r k ihren Zusammenhalt in der Emigration auch räumlich sichern 139 .

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139

siehe dazu Stadler (1982b), S. 153 ff. und allgemeiner Glaser (1981). Aufschlußreich zu diesem Komplex sind die autobiografischen Bemerkungen von Jahoda (1979), S. 111 f. siehe dazu Neumark (1980), Nissen (1969) und Widmann (1973). Zu diesem Komplex kenne ich nur die autobiografischen Bemerkungen von Oppenheim (1969). Bemerkenswert ist das Zusammentreffen dieser Brüsseler Gruppe mit Popper, das dieser in Schilpp (1974), S. 90 ff. beschreibt. Jay (1976), S. 57 ff.

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Für den Wiener Kreis hatte das nicht nur das Ende regelmäßiger Kontakte und intensiver Zusammenarbeit zur Folge, sondern zeitweise sogar wissenschaftliche Doppelarbeit H 0 . Während an ihren weit zerstreuten Anstellungsorten die Mehrzahl ihren beruflichen Status (im Vergleich zur Situation in Wien) erhalten oder verbessern konnte 141 , gelang anderen dies nicht. Besonders die soziologisch oder historisch interessierten Mitglieder des Kreises (die ohnehin schon in Wien als Repräsentanten der „Geisteswissenschaften" in der Minderheit gewesen waren) hatten in der Emigration kein günstiges Los : Felix Kaufmann wurde immerhin noch lecturer an der New Yorker „New School for Social Research" (er starb 1949) H2 , Neurath konnte — von einigen Vorlesungen in Oxford abgesehen — seinen Wunsch nach einer akademischen Tätigkeit nicht mehr realisieren (er starb im Dezember 1945) 143 , und Edgar Zilsel nahm sich 1944 in seiner Verzweiflung darüber, daß er sein Interesse an wissenschaftlicher Arbeit nicht mehr mit dem Zwang zum Brotverdienen vereinbaren konnte, das Leben 144 . Während die übrige deutschsprachige Philosophie in den USA keine sehr nachhaltige Wirkung ausgeübt hat 145 (und etwa die Remigration eines Teils der früheren Frankfurter Schule dort unbemerkt und unbedauert blieb) 146 , war der Einfluß des Wiener Kreises beträchtlich. Man muß dabei aber erwähnen, daß er durch den gleichgerichteten Einfluß verstärkt wurde, den die Mitglieder der ehemaligen Berliner Gesellschaft sowie der Göttinger Logiker und der polnischen Schule um Alfred T a r ski ausübten, mit denen die „Wiener" jeweils schon vor der Emigration kooperiert hatten. Diese Wirkung äußerte sich in einer Verstärkung des philosophischen Interesses für logische Probleme und kulminierte im Durchbruch der Wissenschaftstheorie als anerkannter philosophischer Disziplin 147 . D a f ü r ist die Gründung der Zeitschrift „Philosophy of 140 141

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Oppenheim (1969). Carnap und Frank waren schon vor der Emigration ordentliche Professoren, Bergmann und Feigl (beide waren in Wien noch nicht habilitiert), Gödel (in Wien nur Privatdozent) und Menger (in W i e n außerordentlicher Professor) wurden es erst nach der Emigration. Strauss/Röder (1983), S. 606 f. M. N e u r a t h / C o h e n (1973), S. 68 ff. und 79 f. Dvorak (1981), S. 26 und Behrmann in Zilsel (1976), S. 46. Strauss/Röder (1983) führt Edgar Zilsel nicht mit einem eigenen Eintrag, sondern nur als Vater seines Sohnes Paul Rudolf (S. 1279)! Pross (1955), S. 66. Jay (1983), S. 362. Feigl (1981 c), S. 81 ff.

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Science" 148 ebenso ein Indiz wie die Eröffnung verschiedener Forschungszentren, rasche Stellenvermehrungen an den Hochschulen und die Aufnahme dieser Disziplin in die Curricula 149 . Allerdings wurde für diesen Einfluß ein Preis gezahlt, nämlich der der Entpolitisierung und Akademisierung der früheren „wissenschaftlichen Weltauffassung". Auch wenn man nicht den Eindruck teilt, daß der logische Positivismus im Exil zu einer Technokratenideologie 1 5 0 geworden ist, ist der Funktionswandel beträchtlich und erklärungsbedürftig 151 . Es spricht vieles dafür, daß diese Entwicklung weniger individuellen Faktoren 152 zuzuschreiben ist als vielmehr geänderten gesellschaftlichen und institutionellen Ursachen wie insbesondere dem ganz andersartigen politischen und kulturellen Umfeld und auch anders gelagerten interdisziplinären Kooperationsmöglichkeiten. Es wäre interessant, den Auswirkungen dieser Prozesse auf den „Gehalt" des logischen Positivismus nachzuspüren. Hier muß ich es mit dem Hinweis darauf bewenden lassen, daß die nachlassende Beschäftigung mit den sozialen und politischen Hintergründen wissenschaftlicher Entwicklungen und allgemeiner der Wissenschaftsdynamik hier ihre Ursachen hat. Dies Manko ist von einzelnen Mitgliedern des ehemaligen Wiener Kreises im Exil selbst dann noch bemerkt und genannt worden 1 5 3 , als die „zuständigen" Soziologen und Historiker des Kreises längst gestorben waren. V. Kontinuitätsfragen

in den Herkunftsländern

der Emigration

In einem Gespräch mit Heinrich Neider hat R. Haller zutreffend bemerkt: „Das Nachfolgekapitel des Wiener Kreises ist ja erschütternd." 154 Denn nicht genug damit, daß von den emigrierten Wiener logischen Positivisten (und auch den mit ihnen kooperierenden und 148

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Thiels Vermutung (in Thiel (1984), S. 254), die Gründung dieser Zeitschrift ginge auf die Anregung von Emigranten zurück, ist nach der Besetzung des Herausgeberkommittees mit (u. a.) Carnap und Feigl sowie nach dem Inhalt des ersten Hefts mit Beiträgen dieser beiden wohl zutreffend. siehe Fußnote 147. so Siegert (1981 b), S. 24. Das hat Wartofsky (1982), S. 87 mit Recht betont. siehe für Carnap etwa die Bemerkungen zu seinen politischen Aktivitäten und Ansichten in den USA von Stegmüller (1971), S. 13 und den Briefwechsel Carnap/Russell, auf den in Russell (1967), S. 626 f. hingewiesen wird. siehe etwa den Beitrag Franks zu Schilpp (1963), bes. S. 164 und Carnaps Replik dazu auf S. 867. Neider (1977), S. 42.

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gleichfalls ausgewanderten Gruppen und Individuen in Deutschland) kein einziger aus der Emigration zurückkehrte 1 5 5 , blieben die Arbeitsbedingungen für die wenigen in Wien gebliebenen Mitglieder nach der Befreiung von der Naziherrschaft prekär. Warum die noch lebenden Emigranten ohne Ausnahme nicht zurückkehrten, ist mir im einzelnen nicht bekannt. Wie bei all den anderen Emigranten, die ebenfalls im Aufnahmeland blieben, wird eine unterschiedliche Mischung folgender Motive eine Rolle gespielt haben: erstens die inzwischen erreichte berufliche Position und das sie umgebende wissenschaftliche Klima (im Unterschied zur unsicheren Lage im Osterreich und Deutschland der Nachkriegszeit), zweitens die sozialen Kontakte insbesondere auch der übrigen, zum Teil erst im Emigrationsland geborenen und aufgewachsenen Familienangehörigen, drittens Dankbarkeit gegenüber dem Aufnahmeland, dessen Staatsbürger sie in der Regel geworden waren und andererseits fortdauernde Trauer oder Zorn über ihre Entlassung und Vertreibung aus ihrer früheren Heimat sowie über das zum Teil erst nach Kriegsende ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit gedrungene Ausmaß der nationalsozialistischen Greueltaten. Darüber hinaus — und das muß hier gegenüber immer wieder auftauchenden Verharmlosungen 1 5 6 betont werden — errichteten auch die Herkunftsländer (also die potentiellen Rückkehrländer) gegenüber trotz allem rückkehrbereiten Emigranten auch enorme Hindernisse. So wurden häufig Emigranten, die vor 1933 noch keine gesicherte akademische Position gehabt und seitdem vielfach — vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich, aber nicht nur dort — in den Aufnahmeländern glänzende wissenschaftliche Karrieren gemacht hatten, eine Rückkehr nur unter den „alten Bedingungen" zugemutet 157 . Auch der Erwerb der Staatsangehörigkeit des Aufnahmelandes erwies sich gelegentlich als bürokratisches Hindernis für eine Einstellung als Beamter in den früheren Herkunftsländern. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung sehr verbreitete Aversion gegen Emigranten, obwohl diese ja vielfach nur durch die Emigration einem sicheren Tod entgangen waren, wie das Beispiel Kurt Greilings für die deutschen logischen Positivi155

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Der in Thiel (1984), S. 241 als Ausnahme erwähnte Helmut Plessner gehört jedenfalls nicht zu den logischen Positivisten und ihrem Umfeld. Siehe zu Plessners Rückkehr nach Deutschland auf einen soziologischen Lehrstuhl in Göttingen Neumann (1985). so etwa in Strauss/Röder (1983), S. LXV. siehe dazu und zum Folgenden Dahms (1985 a).

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sten zeigt, den die Nationalsozialisten im K Z Auschwitz umgebracht hatten 158 . Der damalige Stadtrat für Kultur und Volksbildung Matejka erinnert sich etwa, daß er sich „die kältesten Füße (seines, der Verf.) Lebens" 159 holte, als er darauf hinwies, „es sei unser aller Pflicht und Bedarf, alle diese wertvollen Österreicher zur Heimkehr einzuladen". Selbst die nur „theoretische" Erklärung, die Emigranten „seien wieder herzlich willkommen in der befreiten Heimat", wollte keine österreichische kompetente Stelle damals abgeben. In der Bundesrepublik sah es nicht viel anders aus. Allerdings war das Nachfolgekapitel des logischen Positivismus hinsichtlich der unmittelbaren personellen Kontinuität in Osterreich weniger drastisch als in Deutschland, da wenigstens zwei frühere Mitglieder des Wiener Kreises in Wien geblieben waren. Diese beiden, nämlich Viktor Kraft und Bela Juhos, bekamen aber auch nach 1945 das Fortwirken antipositivistischer Emotionen zu spüren. Denn etwa dem damaligen österreichischen Unterrichtsminister Drimmel als überzeugtem Katholiken galt die Philosophie des Wiener Kreises als ebenso „zersetzend" wie vorher den Nationalsozialisten. Er äußerte sich auch durchaus öffentlich unter Schlagzeilen wie „Positivismus ist gleich Kommunismus « 160 . So wurde Viktor Kraft 1 6 1 zwar nach dem Krieg wieder rehabilitiert. Aber zunächst setzte man ihn nur wieder in den Bibliotheksdienst ein, wo er 1947 als Generalstaatsbibliothekar in den Ruhestand versetzt wurde, bevor er seine Stelle als Extraordinarius wiederbekam, die er zum Zeitpunkt des Entzugs seiner venia legendi innegehabt hatte. Erst zwei Jahre vor seiner Emeritierung wurde er noch Lehrstuhlinhaber. Nach diesen beiden „Ehrenjahren" wurde seine Lehrkanzel nicht mehr im Sinne einer kritisch-rationalen Philosophie besetzt. Schon kurz nach 1945 hatte Kraft einen Nachruf auf Moritz Schlick veröffentlicht, der in der Wiener Arbeiterzeitung erschien und damit nicht gerade dazu beigetragen haben dürfte, die politischen Vorbehalte gegen den Positivismus abzubauen. Möglicherweise erklären sich seine späteren Äußerungen über die „unpolitische" Rolle des früheren Wiener Kreises in seinem 1951 erschienenen Buch „Der Wiener Kreis" zum Teil eben auch mit der Kontinuität antipositivistischer Vorbehalte im Nachkriegsösterreich. 158

'S' 160 161

siehe dazu Schröder (1980). Matejka (1983), S. 192 f. Neider (1977), S. 42. Frey (1975), S. 2.

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In den 70er Jahren hat er diese Äußerungen der unmittelbaren Nachkriegszeit jedenfalls relativiert162. Bezeichnend für die Stimmung in der benachbarten Bundesrepublik der frühen Adenauer-Ära ist wohl auch, daß ausgerechnet Hugo Dingler sich aufgerufen fühlte, seine Kritik am logischen Positivismus — wenngleich in abgeschwächter Form — unter politischen Vorzeichen fortzusetzen 163 . In seiner kurzen Lehrtätigkeit nach 1945 konnte Kraft nicht mehr schulbildend wirken 164 . Aber immerhin hat der sich um ihn bildende „Kraft-Kreis" einige begabte Studenten angezogen, wie Feyerabends Schilderung zeigt165. Sie mußten allerdings alle entweder in die Industrie gehen oder eine wissenschaftliche Karriere außerhalb Österreichs versuchen wie der bekannteste unter ihnen, Paul Feyerabend, selber. Daß einem die ehemalige Zugehörigkeit zum Wiener Kreis auch nach 1945 eine akademische Karriere erschweren und seinen Schülern zum Teil unmöglich machen konnte, mußte Bela Juhos 166 erleben. Er konnte sich zwar 1948 unter der Ägide von Viktor Kraft habilitieren, ist aber an der Universität Wien nie über den Titel eines „titular-außerordentlichen Professors" hinausgekommen. Er hatte damit das „Recht, ohne Bezahlung Vorlesungen zu halten". Nur ein gewisses Privatvermögen erlaubte ihm die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Seine Vorlesungen waren nach der Erinnerung seines Schülers Hubert Schleichen nur von einem kleinen Hörerkreis besucht. Von den Schülern, die er hatte, konnte keiner in Osterreich akademische Karriere machen. Zweien von ihnen (Leinfellner und Schleichen) wurde — wie schon in den zwanziger Jahren Zilsel — die Habilitation in Wien verwehrt 166\ So ist es kein Wunder, daß sich Juhos noch in den 60er Jahren als einziger, der überhaupt die Tradition des Wiener Kreises in Wien fortführte, in seinem Artikel „Moritz Schlick" bitter über die Situation wissenschaftlicher Philosophie und des logischen Positivismus in Osterreich beklagte :

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Kraft (1973), S. 14. Siehe dazu Dingler (1951), S. 25 f. (besonders Fußnote 1) und die Replik in K r a f t (1954), besonders S. 266. Schleichen (1971), S. 9 f. Feyerabend (1979), S. 192; das Kapitel „Ursprung der Ideen dieses Essays" (S. 189— 215) ist eine der interessantesten Quellen f ü r die Nachkriegsgeschichtsschreibung der Philosophie in Österreich. Schleichen (1971), a. a. O., S. 5 ff. Kraft (1971), S. 164.

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„After the interruption caused by World War II, all the official chairs in the Austrian universities were systematically filled by speculative philosophers generally committed to a theological outlook. Only exceptionally was a representative of scientific philosophy able to qualify as a lecturer. But since lecturers and associate or titular professors, unlike regular professors, are not paid a salary in Austria, the authorities had an effective means of compelling unwanted logical analysts of knowledge elsewhere. T h e necessary consequence of a policy so harmful to science has been a shocking decline in the level of scholarship." 1 6 7 Solche pessimistischen Einschätzungen fanden ehemalige Mitglieder des Wiener Kreises bei gelegentlichen Gastaufenthalten in Osterreich noch Mitte der 60er Jahre vollauf bestätigt 1 6 8 . In der benachbarten Bundesrepublik war zu dieser Zeit der berühmte „Positivismusstreit" in der deutschen Soziologie mit seinen erheblichen Ausstrahlungen in die übrige wissenschaftliche und auch philosophische Landschaft entbrannt. Es ist vielleicht nicht unangemessen, wenn ich meine Darstellung mit einigen Bemerkungen über diese K o n troverse schließe, weil sie nicht nur das Positivismusbild einer ganzen Generation — im Positiven wie im Negativen — geprägt hat, sondern auch nicht recht zu den hier dargestellten historischen Hintergründen passen will. D a s Auseinanderklaffen von im Positivismusstreit aufgebrachten bzw. weitergeführten Vorurteilen einerseits und der historischen Wahrheit andererseits erklärt sich m. E. zum großen Teil durch die etwas schiefe „Schlachtordnung" der Kontroverse. Denn der Positivismusstreit wurde nach der Remigration eines Teils der Frankfurter Schule ja gerade nicht „im wesentlichen über den O z e a n geführt" 1 6 9 (also mit den im Exil gebliebenen Vertretern des logischen Positivismus), sondern allenfalls über den Ärmelkanal bzw. über den Main, nämlich mit Karl Popper und seinen deutschen Anhängern. Der Rezeptionsumweg des logischen Positivismus über „den sicher konservativen Nicht-Positivisten K . R. Popper" 1 7 0 ist aber zusammen mit der realen Transformation dieser Bewegung durch die Folgen der Emigration und der Darstellung Viktor 167 168 169 170

J u h o s in E d w a r d s (1967), V o l 7, S. 320. so etwa Feigl (1981 c), S. 89. wie K r ö n e r (1983) es in seiner Einleitung S. 8 behauptet. so Beckermann (1979), S. 31, der auch eine Reihe von weiteren erklärenden H y p o thesen für den Wandel im „Positivismus" nennt.

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Krafts entscheidend für das Positivismusbild im deutschen Sprachraum seit Mitte der 60er Jahre geworden. Daß Popper schon vor seiner Emigration in wichtigen tagespolitischen Einschätzungen von der Mehrzahl der Kreismitglieder erheblich abwich, ist schon erwähnt worden, ebenso wie der Beginn seiner öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Marxismus infolge des „Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich. Es ließe sich im einzelnen zeigen, daß Popper in vielen für die Beurteilung des gesellschaftlichen und politischen Standorts einer Philosophie einschlägigen Fragen in der Folge das genaue Gegenteil von dem vertreten hat, was Vertreter des Wiener Kreises sowohl vorher als auch später publiziert haben. Das reicht von der Einschätzung des wissenschaftlichen Wertes einzelner wissenschaftlicher Theorien wie der Freudschen Psychoanalyse oder des Marxismus, die Popper als Musterbeispiele für Pseudowissenschaften nennt, während ihnen der Wiener Kreis eine wesentliche Rolle bei der kausalen Erklärung von Religion und Metaphysik zuschrieb 171 , setzt sich fort bei gegensätzlichen Ansichten über die Möglichkeit von historischen Erklärungen mittels historischer Gesetze 172 und endet bei unvereinbaren Auffassungen über die Wünschbarkeit und Möglichkeit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Planung, die Popper im Gefolge von Hayeks vehement verneinte m , während etwa Neurath sie nicht nur forderte, sondern auch praktisch vorantrieb 17 \ Aber in mindestens ebenso großem Maße wie der Rezeptionsumweg über Popper ist die Positivismuskritik der „Frankfurter" für das Positivismusbild seit den 60er Jahren verantwortlich zu machen. Daß die Frankfurter Schule im „Positivismusstreit" angesichts seiner merkwürdigen Frontstellung und auch angesichts der inzwischen eingetretenen Wandlungen der „wissenschaftlichen Weltauffassung" zu ziemlich pauschalen Urteilen kam, die zumindest historisch irreführen, mag man vielleicht noch verstehen. Daß aber einer der Wortführer der „kritischen

siehe dazu einerseits Popper (1963), S. 34 ff., andererseits die „Programmschrift" in Haller/Rutte (1981), S. 306. siehe dazu einerseits Popper (1944/45), andererseits etwa die Auffassung Zilsels (und dazu den Beitrag von Krohn in diesem Band). etwa in Popper (1944/45), zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1969, S. VIII f. siehe zur praktischen Seite der Angelegenheit den Beitrag von Mohn in diesem Band, zum theoretischen Aspekt Neuraths späte Hayek-Rezension in Haller/Rutte (1981), S. 979 ff., die im übrigen auch die von Neider vorgetragene Ansicht (in Neider (1977), S. 41) zumindest relativiert, Neurath sei als Liberaler gestorben.

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Theorie", Max H o r k h e i m e r , schon zu Zeiten der Naziherrschaft in seiner Kritik des logischen Positivismus „eher kurzschlüssig argumentiert, (seine; der Verf.) Sicherheit sehr stark sachlicher Ignoranz verdankt, kurz, in unentschuldbarer Weise fehlerhaft" 1 7 5 verfahren war, wird zumal angesichts der damals angebahnten, aber schließlich offenbar aus nichtpolitischen G r ü n d e n nicht zustande gekommenen Kooperation 1 7 6 erklärungsbedürftig bleiben. So wirft die Betrachtung der durch den Nationalsozialismus verschuldeten Diskontinuitäten f ü r das Verständnis der deutschsprachigen Nachkriegsphilosophie und -Wissenschaft eine Menge Fragen auf. N a c h meiner Ansicht müßte es vordringliche Aufgabe einer Zeitgeschichtsschreibung der deutschen Philosophie sein, diese Probleme einmal systematischer anzugehen, und zwar unter Einhaltung von historischen Methoden, wie sie in der allgemeinen Geschichtsschreibung längst zum Standard gehören. Im Wiener Kreis hat es gelegentlich Diskussionen darüber gegeben, ob die übliche und auch von Schlick und Russell geteilte Ansicht zutrifft, „that a widespread acceptance of a philosophical doctrine depends chiefly on its truth" oder ob die von N e u r a t h und anderen vertretene These wahr ist, „that the sociological situation in a given culture and in a given historical period is favorable to certain kinds of ideology o r philosophical attitude and unfavorable to others" l 7 7 . Als sich diese Diskussionen abspielten, konnten die an ihnen beteiligten Mitglieder des Wiener Kreises noch nicht ahnen, daß das spätere Schicksal ihrer eigenen Philosophie eindrucksvollstes Anschauungsmaterial f ü r die Beurteilung dieser Kontroverse abgeben würde.

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so mit entsprechender ausführlicher Begründung Hegselmann (1983), S. 68. a. a. O., S. 74, Fußnote 12. beide Thesen nach Carnap in Schilpp (1963), S. 22; ähnlich — und aus der Rückschau pointierter — äußert sich auch Schleichen (1971), S. 6 und 9 zu dieser Kontroverse.

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JOACHIM SCHULTE

Waismann über Willen und Motiv Waismann war eines der treuesten Mitglieder des Wiener Kreises, aber es fällt nicht immer leicht, ihn voll dazuzurechnen. Als erster sprach er in einer Veröffentlichung das Prinzip aus: „... der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation." 1 Er war Schlicks Assistent und zugleich das Sprachrohr Wittgensteins, mit dem er zahlreiche Gespräche führte — sogar ein gemeinsam verfaßtes Buch war geplant. 2 Waismanns außerordentliches Geschick, komplizierte Sachverhalte faßlich darzustellen, geht aus seiner immer noch beispielhaften Einführung in das mathematische Denken hervor. Seine Verbindung zu Wittgenstein riß ab, als dieser sich 1936 über mangelhafte Würdigung seines Einflusses beklagte; die Beziehung zu den übrigen Mitgliedern des Wiener Kreises schlief allmählich ein, nachdem er 1938 nach England emigriert war. Vor allem in den fünfziger Jahren wandte er sich immer stärker einer Form der Begriffsanalyse zu, die zwar weder Wittgensteins Einfluß noch die Herkunft aus dem Wiener Kreis leugnete, aber immer eigenständigere Züge an den T a g legte. Waismanns sogenannte Arbeit über Willensfreiheit 3 stammt höchstwahrscheinlich aus der zweiten Hälfte der vierziger Jahre. Daß sie in England (also nach seiner Emigration im Jahre 1938) geschrieben wurde, ist offenkundig, da sowohl das verwendete Papier als auch die Schreibmaschine englischer Machart sind. Der Schluß, daß das Typoskript gegen Ende der vierziger Jahre entstanden ist, wird unter anderem durch den Umstand nahegelegt, daß sich an entscheidenden Stellen deutliche Parallelen zu Ryles The Concept of Mind (erschienen 1949) fin1 1

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„Logische Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs", in: Was ist logische Analyse, S. 5. Auf englisch erschien das Buch zuerst 1965; das deutsche Original Logik, Sprache, Philosophie kam erst 1976 heraus. In Waismanns Nachlaß, der von mir geordnet wurde und nun in Oxford in der Bodleian Library zugänglich ist, trägt das Typoskript die Nr. L.2 (s. meinen Aufsatz „Der Waismann-Nachlaß"). Die traditionelle Bezeichnung „Willensfreiheit" rührt vermutlich daher, daß Waismann das Typoskript in einer Mappe mit dieser Beschriftung aufhob. Eine Ausgabe dieser Schrift ist 1983 zusammen mit Waismanns Vortrag über Ethik und Wissenschaft (1938) bei Reclam erschienen.

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den, und da wir wissen, daß Ryle und Waismann in Oxford miteinander bekannt waren und vermutlich über philosophische Fragen diskutierten, ist es durchaus möglich, daß Waismann schon vor dem Erscheinen von Ryles Buch an seinem Manuskript arbeitete, während eine Entstehung in den fünfziger Jahren aufgrund fehlender Parallelen zu Waismanns mit Sicherheit zu datierenden Arbeiten aus dieser Zeit 4 unwahrscheinlich ist. Ein weiterer Hinweis auf die ungefähre Entstehungszeit unseres Typoskripts wird durch den Stil und die darin genannten Autoren gegeben. Der Stil ist nämlich, wenn man so sagen darf, wesentlich „poetischer" als in den dreißiger oder fünfziger Jahren, und gerade während der vierziger Jahre schrieb Waismann seine zahlreichen im Nachlaß erhaltenen Gedichte und Aphorismen. P i e Autoren, die Waismann nennt und zitiert, gehören seiner Jugend an: Schopenhauer, William James und Freud, Dostojeswki, Kafka und Musil; zeitgenössische Philosophen kommen nicht vor, weder Waismanns englische Kollegen noch der für seine eigene Entwicklung maßgeblichste Philosoph: Wittgenstein. N u r Waismanns verehrter Lehrer und Mentor Schlick wird einmal genannt. Daraus darf man jedoch nicht den Schluß ziehen, daß wir es womöglich mit einer sehr frühen Arbeit Waismanns zu tun haben; das ist sowohl aus inhaltlichen Gründen wie auch wegen der bereits genannten äußerlichen Merkmale auszuschließen. Der Stil und die Berufung auf Autoren seiner Jugendzeit ist eher biographisch zu erklären, nämlich durch Waismanns vielfach bezeugtes Gefühl der Isoliertheit und die Schwierigkeit, sich in der Fremde zurechtzufinden. 5 Es ist naheliegend, daß er wenigstens intellektuell an einer Welt festhalten wollte, die ihm mehr zusagte als das Oxford der vierziger Jahre, auch wenn die Problemstellung und der argumentative Gehalt seiner Schrift durchaus verraten, daß der Autor Thesen des Wiener Kreises, Wittgensteins und Ryles kennt und absorbiert hat. Dieses sogenannte Typoskript über Willensfreiheit ist ein abgeschlossener Entwurf, der von Willensfreiheit jedoch nur auf den ersten Seiten handelt und das klassische Problem der Determiniertheit oder Nichtdeterminiertheit unseres Handelns als untaugliche Fragestellung zurückweist. Man könnte vielleicht sagen: Waismann weist es als

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Arbeiten aus den f ü n f z i g e r J a h r e n f i n d e n sich in How I See Philosophy, Was ist logische Analyse, Philosophical Papers und Lectures on the Philosophy of Mathematics. V g l . ζ . Β. Quintons „Introduction" zu Philosophical Papers s o w i e A y e r s D a r s t e l l u n g in Part of My Life, S. 132 f.

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„Scheinproblem" 6 zurück, obgleich er diesen f ü r den Wiener Kreis so typischen Ausdruck nicht verwendet. Im G r u n d e handelt das Buch von den Begriffen „Wille" und „Motiv", und in der T a t spricht Waismann im letzten Kapitel von seiner „Abhandlung über den Willen" (145). 7 Mit Bedacht wird hier von den Begriffen „Wille" und „Motiv" gesprochen, denn Begriffsklärung, Begriffsanalyse, ist das Hauptziel von Waismanns U n terfangen. Begriffsanalyse ist f ü r Waismann jedoch weder Analyse im Mooreschen Sinne — ein bohrendes Zerlegen eines als festumrissen und gegeben vorgestellten Inhalts — noch logische Syntax in der Nachfolge Carnaps. Waismanns V e r f a h r e n ist in mancher Hinsicht an Wittgenstein geschult (was angesichts der langjährigen Zusammenarbeit zwischen Waismann und Wittgenstein freilich nicht zu verwundern ist), bleibt aber doch in vielem ganz unabhängig von Wittgenstein, und vor allem stilistisch hat sich Waismann seine Selbständigkeit bewahrt. 8 Am besten läßt sich Waismanns Schrift m. E. als Ansatz zu einer Handlungstheorie charakterisieren — „Ansatz" deshalb, weil die Theorie nicht voll ausgebildet ist, „Handlungs-Theorie" deshalb, weil Waismann stets darauf pocht, die zu analysierenden Begriffe seien im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit im Kontext der Beschreibung und Erklärung einer Gesamthandlung zu untersuchen. W a r u m weist Waismann das traditionelle Problem der Willensfreiheit — wenn man so will: als Scheinproblem — zurück? Er sagt, ganz im Sinne seiner intellektuellen H e r k u n f t aus dem Wiener Kreis, unser Kriterium f ü r Determiniertheit sei die Vorhersagbarkeit eines Ereignisses aufgrund von (naturwissenschaftlichen) Gesetzen. N u n können wir zwar, vor allem wenn wir eine Person gut kennen, ihre H a n d l u n g e n innerhalb bestimmter Grenzen vorhersagen, und vielleicht tun wir dies auch aufgrund gesetzesartiger Erkenntnisse, doch die Konzeption der Vorhersagbarkeit, meint Waismann, werde dem menschlichen H a n d e l n und unserem Begriff einer menschlichen H a n d l u n g nicht gerecht. Wir haben ein Bild vom Entstehen und Vollziehen einer H a n d l u n g , das die Anwendung des naturwissenschaftlichen Determiniertheitsbegriffs un-

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Waismanns Lehrer Schlick dagegen nennt „das sogenannte Problem der Willensfreiheit" explizit ein „Mißverständnis", ein „Scheinproblem" und eine „Scheinfrage" (vgl. „Wann ist der Mensch verantwortlich?"). Zitiert wird nach der Ausgabe in Wille und Motiv. Waismann hat mit Wittgenstein auch über Schlicks Fragen der Ethik diskutiert, S. WWK, S. 115. Zu dem Verhältnis Waismanns zu Schlick und Wittgenstein, s. G. Baker, „Verehrung und Verkehrung".

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zulänglich, ja sinnlos macht, und dieses Bild wird von Waismann als zumindest in groben Zügen zutreffend anerkannt: „... da ist ein Mensch im Augenblick eines Willensentschlusses — vor ihm ist immer ein offener Kegel von Möglichkeiten, die einen mehr wahrscheinlich, die anderen weniger wahrscheinlich, aber alles ohne scharfe Grenze fließend, ungewiß" (9). Da dieses Bild der Offenheit der Handlungsmöglichkeiten von Waismann als richtig angenommen wird, muß er das Kriterium der Vorhersagbarkeit fallenlassen; und da es das einzige Kriterium für Determiniertheit sei, müssen wir die ganze klassische Fragestellung aufgeben, weil wir nicht imstande seien, in bezug auf menschliche Handlungen zwischen determiniert und nichtdeterminiert zu unterscheiden. Diese Zurückweisung des Determiniertheitskriteriums besagt jedoch weder, daß wir über den Willen gar nichts sagen können, noch daß wir auf Berichte über subjektives Erleben — Introspektion — angewiesen sind. Im Gegenteil, Waismann räumt zwar ein, daß inneres Erleben und vor allem unsere erinnerte Erfahrung solchen Erlebens bei einer Erläuterung absichtlichen, willentlichen Handelns berücksichtigt werden muß, doch er deutet wiederholt die Gefahren der Irreführung durch Berufung auf Introspektion an. Dies tritt besonders klar hervor, wenn ich ζ. B. zu erkennen versuche, inwiefern ich gewollt habe, einen entscheidenden Schritt zu tun, einen Schritt, der mein Leben verändern soll. Hier kann ich noch soviel grübeln und meditieren, das Wollen kann ich in mir nicht wahrnehmen. Waismann schreibt, daß „man eigentlich erst im Lichte künftiger Erfahrungen sehen kann, ob man wirklich gewollt hat, daß man aber nicht, indem man sich sozusagen in das eigene Innere versenkt, das Vorhandensein eines solchen Willens direkt wahrnehmen kann. Keine Introspektion, keine Erforschung des eigenen Innern, mag sie noch so schonungslos sein, kann uns davon überzeugen, daß der Wille zur Änderung des Lebens wirklich in uns lebendig ist. Denn diese Erkenntnis erfordert Daten, die mir jetzt im Augenblick, da ich mich prüfe, noch gar nicht zur Verfügung stehen, sondern mir erst in der Zukunft zugänglich sein werden" (23). Diese Aussage ist in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll. Zum einen bestreitet Waismann, wie gesagt, die Relevanz der Introspektion für die Erkenntnis des Wollens, zum anderen weist er darauf hin, daß ich mich, um herauszufinden, ob ich gewollt habe oder nicht, zu mir selbst gleichsam verhalten muß wie ein anderer: Ich muß abwarten, wie ich in Zukunft handle, was ich zu leisten vermag, wie ich mich verhalten werde, um zu erkennen, ob ich seinerzeit wirklich einen gewollten Schritt vollzogen habe.

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Daß Introspektrion nur wenig leistet und ich in der Beurteilung meines eigenen Wollens vielfach nicht besser daran bin als ein „Außenstehender", zeigt Waismann auch im Zusammenhang der Frage, ob eine Handlung spontan sei. Wie kann man ausfindig machen, ob jemand unter Hypnose handelt oder nicht? Nun, das beste Kriterium ist sicherlich, ob seine Handlung zu ihm paßt, und zwar in dem Sinne, ob sie mit dem übereinstimmt, was er sonst zu tun pflegt, oder ob der fragliche Akt „uncharakteristisch" ist. Und genauso steht es mit mir selbst: Um zu erfahren, ob ich jetzt unter Hypnose stehe, genügt es nicht, daß ich in mich selbst schaue; es gibt nämlich, wie Waismann sagt, „kein inneres Kennzeichen, das eine gewollte Handlung von einer unter fremdem Willem zustande gekommenen unterscheidet, wenn sich dieser fremde Wille meinem Wissen entzieht" (70). Das Passen der betreffenden Handlung zum übrigen Verhalten kann also auch im eigenen Fall das Kriterium der Spontaneität des Handelnden sein, während mir die Introspektion keinen Aufschluß darüber gibt. Eines der Hauptziele von Waismanns Untersuchung ist die Beantwortung der Frage, wann man zu Recht von Wollen — im Gegensatz zum Wünschen z. B. — sprechen kann. Diese Fragestellung scheint sich auf die Angabe hinreichender u n d / o d e r notwendiger Bedingungen (bzw. wenn möglich : hinreichender und notwendiger Bedingungen) zu richten, doch dazu sieht Waismann keine Möglichkeit, und zwar aus mehreren Gründen: Zunächst schlägt er vor, das Wollen vom Wünschen dadurch abzugrenzen, daß, während Wünschen rein subjektiv — eine bloße Vorstellung — bleiben kann, Wollen manifest werden muß; d. h., erst im H a n deln zeige sich, ob etwas wirklich gewollt ist. Diese These faßt Waismann mit dem Schlagwort „Der Wille ist die Tat" (12) zusammen. Im Gang der Untersuchung zeigt sich jedoch sehr rasch, daß dieses Schlagwort zur Charakterisierung des Wollens weder notwendig noch hinreichend ist. Um es kurz zu sagen : Notwendig ist die Tat deshalb nicht, weil wir auch dann zu Recht von Wollen sprechen können, wenn die Ausführung nicht gelingt, d. h., wenn es kein aufweisbares Ereignis gibt, das man als Manifestation des Willens namhaft machen könnte; hinreichend ist die Tat deshalb nicht, weil wir auch dann (ζ. B. im Falle von Routine- oder automatischen Vollzügen) von Handlungen sprechen, wenn von Wollen oder Willensleistung keine Rede sein kann. Das Schlagwort „Der Wille ist die T a t " ist also im Grunde nicht mehr als ein höchst fehlbares Kriterium zur Unterscheidung des Wollens vom Wünschen.

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Die Untersuchung der Tauglichkeit seines Schlagworts dient Waismann in der Hauptsache zur Aufstellung einer Liste von Merkmalen des Wollens, die entschieden systematischen Charakter hat und sodann dazu verwendet wird, den prekären Status dieses Schlagworts aufzuzeigen. Diese Liste der Merkmale des Wollens wird gewonnen durch Betrachtung einer gewollten Körperbewegung, also des klassischen philosophischen Beispiels einer Willenshandlung, wie ζ. B. des Hebens meines Arms o. dgl. Insgesamt nennt Waismann acht Merkmale: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

7. 8.

Das Subjekt muß eine zumindest ungefähre, schematische Vorstellung von der Ausführung der Körperbewegung haben; es müssen afferente Reize vorhanden sein, d. h., man muß im betreffenden Glied „Gefühl haben"; es müssen motorische Impulse gegeben sein; das Subjekt muß an die Ausführbarkeit der Bewegung glauben; es muß ein Gefühl der Anstrengung, der Uberwindung eines Widerstands geben: das Subjekt muß sich eines Vorhabens bewußt sein, es muß seine Aufmerksamkeit auf etwas lenken — man „muß wissen, was man will"; man muß ein Bewußtsein der Eigenaktivität haben, d. h. glauben, daß man keine bloße Marionette ist; bei der Ausführung müssen bestimmte Muskelgefühle und kinästhetische Empfindungen gegeben sein.

Anhand dieser Liste läßt sich deutlich zeigen, wieso das Schlagwort „ D e r Wille ist die T a t " weder notwendige noch hinreichende Bedingungen des Wollens angibt: Zum einen ist es möglich, daß die Momente (4) und (8) fehlen, ζ. B. wenn das betreffende Glied gelähmt ist und das Subjekt weiß, daß dieses Glied gelähmt ist, es aber trotzdem zu bewegen versucht, etwa weil Grund zur Annahme einer Besserung besteht. In diesem Fall sprechen wir zwar ganz zu Recht von Wollen, aber die Ausführung der beabsichtigten Handlung ist nicht notwendig. Zum anderen können die Elemente (5) bis (7) fehlen, d. h. das Bewußtsein der Anstrengung, das Bewußtsein des Etwas-Vorhabens, das Gefühl der Eigenaktivität, ζ. B. im Falle von Routinehandlungen oder bei völlig automatisch vollzogenen Akten, und dies besagt, daß nicht alle Handlungen im strikten Sinne gewollt sind — das Schlagwort gibt also keine hinreichende Bedingung an. Eine Konsequenz dieser letzten Überlegung ist ζ. B., daß eine Person Handlungen vollziehen kann, für die sie zwar ver-

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antwortlich — mithin auch haftbar — ist, ohne daß wir jedoch sagen können, diese Handlungen seien gewollt. Diese systematische Auflistung der Merkmale des Wollens stimmt mit so manchem anderen Versuch dieser Art überein; stets werden, wenn der Begriff des Wollens zu explizieren ist, die physiologischen Voraussetzungen und das Moment der Intentionalität genannt. Waismann hebt unter allen diesen Merkmalen insbesondere das der Anstrengung, der Uberwindung eines Widerstands hervor und streicht es als das wesentliche Element des Wollens heraus. Von einem Wollen können wir nach Waismann nur dann sprechen, wenn es wenigstens einen minimalen Widerstand zu überwinden gibt, etwas, das die Aufmerksamkeit des Betreffenden in Anspruch nimmt. Andererseits dürfe der Widerstand nicht zu groß sein, denn sonst könne wiederum nicht gewollt werden. So kann ich zwar den Wunsch hegen, jetzt die Hammerklaviersonate zu spielen, obwohl ich es bisher nur zur Sonata facile gebracht habe, aber wollen kann ich es nicht — das Gewünschte steht in flagrantem Mißverhältnis zu meinen Möglichkeiten. In diesem Zusammenhang nennt Waismann einen Aspekt, der u. a. deshalb erwähnenswert ist, weil er auf doppelte Weise mit Gedanken des mittleren und späten Wittgenstein zusammenhängt. Waismann führt nämlich aus, daß wir zu der Auffassung tendieren, von einem Sichanstrengen, vom Versuch, Widerstände zu überwinden, könnte eigentlich nur dann gesprochen werden, wenn der Betreffende einen W e g zu kennen glaubt, wie er zum Ziel gelangen kann. Und dies entspricht der bekannten These des mittleren Wittgenstein : „Wo man nicht suchen kann, da kann man nicht fragen, und das heißt: W o es keine logische Methode des Findens gibt, da kann auch die Frage keinen Sinn haben" (PhB, S. 172). Andererseits, fährt Waismann fort, könne man eine genaue Kenntnis des Weges nicht voraussetzen, und er schränkt den vorigen Gedanken durch eine ebenfalls an Wittgenstein gemahnende These ein, 9 indem er schreibt: „Der Begriff des Suchens hat einen verschwommenen Rand; und daher auch der Begriff der Anstrengung und der des Willens" (37). Trotz der Vagheit des Wollensbegriffs lassen sich viele begriffliche und situationsbezogene Bedingungen der Anwendung dieses Begriffs nennen. So weist Waismann u. a. darauf hin, daß das Wollen ein gewis9

P U § 71 : „Man kann sagen, der Begriff 'Spiel' ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern" usw.

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ses Zutrauen voraussetzt, ein Glauben an die eigene Fähigkeit, das Gewollte auch erreichen zu können. Um zu wollen, muß mir die Zukunft als veränderbar erscheinen. Dagegen gibt es potentielle Beziehungen zwischen mir und der Zukunft, die ein Wollen ausschließen. So sagt Waismann, daß ein Zuviel an Wissen das Wollen unmöglich machen kann. Allerdings gebe es hier sowohl eine psychologische als auch eine logische Unmöglichkeit: Die psychologische Unmöglichkeit ist uns allen aus eigener Erfahrung vertraut: Denn wenn ich zu gut über die Konsequenzen einer bestimmten Handlung wie auch ihrer Unterlassung Bescheid weiß, werde ich durch das aus diesem Wissen folgende unaufhörliche Erwägen von pro und contra und meine Unschlüssigkeit am Wollen gehindert; mein Wille ist, wie wir sagen, gelähmt. Wäre mein Wissen dagegen so umfassend, daß es sich auch auf meine eigenen künftigen Willensentscheidungen erstreckte, so wäre der Begriff des Wollens gar nicht mehr anwendbar; das Wollen wäre aus begrifflichen Gründen unmöglich, weil es in dieser Situation kein Wählen gäbe: Nicht einmal der Anschein von Entscheidungsfreiheit wäre vorhanden. Waismann formuliert die Konsequenz so: „Das Wollen erfordert also eine gewisse Dämmerung: es verlangt, daß man einige Schritte weit sieht, aber nicht zu weit, und daß man nicht zu genau weiß, wie man in einer gegebenen Situation entscheiden wird" (56). Waismann geht es jedoch nicht nur um die Frage, wann wir zu Recht von „wollen" bzw. von einer Willenshandlung sprechen können. Er will auch das Problem behandeln, wie es zu einer Willenshandlung kommt, d. h. welcher Art die zutreffende Antwort bzw. die zutreffenden Antworten auf die Frage „Warum hat er das getan?" sind. Eine befriedigende Antwort auf eine solche Warum-Frage, meint Waismann, enthält gewöhnlich die Angabe eines Motivs der Handlung. Was aber sind Motive? Eines ist sicher: Introspektion wird uns auch hier nicht weiterbringen, denn was ich in mir wahrnehme, wenn ich zu ergründen suche, warum ich etwas tun will bzw. warum ich etwas habe tun wollen, kann so vielfältig, so wandelbar und so nichtssagend sein, daß von daher kein Aufschluß zu erwarten ist. Und wenn ich reflektierend auf die Frage nach dem Warum meiner Handlung ζ. B. zutreffend sage: „Ich habe es aus Geldgier getan", dann entspricht diese nach Voraussetzung richtige Antwort womöglich keinem introspizierbaren Element meines Bewußtseins. Daß innere Vorgänge und Motiv in keinem erkennbaren Zusammenhang zu stehen brauchen, wird (wie auch Ryle in seiner klassischen

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Abhandlung Der Begriff des Geistes hervorgehoben hat) 10 vor allem in solchen Fällen deutlich, in denen das Motiv einer Disposition entspringt, einem Charakterzug, wie wir umgangssprachlich sagen. Waismanns Beispiel ist: „Er handelte aus Eifersucht." Es ist klar, daß eine aus Eifersucht vollzogene Handlung ohne eifersuchtsbezogene Gedanken, Vorstellungen oder Gefühle vollbracht werden kann. D. h., ein Motiv wie das der Eifersucht kann unbewußt bleiben. Anders steht es in den Fällen, in denen ich auf die Frage nach dem Motiv meiner Handlung mit der Angabe eines Ziels, einer zu erfüllenden Absicht, antworte. So kann es ζ. B. sein, daß ich auf die Frage nach dem Warum einer bestimmten Handlung erwidere : „Ich habe ihn geschlagen, um ihn aufzuwecken", oder: „Ich habe sie geküßt, um sie zu betören" o. dgl. In allen derartigen Fällen müssen wir davon ausgehen, daß dem Handelnden das Ziel seiner Handlung, das, worauf er es mit seinem Wollen abgesehen hat, vorschwebt. Er muß in solchen Fällen ein — und sei es noch so vages — Bewußtsein seines Motivs haben. Diese Unterscheidung zwischen notwendig bewußten Motiven einerseits und womöglich unbewußten Motiven andererseits macht sich Waismann terminologisch zunutze: Die ersteren (also die mit Zweckangaben und Bewußtsein verbundenen) Motive nennt er Beweggründe, während er die letzteren (vom Typ Eifersucht, Ehrgeiz usw.) Triebfedern nennt. Doch diese Unterscheidung bezeichnet, wie Waismann durch Erörterung von Beispielen zeigt, keine erschöpfende und immer durchzuhaltende Dichotomie. So gibt es, wie Waismann ausführt, Motive, denen zwar kein Ziel, keine bewußte Absicht entspringt, die aber dennoch stets etwa Bewußtes sind: ζ. B. „aus Zorn handeln", „aus Ubermut handeln" usw. Die mit diesen Begriffen gemeinten Motive unterscheiden sich von den Beweggründen vor allem durch das Fehlen eines spezifischen Handlungsziels, von den Triebfedern zum einen durch die notwendige Bewußtheit, zum anderen auch noch durch ihr transitorisches Wesen: Zorn, Grimm usw. gehen gewöhnlich rasch vorüber, während Eifersucht, Geiz u. dgl. bleibende Motive sind. Die dritte Klasse von 10

„Wenn man jemandem ein Motiv f ü r eine T a t unterstellt, ist das nicht ein kausaler Schluß auf ein unbeobachtbares Ereignis, sondern die Unterordnung eines Ereignissatzes unter einen gesetzähnlichen Satz" (Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 117). „Daß ein gewisses Motiv ein Zug in jemandes Charakter ist, heißt also, daß er dazu neigt, gewisse Dinge zu tun ... Daß einer f ü r eine T a t dieses Motiv hatte, heißt, daß diese Tat, unter diesen bestimmten Umständen unternommen, gerade das war, wozu er aus diesem Motiv neigte. Es heißt soviel wie: ,Das sieht ihm ähnlich.' "(a.a.O., S. 120.)

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Motiven, die sich also deutlich von Triebfedern wie von Beweggründen abhebt, nennt Waismann Antriebe. Aus den bereits aufgezählten Differenzen zwischen diesen Klassen von Motiven untereinander zieht Waismann den Schluß, daß der Versuch, ein Merkmal zu finden, welches allen Motiven gemeinsam ist, scheitern muß. Er schreibt: „Die Wahrheit ist die, daß in den verschiedenartigen Motiven nichts Gemeinsames zu entdecken ist, weil sie nichts Gemeinsames haben; es ist vielmehr so, daß die Sprache eine große Anzahl verschiedenartiger Gebilde, die auf die mannigfachste Art und durch verschiedene einander kreuzende Beziehungen verwendet sind, zu einer lockeren, unscharf begrenzten Gruppe vereinigt hat" (115). Aber nicht genug damit, daß Waismann die Möglichkeit bestreitet, ein gemeinsames, wesentliches Merkmal der Motive zu finden. Er hält es außerdem für aussichtslos, eine vollständige Einteilung und Klassifizierung der Typen von Motiven zu finden. So nennt er das Motiv „eine feindliche Einstellung haben" und führt aus, daß es unter keine der drei bisher genannten Klassen fällt; ähnliches könne man auch über „Motive, an Gott zu glauben" und „Motive, die Unsterblichkeit der Seele zu wünschen" u. dgl. sagen. Das Fazit lautet also, daß mit der Unterscheidung zwischen Beweggrund, Antrieb und Triebfeder zwar ein wichtiger Ansatz zu einer Klassifizierung gegeben ist, aber keine befriedigende Wesensbestimmung noch eine vollständige Aufzählung der Arten von Motiven. Schematisch könnte man das Resultat dieser Unterscheidungen so aufzeichnen: MOTIVE

... Triebfeder ... Antrieb ... Beweggrund ... Motive führen wir an, um zu erklären, weshalb eine Handlung vollzogen worden ist. Dies gilt sowohl in dem Fall, in dem wir unsere eigenen Handlungen verständlich zu machen oder zu rechtfertigen suchen, als auch in dem Fall, in dem wir uns über die Handlungen einer anderen Person Rechenschaft ablegen wollen. Den Willen bringen wir ins Spiel, um zu sagen, daß eine Handlung einerseits freiwillig, d. h. ohne äußeren Zwang, andererseits nicht automatisch bzw. geradezu bewußtlos vollzogen worden ist. Es scheint demnach, als sei unser gewöhnliches Schema des Handelns das eines Vollzugs, dem ein Motiv zugrunde liegt, das der Wille auswählt und sich zu eigen macht, woraufhin er, von dieser Entscheidung ausgehend, die eigentliche Handlung hervorbringt.

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An diesem Bild stimmt jedoch vieles nicht, wie Waismann deutlich macht. Vergegenwärtigen wir uns die Richtung dieses vermeintlichen Vorgangs : MOTIV-*

WILLE-*

HANDLUNG

Müssen wir uns nicht fragen, was der Entscheidung des Willens zugrunde liegt, wenn er ein bestimmtes Motiv wählt? U n d was kann das sein, wenn nicht ein weiteres Motiv? W i r sehen sofort, wenn wir uns solche Fragen stellen, daß hier zahlreiche Angriffspunkte f ü r Regreßargumente sind, wie wir sie etwa aus Ryles W e r k kennen. Ähnliche Argumente f ü h r t auch Waismann ins Feld, ζ. B. wenn er schreibt: „Fragt man nun, was den Willen bestimmt, so scheint die Antwort zu sein : das Motiv. D e n n als Motiv fassen wir gemeinhin das auf, was den Willen in Bewegung setzt, den Beweggrund. Also : der Wille wählt, bestimmt das Motiv; aber wie kann er das, wenn er von dem Motiv bestimmt wird? Ferner: W e n n der Wille von etwas anderem, dem Motiv bestimmt wird, wie kann er dann der Wille sein, das, was bewegt? D a n n käme ja dem Motiv die bewegende K r a f t zu, und der Wille wäre eigentlich ganz überflüssig" (102). Klarer kann man es eigentlich nicht sagen: An unserem Bild, w o nach der Wille ein Motiv wählt und dementsprechend eine H a n d l u n g herbeiführt, ist etwas faul — der Wille ist im G r u n d e gar nicht vonnöten, 1 1 wenn man die Sache im Sinne eines zeitlich gerichteten und ursächlich bestimmten Ablaufs betrachtet. Andererseits haben wir gesehen, daß uns das Wesen der Motive nur ansatzweise deutlich geworden ist: W i r kennen weder eine zulängliche Definition der Motive noch wissen wir eine vollständige Liste der Arten von Motiven anzugeben. Überdies ändern sich die Motive, wie Waismann erklärt, d. h.: heute scheint uns dies das Motiv einer H a n d l u n g zu sein, morgen etwas anderes. W ä h r e n d ich ζ. B. heute glaube, aus altruistischen Motiven gehandelt zu haben, sehe ich später vielleicht ein, daß eine ganze Menge Egoismus im Spiel war. O d e r , unter anderem Blickwinkel gesehen, f ü r mich ist dies das Motiv der H a n d l u n g , f ü r dich ist das das Motiv. So mag es etwa sein, daß J o h a n n a glaubt, Paul habe sie 11

Vgl. hiermit die abweichende Einschätzung Davidsons, der ein ähnliches Schema entwirft, bei dem „Vernunft" und „Leidenschaft" als antagonistische Motive einander gegenüberstehen und der „Wille" als entscheidender Faktor hinzutritt: „It is up to The Will to decide who wins the battle. If T h e Will is strong, he gives the palm to reason; if he is weak, he may allow pleasure or passion the upper hand" ( H o w is Weakness of the Will Possible, S. 35). Dieses Schema, betont Davidson, sei einem Bild, das ohne den Willen auszukommen sucht, überlegen.

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wegen ihres Geldes geheiratet, während Paul seine Ichschwäche f ü r das bestimmende Motiv hält. Motive hängen also von der Sehweise ab. Sie sind zwar keineswegs beliebig wählbar, denn mal kann man die W a h l des genannten Motivs rechtfertigen, ein andermal kann man es nicht. Es gibt jedoch keine letzte Instanz, auf die man sich berufen könnte, um unwiderlegbar zu entscheiden, welches Motiv das richtige ist. Motive sind, um es mit Waismanns eigenem W o r t zu sagen, „Deutungen". 1 2 Damit soll keinem wildwüchsigen Erklärungspluralismus das W o r t geredet, sondern schlicht eine Grenze unserer Erkenntnismöglichkeiten angedeutet werden. Überdies sind nicht alle Motive in der gleichen Lage. Waismann weist darauf hin, daß wir in besonderen Fällen zahllose Einzeldaten über die Entstehung und den Ablauf einer H a n d l u n g zusammentragen und damit wenigstens in die N ä h e einer kausalen Erklärung gelangen können. „Die Frage nach dem Motiv ist", wie er schreibt, „in diesem Fall viel ähnlicher der Frage nach der Ursache" (144). Doch dies ist wohl kaum der N o r malfall, in dem wir uns vielmehr mit folgender Sachlage abfinden müssen: „... da die Motive . . . unfest sind und einem bei kritischer Besinnung unter den H ä n d e n zerrinnen, ist es besser, sie von A n f a n g an nicht als bestimmt existierende Dinge aufzufassen, sondern lieber zuzusehen, was dann wirklich geschieht, wenn man handelt und sich dann über das eigene H a n d e l n Urteile macht" (139). Welche Schlüsse können wir aus diesen Betrachtungen ziehen? Einerseits sagt Waismann, daß weder Wille noch Motiv isolierbare und in Absehung vom Handlungskontext erklärbare P h ä n o m e n e sind. Sie sind keine selbständigen Entitäten, die wir durch unseren Scharfsinn in ihrem Wesen zu erkennen vermögen, sondern essentiell abhängige Momente unseres Handelns, die wir in dieser funktionalen Hinsicht erläutern können und deren Erscheinungsvoraussetzungen wir zumindest in groben Zügen zu kennzeichnen vermögen. W i r können angeben, unter welchen Bedingungen wir zu Recht von „wollen" bzw. von einer gewollten H a n d l u n g sprechen, und wir sind auch imstande, Arten von Motiven zu beschreiben, zu analysieren und zu klassifizieren. Diese Möglichkeiten

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Hier weicht Waismann deutlich von seinem Lehrer Schlick ab. Während Waismann das Wandelbare der Motive und ihre Rolle als „Deutungen" herausstreicht, sind sie für Schlick Ursachen·. „Auf die Setzung von Ursachen, von Handlungsmotiven kommt es an" („Wann ist der Mensch verantwortlich?", S. 163), „Von Motiven kann man nur in kausalen Zusammenhängen sprechen" (S. 166).

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sollten uns Aufklärung verschaffen über einiges, was dunkel ist, aber zugleich aufrufen zur Bescheidenheit unseres Erkenntnisanspruchs.

L ite raturve rzeichn is Ayer, A.J.: Part of My Life, Collins, London 1977. Baker, G.: „Verehrung und Verkehrung: Waismann and Wittgenstein", in: G. G. Luckhardt (Hg.): Wittgenstein, Sources and Perspectives, Harvester Press, Hassocks 1979, S. 243—85. Davidson, D.: „ H o w is Weakness of the Will Possible?", in: Essays on Action and Events, O U P , Oxford 1980, S. 21 — 42. Ryle, G.: The Concept of Mind, Hutchinson, London 1949; dt. Der Begriff des Geistes, Reclam, Stuttgart 1969. Schlick, M.: „Wann ist der Mensch verantwortlich?", Kap. VII aus Fragen der Ethik, Springer, Wien 1930, abgedr. in: Pothast (Hg.), Freies Handeln und Determinismus, Suhrkamp, Frankfurt 1978, S. 1 5 7 - 6 8 . Schulte, J.: „Der Waismann-Nachlaß", Zeitschrift für philosophische Forschung 1979, S. 108 — 140. Waismann, F.: Einführung in das mathematische Denken, Wien 1936, 3. Aufl. dtv, München 1970. — : Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis ( = W W K ) , H g . B. F. McGuinness, Suhrkamp, Frankfurt 1967. — : How I See Philosophy, H g . R. Harré, Macmillan, London 1968. — : Was ist logische Analyse?, Hg. G. Reitzig, Athenäum, Frankfurt 1973. — : Logik, Sprache, Philosophie, Hg. G. Baker/B. F. McGuinness, Reclam, Stuttgart 1976. — : Philosophical Papers, Hg. Β. F. McGuinness, Reidel, Dordrecht 1976. — : Lectures on the Philosophy of Mathematics, Hg. W. Grassi, Rodopi, Amsterdam 1982. — : Wille und Motiv, Hg. J. Schulte, Reclam, Ditzingen 1983. Wittgenstein, L.: Philosophische Bemerkungen ( = PhB), Suhrkamp, Frankfurt 1964. — : Philosophische Untersuchungen ( = PU), Suhrkamp, Frankfurt 1960.

WOLFGANG Κ . KÖHLER

Nonkognitivismus „Wenn die Nichtzurückführbarkeit der Ethik auf die Physik zeigt, daß Werte Projektionen sind, dann sind auch die Farben Projektionen. Das gleiche gilt dann auch für die natürlichen Zahlen. U n d ebenso steht es, wenn man es so sieht, mit der physikalischen Welt'. Aber eine Projektion in diesem Sinne ist nicht dasselbe wie etwas Subjektives." (Hilary Putnam)*

Bekanntlich vertrat der Logische Empirismus (LE) — jedenfalls der sogenannte linke Flügel des Wiener Kreises sowie Hans Reichenbach — eine Weltauffassung, derzufolge man auf der einen Seite ein Sozialist sein konnte oder sogar sein sollte, auf der anderen Seite aber gezwungen war zu behaupten, daß alle ethischen und selbstverständlich auch alle praktischen Sätze sinnlos sind. 1 Auf den ersten Blick scheint eine solche Weltauffassung irgendwie widersprüchlich zu sein oder zumindest eine ihrer beiden Teilbehauptungen völlig an der Realität vorbeizugehen. Einige Philosophen scheinen behaupten zu wollen, man könne nicht auf der einen Seite sagen, man solle sein Leben dem Sozialismus widmen und auf der anderen Seite, praktische Sätze seien sinnlos. Andere Philosophen scheinen hingegen die These zu vertreten, daß — abgesehen von der Frage, ob der Sozialismus völlig an der Realität vorbeigeht — jedenfalls die Sinnlosigkeitsthese völlig an der Realität vorbeigeht und damit die Möglichkeit praktischer Vernunft zerstört wird. 2 Ich möchte mich weder der einen noch der anderen Auffassung anschließen. Vielmehr glaube ich, daß man ohne in irgendeine Form von Widerspruch zu geraten eine politische oder auch eine moralische Position einnehmen und gleichzeitig eine metaethische Theorie vertreten

* „Vernunft, Wahrheit und Geschichte", Frankfurt 1982, S. 189. 1 Vgl. dazu Beckermann (1979), Hegselmann (1979a). 2 Vgl. dazu Mohn (1977), Hegselmann (1979b).

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kann, derzufolge praktische Sätze in einem ganz bestimmten, noch zu erläuternden Sinne als „sinnlos" interpretiert werden können. 3 Ich präsentiere nun vier verschieden ausführliche Überlegungen. Zuerst möchte ich etwas über die Motive sagen, die nach meiner Kenntnis den LE dazu führten oder besser gesagt: verführten, von der Sinnlosigkeit tout court in Sachen Ethik bzw. Politik zu reden. Zweitens deute ich einige Nachteile an, die mit dieser historischen Charakterisierung praktischer Sätze als sinnlos verbunden sind. Drittens diskutiere ich einen allgemeinen Rahmen der Interpretation praktischer Sätze, innerhalb dessen der Nonkognitivismus (Nk) — so wird üblicherweise die Metaethik des LE genannt — eingeordnet werden könnte. Viertens versuche ich das Für und Wider des N k herauszuarbeiten, ohne zu verhehlen, daß ich eher für als gegen diese metaethische Position bin, die praktische Sätze als kognitiv sinnlos versteht und darüber hinaus Praxis als kognitiv unterbestimmt ansieht.

I Die Sinnlosigkeitsthese des LE ist aus zwei Gründen vertreten worden, nämlich aus einem philosophischen und einem politischen Grund, wobei die Priorität der Gründe umstritten ist. 4 Der philosophische Grund besteht darin, daß der LE nur zwei Satzklassen als sinnvoll bzw. als wahrheitsfähig akzeptierte (nämlich die Klasse der empirisch-deskriptiven bzw. synthetisch-aposteriorischen Sätze und die Klasse der analytischen Sätze) und daß die praktischen Sätze zu keiner von beiden gehören. Diejenige Satzklasse, zu der sie (auch nach dem Verständnis vieler, die keine Logischen Empiristen sind) allenfalls gehören könnten, nämlich die synthetisch-apriorischen Sätze, wurden ja von dem LE nicht als sinnvoll akzeptiert. Damit war der Sinn praktischer Sätze heimatlos geworden: Ethik und Politik lagen nun jenseits der empiristisch gedeuteten Erkenntnis. 5 Wichtiger als der philosophische scheint mir der politische Grund gewesen zu sein. Denn man muß die These von der Sinnlosigkeit nicht 3

4 5

Vgl. Köhler ( 1 9 7 9 a und b). Es ist unverkennbar, daß in dem hier vorliegenden Aufsatz eine Distanz gegenüber dem Nonkognitivismus vorhanden ist, wie es in diesen beiden Aufsätzen nicht der Fall war. Siehe Beckermann (1979), 44 f., Anm. 8. Vgl. Ayer (1970), Kap. VI.

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nur der praktischen, sondern auch der metaphysischen und religiösen Sätze vermutlich als eine Kampfparole interpretieren, die wie eine Mehrzweckwaffe gegen alles gefeuert werden konnte, was in den Augen der Logischen Empiristen sich als fortschrittsfeindlich erwies : „das metaphysische und theologisierende Denken" 6 , Ideologie und Aberglaube. Die Absicht war klar: mit einem Schlagwort offenbar zu machen, daß solches Denken sinnloses Denken ist. Denn selbstverständlich erschüttert man jemandes Thesen wirkungsvoller, wenn es gelingt, sie als sinnlos hinzustellen statt sie als fasch zu erweisen, zumal im ersten Fall impliziert ist, daß sie gar keiner Widerlegung bedürfen und insofern keinen Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität erheben und auch keinen Beitrag zur Aufklärung leisten können.

II Wenngleich es einerseits ein philosophisches Motiv für den LE gegeben hat, unter anderem die Ethik aus dem kognitiven Bereich zu verbannen, und andererseits ein politisches Motiv, sie tendentiell mit Religion oder Ideologie in einen Topf zu werfen, so sind doch mit dieser Strategie Nachteile verknüpft — aus philosophischer Sicht jedenfalls. Denn es ist klar, daß ethische und überhaupt praktische Sätze (sowie auch religiöse und ästhetische) verwendet und verstanden werden, so daß ihnen nicht einfach eine Bedeutung (im semantischen Sinne) abgesprochen werden kann, auch wenn Sätze dieser Art nicht durch erfahrungswissenschaftliche Methoden bestätigbar oder widerlegbar sind. Diesen Tatbestand haben Carnap und Reichenbach dann später auch anerkannt. 7 Man behauptete jetzt nur noch, daß ethische Sätze keine kognitive Bedeutung besäßen. Merkwürdig bleibt allerdings, daß der gerade angeführte Tatbestand so spät gesehen wurde, zumal die frühere Sinnlosigkeitsthese doch kaum so von den Logischen Empiristen gemeint sein konnte, als bestünden praktische Sätze aus semantischem oder gar syntaktischem Müll, als seien sie schlicht Abrakadabra. 8 Ungefähr seit dem Ende der Dreißiger Jahre wurde versucht, dem Mangel der Charakterisierung des praktischen Diskurses abzuhelfen, 6 7 8

So Carnap/Hahn/Neurath (1929). Siehe Carnap (1963), 45 sowie Reichenbach(1977), 395. Siehe Hare (1952), 22.

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der durch die Sinnlosigkeitsthese entstanden war. Es wurden nonkognitivistische Metaethiken entworfen wie z. B. der Emotivismus (Ayer, Stevenson), der Präskriptivismus (Hare), der sogenannte Good-ReasonsApproach (Toulmin). Diese nonkognitivistischen Metaethiken haben alle ihre Meriten, da sie positive Bestimmungen von wichtigen Aspekten des praktischen Diskurses liefern, die bis dahin unberücksichtigt geblieben waren. 9 Doch wie Mackie jüngst 10 plausibel machen konnte, krankt der N k daran, daß er als Bedeutungsanalyse ethischer Sätze den Anspruch auf objektive Gültigkeit nicht befriedigend erklären kann, der mit ihrem Gebrauch erhoben wird. Der Anspruch ethischer Urteile, etwas zu beschreiben, was den Dingen selber anhaftet (und seien es so filigranhafte Dinge wie Handlungen) — dieser Anspruch ist nach Mackie in Wirklichkeit unberechtigt, weil es da nichts zu beschreiben gebe. Auch N o n kognitivisten behaupten, daß ethische Urteile nichts beschreiben; der Unterschied besteht Mackie zufolge nur darin: sie geben ihre These als Resultat von Bedeutungsanalysen aus. Mackie ist jedoch davon überzeugt, daß der mit der Verwendung ethischer Sätze erhobene Objektivitätsanspruch sozusagen auf einem ontologischen Fehler beruht, subjektive Werte auf Dinge zu projizieren und sie dadurch zu verdinglichen. Die Enttarnung jener Verdinglichung kann ihm zufolge nicht Ergebnis bedeutungsanalytischer Untersuchungen sein. Daher nennt er die These, daß es objektive Werte gebe, nicht — wie der N k — sinnlos, sondern falsch." Mackies Argumentation ist zwar plausibel, darf aber nicht zu einer generellen Abwertung von semantischen Analysen umfunktioniert werden. Gleichwohl wird dadurch zurecht darauf hingewiesen, daß der N k sowie auch andere Metaethiken sich nicht auf eine traditionelle Analyse der Bedeutung der Moralsprache (à la Moore etwa) beschränken können, weil durch eine derartige Beschränkung die metaphysischen und erkenntnistheoretischen Annahmen ausgeblendet würden, die notwendigerweise in jeder Metaethik stecken. 12

9 10 11 12

Siehe dazu die Einleitung in G r e w e n d o r f / M e g g l e (1974). Mackie (1977). aaO, 40. Vgl. dazu etwa Pieper (1973).

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III In diesem Sinne möchte ich nun versuchen, den N k in einen allgemeinen Interpretationsrahmen einzuordnen, um eine bessere Möglichkeit zu haben, in IV das Für und Wider zu erörtern. Das aber heißt, die bedeutungsanalytische Ebene wenn nötig zu verlassen und die metaphysischen sowie erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zu diskutieren, wobei natürlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Ich glaube, daß der N k am besten als ein ethischer Antirealismus aufgefaßt wird, d. h. als ein Antirealismus im Hinblick auf Werte (evaluativer Antirealismus) und Normen (normativer Antirealismus). Doch stellt sich dadurch zunächst die Frage, worin ein ethischer Realismus bestehen könnte. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu beachten, daß es mir nur um den evaluativen Realismus geht und nicht um einen normativen, weil dieser unplausibel ist. Unter Beachtung dieser Eingrenzung kann man den ethischen Realismus dadurch charakterisieren, daß man sagt, er beantwortet die folgenden drei Fragenkomplexe mit „ja" und den vierten mit „nein". 13 1.

2.

3.

4.

Liefern bewertende Äußerungen per se Handlungsgründe, d. h. unabhängig von den nicht-kognitiven mentalen Zuständen des H a n delnden (wie ζ. B. seinen Interessen, Bedürfnissen, Einstellungen)? Sind bewertende Äußerungen Behauptungen; d. h. wird mit diesen Äußerungen ein Wahrheitsanspruch erhoben, der gerechtfertigt ist, weil diese Äußerungen erfüllbare Wahrheitsbedingungen haben? Sind die Wahrheitsbedingungen erfüllt oder unerfüllt; d. h. liegt der Wahrheitswert dieser Behauptungen fest, unabhängig davon, ob wir ihn aufgrund von Evidenz feststellen oder mangels Evidenz nicht feststellen können? Muß demzufolge eine evidentielle Einschränkung bei der Zuschreibung von Wahrheitswerten beachtet werden?

Es dürfte klar sein, daß dieser ethische Realismus seine Begründung in einer realistisch interpretierten Semantik suchen muß 14 und daß er als begründet angesehen werden könnte, falls er sie dort fände. Die Frage dabei ist jedoch, ob die herkömmliche wahrheitskonditionale Semantik (Davidsons ζ. B.) realistisch interpretiert werden muß oder ob sie even13 14

Ich beziehe mich hier wesentlich auf Pettit (1981). Vgl. dazu Platts (1980), 69 ff.

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tuell auch nicht-realistisch interpretiert werden kann. Eine Antwort auf diese Frage würde zwar nicht gerade auf eine Gesamteinschätzung der realistisch interpretierten Semantik hinauslaufen, schlösse aber doch eine Untersuchung darüber ein, wie plausibel eine generelle positive Antwort auf die Frage (3) und eine generelle negative Antwort auf die Frage (4) wäre, also auch bei Behauptungen über Fremdpsychisches, Vergangenes, „Theoretisches" usw. Denn das scheint mir schon der springende Punkt in dieser Kontroverse zwischen ethischem Realismus und ethischem Antirealismus zu sein: wenn man die Frage (3) generell bejaht und entsprechend die Frage (4) generell verneint, dann kann man nicht unbegründet bei ethischen Behauptungen eine Ausnahme machen, zumal bei ihnen der evidentielle Zugang zu dem Erfülltsein bzw. Nichterfülltsein ihrer Wahrheitsbedingungen (d. h. den Bedingungen ihrer Behauptbarkeit 15 ) noch schwieriger zu sein scheint als bei Behauptungen über Fremdpsychisches oder Vergangenes. 1 6 Es liegt nun auf der H a n d , daß ein ethischer (evaluativer) Antirealist die Frage (3) verneint, wenn nicht sogar schon die Fragen (2) oder gar (1). Dementsprechend lassen sich mehrere Varianten eines evaluativen Antirealismus unterscheiden, nämlich ein Reduktionismus, ein Kriteriologismus, ein Instrumentalismus und ein Präskriptivismus. Ein Reduktionist würde sowohl die Frage (1) als auch die Frage (2) bejahen und erst die Frage (3) verneinen, d. h. er würde die evidentielle Einschränkung beachtet sehen wollen. Folglich betrachtet der Reduktionist bewertende Äußerungen als Behauptungen, d. h. als Äußerungen, die mit einer Wahrheitsbedingung ausstaffiert sind. Der Reduktionist nun — um seinem Namen Ehre zu machen — reduziert jede bewertende Behauptung auf eine Behauptung empirischer Art, also auf eine Behauptung, deren Wahrheitsbedingung evidentiell zugänglich ist. Ein typisches Beispiel hierfür wäre ein subjektivistischer Nonkognitivismus, demzufolge etwa die Behauptung „x ist gut" reduzierbar wäre auf die Behauptung „Ich finde χ gut". Hierbei würde der Sprecher seine Einstellung — also einen nicht-kognitiven mentalen Zustand — gegenüber dem bewerteten Gegenstand zum Ausdruck bringen, jedoch nicht beschreiben. Ein weniger typisches Beispiel des Reduktionismus ist der Utilitaris-

15 16

Siehe Wright (1979). Vgl. Pettit (1981), 212 ff.; Platts (1980), 12 sowie H a r m a n (1977), 10. Möglicherweise läßt sich auch Kants These in KrV, Β 579 Anm. so verstehen.

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mus, weil er zumindest Normen bzw. normative Prädikationen („Handlung H ist richtig") auf Bewertungen („Die Folgen von H sind gut") reduziert, die ihrerseits auf empirische Behauptungen, nämlich über Präferenzen von Personen, reduzierbar sind. 17 Als zweite Möglichkeit bietet sich dem evaluativen Antirealisten eine Interpretation an, die man mangels eines besseren Ausdrucks „Kriteriologismus" nennen könnte. Dieser Auffassung zufolge werden die Fragen (1) und (2) ebenfalls bejaht und (3) verneint, jedoch eine andere Konsequenz daraus gezogen als sie der Reduktionismus zieht. Es wird nämlich verneint, daß man Bewertungen auf empirische Behauptungen reduzieren kann (also auf Behauptungen mit evidentiell zugänglichen Wahrheitsbedingungen) und statt dessen die schwächere These vertreten, daß jeder Bewertung Kriterien so zugeordnet sind, daß das Verstehen der Bewertung in einem Verstehen der Kriterien besteht. Diese Position geht davon aus, daß die Wahrheitsbedingungen von Bewertungen nicht direkt zugänglich sind, daß es aber dennoch anhand von Kriterien insbesondere des Verhaltens (desjenigen, der die Bewertungen versteht) klar sein muß, wann die Wahrheitsbedingungen als erfüllt angesehen werden und wann nicht. 18 Ein Instrumentalist würde die Frage (1) zwar bejahen, aber die Frage (2) verneinen. Gemäß einer instrumentalistischen Interpretation von bewertenden Äußerungen würde er diese mit nicht-assertorischen Sprechakten auf eine Stufe stellen, d. h. sie nicht mit einer Wahrheitsbedingung ausstaffieren. Er würde diese Äußerungen anhand ihrer Wirkungen interpretieren (d. h. in der Austinschen Terminologie als perlokutionäre Akte). Ein typisches Beispiel hierfür liefert die emotivistische Metaethik. Ein anderes, ebenfalls typisches Beispiel einer instrumentalistischen Interpretation wäre die, wonach bewertende Äußerungen einfach Züge in einem Sprachspiel darstellen, die von den Bewertungen entsprechenden — jedenfalls nicht widersprechenden — Handlungen begleitet sein müssen. 19 Von den genannten Antirealisten läßt sich noch ein Antirealist unterscheiden, der nicht wie die drei anderen die Frage (1) bejaht, sondern verneint. Dieser gleichsam radikalere ethische Antirealismus vertritt die These, daß moralische Bewertungen nicht per se, sondern nur dann 17

Vgl. ζ. B. Köhler (1979 a). Siehe dazu besonders Wright (1979). " Vgl. ζ. B. Warnock (1967), 36 f. 18

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Handlungsgründe liefern, wenn sie auf mindestens einen nicht-kognitiven (affektiven u n d / o d e r konativen) mentalen Zustand eines Handelnden Bezug nehmen, wie z. B. auf dessen Bedürfnis, Einstellung usw. 2 0 Dieser ethische Antirealismus versteht die Akzeptierung einer moralischen Bewertung als etwas, wozu auf jeden Fall ein nicht-kognitiver mentaler Zustand seitens des Akzeptierenden gehört, weil die moralische Bewertung selber als nicht deskriptiv angesehen wird. Denn — so folgert der Antirealist — würde man moralische Bewertungen gleichsam als Beschreibungen erkennbarer Wertsachverhalte betrachten, die unabhängig von einem Bewertenden (und/oder Handelnden) bestehen oder nicht bestehen, so wäre es kaum plausibel zu machen, inwiefern solcher Beschreibung bzw. Erkenntnis eine motivierende K r a f t zukommen könnte (inwiefern sie eine „cognitio movens" sein könnte). Anders gesagt: eine Annäherung von moralischen Bewertungen an eine Art Erkenntnis von moralischen „Werttatsachen" würde die spezielle präskriptive Komponente von moralischen Bewertungen unterschlagen. Die antirealistische Position, derzufolge moralische Bewertungen von Handlungen nicht völlig unabhängig davon, was der Handelnde will, Handlungsgründe liefern, läßt sich auch so deuten, daß der angesprochene Handelnde nur dann einen Grund hat, die Handlung auszuführen oder zu unterlassen, wenn die Bewertung (moralisch) begründet ist. Und als begründet kann man eine moralische Bewertung dann ansehen, wenn sie zumindest in allen relevant ähnlichen Fällen abgegeben wird. O b die universelle Anwendung zureichend ist für das Begründetsein, ist aber umstritten. Vielleicht ist es außerdem notwendig, daß gleichsam hinter der Bewertung eine unparteiische Einstellung stehen muß, derzufolge die Bewertung auch dann gegeben würde, wenn die Rollen (des Sprechers und des Handelnden) vertauscht wären. 2 1 Diese These bzw. die sie tragende antirealistische Motivation erinnert natürlich an Hares universalistischen Präskriptivismus, den er hauptsächlich am Modell des Sich-Entscheidenden klarzumachen versuchte : „When we are trying, in a concrete case, to decide what we ought to do, what we are looking for . . . is an action to which we can commit ourselves 20

Siehe d a z u Pewit (1981), 219 und 228, Platts (1980), 73 ff. und Platts (1979), 256 sowie McDowell (1981). McDowell allerdings sieht den Nonkognitivismus g e r a d e z u die entgegengesetzte T h e s e verfechten.

21

Vgl. d a z u z. B. die ausführliche Kritik von H a r m a n (1977), 80 ff. oder Brandt (1959), 225.

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(prescriptivity) but w h i c h w e are at the same time prepared to accept as exemplifying a principle of action to be prescribed for others in like circumstances (universalizability)." 2 2

Das Modell des Sich-Entscheidens läßt sich mit dem Modell des Ratgebens parallelisieren, das im Liefern von bewertenden Äußerungen besteht, denn auch in diesem Fall muß derjenige, der eine solche Bewertung liefert, bereit sein, zu der Bewertung zu stehen, indem er unter Umständen selber die empfohlene Handlung ausführt und indem er die hinter der Bewertung stehende Einstellung in allen ähnlichen Fällen auch hat bzw. äußert. Moralische Bewertungen — die H a r e zufolge eo ipso vorschreibend sind — müssen ihm zufolge auch begründet werden, und das können sie nur, wenn sie universalisiert werden. 2 3 Man könnte nun fragen, welche Art von Antirealismus am ehesten dem historischen N k entspricht, vorausgesetzt, es ist sinnvoll, eine solche Abstraktion vorzunehmen; und außerdem könnte man versucht sein zu fragen, welche Art von Antirealismus denn nun am plausibelsten ist, wenn man einmal von dem historischen N k absieht. Ich vermute, daß, was den ersten Teil der Frage angeht, die Antwort hier lauten muß: der radikale ethische Antirealismus, der die oben gestellte Frage (1) verneint. Und was den zweiten Teil der Frage betrifft, so vermute ich, daß die Antwort davon abhängt, ob man gewillt ist, bewertende (und implizit auch vorschreibende) Äußerungen als Beschreibungen bzw. als Behauptungen zu interpretieren, d. h. als Sprechakte, mit deren Vollzug ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, der erfüllbar ist. Auf die zweite Vermutung komme ich im folgenden Abschnitt zu sprechen, und dabei werde ich vermutlich den Eindruck erwecken, bei der Diskussion um das Für und Wider des N k auf dessen Seite zu stehen. Trotzdem werde ich einen verlockenden Einwand gegen den N k zur Sprache bringen, der von der Spätphilosophie Wittgensteins ausgeht. 24

22 23

24

Hare (1963), 89 f. Vgl. dazu die vorweggenommene Kritik von Sidgwick, The Methods of Ethics, Buch III, Kap. I, 3. Vgl. dazu auch die Einleitung von Holtzmann/Leich aaO

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IV Wenn man sich den Fragenkomplex aus Abschnitt III noch einmal anschaut, dabei von der Frage (1) absieht und statt an bewertende an beschreibende („empirische") Äußerungen denkt, so kann man demgemäß den LE auch so verstehen, daß er außer einem ethischen auch einen nicht-ethischen Antirealismus vertreten hat. Denn das Verifikationsprinzip des LE stellt im Kern nichts anderes als die Forderung dar, zumindest keine evidenztranszendenten Behauptungen als kognitiv sinnvoll zuzulassen. Daher könnte man von dem LE behaupten, er gehe prinzipiell von einer nicht-evidenztranszendenten Realität aus und somit auch davon, daß Wahrheit von Erkenntnis nicht getrennt ist: „Etwas ist w i r k lich' dadurch, daß es eingeordnet wird dem Gesamtgebäude der Erfah« 25

rung. Man kann nun den nicht-ethischen Antirealismus mit dem ethischen vergleichen: ebensowenig wie die empirische Welt von unserer Erkenntnis unabhängig ist, ist die moralische Welt unabhängig von unseren Bedürfnissen, Interessen usw. (Wittgensteins Tractatus-Satz 6.373: „Die Welt ist unabhängig von meinem Willen" bezieht sich auf die empirische Welt.) Und es ist, wie gesagt, gerade der zweite Teil des Vergleichs, der den ethischen Antirealisten dazu bringt, die Frage (1) zu verneinen. Übrigens ist es nicht widersprüchlich, einerseits nicht-ethischer Realist, andererseits ethischer Antirealist zu sein, nach dem Motto: obwohl die Welt von unserer Erkenntnisfähigkeit unabhängig ist, ist sie ohne unsere Bedürfnisse usw., also ohne unsere Werte und Normen, moralisch nackt. 26 Stimmiger, obgleich nicht a priori richtiger, scheint ein durchgängiger Realismus bzw. Antirealismus zu sein. Jedenfalls interpretiert der ethische Realist moralische Bewertungen als Behauptungen (über die Welt), deren Wahrheitsbedingungen nicht auf menschliches Wollen (Interessen, Bedürfnisse usw.) Bezug nehmen. Dieser Auffassung widerspricht der ethische Antirealist mit seiner Auffassung, die man knapp so wiedergeben könnte: ohne Wollen kein Sollen. Der (wohlgemerkt radikale) ethische Antirealist will also sagen, daß moralische Bewertungen, die eine Handlung empfehlen, anraten, fordern, gebieten usw., auf das Wollen des potentiellen Handelnden Bezug

25 26

So lautet ein Satz im oben zitierten Manifest des Wiener Kreises, a a O S. 210. Vgl. Wittgenstein, Tractatus 6.41.

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nehmen müssen, um prima facie einen Handlungsgrund zu liefern, der eine motivationale Kraft ausüben könnte. Es sei angemerkt, daß es sich bei dieser Auffassung um eine Voraussetzung einer philosophischen Psychologie handelt, die mindestens bis auf die englischen Empiristen Hume, Berkeley und Hutcheson zurückgeht, wenn nicht sogar bis auf Aristoteles' Konzeption vom praktischen im Unterschied zum theoretischen Räsonieren. Die These: „Ohne Wollen kein Sollen" ist daher kein Ergebnis einer Bedeutungsanalyse der Moralsprache, sondern eine mehr oder weniger explizite Voraussetzung, die der N k macht. 27 Man muß allerdings einräumen, daß die These „Ohne Wollen kein Sollen" zumindest unserem Alltagsverständnis zuwiderläuft, da in ihm sehr wohl ein Sollen ohne oder gar gegen ein Wollen als sinnvoll aufgefaßt wird. Natürlich erinnert man sich hier sofort an Kants Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen als einer Unterscheidung, die angeblich koextensiv ist mit der zwischen Urteilen, die eine Handlung gebieten, wenn oder weil etwas gewollt wird und Urteilen, die eine Handlung gebieten, weil sie moralisch richtig ist, ganz gleich, was der angesprochene Handelnde will. Und diese Unterscheidung wird der Unterscheidung zwischen außermoralischen und moralischen Urteilen häufig parallel gesetzt. Danach können moralische Urteile nicht die Form hypothetischer Imperative bzw. Gebote haben, und ihre Gültigkeit wird nicht als bedingt, sondern als unbedingt angesehen. Doch scheint diese Ansicht, die man knapp so formulieren könnte: „Es gibt ein Sollen auch ohne und sogar gegen ein Wollen" nicht ohne eine starke, aber unhaltbare Annahme über den Menschen als eines vernünftigen Wesens begründbar zu sein, nämlich, daß der Mensch allein aufgrund der Tatsache, daß er ein vernünftiges Wesen ist (so es denn eine Tatsache ist), gezwungen ist, bestimmte Dinge zu tun und andere zu lassen. Dabei wird die zwingende Kraft, die dem moralischen Sollen zugeschrieben wird, wesentlich über das Absehen von dem Wollen des Menschen als eines triebhaften Wesens definiert. Denn das Wollen denkt man sich (mit der einen Ausnahme: aus Achtung vor dem moralischen Gesetz handeln wollen) immer als das Wollen von Zwecken, die mit der Selbstliebe zu tun haben. Kurzum: das Gewollte wird wesentlich als das Nicht-Gesollte definiert und das Gesollte wesentlich als das Nicht-Gewollte. 27

Siehe dazu Platts (1980) sowie McDowell (1981).

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Die Idee des radikalen ethischen Antirealisten, den motivierenden Grund zum Handeln abhängig zu machen von einem Wollen, also nur ein hypothetisches Sollen anzuerkennen (was man in einer von mehreren möglichen Formulierungen so schreiben könnte: „wenn Du willst, daß . . ., dann solltest du . . . tun" 28 ) — diese Idee kann nicht, wie ich glaube, dadurch erschüttert werden, daß man auf ein nicht durch ein Wollen (Interessen, Bedürfnisse usw.) bedingtes Sollen, also auf ein sogenanntes kategorisches Sollen verweist, denn damit würde man bloß eine scheinbare magische Kraft beschwören, wie Anscombe zu Recht bemerkte. Der radikale ethische Antirealist geht also davon aus, daß in letzter Instanz auch das Moralischseinwollen einen Handlungsgrund abgeben kann und daß es dieses Moralischseinwollen ist, was jemanden dazu bringt, ein sogenanntes kategorisches Sollen zu akzeptieren. Und selbstverständlich kann das moralische Handeln seinerseits nur hypothetisch begründet werden, nämlich durch Verweis auf ein Vernünftigseinwollen. Jenseits dessen endet jedes Sollen und jede Rechtfertigung. Die Frage: „Warum soll(te) ich vernünftig sein?" ist unbeantwortbar. Und aufgrund dieser Unmöglichkeit läßt Kant das Vernünftigsein und das Moralischseinwollen koinzidieren, ohne damit freilich Vernünftigsein und Moralischsein zur Deckung bringen zu können. Für die Plausibilität des N k spielt die Konzeption der Vernunft bzw. der Ansicht von der menschlichen Natur schon eine erhebliche Rolle. Denn je nachdem man der Vernunft eine bestimmende oder eine dienende Rolle zuweist (wie das z. B. Kant bzw. H u m e taten), und zwar im Verhältnis zu den Affekten und im Hinblick auf die Motivation zum Handeln, ergeben sich unterschiedliche praktische Konsequenzen, d. h. verschiedene ethische Anforderungen und Beschränkungen. Dasselbe gilt auch für Affekte, denn es macht einen Unterschied aus, ob man annimmt, jeder Mensch sei (durch die Evolution? 29 ) mit einer zumindest schwachen Disposition zum Mitgefühl gegenüber seinen Nachbarn ausgestattet (Hume) oder ob man annimmt, jeder handele immer nur aus Selbstliebe und könne nur durch rigorose moralische Forderungen dazu gebracht werden, davon abzugehen (Kant). Wenn man wie z. B. H u m e annimmt, daß die Vernunft bloß die „Sklavin der Affekte" ist und es diese sind, die dem Menschen die Ziele 28 29

Vgl. Carnap (1934). So auch Harman (1977), 68.

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vorgeben (und die könnten dann stark wechseln), dann impliziert diese Annahme eine instrumenteile Rationalität, wie man gern sagt. Es impliziert, von Zwecken auszugehen, die man hat und deren Erreichung man erstrebt, indem man die dazu geeigneten Mittel ergreift. Praktisches Räsonieren ist dann Mittel-Zweck-Denken, wobei selbstverständlich keine inhaltliche Einschränkung auf den Zwecken liegt: gewollt werden kann Beliebiges, und was gesollt ist, hängt vom Gewollten ab. Wer aber will, das ist in diesem Modell nicht die Vernunft, sondern sind die Affekte. Denn die Vernunft kann hier nicht einen Zweck vorgeben; sie dient nur der Zweckerreichung durch Mittelbeschaffung, mit den Worten Humes : „(Die Vernunft) vermittelt (der Neigung) stammt das Tugend. . . . Die Vernunft, Handeln . . . Die Neigung, Motiv zum Handeln . . ." 30

die Erkenntnis des Wahren und Falschen; von Gefühl für Schönes und Häßliches, Laster und weil kühl und uninteressant, ist kein Motiv zum die Lust oder Unlust w e c k t . . . wird damit ein

Es ist ebenso offensichtlich wie hinlänglich bekannt, daß diese Konzeption praktischer Vernunft und des dazugehörigen praktischen Räsonierens der nonkognitivistischen Metaethik zu Grunde liegt. Nach dieser Konzeption motiviert die Vernunft nicht (durch sich) dazu, moralisch zu handeln und liefert auch kein apriorisches Wissen moralischer Prinzipien. Für Kant wäre in diesem Fall Moralität eine Chimäre, für H u m e ist sie es nicht. Die Frage, welche der beiden Konzeptionen praktischer Rationalität plausibler ist, dürfte nur sehr schwer zu entscheiden sein, falls sie überhaupt entscheidbar ist. Es ist jedoch klar, daß Argumente für die Kantische Konzeption sprechen, und dazu gehört nicht zuletzt das Argument, daß in einigen Fällen jemand auch dann einen Grund zum Handeln hat, wenn die Handlung kein Mittel zur Befriedigung eines gegenwärtigen Bedürfnisses, sondern eines zukünftigen ist — eine Schwierigkeit, die man zufolge der Humeschen Konzeption praktischer Rationalität nur dadurch umgehen kann, daß man ein vorgängiges Bedürfnis nach Bedürfnisbefriedigung als wirksam unterstellt. Eine wichtige und zugleich schwierige Frage betrifft das Problem, ob die moderne wahrheitskonditionale Semantik der älteren philosophischen Psychologie bei der Deutung des Phänomens der Moral bzw. des moralischen Diskurses Konkurrenz machen kann. Es scheint zumindest so, als könnte die Semantik der Metaethik auf die Sprünge helfen, da sie doch gegenüber der philosophischen Psychologie den Vorteil zu haben 30

H u m e (1962), Anhang I, 145 f.

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scheint, als seien ihre Behauptungen überprüfbar, weil ihr Gegenstandsbereich (der moralische Diskurs) intersubjektiv zugänglich ist. Es stellt sich also die Frage, ob der in Abschnitt III gewählte semantische Zugang zum Nonkognitivismus plausibel und in der einen oder anderen antirealistischen Version verteidigbar ist. Nach meiner Einschätzung könnte dies nur diejenige antirealistische Position sein, die ich „Kriteriologismus" genannt habe. Zunächst ist es unbestreitbar, daß moralische Äußerungen im alltäglichen Diskurs „wahr" und „falsch" genannt werden und daß dort unterstellt wird, es gebe moralische Wahrheiten und Erkenntnis. Die Frage ist also, weshalb moralische Äußerungen wie Behauptungen mit einem Wahrheitsanspruch vorgebracht werden und ob auch eine antirealistische Wahrheitstheorie dies erklären kann. Diese Frage scheint mir im übrigen sich sinnvoll nur für (moralisch) bewertende Äußerungen zu stellen, nicht aber für (moralisch) vorschreibende Äußerungen. Höchstens für Äußerungen wie „x ist ungerecht" stellt sich die Frage, ob sie Wahrheitsbedingungen haben, aber nicht für Äußerungen wie „ H soll y tun". 31 Denn was auch immer die Bedeutung einer vorschreibenden Äußerung sein mag, sie kann nicht in so etwas wie einer Wahrheitsbedingung liegen, wie sie für beschreibende Äußerungen charakteristisch ist. Ex hypothesi beschreiben vorschreibende Äußerungen nicht, was ist, sondern fordern (die Herbeiführung von) etwas, was (noch) nicht ist. Also haben sie in dem Sinn keine Wahrheitsbedingungen, daß sie durch das, was ist, nicht wahr oder falsch gemacht werden können. 3 2 Die oben gestellte Frage zielte nun darauf ab, ob bewertende Äußerungen Wahrheitsbedingungen in dem gerade explizierten Sinn haben, daß nämlich diese Bedingungen die bewertenden Äußerungen wahr oder falsch machen. Oder gibt es noch eine andere Möglichkeit, die Rede von den (un-)zugänglichen Wahrheitsbedingungen zu verstehen als durch den Begriff der wahr bzw. falsch machenden Bedingung? Ist es vielleicht möglich, moralische Bewertungen „wahr" bzw. „falsch" zu nennen, ohne anzunehmen, es gäbe Bedingungen, die sie wahr bzw. falsch machten? Eine Position wie diese scheint Blackburn zu vertreten: „The sentence ,a is good' is indeed true, in English, if and only if a is good. That is, if and only if we are committed to the goodness of a will we allow 31

32

Dies t r i f f t n u r f ü r die Lesart „Es soll der Fall sein, d a ß H y t u t " zu, nicht aber f ü r die Lesart „Es ist der Fall, d a ß H y t u n soll". Vgl. W i g g i n s (1976), 370.

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that the English sentence is true. T h a t is its rule of use. But s a y i n g this tells us nothing a b o u t the kind of c o m m i t m e n t it is: it is quite irrelevant to the metaphysics."33

Blackburn zufolge begeht der ethische Realist sozusagen einen metaphysischen Fehlschluß, wenn er die Verwendung des semantischen Prädikats „wahr" für moralische Äußerungen im Sinne eines metaphysischen Realismus interpretiert, wie das ζ. B. Platts zu tun scheint: „. . . if a m o r a l j u d g m e n t is true, it is true in virtue of the (independently existing) real w o r l d , and it is true in virtue of that a l o n e . " 3 4 „. . . w h e n w e m a k e m o r a l j u d g m e n t s a b o u t the situation, w h a t w e s a y can be literally true of f a l s e ; and . . . there is no question of that truth or falsity being the result of conventions. It is the result of the (independent) world."35

Platts verwendet das Prädikat „wahr" in einem realistischen Sinn, weil er „Wahrheitsbedingung" im Sinn von „wahr bzw. falsch machende Beding u n g " deutet, und diese Deutung kann nur in einem metaphysisch-realistischen Sinne vorgenommen werden. Blackburn hingegen verwendet das Prädikat „wahr" in einem, wie er sagt, „quasi-realistischen" Sinn, der metaphysisch enthaltsam ist und sozusagen rein semantisch bleibt, dabei die Möglichkeit wahrheitsfunktionaler Verknüpfungen von ζ. B. deskriptiven und evaluativen Behauptungen sicherstellend. Der Quasirealist leugnet also nicht, daß bewertende Äußerungen Wahrheitsbedingungen haben, wie das der antirealistisch eingestellte Instrumentalist tut. Aber wenn er annimmt, daß sie Wahrheitsbedingungen haben, so will er diese Annahme nicht so verstanden wissen, wie sie der ethische Realist versteht oder so wie der ethische Reduktionist, weil er nicht davon ausgeht, daß man zu Wahrheitsbedingungen überhaupt einen evidentiellen Z u g a n g haben kann. Sondern ein Quasirealist (jedenfalls Blackburn in dem Zitat) geht davon aus, daß die Wahrheitsbedingung einer bewertenden Äußerung etwas ist, was man sozusagen erfüllt oder unerfüllt sein läßt, je nachdem, ob man zu der entsprechenden Bewertung steht oder nicht steht. D a s ändert natürlich nichts daran, daß auch für den Quasirealisten ein Satz wie „a ist gut" dann und nur dann wahr ist, wenn a gut ist. Aber das Erfülltsein der Wahrheitsbedingung des Satzes (sein Wahrsein) hält der Quasirealist nicht für etwas, was 33 34 35

B l a c k b u r n ( 1 9 8 1 ) , 180, 185. Platts ( 1 9 7 9 ) , 243. Platts ( 1 9 7 9 ) , 245.

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man auf irgendeine Weise entdecken oder erkennen könnte, sondern für etwas, was man, wie Blackburn formuliert, „erlaubt". Für den Quasirealisten ist demgemäß nicht eine evidentielle Einschränkung bei der Interpretation von ethischen Behauptungen wichtig (wie das bei den Antirealisten ja der Fall ist), sondern eine sozusagen voluntative Einschränkung. Das heißt selbstverständlich nicht, daß ein Satz wie „a ist gut" nicht genau dann wahr wäre, wenn a gut ist; aber aus der Anwendung der semantischen Konvention Τ folgt nicht, daß der Satz „a ist gut" wahr ist, weil a gut ist — weil sozusagen das Gutsein von a eine den Satz wahr machende Bedingung ist.36 Es ist nun nicht zu übersehen, daß der Quasirealismus eine Ähnlichkeit mit der antirealistischen Position des sogenannten Kriteriologismus besitzt. Diesem zufolge muß es ja bei moralischen Äußerungen, denen eine Wahrheitsbedingung zugeschrieben wird, Kriterien für die Wahrheit und Falschheit geben; es muß also klar sein aufgrund dieser Kriterien, wann die Wahrheitsbedingung erfüllt ist und wann nicht, wobei diese Kriterien nicht in einem definitorischen Zusammenhang mit der Wahrheitsbedingung zu stehen brauchen, wie das normalerweise bei dem Reduktionismus der Fall ist. Und die Kriterien müssen auch nicht unbedingt empirischer Art sein. Nach dem Kriteriologismus muß jemand, der ζ. B. der Äußerung „a ist gut" zustimmt, auch anderen Äußerungen zustimmen, so ζ. B. der Äußerung: „Wenn a gut ist, dann ist das ein Grund dafür, die Wahl von a zu erwägen, rebus ceteris paribus." Deutlicher wird diese Position in allen anderen Fällen, in denen nicht das unspezifische Wertprädikat „gut" verwendet wird, sondern in denen spezielle moralische Prädikate wie „hinterlistig", „tapfer", „geizig" usw. verwendet werden. Äußerungen zuzustimmen oder abzulehnen, in denen derartige Prädikate vorkommen, heißt für den Kriteriologismus, daß die Zustimmung oder Ablehnung sich kriteriell manifestieren muß, wobei die Kriterien von der Zustimmung zu oder Ablehnung von anderen Äußerungen bis zur Bildung von Erwartungen und Übernahme von Verpflichtungen usw. reichen können. Denn die von dem Kriteriologismus für evidentiell unzugänglich gehaltenen Wahrheitsbedingungen von ethischen Behauptungen müssen nach seiner Auffassung kriteriell eingeholt und so verfügbar gemacht werden. Diese antirealistische Auffassung scheint mir — übrigens nicht nur auf ethischem Gebiet — sehr plausibel zu sein, weil sie nicht leichtfertig " Vgl. dazu ζ. B. Davidson (1973), 325.

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mit der Erklärung des Verstehens von moralischen (und außermoralischen) Äußerungen umgeht, indem sie etwa einfach sagte: die Bedeutung eines (behauptenden) Satzes versteht man dann, wenn man seine Wahrheitsbedingung verstanden hat — und zwar völlig unabhängig davon, ob man weiß, wie man in Erfahrung bringen kann, ob die Wahrheitsbedingung erfüllt ist oder nicht. Denn im Hinblick auf eine unendliche Anzahl von Sätzen — möglicherweise gilt es für alle — scheint das Verstehen ihrer Bedeutung (identifiziert mit dem Erfassen ihrer Wahrheitsbedingungen) nur dadurch erklärbar zu sein, daß dem Sprecher die Fähigkeit zugeschrieben wird, die Bedeutung einer weiteren unendlichen Anzahl von Sätzen zu verstehen, wobei jedes einzelne Verstehen prinzipiell als ein Kriterium im Sinne des Kriteriologismus gezählt werden könnte, weil es etwas ist, was sich in seiner linguistischen Praxis manifestiert. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß hier nicht der Unterschied zwischen dem Kennen des Wahrheitswerts und dem Kennen der Wahrheitsbedingung außer acht gelassen wird. Daher geht der ganze Streit nur darum, ob (a) moralische Äußerungen Wahrheitsbedingungen haben oder nicht und (b) wenn ja, ob das Erfülltsein bzw. Nichterfülltsein dieser Wahrheitsbedingungen realistisch interpretiert werden muß, d. h. unter Bezugnahme auf eine unabhängige moralische Wirklichkeit, so daß (c) die möglicherweise evidenztranszendenten Wahrheitsbedingungen der Erkenntnisfähigkeit von Sprechern entgehen. Es gibt nun ein Argument von Wiggins 37 , demzufolge die Rede von den Wahrheitsbedingungen (von moralischen ebenso wie von empirischen Äußerungen) zugunsten einer Rede von Behauptbarkeitsbedingungen aufgegeben werden muß, wobei, um es gleich zu sagen, für Wiggins, anders als in dem Ansatz von Abschnitt III, die Bedingungen der Behauptbarkeit nicht die Bedingungen der Feststellbarkeit des Wahrheitswerts sind. Wiggins geht im Gegenteil davon aus, daß das semantische Prädikat „wahr" so durch das Prädikat „behauptbar" ersetzt werden könne, daß die derart geänderte Konvention T : ,„s ist behauptbar' dann und nur dann wenn p" durch eben diese Wahrheitsbedingung ρ die Bedeutung von s liefert, wobei s ein Satz der moralischen Objektsprache ist: „I speak of assertion conditions as that by which w e fix the meaning, and not yet of truth conditions, because within this metaethical framework the 37

In Wiggins (1976), 351 ff.

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non-cognitivist's most distinctive non-formal thesis is likely to be the denial that the assertability of a value judgement or of a deliberative judgment amounts to anything as objective as we suppose truth to be." 3 8

Wiggins nimmt an, daß Wahrheit nur ein Spezialfall von Behauptbarkeit ist, so daß Wahrheit nur bestimmten Klassen von Sätzen zukommen kann, wozu nach seiner Ansicht offensichtlich nicht die Klasse der moralischen — aber nur der normativ-praktischen — Sätze gehört. Außerdem unterstellt Wiggins, „normale" Wahrheit besitze Merkmale, die Behauptbarkeit nicht besitzt. Einige davon sind besonders dienlich bei (s)einem Plädoyer für den Nk, nämlich daß „normale" Wahrheit von unserem Willen und Erkenntnis unabhängig sei sowie daß jeder „normale" wahre Satz wahr ist aufgrund von etwas, was ihn wahr macht. In diesem Sinne, der ganz offensichtlich metaphysisch-realistisch ausgerichtet ist, hält Wiggins Sätze wie z. B. „Sein Leben hat sich gelohnt" zwar für behauptbar, aber nicht für wahr. Auch Wiggins' Theorie stellt einen semantischen Zugang zum Nk dar, allerdings in anderer Form als die wahrheitskonditionale Semantik, wie sie für den Realismus charakteristisch ist, und auch als die verifikationistische Semantik, wie sie für den Antirealismus charakteristisch ist. Doch wie auch immer Wiggins' Semantik der Behauptbarkeitsbedingungen en detail aussehen mag und wie auch immer plausibel letzten Endes insbesondere die Identifikation von Behauptbarkeitsbedingung und Bedeutung sein mag (Wiggins behauptet an einer Stelle allerdings etwas davon Abweichendes, wenn er sagt: „The non-cognitive theory is first and foremost a theory not about the meaning but about the status of those remarks", wie ζ. Β. des letzten Beispielsatzes: „that their assertability is not regular truth, and reflects no fact of the matter." 39 ) — wie auch immer also es sich damit verhalten mag, so scheint mir dennoch seine Absicht richtig zu sein, den Nk auf seinen rationalen Kern hin abzuklopfen, um ihn möglicherweise zu rehabilitieren. Dabei betrachtet er die nonkognitivistische Metaethik wie die Metaethik überhaupt nicht als eine neutrale Theorie, wie man das oft getan hat, sondern als „still the best way for us to understand ourselves better." 40 Denn als Semantik rekonstruiert, ist sie für ihn natürlich eine Theorie der Interpretation der moralischen Äußerungen, wobei er einen klaren Trennungsstrich zieht 38 39 40

Wiggins (1976), 352. Wiggins (1976), 357. Wiggins (1976), 351.

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zwischen bewertenden und vorschreibenden (bzw. auto-präskriptiven) Äußerungen, so daß nur diese, nicht aber die bewertenden Äußerungen keine Wahrheitsbedingungen haben. Doch der hauptsächliche Punkt, um den die Überlegungen von Wiggins kreisen, hat weniger mit Semantik als mit praktischer Rationalität zu tun und hier insbesondere mit einem Thema, das den Logischen Empiristen bzw. den Nonkognitivisten, salopp formuliert, kaum auf den Nägeln brannte, nämlich der Sinn des Lebens: „In living a life there is no truth, and there is nothing like regular truth, for us to aim at. Anybody who supposes that the assertability of ,1 must do this' or the assertability of ,This is the way for me to live, not that' coincides with truth is simply deluded." 4 1

Selbstverständlich steht und fällt diese Auffassung mit Wiggins' Wahrheitsbegriff, insbesondere mit den schon erwähnten Merkmalen der „normalen" Wahrheit. Daher kann es für ihn auch keine normativ-praktische Wahrheit geben, d. h. eine Wahrheit, die wir erkennen könnten und die uns letztlich sagte oder wenigstens zeigte, wie wir zu leben hätten, indem sie in jedem Fall uns eine rationale Entscheidung ermöglichte, so daß Konflikte ausgeschlossen blieben. V o r dem Hintergrund dieser metaphysisch-realistischen Wahrheitskonzeption muß man die Differenz sehen, die Wiggins zwischen Wahrheit und Behauptbarkeit macht: „The problem of living a life . . . is to realize or respect a long and incomplete or open-ended list of concerns which are always at the limit conflicting. T h e claims of all true beliefs (about how the world is) are reconcilable. Everything true must be consistent with everything else that is true. But not all the claims of all rational concerns or even of all moral concerns (that the world ¿ethus or so) need be actually reconcilable." 42

Wiggins will darauf hinaus, daß Handeln bzw. Sich-Entscheiden nicht darin besteht, sozusagen erkannte Wahrheiten in ein Entscheidungssystem einzuordnen, so daß das Ergebnis von jedem vernünftigen Wesen akzeptiert werden müsse, weil es gleichsam nur ein richtiges Ergebnis geben könne und niemals zwei widersprüchliche Ergebnisse, die obendrein beide gleich gut begründet sein können, obwohl sie mit Wahrheit nichts zu tun haben. Genau das ist der Punkt, auf den Wiggins hinaus will : die kognitive Unterbestimmtheit der Praxis : 41 42

Wiggins (1976), 367. Wiggins (1976), 366.

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Wenngleich es kein Erkennen des guten bzw. richtigen Lebens geben kann, so kann es doch so etwas wie ein vernünftiges Begründen von Entscheidungen und Bewertungen geben, wobei dieses Begründen selbstverständlich irgendwo aufhören muß. Aber die Möglichkeit vernünftigen Begründens befreit uns nicht davon, daß der Raum des Begründbaren — also die Praxis — kognitiv unterbestimmt ist. Erkenntnis (z. B. über die Konsequenzen von Handlungen) beeinflußt zwar unsere Entscheidungen, aber determiniert sie nicht. Die kognitive Unterbestimmtheit der Praxis scheint daher gerade die Voraussetzung für Freiheit zu sein, denn wenn es eine praktische Erkenntnis gäbe, wie könnte dann Handeln etwas sein, was Erkenntnis transzendiert? Auf diese spekulative Frage weiß ich keine Antwort, die zufriedenstellend wäre; doch die Richtung, in der eine Antwort zu suchen wäre, wird durch folgende Überlegung mitbestimmt: Erkennen ist verwandt oder identisch mit Entdecken und etwas ganz anderes als Herstellen und Erfinden. Handeln und also auch Sich-Entscheiden ist verwandt oder identisch mit einem Herstellen bzw. Herbeiführen von Sachverhalten, aber nicht mit einem Erkennen oder Entdecken von Sachverhalten. Und dasselbe gilt natürlich auch für moralisches Handeln. In diesem Sinne rekonstruiert man den Nonkognitivismus am besten so, daß man auf eben diese Unterscheidungen verweist und hinzufügt, daß Entdecken etwas mit Wahrheit zu tun hat, Erfinden aber nicht. Und in diesem Sinne ist es absonderlich zu sagen, eines Tages hätten die Menschen entdeckt, daß z. B. sie einander nicht auffressen sollten oder daß das Leben diesen oder jenen Sinn habe (welchen?); aber es ist eben nicht absonderlich zu sagen, eines Tages hätten sie entdeckt, daß z. B. die Erde um die Sonne kreist oder daß bei allen physikalischen Vorgängen die Summe aller Energien konstant bleibt. Der Punkt, um den es hier geht, hat nichts mit dem allseits vertrauten Problem des ethischen Relativismus zu tun, sondern damit, ob mora43

Wiggins (1976), 366.

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lische Begriffe eine, wie Platts sagt, „semantische T i e f e " haben — eine Tiefe, die sie sozusagen weit in die Welt hineinreichen läßt, so daß sie auf etwas verweisen, was schon da ist und was wir erkennen können, wenn wir uns anstrengen, obwohl dieses Erkennen prinzipiell unabgeschlossen bleibt: „Starting from our grasp upon them (sc. die moralischen Begriffe) through our knowledge of the austere truth-conditions of sentences containing them, we have to struggle to improve our sensitivity to particular instantiations of them. This process proceeds without limit. . . For the realist, moral language, like all other realistic areas of language, is trying to grapple, in ways which transcend our present practical capacities, with a recalcitrant world." 4 4

Für den Nonkognitivisten, der in der einen oder anderen Form ein ethischer Antirealist ist, haben moralische Begriffe keine semantische Tiefe und moralische Sätze keine Wahrheitsbedingungen in eben jenem realistischen Sinne, den Platts hier unterstellt — und sie haben beides nicht, weil es für den Nonkognitivisten keinen Sinn ergibt, anzunehmen, die Welt sei in ethischer Hinsicht „widerspenstig" und entziehe sich unserer ethischen Erkenntnis ganz oder teilweise. Wohlgemerkt: der Nonkognitivist behauptet nicht das Gegenteil, da er das ethische Denken nicht rezeptiv, sondern projektiv sieht und sich insofern die Frage gar nicht stellen kann, inwieweit die Welt sich einer ethischen Erkenntnis widersetzt, da er nichts „Ethisches" in ihr sieht, was möglicher Gegenstand der Erkenntnis sein könnte. Wir sind nun an einem Punkt angelangt, w o sich für den Nonkognitivisten als ethischem Antirealisten 4 5 ein gravierendes Problem auftut, das man schlagwortartig das Problem der ethischen Objektivität nennen könnte. Es nimmt seinen Ausgang bei der Frage, warum die Kriterien des Guten und Richtigen und warum viele einzelne moralische Einstellungen — jedenfalls von ihrem Anspruch her — nicht subjektiv, sondern objektiv sind. Man muß die Frage noch anders wenden, um daraus ein potentielles und potentes Argument gegen den N k zu schmieden — man muß nämlich fragen, was eigentlich rationale Argumentation in der Moral (und auch in der Moralphilosophie) von der rationalen Argumentation in Gebieten unterscheidet, die wir für beispielhaft objektiv halten, wie etwa 44 45

Platts (1979), 249. Insbesondere trifft das für den Instrumentalismus und Präskriptivismus zu, nicht aber für den Reduktionismus oder den Kriteriologismus.

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die Mathematik. Gibt es einen Grund dafür, moralisches Argumentieren (bzw. die Ethik) für subjektiv oder für weniger objektiv zu halten als mathematisches Argumentieren (bzw. die Mathematik) — wie es die Logischen Empiristen sicherlich gedacht haben? N u n aber wissen wir seit Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen", daß es einen engen Zusammenhang zwischen Objektivität und Intersubjektivität gibt, wenn nicht sogar eine Identität zwischen beiden. Und gerade in der Ethik scheint das, was man bei der Äußerung von Urteilen vielleicht nur ungern „richtig" oder „falsch" und lieber „objektiv" oder „nicht objektiv" nennt, in eben nichts anderem als einer Ubereinstimmung oder Nichtübereinstimmung (z. B. über Grundwerte) begründet zu sein. Wittgenstein legt uns zumindest den Gedanken sehr nah, daß der intersubjektive Konsens in Sachen Moral, aber eben nicht nur dort, alles leistet, was wir brauchen; nicht nur dort, wie gesagt, sondern auch z. B. in der Mathematik. In beiden Bereichen folgen wir Regeln (des Argumentierens, des Schließens usw.), und in dieser Praxis des Regelfolgens dokumentiert sich bekanntlich unsere Lebensform. Was wir an ethischer Objektivität brauchen, scheint also durch die anthropozentrische Fundierung gesichert zu sein, und dies gilt selbstredend ebenso für die mathematische Objektivität. So gesehen kann man mit Wittgenstein der Ethik nicht die Objektivität absprechen, wenn man sie nicht auch der Mathematik abzusprechen bereit ist.46 Diese Argumentation scheint nun doch den N k bzw. die ethischen Antirealismen wegzublasen. Sie scheint zu zeigen, daß der N k ein irgendwie schiefes Bild von dem hat, was sinnvoll menschliche Erkenntnis heißen könnte, ein möglicherweise einfach zu skeptizistisches Bild. Und dies könnte sowohl für jene Form von N k gelten, derzufolge moralische Einstellungen, Äußerungen usw. bloß Ausdruck des einzelnen Menschen sind, als auch für jene Form des Nk, derzufolge sie Ausdruck der Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlich verankerten Moral sind. In beiden Fällen — in dem subjektiven wie intersubjektiven N k — wird, so scheint doch diese wittgensteinianische Argumentation es uns geradezu aufzudrängen, ein entscheidender Fehler gemacht, nämlich moralisches Argumentieren bloß als Ausdruck, als Projektion, als Erfindung anzusehen und gleichzeitig z. B. mathematisches und auch naturwissenschaftliches Argumentieren nicht so, sondern als Rezeption, Beschreibung und Entdeckung anzusehen — also eine Unterscheidung zu treffen, welche die 46

Vgl. die Einleitung von Holtzmann/Leich (1981), 21 ff. sowie Wiggins (1976), 369 ff.

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anthropozentrische Fundierung ausblendet, auf der Wittgenstein zufolge das grundlegendere Verstehen und damit auch das der beiden Argumentationsweisen beruht. 47 Gibt es nun eine Möglichkeit 1. keinen falschen Unterschied zwischen ethischem und mathematischem Argumentieren zu machen und 2. den N k mit der Objektivitätsforderung in Einklang zu bringen? Dies ist sicher nicht für den traditionellen N k möglich, doch ist die These von der kognitiven Unterbestimmtheit der Praxis kompatibel mit derjenigen Konzeption von Objektivität qua Intersubjektivität, wie sie durch die anthropozentrische Fundierung nahegelegt wird, falls ein Begriff von Wahrheit konstruierbar ist, der die Objektivität von ethischen ebenso wie die von mathematischen Äußerungen sichert, ohne an eine ethische bzw. mathematische Realität zu appellieren. 48

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47

48

Vgl. Blackburn (1981), 185, wo Blackburn die anthropozentrische Fundierung unseres Verstehens mit seinem Quasirealismus verknüpft. — Es darf nicht übersehen werden, daß dann, wenn man die These von der anthropozentrischen Fundierung akzeptiert, auch der Kognitivismus, insbesondere in seiner intuitionistischen Version, unhaltbar wird. Es könnte sich herausstellen, daß die Semantik, die statt mit Wahrheitsbedingungen mit Behauptbarkeitsbedingungen arbeiten will, um die Bedeutung von Sätzen zu erklären, letztlich mit einer wahrheitskonditionalen Semantik strukturgleich ist, so daß man sagen müßte, der Nonkognitivismus basiere auf einem illusionären Begriff von Wahrheit und Realität.

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Sachregister Allgemeine Erkenntnislehre (Schlick) 10, 16, 81, 147, 152 Amsterdam 340 Analyse, logische 17ff., 43, 69, 87, 90, 144, 147, 251, 254, 287, 299 analytisch 8, 10 f., 43, 64, 68, 74—79, 93, 191 f., 246, 286 analytisch/synthetisch-Dichotomie 8, 10 ff., 17, 43, 67, 285, 380 Analytizität 68, 75, 78 f., 198 „Anschluß" (Österreichs an das Deutsche Reich) 278, 324, 333, 337, 3 4 0 - 3 4 5 , 359 Antirealismus (ethischer) 383 — 390, 396, 399 Antisemitismus 124, 130, 277, 279, 311, 326, 345 Arbeiterbewegung 137f., 140 f., 164, 296, 313, 318, 331 f. Arbeiterbildung 129 f., 137f., 342 Architektur (s. a.: Baukunst) 21, 120, 205 Arithmetik 43, 68 Aufklärung, aufklärerisch 4 f., 21, 27 f., 32, 105 f., 1 1 0 - 1 1 3 , 117, 126 f., 135, 137f., 142, 172, 208, 220, 262, 291 f., 294, 300 f., 331, 381 Auschwitz 356 Aussage(n) 14, 18, 23, 25, 35, 40, 144, 146 f., 151, 152, 1 5 4 - 1 5 7 , 1 6 7 - 1 7 1 , 175 ff., 180, 210 ff., 216, 225, 2 2 8 - 2 3 3 , 238 ff., 242, 244, 246, 249, 251, 254, 303 Austrofaschismus 126, 134, 142, 309, 313, 319 f. Austromarxismus 109, 130, 138, 320, 332 Außenwelt 9 f., 50, 226, 230, 240 Basis (der Erkenntnis) 145, 164 f., 1 7 5 - 1 7 9 , 183 ff., 196 f., 219, 254 Basis/Überbau 37f., 109, 113, 179, 272 Baukunst (s. a. : Architektur) 162, 207 Bedeutung 45, 49, 75, 84—91, 95, 98 f., 146, 161, 214, 230, 232 f., 239, 242, 247, 301, 381, 395 f., 401

Bedeutungsgleichheit, siehe: Synonymie Begriff(e) 18, 47, 52, 54, 58, 60, 65, 68, 7 4 - 8 1 , 110, 121, 1 4 5 - 1 4 8 , 1 5 7 - 1 6 1 , 168, 174, 176, 1 7 9 - 1 8 4 , 190, 192, 201, 208, 210, 215 f., 229, 238, 242, 244 f., 249, 253, 268, 2 7 1 - 2 7 4 , 2 8 2 - 2 8 5 , 297, 299, 324, 366, 368, 372, 399, 401 Behaviorismus, behavioristisch 121, 123, 177, 190, 198, 244, 249, 250, 268 Beobachtung 158, 217, 229, 232, 239, 243, 244 f., 248 f., 300 Beobachtungsbasis 191 ff., 196 — 199 Beobachtungssatz (s.a.: Konstatierung, Protokollsatz) 43, 169, 171, 180, 185, 239 Berlin 163, 208, 222, 328, 331 Berliner Gesellschaft, Kreis etc., siehe: Gesellschaft f ü r empirische (wissenschaftliche) Philosophie Beschreibung 47 ff., 59 ff., 71, 94 ff., 137, 212, 216, 228 f., 234, 244, 368, 386 f., 400 Bild(er) 44 f., 49, 5 1 - 5 7 , 61 ff., 86, 92, 97, 215, 233 Bildtheorie 40, 44—49, 53—66 Biologie, biologisch 105, 119, 222, 265, 267, 314 Bolschewismus, bolschewistisch 328, 330 ff. Bonn 206, 334 Brüssel 352 Buchenwald 333 Bundesrepublik Deutschland 307 f., 356 f. Cambridge (Großbritannien) 343 Cambridge (USA) 280 Chicago 341, 350 Czernowitz 206

280, 339 f.,

Dachau 333 Dänemark 332 Definition(en) 11, 13, 18, 43, 45, 55 f., 63, 68, 75, 77 f., 8 4 - 9 3 , 105, 145, 166 f.,

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Sachregister

169, 177, 180, 219, 233 f., 244, 247, 253, 324, 376 D e f i n i t i o n , ostensive ( a u c h : hinweisende, k o n k r e t e ) 81, 8 4 - 9 8 , 153, 155, 170 D e n H a a g 276, 295, 328, 332 Deskriptivismus 46, 53 f., 60 Deutsches Reich 21, 35, 309 f., 320, 324, 330, 332 f., 341, 347, 350, 359 Deutschland 142, 201, 221, 223, 276, 278 f., 286, 307, 314 f., 317, 319, 323, 327 f., 344, 355 f. Dezisionismus ( s . a . : E n t s c h e i d u n g , E n t schluß) 210 Dialektik, dialektisch 201 f., 292 E i n f ü h l u n g 173, 245, 268, 270 f. Einheit der W i s s e n s c h a f t 131, 139, 146, 148, 157f., 165 f., 178 f., 184, 208, 276 Einheitswissenschaft 14, 16, 106, 110, 113, 117, 119, 122 f., 125, 127, 132 f., 146, 166, 169 f., 174, 177, 180 ff., 207, 219, 242, 250 ff., 260 f., 265 f., 292 f., 298 ff., 302 Einheitswissenschaft (Schriftenreihe des W i e n e r Kreises) 122, 287 E i n h e i z w i s s e n s c h a f t 16, 287 E m i g r a t i o n ( s . a . : Exil) 27, 115 f., 133, 185, 237 f., 296, 304, 307-311, 3 2 2 - 3 2 7 , 331, 333, 3 3 8 - 3 5 9 , 366 Emotivismus 382 Empirische Soziologie ( N e u r a t h ) 26, 132, 238, 257 f., 270 f. Empirismus 11, 47, 65, 67, 81 ff., 86, 88, 105, 109 f., 117, 119 f., 123, 129, 131, 174 f., 181, 201, 218 f., 281, 2 8 4 - 2 8 6 , 289, 299 Empirismus, logischer (s. a.: Positivismus, logischer) 4, 11 f., 17ff., 41, 43, 63, 79, 81, 86—92, 98, 105, 108, 110, 184, 185, 192, 199 f., 228, 231, 260 f., 287, 292 f., 300 f., 336, 379 ff., 388, 397, 400 empiristisch 2, 17, 24, 28, 84, 104, 106, 110, 121, 125, 128, 144, 208, 252, 254, 257, 280, 287 ff. E n g l a n d , siehe: G r o ß b r i t a n n i e n E n t s c h e i d u n g ( e n ) 26, 37, 129, 208 f., 211, 227, 231 — 234, 271, 373, 375, 387, 397 f. Entschluß 31, 35 f., 179, 193, 207, 210, 243 E n z y k l o p ä d i e , e n z y k l o p ä d i s c h 2 — 8 , 27,

105, 113, 127 f., 133, 220, 280 f., 286, 293, 301, 304, 323 E r f a h r u n g 5 0 - 5 7 , 60, 82 f., 87, 96, 151, 1 5 6 - 1 5 9 , 164 f., 169, 225 f., 230 f., 2 3 9 — 2 4 5 , 252 ff., 259, 285, 300, 369, 388 Erkenntnis(se) 10 ff., 82, 87, 90, 93, 116, 128, 133, 139 f., 1 4 7 - 1 5 7 , 161, 163, 166, 1 6 8 - 1 7 5 , 178 f., 182, 184, 193, 2 0 9 — 2 1 1 , 218 f., 225 f., 231, 241, 246, 265, 271, 274, 295 f., 314, 369, 3 7 7 f . , 380, 386, 388, 392, 396, 399 f. Erkenntnis (Zeitschrift des W i e n e r Kreises) 40, 116, 118, 124, 142, 144, 160, 216, 221 f., 224, 279 f., 323, 328 — 331, 334 f., 345, 350 E r k e n n t n i s t h e o r i e 9 f., 12, 48 ff., 82 f., 105, 107 f., 110, 129, 141, 145, 223, 225, 254, 262, 265 E r k l ä r u n g 41, 47, 61, 88, 90 f., 93, 98 f., 211, 229, 231, 251, 262 f., 266, 269, 273 f., 288, 359, 368, 377, 395 Erlebnis(se) 1 5 1 - 1 5 8 , 161 f., 167ff., 171, 176, 178, 182, 184, 228, 245 Ethik 9, 115, 145, 194, 197, 344, 366, 373, 380 f., 400 Exil (s. a.: E m i g r a t i o n ) 262, 273, 276, 315, 319, 333, 354, 358 E x p e r i m e n t 217, 267, 269, 281 Fallibilismus, fallibistisch 209, 216 Falsifikation 171, 216 ff., 280, 298 F a r b p r ä d i k a t e (-Sätze) 12, 69 — 76, 79, 153 f., 178 f. Faschismus, faschistisch ( s . a . : A u s t r o f a schismus, Nationalsozialismus) 142, 201, 277 ff., 288, 291 f., 296, 301, 3 0 8 - 3 2 2 , 328, 331, 338, 349, 351 Februarereignisse (1934) 120, 124, 126, 276, 324 f., 331 — 334, 348 Formalismus, formalistisch 14, 59, 193, 198, 282, 321, 328, 331, 337 Forschergemeinschaft, siehe: scientific community F r a n k f u r t 292, 2 9 4 — 2 9 7 , 302 ff. F r a n k f u r t e r Institut 292 f., 294, 296, 302, 304, 328 F r a n k f u r t e r Schule 24, 291, 305, 308, 310, 352 f., 358 f. F r a n k r e i c h 278 F r a u e n b e w e g u n g 115

Sachregister Gedanke(n) 44 ff., 58, 61, 76, 83, 147, 248, 262, 318 Gegebenes 144, 146, 151 f., 154, 156 f., 167, 175, 239, 254, 292 Gegenstand 14 ff., 45, 50, 53, 58 f., 68, 70, 72,78, 82,139,144 ff., 148 f., 1 5 3 - 1 5 6 , 159, 168, 176 f., 179 ff., 192, 196, 214, 240, 245 f., 253, 272, 283 f., 399 Geist 45, 5 3 - 5 9 , 64, 150 f., 254, 300 Geisteswissenschaft(en) 6, 16, 148 f., 237, 245, 251, 260 f., 2 6 4 - 2 6 6 , 271, 295, 315, 353 Gelehrtenrepublik, siehe: scientific community Geometrie 11, 43, 51, 63 f., 213, 340 Geschichte 2, 40, 86, 103, 108, 130, 140, 164, 206 ff., 214, 257, 2 6 1 - 2 6 8 , 301 Geschichtsphilosophie 340 Geschichtsschreibung 2, 38, 101 ff., 106 f., 112, 261, 269, 274, 357, 360 Gesellschaft 31, 35 f., 104, 113, 127, 134, 1 3 9 - 1 4 2 , 163 ff., 181, 252 f., 261, 263, 266, 272, 293, 296, 301, 303 ff., 400 Gesellschaft für empirische (später: wissenschaftliche) Philosophie 4, 41, 118, 163, 221 f., 226, 317, 319, 328, 350, 352 f. Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum 1, 8, 112, 127, 327, 332 f. Gesetz(e) 11, 40, 5 1 - 6 1 , 76 f., 83, 163, 192, 217f., 238, 242 f., 245, 251 ff., 260, 262—265, 268—275, 329, 368, 389 Gesetz(e), historische(s), kulturelle(s) 260, 264—272, 359 Göttingen 316 f., 350 f., 353, 355 Großbritannien 277, 280, 286, 328, 339, 342 f., 350, 352, 366 Handlung(en) ( s . a . : Praxis) 16, 36, 85, 132, 165, 193, 209, 233, 245, 247 f., 2 5 0 - 2 5 3 , 263, 3 6 7 - 3 7 7 , 3 8 2 - 3 9 1 , 398 Handlungstheorie 36, 246, 368 Harvard 350 Heidelberg 30, 33, 208 Holismus, holistisch 210, 213, 217, 253 Holland, siehe: Niederlande Hypothese(n) 6, 51, 60, 97, 170, 172, 181, 194, 212, 216 ff., 232 f., 248, 263, 274, 280, 298, 329

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Idealismus, idealistisch 26, 106, 108 f., 149, 162, 190, 195, 201 f., 228, 231 Idee(n) 2, 133, 221, 271 Ideologie, ideologisch 112 f., 125, 174, 181, 262, 272, 274, 315, 322, 336, 360, 381 Ideologiekritik 190, 262 Induktion(-sproblem) 51, 60, 119, 218, 224 f. Induktionsprinzip 225 f., 231, 233 Instrument 18, 173, 215, 233, 263, 328 Instrumentalismus 229, 231, 233, 384 f., 393, 399 Intention 247, 253, 292, 301 Intentionalität 16, 372 Internationalisierung (des Wiener Kreises) 115 f., 118, 335 InterSubjektivität, intersubjektiv (s. a.: Objektivität) 153-157, 168, 172, 1 7 4 - 1 7 8 , 183 f., 191, 244 ff., 400 f. Introspektion 96, 190, 244, 249, 271, 369, 370, 373 Intuition 54, 64, 239, 271 Intuitionismus, intuitionistisch 14, 19, 47, 54, 64, 66, 193, 340 Istanbul 331, 352 Italien 319 Jazzfan 294 Kalkül(e) 84, 90, 92, 283, 328 Der Kampf (Zeitschrift der SDAPÖ) 5, 172, 312 ff., 333, 342 Kapitalismus, kapitalistisch 31, 34 f., 104, 133, 141, 262 f., 274, 292, 301, 312, 314 Kausalgesetz, K.-prinzip 11, 51 f., 54, 60 Kausalität (s.a.: Ursache) 60, 109, 118 f., 162, 274, 348 Königsberg 65, 315, 317, 323, 340, 346 Kollektiv, K.-arbeit 3, 7, 36, 104, 131 f., 141, 174, 179, 205, 297, 300 Kommunismus, kommunistisch 33, 296, 327, 332, 356 Konstatierung (s.a.: Beobachtungssatz, Protokollsatz) 169 ff., 175, 179 Konventionalismus, konventionalistisch 11 f., 47, 54, 59 f., 63 f., 108, 193, 206, 217, 220, 223, 252, 281 Kopenhagen 280 Kraft, K.-begriff 47 f., 56, 59, 150

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Sachregister

Kritische Theorie 291, 297f., 3 0 0 - 3 0 3 , 359 f. Kultur 104, 112, 130, 138, 141, 184, 213, 263, 268, 271, 275, 307 f., 315 f., 360 Kunst 106, 132, 145, 166, 200, 205, 303

Logik der Forschung (Popper) 218, 221, 280, 282, 287, 339 Logik, Sprache, Philosophie (Waismann) 42, 343, 366 Der logische Aufbau der Welt (Carnap) 10, 25, 131 f., 144, 146, 148, 151, 165 f., 1 7 2 - 1 7 5 , 183, 185, 197, 221, 223, 300, 322 Logizismus, logizistisch 8, 13 ff., 42, 193, 198, 337 Los Angeles 235

292, 295, 297, 312, 316, 319, 322 f., 326, 330, 340, 344 ff., 400 Mechanik 19, 47 f., 53, 56 f., 59 f., 70, 177, 213, 269, 270 Mengenlehre 190, 195 Metaethik 380, 382, 385, 391, 396 Metamathematik 194 Metaphysik, metaphysisch 5, 9 f., 19 f., 2 2 - 2 7 , 43, 61, 65, 67, 69, 106, 110 f., 119, 123, 135, 142, 146 f., 150, 157, 1 6 0 - 1 6 6 , 176 f., 180 ff., 1 9 0 - 2 0 2 , 207, 209, 216, 2 2 7 - 2 3 1 , 238 f., 242, 281 ff., 286 f., 293, 297, 316, 321 f., 359, 381 ff., 393, 396 f. Metaphysikkritik 2, 21—26, 43, 104, 112, 114, 202, 208, 255 Metasprache 196, 199 Metatheorie 197 f. Methode(n) 2, 6 f., 1 5 - 1 9 , 27, 105, 109, 121, 144, 1 4 8 - 1 5 5 , 163, 165, 179 f., 195, 200, 232, 247, 250, 254, 257, 266, 270f., 360, 372, 381 Methodologie, methodologisch (s. a.: Wissenschaftstheorie) 104, 106, 217, 230 f., 237f., 245, 247, 250, 254, 257f., 260, 265 f., 270, 275, 302 f., 345 Meßinstrument(e) 162, 170, 176, 245, 267 Monismus, Monisten 11, 108, 110, 112 ff., 126, 147, 149, 347 Moskau 296, 327, 332 Motiv 270f., 293, 366, 368, 3 7 3 - 3 7 7 , 381, 391 München 30, 33, 206 Münster 317

Mandschurei 347 Manifest (des Wiener Kreises), siehe: Programmschrift Marxismus, marxistisch (s.a.: Austromarxismus) 32 ff., 37 f., 109, 114, 119, 140, 164, 2 6 1 - 2 6 5 , 272, 274, 333, 335, 340, 359 Masse (phys.) 48, 57 materiales Apriori, siehe: synthetisch a priori Materialismus, materialistisch 26, 106, 108 ff., 112 ff., 135, 1 3 8 - 1 4 1 , 163 f., 172, 190, 198, 228, 265, 274 Materie 47f., 150, 162, 192, 228 Mathematik 8, 11, 13, 19, 23, 42, 44, 48, 65 f., 69, 108, 110, 118, 120, 140, 144, 190, 192, 195, 198 f., 222, 237, 283,

Nachkriegszeit (des zweiten Weltkriegs) 221, 349, 355, 357 Nationalökonomie 30, 108 f., 206, 208, 237 f., 297 Nationalsozialismus, nationalsozialistisch 21, 124 f., 134, 142, 279, 288, 3 0 8 - 3 1 6 , 320, 322, 326, 329, 333, 335 ff., 342, 350 f., 355 f., 360 Natur 53, 64, 132, 139 f., 159, 262 f. Naturgesetz(e) 11, 18 f., 51 f., 60 f., 119, 139, 217, 249 Naturphilosophie 149, 161, 222, 321 Naturwissenschaft(en) 6, 15 f., 23, 61, 104, 106—109, 117f., 139 f., 148 f., 159 f., 172 f., 222, 224, 230, 237 f., 244 ff., 251, 253, 261, 2 6 4 - 2 6 9 , 274, 297, 304, 316

Leben, L.-sweise, L.-sgestaltung 20, 50, 117, 123, 127 f., 131 ff., 136 ff., 140 ff., 146 f., 151, 1 5 8 - 1 6 7 , 171 f., 174 f., 179, 181 — 184, 194, 207ff., 225, 230 f., 261, 268, 273, 295, 301, 347, 397 f. Lebensphilosophie 200, 266, 310 Leipzig 206 Lettland 347 Litauen 347 Literatur 21, 107, 205 f. Logik 8, 11, 13, 19, 41 — 46, 55—61, 65 f., 73, 78, 81, 83, 118, 120, 129, 134, 143 f., 162, 190, 193, 195, 198, 201 f., 225, 231, 257, 283, 292, 297, 322 Logik, mathematische (auch: neue, symbolische) 18, 68 f., 110, 129, 191, 206, 317, 321

Sachregister N e o - P o s i t i v i s m u s 110, 117, 321 N e o - V i t a l i s m u s 16, 315 N e u k a n t i a n i s m u s 5, 12, 16, 138, 149, 159 f., 223, 231, 258, 262, 265 f., 310, 315 N e u s e e l a n d 349 f. N e w Y o r k 2, 37, 345, 352 f. N i e d e r l a n d e 276 f., 286, 328, 333, 352 N o m i n a l i s m u s , nominalistisch 107, 109, 192, 195, 268, 2 8 5 — 2 8 8 Nonkognitivismus 380, 382 ff., 387, 3 8 9 - 3 9 2 , 396 ff., 400 f. N o r m ( e n ) 9, 197, 271, 349, 383, 385, 388 N o t r e D a m e (Indiana) 341, 346 Objektivität (s. a.: InterSubjektivität) 151 — 156, 245 f., 381 f., 399 ff. Ö s t e r r e i c h 35, 104, 111, 117, 124 ff., 142, 221, 276, 278, 3 0 7 f . , 313, 315, 318 ff., 323 f., 327, 332, 335, 3 3 8 - 3 4 4 , 349 f., 356—359 O n t o l o g i e , ontologisch 9, 48, 61, 69, 77 f., 110, 190, 192, 195, 197, 199 f., 211, 230, 270, 283 f., 286, 382 O p e r a t i o n a l i s m u s 19 O x f o r d 353, 367 P a r a d i g m a 3, 6, 86, 91, 110, 117, 213 f., 275, 294 Paris 280, 335 Pazifismus, pazifistisch 105, 115, 312, 325, 335 P h ä n o m e n a l i s m u s , phänomenalistisch 10, 16, 23, 25, 4 7 f . , 71, 105, 175, 184, 196 f., 226, 228 ff., 233 f., 321 Phänomenologie, Phänomenologische Schule 12, 16, 54, 6 7 f . , 70, 7 2 - 7 9 , 2 3 7 - 2 4 4 , 251 f., 254, 258, 310, 345 Philosophie 3 — 1 0 , 12, 15, 17, 21, 23, 26 ff., 41 f., 45, 63, 65, 67, 70, 75, 79, 83, 85, 90, 101, 1 0 5 - 1 1 1 , 114, 120, 123, 125, 129, 132, 135, 140, 142, 144, 149 ff., 159—162, 173, 192, 198, 200 ff., 2 0 5 — 2 0 8 , 221, 224, 235, 237, 239, 258 f., 261, 263 f., 266, 280, 294 f., 299, 326, 336, 338, 344, 346, 349, 351, 353 — 360 Philosophie, analytische 18, 88 f., 144, 185, 206, 304, 351 Philosophie d e r M a t h e m a t i k 14, 19, 238 Physik 8, 11, 14 f., 26, 43, 59, 69, 106, 108, 110 f., 119 f., 135, 140, 151, 158,

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169, 173, 177, 195, 199, 2 1 7 f . , 222 f., 248, 265, 268 ff., 292, 295, 299, 312, 316, 319, 322 ff., 329 f., 347, 373 Physikalismus, physikalistisch 2, 8, 10, 14—17, 23, 25 f., 106, 113, 1 2 0 - 1 2 4 , 133, 144, 147, 164, 175 — 185, 193, 196 ff., 207, 222, 243 ff., 246, 248, 250, 254, 266, 270, 284 f., 292, 298 f., 302 P l a n u n g 297, 304, 359 Piatonismus, platonistisch 192, 286 f., 346 Polen 278, 332 Politik 9, 31, 104, 106, 114, 125, 145, 200, 318, 320, 330, 380 polnische Logikerschule 191 f., 276, 281, 317, 351, 353 P o p u l a r i s i e r u n g 1, 27 f., 101, 103, 106, 111, 116, 121, 123, 126 f., 319, 323 Positivismus, positivistisch (s. a. : N e o - P o s i tivismus) 17, 24 ff., 65, 105-109, 113 f., 144, 206 ff., 216, 224, 226, 228 — 233, 292 ff., 309, 321, 3 3 7 f . , 356 Positivismus, logischer (s. a.: Empirismus, logischer) 1, 88, 90, 104, 144, 172, 184, 197, 226, 234, 239, 254, 3 0 8 - 3 2 2 , 328, 331, 335, 337, 344, 347f., 350—360 Positivismuskritik 26, 292, 301, 359 Positivismusstreit 106, 358 f. P r a g 116, 118, 231, 235, 2 7 6 f . , 299, 309, 3 2 3 - 3 2 7 , 335, 338, 3 4 6 - 3 5 0 P r a g m a t i s m u s , pragmatistisch 105, 108, 351 Praxis 30, 101 f., 105, 114 f., 127, 129, 134, 139, 142, 164, 225, 241, 251, 273, 293, 296, 300, 303, 322, 380, 397 f., 400 f. Präskriptivismus 382, 384, 386, 399 P r i n c e t o n 347 P r o g n o s e ( s . a . : V o r a u s s a g e ) 68, 164 f., 226, 238 f., 252 f., 264, 270, 304, 314 P r o g r a m m s c h r i f t (des W i e n e r Kreises) 11, 17, 20, 104, 110, 114 f., 117, 129, 131, 134 f., 146, 162, 184, 237, 292, 323, 344 f. Protokollsatz (s.a.: Beobachtungssatz, K o n s t a t i e r u n g ) 37, 155, 180, 197, 207, 210 f., 2 1 6 — 2 1 9 , 240, 242 f., 248 f., 254, 260, 281 f., 292 P s e u d o r a t i o n a l i s m u s 193, 209, 214 Psychoanalyse 115, 119, 121, 136, 222, 304, 359

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Sachregister

Psychologie, psychologisch 83, 106, 108, 119 f., 124, 185, 249, 268, 302, 373, 389, 391 Psychologismus 68, 83 Quantentheorie 108, 119, 158, 234 Räterepublik (bayerische) 30—34, 333 Rationalismus 65, 172 f., 190, 209 Rationalität 231, 299, 304, 311, 392 Raum 47 f., 51, 56 f., 110, 162, 284 Realismus (ethischer) 383 f., 388, 393, 399 Realismus (ontologischer), realistisch 14, 18 f., 99, 106, 108, 114, 176, 184, 196, 224, 2 2 6 - 2 3 4 , 246, 288, 388, 396 f. Realität (s.a.: Wirklichkeit) 16, 38, 8 3 - 9 0 , 98, 168, 176, 192, 215, 219, 227, 241, 252, 309, 379, 388, 401 Relativismus 128, 213, 398 Relativitätstheorie 108, 136, 158, 190, 319, 329, 347 Religion 5, 22 f., 25, 125, 145, 194, 294, 322, 359 Revolution(en) 32, 83, 107, 113, 163, 216, 291, 303 San Francisco 347 Satz 9, 14, 17ff., 4 2 - 4 5 , 55, 58, 61, 65, 67, 6 9 - 7 9 , 84, 87, 91, 99, 156, 167, 170, 178, 191 ff., 198, 207, 209 ff., 216 ff., 232, 2 4 2 - 2 4 8 , 251, 285, 299, 374, 379 ff., 3 9 2 - 3 9 6 , 399, 401 Scheinproblem(e) 10, 105, 110, 119, 238, 368 Scheinsatz 13, 19, 43 Scholastik 6, 192, 318 Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung (Publikationsreihe des Wiener Kreises) 122, 280, 323, 336, 339, 344, 348 Schulphilosophie 5, 101, 105 f., 118, 132, 140, 191, 257 ff., 291, 321 Schulreform 20, 103, 106, 112, 114, 117, 126 f., 130, 134 f., 335, 342 Schweiz 319 scientific community 3, 7, 104, 208, 211 ff. Semantik 45, 48 f., 64 f., 89, 98 ff., 185, 194, 198 ff., 2 8 1 - 2 8 9 , 294, 383 f., 391, 396 f., 401 Sinn (von Aussagen, Sätzen etc.) 17 ff., 45, 47, 73, 97, 99, 152, 170, 199, 228, 232, 240, 2 4 4 - 2 4 8 , 251, 254, 266

Sinn (von Handlungen, des Lebens etc.) 161, 224, 245, 251, 254, 266, 271, 372, 397 f. Sinnesdaten 10, 110, 173 Sinngleichheit, siehe: Synonymie Sinnkriterium (s. a.: Verifizierbarkeit) 18 f., 23, 25, 124, 184, 191, 195, 197ff. Sinntheorie 2, 18 f., 22—25 Solipsismus 176, 184, 228, 233 Sowjetunion 34, 120, 124, 296, 327, 348 Sozialdemokratie, sozialdemokratisch 1, 34, 109, 112, 124, 126, 130, 137f., 172, 296, 312, 318, 320, 331 f., 334 f., 340 Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) 124, 137, 265, 312, 332 f., 342 Sozialforschung 109, 122, 297, 302 Sozialisierung 30—36, 110, 115, 333 Sozialismus, sozialistisch 101, 103, 1 1 3 - 1 1 7 , 126, 130, 134, 137, 140 f., 164, 223, 261 f., 264, 301 f., 315, 318, 325, 331, 334 f., 339, 379 Sozialwissenschaft(en) 23, 106, 117 f., 139 f., 163, 165, 173, 222, 237 f., 244—247, 249 f., 253 f., 261, 269, 292, 297, 304, 341, 345 Soziologie, soziologisch 26, 105, 109, 113, 119 f., 145, 160, 164, 184, 206, 220, 238, 250, 257, 259, 262 f., 266, 268, 270 ff., 275, 302, 312, 314, 318, 328, 355, 358 Sprache(n) 4 3 - 4 6 , 52, 57, 62, 71, 8 3 - 9 2 , 95, 97f., 120, 145, 147, 154, 157f., 166 ff., 1 7 1 - 1 7 8 , 1 8 0 - 1 8 5 , 193 f., 196, 198 f., 207, 215, 217f., 229—234, 242, 245, 248, 252, 260, 271, 284 f., 298 f., 305, 375 Sprachphilosophie 45, 48 f., 129, 143 Synonymie 199, 228, 230 ff., 249 synthetisch 10 f., 43, 67f., 72, 77f., 170 synthetisch/analytisch, siehe: analytisch/ synthetisch-Dichotomie synthetisch a priori 11 f., 67, 69—78, 195, 201, 380 System(e) 37, 57, 145, 147f., 1 5 4 - 1 5 8 , 163, 168 f., 1 7 4 - 1 7 9 , 183, 185, 209-212, 216-220, 231, 233 f., 242 f., 268 f., 299, 304 Tautologie, tautologisch 13, 42 ff., 58 ff., 65 ff., 69, 71, 74, 78, 198, 283 Technik 107, 119, 133, 145, 224

Sachregister Theologie, theologisch 26, 119, 123, 165, 173, 191 f., 194, 259, 270, 381 Theorie(n) 12, 14, 18, 35 — 38, 44, 46, 49, 61, 70, 88—91, 98 — 101, 127, 138, 153, 158 f., 162 — 165, 175, 181, 185, 192, 194, 199, 211 — 220, 229, 241, 243, 245, 262, 265, 269, 293 f., 299 f., 303, 318, 329, 341, 359, 368, 379, 396 Theoriendynamik 25, 27, 34, 211, 214, 354 Toleranzprinzip 14, 193, 195 Tractatus (Wittgenstein) 13, 18 f., 40—46, 5 7 - 6 6 , 6 9 - 7 2 , 75, 81, 8 3 - 9 0 , 129, 176, 194 f., 222, 292, 336 Tschechoslowakei 277f., 308, 332, 347 ff. Uberbau, siehe: Basis/Uberbau Universität(en) 27, 130, 258 f., 277 f., 295, 310, 315, 320, 326 f., 331, 334, 338 f., 342 f., 345, 347, 357f. Ursache (s. a.: Kausalität) 47, 96 f., 247, 264, 273, 377 Ursache/Wirkung 47, 51, 252, 270 USA 119 f., 124, 183, 227, 277f., 280, 307ff., 3 2 5 - 3 2 8 , 333, 338, 341, 343, 345 ff., 349 f., 352 f. Utilitarismus, utilitaristisch 36, 115, 384 Verein „Ernst Mach" 1, 101, 103 — 106, 1 1 1 - 1 2 6 , 1 3 1 - 1 3 4 , 237, 259, 292, 319, 321, 323, 327, 331, 333 f. Verifikation 18 f., 43, 86 f., 168, 170 f., 175, 239—244, 251 Verifikationismus 18 f., 23 ff., 396 Verifikationsprinzip 18, 43, 79, 84, 86 f., 2 3 9 - 2 4 4 , 254, 366, 388 Verifizierbarkeit (s. a.: Sinnkriterium) 84, 156, 184, 244, 249, 316, 336 Verstehen 95 f., 99, 170, 245, 247, 250 ff., 266, 268, 270 f., 395, 401 Volksbildung 1 3 3 - 1 3 8 , 300, 333 Volkshochschule 1, 8, 106, 120 f., 126 f., 129, 135 ff., 258, 313, 323, 342 Volkswirtschaftslehre, siehe: Nationalökonomie Voraussage, Vorhersage (s.a.: Prognose) 137, 164 f., 1 7 5 - 1 7 7 , 229, 231 f., 243, 246, 269, 304, 368 f. Wahrheit(en) 45, 68 f., 76 ff., 87, 99, 132, 137, 158, 161, 169 ff., 175, 185, 196,

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210, 222, 228, 233, 238 f., 242, 250 f., 283, 360, 375, 388, 3 9 2 - 3 9 8 , 401 Wahrheitsbedingung(en) 19, 43, 84, 99, 240 f., 248, 251 f., 383 ff., 388, 3 9 2 - 3 9 5 , 397, 399, 401 Wahrheitstheorie 185, 199, 210, 219, 222, 392 Wahrnehmung(en) 49 f., 231, 241, 251 Wahrscheinlichkeit, W.-stheorie 118, 224 f., 232, 271, 319 Welt 19, 44, 51 f., 58, 74, 86, 92, 128, 139, 150, 1 5 4 - 1 6 1 , 167 f., 175, 179, 182, 184, 195, 210 f., 215, 219, 228 f., 232, 241, 248, 251, 283, 293, 300, 305, 322, 379, 388, 393, 399 Weltanschauung 113 f., 117, 132, 209, 214, 216, 319 Weltauffassung, wissenschaftliche 17, 20, 26, 28, 36, 103, 105, 110 f., 113, 117, 119 f., 1 2 4 - 1 2 8 , 129, 131, 133 f., 136, 138, 140—146, 160, 162 f., 182, 185, 207f., 285 f., 311 f., 322, 331, 352, 354, 359, 379 Weltkrieg, erster 33, 35, 115, 223, 317, 325, 334 Weltkrieg, zweiter 221, 277f., 292, 304, 344, 346, 358 Werkzeug(e) 18, 38, 92, 117, 131 f., 137, 212, 233, 303 Wert(e) 6 f., 9, 21 f., 145, 157, 266, 271, 273, 379, 382 f., 388 W e n l e h r e 12, 197, 344 Wiedererkennen 8 1 - 8 9 , 91 f., 94—100 Wien 30, 104 f., 111, 113, 124, 129 f., 135 f., 172, 206, 208, 234, 237, 292, 2 9 4 - 2 9 7 , 302 ff., 308 f., 320, 325 f., 329, 3 3 2 - 3 3 5 , 3 3 8 - 3 4 8 , 350, 353, 355, 357 Wiener Kreis 1 — 28, 36 f., 40—46, 6 2 - 6 5 , 79, 8 4 - 8 9 , 1 0 1 - 1 0 6 , 110 f., 1 1 5 - 1 1 8 , 1 2 4 - 1 3 4 , 138, 142, 144, 146 f., 151 f., 158, 162 f., 167, 172, 175, 182, 184f., 190ff., 195, 200, 202, 205ff., 214, 218, 2 2 0 - 2 2 6 , 231, 234 f., 2 3 7 - 2 4 1 , 244, 251, 2 5 4 - 2 6 1 , 278, 281, 287, 291 f., 295 ff., 300 f., 3 0 4 - 3 0 9 , 313, 315, 3 1 7 - 3 6 0 , 366 ff. Wiener Kreis, erster 115, 162, 206, 334 Wiener Kreis, linker Flügel 126, 129 f., 134, 318, 334, 379 Wiener Kreis, rechter Flügel 21, 24, 117, 130, 134, 319

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Sachregister

Der Wiener Kreis ( K r a f t ) 222, 321, 331, 356 Wille 156, 270, 366, 3 6 8 - 3 7 7 , 388, 396 W i r k l i c h k e i t (s. a.: Realität) 45 f., 58, 61 f., 74, 120, 139, 148, 150, 154, 159, 161, 169, 170, 172, 174, 194 f., 212, 219, 230, 240, 242, 292, 298, 395 W i s s e n s c h a f t ( e n ) 4, 7 — 1 1 , 21, 25, 2 7 f . , 42, 48, 104 f., 110, 113, 116, 119 f., 123, 1 2 5 - 1 2 8 , 1 3 2 - 1 3 6 , 138, 140, 142—151, 154—184, 190—195, 202, 2 0 6 - 2 1 1 , 214 f., 217, 219, 223, 225, 231, 242 f., 250, 2 5 7 f . , 262 ff., 270, 272, 275, 279, 281, 295 f., 298 f., 3 0 1 - 3 0 5 , 312, 318, 320, 326, 347, 366 W i s s e n s c h a f t ( e n ) , empirische 8, 14 f., 23, 65, 69, 147, 149 f., 238, 247, 251, 281, 283

Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis, siehe : P r o g r a m m s c h r i f t W i s s e n s c h a f t s t h e o r i e , W . - s l o g i k 8 ff., 43, 64, 102, 143, 185, 191, 206, 219 f., 225, 260, 265, 274 f., 292, 298 f., 301, 341, 348, 353 Yokohama

347

Z a h l ( e n ) 13, 62, 71, 75, 90, 192, 232, 379 Zeichen 48 — 52, 55, 58 f., 85, 166, 198 f., 245 Z e i c h e n t h e o r i e 49, 52 ff. Zeit 4 7 f . , 51, 56 f., 69, 162, 284, 294 Z ü r i c h 107 Z u k u n f t 34, 138, 180, 224, 292, 303, 369, 373 Z w i s c h e n k r i e g s z e i t 2, 21, 129, 136, 279, 302, 311, 323

Personenregister Achinstein, P. 186 Adjukiewicz, Κ. 37 Adler, F. 109, 172, 217 Adler, V . 135 Adler, M. 5, 138 f., 257, 320 Adorno, Th. 105, 292, 294, 305 f., 362, 364 Aebi, M. 201 f. Albert, H. 302, 305, 364 d'Alembert, J . 280 Altenberg, P. 107 Altenhuber, H. 106 Amery, J. 338, 360 Anders, G. 226 Anscombe, G. E. M. 70, 246, 255, 390 Aquin, Th. v. 258 Aristoteles 23, 190, 192, 201 ff., 213, 389 Arntz, G. 29, 102, 204, 255, 365 Aster, E. v. 315, 322, 329, 360 Asquith, P. 203 Augustin 24, 88, 97 Austin, J . L. 385 Avenarius, R. 17, 106 f., 109, 181 Ayer, A. J. 110, 144, 155, 183, 186, 202, 260, 361, 367, 378, 380, 382, 401 Bach, D. 109 Bacon, F. 258, 272 Bärthlein, Κ. 204 Bahr, Η. 107 Bailyn, Β. I l l , 186, 235, 307f., 361 Baker, G. 66, 100, 189, 365, 368, 378 Ballod, Κ. 36 Barker, St. 186 Bartley, W . 130 Bauer, O. 109, 119, 121, 334 Beard, R. 80 Bechinie, K. 114 Becker, H . 307 Beckermann, A. 358, 361, 379 f., 401 Behrmann, J. 3 1 3 , 3 5 3 , 3 6 1 Belke, I. 110 Benes, E. 347, 349 Benjamin, W . 304, 306 Bense, M. 322, 361

Bentley 255 Berger, G. 229, 231, 235 Berghel, H. 29, 111, 125, 186 ff., 210 f., 365 Berkeley, G. 389 Bergmann, G. 197, 202, 324, 326, 353 Bergmann, P. 347, 350 Bergson, H. 150, 200, 202 Berliner, Α. 328 Bertalanffy, L. v. 119, 121, 222 Berwald, L. 350 Beth, E. 195, 202 Beyerchen, Α. 361 Blackburn, S. 392 ff., 401 Blackmore, J . 1 0 4 , 1 1 0 Blei, F. 107 Blüh, O. 106 Blumberg, A. 361 Börner, W . 113 f. Bohr, N. 123 Boltzmann, L. 101, 108, 207, 268 Bolzano, Β. 77—80, 191 f., 201, 203 Born, M. 317 Botticelli, S. 94 Botz, C. 113 Brandt, R. 386 Brede, W . 301, 306 Brentano, F. 16, 108, 192, 207 Broch, H. 291, 305 Broda, E. 361 Brouwer, E. L. 14, 190, 340, 363 Brägel, F. 333, 361 Brunswik, E. 119, 122 f. Bubner, R. 256 Bühler, K. 108, 336 Bunge, M. 227, 235 Burkhardt, H . 192, 202 Buselmeier, K. 362 Carnap, I. 288 Carnap, R. 7, 9 f., 12 ff., 16, 20, 24 f., 28 f., 37f., 41 ff., 65 f., 86, 88 f., 100 ff., 110 f., 1 1 5 - 1 2 5 , 1 2 9 - 1 3 5 , 1 4 4 - 1 4 8 , 151-158, 163, 165-188, 191, 1 9 3 - 2 0 0 , 202 f., 207f., 211, 217f.,

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Personenregister

221, 2 2 4 - 2 3 7 , 240, 242 f., 246, 249 f., 255, 264, 276—289, 292, 297, 299 f., 305, 309, 316, 318, 321, 324—339, 344, 3 4 6 - 3 5 0 , 353 f., 360—365, 368, 381, 390, 401 Carus, P. 108 Cassirer, E. 259, 315 Chisholm, R. 108 Cless-Bernert, T . 123 Coffa, Α. 199, 203 Cohen, R. S. 104, 106, 256, 289, 327, 332 f., 347 f., 350, 353, 361, 363 Comte, Α. 17, 263 Copi, I. 80 Couturat, L. 107 Czermak, J. 106 Dahms, J. 18, 28, 317, 330, 351, 355, 361 Darwin, Ch. 263 Davidson, D. 376, 378, 383, 394, 401 Dawson, J. 346, 361 Del Negro, W. 195, 203, 321, 361 Descartes, R. 90, 190, 204, 209 f., 258, 263, 272 Dewey, J. 123, 238, 255, 285 Diderot, D. 280 Diersch, M. 107 Dilthey, W. 16, 200, 266, 310 Dingler, H . 12, 63, 321, 328 — 331, 357, 360 ff. Dollfuß, E. 27, 124 f., 313, 319 f., 327, 337 Dostojewski, F. 367 Driesch, H . 315, 321 Drimmel, H . 356 Dubiel, H . 296, 298, 305 Dubislav, W. 221 f., 236 Du Bois-Reymond, P. 150, 186 Dürr, H. 297, 306 Duhem, P. 63, 108, 110, 153, 186, 212, 216 ff., 281 Dummett, M. 45, 66, 100 Duncker, K. 249, 255 Dvorak, J. 1, 28, 102 f., 109, 127, 130, 259, 313, 324, 342, 353, 361 Eckstein, G. 109 Edel, A. 123 Edwards, P. 358, 361 Ehrenfels, Ch. 108 Einstein, A. 107—110, 295 f., 305, 316 f., 319, 328 f., 331, 347, 365 Eisler, R. 114

Eisner, K. 30, 32 Enders, R. 114 Enders, St. 114 Engels, F. 138, 140 Eschbach,A. 363 Exenberger, H . 333, 361 Farber, M. 255 Feigl, H. 88, 100, 110 f., 114, 119 f., 122, 127, 144, 162, 172, 176, 183 f., 186, 224, 235, 259, 292, 308 f., 3 2 4 - 3 2 7 , 3 3 6 - 3 3 9 , 346, 353 f., 358, 361 Fellinger, H . 136 Fermi, L. 307 f., 361 Feuerbach, L. 139 Feyerabend, P. 6, 213, 220, 357, 361 Fichte, G. 190, 201 Ficker, L. v. 194, 204 Filia, W. 127 Finlay-Freundlich, E. 123 Fischer, K. 198, 203 Flach, W. 204 Fleck, K. 361 Fleming, D. 111, 186, 235, 307 f., 361 Fourier, Ch. 36 Franck, J. 316 f. Frank, J. 1 1 8 , 1 2 4 , 2 7 8 Frank, Ph. 16, 23, 28, 109 ff., 115, 119 f., 122 ff., 144, 147f., 151, 158, 161 ff., 185 f., 206, 208, 276, 280, 295, 305, 324, 334, 347f., 350, 353 f., 361 Frege, G. 13, 18, 4 3 - 4 6 , 58 f., 61 f., 64 ff., 69, 88, 99 f., 201 Frenkel-Brunswik, E. 122 Freud, S. 154, 367 Frey, G. 343 f., 356, 362 Freyer, H . 312 Friedeburg, L. v. 362 Friedjung, J. 114, 119, 121 Fries, J. 201 Frisé, Α. 107 Frölich, P. 34 Fürth, R. 348, 350 Gadamer, H.-G. 320, 362 Galilei, G. 263 Geiger, H . 236 Gerlach, E. 109 Gicklhorn, R. 119 Glaser, E. 1, 22, 28, 109, 352, 362 Gleispach, W. v. 320 Goebbels, J. 313

Personenregister Godei, Κ. 198, 324, 326, 344—347, 353, 361 f. Goethe, J. W . v. 107 Goldscheid, R. 109,114 Gomperz, H . 107, 118, 120, 124, 237, 259, 343 Goodman, N. 195 Greffrath, M. 362 Greiling, K. 188, 221, 223, 236, 278, 335, 348, 352, 355, 364 Grewendorf, G. 382, 401 Grünberg, C. 109 Gumbel, E . J . 3 1 5 , 3 3 5 , 3 6 2 Gumplowicz, L. 314 Haberler, G. 238 Habermas, J. 15, 362 Hacker, P. 100 Haeckel, E. 108 Härlen, H . 236 H a h n , H . 13, 41 f., 65 f., 101, 115—118, 120 ff., 124, 127, 129 f., 134 f., 144, 147 f., 161, 186 f., 195, 203, 206, 208, 237, 287, 292, 324, 331, 334 f., 338, 340 f., 346, 362, 381 Haller, R. 1, 28 f., 105, 118, 176, 187f., 206, 208, 211, 214, 237, 254 ff., 299, 306, 323, 354, 359, 362 f., 365 Halpern 119 Hänfling, O . 102 Hare, R. 381 f., 386 f., 401 H a r m a n , G. 384, 386, 390, 401 Harré, R. 66, 378 Hartmann, H . 119 ff., 124 Hartmann, L. 109, 135 Hartmann, N . 12 Hartshorne, Ch. 350 Hautmann, H . 113 Hayek, F. ν. 359, 363 Hebbel, F. 107 Hegel, F. 139, 190 f., 201 f., 204, 258, 263, 300 Hegselmann, R. 24, 29, 103, 130, 144, 187f., 265, 276, 289, 301, 305, 307f., 311, 320, 322, 327, 330, 349, 350, 360, 362, 364, 379, 402 Heidegger, M. 24, 28, 191, 200, 203, 316 Heller, H . 315 Heller, K. 104 Helling, I. 16, 238, 250, 255, 324, 345 Helmholtz, H . 40, 46 f., 4 9 - 5 4 , 59 f., 62, 66

413

Hempel, C. G. 123, 206, 210, 228 f., 248 ff., 254 f., 336, 352, 362 Herbst, E. 114 Hertz, H . 40, 45 f., 50, 5 2 - 6 4 , 66, 70 H e r t z k a 36 Herzberg, A. 221 Herzberg, L. 114 Hilbert, D. 198 Hildebrand, D. v. 320, 343 Hilferding, R. 32 Hintikka, J. 362 Hippolyt 107 Hitler, A. 277, 3 1 2 - 3 1 6 , 326 f., 341 f., 349 Hobbes, Th. 258 Höfler, A. 108 Hölderlin, F. 107 H o f f m a n n , J. 32 Hofmannsthal, H . v. 107, 291 Hollitscher, W. 188, 278 Holton, G. 108 Holtzmann, S. 382, 400 ff. Horkheimer, M. 292—298, 300 f., 3 0 3 - 3 0 6 , 315, 328, 360 Hostinsky 236 Huber, W. 101 Hübner, A. 29, 111, 125 Hübner, K. 291, 306 Hull, C. 122 H u m e , D. 60, 67, 69, 79 f., 82, 146, 258, 389 ff., 402 Husserl, E. 12, 67f., 70 ff., 74—80, 108, 200, 203, 239 f., 253, 346 Hutcheson, F. 389 Hutten, E. 236 Jaensch, E. 321 Jahoda, M. 109, 121 f., 352, 362 James, W. 108, 146, 367 Janik, A. 29, 105, 110 Jantsch, E. 302, 306 Jay, M. 295, 306, 328, 352 f., 362 Jerusalem, W. 101, 107 Jodl, F. 101, 108, 113, 115, 135 Joergensen, J. 102, 110, 122 f., 144, 183, 187, 362 Johnston, W. 206, 362 Juhos, Β. v. 130, 324, 344, 356 ff., 363 f. Kadrnoska, F. 28 f., 111, 130, 296, 306, 362 Kafka, F. 367

414

Personenregister

Kaila, E. 237 Kalckreuth, Ε. v. 312 Kambartel, F. 153, 187 Karnitz, R. 102, 322, 362 Kamiah, A. 153, 308, 362, 402 Kammerer, P. 114 Kampits, P. 28, 130 Kant, I. 11, 16, 47, 51, 60, 67f., 7 7 - 8 0 , 140, 159, 191, 195, 201 f., 258, 384, 389 ff. Kant, O. 122 Kaufmann, F. 16, 2 3 7 - 2 5 5 , 324, 344 f., 353, 362 Kelsen, H . 123, 237, 315, 345 Kepler, J. 217 Keynes, J. M. 88 Kindinger, R. 108 Kindt, W. 223, 235 Kirchhoff, G. 46 f., 53 f., 59, 62, 66 Kleene, S. 198, 203 Kluke, P. 295, 306 Kockelmans, J. 302, 306 Köhler, E. 29, 111, 125, 192, 203, 291, 346, 362 Köhler, W. (Berlin) 222, 317 Köhler, W. (Frankfurt) 308, 362, 402 Körner, St. 350 Konrad, H . 113 Korsch, K. 109, 222 Kraft, J. 200, 203 Kraft, V. 9, 12, 102, 110, 115, 129, 134, 136, 144, 183, 187, 237, 242, 255, 259, 321, 324, 349, 356, 357, 359, 362 ff. Kranold, H . 32, 235 Kraus, O . 349 f. Kröner, P. 343, 350, 358, 363 Krohn, W. 265, 359, 365 Krüger, L. 144, 187f., 236 Külpe, O. 108 Künkel, F. 222 Küsters, G. 298, 306

380, 385,

123, 127, 222, 235, 331, 344,

Kuhn, Th. 3, 6 f., 20, 29, 123, 211, 213, 220 Kulemann, P. 335, 363 Kundermann, C. 114 Kutalek, N . 136 Lakatos, I. 6, 29 Lamarck, J. 263 Landauer, G. 32, 235

Langewiesche, D. 113 Laue, Μ. v. 317 Lazarsfeld, P. 109, 122 Lederer, E. 315 Lehmann, G. 321, 349, 363 Leibniz, G . W . 68, 78, 190 ff., 195, 201 f., 204, 258, 346 Leich, C. 387, 400 ff. Leinfellner, W. 357 Lenin, W. I. 26, 106, 109, 347 f., 363 L e n z e n , V . 123 Lepenies, W. 295, 306 Leser, N. 126, 361, 363 Lesniewski, St. 192 Lessing, Th. 315 Levien 33 Lewin, K. 222 Lewis, C. I. 327 Lindenfeld, D. 108 Linke, P. 200, 203 Linse, U. 223, 235 Locke, J. 82, 146, 232, 258 Loewy, H . 115 f., 124 Loos, A. 194 Lorenz, K. 361 Lorentz, H . A. 107 Lotze, H . 45 Luckhardt, G. 378 Luckmann, Th. 250, 256 Lübbe, H . 108 Lukasiewicz, J. 192 Lutman-Kokoszynska, M. 200 Mach, E. 17, 29, 65, 101, 1 0 3 - 1 1 1 , 116, 122, 144, 146 f., 151, 186, 190, 201, 206 f., 211, 216 f., 321, 329, 347, 365 Machek, E. 114 Mackie, J. 382, 402 März, E. 121 Maier, H. 321 Maier, J. 297 Maimann, H . 113,331, 363 Mainx, F. 123 Malcolm, N. 62, 66 Mally, E. 197, 203 Mandelbaum, K. 297 Mannoury, G. 122 Marek, S. 315 Marcuse, H . 292 f., 306 Marcuse, L. 319, 363 Marek, J. 187, 363 f. Marinelli, W. 119, 121

Personenregister Marx, Κ. 34, 109, 138 ff., 194, 263 Masaryk, T . 347, 349 Matejka, V. 3 1 1 , 3 5 6 , 3 6 3 Matti, S. 1 1 3 , 3 3 1 , 3 6 3 Mauthner, F. 107 Maxwell, C. 46, 62 Maxwell, G. 229, 235 McDowell, J. 386, 389, 402 McGuinness, B. 12, 24, 29, 62, 66, 80, 118, 186, 189, 258, 362 f., 365, 378 Meggle, G. 382, 401 Mehrtens, H . 363 f. Meiner, F. 279 f., 328, 330 Meinong, A. 70, 108 Meitner, L. 222 Menger, C. 109 Menger, K. 9, 14, 29, 118, 144, 186, 193, 195, 197, 203, 237, 324, 326, 334, 336, 340 f., 344, 346, 353, 363 Messer, A. 173 Methlagl, W. 204 Michels, Th. 203 Migdal, U. 295, 306 Mill, J. St. 11 Minkowski, H . 107 Misar, W. 114 f., 119 Mises, Η . v. 347 Mises, L. v. 237, 317 Mises, R. v. 110, 115, 122 f., 149 f., 187, 236, 315, 319, 347, 352 Mittelstraß, J. 236, 361, 364 Mohn, E. 1, 29, 32, 35, 38, 103, 130, 187, 311, 319, 325, 333, 359, 363, 402 Moore, G. E. 18, 351, 3 6 8 , 3 8 2 Morris, Ch. 102, 110, 122 f., 286, 350, Morscher, E. 28, 190 f., 201, 203 Mühsam, E. 32 Müller, Κ. 106, 190 Müssener, Η . 363 Mulder, Η. 1 1 7 , 2 7 6 , 3 6 4 Mulligan, Κ. 79 Musgrave, Α. 29 Musi!, R. 21, 107, 367

162,

144, 379,

363

Nagel, E. 123, 289, 345, 348, 362 f. Natanson, M. 255 Neider, H. 124, 144, 155, 176, 187, 194, 325, 354, 356, 359, 363 f. Nelböck, J. 337 Nelson, L. 28, 212, 223

415

Nemeth, E. 1, 22, 29, 103, 130, 187, 193, 200, 203, 363 Neugebauer, W. 365 Neumann, M. 355, 363 Neumarck, F. 352, 363 Neurath, M. 256, 276, 288 f., 327, 332 f., 353, 363 Neurath, Olga 324, 332 Neurath, O t t o 1, 8, 11, 13 f., 16 f., 20, 2 3 - 2 6 , 2 8 - 4 0 , 43, 66, 101 ff., 105, 109 f., 112, 114-127, 129 f., 1 3 2 - 1 3 8 , 141 f., 144, 1 4 6 - 1 4 9 , 155, 158, 1 6 1 - 1 6 5 , 1 7 2 - 1 8 8 , 191, 193 ff., 1 9 7 - 2 0 0 , 2 0 3 - 2 2 0 , 234, 236 ff., 240, 242 f., 246, 248, 252, 254 f., 257f., 260, 264 f., 268, 270 f., 276—289, 296 f., 299—306, 312, 324, 327f., 331 — 334, 338 f., 342 f., 345, 350, 352 f., 3 5 9 - 3 6 3 , 365, 381 Neurath, P. 121, 333 Newton, I. 47, 56, 59, 217, 263 Nidditch, P. 80 Niekisch, E. 32 Nietzsche, F. 195, 202 f. Nissen, F. 352, 364 Ockham, W. ν. 195,211 Oppenheim, P. 254 f., 352 f., 364 Ostwald, W. 108, 145, 222 Ott, H . 316, 364 Papen, F. ν. 312 Pannekoek, A. 109 Pappenheim, M. 120, 124 Parsons, T. 109 Payer, P. 291, 306 Peano, G. 107 Peirce, Ch. S. 192,201 Pettit, P. 383 f., 386, 402 Petzoldt, J. 108 Pfoser, A. 113, 337, 361, 364 f. Pieper, A. 382 Planck, M. 108, 159 Platon 254, 363 Platts, M. 383 f., 386, 389, 393, 399, 402 Plessner, H . 355 Plotin 190, 201 Poincaré, H . 3 6 , 6 3 , 108, 110, 144, 151 ff., 155, 188, 212, 218, 281 Polanyi, K. 1 0 9 , 1 1 9 , 1 2 2 Pollock, F. 297

416 Popper, Κ. R. 122, 134, 184, 216 ff., 221, 224, 235, 259, 289, 309, 332, 335, 339 f., 358 f., 364 Popper-Lynkeus, J. 104, 110 f., Pothast, U. 378 Proklos 190 Pross, H . 307, 324, 353, 364 Putnam, Η . 185, 373, 379

Personenregister 191, 214, 280, 287, 343, 352, 115

Quine, W . V . O. 11, 77 t., 190, 195, 216, 220, 284, 290 Quinton, Α. 367 Radbruch, G. 315 Ramsey, F. P. 47 Rand, R. 278 Rauscher, J. 188 Rehder, W . 297, 306 Reich, W. 119,122 Reichenbach, H . 41, 118, 160—163, 180, 184, 188, 2 2 1 - 2 2 8 , 2 3 0 - 2 3 6 , 279, 317, 328 — 331, 339, 349 f., 352, 364, 379, 381, 402 Reichenbach, M. 223, 236, 402 Reidemeister, K. 237, 315, 317, 340 Reinach, A. 79 f. Reininger, R. 336 Reitzig, G. 336, 365, 378 Rembrandt 93 f. Rescher, N . 364 Rey, A. 108,110 Richter, R. (Pseudonym von Edgar Zilsel) 313 f., 365 Richter, St. 330, 363 f. Rickert, H . 149 f., 159 f., 172, 188, 266 Ringer, F. 295, 306 Röder, W. 311, 327, 333, 341, 346, 353, 355, 365 Ronzal, F. 114 Rosenberg, A. 313 Rosenow, U. 317, 364 Rosenstein-Rodan 238 Rothstock, W . 188 Rougier, M. L. 199 Russell, B. 11, 13, 18, 44 ff., 58 f., 61 f., 65, 68 f., 81, 88, 107 f., 110, 123, 129, 146, 188, 194, 201, 222, 281, 283 f., 290, 334, 351, 354, 360, 364 Rütte, H . 105, 183, 188, 208, 210, 255 f., 299, 306, 323, 359, 362 ff. Ryle, G. 290, 366 f., 373 f., 376, 378

Salmon, W. 226 ff., 232, 236, 364 Santillana, G. de 123 Schacht, H . 312 Schächter, J. 123 Schäfer, L. 217 Schapp, W. 108 Schappacher, N. 317, 364 Scheel, K. 236 Scheler, M. 12, 24, 173, 200 Schelling, F. v. 201 Schilpp, P. A. 26, 29, 188, 203 f., 230, 235, 309, 329, 335, 339, 349, 352, 354, 360, 364, 402 Schimanovich, W . 362 Schippel, M. 34, 39 Schleichen, H . 186, 188, 357, 360, 364, 401 f. Schlick, M. 9 f., 12, 16 ff., 25, 28 f., 41 ff., 6 5 - 6 9 , 71 f., 74f., 77, 79 f., 81 ff., 85, 88, 91, 93, 97f., 100, 110, 114—122, 124 ff., 130, 147ff., 1 5 2 - 1 5 5 , 161, 163, 167—172, 175 f., 178 f., 1 8 2 - 1 8 5 , 188 f., 191, 193, 200, 204, 206 f., 210, 223, 226, 234, 240, 254, 256, 259, 280, 287, 292, 311, 319 ff., 323 f., 326, 333 f., 3 3 6 - 3 4 0 , 343 f., 346, 348, 356, 360 ff., 364, 366 ff., 377 f. Schmidt, A. 298, 306 Schnitzler, A. 107, 144 Schnitzler, G. 188 Schönfeld, B. 114 f. Scholem, G. 304, 306 Scholz, H . 191 f., 202, 204, 317, 322, 364 Schopenhauer, A. 367 Schorske, C. 105 Schreiter, J. 364 Schröder, P. 223, 236, 356, 364 Schrödinger, E. 317 Schroth, H . 112 Schütte-Lihotzky, M. 121 Schütz, A. 238, 250 f., 255 f. Schulte, J. 18, 29, 66, 189, 365, 378 Schumann, W. 32, 39 Schumpeter, J. 109 Seeger, R. 104, 106 Selby-Bigge, L. 80 Seilars, W. 100, 229, 236 Shea, W. 204 Shils, E. 109 Sidgwick, H . 387, 402 Siegert, M. 125, 311, 337 f., 354, 364

Personenregister Siegfried, Κ. 296, 306 Simmel, G. 266 Simon 33 Simons, P. 12 Skirbekk, G. 210 Skolimowski, H . 192, 204 Sluga, H . 45 Smart, J. 229, 236 Smith, B. 79 Sneed, J. 47 Sombart, W. 24, 266 Solla Price, D. de 302, 306 Sotriffer, K. 105 Spalek, J. 364 Spann, O . 24, 296, 306 Speck, J. 235 Spengler, O. 28, 212—215 Spinoza, B. 258 Spira, L. 125, 364 Spranger, E. 315 Springer, J. 280 Stadler, F. 1, 28 f., 102 ff., 106, 109, 111, 113, 118, 125, 127, 130, 134, 188, 190, 203 f., 255, 291, 307, 311, 317, 319 f., 325 ff., 3 3 3 - 3 3 8 , 344 f., 348, 352, 361, 364 f. Stalin, J. 34 Stammler, R. 266 Stampfer, F. 33 Stegmüller, W . 7, 29, 47, 144, 183, 189, 221, 354, 365 Stevenson, Ch. 382 Stöhr, Α. 101,107 Stranzinger, R. 68 Strauss, H . 311, 327, 333, 341, 346, 353, 355, 365 Strawson, P. 402 Strigi, R. 119, 122 Stumpf, C. 108 Suppe, F. 1 8 5 , 2 0 3 Swoboda, W. 302, 306 Szilasi, W . 108 Talos, E. 365 Tandler, J. 121 Tarski, Α. 185, 199 f., 278, 281, 283, 287, 353 Thiel, Ch. 307 f., 311, 317, 321 ff., 327, 354 f., 365 Thiele, J. 1 0 4 , 1 0 6 Thirring, H . 115,121 Thyssen, F. 312

417

Tintner, G. 123 Tirala, L. 321, 365 Toller, E. 32 f. Topitsch, E. 190, 201, 204, 291, 306 Tornier, E. 236 Toulmin, St. E. 22, 29, 105, 110, 220, 382 Trendelenburg, F. A. 45 Treschnitzer, B. 187 Twardowski, K. v. 192 Velde-Schlick, B. v. de 364 Vogel, T h . 3 1 5 , 3 2 9 , 3 6 0 Vokolek, H . 114, 119, 121 Voltaire, F. 111 Wagner, H . 201, 204 Wahle, R. 107 Waismann, F. 12 ff., 24 f., 29, 41 ff., 65 f., 72, 80, 85, 88 f., 91, 100, 117, 120, 124, 127, 130, 134, 136, 188 f., 194, 224, 234, 243, 256, 258, 292, 324, 336, 338, 340, 343 f., 365, 3 6 6 - 3 7 8 Wald, A. 326 Warnock, G. 385, 402 Wartofsky, M. 1, 6, 29, 347 f., 350, 354, 361, 365 Watson, J. 190 Weber, A. 266 Weber, M. 24, 252 f., 256, 266 Weidenholzer, J. 113 Weinberg, S. 191, 204 Weingartner, P. 106, 191, 204 Weinzierl, E. 101, 126, 190, 320, 343, 365 Wells, H . 174 Weyl, H . 14 Whitehead, Α. 129, 334 Wickert, J. 329, 365 Widmann, H . 352, 365 Wiggins, D. 392, 395 — 398, 400, 402 Wilkes, K. 185 Windelband, W. 149, 266 Wingler, H . 120 Wittgenstein, L. 12 ff., 17ff., 24 f., 28 f., 4 0 - 4 7 , 50, 57—66, 67—83, 85, 88—92, 95, 97 f., 100, 105, 108, 110 f., 115, 117 f., 125, 129 f., 134, 176, 186, 193—196, 198, 204, 207, 210 f., 219 f., 221 ff., 227, 236, 242, 257 f., 281, 292, 334, 336, 365, 366—368, 372, 378, 387 f., 400 ff. Wollgast, W . 150,186 Wolters, G. 329, 365

418 W o o d g e r , J . 122 f. Wright, C. 384 f., 402 Wright, G. Η. v. 62, 66, 204 W u n b e r g , G. 105 Zeisel, H. 109, 119, 122 ff., 127 Zilian, H. 187

Personenregister Zilsel, E. 5, 8, 28, 37 ff., 109, 116, 119, 121, 129 ff., 132, 134 ff., 138, 140 f., 184, 219, 236 f., 257—275, 278, 312—318, 324 f., 339, 342, 352 f., 357, 359, 361, 365 Zilsel, P. 353 Zoitl, H. 296, 306