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German Pages 907 Year 2020
Armin Wenz Philologia Sacra und Auslegung der Heiligen Schrift
Historia Hermeneutica Series Studia
Herausgegeben von Lutz Danneberg Wissenschaftlicher Beirat Christoph Bultmann · Fernando Domínguez Reboiras Anthony Grafton · Wilhelm Kühlmann · Ian Maclean Reimund Sdzuj · Jan Schröder Johann Anselm Steiger · Theo Verbeek
Band 20
Armin Wenz
Philologia Sacra und Auslegung der Heiligen Schrift Studien zum Werk des lutherischen Barocktheologen Salomon Glassius (1593–1656)
ISBN 978-3-11-064948-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065055-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065128-7 ISSN 1861-5678 Library of Congress Control Number: 2020931428 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Stefan von der Lieth Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Johannes Wirsching (1929–2004)
Danksagung Die vorliegende Studie ist die Frucht einer sich über zwölf Jahre hinziehenden Forschungstätigkeit, die nicht möglich gewesen wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Gehilfen. Allen voran nenne ich meine Frau Susanne, die in all den Jahren als treue Gefährtin einen Ehemann an ihrer Seite getragen hat, der sich als Gemeindepfarrer das seltsame Hobby der Erforschung der Geschichte und Theologie der lutherischen Orthodoxie des 16. und 17. Jahrhunderts auserkoren hat. Den entscheidenden Anstoß, sich nicht nur Johann Gerhard, sondern nun vor allem dessen Schüler und Freund Salomon Glassius zuzuwenden, gab Prof. Dr. Johann Anselm Steiger, Hamburg, der die Arbeit zielführend und auch in schwierigen Phasen mutmachend bis zu ihrer Fertigstellung begleitet hat. Die Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche genehmigte als mein Arbeitgeber wiederholt den für die Bibliotheksrecherchen notwendigen Forschungsurlaub. Unterstützung und beste Arbeitsbedingungen gewährleisteten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Nürnberger Stadtbibliothek (damals noch im Pellerhaus), der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden, der Forschungsbibliothek im Schloß Friedenstein zu Gotha, der Bibliothek des Concordia Seminary, St. Louis, USA, der Bibliothek der Lutherischen Theologischen Hochschule, Oberursel, sowie der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Die Bibliotheken in Gotha, Wolfenbüttel und St. Louis gewährten zudem in zuvorkommender Weise Abdruckgenehmigungen für die Abbildungen im Anhang. Bei den teils mehrwöchigen Aufenthalten an diesen Studienorten durfte ich die selbstlose Gastfreundschaft von Ehepaar Tamara und Alexander Schnar in Nürnberg, Ehepaar Sigrid und Andreas Rehr (damals in Dresden) sowie Ehepaar Eva und Marvin (†) Landgraf, St. Louis, genießen. Über das normale Maß hinaus wohlwollend begleitet und ermutigt wurde ich zudem insbesondere durch die beiden herausragenden Kenner der Theologie der Reformation und der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Ernst Koch, Leipzig, und Prof. Dr. Werner Klän, Lübeck. Michael Wenz war beim Korrekturlesen behilflich und darüber hinaus ein anregender theologischer Gesprächspartner. Auch die Herren Dr. Andreas Pflock, Stuttgart, Prof. Dr. Benjamin Mayes, Fort Wayne, und Pfarrer Johann Hillermann, Berlin, gaben jeweils wichtige Impulse. Lektorin Christiane Lober, Halle an der Saale, war hilfreich mit wichtigen Hinweisen zur Textverarbeitung. Stefan von der Lieth, Hamburg, sorgte umsichtig dafür, daß das umfangreiche Manuskript druckfertig wurde. Die Professoren Johann Anselm Steiger, Hamburg, und Lutz Danneberg, Berlin, stimmten der Aufnahme des Bandes in die Reihe „Historia Hermeneutica. Series Studia“ zu. Vorbildlich gestaltete sich die Betreuung der Publikation durch den Walter de Gruyter-Verlag. https://doi.org/10.1515/9783110650556-202
VIII
Danksagung
All den genannten Personen und Institutionen gebührt mein großer Dank, der sich nur unzureichend in Worte fassen läßt. Das gilt auch für die nicht wenigen Ungenannten unter den Freunden und Verwandten, die die Arbeit durch ermutigende Gespräche und Gebete aus der Nähe und aus der Ferne unterstützt haben, auch die Glieder der beiden Gemeinden der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oberursel und Halle an der Saale (mit Dessau und Köthen), denen ich in diesen Jahren als Gemeindehirte dienen durfte. Namentlich herausgreifen möchte ich Herrn Oberstudiendirektor i. R. Wilhelm Höhn, Bad Homburg, mit dem zusammen ich mich über mehrere Jahre hinweg oft wöchentlich für einige Stunden traf, um zunächst Texte Johann Gerhards und späterhin Texte aus der Feder von Salomon Glassius in gemeinsamer Übersetzungsarbeit aus dem Lateinischen ins Deutsche zu bringen. Dieses einvernehmliche Engagement zwischen Altphilologie und Theologie um die durch die Heilige Schrift belehrte Philologia sacra gehört zu den beglückendsten Erfahrungen in meiner nun zum vorläufigen Abschluß gelangten Forschung an Salomon Glassius. Widmen möchte ich diesen Band dem Andenken an den vor fünfzehn Jahren verstorbenen Berliner Theologen Johannes Wirsching (20.11.1929–15.03.2004), der mich seit meiner Promotion wie kein Zweiter ermutigte, auch als Gemeindepastor die theologische Forschung nicht zu vernachlässigen. Er ist bereits Teil jener Wolke von Zeugen, die wie Johann Gerhard, Salomon Glassius und viele andere dort versammelt sind, wo es keiner Übersetzungs- und Spracharbeit mehr bedarf, weil der dreieinige Gott unverhüllt als Vater, Sohn und Heiliger Geist geschaut wird, der in seiner unergründlichen Barmherzigkeit Anfang und Ziel aller Dinge ist. Am Fest des Erzengels Michael und aller Engel, A. D. 2019, Armin Wenz
1 Inhalt Danksagung VII 1 Einleitung 1 Salomon Glassius: Leben und Werk 1 1.1 1.1.1 Lebenslauf 2 Salomon Glassius und Johann Gerhard 6 1.1.2 Glassius’ Anteil an den Reformbemühungen Herzog Ernsts (1601– 1.1.3 1675) 10 Glassius’ überregionale Vernetzung 13 1.1.4 Forschungsüberblick: Schriftlehre, Hermeneutik und Exegese in der 1.2 lutherischen Orthodoxie 17 Schrifthermeneutik zwischen Erbauungstheologie und 1.3 akademischer Theologie 34 2 2.1 2.2 2.3
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1
3.4.2 3.5
Theologie als „heilige Philologie“ – Erbauungstheologischer Prolog 45 Figürliche Schriftauslegung als Erbauungsliteratur 45 Die Schrift als ein „liber methodicus“ 57 Zusammenfassung: Die biblische Methode (methodus biblica) 69 Das Proprium der Heiligen Schrift – Schriftlehre als dogmatische Philologie 77 Das katholische Bekenntnis zur Hoheit und Würde der Schrift 77 auctoritas scripturae – Kanonisierung und Inspiration 80 claritas scripturae 87 perfectio scripturae (sufficientia) 92 Die Relation von Geist und Buchstabe als Implikat der perfectio scripturae – die antischwärmerische Front (efficacitas scripturae) 95 Die Relation von Schrift und Tradition als Implikat der perfectio scripturae – die antipäpstliche Front 98 Die Schrift als Quelle und Norm der Lehre 102
X
Inhalt
4
Die Philologie als stilistische, grammatische und rhetorische Analyse 111 4.1 Die Stilanalyse 111 4.1.1 Die Eigenschaften des biblischen Stils 111 4.1.1.1 certitudo & claritas 112 4.1.1.2 simplicitas 114 4.1.1.3 efficacia 117 4.1.1.4 evidentia 119 4.1.1.5 plenitudo 123 4.1.1.6 brevitas 124 4.1.1.7 cohaerentia 127 4.1.1.8 verecundia & castitas 128 4.1.1.9 proprietas 129 4.1.2 Die Vielfalt des biblischen Stils 130 4.1.2.1 De stylo Prophetico 130 4.1.2.2 De stylo Novi Testamenti in genere 134 4.1.2.3 De stylo Iohannis Apostoli & Evangelistae 136 4.1.2.4 De stylo Pauli Apostoli 136 4.2 Der Vorrang des Hebräischen 138 4.3 Die Grammatica sacra 144 4.3.1 Der regelgerechte Sprachgebrauch („Idiotismus“) 144 4.3.2 Die grammatischen Figuren als Abweichungen vom Idiotismus 149 4.3.3 Die „textuales controversiae“ 155 4.3.4 Die Grammatik und die Theologie 162 4.3.5 Die Disticha als Schlußmotti der Traktate 165 4.4 Die Rhetorica sacra 167 4.4.1 Die rhetorische Analyse 167 4.4.1.1 Die Tropenlehre (Rhetorica sacra – Tractatus I.) 168 4.4.1.2 Die Figurenlehre (Rhetorica sacra – Tractatus II.) 177 4.4.2 Die Rhetorik und die Theologie 183 5 5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2
Die hermeneutische Philologie (Verstehenslehre) 205 Die Unterscheidung von „sensus literalis“ und „sensus mysticus“ 205 Der „sensus literalis“ 213 Der „sensus mysticus“ 221 Von der allegorischen Schriftauslegung 224 Von der typologischen Schriftauslegung 229
Inhalt
5.3.3 5.4 6 6.1 6.2
XI
Von der Gleichnisauslegung 243 Fazit 250
Glassius’ exegetisches Werk 251 Die methodische Anleitung 251 Die intertestamentarische Hermeneutik in Glassius’ exegetischen Werken 261 Christus als Skopus der Schrift: in pictura – Christus als 6.2.1 Keltertreter 262 Das Titelkupfer der Weimarer Bibel 262 6.2.1.1 Die Vorlesung über Jesaja 63,1–7 266 6.2.1.2 Christus als Skopus der Schrift: in nomine – Onomatologia Messiae 6.2.2 Prophetica 278 Die Namen für die göttliche Natur Christi 281 6.2.2.1 Die Namen für die menschliche Natur Christi 287 6.2.2.2 Die Namen für den Gottmenschen Jesus Christus 292 6.2.2.3 6.2.2.4 Die Namen für das Heilswerk Christi 295 6.2.2.5 Die Namen für Christi prophetisches, priesterliches und königliches Amt 304 6.2.2.6 Die generischen Benennungen Christi 309 Von manchen Auslegern zu Unrecht zugeschriebene Benennungen 6.2.2.7 Christi 326 Christus als Skopus der Schrift: in promissione I – Christologia 6.2.3 Mosaica 328 Die Auslegung von Gen 1,1–3 328 6.2.3.1 Die Auslegung des Protevangeliums (Gen 3,15) I: Die Quelle des 6.2.3.2 Trostes 335 Die Auslegung des Protevangeliums (Gen 3,15) II: Das göttliche 6.2.3.3 Dekret 340 Die Auslegung des Protevangeliums (Gen 3,15) III: Der Same der 6.2.3.4 Frau 344 Die Auslegung von Gen 4 und 5: Christustypen von Abel bis 6.2.3.5 Noah 351 6.2.3.5.1 Abel und Christus 351 6.2.3.5.2 Die Patriarchen als Christusfiguren 358 Christus als Skopus der Schrift: in promissione II – Christologia 6.2.4 Davidica 361 Der rechte Hauptpsalm von Christus 361 6.2.4.1 Der himmlische Ratschluß (Ps 110,1) 365 6.2.4.2
XII
Inhalt
6.2.4.3
Die Herrschaft des Davidssohns – Regnum Christi spiritualis (Ps 110,2) 379 6.2.4.4 Das priesterliche Volk – Populus spiritualis (Ps 110,3) 384 6.2.4.5 Die priesterliche Ordnung – Sacerdotium Christi (Ps 110,4) 390 6.2.4.6 Der Weg des Davidssohns: Erniedrigung und Erhöhung (Ps 110,5–7) 401 6.3 Fazit 405 7 7.1 7.1.1
Die Homiletisch-poimenische applicatio 407 Die homiletisch-poimenische Aufgabe 407 Die glaubenspraktische Ausrichtung der Lehre von der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung in den Vorreden der prophetischen Spruchpostille 407 7.1.1.1 Die erste und die vierte Vorrede als Entfaltung der glaubenspraktischen Ausrichtung 407 7.1.1.2 Die zweite und dritte Vorrede als recapitulatio der Schriftlehre 430 7.1.2 Die Metaphern und Figuren für die Schriftwerdung und für die Schriftauslegung 438 7.1.2.1 Gottes geordnete Selbstoffenbarung in der Schrift 438 7.1.2.2 Der Dienst der Propheten und Apostel 448 7.1.2.3 Die Figuren für die Schrift als das kanonische Gotteswort 454 7.1.2.4 Die Figuren für die Aufgabe der Schriftauslegung 463 7.2 Das homiletisch-poimenische Ziel 473 7.2.1 Die Predigttexte in den ersten drei Bänden der Spruchpostille 474 7.2.2 Christus vor die Augen malen (Die unio mit Christus) 477 7.2.2.1 Christus als Gottes Ebenbild und die Erneuerung desselben in den Gläubigen 477 7.2.2.2 Christus als Urbild seiner Abbilder 480 7.2.2.3 Der Ermöglichungsgrund der unio in der Vielfalt der Figuren 483 7.2.2.4 Die Figuren für Christus in der Menschenwelt 484 7.2.2.4.1 Ehe und Elternschaft 484 7.2.2.4.2 Die Figuren aus der menschlichen Berufswelt (vocatio) 495 7.2.2.5 Die Figuren für Christus in der außermenschlichen Schöpfung 506 7.2.2.5.1 Gewächs und Zeder 512 7.2.2.5.2 Sonne und Wolken 527 7.2.2.5.3 Stein, Fels, Brunnen, Taubenhöhle 532
Inhalt
7.2.2.6 7.2.2.6.1 7.2.2.6.2 7.2.2.6.3 7.2.2.6.4 7.2.2.6.5 7.2.2.6.6 7.2.3 7.2.3.1 7.2.3.2 7.2.3.3 7.2.3.4 7.2.3.5 7.2.3.6 7.2.3.6.1 7.2.3.6.2 7.2.3.7 7.2.4 7.2.4.1 7.2.4.2 7.2.4.3 7.2.4.4 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
XIII
Die Figuren für Christus in der alttestamentlichen Heilsgeschichte 539 Der Engel des Herrn 540 Die Visionen 544 Die Figuren für Christus in den Vätergeschichten bis zum Richterbuch 549 Das messianische Königtum: David und Cyrus 562 Die Propheten 575 Die Figuren für Christus im alttestamentlichen Kult 588 Die Kirche vor die Augen malen (Die consociatio mit den „Erstadressaten“) 595 Die Figuren für den Heiligen Geist und sein Wirken 596 Die Figuren für die Kirche 601 Die Figuren für das Predigtamt und seine Inhaber 620 Die Figuren für den Inhalt von Gottes Wort in Gericht und Gnade 640 Die Figuren für die Wirkung von Gottes Wort in Buße und Glauben 652 Die Figuren für das Christenleben 668 Anfechtung und Trost im Lebenslauf 669 Anfechtung und Trost im Angesicht des Todes 697 Die Figuren für die Kirchengeschichte 707 Die Einweisung ins gottesdienstliche Leben als Vorgeschmack der Ewigkeit 720 Die Figuren für das Wort und die Sakramente 733 Die Figuren für die Taufe und die Absolution 741 Das Altarsakrament als höchste Verdichtung der Figuren 750 Die endzeitliche Schau: Das Ende der Figuren 762
Die kanonisch-sakramentale Hermeneutik – Zusammenfassung und Ausblick 779 Eine Hinführung 779 Glassius’ Schriftanschauung 785 Die Schriftauslegung bei Glassius 793 Glassius’ theologiegeschichtlicher Ort 806 Der Beitrag präkantianischer Hermeneutik zum zeitgenössischen hermeneutischen Diskurs 816 Glaß’sche Einsichten im exegetisch-systematischen Diskurs 824
XIV
Inhalt
Bibliographie 837 Abkürzungen 837 Zur Textgestalt und Zitation der Quellenschriften 839 Salomon Glassius’ Werke 840 Weitere Quellen 843 Forschungsliteratur und Hilfsmittel 851 Abbildungen 863 Namenregister 873 Bibelstellenregister 879
1 Einleitung 1.1 Salomon Glassius: Leben und Werk Gottlieb Theophil Spitzel (1639–1691) bezeichnet Salomon Glassius1 in seiner Sammlung von Kurzbiographien wichtiger Theologen und Geisteswissenschaftler aus der Zeit der lutherischen Orthodoxie als „sacer philologus“.2 Treffender könnte man das lebensgeschichtliche Grundmotiv, das berufliche Selbstverständnis sowie den theologischen Ansatz des Thüringers nicht auf den Punkt bringen. In immer neuen Anläufen prägt Glassius in seinen Werken ein, daß ein Prediger des Evangeliums von Jesus Christus ein Philologe sein muß, ein Liebhaber des Wortes Gottes sowohl in seiner geschriebenen Form in Gestalt der Heiligen Schrift, welche die Grundlage seines Berufes ist, als auch in seiner mündlichen Form, die in Gestalt der Predigt der Zielpunkt seines Berufes ist.3 Diese Liebe zum Wort Gottes, die der wissenschaftlich reflektierten Philologie um ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Leidenschaft willen nicht entbehren kann, trägt und umfängt als Frucht die Liebe des Gemeindehirten und Kirchenleiters zu der ihm anvertrauten Herde, die Liebe des Ehemanns und Vaters zu seiner Familie, des
1 Zur Vita des Gelehrten vgl. Armin Wenz, Salomon Glass (1593–1656): A Learned Philologist in the Episcopal Office, in: Timothy Schmeling (Hg.), Lives and Writings of the Great Fathers of the Lutheran Church, St. Louis 2016, S. 179–190, ferner die Lexikonartikel: Georg Loesche (August Tholuck), Art. Glassius, Salomon, in: RE3 6 (1899), S. 671–674. Reinhold Jauernig, Art. Glassius, Salomo, in: RGG3 2 (1958), Sp. 1586. Veronika Albrecht-Birkner, in: RGG4 3 (2000), Sp. 936 f. (der Artikel ist zwischen den Lemmata „Glasgow“ und „Glasmalerei“ falsch eingeordnet); ferner die Artikel von Gustav Moritz Redslob in: ADB 9 (Leipzig 1879), S. 218 f., von Reinhold Jauernig in: NDB 6 (Berlin 1964), S. 434 f., sowie von Johann Anselm Steiger in: Killy LLex 4 (2009), S. 241 f. Vgl. auch Johann Heinrich Zedler, in: GVUL 10 (Neudruck Graz 1994), Sp. 1602 f. 2 Gottlieb Spitzel, Templum Honoris Reseratum: In Quo L Illustrium Aevi Huius, Orthodoxorum, Ac Beate Defunctorum Theologorum Philologorumque Imagines Exhibentur. Accessit […] Antonii Reiseri […] De Claris Quibusdam Aevi Hujus Theologis Ad Authorem Epistola, Augsburg 1673, S. 218. Die Formulierung findet sich bereits in der Oratio Parentalis von Michael Walther, der ihn als „PHILOLOGUS Sacer“ bezeichnet (Threnologia de Ortu, Vita, Studiis, Scriptis alliisqve Rebus gestis, & Obitu beatissimo Dn. Salomonis Glassii, […] Recitata in Schola Cellensi 12. Septembris, Annô 1656. à Michaele Walthero, Doctore Theologo & Superintendente Cello-Lüneburgico genereralissimo. In: Salomon Glassius, Opuscula. Christologia Mosaica, è prioribus Capitibus Geneseos, et Christologia Davidica, è Psalm CX. conscripta, ut et Onomatologia Messiae Prophetica, cum Explicatione C. LXIII. Esaiae, & C. XVII. Joannis; Dissertatione de Scriptura sacra; Oratiuncula Valedictoria, & Anniversaria D. Joh. Gerhardi memoria. Libelli SS. Theol. Studiosis apprimè utiles & necessarii. qvos Thomas Crenius conlegit, recensuit, correxit, & praefatione ac indicibus plenioribus auxit. […], hg. von Thomas Crenius, Leiden 1700 [= Opuscula], S. 28–54, hier S. 40). 3 Vgl. Armin Wenz, The Doctrine of the Ministry in Salomon Glassius, in: CTQ 78 (2014), S. 77–105. https://doi.org/10.1515/9783110650556-001
2
Einleitung
theologischen Lehrers zu seinen eigenen Lehrern und Studenten. Dazu kam – zu Zeiten, als die Regierenden im Melanchthonschen Sinne als prima membra ecclesiae verstanden wurden – auch die liebende Verehrung des Theologieprofessors und kirchlichen Amtsträgers für die frommen Regenten der jeweiligen Territorien, in denen er wirkte, deren Förderung er einerseits genießen durfte, die andererseits selbst Adressaten seiner Seelsorge und Verkündigung, vor allem aber Kooperationspartner beim Unterhalt und bei der Leitung von Universität und Kirche waren. Daß dieses durch die damalige Berufsethik im Rahmen der lutherischen Dreiständelehre geprägte Geflecht imstande war, außergewöhnlichen Lebensleistungen Raum zur Entfaltung zu bieten, dafür ist Salomon Glassius ein exzellentes Beispiel. Detaillierten Aufschluß über seine Biographie bieten zwei im Umkreis der Trauerfeierlichkeiten für Glassius entstandene Texte. Diese wurden zuerst im Appendix zu Glassius’ posthum veröffentlichtem Kommentar zu den mosaischen Schriften abgedruckt. Es handelt sich um den im Rahmen der Gothaer Trauerfeier am 29. Juli 1656 verlesenen „Lebens-Lauff“ von Christoph Brunchorst (1604–1665) sowie um die „Oratio parentalis“ des Superintendenten von Celle und Lüneburg Michael Walther (1593–1662), eine lateinische Gedenkrede, die dieser am 12. September 1656 in Celle hielt.4
1.1.1 Lebenslauf Geboren wurde Glassius am 20. Mai 1593 im thüringischen Sondershausen. Sein Vater Balthasar Glaß stand als Rentschreiber und zuletzt als Amtsschosser im räumlich vom grafschaftlichen Kernland getrennten Gehren im Dienst der Grafen von Schwarzburg-Sondershausen. Von den Großeltern väterlicherseits wird berichtet, sie seien fromm und bescheidener Herkunft gewesen. Seine Mutter Anna Maria stammte aus Eisleben und war eine Tochter des fürstlich4 Vgl. Selecta Scripturae Divinae Mosaicae. Süsser Kern und Außzug Oder Geistreiche und Heylsame Betrachtung der vornehmsten Lehr=reichen Geschichten / Dinge und Sprüche in den Büchern Mosis begriffen, Nürnberg 1657 (= Sel. Mos.). Brunchorsts Text findet sich auf den Seiten 32–48, Walthers Rede auf den Seiten 49–73 des Appendix. Die Walthersche Rede findet sich auch in: Glassius, Opuscula, S. 31–54. Brunchorst wirkte ab 1640 neben Glassius als Hofprediger und Konsistorialassessor in Gotha und war damit (wie schon zuvor bei der Arbeit an der Kurfürstenbibel) ein enger Mitarbeiter von diesem gewesen. Der gebürtige Nürnberger Walther wirkte seit 1640 als Nachnachfolger von Johann Arndt als Generalsuperintendent in Celle. Wolfgang Sommer erkennt in dem „anticalixtinisch bestimmten“ Walther „einen der letzten lutherischen Hofprediger im 17. Jahrhundert“, „der das Wächter- und Strafamt des Geistlichen gegenüber dem Regenten ausübt“ (Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze [= FKDG 74], Göttingen 1999, S. 110); zu Walthers Vita vgl. a. a. O., S. 102, Anm. 32.
Salomon Glassius: Leben und Werk
3
braunschweigischen Rates Heinrich Müller und von dessen Frau Anna, geborene Milwitz. Bei der Taufe am Tag nach der Geburt diente mit Salomon Blattner der Kanzler von Schwarzburg-Sondershausen als Pate. Die Anfangsgründe im Lateinischen und im Griechischen erlernte Salomon bei einem Hauslehrer, bevor er von 1608 bis 1610 in Arnstadt unter dem Rektor Martin Coco die Schule besuchte. 1610 erfolgte der Wechsel aufs Gothaer Gymnasium, dessen Rektor Andreas Wilk die Aufnahme von Salomon in die Universität empfahl. Das Gothaer Abschlußzeugnis weist herausragende Leistungen in den Sprachen und in der Redekunst des Schülers aus, betont aber auch seine Frömmigkeit, seine guten Manieren, seine Demut, Ausdauer und Loyalität. Am 27. April 1612 schrieb Glassius sich an der Universität Jena ein und studierte u. a. bei Wolfgang Heider, einem Verwandten seines Vaters. Heider (1588–1626), Thomas Sagitarrius (1577–1621) und Michael Wolf (1584–1623) waren seine Philosophielehrer. Johannes Gryphiander (1580–1652) gab ihm private Vorlesungen „in Politicis“, da Glassius eine zeitlang mit dem Studium des Rechts liebäugelte. Daniel Stahl (1589–1654) war sein Professor für Logik, Metaphysik und Physik. Im Mai 1615 setzte Glassius sein Studium in Wittenberg fort und konzentrierte sich nunmehr ganz auf die Theologie. Seine Lehrer Leonhard Hütter (1563–1616), Friedrich Balduin (1575–1627), Wolfgang Franz (1564–1628) und Balthasar Meisner (1587– 1626) gehören zu den berühmtesten lutherischen Theologen jener Zeit. Berichtet wird, Glassius habe damals seine erste Predigt in einem Dorf bei Wittenberg gehalten. Bei diesem Anlaß seien seine schmächtige Erscheinung und seine schwache Stimme aufgefallen. Letztere war offenbar auch später immer wieder Ursache berufsspezifischer Anfechtungen.5 Als Glassius an einem schweren Fieber erkrankte, mußte er sein Studium für ein knappes halbes Jahr unterbrechen. Erst die Rückkehr nach Jena im April 1616 brachte die für die Fortsetzung des Studiums nötige Genesung. Auf Empfehlung seines Förderers und Landesherrn, des Grafen Anton Heinrich von Schwarzburg, wurde Glassius in Jena in den Haushalt Johann Gerhards (1582–1637) aufgenommen und fand sich so in der 5 Ein beredtes Zeugnis sowohl für die bleibende Schwäche von Glassius’ Sprechorgan als auch für seinen späteren Ruf als begeisternder Prediger und Schriftausleger findet sich im Werk des ebenfalls bei den Gothaschen Reformen mitwirkenden Reformationshistorikers Veit Ludwig von Seckendorff. Vgl. Solveig Strauch, Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung (= Historia profana et ecclesiastica 11), Münster 2005, S. 24: „Religiös wurde er von dem neuberufenen Generalsuperintendenten Salomon Glassius (1593–1656) unterwiesen, den er in der ‚Historia Lutheranismi‘ als geistlichen Vater seiner Gymnasialzeit bezeichnete. Von dessen Auslegungen der Heiligen Schrift war der Vierzehnjährige so begeistert, daß er die Predigten mitschrieb und weiterreichte, weil er befürchtete, Glassius leise Stimme würde nicht alle seine Zuhörer erreichen können.“
4
Einleitung
Gesellschaft der beiden ebenfalls dort heimischen Söhne Polycarp Leysers, Friedrich (1590–1645) und Wilhelm (1592–1649), wieder. Über einen Zeitraum von fünf Jahren lebte Glassius bei Gerhard, hörte seine öffentlichen und privaten Vorlesungen und führte selbst acht akademische Disputationen unter ihm durch. In den letzten beiden Jahren genoß er das Privileg, Gerhards Studierzimmer mit seiner beeindruckenden Bibliothek benutzen zu dürfen.6 Aus Anlaß der Hundertjahrfeier der Reformation belegte Glassius den ersten Platz von 30 zum Magister der Theologie gekürten Kandidaten und wurde in Folge davon im Mai 1619 zum Dozenten für Philosophie ernannt. Sein Lehrauftrag umfaßte vor allem den Unterricht der hebräischen Sprache. Seinen Lizentiatentitel erwarb er im Jahr 1621 unter dem Rektorat von Johann Major (1564–1654) mit einer Vorlesung über Jesaja 637 und einer öffentlichen Disputation über Johannes 17. In den Jahren 1621–1625 wurde er Professor für Hebräisch und Griechisch und damit Nachfolger von Balthasar Walther (1586–1640), der ins Superintendentenamt nach Gotha gewechselt war. Eine erste Unterbrechung seiner akademischen Karriere trat ein, als im Jahr 1625 Bartholomäus Bermel (1579–1625), der Superintendent von Schwarzburg-Sondershausen, starb. Nach vielen Jahren der Unterstützung durch sein Heimatterritorium folgte Glassius der Berufung ins kirchenleitende Amt. Am 17. November 1625 fand seine Einführung als Superintendent von Sondershausen statt. Diese erste Phase im bischöflichen Amt sollte bis ins Jahr 1638 dauern. Dennoch gelang es Glassius noch im Januar 1626, die erste Phase seiner akademischen Laufbahn mit der Promotion zum Doctor Theologiae abzuschließen. Johann Himmel (1581– 1642) war damals Rektor der Universität Jena, Johann Gerhard Dekan der theologischen Fakultät. Im gleichen Verfahren wurde zudem Salomons Bruder Baltha-
6 Ein Selbstzeugnis über diese für Glassius bewegende Zeit bietet er in der Widmungsvorrede zu seiner Auslegung des Hohepriesterlichen Gebets (Glassius, Opuscula, S. 647): „Factum id, dùm V. Generos. clementi commendatione permotus VIR Reverendus plurimùm Clarissimus & Praecellentissimus Dn. D. JOHANNES GERHARDUS, Theologus incomparabilis, Praeceptor & Patronus meus aeternâ animi promtitudine suspiciendus, non suae solùm mensae, convictus, liberi accessus, conversationísqve me participem facere, sed in ipsa etiam Musei proprii ac bibliothecae longè instructissimae penetralia tamqvàm in amoenissimum studiorum Theologicorum Paradisum recipere, & per biennium in eodem svaviter fovere, sícqve qvalicúmqve me studiorum cursui omnimodò prodesse voluit.“ Gerhard erwidert die Zuneigung mit einem Widmungsgedicht (a. a. O., S. 648): „GLASSI Theologi sidus sat nobile caeli, Musei, victúsqve mei pars qvinqve per annos. Qvòd CHRISTI meditare preces, & pondus in illis Ingenii trutinâ expendis, rem gnaviter urges, Ex qva percipiet magnos Ecclesia fructus. Namqve nec in caelo nec terra ardentior unqvàm Audita expressis oratio vocibus, illâ Quam fudit Christus mortis vicinus agoni. Perge Deo sacrare, Deô qvae dante tulisti. susi,tw| kai. sunoi,kw| suo f. JOH. GEHRARD D.“ 7 S. u., Kap. 6.2.1.2.
Salomon Glassius: Leben und Werk
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sar (1596–1666) in der Medizin promoviert und später zum Hof- und Leibarzt zu Gotha berufen. Als Johann Gerhard im Jahr 1637 mit dem Wunsch verstarb, sein Schüler Glassius möge sein Nachfolger werden, erfüllte Herzog Ernst der Fromme von SachsenGotha (1601–1675) diesen testamentarischen Willen und berief Glassius ins theologische Lehramt zu Jena, das dieser im März 1638 antrat. Dort war ihm allerdings nur eine kurze Schaffensperiode von zweieinhalb Jahren vergönnt, in der er über 60 Disputationen durchführte, Vorlesungen über die Briefe des Apostels Paulus an die Römer und an die Korinther hielt und als Dekan der Fakultät sowie als Rektor der Universität diente. In dieser Eigenschaft hielt er kurz vor dem zweiten Todestag von Gerhard am 8. August 1639 eine Gedenkrede auf diesen.8 Im Oktober 1640 verließ Glassius das universitäre Lehramt endgültig, da Herzog Ernst ihn zum Generalsuperintendenten von Gotha ernannt hatte, ein Amt, das Glassius bis zu seinem Tod am 27. Juli 1656 ausüben sollte. Glassius’ erste Frau Elisabeth war die Tochter von Tobias Steinmann (1556– 1631) aus Jena. Steinmann war Inhaber einer der zur damaligen Zeit bedeutendsten deutschen Buchdruckereien und hatte sich als Verleger von Schriften Martin Luthers und Johann Gerhards einen Namen gemacht. Die Hochzeit fand am 19. November 1621 in Jena statt. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, von denen die drei Knaben das Erwachsenenalter nicht erreichten. Johann Tobias starb im Alter von elf, Johann Salomon im Alter von zwölf und Anton Heinrich im Alter von zwei Jahren. Die älteste Tochter Barbara war zweimal verheiratet und schenkte in erster Ehe drei Töchtern und in zweiter Ehe einem Sohn das Leben. Die zweit älteste Tochter Clara Elisabeth heiratete Johann Hattenbach, der als Pfarrer in Unterneubronn und Goldbach in Thüringen wirkte. Aus dieser Ehe gingen vier weitere Enkelkinder hervor. Seine dritte Tochter Anna Maria blieb unverheiratet und pflegte ihren Vater im hohen Alter bis zu seinem Lebensende. Im September 1638 starb Salomons erste Frau Elisabeth nach 17 Ehejahren. Nach zweijährigem Witwenstand heiratete er einen Monat nach seiner Amtseinführung in Gotha im November 1640 Catharina Maria, die Witwe des fürstlich-sächsischen Hofadvokaten Georg Mylius. Mit Elisabeth Sophia wurde dem Paar eine weitere Tochter geschenkt. Nach weniger als drei Jahren starb auch Catharina Maria im Juli 1643. Im August 1647 heiratete Glassius ein drittes und letztes Mal Maria, geborene Klein, aus Eisenach, die selbst bereits zweifache Witwe war und mit Salomon ihren dritten Ehemann überleben sollte. Glassius’ Gesundheit verschlechterte sich 8 Vgl. Glassius, Opuscula, S. 869–879: „Anniversaria D. Johannis Gerhardi Theologorum Principis, tou/ evvn a`gi,oij, Memoria, in publico renunciationis Rectoralis actu VIII. Augusti A. O. R. 1639. culta & celebrata, in Templo Collegii Jenensis, à Salomone Glassio SS. Theol. D. Professore, p. t. Academiae Rectore.“
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nach 1649 zusehends. Aufgrund von Atembeschwerden war er nicht mehr in der Lage zu predigen. Dagegen blieb er bis zu seinem Lebensende schriftstellerisch tätig. Der letzte Vers, an dem er für den dann posthum durch seine Hinterbliebenen veröffentlichten Psalmenkommentar arbeitete, war Ps 34,22, den er wie folgt zitierte und kommentierte: „Der HErr erlöset die Seele seiner Knechte / und alle die auff ihn trauen / werden keine Schuld haben / oder sie werden nicht wie jene verwüstet / zerstöret / verdammet werden. Was denn? Christus beantwortets mit holdseligster Stimme / Matth. 25. v. 46. Sie werden eingehen in das ewige Leben.“9
1.1.2 Salomon Glassius und Johann Gerhard Glassius’ Selbstverständnis als frommer und wissenschaftlicher Philologe findet seine biographische Entsprechung in seinem engen persönlichen Verhältnis zu Johann Gerhard. Zwar hatte Glassius über Gerhard hinaus viele prominente Lehrer, doch keinem war und blieb er zeit seines Lebens so innig verbunden wie Gerhard. Dieser hatte ihn in einer schweren krankheitsbedingten Krisenzeit bei sich aufgenommen und ihm nicht nur an seiner Lehre, sondern auch an seinem Leben Anteil gegeben. Noch bevor Glassius Gerhards Nachfolger in der Jenaer Professur wurde, hatte er nach dessen Tod verstärkt Aufgaben bei der redaktionellen Arbeit an der Weimarer Bibel übernommen. Doch schon zu Glassius’ Frühwerken hatte Gerhard Widmungsgedichte beigetragen. Das gilt nicht nur für die bereits erwähnte, anläßlich der Erlangung des Lizentiatengrades von Glassius verfaßte Auslegung von Johannes 17 aus dem Jahr 1621,10 sondern auch für sein erbauungstheologisches Erstwerk Arbor vitae aus dem Jahr 1629. Glassius verweist in der Vorrede dieser Schrift darauf, daß sich sein methodischer Ansatz ganz dem zu verdanken habe, was er bei Johann Gerhard gelernt habe: „In welcher Arbeit (nebenst wenigen Autorn / derer Namen aus der Allegation zu ersehen) ich einig vnd allein zu obgedachten vnserm hochwürdigen thewren Schatz des göttlichen Worts vnnd heiligen Schrifft mich gehalten / vnd darinnen gesucht vnd geforschet habe / nach der trewen Manuduction, Anleitung vnd Methodo, welche hiebtvor von meinem herzgeliebte Herrn Praceptore vnd in Christo Vatern / Herrn D. Johanne Gerhardo auff der Universitet Jehna / ich gesehen / vnd nach Mügligkeit meines geringen Verstandes gefasset habe / welches hocherleuchten vnnd vmb die ganze Christliche Kirche herrlich verdienten Theologi Christväter9 Selecta Scripturae Divinae Davidicae. Davidische Schrifft=Kern oder Geistreiche und Heilsame Betrachtungen. Etlicher Trost= und Lehrreicher Psalmen und Sprüchen deß königlichen Propheten Davids. Nürnberg 1658 (= SD), S. 592. 10 S. o., Anm. 6.
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lichen Trew vnnd Liebe (nechst GOtt der vberfliessenden Brunquell aller guten Gaben) ich mit herzlichem Danck fürnehmlich zuzuschreiben habe / was durch mich armes vnd schwaches Werckzeug Gottes Gnade wircket.“11 In seinem Widmungsgedicht ehrt wiederum Gerhard seinen Schüler als „Compatrem, Amicum & in Christo Fratrem suum pl. honorandum ac dilectum“.12 Dieses Widmungsgedicht offenbart eine grundlegend gemeinsame Bestimmung der theologischen Aufgabe, die beide Gelehrte in der Bindung an die Autorität der Heiligen Schrift teilten. Dabei würdigt Gerhard die Verdienste seines Schülers um eine sachgerechte Vermittlung der Schrift als eines fruchtbringenden Lebensbaums, einer unausschöpflichen Lebensschule und einer aus sich selbst heraus wirksamen „Ader“ des Heils. Das Widmungsgedicht hat folgenden Wortlaut: Eusebies GLASSI Doctor celeberrime, verbi Praeco sacri, atque animae portio magna meae, Quod folia & fructus ostendis in arbore vitae, Res ea grata DEO, res ea grata piis. Quo deceat studio scrutari in Codice sacro, Exemplo poterit notius esse tuo. Codex iste sacer divinae Academia vitae est, In qua nemo satis se didicisse putet. Vivificae latet hoc in Codice vena salutis, Quam satis effossam dicere nemo potest. Vivificet nosmet vitae praenobilis arbor, conferat aeternas vena salutis opes. Jenae 20. Nov. Ann. [1]628.13
Durch den Rückgriff auf das in Glassius’ Schrift programmatisch durchgeführte Motivbild der Gottesoffenbarung als „Baum des Lebens“ sowie durch die Analogie zur Metallgewinnung im Bergbau wird die theologische Aufgabe von Gerhard figürlich veranschaulicht. So wird der wissenschaftstheoretisch bedeutsame reiche Nutzen der Schrift und die daraus sich ergebende Notwendigkeit eines (auch methodisch geübten und von Glassius beispielhaft durchgeführten) sorgfältigen Umgangs mit ihr unterstrichen. Aufgrund der bildlich-botanischen Bestimmung der theologischen Arbeit sowie aufgrund des Motivs der Unaus11 Arbor vitae, Der Baum des Lebens / Jesus Christus / Aus göttlicher Schrifft durch die Gnade des heiligen Geistes vorgestellet / Und Zu tröstlicher Betrachtung / unnd nöthiger Lebenserbawung. In fünff Büchlein verfasset von Salomone Glassio, der H. Schrifft Doctore, Pfarrherrn und Superintend. zu Sondershausen. Jena 1629 (= AV), fol. b iij. 12 A. a. O., fol. c iij. 13 Ebd.
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schöpflichkeit der Schrift und der damit einhergehenden Unabschließbarkeit der Schriftauslegung ist hier auch eine Anspielung auf Luthers schrifttheologisch gleichermaßen programmatischen letzten Zettel denkbar.14 Glassius erwiderte die Zuneigung seines Mentors Johann Gerhard, indem er in gleich mehrfacher Hinsicht kongenial an dessen Werk anknüpfte. Im Falle der Weimarer Bibel konnte er vollenden, was sein Lehrer angefangen hatte. Doch nicht nur auf diesem Gebiet der praktischen Schriftauslegung, sondern auch auf dem Gebiet der hermeneutischen Theoriebildung läßt sich ein weitgehender Gleichklang der beiden Thüringer Theologen feststellen. Bereits Gerhard hatte mit seinem Tractatus das Vermächtnis der hermeneutischen Arbeit im Luthertum seit Luther, Melanchthon, Flacius, Chemnitz und Wolfgang Franz systematisiert. Glassius konnte in seiner mit auf Anregung Johann Gerhards verfaßten15 und zwischen 1623 und 1636 erstmals in mehreren Bänden publizierten Philologia sacra an diese Arbeiten seines Lehrers anknüpfen und sie weiterführen. Gerhard brachte seine Zustimmung zu Glassius’ hermeneutischer Arbeit durch ein Widmungsgedicht zu den zusammen publizierten Bänden drei und vier der Philologia sacra über die „Grammatica sacra“ zum Ausdruck,16 was Glassius wiederum dadurch beantwortete, daß er den fünften Band der Philologia mit einer Gerhard gewidme-
14 Vgl. in der Übersetzung durch Oswald Bayer: „Virgil in den Bucolica und Georgica kann keiner verstehen, der nicht fünf Jahre lang Hirte oder Bauer war. […] Die heiligen Schriften meine keiner genug geschmeckt zu haben, der nicht hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden geleitet hat. Diese göttliche Aeneis suche nicht zu meistern, sondern bete demütig ihre Spuren an. Wir sind Bettler: hoc est verum.“ (Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, S. 280) 15 Gerhard schreibt im ersten Band seiner Loci, im Locus Primus De Scriptura Sacra bei der Diskussion textkritischer Fragen (Caput XIV, § 325): „Ad omnia illa sufficienter respondit Dn. Salomon Glassius, Hebraearum literarum professor, amicus noster plurimum dilectus in Philologia sacra, quam nostro hortatu conscripsit et publicae luci exposuit, quae sacrarum et Hebraearum literarum studiosis plurimum adjumenti conferre poterit.“ (Loci Theologici cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati. Bd. I, hg. von Eduard Preuss, Berlin 1863, S. 141) 16 Vgl. Philologia Sacra, Totius SS. Veteris et Novi Testamenti Scripturae tum stylus et literatura, tum sensus et genuinae interpretationis ratio et doctrina libris quinque expenditur ac traditur; qui absolvuntur Philologia B. Auctori speciatim sic dicta, Grammatica & Rhetorica Sacra. Accessit sub finem hujus Operis ejusdem B. Glassii Logica Sacra jamdudum flagitata, prout eandem ex MSto non ita pridem edidit Johannes Gotofredus Olearius, Superint. Arnstad. Schwartzb. Editio Novissima, non solum passim emendata, sed & Indicibus Dictorum, Rerum & Verborum, Vocum item Hebraearum & Graecarum, qui hactenus super singulos fere libros divisim editi numerum duodenarium superabant, ob meliorem eumque commodiorem usum ad quatuor curatiori methodo redactis & multum locupletioribus exornata; cum Privilegio S. Caesareae Majestatis, nec non Pontentiss. Regis Poloniae & sereniss. Elector. Saxon. Leipzig 1705 (= PS), S. 15 f. [Vorspann].
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ten allgemeinen Einführung in die „Rhetorica Sacra“ eröffnete.17 Daß Glassius sich gleichwohl niemals über seinen Lehrer gestellt hätte, zeigen seine Äußerungen in seiner Jenaer Antrittsvorlesung über den 110. Psalm vom April 1638, die unter dem Titel Christologia Davidica veröffentlicht wurde. Dort bezeichnet er Johann Gerhard als den Augustinus seines Zeitalters und damit nicht nur als herausragenden Kirchenvater der rechtgläubigen Kirche, sondern auch als seinen persönlichen Augustinus: „GERHARDUS mihi, imo toti Academiae, imo Ecclesiae orthodoxae universae, AUGUSTINUS est“.18 Dabei identifiziert er sich selbst mit Eradius, demjenigen Schüler des antiken Kirchenvaters, den dieser zu seinem Nachfolger im Bischofsamt erkoren hatte. Daß er dieses Vermächtnis dann nach dem kurzen Interludium in Jena nicht als akademischer Theologe, sondern wie sein antikes Vorbild im bischöflichen Amt fortführen sollte, ist der Hauptunterschied zwischen Gerhard und Glassius. Über die theologisch-wissenschaftlichen Grundlagen und Methoden hinaus teilen Gerhard und Glassius schließlich auch das geistlich-seelsorgliche Anliegen, die Theologie für eine rechte Erbauung der Gläubigen nutzbar zu machen. Damit geht bei beiden gleichermaßen eine Wertschätzung des zu ihrer Zeit bereits umstrittenen späteren Celler Superintendenten Johann Arndt und seiner Schrift „Vom wahren Christentum“ einher. Arndt, der für Gerhard eine ähnliche Rolle 17 Vgl. PS, S. 17. Ebenso wie die Widmungsgedichte zur Rhetorica sacra wurde auch die Widmungsvorrede zu diesem Teil in den Gesamtausgaben der zunächst in Teilen publizierten Philologia sacra an den Beginn des Bandes verschoben. So findet sich die Präfatio zur Rhetorica in PS, S. 17–31. Vgl. dazu Johann Anselm Steiger, Nachwort, in: Johann Gerhard: Tractatus de legitima scripturae sacrae interpretatione (1610). Lateinisch – deutsch. Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Vanessa von der Lieth. Mit einem Geleitwort von Hans Christian Knuth (= DeP I, 13), Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, S. 485–504, hier S. 497: „Wie eng mit den fundamental-theologischen Vorgaben seines Lehrers Gerhard verzahnt schließlich das Glassius lange Jahre beschäftigende Projekt der ‚Philologia Sacra‘ war, geht u. a. daraus hervor, daß Gerhard zu Teil 3 und 4 dieses Werkes ein Gedicht beisteuerte. Glassius bedankte sich hierfür mit einer an Gerhard adressierten Epistel ‚De eloquentia Sacrosanctae Scripturae in genere‘ in den (gemeinsam publizierten) Teilen 5 und 6 der ‚Philologia‘, in der er seinen Lehrer als eine Persönlichkeit würdigt, die sich in unvergleichlicher Weise in der akademischen Lehre wie in ihren Publikationen […] um die Schrifthermeneutik verdient gemacht hat. Glassius läßt Gerhard in dieser Epistola ausführlich und als erste Autorität zu Wort kommen, indem er einen Passus aus dessen ‚Loci‘ (aus dem locus ‚de scriptura sacra‘) zitiert, bevor Augustin, Gregor von Nazianz und Flacius zu Wort kommen. Seine Abhängigkeit von Gerhard (und Franzius) legt Glassius aber auch bereits im zweiten Buch seiner ‚Philologia‘ offen […].“ 18 Christologia Davidica, ex Ps. CX. conscripta, Jena 1678, S. 78. Zur Bedeutung von Augustinus, aber auch allgemein der Kirchenväter für Johann Gerhards Theologie insbesondere im Tractatus vgl. Johann Anselm Steiger, Johann Gerhards Tractatus de legitima Scripturae Sacrae interpretatione und die patristische Tradition, in: Silke-Petra Bergjan, Karla Pollmann (Hg.), Patristic Tradition and Intellectual Paradigms in the 17th Century (= SMHR 52), Tübingen 2010, S. 59–71.
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spielte wie Gerhard später für Glassius, als er sich in einer Gesundheits- und Glaubenskrise seelsorglich um ihn kümmerte, hatte seine aus unterschiedlichen Quellen geschöpfte Erbauungsschrift auch in Folge des freundschaftlich-kritischen Austausches darüber mit Johann Gerhard immer wieder im Sinne einer Angleichung an die überkommene kirchliche Lehre überarbeitet. Bei Gerhard hatte das Gespräch mit Arndt auch dazu geführt, daß er ungeachtet seiner Freundschaft zu diesem schließlich mit der Schola Pietatis ein eigenes Erbauungsbuch herausgab, das Arndts Wahres Christentum mindestens ergänzen, wenn nicht gar verdrängen sollte.19 Auch bei Glassius ist nun zu beobachten, daß die ausdrückliche Wertschätzung für Arndt, die er ebenfalls in der Vorrede zu Arbor vitae formuliert,20 ihn nicht daran hindert, selber ein erbauungstheologisches Buch zu veröffentlichen, das in seiner Anlage systematischer durchdacht und theologisch homogener ist als Arndts Wahres Christentum.
1.1.3 Glassius’ Anteil an den Reformbemühungen Herzog Ernsts (1601–1675) Die Berufung von Glassius ins Gothaer Superintendentenamt, mit dem die Funktion des Konsistorialassessors einherging, fiel in das Jahr des Altenburger Erbteilungsvertrags. Darin war die Dreiteilung des ernestinischen Herzogtums Sach19 Vgl. Thomas Illg, Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum (= SKGNS 44), Göttingen 2011, S. 53. 20 Mit folgenden Worten stellt er Arndts und Gerhards erbauungstheologische Werke nebeneinander: „Ferner so habe ich in dieser geistlichen Gartenarbeit keine Controversias tractiren, oder streitige Fragen gründlich erörtern vnd abhandeln wollen (ohne das aus Nothwendigkeit eins vnd das andere angeführet wird / damit vnserer rechten vnd reinen Reiligion gründliche Meynung wider falsche Lehre desto baß vernommen werden möge / welches doch mit wenigen Worten geschiehet) sondern habe fürnemlich auff den jenigen Zweck gesehen / auff welchen vorgedachtes lieben Herrn D. Gerhardi lob- vnd preißwürdigste Schola pietatis, vnd denn auch des geisteyfferigen nunmehr in GOtt dem HErrn selig ruhenden Theologi, Herrn Johann Arnds vier Bücher vom wahren Christenthumb (welches schöne Buch wegen des großen Nutzens / den ich aus fleissiger Lesung desselben in meinem Hertzen empfunden / ich vnbenamet vnd vngerühmet nicht lassen kann / auch meinem Gott inniglich davor danckbar bin) gerichtet sind / nemlich auff das Christliche Leben / damit dasselbe durch hertzliche Betrachtung der heiligen Person / Verdiensts vnnd Wolthaten vnseres Heilandes Jesu Christi / durch erquickenden Trost in Noth vnd Tod / vnnd denn auch durch heilige Anreitzung zum gottseligen Leben vnd Wandel erbawet werden möge. Denn das solcher Zweck von allen Dienern Gottes in höchste Obacht genommen vnd fleißig geübet vnd getrieben werden solle / ist kurtz zuvor dargethan worden / vnd ist dasselbe zumal in jetziger letzten betrübten vnd bösen Zeit sehr nöhtig / alldieweil die Vngerechtigkeit / vngeachtet der große schweren Straffe Gottes / allenthalben sehr vberhand genommen / vnd die Liebe in den meisten (leider / leider) erkaltet ist / nach der Prophecey vnsers Heilandes Matth. 24. v. 12.“ (AV, fol. c ij)
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sen-Weimar in Sachsen-Weimar, Sachsen-Eisenach und Sachsen-Gotha besiegelt worden. Herzog Ernst der Fromme (1601–1675) war von 1634–1640 bereits Mitregent seiner Brüder Albrecht und Wilhelm in Weimar gewesen und gemeinsam mit diesen im Jahr 1635 dem Prager Frieden beigetreten. In Folge der Aufteilung des Herzogtums verblieb Wilhelm in Weimar, während Albrecht nach Eisenach und Ernst nach Gotha übersiedelten. Hier kam es nun von Anfang an zu einem engen und einvernehmlichen Zusammenwirken des Herzogs mit Glassius bei der Bemühung, nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges das kirchliche, schulische und gesellschaftliche Leben in der Stadt sowie auf dem Lande wiederaufzubauen. Veronika Albrecht-Birkner hat dem Reformprogramm Herzog Ernsts eine umfassende Untersuchung gewidmet, in der auch der Beitrag Glassius’ wiederholt gewürdigt wird.21 Der Theologe wirkte bei der umfangreichen General- und Schulvisitation mit, die der Herzog in seinem gesamten Herrschaftsgebiet in den Jahren 1641–1645 durchführen ließ.22 Darüber hinaus diente er seinem Landesherrn als Seelsorger und Berater. Als Hofprediger oblag es ihm zudem, die Einweihung der Schloßkirche für die 1643–1646 neu erbaute Residenz Schloß Friedenstein vorzunehmen,23 die auf den Ruinen des zerstörten Vorgängerbaus Schloß Grimmenstein erbaut worden war. Schon der Namenswechsel des Schlosses sollte das Ende der Kriegsund den Anbruch einer quasi salomonischen Friedenszeit für das Herzogtum signalisieren. Auch die Weihe der später wieder aufgebauten Margarethenkirche in der Stadt Gotha im Jahr 1652 samt der dazugehörigen umfangreichen Predigt nahm Glassius vor.24 Das liturgische, katechetische und kirchenrechtliche Leben der Kirche wurde während seiner Amtszeit durch das Erscheinen von Gesangbüchern und agendarischen Werken, die Umsetzung katechetischer Maßnahmen
21 Veronika Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675) (= LStRLO 1), Leipzig 2002. 22 Die Kirchenvisitationen fanden zwischen November 1641 und August 1642 in Gotha (wiederholt), Erfurt, Waltershausen, Königsberg und im Amt Schwarzwald, in Tambach und Dietharz, Ichtershausen, Mühlberg, Elgersburg und Ohrdruff statt. Zu den Visitatoren gehörten neben Glassius Christoph Brunchorst und die Räte Hans Caspar von Miltitz und Johann Michael Strauß (vgl. Albrecht-Birkner, Reformation, S. 96 mit Anm. 104). 23 Glassius’ Predigt zur Einweihung der neuen Schloßkirche zum Friedenstein ist auf den 17. September 1646 datiert und im Anhang des vierten Bandes der Prophetischen Spruchpostille beigebunden. 24 Neben einer auf die Friedensproklamationen von Osnabrück, Münster und Nürnberg zurückblickenden Friedenspredigt über Ps 30,5 vom 12. August 1650 ist auch Glassius’ Einweihungspredigt der Kirche S. Margareten vom Sonntag Quasimodogeniti 1652 dem vierten Band der Spruchpostille beigegeben.
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und die Einsetzung geistlicher Untergerichte neu geordnet. Seine theologischen Veröffentlichungen dieser Jahre sind vorwiegend homiletischer und poimenischer Natur. Sie gingen einerseits auf seine eigene Predigt- und Seelsorgetätigkeit zurück bzw. dokumentieren diese etwa in Gestalt der Postillenwerke. Zugleich hatten sie wie schon die bereits 1641 erschienene Weimarer Bibel das Ziel, den Pfarrern und Gemeinden mustergültige Schriftauslegung und Glaubensanleitung an die Hand zu geben. Die damit einhergehende Homogenität in Glaubens- und Lehrfragen kann als Ausdruck einer obrigkeitlich gelenkten Kontrolle der Kirche interpretiert werden.25 Der geistlichen Intention nach aber stand für einen aus der Schule Johann Gerhards hervorgegangenen Theologen wie Glassius hier vor allem das Ideal der Orthodoxie im Vordergrund, die sich gottesdienstlich als an Schrift und Bekenntnis zu bewährende Homodoxie bzw. Einmütigkeit des Lobpreises äußert. Dabei ging es weniger um Obrigkeitshörigkeit als vielmehr um die Gewährleistung der Katholizität des eigenen Kirchenwesens, ein Kriterium, an dem dann gegebenenfalls auch die Obrigkeit gemessen wurde.26 Bei Glassius kommt dazu der glückliche Umstand, daß er für seine in der Gothaer Zeit entstandenen praktisch-theologischen Werke und Bibelkommentierungen auf die gründliche Durchdringung der hermeneutischen und dogmatischen Grundlagen der Theologie in seinen früheren Jahren aufbauen konnte. Darum eignet sich seine literarische Produktion in besonderer Weise zur Erforschung der Verbindung von dogmatischer Schriftlehre, hermeneutischer Theorie und praktischer Schriftauslegung bei einem Theologen der lutherischen Orthodoxie.
25 Diesen Aspekt betont immer wieder kritisch Albrecht-Birkner, Reformation, passim. Zu diesem konfessionsübergreifend wahrnehmbaren Gesichtspunkt vgl. John M. Frymire, The Primacy of the Postils. Catholics, Protestants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany (= SMRT 147), Leiden/Boston 2010, passim. 26 Das gilt auch angesichts der Beobachtung, daß die lutherischen Theologen der Zeit den Begriff „Orthodoxie“ selbst zurückhaltend verwendeten. Vgl. Jörg Baur, ‚Orthodox‘ im Sprachgebrauch der ‚altprotestantischen Orthodoxie‘, in: ders., Lutherische Gestalten – heterodoxe Orthodoxien. Historisch-systematische Studien, Tübingen 2010, S. 263–269, mit dem Hinweis auf Johann Gerhard, der die Lutherische Kirche als „die wahre, echte und orthodoxe Kirche“ bezeichnet habe (a. a. O., S. 269). Vgl. Jason D. Lane, Luther’s Epistle of Straw: The Voice of St. James in Reformation Preaching (= HHS 16), Berlin/Boston 2018, S. 91, Anm. 7: „Frymire sees the postils primarily as political tools. […] Frymire does not regard the indoctrination of the Christian faith and the defense against false doctrine as inherent in sixteenth-century pastoral care. Although the postillers certainly worked in cooperation with the courts and their princes, the thesis that the Lutheran pastors were hirelings of the court lacks sufficient evidence from the postil prefaces and sermons. I believe that there is stronger evidence in their postils to suggest that the postillers understood themselves as servants of the word of God and only secondarily as servants of the court, as they carry out their vocation in a particular place and time.“
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Dies gilt ausdrücklich auch für seine Beiträge zur Weimarer Bibel von 1641. Diese als Gemeinschaftswerk von an die 30 als Kommentatoren gewonnenen Thüringer Theologen konzipierte Bibelausgabe stellt „eine Brücke dar zwischen der Vorgeschichte der Gothaer Reformen in Weimar (1636–1640) und diesen selbst sowie zwischen maßgeblichen Männern der 30er und 40er Jahre: vor allem zwischen Evenius, Gerhard und Glass, die hier alle im Auftrag Herzog Ernsts arbeiteten“.27 Sigismund Evenius hatte die Herausgabe dieses Monumentalwerks angeregt und zunächst die redaktionelle Arbeit geleistet. Vorsitzende der an der theologischen Fakultät in Jena angesiedelten Revisionskommission waren bis zu seinem Tod 1637 Johann Gerhard und dann bis 1642 Johann Himmel. Daß Glassius als Mitglied der Kommission eine führende Rolle gespielt hat, erhellt aus der Tatsache, daß er das auf den 110. Jahrestag der Augsburgischen Konfession datierte umfangreiche Vorwort verfaßte, indem er in deutscher Sprache die lutherische Schriftlehre und Hermeneutik bündelte und zugleich eine praktische Anleitung zum Gebrauch des Bibelwerks darbot. Auch bei der Vers-für-Vers-Kommentierung hatte Glassius neben Gerhard die Hauptlast zu tragen. Johann Gerhard hatte die Kommentierung von Genesis, Daniel und der Johannesoffenbarung übernommen, Glassius den Psalter, die Sprüche, das Predigerbuch, das Hohelied und das Johannesevangelium.28
1.1.4 Glassius’ überregionale Vernetzung Salomon Glassius hat offenbar die sächsisch-thüringische Heimat zeit seines Lebens nicht verlassen, was womöglich auch seiner schwachen körperlichen Konstitution geschuldet war. Um so beeindruckender ist seine literarische Hinterlassenschaft, da er den Großteil seiner theologischen Werke im kirchenleitenden Amt verfaßte. Die diesen Werken beigegebenen Widmungsgedichte bezeugen ebenso wie die Vielzahl der Personen, denen der Thüringer seine Werke zueignete, seine Vernetzung in einem über Sachsen weit hinausgehenden Kommunikationsgeflecht mit prominenten Theologen seiner Zeit. Gingen die ersten beiden Bände der Philologia sacra noch ohne empfehlende Widmungsgedichte den Weg in die Öffentlichkeit, so wird Glassius’ Vorrede zur Grammatica sacra von 1634 von acht Widmungsgedichten begleitet. Neben Widmungen der drei Jenenser Professoren Himmel, Gerhard und Major findet sich an 27 Albrecht-Birkner, Reformation, S. 463. 28 Vgl. zu den weiteren Verfassern und zur Verbreitung des Werkes im Herzogtum a. a. O., S. 463– 465; ferner Caspar Binder, Sendschreiben über die Kurfürstenbibel (1741), hg. von Johann Anselm Steiger, in: Daphnis 43 (2015), S. 179–247.
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zweiter Stelle eine Widmung des kursächsischen Oberhofpredigers Matthias Hoë von Hoënegg (1580–1645) aus Dresden,29 der die zur damaligen Zeit prominenteste kirchenleitende Stelle im deutschen Luthertum innehatte. Glassius wiederum hatte seine Onomatologia Messiae von 1624 dem Dresdner Hofprediger gewidmet.30 Von Hoënegg soll sich zeitweise kritisch gegenüber der Publikation der Weimarer Bibel geäußert haben, was der trotz aller konfessionellen Verbundenheit bleibenden Konkurrenz zwischen ernestinischem und albertinischem Sachsen geschuldet sein mag.31 Auch von Michael Walther (1593–1662) findet sich ein auf Himmel und Gerhard folgendes Widmungsgedicht. Dieses bezeugt die Verbundenheit Glassius’ mit dem norddeutschen Luthertum, denn zur Zeit der Abfassung seiner Widmung diente Walther als Generalsuperintendent in Ostfriesland. Wie sehr er mit Glassius freundschaftlich verbunden war,32 zeigt die Oratio Parentalis, die er nach Glassius’ Tod als Superintendent von Lüneburg und Celle in Celle gehalten hat und die er dessen Schwiegersohn, dem Goldbacher Pfarrer Johann Hattenbach, widmete, der ihn über den Heimgang des Freundes informiert hatte.33 Im Celler Superintendentenamt war Walther einer der Nachfolger von Johann Arndt, den Glassius ebenfalls verehrte. Die Verbundenheit von Glassius mit Walther ist auch deshalb bemerkenswert, weil Walther als entschiedener Gegner von Calixt galt, während Glassius in seinem allerdings erst posthum veröffentlichten Gutachten zu den Streitigkeiten um den Helmstedter Theologen eine vermittelnde Position einnahm.34 Vier seiner fünf Dissertationes seiner Christologia Mosaica widmete der Thüringer zudem weiteren norddeutschen Kirchenmännern, so dem Hambur29 Vgl. PS, S. 15 f. 30 Vgl. Opuscula, abgedruckt nach der Oratio parentalis, S. 1–4 (die Paginierung beginnt hier in den Opuscula neu). 31 Vgl. Binder, Sendschreiben, S. 239. Binder zitiert einen Brief des Verlegers Wolfgang Endter an den herzoglichen Sekretär zu Gotha, Emanuel Fend, vom 29. August 1640 mit den Worten: „Wie Herr D. Hoë das Werk mit Feindseligkeit umfängt, und sich untersteht solches zu hindern, und die Ehre Jhro fürstl. Gnaden nicht gönnet […].“ Binder vermutet hier Gerüchte, verweist aber auf wiederholte Monitoria des Dresdner Oberhofpredigers zum Fortgang des Publikationsprojektes (vgl. a. a. O., S. 240). 32 Glassius selbst nennt ihn in der Christologia Mosaica (Opuscula, S. 1–190, hier S. 13): „[…] amic[us] nost[er] coniunctissim[us] […].“ 33 Opuscula, S. 29 f. (direkt vor Beginn der Oratio parentalis) 34 Salomon Glassius, Eines Christlichen / hochgelaehrten / und um die Gemeine GOttes wolverdienten / Lehrers der ungeaenderten Augsburgischen Confession, Bescheidenes / unvorgreifliches und gruendliches Bedencken / ueber die / unter etlichen fuernehmen Chursaechsischen und Helmstaettischen Theologen / entstandenen Strittigkeiten […] O. O. 1662 (nach Albrecht-Birkner, Reformation, S. 72, Anm. 232). Vgl. Heinz Staemmler, Die Auseinandersetzung der kursächsischen Theologen mit dem Helmstedter Synkretismus (= TSP 4), Waltrop 2005, S. 125–135.
Salomon Glassius: Leben und Werk
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ger Pfarrer Heinrich Staphorst,35 dem Dithmarschener Diakon Joachim Matthias,36 dem Osteroder Schulrektor Henning Gottfried Fabricius (1616–1675) aus Göttingen37 sowie dem aus Speyer gebürtigen späteren Goslarer Pfarrer Elias Himmel (1612–1686).38 Ein besonders freundschaftliches Widmungsgedicht für die Grammatica sacra – er redet Glassius mit den Worten „Amico dulcissimo“ an – stammt von Johann Michael Dilherr (1604–1669). Dieser im thüringischen Themar geborene Universalist war 1630 in Jena zum Doktor der Theologie promoviert worden und wirkte ab 1631 ebendort als Professor der Rhetorik und ab 1634 als Professor für Geschichte und Poesie. Im Jahr 1640, als Glassius nach Gotha wechselte, wurde Dilherr zum Theologieprofessor in Jena berufen, bevor er 1642 nach Nürnberg ging, um dort als Prediger an St. Lorenz und später an St. Sebald sowie als Reformator des Schulwesens und als Stadtbibliothekar eine umfassende Wirksamkeit zu entfalten.39 Auch zum Weimarer Bibelwerk hatte Dilherr mit der Kommentierung des Hiobbuches einen gewichtigen Beitrag geleistet. Renate Jürgensen, die den Nürnberger Bürger- und Theologenbibliotheken eine Untersuchung gewidmet hat, berichtet nicht nur, daß Glassius in Dilherrs Bibliothek mit über 20 Titeln präsent ist. Auch die Publikationen von Glassiuswerken im Endterverlag bringt sie mit dem Namen Dilherr in Verbindung, wenn sie schreibt: „[…] in den vierziger Jahren wurden einige Werke des Glassius, vielleicht auf Anregung Dilherrs, in Nürnberg gedruckt: zwischen 1643 und 1654 seine Prophetische Spruch=Postill, 1647 seine Exegese der Evangelien, und 1654 sein Christliches Hauß=Kirch=Büchlein.“40 Wie eng Glassius’ Wirkungsfeld und Werk mit Franken verbunden war, kommt auch durch die Aufnahme der Weimarer Bibel in der freien Reichsstadt zum Ausdruck. Herbert von Hintzenstern schreibt dazu: „Und schon im Januar 1641 lieferte Wolfgang Endter die 7,3 kg schweren Exemplare aus, die nach ihrem Druckort auch ‚Nürnberger Bibel‘ genannt wurden. Die Predigten, die am Neujahrstage 1641 von Cornelius Marci in der Nürnberger St.-Lorenz-Kirche und von Johann Saubertus in der St.-Sebaldus-Kirche gehalten wurden, enthalten Hinweise auf die öffentliche Danksagung, die das Geistliche Ministerium zu Nürnberg anläßlich der Vollendung des ‚neuen Fürstlich-Sachsen-Weymarischen Bibelwerkes‘ durchführen 35 Opuscula, S. 57 (1633 in Rostock immatrikuliert, ca. 1640 unter Dilherr in Jena promoviert). 36 Opuscula, S. 85. 37 Opuscula, S. 111. 38 Opuscula, S. 140. Er war von 1651–1668 Pfarrer an St. Jakobi zu Goslar. 39 Vgl. Wolfgang Sommer, Frömmigkeit und Weltoffenheit im deutschen Luthertum (= LStRLO 19), Leipzig 2013, S. 147–160: „Das Wirken Johann Michael Dilherrs in der Reichsstadt Nürnberg in der Mitte des 17. Jahrhunderts“. 40 Renate Jürgensen, Bibliotheca Norica: Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung. Teil 1 (= BBBW 42), Wiesbaden 2002, S. 258.
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ließ.“41 Eine fränkisch-thüringische Kooperation war das auch als Kurfürstenbibel bekannt gewordene kommentierte Bibelwerk schon insofern, als darin jedem Kapitel der biblischen Schriften die summarischen Nutzanwendungen aus der Feder des Nürnberger Theologen Johann Saubert (1592–1646) beigegeben waren. Über Dilherr mag auch die Verbindung Glassius’ zu weiteren Nürnberger Gelehrten zustande gekommen sein. So steuerte der Gothaer ein Widmungsgedicht zu einem als Koproduktion mit Sigmund von Birken (1626–1681) verfaßten Werk des Nürnberger Pfarrers Daniel Wülfer (1617–1685) bei.42 Sowohl über die Nürnberger als auch über Herzog Ernst den Frommen gab es zumindest die Möglichkeit, mit Vertretern der damals aufblühenden Sprachgesellschaften in Verbindung zu treten. Herzog Ernst selbst gehörte zur Köthener „Fruchtbringenden Gesellschaft“,43 Birken, als Waise und böhmischer Exulant von Dilherr intensiv gefördert, war führend im Nürnberger „Pegnesischen Blumenorden“.44 Gerade die praktisch-theologischen Schriften damaliger prominenter Theologen, von denen Glassius nicht einer der geringsten war, zählen daher zu Recht zu den Referenzwerken für die Erschließung der frühneuzeitlichen Dichtkunst, Rhetorik
41 Herbert von Hintzenstern, Die „Weymarische Bibel“. Ein riesiges Kommentarwerk Thüringer Theologen aus den Jahren 1636 bis 1640, in: Laudate Dominum. Achtzehn Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte. Festgabe zum 70. Geburtstag von Landesbischof D. Ingo Braecklein (= TKS III), Berlin 1976, S. 151–159, hier S. 152. 42 Vgl. Steigers Einleitung zu: Sigmund von Birken, Anhang zu Todes-Gedanken und TodtenAndenken. Emblemata, Erklärungen und Andachtlieder zu Johann Michael Dilherrs Emblematischer Hand- und Reisepostille. Teil I: Texte, hg. von Johann Anselm Steiger (Sigmund von Birken. Werke und Korrespondenz 7/I), Tübingen 2012, S. XXIf: „Zustatten wird Birken dabei auch gekommen sein, daß er zuvor bereits […] an Konzeption, Realisierung und Publikation des Meditation und profunde Gelehrsamkeit miteinander verbindenden Werkes mit dem Titel Das vertheidigte Gottes=geschick vnd vernichtete Heyden=Glück (1656) aus der Feder des Nürnberger Pastors an St. Sebald, Daniel Wülfer (1617–1685), beteiligt gewesen war. Hier war es seine Aufgabe, sämtliche Entwürfe für dreiständige Embleme auszuarbeiten […] und 27 Poemata […] zu liefern. Dem Werk, das im Jahre 1656 in Nürnberg […] erschien, ist eine beachtliche Menge an Widmungsgedichten prominenter Autoren beigegeben: unter anderen von dem Wedeler Pastor und Literaturmanager Johann Rist (1607–1667), mit dem auch Birken zeitweise engen Kontakt pflegte, und dem Gothaer Generalsuperintendenten, Kirchenreformer und Bibelhermeneuten Salomon Glassius (1593– 1656).“ Wülfer wiederum schrieb nach dem Heimgang von Glassius ein der Oratio Parentalis von Walther beigefügtes Trauergedicht (vgl. Glassius, Sel. Mos., Anhang, S. 104). 43 Vgl. Albrecht-Birkner, Reformation, S. 34. Herzog Ernst hatte im Verzeichnis der Mitglieder der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ die Nummer 19 und trug den Ordensnamen „der Bittersüße“. Vgl. Martin Bircher, Im Garten der Palme. Katalog einer Sammlung von Dokumenten zur Wirksamkeit der Fruchtbringenden Gesellschaft mit Beigabe eines Ausstellungskataloges (1991) (=WAB 32), Wiesbaden 1998, S. 333. 44 Vgl. Renate Jürgensen, Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744, Wiesbaden 1994, passim.
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und Emblematik.45 Hier tun sich Türen auf für die Frage nach der Wirkung der theologischen Werke des Thüringers, aber auch für die Frage nach seinem eigenen Ort im Kosmos der multimedialen nachreformatorischen Bibelauslegung. Ein Beispiel für einen motiv- und gattungsgeschichtlichen Zugang zu dieser Welt hat jüngst die Germanistin Maria Marten in ihrer Untersuchung über evangelisch-lutherische Pflanzenpredigten vorgelegt, in der sie wiederholt auf Glassius’ aus Predigten hervorgegangenes Werk Arbor vitae eingeht.46
1.2 F orschungsüberblick: Schriftlehre, Hermeneutik und Exegese in der lutherischen Orthodoxie Bengt Hägglund, der schwedische Altmeister der Erforschung der Bibelhermeneutik des barocken Luthertums, nennt in seinem 2006 erschienenen Aufsatz „Vorkantianische Hermeneutik“ Salomon Glassius neben Matthias Flacius, Johann Gerhard und Wolfgang Franz als Vertreter einer weithin vergessenen hermeneutischen Tradition im Gefolge der Reformation Martin Luthers, die sich durch die Fähigkeit ausgezeichnet habe, „eine Zusammenschau zwischen den wissenschaftlichen Forderungen der Hermeneutik und einem inhaltlich adäquaten theologischen Verstehen zu gestalten“.47 Hägglunds Sichtweise deckt sich mit der schon älteren Wertschätzung der Hermeneutik des nachreformatorischen Luthertums bei dem Philosophen Hans-Georg Gadamer,48 die allerdings in der Theologie lange Zeit auf nur geringe Resonanz gestoßen ist. Inzwischen liegen über die schon älteren Arbeiten zur Schriftlehre und Hermeneutik von Matthias Flacius49 und Johann Gerhard50 hinaus neuere Monographien zur Hermeneutik
45 Paradigmatisch gilt das für die geistliche Dichtung Sigmund von Birkens, zu deren Erschließung Johann Anselm Steiger als Editor immer wieder die Werke Johann Gerhards und Salomon Glassius’ heranzieht. 46 Maria Marten: Buchstabe, Geist und Natur. Die evangelisch-lutherischen Pflanzenpredigten in der nachreformatorischen Zeit (= VB 29/30), Bern u. a. 2010. 47 Bengt Hägglund, Vorkantianische Hermeneutik, in: KuD 52 (2006), S. 165–181, hier S. 180. 48 Vgl. Johann Anselm Steigers Ausführungen im Nachwort von: Gerhard, Tractatus, S. 502 f. 49 Günter Moldaenke, Schriftverständnis und Schriftdeutung im Zeitalter der Reformation. Teil 1: Matthias Flacius Illyricus (= FKG 9), Stuttgart 1936; Rudolf Keller, Der Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes bei Matthias Flacius Illyricus (= AGTL NF 5), Hannover 1984. 50 Bengt Hägglund, Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis, Lund 1951; Reinhard Kirste, Das Zeugnis des Geistes und das Zeugnis der Schrift. Das testimonium spiritus sancti internum als hermeneutisch-polemischer Zentralbegriff bei Johann Gerhard in der Auseinandersetzung mit Robert Bellarmins Schriftverständnis (= GTA 6), Göttingen 1976; Martti Vaahtoranta, Restauratio Imagi-
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lutherischer Theologen wie Abraham Calov51 und Johann Andreas Quenstedt52 vor. Zudem erfreut sich mit der Geschichte der frühneuzeitlichen Bibelhermeneutik eine in erster Linie theologiegeschichtlich erscheinende Thematik auch im Bereich der Wissenschaftsgeschichte eines zunehmenden Interesses.53 Die lange Zeit kaum beachtete Hermeneutik lutherischer Barocktheologie erfährt nunmehr in den vergangenen Jahren auch innerhalb der Theologie wachsende Aufmerksamkeit. Das zeigt sich auch daran, daß zuletzt wieder wichtige dogmatische Werke aus dieser Zeit veröffentlicht und zum Teil kommentiert worden sind, in deren Grundlegung die Schriftlehre und Fragen der Schriftauslegung Schlüsselrollen einnehmen. Das gilt für die Theologia positiva acroamatica (1664) des Rostocker Gelehrten Johann Friedrich König54 und das Compendium Locorum Theologicorum (1610)
nis Divinae. Die Vereinigung von Gott und Mensch, ihre Voraussetzungen und Implikationen bei Johann Gerhard (= SLAG 41), Helsinki 1998. 51 Volker Jung, Das Ganze der Heiligen Schrift. Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov (= CTM. B 18), Stuttgart 1999. 52 Michael Coors, Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt. Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift (= FSÖTh 123), Göttingen 2009. 53 Vgl. Lutz Danneberg, Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik. In: Axel Bühler (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Interpretationstheorien im Denken der Aufklärung. Frankfurt/M. 1994, S. 88–157; ders., Der sensus metaphoricus in der Geschichte der Hermeneutik und die neuere sprachanalytische Metaphern-Diskussion. In: Lutz Danneberg, Andreas Graeser, Klaus Petrus (Hg.): Metaphern und Innovation. Beiträge aus philosophischer und literaturwissenschaftlicher Sicht. Bern/Stuttgart/Wien 1995, S. 66–104; ders., Kontroverstheologie, Schriftauslegung und Logik als donum Dei: Bartholomaeus Keckermann und die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik. In: Sabine Beckmann und Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005 (= FN 103), S. 435–563; Reimund Sdzuj, Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 209), Würzburg 1997. Zu nennen sind hier auch die Beiträge der französischen Philosophen Denis Thouard und Philippe Büttgen. Vgl. z. B. Denis Thouard, Réflexion sur la constitution de l’herméneutique en discipline – Flacius, Hyperius et Augustin, in: Günter Frank, Stephan Meier-Oeser (Hg.), Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit (MSB 11), Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 37–65 (zu Gerhard und Glassius: S. 58–61); Philippe Büttgen, Doctrine et méthode. Le sujet pastoral de l’herméneutique luthérienne (vers 1570 – vers 1630), in: Revue de Métaphysique et de Morale, avril 2009, n°2 (Interprétation et méthode à l’âge classique), S. 187–204. 54 Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664), herausgegeben und übersetzt von Andreas Stegmann, Tübingen 2006. Vgl. dazu die monographische Einführung: Andreas Stegmann, Johann Friedrich König. Seine Theologia positiva acroamatica (1664) im Rahmen des frühneuzeitlichen Theologiestudiums (= BHT 137), Tübingen 2006.
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des Wittenberger Dogmatikers Leonhart Hütter.55 Beide Werke dienten über Jahrzehnte hinweg als Lehrbücher in Gymnasien und an Universitäten in lutherischen Territorien. Überfällig ist eine Edition und gegebenenfalls eine deutsche Übersetzung der Loci Theologici des wohl größten lutherisch-orthodoxen Dogmatikers Johann Gerhard. Immerhin entsteht derzeit eine englische Übersetzung dieses Werkes, von der bisher mehrere Bände erschienen sind, darunter auch ein Band mit dem Locus de Sacra Scriptura.56 Gleichwohl fehlen bis heute neuere Editionen der großen Werke der eingangs von Hägglund genannten vorkantianischen Hermeneutiker. Um so erfreulicher ist es, daß mit der 2007 erschienenen Neuedition des lange vergessenen Tractatus de legitima Scripturae Sacrae interpretatione von Johann Gerhard aus dem Jahr 1610 nunmehr ein Meilenstein in der Geschichte der lutherischen Hermeneutik einem breiteren wissenschaftlichen Publikum zur Verfügung steht.57 Steiger hat diese Edition wiederholt flankiert durch monographische Aufsätze über inhaltliche Teilaspekte der lutherischen Barock-Hermeneutik.58 Gebündelt hat er selber den bisherigen Ertrag dieser Arbeit in seiner zunächst in englischer Sprache in einem großen Standardwerk über die Geschichte der Bibelauslegung veröffentlichten,59 inzwischen in erweiterter deutscher Fassung erschienenen Einführung in die Schriftauslegung der nachreformatorischen Orthodoxie unter dem Titel „Philologia Sacra. Zur Exegese der Heiligen Schrift im Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts“.60 Dieser Band bietet zwar nach Einschätzung des Verfassers „lediglich einige aus den Quellen erarbeitete Perspektiven für künftige Forschungen“, schlägt damit aber tatsächlich die bisher größten Schneisen für weitergehende Erkundungen auf dem „weite[n] Feld der Geschichte der Schrift-Exegese im Zeitalter der Orthodoxie“, das bislang „[f]ast völlig unbeackert“ ist, was nach Steiger umso schwerer wiegt, „als dem orthodoxen Selbstverständnis zufolge die
55 Leonhart Hütter, Compendium Locorum Theologicorum ex Scripturis Sacris et Libro Concordiae. Lateinisch – deutsch – englisch. (2 Bände) Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort sowie einer Bibliographie sämtlicher Drucke des Compendium versehen von Johann Anselm Steiger (= DeP II.3), Stuttgart-Bad Cannstatt 2006. 56 Johann Gerhard, Theological Commonplaces. On the Nature of Theology and Scripture, translated from the Preuss Edition by Richard J. Dinda, St. Louis 2006. 57 S. o., S. 9, Anm. 17. 58 Vgl. besonders: Johann Anselm Steiger, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards (= SHCT 104), Leiden/Boston/Köln 2002. 59 Johann Anselm Steiger, The Development of the Reformation Legacy. Hermeneutics and Interpretation of Sacred Scripture in the Age of Orthodoxy, in: Magne Saeboe (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of its Interpretation, Bd. 2. Göttingen 2008, S. 691–757. 60 = BThSt. 117. Neukirchen-Vluyn 2011.
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Heilige Schrift das einzige und alleinige Fundament das Glaubens ist und darum deren Exegese Ausgangs- und Zielpunkt der theologischen Wissenschaft zu sein hat“.61 Ein besonders dringliches Desiderat stellt demnach die Erforschung der orthodoxen Exegese des Alten Testaments62 und diesbezüglich insbesondere der „geistlich-figürlichen“ Schriftauslegung lutherischer Barocktheologie und ihrer Hermeneutik des sensus mysticus dar, die, wie Steiger mehrfach gezeigt hat, mit und neben der Hermeneutik des sensus literalis ein konstitutiver Aspekt lutherischen Schriftverständnisses im 16. und 17. Jahrhundert ist.63 Zwar hatte für Luther und die ihm darin folgende lutherische Theologie allein der sensus literalis fundamentaltheologische Bedeutung bei der Begründung kirchlicher Lehre und Praxis64 (d. h. nur auf „klare“ Schriftaussagen konnten kirchliche Lehr- und Bekenntnisaussagen gegründet werden, nicht auf Bilder oder Visionen). Zugleich führte die Hochschätzung der Heiligen Schrift bei Luther und seinen Nachfolgern zu einer intensiven Wahrnehmung des oftmals figürlichen Charakters biblischer Texte und Motive. Dieser in der Lutherforschung lange Zeit übersehene, unterschätzte oder gar als vorreformatorisches Relikt vernachlässigte Aspekt einer Hochschätzung der Allegorie und einer damit einhergehenden spezifisch lutherischen Bildtheologie ist jüngst beispielsweise von Jens Wolff auch in seiner hermeneutischen Relevanz herausgearbeitet worden.65 Auch daß die Reformatoren sich für die Wahrnehmung der sprachlichen Phänomene in der Heiligen Schrift der Kategorien der überkommenen Rhetorik bedienten, wurde wiederholt beobachtet. So läßt sich für Luther der Rückgriff auf die Rhetorik Quintilians nachwei61 Steiger, Philologia, S. 8. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. Steiger, Fünf Zentralthemen, S. 145–216 („Teil III. In Figura. Die geistlich-figürliche Auslegung der Heiligen Schrift bei Luther und im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts“). 64 Vgl. Friedrich Beißer, Claritas scripturae bei Martin Luther, Göttingen 1966. Bernhard Rothen, Die Klarheit der Schrift. Teil 1: Martin Luther. Die wiederentdeckten Grundlagen, Göttingen 1990. 65 Vgl. Jens Wolff, Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild (= HUT 47), Tübingen 2005; ders., Ursprung der Bilder. Luthers Rhetorik der (Inter-)Passivität, in: Torbjörn Johansson, Robert Kolb, Johann Anselm Steiger (Hg.), Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. Bengt Hägglund zum 90. Geburtstag. Mit einer Bibliographie der Schriften des Jubilars (= HHS 9), Berlin/New York 2010, S. 33–58. Wolff weist u. a. hin auf „den Allegorien-Exkurs in der Genesisvorlesung, der im Druck elf WA-Seiten ausmacht“ und „sowohl in der Luther-Forschung in engerem Sinn als auch bei Profanhistorikern im weiteren Sinne zu wenig bekannt“ sei (a. a. O., S. 54). Wolffs Fazit lautet: „Luther ist einer der Autoren, die maßgeblich zur Rehabilitierung der Allegorie beigetragen haben. Er kann nicht zu Unrecht als einer der möglichen Referenzautoren barocker Allegorien angesehen werden.“ (a. a. O., S. 57) Vgl. ferner Pierre Bühler, Allegorese und Sensus literalis in Luthers Hermeneutik. Mit einem Blick auf den Abendmahlsstreit, in: Paul Michel (Hg.), Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik, Zürich 2000, S. 497–513.
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sen.66 Vor allem Melanchthon knüpfte breit und in mehreren rhetorischen Lehrbüchern an die antike Rhetorik an und lehrte diese unter Verwendung biblischer Beispiele.67 So ist bereits bei den Reformatoren unübersehbar, daß die Rhetorik neben der Grammatik der biblischen Sprachen sowohl für die hermeneutische Aufgabe der Schrifterschließung als auch für die homiletische Aufgabe der Verkündung des Wortes Gottes gleichermaßen unersetzlich ist.68 Dieser Befund findet seine wirkungsgeschichtliche Fortsetzung in einer Beobachtung, die der französische Gelehrte Thouard in seinem Überblick über die Entwicklung der Hermeneutik von Flacius bis zu Gerhard und Glassius herausarbeitet. Demnach habe „die Homiletik eine grundsätzliche Rolle bei der Entstehung der modernen Hermeneutik gespielt“.69 Philippe Büttgen hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß für die Entstehung der reformatorischen Hermeneutik daher nicht nur das Schriftprinzip, sondern auch das reformatorische Verständnis des Predigtamts zu bedenken ist, dem an der praktischen Anwendbarkeit der methodisch an der Schrift gewonnenen Einsichten gelegen sein mußte.70 Offenbarungstheologisch wurden die innerbiblischen sprachlichen Figuren als
66 Vgl. die Beobachtungen von Anna Vind, „Christus factus est peccatum metaphorice“. Über die theologische Verwendung rhetorischer Figuren bei Luther unter Einbeziehung Quintilians, in: Oswald Bayer, Benjamin Gleede (Hg.), Creator est Creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation (= TBT 138), Berlin/New York 2007, S. 95–124. 67 „Plenae sunt enim Sacrae literae ornamentorum omnis generis“, so schreibt er in seiner Rhetorik, zitiert nach Joachim Dyck, Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition (= Ars Poetica 1), Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1966, S. 158 unter Hinweis auf die Schrift „De Elementis Rhetorices“. 68 Vgl. z. B. Uwe Schnell, Die homiletische Theorie Philipp Melanchthons (= AGTL 20), Berlin/ Hamburg 1968, Joachim Knape, Philipp Melanchthons ‚Rhetorik‘ (= Rhetorik-Forschungen 6), Tübingen 1993. Bei Danneberg findet sich der Hinweis (Melanchthons Deutung von 2 Tim 2,15 und ihre Auswirkung auf die reformatorische Hermeneutica sacra, in: Christine Christ-von Wedel, Sven Grosse (Hg.), Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit [= HHS 14], Berlin/ Boston 2017, S. 147–212, S. 189, Anm. 165): „Lowell C. Green: Formgeschichtliche und inhaltliche Probleme in den Werken des jungen Melanchthon. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 84/N. F. 22 (1973), S. 30–48, vermutet, dass einige Vorlesungen Melanchthons, die auf den ersten Blick exegetischen Charakter zu haben scheinen, tatsächlich Rhetorik- oder Dialektik-Vorlesungen unter Verwendung biblischer Beispiele gewesen seien […].“ 69 So in der deutschen Zusammenfassung: Thouard, Réflexion, S. 65. 70 Büttgen, Doctrine, S. 204 (Résumé): „[…] on examine comment, dans la mise en place d’une méthode d’exégèse des textes sacrés, le ministère pastoral s’impose comme une catégorie rectrice de l’interprétation, parallèlement à l’affirmation du principe de la Sola Scriptura.“ Vgl. zu Johann Gerhard Jung, Das Ganze, S. 59: „Während Flacius bei seinen hermeneutischen Analysen die Aufgabe der Theologie als Ganzer im Blick hat, wird von Gerhard die Aufgabe der Interpretation als besondere Aufgabe des kirchlichen Amtes beschrieben. […] Der Ort der hermeneutischen Vermittlung ist die Predigt.“
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Ausdruck jener Kondeszendenz bzw. Selbsterniedrigung gedeutet, die Gott um seiner Begegnung mit den Adressaten der Botschaft willen auf eine Weise vollzieht, daß nicht nur die Vernunft, sondern auch die Affekte durch die Vielzahl der biblischen Bilder angesprochen werden.71 Diese dogmatisch-bibeltheologisch grundlegende Kondeszendenz Gottes in der Bildhaftigkeit seiner Offenbarung wird in der geistlich-figürlichen Schriftauslegung wahrgenommen und für die homiletische Anwendung in der Predigt fruchtbar gemacht. Bereits Bengt Hägglund verweist in seiner Arbeit über Johann Gerhard auf die Thematisierung eines duplex sensus in der Heiligen Schrift in Gestalt von sensus literalis und sensus spiritualis, die bei Gerhard schon angelegt war und dann von Glassius systematisch entfaltet wurde.72 Volker Jung bietet erstmals eine kurze eigenständige Darstellung der Schriftanschauung von Salomon Glassius im Rahmen seines Überblicks über die Geschichte der lutherischen Hermeneutik von Flacius bis Dannhauer. Auch hier werden sowohl im Vergleich zu Flacius73 die systematische Durchdringung der Fragen um die Schriftauslegung durch Glassius als auch seine an die methodischen Anleitungen zur Schriftauslegung von Wolf-
71 Vgl. wiederum grundlegend zu Luther: Birgit Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens (= UTB 2141), Tübingen 2000. Neil R. Leroux, Luther’s Rhetoric: Strategies and Style from the Invocavit Sermons, St. Louis 2002. 72 Vgl. Hägglund, Heilige Schrift, S. 230: „Es zeigt sich jedoch, dass seine [= Gerhards] Auffassung vom sensus spiritualis und dessen Verhältnis zum sensus literalis ganz folgerichtig, wenn auch nicht scharf ausgeprägt oder in einer entwickelten Theorie ausgebildet ist. Sein Schüler, Salomon Glass, hat hier die gelegentlichen Bemerkungen seines Lehrers weitergebildet und in einer umfassenden Lehrdarstellung über den Sinn der Schrift herausgearbeitet. Wenn man an diesem Punkt Glass’ Philologia sacra mit dem frühen Traktat Gerhards vergleicht, zeigt sich eine Entwicklung, die darin besteht, dass jene ausdrücklich vom zweifachen Sinn der Schrift (literalis und mysticus) redet, während dieser gegen die Lehre vom vierfachen Schriftsinn den einzigen, ursprünglichen und eigentlichen Sinn betont. Inhaltlich sind jedoch ihre Ansichten nicht so scharf unterschieden, und später kann auch Gerhard von einem ‚duplex sensus‘ in der Schrift reden. Tatsächlich sind die Elemente dieser Lehre schon im Traktat von 1610 vorhanden.“ Auch Hägglund sieht die Rede von einem sensus mysticus oder sensus spiritualis im Zusammenhang mit der homiletischen Aufgabe, die auf praktische applicatio oder accommodatio des sensus literalis auf die Hörer der Schriftbotschaft zielt (vgl. a. a. O., S. 231–236). 73 Vgl. zu Flacius Jung, Das Ganze, S. 43: „Es ist damit zugleich zu erkennen, daß die eigentliche Leistung des Flacius darin besteht, nicht nur Auslegungsregeln zu sammeln und zu systematisieren, sondern deren Bedeutung im soteriologischen Zusammenhang des von Luther entfalteten Schriftverständnisses aufzuweisen. Es schmälert die Leistung des Flacius nicht, daß – obwohl ein Grundkonzept erkennbar ist – noch keine hinreichende Systematik gewonnen ist. Wer den Text des Flacius liest, muß die Bausteine, so wie es hier versucht wurde, selbst zusammenfügen. Die wenig ausgefeilte Systematisierung in der Clavis scripturae sacrae mag auch erklären, daß mancher Ansatz – wie zum Beispiel die Begründung des Verstehens der Hl Schrift aus einem trinitarischen Kommunikationsvorgang – nicht überzeugend weitergeführt wurde.“
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gang Franz und Johann Gerhard anknüpfenden und weiterführenden Präzisierungen gewürdigt.74 Das gilt insbesondere für die komplexe Unterscheidung von sensus literalis und sensus mysticus bei Glassius sowie ihre Entfaltung sowohl hinsichtlich der hermeneutischen Aufgabe der Schriftauslegung als auch hinsichtlich der theologischen Aufgaben der Lehrbegründung in der Dogmatik und der Lehrvermittlung in der Homiletik.75 Jung erwähnt auch knapp die theologische Begründung für den sensus mysticus in der „Kondeszendenz Gottes“, „der in der Hl. Schrift mit dem Menschen handelt und sich deshalb öfters so an das menschliche Fassungsvermögen anpaßt, daß er seine mysteria in Ereignisse einbindet“.76 Auch die von Glassius selbst vorgenommene kritische Unterscheidung seines Ansatzes vom Konzept des mehrfachen Schriftsinns bei manchen Kirchenvätern, römischen Schriftauslegern (Pontificii) und Rabbinen wird von Jung berücksichtigt.77 Eng im Anschluß an Inhalt und Aufriß bei Jung verfährt auch Torbjörn Johansson in seiner Darstellung der Lehre vom sensus literalis und sensus mysticus bei Glassius. Allerdings schickt er seiner diesbezüglichen Übersicht wichtige Hinweise zur Rolle des Skopus sowohl des Schriftganzen als auch der jeweiligen Perikopen voraus und würdigt die systematischen Klärungen in Glassius’ Philologia sacra als Schlüssel für den Gebrauch des Alten Testaments bei Johann Gerhard und früheren (lutherischen) Theologen.78 Der Germanist Sdzuj thematisiert Glassius im Horizont seiner Untersuchung „Zur frühneuzeitlichen Hermeneutik der Tropen“. Auch er sieht die Stärke von
74 Vgl. Jung, Das Ganze, S. 47–59 (Johann Gerhard); S. 60–66 (Wolfgang Franz); S. 66–77 (Salomon Glass). Demnach bieten Glassius’ Ausführungen De Scripturae SS. sensu aus dem ersten Teil der Philologia Sacra „eine grundsätzliche, in ihrer Präzision in der lutherischen Hermeneutik des 17. Jahrhunderts unüberbotene Erörterung über die hinsichtlich des Schriftsinns zu treffenden Unterscheidungen […].“ (Jung, Das Ganze, S. 67) 75 Zum von Jung richtig beobachteten Ineinander und Zueinander von sensus literalis und sensus mysticus vgl. a. a. O., S. 68–74. 76 A. a. O., S. 71. 77 Vgl. a. a. O., S. 77. 78 Torbjörn Johansson, Das Leiden Christi vom Alten Testament her gedeutet. Beobachtungen zur frühen evangelisch-lutherischen Passionsauslegung, in: ders., Robert Kolb, Johann Anselm Steiger (Hg.), Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. Bengt Hägglund zum 90. Geburtstag. Mit einer Bibliographie der Schriften des Jubilars (= HHS 9), Berlin/New York 2010, S. 261–293; zu Glassius: S. 268–275; hier S. 268: „Salomon Glassius, Johann Gerhards Schüler […], treibt in seiner Philologia sacra die Systematisierung der biblischen Hermeneutik noch einen Schritt weiter als sein Lehrer. […] Wenn man den Gebrauch des Alten Testaments bei Gerhard und den früheren Theologen untersucht, kann Glassius einen passenden Schlüssel bieten.“
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Glassius’ Beitrag zur Geschichte der Hermeneutik nach Gerhard und Franz79 in der systematischen Durchdringung, die er selbst präzise auf den Punkt bringt: „Mit einer bei diesen nicht zu findenden Ausdrücklichkeit integriert Glassius den tropischen Sinn in den Literalsinn, um diesen dann vom ‚mystischen Sinn‘ abzuheben, der für ihn nach lutherischer Lehre ebenso wie der Literalsinn intendierter Sinn ist und den er zu den diversen Akkommodationen des Bibeltextes rechnet […]. Mit dieser Bestimmung stellt Glassius nicht etwa die numerische Einheit und Einfachheit des Literalsinns in Frage; er differenziert vielmehr dessen Bezeichnungsweise“.80 Sdzuj ist einer der wenigen Interpreten, der die textinternen Signale des Thüringers markiert, in denen dieser auf die exemplarische Umsetzung seiner in der Philologia sacra im engeren Sinn entfalteten Unterscheidung in sensus literalis proprius und sensus literalis figuratus bei der Sichtung der biblischen Tropen in der 1636 veröffentlichten Rhetorica sacra hinweist.81 Auch in Steigers bereits erwähnten Arbeiten klingt wiederholt an, daß Glassius einen Gipfelpunkt dieser geistlich-figürlichen Schriftauslegung repräsentiert.82 Eine auf Schloß Friedenstein im Jahre 2006 abgehaltene interdisziplinäre Tagung zum Thema „Hermeneutik der Schrift für Theologen der Kirche: Die ‚Philologia Sacra‘ des Salomo Glassius (1593–1656)“ hatte das Ziel, diesen Aspekt des Wirkens Glassius’ und seiner Bedeutung in der Geschichte der Hermeneutik historisch und theologisch zu würdigen. Diese Würdigung ging über die bis dahin – mit der Ausnahme von Sdzuj – übliche Beschränkung der Untersuchung auf die Glaß’sche Unterscheidung von sensus literalis und sensus mysticus und über die Philologia sacra im engeren Sinn hinaus und berücksichtigte neben dem fünfbändigen Gesamtwerk der Philologia sacra auch exemplarisch und in Auszügen einen
79 Vgl. Reimund B. Sdzuj, Improprie dicta varie exponi possunt – Zur frühneuzeitlichen Hermeneutik der Tropen, in: Günter Frank, Stephan Meiser-Oeser (Hg.): Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit (= MSB 11), Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 355–378, hier S. 368: „Unbefangener als Gerhard begegnete Wolfgang Franzius den biblischen Tropen; selbst Fälle, in denen ein Ausdruck eine wörtliche und zugleich eine übertragene Bedeutung hat, wollte er nicht ausschließen. […] Ganz anders als Franzius’ Traktat, der insgesamt relativ arm an Gesichtspunkten ist und keine systematische Behandlung der meisten in vergleichbaren bibelhermeneutischen Schriften zu findenden Lehrstücke bietet, sondern nur stellenbezogene Interpretationen thematisch geordneter ‚oracula sacra‘, die den größten Teil dieses umfangreichen Werks ausmachen, ist Salomon Glassius’ ‚Philologia sacra‘ reich an grundsätzlichen Unterscheidungen und Problemerörterungen.“ 80 A. a. O., S. 368 f. 81 Vgl. a. a. O., S. 369. 82 Vgl. Steiger, Philologia, passim.
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Teil der praktischen – homiletischen und erbauungstheologischen – Autorschaft des Thüringers.83 Das gilt insbesondere für die knapp 300 Seiten umfassende Einordnung des Glaß’schen hermeneutischen Grundlagenwerkes in die Wissenschaftsgeschichte von der Antike bis zu Leibniz durch den Berliner Literaturwissenschaftler Lutz Danneberg.84 Dieser problematisiert zunächst den Aufbau der „Philologia“, die Glassius in der Abfolge von Philologia sacra (im engeren, Textkritik, Stilanalyse und Hermeneutik umfassenden Sinn), Grammatica sacra, Rhetorica sacra und Logica sacra gliedert. Danneberg zeichnet den Entwurf von Glassius ein in das seit der Antike geprägte komplexe Miteinander der literaturwissenschaftlich-philosophischen Disziplinen der Logik bzw. Dialektik, der Grammatik und der Rhetorik, deren jeweilige Zuordnung changieren konnte je nachdem, ob es einem Autor um die Darstellung einer Theorie der Texterschließung oder der Textproduktion ging.85 Der Befund bei Glassius ist nach Danneberg höchst komplex, da bei ihm beide Tendenzen sowohl in der Gesamtstruktur als auch in Detailfragen deutlich erkennbar sind und die Kategorie Philologia in einem engen und einem weiten, das Gesamtwerk umgreifenden, Sinn gebraucht wird.86 Die „Sakralität“ der Disziplinen aber verdankt sich der Tatsache, daß Grammatik und Rhetorik als Hilfswissenschaften der Theologie dienen und sich weithin in der Darlegung biblischer Beispiele bzw. Phänomene erschöpfen. Danneberg weist darauf hin, daß Glassius hiermit in einer durch Melanchthon begründeten Tradition steht.87 Die Hochschätzung der Heiligen Schrift als des in vielerlei Weise wirksamen Wortes Gottes führt zur Notwendigkeit, ihre sprachliche 83 Die Beiträge der Tagung sind in teilweise erweiterter Form publiziert worden in dem von Christoph Bultmann und Lutz Danneberg herausgegebenen Band: Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik. Die „Philologia Sacra“ im frühneuzeitlichen Bibelstudium (= HHS 10), Berlin/Boston 2011. 84 Lutz Danneberg, Grammatica, rhetorica und logica sacra vor, in und nach Glassius’ Philologia Sacra – mit Blicken auf die Rolle der Hermeneutik in der Beziehung von Verstehen, Glauben und Wahrheit der Glaubensmysterien bei Leibniz, in: Bultmann/Danneberg, Hebraistik, S. 11–297. 85 Vgl. a. a. O., S. 18–24: „Zur Tradition der Anordnungen des Triviums“. 86 Zu bedenken ist dabei, daß Glassius selbst das Werk in Etappen veröffentlichte, vgl. Danneberg, a. a. O., S. 29: „Der erste Teil, also die philologia sacra, erscheint 1623, darauf folgt 1634 die Erweiterung durch die grammatica sacra, 1636 durch die rhetorica sacra – und erst 1705 findet das Werk mit der Hinzunahme der logica sacra in der Ausgabe von Johann Gottfried Olearius (1635– 1711) aus dem Nachlass ihren vierteiligen Abschluss.“ Im Kontext der traditionellen Zuordnungen der Disziplinen heißt dies dann (a. a. O., S. 42): „Die philologia sacra als erster Teil seines Werks entspricht der philologia als grammatica exegetica und die grammatica sacra in seinem Werk ist die grammatica methodica. Davon zu unterscheiden ist der philologia-Ausdruck, der dem ganzen Werk den Titel gibt. Er gehört zu den formal übergreifenden Konzepten, wie sie sich etwa bei Alsted oder Vossius finden.“ 87 Vgl. a. a. O., S. 61.
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Gestalt in jeglicher Hinsicht zu analysieren, was dadurch erfolgt, daß die biblischen Phänomene und Besonderheiten auf den Gebieten der Grammatik und der Rhetorik von Glassius in großer Vollständigkeit in ihrer jeweiligen theologischen und hermeneutischen Relevanz gesichtet werden. „Die Philologia sacra des Glassius bietet […] eine enzyklopädische Ansammlung von Wissen – der grammatica, rhetorica und logica –, das zur Analyse der Heiligen Schrift als relevant erscheint und dessen Relevanz durch Illustrationen aus der Heiligen Schrift aufgezeigt wird. Spezifisch bei Glassius sind allerdings die Anordnung der Wissensbestände, der Reichtum der Illustrationen sowie vor allem die einzelnen Darlegungen zu zahlreichen ‚schwierigen‘ oder ‚strittigen‘ Stellen der Heiligen Schrift.“88 Damit einher geht eine nicht zu steigernde Hochschätzung der beiden biblischen Hauptsprachen, insbesondere der veritas hebraica, die zugleich die stilistische und rhetorische Grundmatrix fürs Neue Testament liefert. Bei Glassius ist dies verbunden mit einer intensiven Rezeption älterer wie neuerer exegetischer Quellen aus der jüdisch-rabbinischen Tradition.89 Zugleich ist gerade in den detaillierten methodischen Differenzierungen in Glassius’ Hermeneutik etwa zur Typologie und Allegorese die Ausrichtung der schrifttheologischen Arbeit auf Homiletik und Seelsorge der Kirche unübersehbar. Mit dieser die analytische Textinterpretation und die auf Verkündigung ausgerichtete Textproduktion gleichermaßen berücksichtigenden Vorgehensweise vereint Glassius Anliegen Luthers und Melanchthons, an deren Rezeption der antiken Rhetorik etwa eines Quintilian und eines Cicero er anknüpfen konnte.90 Doch auch dogmatisch-kontroverstheologische Absichten motivieren den Thüringer Theologen, insofern sich seine Philologia auch „als eine Art Reglement zur (Auf-)Lösung theologischer Konflikte“ lesen läßt.91 Danneberg zeichnet nicht nur zahlreiche Linien nach, die zwischen der antiken, der mittelalterlichen, der reformatorischen und der frühneuzeitlichen Rhetorik verlaufen, sondern auch bisher in der Forschung weniger beachtete Verbindungen zwischen Luthers Bibelexegese und Glassius’ hermeneutisch reflektierter Bibelauslegung. Dem Thüringer blieb es demnach vorbehalten, stringent zu systematisieren und umsichtig begrifflich zu klären, was noch bei Flacius eher unsystematisch aneinandergereiht wurde.92 Das betrifft z. B. die Durchdringung der an vielen Bibelstellen unübersehbaren Bedeutungsübergänge von einem buchstäblichen zu einem übertragenen Sinn, insbesondere der anthropomorphen Redeweisen von Gott selbst und deren kon88 A. a. O., S. 63. 89 Vgl. a. a. O., S. 71–88. 90 Vgl. a. a. O., S. 109–120. 91 A. a. O., S. 147. 92 Vgl. a. a. O., S. 143.
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deszendenztheologische Begründung.93 An der Fassung des Konzeptes von der in diesem Zusammenhang wahrgenommenen accommodatio Gottes an menschliches Rezeptionsvermögen lassen sich dann auch die Verschiebungen in der späteren Aufklärungshermeneutik verdeutlichen, die wesentlich durch Veränderungen in den theologischen Grundannahmen zustandekamen. Am Beispiel des noch vergleichsweise moderaten Leibniz zeigt Danneberg, wie dieser die von den älteren Hermeneuten wie Glassius unter klar bestimmten Voraussetzungen für viele figürlich auszulegenden biblischen Texte festgehaltene Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten (Polyvalenz) ausgeweitet und auch auf dogmatische Kernstellen übertragen hat. An die Stelle der Gewißheit Luthers aufgrund der Klarheit der Schrift in Lehrfragen ist somit bei Leibniz als einem Vertreter der Aufklärung eine allenfalls gradweise reduzierbare Ambiguität in der Schriftauslegung getreten, die bei Leibniz allerdings noch mit einer konservativen Haltung in Fragen der religiösen Praxis einhergehen konnte.94 Um das Gespräch zwischen Orthodoxie und Aufklärung geht es auch im Beitrag Christoph Bultmanns, der die hermeneutischen Teile der Philologia sacra von Glassius im engeren Sinn in den Blick nimmt,95 allerdings entgegen der hier wie bei Luther im Sinne einer „interpretatio authentica“96 wirksamen „neutestamentlich-christologischen Rezeptionslinie“97 klar für Lessings Plädoyer votiert, die Schrift nur in ihren „bessere[n] Teilen“ für die zeitgenössische „Religion“ in Anschlag zu bringen.98 Darüber hinaus betont der Erfurter Alttestamentler den „Horizont konfessioneller Polemik“,99 in dem er Glassius stehen sieht. „Er ist ein Verteidiger des Textes als eines primären Kommunikationsmediums, nicht eines 93 Vgl. a. a. O., 157–164: „Der Bedeutungsübergang vom sensus primarius zum sensus figuratus oder mysticus“. 94 Vgl. a. a. O., S. 206–258. 95 Christoph Bultmann, Einfacher und doppelter Literalismus. Biblische Geschichte und biblische Prophetie in Salomon Glassius’ Traktat ‚De Scripturae sensu dignosendo‘, in: Bultmann/ Danneberg, Hebraistik, S. 357–371. 96 Vgl. Danneberg, Grammatica, S. 164: „Die Allegationen, also die nur anspielenden oder die durch explizite formulae quotationis eingeführten Zitationen und Deutungen des Alten im Neuen Testament, bilden lange vor und noch lange nach der Philologia sacra des Glassius eine der wesentlichen Grundlagen der hermeneutica sacra. Aufgrund der gängigen Ansicht, dass sich dabei der Heilige Geist selbst kundtut und er so eine interpretatio authentica auch im Fall der Zuschreibung eines sensus mysticus bietet, werden solche Allegationen zur norma normans: Es ist die unitas Scripturae auf der Grundlage der Einheit des Autors (unicus est author omnium Sacrorum librorum) mit dem Spiritus Sanctus als inspirator scripturae, der so auch zum besten Ausleger seiner eigenen Worte wird.“ 97 Bultmann, Literalismus, S. 371. 98 A. a. O., S. 358. 99 A. a. O., S. 359.
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sekundären und defizienten, durch kirchliche Kompetenz und Autorität allererst zu belebenden.“100 „Dabei hat er einen guten Blick einerseits für die Begründung dogmatischer Lehren in den geeigneten Texten der Bibel, andererseits für die Erfordernisse einer erbaulichen homiletischen Bibelauslegung.“101 Verdienstvoll an Bultmanns Beitrag ist die Auflistung vieler von Glassius herangezogener Gewährsleute, benutzter Quellen und gegnerischer Schriften, mit denen sich der Thüringer kontroverstheologisch auseinandersetzt.102 Ernst Koch widmet sich Glassius’ erbauungstheologischer, 1629 erschienener Schrift Arbor vitae (= Baum des Lebens)103 und entdeckt in diesem aus Predigten an der Sondershauser Hofkirche erwachsenen Frühwerk des damaligen Superintendenten eine zwar nicht vollständige, aber doch konzentrierte Fassung der dann in seiner Philologia sacra dargelegten Methodologie, mithin „eine Bibelhermeneutik im Vollzug der betrachtenden Lesung der Heiligen Schrift […], und dies in deutscher Sprache, die das Buch Lesenden über den Kreis der Gelehrten hinaus zugänglich macht“.104 Koch stellt neben dem Bezug zur Philologia auch die Verbindung zu Glassius’ noch im Jenaer Universitätsbetrieb verfaßten Schrift Onomatologia Messiae Prophetica von 1624 heraus, wo er formuliert hatte: „Christus
100 A. a. O., S. 367. 101 A. a. O., S. 364. 102 Vgl. a. a. O., S. 362 f.: „Die Philologia Sacra ist das Werk einer relativ weit gespannten Gelehrsamkeit. In der konfessionellen Rivalität soll das Bildungsmilieu, das sich in den Dekreten des Tridentinums von 1546 zur Bibel und zur Bibelauslegung spiegelt, nicht nur erreicht, sondern auch übertroffen werden. Glassius bezieht sich auf die Kirchenväter, besonders auf Augustin und Hieronymus, auf Nikolaus von Lyra (1270–1349) und auf katholische Theologen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, so den Bibliographen der Bibelwissenschaft Sixtus von Siena (1520–1569), den Konzilstheologen Alphons Salmeron (1515–1585) und die nachkonziliaren Kontroverstheologen Robert Bellarmin (1542–1621; Disputationes de controversiis christianae fidei, 1587), Martin Becanus (1563–1624; Summa theologiae scholasticae, 1612) und James Gordon Huntley (Daten unbek.; Controversiarum Epitome, 1620). Er polemisiert gegen Calvin und die Calvinisten sowie gegen ‚Mataeologi Theophrasti‘, vertreten durch Valentin Weigel (1533–1588). Er kennt und nennt Luthers Ausführungen zur Hermeneutik z. B. in De captivitate Babylonica ecclesiae (1520) und De servo arbitrio (1525), betont wiederholt die Bedeutung von Matthias Flacius (1520–1575; Clavis Scripturae sacrae, Bd. 2, 1567) und verweist auf Johann Gerhard (1582–1637; Tractatus de legitima Scripturae sacrae interpretatione, 1610 [Loci theologici, I]) und Wolfgang Franz (1564–1628; Tractatus theologicus novus […] de interpretatione Scripturae sacrae […] legitima, 1619) als Hermeneutiker. […] Als philologisches Arbeitsinstrument fällt unter der angeführten Literatur u. a. die annotierte Übersetzung des Alten Testaments durch Immanuel Tremellius (1510–1580) und Franciscus Junius (1545– 1602) auf, die in den Jahren 1575–1579 erschienen war.“ 103 Ernst Koch, Arbor vitae. Salomon Glass als Erbauungsschriftsteller, in: Bultmann/Danneberg, Hebraistik, S. 373–382. 104 A. a. O., S. 381.
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est totius Scripturae nucleus, & corona, & Sol, & centrum.“105 Dieses hermeneutische Programm setzt Glassius nun in seiner Erbauungsschrift pflanzenallegorisch um, indem er Person und Heilswerk Christi – im gesamtbiblischen Horizont und damit im großen Bogen von Gen 2,8 bis Offb 22,1 – von der Figur des Lebensbaums her entfaltet. Koch weist auf die bis in die Spätantike zurückreichende Tradition dieser Rezeption des Lebensbaummotivs ebenso hin wie auf eine Disputation von Christian Chemnitz (1615–1666), der, ohne auf Glassius hinzuweisen, in ähnlicher Weise an diese Tradition anknüpft.106 Auch Steiger erweitert den Blickwinkel und wendet sich am Beispiel von Glassius’ Predigten über den Propheten Jona der homiletischen Umsetzung seiner in der Philologia sacra entfalteten Hermeneutik des sensus mysticus zu.107 So tritt auch in diesem Beitrag vor Augen, wie Glassius in der Lage ist, die Fülle der hermeneutischen Arbeit der lutherischen Reformation gerade hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Alten und dem Neuen Testament auszuloten: „Wie Luther und Gerhard so ist auch Glassius überzeugt davon, dass nur derjenige die mystische Auslegung der Schrift erlernen kann, der sich von der Heiligen Schrift selbst in diese Methodik einführen lässt. Neu indes ist, dass Glassius das ihm Vorgegebene auch begrifflich-distinktiv trennschärfer fasst und damit zur methodologischen Klärung dieses Sachverhalts wesentlich beiträgt. Glassius unterscheidet daher explizit in einer entsprechenden Nomenklatur zwischen solchen Allegorien und Typen, die die Schrift selbst bietet, und solchen, die vom Ausleger in dieselbe hineingetragen werden.“108 Die in neutestamentlichen Stellen wie Joh 5,39 und Lk 24,32 begründete109 christologische Interpretation des Alten Testaments führt nach Steiger „gerade nicht zu einer christologisch motivierten Destruktion der […] alttestamentlichen Texte, sondern trägt umgekehrt zur Entzifferung ihrer bleibenden Andersartigkeit bei“.110 Die collatio (= vergleichende Gegenüberstellung) einander korrespondierender alt- und neutestamentlicher Stellen bringt
105 Ebd. 106 Vgl. a. a. O., S. 379–382. 107 Johann Anselm Steiger, Salomon Glassius’ Hermeneutik des sensus mysticus. Dargestellt anhand seiner Predigten über die Jona-Erzählung, in: Bultmann/Danneberg, Hebraistik, S. 383–412; in erweiterter Fassung auch: ders., Jonas Propheta. Zur Auslegungs- und Mediengeschichte des Buches Jona bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit einer Edition von Johann Matthäus Meyfarts ‚Tuba Poenitentiae Prophetica‘ (1625) (= DeP II.5), Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 105–152. 108 Steiger, Glassius’ Hermeneutik, S. 391. 109 Vgl. a. a. O., S. 393: „Wie in seiner ‚Philologia‘ macht Glassius somit programmatisch deutlich, dass der entscheidende Impuls für die christologisch-figürliche Interpretation des Alten Testaments in eben diesem Befehl des Sohnes Gottes zu sehen ist.“ 110 A. a. O., S. 394.
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regelmäßig einen heilsgeschichtlich noch nicht abgegoltenen eschatologischen Überschuß des alttestamentlichen Bildmaterials (veranschaulicht etwa an Jonas Errettung als Vorwegnahme der Totenauferstehung oder am Motiv des Keltertreters aus Jes 63,1–7) zutage, der durch die Erfüllung des Alten Testaments in Christus gerade nicht abgetan ist, sondern – für die Zukunft der Kirche und der Christen – in Kraft gesetzt wird.111 Diese Einsicht führt Steiger zu der auch systematisch-theologisch bedeutsamen Schlußfolgerung: „Je eschatologischer ein theologischer Entwurf ist“, desto stärker wird die Theologie „alttestamentlich geprägt sein. Dies entspricht […] der hermeneutischen Programmatik, die Glassius in der Vorrede zum ersten Teil seiner ‚Spruchpostille‘ entwirft.“112 Steiger betont, daß mit diesem Ansatz die Differenz von Altem und Neuem Testament gerade nicht eingeebnet wird, der Ausleger vielmehr unter Berücksichtigung der intertestamentarischen Hermeneutik im Alten Testament „einer unvergleichlichen Galerie an ‚picturae‘ ansichtig wird, die durch die Erfüllung in Christus keineswegs abrogiert sind, sondern im Gegenteil in Kraft gesetzt werden, mithin eine bleibende Bedeutung haben.“113 Eine solchermaßen vorgehende typologische Exegese ist nicht nur homiletisch wie seelsorglich relevant und zudem – von Steiger an zahlreichen Beispielen aufgezeigt – in Kunst- und Musikgeschichte höchst wirksam gewesen, sondern kann auch Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen. Denn gerade bei Glassius läßt sich gut beobachten, daß „die frühneuzeitliche mystische Bibelhermeneutik sehr wohl wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtet ist, die […] einerseits theoretisch darstellbar sind und die sich andererseits in ihrer praktischen Anwendung als im Hinblick auf die Entschlüsselung der betr. Bibeltexte im höchsten Maße operabel erweisen.“114 Die zahlreichen Beobachtungen zur schriftinternen wie auch auf sein theologisches Gesamtwerk bezogenen Intertextualität und Multimedialität der Schriftauslegung von Glassius hat Steiger zum Anlaß genommen, nicht nur Glassius’ „opulente Vorrede“115 zum Weimarer Bibelwerk von 1640 samt dem dazugehörigen Kupfertitel in seine Untersuchung mit einzubeziehen, sondern beides in seiner
111 Vgl. a. a. O., S. 404: „Wer zurückblickt und -läuft in die Schriften des Alten Bundes, blickt somit zugleich ins Eschaton, hat Bilder vor Augen der zukünftigen Herrlichkeit.“ 112 A. a. O., S. 404. Vgl. ferner ebd.: „Jeder Leser des Alten Testaments erfährt nämlich eine eschatologische Vergesellschaftung mit den Patriarchen, Propheten etc. und wird dergestalt proleptisch Bürger im himmlischen Jerusalem. Grund und Ursache für dieses gemeinsame Bürgerrecht und vor allem dafür, von diesem jetzt bereits Gebrauch machen zu können, ist der Glaube, der die Zeiten und die beiden Bünde Gottes transzendiert.“ 113 A. a. O., S. 405. 114 Ebd. 115 Steiger, Philologia, S. 129.
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Einführung in die orthodoxe Hermeneutik mit zu edieren.116 Beachtung verdient die Vorrede nach Steiger deshalb, weil sie „die Grundlagen lutherisch-barocken Umgangs mit der Heiligen Schrift konzise zusammenfaßt“.117 In der Tat liegt die Bedeutung dieser Vorrede auch für die Erschließung von Glassius’ Hermeneutik darin, daß sie neben seiner Philologia sacra als das Werk aus seiner Feder gelten kann, das die größte Verbreitung gefunden hat. Zwar gibt es zum Bibelwerk vorrangig editionsgeschichtliche Untersuchungen.118 Doch haben weder Glassius’ hermeneutisches Grundwerk Philologia sacra noch seine Vorrede zur „Kurfürstenbibel“ die ihnen gebührende Würdigung in jüngerer Vergangenheit erhalten. Immerhin wurde Glassius’ Vorrede durch die Fortsetzung der Editionsgeschichte des Bibelwerks noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gedruckt und damit auch gelesen.119 Einen Hinweis auf die internationale Wirkungsgeschichte der Philologia sacra in Gestalt der englischsprachigen Tropenlehre von Benjamin Keach gibt der nordamerikanische Theologe Benjamin Mayes.120 Eine Rezeption der Glaß’schen Exegese in zeitgenössischen Kommentarwerken scheint es bisweilen ebenfalls nur im englischsprachigen Raum zu geben. So bespricht Christopher Mitchell in seinem monumentalen Kommentar zum Hohelied nicht nur eingehend die ekklesiologisch-sakramentale Ausrichtung der Hohelied-Auslegung Johann Gerhards, sondern auch die in die gleiche Richtung weisenden kommentierenden Glossen von Glassius aus der Kurfürstenbibel.121 Mitchell gibt zudem wiederholt Hinweise 116 Der Kupfertitel mit Steigers Erläuterungen findet sich in gegenüber dem Original verkleinerter Form a. a. O., S. 129–131, Glassius’ „Vorrede zum Nürnberger Bibelwerk“ findet sich samt einer editorischen Notiz und kommentierenden Anmerkungen a. a. O., S. 155–226. 117 Steiger, Philologia, S. 129. 118 Vgl. Heimo Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel/Hamburg 1983, S. 271–274 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 40); RolfDieter Jahn, Die Weimarer ernestinische Kurfürstenbibel und Dilherr-Bibel des Endter-Verlags in Nürnberg (1641–1788). Versuch einer vollständigen Chronologie und Bibliographie, im Selbstverlag, Odenthal 1986; Ernst Koch, Das Ernestinische Bibelwerk, in: Ernst der Fromme (1601–1675). Staatsmann und Reformer, hg. von Roswitha Jacobsen und Hans-Jörg Ruge, Bucha bei Jena 2002 (= VFG 39), S. 53–58. 119 Vgl. Armin Wenz, Biblische Hermeneutik im Spiegel der Vorreden der „Weimarer Kurfürstenbibel“ aus drei Jahrhunderten, in: LuthBei(B) 20 (2015), S. 26–50. 120 Vgl. Benjamin Mayes, The Mystical Sense of Scripture According to Johann Jacob Rambach, in: CTQ 72 (2008), S. 45–70, hier S. 47 f., Anm. 16: „Glass’s canons for explaining types were abridged by Benjamin Keach and included in his Tropologia [modern edition: Preaching from the Types and Metaphors of the Bible (London 1855; Grand Rapids: Kregel Classics, 1972), 233–237] removing Glass’s disparaging remarks about Calvin and his reference to orthodox Lutheran theologians.“ 121 Christopher Mitchell, The Song of Songs, St. Louis 2003, S. 344–348 zu Johann Gerhard; S. 348–351 zu Salomon Glassius. Mitchell bezieht die Glaß’schen Glossen auch immer wieder zustimmend in seine Kommentierung mit ein (vgl. die Stellenangaben im „Index“, a. a. O., S. 1293).
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auf die auch in der deutschen Forschung von Steiger122 betonte eschatologische Ausrichtung der lutherisch-orthodoxen Schriftexegese insbesondere des Alten Testaments.123 Das Lebenswerk des Gothaer Superintendenten ist bisher außer in den späteren Vorreden von Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) und Carl F. W. Walther (1811–1887)124 zum unter seiner maßgeblichen Beteiligung entstandenen „Bibelwerk“ jüngst von Veronika Albrecht-Birkner hinsichtlich seines ebenfalls bedeutsamen Beitrags zum Reformwerk seines Landesherrn Herzog Ernst des Frommen gewürdigt worden.125 In ihrer Untersuchung sichtet Albrecht-Birkner die für die Reformbemühungen Herzog Ernsts verfaßten praktischen Schriften Glassius’, „die der Erbauung bzw. Katechismuslehre und einem den Normen des Glaubens entsprechenden geordneten Leben breiter Bevölkerungsschichten dienen sollten“.126 Das gilt insbesondere für Glassius’ 1645 erstmals publizierte, gegen das Laster der Trunkenheit gerichtete Schrift „Ebrietatis infamia“.127 Diese Schrift zeigt, „daß die 40er Jahre in Gotha von einer unmittelbaren Erwartung des Jüngsten Tages genauso geprägt waren wie von einer Fülle von Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation. […] Man wollte nicht die Welt um ihrer selbst willen verbessern, sondern damit im letzten Gericht möglichst jede Seele eine Chance hatte zu bestehen.“128 Darüber hinaus wurden von Glassius die herzöglichen Reformmaßnahmen in von ihm ebenfalls in den 1640er Jahren verfaßten Ausschreibungen durch den Hinweis auf den auch in Friedenszeiten angesichts künftiger Gefährdungen nötigen göttlichen Bußruf bekräftigt.129 Während das „Bet-Büchlein“, das vorwiegend auch andernorts publizierte Gebete von Johann Habermann, Johann Gerhard und Johann Arndt enthielt, „keine Besonderheit“ darstellte,130 erkennt Albrecht-Birkner im „Haus-Büchlein“ die Verbindung des Konzepts der gesamtgesellschaftlich wirksamen „Hausväter122 Vgl. z. B. Steiger, Philologia, S. 101. 123 Mitchell, Song, S. 1289: „Among the Lutheran Song expositors, we especially appreciate the eschatological perspective of Glassius.“ Vgl. auch a. a. O., S. 350. 124 Vgl. Wenz, Biblische Hermeneutik, S. 45–50. 125 S. o., S. 11, Anm. 21. 126 Albrecht-Birkner, Reformation, S. 469 mit Bibliographie a. a. O., Anm. 168. Albrecht-Birkner zählt zu dieser Gruppe von Glassiusschriften auch den Glaubensgrund, der aber nicht zur Erbauung, sondern zur theologischen, auch kontroverstheologischen Grundlegung gehört, weshalb Walther diese Schrift in seiner Oratio parentalis als eine der wenigen polemischen (gegen das römische Traditionsprinzip gerichteten) Schriften aus der Glaß’schen Feder nennt (vgl. Opuscula, S. 44). 127 Ebrietatis infamia. Gründlicher Bericht von der schändlichen und hochschädlichen Sünde der Trunckenheit oder des Zu- und Vollsauffens, Gotha 1656. 128 Albrecht-Birkner, Reformation, S. 470. 129 Vgl. a. a. O., S. 471 f. 130 A. a. O., S. 492.
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hierarchie“ mit einem pädagogischen Menschenbild und einem die Ethik prägenden stoischen Ideal der Leidenschaftslosigkeit,131 während der „Gedanke der mystischen Vereinigung mit Christus“ zwar erwähnt werde, aber inhaltlich keine zentrale Rolle spiele.132 So trifft das abschließende negative Urteil Albrecht-Birkners über die Gothaischen Reformen133 mindestens auch den praktisch-erbaulichen Teil der Autorschaft Glassius’, zumal es ihr als durch dessen bibeltheologische Tendenzen in zentralen Punkten mit verursacht erscheint: „Eine Beziehung zwischen Glass’ Vorliebe für das Alte Testament, die sich auch schon anhand seines Anteils an der Bibelerklärung erkennen läßt, und der in Gotha deutlich zu beobachtenden Favorisierung alttestamentlicher Denk- und Glaubensmuster liegt nahe – sowohl im Blick auf den Einfluß Glass’ auf zentrale Schriften des Herzogs wie z. B. das Ausschreiben zur Visitation von 1641 als auch hinsichtlich einer besonderen theologischen Nähe zwischen Glass und Herzog Ernst […].“134 Daraus ergibt sich für die Verfasserin eine grundlegende Infragestellung des lutherischen Charakters bzw. der Bekenntnisgemäßheit135 des Reformwerks Ernsts und damit einhergehend der theologischen Tendenzen seines wichtigsten Theologen, mit der Albrecht-Birkner ihre Untersuchung beschließt: „Eine Rezeption des befreienden Potentials lutherischer Lehre im Gegenzug zur Orientierung am Gesetz ist nicht erkennbar.“136
131 Vgl. a. a. O., S. 488–490. Vgl. auch allgemein zur von Herzog Ernst mit Glassius’ Unterstützung ausgerufenen „Reformation des Lebens“ a. a. O., S. 511: „Insbesondere an den Listen angestrebter Tugenden wird neben der alttestamentlichen und der reformatorischen Verwurzelung der gothaischen Reformen der implizite Einfluß neustoischen Zeitgeistes deutlich.“ 132 A. a. O., S. 491. 133 Vgl. a. a. O., S. 526 f.: „Unter kirchengeschichtlichem Aspekt ist zu resümieren, daß Herzog Ernst bei aller Betonung des Propriums lutherischer Lehre vor allem von Johann Arndt und der auf alttestamentliche Prophetentexte zurückgreifenden protestantischen Bußruftradition beeinflußt war. Als Befürworter einer fürstlich gelenkten Kirche rezipierte er zudem diesen Aspekt philippistischer bzw. humanistischer Tradition sowie Calixitinischer Theologie. Das Konzept einer ‚Reformation des Lebens‘ implizierte weiterhin nicht nur ein Anknüpfen an die Reformation, sondern auch eine Affinität zu den Proprien reformierter Konfessionsbildung und zu chiliastischen Weltentwürfen.“ 134 A. a. O., S. 468. 135 Vgl. a. a. O., S. 528: „Es bleibt die nur im Zusammenhang mit vergleichbaren Studien beantwortbare Frage, ob die hier herausgestellten Grundzüge auch andernorts von zentraler Bedeutung waren und ob sie lutherische Konfessionskultur bis hin zur vorausgesetzten Übereinstimmung christlicher und gesellschaftlicher Normen nicht bis heute in hohem Maße prägen. Dann wäre allerdings auch zu fragen, an welcher Stelle die zentralen Erfahrungen der Wittenberger Reformation, die in Form von Bekenntnissätzen zum Fundament lutherischer Kirche wurden, überhaupt zum Tragen gekommen sind.“ 136 A. a. O., S. 528.
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Albrecht-Birkner hat ihre Arbeit über Herzog Ernsts Reformen und den Anteil Glassius’ daran verfaßt, bevor die ersten Arbeiten zu den Glaß’schen Beiträgen zur Geschichte der Hermeneutik erschienen sind. Sie selbst hat insbesondere die hermeneutischen und die homiletischen Werke des Thüringers nicht inhaltlich gesichtet. Schon der Überblick über die bislang vorliegenden Untersuchungen dieser Bereiche seiner Autorschaft zeigt jedoch, daß für Glassius die starke Orientierung am Alten Testament und die von Albrecht-Birkner aufgrund ihrer Fokussierung auf rechtliche und paränetisch-volkspädagogische Texte aus der Feder des Gothaer Superintendenten wahrgenommene unreformatorische Gesetzlichkeit nicht einfach miteinander verrechnet werden können. Insofern kann eine Untersuchung der hermeneutischen, exegetischen und homiletischen Arbeiten Glassius’ auch einen Beitrag zur Ergänzung des bei Albrecht-Birkner gezeichneten Glassiusbildes leisten.
1.3 S chrifthermeneutik zwischen Erbauungstheologie und akademischer Theologie Michael Walther unterteilt die literarischen Werke Glassius’ in seiner Oratio parentalis in sechs Gruppen: „Biblica, Philologica, Exegetica, Homilitica [sic!], Polemica, Practica“.137 Unter der Rubrik Biblica nennt der Zeitgenosse von Glassius das Ernestinische Bibelwerk und würdigt die Rolle des Gothaer Superintendenten bei dessen Entstehung, die es plausibel erscheinen läßt, es in die Liste seiner Werke aufzunehmen.138 Unter Philologica summiert Walther die fünf in die Philologia sacra eingegangenen Bände, die zunächst separat erschienen waren.139 Zu den Exegetica zählt der Celler Superintendent Glassius’ im akademischen Kontext entstandene Werke, so seine Onomatologia Messiae Prophetica, die Auslegung des 110. Psalms in der Christologia Davidica und die Auslegung von Teilen der biblischen Urgeschichte, insbesondere des Protevangeliums, in der Christologia Mosaica.140 Im letztgenannten Werk, so Walther, gehe es um eine Sichtung der Worte, Aussagen und Typen („Verba, Dicta & Typi“), mit denen in der „Historia antediluviana“ Jesus Christus, der Sohn Gottes, prädiziert worden
137 Walther, Threnologia, in: Glassius, Opuscula, S. 40, mit der Aufschlüsselung a. a. O., S. 40– 45. 138 A. a. O., S. 40–42. 139 A. a. O., S. 42. 140 Vgl. a. a. O., S. 43.
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sei, in exegetischer, dogmatisch-überführender und praktisch-theologischer Ausrichtung („exegeticè, elenchticè, & practicè“).141 Daran, daß die Homiletica in Glassius’ Werk den Schwerpunkt darstellen, läßt Walther keinen Zweifel, wenn er schreibt: „Homilitica Scripta numerô & copià vincunt superántqve alia qvaevis.“142 Dazu gehören die vierteilige Evangelienund Epistelpostille auf die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres ebenso wie die ebenfalls weitgehend am Kirchenjahr orientierte vierbändige prophetische Spruchpostille. Schon Walther legt Wert auf die Beobachtung, daß Glassius auch in den Postillenwerken detaillierte Exegese des Literalsinnes, Textmeditation, Praxisbezug bis hin zur dogmatischen Widerlegung anderslautender Lehren miteinander verbindet. Insbesondere die Spruchpostille diene der applicatio der Schrift auf die Erbauung von Glauben und Leben.143 Walther zählt darüber hinaus zu dieser Rubrik der deutschsprachigen homiletischen Schriften neben der monographischen Auslegung des 80. Psalms auch alle kleineren, den einzelnen Bänden der Spruch-Postille beigegebenen Arbeiten des Thüringers, darunter jeweils mehrere Predigten über Jes 53, über Ez 33 und über Philipp Nicolais „Wie schön leuchtet der Morgenstern“,144 sowie schließlich wiederum drei große monographische Schriften. Dabei handelt es sich um die von Walther als schöne Exposition der nach Joh 3,16 in der Sendung des Sohnes offenbaren Gottesliebe bezeichnete Schrift Arbor vitae sowie um die beiden posthum erschienenen Betrachtungen großer Teile des Pentateuchs sowie des Psalters.145 Walther erwähnt hier nicht, daß auch Arbor vitae aus – in diesem Fall aus der Sondershauser Zeit stammenden – Glassiuspredigten erwachsen ist. Gleichwohl erweist die Hinzufügung dieser frühen Glassius141 Ebd. Unter den Exegetica nennt Walther zuletzt interessanterweise auch die Glaß’schen Disputationen über die Confessio Augustana. Vgl. ebd.: „Annumero illis haut abs re Disputationes super Articulos Augustanae Confessionis in conventu Pastorum habitas.“ 142 Ebd. 143 Vgl. ebd.: „Succenturiantur sanctissimis istis in Vinea DOMINI Laboribus alii Germanicè editi, tam in Enarratione Psalmi octogesimi, quàm in Postillis Propheticis, qvatuor Tomis inclusis, qvibus praecipua ex Esaia aliísqve Prophetis Dicta & Oracula cum solitis Euangeliorum pericopis comparantur, & profundè enarrantur, & ad fidei verae vitaeqve piae & sincerae aedificationem applicantur.“ 144 Vgl. a. a. O., S. 43 f.: „Sub finem primi Tomi expositum qvoqve est totum Caput Esaiae qvinqvagesimum tertium qvatuordecim, & trigesimum tertium Ezechielis decem Concionibus. Sub finem secundi Tomi viginti & unà Meditationibus explanatur Caput primum Johannis, Cantio Philippi Nicolai & Psalmus vigesimus septimus.“ Weitere Beigaben in den anderen Bänden sind Katechetische Lehrpredigten sowie ein Traktat über die Anfechtungen (vgl. a. a. O., S. 44). 145 Vgl. a. a. O., S. 44: „Homiliis hisce accensetur Arbor Vitae, qvae pulchrè enodat istud Salvatoris aureolum: Sic Deus dilexit mundum Joh. III. 16. Restant adhuc & alia scripta, inter qvae eminent Selecta Scripturae divinae Mosaicae, qvae propediem praelum eluctabuntur, & Selecta Scripturae divinae Davidicae, luci & usurae publicae qvàm proximè etiam communicanda.“
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Schrift ebenso wie der spät entstandenen Selecta Mosaicae und Selecta Davidicae, daß Walther hier einen weitgefaßten Begriff der Homiletik zugrundelegt. Homiletisch sind demnach über die Postillenwerke hinaus auch die auf Glaubenserbauung zielenden deutschsprachigen Betrachtungen biblischer Motive (so im Falle des Lebensbaums) bzw. biblischer Bücher. Unter den der Zahl nach deutlich geringer ausfallenden Polemica nennt Walther die allerdings unveröffentlicht gebliebenen Dissertationes gegen die Stifelisten sowie die aus Walthers Sicht äußerst gewichtige, gegen das päpstliche Traditionsprinzip gerichtete Grundlegung der lutherischen Schriftlehre Christlicher Glaubens=Grund.146 Unter den Practica, die Walther als letzte Schriftengruppe vor einem abschließenden Hinweis auf die akademischen Orationes des Thüringers nennt, befindet sich neben den von Albrecht-Birkner ausgewerteten, auf die Kirchenreform ausgerichteten Werken auch eine nicht unbedeutende christliche Anfechtungsschule Glassius’.147 Mithin zeichnet sich das Lebenswerk von Salomon Glassius sowohl durch eine enorme Breite als auch durch eine Tiefe und eine entsprechende wirkungsgeschichtliche Relevanz seiner Autorschaft aus. Neuere lexikalische Überblicke über seine Arbeiten sind wiederholt durch Superlative hinsichtlich seiner Hauptwerke geprägt. So liegt nach Steiger mit der Philologia sacra „die bedeutendste bibelhermeneutische Schrift des fnzl. [frühneuzeitlichen] Luthertums“ nach Flacius und Johann Gerhard148 vor, deren Gebrauch sich bis in den Anfang des 19. Jahr-
146 Vgl. ebd.: „Anno 1654 in vernacula per proelum cum aliis communicavit Scriptum maximi momenti, Fundamentum Christianae fidei, seu perspicuam Deductionem, qvòd sola Scriptura Sacra Doctrinae Christianae, adeóqve Fidei & Vitae verum sit Principium, firmum Fundamentum, secura Regula, & infallibilis Norma: Contrà autem falsum, erroneum, & seductorium, qvod in hoc passu à priscis & recentioribus Scriptoribus papanis proponitur de Autoritate Pontificis, Romanae Ecclesiae, item de Traditionibus, Consvetudinibus Ecclesiasticis, Patrum, Conciliorum, &c.“ 147 Vgl. a. a. O., S. 45. Der Titel lautet: Christliche Anfechtungs=Schul. in welcher Von der Natur und Eygenschafft / wie auch mancherley Arten der geistlichen Anfechtungen / aus Gottes Wort / und andern Gottseeligen Lehrrern gehandelt wird. Zugerichtet von SALOMONE GLASSIO der H. Schrifft Doctore, Pfarrern und Superintendenten im Fürstenthumb Gotha. Mit einer Vorrede. Joh. Michael Dilherrn. Nürnberg 1654. 148 Johann Anselm Steiger, Musterartikel: Glassius, Salomon. (URL: https://www.ndl1.germanistik.uni-muenchen.de/forschung/drittmittel/verfasserlexikon17/musterartikel_glassius_vl17. pdf) – Zugriff am 16.03.2019. Der Artikel wird erscheinen im Rahmen des literaturwissenschaftlichen Verfasserlexikons: Frühe Neuzeit in Deutschland 1620–1720 (VL 17). Zur Rezeption in Nordamerika im 19. Jahrhundert vgl. Charles P. Schaum, Albert B. Collver III, Breath of God, yet Work of Man. Scripture, Philosophy, Dialogue, and Conflict, St. Louis 2019, passim, mit dem Zitat S. 195: „This work extends to just about all the exegetical disciplines. […] Virtually no work in this area can surpass it.“ Um so erstaunlicher ist es, daß Glassius in den neueren deutschsprachigen historischen Studien- und Handbüchern zur Hermeneutik keine Berücksichtigung findet. Aus dem
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hunderts nachweisen läßt.149 Voelz bezeichnet den Verfasser der Philologia sacra für dieses Werk als „watershed figure“ in der Geschichte der sprachwissenschaftlichen Untersuchung der Heiligen Schrift.150 Gallus sieht in den diversen Arbeiten von Glassius zum Protevangelium den „Höhepunkt im ‚goldenen Zeitalter‘ der
Bereich der lutherischen Orthodoxie beschränkt man sich im „Studienbuch Hermeneutik“ (Hg.: Susanne Luther, Ruben Zimmermann, Gütersloh 2014) auf die Behandlung der Hermeneutiken von Flacius, Johann Arndt, Johann Gerhard und Dannhauer, im „Handbuch der Bibelhermeneutiken“ (Hg.: Oda Wischmeyer, Berlin/Boston 2016) gar nur auf Flacius. 149 Vgl. Steiger, Glassius (in: VL 17): „Noch Johann Lorenz von Mosheim gegen Mitte des 18. […] sowie Gottlob Wilhelm Meyer zu Beginn des 19. Jh.s […] zollten G.’ Philologia als unvergleichlichem Grundlagenwerk uneingeschränktes Lob, während sich Johann Gottfried Herder von ihm distanzierte […]“; ferner Peter Stemmer, Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus (= Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften 48), Göttingen 1983, S. 44: „G. Henrici hat die ‚Philologia Sacra‘ das ‚hermeneutische Musterbuch der lutherischen Konfession‘ genannt.“ (unter Hinweis auf den Art.: „Hermeneutik“ in 3 RE, S. 718–750, hier S. 735) Stemmer weist darauf hin, daß Glassius mit seinem hermeneutischen Entwurf auch unter vorsichtigen Modifikationen in den Grundzügen in der Hochorthodoxie und im Pietismus bis an die Schwelle der Aufklärungstheologie bestimmend bleibt. Vgl. Weissagung, S. 51 f.: „Die von Glassius vorgenommenen Unterscheidungen und Einteilungen wurden für die orthodoxen Bemühungen um die Auslegekunst maßgeblich. Sie wurden in der Folgezeit nur geringfügig modifiziert. So stießen sich bei den Lutheranern A. Calov und A. Pfeiffer doch an dem Wort vom zweifachen Schriftsinn. Sie pochten auf den einen, nämlich buchstäblichen Schriftsinn und lehrten, daß der mystische Sinn eine ‚accommodatio‘, eine Anwendung des einen literalen Sinnes auf die neutestamentlichen Geschehnisse […] sei – eine ‚accommodatio‘ freilich, die durchaus vom heiligen Geiste, dem Schriftautor, intendiert sei. […] Auch J. J. Rambach übernahm im großen und ganzen die Gliederung und somit das Lehrgebäude Glassius’.“ 150 Vgl. das ausführliche Zitat (James W. Voelz, The Language of the New Testament, in: Wolfgang Haase [Hg.], Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Band 2, Berlin u. a. 1983, S. 893–977, hier S. 897 f.): „In the seventeenth and eighteenth centuries, the problem of the nature of the language of the NT again came to the fore. The watershed figure was Salomon Glassius (+ 1656). In his monumental work, ‚Philologiae sacrae‘ [sic!], he deals, among other things, with the grammar of the Old and New Testaments. Beginning, as is apparent from the very structure of his subsections, with the supposition that the two testaments form a single, unified whole, Glassius analyzes the language of the Scriptures in Books Three and Four, isolating the morphological and syntactical structures which are characteristic of it, and showing their occurrences in both the Old and New Testaments alike. In addition, however, he explains and details the idioms peculiar to the Hebrew and to the Greek languages, and, in so doing, he shows that structures characteristic of OT Hebrew were duplicated in NT Greek. Now, this had a profound effect on those who came after Glassius. Many followed his lead, interpreting the NT against the background of, and in the light of, the Old.“ Zu Georg Benedikt Winers (1789–1858) negativem Urteil, wonach die Philologia sacra „in der Geschichte der N. T. Grammatik nur als ein schwacher Versuch erwähnt werden“ kann, schreibt Voelz (a. a. O., S. 898, Anm. 13): „The judgment of G. B. Winer (Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms […] 6th ed., Leipzig: 1855, 4,5) must not be allowed to stand.“
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Schriftauslegung von Gen 3, 15“ beginnen.151 Die Kurfürstenbibel wiederum, bei deren Entstehung Glassius neben Gerhard die Hauptlast getragen hat, gilt als das „monumentalste Bibelwerk, das das Luthertum je schuf“.152 Ihre sich bis nach Nordamerika erstreckende Wirkungsgeschichte läßt sich noch bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts nachweisen.153 Aus dem von Michael Walther dargebotenen Panorama des Lebenswerkes des Thüringers und in Anknüpfung an die im Forschungsüberblick skizzierten Linien ergibt sich als Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung, am Beispiel von Salomon Glassius einen frühneuzeitlichen Vertreter reformatorischer Schrifthermeneutik so zu erschließen, daß Erbauungstheologie, dogmatische Schriftlehre, hermeneutische Grundlegung, grammatisch-rhetorische Enzyklopädie, Exegese und praktische Homiletik in ihrer Bezogenheit aufeinander ansichtig werden. Für die Auseinandersetzung mit dem Werk eines Theologen des 17. Jahrhunderts ist von größter Bedeutung, daß das von Michael Walther als einem seiner ersten Rezipienten bereits offengelegte theologische Selbstverständnis eines Glassius, wonach akademische und praktische Theologie eine reflektierte und strukturierte Einheit bilden, bei der Darstellung und Beurteilung der jeweiligen theologischen Entwürfe nicht anachronistisch ausgeblendet werden darf. Diesbezügliche Beobachtungen, die Walther bei der Sichtung des theologischen Werkes seines Freundes wiederholt einfließen läßt, decken sich mit dem, was die bisherige Forschung zu Glassius’ über das Kirchenreformwerk im engeren Sinn hinausgehenden Publikationen an punktuellen Einsichten erbracht hat. Von größter Bedeutung ist dabei die Wahrnehmung einer bereits im Amts- und Theologieverständnis des Thüringers reflektierten Kohärenz von Hermeneutik und Homiletik. Voraussetzung beider ist die dogmatische Schriftlehre, die von Glassius wiederholt monographisch behandelt wurde, die aber insbesondere in seinen Vorreden zur Spruchpostille sowie in zahlreichen Diskursen im Rahmen seiner anderen Werke rekapituliert wird. Faszinierend an Glassius’ Werk ist die im Verlauf dieser Arbeit noch darzulegende Entdeckung, daß der Thüringer in seinem – zeitlich etwa parallel zu den ersten „Lieferungen“ der Philologia sacra publizierten – 151 Tibor Gallus, „Der Nachkomme der Frau“ (Gen 3, 15) in der altlutheranischen Schriftauslegung. Zweiter Band. Von den Zeitgenossen Luthers bis zur Aufklärungszeit, Klagenfurt 1973, S. 87. Glassius ist der erste und am umfangreichsten dargestellte altlutherische Schriftausleger, den Gallus hier nennt (der römisch-katholische Exeget gebraucht indessen durchweg die Bezeichnung „altlutheranisch“), gefolgt u. a. von Johann Hülsemann, Michael Walther, Sebastian Schmidt, Gottfried Olearius, Johann Andreas Quenstedt, August Pfeiffer, Johann Heinrich Heidegger. 152 Steiger, Glassius (VL 17). 153 Vgl. Wenz, Biblische Hermeneutik, S. 30 f., 48–50. In St. Louis wurde die 1877 nach langer Zeit wiederaufgelegte, mit der 14. Auflage von 1768 identische, Neuausgabe zuletzt 1911 nachgedruckt (vgl. a. a. O., S. 30, Anm. 12).
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erbauungstheologischen Werk Arbor vitae seine theologische Methodik vor den Augen seiner Leser aus einem eng dem biblischen Zeugnis sowie mit dem „Baum des Lebens“ einem kanonisch bezeugten Zentralbild folgenden soteriologischen Entwurf erwachsen läßt. Aus diesem Grund liegt es nahe, der sich aus der logischen Abfolge der theologischen Arbeitsschritte von der dogmatischen Schriftlehre über die Hermeneutik und Exegese hin zur Homiletik aufdrängenden Strukturierung dieser Arbeit einen erbauungstheologischen Prolog vorauszuschicken. Zumal auf diese Weise deutlich wird, daß sich auch die dogmatische Schriftlehre dem gesamtbiblischen Selbstzeugnis der Schrift verdankt. Bereits die Beobachtung, daß Glassius seine theologische Methodik in einem in deutscher Sprache verfaßten Buch unter dem Titel Arbor vitae darzulegen in der Lage ist, zeigt darüber hinaus, daß die Frage nach der Rolle der Figürlichkeit in der Theologie für den Thüringer keine Randfrage ist, sondern mitten ins Zentrum seiner Theologie zielt. Das betrifft insbesondere die Wahrnehmung einer in einem komplexen Sinne nicht nur heilsgeschichtlich, sondern auch sprach- und motivgeschichtlich begründeten Einheit des biblischen Kanons Alten und Neuen Testaments. Denn die Figürlichkeit der Gottesoffenbarung im Sinne einer Rhetorica sacra stellt für Glassius in, mit und unter der Klarheit und Eindeutigkeit ihrer Botschaft, wie sie Gegenstand der Grammatica sacra ist, einen zentralen Aspekt der testamentarischen Selbstfestlegung des dreieinigen Gottes in der Heiligen Schrift dar. Dabei knüpft der Thüringer, wie bereits der Forschungsüberblick hier und da zeigte, nicht nur an reformatorische Traditionen bei Luther und Melanchthon an, sondern bezieht sich auch kritisch sichtend auf die bis in die Antike zurückreichende biblische Auslegungsgeschichte christlicher wie jüdischer Herkunft.154 Eine Beschäftigung mit Glassius’ Bibelhermeneutik erscheint in diesem Zusammenhang vor allem deshalb lohnend, weil in seinem Lebenswerk erbauungstheologisch-soteriologische Zielsetzung, dogmatische Grundlegung, hermeneutische Methodik, biblische Exegese und homiletische Applikation jeweils in einer großen Breite und inhaltlichen Dichte dargelegt sind. Dabei bietet der Thüringer in seinen Schriften unzählige Male Querverweise auf die jeweils anderen Werke, so daß ihm offensichtlich um große Kohärenz seines Werkes zu tun ist. Der Forschungsüberblick zeigt, daß erste Schneisen in die wissenschaftliche Beschäftigung mit Glassius’ theologischem Werk etwa hinsichtlich des erbauungstheolo154 Vgl. zu Glassius’ Zugang zur jüdisch-rabbinischen Auslegungsgeschichte: Johann Anselm Steiger, Die Rezeption der rabbinischen Tradition im Luthertum (Johann Gerhard, Salomo Glassius u. a.) und im Theologiestudium des 17. Jahrhunderts. Mit einer Edition des universitären Studienplanes von Glassius und einer Bibliographie der von ihm konzipierten Studentenbibliothek, in: Christiane Caemmerer u. a. (Hg.), Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–01.10.1997, Amsterdam/Atlanta, GA 2000 (Chloe 33), S. 191–252.
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gischen Ansatzes in Arbor vitae durch Ernst Koch und hinsichtlich des hermeneutischen Ansatzes in der Philologia sacra insbesondere durch Lutz Danneberg und Torbjörn Johansson geschlagen sind. Exemplarisch gesichtet wurden die dogmatische Schriftlehre aus der Vorrede der Kurfürstenbibel sowie einige Predigten aus der Spruchpostille durch Johann Steiger. Mithin sind die erbauungstheologischen und homiletischen und ein Teil der dogmatischen Werke bisher überblicks- oder ausschnittweise in den Blick genommen worden. Eine in dieser Arbeit anvisierte vollständige Sichtung der jeweiligen Werke steht daher bislang ebenso noch aus wie die Sichtung der exegetischen Werke, die im Zusammenhang von Glassius’ Jenaer Lehramt entstanden sind. Wiederholt hingewiesen wird in der Forschung auf die in der Philologia sacra von Glassius entwickelte Unterscheidung und Zuordnung von sensus literalis und sensus mysticus. Dieser Aspekt stellt auch für die vorliegende Arbeit eine Schlüsselfrage dar. Ebenfalls noch ausstehend ist die Untersuchung der mit dieser Unterscheidung eng verknüpften enzyklopädischen Erschließung der in der Heiligen Schrift vorfindlichen grammatischen und rhetorischen Figuren in Gestalt der Grammatica sacra und der Rhetorica sacra durch den Thüringer Gelehrten. Hierauf bezieht sich Glassius sowohl in seinen im akademischen Kontext verfaßten exegetischen Schriften als auch insbesondere in seinen Predigten zu alttestamentlichen Texten in der prophetischen Spruchpostille immer wieder zurück. Diese werden daher ebenso wie Glassius’ Kommentierungen insbesondere zum Hohelied als Anwendungsfeld der in der Philologia sacra entfalteten Unterscheidung von sensus literalis und sensus mysticus sowie des dort gesammelten grammatischen und rhetorischen Bildmaterials ansichtig. Bezüglich der homiletischen Werke des Thüringers beschränkt sich die vorliegende Arbeit aufgrund der Fokussierung auf die Frage nach der Figürlichkeit insbesondere des Alten Testaments auf die prophetische Spruchpostille. Hierauf liegen auch dem Umfang nach ein Schwerpunkt und der Zielpunkt der hier dargebotenen Untersuchung. In diesem Teil wurde eine Sichtung ausgewählter Postillenwerke aus dem 16. und 17. Jahrhundert vor allem reformierter,155 aber auch römisch-katholischer156 Herkunft um der interkonfessionellen Komparatistik willen mit einbezogen. Der Abgleich mit im Umkreis von Glassius entstandenen Postillen, die zum Teil schon dem Titel nach figürliche Schriftauslegungen erwarten lassen (vor allem von Johann Gerhard und Michael Walther), sowie von im lutherischen Raum beliebten, für den homiletischen
155 Caspar Hedio (1494–1552), Johann Philipp Mylaeus (um 1600), Abraham Scultetus (1566– 1624), Georg Spindler (ca. 1525–ca. 1605) und Wilhelm Zepper (1550–1607). 156 Michael Helding (1506–1561) und Thomas Stapleton (1535–1598).
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Gebrauch bestimmten allegorischen,157 naturkundlichen158 und emblematischen159 Exempelsammlungen zeigt zudem, daß und wie die von Glassius geübte figürliche Schriftauslegung mit den in ihr aufgenommenen Motiven variiert werden konnte. Diese Schwerpunktsetzung erfährt eine Rechtfertigung durch die verdienstvolle Überblicksdarstellung des nordamerikanischen Gelehrten John M. Frymire: „The Primacy of the Postils“, durch welche das immens große Feld der weithin unerforschten frühneuzeitlichen Postillenliteratur vor Augen geführt wird. Frymire deutet zudem deren Relevanz an, wenn er schreibt: „Postils were nothing less than the applied distillation of Christianity delivered on a regular basis by the clergy to the laity.“160 Ahnlich formuliert Maria Marten in ihrer Untersuchung über lutherische Pflanzenpredigten: „Der Gattung der Predigtliteratur kommt im 16. und 17. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung zu, denn gedruckte Predigten machen den größten Teil des frühneuzeitlichen Schrifttums aus.“161 Zwar habe die Gattung „in neuerer Zeit zunehmend Aufmerksamkeit gefunden“,162 gleichwohl hält die Germanistin fest: „Vermutlich gerade weil uns viele gedruckte Predigten aus dem 16. und dem 17. Jahrhundert erhalten sind, fehlt eine Geschichte der Predigt, die das umfangreiche Material ordnet und ein paar leitende Gesichtspunkte vorschlägt.“163 Martens Arbeit stellt aufgrund ihrer Fokussierung auf den Aspekt der Allegorese am Beispiel der theologischen Rezeption botanischer Figuren, die ihren Ursprung in und außerhalb der Heiligen Schrift haben, einen wichtigen Bezugspunkt zur
157 Johannes Cogeler (1525–1605), Johann Stieffler (1634–1700) und Kaspar Titius (1570–1648). 158 Hier sind zu nennen die Werke von Hermann H. Frey (1549–1599), Johannes Möller und die verbreitete Historia animalium von Wolfgang Franz. 159 Die diesbezüglich rezipierten Autoren sind Wolffgang Helmhard von Hohberg (1612–1688), Konrad Rosbach (ca. 1535–?) und Sigmund von Birken (1626–1681). 160 Frymire, Primacy, S. 443. Glassius’ Postillenwerke listet Frymire a. a. O., S. 519 f. auf. Frymire weist auch auf die Postillenwerke von Michael Walther hin (a. a. O., S. 520 f.), der auf ähnlichen Pfaden wandelte wie Glassius. Während der Thüringer den Sonntagen Prophetentexte zuordnete, schrieb der Celler Superintendent eine Postilla Mosaica, „an 834-leaf quarto covering the entire year in which select Pentateuch passages are reflected against the pericopes (Nuremberg, 1644 […]). He produced a similar postil shortly thereafter, the Postilla prophetica, in which the sayings of the major Old Testament prophets were subjected to the same kind of analysis (Nuremberg, 1646 […]). In a move that was – so far as I can see – very much original for the time, he also authored a postil in which all of the creatures – earthy and supernatural – mentioned in the pericopes were the focus of weekly and festival preaching; the work is a combination of seventeenth-century biblical and scientific commentary: Postilla mysticophysica […] (Nuremberg, 1651 […]).“ (a. a. O., S. 521) 161 Marten, Buchstabe, S. 11. 162 Ebd. 163 A. a. O., S. 14.
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hier vorliegenden Untersuchung dar, da auch in Glassius’ homiletischem Werk die Pflanzenallegorese eine zentrale Rolle spielt. Albrecht Beutel moniert als „neuralgischen Punkt“ in der heutigen Forschungslandschaft, statt „einer induktiven Analyse des überkommenen Predigtbestandes“ habe „sich die Rekonstruktion der Predigtgeschichte weithin auf die deduktive Übernahme von Leitmotiven aus der dogmatischen und homiletischen Theoriebildung beschränkt“, was zur pauschalisierenden „Verurteilung der altprotestantischen Predigt als intellektualistisch, formalistisch und polemisch“ geführt habe.164 Auch von daher legitimiert sich die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit, nicht nur die hermeneutisch-literarische Theoriebildung, sondern mit der Leitfrage der figürlichen Auslegung vor allem des Alten Testaments die vierbändige prophetische Spruchpostille von Glassius systematisch-induktiv zu erschließen. Das gilt erst recht angesichts der Wahrnehmung, daß Glassius ein wichtiges Kriterium erfüllt, das ihn als Gegenstand der Erforschung des Prozesses „einer funktionalen Differenzierung von Katheder und Kanzel, von Wissenschaft und Frömmigkeit, von Lehre und Leben“165 besonders attraktiv macht. Denn ähnlich wie der von Beutel untersuchte Tübinger Theologe Tobias Wagner hatte Glassius – wenn auch nicht gleichzeitig, aber in der Abfolge der Stationen seiner Karriere sogar noch wechselvoller als jener – akademische und kirchliche Führungsämter gleichermaßen bekleidet. Glassius’ Philologia sacra gilt – insbesondere wegen seiner Verteidigung einer frühen Datierung der hebräischen Vokalisation, die er im ersten Buch dieses fünfbändigen Werkes breit begründet – bisweilen als vorwissenschaftlich.166 Indessen 164 Albrecht Beutel, Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Dargestellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universitätskanzlers Tobias Wagner (1598–1680), in: ders., Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, S. 161– 191, hier S. 166 mit dem Zusatz ebd.: „Als zentrales Forschungsprojekt wäre darum eine induktiv verfahrende historisch-systematische Erschließung der lutherisch-orthodoxen Predigt sowie die Anerkenntnis dieses weithin konkurrenzlosen Popularisierungsmediums als einer eigenständigen theologisch-literarischen Gattung zu wünschen.“ 165 A. a. O., S. 166, mit der Fortsetzung a. a. O., S. 166 f.: „Das Beispiel von Theologen, die zugleich ein akademisches und ein kirchliches Amt bekleideten und also das Evangelium in Theorie und Praxis zu vertreten hatten, ist dafür besonders instruktiv.“ 166 Zur Sache und zur Tradition, der Glassius sich in diesem Punkt anschließt, vgl. Steiger, Philologia, S. 132–144 („Critica Sacra“), hier S. 143 f.: „Rambach favorisiert ebenfalls die These, Esra habe die heute gebräuchlichen Vokalzeichen erfunden und, vom Geiste Gottes erleuchtet, dem Alten Testament seine Punktierung verliehen. Das sei ‚die gemeineste Meynung der Jüden‘, die auch von Reuchlin, Flacius, Gerhard, Glassius, Cocceius, Buxtorf, Hottinger, Lightfoot u. a. vertreten worden sei. […] Rambach läßt es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, daß die orthodoxe Sicht der Dinge – anders als diejenige der critici – mit derjenigen der Mehrheit der Rabbinen übereinstimmt.“ Der erste bedeutende lutherische Hermeneutiker, der die Spätdatierung der Punktati-
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wäre es kurzsichtig, ließe man sich von diesem aus heutiger Warte nicht haltbaren und damals bereits angefochtenen „Stand der Forschung“ des 17. Jahrhunderts davon abhalten, sich auch über das rein theologiegeschichtliche Interesse hinaus bei Glassius auf die Suche nach Einsichten zu machen, die manche ebenfalls zeitbedingte Engführung moderner oder postmoderner Hermeneutik, Exegese und Predigtarbeit hinterfragen, ergänzen und womöglich korrigieren könnten.167 Dies gilt um so mehr, wenn man bedenkt, daß Johann Georg Hamann in seiner sprachtheoretisch fundamentalen Metakritik der Hermeneutik der deutschen Aufklärung insbesondere die etwa bei Semler oder, wie bereits von Danneberg markiert, bei Leibniz vorliegenden Verschiebungen im Akkommodationsbegriff einer Korrektur unterzieht und dabei an die Hermeneutik der lutherischen Orthodoxie wieder anknüpft und diese fruchtbar macht.168 Insofern zielt die vorliegende on für möglich ansieht, ist Johann Conrad Dannhauer. Dieser hält daran fest, die ganze Schrift sei inspiriert, selbst wenn die Punkte formaliter fehlen sollten, da sie virtualiter vorhanden waren, so wie in den lateinischen Abkürzungen INRI, SPQR, IUD deren Auflösung virtualiter enthalten ist. Auch wenn die Punktation neueren Datums ist, gilt sie ihm als vertrauenswürdig wegen der Zuverlässigkeit der jüdischen Tradenten und der göttlichen Providenz (vgl. Hermeneutica Sacra sive Methodus exponendarum S. Literarum proposita & vindicata. Straßburg 1654, S. 15–18). Zu Luthers Sicht, der von einer späten Hinzufügung der masoretischen Punkte ausging und darin für die Schriftauslegung keinen Nachteil erkannte, vgl. Danneberg, Grammatica, S. 67 mit Anm. 307. 167 Vgl. Steiger, Glassius’ Hermeneutik, S. 406: „In diesem Sinne wäre neben der Herausarbeitung der historischen Kontingenz der Hermeneutik Glassius’, die unschwer und rasch zu konstatieren ist, verstärkt danach zu fragen, welche letztlich unveräußerlichen biblisch-theologischen Grundeinsichten in eben dieser aufbewahrt sind, deren Wiederentdeckung lohnenswert ist – in dem Bewusstsein, dass der vielbeschriebene Fortschritt der wissenschaftlichen Hermeneutik seit Schleiermacher und Dilthey durch herbe Verluste erkauft worden ist, was bis zum heutigen Tage nachwirkt. Einer dieser Verluste ist gewiss darin zu sehen, dass Theologie und Predigt seit der Aufklärung eines nie wieder erreicht haben: nämlich das hohe Maß an Bildsprachlichkeit und Bildhaftigkeit, in der erfahrbar wird, dass Gottes Redegestus stets bildlich ist, weil sein Wort, mithin Christus, der Logos, selbst ein Bild ist – ‚imago Dei essentialis‘.“ 168 Vgl. Johann Anselm Steiger, Bibel-Sprache, Welt und Jüngster Tag bei Johann Peter Hebel. Erziehung zum Glauben zwischen Überlieferung und Aufklärung (= APT 25), Göttingen 1994, S. 98– 111, hier S. 100: „Richtig ist, daß Hamanns Schriftlehre der exinanitio fundamental unterschieden ist von der Akkommodationslehre eines Johann Salomo Semler. Nach Semler ist die Akkommodation eine Anbequemung Gottes an gewisse zeitbedingte mythologische Vorstellungen, die bei höherer rationaler Einsicht des Menschen überflüssig werden und ausgeschieden werden müssen. Gott duldet also eine uneigentliche Redeweise, an die er sich vorübergehend anpaßt. Für Hamann dagegen ist die ‚Niedrigkeit der Schrift nicht ein Zugeständnis an einen niederen Bildungsgrad vergangener Geschlechter, sondern immer Gottes eigene, von ihm voll intendierte Redeweise‘. Implizit spiegelt sich hier aber darüber hinaus ein besonderer Akzent der Hamannschen Christologie, die der Martin Luthers entspricht. Der status exinanitionis ist nicht eine mit der Erhöhung Christi vergangene historische Zeitspanne, sondern Christus ist auch sitzend zur Rechten Gottes noch in der Entäußerung, was sich im genus humile dicendi Gottes spiegelt.“
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Einleitung
Untersuchung nicht nur auf eine theologiegeschichtlich zu würdigende Wahrnehmung des hermeneutischen Ansatzes eines lutherischen Barocktheologen, sondern erfolgt mit der Absicht, damit auch einen Beitrag für eine historisch aufgeklärte zeitgenössische Hermeneutik und einen theologisch und kirchlich verantworteten Umgang mit der Heiligen Schrift, insbesondere mit dem Alten Testament, zu leisten.
2 T heologie als „heilige Philologie“ – Erbauungstheologischer Prolog 2.1 Figürliche Schriftauslegung als Erbauungsliteratur Programmatisch begegnet die figürliche Auslegung der Heiligen Schrift bei Salomon Glassius in seinem erbauungstheologischen Frühwerk Arbor vitae aus dem Jahr 1629.1 Bereits im Ensemble von Titelblatt mit seinen zwei angefügten Lutherzitaten, Widmungsvorrede und Vorrede „an den christlichen Leser“ entwickelt Glassius ein komplexes rhetorisch-hermeneutisches Verweisungsgefüge. Der lateinische Titel Arbor vitae ruft den durch Gen 2,9 mit 3,22 und Offb 2,7 mit 22,2 abgesteckten protologisch-eschatologischen Rahmen des Bibelkanons auf. Der in diesen Zusammenhängen jeweils zentrale „Baum des Lebens“ wird sodann mit dem aus „göttlicher Schrifft durch die Gnade des heiligen Geistes“ vorgestellten „JEsus CHristus“ identifiziert, wodurch dieser implizit schon hier als Skopus sowohl der Schrift selbst als auch des von Glassius dargebotenen Buches zu stehen kommt. An einer Zuordnung seiner Schrift zur auf eine tröstende und erbauende Wirkung ausgerichteten literarischen Gattung der Meditationsliteratur läßt Glassius sodann keinen Zweifel. Dabei nimmt auch diese Zielbestimmung „zu tröstlicher Betrachtung / vnnd noehtiger Lebenserbawung“ wesentliche Sachverhalte des biblischen Selbstzeugnisses über Wort und Lehre Heiliger Schrift auf, welche auch andernorts in Glassius’ Werk in schrifthermeneutischen Diskursen wiederholt explizit besprochen werden.2 Als biblisches Motto zitiert Glassius im Titelblatt nach Nennung seines Namens und seiner kirchlichen Ämter mit Offb 2,7 ein dem oben bereits erwähnten Rahmen des biblischen Kanons entstammendes Wort der Verheißung, mit dem sich der Autor in dem Sinne identifiziert, daß durch das Schreiben und Lesen seines „Lebensbaumes“ eben solches Überwinden statthat, dem im Bibelwort der Genuß lebensstiftender, paradiesischer Früchte in Aussicht gestellt ist.3
1 Arbor vitae, Der Baum des Lebens / JEsus CHristus / Aus göttlicher Schrifft durch die Gnade des heiligen Geistes vorgestellet / Vnd Zu tröstlicher Betrachtung / vnnd nöthiger Lebenserbawung, Jena 1629 (= AV). 2 Vgl. z. B. Röm 15,4, 2Tim 3,16. 3 Die Stelle lautet in der von Glassius zitierten Fassung: Wer vberwindet / dem wil ich zu essen geben von dem Holtz des Lebens / das im Paradiß Gottes ist. (AV, fol. a) https://doi.org/10.1515/9783110650556-002
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Theologie als „heilige Philologie“ – Erbauungstheologischer Prolog
Mit den beiden lateinischen Zitaten aus der Jenaer Luther-Ausgabe4 auf der Rückseite des Titelblattes stellt Glassius den Anschluß her an ihm offensichtlich repräsentativ erscheinende Äußerungen Luthers zum figürlichen Charakter der Heiligen Schrift und nimmt so zugleich die Autorität des Reformators für sein Buchprojekt in Anspruch. Die Texte seien hier aufgrund ihrer inhaltlichen Bedeutung und um des Textvergleichs mit den Quellen bei Luther willen im Wortlaut wiedergegeben: B. Lutherus Tom. 3. Jen. Lat. f. 456.b. Theologia nusquam discitur, nisi in puero Jesu in cunis posito, cum illo paulatim adolescendum est, donec crescamus in viros perfectos & c. 5 His lacteis cogitationibus oportet Christianum crescere; majestatis autem cogitationes praecipitant infirmos animos. 6 Idem Tom. 2. f. 414.a. Nescio, quae sit figurarum (in Scripturis sanctis) energia, ut tàm potenter intrent & afficiant, ità ut omnis homo naturâ & audire & loqui gestiat figuratè. 7
Bei der ersten Textstelle handelt es sich um zwei bei Luther nicht unmittelbar aufeinanderfolgende, aber in großer Nähe zueinander zu lesende Sätze aus
4 Zu dieser vgl. Johannes Schilling, Art. Lutherausgaben, in: TRE 21, S. 594–599, hier S. 595 f. 5 Vgl. WA 25,394,2–3: „Theologia autem nusquam discitur nisi in puero Iesu in cunis posito, cum illo paulatim adolescendum est, donec crescamus in viros perfectos.“ Walch bietet folgende Übersetzung (W2 VI, Sp. 838): „Die Theologie aber wird sonst nirgends gelehrt, als bei JEsu, dem Kinde, das in der Wiege liegt; mit demselben muß man allmälig aufwachsen, bis wir vollkommene Männer werden […].“ 6 Vgl. im Zusammenhang WA 25,393,35–38: „Non enim tutior est via, sicut saepe dixi, ad omnes scopulos haereticorum evitandos quam manere in Christo incarnato et in cunas posito. His lacteis cogitationibus oportet Christianum crescere. Maiestatis autem cogitationes praecipitant infirmos animos.“ Es handelt sich um Zitate aus Luthers Vorlesung über Jesaja aus den Jahren 1527– 1529 in der 1534 herausgegebenen längeren Fassung. Das von Glassius zuerst genannte Zitat fehlt in der früheren Fassung aus dem Jahr 1532 (vgl. WA 25,393 und die einleitenden Ausführungen zu den Ausgaben von 1532 und 1534 in WA 25,80–83). Walch bietet in deutscher Übersetzung die ausführlichere Variante, W2 VI, Sp. 837: „Denn es ist kein sichererer Weg, wie ich oft gesagt habe, wenn man alle gefährlichen Klippen vermeiden will, an welchen die Ketzer Schiffbruch gelitten haben, als wenn man bei Christo bleibt, der Mensch geworden ist, und in der Wiege liegt. Durch diese Gedanken muß ein Christ, gleichsam als durch Milchspeise, wachsen und zunehmen. Die Gedanken aber von der göttlichen Majestät stürzen die schwachen Seelen in einen Abgrund.“ 7 WA 8,84,24 f.: „Nescio enim, quae sit figurarum energia, ut tam potenter intrent et afficiant, ita ut omnis homo natura et audire et loqui gestiat figurate.“ (Rationis Latomianae confutatio, 1521) Vgl. LDStA 2, S. 289: „Denn ich weiß nicht, was für eine Kraft es ist, die in den Sprachbildern liegt, dass sie so mächtig eindringen und bewegen, so dass jeder Mensch von Natur lebhaft wünscht, bildlich zu hören und zu reden.“
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seiner Jesaja-Vorlesung aus den Jahren 1527–1529. Unübersehbar ist der in Luthers Hinweis auf die Krippe Christi vorliegende inkarnationstheologische Bezug, der jenes berühmtere Lutherzitat aus seinen Bibelvorreden in Erinnerung ruft, in dem der Reformator das Alte Testament preist mit den Worten: „Hie wirstu die windeln vnd die krippen finden, da Christus ynnen ligt, dahyn auch der engel die hirtten weysset, Schlechte vnd geringe windel sind es, aber theur ist der schatz Christus, der drynnen ligt.“8 Glassius hat die beiden Zitatfragmente so umgestellt, daß der Hinweis auf die Krippe Christi seine eigene Grundaussage über die Theologie eröffnet. Das Treiben der Theologie wird so unter deutlicher Anspielung auf Eph 4,13 als ein Mitwachsen mit dem in der Krippe als Kind erschienenen Erlöser hin „zum vollkommenen Mannesalter“ beschrieben. Wie das Kind in der Krippe Milch zum Wachsen braucht, so braucht der in der Gemeinschaft Christi heranwachsende Christ „Gedankenmilch“, worin wiederum eine Anspielung auf Stellen wie 1Petr 2,2 und Hebr 5,12 f. zu sehen ist. Daß es sich bei dieser Gedankenmilch tatsächlich um die in der Schrift als Krippe Christi zu findende, einem Christenmenschen bekömmliche und zum Wachstum nützliche Lehre handelt, wird durch den kontrastierenden Vergleich deutlich, den Glassius hier zieht. Denn die unverhüllt direkte – auch gedankliche bzw. spekulative – Konfrontation mit der göttlichen Majestät würde die Seelen, die schwach sind, da sie noch wachsen und zur direkten Schau Gottes noch nicht bereit sind, ins Verderben stürzen. Dies entspricht dem theologischen Duktus des hier von Luther ausgelegten Verses Jes 66,1, wonach die Distanz zwischen Gott und Mensch vom Menschen aus unüberbrückbar ist. Wiederholt weist Glassius in den erkenntnistheoretischen Teilen seiner Schriften darauf hin, daß Gott aus zwei Gründen von Natur aus für den Menschen verborgen und nicht erkennbar ist, zum einen „wegen der unerforschlichen Majestät Gottes“, zum andern wegen „des grewlich verderbten und elenden Zustandes der Menschlichen Natur“.9
8 WA.DB 8,12,5–8 (Vorrede zum Alten Testament, 1523). 9 Christlicher Glaubens=Grund, Das ist / Deutliche Ausführung / daß allein die H. Schrifft der Christlichen Lehr / Glaubens und Lebens / waares principium, vester Grund / sichere Regel / und unbetriegliche Richtschnur; Hingegen aber / was dißfals von des Papsts und desselben Kirchen autorität / item von traditionen / Kirchenbräuchen / Vätern / Concilien etc. von alten und neuen Päpstischen Scribenten / vorgegeben wird / falsch / irrig und verführerisch sey, Nürnberg 1654 (= GG), S. 2, mit der Fortsetzung a. a. O., S. 3: „So hat nun derentwegen / bey solcher unendlicher Ungleichheit Gottes und der Menschen kein sicherer Grund der Erkäntnuß GOttes und seines Willens (davon gedacht) seyn können / als ein gewisses kündliches und unfehlbares Wort Gottes / der nicht liegen kan / Tit. 1,2.“
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Die zweite Lutherstelle stammt aus dem „Antilatomus“, einem frühen hermeneutischen und rhetorischen10 Schlüsseltext des Reformators. Hier äußert Luther staunend sein Nichtwissen im Sinne eines Nichtermessenkönnens der Wirkkraft der in den Heiligen Schrift vorfindlichen Figuren. Diese Figuren vermögen mit ihrer Kraft nach Luther so mächtig in den Hörer einzudringen und diesen zu affizieren, daß jeder Mensch von Natur aus wünscht, figürlich hören und sprechen zu können. Glassius ruft mit diesem Zitat jene Schrift Luthers auf, in deren weiterem Verlauf der Reformator auf die Analogie zwischen den figürlichen bzw. „übertragenden“ (sic!) Redeweisen (Metaphern), durch welche die in der Sprache bezeichnete Realität lieblich und schön und damit erst erträglich wird, und der auf Christus „übertragenen“ Sünde eingeht, wodurch die Sünde, die für den Menschen außerhalb von Christus verdammlich ist, erträglich wird. Anna Vind paraphrasiert die Aussagen Luthers an dieser Stelle folgendermaßen: „Es sei wichtig, meint Luther, die Trennungslinie zwischen primärer und übertragener Bedeutung genau zu kennen. Glaube man, die übertragenen Bedeutungen seien primäre Bedeutungen, stifte man Verwirrung und sprachliches Chaos. Entferne man aber die übertragenen Bedeutungen, entferne man zugleich einen Teil der Reichweite und Wirkung der Aussagen und die Freude daran. Es wäre, wie wenn man aus dem Paradies auf die Erde versetzt würde, wollte man vorschreiben, dass nur mit Hilfe von primären Bedeutungen geredet werden dürfe.“11 Unmittelbar danach kommt die dänische Lutherforscherin auf das von Glassius aufgenommene Zitat zu sprechen. Mithin kann sich Glassius für seine schon im Titel seines Werkes aufgenommene Paradiesesrhetorik auf den Duktus von Luthers figürlicher Hermeneutik im Antilatomus berufen. Die Analogie liegt dabei darin, daß die in der Sprache bezeichnete Realität durch die Figuren zur lieblichen und schönen Realität wird, womit das soteriologisch zentrale Rechtfertigungsgeschehen der Übertragung der Sünde auf Christus abgebildet werde.12
10 Vgl. zur hohen rhetorischen Relevanz dieses Luthertextes auch das Zitat daraus bei Danneberg, Grammatica, S. 184, Anm. 965: „Iam vero hoc libenter asserimus et gaudemus, scripturas frequentissime uti figuris grammaticis, synecdoche, metalipsi, metaphora, hyperbole, imo in nulla scriptura frequentiores figurae.“ (= WA 8,83,31–33) 11 Vind, „Christus factus est“, S. 98. 12 Zur dem figürlichen Redegestus der Schrift entsprechenden „Übertragung“ der Sünde auf Christus im Rechtfertigungsgeschehen vgl. a. a. O., S. 108: „‚In dieser Übertragung ist nicht nur eine Übertragung der Wörter, sondern auch eine solche der Sachen, in hac translatione non solum est verborum, sed et rerum metaphora. Denn unsere Sünden sind wirklich von uns genommen und auf ihn gelegt, so dass ein jeder, der daran glaubt, wirklich keine Sünde hat. Übertragen auf Christus und in ihm aufgesogen sind die Sünden nicht mehr zur Verdammnis‘ für den, der glaubt. ‚Also wie die figurale Rede süßer und wirksamer als eine simple und einfache ist, so ist die wirkliche
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Liegt daher im ersten Zitat aus der Jesajavorlesung eine inkarnationstheologische Begründung der figürlichen Redeweise in der Schrift vor, so im Antilatomuszitat, bezieht man den gesamten Kontext dieser Lutherschrift mit ein, eine soteriologisch-rechtfertigungstheologische. Beide Begründungen treffen sich darin, daß die figürliche Redeweise der Schrift in ihrer zum einen die göttliche Majestät gnädig verhüllenden und zum anderen die menschliche Sünde und die daraus erwachsende leidvolle irdische Realität bedeckenden bzw. auf Christus „übertragenden“ Funktion Voraussetzung jener tröstlichen Schriftbetrachtung und zum Heil nötigen Lebenserbauung ist, die Glassius als Zielsetzung seines Werkes auf dem Titelblatt genannt hatte. In seiner auf die beiden Lutherzitate folgenden, auf den 1. Januar 1629 datierten Widmungsvorrede an seine damaligen Landesfürsten, die Grafen zu Schwarzburg-Sondershausen,13 erinnert Glassius zunächst an seine in der grafschaftlichen Hofkirche zu Sondershausen gehaltenen Predigten, da sie „das Fundament dieser Meditationen vnd Gedancken“14 bilden, und äußert von daher nun auch für die fertiggestellte Schrift den Wunsch, „daß nemlich E. Gn. Gn. aus GOttes heiligem Wort kräfftiglich getröstet vnnd in der wahren Gottseligkeit gestercket vnd gegründet werden mögen“.15 In Anknüpfung an den Lebensbaum im „Lustgarten“ der Grafen16 spricht Glassius an sie die Einladung aus: „An diesem Bäumlein wollen E. Gn. Gn. mit jhren Gedancken sich erheben zu Betrachtung des rechten himlischen Lebensbaums Christi Jesu / dessen herrliche vnd himlische Krafft / Nutz vnd Wirckung nicht vnbekant / sondern aus dem klaren vnd offenbareten Wort Gottes (jhme sey ewiger Danck / Lob vnd Preiß gesagt) gnugsam bekannt / vnd aus demselben in dieses Büchlein klärlich vnd einfeltig verbracht ist. So ist kein Zweiffel / es werden E. Gn. Gn. nebenst der leiblichen Ergetzung in gedachtem jhren schönen
Sünde für uns lästig und unerträglich, aber übertragen und metaphorisch ist sie höchst willkommen und heilsam‘.“ (unter Hinweis auf WA 8,87,6 f.10–12) 13 Es handelt sich bei „Herrn Anthonio Heinrichen / vnnd Herrn Hans Günthern / Gebrüdern / der Vier Grafen des Reichs / Grafen zu Schwartzburg vnnd Honstein […]“ um Graf Anton Heinrich (1571–1638) und dessen Bruder Graf Johann Günther II. (1577–1631). Die vorige Generation der Grafen von Schwarzburg waren Mitunterzeichner der Konkordienformel (vgl. BSELK 1212,2–4). 14 AV (Widmungsvorrede), fol. a ij. 15 A. a. O., fol. a iij. 16 Vgl. Widmungsvorrede, fol. a iij: „Es ist in E. Gn. Gn. schönen Lustgarten allhier unter anderen Exoticis auch ein Bäumlein / welches Arbor vitae, oder Baum des Lebens von den Botanicis genennet wird / dessen Bletter mit dem Cypressenbam fast vberein kommen / von seiner Krafft aber schreibt D. Jac. Theod. Tabernaemontanus in seinem Kräuterbuch also: Worzu er (dieser Baum) zu gebrauchen / ist noch vnbekandt.“ Darin könnte durchaus eine Anspielung auf Paulus’ Rede vom „unbekannten Gott“ in Apg 17,23 stecken! Glassius selber jedenfalls nimmt den Baum im Lustgarten für seine geistlichen Zwecke in Gebrauch.
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Garten / auch / vnd fürnemlich zu geistlicher Delectation vnd Seelenerquickung in jhren Hertzen nützlich angeleitet werden.“17 Diese zu einer eigenständigen erbauungstheologischen Textgattung erweiternd18 nimmt Glassius somit eine Traditionslinie auf, die Maria Marten für die evangelisch-lutherischen Pflanzenpredigten der nachreformatorischen Zeit nachgewiesen hat. Demnach hatten lutherische Pfarrer die Absicht, die auch schöpfungstheologisch ausgeschmückte Tröstung ihrer Predigthörer dadurch zu verstetigen, daß sie sich bewußt solcher „mnemotechnischer Techniken“ bedienten, „durch die die Zuhörer befähigt werden sollten, das einmal Gehörte oder Gelesene bei anderen Gelegenheiten wieder ins Bewusstsein zu bringen. Die Pflanzen gaben dafür brauchbare Bilder ab, die als Erinnerungsstütze benutzt werden konnten. Besonders geeignet waren solche Pflanzen, die täglich wahrgenommen wurden, da sich mit ihnen leichter feste Verbindungen zu den Hauptlehren knüpfen ließen.“19 Damit steht uns bereits jetzt ein Ausschnitt jenes Beziehungsgeflechts vor Augen, das konstitutiv ist für die figürliche Schriftauslegung. Das innerbiblische Relationsgefüge von sachlich-klaren und figürlichen Schriftaussagen, von Altem und Neuem Testament, von Protologie und Eschatologie, von Christologie und Pneumatologie, wird schöpfungstheologisch erweitert bzw. vervollständigt durch das Aufsuchen von im figürlichen Rededuktus der Schrift aufzufindenden Analogien zur eigenen Lebenserfahrung. Paradiesbaum im Urstand und im Eschaton, Christus als dessen irdische Inkarnation, die Schrift als dessen wirksames und früchtebringendes Medium sowie die irdischen Lustgärten als Abbilder des Paradiesgartens wie auch des geistlichen Gartens der Schrift verweisen wechselseitig aufeinander und bilden so ein rhetorisch-hermeneutisches Geflecht, das in dieser Multimedialität der Auferbauung und Erquickung der Seelen der Leser (wie zuvor der Predigthörer) dient. Eine erste ausführlichere theologische Begründung seiner multimedialen Vorgehensweise bietet Glassius in seiner „Vorrede an den Christlichen Leser“. Edelster Schatz der Kirche wie ihrer Glieder ist „das heilige offenbarte Wort Gottes“, welches David nach Ps 119,98 rühmt. „Also soll aller Christen höchster Fleiß / Sorge / Andacht vnnd Arbeit seyn / daß sie diesen köstlichen vnnd himlischen Schatz mit hertzgründlichem Danck in wahrer Demut annehmen / hoch vnd werth halten / vnd denn auch rechtmessig gebrauchen / vnd zu dem Ende vnd Zweck anwenden / darzu er von GOtt aus vnaussprechlicher göttlicher Liebe vnd Gnade
17 Widmungsvorrede, fol. a iij. 18 In seiner „Vorrede an den Christlichen Leser“ kann er das Abfassen dieser Schrift als „geistliche[ ]Gartenarbeit“ bezeichnen (fol. c). 19 Marten, Buchstabe, S. 298.
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gegeben ist.“20 Die Bindung dieser göttlichen Offenbarung an die Heilige Schrift und ihren Skopus entnimmt Glassius der Aussage Christi nach Joh 5,39 f.: „Suchet in der Schrifft / denn jhr meynet / jhr habt das ewige Leben drinnen / vnnd sie ists / die von mir zeuget / vnnd jhr wolt nicht zu mir kommen / daß jhr das Leben haben möchtet.“21 Diese Aussage baut Glassius zu einer oratio ficta Christi an seine text internen Gesprächspartner aus, um auf diese Weise der Schriftaussage für seine zeitgenössischen Leser mimetisch Nachdruck zu verleihen.22 Daraus ergibt sich in Aufnahme des aus der Schrift selbst erhobenen christologischen Skopus und soteriologisch-pneumatologischen „Zweckes“ als Schlußfolgerung für die Zielsetzung der Schriftauslegung und damit implizit auch des Glaß’schen Unternehmens selbst: „Aus diesem erscheinet / daß wir das offenbarte Wort GOttes (welches die heilige Göttliche / Prophetische vnd Apostolische Schrifft ist) der Meynung vnnd mit dieser hertzlichen Jntention lesen / hören / betrachten / erklären vnnd also darinnen suchen vnd forschen sollen / damit wir das wahre Erkentniß vnsers HErrn JEsu CHristi darinnen finden / vnnd durch dasselbe des ewigen Lebens theilhafftig werden mögen.“23 Diese heilsnotwendige Erkenntnis Christi aber ist nach Glassius „nicht nur eine blosse vergebliche Wissenschafft / daß man aus der heiligen Schrifft von der Person / Ampt vnnd Wolthaten vnsers Heilandes verstendlich / subtil vnd deutlich reden / disputirn / vnnd andern hiervon Vnterricht geben kan: Sondern es ist dasselbe ein lebendiges kräfftiges vnd im Hertzen geschäfftiges Erkentniß / dadurch (aus fleissiger Lesung / Anhörung vnd Betrachtung des heiligen Wortes GOttes vnd Catechismi / durch die Krafft des heiligen Geistes) das Hertz bewegt / zu seiner selbst Erkentniß gebracht / auch ferner in dem Kamff [sic!] wider den Teuffel / Tod / Helle / Zorn GOttes / Fluch des Gesetzes / vnd Vberzeugung des Gewissens / gestercket / getröstet vnnd erquicket wird / dieweil nemlich Christus / durch inbrünstiges Seuffzen angerufen / vnd durch wahren Glauben in seinen
20 AV, Vorrede an den Christlichen Leser, fol. a ij. 21 Ebd. 22 Vgl. AV, fol. a ij – b: „Es wil der HErr so viel sagen: Jhr Jüden meynet (vnnd meynet gar recht) daß jhr in der Schrifft / vnnd aus fleissiger Forschung derselben das ewige Leben erlangen wollet. Nun aber zeuget dieselbe Schrifft GOttes von mir / daß nemlich einig vnnd allein in mir das ewige Leben durch wahren Glauben erlanget werde / ohn alle Gesetz vnnd Werck. Warumb kompt jhr denn nicht zu mir / dahin jhr von der Schrifft (die jhr hoch haltet / vnnd billich) gewiesen werdet? Warumb nehmet jhr mich als die Brunquell des Lebens nicht auff? Drumb suchet vnnd forschet fleissig in der Schrift / vnnd bittet GOTT / daß er durch seinen heiligen Geist euch erleuchten wolle / so werdet jhr gewißlich befinden / daß dieselbe Schrifft von mir zeuge / als von der Häuptquell der Seligkeit / vnd daß von mir allein solche Seligkeit vnd ewiges Leben erlanget werden möge / etc.“ 23 AV, fol. b.
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lieblichen Gnadenverheißungen ergrieffen / eines solchen gläubigen Menschens Weißheit / Gerechtigkeit / Heiligung vnnd Erlösung ist:24 Dadurch auch ferner das Herz bekehret / ernewret / geheiligt vnd gereinigt wird / daß es die Creutzigung des bösen sündlichen Fleisches mit gantzem Ernst fürnimpt / vnnd in dem newen Leben / das aus GOtt ist / (in der Furcht vnd Liebe GOttes / in Gedult / in Gebet vnd Dancksagung / in Andacht vnd Betrachtung göttliches Worts / in Liebe / Sanfftmut / Demut / Friede / Barmhertzigkeit / Mildigkeit / Messigkeit / Keuschheit / Gnugsamkeit / Auffrichtigkeit / Wahrheit / etc.) sich vbet / auch andere zum Reich GOTTES zu verbringen sich mit allem Christlichen Fleiß bemühet / vnnd mit einem Wort / rechtschaffene Früchte der Busse bringet / wie Sanct Johannes der Täuffer redet / Matth. 3. v. 7.“25 Ort dieser ganzheitlichen, durch die Schrift gewirkten Kenntnis ist also nicht allein die ratio des Menschen, sondern sein Herz, das durch die Botschaft der Schrift nicht nur informiert, sondern in vielfacher Hinsicht bewegt oder, mit obigem Lutherzitat gesprochen, „affiziert“ wird. Die damit sowohl auf klare Lehraussagen als auch auf lebenspraktische Anleitung ausgerichtete theologische Wissenschaft ist für den Sondershausener Superintendenten darin begründet, daß uns Christus „auff zweyerley weise in göttlicher Schrifft vorgestellet“ und daher „auch (cognitione vivâ & practicâ, durch ein lebendiges Erkentniß vnd Vbung) zu erkennen / zu fassen vnnd zu ergreifen“ sei, nämlich zum einen als die Erlösung des Sünders wirkendes, im Glauben zu ergreifendes „Gnadengeschenck Gottes“, zum andern „als ein heiliges Exempel vnd Fürbild / deme wir […] nachfolgen im Leben vnd Leiden“.26 Mit dieser Zuordnung von Christus als Gabe und als Vorbild, als donum und als exemplum, nimmt Glassius eine grundlegende rechtfertigungstheologische Unterscheidung Luthers auf, was er mit einem Zitat aus dessen Auslegung von 1Petr 4 (Vers 1) untermauert.27 Aus dieser zweifachen „Vorstellung“ Jesu Christi in der Schrift erwächst den kirchlichen Amtsträgern, die in der Nachfolge der neutestamentlichen Apostelschüler stehen, wie Glassius durch die explizite Berufung auf 2Tim 4,1 f., 1,13 f. und 1Tim 6,3 anzeigt, als Aufgabe, „daß die jenigen / derer Ampt ist / die heilige Schrifft durch den Beystand des Geistes GOttes zu erkleren / fürnemlich vnd bey Verlust göttlicher Gnade / Trostes vnd Segens dahin sehen / vnd sich mit gantzem Ernst
24 Vgl. die Randbemerkung an dieser Stelle: „1. Cor. 1.30“. 25 AV, fol. b. 26 AV, fol. b – b ij. 27 AV, fol. b ij: Tom. 2. Germ. Jen. f. 368 (= WA 12,372,11–20, Epistel S. Petri gepredigt und ausgelegt. Erste Bearbeitung 1523). Vgl. hierzu Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie, Tübingen 32007, S. 57 f. Bayer zitiert dort Luthers „Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll“ aus der Kirchenpostille von 1522 (WA 10 I/12,17–13,2 und WA 10 I/11,1–12,2), wo Luther ebenfalls auf 1Petr 4,1 eingeht.
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vnnd Eyfer bemühen sollen / damit Christus als ein Geschenck (wider die Sünde vnd Verdamniß) vnd denn auch als ein Exempel (wider die Heucheley vnnd gottloses Leben) nicht allein von jhnen selbst ergrieffen vnnd gelernet / sondern auch also den Zuhörern oder Lesern / in vnd aus demselben Wort GOttes vorgestellet / inculcirt vnd eingepflantzet / vnd also obbesagtes lebendiges Erkentniß Christi in jhnen durch die Krafft Gottes angezündet vnd erhalten werde.“28 Es folgt eine im Modus der Klage vorgetragene Ordinationsanamnese, die den agendarischen Hinweis auf 1Petr 5,2 f. einschließt29 und deutlich macht, daß Glassius bei seinen Lesern insbesondere an die Träger des Predigtamts denkt, für deren Amtsführung er zum Zeitpunkt der Abfassung seines Werkes in seinem Bereich als Superintendent Verantwortung trägt. Dieses Selbstverständnis als eines von Gott selbst ins „Lehrampt“ gesetzten und verordneten Hirten und bischöflichen Superintendenten leitet Glassius in seinen Ausführungen über „Gebrauch und Betrachtung der heiligen Schrifft / vnnd dem daraus herfliessenden seligmachenden Erkentniß JEsu Christi“, insofern es ihm in Ausübung dieses Amtes nicht nur um die eigene Seele geht, als er sich verpflichtet weiß, andere „zu erbawen vnd zum ewigen Leben anzuführen“. Bei seiner auf dieses Ziel gerichteten Lektüre der Schrift habe er sich nun „höchlich verwundern müssen / was massen Christus vnser Heiland darinnen sich vnter vielen andern Figuren vnd Bildern / so lieblich habe in Gestalt vnd Gleichniß des Baums oder Holtzes des Lebens vorstellen vnnd offenbaren lassen“, so daß durch dieses Bild des Lebensbaums insbesondere Christus als Geschenk Gottes und Exempel christlichen Lebens „dargestellet / vnd gleichsam für Augen gemahlet werde“.30 Diese Beobachtung hat Glassius zu seiner eigenen, die Heilige Schrift als Buch vom Baum des Lebens mimetisch rezipierenden Autorschaft seines Arbor vitae veranlaßt,31 wobei er „nach der trewen
28 AV, fol. b ij. 29 Vgl. AV, fol. b iij: „Ach wie wenig hergegen [sind es] / die nach vorgesetzter Regel einher gehen / vnd das jenige in gebührende acht nehmen / was jhnen in der heiligen Ordination zum Predig ampt / aus der ersten Epistel S. Petri ist furgelesen / vnd thewr an GOttes statt anbefohlen worden: Weidet die Herde Christi / so euch befohlen ist / vnd sehet wol zu / nicht gezwungen / sondern williglich / nicht vmb schendliches Gewinsts willen / sondern von Hertzengrund / nicht als die vbers Volck herrschen / sondern werdet ein Fürbilde der Herde.“ 30 Ebd. 31 Vgl. ebd.: „Dadurch ich denn bewogen worden / daß ich diese meine Gedancken / wie sie mir Gott gnädig in seinem heiligen Wort bescheret hat / auffgesetzet / vnd auff den schönen Häuptspruch Johan. 3. Also hat GOtt die Welt geliebet / etc. meistentheils gerichtet / auch hernacher mit gottseligen Hertzen communicirt / vnnd denn endlich auff derselben Christliche Ermahnung der Kirchen Gottes durch Publication demütig zu vntergeben / im Namen desselben vnseres himlischen Lebensbaums Christi JEsu beschlossen habe.“
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Manuduction, Anleitung vnd Methodo“ seines geliebten Lehrers Johann Gerhard vorgegangen sei.32 Eine inhaltliche Beschränkung nimmt Glassius darin vor, daß er in Ausrichtung am Skopus der Schrift „fürnemlich auff die Vergleichung von jrrdischen Bäumen genommen / gesehen“ habe „vnd wie fern Gott der heilige Geist in seiner göttlichen Schrifft vns hierinnen weise / vnd was für ein schönes Liechtlein in göttlichen Geheimnissen zu Erlangung des Lebens das aus Gott ist / er hierdurch vns anzünde vnd offenbare / angezeiget.“33 Sollte er nach Meinung seiner Leser hier oder da mit seiner „Vergleichung“ zu viel des Guten getan haben, sollen diese wissen, „daß solches nicht aus einigem Fürwitz / sondern aus hertzlicher Delectation an diesem vnserm lieben himlischen Lebensbaum geschehen sey / vnd denn auch darumb / damit so viel möglich / die Betrachtung dieses feinen Bildes beysammen möchte gefunden werden.“34 Glassius weiß darum, daß Bild und Abbild bisweilen nicht in jeder Hinsicht analogisiert werden können, was aber den Wert der Betrachtung der Ähnlichkeitspunkte nicht aufhebt.35 Gerade die in der Schrift vorkommenden Prädikationen geistlicher Sachverhalte durch Bilder oder Figuren, die der Natur entstammen, erweisen ihre Aussagekraft sowohl durch die Analogien als auch durch die Kontraste, die sich im Abgleich zwischen Sache und Bild jeweils ergeben. „Vnd ist wol zu mercken / ob gleich Gott der heilige Geist in seinem Wort schöne Gleichnisse vnnd Bilder aus der Natur genommen von göttlichen Geheimnissen brauchet / so befinde sich doch bald darneben in der Rede selbst eine merckliche Vngleichheit mit der Natur / darmit anzuzeigen / daß zwar die göttliche Geheimniß in der Natur gleich als in einem Schattengemählde vorgebildet werden / eben dieselben aber zugleich auch weit weit vber alle Natur wegen ihrer göttlichen Hoheit zu setzen vnd zu halten seyn.“36 In den geistlichen Dingen ist daher immer wieder neben einer feinen „Convenientz mit der Natur“ „auch die hohe Präeminentz vor vnnd vber die Natur“ festzustellen.37
32 AV, fol. b iij. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd.: „Worbey denn ferner in acht zu nehmen / daß in dieser vnd andern Vergleichungen nicht alles auffs genaweste ausgeecket / oder das jenige alsbald verworffen werden müsse / welches nicht in allen eingebildeten Stücken sich analogisirt vnnd reimet / ist gnug / wenn in einem oder mehren Puncten die analogia vnnd Ehnligkeit sich nach Anweisung der heiligen Schrifft befindet / ob gleich in vielen andern groß Disconvenientz vnnd Vngleichheit zu verspüren were.“ Vgl. ferner: AV, Buch 1, XIV, S. 55 f. 36 AV, fol. b iij. 37 AV, fol. b iij – c. Folgende Beispiele führt Glassius an (vgl. fol. b iij – c): Nach Röm 11,17 werden die Heiden als wilde Ölzweige in Christus, den guten Ölbaum eingepfropft. Das ist einerseits „ein schönes Gleichniß aus der Natur in Gärten genommen“, andererseits kommt es darin nicht
Figürliche Schriftauslegung als Erbauungsliteratur
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Abschließend kommt Glassius noch einmal auf den lebenspraktisch ausgerichteten Charakter seiner Schrift zu sprechen. Diese Ausrichtung führt dazu, daß er „in dieser geistlichen Gartenarbeit keine Controversias tractiren, oder streitige Fragen“ hat gründlich erörtern vnd abhandeln wollen, wiewohl diese auch hier und da mit wenigen Worten berührt würden.38 Seine Schrift verfolge von daher
mit der Natur überein, als in dieser nicht wilde Zweige in einen guten Stamm, sondern gute Zweige in einen wilden Stamm eingepfropft werden (die Stelle wird auch behandelt bei Marten, Buchstabe, S. 75). An der immer grünenden Tanne in Hos 14,10 wiederum seien nicht die Früchte abzulesen, die der Lebensbaum Christus erbringe, sondern nur die schattigen Zweige, die er für die Seinen darbiete. Hierher gehört für Glassius auch die Beobachtung, daß die „gläubigen Kinder Gottes“ in der Schrift mal als solche beschrieben werden, die vom Lebensbaum edle Früchte bekommen und genießen (Offb 2,2, 22,2.13), mal als solche, die selber als eingepfropfte Zweige wachsen und Früchte bringen sollen (Röm 1,17, Joh 15,2.3.5, 1Joh 5,20 f.). Schließlich gibt es die Stellen, wonach Christus der Lebensbaum in die Gläubigen gepflanzt ist und durch den Glauben in ihren Herzen wohnt (Eph 3,17, 1Joh 5,11 f., Jak 1,21). Glassius resümiert (fol. c): „So wird nun durch das erste die Participation vnd Geniessung der edlen Lebensfrüchte vnd Wolthaten Christi durch den Glauben; Durch das andere aber die geistliche Vnion oder Vereinigung mit demselben vnserm Heilande JEsu Christo / eben durch denselben Glauben / angezeiget. Beydes ist Gleichnißweise aus der Natur genommen / vnd ist doch auch beydes zugleich vber vnd wider die Natur / als in welcher eines Baums Zweige oder Reißlein weit vnterschieden vnnd ein anders Ding sind / als diejenigen / welche des Baums Früchte essen vnnd geniessen: Hinwiederumb auch in derselben vnmüglich ist / daß das Reißlein in den Baum / vnnd zugleich der Baum in das Reißlein (welches ohn das wider die Natur) gepfropfft werde. Summa / es ist die nöhtige Regel des heiligen Apostels Pauli auch allhier in acht zu haben / welche er setzet 1. Cor. 2. v. 13. Wir sollen reden nicht mit Worten / welche menschliche Weißheit reden kan / sondern mit Worten / die der heilige Geist lehret / vnd sollen geistliche Sachen geistlich richten.“ Vgl. aus dem unmittelbaren Umkreis von Glassius: Johann Gerhard, Postilla Salomonaea. Das ist Erklärung etlicher Sprüche auß dem Hohenlied Salomonis auff die Sontägliche vnd vornembste Fest Evangelia durchs gantze Jahr. Jena 1652, zwei Bände in einen gebunden (= Post. Sal. I und II), hier II, S. 599: „Wenn ein wilder Baum sol liebliche und süsse Früchte bringen / so muß ein fruchtbares Reißlein in denselben gepfropffet werden / Also muß auch die geistliche Pfropffung darzu kommen / wenn wir Menschen als wilde Bäume von dem Apffelbaum Christo JEsu / die Krafft gute Früchte zu bringen erlangen sollen / Rom. 11. Aber mit dieser geistlichen Pfropffung verhelt es sich etwas anders / als mit der natürlichen Pfropffung der Bäume. Wenn ein Reiß gepfropffet wird / so gibt dasselbe keines weges dem Stamm / darein es gepfropffet wird / die Krafft der Fruchtbarkeit / sondern vielmehr empfängets vom Stamm Safft und Krafft seine eigene Frucht zu bringen / aber wenn Christus in uns gleichsam gepflantzet / und wir in jhn gleichsam gepfropffet werden / so gibt er uns als Pfropffreisern die Krafft Frucht zu bringen / nicht aber unsere eigene Früchte / so von der verderbeten Natur herrühren / sondern seine gute und nützliche Früchte. In einen wilden Stamm wird ein fruchtbares Zweiglein in der natürlichen Impffung gepfropffet / aber in der geistlichen Pfropffung verhelt es sich anders / Wir als wilde Oelzweige werden in den fruchtbaren Oelbaum gepfropffet / Rom. 11. daß wir seines Safftes theilhafftig werden. Christus ist der Weinstock / wir seyn die Reben […].“ (zu Hld 2,3) 38 AV, fol. c.
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die gleiche Zweck- und Zielrichtung wie die „lob= vnd preißwürdigste Schola pietatis“ seines Lehrers Johann Gerhard und die mit ebenso großem Lob versehenen vier „Bücher vom wahren Christenthumb“ Johann Arndts,39 „nemlich auff das Christliche Leben / damit dasselbe durch hertzliche Betrachtung der heiligen Person / Verdiensts vnnd Wolthaten vnseres Heilandes Jesu Christi / durch erquickenden Trost in Noth vnd Tod / vnnd denn auch durch heilige Anreitzung zum gottseligen Leben vnd Wandel erbawet werden möge.“40 Noch einmal erinnert Glassius hier an die „allen Dienern Gottes“ anbefohlene Verantwortung für diese Aufgabe, die zudem „in jetziger letzten betrübten vnd bösen Zeit“ besonders dringlich sei. Glassius will dabei mit seiner Schrift nichts anderes weitergeben, als was Christus, der Lebensbaum, zuvor „zu angedeutetem Ende vnd Zweck“ seinem Diener Glassius „hat gereichen lassen“.41 Solchermaßen vom Herrn der Kirche selbst beschenkt und inspiriert, schließt der Thüringer seine „Vorrede an den Christlichen Leser“ so, wie er die Widmungsvorrede an seine Landesherren eröffnet hatte, nämlich mit einem apostolischen Gruß.42 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Glassius bereits im Titelblatt mit dessen Beigaben und in seinen beiden einleitenden Texten zahlreiche Teilaspekte der theologischen Begründung und der Verfahrensweise der figürlichen Schriftauslegung vorwegnimmt, die er nicht nur später in dieser Schrift breiter ausführt, sondern auch in seinem Gesamtwerk zum einen detailliert fundamentaltheologisch begründet und zum andern praktisch-theologisch immer weiter entfaltet. Indem er mit dem Lebensbaum, Arbor vitae, eine prominente biblische „Figur“ titelgebend werden läßt und explizit den Anschluß nicht nur an Grundaussagen Lutherscher Hermeneutik zur figürlichen Schriftauslegung, sondern auch über Gerhard und Arndt an die Geschichte lutherischer Erbauungsliteratur herstellt, erweist er sich als innovativer Geist, insofern er die von ihm ja im Sondershausener Predigtamt ebenfalls gepflegte lutherische „Pflanzenpredigt“ zur lutherischen „Pflanzenmeditations- oder -erbauungsliteratur“ erweitert und so zugleich eine literaturgeschichtliche Voraussetzung für eine lutherische Pflanzenemblematik schafft, wie sie etwa ein halbes Jahrhundert später beliebt wird.43 39 Vgl. AV, fol. c ij: „[…] welches schöne Buch wegen des grossen Nutzens / den ich aus fleissiger Lesung desselben in meinem Hertzen empfunden / ich vnbenamet vnd vngerühmet nicht lassen kann / auch meinem Gott inniglich davor danckbar bin“. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Bei der Widmungsvorrede handelt es sich um eine Art Mischform der traditionell als Kanzelgrüße verwendeten Stellen 2Kor 1,2 und 13,13. Am Ende seiner Vorrede an die Leser zitiert Glassius ausschnittweise Hebr 13,20 f. 43 Vgl. neben Einzelstücken bei Birken und Greiffenberg dann ebenfalls titelgebend die Veröffentlichung „Lust- und Arzeney-Garten des Königlichen Propheten Davids“ des aus dem gleichen
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2.2 Die Schrift als ein „liber methodicus“ Glassius erwähnt in der „Vorrede an den Christlichen Leser“ des Arbor vitae, er habe seine Methode bei der figürlichen Schriftauslegung von seinem Lehrer Johann Gerhard übernommen.44 Auf methodische Fragen ausdrücklich zu sprechen kommt Glassius dann aber erst im dritten Buch seines in fünf „Büchlein“ eingeteilten Werkes, wo es um die „heilsamen göttlichen Mittel“ geht, „dadurch die köstliche Lebensfrucht erlanget wird“.45 Zuvor hatte er im „ersten Büchlein“ die göttliche Liebe als Wurzel des himmlischen Lebensbaums und Christus als Baum selbst besprochen,46 worauf er sich im „andern Büchlein“ dem ewigen Leben als Frucht des Lebensbaums zuwandte, die im Kontrast zur ewigen Verdammnis besonders tröstlich und lieblich erscheint.47 Innerhalb der Figur des Lebensbaums stellen die im dritten Büchlein behandelten „Mittel“ gewissermaßen die Kanäle oder Lebensadern dar, durch die der Baum aus seinen Wurzeln den Früchten seine lebensstiftende Kraft mitteilt. Sakramentale Konnotationen klingen hier an. Deutlich wird auch, daß die als „Mittel“ verstandenen Auslegungsmethoden Teil des Lebensbaums sind und damit nicht von außen an die Schrift herangetragen werden, sondern aus ihr selbst heraus zu entfalten sind.48 Ist die Methodik Anwendung der vom Baum zum Gebrauch dargeboteWirkungskreis wie die erstgenannten entstammenden lutherisch-österreichischen Dichters Wolffgang Helmhard Freyherr von Hohberg aus dem Jahre 1675 (Reprint: Graz 1969, herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Grete Lesky, = Instrumentaria Artium 8). 44 AV, fol. b iij. Vgl. oben, Kap. 1, S. 6 f. Gerhard erwidert diese Ehrerbietung seines Lieblingsschülers gewissermaßen durch ein Widmungsgedicht, das zwischen Vorreden und Inhaltsangabe zum Abdruck gekommen ist (AV, fol. c iij; s. o., Kap. 1.1.2). 45 AV, fol. c iij: „Im dritten Büchlein wird von den heilsamen göttlichen Mitteln geredet / dadurch die köstliche Lebensfrucht erlanget wird. Auch von der ewigen Gnadenwahl zum ewigen Leben / so fern dieselbe Lehr zu Trost vnnd Erbawung in Christlichem Leben gereichet.“ 46 Ebd.: „Im ersten Büchlein wird von der Wurtzel des himlischen Lebensbaums gehandelt / welche ist die Liebe Gottes. Wie auch von dem Baum des Lebens an jhm selber. Vnnd wird also das heilsame Erkentniß JEsu Christi nach seiner heiligen Person vnnd wunderbaren Mitlerampt darinnen inculcirt, vnnd im Bildniß des Baums vorgestellet.“ 47 Ebd.: „Im andern Büchlein wird von der köstlichen Frucht des Lebensbaums geredet / nemlich vom ewigen Leben / wie dasselbe in der heiligen Schrifft vns beschrieben vnd tröstlich zu betrachten vorgestellet wird. Vnd damit desselben liebliches Wesen vnd Frewde die Fülle desto besser verspüret vnnd im Hertzen geschmeckt werden möge / so wird erstlich vnnd vorher von dem Opposito, oder deme / was jhme am meisten zuwider ist / nemlich von der hellischen Pein vnnd vnnd ewigen Verdamniß kürtzlich vnnd gründlich gehandelt.“ 48 Bei Johann Gerhard heißt es: „[…] welche diese Mittel gebrauchen / das sindt zwar Menschen / nichts desto weniger seyn / vnd bleiben die Mittel vor sich selbst göttlich / denn die hellen vnnd klaren Oerter / auß welchen die dunckeln erkläret werden / sindt nichts anders / denn deß heiligen Geists Reden / was vorgangen vnd nachgefolgt / sindt deß H. Geistes Außsagung / die grundt-
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nen „Mittel“, so zeichnet sie nach, wie sich das Fruchtbringen des Lebensbaumes abspielt. Die Fassung der Auslegungsmethodik als „Mittel“ bzw. media verbindet Glassius dabei nicht nur mit seinem Lehrer Johann Gerhard,49 sondern auch mit der älteren lutherisch-hermeneutischen Tradition, wie sie beispielsweise bei Flacius50 zu finden ist. Doch bevor Glassius auf die Mittel und Methoden der Schriftauslegung im dritten Büchlein zu sprechen kommt, bietet er in seinen Reflexionen über die Wurzeln und Früchte des Lebensbaums in den ersten beiden Büchlein grundlegende wissenschaftstheoretische Einsichten. Voraussetzung für die Möglichkeit der Erkenntnis des Lebensbaums Christi, seines verborgenen ewigen göttlichen Ursprungs („productio aeterna“51) und seiner ewiges Leben schenkenden Wirkung ist dessen offenbare Erscheinung in der Zeit, die „productio manifesta & temporaria“.52 Erst durch die der Liebe des himmlischen Vaters zu den Menschen geschuldete kontingente Inkarnation des ewigen Gottessohns wird auf Erden erkennbar und aussagbar, was dieser in der Ewigkeit beim Vater ist und in der Ewigkeit für die Gläubigen sein und bewirken will. Durch die Sendung des Sohnes teilt der Vater aus Liebe den Menschen das Leben mit, das in der Ewigkeit Vater und Sohn miteinander verbindet. „Denn gleich wie Gott der Vater seinen lieben Sohn / der von Ewigkeit die Weißheit war / auch vns Menschen zur Weißheit gemacht hat 1. Corinth. 1. 30. Also hat er auch denselben seinen lieben Sohn /
festen in Hebraischer vnd Griegischer Sprache / begreiffen in sich deß heiligen Geistes Wort / die arth vnd weisse zureden / sindt deß H. Geistes Reden. Darnach so setzen wir zum Gebrauch dieser Mittel das Ampt / vnd die Gnade deß H. Geistes / welche man durch das Gebet erlangen muß / vnd die Regel deß Glaubens / das ist / die Stimme des H. Geistes / welche in klaren / vnnd hellen Oertern der Schrifft gehöret wirdt.“ (Tractatus, S. 159, Articulus CI.) 49 Vgl. Gerhard, Tractatus, passim. 50 Flacius nennt als „Heilmittel“ bzw. „remedia“, die der himmlische Vater selbst zum Verstehen der Schrift dargeboten hat und die daher als Regeln ausschließlich der Schrift selber zu entnehmen sind, folgende Punkte: 1. das gemeinsame Wirken der Dreieinigkeit, wodurch die drei Personen sich wechselseitig zu erkennen geben und so dem Menschen Gemeinschaft eröffnen; 2. die Erkenntnis unserer Krankheit und des einzigen Arztes Christus; 3. die Sprachenkenntnis; 4. die Meditation und Erforschung der Schrift nach Joh 5,39 und Ps 1; 5. das leidenschaftliche Gebet um Erleuchtung alles noch Dunklen; 6. die lebendige Erfahrung; 7. Wiederholungen bzw. Parallelstellen in der Schrift, durch welche das, was ein einem Ort nur kurz oder dunkel verhandelt wird, ausführlich und klar dargelegt wird. („Conferantur igitur loca Scripturae diligenter: sic alius alium illustrabit.“); 8. gute Übersetzungen und treue Interpreten. Vgl. Matthias Flacius Illyricus: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift. Lateinisch-deutsche Parallelausgabe, Düsseldorf 1968 (= Instrumenta Philosophica. Series Hermeneutica III), S. 24–27 (mit dem Zitat auf S. 26). 51 AV 1, VII, S. 32. 52 AV 1, VIII, S. 36.
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der von Ewigkeit als der wahre Lebensbaum aus seinem Wesen entsprossen war / vns Menschen zu einem kräfftigen Lebensbaum gemacht / auff daß wir in jhm vnd aus jhm das ewige Leben haben möchten 1. Johan. 5. v. 11.“53 Die Früchte dieser Selbstmitteilung Gottes im Sohn werden in ihrem Wesen und Ausmaß dann besonders gut erkannt, wenn sie verglichen werden mit der ewigen Verlorenheit des Menschen aufgrund seiner schuldhaften Trennung von Gott. Hier gilt nach Glassius die Regel: „contraria justà se posita magis elucescunt, wenn zwey widerwertige Ding (zum Exempel / das höchste Gut / vnnd das schrecklichste Vnheil vnd Vbel) gegen einander gehalten vnnd betrachtet werden / so wird beyder Beschaffenheit desto mehr erkennet“.54 Das gilt erst recht angesichts der von Glassius andernorts aufgenommenen biblischen Hinweise auf die „Methodik“, wie sie vom Teufel als dem Verwirrung und Unheil stiftenden Widersacher Gottes und Feind des Menschen angewendet wird,55 eine Methodik, der ein eigenständiges „Bildprogramm“ entspricht, das Glassius in seinem Werk wiederholt mit dem göttlichen „Bildprogramm“ konfrontiert. Ausgangspunkt für diesen Vergleich ist wieder das Miteinander von biblischer Protologie und Escha-
53 AV 1, VIII, S. 36. 54 AV 2, Einleitung, S. 76, mit der Fortsetzung ebd.: „So wollen wir auch erst vnd kürtzlich von der Hellen Pein reden / damit die Süßigkeit vnd Liebligkeit des ewigen Frewdenlebens desto besser erkennet vnd geschmeckt werden möge. Vnd soll vnser einige Cynosura vnnd Richtschnur seyn / das geschriebene Wort Gottes / welches bleibt in Ewigkeit. Vnd hierdurch heilge vns / Gott himlischer Vater / in deiner Warheit / dein Wort ist die Warheit / Amen.“ Die „Cynosura“ ist ein aus der Nautik übernommenes Bild. Vgl. Kaspar Titius, Loci Theologiae Allegorici Oder Gleichnis Kästlein / Darinnen Unter den gewöhnlichen Locis, als gewissen Fachen auffgehaben / und zu finden allerley schöne geistliche und anmuthige Gleichnisse / Durch welche die fürnehmsten Glaubens=Articul und Haupt=Stück Christlicher Lehre gar artig und fein außgeleget und erkläret werden: Mehrers theils aus Predigten reiner Gottseliger Kirchen=Lehrer zusammen gezogen / und in solche Ordnung gebracht […], Leipzig/Frankfurt a. d. Oder 1685, S. 118: „Gleich wie die Schiffleute / wenn dieselbigen über Land und See fahren / […] so richten sie sich nach einem Stern / den die Griechen nennen Cynosuram, wir deutschen nennen ihn den kleinen Beeren / sind sieben kleine Sternlein, die gegen Mitternacht stehen / wenn sie den sehen / können sie ihre Schiffahrt darnach anstellen […]. Gottes Wort allein ist die Cynosura der Lehrer in der Kirchen Gottes […].“ 55 Vgl. GG, Vorrede, fol. )( ij: „Dieweil aber der Teufel / zu aller Zeit / sein Unkraut falscher verdamlicher Lehr und Lügen / in der Kirchen mit unterzustreuen pfleget / so warnet der Mann GOttes hievor treulich v. 14. Auff daß wir nicht mehr Kinder seyn (in Unwissenheit 1. Cor 14/20. wie die Kinder aus Unverstand alles hin glauben / was man ihnen vorsaget / es sey waar oder nicht /) und uns wegen und wiegen lassen (wie durch Meeres=Wellen umbher treiben und verschlagen lassen) von allerley Wind der Lehre (die mit sonderbarer Beschein= und Beschönung / als gut / köstlich und Göttlich ausgegeben wird /) durch Schalckheit / (Spitzfindigkeit / subtiler und Sophistischer Verkehr= und Verwirrung) der Menschen und Teuscherey (listige Anläuffe / graecè enim est meqodei,a, quod Eph 6, 11. Diabolo astutißimè tentanti tribuitur,) damit sie uns erschleichen (wollen) zu verführen (in falsche verdamliche Irrthum.)“
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tologie. Dem Menschen, der im Sündenfall die Gemeinschaft mit seinem Schöpfer und damit seine Gottebenbildlichkeit eingebüßt hat, wird nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift um Christi willen die Wiederherstellung des verlorenen Gutes verheißen.56 Freilich ist solche Verheißung für alle Irdischen noch unabgegolten und lediglich im „Vorschmack“ und in noch verhüllter Gestalt57 zu haben. Weil der irdische Mensch zur unverhüllten Schau Gottes nicht in der Lage ist, gilt: „Die vollkommene Wissenschafft aber müssen wir versparet seyn lassen / biß wirs in der That erfahren werden. Vnter des / ehe wir Gottes Angesicht sehen / so last vns in diesem Leben jhm hinten nach sehen / mit Mose Exod. 33. v. ult. vnd was von dem ewigen Anschawen Gottes in seinem Wort vns ferner zu Nutz und Trost vorgehalten werde / betrachten.“58 Damit ist der an die Schrift gebundene Theologiebegriff des Thüringer Kirchenhirten wie bei Luther streng aposteriorisch gefaßt.59 56 Vgl. AV 2, VIII, S. 103: „Gleich wie wir getragen haben das Bilde des Jrrdischen / also werden wir auch tragen das Bilde des Himlischen / denn Fleisch vnd Blut (die böse verderbte Vnart vnd sündliches Wesen in vnser Seel vnd Leib) wird nicht können das Reich Gottes ererben / wie hiervon St. Paulus gar schön redet. 1. Cor. 15. v. 49. 50. O wenn solches Bilde des Himlischen / des HErrn vom Himmel (v. 47). in vns vollkommen seyn wird / wie werden wir so satt seyn / wie werden wir Gottes Antlitz in ewiger Gerechtigkeit / vnnd daraus erwachsender himlischer Frewde vnd Wonne / so lieblich anschawen? Psalm. 17. v. 15.“ 57 AV 2, X, S. 110 f.: „Vnd ob gleich GOTT der HERR einen Vorschmack der süssen ewigen Lebenfrucht den seinigen in diesem Leben bißweilen wiederfahren lesset / in dem er sie an jhrem zerknirschten vnnd zerschlagenen Hertzen mit himlischem Trost auffgerichtet vnd erquicket / vnd mit seinem frewdigen Geist erhelt / daß sie also schmecken die himlische Gaben / vnd das gütige Wort Gottes / vnd die Kräffte der zukünfftigen Welt / Hebr. 6. vers. 5. […] So ist doch dieses alles gegen der ewigen Frewde vnd Wonne im Himmel nur als ein Tröpfflein Wassers gegen dem grossen Meer / als ein kleines Füncklein gegen einem grossen mächtigen Fewer zu achten vnd zu schätzen / vnd bleibet wol bey dem Ausspruch des Apostels Pauli 1. Corinth. 13. vers. 12. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunckelen Wort / denn aber (in der Ewigkeit) von Angesicht zu Angesicht / Jetzt erkenne ichs stückweise: Denn aber werde ich erkennen / gleich wie ich erkennet bin. Col. 3. v. 3. 4. Ihr seyd gestorben / vnd ewer Leben ist verborgen mit Christo in GOtt. Wenn aber Christus ewer Leben sich offenbaren wird / denn werdet jhr auch offenbar werden mit jhm in der Herrligkeit. 1. Joh. 3. v. 2. Meine Lieben / wir sind nun Gottes Kinder / vnd ist noch nicht erschienen / was wir seyn werden / wir wissen aber / wenn es erscheinen wird / daß wir jhm gleich seyn werden / denn wir werden jhn sehen / wie er ist.“ 58 AV 2, XV, S. 130. 59 Vgl. zu Luthers in Anknüpfung an Ex 33,21–23 geäußerter Rede von der theologischen Erkenntnis, die nur „a posteriori“ möglich ist, Johannes Wirsching, Gegenwart des Heils. Von der bleibenden Bedeutung der lutherischen Reformation, in: ders., Glaube im Widerstreit. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Band 2 (= Kontexte 12), Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 106–141, hier S. 119: „Daß Gott nur a posteriori, das heißt von ‚hinten‘ erkannt werden könne, ist zunächst in Anknüpfung an Ex 33,21–23 gesagt, doch erkenntnistheoretisch grundsätzlich gemeint. Wie ‚Mosi auch geschahe […], der in einer Höhlen oder Steinklippen steckte, und Gottes Rücken sahe‘, so müssen wir ‚unsern Herr Gott a posteriori erkennen, und an Christo hangen bleiben‘“ (WA.TR 6,319,21 ff.,
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Darum muß der Mensch von den ihm in vielerlei Hinsicht geheimnisvollen und verborgenen Gütern des ewigen Lebens gerade nicht schweigen, „denn es hat vns der liebe GOtt in seinem offenbarten Wort so viel hiervon auffzeichnen lassen / daß aus Erkentniß vnd Betrachtung desselben vnsere Hertzen in der Hoffnung der vnaussprechlichen Frewde des ewigen Lebens gestercket / vnd zu Erlangung derselben angefewret vnd angemahnet werden können.“60 So tritt zur Inkarnation des Gottessohnes als zweite wesentliche erkenntnistheoretische Voraussetzung theologischer Wissenschaft die Kondeszendenz des Heiligen Geistes „in seiner offenbarten heiligen Schrifft (darinn er nobis sugkatabai,nwn sich nach vnserm Captu vnnd Verstande richtet)“.61 Diese „schreibende“ Kondeszendenz des Geistes vollzieht sich in einem Doppelschritt, denn vom in der Schrift vorliegenden Gnadenwort Gottes gilt, daß es auch „Gott der heilige Geist in vnser Hertz schreibet / vnnd darin lebendig machet“.62 Sowohl die fürs Eschaton wieder in Aussicht gestellte vollkommene Erkenntnis Gottes als auch die zwischen Fall und Vollendung einzig mögliche, durch die Schrift und den Glauben vermittelte Gotteserkenntnis verdanken sich dabei dem Wesen der heiligen Dreifaltigkeit als eines sich selbst mitteilenden Gutes: „Bonum est sui communicativum“.63 Der Stückwerkcharakter irdischen Offenbarungswissens aber soll in Verbindung mit der fürs Eschaton verheißenen Vollkommenheit der Erkenntnis sowohl der Geheimnisse der Schrift als auch der Geheimnisse der Schöpfung64 erst recht das Forschen nach der von
Nr. 7004). Wirsching geht ebd. auf Luthers Aufnahme dieser Einsicht in der Heidelberger Disputation ein sowie auf die damit übereinstimmenden methodischen Überlegungen Melanchthons (siehe bei Wirsching a. a. O., Anm. 41–42). 60 AV 2, X, S. 112. 61 AV 2, XII, S. 117. 62 AV 2, XVII, S. 135. 63 AV 2, XVII, S. 136. 64 Vgl. AV 2, XXI, S. 151–153: „In diesem Leben vermögen wir nicht auszugründen / wie GOtt Dreyeinig sey / Drey in Personen / Einig im Wesen? wie GOtt der Sohn von Ewigkeit her aus dem göttlichen Wesen des Vaters geboren sey? wie GOtt der heilige Geist vom Vater vnd Sohne ausgehe? wie vnnd warumb GOtt der Sohn / vnnd nicht der Vater oder der heilige Geist Mensch worden sey? wie die göttliche vnnd menschliche Natur in der einigen Person des HErrn Christi wunderbarlicher weise vereinbaret seyn? wie die Menschheit des HErrn Christi in der Vereinigung mit dem Wort sey allmächtig / allwissend / allgegenwertig / vnnd bleibe doch wahre menschliche Natur? wie der wahre Leib vnnd Blut vnsers Erlösers im heiligen Abendmal warhafftig gegenwertig sey / vnnd von den Communicanten allen / an so viel Orten der Welt zugleich vnter dem Brot vnnd Wein gessen vnnd getruncken werde? Item / wie GOtt der HErr alle Dinge aus pur nichts geschaffen habe? Wie vnd wenn er die heiligen Engel geschaffen habe? Wie vnd wenn er die leidigen Teuffel […] vom Himmelsthron zu den Ketten der ewigen Finsterniß verstoßen habe? Diß alles / vnd viel anders mehr / wie es beschaffen sey / wissen wir nicht / ob gleich / daß demselben gewiß also sey / wir aus GOttes Wort gläuben vnd bekennen (rem credimus, modum
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Gott in der Schrift gegebenen Erkenntnis motivieren, „soll vns in vnsern Hertzen erwecken zu fleissiger Betrachtung des geoffenbarten göttlichen Wortes“.65 Urbild und Ziel irdischer theologischer Wissenschaft ist die bei der Verklärung Christi66 kurzzeitig enthüllte himmlische Versammlung der Gläubigen aus dem Alten und aus dem Neuen Testament, von der nach Glassius gilt: „In diesem herrlichen Colloquio wird obrister Praesident seyn vnser geliebter Heiland JEsus / mit Gott seinem himlischen Vater vnd dem heiligen Geiste / von welchem die Außerwehleten mit himlischer Weißheit begabt seyn werden.“67 Denn dieser Einblick ins Eschaton und die Aussicht darauf „soll uns seyn vitae nostrae informatio, ein schönes Muster vnd Bilde / wie wir vnser Leben in dieser Welt anstellen sollen. Wer in Kunde vnd Conversation vortrefflicher vnnd ehrlicher Leute kommen wil / der muß zuvor auch also gelebt haben / damit dieselbe Beliebung tragen mit jhm vmbzugehen / vnnd jhn nicht wegen eines bösen Namens von sich stossen.“68 Solches heilsnotwendige irdische Einüben in die Gemeinschaft und Conversation mit der heiligen Dreifaltigkeit, den Engeln Gottes und den seligen Auserwählten69 lebt „von den heilsamen Mitteln / so zur ewigen Seligkeit aus göttlicher
ignoramus.) Aber im ewigen Leben werden vns solche göttliche Geheimniß vnd Werck vollkommen bewust vnd bekandt seyn. Allhier vermögen wir auch nicht erforschen die grosse Gnade vnd Liebe Gottes gegen vns / vnd den Wolgefallen seines Willens / wie er vns aus grosser Liebe erschaffen / vnd als wir im Tode durch die Sünde verlohren waren / durch seinen lieben Sohn erlöset / vns zu des Gemeinschafft seines herrlichen Reichs beruffen / vnd wiedergeborn vnd gerecht gemacht / vns mit seinem heiligen Geist ernewert vnd geheiliget habe / vnd wie er vns endlich vom Tode zum ewigen Leben mächtiglich wieder aufferwecken werde? Dieses alles wissen wir nicht / wie es zugehe / ob gleich innerliche Bewegungen solcher Wolthaten Gottes wir im Hertzen empfinden / vnnd gehet vns nach den Worten des HErrn Christi / die er zu Nicodemo redet Joh. 3. v. 8. Der Wind bleset wo er wil / vnd du hörest sein Sausen wol / aber du weist nicht / von wannen er kömpt / vnnd wohin er fehret: Also ist ein jeglicher / der aus dem Geist geboren ist. Aber im ewigen Leben werden wir völlige vnd herrliche Wissenschafft dieser heiligen vnd wunderbaren Werck Gottes haben. Ja auch alle natürliche Dinge / vnnd arcana naturae miracula, was GOtt in der Natur beygelegt vnd verborgen hat / zu welcher Erkenntniß in diesem Leben auch die allerweisesten nicht haben verkommen mögen / solche / sage ich / werden in vollem Liecht der Erkentniß als denn gesetzt seyn / vnd wegen dieser himlischen Weißheit vnd hellglentzenden Erkentnißliecht wird vnsere Seel in dem lebendigen Gott zum höhesten erfrewet vnd ergetzet werden / als von welchem sie diß schöne Liecht aus Gnaden empfangen hat.“ 65 AV 2, XXI, S. 153, unter Hinweis auf 2Petr 1,19, Joh 5,39 und Ps 119,18. 66 Vgl. AV 2, XXXI, S. 184: „Denn gleich wie Moses vnd Elias bey der Verklärung CHristi auff dem Berge / mit jhme redeten […]: Also werden in der Verklärung der Kinder GOttes im ewigen Leben stetige hertzerquickende Gesprech seyn von den wunderbaren Wercken und Gerichten Gottes […].“ 67 AV 2, XXXI, S. 185. 68 AV 2, XXXII, S. 185 f. 69 Vgl. AV 2, XXXII, S. 179–181.
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Verordnung vns führen und verbringen“,70 denen Glassius das „Dritte Büchlein“ widmet. Die Mittel, durch welche die Früchte des Lebensbaums allein zu erlangen sind, sind solche, die von Christus selbst als Lebensbaum vorgegeben bzw. „geordnet“ und „anbefohlen“ sind.71 Denn er ist nach Joh 14,6 nicht nur das Leben, sondern auch der untrügliche Weg dorthin und die Wahrheit, die verläßlich den Weg weist und so gewiß zum ewigen Leben führt. „Quia via est, in erratica atque invia non deducet: quia veritas est, per falsa non illudet: quia vita est, in mortis errore non relinquet. Dieser Weg wird vns nicht verführen: Diese Warheit wird vns nicht betriegen: Dieses Leben wird vns nicht ertödten noch verdammen. So redet er derwegen in vnserm Spruch also: Auff daß alle die an jhn gläuben / nicht verlohren werden / sondern das ewige Leben haben.“72 Aufgrund des hier zitierten Wortes Joh 3,16 erkennt Glassius in der Korrelation von Wort (und Sakramenten) und Glauben die beiden für die Erlangung der Lebensfrüchte notwendigen „Mittel“: „Aus welchen Worten erscheinet / daß der wahre Glaube an den Sohn GOttes sey in den Menschen das einige Mittel / vnnd gleichsam die ergreiffende Hand / damit die köstliche vnnd ewige Lebensfrucht ergrieffen vnnd erlanget werden kan. Es muß aber von diesem Mittel aus Gottes Wort gründlicher vnd ausführlicher geredet werden / sintemal mit vnd in demselben zugleich das andere göttliche Mittel / vnd gleichsam die gebende Hand Gottes / nemlich sein heiliges Wort vnd Sacramenta importirt vnd angezeiget wird.“73 Auch diese Mittel haben eine in Gottes Ewigkeit verankerte und in der irdischen Zeit vollzogene Dimension.74 Glassius greift für die Ewigkeitsdimension darauf zurück, daß Christus in der Schrift nicht nur als Baum des Lebens, sondern auch als Buch des Lebens gilt, „in welches alle gläubigen Kinder Gottes von Ewigkeit her von GOtt sind eingeschrieben / vnd also zum ewigen Leben verordnet worden“.75 In konsequenter Aufnahme der lutherischen Ablehnung einer doppelten Prädestination76 schärft er sodann ein, daß es sich bei Gottes Ratschluß nicht
70 AV 3, Einleitung, S. 197. 71 AV 3, Einleitung, S. 198. 72 AV 3, Einleitung, S. 199. 73 Ebd. 74 Vgl. AV 3, Einleitung, S. 199: „Vnd damit ein gewisser Scopus oder Zweck vns vorgesetzet seyn möge / so soll von erwehnten Mitteln / so zur ewigen Seligkeit führen / kürtzlich vnnd einfeltiglich geredet werden / wie die H. Schrifft dieselbe vns beschreibe / 1. in aeternitate, in der Ewigkeit / nach der ewigen Praedestination vnd Versehung Gottes. 2. In tempore, in der Zeit / nach der göttlichen Krafft vnd Wirckung / welche in der in [sic!] Zeit den Menschen von Gott exe rirt vnd erwiesen wird.“ 75 AV 3, I, S. 200 f.; Glassius führt als biblische Belege Dan 12,2, Offb 13,8, 20,12.15, Phil 4,3, Mal 3,16–18, Jes 4,3, Ps 69,30, Lk 10,20, Offb 17,8 an. 76 Vgl. FC XI: „Von der ewigen Vorsehung“ (BSELK 1286–1293; 1560–1597).
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um ein „Decretum absolutum & indeterminatum, einen blossen Rathschluß / ohn Ansehung einigerley Mittel vnd Beschaffenheit“, sondern um ein „Decretum ordinatum & certis mediis determinatum, einen ordentlichen vnd in gewisse Mittel verfasten Rathschluß“ handele.77 Inhalt dieses „Decretum ordinatum“ Gottes ist die Sendung seines Sohnes zur Rettung der Welt durch dessen Sühnopfer am Kreuz und die weltweite Offenbarung und Predigt dieses Geschehens in der Kraft des Geistes Gottes, wodurch dieser Glauben wirkt in den Menschen, die sich seinem Wirken nicht widersetzen.78 Die ewige „Verordnung“ oder Bestimmung des Menschen zum Heil kann daher nur in ihrer Kongruenz zur zeitlichen „Verordnung“ in Gestalt der Heilszueignung durch die Evangeliumsverkündigung und Sakramentsausteilung recht wahrgenommen und abgelesen werden,79 wobei umgekehrt Gott in der Ewigkeit an den durch sein Wort zum Glauben kommenden Menschen diejenigen gleichsam „abliest“, die selig werden.80 Die Heilszueignung erfolgt also als wechselsei-
77 AV 3, II, S. 202. 78 Vgl. AV 3, II, S. 202 f.: „Es wolle GOtt der himlische Vater aus lauterlicher Liebe vnd Erbarmung seinen hertzlieben eingebornen Sohn der gantzen Welt zu gute ins Fleisch senden / vnd jhn zum Fluch vnd Versünopffer vor der gantzen Welt Sünde zum Mittler / Heiland vnd Erlöser aller Menschen auff Erden dahin geben in den bittern Tod / damit derselbe ein allgemeiner Baum des Lebens würde allen vnd jeden Menschen: Es wolle auch GOtt der HErr durch sein H. Wort vnd Evangelium in Krafft seines guten Geistes diesen seinen gnadenreichen Willen vnd Decret der gantzen Welt vnd allen Leuten offenbaren vnd predigen lassen. Welche Menschen nun der göttlichen Predigt von der Erlösung des menschlichen Geschlechts durch Krafft des H. Geistes Glauben zustellen / vnd im Gehorsam des Glaubens dem Reich des himlischen Königs Christi / in gründlicher Demut bestendig biß an jhr Ende sich vntergeben / vnd also dem heiligen beruffenden Geist Gottes durch eigenen Vngehorsam vnd bössen verkereten Willen sich nicht widersetzen werden / dieselben sollen nicht verloren werden / sondern das ewige Leben haben / sie sollen der Frucht des köstlichen Lebensbaums / derer sie hertzlich begehret / in der That ewiglich geniessen.“ Auch hierin folgt Glassius der Argumentation der Konkordienformel (vgl. FC SD XI, BSELK 1576,3–8). Die CA bietet statt des phänomenologischen Hinweises auf die „sich widersetzenden“ Hörer des Wortes lapidar die Auskunft, daß der Geist durchs Evangelium den Glauben wirke, wo und wann er will (CA V, BSELK 100 f.). 79 Vgl. AV 3, II, S. 205: „Auff was Weise / vnd durch welche Mittel GOtt der HERR den Menschen in der Zeit zum Himmelreich führet / eben auff solche Weise / vnd durch solche Mittel hat er auch von Ewigkeit her schlossen vnd verordnet. Sintemal Gottes Wercke sind eine richtige execution vnd Vollbringung seiner göttlichen Decretorum vnd ewigen Rathschlüsse […].“ 80 Vgl. AV, 3, II, S. 205 f.: „Nun aber führet GOtt die Menschen zur ewigen Seligkeit / durch wahren Glauben an seinen lieben Sohn / wie die gantze heilige Schrifft anzeiget. Derowegen so hat er auch den Menschen durch denselben Glauben selig zu machen von Ewigkeit her beschlossen / vnd auff solchen Glauben in seinem göttlichen Decreto ein Respect vnd Obsicht gehabt / vnd ist gar nicht einiges absolutum Decretum oder blosser Rathschluß Gottes (der ohn Ansehung einigerley Mittel allein in Gottes blossen Willen sich fundirte) dem liebreichen GOtt zuzu-
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tiger Lesevorgang zwischen Gott und Mensch. Hier, wo es um die Prädestinationslehre geht und wo damit für den angefochtenen Christen das tröstliche Evangelium auf dem Spiel steht,81 verweist Glassius als entscheidenden Trostgrund darauf, daß das Lebensbuch, das Jesus Christus selber ist, „nicht liber amethodos, sed methodicus maximè, es ist nicht ohne / sondern mit sonderbarer göttlichen Ordnung geschrieben / das ist / es hat GOtt der HERR seine lieben Auserwehleten zum ewigen Leben verordnet durch heilsame von jhm selbst gegebene Mittel / daß nemlich die jenigen sollen das ewige Leben haben / welche durch die Krafft des heiligen Geistes den rechten wahren Glauben an den Sohn Gottes aus desselben Wort schöpffen vnd erlangen / vnd darin biß an ihr Ende verbleiben.“82 Inhalt des „liber methodicus“ ist sowohl die ewige „Verordnung“ zum Heil, wie sie im Buch des Lebens geschrieben steht, als auch die „schöne Ordnung“,83 die „göttliche Ordnung“,84 nach der dieses Christusheil in der Zeit zu den Menschen kommt. Wer seine eigene Berufung nach 2Petr 1,10 f. festmachen will, der wird nicht auf einen willkürlichen Gottesakt geworfen, sondern an die – wiederum nicht willkürliche, sondern methodisch ihrem Gegenstand entsprechende – Beachtung und Betrachtung dieser göttlichen Ordnung gewiesen, die neben der Liebe Gottes als Brunn quell (im Bild des Baumes: als Wurzel) wiederum die Sendung des Sohnes ins Fleisch und die glaubensschaffende Wirkung des Geistes durch das Wort umfaßt.85 Bei einem erneuten Blick in „das Buch des Lebens“ gemäß der Heiligen Schrift entdeckt Glassius schließlich, daß dieses in Offb 13,8 auch „das lebendige Buch des Lambs / das erwürget ist von Anfang der Welt“ genannt wird, woraus er folgert, unsere Erwählung durch Gott sei um des Blutes und Todes Christi willen geschemessen / sonst würde man einen wandelbahren / vnwarhafften vnd heuchlerischen GOtt erdichten / der anders bey sich beschliesse / anders aber das beschlossene Werck verrichten thete […].“ 81 Vgl. AV 3, III, S. 207: „Ja / spricht ein Christliches Hertz / worbey soll ich erkennen / daß ich auch in derer jenigen Zahl bin / welche im Buch des Lebens für GOtt geschrieben stehen / vnd zum ewigen Leben verordnet sind / damit ich mich auch dieser wichtigen grossen Herrligkeit erfrewen vnd darmit trösten könne?“ 82 AV 3, III, S. 207. Vgl. Glassius, Prophetischer Spruch=Postill. Dritter Theil […], Nürnberg 1647 (= SP III), fol. a 2, Vorrede: „Weiter hat Gott auch beschlossen / daß er solch sein H. decret der Seligmachung / nicht ohn / sondern durch Mittel / die er selbst verordnet / ins Werck stellen wolle. Vnd solches Mittel ist sein heiliges Wort / in welchem er sich vns / von Natur gantz verblendeten vnd geschändeten / nach seinem Göttlichen Wesen vnd Willen offenbahret / vnd hiedurch / als eine Krafft Gottes / Rom. 1/16. oder als ein kräfftiges Mittel / vns erleuchtet / wiedergebieret / ernewert / vnd in sein Bilde verkläret 2. Corinth. 3/18.“ 83 AV 3, IV, S. 211; diese „schöne Ordnung“ entnimmt Glassius dem „schöne[n] Apostolische[n] Wort“ aus 2Thess 2,13 f. 84 AV 3, IV, S. 213, 217. Unter Hinweis auf Röm 8,29 f. spricht Glassius von der „recht güldene[n] Lebenskette“ (a. a. O., S. 212). 85 Vgl. den ganzen Zusammenhang in AV 3, V, S. 214–219.
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hen, der uns zugleich nach Gal 3,1 vor Augen gemalt ist und ein Vorbild gegeben hat, dem wir nach Mt 11,29, 1Petr 1,19 und 2,21 nachfolgen sollen.86 Die collatio mit weiteren Stellen zum Thema „Buch des Lebens“ aus Phil 4,3, Dan 12,1 f., Jes 4,3 f. und Mal 3,16–18 faßt Glassius so zusammen: „Summa Summarum, das Buch des Lebens ist von GOtt geschrieben / nicht mit Dinte vnd Federn / sondern mit dem rosinfarben Blute des Lämbleins Gottes. Wer nun mit diesem Blute Christi sein Gewissen reiniget von den todten Wercken / zu dienen dem lebendigen GOtt / Ebr. 9. v. 14 vnd durchs Predigtampt zubereitet / vnd als ein Brieff Christi geschrieben ist / nicht mit Dinten / sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes / nicht in steinern Tafeln / sondern in fleischern Tafeln des Hertzen / wie Paulus redet 2. Corinth. 3. vers. 4. derselbe ist auch ins göttliche Buch des Lebens eingeschrieben / (denn diese Schrifft / davon an jetzt gedachtem Orts von Paulo geredet wird / ist gleichsam ein apo,grafon, oder heilige Nachschrifft / so aus dem Autographo des Buchs des Lebens / als aus seinem Fundament genommen)“.87 In dieser Funktion als Apograph oder Nachschrift des himmlischen Lebensbuches Christus ist „die heilige Schrifft oder Bibel“ das „verfaste Wort Gottes“ und „das einige Mittel vnd Werckzeug“, „dadurch vns GOtt will selig machen“, wie nach Glassius der Geist Gottes in der Schrift vielfältig bezeugt.88 Als solches Mittel aber erschöpft sich die Schrift nicht darin, „Nachschrift“ des Buches des Lebens zu sein, sondern will nun wiederum in Vollendung der oben bereits erwähnten pneumatologischen Kondeszendenz zu einer erneuten Nachschrift im Herzen der Menschen in Gestalt des Glaubens sorgen, soll das durch Schrift und Predigtamt in Gesetz und Evangelium89 verkündigte Wort zum „lo,goj e;mfutoj“ nach Jak 1,21 werden.90 Glassius sieht das auf diese Weise den Glauben wirkende Gotteswort veranschaulicht in der „schönen Metaphora“ von den Blättern des Lebensbaums, von denen nach Offb 22,2 gilt, daß sie der „Gesundheit der Heyden“ dienlich sind und somit als „folia sanativa“ bezeichnet werden können.91
86 AV 3, VI, S. 219–221 mit dem Zitat a. a. O., S. 219. 87 AV 3, VI, S. 223. 88 AV 3, VII, S. 225. 89 Vgl. AV 3, VII, S. 226 f.: „Denn ob zwar der wahre seligmachende Glaube an Christum nicht aus dem Gesetz / sondern aus dem Evangelio her fleust / wie Gal. 3. v. 2. stehet: So ist doch das heilige Gesetz Gottes darzu kräfftig / daß dadurch vnser Vnvermügen / böse Natur vnd sündiges Wesen erkennet / Rom. 3. v. 20. cap. 7. v. 7. seqq. vnd das Hertz des Menschen mit wahrer Rew vnd Busse zerknirschet / gedemütiget vnd zerschlagen wird Ps. 51. v. 18. Esa. 57. v. 15. c. 61. v. 1. damit also die gnedige Erquickung Gottes durch die liebliche Stimm des Evangelij / darauff erfolgen könne.“ 90 Vgl. AV 3, VII, S. 225–227 mit dem Zitat a. a. O., S. 226. 91 AV 3, VIII, S. 227 f. Glassius verweist a. a. O., S. 228, auch auf Ez 47,12, wo es heißt: „Jhre Frucht wird zur Speise dienen / vnd jhre Bletter zur Artzney.“
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In einer Zusammenstellung (collatio) mit anderen Schriftworten entfaltet der Thüringer Theologe dies dahingehend, daß Christus ein immergrünender Baum ist, wie er in Ps 1,3 beschrieben wird, da seine Blätter niemals abfallen, insofern sein Wort nach Jes 40,8 ewiglich bleibt. Die in 2Sam 5,24 berichtete Episode, wo Gottes Eingreifen zugunsten Davids im Kampf gegen die Philister am Zeichen des Windesrauschens in den Wipfeln der Maulbeerbäume erkennbar wird, eignet sich zudem zur Veranschaulichung der Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift: „Wenn wir hören das rauschen der Bletter auff vnserm edlen Lebensbaum Christo JEsu / das ist / wenn sein heiliges Wort erschallet / vnd der göttliche Wind des heiligen Geistes dasselbe treibet vnd beweget / als denn sollen wir wissen / daß GOtt der HERR gewiß für vns herausziehe / vnsere Feinde zuschlagen / vnd wider sie beyzustehen. Ferner / gleich wie die grünende Bletter eines fruchtbaren Baums aus der innern Krafft vnd Safft desselben heraus wachsen / vnd keines weges von aussen angesetzet oder angekleistert werden: Also sind das jenige die rechten Heilande Bletter des Lebensbaums Christi / welche aus dessen jnnern Krafft herkommen / das ist / es ist das jenige allein für das kräfftige Wort Gottes anzunehmen vnd zu hören / welches vnfehlbar von jhme entsprossen / vnnd vns offenbaret ist. Solches ist bey vns einig vnd allein die heilige Schrifft / welche ist qeo,pneustoj von GOtt eingegeben / 2. Tim. 3. v. 16. vnd haben die heiligen Menschen Gottes geredet / (vnd auch dasselbe geschrieben […]) getrieben von dem heiligen Geist.“92 Zugang zum Baum mit seinen heilsamen Blättern und seinen ewiges Leben schenkenden Früchten aber gewährt jener Glaube, der wiederum durch die Nießung derselben Früchte von Gott empfangen und erhalten wird.93 Die Gläubigen sind es daher auch, in denen Gottes mit seinem berufenden Wort und Evangelium verbundener „Intent vnd Zweck durch Wirckung des heiligen Geistes erreichet vnd erfüllet wird“.94 Um seiner universalen Wirkung willen wird der zunächst im jüdischen Volk gepflanzte Lebensbaum nach Christi Himmelfahrt „auch an andre Ort / nemlich in die gantze Welt / vnd vnter alle Heyden vnd Völcker versetzet vnd gepflantzet“, wird die Wurzel Jesse (Jes 11,10) zum Panier der Völker (Röm 15,12), erweckt Gott durch seine Berufung die Heiden zum Reich seines Sohnes und läßt so deren geistliche Einöde zum blühenden Garten werden (Jes 35,1 f.), werden Heiden eingepfropft in den guten Ölbaum Christus (Röm 11,17).95 Da der Glaube als Wirkung des Wortes, wie Glassius unter breiter Aufnahme von Luthers 92 AV 3, VIII, S. 230 f. 93 Vgl. AV 3, IX, S. 233 f., hier etwa S. 234: „[…] daß der wahre Glaube sey eine von GOtt geschenckte Macht an dem Baum des Lebens Christo / das ist / ein frewdiger offenbahrer Zutrit zu demselben / vnd Genießung aller desselben Lebensfrüchte / vnd himlischer Wolthaten […].“ 94 AV 3, X, S. 235. 95 Vgl. AV 3, XI, S. 237–239, mit dem Zitat a. a. O., S. 238.
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Vorrede zum Römerbrief darlegt, „ein lebendig / schäfftig / thätig / mächtig Ding“ ist,96 gehört zur Rechtfertigung des Sünders seine ebenso vom Geist durch das Wort gewirkte Erneuerung und Heiligung. Erst so ergreift der Glaube ganz und gar, was „der Scopus vnd Zweck“ der ganzen Schrift mit all ihren Befehlen und Anreizungen, Historien und Exempeln, Wundern und göttlichen Gnadengaben ist, nämlich die „Pietas, Gottseligkeit“,97 die nach Tit 2,11 ff. in der Absage an gottloses Wesen wie in der konsequenten Ausrichtung des Lebens auf die Begegnung mit dem wiederkommenden Christus zum Ausdruck kommt.98 Diese Erneuerung aber ist nichts anderes „als die Wiederbringung des göttlichen Ebenbildes / darzu der Mensch im Anfang erschaffen“, die zwar in diesem Leben „sehr vnvollkommen“ bleibt wegen der Anfechtung durch die Sünde, aber gerade um der heilsamen Wirkung der Lebensblätter des Wortes willen die Vereinigung der Seelen mit dem Lebensbaum Christus zum Ziel hat.99 In diese Seelen „transplantiret vnnd versetzet sich gleichsam der köstliche Lebensbaum CHRISTUS selbst gantz und gar“,100 indem er durch den Glauben Wohnung in den Herzen nimmt (Eph 3,17, Gal 2,20). Zugleich „wird ein solcher Mensch in Christum den Baum des Lebens gepflantzet“ (Röm 11,17).101 Ziel von alledem und damit Endzweck der Schrift aber ist die „wunderbare / heilige / geistliche Union vnd Vereinigung Christi vnd einer gleubigen Seelen“,102 die wiederum sowohl im kontinuierlichen gläubigen Empfang Christi als der Gnadengabe Gottes als auch in der Nachfolge seines Vorbildes Gestalt gewinnt.103 Solange aber der Christ in diesem Leben unterwegs ist und daher den Stand der Vollkommenheit noch nicht erreicht hat, bleibt er für dieses Geschehen angewiesen auf die Bitte „vmb den Beystand vnd Regierung des heiligen Geistes“ und auf das fleißige „lesen / hören vnnd betrachten“ von Gottes heiligem Wort.104
96 AV 3, XV, S. 251; vgl. WA.DB 7,10,6–12. 97 AV 3, XV, S. 252. 98 Vgl. AV 3, XV, S. 253 f. 99 AV 3, XV, S. 254. 100 AV 3, XV, S. 255. 101 AV 3, XV, S. 256. 102 AV 3, XV, S. 256. 103 Vgl. AV 3, XV, S. 256–258. 104 AV 3, XVII, S. 259.
Zusammenfassung: Die biblische Methode (methodus biblica)
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2.3 Z usammenfassung: Die biblische Methode (methodus biblica) Wie der Lebensbaum und mit diesem die Schrift als zentrales Medium der Selbstmitteilung Gottes die Wurzel in der ewigen Liebe Gottes zu den Menschen hat, so wurzelt der ihr als liber methodicus entsprechende methodische Umgang in der ihr geltenden Liebe ihrer Empfänger und Ausleger, in der Liebe zum Wort, der Philologie. Dies prägt Glassius in immer neuen Varianten seinen Lesern ein. Die aus einer solchen Haltung erwachsende Sorgfalt im Umgang mit der Schrift gilt dieser nicht im Sinne eines abstrakten Gegenstands, sondern im Sinne eines einzigartigen sakramentalen Wirkmittels, wodurch Gott sich dem Menschen mitteilt und dessen Leben heilsam verändert. Die Schrift ist daher nicht Selbstzweck, sondern sie spielt eine Gott und dem Menschen dienende Rolle.105 Die Heilige Schrift ist das von Gott verordnete Mittel seiner Offenbarung und Selbstmitteilung: Gott gibt sich kund, offenbart seine Natur, sein Wesen, seinen Willen und sein Wohlgefallen106 durch ein Buch, worin der Mensch zugleich die Ordnung der rechten Erkenntnis dieses Buches vorfindet, eine Ordnung, die sich in einem ihr entsprechenden methodischen Verfahren widerspiegelt. Die Aufgabe der Theologie als Philologie kann dabei schrifttheologisch und bildtheologisch entfaltet werden. Die Erforschung der Schrift gibt Aufschluß über den als Lebensbuch verstandenen Skopus bzw. die „Urschrift“, die in ihr „nachgeschrieben“ ist, Jesus Christus. Zugleich dient diese Erforschung der Schrift dem vorgegebenen Zweck, einer erneuten „Abschrift“ im Herzen bzw. im Bewußtsein der Leser und Hörer. Bildtheologisch ist Christus in seiner irdisch erschienenen Gottebenbildlichkeit das inkarnierte, menschgewordene Urbild, das in vielfältiger Weise durch die Figuren und Bilder in der Schrift abgebildet wird, die wiederum den Adressaten dieser Figuren und Bilder dazu verhelfen, in der durch den Glauben gestifteten Gemeinschaft mit Christus die seit dem Urstand verlorene Gottebenbildlichkeit wiederzugewinnen. Dem Zusammenhang von Christus als liber vitae, als Buch des Lebens, der Schrift als dessen Abschrift und dem Glauben als dessen Nachschrift entspricht die Linie von Christus als Gottes Ebenbild, der
105 Dies kommt indirekt sehr schön im Widmungsgedicht Johann Gerhards für Glassius’ Schrift Arbor vitae zum Ausdruck, worin er seinen Schüler als Herold des heiligen Wortes und Arznei seiner Seele bezeichnet, da er Blätter und Früchte zeigt am Baum des Lebens, was eine Tätigkeit ist, die Gott und den Gläubigen willkommen ist („Res ea grata DEO, res ea grata piis.“; AV, fol. c iij). 106 Vgl. auch GG, S. 2: „Ohne welche Göttliche Offenbarung es sonst unmüglich gewesen wäre / daß Gottes Natur / Wesen / Eigenschafften / auch Vorsatz / Willen und Wolgefallen / von der wunderbahren allweisen Verordnung der Mittel zur Seeligkeit / von einigem Menschen hätte begriffen / und erkand werden können.“
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Schrift als Bilderbuch Christi und dem Christusglauben als Weg zurück zur Gott ebenbildlichkeit des Menschen. Die so konstituierte Erkenntnisordnung hat einen christologischen und einen pneumatologischen Pfeiler. Als ihren zentralen Skopus gibt die Schrift selbst Christus vor. Als ihren Zweck und Hauptnutzen schenkt die Schrift selbst kraft des durch sie wirkenden Gottesgeistes Glaube als Leben in der Gemeinschaft mit Gott, die Seligkeit. Um dieses Skopus und um dieses Zweckes willen wird der Leser in der von Gott zur Kundgabe seines in Ewigkeit angeordneten Heilswillens nunmehr in Zeit und Raum „angeordneten“ Schrift einer Fülle von weiteren „Anordnungen“ Gottes gewahr. Diese setzen wie die Schrift in ihrer Gesamtheit Wirklichkeit, indem sie Christus vielfältig, klar und anschaulich verkünden, vergegenwärtigen und dadurch Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch herstellen. Zu diesen Anordnungen gehören die klaren Gebote, Verheißungen und Taten Gottes, von denen die Schrift kündet, ebenso wie die Bilder und Figuren, durch die die klaren Worte Gottes und die durch sie gesetzte Wirklichkeit veranschaulicht werden.107 Die von Gott durch Anordnungen gestifteten „Mittel“ bzw. media seiner Selbstkundgabe, angefangen bei den Geboten und Verheißungen bis hin zu den Figuren, sind es daher, wodurch wiederum der Adressat der Schrift Kenntnis, Gewißheit und Anschauung über den Skopus und Zweck der Schrift erhält.108 Durch die klaren Schriftworte wird Gewißheit gestiftet, sei es über den Skopus und Zweck der Schrift,109 über die in ihr wirksamen Mittel110 und Regeln111 und die Schlußfolgerungen für den durch sie gewirkten Glauben.112 Durch die Figuren 107 Der konfessionsübergreifende Konsens in diesem Punkt ist für das 17. Jahrhundert klar erkennbar. Vgl. etwa für die reformierte Seite Abraham Scultetus, Psalm=Postill / Darinne Auff einen jeden Sontag im Jahr / einer oder mehr Psalmen / welche sich auff die Sontägliche Evangelien reymen / erklärt: Auch daneben noch andere schöne Texte / Historien und Bilder altes Testaments hin und wieder mit eingemenget werden. […], Frankfurt a. M. 1669, S. 307: „Wol mögen wir nun sagen mit dem Apostel Paulo / daß Christus gestorben und aufferstanden sey nach der schrifft / sintemahl sein Tod und Aufferstehung nicht allein klar geweissagt / sondern auch lieblich ist fürgebildet worden.“ 108 Auch hiermit liegt der Thüringer ganz auf der Linie der lutherischen Bekenntnisschriften. Vgl. Armin Wenz, Das Wort Gottes – Gericht und Rettung. Untersuchungen zur Autorität der Heiligen Schrift in Bekenntnis und Lehre der Kirche (= FSÖTh 75), Göttingen 1996, S. 21–54. 109 Vgl. AV 3, Einleitung, S. 199: „[…] ein gewisser Scopus oder Zweck […].“ 110 Vgl. AV 3, II, S. 202: „[…] Decretum ordinatum & certis mediis determinatum, einen ordentlichen vnd in gewisse Mittel verfasten Rathschluß […].“ 111 Vgl. AV 4, VI, S. 285: „Nun aber ist ein vnfehlbare gantz gewisse Regel / daß dieser Name Jehova, HERR / keiner erschaffenen Creatur / sie sey Engel oder was anders / sondern dem wahren lebendigen GOtt einig vnd allein gebühre vnd in heiliger Schrifft zugeeignet werde.“ 112 Vgl. AV 4, XIV (Zur Beschneidung Jesu), S. 313 f.: „Denn dieweil er als ein zartes Kindlein in seiner wahren Menschheit gegrünet / damit hat er bestetigen vnnd gewisse Anzeig thun wollen /
Zusammenfassung: Die biblische Methode (methodus biblica)
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wiederum werden die sachlichen Gewißheiten des Glaubens veranschaulicht. Die biblische Botschaft ist daher für Glassius in ihrer Vielfalt und Fülle nicht nur klar und gewiß, sondern auch schön und lieblich.113 Glassius macht sich diese doppelte Vorgabe methodisch bereits in seiner Erbauungstheologie zu eigen, wie er sie in Arbor vitae vorträgt, indem er nach dem schöpfungstheologischen Muster eines Baumes mit Wurzeln, Blättern und Früchten den sollennen „Anordnungen“ Gottes von der ewigen Gnadenwahl bis hin zu den christologischen und pneumatologischen Inhalten der Schrift ebenso nachzeichnend folgt wie den zentralen biblischen Figuren, wodurch die großen Anordnungen Gottes veranschaulicht werden. Durch das Nachzeichnen und Herausstreichen dieser Figuren wird die Erkenntnis von Skopus und Zweck der Schrift wiederum entfaltet, verstärkt und somit für die Empfänger bekömmlich und fruchtbringend, worüber Glassius gemeinsam mit Luther bereits zu Beginn seines Werkes staunt, wie wir anhand der dem Titelblatt folgenden Lutherzitate beobachten konnten. Daß die ganze Fülle göttlicher Wohltaten in aus der Schöpfung genommenen Bildern ausgesagt werden kann, macht in diesem Kontext zudem die Schöpfung zu einem ebenfalls vom Geist Gottes in Anspruch genommenen göttlichen Bilderbuch und Medium der Verkündigung.114
daß er sey der einige Mitler zwischen Gott vnd Menschen / nemlich der Mensch Christus Jesus / 1. Tim. 2. v. 5. Dieweil er in seinen vergossenen rohten Blutströpfflein geblühet / damit hat er bestetigen vnnd gewisse Anzeige thun wollen / daß er mit seinem Blut / welches nach diesem am Stam des Creutzes vergossen werden solte / die Reinigung vnserer Sünden machen wolle / durch sich selbst / Hebr. 1. v. 3. dieweil er den Namen JEsu als eine süsse Mandelfrucht getragen / damit hat er bestetigen vnnd gewisse Anzeige thun wollen / daß er sey der JEsus vnnd Salvator, der sein Volck selig mache von jhren Sünden / Matth. 1. v. 21.“ 113 Das Adjektiv „lieblich“ kommt in Arbor vitae 119mal vor, das Adjektiv „schön“ 213mal. „Bild“ als selbständiges Wort oder als Wortbestandteil („Fürbild“, „fürbilden“ etc.) kommt 150mal vor. 114 Bei der Auslegung von Gen 21, wo Abraham einen Hain mit Bäumen pflanzt, zitiert Glassius aus Hld 8,13 die Rede des Bräutigams an die Braut: „Die du wohnest in den Gärten (sagt er) laß mich deine Stimme hören“, und kommentiert dazu, dies sei gesagt „[z]ur Anzeige / daß ein gläubiger Christ bey Pflantzung jrrdischer Gärten vnnd Bäume sich fürnemlich mit Betrachtung der himlischen Gnadengüter im Geist erfrewen soll. Es wird vns ja daselbst in der Natur die vberschwengliche Hoheit der göttlichen Gnade vnd Barmhertzigkeit gnugsam vnd sehr lieblich vorgebildet vnd vorgemahlet / darumb auch die heilige Schrifft offtmals zu solcher Betrachtung vns führet.“ (AV 5, I, S. 335) Zum lutherisch-reformierten Konsens in diesem Punkt vgl. das Zitat bei Scultetus, Psalm=Postill, S. 550: Gott „hat uns fürgelegt das grosse buch der natur / Er hat uns fürgelegt das buch seines heiligen geoffenbarten worts.“ Zu altkirchlichen und mittelalterlichen Vorbildern hierfür (Augustinus, Alanus, Hugo von St. Victor) vgl. Heimo Reinitzer, Einleitung. In: Hermann H. Frey, Therobiblia. Biblisch Thier- Vogel- und Fischbuch (Leipzig 1595) (= Naturalis Historia Bibliae. Schriften zur biblischen Naturkunde des 16. – 18. Jahrhunderts 1), Graz 1978, S. XIXf, Anm. 4 f.
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Theologie als „heilige Philologie“ – Erbauungstheologischer Prolog
Die theologische Nachschrift des durch die Schrift gewirkten Glaubens in mündlicher Predigt und schriftgewordener Erbauung, wie wir sie in Glassius’ Werk Arbor vitae vor uns haben, lebt daher von der ganzen Vielfalt der göttlichen Anordnungen und Mittel, die der Geist in der Schrift und (wie darin offenbart) in der Schöpfung einsetzt und benutzt, durch die er Christus zu erkennen gibt, damit die Menschen, die von Natur aus nichts Göttliches erkennen können, ihrem Fassungsvermögen gemäß erleuchtet werden durch klare Worte und figürliche Reden, die sich an den Verstand und die Sinne wenden.115 So wird der Mensch durch den Umgang mit der Schrift und durch ihre sprachlichen Mittel dem Bild Gottes gleich, das in Christus sichtbar auf Erden erschienen ist. Aufgrund der sprachlichen und geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes „im Sichtbaren und Hörbaren“ der Schöpfung ist es nicht nur möglich, sondern unumgänglich, daß der durch die Schrift gewirkte Glaube und sein Nutzen dann mit logisch-rationalen Mitteln im Diskurs (in Buch und Predigt als „Nachschrift“ der Schrift) entfaltet und mit ästhetischen Mitteln in Rhetorik, Kunst und Musik ausgelegt werden. Theologie als heilige Philologie entspricht so dem Skopus und Zweck der Schrift als der heilsamen Selbstmitteilung Gottes in Christus durch den Geist, indem sie diese Selbstmitteilung in der ganzen Fülle denkerisch und künstlerisch wahrnimmt und wiederum selber darlegt. Hier besteht jeweils eine Wechselseitigkeit: Theologie redet auch in figürlichen Mitteln. Kunst und Musik „reden“ theologisch, indem sie biblische Bilder „nachmalen“ oder himmlische Gesänge „nachsingen“.116 Bei Glassius kann man beob115 Daß Rationalität und Sensualität auf seiten des Menschen kraft des göttlichen Schöpfungswerkes zu den durch den Sündenfall zwar beschädigten, aber gleichwohl von Gott in der Offenbarung gemeinten Rezeptionsorganen der göttlichen Zuwendung gehören, spricht Glassius in seinen Selecta Mosaicae auch explizit aus (vgl. Selecta Scripturae Divinae Mosaicae. Süsser Kern und Außzug Oder Geistreiche und Heylsame Betrachtung der vornehmsten Lehr=reichen Geschichten / Dinge und Sprüche in den Büchern Mosis begriffen, Nürnberg 1657, S. 69): „Der Mensch […] allein ist mit der Vernunfft begabet / hat in sich divinam particulam aurae, ein schönes Stück= und Liechtlein deß verständigen Wesens Gottes […]“; a. a. O., S. 79 (zu Gen 2,7): „[…] das Einblasen Gottes [ist] auf menschliche Art also geredet / es wird aber nichts anders verstanden / denn daß Gott der HErr alsbald / da Er deß Menschen Leib aus der Erden formiret / ihm auch eine lebendige vernünfftige Seele eingeschaffen / und zur Reg= und Bewegung / zum Leben und Wandel / gegeben habe […].“ Mithin mache dieses Einblasen den Menschen in dreierlei Hinsicht dem Schöpfer ähnlich: Beide sind geistliche, unsterbliche und vernunftbegabte Wesen. Dabei gehören die menschlichen Sinne zum dritten Aspekt und sollen der Ausrichtung des Menschen auf Gott dienen. Vgl. a. a. O., S. 84: „Deine Sinne sollen in Gott gezogen seyn / daß du alles / was du siehest / hörest / schmeckest / riechest / angreiffest / und fühlest / dich lässest zum Erkentnis / zur Furcht und Liebe Gottes / und zum Vertrauen auf Ihn / führen und leiten.“ 116 So wie das irdische theologische Gespräch sein Urbild im himmlischen colloquio Christi mit seinen Auserwählten hat (vgl. AV 2, XXXI, S. 185), so bildet der irdische Lobpreis den himmli-
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achten, daß in der Theologie auf so gut wie allen Ebenen auch figürlich geredet werden kann. Der in der methodus biblica wirksame Zusammenhang von Skopus, Nutzen und wirksamen Mitteln (media) konstituiert also eine Bezogenheit der Schrift auf alle menschlichen Sinne und Affekte (über die Sinne geht das Wort ins Herz, in den Affekten äußert sich der durchs Wort gewirkte Herzensglaube) und damit den multimedialen Charakter der Schrift, in dessen Horizont die figürliche Rede eine prominente Rolle spielt. So verwundert es am Ende auch nicht, daß Glassius in einem erbauungstheologischen Werk eine biblische Methodik der Theologie entwerfen kann – und umgekehrt, wie noch zu zeigen sein wird, in seinem hermeneutisch-methodischen Hauptwerk „Philologia sacra“ immer wieder erbauungstheologische Exkurse und Stilmittel aufnehmen kann. Damit wird deutlich, daß die auf die Auferbauung der Hörer ausgerichtete figürliche Schriftauslegung nicht akzidentiell ist, sondern wesenhaft zur Theologie gehört, sofern sie von der Heiligen Schrift belehrte und diese mimetisch rezipierende Theologie ist. Umgekehrt und als bestätigende Gegenprobe kann man bei Glassius beobachten, daß die dogmatische Schriftlehre im Anschluß wiederum an Eph 4 nachgerade als Gemeindeaufbaumethode gefaßt werden kann.117 Daher kommt dem Theologen als ordiniertem und von Gott ins Hirtenamt eingesetztem Prediger des Wortes eine hohe Verantwortung zu: Als Prediger und Seelenhirte ist er ein Philologe, ein Liebhaber des Wortes, das er predigen, mit dem er weiden soll. Denn qua Amt ist ihm wie den neutestamentlichen Apostelschülern schen ab. Vgl. AV 2, XIX, S. 146: „Gleich wie allhier auff Erden durch eine liebliche wolklingende Kirchen Musicam das Hertz erfrischet vnd erfrewet / vnnd die lebendigen Geisterlein erquicket / vnnd ein Gottliebender Mensch zum Lob vnd Dienst Gottes auffgemuntert wird / dannenher Davids Musica macht / daß Gott seine Frewde vnd Wonne ist Ps. 43. v. 4. Also / vnd vnausdencklich viel mehr wird aus der zusammen gestimten himlischen Frewdenmusica des Lobs vnnd Preises Gottes (so von Engeln vnd Menschen im ewigen Leben ohn Auffhören schallen wird) ein vnseglichs Jubilirn / vnnd herrliche himlische Frewde in allen Gottlobenden Außerwehleten entstehen. […] Ach ja / wer zu dieser himlischen Frewdenmusic kommen wil / der muß in diesem Leben anfahen GOtt von Hertzensgrund zu loben vnd zu preisen.“ (mit einer collatio von Ps 68,18, Jes 61,10, Ps 84,3, 19,2, 51,16, 103,1–5, 148, 150) 117 Vgl. GG, Vorrede, fol. )( ij: „In dem Sendschreiben Pauli an die Christliche Kirche zu Epheso / wird die Endursach des Predigampts / welches Christus eingesetzt also beschrieben / daß es sey die Erbauung des Leibes Christi / cap. 4/12. durch welchen Leib die Kirche selbst verstanden wird / deren Haupt Christus ist / v. 15. Wie aber und welcher massen diese Erbauung des Leibes Christi geschehe / berichtet der H. Apostel sehr nachdencklich in hernach folgenden Worten: Sie geschicht nemlich / 1. Durch die Erkäntnis der Warheit / daraus der waare seeligmachende Glaube erwächset / v. 13. Biß daß wir alle hinan kommen / zu einerley Glauben und Erkäntnis des Sohns GOttes. […] 2. Durch die Liebe und das Gottselige Leben / so nach vorgedachter Warheit / oder der reinen Göttlichen Lehre / angestellet und geführet wird. v. 15.“
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die Schrift und der sorgfältige methodische Umgang mit dieser aufgetragen, um durch die solchermaßen grundgelegte Verkündigung der Nachschrift im Glauben nicht nur bei sich selber, sondern auch bei den ihm anbefohlenen Hörern den Weg zu bahnen und so deren Seelen und damit die Kirche aufzuerbauen.118 Die methodische Selbstkundgabe Gottes im Buch der Schrift bildet sich so ab im diese Selbstkundgabe nachzeichnenden methodischen Umgang des Philologen mit der Schrift. Theologie als Philologie ist eine methodisch nachvollziehbare, darstellbare, erlernbare und insofern wissenschaftliche Arbeitsweise, die möglich wird, weil der Mensch Gottes als eines bonum gewahr wird, das sich durch die Schrift und in der Schrift mitteilt und das aufgrund des Reichtums und der Komplexität der dadurch gewiß gestifteten Wirklichkeit durch seinen hohen Nutzen und durch seine Schönheit zu eifriger und gewissenhafter Beschäftigung anleitet. Die Aufgabe und Tätigkeit des Predigers und Theologen läßt sich dabei figürlich durch die Berufstätigkeit eines Botanikers bzw. Gärtners oder eines Apothekers beschreiben: Wie diese hat er die sich ihm darbietenden Güter analysierend zu beschreiben und einer heilsamen Anwendung nutzbar zu machen.119 Aus alledem ergibt sich eine komplexe Aufgabenstellung in Gestalt der theologischen Disziplinen, die sich im Werk von Glassius in einzigartiger Weise und in seltener Vollständigkeit auch gattungsspezifisch widerspiegelt, denn all diesen Teildisziplinen hat der Thüringer eigenständige, z. T. mehrbändige Werke gewidmet. Was die Schrift als einzigartiges Dokument der Selbstoffenbarung Gottes von allen anderen sprachlichen Werken der Geschichte unterscheidet, bedenkt die dogmatische Schriftlehre (Kap. 3). Welche Mittel der Heilige Geist in der Schrift gebraucht, um seine auf Skopus und Zweck derselben gerichteten Ziele zu erreichen, bedenken grammatische, stilistische und rhetorische Analyse (Kap. 4). Wie das Erkennen des in der Schrift vom Geist Intendierten „funktioniert“ bzw. wie es durch die Schrift und ihre vielfältigen Mittel zur authentischen Nachschrift und Rezeption im Glauben kommt, bedenkt die Hermeneutik als theologische Verstehenslehre (Kap. 5). Einsicht in die Vielfalt der in der Schrift dargebotenen Texte und in deren jeweils spezifischen Skopus und Gesprächsbeitrag im Rahmen des vielfältigen Schriftenkanons erbringt die Exegese (Kap. 6). Zu einer ihrem Skopus
118 Die Selbstverortung bei den Apostelschülern kommt bei Glassius auch dadurch zum Ausdruck, daß er seinen methodisch reflektierten Umgang mit der Schrift immer wieder an zentralen Stellen mit schrifttheologisch geprägten Anweisungen aus den Pastoralbriefen begründet. So eröffnet Glassius beispielsweise seine programmatische Vorrede zur Kurfürstenbibel mit 2Tim 3,13– 17 und strukturiert diese Vorrede nach diesem Text. 119 Daß Glassius dies zumindest bei einem seiner ersten Leser gelungen ist, zeigt das oben bereits erwähnte Widmungsgedicht Gerhards, wo es heißt: „Praeco sacri, atque animae portio magna meae, Quòd folia & fructus ostendis in arbore vitae […].“ (AV, fol. c iij)
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und Zweck entsprechenden applicatio der Schrift kommt es in Gestalt einer methodisch reflektierten und durchgeführten Predigt und Seelsorge in Homiletik und Poimenik (Kap. 7).
3 D as Proprium der Heiligen Schrift – Schriftlehre als dogmatische Philologie 3.1 D as katholische Bekenntnis zur Hoheit und Würde der Schrift Seine Widmungsvorrede an Kurfürst Johann Georg von Sachsen (1585–1656) zu den ersten beiden Büchern der Philologia sacra aus dem Jahr 1623 eröffnet Glassius mit einem Bekenntnis zum reformatorischen Schriftprinzip. Unter allen Dogmen, welche in den der unveränderten Confessio Augustana (= CA) treu anhängenden Gemeinden für unverletzlich gelten, nehme das Dogma über die höchste Würde und Autorität der Heiligen Schrift den ersten Platz ein.1 Daß Glassius hier die CA mit ihrer Fortschreibung und Auslegung durch die Konkordienformel wahrnimmt, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß eine explizite Darlegung des Schriftprinzips in der CA noch fehlt und im Corpus der Bekenntnisschriften erst in der Konkordienformel ausgeführt wird.2 Nach dem begründenden Hinweis auf die Theopneustie der Schrift und auf schriftinterne Beispiele dafür, daß es sich in ihr jeweils um Gottes Worte handele (nach 2Tim 3,16, Röm 3,2 und Joh 6,68), bietet Glassius zur Unterstreichung einen Chor von Zeugen aus der jüdischen und christlichen „Kirche“ auf. Bei den Rabbinen werde die Schrift nach Petrus Galatinus als „ein Heiligtum Gottes selbst“ bezeichnet. Athanasius nenne sie „der Seelen Speise“, Basilius „eine allgemeine Heilanstalt der Seelen“, Irenäus „die Richtschnur der unveränderlichen Wahrheit“, Chrysostomus „die genaue Waage, Norm und Richtschnur aller theologischen Dinge“, Augustinus „eine göttliche Waage“ und Athanasius „den Anker und die Stütze unseres Glaubens“.3 Wie wichtig bei Glassius und in seinem Umfeld die Wahrnehmung dieser „Wolke von Zeugen“ auch im Zusammenhang 1 Vgl. PS, S. 5: „Inter omnia, quae in orthodoxis, & Augustanam invariatam Confessionem sincere amplexis piorum coetibus, sacrosancta habentur, & diligenter excutiuntur, dogmata, principium jure merito locum obtinet ipsum dogma de Scripturae sacrae, quam BIBLIA appellare vulgo solemus, dignitate summa, jure sublimi & autoritate praeeminenti.“ 2 Vgl. Summarischer Begriff, BSELK 1216–1219; 1308–1319. Zum Schriftprinzip in den lutherischen Bekenntnisschriften vgl. Wenz, Wort Gottes, S. 15–20. 3 Vgl. PS, S. 5: „Est hyvdqm, Sanctuarium ipsius DEI, quo nomine a Rabbinorum antesignanis vocari, Petrus Galatinus tradit: Est yuch/j trofh., animae cibus, Athanasio: imo communis medica animarum officina; Basilio: est kanw.n th/j avlhqei,aj avklinh.j, norma veritatis invariabilis, Irenaeo: avpa,ntwn avkribh.j zugo.j kai. gnw,mwn kai. kanw.n, exquisite omnium rerum (Theologicarum) trutina, & norma, & regula, Chrysostomo: Est divina statera, Augustino: Athanasio vero anchora & sustentaculum fidei nostrae.“ https://doi.org/10.1515/9783110650556-003
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des Wissenstransfers in deutschsprachigen Schriften war, zeigt u. a. die ganzseitige Auflistung einschlägiger – zu gleichen Teilen ost- wie westkirchlicher – Kirchenväterzitate von Chrysostomus, Basilius, Cyrill von Jerusalem, Hieronymus, Augustinus und Gregor dem Großen zur einzigartigen Autorität und Heilswirksamkeit der Schrift in der Kurfürstenbibel.4 Auch hier werden in den Zitaten zum Teil Figuren und Bilder für die Autorität und Wirkung der Schrift und für die Aufgabe der Schriftauslegung aufgerufen. So nennt Chrysostomus die biblischen Bücher „der Seelen Artzney“ bzw. „eine Apotheke“ „zu Leidens-Zeit, daraus ihr Trost und Hülffe holen könnet“ (Hom. 9. ad Coloss.). Das Basiliuszitat lautet: „Welche Brunnen graben, finden so viel bessers Wassers, so viel tieffer sie graben: dann der Quellen Krafft wird dadurch erweitert, daß das Wasser so viel stärcker hervor strudeln kan: Also ist auch der Brunnen heiliger Göttlicher Schrifft. Wer ihre lebendige himmlische Quellen, vermittels des lieben Gebets, aufgraben und untersuchen will, wird gewißlich den Gnaden=Strom des Heiligen Geistes finden, und in seinem Hertzen fühlen.“ (Orat. 13) Hieronymus kommt mit der Erinnerung zu Wort: „Gebrauche dich der heiligen Schrifft, als eines Spiegels: wasche ab alle Unreinigkeit, erhalte, was du Schönes an dir findest; und bessere daraus dein Leben: denn die heilige Schrifft wiset [sic!] dir deine Sünde; und lehret dich, wie du davon rein werden kanst.“ (In Epist. ad Damas.) All diese Lobsprüche auf die Schrift aber werden von Paulus, dem Haupt der Apostel, mit einem einzigen Ausdruck zusammengefaßt, wenn dieser in Eph 2,20 nicht zögert, die Schrift die Grundlage der ganzen Kirche Jesu Christi zu nennen.5 Wenn sich nun, so Glassius weiter, bei einem Bauwerk vor allem darauf alle Überlegung richte, daß für das dem Gebäude zugrundegelegte Fundament stets seine eigene Stabilität gesichert ist, welche Mühe, Sorgfalt und Überlegung im Herrn müßten dann erst recht die Christen aufbringen, damit für dieses einzige, feste und göttliche Fundament des Glaubens und des ewigen Heils bei allen seine Autorität, Würde, Kraft und herausragende Bedeutung gesichert ist?6 4 Biblia. Das ist die gantze Heilige Schrifft […], Nürnberg 1736, sogen. „Weimarer Bibel“ (= WB), fol. f, im Anschluß an die Vorrede und die Fürstenporträts. 5 Vgl. PS, S. 5 f.: „Quae epitheta […], & si quae alia laudem Scripturae sanctae, omnem humanae laudis vim longe superantis, dici queunt, unius complex vocis comprehendit Apostolorum Coryphaeus, dum qemeli,on fundamentum totius Jesu Christi Ecclesiae vocare eam non dubitat: Aedificati estis, (Christiani omnes & singuli) evpi. tw/| qemeli,w| super fundamento Apostolorum & Prophetarum, Angulari lapide ipso Jesu Christo existente.“ 6 Vgl. PS, S. 6: „Quod si in re tectonica in id potissimum cura omnis & cogitatio convertitur, ut fundamento, quod substructum aedificio est, sua semper constet firmitas, soliditas & tetra,gwnon robur: Quae non danda opera Christianis est, quae non suscipienda in Domino cogitatio atque cura, ut fundamento isti fidei ac salutis aeternae unico, solido & divino, sua apud omnes constet autoritas, dignitas, robur & praeeminentia?“
Das katholische Bekenntnis zur Hoheit und Würde der Schrift
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Diese Einsichten des 30jährigen Glassius aus dem Jahr 1623 bekräftigt und begründet der spätere Gothaer Superintendent in mehreren Publikationen. Zu nennen ist zunächst Glassius’ jüngst neu edierte deutschsprachige Vorrede zur Kurfürstenbibel aus dem Jahr 1640.7 In dieser entfaltet Glassius die dogmatische Schriftlehre in enger Anlehnung an 2 Tim 3,13–17. Als ein erweitertes Seitenstück hierzu muß die in lateinischer Sprache vorliegende „Dissertatio Super Augustanam confessionem, ejusqve Apologiam, Prima Prooemialis, De Scriptura Sacra“ ebenfalls aus seiner Gothaer Zeit (1641) angesehen werden (= Diss.). Mit ihr eröffnet Glassius auf Anweisung seines Fürsten eine Reihe von vor Pfarrkonventen gehaltenen Dissertationen über die Confessio Augustana und ihre Apologie, indem er bei der Vorrede der CA einsetzt und deren Selbstbindung an die Heilige Schrift bzw. an das reine Wort Gottes zum Anlaß einer ersten Dissertation „De Scriptura Sacra“ nimmt.8 Auch hier geht Glassius programmatisch von 2Tim 3,13–17 aus und verweist darauf, er wolle ein Exzerpt seiner Vorrede zum Nürnberger Bibelwerk bieten, das er nunmehr aber um die Auseinandersetzung mit päpstlichen Gegenpositionen interpolierend ergänzt habe.9 Tatsächlich weisen diese beiden Texte einen parallelen Aufbau auf. So wird die Schriftlehre zunächst anhand der der Schrift in ihr selbst zugeschriebenen Benennungen und Eigenschaften begründet. Im zweiten Schritt erfolgt die Darlegung der Wirkungen der Schrift, bevor es schließlich drittens um den heilsamen und damit sachgemäßen methodischen Umgang mit der Schrift geht.10 Da Glassius in der zwei Jahre vor seinem Tod veröf-
7 Vgl. Steiger, Philologia, S. 157–226 (= WB, Vorrede). 8 Vgl. Dissertationum super Augustanam confessionem, ejusqve Apologiam, Prima Prooemialis, De Scriptura Sacra, in: ders., Opuscula, Leiden 1700, S. 833–868 (= Diss.), hier S. 834: „Cum ab Illustrissimo & Celsissimo Principe ac Domino, Dn. ERNESTO, […] in mandatis clementissimè datum mihi sit, augustum Augustanae Confessionis invariatae, ut & adnexum ei Apologiae librum, sub Dissertationum Theologicarum incudem, cum verbi divini praeconibus, in Ducatu Celsitud. ipsius inclyto, Ecclesiae Christi ministrantibus, revocare, necessarium ante omnia duxi, de Scriptura Sacrae & puro verbo Dei, (ex quo confessionis ejus doctrinam in suis terris, Ducatibus, ditionibus & urbibus traditam hactenus, ac in Ecclesiis tractatam esse, status Protestantes in praefatione ad Caesarem Carolum V. apertè & verissimè profitentur) die,xodon paullò luculentiorem praemittere.“ Der hier aufgenommene Textabschnitt aus der Vorrede der CA lautet: „[…] ex scripturis sanctis et puro verbo Dei […].“ (BSELK 89,12) 9 Vgl. Diss., S. 835: „Pertractatum hoc illustre Spiritus Sancti de scripto suo verbo testimonium à nobis fuit in praefatione, operi Biblico, jussu & auspiciis laudatissimi nostri Prinicipis, Noribergae nuper edito, praefixâ, ex qua, quae ad rem maximè facere videbuntur, excerpere, simul & avntiqe,ses Pontificiorum aliorúmqve paullò uberius expositâ, & aliis observatu dignis eam interpolare placeat.“ 10 Vgl. Diss., S. 835: „Tres ejus oraculi partes sunt. 1. De nominibus, epithetis, & attributis qvibusdam, qvae scripturae sacrosanctae codici Apostolus tribuit, iisdemque to. eiv/nai, essentiam,
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fentlichten deutschsprachigen Schrift „Christlicher Glaubens=Grund“ (1654)11 ein weiteres Mal, nun im Sinne eines theologischen Testaments,12 eine dogmatische Schriftlehre dargeboten hat, soll diese für die hier folgende Darstellung leitend sein, wobei die anderen beiden Texte ergänzend herangezogen werden.
3.2 auctoritas scripturae – Kanonisierung und Inspiration In seiner Dissertatio leitet Glassius die Autorität der Schrift, ihre Unabhängigkeit von der Kirche und die diesen Vorgaben entsprechende Schriftinterpretation thesenartig aus der Inspiration der Schrift ab.13 Im Glaubens=Grund wiederum zeichnet er mehrmals den Vorgang der Schriftwerdung als der gültigen Willensautoritatem, & efficaciam ejus exprimit ac commendat. 2. De effectis ipsius, & divino planè usu fructu. 3. De tractandi eam salutariter modo.“ 11 Vgl. jetzt (bei Abfassung dieser Arbeit noch nicht eingesehen) Andreas Betz, Salomon Glassius’ „Christlicher Glaubensgrund“ (1654). Eine lutherische Prinzipienlehre im Kontext der „Reformation des Lebens“ in Sachsen-Gotha des 17. Jahrhunderts. Edition und Studien. Dissertation Hamburg 2018. 12 Vgl. GG, fol. )( iiij: „Ich an meinem Ort / ob zwar bißanhero das von Gott mir gnädigst verliehene Pfund / bey der übrigen Zeit meines Ampts / ich vornemlich auff die Auslegung der H. Schrifft / und sonderlich auff die Anführung zu dem rechtmessigen Nutzen derselben / anzuwenden mich beflissen / desselben Vorsatzes auch (weil es der Christlichen Kirchen am meisten heilsam / erbaulich und auch nothwendig) solange mich Gott der HErr noch bey Leben lässet verbleiben werde; Jedoch aber / weil ich mit grosser Herzens Wehemut gesehen / wie Gotteslästerlich dieser unser Christlicher GlaubensGrund in jetziger Zeit vernichtet / verkleinert / geunehret / ja gar aus den Händen und Hertzen der Christen gerissen werden wolle / als habe ich mir (weil bevorab von Christlichen auch hohen Personen / ich hierzu animirt und ermahnet worden) im Nahmen des HErrn Jesu / von demselben vorgesetzt / meine Christliche Gedancken / zu Nutzen derer / die gern in teutscher Sprache davon Nachrichtung haben möchten / auffzusetzen / und nicht zwar alles / was in allerhand verknüpffte Zweifels=Knoten / betrieglicher Sophisterey versteckten und zusammen verdreheten Fragen / vorgebracht zu werden pfleget (welches auch in unser Muttersprache nicht wol seyn kan) doch / so viel zur gründlichen Wissenschafft und Versicherung des Gewissens nötig / auffs verständlichste darzulegen / und dergestalt in meinem Alter / und vor meinem seligen Hintritt aus dieser Welt / von dem Grunde der Christlichen Lehre / die ich mit allen treuen Evangelischen Lutherischen Lehrern geführet / mein offentlich Bekäntnis zu thun / darauff ich auch selig zu sterben / und vor Christo […] zu bestehen / und in die ewige Freude einzugehen / gantz versichert bin / und gewißlich getraue.“ 13 Vgl. Diss., S. 851–853: Unter den jeweiligen Überschriften am Rande: „Tria pori,smata. De Scripturae majestate“ (I); „An Ecclesia Scripturae autoritatem tribuat?“ (II); „Interpretatio Scripturae“ (III) heißt es: „Ex hoc igitur illustri praedicato, quòd tota Scriptura sit qeo,pneustoj, tria seqventia educimus pori,smata. I. De ejus autoritate & majestate, […] II. De eadem autoritate, scetikw/j & respectivè accepta, respectu nimirum ad Ecclesiam, quae per verbum DEI scriptum & praedicatum à DEO colligitur & conservatur, habitô […] III. De ejus interpretationis modo […].“
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kundgebung und Selbstmitteilung Gottes die biblische Offenbarungsgeschichte entlanggehend nach. So wird hier schon deutlich, daß die Geistinspiration sich in, mit und unter historisch-empirischen Ereignissen und deren Deutung durch Gott bzw. seine Boten abgespielt hat, Inspiration und Kondeszendenz ins Geschichtliche also miteinander einhergehen. Nachdem der Mensch seit dem Sündenfall nicht mehr in der Lage sei, von sich aus Gott zu erkennen, habe Gott sein Wort nach seinem Wohlgefallen „in den ersten Zeiten der Welt / […] ohne schrifftliche Verfassung“ „den Menschen kund gethan“.14 Später „hat es Gott dem HErrn gefallen / sein heiliges Wort in gewisse Schrifften verfassen zu lassen / und durch dieses Mittel / welches auch das allergewisseste ist / Es. 30,8. sein Wesen und Willen den Menschen (besonders zuerst seinem Volck Israel) zu offenbaren.“15 Den Anfang solchen Schreibens habe Gott selber gemacht, als er „mit seinem Finger“ die „H. zehen Gebot / auff zwo steinern Taffel geschrieben“.16 Geschrieben habe Gott ferner „durch unmittelbahres Göttliches Eingeben / Direction und Regierung“, zunächst durch Mose, später „durch andere Propheten / oder H. Menschen Gottes / getrieben von dem H. Geist“, wie Glassius 2Petr 1,21 entnimmt.17 Auch wenn eine ausdrückliche Einsetzung des „Schreibens“ durch Jesus fehle, liege doch die „Nothwendigkeit des Schreibens“ quasi in der Natur des den Aposteln aufgetragenen universalen Lehrbefehls nach Mt 28,18.18 „Also weil die andern Aposteln auch nicht könten durch mündliche Vermeldung so vielen abwesenden / ja der gantzen Posterität in der Christenheit / zur Seeligkeit bedienet seyn / haben sie es auch auff Göttlichen Befehl schrifftlich gethan.“19 Im Neuen Testament wiederholt sich daher der Übergang von mündlicher zu schriftlicher Offenbarung gleichsam im Zeitraffer: „[…] folgends ists auch im neuen Testament / nach Christi der Welt Heylandes Offenbahrung und Himmelfahrt / auff vorhergangene mündliche Verkündigung unter allen Völckern zu der künfftigen Posterität / und in der gantzen Welt ausgebreiteten Kirchen nutzen und heyl sonderlich zu Verhütung allerhand Menschlichen Tandes in der Religion / durch ebenmässiges unmittelbahres Göttliches Eingeben / durch die Evan14 GG, S. 3. 15 GG, S. 4. 16 GG, S. 4, mit einer collatio von Ex 31,18, 32,16, 34,1.28, Deut 10,2.4. 17 GG, S. 4. 18 GG, S. 136. 19 GG, S. 136. Insbesondere an Paulus ist nach Glassius zu sehen, daß er seinen Auftrag ausgerichtet habe „nicht allein mit lebendiger Stimm / sondern auch mit Schreiben“, so daß auch sein Schreiben Christus zugeeignet ist, der durch ihn rede, zumal das Amt der Apostel es war, von Christus Zeugnis zu geben. Aus den von Glassius zum Apostelamt genannten und ziterten Stellen (Joh 15,27, Apg 1,8, 10,41 f., 1Petr 5,12, Joh 21,24, 1Joh 1,2–4, Offb 1,2 f.) „folget / daß auch zu schreiben Christus den Aposteln anbefohlen“ (GG, S. 138).
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gelisten vnd Apostel geschehen; wie auch von der gantzen Christenheit zu allen Zeiten einmütiglich solches angenommen / gegläubet / bekennet / vnd Gott dafür gedancket worden“.20 Auch hier betont Glassius die Katholizität der Lehre und verweist darauf, daß die römische Kirche „mit uns Evangelischen die Schrift als Gottes Wort zum wenigsten dem äußerlichen Bekäntnüß nach / annimmt“,21 die römische Seite aber in der Praxis diesem „Principio“ oft nicht gerecht werde.22 Von zentraler Rolle ist, daß „Autorität / Hoheit / Würdigkeit / und Ansehen der H. Schrifft“ allein in Gott begründet sind und daher nicht jenseits, sondern nur aus der Schrift selbst kräftig erwiesen werden.23 Solche Selbstbeglaubigung oder autopistia24 der Schrift sieht der Thüringer Theologe in „klaren deutlichen Sprüchen“ gegeben. Eine Schlüsselrolle spielt dabei immer wieder 2Tim 3,16 f.25 Den dort gebrauchten Ausdruck „alle Schrifft“ dürfe man, so Glassius, nicht nur auf die zum Abfassungszeitpunkt des Briefes bereits vorliegenden alt- und neutestamentlichen Schriften beziehen, sondern er gelte der Intention nach auch für später nachfolgende apostolische Schriften.26 Nicht erst die Kirche, sondern bereits der
20 GG, S. 4 f. 21 GG, S. 6; vgl. mit zahlreichen positiven Zeugnissen von Augustinus bis Bellarmin, aber auch mit Hinweis auf die Selbstwidersprüche der päpstlichen Lehre in diesem Punkt, a. a. O. S. 6–13; ferner Diss., S. 843, wo Glassius nach einem Bellarminzitat schreibt: „Haec ille, longè modestiùs, qvàm Gordonus Huntlaeus Jesuita Scotus […].“ Bei Huntläus ist es insbesondere folgende Argumentationsfigur, die immer wieder den Widerwillen Glassius’ hervorruft: „Probatio Ecclesiae, qvae sumitur ex Scripturis, cùm contra haereticos agimus, est argumentum AD HOMINEM […]. En Ecclesiam PRIMUM fidei principium! en probationem ejus ex Scriptura, argumentum tantummodò kat’ a;nqrwpon, alioqvi MINUS FIRMUM! en parem ejusmodi probationem (horreo dicere) cum illa, qvâ multa contra Judaeos ex Talmud probamus! en Scripturarum SS. infirmitatem, qvae ex Ecclesia probandae, & autoritate hujus muniendae, exqve hujus cornu copiae, inopia illarum supplenda! ô qvò Spiritus tandem Jesuiticus homines abducit!“ (Diss., S. 855) 22 GG, S. 13. 23 GG, S. 16 (Überschrift: „Das andere Capitel.“). Glassius zitiert hier an prominenter Stelle Augustinus als Zeuge für das Schriftprinzip (tom. 3. lib. 1 de Doctrina Christiana c. 37): „Titubabit fides, si divinarum scripturarum vacillat autoritas. Porrò fide titubante, Charitas etiam ipsa languescit. Nam si à fide quisque ceciderit, â charitate etiam necesse est cadat; non enim potest diligere, quod esse non credit.“ 24 Vgl. GG, S. 17. Vgl. Diss., S. 852: „De ejus autoritate & majestate, (qvae & suprà asserta in explicatione vocis, sancta,) absolutè accepta, qvòd nimirum avuto,pistoj h. avxio,pistoj sit […].“ 25 Vgl. GG, S. 17. 26 Vgl. WB, Vorrede, S. 162: „Ob nun aber gleich noch nicht alle und jede Schrifften deß Neuen Testaments / wie wir sie jetzt in der H. Bibel durch Gottes Gnade haben / dazumal verfertiget und vorhanden gewest / so hindert doch solches gantz und gar nicht / daß S. Paulus von den andern / so allbereit da waren / diese seine Rede nicht solle verstanden haben / sondern es schleusset sich vielmehr das Gegentheil / also: Wenn die Schrifften deß Neuen Testaments / da sie doch noch nicht complet und gantz verfertigt waren / haben jedoch die Menschen können unterweissen /
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Apostel, dessen Verkündigung ja nach Eph 2,20 zum Fundament der Kirche gehört, ist es also, der mit seinen Worten, alle Schrift sei von Gott eingegeben, „so wol die Bücher Altes / als auch Neues Testaments gemeint / und solche in gesambt hiemit / vor seinem Abschied aus dieser Welt / Cap. 4 v. 6. canonisirn, authentisirn, und als Göttlich / warhafftig / veste und gewiß / dem Timotheo und der gantzen Christlichen Kirchen / wie eine köstliche Beylage anbefehlen / hergegen aber für frembden Menschensatzungen und Lehren / die der Heiligen Schrifft nicht gemäß / noch in derselben begriffen / treulich warnen wollen / wie er auch thut / cap. 1. v. 13.“27 Die historisch verifizierbare apostolische Kanonisierung ist so die andere Seite der verborgenen, aber in der Schrift bezeugten Inspiration der Schrift durch den Heiligen Geist. Diese Doppelseitigkeit der Schriftwerdung entspricht der Unterscheidung zwischen dem dreieinigen Gott als „Caußa efficiens principalis“ der Schrift und der Schar menschlicher Autoren als „Caussa ministerialis“, die Glassius in seiner Dissertatio entfaltet.28 Daß es bei der Inspiration nicht um eine abstrakte „Diktattheorie“ geht, macht Glassius immer wieder klar, wenn er darauf hinweist, daß die für die Inspirationslehre herangezogenen Schriftstellen, die eine solche Theorie auf den ersten Blick nahelegen könnten, metaphorisch bzw. im übertragenen Sinne zu verstehen sind.29 Dazu gehört auch die Rede von den „amanuenses, tabelliones ac notariis Dei“, Bezeichnungen, die Glassius mit einem „quasi“ verbindet, da sie nichts anderes zum Ausdruck bringen wollen als das unlösliche Miteinander von „caussa principali & ministeriali“.30 Allerdings handelt es sich bei der Inspiration tatsächlich um ein solennes Werk des Heiligen Geistes, „durch dessen (sofi,sai, klug / weise und verständig machen /) zur Seeligkeit / und den Menschen Gottes vollkommen / zu allem guten Werck geschickt machen / wie alhier Paulus redet / so wird vielmehr dieses von dem gantzen Buch deß Neuen Testaments (nebenst dem Alten) können und müssen genennet werden / etc.“; ferner Diss., S. 850 f. 27 WB, Vorrede, S. 161 (2Tim 4,6, 2Tim 1,13). 28 Diss., S. 837, jeweils marginal. 29 Einen übertragenen Sinn von „Diktat“ deutet Glassius an, wenn er davon spricht, durch unmittelbare „Eingeistung“, „Einblasung“ oder „Eingebung“ ins Herz und „Erleuchtung“ (nicht also Ausschaltung) des Verstands (!) der heiligen Männer habe Gott diesen „gleichsam in die Feder dictiret“, so daß sie ihre Werke „durch sonderbare Göttliche direction“ verfaßt hätten (GG, S. 17 f.; vgl. Diss., S. 851 auf den göttlichen Geist bezogen: „[…] cujus immediatô afflatu ac impulsu […] sancti DEI homines locuti sunt […]“). Auch das Schreiben des Dekalogs durch „den Finger Gottes“ nach Ex 31,18 und Ex 34,6.28 versteht Glassius nicht naiv, sondern im übertragenen Sinn: „[…] divinô digitô suô, avnqrwpopaqw/j sic dictô […].“ (Diss., S. 837) Und zu Ps 44,2 hält Glassius fest, dieser rede „de loqvela ore prolata metaphoricè“, wenn es heißt: „Lingva mea stylus (est) scribae velocis […].“ (a. a. O., S. 838) 30 Diss., S. 838: „Atque haec à caussa principali & ministeriali, seu ipso autore primario, & autoribus secundariis, DEI qvasi amanuensibus, tabellionibus ac notariis (qvi fuerunt Prophetae in veteri testamento, Luc. I. 70. XVI. 29. Act. X. 43. 2. Pet. I. 19. Apostoli in novo, Matth. XXVIII. 19.
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unmittelbaren Antrieb / Einblasen und Eingeben / die H. Menschen und Propheten Gottes geredt / und auch geschrieben haben“,31 wie der Thüringer aus 2Petr 1,19–21 entnimmt. Wesentlicher Gesichtspunkt der Inspirationslehre ist daher der göttliche, himmlische Ursprung der Lehre, welche die Apostel (und Propheten) „ohne Mittel empfangen“ haben, wie auch von Paulus in Gal 1,11 f. betont wird.32 Gegen ein „mechanistisches“ Verständnis der Inspiration spricht auch der Hinweis, mit i`era. gra,mmata, heiligen Buchstaben, oder, wie Luther übersetzt, heiliger Schrift, sei „nicht die eusserliche Figur und Gestalt der auffgeschriebenen oder gedruckten Buchstaben allein“ zu verstehen, „sondern vornemlich / was in und durch dieselbe geschriebene Buchstaben / Worte und Reden / bezeichnet / gemeinet / zu wissen und zu lernen dargegeben wird.“33 Es geht also bei Glassius wie zuvor schon bei Luther um die durch die Worte bezeichneten Sachverhalte, die res scripturae.34 In seiner Dissertatio differenziert Glassius zwischen einer „modo vulgari“ sich ereignenden Inspiration profaner Schriftsteller, die im Bereich der gubernatio divina zu verorten ist, und der „inspiratio specialissima“ der von Gott zum Heil des Menschen gegebenen Schriften. Deren „perfectio“ ist somit im göttlichen Urheber begründet, weil durch dessen allwirkenden Willen nicht nur der Wortlaut, sondern auch der jeweilige Redemodus und die Zeit der erleuchteten Schriftsteller bestimmt ist.35 Damit geht die Einsicht einher, daß die äußere Art der
Luc. XXIV. 48 ut & Euangelistae, Marc. I, 13. Luc. I. 3. Conjunguntur utriqve Eph. II. 20. 1. Pet. III. 2.) deducta est consideratio.“ 31 WB, Vorrede, S. 162. 32 WB, Vorrede, S. 163. 33 WB, Vorrede, S. 159. 34 Vgl. Diss., S. 836: „Mirô igitur artificiô duobus his vocabulis tota ejus libri, de qvo Diss. nostra instituta est, essentia exprimitur. Una generis velut vicem obtinet, Scriptura; qvâ voce & formale, & materiale, h. e. non tantùm literarum apices, sed & potissimùm res ipsae, apicibus istis significatae, subinnuuntur […].“ Für die zentrale Bedeutung dieses Aspektes für die Hermeneutik Martin Luthers vgl. Stefan Felber, „Hoc est in Christo ad literam factum“ – Realistische Schriftauslegung bei Martin Luther, in: Christine Christ-von Wedel, Sven Grosse (Hg.), Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit (= HHS 14), Berlin/Boston 2017, S. 69–110. 35 Vgl. Diss., S. 837 f.: „Ortum autem ducit partim […] & praecipuè, per immediationem virtutis, in sanctis & Canonicis scriptoribus exsertae; eos qvippe ad scribendum impulit, non modo vulgari, quô alia scripta bona & utilia (vi facultatis animae intelligentis, generali DEI influxu sustentatae & gubernatae, si personae scribentes irregenitae sint, Job. XXXII. 8. vel speciali gratiae adjutoriô, si scribentes regeniti & credentes,) exarantur; sed modo assistentiae, kinh,sewj, motionis & inspirationis specialissimô, intellectum nimirum eorum supernaturali qvadam & extraordinariâ luce illustrando, ut veritatem & certitudinem rerum scribendarum exactissimè tenuerint, & absqve omni erroris imperfectione lapsusqve periculo, influente velut ex illuminato intellectu in scribentem calamum caelestis sapientiae liqvore, talia, talibus verbis, tali modô & tempore, ut DEUS voluit, literis consignârint […].“
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Kundmachung des durch den Geist eingegebenen Wortes dessen Wesen nicht verändert, so daß gilt: „Münd= und schrifftliches Wort Gottes ist einerley“.36 Das Zeugnis der Schrift über ihre Inspiration ist nach Glassius ausreichend zur Begründung der Schriftautorität für die Theologie, die somit keiner sekundären Beglaubigung der Kirche oder irgendeines Menschen, auch für ihre Auslegung keiner externen Autoritäten, bedarf, sondern aus sich selbst heraus und so in der Kraft desselben göttlichen Geistes auszulegen ist, der die Schrift gegeben hat. „Der dreieinige Gott ist […] nicht nur ‚Scripturae autor‘, sondern auch deren erster und höchster Interpret.“37 Dieser Grundsatz ist bei der Auslegung so zur Anwendung zu bringen, daß des Wortes Gottes „rechter Verstand und Meinung aus keines Menschen (es seyn derselben wenig oder viel / sie seyen auch so klug / gelehrt und mächtig / als sie immer wollen /) eigenem Gutachten und privat-Meinungen hergenommen / sondern einig und allein aus ihm / dem Göttlichen Wort selbst / welches klar / hell und deutlich gnug ist / durch Embsige Betrachtung / und Gegenhaltung unterschiedener gleichlautender Texte und Sprüche / auch fleissige Erkündigung der Grund=Sprachen / gefasset / erlernet / und der Kirchen Gottes vorgetragen werden solle […].“38 Dennoch nennt Glassius im Glaubens=Grund zusätzlich zur Autopistie der Schrift „etliche“ sowohl schriftintern als auch schriftextern erhobene „Gemerck und Kennzeichen der göttlichen Gewißheit der H. Schrifft“,39 von denen einige, „was deren rational-argumentative Kraft betrifft, eine lediglich untergeordnete Relevanz“ innehaben,40 die freilich zum Großteil auch Topoi der von Glassius andernorts entfalteten Auslegungsgrundsätze und -methoden berühren.41 Die Zirkularität von Selbstbeglaubigung der Schrift und Beglaubigung durch den Heiligen Geist kommt auch bei der Auflistung dieser Kennzeichen dadurch zum Ausdruck,
36 GG, S. 26, marginal. In der Spruchpostille wird Glassius diese Einsicht anhand des in Jes 55 aufgefundenen Vergleichs des Wortes Gottes mit Regen und Schnee veranschaulichen (siehe unten, Kap. 7.1.2.3, S. 459–461). 37 Steiger, Philologia, S. 51. 38 WB, Vorrede, S. 163 f. 39 GG, S. 33, marginal. 40 Steiger, Philologia, S. 53. Das mag gelten etwa vom Kennzeichen der „Miranda antiquitas“ sowie der insbesondere auf die Würde der Autoren abhebenden „Martyrum obsignationis dignitas“ und der „poenarum […] atrocitas“ (GG, S. 33, 36). 41 Das gilt etwa (GG, S. 34 f.) für die Majestät der in der Schrift dargelegten Lehren und Sachen („Doctrinae & rerum Majestas“), die Gewichtigkeit des – wiewohl etlichen einfältig erscheinenden – Stils („Sermonis simplicis venerandae gravitas“), die Kohärenz und innere Harmonie der Schrift in der Lehre („Exacta harmonia & conformitas“), die Würde der Prophezeiungen künftiger Dinge („Prophetiarum de rebus futuris dignitas“) sowie die Tatsächlichkeit bzw. Wahrheit der Vollendung des Prophezeiten („Complementi Prophetiarum veritas“).
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daß Glassius die gläubige Anerkennung der göttlichen Autorität der Schrift einerseits auf „die innerliche Uberzeugung des H. Geistes“42 zurückführt, die Kraft und Wirkung solchen Überzeugens aber wiederum ursächlich mit der Schrift verbindet, wenn er ihr „in persuadendo & permovendo efficacitas“43 zuschreibt. Erst recht trifft das zu für das von Glassius im Glaubens=Grund genannte externe Zeugnis der Kirche von der Autorität der Schrift. Dieses „testimonium Ecclesiae“44 ist nicht Grundlage, sondern Wirkung des an die Schrift gebundenen, von deren Autorität überzeugenden Heiligen Geistes. Das gilt bereits für die ehrfürchtige Überlieferung und Bewahrung der Schrift des Alten Testaments durch das jüdische Volk. Dieses nennt Glassius einen „Bücherschrein der Christen, der das Gesetz und die Propheten trägt / zum Zeugnis der Kirchen“.45 Christus selber habe an vielen Stellen das „Zeugnis der Jüdischen Kirchen de Canone Scripturae […] bestätiget und bekräfftiget“46 ebenso wie seine Apostel und die späteren Lehrer der Kirche. Überall wo in der Kirche die Schrift als Gottes Wort durch öffentliches Bekennen, Verkündigen, Erklären, Hören, Forschen, Beherzigen und tägliches Üben anerkannt wird, geschieht solches nicht um menschlicher Autorität willen, „sondern allein wegen ihrer eigenen in sich habenden Göttlichen Autorität / Krafft und Wirckung“.47 Das Zeugnis der Kirche von der Schrift gibt daher dieser „an Hoheit“ nichts, ist vielmehr von sekundärer Natur („secundarium & succeßivum“48), „externum & humanum“,49 „contingens, non absolutè necessarium“.50 Augustins von den päpstlichen Gegnern argumentativ herangezogenes Diktum von der zur Schriftlektüre erst bewegenden Kirche steht dem deshalb nicht entgegen, weil solch kirchliches Motivieren der den Glauben wirkenden Schrift keinen Abbruch tut. Hier ruft Glassius die Episode von der kanaanitischen Frau in Erinnerung, deren Landsleute am Ende bekennen, nicht mehr „wegen der Rede des Weibes“, sondern nunmehr Christus selbst zu glauben (Joh
42 GG, S. 43, vgl. dazu Steiger, Philologie, S. 53. 43 GG, S. 36. 44 GG, S. 37. 45 GG, S. 37 f. Vgl. Diss., S. 853. Dies erinnert an ein traditionelles Diktum, dessen Überlieferung Albrecht Schöne auf der Linie von Augustinus über Thomas, Reuchlin bis hin zu Goethe nachgezeichnet hat („Denn die Juden sind unsere Büchermacher und Bibliothekare“, in: Einträchtig Lehren. Festschrift für Bischof Dr. Jobst Schöne, hg. v. Jürgen Diestelmann, Wolfgang Schillhahn, Groß Oesingen 1997, S. 405–417, hier S. 406 f.). 46 GG, S. 38; Glassius nennt ebd. Mt 22,29, Lk 24,27.44 f. und Joh 5,39.46. 47 GG, S. 40. 48 GG, S. 40. 49 GG, S. 43. 50 GG, S. 45.
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4,39–42).51 Ähnlich wie die Wunder nicht größere Autorität haben als der, der sie tut, sie dessen Autorität vielmehr bezeugen, so ist auch die Kirche „darumb / daß sie von der H. Schrifft zeuget / nicht höher oder grösser / denn sie / die Schrifft selbst“.52 Mit einem Zitat aus Augustins De civitate Dei, wonach Christus, nachdem er durch die Propheten, durch sich selbst und durch die Apostel geredet habe, auch die Schrift gemacht habe, bekräftigt Glassius am Ende des Kapitels über die Schriftautorität im Glaubens=Grund einmal mehr den im rechten Sinn katholischen Charakter des Schriftprinzips.53
3.3 claritas scripturae Aus der göttlichen Autorität (auctoritas) der Schrift, wie sie durch deren Inspiration und Kanonisierung begründet ist, ergeben sich als weitere Eigenschaften deren „Perspicuität und Klarheit“ (claritas), deren Wirksamkeit (efficacitas) und Vollkommenheit (perfectio/sufficientia). Die Klarheit der Schrift meint die Zuverlässigkeit und Wahrnehmbarkeit, mit der diese Gottes Willenskundgebungen zur Sprache bringt. Im Glaubens=Grund setzt Glassius seine Darlegung hierzu in eine doppelte fundamentalanthropologische Relation. Angesichts dessen, daß der Mensch „von Natur“ verfinstert ist“ bzw. nach 1Kor 2,14 von Gottes Geist nichts versteht, hat Gott die Offenbarung seines Wesens und Willens mündlich verkündigen und schriftlich verfassen lassen und so gezeigt, „auff was vor Art und Weise ihme wolgefällig gedienet werden könne und solle / damit man durch seine Gnade die ewige Seeligkeit erlangen möge. Woraus zu schliessen / es sey gedachtes sein Wort und Göttliche Schrifft / in denen gedachtem Zweck und Ende gehörigen Stücken / nicht dunckel / verdeckt und unverständlich / welches demselben Zweck gar zu wieder lieffe / sondern sie sey deutlich liecht / helle und vernemlich / also daß man aus ihr selbst einen klaren / gewissen Verstand dessen / was Gott haben wil / allerdings schöpffen und nehmen könne.“54 Mit der Wahl des mündlichen und schriftlichen Wortes zur Selbstvorstellung aber hat Gott sich zugleich für einen Weg entschieden, der dem Menschen aus den Lebensumständen seiner alltäglichen Welt vertraut ist, wie Glassius mit dem Hinweis auf Briefe, Gesetze, Befehle, Testamente, Obligationen, Bundesschlüsse etc. darlegt. Gilt daher schon für die Menschen, daß sie das, „was sie andern zu vernehmen geben wollen“, „auffs deutlichste […] wegen bessern Verständnis ent51 Vgl. GG, S. 64. 52 GG, S. 71. 53 Vgl. GG, S. 71 f. 54 GG, S. 73.
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weder mündlich oder schriftlich darzulegen pflegen“, „[s]olt denn diß nicht vielmehr in acht genommen haben in Kundmachung und Vorschreibung seines Wortes GOtt der König aller Könige / und HErr aller Herren?“ – zumal, so fügt Glassius hinzu, es bei Gottes Selbstkundgabe nicht um zeitliche Güter gehe, sondern um der Menschen Heil.55 Bevor er viele weitere Zeugnisse für die Klarheit der Schrift aus beiden Testamenten und mit Augustin und Luther aus der Kirchengeschichte anführt, stellt Glassius mit Lactantius fest: „Solte Gott / der ein Werckmeister des Verstandes / und der Sprache und der Zungen ist / nicht haben können deutlich reden? Ja vielmehr hat er mit höchster Vorsichtigkeit die jenigen Ding / so Göttlich sind / ohne Tunckelheit vorstellen wollen / damit alle Menschen verstehen möchten / was er zu aller Nutzen geredet hat.“56 Wo der Inhalt der Schrift Menschen dunkel bleibt, da liegt es nicht an der Unklarheit der Schrift und auch nicht an der fehlenden Begabung der Schöpfung bis hin zur Alltagswelt des Menschen, göttliche Realitäten „abzubilden“, eine Fähigkeit die vom Sündenfall unberührt bleibt. Vielmehr liegt es an der Verfinsterung des menschlichen Herzens, die wiederum, wie dem apostolischen Zeugnis zu entnehmen ist, nur durch Gottes Wort überwunden werden kann.57 Bei Glassius findet sich auch der wichtige Hinweis, daß die claritas scripturae sich nicht auf eine an menschlich-vernünftigen Maßstäben orientierte Plausibilität bezieht, vielmehr darauf, daß die Schrift die göttlichen „Geheimnisse“, die an sich für den Menschen „unbegreifflich und unerforschlich sind“, so präsentiert, daß diese „von Menschlichem Gemüth (wie viel nemlich hievon Gott hat offenbahren wollen /) daraus gründlich und deutlich können verstanden werden“.58
55 GG, S. 73 f.; ferner Diss., S. 852: „Si enim diploma aut epistolam Regis principísqve magni prae aliis monumentis scriptis facimus, proptereà qvod Regem Principémve, cujus nomen praefert, agnoscit autorem, cùm tamen saepiùs ab ipsomet non sit immediatè dictata: Qvis non Regis regum, & Domini dominantium, Jehovae omnipotentis, epistolae ad creaturam suam, (ut Gregorius epist. LXXXIV. ad Theod. Medic. lib. IV. scripturam S. vocat) exhibendus honor, qvae non tribuenda u`peroch., avuqenti,,a, dignitas & majestas, cùm non vice ejus filanqrw,poij, sed ab ipsomet dictante & inspirante, per Prophetas & Apostolos exarata, & ad salutem aeternam ex ea acceptandam, humano generi ut parakataqh,kh kalh., commendata sit? Haec divinarum Scripturarum autoritas si vacillat, titubabit fides nostra, ut rectè censet August. lib. I. de doctrina Christ. c. XXXVII.“ 56 GG, S. 74, Glassius gibt als Fundort an: „lib. 6. institut. divin. c. 21.“ Vgl. den lateinischen Text: PS, Sp. 266: „Num DEUS & mentis & vocis, & Linguae artifex disertè loqui non potest? Imò verò summa providentia carere fuco voluit ea, quae divina sunt, ut omnes intelligerent, quae ipse omnibus loquebatur.“ 57 Vgl. GG, 79 f. mit Hinweisen auf 2Kor 4,3 f., Phil 3,1, Lk 1,3 f. Vgl. Steiger, Philologia, S. 56 f. zu Gerhard. 58 GG, S. 87 mit Hinweisen auf Deut 29,29, 1Kor 2,9 f., Röm 16,25 f., Kol 1,26 f.
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Neben der im mangelnden menschlichen Erkenntnisvermögen in geistlichen Sachen begründeten Dunkelheit kennt Glassius freilich auch eine abgestufte Dunkelheit und Klarheit in der Schrift. Hell und klar sind insbesondere diejenigen Stücke, die „zur Seeligmachenden Christlichen Lehr gehören“ und in Gesetz und Evangelium eingeteilt werden können, wie sie im Katechismus mit Dekalog, Glaubensbekenntnis, Vaterunser, den Sakramenten und der Lehre von der Buße allesamt klare und gewisse Schriftgründe haben.59 „Die Glaubens Lehren sind klar und deutlich darinnen vorgestellet / wie anderswo erwiesen wird. Die Lebens Regeln / oder GOttes Gesetz auch / wie wir vorher vernommen. Die Historien ingleichen / denn sonst hätte man ja nichts gewisses hievon / welches aber falsch. Die Weissagungen sind nichts wenigers deutlich genug. Was aber darinnen / oder auch in den andern Stücken schwer / benimt der Klarheit der Schrifft an sich selbst (so fern sie zur Erkäntnis des Heils gerichtet) nichts […].“60 Während es einerseits Gebote und helle evangelische „Machtsprüche“ gibt, die „keiner Auslegung“ bedürfen,61 gibt es andererseits in der Schrift auch schwer Verstehbares und ist die Meinung nicht, daß „alle Ort“ „klar seyn“,62 gibt es sogar „etliche solche Stück und geheimte Texte / welche in diesem Leben gar nicht erforschet und erlernet werden können“,63 da sie erst im Eschaton in der Fülle offenbar werden. Diese abgestufte Klarheit und Dunkelheit führt Glassius mit Augustinus darauf zurück, daß der Geist die Schrift „temperiret“ habe, um mit Deutlichem zu sättigen und mit Dunklem dem Überdruß zu wehren.64 Solches „Temperieren“ hat zum Ziel,
59 GG, S. 79. 60 GG, S. 82. 61 GG, S. 80. 62 GG, S. 88. Vgl. als Beispiel aus Glassius’ Umkreis: Michael Walther, Postilla Mosaica. Oder der Erklärung Etlicher Istorien / Vorbilder vnd Sprüche / Auß den Fünff Büchern Mosis / Auf die Sontägliche vnnd Vornemste Fest=Evangelia durchs gantze Jahr gerichtet, Nürnberg 1644 (= Post. Mos.), S. 466: „Warumb aber vnd auß was Motiven vnd Vrsachen wird das Wort Gottes in tunckelen Gleichnissen auff gut parabolisch vnd Geheimnißweise proponiret? Wir haben in vnseren Lutherischen Kirchen einen hefftigen Streit / fürnemlich mit den Päpstlern / von der H. Göttlichen Schrifft / vnnd vertheidigen wider sie mit gantzer Gewalt / daß dieselbe liecht vnnd hell sey. Doch in den Historien vnnd an denen Orten / da / als an dem eigentlichen Sitz / das / was zum Glauben vnnd Leben gehöret / gehandelt wird / vnd mit nichten so / als were durchauß nichts tunckeles vnd schweres darinnen zu befinden / dann wer daran zweiffeln wolte / den weisen wir billich in das hohe Lied Salomonis / in die Bücher der Propheten vnd in die Offenbarung Johannis / von vielen Oertern in den Apostolischen Sendbriefen nichts zu sagen. Geben wir also ultrò vnd gar gern zu / daß in der Bibel viel tausend Centner schwere Loca vorlauffen / die doch gleichwol in den parallelis irgendwo deutlich genug erläutert werden.“ 63 GG, S. 89. 64 GG, S. 88; das Augustinzitat stammt aus „lib. 2. de doctr. Christianâ, c. 6.“ Vgl. auch Michael Walther, Post. Mos., S. 468: „Vnd eben deßwegen ist die H. Bibel an so gar vielen Orten so tunckel
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die Schrift unterschiedlichen menschlichen Verstehensvoraussetzungen anzupassen, so daß sie genug Klares enthält, daß auch die Einfältigen sie lesen und auch beim Lesen von Unverstandenem in der Heiligung wachsen, „denn es ja nicht seyn kan / daß du alles / was darinnen vorkömpt / unwissend seyn soltest. Sintemal des H. Geists Gnade die H. Schrifft dermassen temperiret / daß auch Zöllner / Fischer / Gezeltmacher / Hirten / gemeine und ungelehrte Leute / durch diese Bücher seelig würden / damit keiner vom gemeinen Mann sich mit der Schwierigkeit zu entschuldigen habe; daß auch allen / was gesagt wird / also leicht im Gesicht gleichsamb da stehet / daß auch ein Handwercksmann / und Knecht / und Wittbe / auch der aller ungelehrteste unter dem Menschen aus dem Gehör der verlesenen H. Schrifft etwas Nutzens davon tragen kan.“65 In seiner Dissertatio kann Glassius von einem Kampf („certamen“) zwischen simplicitas und majestas reden, der im Stil der Schrift sichtbar wird, weil dadurch die Hoheit der göttlichen Geheimnisse so verhüllt wird, daß sie für jeden Geist faßbar werden, wie Glassius zustimmend mit einem Zitat das spanischen Humanisten Ludwig Vives (1492–1540) bezeugt.66 Die vor diesem Hintergrund wahrnehmbaren Abstufungen in der Klarheit bzw. in der Dunkelheit sind aber nun Anlaß, die Kunst der Schriftauslegung einverfasset / wie Augustinus davon schön judiciret: SPIRITVS S. Scripturas magnificè & salubriter ita modificavit, ut locis apertis fami occurreret, obscurioribus autem fastidia detergeret: Der H. Geist hat die Schrifft so herrlich vnd heilsamlich temperiret, daß Er an den klaren vnd offenbaren Oertern vnserm Hunger begegnen / mit den tunckelernen aber den Grawen vnd Eckel abtreiben möchte.“ Vgl. Steiger, Philologia, S. 54 zu Johann Gerhard, der ebenfalls diesen Gedanken Augustins aufnimmt: „Die obscuritas scripturae dient – hierin ist Gerhard mit Augustin einig – der Verhinderung des fastidium bzw. des taedium […].“ Vgl. aus der reformierten Welt Wilhelm Zepper, Sylva Homiliarum in Textus ex quatuor Evangelistis dominicales […], Herborn 1608, S. 434: „Vult etiam obscuritatibus illis & difficultatibus in nobis acuere diligentiam lectionis, auditionis, meditationis & investigationis, precum item, ut Deus magis magisque oculos intellectus nobis aperiat, verbumque suum familiarius nobis reddat.“ Bei Johann Jakob Rambach wird dann zu lesen sein: „Aber GOttes Wort giebet ihnen solche Rätzel auf, durch deren Dunckelheit sie überzeuget werden, daß sie noch nicht alles wissen.“ (zitiert bei Marianne Schröter, Johann Jakob Rambach. Institutiones Hermeneuticae Sacrae [1723], in: Oda Wischmeyer [Hg.], Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016, S. 713–727, hier S. 719, Anm. 39) 65 GG, S. 176. 66 Vgl. Diss., S. 842: „Styli & modi loqvendi, in Scripturis usitati, ratio non minùs sancta, admirabilis, & divina planè est, cùm in eo simplicitas, perspicuitatis mater, cum majestate sanctum qvasi certamen inire conspiciantur, de qvo in Philol. sacrae lib. 1. & in praefat. Rhetor. sacrae latè dictum. Proposita est (inquit Vives d. l. p. 234.) DEI disciplina eâ facilitate, quae apta esset omnium ingeniis, qvam omnes facilè caperent, simplici videlicet narratione, exemplísqve & similitudinibus sumtis de rebus notissimis. At in hac ipsa facilitate & simplicitate tam utili, tam congruenti qvibuslibet, qvanta occultatur altitudo mysteriorum, qvae diutissimè exercere possint magna atqve sublimia ingenia, ac pascere bona ad religioni dedita? Nullum est in Euangelio verbum, qvo non tegatur grande aliqvod & admirabile arcanum.“
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zuüben und so die dunklen Stellen unter Berücksichtigung des Wortlauts in der Grundsprache, des jeweiligen Textzusammenhangs und von Vergleichen mit anderen Texten der Schrift (collationes) zu erhellen.67 Aus alledem zieht Glassius den wertungsfreien Schluß, „daß es unterschiedene gradus oder Stuffen der Wissenschafft unter den Christen“ gebe.68 Die somit notwendige und vom Geist in Gestalt der Schrifttemperierung letztlich beabsichtigte Auslegung der Schrift ist „eine sonderbahre Gabe Gottes des H. Geistes in der Kirchen“, „welche zwar dazumahl / bey erster Pflantzung der Kirchen / wunderbahrer Weise etlichen verliehen war; hernach aber und in folgenden Zeiten / durch angewenten Fleiß / Mühe und Arbeit / in Les= und Erforschung der H. Schrifft / vermittels Göttlichen Beystandes / erlanget wird; und sich dessen nicht jederman in der Kirchen unterwinden kan noch soll / damit er nicht etwa in gefährliche Irrthum wegen eigener Vermessenheit und Hochmuth falle […].“69 Diese Gabe des Geistes aber, so wird Glassius nicht müde zu betonen, ist Pflicht und Aufgabe der Inhaber des Predigtamts. Dabei gilt von der Auslegung,
67 Vgl. GG, S. 88 f.: „Ob gleich schwere und wiedrig= oder auch dunckelscheinende Ort hin und wieder sich ereignen / so wird jedoch diesem abgeholffen / und ein vernehmlicher und gewisser Verstand im Gemüt gefasset / (nechst dem gläubigen Gebet Psalm. 119/18/33.) durch die angewendete Mittel / so zu rechtschaffener Interpretation oder Auslegung der Schrifft gehören / die doch also beschaffen / daß sie nicht ausser derselben / oder in einiges Menschen Autorität / sondern in der Schrifft selbst (sonderlich durch fleissige Betrachtung der Grundsprache.) Item dessen / was vor und nachgehet / auch durch füglich=angestellte Vergleichung (der Schrifft Texte) ihren Grund haben.“ Eine weitergehende Definition der Methode der collatio als „füglich-angestellte Vergleichung“ der Schriftstellen findet sich – so weit wir sehen können – bei Glassius nicht. In diesem Punkt ist bei Dannhauer eine Begriffsschärfung wahrzunehmen, die der Sache nach beschreibt, in welchem Sinn auch Glassius die collatio versteht und gebraucht, wonach die ergänzende Auslegung von Schriftstellen durch andere, sinnverwandte Schriftstellen (durchaus in Analogie zur Gesetzesinterpretation in der Rechtswissenschaft) auch der Vermeidung einer mit der analogia fidei nicht vereinbaren Eisegese dient. Vgl. Dannhauer, Hermeneutica Sacra, S. 342: „Clavis S. literarum est uno verbo generatim Collatio Sugkrisij [sic!] pneumatikw/n 1.Cor. 2.13. respondet Hebraeorum rtp LXX. exponunt per Sugkri,nein Gen. 40 8.16.22. c. 41.12.13.15. Dan 5.13.14. quae discrepat ab avnakri,sei Act. 17.11. ut synthesis ab analysi logica. Hanc collationem esse verissimam sanae interpretationis clavem, liquet non solum ex lumine naturae supposito, ex quo palàm est omnem in aliis disciplinis commentariis, ac legibus civilibus, expositioné hujusmodi collatione constare; sed & ex ipsarum literarum S. intimatione, quae cum cavet ab ivdi,a| evpilu,sei, & prophetiam analogiae fidei (de qua paulo post) admetitur, docet eo Spiritu S. literas intelligi debere, quo sunt inspiratae, qui spiritus certissimè in S. literis resonat, in Ecclesia non nisi cum consonat vocalibus scriptis: quando insuper scriptura sacra uno in loco omittens quod in altero supplet, acuit ad scrutinium & collationem loci omissi.“ 68 GG, S. 91, unter Berufung auf Hebr 5,12–14, 6,1 f. und 1Kor 3,1 f. 69 GG, S. 92, unter Berufung auf Röm 12,3.6, 1Kor 12,7 f.10, 14,1.5.12.26–33, 1Thess 5,19 f., Eph 4,11 f., und Tit 1,8.
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daß sie aus der Schrift zu erheben ist und sie ihr Maß an der Klarheit der Schrift selbst findet, sie so letztlich die Selbstauslegung der Schrift methodisch nachvollzieht. Die Klarheit, die von der Schrift allgemein auszusagen ist, gilt auch von den einzelnen Texten, „denn es hat jeder Text nur einen einigen Wort=Verstand / welcher entweder aus den klaren Worten selbst / oder aus vernünfftiger Vergleichung anderen klaren Texte / als gewiß bestätiget wird“.70 Wo trotz aller Bemühungen eindeutiges Verständnis nicht möglich ist, können auch unterschiedliche Deutungen ohne „Gefahr“ angenommen werden, solange diese nicht der aus den klaren Stellen der Schrift erhobenen „Aehnligkeit des Glaubens“ zuwider sind.71
3.4 perfectio scripturae (sufficientia) „Die Lehre von der perfectio der Schrift ist streng soteriologisch gedacht.“72 Thematisiert wird diese spezifische Vollkommenheit der Schrift daher insbesondere dort, wo es um ihre Klarheit (claritas) und ihre Wirksamkeit (efficacia) geht, die von den Dogmatikern ebenfalls zu den Eigenschaften der Schrift gezählt werden. Bei Glassius wird das daran erkennbar, daß seine Erläuterungen zur Vollkommenheit einerseits und zu Zweck, Kraft und Wirkung der Schrift andererseits unmittelbar miteinander verbunden sind. Biblisches Schlüsselwort ist einmal mehr 2Tim 3,16, dem zu entnehmen ist, daß die Schrift dazu in der Lage ist, kundzutun und auszurichten, wozu sie von Gott gegeben ist. Heilig heißt die Schrift, „weil sie von Gott / der der Allerheiligste / ja die Heiligkeit selbst ist / Esa. 6. vers. 3. durch seine heilige / von dem heiligen Geist getriebene Menschen / 2. Petr. 1. v. 21. unmittelbarer Weise / dem Menschlichen Geschlecht geoffenbaret / auch lauter heilige / Göttliche und himmlische Geheimniß / Gebot / Verheissungen / Geschichte / etc. in sich begreiffet Ps. 93. v. 5. Ps. 105. v. 42. dadurch der von Natur unheilige / unreine und Sündhaffte Mensch geheiliget wird / Ezech. 20. v. 11 / 12. Joh. 17. v. 17. 1. Cor. 6. v. 11.“73 Ihre Heiligkeit ist also keine magisch-materi70 GG, S. 98, mit einem Hinweis auf die Philologia sacra. 71 GG, S. 98 f. mit zwei Zitaten von Augustinus (ebd.): „August. tom. 3. lib. 3. de doct. Christ. c. 23. […] Das ist: Wenn aus einerley Schrifftworten nicht eins / sondern zwey oder mehr Meinungen entstehen / ob gleich unbewust ist / was der eigentlich gemeinet / der es geschrieben / so hats doch keine Gefahr / wenn ein jedes derselben / daß es der Warheit Aehnlich aus andern Orten der Heil. Schrifft kan erwiesen werden. Idem tom. 2. Epist. 59. ad Paulin. Col. 307. […] Das ist: Es ist nützlich / daß von denen schweren tunckelen Orten der H. Schrifft / welche GOtt / uns darinnen zu üben hat vorstellen wollen / viel Meinungen gefunden werden / in dem einem dieß / dem andern jenes bedüncket / welche doch alle mit der gesunden Glaubens Lehr übereinstimmen.“ 72 Steiger, Philologia, S. 65. 73 WB, Vorrede, S. 159.
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elle, die Schrift aus der Welt entrückende Qualität, sondern Glaubensaussage, die daher rührt, daß die Schrift auf den heiligen Gott zurückgeht und zum Ziel hat, den Menschen heilig zu machen und ihm so an Gottes Wesen Anteil zu geben. Entsprechend schreibt Glassius dann auch im Glaubens=Grund, daß die Schrift deshalb vollkommen ist, weil sie die Seelen bekehrt und erquickt, die Herzen erfreut, die Augen erleuchtet und vor falschem Gottesdienst bewahrt.74 Sie entfaltet die ihr als Heiliger Schrift entsprechenden Wirkungen, da sie selbst ihre Leser und Hörer in diesem und im künftigen Leben heilig macht.75 In seiner Dissertatio thematisiert Glassius daher Wesen und Heiligkeit der Schrift nach der Darlegung ihrer Wirkursachen umfassend sowohl hinsichtlich ihres Inhalts als auch der Form, in der sie diesen Inhalt darbietet. Als allgemeinen Inhalt („Subjectum in genere“), den die Schrift als Ganze darbiete, benennt Glassius dort den „cultus divinus“, zu dem der Mensch als Gottes Geschöpf bestimmt ist und dessen Wiederherstellung allein und zuverlässig durch die Schrift als Grundlegung der „vera religio“ – im Unterschied zum Koran, zu heidnischen Schriften, zum Talmud und zu den Philosophen – möglich ist.76 „In specie“ geschieht diese Wiederherstellung durch das Zueinander von Gesetz und Evangelium, wobei der gesamte Schriftinhalt auf die Verheißung des Messias bezogen werden kann,77 „specialissime“ aber durch die in der Schrift überlieferten und den „pii“ leicht verständlichen Glaubensartikel, Historien und Weissagungen.78 Zu den Glaubens74 Vgl. GG, S. 121. 75 Vgl. Diss., S. 843: „vEnergh,mata demum & effecta sacrosancta qvod attinet, qvae ad sanctificationem fidelium Codicis sacrosancti lectorum auditorúmqve, in hac & futura vita […] referri qveunt […].“ 76 Vgl. Diss., S. 839: „Subjectum Scripturae S. in genere cultus divinus.“ (marginal) – „XVI. Jam porrò subjecti, de qvo scriptura nostra agit, ratio attendatur. In genere cultus divinus & vera religio is est, qvi finis hominis creati summus. Constat enim inter omnes, qvos vel sola ratione citra divini verbi Cynosuram ducit, hominem in mundo collocatum esse, ut Deum creatorem suum colat, & obligatio hominis erga Deum unà cum homine nata est, & Syngrapha (ut sic loqvar) eodem, quô creatus est, die data, officium videl. hominis erga Deum religio seu pietas. Jam verò sanctum, purum, incontaminatum & ab omni foeditate mentis ac immundicie defoecatum (rationi humanae licèt mirabilem, & in qvibusdam paradoxum) Deum sanctissimum colendi modum esse oportet. Qvem in solo verbo suo, divinitus patefacto & exarato (neqve enim aliunde id innotescere in tanta rerum humanarum confusione & depravatione potuit) propositum obviumqve manifestè conspicimus. Nihil in iis (scripturis ratione DEUM colendi modi) obscoenum & turpe (inqvit Vives, d. l.) ut in Alcorano Mahumetis, & apud gentium vates: nihil anile, delirum, blasphemum, ut in Thalmud Judaeorum, & apud plerosqve Philosophos.“ 77 Diss., S. 839: „In specie ad Legem & Euangelium, seu praecepta morum, & promissa justitiae ac vitae aeternae gratuitae propter Messiam, tota Scripturae sacrae materia referri potest.“ 78 Diss., S. 841: „Specialissimè, (praeter ea, qvae naturâ nota sunt) ad mysteria seu fidei dogmata, historias, & prophetias, reduci qveunt, qvae in verbo DEI scripto traduntur. At haec omnia, qvàm admirabili sanctitate & divinâ majestate polleant, pii omnes palam intelligunt.“
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artikeln oder „Mysteria verbi divini“ gehören, wie Glassius mit einem Zitat von Hunnius ausführt: „[…] adorandum illud Trinitatis arcanum, mysterium incarnationis filii DEI, consilium redemtionis ab ultima aeternitate in DEO propositum, & sub plenitudinem seculorum opere completum, modus ipse qvoqve reparationis & justificationis humani generis.“79 Heiligkeit kommt den in der Schrift überlieferten Geschichten („Historiae sacrae“) deshalb zu, weil auch sie mit der Ehre Gottes und der Erkenntnis des ewigen Lebens auf den „scopus summus“ der Schrift bezogen sind.80 Entsprechendes gilt für die „Prophetia Sacra“, deren „Heiligkeit“ darin begründet ist, daß sie nicht wie die Sybillinen unverbunden oder ausschweifend ist, sondern ebenfalls auf ein und denselben Schriftskopus ausgerichtet.81 Auch für den Stil und für den Wortlaut der Schrift reklamiert Glassius deshalb Vollkommenheit und Heiligkeit, weil darin nichts vorhanden ist, was den Skopus der Schrift und die damit verbundenen Intentionen ihres Autors behindert.82 Es geht also bei der perfectio weder um eine Vollständigkeit im Bereich der Mitteldinge, für die ein Christenmensch auf Quellen außerhalb der Schrift angewiesen ist, wiewohl sie auch dazu etwas zu sagen weiß. Auch geht es nicht um eine quantitative Vollständigkeit, als ob alle Wunder Christi oder alle jemals geschriebenen apostolischen Briefe83 enthalten wären. Wohl aber geht es um die Kohärenz und Qualität der Worte, insofern nur in der Schrift vollständige Auskunft über des Menschen Heil zu erlangen ist.84 Eine letzte Grenze, die Glassius in seinem Kapitel über die perfectio im Glaubens=Grund zuerst nennt, stellen allerdings Aussagen über das ewige Leben dar: „Denn wenn dieses in Betrachtung kömpt / so ist kein Zweiffel / daß alle unser Wissen und Erkäntnis / aus der H. Schrifft herfliessend / unvollkommen sey / 1. Cor. 13/9/10.“85 Notwendig und vollkommen ist die Schrift
79 Diss., S. 841. 80 Vgl. Diss., S. 841: „Historicarum partium sanctitas & majestas ex consideratione scopi summi, qvi non gloria mundi, & nominis humani celebritas, (ut plerísqve profanis in usu est scriptoribus) sed gloria summi DEI, in cujus cognitione vita aeterna consistit […].“ 81 Vgl. Diss., S. 842: „Jam de Prophetiis qvid dicam? id est, de Spiritu DEI per omnes Bibliorum libros ceu artus diffuso? qvorum sanè vaticinia non ut Sibyllarum folia sunt variè dissoluta, sed in unum scopum directa & destinata, qvamvis diversis temporibus, diversis in locis, à diversis personis pronunciata.“ 82 Vgl. Diss., S. 842 f. Zum Verständnis ist auch hier darauf hinzuweisen, daß Glassius ebd. sich nicht scheut, diese aus heutiger Sicht womöglich befremdlichen Aussagen komparativistisch etwa mit Verweis auf die im Vergleich zu den biblischen Grundtexten viel unklarere und verderbtere Vulgata zu begründen. 83 Vgl. GG, S. 117 f., 133 f. 84 Vgl. GG, S. 116. 85 GG, S. 116 f.
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daher nur in „Absehen auff dieses zeitliche […] Leben“.86 Aus diesem Grund aber gilt um der Heilsgewißheit willen, daß in der Schrift nichts verändert werden dürfe, wie alttestamentlich und neutestamentlich vielfach bezeugt wird.87 Die Schrift soll nicht ergänzt werden, sondern vielmehr umgekehrt als Quelle und Maß für den heilsnotwendigen Gottesdienst und die heilsame Lehre ausgeschöpft werden. Weil in der Schrift der ganze „Rath Gottes zu unser Seeligkeit“ dargeboten ist, kann „daraus eine vollkommene hierzu gehörige Wissenschafft“ erlangt werden.88
3.4.1 D ie Relation von Geist und Buchstabe als Implikat der perfectio scripturae – die antischwärmerische Front (efficacitas scripturae) Aus der Kirchengeschichte wie aus der eigenen Zeitgenossenschaft weiß Glassius, daß das Schriftprinzip mit den dargelegten lehrhaften Implikationen hinsichtlich der Eigenschaften der Schrift auch im kirchlichen Kontext Unverständnis, Kritik bis hin zur offenen Ablehnung ausgesetzt ist.89 Aus theologischen Gründen ist das für den Thüringer nicht verwunderlich, zeigt doch schon die Schrift selbst, daß das Fundament des Hauses Gottes durch die gottfeindliche Macht des Bösen gründlich untergraben wird.90 Gott läßt es nach seiner Weisheit zu, daß der böse 86 GG, S. 116. 87 Vgl. WB, Vorrede, S. 168; GG, S. 118 f. 88 GG, S. 125 f. Vgl. a. a. O., S. 126: „Und wie solte endlich ein Christliches Hertz immermehr dencken können / dieweil es Gott dem HErrn gefallen / so viel umständliche Beschreibungen der Nahmen / Oerter / Zeiten / Personen / Geschichten / Zahlen / Geschlechtregister / und dergleichen in seinem schrifftlichen Wort auffzeichnen zu lassen / auch deren etliche mit einerley Worten zu […] wiederholen / daß er nit vielmehr alle das jenige so zur Seligmachenden Wissenschafft nötig / vollkommen hätte verfassen lassen?“ 89 Vgl. GG, S. 207: „Wo die Göttliche Lehre nach der Regel der Heil. Schrifft getrieben wird / da erregen sich gewißlich auch dissensiones, Mißhelligkeiten und ärgerliche Spaltungen / wie die Erfahrung aller Zeiten darthut und bezeuget.“ Glassius’ Freund Michael Walther leitet hierfür aus der Notiz von den reißenden Netzen in Lk 5,6 folgende Handlungsanweisung ab: „Da das Netz in vnserm Evangelio zurissen war / wincketen Petrus vnd die seinigen ihren Gesellen / die im andern Schiff waren / daß sie kämen / vnd hülffen ihnen ziehen. Also wann vnterschiedliche Spaltungen in Religionssachen sich angeben / so müssen die Orthodoxi Theologi einander wincken / zusammen tretten / für einen Mann stehen / vnd das Netz wieder flicken / welches jetzige Zeit über zumaln hoch nöthig ist.“ (Postilla Mysticophysica, Das ist / Erklärung Etlicher Herrlichen Creaturen / Die in den Sonntäglichen vnd fürnembsten Fest Evangelien vorlauffen […], Nürnberg 1651 [= Post. Myst.], S. 1027. 90 Glassius nimmt in seiner Vorrede (Praefatio) zur Philologia sacra (S. 6) Jesu Rede von den Pforten der Hölle aus Mt 16,18 auf und umschreibt deren „Absicht“ folgendermaßen: „[…] portae inferorum, quae fundamentum istud & consequenter, quae superstructa est, domum DEI, Ecclesiam veram, subruere & subvertere funditus conantur […].“
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Feind sein Unkraut unter die gute Saat des göttlichen Wortes sät.91 Es gehört also zur Kondeszendenz der Offenbarung, daß deren Urheber sich und seine Gläubigen diesem Widerspruch aussetzt.92 Das Ansinnen des Feindes des Menschengeschlechts ist darauf gerichtet, entweder frommen Gemütern die Autorität der Schrift zweifelhaft zu machen oder aus dem Raum der Kirche ihren Gebrauch zu verbannen und so die Frömmigkeit und den wahren Gottesdienst auszumerzen.93 Der Teufel zielt als Widersacher Gottes darauf, die auf Wiederherstellung der Gemeinschaft von Gott und Menschen angelegten Bemühungen Gottes zu torpedieren. Bisweilen bläst der Widersacher bei seinen Attacken auf das Wort offen zum Angriff und greift jenes heilsame Wort direkt an, bisweilen agiert er hinterhältig im Verborgenen.94 Die erstgenannte Strategie liegt für Glassius überall dort vor, wo Tyrannen versucht haben, nicht nur die Gläubigen zu verfolgen, sondern auch die Heiligen Schriften auszurotten, aber auch dort, wo gnostisch-häretische Bewegungen insbesondere die Bücher des Alten Testaments verworfen haben.95 Hinterhältiger, aber nicht weniger gefährlich, sind die Angriffe auf die Würde der Heiligen Schrift, wie Glassius sie durch Schwenckfeld repräsentiert sieht. Hier werden private, vermeintlich vom Heiligen Geist im Herzen „diktierte“ Spekulationen als Glaubensfundament zugelassen, ohne daß die Schrift gänzlich abgetan würde. Aber auch hierdurch werden Menschen vom sicheren Heilsweg und von dessen einzigem Fundament weg in die Irre und ins Unheil geführt.96 Der Fehler der Schwärmer und Enthusiasten ist, daß sie Geist und Buchstabe, Wirkung und Autorität der Schrift auseinanderreißen und damit die efficacia scripturae leugnen. In der Vorrede zur Kurfürstenbibel hält Glassius dieser Sichtweise entgegen, daß 91 Vgl. GG, S. 207 f. unter Hinweis auf folgende Stellen: 2Petr 3,16, Mt 18,7, 1Kor 11,18 f., Mt 24,24, Apg 20,29–31, Röm 16,17 f., 1Tim 4,1 f., 2Tim 3,1.5.8, 2Petr 2,1–3, 1Joh 2,18 f., 4,1.3, Offb 3,10, 12,9.12, 1Kor 11,12, 15,12–14, Gal 1,6.8, 3,1, Phil 3,2, Kol 2,8, 2,16–23, 2Tim 1,15, 2,17 f., 3,6–9. 92 Die göttliche Weisheit hinter dieser Zulassung besteht ähnlich wie bei den obskuren Stellen der Heiligen Schrift darin, dafür zu sorgen: daß „die Christlichen Interpretes und Lehrer gleichsam in die Schrifft / in derselben desto eifferiger zu forschen / gejagt hätten.“ (GG, S. 209) 93 Vgl. PS, Praefatio, S. 6: „[…] ut Scripturae qeopneu,stou autoritatem, vel dubiam & invalidam piis mentibus reddere, vel ex Ecclesiae pomoerio usum ejus plane proscribere, atque ita omnem, ex animis pietatem, ex Christianorum coetibus divinum verumque cultum extrudere satagat.“ 94 Vgl. PS, Praefatio, S. 6: „Unde aperto modo Marte quasi classicum canit, & verbum illud salvificum adoritur, modo etiam occultis veluti agit cuniculis, & per insidias.“ 95 Vgl. PS, Praefatio, S. 6. 96 Vgl. PS, Praefatio, S 6: „Per Schwencfeldium […] & socios seu asseclas ejus privatas, a Spiritu (uti sibi quidem persuadent) sancto in corde unius cujuslibet dictatas speculationes (Scriptura tamen, quam & ipsam recipere se simulant, non penitus exclusa) pro fidei fundamento, non sine insigni pietatis singularis specie, introducit: At hoc ipso a certa & regia salutis via, aque fundamento ejus unico, ad errorum devia & praecipitia, tandemque inferni barathrum, quam misere homines miseros abducit!“
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die Schrift nach 2Tim 3,16 als „vermögend und kräfftig“ bezeichnet wird. Diese Stelle zeigt „an die überschwengliche Macht und Krafft deß Göttlichen Worts / wenns rechtmässig gebraucht und angewendet wird / daß es deß Menschen Hertz rühret / beweget / durchfeuert / erleuchtet / zum Guten anfrischet / und die ewige Seligkeit mit sich bringet“, wie auch aus Röm 1,16 und 2Kor 10,4 f. hervorgeht und was Gott als dem Urheber der Schrift zuzuschreiben ist; denn dieser verfolgt die Absicht, durch nichts anderes als durch diese Worte, die der Weltweisheit als Torheit erscheinen (1Kor 1,21), Menschen selig zu machen.97 Auch ein Pauluswort wie in 1Thess 2,13 „und was dergleichen schöne Sprüche mehr sind“, können „den ungewissen / unbeständigen Fladdergeistern der Enthusiasten / Widertauffer / Schwenckfeldianer / Weigelianer / Methisten / Stifelianer / und dergleichen / (welche die Krafft und thätige Wirckung deß Göttlichen geschriebenen und gepredigten Worts / als eines mächtigen Werckzeugs GOttes zur Bekehrung / Erleuchtung und Seligkeit / gäntzlich vernichten und verläugnen) in grosser Zahl […] entgegen gesetzt werden […].“98 Nicht die Schrift bedarf daher einer von außen kommenden Erleuchtung, sondern sie selbst ist kraft des durch ihr Wort wirksamen Geistes dessen exklusives Mittel der Erleuchtung.99 „Denn gleich wie eines vernünfftigen Menschen geredetes oder geschriebenes Wort (zum Exempel / ein richtiges Testament / Item weltliche Gesetze / Ordnungen / und dergleichen) ihren eigenen Verstand in sich selbst haben / also daß derselbe aus den Reden selbst zu nehmen / und ist die Rede gleichsam die Schale / in welcher der Verstand / als ein Kern verborgen liegt: Also ists vielmehr mit dem geschriebenen Wort des allerweisesten GOttes dergestalt bewand.“100 Damit steht Glassius in jener antischwärmerischen Traditionsli97 WB, Vorrede, S. 164 f. Vgl. Diss., S. 857, ebenfalls unter Hinweis auf 2Tim 3,15: „[…] sacra gra,mmata Apostolus vocat duna,mena, potentia & efficacia, v. 15.“ Weitere Belegstellen für die „efficacia Scripturae“ in der Diss. sind: Joh 6,44 f.68, 1Joh 1,3 f., Röm 1,16, 2Kor 10,4 f., Eph 6,17, Joh 6,63, Röm 15,4, 1Petr 1,23.25, 2Petr 1,19, Hebr 4,12, 1Kor 1,21, 1Thess 2,13 (vgl. a. a. O., S. 857–859). 98 WB, Vorrede, S. 165 f. Vgl. dazu Steiger, Philologia, S. 166, Anm. 24: „Gemeint sind die Anhänger der Spiritualisten und religiösen Dissidenten Caspar Schwenckfeld von Ossig (1489–1561), Valentin Weigel (1533–1588), Ezechiel Meth (1588–1640) und Esaias Stiefel (1561–1627).“ 99 Vgl. Steiger, Philologia, S. 57 (mit einem Zitat aus dem Tractatus Johann Gerhards): „Dem Leser der Schrift wird der Geist jedoch – im Unterschied zur spiritualistischen Sicht – nicht unmittelbar eingestrahlt. Vielmehr ereignet sich die illuminatio im Lesen, Meditieren und Erforschen der Schrift selbst (‚in Scripturis, & per Scripturas, lux illa Spiritus sancti quaerenda & impetranda‘).“ 100 GG, S. 269. Dieses Zitat ist ein vortrefflicher Beleg für folgende Beobachtung Steigers (Philologia, S. 41 f.): „Auffällig ist, daß die Orthodoxen ausgehend vom bibelhermeneutischen Horizont auch allgemein-hermeneutische Fragen reflektieren. Im Zuge dessen stellen sie z. B. fest, daß allenfalls die einzelnen Buchstaben als bloß äußerliche Dinge angesehen werden können. Wortverbindungen, Sätze und ganze Schriften jedoch sind nicht lediglich verba externa, sondern vom Geist des jeweiligen Autors begabt und gewähren dem Leser Einblick in denselben. Gerade auch
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nie, die an CA 5101 und Luthers Schmalkaldische Artikel102 anknüpfend in der Zeit der Orthodoxie vor allem im sogen. Rhatmannschen Streit103 unter anderem auch durch seinen Lehrer Johann Gerhard bekräftigt und durchreflektiert worden ist.
3.4.2 D ie Relation von Schrift und Tradition als Implikat der perfectio scripturae – die antipäpstliche Front Nehmen die enthusiastischen Schwärmer der Schrift ihre Besonderheit, indem sie eine zusätzlich zur Schrift notwendige Geisterleuchtung behaupten, so stellt Glassius in der römisch-katholischen Lehre eine Gefährdung des Schriftprinzips durch das Traditionsprinzip fest. Im Dekret von Trient, das für Schrift und Tradition „einerley devotion“ vorschreibt und in „unverrückte[r] succeßion“104 letztlich das verbindliche Wirken des Heiligen Geistes und die perfectio der Schrift auf die Kirche ausweitet, sieht Glassius „nun eigentlich das Ziel / darinnen wir uns von den Papisten absondern“.105 Denn in solcher Gleich- oder gar Überordnung der Tradition über die Schrift wird die Schrift letztlich überflüssig.106 Die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Dunkelheit der Traditionen der Kirche, ihrer Lehren und Gebräuche ist schon empirisch komplexer und auslegungsbedürftiger als anhand nicht-biblischer Literatur erweist sich daher die Stichhaltigkeit der orthodoxen Hermeneutik, die die Dialektik von Innerem und Äußerem mitbedenkt. Hier gibt es kein statisches Subjekt-Objekt-Schema, das den Erkennenden vom Erkannten dispariert, sondern hier bringt sich die Einsicht zur Geltung, daß im Erkenntnisprozeß eben diese Diastase überbrückt und eine Gemeinschaft von Autor und Leser gestiftet wird.“ 101 Vgl. BSELK 101,8–9: „Damnant Anabaptistas et alios, qui sentiunt spiritum sanctum contingere hominibus sine verbo externo per ipsorum praeparationes et opera.“ 102 Vgl. BSELK 770,12–19: „Und inn diesen stücken, so das mündlich, eusserlich wort betreffen, ist fest darauff zu bleiben, das Gott niemand seinen Geist oder gnade gibt, on durch oder mit dem vorgehend eusserlichem wort, Damit wir uns bewaren fur den Enthusiasten, das ist geistern, so sich rhümen, on und vor dem wort den geist zu haben, und darnach die Schrifft oder mündlich wort richten, deuten und dehnen ihres gefallens […], die zwisschen dem Geist und Buchstaben scharfe richter sein wollen […].“ 103 Vgl. z. B. Steiger, Philologia, S. 38–49; Jung, Das Ganze, S. 94–100; Hägglund, Die Heilige Schrift, S. 253–256, zuletzt Glenn K. Fluegge, Johann Gerhard (1582–1637) and the Conceptualization of Theologia at the Threshold of the ‚Age of Orthodoxy‘. The Making of the Theologian (= OUH.E 21), Göttingen 2018, S. 104–110. 104 GG, S. 401 f., Glassius bezieht sich hier auf das „Decretum de libris sacris et de traditionibus recipiendis“ (DH 1501), wo es von der Schrift und den in der Kirche gleichermaßen vom Heiligen Geist diktierten und „continua successione“ in der Kirche bewahrten Traditionen heißt, sie würden vom Konzil „pari pietatis affectu ac reverentia“ angenommen und verehrt. 105 GG, S. 402. Vgl. Diss., S. 846 f. 106 Vgl. GG, S. 406–410.
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der Schriftkanon und daher selber eines externen Wahrheitsmaßstabes bedürftig.107 Glassius zitiert das Examen Concilii Tridentini von Martin Chemnitz: „Verè haec est Pandorae pixis (inqvit Chemnitius in exam. Concil. Trid. § de tradit.) cujus operculô omne genus corruptelarum, abusuum & superstitionum in Ecclesiam invectum fuit. Qvid enim non licebit fingere, admissô semel hôc postulatô, non opus esse documentis & probationibus ex Scriptura? Etc.“108 Auch die Kirchenväter erweisen sich trotz ihrer Verdienste im Kampf gegen vielfältige Häresien als widersprüchlich und keineswegs irrtumslos, zumal sie für sich keine Vollkommenheit in Anspruch nehmen und immer wieder von sich selbst weg auf die Schrift als Maßstab ihrer Lehre verweisen.109 Schon aufgrund der Menge ihrer Schriften ist es kaum möglich, einen Konsens der Väter als Maßstab der Lehre zu finden.110 Ähnliches gilt für die Konzilien der Kirche, weshalb sie keine Macht haben, „ausser oder wieder die H. Schrifft“ etwas zu beschließen oder zu ordnen.111 Darum müssen all diese „Autoritäten“ nach dem Maßstab der Schrift beurteilt und kritisch gelesen werden, so daß das Schriftprinzip letztlich zu einem kritisch-differenzierenden Umgang mit der Tradition führt: „[…] am besten schmeckts / wenn man aus dem Brunnen selbst trincket; doch auch dabey die Bächlein / wo sie nicht trübe und koticht sind / unverachtet lässet […].“112 Daß im übrigen die Haltung des Glassius zu den kirchlichen Traditionen, Lehrern, Konzilien und sogar den gegnerischen Theologen keineswegs generell ablehnend, sondern differenzierend ist,
107 Vgl. GG, Cap. 13: „Von den traditionen und Satzungen der Kirchen.“ (S. 398 ff.); Cap. 14: „Von der Gewonheit und den Gebräuchen der Kirchen.“ (S. 441 ff.) Mit diesen Passagen steht Glassius in der Nachfolge der von Martin Chemnitz in seinem Examen der tridentinischen Konzilsbeschlüsse begründeten reformatorischen Kritik am nachreformatorischen römisch-katholischen Traditionsprinzip. Vgl. dazu z. B. Eugen F. Klug, From Luther to Chemnitz. On Scripture and the Word, Kampen 1971; Markus Karstädter, Norm(en) der Schriftauslegung bei Martin Chemnitz, in: LuthBei(B) 17 (2012), S. 166–180; Bengt Hägglund, Chemnitz – Gerhard – Arndt – Rudbeckius. Aufsätze zum Studium der altlutherischen Theologie (= TSP 1), Waltrop 2003, S. 38–41, 55–64. 108 Diss., S. 847; vgl. Martin Chemnitz, Examen Concilii Tridentini, hg. v. Eduard Preuß, Berlin 1861, S. 69. 109 Vgl. GG, S. 484 ff. (Cap. 15). Auch für Glassius gilt daher, was für seinen Lehrer Johann Gerhard festgehalten wurde: „Die seit der Reformationszeit üblich gewordene Berufung auf den consensus patrum führte weder dazu, allen Vätern und all ihren Werken eine durchgängige Schriftgemäßheit zu unterstellen, noch auch dazu, daß Diskrepanzen zwischen den Exegesen unterschiedlicher Väter verschwiegen wurden […].“ (Johann Anselm Steiger, Johann Gerhards Tractatus de legitima Scripturae Sacrae interpretatione und die patristische Tradition, in: Silke-Petra Bergjan, Karla Pollmann [Hg.], Patristic Tradition and Intellectual Paradigms in the 17th Century [= SMHR 52], Tübingen 2010, S. 59–71, hier S. 66) 110 Vgl. GG, S. 496 f. 111 GG, S. 506. 112 GG, S. 497.
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zeigt die Intensität und Fülle, mit der er in seinem gesamten Werk auf die einschlägigen Schriftcorpora einzugehen in der Lage ist. Gerade auf diese Weise wird aber auch erkennbar, daß in Anwendung des Maßstabs der Heiligen Schrift ein kritisch sichtender und eben darin fruchtbarer Umgang mit der Tradition befördert und gewährleistet wird, der dazu dient, Heilsames und Heilsschädliches, Kirchebauendes und Kirchegefährdendes zu unterscheiden. Glassius gesteht wiederholt zu, daß päpstliche Theologen an vielen Stellen der Schrift die gebührende Ehre geben, sei es durch zutreffende Exegesen oder durch nachvollziehbare dogmatische Begründungen ihrer Lehren mit klaren Aussagen der Schrift.113 Doch widersprechen sie sich selber, wenn sie andererseits die Autorität der Schrift der Autorität der gegenwärtigen Kirche unterwerfen und das Richteramt über die Lehre (schon aufgrund der verwirrenden Disparatheit kirchlicher Gewohnheiten und Traditionen) dem Papstamt übertragen,114 womit sie wiederum ihr eigenes Traditionsprinzip konterkarieren. In ihrer Ablehnung des allein der Schrift selbst zuzuschreibenden Richteramtes steigern sie sich in aus Glassius’ Sicht nachgerade gotteslästerliche Äußerungen hinein, wenn etwa die Schrift als „stummer und toder Buchstab“115 oder als „stumme[r] Lehrer“, „Zanckbuch“ und „wächserne Nasen“116 bezeichnet wird. 113 Vgl. PS, Vorrede, S. 6. Als Hauptgewährsmänner für seine Anschauung von der Autorität der Schrift kann Glassius in seiner „Dissertatio“ nicht nur den Lutheraner Hunnius, sondern auch den papsttreuen Humanisten Ludwig Vives (1492–1540) und den reformierten Theologen Philipp Mornäus (Philippe de Mornay, 1549–1623) nennen. Vgl. Diss., S. 837: „[…] trium magni nominis scriptorum testimonia subinde interseremus, qvorum unus nostrae religionis verae assertor praecipuus est: alter Pontificiae, & tertius Calviniae (uterqve tamen in hoc doctrinae capite orthodoxus:) D. Hunnium, Lud. Vivem, & Phil. Mornaeum intelligo, qvi de Scripturae S. majestate valdè graviter & nervosè loqvuti comperiuntur.“ 114 Vgl. PS, Vorrede, S. 7, wo Glassius Bellarmins Widmungsvorrede zu seinen Werken für Papst Sixtus V. wie folgt zitiert: „Omnem verbi DEI scripti autoritatem ab Ecclesiae praesentis autoritate dependere: Esse id obscurum, ambiguum, & certum de se sensum reddere nescium: Esse mutilum, mancum & imperfectum; cumque traditionibus complicatum, perfectam demum nobis credendorum faciendorumque reddi normam: Interpretationem ejus non ex ipso, sed ex Ecclesia, ex traditionibus, ex Pontificis Romani cathedra petendam esse: Pontificem hunc UNUM controversiarum omnium esse judicem, & ea potestate, qua proxime accedit ad DEUM […].“ Vgl. fast wörtlich auch Diss., S. 856. Zu Bellarmin vgl. Thomas Dietrich, Robert Bellarmin. De verbi Dei interpretatione (1586), in: Oda Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016, S. 537–546, hier S. 542–545. 115 GG, S. 190. 116 GG, S. 159. Vgl. Diss., S. 856: Demnach schreibe Johann Monheim (1509–1564) in seinem Katechismus „Sacram Scripturam esse veluti nasum cereum, qvi in qvamvis interpretationem flecti possit […].“ Der spanische Jesuit Franciscus Turrianus Cremonensis (1509–1584) nenne sie gar ein „gladium Delphicum“ (ebd.). Zur Motivgeschichte der „wächsernen Nase“ sowie zum damit indizierten dogmatischen Problem vgl. Johannes Wirsching, Die wächserne Nase oder das Pro-
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Hier schließt sich für Glassius der Kreis, denn damit reißen die Päpstlichen die Einheit von Geist und Buchstabe ebenso auseinander wie die Enthusiasten117 und schaffen so erst die Diastase zwischen „lebendigem“ Geist und „toter“ bzw. wirkungsloser Schrift, womit sie gleichsam selbst ins Lager der Schwenckfeldianer und Freigeister übergegangen sind.118 Wiederholt hält Glassius dem entgegen, daß nach dem Selbstzeugnis der Schrift diese ein „Vivus sermo DEI & efficax“ sei; was aber spreche und rede, sei nicht stumm und tot.119 Auch hier kann Glassius nicht umhin, seine Metakritik an der römischen Kritik am Schriftprinzip auf den Vorwurf des Selbstwiderspruchs an jene zuzuspitzen, die ihre eigenen Worte im Unterschied zur Schrift für lebendig, kräftig und maßstäblich halten, wenn er unter Berufung auf die ihren eigentlichen (im Falle der Schrift von Gott eingestifteten) Sinn abbildende Kraft der Sprache schreibt: „Wie die Rede eines lebendigen Menschen / oder auch schrifftlichen Auffsatz / eine lebendige und thätige Abbildung ist dessen / was in seinem Sinn und Gemüth gedacht wird: Also ist die H. Schrifft eine lebendige und allkräfftige Abbildung dessen / was Gottes Sinn und Meinung ist / in dem Geheimnis unser Seelen Seeligkeit / wie auch in andern / was er den Menschen hat offenbaren wollen. Und so / was geschrieben / todt / stumm / und zum Brauch der Bewehrung unkräfftig / wo wills denn hinaus mit allen schrifftlich blem der dogmatischen Autorität, in: ders., Lebendiges Dogma, Frankfurt a. M. u. a. 2004 (= Kontexte 35), S. 11–27. 117 Vgl. GG, S. 190: Die Aussage, die Schrift sei ein stummer und toter Buchstabe, ist nach Glassius eine Gotteslästerung der Päpstlichen, die sie „mit den Schwenckfeldern und Enthusiasten gemein haben.“ 118 Vgl. Diss., S. 857: „Dúmqve tam sinistrè & perperam de Scriptura S. Pontificii judicant, & sensum Spiritus S. ab ipsismet separare, & ab alio principio extraneo (Ecclesia & Papa Romano) arcessere, qvin literam mortuam (qvod apud Costerum expressè invenies, enchir. p. 43. & Gordonum Huntl. controv. I. c. III.) appellare non reformidant, in Schwenckfeldii & Libertinorum castra trans ire manifestò comperiuntur […].“ Angefügt ist folgerichtig Luthers antienthusiastisches Zitat aus den Schmalkaldischen Artikeln: „Luth tom. VI. Jen. f. 520. Denn das Bapsthumb auch eitel Enthusiasmus ist, darinn der Bapst rühmet, alle Rechte sind im Schrein seines Hertzen, und was er mit seiner Kirchen urtheilet und heist, das soll Geist und recht seyn, wenns gleich über und wider die Schrifft ist.“ (Vgl. BSELK 770,19–23). Daß die römische Seite den Heiligen Geist kriteriologisch an die Kirche als Urteilsinstanz über die Schrift – und nicht wie die reformatorische Seite an die Schrift als Urteilsinstanz über die Kirche – gebunden sieht, zeigt sich auch in der Postille Stapletons, wo es heißt (Kirchen= vnd Haußpostill / Oder Catholisches Zeughauß. Das ist / Feste / wolgegründete Erörterung vnd Außlegung der fürnembsten Stellen aller Euangelien / so an Son= vnd Festtägen / durch das gantze Jar / der Christlichen Gemeyn pflegen fürgelesen zu werden. […], Ingolstadt 1602, Band 2, S. 135): „Es ist aber ein heyliges vnd Göttliches Buch / das nicht kan verstanden werden / man habe dann zuvor den Geist Gottes empfangen. Diser Geist Gottes ist aber nirgend / dann bey dem Leib Christi / das ist / inn der wahren Kirchen Christi.“ Zum englischen Exulanten, Löwener Theologen und Postillator Thomas Stapleton vgl. Frymire, Primacy, S. 417–422. 119 GG, S. 190 mit Hinweisen auf Hebr 4,12, Joh 7,38.42, Röm 3,19, 4,3, 7,7, 9,17, 10,8.16.20, 1Kor 9,8.
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verfasseten Gesetzen / darnach man in weltlichen Regimenten sich richten muß? Ja mit den Päpstischen Satzungen selbst […].“120 Indem sie aber der Schrift insbesondere im Konfliktfall jene Autorität und Richterfunktion nicht zugestehen, die sie für ihre eigenen Verlautbarungen in Anspruch nehmen, versündigen sie sich nicht nur an der Schrift selber,121 sondern geben so der heillosen Verkehrung von Gottes Wort in sein diabolisches Gegenteil Raum in der Kirche.122
3.5 Die Schrift als Quelle und Norm der Lehre Ist die Schrift keiner Ergänzung durch externe – individuelle oder kollektive – „Geister“ oder Autoritäten bedürftig, so kann es nach Glassius nicht anders sein, als daß sie umgekehrt zur „einige[n] Norm / Regel / Richtscheid= oder schnur“ all dessen, was zum christlichen Glauben, Leben und Gottesdienst gehört, von Gott „geordnet“ sei.123 Solches entspricht zum einen der Heiligkeit der Schrift insgesamt einschließlich ihrer heilsamen Wirkungen.124 Und es ist andererseits zu 120 GG, S. 191. Die enge Anlehnung an Luthers Schmalkaldische Artikel ist auch hier unübersehbar (vgl. BSELK 770,23–34). 121 Vgl. Diss., S. 847: „Rectè igitur Lutherus, tom. VIII. f. 312. postqvàm Scripturae sacrae comparationem cum Christo instituisset in eo, qvòd qvemadmodùm Christus seipsum vermem & non hominem esse, Psal. XXII. 7. dicit: ita etiam Scriptura in mundo ob contemtum vermis sit, & non liber; posteà sic de Papatu loqvitur: Die andern zureissens, creutzigens, geisselns, und legen ihm alle marter an, biss sie es auff ihre ketzerey, Sinn, Muthwillen, deuten und dehnen, zu letzt gar verderben, tödten, und begraben, dass es aus der Welt gestossen und vergessen wird. An seine statt aber sitzt die Hure mit dem gülden Kelche, Decreten und Decretalen, und andern Rotten-büchern. etc.“ 122 Vgl. Diss., S. 857: „Hoc vult, Ecclesiae Papalis autoritate, & Pontificis Rom. decretô, (qvô Laici à Sacramenti Coenae integra perceptione excluduntur) potiùs standum esse, qvàm expressissimô Christi, Sacramentum sub utráqve specie instituentis, verbo: qvòd si contra id explanatio Pontificia acceptetur, ex Diaboli fieri DEI verbum. Proh blasphemiam Christianô homine planè indignam, dignam verò DEI, ejusqve verbi, & omnis pietatis hoste infensissimó!“ Glassius führt in diesem Zusammenhang auch 2Thess 2,9–12 als Grundtext für die Lehre vom Antichristen an (vgl. a. a. O., S. 856). 123 GG, S. 141. Vgl. hierzu die Überschrift in der Konkordienformel: „Von dem Summarischen Begriff, Grundt, Regel und Richtschnur, wie alle Leer nach Gottes Wort geurteilet und die eingefallene irrung Christlich erkleret und entscheiden werden sollen“ (BSELK 1308). 124 Vgl. Diss., S. 844: „Ceterùm ex declarata hac Scripturae divinae sanctitate duo jam deducimus pori,smata. 1. Qvia nullum aliud scriptum, religionem & beatitudinem hominis concernens, à qvibuscúmqve profectum hominibus, divini Codicis majestatem vel minimâ parte attingit, igitur illis omnibus hic infinitis parasangis anteponendus, & pro exactissima ac qeosdo,tw| religionis, cultus divini, fidei & vitae Deo placentis, nec non omnium & singulorum, de his exaratorum librorum, & motarum controversiarum, canone, regula, norma & amussi, sanctè habendus est, Ps. XIX. 5. Rom. X. 17, 18. Gal. I. 8, 9. VI. 16.“ Als Belege aus der Kirchengeschichte bietet Glassius a. a. O., S. 845–847 Zitate von Augustinus und Luther.
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erweisen vor allem aus Gottes vielfältig in der Schrift bezeugtem eigenen Befehl, aus dem erkennbar wird, daß „dessen Richterliche Stimm und Ausrede“ in der Kirche die Schrift ist.125 „Nach welchem Wort / als einer einigen Richtschnur / das Jüngste Gericht wird gehalten / und der letzte Sententz gesprochen werden / das ist auch billich vor die einige Richtschnur des Glaubens und Gottesdiensts allhie in der streitenden Kirchen zu achten.“126 Weiter wird die Richtschnurfunktion der Schrift erwiesen aus biblischen Exempeln. Wo auch immer im Volk Gottes Reform- und Bußbewegungen geschildert werden, geschahen diese nach dem Maß der zur jeweiligen Zeit vorliegenden heiligen Schriften.127 Schließlich berufen sich auch Jesus und seine Apostel im Lehrstreit immer wieder auf das geschriebene Wort Gottes im Alten Testament.128 War aber, so Glassius, zu Zeiten des Neuen Testaments das Alte Testament genug, so sind erst recht für die Kirche beide genug.129 Schließlich verweist der Thüringer Superintendent auch auf das „Ampt der Kirchendiener“,130 die selber nach dem Neuen Testament Lehre ausrichten und beurteilen sollen, was angesichts der großen Verantwortung in Fragen des Heils allein nach „der vollkommenen Regel / und dem Göttlichen Probierstein“ der Schrift geschehen kann.131 Auch 125 GG, S. 142. Glassius nennt hier (a. a. O., S. 142–144): Deut 4,1 f.5, 5,32 f., 12,28–32 und 31,9.11 f., Jes 8,19 f., Lk 16,27–30, Joh 5,39 f.45 f., Gal 6,16, Phil 3,16, Ps 19,5 und Röm 10,18. 126 GG, S. 148. Glassius verweist ebd. auf Joh 12,48, Röm 2,16, Joh 3,18, Mk 16,16 und kommentiert diese Stellen ebd. wie folgt: „Nun aber wird das Jüngste Gericht gehalten / und der letzte Sententz gesprochen werden / nach dem Wort Christi und der Aposteln / wie ausdrücklich in angezogenen Orten zu sehen. Derowegen ist auch das andere von solchem Wort waar.“ 127 Vgl. GG, S. 145, mit Hinweisen auf Beispiele aus den Könige- und Chronikbüchern und aus Esra und Nehemia. 128 Vgl. GG, S. 145 f. mit Hinweisen auf Mt 4,4–10, 19,4–6, 22,29–45, Lk 4,17–19, 24,25–27.44–46, Apg 3,22, 13,33–36, 18,28, 26,22, 28,23–26, Röm 1,2, 3,21, 4,3–7, 10,11–21, 1Kor 15,3, Gal 3,6, Hebr 1,5–14, 2,6–13. 129 Vgl. GG, S. 146 f. 130 GG, S. 147. 131 GG, S. 149. Zur Rede vom „Probierstein“ vgl. wiederum FC, Epitome, Vom summarischen Begriff (BSELK 1218,11–16): „Solcher gestalt wird der unterschied zwischen der heiligen Schrifft altes und neuen Testaments, und allen andern Schrifften erhalten und bleibt allein die heilige Schrifft der einige Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probirstein [lat.: „ad Lydium lapidem omnia dogmata exigenda sunt et iudicanda“; BSELK 1219,14 f.] sollen und müssen alle Leren erkant und geurteilet werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein.“ Vgl. Johannes Möller, Similitudines Physico-Theologicae: Das ist; Mancherley schöne / nützliche und Geistliche Gleichnüsse / Darinn Natürliche Dinge / so am Himmel / auff Erden / im Wasser / auch an Menschen und Vieh zu finden / auff Geistliche Sachen […] appliciret und zusammen verglichen werden, Lübeck 1665, § 9c: „Wie man durch einen Probirstein gut Gold vom falschen unterscheiden und probiren kan: Also kan man rechte Lehre durch den Probirstein der H. Schrifft erkennen / und von der falschen unterscheiden.“
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hierzu versäumt Glassius es nicht, auf das bestätigende Zeugnis der Kirchenväter hinzuweisen.132 Die sich damit stellende Frage nach dem Umfang des Kanons beantwortet Glassius explizit in seiner Dissertatio. Hier findet die Unterscheidung zwischen sensus literalis als Basis für die Lehrbegründung und sensus figuralis als Grundlage für die schriftgemäße Ausschmückung der Lehre eine Entsprechung in der Unterscheidung von Homologumena und Antilegomena. Nur die seit alters als kanonisch anerkannten Schriften können für die Lehrbegründung herangezogen werden, während die Nützlichkeit der anderen in der Erbauung des geistlichen Lebens besteht.133 Luthers Kanonskritik jedoch läßt Glassius hinter sich mit dem Hinweis, im Rahmen einer kanonischen Auslegung könnten sich die in der Kontroverse aufgebrochenen Probleme lösen lassen, so daß auch die von Luther kritisierten Schriften als kanonisch angenommen werden können.134 Der Kirche und den Theologen kommt daher nicht die Aufgabe zu, die Schrift erst noch zu beglaubigen, was doch allein der Geist Gottes tun kann, oder zu kanonisieren, was Christus und seine Apostel bereits getan haben, sondern auf der Basis solcher Selbstbeglaubigung die Schrift nun als das zu nehmen, was sie ist, und entsprechend damit umzugehen. So präzisiert Glassius in seiner Dissertatio das Verhältnis und die Aufgaben der sich dem Wort Gottes verdankenden Kirche der Schrift gegenüber mit den Termini „testis“, „custos“, „vindex“, „praeco“ und
132 Vgl. GG, S. 149–154. 133 Vgl. Diss., S. 848: „De librorum Canonicorum & apocryphorum discrimine. Non enim hi, sed illi solùm sub universali ista nota comprehenduntur. Canonici libri sunt, qui o`mologoume,nwj gnh,sioi, omnium (Christianorum) consensu & testificatione legitimi, veri & genuini ab Eusebio, Augustino & Nazianzeno dicuntur, ac proinde Canon, regula & norma tam fidei, qvàm vitae Christianae existunt. Apocryphi (avpo. tou/ avpokru,ptein, ab abscondendo dicti) sunt, qvi etsi in Codice Biblico, versionibus expresso, simul continentur, qvin & utilia qvaedam, ad vitae aedificationem, in se continent, ad dogmata tamen fidei comprobanda non sunt adhibendi, sed qvasi abscondendi, & occultandi, eò qvòd autoritate divinae inspirationis immediatae careant & multa gnhsi,wj Canonicos repugnantia, qvaedam etiam manifestè falsa, immixta habeant, ut in speciali diexodo contra Pontificios ab iis, qvi accuratè hac de controversia disseruêre, demonstratur.“ 134 Vgl. Diss., S. 848 f.: „De. N. T. libris sententiarum est discrepantia. Qvosdam enim, & nominatum epistolam ad Hebraeos, Jacobi, Judae, B. Lutherum ex Canonicorum censu submotos velle, patet ex ejusdem praefationibus; & censurae tali apud veteres qvosdam & recentiores subjacent etiam secunda Petri, secunda & tertia Johannis, cum Apocalypsi. Sed cùm de autoribus potiùs dictorum librorum, quàm autoritate Canonica, in primitiva Ecclesia fuerit ab aliqvibus dubitatem, cúmqve ea omnia, qvae à veritate divina in illis dissentire videntur, commodâ ratione explicari, & cum Orthodoxias regula confirmari qveant, igitur omnes & singulos, prout in Codice N. T. biblico hodie exstant, ut Canonicos accipere, & iisdem in controversiis Theologicis, ad dogmatum Ecclesiasticorum probationem uti, (salvâ B. Lutheri nostri autoritate) Ecclesiae nostrae hactenus non gravantur.“
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„interpres“. Zeuge (testis) der Schrift ist die Kirche samt ihren Gliedern, insofern sie das vom Geist gegebene Wort loben, von dem sie selber leben, so daß schon das Bestehen der Kirche ein Zeugnis für die Wirksamkeit des geschriebenen und gesprochenen Wortes darstellt.135 Wächter (custos) und Beschützer (vindex) der Schrift ist die Kirche, insofern sie nach 2Tim 1,13 f. die Aufgabe hat, diesen ihr anvertrauten Schatz zu bewahren, was bereits im Alten Testament Aufgabe der „Judaica Ecclesia“ war.136 Als Prediger (praeco) und Interpret der Schrift hat die Kirche die Aufgabe, die Schrift in die Sprachen der Völker zu übertragen, darzulegen, zu erklären und sie so dem ihr entsprechenden bzw. göttlich vorgegebenen usus zugänglich zu machen.137 Der dabei zum Tragen kommende Interpretationsmodus hat die Selbstauslegung der Schrift nachzuzeichnen, indem ihr Skopus, die Textkohärenz und die Konsonanz der Schriften erhoben werden.138 In alledem bleibt die Kirche abhängig von der Schrift, deren vorgegebene Autorität sie gerade durch ihren Dienst an der Schrift anerkennt und öffentlich sowie für die Nachwelt propagiert.139
135 Vgl. Diss., S. 852: „De eadem autoritate, scetikw/j & respectivè accepta, respectu nimirum ad Ecclesiam, qvae per verbum DEI scriptum & praedicatum à DEO colligitur & conservatur, habitô: 1. Scripturae divinae testis ea est, dum qvodlibet ejus membrum, Spiritu sanctificationis donatum, evne,rgeian Scripturae vivificantem in seipso experitur; atqve ideo cum Davide in DEO laudet verbum ejus, Psal. LVI. 5, 11. cum Ezechia exclamans: Es. XXXVIII. 16. Domine per ea (verba tua) vivunt (qui in te credunt,) & in iis omnibus vita Spiritus mei est, HERR, davon lebet man, und das Leben meines Geistes stehet gar in demselbigen.“ 136 Vgl. Diss., S. 852 f.: „Custos etiam est, & vindex, cum Timotheo & ejus fidei commisso coetu u`potu,pwsin u`giaino,ntwn lo,gwn exemplar sanorum verborum, de fide & charitate, qvae est in CHRISTO JESU, fideliter tenens, & th.n kalh.n paraqh,khn fu,laxousa, praeclarum illud (verbi) depositum servans, per Spiritum Sanctum, qvi inhabitat in ea, 2. Tim. I. 13, 14. studiosissimè simul attendens, ut verae, germanae, ac genuinae Scripturae à falsis, supposititiis & adulterinis discernantur, qvod officium Judaica Ecclesia in Veteri, & Christiana primitiva in N. Testamento insigniter praestitit, adeóqve, ut Petri phrasi utar, non sibi, sed nobis dih,konen administravit ea, qvae nunc euangelizantur nobis, 1. Pet. I. 12.“ 137 Vgl. Diss., S. 853: „Praeco insuper & interpres est, Scripturas in fontibus & rivulis, h. e. tam in lingvis, qvibus originaliter exaratae, qvàm aliarum lingvarum, pro variorum populorum ratione, versionibus divulgans, proponens, explicans, enarrans, & ad usum illum, cui divinitùs destinata, applicans.“ 138 Vgl. Diss., S. 853: „De ejus interpretationis modo, qvòd sensus Scripturae S. oraculorum qvorumcúmqve verus & genuinus, non ab ullius hominis in Ecclesia, qvicúmqve & qvantuscúmqve ille sit, arbitrio judicióve desumendus, nec à litera Scripturae, in se (ratione fundamentalium cognitionis salutiferae partium) perspicuae & planae, seqvestrandus separandúsqve, sed ex ipsa, secundum autoris scopum, textus cohaerentiam, & perpetuam Scripturarum consonantiam, eruendus sit.“ Hier erfolgt ein Querverweis auf Philologia sacra II, p. 361. 139 Vgl. Diss., S. 853: „Verùm officiô hôc triplici Ecclesia Scripturae autoritatem, quam à DEO solo obtinet, haudqvaqvàm tribuit, sed divinitùs innatam qvasi & insitam reverenter agnoscit, publicè
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Zum Dienst der Kirche an der Schrift gehört auch die Wahrnehmung der Schrift in ihrer richtenden Funktion, die aber nun diejenigen, die mit ihr respektvoll umgehen, sich selbst anverwandelt und ebenfalls zu Richtern macht. Einerseits gilt: Gott selbst ist „judex absolutus ac principalis“ in der Kirche und verrichtet solches Richten „durch sein geoffenbartes Wort oder die Heil. Schrifft.“140 Mit einem Lutherzitat bekennt Glassius von der Schrift: „Haec Regina debet dominari, huic omnes obedire & subjacere debent.“141 So gilt andererseits für die Kirche, daß sie „Judex ministerialis & inferior“ ist, der sich bei Streitigkeiten in Lehrfragen als „Unterrichter“ ausschließlich an die Vorgaben der Schrift als des obersten Richters zu halten hat.142 Oder, wiederum mit Worten Luthers gesprochen, sind alle menschlichen Autoritäten ihr gegenüber „[n]on ejus magistri, judices seu arbitri, sed simplices testes, discipuli & confessores […].“143 Geschieht der urteilende Dienst der Zeugen und Bekenner nach den Vorgaben der Schrift, so ist dieser Dienst nicht „coactiva“, sondern „discretiva“,144 womit Glassius den reformatorischen Grundsatz „sine vi humana, sed verbo“145 aufnimmt: „In diese [sic!] Leben / und in der streitenden Kirchen auff Erden / geschicht die Bezeugung und Uberzeugung der falschen und Ketzerischen Lehrer durch die Schrifft; In jenem Leben aber / und in der triumphirenden Kirchen am Jüngsten Tage / wird geschehen die thätliche herrliche Offenbahrung der Göttlichen Warheit / und hingegen der Lügen und Falschheit / Rom. 2/16.“146 Solches Richten, Prüfen und Unterscheiden der Lehre aufgrund der Schrift vollzieht sich in der Kirche in zweierlei Hinsicht. Zum einen steht es allen Christen zu, die dem Maß ihrer Erkenntnis nach dazu in der Lage sind. Glassius nennt dies das private Urteilsvermögen der Christen: „Hoc judicium privatum Christianorum est“.147 Zum andern können die theologisch ausgebildeten und ordinierten Inhaber des Predigtamts „Unterrichter in der Christlichen Lehr und Religion“ genannt werden, da ihnen nicht nur ein privates Urteil anbefohlen ist, sondern
commendat, & ob id ad posteros propagat: neqve se illi praeponit, sed humiliter & obedientiâ devotissimâ subjicit, ex sole DEO ejúsqve patefacto verbo, tam ratione propriae constitutionis, quàm Ecclesiasticae functionis administrationisqve, insolidùm dependens.“ 140 GG, S. 184 f. 141 Diss., S. 845. Glassius zitiert hier aus Luthers Galatervorlesung von 1535 (vgl. WA 40/I,120,20 f.). Zur Schrift als Königin vgl. auch Dannhauer, Hermeneutica Sacra, S. 99 f. 142 GG, S. 214. 143 Diss., S. 845. Vgl. WA 40/I,120,21 f. 144 GG, S. 203. 145 CA 28 (BSELK 195,15). 146 GG, S. 203. 147 GG, S. 217. Glassius nennt und zitiert a. a. O., S. 215–217: Apg 17,11, 1Kor 10,15, Mk 4,24, Joh 10,5.27, Mt 7,15, 1Joh 4,1, 1Thess 5,21, Röm 16,17, Hebr 13,9, Phil 3,2, 1,9 f., Gal 1,8, 2Petr 3,1 f.17–21.
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sie durch die Schrift zum öffentlichen Urteilen, zum „judicium publicum“, verpflichtet sind.148 Damit folgt Glassius nach CA 5 und CA 28 mit CA 14 einem weiteren amtstheologisch ausgerichteten Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses: „De ordine Ecclesiastico docent, quod nemo debeat in Ecclesia publice docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus.“149 Auch die Bekenntnisse als Resultate des „judicium publicum“ bleiben dabei dem Richteramt der Schrift untergeordnet, sind daher fortwährend an dieser zu prüfen150 und können nur so im ausdrücklichen Rückverweis auf die reine Schriftbotschaft ihre eigene, von dieser abgeleitete Normativität geltend machen.151 Daher kann Glassius durchaus von einem Lehramt sprechen, das sich aber vom römischen Papstamt, wie es sich in Tradition und Praxis der Kirche etabliert hatte, dadurch unterscheidet, daß es sich wie das Bekenntnis zur Schrift dienend und untergeordnet152 verhält. In dieser dienenden Funktion ist das Beurteilen und Richten über die Lehre Teil der übergeordneten Aufgabe der Schriftauslegung und steht damit im Dienst der dem Amt anbefohlenen Wortverkündigung.153 „Dieweil
148 GG, S. 218: „Hoc judicium publicum in Ecclesia est, non omnibus Christianis, sed ministerio Ecclesiastico praecipuè concessum; dehinc & aliis, qui prae caeteris donum interpretandi & judicandi à Deo acceperunt.“ Glassius verweist auf Röm 12,6 f. und 1Kor 12,6.8 ff. sowie auf Augustinus („tom. 3. lib. 14. de Trinit. c. 1. Col. 424“). 149 BSELK 109,11–12. 150 Vgl. Diss., S. 846: „Et ad hanc normam certam immotam, firmam, sanámqve, ipsa etiam Augustana Confessio, aliáqve Symbolica Ecclesiarum nostrarum scripta, sunt exigenda, adeò qvidem, ut si à sacrarum literarum sententia, & fidei in eis declarata analogia discederent, haudqvaquàm recipienda, sed omninò rejicienda essent: qvod tamen haudqvaqvàm se ita habere certi sumus, & tot Orthodoxorum scriptis manifestum id factum fuit, & nos etiam suô locô, su.n qew/|, demonstratum dare constituimus.“ 151 Vgl. Diss., S. 846: „Etsi autem in praefatione, libro Concordiae praefixa, à Statibus Augustanae Confessioni addictis, circa finem, asseritur, eam cum annexis scriptis Symbolicis veram normam esse, ad qvam omnes controversiae examinandae sint, non tamen a`plw/j, atque eâ significationis emphasi, qvâ Scripturae tribuitur, terminus iste accipiendus, sed scetikw/j kai u`potetagmasti,wj, qvatenus scil. Symbolum hoc Ecclesiae nostrae publicum Scripturae sacrae subordinatum esse, cúmqve ea exactè concordare, & veram Spiritus S. in religione sententiam exprimere, praesupponitur, unde tamqvàm evxhghtika., subjecta haec verba, qvòd sit declaratio purioris doctrinae, qvae nimirum in Prophetis & Apostolicis scriptis ad salutem adipiscendam nobis proposita est.“ 152 Vgl. GG, S. 218: „Judex ministerialis & inferior (respectu Dei, summi, principalis, & absoluti Judicis).“ 153 Die Aufgabe der Diener der Kirche, die Schrift zu erklären, entnimmt Glassius hier aus Stellen wie Röm 12,3.6, 1Kor 14,29–33, Gal 6,1 f., 1Thess 5,19, das Amt und Werk des Richtens sieht er ihnen zugeschrieben in Röm 12,6, 1Kor 2,13.16, 1Joh 5,20, 1Kor 12,7–10.28–30, 14.1.4 f.26–32, Eph 4,11 f., 1Tim 3,2, Tit 1,9. Daß all das nach der Regel der Schrift geschehen soll, ist, so Glassius, mehr als einmal aus 2Tim 3,15–17 erinnert worden (GG, S. 222 f.).
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Das Proprium der Heiligen Schrift – Schriftlehre als dogmatische Philologie
aber in der H. Schrifft viel schwere und tunckelscheinende Text vorkommen (wie nicht verneinet werden kan / auch droben solches praesupponiret worden /) von welchen etwas gewisses zu setzen und zu urtheilen / nicht jedermans Ding ist / auch zur Seeligkeit nicht nötig ist; also hat Gott der HErr in der Kirchen das Lehrampt bestellet und gegeben / und demselben die Erklärung seines geschriebenen Worts (auch nicht nach eigenen Sinn / sondern aus = und nach der Schrifft selbst) vertrauet und befohlen; Worzu auch die Wiederlegung der falschgläubigen und irrigen Lehrer gehöret.“154 All dies ist allen Dienern der Kirche anbefohlen und wird in der Schrift niemals einem einzigen zugeschrieben.155 Darum gilt: „Zu der Interpretation und Auslegung der Schrifft / wie auch Entscheidung der Streitigkeiten in der Religion / ist nicht nötig ein allgemeiner sichtbarer Richter / der an sich selbst (infallibilis) ohn Gefahr einiges Irrthums sey.“156 Den römisch-katholischen Vorwurf an die Kirche der Reformation, sie setze an die Stelle der objektiven Autorität der Kirche die subjektive Autorität des Individuums, kann Glassius getrost an die Gegenseite zurückgeben, liefert diese doch die Kirche dem Privatgeist des Papstes aus. Allen Inhabern des evangelischen Predigtamts dagegen ist anbefohlen, die Schrift „aus ihr selbst“ auszulegen. Tun sie das und vollziehen sie mit ihrer Lehre und Verkündigung nichts anderes nach als die Selbstauslegung der Schrift, so handelt es sich dabei keineswegs um das Werk eines Privat-Geistes, sondern es ist „publica & authentica interpretatio, die öffentliche / rechte und bewehrte Art der Auslegung. Dieweil sie nemlich nicht an einiges Menschen Autorität oder Ansehen hanget / sondern von Gott selbst in seinem Wort / oder aus dem geschriebenen Wort / das Gott selbst darinnen und daraus seinen Willen zu erforschen und zu erlernen / geoffenbahret hat / herfleusset. Ein anders / sage ich / ist / in Auslegung der Schrifft seinem privat=Geist oder Meinung folgen; ein anders aber / daß eine glaubige privat=Person / nach und aus der H. Schrifft / von allen Lehren des Glaubens urtheilet. Jenes ist unrecht und ketzerisch / dieses aber recht und Christlich.“157 Glassius reagiert mithin auf die römische Kritik am reformatorischen Schriftprinzip nicht nur dadurch, daß er die Relation von Schrift und Kirche einer Klärung zuführt, sondern auch dadurch, daß er die Aufgabe eines schriftgemäßen Lehrund Predigtamts bestimmt. Das Prinzip der sich selbst auslegenden Schrift behauptet nicht einen „Auslegungsautomatismus“, da Gott selber in der Schrift dem Pre-
154 GG, S. 217. 155 Vgl. GG, S. 260 unter ausdrücklichem Hinweis auf Joh 21,16 f., Lk 22,32, Apg 15 und Gal 2 (Apostelkonzil). 156 GG, S. 248. 157 GG, S. 274.
Die Schrift als Quelle und Norm der Lehre
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digtamt die dienende Funktion der auslegenden Schriftverkündigung zuweist.158 Umgekehrt aber werden die Inhaber des Predigtamts dieser Aufgabe nur dann gerecht, wenn sie nicht ihre Gedanken in die Schrift eintragen, sondern sich gewissenhaft darum bemühen, Schrift mit Schrift auszulegen und so die heilsame Lehre schriftgemäß zu entfalten. Diese ihm als Diener der Kirche anbefohlene Aufgabe ist es daher, die Glassius veranlaßt, aus der Schrift selbst heraus eine „philologisch-hermeneutische Methodik zu entwickeln“ zur Einübung in die Selbstauslegung der Schrift „(‚Scripturas debemus interpretari per Scripturas‘)“.159 Erkenntnistheoretische Voraussetzung hierfür ist die Überzeugung, daß die Heilige Schrift in hinreichend klarer Weise Aufschluß über den in ihr von Gott zur Abbildung gebrachten Sinn zu geben in der Lage ist. Glaubensgewißheit und „gründliche[] Wissenschafft“160 in theologischen Dingen gehen miteinander einher, da sie gleichermaßen auf dem von Gott in der Schrift vorgegebenen Glaubensgrund beruhen. Dogmatische Philologie im Sinne einer Prinzipienlehre ist daher insofern unabdingbar für die Theologie, als sie als deren einzigartige und eigentümliche Grundlage die Heilige Schrift, deren Autorität und Eigenschaften bedenkt. Um der Stärkung des judicium privatum Christianorum willen hatte Glassius die entsprechende hermeneutische Methodik in seiner erbauungstheologischen Schrift Arbor vitae entfaltet. Die andere Seite der Medaille aber ist die auf die publica doctrina des Predigtamts ausgerichtete akademische Darlegung dieser Methodik in der Philologia sacra.
158 Steiger, Philologia, S. 51; mit der Hinzufügung ebd.: „Das römisch-katholische Argument, dem zufolge die protestantische Schriftlehre unsinnig ist, weil die Lutheraner, wäre die Schrift tatsächlich hell und klar, nicht so viele Bibelkommentare schreiben müßten, greift somit ins Leere.“ 159 Steiger, Philologia, S. 51, das lateinische Zitat stammt aus Wolfgang Franz’ Tractatus von 1619. 160 GG, fol. )( iiij.
4 D ie Philologie als stilistische, grammatische und rhetorische Analyse Der göttliche Ursprung der Schrift begründet zusammen mit der heilsamen Wirkung derselben für Glassius ihre Einzigartigkeit. Aufgrund der alle Register menschlicher Sprache für sich in Gebrauch nehmenden Kondeszendenz des göttlichen Geistes im Wort der Schrift äußert sich die ihrem Urheber entsprechende Ehrerbietung ihr gegenüber in der detailgetreuen Wahrnehmung all ihrer sprachlichen Eigenheiten. Dazu gehören die textkritische, die stilistische, die grammatische und die rhetorische Analyse, denen sich Glassius im ersten, dritten und vierten sowie im fünften Band seiner Philologia sacra widmet. Für die Untersuchung der figürlichen Schriftauslegung relevant sind hierin bereits Glassius’ Ausführungen zum Stil der Heiligen Schrift (4.1; Band 1, Tract. 3 und 4), dann aber vor allem die Darlegung der grammatischen Figuren in den Bänden 3 und 4 (4.3) sowie der rhetorischen Figuren und Tropen im 5. Band (4.4).
4.1 Die Stilanalyse 4.1.1 Die Eigenschaften des biblischen Stils In seinem Glaubens=Grund zählt Glassius zu den sekundären Merkmalen der göttlichen Autorität der Schrift (criteria externa) auch den durchdringenden, von Profanschriften unterschiedenen, etlichen einfältig erscheinenden Stil.1 Diesen unterzieht er im dritten und vierten Traktat des ersten Buchs seiner Philologia sacra einer Analyse. Dabei unterscheidet Glassius eine allgemeine Stilanalyse, die sich auf die gesamte Schrift beider Testamente bezieht, und eine spezielle Analyse, die einzelne Textcorpora der Schrift in ihrer Besonderheit betrachtet. Schon die einleitende Auflistung der „Kriterien, Tugenden und Eigenschaften“ der heiligen Literatur zeigt,2 daß die in der dogmatischen Philologie der Schrift zugeschriebenen Eigenschaften (affectiones) mutatis mutandis auch vom Stil der Schrift auszusagen sind.3 Das gilt für die Gewißheit bzw. Klarheit und Einfach1 Vgl. GG, S. 34. 2 Vgl. die Überschrift: „TRACTATUS III. DE RELIQUIS LITERATURAE SANCTAE krithri,oij, VIRTUTIBUS SEU QUALITATIBUS IN GENERE.“ (PS, Sp. 261 f., im folgenden nur noch zitiert mit der jeweiligen Spaltenangabe) 3 Das gilt auch für die jeweilige Begründung, vgl. Sp. 265: „Quibus argumentis Scripturae per spicuitatem in genere, iisdem certitudinem & claritatem literaturae sive styli Scripturae sacrae in specie, demonstratam dare possumus.“ https://doi.org/10.1515/9783110650556-004
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heit (certitudo, claritas, simplicitas) sowie für die Wirksamkeit (efficacia). Aber auch in den weiteren aufgezählten Stileigentümlichkeiten, in Evidenz (evidentia), Fülle (plenitudo), Kürze (brevitas), Kohärenz (cohaerentia), Keuschheit (verecundia & castitas) und Eigentümlichkeit (proprietas) des Schriftstils,4 können Entfaltungen der perfectio scripturae gesehen werden. 4.1.1.1 certitudo & claritas Die Erläuterung der certitudo & claritas des biblischen Stils verfolgt Glassius von Anfang an in kontroverstheologischer Auseinandersetzung mit der Behauptung der Ambiguität bzw. obscuritas der Schrift, wie sie von den päpstlichen Theologen Robert Bellarmin (1542–1621) und Gordon Huntlaeus (1541–1620) dem reformatorischen Schriftprinzip entgegengehalten wird.5 Zu unterscheiden ist nach Glassius zwischen den einzelnen Worten, die in den Grundsprachen tatsächlich oft mehrere Bedeutungen haben, darüber hinaus aber auch als Homonyme oder metaphorisch mit übertragenem Sinn gebraucht werden können, und den Worten in ihrem Textzusammenhang, der jeweils hinreichend klarmacht, welche der vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten vorliegt.6 Weiter ist zu unterscheiden zwischen den notwendigen Glaubensartikeln und historischen oder anderen Perikopen der Heiligen Schrift.7 Während bei letzteren aufgrund der Worte und Sätze durchaus Schwierigkeiten vorhanden sein können, die in der Regel ausgeräumt werden können, gilt von den Glaubensartikeln, daß sie an den ihnen eigentümlichen sedes doctrinae keineswegs dunkel oder zweideutig, sondern 4 Vgl. Sp. 261: „1. certitudo & claritas, 2. simplicitas, 3. efficacia, 4. evidentia, 5. plenitudo, 6. brevitas, 7. cohaerentia, 8. verecundia & castitas, 9. proprietas.“ 5 Vgl. Sp. 261 f. 6 Vgl. Sp. 263: „1. Distinguendum inter voces singulas, in se ac per se consideratas, & inter easdem connexas, & certa periodo digestas. Demus, voces, praesertim Hebraicas, separatim consideratas […] varias habere significationes, & esse ambiguas: quid hoc ad easdem connexas, quid ad integram periodum & contextum? In hoc enim ex scopo, ex antecedentibus & consequentibus, ex circumstantiis, ex additis punctis (quae Gordonus in suo hoc discursu perperam negligit) & aliis adminiculis fit manifestum, reliquis significationibus remotis, una certa aliqua standum esse. Capiatur hujus rei exemplum ex literatura Romana. Vox Vulpes solitarie considerata & animal terrestre, & hominem astutum significat, & ita est o`mw,numoj atque ambigua. At in propositione, Herodes est vulpes, Luc. 13, 32. perspicuum est, remota altera significatione, qua animal terrestre & quadrupes notat, manere tantum alteram istam, metaphoricam, ubi ambiguitas omnis est sublata.“; Sp. 267–277 passim! Z. B. Sp. 273: „[…] at vero in illo loco certam & ab ambiguitate omni alienam significationem ipsis remanere, adeoque versum illum non esse ambiguum, ostendit (non Ecclesiae autoritas, sed) Mosaicus scopus, textusque subsequens, ut & totius Scripturae analogia & collatio.“ 7 Vgl. Sp. 263: „2. Distinguendum inter necessaria fidei dogmata, quos articulos fidei vocare solemus, & inter historicas aliasve Scripturae sacrae pericopas.“
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klar in der Schrift dargelegt sind und daher vom Leser verstanden und unterrichtet werden können.8 Weiter weist Glassius darauf hin, daß es Stellen gibt, die auf den ersten Blick zweideutig erscheinen, was durch die Anwendung der legitimen Auslegungsmethoden aber leicht behoben werden kann.9 Beachtet werden muß auch, daß Dunkelheiten in der Schrift gar nicht von ihr und ihrem Autor ausgehen müssen, sondern durch die Nachlässigkeit ihrer Leser verursacht sein können.10 Zuletzt fügt Glassius an, daß es bei den wenigen Orten in der Schrift, deren Sinn nicht eindeutig geklärt werden kann, ausreicht, wenn die Auslegungsmöglichkeiten als der Analogie des Glaubens gemäß und dem Text konform erwiesen werden. Damit ist nicht gesagt, daß es Schriftstellen gibt, die einen mehrfachen (Literal-)Sinn haben, sondern festgehalten, daß der eigentliche Sinn nicht immer an jeder Stelle erhoben werden kann.11 Daß die Klarheit der Schrift sich in der Klarheit ihres Stils niederschlägt, kann mit denselben Gründen belegt werden wie die Klarheit der Schrift selber, nämlich aus deutlichen Schriftzeugnissen, aus der göttlichen Wirkursache (ex causa efficiente), aus der in der Schrift den in ihr befindlichen Worten zugeschriebenen erleuchtenden Wirkung sowie aus der Unzweideutigkeit, in der aus 8 Vgl. Sp. 263: „Articuli fidei in propriis suis sedibus non obscuris, nec ambiguis, sed perspicuis, propriis, & ab omni ambiguitate alienis verbis in Scriptura proponuntur, quos etiam quivis sedulus Scripturae lector intelligere, & ex iis ad salutem aeternam doceri ac informati sufficienter potest. Interim tamen quasdam in aliis locis, ex verbis & phrasibus oboriri difficultates, non negamus, quibus tamen ratione mox proferenda medela adhiberi potest.“ 9 Vgl. Sp. 263 f.: „Igitur 3. distinguendum inter Scripturae sacrae literaturam solitarie, & inter eandem cum legitimis Scripturarum interpretationis mediis consideratam. Obscura & ambigua prima fronte quaedam in Scripturis haberi non inficiamur, si nimirum solitarie & seorsim textus inspiciatur: at si debito modo consideretur, si legitima interpretationis media adhibeantur, si praeter fontium intuitionem, & idiotismorum cognitionem, ordo & connexio, & circumstantiae, attendantur, si alii loci paralleli conferantur &c. tum demum obscuritati & ambiguitati praesentissimum paratum est remedium.“ 10 Vgl. Sp. 264: „4. Distinguendum inter literaturam Scripturae sacrosanctae, respectu DEI, & respectu hominum, consideratam. Voces & orationes, si quae videntur ambiguae atque obscurae, tales sunt, non ratione DEI, qui illas dictavit, nec respectu ipsius Scripturae, quae est vox DEI; sed respectu hominum, qui sensum Scripturae & loquelam DEI non semper assequuntur, quod tamen non culpa ipsius Scripturae fit, sed culpa hominis natura coeci, studio pigri, hoc est, qui nec illuminationem Spiritus sancti debito modo petit, nec Scripturas debito studio legit ac meditatur.“ 11 Vgl. Sp. 264: „5. Demum addimus, licet in quibusdam, iisque paucis Scripturae locis certus verborum sensus apodictice monstrari, & dicto modo erui non possit, sufficere tamen, si unam interpretationem alteri non refragari, sed plures illas analogiae fidei congruas, textuique conformes esse, ostendatur. Neque tamen hinc consequitur, plures ejusdem loci Biblici dari sensus. Nam unus quidem proprius & immediatus verborum Scripturae sensus est (ut alibi su.n Qew/| probatum dabimus) interim a nobis is ipse non semper erui potest […].“ Es folgt a. a. O., Sp. 264 f. ein bestätigendes Zitat aus Buch 3, Kap. 27 von Augustinus’ De doctrina christiana.
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der Schrift Glaubenslehren, moralische Gesetze, historische Nachrichten und Prophetien wahrgenommen werden können.12 4.1.1.2 simplicitas Mit Simplizität des Stils ist im Falle der Schrift weder Rustikalität gemeint noch Schmucklosigkeit oder Farblosigkeit.13 Vielmehr bezeichnet diese Eigenschaft zum einen die unverstellte, von Betrug und Simulation freie Art, mit der die Schrift ihre Sache kundgibt,14 und zum andern die Art, auf eine allgemeine und gebräuchliche Weise zu reden, große und vortreffliche Inhalte so zu beschreiben, daß sich die Redeweise dem Fassungsvermögen der Leser gemäß „temperiert“.15 Die unverstellte Verbindlichkeit des Stils kann daran abgelesen werden, daß die heiligen Schreiber ihre eigenen Irrtümer, Sünden und Schwächen offen erörtern.16 Durch die wunderbare Anpassung an das menschliche Fassungsvermögen wiederum können auch einfache Menschen gewisse Auskunft über die Glaubensmysterien schöpfen.17 Mit den griechischen Kirchenvätern erkennt Glassius auch hierin die Synkatabasis oder Kondeszendenz des Heiligen Geistes in der Heiligen Schrift, wodurch dieser sich dem menschlichen Fassungsvermögen angleicht.18 12 Vgl. Sp. 265–267, hier Sp. 266: „Quae in sacris traduntur literis, sunt vel fidei dogmata, ad salutem scitu necessaria; vel praecepta moralia; vel historiae; vel Prophetiae. At in omnibus sermonem Spiritus S. usurpat talem, qui ab ambiguitatibus est immunis.“ 13 Vgl. Sp. 277: „1. Qui rudis, rusticus, ineptus & barbarus est, quali homines prorsus imperiti, ut sunt rustici ac pastores, utuntur. Ejusmodi absit, ut Scripturis sacrosanctis tribuamus simplicitatem […] 2. Simplex etiam is sermo dicitur, qui non quidem ineptus plane & rusticus, interim nec ornatus & elegans est. Sed neque hoc sensu simplicitatem stylo Spiritus sancti assignamus. […] 3. Simplex etiam dicitur sermo, qui a tropicis modificationibus & figuris est alienus. Sed neque haec simplicitas stylo sacrosancto competit.“ 14 Vgl. Sp. 277 f.: „4. Simplex dicitur, quia apertus est & minime fucatus, malitiosus aut fraudulentus, sed qui ex ipsismet rebus quasi nascitur & sine fuco simulationeque profert, quod proferendum est.“ 15 Sp. 278: „5. Simplex demum dicitur, qui communis ac omnibus usitatus est, quique, cum res grandes & praeclaras describat, ad captum legentium se attemperat.“ 16 Vgl. Sp. 278: „Est enim is 1. sincerus & sanus, veritatem simpliciter aperteque proferens, cujus vel unicum tekmh,rion posset esse illud, quod sacri Scriptores propria etiam errata, peccata & infirmitates humanas, tam aperte edisserunt, ut in Mose, Matthaeo, Paulo, & aliis videre est.“ 17 Vgl. Sp. 278: „2. Communis & usitatus, cumque divinas res & mysteria incomprehensibilia enunciet, ita tamen quorumvis hominum captui sese mirabiliter attemperat, ut rudes etiam & rustici homines certam de mysteriis fidei sententiam haurire, ex iisque ad salutem aeternam erudiri possint.“ 18 Vgl. Sp. 278: „Et hoc est, quod Graeci Patres saepius dixerunt, Spiritum sanctum in sacris literis sugkatabai,nein h`mi/n, condescendere nobis, & ad nostram captum sese attemperare.“ Explizit zitiert Glassius hier von den griechischen Vätern nur Origenes und daneben den Lateiner Hilarius mit dessen Psalmenkommentar. Vgl. ebd.: „Orig. lib. 4. contra Celsum: Sacra Scriptura
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Zu beachten ist dabei allerdings nun, daß die Schrift solche Redewendungen gebraucht, die in profanen Schriften nicht vorkommen, was darin begründet liegt, daß sie göttliche Geheimnisse behandelt, die in der Sache dem menschlichen Fassungsvermögen fremd sind.19 Die simplicitas der Schrift schließt solche Redewendungen nicht aus20 und steht daher nicht im Gegensatz dazu, daß die Schrift eine eigentümliche Phraseologie hat,21 die insbesondere im Gebrauch spezifischer Metaphern mit feststehenden Bedeutungen zum Ausdruck kommt.22 Die Simplizität des Stils der Schrift meint zudem keine Uniformität.23 Vielmehr können die in der Rhetorik gebräuchlichen Unterscheidungen der genera dicendi (genus grande, genus medio, genus humile) auch auf die biblischen Autoren angewendet werden.24
pro auditorum viribus utilitate dimetitur, quae denunciat. Hilarius in Psalm. 126. Sermo divinus secundum intelligentiae nostrae consuetudinem, naturamque se temperat, communibus rerum vocabulis ad significationem doctrinae & institutionis aptatis. Nobis enim, non sibi loquitur, atque ideo nostris utitur in loquendo.“ 19 Vgl. Sp. 278: „Observa autem, 1. genus istud dicendi, sacrosanctis literis innatum, esse ita simplex & planum, ut tamen peculiares locutiones suas habeat, quae aliis in Scriptis prophanis non occurrunt. Cujus rei ratio est, quod peculiare etiam & ab omni humanae rationis captu alienum obiectum Scriptura sacra tractat, ac de divinis agit mysteriis, quae peculiari quandoque loquendi genere (quod tamen a quovis industrio Scripturae lectore intelligi potest) proponit.“ 20 Vgl. Sp. 279: „Quod diximus, stylum Scripturae simplicem peculiare illud loquendi genus non excludere […].“ 21 Vgl. Sp. 279: „Sic consepeliri & crucifigi cum Christo, phraseologia Scripturae propria est, quae metaphorice ex mortis & sepulturae Christi similitudine avnalogikw/j explicari debet.“ 22 Vgl. Sp. 279: Glassius nennt „tegere pedes“, „cognoscere uxorem“, „exire a Patre“, „adscendere, seu vadere ad Patrem“; „sedere ad dextram DEI“, „bibere calicem“. 23 Vgl. Sp. 279: „Scripturae stylum ita esse simplicem, ut tamen non sit uniformis, h. e. ut evidens ejus, ratione diversarum Scripturae partium & librorum, sit discrepantia.“ 24 Vgl. Sp. 279 f.: „Igitur quod Rhetores de triplici dicendi genere sive charactere, videl. grandi seu sublimi, medio & humili, praecipiunt ac monent, ad genus dicendi, sacris Scriptoribus usitatum, ratione commoda applicari potest, ubi triplex istud genus diligentem & admirabundum lectorem plurimum afficit & oblectat. Eamque ob causam Melanchthon Davidis Psalmicum loquendi genus censet Atticum esse […] Lutherus Salomonis dictionem grandem, Esaiam grandiloquum & Ciceronianum […].“ Ähnliche Beobachtungen finden sich bei Johann Hülsemann (1602– 1661), De Veteris et Novi Testamenti Natura, Leipzig 1714, fol. F 2 (cap. IX, § 2): „Ita nec quicquam derogat divinitati humi serpens stylus Amozi, quasi Spiritui S. doctissimo linguarum Magistro, haud conveniret. Ipse enim delectatus est pastorali simplicitate & Amozi Pastoris ingenio, quod accommodavit ad res suas sublimes, ita ut stylum ejus moderaretur, & pro sapientia sua gubernaret. Sic styli variationem secundum triplices Rhetorum characteres in sacris voluminibus manifesto deprehendimus. Exemplum: Si conferamus Esaiam cum Jeremia, Ezechiele, & aliis Prophetis, observabit admirabundus Lector, Spiritum S. stylum cujusque proprium reliquisse, non ut libera motione uterentur, sed quod ipse illum regeret. Esaiae, quia in aula sub pluribus regis fuit versatus, & et eloquentiam didicit, reliquit sermonis genus grande, sublime & et majestatis plenum: Reliquis contra humile & simplex. Sic etiam observare licet apud Evangelistas, alius
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Schließlich weist Glassius auch hier darauf hin, daß die Simplizität des Stils wie die Perspikuität der Schrift die Auslegung derselben gerade nicht aufhebt, sondern begründet.25 Weil in der Schrift die Göttlichkeit der Dinge, die Majestät und die Besonderheit ihres Stils unlöslich mit dessen simplicitas verbunden sind, verlangt dieselbe nicht einen nachlässigen, sondern einen zutiefst aufmerksamen und im Geist brennenden Leser.26 Die Gründe, weshalb Gott in der Schrift einen einfachen und dennoch der menschlich-verlockenden Beredsamkeit gegenüber fremden Stil gewählt hat,27 sind die Wahrheit und die Sublimität der in der Schrift enthaltenen Dinge, die Lesbarkeit, die auch auf die Ungebildeten abzielt, und die Art der Wirksamkeit, insofern deutlich werden soll, daß diese nach 1Kor 1 und 2 nicht auf menschlicher Weisheit, sondern auf Gottes Kraft beruht, die auch durch
est stylus Lucae, alius Johannis, alius alîus.“ Das Zitat bietet teilweise in deutscher Paraphrase Dyck, Ticht-Kunst, S. 160, mit der Fortsetzung a. a. O., S. 160 f.: „Hülsemann führt Melanchthon als Zeugen dafür an, daß man die Psalmen mit dem attischen Stil vergleichen könne, Luther beruft er für die Auffassung, der Stil Jesaias’ [sic!] sei demjenigen Ciceros gleich. Hesekiels Stil ist nicht sonderlich beredt, aber auch nicht gerade bäurisch, sondern aus beidem gemischt. Hesekiel stellt das Göttliche, das durch alltägliche und gewöhnliche Dinge zur Erscheinung gebracht wird, in einem Stil vor, der den alltäglichen Dingen angemessen ist. Damit befolgt er die bekannte Vorschrift der Rhetoren. Der gleichen Ansicht ist Alsted. Er findet in den prophetischen Büchern sämtliche Stilhöhen wieder […]. Und Olearius preist das Buch Hiob, aus dem man, unter Anleitung des Heiligen Geistes, den rechten Gebrauch der menschlichen ‚Welt-Weißheit‘ lernen könne […]. Was Hülsemann in beredten Worten für das Alte Testament geltend macht, behauptet Johann Conrad Dieterich (1612–1669) für das Neue Testament, besonders für Paulus. […] Dieterich lobt an den Briefen des Apostels besonders die Einhaltung der drei Stillagen und den rhetorischen Schmuck.“ Dannhauer vergleicht die Stilunterschiede der biblischen Autoren mit den unterschiedlichen Wesenszügen von Orgelpfeifen (Hermeneutica Sacra, S. 255): „Caeterum Hermenevticae sacrae utilis est Rhetorica 1. in dignoscendo charactere dicendi, qui ut fistulae in organo musico, ita in calamis divinorum virorum variat. Illustre dicendi genus quis non agnoscit in Esaiae regio sanguine, humile in Amoso pastore armentorum, medium in Jeremia? Lucas Matthaeo politius scribit, Petrus Paulo familiarius. In eodem authore variat quandoque stylus attemperatus rebus, personis, loco, tempori […].“ 25 Vgl. Sp. 280: „Scripturae stylum ita esse simplicem, ut tamen legitimam Scripturae interpretationem non tollat, sed praesupponat. Ut enim per assertionem perspicuitatis Scripturae non excluditur pium studium, in lectione & meditatione Scripturae adhibendum, nec adminicula ad Scripturae interpretationem necessaria: ita de simplicitate sermonis sacri idem esto judicium.“ 26 Vgl. Sp. 280: „Simplex est Scripturae character, ita tamen ut non socordem & pigrum; sed sedulum, attentum, kai. tw/| pneu,mati ze,onta requirat lectorem. Cujus rei ratio tum rerum, quae sub styli involucro latent, divinitas; tum ipsius styli cum simplicitate conjuncta majestas; tum etiam styli in aliquibus singularitas.“ 27 Vgl. Sp. 280: „Causae, propter quas Scripturas simplici, perspicuo, & ab omni humanae eloquentiae lenociniis alieno sermonis genere Deus exarari voluit, sunt istae.“
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einfache Worte wirkt.28 Aus alledem zieht Glassius schließlich noch zwei kontroverstheologische Folgerungen. So gilt zum einen: Ist der Stil der Schrift einfach, so kann sie selber nicht dunkel sein, denn von den Worten kann man zur Erkenntnis der Inhalte geführt werden.29 Zum andern erweist die Einfachheit des Stils, daß kein Mensch von ihrer Lektüre ausgeschlossen werden darf, die Schrift vielmehr darum gegeben ist, daß auch Ungelehrte gewisse Auskunft über ihr Heil schöpfen können.30 4.1.1.3 efficacia Zweierlei efficacia unterscheidet Glassius sodann: „Una rerum est, altera verborum, quae rerum signa sunt kai. su,mbola“.31 Erstere ist jene innewohnende Kraft des göttlichen Wortes, wodurch diejenigen, die mit ihm durch Meditation der Heiligen Schrift32 emsig umgehen, vom Vater gezogen, erweckt, bewegt, bekehrt, erleuchtet und erneuert werden.33 Die andere ist eine Qualität der Predigt selbst und bezieht sich auf die durch diverse rhetorische Mittel hervorzurufenden Wir-
28 Vgl. Sp. 280 f.: „1. Rerum in Scripturis contentarum veritas, […] 2. Rerum earundem sublimitas. Mysteria, quae in Scripturis proponuntur, u`pe.r lo,gon, u`pe.r nou/n, kai. u`pe.r pa/san kata,lhyin (verbis Justini Martyris) sunt posita, utique igitur non obscuro, perplexo. & difficili; sed facili, plano & simplici sermonis genere fuere proponenda, ut ne penitus intelligentiam humanam effugerent. 3. Legentium qualitas. Scripturae non solum in usum eruditorum, sed etiam rudiorum sunt exaratae, quare loquendi genere omnibus obvio utuntur. […] 4. Effecti dignitas. Si grandiloquis humanae sapientiae verbis conscriptae essent Scripturae, tum earum in conversione hominum efficacia non divinae virtuti, sed verborum lenociniis tribueretur. Causam hanc subinnuit Paulus 1. Cor. 1, 17. c. 2, 4. 5. c. 4, 20.“ 29 Vgl. Sp. 281: „Si Scripturae stylus adeo simplex est; sequitur, quod Scriptura ipsa non sit obscura. Ratio: A verbis enim in cognitionem rerum provehimur, & ubi planis perspicuisque verbis loquens quispiam utitur, loquentis sensus non potest esse obscurus & dubius.“; Sp. 265: „Scripturae enim claritas ex claritate verborum sive literaturae (quae est rerum ipsarum carakth.r […]) dependet […].“ 30 Vgl. Sp. 281 f.: „Si Scriptura tam perspicuo & simplici stylores sacras proponit, sequitur, quod ab ejus lectione in quacunque, etiam vernacula lingua, nemo hominum excludendus sit. Ratio: Ideo enim […] stylo hominis (ut iterum verbis Propheticis utamur) Scriptura exarata, ut rudes etiam & plebeji certam de fundamentis salutis suae sententiam exinde haurire possint.“ Es folgen unterstützende Zitate von Lactantius und von Hieronymus sowie ein allgemeiner Hinweis auf den entsprechenden Abschnitt in Flacius’ Clavis (vgl. Sp. 282). 31 Sp. 282. 32 Vgl. Sp. 282: „Illa enim tractio per verbi coelestis seu Scripturae sacrae meditationem fit […].“ 33 Vgl. Sp. 282: „Prior innata illa verbi coelestis vis est, qua seduli ejus tractatores trahuntur a Patre, (Joh. 6, 44.) hoc est, excitantur, moventur, convertuntur, illuminantur, renovantur, & haeredes salutis aeternae scribuntur.“ Glassius setzt diese Wirksamkeit ebd. gleich mit der lebendigmachenden Kraft des Wortes, wie sie in Röm 1,16 und Hebr 4,12 beschrieben ist.
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kungen derselben im Gemüt:34 „Elocutio consistit in flosculis & luminibus oratoriis, in illustribus tropis, in locutionibus quoad dictiones vel sententias figuratis &c.“35 Zu dieser „divina eloquentia“ gehören einerseits die Betrachtung der Sachen, mit denen die Predigt geschmückt und elegant ausgeführt, ja, koloriert wird, andererseits erhellende Redewendungen, die in der Predigt des Heiligen Geistes im Überfluß vorhanden sind.36 Unter der Rubrik „Betrachtung der Sachen“ nennt Glassius den Einsatz gewichtiger und wirksamer Argumente, wie etwa in den paulinischen Diskursen über die Rechtfertigung in Röm 3, Gal 2 f. und über die Totenauferstehung in 1Kor 15 zu sehen ist.37 Weiter erwähnt er den Gebrauch des „epitheton“,38 einschließlich der „epitheta hyperbolica ac metaphorica“, ferner Übertreibungen. Über solche emphatischen Worte hinaus gehören hierher auch Sachverhalte, die durch alttestamentliche Typen, prophetische Visionen und Zeichenhandlungen bezeichnet werden, Redewendungen, die eine Sache durch die Beschreibung ihrer Wirkungen anzeigen, konkrete Beispiele, die für eine allgemeine Lehre stehen. Schließlich nennt Glassius die Verwendung stellvertretender charakteristischer Beispiele für die Beschreibung von Tugenden und Lastern als rhetorische Mittel,39 wodurch jeweils die Wirkung von Aussagen auf die Gemüter der Hörer gesteigert wird.40 Zu den erhellenden Redewendungen, von denen der Heilige Geist in der Schrift Gebrauch macht, zählt Glassius die im Übermaß vorhandenen illustrierenden Metaphern und andere figürliche Ausdrucksformen, dann hyperbolisches Reden,41
34 Vgl. Sp. 282 f. unter Hinweis auf Isocrates und Quintilian. 35 Sp. 283. Ähnlich sieht es der reformierte Theologe Johann Heinrich Alsted. Vgl. Dyck, TichtKunst, S. 79: „Alsted kann daher sagen, der Ornatus bestehe ‚in verborum et sententiarum luminibus atque coloribus. Lumina illa sunt tum tropi, tum figurae‘.“ 36 Vgl. Sp. 283: „Ejus ad cognitionem facit consideratio tum rerum, quibus ipse quasi sermo coloratura & elegans redditur; tum elocutionis luminum, quibus sermo Spiritus sancti abundat.“ 37 Vgl. Sp. 283. 38 Vgl. dazu Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 42008, § 676: „[…] das Epitheton ist ein attributiver Zusatz […] zu einem Substantiv. Das Epitheton dient dem ornatus: die epithetonlose Aussage ist nackt, wie umgekehrt ein Zuviel an Epitheta den Stil schwülstig macht.“ 39 Vgl. Sp. 283–285. 40 Vgl. Sp. 285: „[…] quae ipsa legentium animos insigniter movent & afficiunt.“ 41 Vgl. Lausberg, § 579: „Die Hyperbel ist eine extreme, im wörtlichen Sinne unglaubwürdige onomasiologische Überbietung des verbum proprium. Sie ist eine vertikal-graduelle Metapher und hat so […] evozierend-poetische Wirkung, die in der Rhetorik im parteiischen Interesse […], in der Poesie als affektische Vorstellungshilfe benutzt wird.“ Glassius nennt als Beispiel 1Sam 25,38 (vgl. Sp. 285).
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die Apostrophe,42 wozu die Personifizierung toter Gegenstände durch Zuschreibung von Sinneswahrnehmung und Handlungen gehört,43 asyndetische und polysyndetische Steigerungen,44 rhetorisches Fragen,45 Wiederholungen46 und kettenartige Aneinanderreihungen (gradatio).47 4.1.1.4 evidentia Unter evidentia versteht Glassius die Fähigkeit der Schrift, ihre Inhalte so darzubieten, daß sie quasi mit den Augen gesehen werden können.48 Dies geschieht nicht nur mit dem Ziel, das Gemüt des Adressaten zu bewegen, sondern auch um die Sache selbst zu veranschaulichen: „Et tali sermone animus non solum movetur, sed res ipsae etiam illustrantur“.49 An entsprechenden Redewendungen ist die Heilige Schrift überaus reich.50 Auch für diese Eigenart des biblischen Stils läßt sich wie bei der efficacia sowohl auf Sachverhalte verweisen, die im biblischen Text um der Evidenz willen herangezogen werden, als auch auf die Vielfalt von Redewendungen, durch welche die Evidenz ebenfalls aufleuchtet.51 Zur ersten Gruppe gehören für Glassius die in manchen Abschnitten der Schrift angewendeten exempla aus der Heilsgeschichte wie die Sintflut, das Feuer beim Untergang Sodoms oder die zehn ägyptischen Plagen. Weiter nennt er zur Anwendung gebrachte Bilder aus der Schöpfung als „similitudines elegantes, & 42 Vgl. Lausberg, § 762: „Die apostrophe […] ist die ‚Abwendung‘ vom normalen Publikum […] und die Anrede eines anderen, vom Redner überraschend gewählten Zweitpublikums.“ 43 Vgl. Sp. 286: „Quo pertinet, quod per prosopopoeian inanimatis tribuitur sensus & actio […].“ Als Beispiele nennt Glassius ebd. Gen 31,48, Hab 2,11, Gen 4,10, Hebr 11,4 und Röm 9,19.22. 44 Zum „Asyndeton“ vgl. Lausberg, § 709–711; Glassius nennt hierfür 1Kor 6,11 und Ex 15,9. Zum „Polysyndeton“ vgl. Lausberg, § 686. Das Beispiel bei Glassius ist Joh 10,27 f. (Sp. 286) 45 Vgl. Lausberg, § 767–770; Beispiele, die Glassius bietet (Sp. 287), sind: Röm 8,31.33–35, 1Kor 4,7, 9,1–10, Ps 8,2.10, Röm 7,24, 11,33. 46 Als Beispiele nennt Glassius Augustinus’ Auslegung zu Ps 74 und 1Joh 1,1.3 (Sp. 287). 47 Vgl. Lausberg, § 623. Glassius nennt als Beispiele (Sp. 287): Joh 1,1, Röm 5,3, 8,30, 10,14, 2Petr 1,5–7, Jak 1,3 f. 48 Vgl. Sp. 287: „Per Evidentiam literaturae sive styli Scripturae sacrae hoc loco […] intelligimus […] virtutem eam, qua res quasi ante oculos spectandae proponuntur.“ (unter Hinweis auf das dritte Buch der Rhetorik des Aristoteles sowie auf Horaz) 49 Sp. 287. Vgl. Dyck, Ticht-Kunst, S. 86 zu Meyfarts Werk „Teutsche Rhetorica“: Meyfart billigt den Metaphern „deswegen einen so hohen Rang zu, weil sie allen drei officia des Redners (docere, delectare, movere) gleichzeitig Rechnung tragen.“ 50 Vgl. Sp. 287: „Sunt autem & sacrae literae in hoc sermonis genere copiosissimae.“ 51 Vgl. Sp. 287 f.: „Quod ut eo melius agnosci possit, ut in sect. praeced. ita hic quoque ad duo membra, ea, quae huc pertinent, referemus: 1. Ad res, quae sermonem sacrum hac virtute afficiunt, eumque evidentem reddunt. 2. ad ipsam sermonis qualitatem & varietatem, ex qua evidentia ejus elucescit.“
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in oculos incurrentes“, wodurch die Schrift geistliche Inhalte gleichsam malt bzw. ausschmückt.52 Auch durch den häufigen Gebrauch von sprichwörtlichen Gleichnissen werden Sachverhalte visuell veranschaulicht.53 Durch alttestamentliche Typen wie die eherne Schlange wird Christus vor die Augen gemalt („ante oculos descriptus est“), wie Glassius unter Hinweis auf Gal 3,1 schreibt.54 Weitere geistliche Sachverhalte werden durch die prophetischen Zeichenhandlungen bei Jeremia und Ezekiel oder die Visionen Daniels und der Johannesoffenbarung ausgemalt.55 Dann gibt es jene Stellen, wo ein Sachverhalt nicht explizit genannt, sondern repräsentiert durch seine Ursachen, Wirkungen oder die mit ihm einhergehenden Umstände eingeführt wird, was nach Glassius in allen historischen Abschnitten der Schrift zu finden ist.56 Auch auf das figürliche Stilmittel der ganz allgemein auf dem „Welttheater“ aufgeführten Komödie kann die Schrift zurückgreifen, wofür Glassius auf Ps 2 als prominentes Beispiel mit Prolog, Dialog und Epilog hinweist.57 Gewichtige und liebliche Dialoge („graves & suaves dialogismi“) im „modo Comico“ erkennt Glassius in Ps 24,8 ff. oder in Jes 63,1 ff.58 „Colloquia“, 52 Vgl. Sp. 287. Glassius verweist a. a. O., Sp. 288 auf Ps 11,6 (Feuer als Bild des Gerichts), Ps 1,3, 92,13, Jer 17,8 (fruchtbare Bäume als Bilder für die Frommen), Ps 1,4 (vom Wind verwehte Spreu als Bild für die Unfrommen), Jes 53,2, 11,1 (das aufschießende Reis als Bild für Christus; hier fällt das Stichwort „malen“: „Christus pingitur per germen de veteri trunco Jesse“), Jes 59,5 (die Schlangenbrut als Bild für die Gottlosen), Jes 64,5 (das Kleid einer menstruierenden Frau als Bild für die menschliche Ungerechtigkeit), Ps 37,35 f. (die ausladende Gestalt der Zeder als Bild für den Stolz des Gottlosen), Ps 90,6 f., 103,15 f. (die welkende Blume als Bild für die Sterblichkeit des Menschen). 53 Vgl. Sp. 288. Glassius nennt 2Petr 2,22 (Hund und Schwein), Lk 6,38 (das Maß, mit dem einer mißt), 1Kor 5,7 (Sauerteig), Lk 6,39 (blinder Blindenführer), 2Kor 9,6 (die karge Saat), Lk 4,23 (Arzt, hilf dir selber), Apg 9,5 (gegen den Stachel löcken). 54 Sp. 288 f. Zur Bedeutung von Gal 3,1 in der reformatorischen Theologie seit Luther vgl. Johann Anselm Steiger, „vor die Augen gemalt“ (Galater 3,1). Zur Vergegenwärtigung des Sohnes Gottes in den Medien Wort und Bild bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit, in: Christine Christ-von Wedel, Sven Grosse (Hg.), Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit (= HHS 14), Berlin/Boston 2017, S. 213–239. 55 Vgl. Sp. 289. 56 Vgl. Sp. 289: „Quod rem per causas, effecta, antecedentia, connexa & consequentia, aliasque per circumstantias exponit. Sic Psalm. 7, 13. 14. singula accurate enumerantur, evaginare & acuere gladium, intendere arcum, superimponere sagittas, fabricare tela &c. ut Deus puniens plenarie ante oculos ponatur. Huc pertinent omnes historiarum in Scripturis descriptiones.“ 57 Vgl. Sp. 289: „Huic conforme est, quod sermonem interdum in Comicum quendam actum a totius mundi theatro spectandum figurat. Cujus evidens exemplum est Psalmus 2. ubi primo Psaltes veluti prologus summam enarrat v. 1. 2. deinde producit loquentes impios v. 3. tertio Messiam v. 7. postmodum Deum Patrem v. 7. 8. 9. postremo rursus instar epilogi prodiens clausulam addit, totamque actionem concludit.“ 58 Vgl. Sp. 289: „Huc pertinent graves & suaves dialogismi, qui & ipsi modo Comico rem oculis subjiciunt. Sic Psalm. 24, 8. seqq. Christus triumphator cum Angelis: Esa. 63, 1. seqq. idem cum Ecclesia colloquens, velut in theatrum producitur.“
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die so wiedergegeben werden, daß man sie nachgerade sehen und hören kann,59 findet er in den in der Abrahamserzählung geschilderten Dialogen (Gen 18,22 ff., 22,1 ff., 20,3 ff.9 ff.) oder im Streit zwischen Paulus und Petrus, der so geschildert wird, als fände er gerade statt.60 Als herausragendes Beispiel aber hat in diesem Zusammenhang das Hohelied zu gelten, in dem Glassius einen Dialog zwischen Christus und der Kirche sieht.61 Als letztes Stilmittel in dieser Gruppe nennt Glassius den exemplarischen Gebrauch von Verhaltensweisen und Eigenschaften der Tiere wie er in Jes 1,3 und Jer 8,7 vorliegt.62 Unter den der Evidenz dienlichen spezifischen Redewendungen bzw. Stilmitteln der Schrift nennt Glassius an erster Stelle das „Adverbi[um] demonstrandi“ „ecce“ („idou; hnh“). Dieses bezeichnet er als einen „notabilis Spiritus sancti asterismus, rem evidentem faciens, & ad attentionem excitans“.63 Dann schreitet er 59 Vgl. Sp. 289: „Huc quoque pertinet, quod in narrationibus historicis aliorum sermones ita subjiciuntur oculis, ac si illos loqui coram videremus & audiremus. Vide colloquia […].“ 60 Vgl. Sp. 289: „Sic & Paulus suum certamen & colloquium cum Petro describit, quasi cum ipso adhuc colloqueretur Gal. 2, 11. seqq.“ 61 Vgl. Sp. 289: „Qua in re excellit etiam liber Cantici Canticorum, qui suavis quidam inter Christum & Ecclesiam dialogismus est.“ 62 Vgl. Sp. 289 f. 63 Sp. 290. Das ist nur ein Beispiel dafür, daß Glassius Einsichten darlegt, die mit den Erkenntnissen der neueren sprachwissenschaftlichen „Partikelforschung“ übereinstimmen (Stolt, Rhetorik, S. 113). Vgl. a. a. O., S. 114: „Die Partikel Siehe […] Das hebräische ‚hinneh‘ wird als Aufmerksamkeitssignal gewertet, dem […] vorwiegend Appellfunktion zugeschrieben wird.“ Die damalige Verbreitung solcher Einsichten wird bestätigt durch das Beispiel Michael Walthers, der zum „Siehe!“ (Joh 1,29) schreibt: „Das ist vocula demonstrationis & attentionis, ein Zeiger= vnd= Auffmerckungswörtlein zugleich. Ein Zeigerwörtlein ist es / Krafft dessen Johannes auff den anwesenden vnd gegenwärtigen HERRN Digito indice, mit außgestrecktem Weisefinger gewiesen / vnd denselben jederman angedeutet hat / der sey / der rechte / waare / längstverheissene Weibessamen / […] der Samen Abrahams / […]. Ein Auffmunderungswörtlein ist es auch“, „deß Heiligen Geistes Nota benè, das er mit grossen Versalbuchstaben allen seinen Göttlichen Geheimnüssen pfleget vorzusetzen […]. Darauß schliessen wir / daß von einem Heil deß HERRN vnd allezeit von etwas grosses geredet werde / so offt das Wörtlein Sihe einem Ding in der Bibel praefigiret vnd vorgesetzet wird.“ (Post. Myst., S. 1035 f.); ferner Johann Stieffler, Loci Theologici Allegorici, Oder Geistlicher Gleichnüß-Schatz / daselbst nach Lutherischer Religions-Artickel Eintheilung allerhand schöne Similia und Lehrreiche Deutungen befindlich / Derer so wol die Priesterschafft mit Nutz sich bedienen / iede Standes Person / was des Christentuhms heilsames Aufnehmen betrifft / in viele Wege dadurch gebessert werden kann […], Frankfurt a. M./Leipzig 1682 , S. 23: „An manchen Häusern / sonderlich in Städten / pflegt man kleine Glöckgen zuhaben / derer Klang die Einwohner erinnert / daß iemand drunten sey vor der Thür / sie derowegen heraus sehen und aufmachen sollen; Also ist das Wörtlein: Siehe! in Gottes Worte / asteriscus Spiritus Sancti & tintinabulum, des H. Geistes sein Zeigerhändgen und Warnungsschellgen / eben so viel geltend / als ein Nota bene! Mercks wol / O Mensch / und thue / was dir gesagt wird / es ist sehr viel dran gelegen / irre dich nicht / Gott lässet sich nicht spotten. Gal. 6.“
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weiter zur „metonymia“, die vorliegt, wenn die Schrift innere Gemütsbewegungen wie z. B. Gottes gnädige Zuwendung oder seine zornige Abwendung vom Menschen oder auch den Gehorsam des Menschen Gott gegenüber durch deren jeweilige äußere Kennzeichen zum Ausdruck bringt.64 Weiter führt Glassius hier die Gruppe der offensichtlichen Metaphern auf wie plantari, florere, crescere, fructificare, aber auch jacere, prostrati, fracti, contriti esse, arescere, marcescere. Ausdrücklich weist er darauf hin, daß das Gott selbst oder dem Blut Christi zugeschriebene Waschen der Menschen in bestimmten Zusammenhängen für die Sündenvergebung steht (1Joh 1,7, Jes 4,3 f.).65 Auch die Übertragungen menschlicher Körperteile und Eigenschaften oder irdischer Gegenstände auf Gott66 gehören hierher und sind nach Glassius wiederum Ausdruck der Kondeszendenz Gottes, durch die er seine unsichtbare Natur für den Menschen evident macht. „Huc pertinet, quando in divinis attributis & actionibus Scriptura nobis sugkatabai,nei, condescendit, h. e. de DEO verbis, ab hominibus aliisque terrenis desumtis, utitur. Eo enim rebus sua natura invisibilibus, evidentiam quandam & quasi avutoyi,an tribuit.“67 Doch die Liste der die Evidenz fördernden Stilmittel ist noch nicht zu Ende. Glassius zählt dazu auch die Verwendung der ersten und der zweiten Person bei Pronomen, dann die Prosopopoiie,68 wodurch unbeseelte Dinge als Lebewesen eingeführt werden, ferner die mutatio temporum.69 Vor allem die Verwendung des historischen Präsens, wodurch das Erzählte unmittelbar vor Augen geführt wird, steigert die Evidenz.70 Auch die Verwendung von unmittelbar Realität setzenden Benennungen dient diesem Ziel.71 Abschließend kommt Glassius auch hier noch einmal auf ein aus der Theaterwelt bekanntes Stilmittel zu sprechen, das dort vorliegt, wo die Schrift nicht nur durch Rede, sondern auch durch Gesten und Affekte 64 Vgl. Sp. 290: Ps 25,16: respicere, Ps 91,15: accedere, Mt 28,18–20: adesse, Ps 23,2, 48,15: manuducere, Num 6,25, Ps 67,2: illuminare vultum suum super aliquem. Für menschlichen Gehorsam nennt er: Joh 10,27 („Oves meae vocem meam audiunt“), Joh 8,47 („Qui ex Deo est, verba Dei audit“) und kommentiert: „Nam verba illa activa non tam actualiter, quam habitualiter, seu de continuata proprietate sunt accipienda.“ 65 Vgl. Sp. 290. 66 Vgl. Sp. 291: „Ut quando Deo assignat oculos Psal. 34, 16. palpebras Psal. 11, 4. aures Psal. 31, 3. faciem Psal. 31, 21. dextram Psal. 118, 15. uterum Esa. 46, 3. It. poenitentiam Gen. 6, 6. spem Esa. 5, 4. zelum Esa. 9, 7. cognitionem Gen. 22, 12. partum Esa. 66, 9. thronum regium Psal. 9, 8. &c.“ 67 Sp. 290 f. 68 Vgl. Lausberg, § 826. 69 Vgl. Sp. 291. Zu den Pronomen nennt Glassius Jes 9,6, Lk 2,11, 1Kor 11,24 (euch/uns). Zur Prosopopoiie weist er auf Deut 30,19, 32,1, Jes 1,2, Ps 114,3 ff., 85,11 f., 1Kor 13,4 ff. 70 Vgl. Sp. 291: „Quae autem in praesenti dicuntur, quasi ante oculos collocantur, & evidentiam rerum pariunt.“ 71 Vgl. Sp. 291: „Vocibus verbalibus pro realibus: h. e. dictum pro facto, appellare pro facere, vocari pro esse seu fieri sumitur.“ Als Beispiele nennt Glassius Jes 7,14 und 1Kor 5,1.
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handelnder Personen Sachverhalte deutlich macht: „Referendum huc demum, quod Scriptura rem, quam propositura est, non tam eloquitur, quam certis adhibitis gestibus & affectibus agit, & quasi in Comoedia viva repraesentat.“72 Wiederholt spricht Glassius auch sonst in seinen Werken davon, Gott würde im Umgang mit den Seinen ihnen zum Heil Schauspiele aufführen,73 ein Umstand, der bei Zeitgenossen des Thüringers nicht nur zur positiven Einschätzung des von reformierten, aber auch altkirchlichen Theologen abgelehnten Schauspiels führte, sondern auch dazu, daß lutherische Theologen selber solche Komödien schrieben und zur Aufführung brachten und so den rhetorischen Gestus der Schrift nachahmten.74 4.1.1.5 plenitudo Stilistische „Fülle“ oder „Vollständigkeit“ kann in der Schrift durch verschiedene Mittel hergestellt werden. Dazu gehören Aufzählungen, die Erklärung von Ursachen, das Referat von Umständen, die Hinzufügung von Gegensätzen.75 Aufzählungen werden von den Propheten und Aposteln besonders dort gebraucht, wo sie mit Nachdruck ihre Hörer der Sünde überführen wollen, aber auch dort, wo sie Gottes Wohltaten lebendig und farbig ausmalen wollen.76 Die Beschreibung von Umständen spielt in Erzählungen bzw. in historischen Berichten eine wichtige Rolle wie in der Geschichte der Sintflut oder der Erzväter, aber auch etwa in den prophetischen Büchern. Das Neue Testament kann ausführlich die Umstände der Sündhaftigkeit des Menschen schildern, die dessen Erkenntnisfähigkeit, Verstandestätigkeit, Reden und Handeln gleichermaßen einschließen (Röm 1–3).77
72 Sp. 291. Als Beispiele führt Glassius mit einem langen Zitat von W. Franzius Jes 1,5 f. und Ez 18,30 an und verweist abschließend für weitere Beispiele auf Flacius. 73 Vgl. zu Isaaks Opferung SM, S. 900 (s. u., Kap. 7.2.2.6.3, S. 555–557). 74 Vgl. zu den Schauspielen von Aegidius Hunnius (1550–1603) und Balthasar Crusius (1550– 1630) Reimund Sdzuj, Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens (= FN 107), Tübingen 2005, S. 224 f. mit dem Zitat von Hunnius (a. a. O., S. 224, Anm. 211): „Licere enim Theologis quoque sub Comoediarum schemate tractare sacra, et tenerae iuventuti familiari ista ratione instillare.“ 75 Vgl. Sp. 292: „Plenitudo illa, quam Graeci me,stwsin vocant, nihil aliud est, quam quod res plene, quantum omnino desiderare possis, exponitur. Id vero fit partium & specierum enumeratione, causarum explicatione, circumstantiarum recitatione, antitheseos additione, aliisque illustrationum modis.“ 76 Vgl. Sp. 292: „Hac mestw,sei & plenitudine utuntur Prophetae & Apostoli, quoties auditores pathetice accusare volunt ob peccata, & velut confundere: item quoties DEI beneficia aliasve res praeclaras graphice, vivisque, quod aiunt, coloribus depingere volunt.“ 77 Vgl. Sp. 292 f.
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4.1.1.6 brevitas Kürze und Knappheit des biblischen Stils stehen nicht in einem Gegensatz zur gerade abgehandelten plenitudo, vielmehr liegen beide in der richtigen „Mischung“ („temperamentum“) vor, so daß gerade hierdurch die Besonderheit und Würde der Redekunst des Heiligen Geistes aufleuchtet.78 Die Knappheit des Stils läßt sich in beschreibenden Bibelteilen, auf die Glassius zuerst zu sprechen kommt (1.), daran beobachten, daß die Schrift nur umreißt, was für ihre Zwecke nötig ist, und auf Abschweifungen auf sachfremde oder unnötige Aspekte verzichtet.79 An anderen Stellen beschränkt sich die Schrift oft auf die Zusammenfassung von Sachverhalten, so jedoch, daß nichts Wichtiges ausgelassen wird, weshalb hierin keine Verletzung der perfectio scripturae zu sehen ist.80 Oder es werden durch kurze Notizen größere Teile des vorausgesetzten Geschehens nur angedeutet.81 Nach dieser ersten Gruppe von Stilmitteln, die die Beschreibung von Sachverhalten betreffen, nennt Glassius in einem zweiten großen Abschnitt (2.) Worte (Voces), Sätze oder Phrasen (Phrases), Denksprüche und Sentenzen (Gnomae & sententiae), die jeweils eine immense, kaum ausschöpfbare Bedeutungsfülle implizieren.82
78 Vgl. Sp. 293: „Mirandum in literatura sacra brevitatis cum plenitudine illa, de qua sect. praeced. dictum, temperamentum est, ut vel hinc etiam singularitas sermonis Spiritus sancti, & ejusdem dignitas elucescat.“ 79 Vgl. Sp. 293 f., wo der Hinweis erfolgt, diese Stileigentümlichkeit sei nach Cicero typisch für Thukidides, bevor nach einem auch für die Bibel passenden Plutarchzitat Chrysostomus zu Wort kommt. Vgl. Sp. 294: „De illa miranda brevitate ita Chrysost. hom. 24. in c. 6. Genes. tom. 1. oper. Divinorum eloquiorum natura in paucis verbis multas sententiarum affert divitias, ineffabilem diligenter scrutari volentibus thesaurum largitur. Et alibi: In sacris […] literis etiam parva dictio saepe totum nobis sermonem contexit.“ Vgl. zu diesem Sachverhalt die Beobachtungen von Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen 112015, S. 10–15. 80 Vgl. Sp. 294: „Scriptura sacra enarrat, quae ad rem faciunt, ad peregrina & inutilia haud digreditur, uti videre est in historia prwtoktisi,aj, lapsus Adamici, diluvii, incendii Sodomae, eductionis ex Aegypto, actionum & miraculorum Christi ac Apostolorum. Utitur quidem interdum digressionibus, sed non prolixis, multo minus ociosis aut dispendiosis. (2.) Ex magno actionum rerumque gestarum cumulo summas rerum, uti vocant, & principaliora capita proponit, ita tamen, ut nihil omittat eorum, quae sunt necessaria. Qua in re non accusanda Scripturae sacrae imperfectio […].“ 81 Als Beispiele nennt Glassius die Nomenklatur Adams (Gen 3,20), wodurch dessen unermeßliche Weisheit angedeutet werde, den Fluch übers Menschengeschlecht (Gen 3), der die Größe des Falls deutlich mache, den Ausruf „Quid clamas?“ Gottes an Mose, wodurch dessen brennende Klagerede angedeutet werde, Aspekte des Gesprächs Jesu mit Nikodemus nach Joh 3, die man zwischen den Zeilen erschließen könne (vgl. Sp. 294 f.). 82 Vgl. Sp. 295 f.
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Zu den Worten von geradezu unausschöpflicher Signifikanz bietet Glassius gewichtige Zitate von Chrysostomus und den Rabbinen. Bei Chrysostomus heißt es: „Talis Scripturae mos est, ut & in parvis verbis plurima saepe multitudo sensuum (sententiarum & doctrinarum) inveniatur. Divina enim sunt doctrinae, non humana, & propter hoc omnem illam videre licet secus se habere, quam humanam.“83 Bei den Rabbinen ist zu lesen: „In lege sive Scripturis non esse literam, a qua non pendeant magni montes doctrinarum.“84 Auch Metaphern wie agnus DEI, vis, sol justitiae, panis vitae, germen Davidis, Leo de tribu Iudae, oves, membra Christi, palmites, bonae arbores sind zu nennen, die oft eine große Bedeutungsfülle umfassen. Ähnliches gilt von Eigennamen wie Jesus, Messias, Abel, Immanuel, aber auch von „verba composita“, die in anderen Sprachen oft umschrieben werden müssen, damit ihre Bedeutung erkennbar wird.85 Als besonders bedeutungsschwangere Phrasen nennt Glassius weiter „morte mori“ (Gen 2,17), „contere caput serpentis“ (Gen 3,15), „benedicere alicui“ (Gen 12,3), „sedere ad dextram Dei“ (Hebr 8,1), „bibere calicem“ (Mt 20,22).86 Unter der Rubrik „Denksprüche und Sentenzen“ zählt er vier Gruppen auf: „legales“, „Evangelicae“, „Sacramentales“ und „Proverbiales“. So sind die Gebote des Dekalogs synekdochisch verfaßt, verbinden sie doch implizit affirmative Weisungen und prohibitive Verbote und zielen somit auf eine Fülle von inneren und äußeren Verfehlungen und deren Begleitumstände.87 „[A]pophthegmata Evangelica“, Denksprüche, in denen das Evangelium in seiner ganzen Weite und doch denkbar konzise gefaßt ist,88 findet Glassius in Gen 3,15, 12,3, Jes 7,14, 9,6, Mt 11,28, Joh
83 Sp. 295. Das bei Glassius nicht nachgewiesene Zitat stammt aus der Homilie 37 in Genes. 84 Sp. 295. In der Matthias Hoë von Hoënegg gewidmeten Vorrede zu seiner Onomatologia (Jena 1624) übersetzt Glassius ein nicht näher benannten Rabbinen zugeschriebenes Zitat wie folgt: „Non esse in lege unicam literulam, a qua non magni suspensi sint (doctrinarum, seu sapientiae divinae) montes.“ (Opuscula, S. 1; die Zählung beginnt hier neu nach der Waltherschen „Oratio Parentalis“; der Herausgeber der Opuscula hat die Widmungsvorrede zur Onomatologia, die erst auf S. 375 folgt, an den Anfang der lateinischen exegetischen Werke des Glassius in diesem Band gestellt.) 85 Sp. 295 f. 86 Sp. 296. Die beiden zuletzt genannten Beispiele werden auch bei der simplicitas erwähnt (s. o., S. 115, Anm. 22). 87 Vgl. Sp. 296: „Gnomae & sententiae, quo pertinent sententiae (1.) legales, seu praecepta Decalogi, quae synecdochice concepta, mira brevitate res longe maximas in se continent, ita ut praecepta affirmantia negativa prohibentia, & contra: delicta crassiora & externa, peccata interiora omnemque concupiscentiam, itemque peccatorum illorum causas, occasiones &c. comprehendant.“ Mit Hinweisen auf Mt 5,22, 1Joh 3,4, Gen 6,5, 8,21, Hi 14,4 und Jer 17,9. 88 Glassius zitiert Sp. 296: „[…] apud Dionysium, de myst. Theol. c. 1. Theologia & plurima est, & minima, Evangeliumque & latum & magnum, rursusque concisum.“
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3,16, Röm 3,24 und 1Tim 1,15.89 Bedeutungsschwangere sakramentale Sprüche, in denen bei rechter Betrachtung jeweils ein ganzer Schatz schöner göttlicher Güter einer frommen Seele erfahrbar wird,90 liegen vor in Gen 17,7, Mt 28,19, Mk 16,16, Joh 3,3, Tit 3,5, Mt 26,26.28 und 1Kor 11,24. Knapp benennt Glassius schließlich auch die „Proverbiales“.91 Die cohaesio sermonis, die usurpatio ellipseon und die tractatio typorum, allegoriarum & parabolarum sind sodann die Gegenstände der weiteren Abschnitte (3.–5.) zur brevitas scripturae. Cohaesio sermonis liegt vor, wenn einzelne Sätze sich sowohl auf vorweg Gesagtes als auch auf Nachfolgendes beziehen, so daß um des Verständnisses willen beides miteinander verbunden werden muß.92 Eine gewisse Eleganz sieht Glassius beim Gebrauch der Ellipsen aufscheinen, sei es im Fall einzelner Worte oder ganzer Sätze.93 In den Typen, Allegorien und Parabeln aber verbirgt die Schrift gleichsam wie in geringen oder kleinen Hüllen oft einen großen Schatz der Lehre.94 Ohne Zweifel klingt hier bei Glassius die in typologischen Zusammenhängen bei ihm auch sonst erwähnte „Windelmetaphorik“ an. Nur angedeutet wird hier die Relation von sensus literalis und sensus mysticus, die bei der Auslegung dieser Stellen in je spezifischer Weise zu beachten ist und der er sich im zweiten Buch seiner Philologia ausführlich zuwendet.95 Abschließend geht der Thüringer noch einmal auf die Gründe ein („Causa brevitatis in stylo S. Sacrae“96), die den Heiligen Geist dieses Stilmittel verwen-
89 Vgl. Sp. 296 f. 90 Vgl. Sp. 297: „Quae omnia ubi debito modo perpenduntur & evolvuntur, thesaurum rerum divinarum longe pulcherrimum continere, pius animus experitur.“ 91 Vgl. Sp. 297: „Proverbiales: quales sunt: Ezech. 16, 44. Qualis mater, talis filia. cap. 18, 2. Patres comederunt uvam acerbam, & filiorum dentes obstupuerunt. Matth. 23, 24. Colatis culicem, & deglutitis camelum &c.“ 92 Vgl. Sp. 297: „Aliquando enim una sententia servit tum praecedentibus, tum sequentibus, & utrisque jungenda est, ut sensui sua constet integritas.“ Als Beispiele nennt Glassius Röm 6,10 und 1Thess 4,13 f. 93 Vgl. Sp. 298: „In ellipseon usurpatione. Saepissime enim brevitatis studio, & non sine elegantia occurrunt in sacro sermone ellipses 1. singularum vocum, […] 2. Plurium verborum & sententiarum […].“ Beispiele zum ersten Punkt sind Ps 21,12 und Röm 8,3, zum zweiten Punkt: 1Chron 4,10, 2Sam 18,12, 2Tim 2,20 und Röm 15,12.14. 94 Vgl. Sp. 298: „In typorum, allegoriarum & parabolarum tractatione. In istis enim sub parvis involucris amplissimam saepius doctrinam Scriptura abscondit.“ 95 Vgl. Sp. 298: „In typis enim verba & de typo (in sensu literali) & de antitypo (in sensu mystico) intelligenda sunt, ut & in allegoriis. In parabolis accommodatio ad rem superiorem & mysticam plerunque omittitur, & concisa aliqua gnome sive epiphonemate innuitur, Matth 18, 35. cap. 19, 30. cap. 20, 16.“ 96 So die Randglosse zur Stelle (Sp. 298 unten). Vgl. im Fließtext ebd: „Voluit autem hoc dicendi genere Spiritus S. tum ipsi Scripturae, tum Scripturae lectoribus consulere.“
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den lassen, und zwar zum einen hinsichtlich der Schrift selbst, zum andern hinsichtlich ihrer Leser. Der erste Grund besteht darin, daß die „brevis nervositas & nervosa brevitas“ dem Gewicht der Aussagen, Gebote, Geheimnisse und anderer heiliger Dinge in der Schrift im höchsten Maße angemessen ist.97 Hinsichtlich der Leser aber dient die kernige Knappheit der Schrift der Aufmerksamkeit ihrer Adressaten, der leichten Verständlichkeit des Inhalts, weil sie für Glassius auch mnemotechnische Vorteile mit sich bringt, und schließlich der leichteren Untersuchung und Betrachtung der Schrift.98 4.1.1.7 cohaerentia „Cohaerentia ista est virtus styli sacri, qua omnia apte inter se sunt connexa, & suavissime cohaerent.“99 Glassius unterscheidet eine cohaerentia generalis und eine cohaerentia specialis. Die allgemeine Kohärenz bezieht sich darauf, daß alle Dinge in der Schrift widerspruchsfrei miteinander zusammenhängen. Die Untersuchung dieser allgemeinen Kohärenz aber ist eine gewichtige und verläßliche Stütze für die legitime Schriftauslegung.100 Die spezielle Kohärenz bezieht sich auf den inneren Zusammenhang einzelner Teile der Schrift. Glassius verweist auf die alten Griechen, die meinten, im Werk Homers sei alles so miteinander verbunden, daß um der Kohärenz willen auch nicht ein einziger Vers wegfallen dürfe. Erst recht gelte das für die Literatur der heiligen Schriften, weshalb nach der Regel der Rhetoren darauf zu achten ist, wie alles miteinander zusammenhängt und wie die Auslegung erst abgeschlossen ist, wenn auch das Ziel einer Rede erreicht ist.101 Für Stellen, an denen die Kohärenz eines Verses mit dem umlie-
97 Vgl. Sp. 298: „Illi propter sententiarum, mandatorum, mysteriorum, aliarumque rerum sacrarum gravitatem, cui brevis nervositas & nervosa brevitas accommodatissima est […].“ 98 Vgl. Sp. 299: „[…] facit 1. ad attentionem, omnis enim brevitas auditorem reddit attentum; dum enim breviter dicta facilius comprehendere valet, eadem etiam majori cum alacritate perdiscit. 2. Ad facilem comprehensionem. Memoria enim multitudine obruitur: brevitate & delectatur & sublevatur maximopere. 3. Ad excitandam Scripturae scrutationem, & meditationem, qua ea, quae breviter & succincte dicta, & a Spiritu S. in Scripturis consita sunt, in uberrimam quasi doctrinarum messem dilatantur.“ 99 Sp. 299. 100 Vgl. Sp. 299: „Una Generalis, qua omnia, quae in Scripturis narrantur & traduntur, ita apte cohaerent, ut nihil quicquam verae contradictionis sacrosanctis literis insit, utque nihil avnako,louqon, hiulcum & fragosum occurrat. Atque hujus cohaerentiae scrutinium, interpretationis legitimae adminiculum est grave & solidum, ut quaedam hac de re dicentur suo loco.“ 101 Vgl. Sp. 299: „Hinc veteres tria dixerunt esse impossibilia: Eripere Iovi fulmen, Herculi clavam, & Homero versum. Putabant nimirum, tantam in Homero esse omnium connexionem, ut ne unicus quidem versus salva cohaerentia subtrahi possit. Id ipsum longe rectius dici potest de literatura sacrae Scripturae, in qua utplurimum oratio est pendens seu connexa, ut loquuntur Rhetores, qua
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genden Text auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, weist Glassius darauf hin, daß hier sorgfältig nach grammatischen und rhetorischen Gründen (z. B. nach der Figur des Hysteron-Proteron102) für diesen ersten Anschein zu suchen ist. Auch wenn nicht in jedem Fall eine befriedigende Lösung erreichbar ist, heben diese Beispiele die grundsätzliche Kohärenz der Schrift nicht auf.103 4.1.1.8 verecundia & castitas Nicht mit Schweigen übergehen will Glassius die Beobachtung, daß die Schrift gemäß der in Eph 5,3 f. formulierten apostolischen Weisung über die obszönen Dinge des Lebens nur in sittsamer Weise redet, was die Rhetoren „Euphemismus“ nennen.104 Damit entspricht die Schrift auch hier dem Wesen des Geistes, der als Urheber und Bewahrer der Keuschheit ein diesem Wesen entsprechendes genus der Rede pflegen wollte.105 Die Beispiele, die Glassius in der Schrift findet, zeigen, daß einschlägige Themen in ihr entweder durch ehrenwerte Worte und Phrasen behandelt werden106 oder aber andeutend, indem von den jeweils dazugehörigen Umständen gesprochen wird.107 In die erste Gruppe gehören diejenigen Stellen, an denen die jeweils zu bedeckenden „Füße“ als Bezeichnung der Geschlechtsteile des Menschen dienen,108 andere Stellen, an denen das Wort „Fleisch“ die Scham bezeichnet,109 und schließlich das Verbum „erkennen“ oder der Aus-
ita connectuntur inter se cola & sententiae, ut omnia cohaereant, utque nusquam plene possimus respirare, donec ad finem illius orationis pervenerimus.“ Als biblische Beispiele nennt Glassius Kol 1, Röm 1 f., 2Kor 6, 2Tim 1,8 ff. und 1Petr 1 (Sp. 299 f.). Voraus geht ein Hinweis auf die Rhetorik des Aristoteles, der das Kohärenzprinzip in Herodots Schriften vorbildlich durchgeführt sieht. 102 Vgl. Sp. 301. 103 Vgl. Sp. 300–303; die Stellen, die Glassius detailliert bespricht, sind Gen 48,7, Jes 38,21, Jer 40,1, Joh 18,24 und 1Tim 5,23. 104 Vgl. Sp. 303: „Neque haec literaturae sanctae proprietas silentio praetermittenda est, quod scil. ab omni avnakaqarsi,a aivscro,thti kai. euvtrapelei,a| (quae vitia a Christiano homine longum abesse iubet Apostolus Eph. 5, 3. 4.) aliena est, & res alioqui obscoenas, & castarum aurium offensivas, vel verecundis verbis exprimit, vel alias verecunde circumscribit. Rhetores id vocant euvfhmismo.n […].“ 105 Vgl. Sp. 303: „Neque vero mirum est, Spiritum sanctum, qui omnis kaqaro,thtoj, pudicitiae & castitatis autor & conservator est, tali etiam sermonis genere in Scripturis voluisse uti.“ 106 Vgl. Sp. 303: „Utitur honestis verbis & phrasibus, quibus res obscoenas exprimit.“ 107 Vgl Sp. 305: „Quod turpe est & indecorum, kat’ euvfhmismo.n per antecedentia & consequentia declarat.“ 108 Vgl. Sp. 303 f.: Gen 49,10, Deut 28,57, Jes 7,20, Ri 3,24, 1Sam 24,3, Jes 6,11, Ex 4,25. Von den Seraphim in Jes 6,2 wird deshalb gesagt, daß sie ihre Füße bedeckten, weil sie hier in menschlicher Gestalt erschienen und so dem göttlichen Numen die Ehre gaben. (vgl. Sp. 304) 109 Vgl. Sp. 304.
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druck „sich einer Frau nähern“ für den Vollzug der ehelichen Beiwohnung.110 Zur zweiten Gruppe gehören neben Stellen, in denen wiederum der Geschlechtsverkehr durch dessen Umstände angedeutet wird, andere, wo von einschlägigen Verfehlungen bereits im Modus dessen die Rede ist, wovon ein Mensch durch Sühneopfer gereinigt wird.111 Aufgrund dieser Keuschheit im Stil der Schrift sticht nach Glassius das Argument der Päpstlichen nicht, wonach den Laien die Schriftlektüre wegen mancher Obszönität und Anstößigkeit in ihr vorenthalten werden sollte.112 Abgesehen von dem Grundsatz, daß zwischen einer Sache und ihrer Erzählung zu unterscheiden sei, sei vor allem zu beachten, daß diese Dinge nicht zur Nachahmung, sondern um der Verhütung willen und zum Trost und zur Besserung der Gefallenen geschrieben stehen.113 Auch der bei Bellarmin geäußerte Verdacht auf Obszönitäten im Hohelied oder im Hoseabuch falle dahin, wenn er im Lichte von Tit 1,15 betrachtet werde.114 4.1.1.9 proprietas Die Besonderheit des Stils der Schrift besteht zum einen in den ihr eigentümlichen Worten, Phrasen, Redewendungen, insbesondere im Alten Testament, die sich in anderen Sprachen nicht wörtlich wiedergeben lassen.115 Zum andern gehört zur proprietas die Einzigartigkeit der Schrift, die aus all den von Glassius aufgezählten Eigenschaften in dieser Gesamtheit erwächst.116 Ohne noch einmal in den Wortlaut der Schrift selber einzutauchen, leiht Glassius sich an dieser Stelle Worte von Chrysostomus und Augustinus. Der griechische Kirchenvater sieht die Einzigartigkeit der Schrift im Unterschied zu profaner Literatur darin, daß
110 Vgl. Sp. 304 f. 111 Vgl. Sp. 305 f.: Deut 27,20, 22,12, Rut 3,9, Lev 18,6 ff., Gen 49,4 / Deut 22,9. 112 Vgl. Sp. 306: „Contineri quaedam in Scripturis turpia & obscoena, quibus hominum mentes offendi possint. Pontificiis id inter alia pro causa venditatur, quod Laicos a lectione Scripturae sacrae in vernacula & vulgari lingua arcent.“ 113 Vgl. Sp. 307: „Illa Sanctorum delicta scripta sunt non ad imitationem, sed tum ad cautionem stantium, tum ad consolationem & emendationem lapsorum […].“ Es folgen ebd. bestätigende Zitate von Chrysostomus, Augustinus und Sixtus Senensis. 114 Vgl. Sp. 307 f. Im Wortlaut der Weimarer Bibel: Den Reinen ist alles rein. Den Unreinen aber […] ist nichts rein […]. 115 Vgl. Sp. 309: „Divisim varios vocum, phrasium, locutionumque idiotismos, quae toti Scripturae, praesertim autem Veteris Testam. libris insunt, quales Hebraeae linguae idiotismi in aliis linguis (prout a profanis excultae habentur Scriptoribus) non occurrunt, quosque sua in lingua nemo Interpretum satis commode verbotenus exprimere valet. De hac proprietate alias, DEO clementer vires largiente, tractabitur.“ 116 Vgl. Sp. 309: „Complexim singularitas literaturae sacrae illa intelligitur, quae ex hactenus enumeratis ejus qualitatibus simul conjunctis oritur.“
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sie anders als diese Leben stiftet, weil die Wahrheit in ihr wie Blut in den Adern verborgen ist und sie die den Hörer seligmachende Kraft Gottes in sich hat.117 Von Augustinus bietet Glassius zunächst ein Zitat, worin dieser zurückblickt auf die Zeit, in der ihm der Zugang zur Schrift versperrt war, weil er sie an der Erhabenheit der Ciceronischen Rhetorik gemessen hatte und es so als unter seiner Würde erachtet hatte, bei der Schriftlektüre „mit den Kleinen zu wachsen“.118 Damit lenkt dieser Abschnitt zurück zum Motiv des Wachsens durch das Wort Gottes, das den Anfang von Glassius’ erbauungstheologischem Werk gebildet hatte.119 Das zweite Zitat aus den Augustinschen Confessiones endet mit dem Lob des Kirchenvaters für die unterdessen auch von ihm hochgeschätzte Schrift, die Menschen dadurch zu Gott führt, daß sie einerseits durch höchste Autorität gekennzeichnet ist und andererseits die Menschenscharen in den Schoß ihrer heiligen Niedrigkeit sammelt.120 4.1.2 Die Vielfalt des biblischen Stils 4.1.2.1 De stylo Prophetico Glassius’ Reflexion über den prophetischen Stil bezieht sich zum einen auf die Schriftpropheten, von denen biblische Bücher vorliegen, zum andern aber auch auf Mose, David und Johannes, insofern auch sie Verheißungen für die Zukunft darlegen. Untersuchen will er deren Stil nicht im Sinne einer Rekonstruktion der viva vox ihrer Verkündigung, sondern auf der Grundlage der schriftlich vorlie117 Vgl. Sp. 309 f.: „Chrysost. homil. 46. in Matth. Omnia verba divina, quamvis rustica sint & incomposita, (intelligit autem simplicitatem, quam katacrhstikw/j his nominibus appellat) viva sunt, quoniam intus in sensibus suis habent positam veritatem DEI, quasi sanguinem in venis inclusum, & ideo vivificant audientem: omnia autem verba secularia, quoniam non habent in se virtutem DEI, quamvis sint composita & ingeniosa, mortua sunt, quoniam in venis suis non habent virtutem DEI, propterea nec audientem salvant.“ 118 Vgl. Sp. 310: „[…] lib. 3. confess. c. 5. Non eram ego talis, ut intrare in eam (Scripturam) possem, aut inclinare cervicem ad ejus gressus. Non enim sicut modo loquor, ita sensi, cum attendi ad illam Scripturam, sed visa est mihi indigna, quam Tullianae dignitati compararem. Tumor enim meus refugiebat modum ejus, & acies mea non penetrabat interiora ejus. Veruntamen illa erat, quae cresceret cum parvulis, sed ego dedignabar esse parvulus, & turgidus fastu mihi grandis videbar.“ 119 S. o., Kap. 2.1, S. 47. 120 Vgl. Sp. 310: „At idem ex Manichaeo Christianus iam factus, ac degustata Scripturae sermonis suavitate & gravitate, longe aliter sentit: Eo mihi venerabilior (inquit) & sacrosancta fide dignior apparebat autoritas, quo & omnibus ad legendum esset in promptu, & secreti sui dignitatem in intellectu profundiore servaret, verbis apertissimis & humilimo genere loquendi se cunctis praebens, & exercens intentionem eorum, qui non sunt leves corde, ut exciperet omnes populari sinu, & per angusta foramina paucos ad te (o DEUS) trajiceret, multo tamen plures, quam si nec tanto apice autoritatis emineret, nec turbas gremio sanctae humilitatis hauriret, lib. 6. confess. c. 5.“
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genden Texte.121 Acht Regeln oder Aphorismen sind es, durch die Glassius den so abgesteckten prophetischen Stil erschließt. Die erste Regel stellt auch hier zunächst die Vielfalt der Weisen fest, mit denen die Propheten ihre Botschaften kundtun.122 Glassius eröffnet die Darlegung dieser Regel mit einer impliziten collatio von Hebr 1,1123 und Num 12,6–8. Die in Hebr 1,1 bezeugte Vielfalt göttlichen Redens im Alten Testament sieht er in Num 12,6–8 aufgefächert, wo davon die Rede ist, daß Gott zu seinen Propheten und durch sie 1. „per visionem“, 2. „in somnio“, 3. „in aenigmate“, 4. „in figura“, durch welche die „Abbilder“ der geistlichen Sachverhalte geschaut werden, und 5. „per allocutionem divinam“ rede. Der Nutzen für die Unterweisung über die Zukunft besteht darin, daß diese Vielfalt geeignet ist, die Hörer zu erfreuen und größere Aufmerksamkeit und Eifer in ihnen zu entzünden.124 All diese Redeweisen kann man in Worte und Zeichen einteilen. Bei den Worten, die die Zukunft ansagen, handelt es sich entweder um verba propria oder um verba figurata & symbolica. Hierzu zählt Glassius alle Weissagungen (vaticinia) über Christus, sein Reich und die Kirche des Neuen Testaments.125 Zu den in den prophetischen Schriften der Nachwelt hinterlassenen Zeichen aber gehören die Übertragung von Eigennamen, die Gewäh-
121 Vgl. Sp. 311: „Prophetias & oracula considerari, non prout a Prophetis viva voce facta, sed prout scripto comprehensa, & ad nos propagata sunt: non prout a Prophetis eduntur, sed prout a posteris leguntur.“ 122 Vgl. Sp. 311: „Canon I. Modi Prophetiarum seu vaticinia proponendi, sunt varii.“ 123 Hebr 1,1: Polumerw/j kai. polutro,pwj pa,lai o` qeo.j lalh,saj toi/j patra,sin evn toi/j profh,taij […]. 124 Vgl. Sp. 311 f.: „Quemadmodum divina Maiestas polumerw/j kai. polutro,pwj, multifariam multisque modis Prophetis sese olim revelare voluit, quorum modorum aliqui Num. 12, 6. 8. recensentur (ex quo loco quinque patefactionum divinarum genera ab aliquibus colliguntur. 1. […] per visionem, cum rem in visionibus revelatam intuemur. 2. […] in somnio, quod contigit dormientibus. 3. […] in aenigmate, cum aliud videtur, aliud innuitur, ut erat cum librum Ezechiel comederet: qualis etiam fuit Apocalypsis Iohanni facta. 4. […] in figura seu idea, cum rerum imagines intuemur. 5. […] per allocutionem divinam, qui modus omnium praestantissimus, cum Angelis Mosi fuit communis.) Ita variis etiam modis per Prophetas ad homines loqui, eosdemque de futuris informare dignatus fuit, ut & hic varietas eos delectare, majoremque ad attentionem atque zelum inflammare posset.“ 125 Vgl. Sp. 312: „Modi isti ad duplex genus: Verborum scil. & signorum, referri possunt. 1. Quandoque futura denunciant apertis verbis, quae sunt vel propria, vel figurata & symbolica. Huc pertinent omnia vaticinia de Christo ejusque regno, de Ecclesiae Nov. Test. collectione, amplitudine, felicitate, & econtra calamitatibus & persecutionibus: de populorum, quicunque illi sint, eversionibus, & summatim de divinis praemiis ac poenis, quorum vaticiniorum bene multa in Prophetis occurrunt.“
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rung prophetischer Visionen und die Durchführung prophetischer Zeichenhandlungen.126 Regel zwei behandelt jene Formen der Prophetie, in denen Zukünftiges in Gestalt ausgesprochener Wünsche, Befehle oder Bitten angesagt wird.127 Hier unterscheidet Glassius zwei Klassen: Es gibt solche Stellen, wo göttliche Gnade und Wohltaten, insbesondere das Kommen des Messias, sehnlich erwünscht werden. Auf der anderen Seite sind Abschnitte zu nennen, in denen Gottes Strafzorn über die Feinde Gottes und seines Volkes herbeigesehnt wird.128 Unter die Regel drei subsummiert Glassius diejenigen prophetischen Stellen, die in direkter Rede aussprechen, was im Neuen Testament dann zwar nicht in Wiederholung dieser Rede, aber in stillschweigender Bestätigung in Erfüllung geht.129 Das 126 Vgl. Sp. 312–314: „2. Quandoque futura praenunciant certis signis, quae scriptis etiam suis postetati reliquerunt exarata […]. Ad signa illa pertinent. 1. Nominum propriorum impositio, […] 2. Visionum Propheticarum oblatio […] 3. Actionum Propheticarum expeditio.“ Zur ersten Gruppe nennt Glassius Jes 7,3 (in collatio mit Jes 10,22 und Röm 9,27), Jes 8,1.3 (mit 2Kön 16,9) und Hos 1,4.6.8. Bei der zweiten Gruppe unterscheidet Glassius zwischen Visionen, denen eine Interpretation beigefügt ist (Dan 7 ff., Jer 24,1.4 ff.; daß die Auslegung prophetischer Visionen „per jucundam paranomasiam vel allusionem“ geschehen kann, zeigen Stellen wie Jer 1,11–14 und Am 8,2), und anderen, die einer solchen entbehren, wie Ez 1 und die Johannesoffenbarung. Fehlt eine Auslegung in der Schrift, muß eine solche entweder aus der Prophezeiung selbst heraus versucht werden oder von ihrer Erfüllung her oder vom noch Ausstehenden (Eschaton) her, was besonders schwierig ist. Vgl. Sp. 313 f.: „Explicatio autem talium visionum, vel ex ipsis facili ratione erui potest, qualis est ea, quae Esa. 6. v. 1. seqq. describitur: vel ex vaticinii complemento, & eventu desumenda, ideoque difficilior est: qualia sunt vaticinia Apocalyptica.“ Zur dritten Gruppe der Zeichenhandlungen nennt Glassius Jes 20,2, Jer 27,2, 28,13 ff. 127 Vgl. Sp. 314: „Canon II. Inter alias Prophetiarum formas occurrit etiam ista, quod futura a Prophetis praenunciantur forma optandi, imperandi, atque imprecandi.“ 128 Vgl. Sp. 314 f.: „Exempla dari possunt duplicis generis. Quaedam divinorum beneficiorum & gratiae: quaedam suppliciorum & irae praenunciationem concernunt. Ad priorem classem pertinent vota ardentissima Prophetarum, quibus Messiae (quem praecipue respexere) adventum in carnem exoptavere. Gen. 49. v. 18. Domine expecto salutare tuum. Quo ipso non optat solum, sed & prophetat.“ Es folgen Zitate aus dem Targum Hierosolymitanum und dem Targum Jonathae. „Psal. 14. v. 7. O si quis det e Zione salutem Israelis! reducente Iehova reducem turbam populi sui; exultabit Jacob, laetabitur Israel. Ad posteriorem classem pertinent Propheticae vel jussiones, quibus simul id, quod jubent, certo certius eventurum indicant.“ Für die Auslegung der Verwünschungen der Feinde des Volkes Gottes gelten aber, wie Glassius auch unter Berufung auf den Klageliederkommentar des Hieronymus deutlich macht, strenge Unterscheidungsregeln, die aus der collatio dieser Stellen mit dem Liebesgebot nach Lev 19,16 f. und Mt 5,44 erwachsen und die Glassius folgendermaßen benennt: „Dist.[inguendum est] 1. inter hostes privatos & publicos: 2. Inter eosdem corrigibiles & incorrigibiles: 3. Inter vindictam privatam, & divinum pro asserenda gloria Dei zelum: 4. Inter imprecationes ex humano affectu, & ex divini Spiritus impulsu profectas.“ (Sp. 316) 129 Vgl. Sp. 316: „Canon III. Quaedam in Scripturis sanctis prophetantur, tanquam ita dicenda, ut sunt in Prophetis, quae tamen non necesse est dici, neque id voluerunt Prophetae.“ Glassius be-
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prophetische Perfekt ist Gegenstand der vierten Regel, dessen Besonderheit darin besteht, daß über Künftiges gesprochen wird, als ob es schon geschehen sei.130 Wie gottesdienstliche Sachverhalte des Neuen Testaments bei den Propheten mit dem alttestamentlichen Gottesdienst entnommenen Umständen angekündigt werden, behandelt Glassius unter der fünften Regel.131 Für die figürliche Auslegung der Schrift ist diese Regel von hoher Relevanz, weil mit ihr die Einsicht verbunden ist, daß die geistlichen Güter und Wohltaten des Neuen Testaments im Alten Testament durch irdische und zeitliche Gaben präfiguriert werden.132 In Regel sechs richtet Glassius unter Berufung auf Anwendungsbeispiele dieser Regel bei Hieronymus (zu Jer 8 und Nah 2) und Augustinus (zu Ps 45) das Augenmerk auf die in prophetischen Reden häufig wahrnehmbaren Wechsel der redenden Personen, die geistliche Dialoge etwa zwischen der Kirche und den Feinden Gottes, zwischen Gott Vater und Gott Sohn oder zwischen Christus und der Kirche anzeigen.133 Nach Regel sieben ist bei der Lektüre der Propheten zu beachten, daß sie ihre Reden immer wieder unterbrechen, um anderes einzufügen und später wieder zum ersten Gegenstand zurückzukehren.134 In der gewichtigen achten und letzten Regel zum prophetischen Stil kommt Glassius auf den oft in prophetischen Reden von ihm beobachteten Übergang vom spricht hier Ps 22,19 mit Joh 19,24 sowie Mi 4,2 und verweist darüber hinaus auf Jes 3,6 f., Hos 6,1, Ps 2,3 (mit Apg 4,25–27). 130 Vgl. Sp. 317: „Canon IV. Prophetae vaticinia rerum futurarum explicare solent verbis tum praeteriti temporis, tanquam si narrarent res transactas: tum praesentis, quasi res praesentes & coram assistentes nunciarent.“ Aufgeführte Beispiele sind Ps 22, Jes 9,6 und Jes 53,4 f. (Sp. 318). Darüber hinaus zitiert Glassius ausführlich Belegstellen von Augustinus, Rabbi Schelomoh (kurz: Raschi, 1040–1105; vgl. EJ 13, Sp. 1558–1566) und Wolfgang Franz, in denen diese die Regel ähnlich beschreiben (Sp. 317–319). 131 Vgl. Sp. 319: „Canon V. Prophetis est in more positum, de rebus & cultu N. T. uti phrasibus sui temporis, seu quae ex V. T. conditione, cultu & ritu desumuntur.“ Glassius verweist für gottesdienstliche Vollzüge auf Jes 19,21, 2,2, 56,4–7, 60,1.7, 66,20 f., Jer 33,17 f. und Joel 2,28. 132 Vgl. Sp. 320: „Huc referri non incommode potest, quod Prophetae felicitatem bonorum spiritualium, & gratiam N. T. comparare soleant cum terrena fertilitate, quam Israelitae tempore V. T. in terra Canaan experti erant, illamque per hanc significare, ut dicant, Christum in N. T. daturum abundantiam olei & vini, copiam pecorum & pascuorum, aurum & argentum, domus & palatia; per quae non haec ipsa materialia, terrena & transitoria, sed spiritualia & coelestia beneficia, in regno Messiae expectanda, significantur, quia illa erant horum typus ac figura. Exempla sunt Esa. 35, 1.2. cap. 65,13. Joel. 3. 18. (23.) Amos. 9, 13. Zach 3,10. &c.“ 133 Vgl. Sp. 320 f.: „Canon VI. Prophetico sermoni frequens est personarum loquentium mutatio.“ Die von Glassius im Anschluß an die Kirchenväterzitate ausgewählten Beispiele sind: Ps 2, Jes 3,1.4, 34,16, 51,1–12, 53,1–14, Jer 31,2 f., Hos 14,9 und das Hohelied: „Huc pertinet totum […] Canticum Canticorum, in quo vicissitudo & mutatio personarum loquentium continuata.“ (Sp. 321) 134 Vgl. Sp. 321: „Canon VII. Prophetarum mos est, ut sermonem suum crebro intercidant, ea ratione, ut quaedam alia inserentes paulo post ad sermonem priorem redeant.“
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Typ zum Antityp zu sprechen. Dieser besteht darin, daß die Propheten im Verlauf ihrer Rede das Gesagte auf Christus als Kern der Schrift lenken und unversehens dem Literalsinn nach von ihm weissagen: „Canon VIII. Prophetae a typo ad antitypum saepe transeunt, & cum de aliis rebus sermo ipsis est, ad Christum Scripturae nucleum convertuntur, & de eo in sensu literali prophetant.“135 Glassius setzt sich hier mit der alternativen Lesart durch Calvin und andere Ausleger auseinander, die an solchen Stellen allenfalls typologische Hinweise auf Christus erkennen, aber der Meinung sind, der Literalsinn selber handele nicht von Christus.136 Diese Regel und ihre von Glassius vorgeführte Anwendung auf zahlreiche alttestamentliche Stellen137 ist ein Beleg für eine Grunddifferenz zwischen lutherischer und reformierter Schriftauslegung, die Steiger folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Ein nicht unerheblicher Unterschied zwischen der lutherischen und der reformierten Analyse der claritas scripturae wird in folgendem erkennbar: Zwar sind auch die Lutheraner der Meinung, daß das Alte Testament konsequent vom Neuen her zu lesen ist und erst so im rechten Lichte erscheint. Nicht selten wird darum, gerade innerhalb typologischer Exegese, von Vorabschattungen (umbrae) im Alten Testament gesprochen. Gleichwohl ist die lutherische Schriftauslegung (im Anschluß an Luther) von der Gewißheit getragen, daß überall im Alten Testament von Christus als dem Zentrum der ganzen Schrift die Rede ist – und zwar in völliger claritas.“138 Das Ziel dieses prophetischen Stilmittels ist es, in den Hörern die Einsicht zu erwecken, daß das Heil nicht mit irdischen bzw. körperlichen Wohltaten zu verwechseln ist, damit sie ihre Herzen zum verheißenen Messias wenden, welcher der ganzen Schrift des Alten Testaments Sonne und Kern ist.139
135 Sp. 322. 136 Vgl. Sp. 322: „Canon hic diligenti scrutinio & consideratione dignus est, propter Calvinum & alios, qui manifesta de Christo Prophetarum oracula alio detorquent, vel de Christo typice duntaxat, de aliis vero rebus in sensu literali agere existimant.“ 137 Glassius bespricht in einer gewissen Ausführlichkeit folgende Stellen, die für ihn allesamt dem Literalsinn nach prophetisch von Christus reden, nachdem im Kontext zunächst andere Dinge in die jeweilige Zeit hinein vom Propheten angesagt werden, wohin der Prophet nach der Christusverheißung jeweils wieder zurückkehrt: Gen 49,10 mit Gen 49,18, Jes 2, wo von Christi Advent und seinem geistlichen Reich prophetisch geredet werde, Jes 7,14 f., 9,6, 43,25 f., Jer 23,5 f., 33,14 ff., Sach 9,9 und Jes 48,4. 138 Steiger, Philologia, S. 58. 139 Vgl. Sp. 324: „Voluerunt enim Prophetae animos auditorum excitare, ne toti defixi essent in corporale istud beneficium, ac si in eo vera salus consisteret, sed ut ad promissionem de Messia corda elevarent, quae totius Scripturae V. T. Sol est & nucleus.“
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4.1.2.2 De stylo Novi Testamenti in genere Eingangs schickt Glassius in diesem Teil vorweg, daß die von ihm bereits dargelegten Stileigentümlichkeiten der Schrift auch auf das Neue Testament zu beziehen sind. Hinzuzufügen bleibt die Reflexion über die Gründe, weshalb das Neue Testament in griechischer Sprache überliefert ist.140 Diese Gründe bestehen zunächst darin, daß das Griechische zur Zeit Christi und der Apostel die vortrefflichste unter allen Sprachen und zudem die am weitesten verbreitete war, wie auch Cicero bezeuge. Glassius erwähnt aber auch, Gott habe für die Darlegung seiner Weisheit die Sprache der heidnischen Philosophie wählen wollen, wodurch diese umso leichter widerlegt werden konnte. Schließlich verweist er auf die überbietende Analogie zum Alten Testament: So wie vor Christi Geburt die heilige Lehre in der eigentümlichen Muttersprache der damaligen Kirche aufgezeichnet wurde, so nach Christi Geburt in griechischer Sprache, damit die Menschen leichter zu der nunmehr aus allen Nationen zu sammelnden Kirche kommen könnten.141 In den weiteren canones bespricht Glassius sodann die an vielen neutestamentlichen Stellen gebrauchten Hebraismen und Aramäismen (Chaldaeo-Syrismi). Der Gebrauch von Hebraismen ist nach Glassius darauf zurückzuführen, daß die Gottesmänner im Neuen Testament schreiben wollten, was die Propheten für die Zukunft etwa nach Apg 26,22 und 1Petr 1,10 f. verheißen hatten. Um die „Symphonie“, das Zusammenklingen, beider Testamente anzuzeigen, haben sie ihren Stil der hebräischen Redeweise des Alten Testaments „akkommodieren“ wollen.142 Dazu kommt als weiterer Grund die Tatsache, daß viele Juden aufgrund der Zerstreuung des jüdischen Volkes und des damit einhergehenden Gebrauchs der Septuaginta im Synagogengottesdienst gut mit beiden Sprachen vertraut waren.143 Aramäismen wiederum haben ihre Vorbilder in den aramäischen Schriften des alttestamentlichen Kanons oder bei den Targumim,
140 Vgl. Sp. 324: „Canon I. Lingua Graeca, ut originali & authentica, N. T. ad nos transmissum est, idque non sine ratione.“ 141 Vgl. Sp. 324: „1. Quia tempore Christi & Apostolorum inter gentium linguas ea fuit omnium praestantissima. 2. Quia etiam vulgatissima. […] 3. Quia hac lingua tota gentilium Philosophia conscripta erat […] 4. Quemadmodum ante Christum doctrina sancta eo sermone conscripta fuit, qui erat proprius & patrius quasi Ecclesiae: sic post Christum scripta sunt omnia Graece, ut ad Ecclesiam ex omnibus nationibus colligendam facilius pervenirent.“ 142 Vgl. Sp. 328: „Quemadmodum, quoad res ipsas, sancti Dei viri N. T. tempore nihil extra dixerunt vel scripserunt, quam ea, quae Prophetae locuti sunt futura esse, & Moses, quod colligitur ex Act. 26, 22. 1. Petr. 1, 10. 11. 12. idque ad conciliandam N. Test. doctrinae autoritatem, ut & demonstrandam utriusque Testamenti sumfwni,an ac convenientiam: Sic etiam in styli & sermonis qualitate ad Hebraicum V. T. sermonem accommodare se voluerunt, propter eandem rationem.“ 143 Vgl. Sp. 328 f.
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wie Glassius weiter ausführt.144 Aus diesen Beobachtungen, die er noch durch eine Auflistung der unübersetzten aramäischen Worte im Neuen Testament ergänzt, zieht er den Schluß, zum rechten Verständnis desselben sei daher nicht nur die Kenntnis der griechischen, sondern auch der hebräischen und aramäischen Sprache notwendig.145 Mutatis mutandis gilt dies ebenso für die Wahrnehmung der ebenfalls zahlreichen Latinismen, denen Glassius einen eigenen canon widmet.146 Die Beobachtung der Mehrsprachigkeit der Schrift führt Glassius dann zur Betrachtung jener Stellen, wo die biblischen Autoren selbst Übersetzungen der von ihnen übernommenen Fremdworte im Text bieten.147 4.1.2.3 De stylo Iohannis Apostoli & Evangelistae Einen kurzen Abschnitt widmet Glassius den dem Johannesevangelisten eigenen Stilbesonderheiten. Zu diesen zählen die mehrstufigen Exegesen zunächst etwas dunkler Aussagen,148 ein Stilmittel, das der plenitudo scripturae zuzuordnen ist,149 Antithesen, Wiederholungen, Nachträge und der häufige Gebrauch des Demonstrativpronomens. Umstellungen relativischer Anschlüsse sind ein auch sonst in der Schrift gebräuchlicher Hebraismus, aber bei keinem so häufig wie bei diesem Apostel.150 Zuletzt verweist Glassius darauf, daß nur im johanneischen Schrifttum der Gebrauch des Wortes Logos so vorliegt, daß eindeutig nicht die Predigt des Evangeliums gemeint sein kann, sondern die göttliche Person Jesu Christi. Vorbilder hierfür findet der Philologe in den aramäischen Targumim (von Glassius in seinen Schriften immer wieder als „chaldäische Paraphrase“ aufgerufen), die die solenne Rede vom Wort Gottes im Alten Testament messianisch deuten.151
144 So stamme die Wendung aus der Vaterunserbitte: „Schulden vergeben“ aus den Targumim zu 1Kön 8,34–39 und Gen 50,17, die Wendung „Gott des Himmels“ wiederum aus Dan 4,23. Die Bezeichnung Marias als „Begnadete“ habe im griechischen Sprachraum keine Vorbilder, sondern gehe zurück auf ein aramäisches Partizipium. Vgl. Sp. 329 f. 145 Vgl. Sp. 334: „[…] deductum hoc sit, quod ad legitimam N. T. interpretationem omnino linguae non solum Graecae, verum etiam Hebraicae atque Syriacae cognitio requiratur: alias adulterinus & pravus sensus saepe pro vero auditoribus obtrudetur.“ 146 Vgl. Sp. 334–336. 147 Vgl. Sp. 336: „Canon VI. Peregrinis vocibus saepius in N. T. additur Graeco idiomate explicatio.“ 148 Vgl. Sp. 337: „Saepe adhibet exegeses, & quidem iteratas, eorum, quae aliquanto obscurius erant dicta.“ 149 Vgl. Sp. 337: „Referri hoc posset ad styli plenitudinem […].“ 150 Vgl. Sp. 339: „Antecedens ponit pro relativo, quod quidem toti Scripturae, ac omnino Hebraico sermoni usitatum est, huic autem Apostolo magis, quam aliis.“ 151 Vgl. Sp. 340: „In Chaldaico enim Thargum frequentissima fit mentio […] tou/ Lo,gou seu verbi Jehovae, per quem Messiam priscos illos Paraphrastas intelligere asserunt, Gen. 3, 8. Psal. 2,12. Psal. 27,1.“ (unter Hinweis auf Selnecker)
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4.1.2.4 De stylo Pauli Apostoli Was den Apostel Paulus betrifft, so werde die „simplicitas“ seines Stils von ihm selbst, dessen „gravitas“ und „efficacia“ aber von seinen Gegnern bezeugt. Aufgrund der von Paulus beabsichtigten und z. B. in 1Kor 2,6–8 reflektierten simplicitas entbehrt sein Stil jeglicher Ambitioniertheit und Effekthascherei, was allerdings wiederum keineswegs auf Kosten der Gewichtigkeit und Ernsthaftigkeit seiner Aussagen geht, wie etwa in 2Kor 10,10 deutlich wird.152 Im Detail zählt Glassius zu den Besonderheiten des paulinischen Stils an erster Stelle seine Art, unter Ausübung mütterlicher Reize seine Hörer für sich zu gewinnen.153 In Tadelreden wiederum vermag der Apostel aufs klügste den Nachdruck mit der Milde zu temperieren.154 Zu achten ist auf seinen ausgeprägten spezifischen Wortschatz155 sowie darauf, daß er die Gewohnheit hat, gewisse Worte in einer neuen Bedeutung und mit neuem Sinn zu gebrauchen,156 weshalb deren Deutung, wie Glassius zustimmend mit einem langen Zitat aus einer Predigt Gregor von Nyssas über
152 Vgl. Sp. 341 f.: „In genere duplex de stylo hujus Apostoli, ex ipsis ejus scriptis, elici potest judicium. Prius simplicitatem, posterius gravitatem & efficaciam concernit: Prius ab ipso Apostolo, posterius ab ejus adversariis profectum. Prius extat 1. Cor. 2, 1. & c. 1, 17. ubi eloquentiam sermoni suo derogat, sed humanam, non vero divinam, quam ex munere Spiritus sancti habuit & adhibuit. Ut enim sapientiam seculi hujus sprevit, sapientiam DEI locutus est in mysterio, Principibus seculi absconditam, 1. Cor. 2, 6. 7. 8. ita eloquentiam etiam mundi sprevit, eloquentia autem DEI ejus mysteria pneumatikoi/j pneumatika. sugkri,nwn, v. 13. elocutus est. Caruit quidem ambitiosa illa, fucata & ostentatrice loquacitate, instar meretricis se superflue ornante ac jactante: verum non caruit ista gravi & seriâ dicendi facultate, qua res caelestes perspicue ac commode explicare potuit, quaeque proprie Apostolum Christi decuit. Posterius extat 2. Cor. 10, 10.“ 153 Vgl. Sp. 342: „Quod mirificis quibusdam ac plusquam maternis blandimentis auditores ad se allicit.“ Zitiert werden 1Kor 4,14–16, 2Kor 2,4 und Gal 4,19 f. Glassius weist aber auch darauf hin, daß im 1. Johannesbrief ähnliche Passagen zu finden sind: „Sed hoc artificii genus Johanni etiam suis in Epistolis non infrequens est, ut ex 1. c. 2, 1. 12. 18. 28. c. 3, 2. & aliis locis videre est.“ 154 Vgl. Sp. 342 f.: „Quod vice versa in objurgationibus gravitatem cum lenitate prudentissime temperat.“ (Glassius zitiert Gal 3,1–3 und verweist auf 1Kor 1,12 f., 3,3 ff.16 f., 5,1 ff., 6,1 ff.) „Lenitas apparet ex eo, quod quasi iterum placatus dulcibus eos affatur verbis 1. Cor. 4, 24. seqq. cap. 6, 11. &c.“ 155 Vgl. Sp. 343: „Quod peculiaria quaedam verba ac formulas loquendi usurpat. E-gr. Connasci, consepeliri eum Christo, concrucifigi, convivere, conformari, conregnare, conglorificari, resurgere cum Christo, baptizari in ejus mortem, crucifigere corpus peccati, resurgere in novam vitam, veterem hominem corrumpi, eundem exuere, & novum induere, mortificari & vivificari, lex membrorum & in membris, lex Spiritus, secundum carnem aut Spiritum vivere, servire mente aut Spiritu, peccato aut legi DEI, animalis homo, sensus carnis, venditum esse sub peccatum, peccatum regnare, condelectari legi DEI, corpus peccati, & quae his sunt similia.“ 156 Vgl. Sp. 343: „Quod vocibus quibusdam nova significatione & sensu utitur.“
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1Kor 15 darlegt, nicht der in diesem Fall unfruchtbaren Etymologie, sondern dem theologischen Zusammenhang zu entnehmen ist.157
4.2 Der Vorrang des Hebräischen Die Besonderheit des Stils der Heiligen Schrift ergibt sich für Glassius aus den ihr eigentümlichen Worten, Phrasen, Redewendungen, aber auch grammatischen und rhetorischen Besonderheiten insbesondere im Alten Testament. In seiner Stilanalyse konnte Glassius daher bereits zahlreiche grammatische Phänomene und rhetorische Figuren den jeweils von ihm vorgestellten Stileigentümlichkeiten der Schrift zuordnen. Eigens in den Blick nimmt der Thüringer diese Dinge in den Büchern III–V seiner Philologia sacra. Allein zwei Bücher sind dabei der Grammatica sacra gewidmet. Auch wenn Glassius selbst der Grammatica sacra zuerst noch sein „Librum Secundum“ über die Hermeneutik der Heiligen Schrift („De Scripturae SS. Sensu“) vorausschickt, lassen sich seine Grammatica und seine Rhetorica als Komplementärstücke zu seiner Stilanalyse im ersten Buch lesen. Die Topoi der klassischen antiken Grammatik und Rhetorik, auf die Glassius in seiner Stilanalyse bereits vielfach zurückgegriffen hatte, nutzt er nun zur Strukturierung seiner Grammatica und Rhetorica der Schrift.158 Das Besondere an der Glaß’schen Variante ist allerdings, daß der Gelehrte nicht wie in der noch bei Melanchthon wirksamen klassischen Lehrfassung von der Sprachgestalt des Lateinischen („Latinitas“) oder des Griechischen („Hellenismos“)159 seinen Ausgangspunkt nimmt. Grundlegender Idio(ma)tismus160 und damit „Matrix“ seiner Grammatik und Rhetorik ist vielmehr das Hebräische. 157 Vgl. Sp. 343 f., hier Sp. 343: „[…] attamen omissis frigidis etymologiis […].“ 158 Insofern kann man in Glassius’ Philologia eine frühneuzeitliche Analogie zum „Handbuch der literarischen Rhetorik“ von Heinrich Lausberg erkennen, das ebenfalls Grammatik und Rhetorik miteinander verbindet. Lausberg folgt für seine Darstellung neben Cicero vor allem der „Institutio oratoria“ Quintilians, „die noch bis in die Neuzeit verbindlicher Lehrstoff war“ (So Arnold Arens im „Vorwort“, Lausberg, S. 3.) und mithin auch Teil des humanistisch-reformatorischen Traditionsbestandes, in dem Glassius als lutherischer Theologe wirkte (Zu Luthers Rezeption der Rhetorik Quintilians vgl. z. B. Vind, „Christus factus est“, S. 96–105.). Auch wenn er von Glassius kaum einmal namentlich erwähnt wird, sind hier insbesondere die rhetorischen Arbeiten Philipp Melanchthons zu nennen: De Rhetorica libri tres (1519), Elementorum rhetorices (1531), Dispositiones rhetoricae (1553). Vgl. Uwe Schnell: Die homiletische Theorie Philipp Melanchthons (= AGTL 20), Hamburg 1968, Joachim Knape: Philipp Melanchthons ‚Rhetorik‘, Tübingen 1993. 159 Vgl. Lausberg, § 463. 160 Glassius spricht durchweg von „Idiotismus“, wenn er von der „korrekten“ Sprachgestalt des Hebräischen und dann auch des Griechischen spricht im Unterschied zu den grammatischen Figuren, die letztlich auf Verstößen gegen diese Sprachgestalt beruhen. Er meint also mit Idiotis-
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Das ist schon daran erkennbar, daß Glassius in seine Philologia sacra am Ende des zweiten Buches und damit unmittelbar vor der Grammatica seine programmatische Antrittsvorlesung als Hebräischprofessor in Jena aufgenommen hat,161 in der er den Vorrang des Hebräischen vor allen anderen Sprachen,162 einschließlich des Griechischen und des Lateinischen, begründet. So wie die von Glassius aufgezählten anderen artes liberales, die Metaphysik, die Physik, die Logik, die Ethik, die Mathematik, die Medizin und die Jurisprudenz, ihre je spezifischen Gegenstände haben, so kümmere sich die Theologie um das in hebräischer Sprache ergangene himmlische Wort.163 Wenn auch alle Christen dieser Sprache höchste Ehrerbietung erweisen sollen,164 ist es besonders den Dienern am Wort nach apostolischer Weisung aufgetragen, mit ihrer Hilfe „docendo et pugnando“, die Angefochtenen lehrend und die Irrlehrenden widerlegend, für den Bau der Kirche zu sorgen. Denn solches Lehren und Kämpfen kann sich nur in Gestalt heilsamer und orthomus die „idiomatisch korrekte Ausdrucksweise“, welche die klassischen Rhetoriker als „sermo purus“ oder „puritas sermonis“ bezeichnen (Lausberg, § 463). Vgl. zum Vorrang des Hebräischen auch Dannhauer, Hermeneutica sacra, S. 181: „Regnat in Codice V. & N. Test. Idiotismus hebraicus qui in hebraeo labio pronunciatus hebraismus vocari solet […].“ Im weiteren Verlauf verweist Dannhauer auf die Bücher 3 und 4 der Philologia sacra von Glassius. 161 „Sermo auspicalis Cal. Nov. Anno 1621. habitus, de illo themate: Theologo futuro ita necessariam esse Hebraeae Linguae cognitionem, ut ea vel plane non, vel difficulter carere possit.“ (Sp. 507–530) 162 Vgl. Sp. 507: „Hebraeam si linguam dico, eam dico linguam, quae inter omnes linguas, sive sermonum differentias, quas infinitas fere & innumerabiles infinita hominum locorumque totius hujus orbis habitabilis varietas effecit, tantum suum effert caput, quantum lenta solent inter viburna cupressi.“ Glassius führt die Annahme, das Hebräische sei die Matrix aller anderen Sprachen, im weiteren Verlauf auf Hieronymus zurück (vgl. Sp. 521) und folgt zugleich seinem Lehrer Johann Gerhard, der in seinem Genesiskommentar schreibt: „Magna est Hebraeae linguae dignitas, quòd sit omnium antiquissima & reliquarum omnium matrix.“, zitiert nach Johann Anselm Steiger, Die Rezeption der rabbinischen Tradition, S. 197, Anm. 25. Diese Hochschätzung des Hebräischen geht bereits auf Luther zurück. Vgl. Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (= HUT 27), Tübingen 2006, S. 281: „Auch wenn er gegenüber sprachgeschichtlichen Konstruktionen weithin zurückhaltend bleibt und etwa die Auffassung des Hieronymus, die hebräische Sprache sei die Mutter aller Sprachen, nur referiert, weiß er den Vorrang des Hebräischen durchaus zu begründen.“ 163 Vgl. Sp. 508: „Si (ad liberalium disciplinarum ut proprius accedam circulum) Metaphysicus sui Entis, unici, veri, boni; Physicus corporis sui naturalis; Logicus suorum noematum, discursuum & syllogismorum; Ethicus summi sui boni, suaeque virtutis; Mathematicus suorum circulorum, quadrilaterum & octangulorum; Medicus […], suorumque pharmacorum; JCtus suorum contractuum & actionum, & processuum; Theologus demum sui, quod tractat, coelestis verbi, laudationem commendationemque omni animi suscipere conatu non dubitat […].“ 164 Vgl. Sp. 507: „Hebraeam si linguam dico, rem dico, quae omnium vere Christianorum & mentes & oculos in se convertere, aestimationemque cum admiratione summa conjunctam concitare debet & potest […].“
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doxer Schriftinterpretation vollziehen, wofür wiederum die Kenntnis des Hebräischen unerläßlich ist.165 Glassius verweist auf die Analogie des diplomatischen Dienstes. Wer die Diplomatie fremdländischer Könige beurteilen möchte, muß deren Sprache erlernen.166 Um wieviel wichtiger ist es dann aber, jene Sprache zu erlernen, in der es um das Heil der Seelen geht.167 Schon im Grundtext gebrauchte Eigennamen wie Immanuel oder das Gewicht der Gottesnamen oder die Bedeutung von im Alten Testament erwähnten Namensveränderungen können in ihrer theologischen Relevanz nur mit Hilfe der Sprachkenntnis ermessen werden.168 So könne etwa das lateinische Wort redemtor die Bedeutungsfülle des christologisch wichtigen hebräischen Wortes goel nicht wiedergeben.169 Aus diesem Grund dürfen die Theologen nicht an den „Versionen“ als an der Schwelle hängenbleiben, sondern müssen wie der alttestamentliche Hohepriester zum Allerheiligsten vordringen.170 Nur wer aus der Quelle selbst trinkt, kann als Theologe ein sicheres Urteil bilden, wenn es um den
165 Vgl. Sp. 510 f.: „Atque ut sermonis mei faciam compendium, Theologi munus partim in docendo consistit, partim in pugnando: docendo rudes in coelesti veritate informat, Scripturam sana interpretatione explanat, afflictos item consolatione erigit, rebelles & refractarios a ruina & exitio praemonet. Pugnando in aciem contra veritatis hostes haereticos procedit, fidei nostrae articulos ex Scripturis probat confirmatque, falsas contra doctrinas ejusdem Scripturae S. S. gladio configit, & ex Ecclesiae proscenio ejicit. Ad utrumque Theologici requisiti genus rite obendum, si magnam imo maximam vim obtinere Hebraicae literaturae cognitionem probatum dedero, sponte thematis mihi praestituti veritas exinde elucescet. Atque ut de didaskali,a| priori loco dicam, ejus fundamentum & fortissimum e`drai,wma kai. stu,lon est sana & orthodoxa Scripturae S. interpretatio.“ (Kursivierung im Orginal) Gewährsmann ist einmal mehr Augustinus („lib. 4. de doctr. Christ. c. 4.“): „Debet divinarum Scripturarum tractator & doctor, […] defensor rectae fidei, ac debellator erroris, & bona docere, & mala dedocere, atque in hoc opere sermonis conciliare aversos, remissos erigere, nescientibus, quid agatur, quid expectare debeant, intimare.“ 166 Vgl. Sp. 512: „Quis de diplomate Regis Galliarum rectum ferre poterit judicium, qui idiomatis Gallici ignarus & expers?“ Weitere Sprachen, die Glassius ebd. nennt, sind das Italienische, das Griechische, das Lateinische, das Polnische, das Böhmische, das Arabische und das Türkische. 167 Vgl. Sp. 512: „Et longe qidem minora haec sunt, quam ut cum iis, de quibus tractamus, ipsarum literarum divinitus perscriptarum intelligentia comparari possint. De salute animarum, de salute, inquam, animarum hic agitur, quae orthodoxa Scripturae explanatione & interpretatione acquire & servari, depravatione perdi & pessundari potest.“ 168 Vgl. Sp. 513. 169 Vgl. Sp. 515. Das ist nur eines von vielen Beispielen, in denen eine Kenntnis des Hebräischen für ein rechtes Verständnis biblischer Wendungen von Bedeutung ist (vgl. Sp. 515–518). 170 Vgl. Sp. 519: „Verum nos hic loquimur de future Theologo cujus officium vel maxime est, non in versionum solum haerere quasi vestibulo & artrio, sed in ipsum etiam Sanctum sanctorum, cum summo V. T. Sacerdote, in ipsa Dei loquentis adyta penetrare, h. e. ipsummet Spiritum sanctum, native loquentem lingua, attendere, ut ita cum Samuele Propheta sancto dicere possit: […] Loquere Dominus, quia audit servus tuus.“
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„sensus Spiritus sancti“ geht.171 Darum muß das Hebräische als Maßstab auch an die oft fehlsamen Übersetzungen angelegt werden. Für das Verständnis des Neuen Testaments ist die Kenntnis des Hebräischen deshalb wichtig, weil viele Weissagungen des Alten Testaments im Neuen allegiert bzw. auf Christus als auf den Skopus der Schrift appliziert werden. Dies geschieht aber nicht immer dem Buchstaben, sondern oft dem Sinn nach, oft werden zudem zwei Zeugen in eins gezogen, oft gehen die neutestamentlichen Autoren von der Septuaginta aus. Dies alles einschließlich der von Johann Forster gezählten 600 Hebraismen im Neuen Testament kann man nach Glassius nur erkennen, wenn man im Hebräischen kundig ist.172 Nützlich ist diese Sprachkenntnis darüber hinaus für die Beurteilung insbesondere der rabbinischen Kommentare sowie für die Auseinandersetzungen mit heterodoxen Schriftauslegern, die sich oft um „textuales controversiae“ drehen.173 Auch für die Lektüre von Lutherschriften über alttestamentliche Texte ist das Hebräische unerläßlich, da er oft auf die Quellen rekurriert.174 Insbesondere dient die gründliche Kenntnis dieser Sprache zu einer den Theologen ebenfalls anbefohlenen soliden Widerlegung päpstlicher, calvinistischer, antitrinitarischer und schwärmerischer Irrtümer, die nach dem Vorbild des Kampfes der Väter der alten Kirche wie Epiphanius und Athanasius gegen die Arianer erfolgen soll.175 Das überschwengliche Lob der hebräischen Sprache gipfelt in der Verheißung für denjenigen, der dies alles wahrnimmt, ein Teilhaber der „Theosophia“ zu werden,176 ist es doch der Heilige Geist, der in der gründlich auszulegenden Schrift seine Autorität ausübt.177 So hört man in ihr, wie Glassius mit einem längeren Lutherzitat zu Ps 24 hervorhebt, Gott selber sprechen und die Heiligen ihn anrufen, so daß das Studium, das im Erlernen dieser Sprache besteht, als „Missa“ oder „cultus Dei“ bezeichnet werden kann.178 171 Vgl. Sp. 520: „At vero judicium, de quo dixi, unde quaeso desumi poterit, praeterquam ex ipso Hebraici Codicis fonte? Illius accurate inspectio demum docet, qua tuto stari possit, & quae nam illarum sensum Spiritus sancti avkribw/j fuerit assecuta.“ 172 Vgl. Sp. 522 f. Johann Forster (1496–1556) hatte ein „Dictionarium Hebraicum“ verfaßt (Basel 1557), auf das Glassius hier vermutlich verweist. Vgl. Steiger, Rezeption, S. 198, Anm. 32; Stephen G. Burnett, Christian Hebraism in the Reformation Era (1500–1660). Authors, books, and the Transmission of Jewish Learning (= Library of the Written Word 19. The Handpress World 13), Leiden/Boston 2012, S. 58. 173 Vgl. Sp. 523. 174 Vgl. Sp. 523. 175 Vgl. Sp. 527. 176 Vgl. Sp. 528. 177 Vgl. Sp. 528: „[…] o mirandam, quam in Scripturis Spiritus S. solide interpretandis habet autoritatem!“ 178 Vgl. Sp. 528 f.: „Auditur enim in ea Deus loqui, audiuntur Sancti invocantes & maximas res gerentes, ut studium, quod in hanc linguam discendam collocatur, Missa quaedam seu cultus Dei me-
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Auf zwei Aspekte dieser Antrittsvorlesung sei noch hingewiesen. Zum einen nimmt Glassius hier figürliche Grundaussagen aus dem „Summarischen Begriff“ der Konkordienformel zur Heiligen Schrift als Norm und Regel in Theologie und Kirche auf und wendet sie auf die hebräische Sprachgestalt des Alten Testaments an. So bezeichnet er den hebräischen Kanon als „Lydium quasi lapidem“, an dem als „Probierstein“ die diversen fehlsamen Bibelübersetzungen zu messen sind.179 Für seine dem lutherischen Bekenntnis verpflichteten Leser muß zum andern Glassius’ Anspielung auf die Rede vom „reinen, lautern Brunnen Israels“180 vertraut gewesen sein, mit der er seine Rede ausklingen läßt, nicht ohne den hebräischen Ursprungsort (Ps 68,27) jener in der Konkordienformel rezipierten Metapher auch in der Grundsprache zu zitieren.181 Der zweite Aspekt bezieht sich auf die Metaphorik, mit der Glassius darüber hinaus seiner Lobrede auf das Hebräische Nachdruck verleiht. Bevor er ausführlich die Wichtigkeit von Hebräischkenntnissen für Theologie und Kirche herausstreicht, formuliert er geradezu im konfessorischen Überschwang, was diese Sprache für ihn persönlich bedeutet: „[…] quae mel meum est, meum Nectar & Ambrosia, meus scopus, mea prora puppisque […].“182 Glassius benutzt hier mit dem Terminus „scopus“ den für seine Schrifthermeneutik grundlegenden, christorito vocari posset.“ Glassius zitiert Tom 3., Lat. Jen. f. 444. Vgl. WA 40/2,474,17–38; 475,16–22, hier 474,21–24 (vgl. dazu auch Beutel, Anfang, S. 282 f., Anm. 418). 179 Vgl. das Zitat bei Glassius, Sp. 520: „Praeterea non novum est, translatores Bibliorum in suis versionibus saepius errasse, quis hic errores corriget, quis ad Hebraei canonis Lydium quasi lapidem exiget […].“ Vgl. dazu den Wortlaut der Konkordienformel (FC, Epitome, Von dem summarischen Begriff, BSELK 1219,13–15): „[…] sola sacra scriptura Iudex, norma et regula agnoscitur, ad quam ceu ad Lydium lapidem omnia dogmata exigenda sunt et iudicanda, an pia an impia, an vera an vero falsa sint.“ Dort (BSELK 1218 f., Anm. 11) findet sich auch die antike Belegstelle für diesen „Wetzschiefer“ aus Lydien bei Plinius, Hist. nat. 33, 126. 180 FC, SD, Von dem summarischen Begriff (BSELK 1310,7, mit der lateinischen Fassung BSELK 1311,6 f.): „Primum igitur tot pectore Prophetica et Apostolica scripta Veteris et Novi Testamenti ut limpidissimos purissimosque Israelis fontes recipimus […].“ Vgl. Hartmut Günther, „Der reine, lautere Brunnen Israels“ – das Alte Testament in der Argumentation der Formula Concordiae, in: Jürgen Diestelmann, Wolfgang Schillhahn (Hg.), Einträchtig Lehren. Festschrift für Bischof Dr. Jobst Schöne, Groß Oesingen 1997, S. 136–144. 181 Vgl. Sp. 530: „Deumque precor animitus, ut sanctum hoc sanctae linguae depositum inposterum etiam in Ecclesia sua sartum tectum conservare, Israelis fontium limpidam puritatem asserere, jucunda etiam discentibus docentibusque in illustri hac Salana, totoque adeo orbe Christiano halcyonia concedere velit, quo ipsi grata dicere, docere, scribere, unoque ore in congregationibus ipsum laer"f.yI rAqM.mi ex pura illa Israelis vena & scaturigine laudare, depraedicare, & aeternis laudum praeconiis concelebrare possumus.“ Vgl. auch schon Sp. 522: „[…] miserum est, praesenti Israelis fonte limpidissimo, turbidos variosque consectari rivulos.“ (es folgt ein bestätigendes Zitat aus der Feder des Hebraisten Paul Fagius, 1504–1549) 182 Sp. 508.
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logisch gefüllten Zentralbegriff. Die (biblisch mit dem Wort Gottes konnotierte183) „Götterspeise“ des Honigs und die Schiffsmetaphorik, die hier den „scopus“ und damit die (hebräische) Schrift als Lebensmittelpunkt des Theologen umrahmen, implizieren gleichermaßen geistliche Wirkungen der Schrift, die ihrem Leser nicht nur heilsame göttliche Nahrung darbietet, sondern diesen auch wie ein Schiff dem Hafen der Ewigkeit entgegenträgt.184 Gleich an mehreren Stellen seiner Vorlesung greift Glassius schließlich auf die bei ihm äußerst beliebte Baummetaphorik zurück. Das betrifft zunächst die Überlegenheit des Hebräischen als Haupt der Sprache über alle anderen Sprachen, die Glassius mit der Erhabenheit der Zypressen im Kontrast zu Mehlbeerbäumen ver-
183 Vgl. Ps 19,11,119,103, Ez 3,3 und Offb 10,9 f. 184 Auch die Metapher vom Christenleben als Schiffahrt ist in der lutherischen Tradition christologisch gefüllt und im Anschluß etwa an Stellen wie Mt 8,23 und 9,1 gebildet. Vgl. z. B. Renate Steiger, Gnadengegenwart. Johann Sebastian Bach im Kontext lutherischer Orthodoxie und Frömmigkeit (= DeP II, 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 95–99. Zur Verbindung von Christologie, Pneumatologie und Eschatologie vgl. das Zitat bei Michael Walther (Post. Myst., S. 916 f.): „Von der Widergeburt wird der Wind im heutigen Evangelio angeführet. Dessen gemahnet mich anders nicht seyn / als were es ein geistliches Navigium vnd Schiffart / mit welcher die Außerwehlten Kinder Gottes ad Insulas fortunatas vnd nach dem rechten Ophir vnd Peru zufahren. Dann das Meer ist die Welt. Das Schiff ist die heilige Tauff. Die Leut / welche im Schiff sitzen / sind auß allen Völckern versamlet. Vnd vnter denen sind nicht allein starckgläubige Abrahamiten / sondern auch schwachgläubige Nicodemiten. Der Schiffer ist nicht die thörichte Vernunfft / sondern CHRISTUS JESUS […]. Der Mastbaum ist das Creutz des HERRN / dadurch er sehr hoch erhaben worden […]. Das Segel ist der Glaub / der vns zum Himmel führet. Der Compaß ist die Prophet=Apostolische Schrifft / darnach der Glaub / das Leben vnd die Seligkeit gerichtet wird. Der Wind ist GOTT der Heilige Geist. Das alles entwirffet vns der HERR in seinem natürlichen Gleichnüß vom Wind / vnd beschreibet dadurch vnsere Widergeburt / wie sie zugehe / nemlich durch die innerliche Operation vnd Wirckung seines guten Heiligen Geistes / dann vmb solche Wirckung vnd vmb die Widergeburt ist es eben / wie mit dem Wind beschaffen / ob wir schon nicht wissen / wie es damit her= vnd= zugehe / so sihet vnd spüret man doch / daß sich ein Mensch dadurch gantz vmbkehret vnd viel anders gesinnet wird / als er hiebevorn gewesen ist. Vnd gleich wie der Wind ein Schiff auff dem Wasser forttreibet / also stachelt vnd reitzet auch der Heilige Geist die Wiedergeborne zu allem guten. Wer hat David zu einem so andächtigen Beter gemachet? Wer hat den Salomo mit seiner grossen Weißheit begnadiget? Wer hat dem Joseph Keuschheit gegeben / dem Hiob Gedult / den Propheten die Gabe zuweissagen / den Aposteln die Krafft Wunder zuthun? Der H. Geist allein. […] Wie sich ein Schiff nach dem Wind richten muß / so hat sich die gantze Kirche nach dem H. Geist zuachten. Vnd so kan das Schifflein vnserer gläubigen Hertzen an den Port vnd Vfer der ewigen Seligkeit vnd seligen Ewigkeit sicherlich anländen.“ Auch mit der Schiffsmetaphorik knüpfen die lutherischen Hermeneuten des 17. Jahrhunderts an altkirchliche Tradition an. So heißt es bei Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel 111993, S. 139: „Hieronymus spannt ‚die Segel der Interpretation‘ (PL 25,903 D). An Stelle des Fahrtwindes tritt bei ihm der hl. Geist (ib. 369 D).“
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gleicht.185 Daß es beim Übersetzen des hebräischen Grundtextes nicht wirklich möglich ist, die Kraft der Vokabeln und ihre Besonderheiten in voller Schönheit und Gewichtung in der Zielsprache auszudrücken und auszuschöpfen, vergleicht Glassius mit dem Verpflanzen mancher Bäume, die bei der Umsetzung aus ihrem angestammten Erdreich einen Teil ihrer Kraft verlieren.186 Aus diesem Grund hat der von Glassius für die Zukunft gewünschte Theologe dem apostolischen Auftrag, die Schrift recht zu teilen (2Tim 2,15), so nachzukommen, daß er die Bedeutung der Worte und die Vielfalt der Syntax gründlich erlernt, wenn diese für ihn mehr sein sollen als ein böhmischer Wald.187 Damit aber ist am Ende des zweiten Buches der Philologia exakt die Aufgabe beschrieben, der Glassius sich im dritten, vierten und fünften Buch widmet, nämlich eine genaue Analyse der grammatischen und rhetorischen Phänomene der biblischen Sprachen, insbesondere des Hebräischen, mit deren Hilfe der biblische Wald für den Leser erschlossen und so begehbar und fruchtbar gemacht wird.
4.3 Die Grammatica sacra 4.3.1 Der regelgerechte Sprachgebrauch („Idiotismus“) Glassius bietet in seinem Werk keine Schulgrammatik, zieht vielmehr an vielen Stellen vor allem die Grammatik von Johannes Buxtorf, aber auch diejenige von Ludovicus de Dieu, als Referenzwerke heran.188 Beide Grammatiken hatte der 185 Vgl. Sp. 507: „Hebraeam si linguam dico, eam dico linguam, quae inter omnes linguas, sive sermonum differentias, quas infinitas fere & innumerabiles infinita hominum locorumque totius hujus orbis habitabilis varietas effecit, tantum suum effert caput, quantum lenta solent inter viburna cupressi.“ 186 Vgl. Sp. 521 f.: „Est enim peculiaris vis atque evne,rgeia vocabulorum in hac lingua, sunt (ut antea assertum) peculiares idiotismi, quos nulla lingua alia satis venuste & gravide exprimere & exhaurire valet. Et veluti quaedam arbores ex native sua terra in aliud solum transpositae, suam naturam, & quicquid in iis genuinum est, ammittunt: ita native etiam vocabulorum Hebraicorum evne,rgeia, ubi in aliud linguae quasi solum transplantatio fit & translatio, paulatim expirat, & amittitur, cujus rei sufficiens dare testimonium poterit vel unica vox Goel, cujus vim assequi nec Graecus potuit Interpres, nec Latinus, ut superius est ostensum.“ 187 Vgl. Sp. 518: „[…] arbores in sylva Bohemica […].“ Vgl. DWB 27, Sp. 1080: „[…] wird böhmische wälder auch (wie böhmische dörfer […]) für etwas ganz unbekanntes, wovon man gar nichts versteht, gebraucht […].“ 188 Hinweise auf die Grammatik des Baseler Hebraisten Johann Buxtorf (1564–1629) ziehen sich durch das ganze Werk. Gemeinsam mit dem ebenfalls reformierten Gelehrten und Verfasser einer Hebräischgrammatik Ludovicus de Dieu (1590–1642) nennt Glassius ihn in Sp. 737. Zu letzterem vgl. auch Sp. 846.
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Thüringer auch in seinen von Johann Anselm Steiger aufgefundenen und edierten handschriftlich überlieferten Studienplan und in die damit verbundene „Studentenbibliothek“ aufgenommen.189 So stellt die in diesen Werken dargelegte Morphologie und Syntax zwar die Grundlage der Grammatica sacra dar. Diese selbst aber ist ganz auf die Semantik oder Bedeutungslehre fokussiert: „Formatio, & quae illi accidit, multiplex anomalia, Hebraeorum Grammaticis merito relinquitur: praesentis autem instituti est, de significationibus disserere.“190 Der Vorrang der biblischen Sprachen läßt Glassius für grammatikalische Fragestellungen den Grundsatz formulieren: „Non ex aliarum linguarum usu, sed ex ipsa Scriptura sancta […] judicandum est.“191 Glassius orientiert sich zudem für die Erschließung der hebräischen Grammatik an einer Leitlinie aus dem philologischen Standardwerk „Michlol“ von Rabbi David Kimchi.192 Demnach setze sich die hebräische Sprache aus drei grammatischen Bestandteilen zusammen: dem Nomen, dem Verb und der „directio“,193 wodurch die Bedeutung von Nomen und Verb gesteigert bzw. näher bestimmt wird. Zu diesen auch „instrumenta“ genannten Phänomenen gehören die hebräischen Präfixe und Suffixe als „syllabicae adjectiones“ ebenso wie die selbständigen Wortarten („integrae dictiones“) der Adverbien, Konjunktionen, Präpositionen und Interjektionen.194 Der Gelehrte widmet jedem dieser Phänomene in dieser Reihenfolge einen eigenen Traktat: Dem Traktat über das Nomen folgt die Behandlung des Pronomens. Es schließen sich an die Traktate über das Verbum und über das Partizip, dann die Behandlung des Adverbs, der Präposition, der Konjunktion und der Interjektion. Die einzelnen Traktate sind nach canones unterteilt, deren thesenartige Formulierungen Glassius jeweils im Kursivdruck voranstellt. Immer wieder ergänzt er diese durch alternative Formulierungen, die er offensichtlich
189 Vgl. Steiger, Rezeption, S. 225 mit Anm. 13 und 14, sowie S. 248 f. (Nr. 20 und 23 der Bibliothek) 190 Sp. 824. Dies schließt nicht aus, daß Glassius beispielsweise im Fall der Präpositionen auch ausdrücklich auf die Konstruktionsprinzipien der hebräischen Grammatik eingeht (vgl. Sp. 1025 ff.). 191 Sp. 902. 192 David ben Josef Kimchi (1160–1235). Sein „Michlol“ (Konstantinopel 1532, auch: Mikhlol) umfaßte Grammatik und Lexikon der hebräischen Sprache. Vgl. Frank Ephraim Talmage, Art.: David ben Josef Kimchi, in: EJ 12, S. 155 f. Zur frühneuzeitlichen Verbreitung seiner Grammatik, die in gleich mehreren lateinischen Übersetzungen vorlag, vgl. Stephen G. Burnett, Christian Hebraism, S. 96. 193 Sp. 935: „Hebraeorum voces ad tres orationis partes Grammatici revocant, ut ex R. Kimchi in Michlol, & aliis videre est: […] nomen, 2. […] verbum, 3. […] directionem sive particulum gustus: quam ita vocant, quod orationem velut condiat, ita ut non solum circumstantias notet, sed & orationis ambiguitatem & difficultatem tollat […].“ 194 Sp. 935 f.
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bei anderen Autoren findet („Alii sic proponunt […]“195), ohne freilich an diesen Stellen seine Quellen zu nennen. Alsdann werden die canones mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht. Bei diesen Fallbeispielen haben – sofern es möglich ist – immer die alttestamentlichen die Priorität, bevor die neutestamentlichen behandelt werden. Zum Schluß folgt in vielen Fällen eine jeweils deutlich geringere Anzahl von außerbiblischen Exempeln, fürs Hebräische aus dem nachkanonischen jüdischen Schrifttum,196 fürs Griechische aus profanen Werken antiker Schriftsteller.197 Auch Fallbeispiele aus der aramäischen Übersetzung des Neuen Testaments198 oder Hinweise auf die Gewohnheiten in der „lingua Chaldaea & Syra“199 werden geboten. Das gesamte vierte Buch besteht dann aus einem sogenannten „Appendix“, der drei Traktate umfaßt. Der erste Traktat ist den sieben hebräischen Wortpräfixen gewidmet. Im zweiten geht es um die gesamtbiblisch vorkommenden grammatischen Figuren, bevor der Traktat über den Eigennamen (nomen proprium) den Abschluß bildet. Die thesenartigen Formulierungen, mit denen Glassius in diesem Buch seine Traktate unterteilt, heißen observationes. In den acht Traktaten des dritten Buches folgt Glassius jeweils einem Grundschema. Ausgangspunkt ist immer der als Idiotismus bzw. konkret als Hebraismus, Chaldäismus oder Gräzismus bezeichnete eigentümliche bzw. „korrekte“ Sprachgebrauch, der sowohl in seiner Prägnanz als auch gegebenenfalls in seiner Polyvalenz gewürdigt wird, wie hier wenigstens exemplarisch dargelegt werden soll. Die Polyvalenz ist dabei besonders im biblischen Gebrauch der Verben zu beachten. So gibt es Verben, deren Bedeutungsfülle in der Übersetzung nur durch Verwendung von zwei Verben wiedergegeben werden kann.200 „Verba completiva“ müssen bisweilen „inchoative“ verstanden werden, „verba inchoativa“ wie-
195 Sp. 790 u. ö. 196 Vgl. Sp. 628 mit einem Zitat aus dem Targum, Sp. 656 mit Hinweisen auf die Kabbala und rabbinische Literatur, ferner Sp. 669. Weitere Beispiele aus der Kabbala: vgl. Sp. 1043. 197 Genannt werden Zitate von Athenäus (Sp. 1045), Aristoteles (Sp. 1000, 1005), Demosthenes (Sp. 575, 707 f., 1000, 1016), Diodor (Sp. 1031), Euripides (Sp. 939), Galen (Sp. 1045), Herodot (Sp. 951), Homer (Sp. 627, 939, 1027), Isocrates (Sp. 822), Nilus (Sp. 602), Plato (Sp. 728, 1016, 1044), Plutarch (Sp. 1044, 1045), Sophokles (Sp. 575, 850, 951, 1044), Synesius (Sp. 602), Thukidides (Sp. 738, 1000), Lukian (Sp. 822) und Xenophon (Sp. 575, 989, 1045). „Apud Latinos“ (Sp. 575): Apulejus (Sp. 1016), Terentius (Sp. 575, 726, 729, 850), Virgil (Sp. 575, 627, 729, 850), Prudentius (Sp. 602), Q. Curtius (Sp. 602), Lucanus (Sp. 627), Salust (Sp. 728) und Plautus (Sp. 850, 990, 1016). Vgl. Voelz, Language, S. 898, Anm. 13. 198 Vgl. zum Pleonasmus des Demonstrativpronomens Sp. 707: „In Syriaca N. Test. Versione hic pleonasmus frequens est.“ 199 Sp. 737. 200 Vgl. Sp. 747: „In uno verbo quandoque duae significationes concurrunt, peculiari linguae sanctae idiotismo, quem metalepsin vocant, vel synthesin.“ Die Beispiele sind zahlreich (Sp. 747–750).
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derum „completive“.201 Es gibt Verben, die einen Dauerzustand, Wiederholung oder Wachstum signalisieren, andere, die die Erneuerung, Promulgation oder Vollendung bereits zuvor vorhandener Phänomene markieren.202 An vielen Stellen bezeichnen sie die Fähigkeit bzw. Vollmacht, an andern die Verpflichtung zu einem spezifischen Handeln, wieder an anderen den Wunsch bzw. das Begehren danach, den unternommenen Versuch oder eine Gewohnheit.203 Viele biblische Verben – hören, wandeln, bekennen, sagen, essen, erkennen, tun, Rechenschaft geben, sehen, leben, blühen – markieren nicht nur Tätigkeiten, sondern auch deren Qualität und sind daher im höchsten Grad affektbehaftet.204 Bei Aussagen über Gott oder über das Verhalten der Personen der Gottheit zueinander liegen bisweilen Anthropopathismen vor, die dann aber Gott gemäß zu deuten sind.205 Wo im Hebräischen und im Griechischen analoge Phänomene vorliegen, wird immer zuerst der Hebraismus behandelt, der sich nicht selten auch auf den griechischen Sprachgebrauch auswirkt. So handelt es sich beispielsweise bei der Kombination der Nomina „Sohn“ oder „Tochter“ mit unbelebten Genitivattributen wie etwa bei den Wendungen „Kinder des Lichts“, „Kinder der Finsternis“, „Kinder des Todes“, „Kinder des Friedens“ um Hebraismen, die sich auch in der Sprache des Neuen Testaments wiederfinden, wenn dort beispielsweise von „Kindern der Verheißung“ (Gal 4,28) die Rede ist.206 Typische Hebraismen sind auch jene Ausdrücke, die in Genitivkonstruktionen mit den regierenden Nomina „Angesicht“, „Mund“, „Söhne“, „Hand“, „Mitte“, „Wort“, „Stimme“ und „Tag“ vorkommen und
201 Vgl. Sp. 751: „Verbum, quod actum completum significant, accipiendum quandoque inchoative: Et vicissim, verbum, quod actum incompletum significant, accipiendum quandoque completive.“ 202 Vgl. Sp. 757 ff. 203 Vgl. Sp. 761: „Verbum, quod actionem seu effectum notat, de facultate seu potestate agendi non raro intelligendum, & per Possum, cum proprio infinitivo, exponendum est.“; Sp. 763: „Verbum, quod actionem seu effectum notat, de Jure & debito quandoque intelligendum, & per Debeo, cum proprio infinitivo, exponendum est.“; Sp. 765: „Verbum, quod actionem seu effectum notat, de voluntate & voto agenda non raro intelligendum, & per Volo seu Opto, cum proprio infinitivo, exponendum est.“; Sp. 766: „Verbum, quod actionem seu effectum notat, de conatu agendi quandoque intelligendum, & per Conor, cum proprio infinitivo, exponendum est.“; Sp. 768: „Verbum, quod actionem seu effectum notat, de consuetudine agendi quandoque intelligendum, & per Soleo, cum proprio infinitivo, exponendum est.“ 204 Vgl. Sp. 779–781 mit der Regel, Sp. 779: „Verba quaedam non tantum usitatam significationem, sed etiam quandam ejus quasi qualitatem, adjunctum, aut conditionem simul indicant.“ 205 Vgl. Sp. 790 zu Joh 16,14: „ vAnqrwpopaqw/j hoc dicitur, & qeoprepw/j intelligendum.“ Vgl. Sp. 758, 1006. 206 Vgl. Sp. 656 f.: „Nomen […] filius, & foemininum […] filia, in regiminis statu positum, & cum nomine rei inanimatae constructum, multos facit Hebraismos: & Pro ratione additi genitivi diversimodo explicandum est.“
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in der Zielsprache zu Pleonasmen führen.207 Wenn im Neuen Testament „verba activa vel intransitiva“ transitivisch verwendet werden („Gott läßt die Sonne aufgehen“), so erkennt Glassius darin einen Hebraismus, „ad imitationem verborum Hebraeorum in Hiphil“.208 In der theologisch äußerst gewichtigen Aussage, von Gott „erkannt“ zu sein (1Kor 8,3, 13,12, Gal 4,9), wiederum liegt eine Analogbildung zur hebräischen Hophal-Konjugation vor.209 Wo es zwischen beiden Sprachen keine strukturellen Entsprechungen gibt, wie etwa im Falle des fehlenden Superlativs im Hebräischen, behandelt Glassius die Frage, auf welche Weise die Sprache des Alten Testaments das Fehlende durch Umschreibung oder Alternativen zum Ausdruck bringt.210 Da Verben im Hebräischen anders als im Griechischen und Lateinischen keine Verbindungen mit Präpositionen eingehen können, findet sich die Entsprechung hierfür jeweils zwischen Verb und den folgenden Substantiven, woraus nach Glassius viele Besonderheiten und Redewendungen des Hebräischen erwachsen, die sorgfältig zu beachten sind.211 Ob ein Verb „simplex“ oder „in significatio compositi“ zu lesen ist, kann nur aus dem Kontext erhoben werden.212 Da die Hebräer keinen Optativ kennen, müssen sie diesen imperativisch oder umschreibend zum Ausdruck bringen.213 Um einen ausgesprochenen Gräzismus handelt es sich dagegen bei der „enallage & permutatio graduum“, also der wechselseitigen Verwendung von Positiv und Komparativ sowie von Superlativ und Komparativ.214 Eine Besonderheit des Hebräischen ist wiederum der Dualis, der freilich gar nicht immer Dualitäten bezeichnet.215 Da das Hebräische im strengen Sinn kein Präsens kennt, kann dieses sowohl durch Futurformen, durchs Präteritum oder durch Partizi-
207 Vgl. Sp. 670: „Hic autem pleonasmus de lingua intelligendus ea, in quam fit translatio. In ipso enim Hebraismo elegantiae potius & loquendi idiotismo id adscribendum.“ 208 Sp. 834. 209 Vgl. Sp. 835 f. 210 Vgl. Sp. 583–589 zum Superlativ, Sp. 602–604 zum Neutrum. 211 Vgl. Sp. 742 f.: „Omnia verba apud Hebraeos sunt simplicia, nec ita cum praepositionibus componuntur, diversarum significationum causa, uti apud Graecos & Latinos fit. Praepositio igitur, quam Graeci & Latini cum verbo componunt, ab Hebraeis inter verbum & nomen sequens disponitur, unde multi peculiares & Hebraeis proprii loquendi modi oriuntur, diversaeque unius thematis seu radicis significationes saepe distinguuntur.“ 212 Vgl. Sp. 743. Das betrifft die hebräischen Verben für „Stare“, „Cadere“, „Dare“ (Sp. 743 f. marginal so gedruckt). 213 Vgl. Sp. 877–879. 214 Vgl. Sp. 588–602. 215 Vgl. Sp. 615–617.
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pien bezeichnet werden,216 ein Hebraismus der gelegentlich von den Autoren des Neuen Testaments imitiert wird.217
4.3.2 Die grammatischen Figuren als Abweichungen vom Idiotismus Nach der Abhandlung des eigentümlichen bzw. „korrekten“ Sprachgebrauchs folgt jeweils die Besprechung der Abweichungen davon. Diese Abweichungen faßt Glassius nach dem Vorbild der antiken Rhetorik218 unter die Kategorien des Pleonasmus, der Ellipse und der Enallage, in wenigen Fällen auch der Hypallage.219 Gerechtfertigt sind solche Abweichungen in der klassischen rhetorischen Lehrfassung, wenn sie eine literarische Funktion haben,220 insbesondere wenn gezeigt werden kann, daß sie der als „Aptum“221 bezeichneten Kohärenz der Gesamtaussage dienen.222 Glassius setzt diese Regel dadurch um, daß er, wie die folgenden Beispiele zeigen, im Fall dieser Sprachabweichungen jeweils nach ihrer rhetorischen Funktion und damit explizit oder implizit nach der Absicht des Heiligen Geistes als des Hauptautors der biblischen Texte fragt.223 Die Beachtung 216 Vgl. Sp. 881 f. 217 Vgl. Sp. 882: „Imitantur hunc Hebraismum Graeci scriptores N. T.“ Glassius nennt Joh 1,15.26, Apg 12,14, 1Joh 3,6 etc. 218 In der antiken Rhetorik stehen den Tugenden („virtutes“), die den korrekten Sprachgebrauch repräsentieren, die Abweichungen davon als „vitia“ in Gestalt von Barbarismen und Soloezismen gegenüber (Lausberg, § 461/470). Letztere werden eingeteilt in: adiectio (Pleonasmus), detractio (Ellipse), transmutatio (Anastrophe), immutatio (Enallage). Vgl. Lausberg, § 462. 219 Explizit führt er durch diese Stationen im Abschnitt: „De regiminis statu“ im Tractatus „De nomine“, wo er „quinque observanda“ aufzählt: 1. Idiotismus. 2. Pleonasmus. 3. Ellipsis. 4. Enallage. 5. Hypallage (Sp. 629). Die Reihenfolge variiert Glassius, beim Relativpronomen und beim Verb lautet sie: 1. Idiotismus, 2. Enallage, 3. Ellipsis, 4. Pleonasmus (vgl. Sp. 710, 741). 220 Vgl. Lausberg, § 470 f.: „Wie alle vitia […], so können auch barbarismus und soloecismus als licentiae […] geduldet oder sogar als virtutes gewertet werden, wenn die entsprechende Bedingung erfüllt ist. 471. Der durch Lizenz-Bedingung geduldete barbarismus heißt metaplasmus […], der geduldete soloecismus heißt sch/ma = figura […]. Die Bedingung liegt in einer literarischen Funktion der normalerweise als vitium getadelten Eigenheit.“ 221 Nach Lausberg, § 1055, bezeichnet das „aptum“ „die Tugend der Teile, sich zu einem Ganzen harmonisch zu fügen […].“ Synonyme für das „aptum“ sind: „accommodatum“, „decens“, „decorum“, „pre,pon“, „quid deceat“ (§ 258). 222 Vgl. Lausberg, § 499: „Der Zweck des ‚Abweichens‘, also des Gebrauches der Figuren, ist mit dem aptum […] gegeben.“ 223 Vgl. den hinsichtlich der Kombination des pluralischen Gottesnamens „Elohim“ mit Verben im Singular formulierten und damit auf die Trinität bezogenen, aber auch darüber hinaus grundlegenden Satz: „Ita distinctis modis & phrasibus Spiritui sancto placuit mysterium hoc sacrosanctum insinuare.“ (Sp. 908)
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der von der Norm abweichenden grammatischen Besonderheiten der biblischen Sprachen dient also dem Zweck, diese in ihrer die theologischen Gegenstände erhellenden Bedeutung und Wirksamkeit zu würdigen. Diese Zielbestimmungen grammatischer Phänomene werden häufig durch Verben im Gerundium zum Ausdruck gebracht. So geschehen pleonastische Wortwiederholungen „[a]d emphasin & evidentiam, vel etiam continuationem designandam“,224 „ad multitudinem significandam“ oder „ad distributionem indicandam“,225 (ad) „tum vehementiam, tum & certitudinem“.226 „Vis & evidentia“ der Rede werden so gesteigert.227 Substantive mit Präpositionen nehmen an vielen Stellen die Rolle von Adjektiven ein („enallage“), was Glassius zu der Beobachtung führt, daß die hebräischen Präpositionen eine Eleganz der Rede bewirken.228 Stehen Nomina im Plural für Realitäten im Singular, so geschieht eine solche „mutatio“ „ad denotandam magnitudinem & excellentiam“.229 Im griechischen Neuen Testament ist sehr häufig ein emphatischer Gebrauch der Artikel zu beobachten.230 Ähnliches gilt für den pleonastischen Gebrauch des Demonstrativpronomens und des Relativpronomens in beiden Testamenten.231 Emphatisch wirken wiederum jene verneinenden Verbkonstruktionen, durch die „perquandam mei,wsin“ das Gegenteil des Verneinten bekräftigt wird,232 oder solche Verbkonstruktionen, in denen im Hebräischen ein finites Verb mit dem gleichbedeutenden Infinitiv verbunden wird.233 Die hebräische Weise, künftige Dinge mit Worten der Vergangenheit anzusagen (prophetisches Perfekt), bewirkt wiederum „evidentiam & certitudinem summam“.234 Von den fürs Alte Testament so typischen „Adverbia demonstrandi“ !he oder ohNEh,i die in der Septuaginta und im Neuen Testament mit ivdou., im Lateinischen mit „ecce“, im Deutschen mit „siehe“ wiedergegeben werden, schreibt Glassius: „[…] saepius tamen notabiles Spiritus 224 Sp. 547. 225 Sp. 549 f. Vgl. Sp. 581: „Substantivo plurali adjectivum singulare junctum quandoque reperitur, quo ditributio seu partitio denotatur.“ 226 Sp. 862. 227 Sp. 547. 228 Vgl. Sp. 570: „Sermonis hanc elegantiam efficiunt praepositiones Hebraeorum […].“ 229 Sp. 617. Zum analogen Phänomen im Neuen Testament vgl. Sp. 621: „eminentiae causa“. 230 Vgl. Sp. 691–696. 231 Vgl. Sp. 706–710, ferner Sp. 736: „Antecedenti substantivo relativum quandoque adjungitur, pleonastice quidem & luxuriose, evidenter tamen & energetice, cum alioquin solum substantivum sufficeret.“ 232 Vgl. Sp. 801: „Adverbia negandi verbis adposita, saepe ejus, quod exprimunt, contrarium affirmatum, cum emphasi notant.“ 233 Vgl. Sp. 803 f., ferner Sp. 861: „Verbum finitum quodvis regit suum infinitivum, ad majorem certitudinem & evidentiam exprimendam.“ 234 Sp. 882.
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sancti asterismi sunt, ad attentionem excitandam positi.“235 Das Demonstrativpronomen kann ähnliche Funktionen wie die Partikel „siehe“ innehaben bis hin zur Herstellung intertestamentarischer Bezüge, wie Glassius in einem Exkurs über die Einsetzungsworte des Heiligen Abendmahls vor dem Hintergrund von Ex 24,8 und Hebr 9,20236 ausführt,237 der in die Einsicht mündet, daß hier im Alten wie im Neuen Testament bei der Rede vom Blut des Bundes und folglich auch vom Leib Christi figürliche Rede jeweils ausgeschlossen ist.238 Ähnliches wie für „siehe“ gilt darüber hinaus auch für den im Neuen Testament unübersetzt wiedergegebenen und als „Adverbium confirmandi“ dienenden Hebraismus „Amen“239 sowie für die ebenfalls in beiden Testamenten analogen „Adverbia negandi“.240 Bei „Adverbia dubitandi“, die gelegentlich den Eindruck erwecken, etwas sei zweifelhaft, geht es nicht um Gottes Nichtwissen, sondern um die Affekte der handelnden Personen oder der Leser, wie Glassius hier mit einem Hieronymuszitat zu Gen 18,24 deut-
235 Sp. 973, mit der Fortsetzung Sp. 973 f.: „Usus eorum est: 1. In mirandae & novae, etiamque expetitae rei enarratione. […] 2. In rei praesentis exhibitione & demonstratione. […] 3. In certitudinis rei asseveratione. […] 4. In promptitudinis obsequendi declaratione.“ (jeweils mit biblischen Beispielen) Damit ist Glassius bereits bei Einsichten angelangt, die die Sprachwissenschaftlerin Birgit Stolt zuletzt auf die seit den 1970er Jahren erfolgte „intensive Partikelforschung“ zurückführt, die erst den „Blick der Sprachwissenschaftler für diese Wortklasse geschärft“ habe, „die früher, da ohne lexikalische Bedeutung, als ‚leer‘ vernachlässigt worden war.“ Inzwischen werde das hebräische ‚hinneh‘ „als Aufmerksamkeitssignal gewertet“, dem „vorwiegend Appellfunktion zugeschrieben wird“. E negativo bestätigt Stolt die Beobachtungen von Glassius, wenn sie formuliert, was in modernen Übersetzungen verlorengeht, wenn man das „siehe“ aus der Bibel streicht: Dann „verliert der Text somit außer an Appellfunktion auch etliches an Information: intertextuelle Bezüge, durch Echowirkung ursprünglich dem Ohr vernehmlich, was heute Texthinweise in den Anmerkungen auf Parallelstellen im Alten Testament leisten müssen, Sprechaktmarkierungen, Kennzeichnungen als Prophezeiung, Vision oder überirdische Erscheinung, Legitimierung als göttliche Autorität und anderes mehr. Damit verbunden ist ein Gefühl für die sakrale Dimension, die numinose Weihe, eine emotionale Tiefendimension.“ (Luthers Rhetorik, S. 113 f., 117) 236 tou/to to. ai-ma th/j diaqh,khj h-j evnetei,lato pro.j u`ma/j o` qeo,jÅ 237 Vgl. Sp. 974 f. 238 Vgl. Sp. 975: „Cum vero eadem verba recitentur etiam a Christo in sacrae coenae institutione, ita ut novum foedus sanciendo Dominus ad foedus illud antiquum respexerit, & inde verba foederalia mutuatus fuerit (discriminis causa duabus tantum voculis, meus, & novi additis: Hic est sanguis meus novi foederis,) non est dubium, quin & hic vere praesens demonstretur sanguis Christi in Eucharistico poculo: & propter paritatem rationis, etiam vere praesens demonstretur corpus Domini, his verbis: Hoc est corpus meum.“ 239 Vgl. Sp. 975–979. 240 Vgl. Sp. 981–1000. Hierzu gehört die Beobachtung, daß „non“ sehr häufig elliptisch für „non solum“ gebraucht wird, was wiederum viele Fehlverständnisse zu korrigieren in der Lage ist (vgl. Sp. 996–998).
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lich macht.241 Die undeklinierbaren Interjektionen haben die Funktion, Seelenbewegungen anzuzeigen und damit beim Leser auszulösen, von der Freude über die Trauer bis hin zum Bußruf und zum mitleidvollen Erbarmen.242 Auch der Pleonasmus der „conjunctio praefixa“ Waw (w) im Hebräischen übt auf den Leser zielende textimmanente Funktionen aus, wenn er den Beginn von Reden ausdrücklich markiert.243 Die Aufgeschlossenheit von Glassius für Einsichten in die rhetorische Funktionalität und Rezeptionsbezogenheit der biblischen Texte erweist sich in besonders schöner Weise in dem am Ende des Traktates über die Präfixe, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung, wiedergegebenen Augustinzitat zu dem im Neuen Testament übernommenen Hebraismus yhiy>w: / kai. evge,neto. In diesem Zitat bekundet der Kirchenvater, die (auf der Textebene) fehlende Verbindung zu einem vorhergehenden Geschehen, die man bei Konjunktionen im Text sonst vermutet, könne insinuieren, daß hier eine Verbindung zu dem hergestellt werden soll, was durch den Text im Herzen des Lesers „gesehen“ wird.244 Wie die klassische Rhetorik bezeichnet Glassius all diese Phänomene der – sei es reduktiven (Ellipse), sei es additiv-redundanten (Pleonasmus) oder sei es transformierenden (Enallage/Hypallage) – Abweichungen vom eigentlichen und korrekten Sprachgebrauch als grammatische Figuren. Ihre Wichtigkeit in der Grammatica sacra kommt auch darin zum Ausdruck, daß er ihnen im vierten Buch einen eigenen Traktat widmet, in dem er nicht nur die Exempel nachholt, die im dritten Buch ausgelassen werden mußten,245 sondern auch jetzt erst explizite Definitionen dieser schon im dritten Buch reichlich besprochenen Figuren
241 Vgl. Sp. 1000–1005. Das Zitat a. a. O., Sp. 1001: „Verbum ambiguum, forsitan, majestati Domini non potest convenire, sed nostro loquitur affectu […].“ 242 Vgl. Sp. 1137–1147 mit der Definition a. a. O., Sp. 1137: „Interjectio est vox indeclinabilis, animi affectum indicans.“ 243 Vgl. Sp. 1196: „Est & pleonasmus hujus literae in initiis librorum, capitum, & quarumlibet omnino sententiarum, ubi non copulat, sed inchoat sermonem, ex usu & proprietate linguae.“ 244 Vgl. Sp. 1196: „August. in Psal. 4. tom. 8. […] Nam saepe invenis ita coeptum; Et dixit Dominus ad illum: & factum est verbum Dominum ad illum: Quae junctura conjunctionis, cum sententia non praecesserit, cui sequens connectatur, mirabiliter fortassis insinuat, prolationem veritatis in voce, cum ea visione, quae fit in corde, esse conjunctam &c. Sed hoc praeter rem videtur dici.“ 245 Vgl. Sp. 1197: „Intermixtae quidem superioribus subinde sunt figurae, quas Grammaticas vocant, quales sunt ellipsis, pleonasmus, enallage &c. Quia vero non omnia, notatu digna, commode inseri potuerunt, igitur distincto tractatu de praetermissis illis agere hic lubet.“
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bietet und schließlich zusätzlich zu Ellipsis,246 Pleonasmus,247 Enallage248 und Hypallage249 auch die für historische Erzählzusammenhänge wichtige Synchysis250 behandelt.251 Daß Glassius in seiner Grammatica bei der Behandlung der Figuren bisweilen auf verwandte Phänomene in der Rhetorica sacra verweist,252 zeigt, daß auch bei ihm wie in der klassischen Rhetorik die Grenzen zwischen grammatischen und rhetorischen Figuren fließend sind.253 Hinweise fürs Verstehen und Übersetzen der jeweiligen sprachlichen Phänomene markiert Glassius sehr häufig mit den Gerundiv-Formen „intelligendum“254 oder „exponendum“,255 bei Ellipsen auch mit „subintelligendum“256 und
246 Vgl. Sp. 1197: „DE ELLIPPSI. Ellipsis constitui potest triplex: 1. cum plane non extat in textu, quod supplendum est. 2. cum extat quidem, sed implicite, in voce conjugate, contraria vel analoga. 3. cum extat explicite, sed in praecedentibus vel sequentibus, unde repetendum est.“ 247 Vgl. Sp. 1230: „DE PLEONASMO. Pleonasmus seu abundantia verborum aut sententiarum ita dicitur, non quod ociosa plane sint aut inutilia, quae repetuntur vel abundant: sed quod sine illis nihilominus videretur necessarius sensus constitutus. Abundantes autem illae voces vel rem plenius exponunt, vel emphasin addunt, vel affectum dicentis arguunt, vel distributionem notant, vel demum ex usu linguae sanctae ita ponuntur.“ 248 Vgl. Sp. 1235: „DE ENALLAGE. Enallage dicitur & avlloi,wsij, e`te,rwsij, aivtime,reia vel aivtimeri,a, per octo orationis partes fuit supra hinc inde tradita. Hic seorsim quaedam tradenda, quae totius orationis sanctae habitum spectant. Concernit enallage partes orationis variabiles (nomen, pronomen, verbum, participium) vel indiscriminatim; vel diserte, tum nomina & participia, tum verba. In priori occurrit enallage personarum & numerorum. In posteriori, quoad nomina & participia, enallage casuum, quoad verba, enallage temporum & modorum.“ 249 Vgl. Sp. 1240: „DE HYPALLAGE. Hypallagen in genere vocant transpositionem vocum ejusmodi, qua de uno dicitur, quod dici deberet de altero: vel uni attribuitur, quod attribuendum esset alteri.“ 250 Vgl. Sp. 1247: „DE SYNCHYSI. Synchysin, seu verborum trajectionem, & quasi commixtionem, Rabbini vocant […] anticipatum & posterioratum, u[steron pro,teron. Item […] textum transpositum vel inversum.“ 251 Vgl. Sp. 1197–1260. 252 Vgl. z. B. Sp. 714, wo es zum Gebrauch des auf entferntere Sachverhalte zurückverweisenden Demonstrativpronomens heißt: „Plura de hoc loco dicentur in Rhetorica Sacra, cap. De Paronomasia.“; ferner Sp. 973, wo zu den „Adverbia numeri“ ein Hinweis auf die „Synecdoche“ in der Rhetorica sacra erfolgt. 253 Vgl. Lausberg, § 499: „Es werden zwei Bereiche der sch,mata = figurae unterschieden: es gibt grammatische Figuren und rhetorische Figuren. Die Grenzen zwischen diesen Bereichen ist [sic!] unscharf. Den Kern der grammatischen Figuren bildet die immutatio der syntaktisch relevanten Flexionsformen […]“, ferner § 501, 510. 254 Passim. 255 Passim. 256 Sp. 576: „Quandoque adjectivum deest, quod ad substantivum commode subintelligendum. “; Sp. 578: „Quandoque adjectivum tantum exprimitur, substantivo commode subintellecto.“
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„complendum“.257 So führt die Kenntnis der Figuren und Besonderheiten dazu, daß es nicht nötig ist, der Schrift „Fehler“ zu unterstellen. Das betrifft zum einen vermeintliche grammatische Fehler, die nunmehr aufgrund der beschriebenen canones als grammatische Figuren wahrgenommen und ausgelegt werden können. Auch hier liegt eine Analogie zur klassischen Rhetorik vor, wonach sprachliche Laster durch Konvention zu „Tugenden“ werden können.258 Mit Nachdruck wehrt sich Glassius gegen die Meinung, bei Tautologien handele es sich um „Sünden“ der Schrift.259 Auch Pleonasmen sollen nicht kritisch bespöttelt, sondern im Geist und im Glauben bewundert werden.260 Mit einem Lutherzitat hält Glassius zur Sintflutgeschichte (Gen 6–8) fest, daß es kein Wunder ist, wenn Mose angesichts des Zornes Gottes mit Tränen in den Augen sich beim Schreiben oftmals wiederhole, zumal er auf diese Weise nun auch selbst die Stacheln der Gottesfurcht die Seelen der frommen Leser spüren lassen könne.261 Diese Klärung vermeintlicher Fehler betrifft dann zum andern auch die biblische Chronologie, wenn man die Gewohnheit der Schrift wahrnimmt, „quae tempus & annos quandoque complete, quandoque incomplete intelligendos numerat, uti in chronologia docetur“.262 Auch die Verwendung der Figur der narrativen „Synchyse“ ist hier zu beachten, die dann vorliegt, wenn Erzählzusammenhänge nicht in der historischen Ordnung wiedergegeben werden, sondern einmal antizipierend, ein andermal rekapitulierend geredet wird.263 Hierher gehört zudem der Gebrauch der temporalen Adverbien, die in der Botschaft der Propheten immer wieder eine Dringlichkeit und Zeitknappheit markieren, was dann durch die tatsächlich ablaufenden Zeiträume kontrastiert wird. Christus und seine Apostel folgen dieser Gewohnheit der Propheten, wenn sie vom Jüngsten Tag sprechen. Diese Gewohnheit wird vom Heiligen Geist aus dem doppelten Grund angewen257 Sp. 911. 258 Vgl. Lausberg § 1063: „Die Schwierigkeit der Unterscheidung [zwischen virtus und vitium] trifft erst recht für die Bereiche der Grammatik und der Rhetorik zu, wo sogar vitia durch Konvention zu virtutes erklärt werden können […].“ 259 Vgl. Sp. 1230 f. 260 Vgl. Sp. 1230: „Quare si quicquam abundare in eo (= verbo Scripturae), id admirandum potius Spiritu & fide, quam eludendum & irridendum carnali affectu est.“ 261 Vgl. Sp. 1231: „Nam neque Moses sine largis lacrymis scripsisse haec videtur. Ita enim totus in illud horribile spectaculam irae, oculis atque animo intentus est, ut non possit non saepe eadem repetere. Facit autem id sine dubio eo consilio, ut hos quasi aculeos timoris Dei piorum Lectorum animis infigat.“ (= WA 42,330,27–31) Vgl. für das vollständig von Glassius übernommene Zitat WA 42,330,9–31. 262 Sp. 667. 263 Vgl. aus dem vierten Buch, Sp. 1255: „Narratio enim rerum factarum non semper eo, quo contigere, ordine historico instituitur, sed quandoque […] per anticipationem, quandoque […] per recapitulationem, ut loquuntur, aut postpositionem.“
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det, die Menschen einerseits aus falscher Sicherheit zu reißen und andererseits ihrer Neugierde zu wehren.264
4.3.3 Die „textuales controversiae“ Wiederholt weist der Philologe darauf hin, daß die Unkenntnis der grammatischen Regeln sowie der grammatischen Figuren häufig zu Fehlübersetzungen und Fehlinterpretationen der Heiligen Schrift führt. Solche Fehler findet Glassius besonders oft in der Vulgata,265 aber auch bei Kirchenvätern266 und bei Luther.267 Darüber hinaus gibt es freilich neben einem dem rechten Verständnis der Schrift förderlichen Gebrauch der grammatischen Figuren auch einen schädlichen abusus. Dieser liegt dann vor, wenn die entsprechende Anwendung einer Regel zu einer Auslegung eines Textes führt, die entweder dem unmittelbaren Textzusammenhang oder dem Skopus der Schrift und damit der regula fidei widerspricht.268 Der Textzusammenhang oder die regula fidei müssen also umgekehrt gleichsam die Zuflucht zu einer grammatischen Figur erzwingen, wie Glassius am Beispiel der Enallage ausdrücklich bezeugt: „Ideoque ad enallagen […] nulla ratione deveniendum, nisi forsan ipsa necessitas interpretationis evidens id imperaret.“269 Wird das nicht beachtet, so kommt es zum Mißbrauch der Regeln über die grammatischen Figuren, der wiederum häufig einer spezifischen Irrlehre Vorschub leistet, wie Glassius in vielen kleinen Exkursen mit alternativen
264 Vgl. zu Mt 24,29 Sp. 951 f.: „[…] evuqe,wj, illud non ad nostrum computum, sed divinum, metiendum est, in quo dies mille, sicut dies unus, Psal. 90, 4. 2. Petr. 3, 8. Et sequitur Christus hac voce consuetudinem Prophetarum, qui tum de judiciis particularibus, tum de die universalis judicii, sic loqui solent, ac si esset in propinquo, etiamsi aliquot seculis ab ipsorum temporibus abfuerit, Deut. 32, 35. Esa. 5, 26. Soph. 1, 14. 15. &c. Idem & Apostoli Domini secuti sunt, qui to. evuqe,wj Magistri sui ita exprimunt, ut totum illud tempus, quod a primo Christi adventu ad ultimum usque intercedit, vocent ultimum, imo novissimam horam. […] Et haec loquendi de extremae diei propinquitate ratio, a Spiritu sancto adhibetur, (1.) ad excutiendam hominibus securitatem, Matth. 24, 47. 1. Thess. 5, 1. 2. 3. 4. (2.) Ad occurrendum curiositati temere scrutantium dies ac tempora, Act. 1, 7. &c.“ 265 So macht die Vulgata in Gen 48,16 aus dem „vocare“ ein „invocare“, womit päpstliche Theologen dann die Heiligenanrufung begründen (vgl. Sp. 744 f.). 266 Zu Augustins Interpretation von Ex 6,4 schreibt Glassius lapidar: „Si Hebraismum novisset vir sanctus, non ita fuisset locutus.“ (Sp. 740) 267 Glassius korrigiert Luthers Deutung des Tales „Ben Hinnom“ (Jos 15,8), da Luther nicht erkannt habe, daß es sich bei Ben Hinnom um einen Eigennamen handelt (Sp. 663 f.). 268 Vgl. Sp. 903: „Ex tota Scripturae sacrae […] analogia idem conspicitur.“ 269 Sp. 929, hier zur Enallage „praesentis pro praeterito“ beim Partizip.
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Lesarten biblischer Texte römischer, calvinistischer, schwärmerischer oder antitrinitarischer Herkunft vorführt, die er in seine Grammatik einstreut. Päpstliche Theologen etwa mißbrauchen die Regel, wonach Bezeichnungen auch noch für Sachen gebraucht werden können, wenn die Realitätsgrundlage für diese Bezeichnungen gar nicht mehr vorhanden ist, als Argument für die Transsubstantiationslehre („Wandlungslehre“), indem sie die Bezeichnung der Eucharistie als „Brot“ fälschlicherweise nur tropisch gelten lassen.270 Ein Antitrinitarier, dessen Argument Glassius behandelt, erkennt nicht, daß es sich in dem Gebetsruf des Stephanus in Apg 7,59 „Herr Jesu“ bei „Jesu“ um eine Apposition handelt, so daß jener hier konstruiert, der Märtyrer rufe nicht Jesus, sondern den Vater Jesu an.271 Bei den in Gen 1,26 verwendeten hebräischen Worten ~l,c,, und tWmd> wiederum handelt es sich um zwei um der Gewichtigkeit der Sache willen gesetzte Synonyme,272 was nach Glassius aus der collatio dieser Stelle mit Gen 5,3, Eph 4,23 und Kol 3,10 erhellt wird und gegen päpstliche Theologen festzuhalten ist, die den Verlust der Gottebenbildlichkeit des Menschen nach dem Fall bestreiten.273 Das für das Wort Gottes in 1Joh 1,1 gebrauchte Neutrum wird von den Sozinianern mißbraucht als Beleg für die fehlende Göttlichkeit des Logos, wohingegen die collatio mit Joh 1,1.14 zeigt, daß das Neutrum in 1Joh 1,1 in einer „Enallage generis“ fürs Maskulinum steht.274 Bei den Abendmahlsworten sind es calvinistische Theologen, die mit dem Neutrum des Demonstrativpronomens gegen die Realpräsenz des Leibes im Brot streiten. Dem hält Glassius die Regel entgegen: „Neutrum genus quandoque pro masculino usurpatur“275 und schließt: „Res ipsa autem tamen Scripturae voci & fidei analogiae conformis est.“276 Einen Mißbrauch der Regel, daß Gattungsbezeichnungen im Plural für Realitäten im Singular gebraucht werden können, sieht Glassius, wenn die Rabbinen den Gottesnamen Elohim dieser Regel zuordnen. Dagegen spricht für den Thüringer, daß Elohim kein „nomen appellativum“ ist, da das Wort auch für plurale Stellvertreter wie Richter, Magistrate, Engel und Götzen gebraucht wird.277 Liest man es aber ausdrücklich als göttlichen Eigennamen („nomen proprium“), so kann man darin im Kontext der gesamten Schrift einen Hinweis auf das Geheimnis der Trini270 Vgl. Sp. 541 f. 271 Vgl. Sp. 544. 272 Vgl. Sp. 553, 644. 273 Vgl. Sp. 553 f., in Anwendung der Regel: „Duo substantiva, vel synonyma, vel disparatae significationis, conjunguntur, & eorum alterum adjectivi vicem sustinet, ejusque habet significationem cum emphasi.“ Zur Sache vgl. auch den Exkurs zu Gen 9,6 gegen die Photinianer (Sp. 733). 274 Vgl. Sp. 606 f. 275 Sp. 605. 276 Sp. 608. 277 Vgl. Sp. 620.
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tät erkennen.278 Wird die Möglichkeit sowohl einer Ellipse der Artikel im griechischen Text des Neuen Testaments als auch eines emphatischen Gebrauchs derselben nicht beachtet, so kann es zu vielfältigen theologischen Irrtümern kommen, wie Glassius wiederum in Auseinandersetzung mit Arianern und Antitrinitariern, aber auch mit Vertretern calvinistischer Abendmahlslehre zeigt.279 Die Beobachtung, daß Demonstrativpronomen bisweilen auf weiter zurückliegende Sachverhalte verweisen, macht es für Glassius plausibel, daß Christus in Mt 16,18 mit „diesem Felsen“, auf den er seine Gemeinde baut, nicht auf den gerade erwähnten Petrus verweist, sondern auf dessen im Vers vorher abgelegtes Christusbekenntnis bzw. auf Christus selbst als dessen Inhalt, womit eine wesentliche Grundlage für die päpstliche Lehre vom Primat des Petrusamtes entkräftet ist.280 In der Auseinandersetzung mit den Photinianern dagegen erkennt Glassius einen Mißbrauch dieser Regel, wenn diese in antitrinitarischer Absicht auf 1Joh 5,20 angewendet wird. Wenn der Skopus der Schrift es nicht anders erzwingt, ist an der Regel festzuhalten, daß das Pronomen normalerweise auf das Nächstliegende zurückblickt.281 Die „Enallage generis“, der Austausch also der grammatischen Geschlechter, der vorliegt, wenn in Joh 15,26 und 16,13 f. das Maskulinum-Pronomen für den Heiligen Geist gebraucht wird, der im Griechischen neutrales Geschlecht hat, zeige, daß es sich beim Heiligen Geist wirklich um eine Person handelt.282 Auch Belege aus der Septuaginta kann Glassius anführen, wenn er beispielsweise den Hinweis von Chemnitz erwähnt, das dort in Gen 3,15 gebrauchte Demon-
278 Vgl. Sp. 620: „Cur nomen hoc plurale in scripturis Deus sibi indiderit, non ex humanae rationis lacunis, nec ex regulis proprio arbitrio excogitatis, sed ex ipso purissimo veritatis fonte, scripto scil. verbo Dei, eruendum & cognoscendum est. Illud vero Sacrosanctae Triados personarum, in una simplicissima essentia divina, mysterium clarissime tradit, & voci plurali ~yhil{a/ idem mysterium exprimi, descriptio creatoris Elohim, Gen 1, & alibi saepius, in Scripturis tradita ostendit. Addendum tamen, quod nomen Elohim proximo significatu personarum pluralitatem in Divina essentia innuat, non determinate Trinitatem.“ 279 In der Auseinandersetzung mit den Photinianern geht es um Gebrauch oder Nichtgebrauch des Artikels vor „Gott“ (vgl. Sp. 699 f.), in der Auseinandersetzung mit dem calvinistischen Theologen Johannes Langus geht es um den betonten Gebrauch des Artikels in den Einsetzungsworten des Abendmahls (vgl. Sp. 703). 280 Vgl. Sp. 713: „Nota de demonstrativo. Quod de relativis dictum, quod aliquando remotiora respiciant, idem de demonstrativo […] verum est.“; Sp. 714: „Huc pertinet Matth. 16, 18. […] Non super Petro, cujus mentio immediatè praecedit, sed super CHRISTO JESU, quem Petrus v. 16. confessus est […].“ 281 Vgl. Sp. 714: „Abutuntur autem hac observatione Photiniani […]. Verum non frustra fuit suprà monitum, cautissime videndum esse, ne à textu & vero scopo fiat aberratio. In quibusdam locis relativi & demonstrativi ad remotiora fit relatio, sed absit, ut in omnibus.“ 282 Vgl. Sp. 726: „Significatur hac enallage masculini pronominis, ad nomen neutrum relati, quod Spiritus S. sit vere persona.“
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strativum zeige an, daß es beim Feind der Schlange nicht um das abstrakte Menschengeschlecht, sondern um einen konkreten Menschen gehe.283 Daß Verben auch im Sinne der Zulassung verstanden werden können, macht es möglich, die sechste Vaterunserbitte so zu verstehen, daß Gott nicht als Ursache der Versuchung gilt.284 Verben des Wollens wiederum müssen nicht absolut verstanden, sondern können hinsichtlich eines konkreten Umstands gelesen werden, so daß man aus Stellen wie Mt 11,27 oder Röm 9,18 (und anderen) nicht einerseits eine Allversöhnung oder andererseits eine doppelte Prädestination ableiten darf, sondern darin die konkrete, kontingent sich ereignende Zuwendung oder Abwendung Gottes vom Menschen erkennen kann.285 Die Regel, daß Verben die Manifestation, Bezeugung oder Deklaration eines Aktes zum Ausdruck bringen können, macht es wiederum möglich, eine Stelle wie Jak 2,21 mit dem paulinischen Rechtfertigungsverständnis zu harmonisieren, weil nämlich so die Werke (Abrahams) nicht als Grundlage des Glaubens, sondern als dessen Ausweis verstanden werden können.286 „Verba affirmantia pro contrariis negantibus quandoque ponuntur.“287 So lautet die Regel, die es erlaubt, Stellen, an denen vom „Hassen Gottes“ im genitivus subjectivus die Rede ist oder Menschen zum Hassen aufgerufen werden, dem sonstigen Kontext der Heiligen Schrift gemäß zu verstehen. Demnach zielt der von Paulus in Röm 9,13 erwähnte Haß Gottes auf Esau auf ein kontingentes Ereignis und würde keineswegs dessen ewige Verwerfung markieren.288 Jesu Gebot an die 283 Vgl. Sp. 726 (unter Hinweis auf ein Zitat aus den Loci von Chemnitz). 284 Vgl. Sp. 773: „Verbum, quod actionem seu effectum notat, de permissione seu concessione ejus quandoque intelligendum est.“ Auf Grundlage dieser Regel deutet Glassius ebd. die Vaterunserbitte: „Ne nos inducas in tentationem“: „h. e. ne permittas nos induci“. Das entspricht der regula bzw. der collatio mit anderen Stellen der Schrift, in denen Verursacher der Versuchung benannt werden (Mt 4,3, 1Thess 3,5, Jak 1,14). Vgl. auch die Auslegung Luthers im Kleinen Katechismus (BSELK 880,7–11). Analoges gilt für andere Stellen, in denen Gott als Subjekt solcher Verben zu stehen kommt, die schuldhafte Werke zu bringen scheinen, auch hier muß die Analogie der ganzen Schrift beachtet werden, wonach Gott die Sünde haßt und nicht deren Ursache ist (vgl. Sp. 814 mit einem Hinweis auf Wolfgang Franz’ Ausführungen über CA 19). 285 Vgl. Sp. 778. 286 Vgl. Sp. 787 f., mit der Regel in Sp. 781 f.: „Verba, quae fieri, esse, vel agere quid significant, quandoque non tam essentiam vel actum, quam ejusdem notificationem, qualiscunque illa sit, & praenunciationem denotant.“ 287 Sp. 799. 288 Vgl. Sp. 800. Bei Prophetien ist entsprechend darauf zu achten, daß die Kausalkonjunktion „damit“ nicht immer den finalen Zweck, sondern oft die unweigerlich eintretende Folge angibt, so daß man bei Prophezeiungen schwerer Strafen nicht schließen müsse und dürfe, Gott selbst wolle das Böse, zumal mit den Strafen zumeist bereits eingetretene Zustände wie die Verhärtung der Herzen bekräftigt werden (vgl. Sp. 1126–1128, mit der Regel Sp. 1122 f.: „Causalis conjunctio ![:m;l., i[na, ut, & aequipollentes, non semper notant causam rei finalem, sed saepius sequelam tantum, aut eventum.“). Die Lehre von der doppelten Prädestination – auch hier folgt Glassius dem
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Seinen, um der Nachfolge willen anderes und sich selbst zu hassen (Lk 14,26, Mt 10,37, Joh 12,25), kann man so komparativisch auslegen als Signal für das Setzen der richtigen Priorität.289 Wenn wiederum menschlichen Gottesboten Tätigkeiten zugeschrieben werden, die einerseits ihre Fähigkeiten übersteigen, andererseits nur von Gott ausgesagt werden können, dann wird daran deutlich, daß die irdischen Subjekte hier als „causa organica“ bzw. „administri“ zu verstehen sind.290 In ähnlicher Weise gilt für alle Ermahnungen, in denen der menschliche Wille zu etwas aufgefordert wird, was nach dem Zeugnis der Schrift allein durch Gott gewirkt werden kann: Auch hier sollen die Adressaten die Verben im Licht ihrer „causa organica“ deuten und sich an jene von Gott geordneten Mittel halten, wodurch Gott allein eben jene Bekehrung und jenes Heil wirkt, zu denen er sie zuvor aufgefordert hatte.291 Daß im Hebräischen erste und dritte Person gerne wechselseitig benutzt werden,292 führt Glassius gegen Sozinianer und Stifelisten zur Bekräftigung dafür an, daß Paulus in Röm 7,14 ff. von sich selber redet und nicht etwa vom Menschen im unwiedergeborenen Stand.293 Einen Mißbrauch der seltenen Regel, daß ein Pluralverb für den Singular vorkommt, erkennt Glassius in der Deutung von Gen 1,26 („Lasset uns Menschen machen“) im Sinne eines Pluralis majestatis, für den es sonst kein Beispiel in der Schrift gebe.294 Die Regel, daß die „Conjunctio causalis“ nicht nur begründend, sondern wie etwa in Joh 8,44 oder 10,26 auch schlußfolgernd gebraucht werden kann, führt Glassius zum Hinweis, so ließen sich auch gegen die päpstliche Auslegung Stellen wie Mt 25,34 f., Lk 7,47 und Joh 16,27 dem
lutherischen Bekenntnis (vgl. BSELK 1560–1597) – wäre mithin eine Blasphemie. Vgl. Sp. 1130: „Quid autem hinc, nisi blasphema, de Deo creante impios ad perditionem & absolute eos reprobante, doctrina sequitur?“ 289 Vgl. Sp. 799 f. 290 Sp. 808. Vgl. ebd. zu Dan 12,3: „Justificare verbi praecones dicuntur, quia verbum DEI tractant, & hominibus proponent, per quod medium DEUS homines justificat.“; ferner Sp. 809 zu Mt 19,28, Lk 22,30, Joh 12,44 und Röm 2,6: „Quia verbum Christi judicabit impios, igitur etiam Apostolis, qui verbum illud mundo proposuerunt & manifestarunt, ea actio tribuitur.“ 291 Vgl. Sp. 809 f. zu Ez 18,31: „Hoc opus solius DEI est, per verbum salutis cor novum & Spiritum novum in hominibus creantis, Psal. 51, 12. 13. Ezech. 36, 26. cap. 11, 19. Jer. 31, 33. Exhortatur autem de hoc faciendum DEUS homines, ratione mediorum divinitus ordinatorum, quibus ut rite sine reluctantia utantur, & sic DEO in ipsis operanti conversionem & salute, locum haud inviti concedant, vult & monet.“ 292 Vgl. Sp. 898: „Personae verborum Hebraeorum inter se non raro commutantur.“ 293 Vgl. Sp. 898: „Locus Rom. 7, 14. seqq. ab aliquibus huc refertur, ac si in illo Paulus in prima persona loquens, in persona hominis irregeniti loqueretur.“ 294 Vgl. Sp. 902 f.
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Maßstab der Rechtfertigung bzw. der nach 1Joh 4,10.19 unserer Liebe und unseren Werken vorauslaufenden Liebe Gottes zu uns gemäß verstehen.295 Die Beispiele lassen sich hier auch nicht annähernd vollständig aufzählen, mit denen Glassius seine in seiner oben besprochenen Lobrede auf die hebräische Sprache formulierte Wahrnehmung veranschaulicht, daß es sich bei vielen theologischen Streitfragen letztlich um „controversiae textuales“ handele.296 Oft ergeben sich aus seinen Beobachtungen längere Exkurse zu zwischen den Konfessionen umstrittenen exegetischen oder dogmatischen Fragen, die sich über mehrere Spalten hinziehen können.297 Thematisch dominieren dabei die Rechtfertigungslehre298 in Auseinandersetzung mit päpstlichen Theologen, die Abendmahls- und die Prädestinationslehre in Auseinandersetzung mit calvinistischen Positionen sowie die Trinitätslehre, die immer wieder in Auseinandersetzung mit antitrinitarischen Lesarten des Alten Testaments virulent wird. Von besonderer sprachtheologischer Bedeutung sind jene Stellen, in denen durch den Idiotismus oder auch durch die jeweils verwendete grammatische Figur grundlegende theologische Sachverhalte nicht nur bezeichnet, sondern unmittelbar sprachlich abgebildet und realisiert werden, so etwa wenn in doppelter Anwendung der zur „Enallage“ gehörenden Regel „Saepius abstractum pro concreto […] cum insigni emphasi & energia ponitur“299 in 2Kor 5,21 von Christus gesagt wird, er sei für uns zur Sünde gemacht, wodurch wiederum die Gläubigen die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.300 Für den „Idiotismus“ ist hier nach Glassius auf
295 Vgl. Sp. 1118–1120 mit der Regel in Sp. 1117: „Causalis conjunctio […] non notat semper causam rei, sed saepe rationem conclusionis.“ 296 Sp. 523. 297 So nimmt Glassius die Besprechung von Joh 8,58 unter der Rubrik „Aoristus pro futuro“ zum Anlaß für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem photinianischen Leugner der Präexistenz und Gottheit Jesu Faustus Socinus (1539–1604). Vgl. Sp. 885–889. 298 Die Besprechung der Präpositionen nimmt Glassius zum Anlaß für einen Exkurs zur Rechtfertigung, indem er anhand verschiedener Präpositionen nach Röm 3,22 ff., aber auch anderen Stellen die „causae justificationis“ (hier um der Kürze willen lateinisch wiedergegeben) durchgeht: „(1.) De causa efficiente primaria, quae gratia Dei est. […] (2.) De causa meritoria. […] per redemtionem […] (3.) De causa impellente […] propter peccata nostra […] (4.) De causa instrumentali ex parte Dei. […] per Evangelium […] (5.) De causa instrumentali ex parte nostra, seu de fide salvifica […] (6.) De causa formali, seu de peccatorum remissione. (7.) De causa finali. […] ad gloriam suam […].“ (Sp. 1046) 299 Sp. 555. 300 Vgl. Sp. 557: „Fecit eum (Christum) peccatorem summum, non peccatis propriis, sed alienis, ipsi ut sacrificio vero propitiatorio imputatis & impositis. Et iterum: Ut fieremus justitia, h. e. perfecte justi; videl. in ipso, & per imputationem perfectissimae Christi justitiae.“ Es folgt ebd. ein nicht nachgewiesenes Chrysostomuszitat: „Chrysost. Justum fecit peccatorem, ut peccatores faceret justos. Imo neque sic dixit, sed quod multo majus erat; non enim qualitatem posuit, sed substan-
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Verben wie rufen, sagen, lehren, segnen, fluchen u. a. m. zu verweisen, die markieren, daß das, was gesagt wird, zugleich als Realität gesetzt und vollzogen wird: „Voces verbales pro realibus ponuntur, ita ut dictum pro facto; & vocare seu appellare pro facere; vocari vero pro fieri seu esse sumantur.“301 Auch bei den Eigennamen für biblische Orte und Personen, denen Glassius im vierten Buch einen eigenen Traktat widmet,302 gibt es nicht nur eine große Variabilität, so daß viele von ihnen eine metaphorische oder typologische Bedeutung haben. Darüber hinaus gilt gerade etwa für die messianisch zu deutenden Namen wie Immanuel, daß in ihnen der Name für die Sache selber steht, bzw. daß als Wirklichkeit gesetzt wird, was gesagt wird.303 Wie wichtig dieser Sachverhalt für Glassius ist, zeigt sein Werk „Onomatologia Messiae Prophetica“, in dem er alle hebräischen Namen aus dem Alten Testament bespricht, die sich im gesamtbiblischen Kontext messianisch deuten lassen und die durchweg realiter entweder Christi göttliche oder menschliche Natur oder aber die für sein Heilswerk relevanten Ämter oder schließlich die ihm um dieses Heilswerks willen im Lobpreis beigelegten Ehrennamen („nomina honoris“) bezeichnen, von denen wiederum einige im Wortsinn, andere tropisch oder im übertragenen Sinn zu verstehen sind.304 Hierher gehört schließlich auch die von manchen als pleonastische Redundanz, von anderen als Hypallage wahrgenommene Rede vom „Namen Gottes“, tiam: non dixit, peccatorem, sed peccatum: ut nos fieremus, non dixit, justi, sed justitia, & justitia Dei. Dei enim est ista, quando non ex operibus, sed a gratia fit justificatio.“ 301 Sp. 790, Glassius zitiert hier, wie andere diese Regel fassen („Alii sic proponent“). Er selbst formuliert sie so: „Verba, quae rei appellationem vel notificationem significant, quandoque pro ipsa rei productione & essentia usurpantur.“ 302 Vgl. Sp. 1261–1394. 303 Vgl. Sp. 1383: „Nomen vel vere vel quasi proprium, alicui vel homini, vel rei, imponi dicitur, cum indicetur res ipsa, tali nomine significata. Seu brevius: nomen ponitur pro re ipsa. Talis quandoque vocatur quis, qualis vocari dignus.“ 304 Vgl. Onomatologia Messiae Prophetica (Jena 1624), in: Glassius, Opuscula, S. 375–510 (= OMP), hier S. 377 f. (Appellationum Messiae distributio): „Uti DEI, ita Messiae quoque nomina & appellationes varie distinguuntur. 1. Quaedam proskei,mena sunt, quibus subjectum ipsum, Salvator noster significatur, qualia sunt Jesus, Christus, Immanuel, quaedam u`pokei,mena, quae praedicantur de subjecto, & instar attributorum sese habent, qualia sunt, Mirabilis, Consiliarius, Deus fortis, Pater aeternitatis, Dux Pacis, Jes 9,7. […] 2. Quaedam sunt naturalia quae naturas in Christo exprimunt, ut DEUS, Jehova, Filius Dei. Item: Homo, Filius hominis, semen Abrahae, Schilo etc. Quaedam personalia quae personam theanthroopon designant, ut Immanuel. Quaedam officialia, quae ad officium Christi denotandum adhibentur, ut Sacerdos, Propheta, Rex etc. 3. Quaedam sunt nomina naturae, ut Immanuel: quaedam officii, ut Salvator, Rex. Quaedam Impositionis, ut Jesus, & cognomen Christus. 4. Quaedam sunt nomina honoris, ut Jehova, Rex gloriae, Dominus exercituum: quaedam amoris, ut Pastor, Princeps Pacis, Lux gentium. Quaedam denique laboris, ut servus DEI, & alia quae officium ejus sacrosanctum concernunt. 5. Quaedam sunt nomina potentiae, quaedam v. gratiae, […] 6. Quaedam sunt propria, quaedam modificata & tropica.“
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denn nach Glassius gilt: „Nomen Dei, h. e. ipse Deus“, weshalb unter dem Namen Gottes in der Schrift auch wiederholt die „essentia & voluntas“ Dei verstanden werden.305 In diesen Kontext ist es einzuordnen, wenn Glassius im Trishagion aus Jes 6,3 in der dreifachen Ausrufung des Gottesnamens eine dreifaltige Realisierung der Gottheit und damit einen Hinweis auf die Trinität erkennt, was allerdings in Klarheit erst durch die collatio mit neutestamentlichen Stellen angezeigt wird. Ähnliches gilt für Stellen wie Ps 110,1, Jes 48,16, Jer 23,5 f., Hos 1,7, Sach 2,8–11 und Sach 3,2, in denen der Gottesname mehrmals an verschiedenen Positionen im Satzgefüge vorkommt, worin Glassius eine „distinctio personarum“ erkennt.306
4.3.4 Die Grammatik und die Theologie Wie Grammatik und Theologie sich für Glassius gegenseitig durchdringen, bringt er auf unnachahmliche Weise zum Ausdruck, wenn er zum Schluß eines jeden Traktates in den Büchern III und IV seiner Philologia das jeweils behandelte grammatische Phänomen z. T. mit Hilfe von kunstvollen Wortspielen umschreibend in einem Distichon aufnimmt. Diese Distichen formulieren die geistlichen Intentionen und Wirkungen der Schrift in ihren grammatischen Phänomenen aus, was Glassius jeweils durch Hinzufügung von ein oder zwei originalsprachlichen Versen oder Versteilen aus dem Alten oder Neuen Testament unterstreicht.307 Das erste Distichon zum Tractatus „De Nomine“ beginnt mit einem solennen „est“ und reflektiert die Zuverlässigkeit des Gottesnamens, der nach dem sodann zitierten Vers Spr 18,10 einer festen Burg gleicht, in der der Gerechte sichere Zuflucht findet. Die durch das „est“ markierte Realität und Gewißheit des Gottes-
305 Vgl. Sp. 672: „Redundare dicitur […] nomen in phrasi Nomen Dei, h. e. ipse Deus. Ps. 20. 2. Te in edito collocet nomen Dei Jacob, h. e. Deus Jacob. Alii hypallagen hic ponunt; nomen Dei, h. e. Deus nominis seu nominatissimus & laudatissimus, ut Psal. 18, 4. vocatur. Sic invocare nomen Domini, diligere nomen Domini, psallere nomini Dei, est verum Deum invocare, diligere, laudare. Simplicissime autem dicitur, appellatione nominis Dei respectum haberi ad Deum in verbo revelatum, & quasi nominatum, seu certo nomine expressum, quod sit Deus Pater, Filius & Spiritus sanctus, &c. Unde nomine Dei ipsius essentia & voluntas, qua in verbo patefacta est, non raro intelligitur, Joh. 17, 6. Actor. 9, 15. &c. Dei item autoritas & mandatum, Deut. 18, 19. Jer. 14, 14. Majestas & gloria hominibus verbo & miraculis ostensa, Exod. 9, 16. Psal. 8, 2. Cultus & professio fidelis, 2. Sam. 7, 13. unde ambulare in nomine Dei est ipsum agnoscere & colere, Mich. 4, 5.“ 306 Vgl. zu diesen Stellen Sp. 597 gegen den „abusus“ durch die photinianischen Antitrinitarier, ähnlich Sp. 721, wo Glassius nach Aufzählung derselben Bibelstellen unter Ergänzung von Jer 33,15 feststellt: „In his ad enallagen confugi non potest, cum distinctio personarum nimis sit evidens.“ 307 Siehe zu den folgenden Paraphrasen die Texte der Disticha mit den von Glassius hinzugefügten orginalsprachlichen Bibelzitaten unten Kap. 4.3.5, S. 165–167.
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namens wird im Distichon zum Pronomen ergänzt um die intensive Meditation der Liebesrelation zwischen Jesus und der Seele, was durch das biblische Motto aus Hld 6,2 noch unterstrichen wird. Die parallel formulierte Vertrauensaussage („Ich bin DEIN, du bist MEIN, Jesu!“) und die Bitte darum, daß es so bleiben möge, rahmen den grammatiko-theologischen, affektheischenden Zwischensatz: „o süß sind die FÜRWÖRTER (= PRONOMINA) dem Herzen!“ Das Distichon zum Verbum verbindet den Lobpreis dafür, daß im Wort Leben, Heil, Weg, Licht, Speise und Medizin bereitet sind, mit der Bitte an den gütigen Christus, dies alles zu erhalten. Glassius spielt dabei mit der Ambivalenz von Verbum als Tätigkeitswort und Verbum als lateinischer Übersetzung für den Logos, der in Christus Mensch geworden ist (Joh 1) und der sich selbst in der Schrift als Leben, Heil, Weg, Licht, Speise und Medizin für die Menschen vorstellt. Biblisches Motto ist mit Ps 33,4 ein Schlüsselwort über die Zuverlässigkeit und Wirksamkeit des Wortes Gottes. Das Partizip gibt Glassius dann die Gelegenheit, im nächsten Distichon in direkter, bekennender und bittender Anrede an Christus die wechselseitige Partizipation zwischen diesem und den Gläubigen zu meditieren. Daß die Gläubigen Christus haben als Teilhaber ihres Fleisches, wird durch Joh 1,14 unterlegt, die Bitte, daß wir Teilhaber seines Lebens sein mögen, durch Joh 1,4. Besonders kunstvoll geht Glassius beim Distichon zum „Adverbium“ vor, indem er dieses Wort dreiteilt und es so mit einer Anfügung zu einem präpositionalen Satzauftakt umwandelt, der da lautet: „AD VERBI UMbonem“ (übers.: Zum Schild des Wortes). Beschrieben wird die Wirkung des Wortes als Schild und Schwert im Kampf gegen die Gefahren, die den Gläubigen anfechten, wie durch Zitate aus Eph 6,16 und 6,17 erläutert wird. Geht es in diesem Distichon um die Anfechtung durch Glaubensfeinde, so im nächsten Distichon zum Traktat über die Präposition um den Kreuzesweg der Gläubigen. Auch hier spielt Glassius mit den Buchstaben: In Normalschrift druckt er die Präposition „Ex“, mit der der Ausgang der Gläubigen aus der Welt bezeichnet wird, eine Wirkung des Gesetzes, das zur Umkehr ruft. In Kapitälchen dann läßt er die weiteren Präpositionen drucken, die so zeigen, daß das Leben mit Christus, das durch Trübsale zu den Sternen führt, zu den Wirkungen des Evangeliums gehört. Was den Gläubigen von Gott her auf diese Weise im Guten und im Schweren „vorangestellt“ (PRAEPOSITA) ist, ist im Tal der Tränen der selige Weg, was schon apostolischer Einsicht nach Apg 14,22 entspricht. Das Distichon über die Konjunktion nimmt wieder die Verbindung Jesu und der Seele auf. Die Bitte, diese Verbindung möge bleiben, wird durch die Verheißung aus 1Kor 6,17 beantwortet. Im Distichon über die Interjektion thematisiert Glassius die unvermeidlichen Fallstricke des Lebens, die auf dem Weg der Frommen ausgelegt und von diesen zu meiden sind. Denn nur wer auf den irdischen Warnruf hört, kann dem ewigen „Wehe“ entgehen, das nach Mt 18,7 von Christus dem Menschen angekündigt wird, der andere zum Abfall verführt.
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Auch den drei Traktaten im vierten Buch fügt Glassius jeweils ein Distichon an. Den Traktat über die hebräischen Präfixe nimmt er zum Anlaß, über das den Christen VORGESETZTE Lebensziel zu meditieren. Es wird nicht zu weit gehen, wenn man in der Aussage, wer das Ziel erreichen möchte, der möge sich der Sünde enthalten und Hartes ertragen, eine figürliche Übertragung der grammatischen Regeln erkennt, wonach sich des Fehlers enthalten und doch auch sprachliche Härten ertragen muß, wer die Schrift recht verstehen will. Das biblische Motto 1Kor 9,24 f. thematisiert die Askese, die nach apostolischem Rat dem Erreichen des Ziels im Bereich des Lebenskampfes wie auch des Sprachkampfes dient, zumal Glassius ja pugnare und docere miteinander verbinden kann.308 Bei den Härten des Lebens wie der Sprache verharrt Glassius dann auch in seinem Distichon über die grammatischen Figuren, welches in sich das schwierigste unter seinen Distichen darstellt. Im Stil einer Legende hat er in den Sinnspruch die Buchstaben a bis e eingefügt, die am Rand als die fünf grammatischen Hauptfiguren entschlüsselt werden. Zugleich stehen an der entsprechenden Stelle im Distichon selbst nun den Figuren analoge Lebensanfechtungen. Der Ellipsis entspricht fehlender Friede, dem Pleonasmus überfließendes Übel. Ungewollte Änderungen (Enallage) und Wandlungen (Hypallage), die sich in der Lebenserfahrung zu einer üblen Vermischung (Synchyse) summieren, werden auf „die Rechte des Hohen“ und damit auf Gott, wenn nicht sogar auf Christus zurückgeführt, der nach biblischer Überlieferung mit der „Rechten Gottes bzw. des Vaters“ identifiziert wird. Letztlich nutzt Glassius so die Reflexion über die grammatischen Figuren, die etwas Unvorhersehbares in die Sprache hineinbringen, für eine Meditation über den Deus absconditus, der trotz der in der Schrift offenbaren Verheißungen im Lebensvollzug immer wieder auch und gerade den Gläubigen unliebsame Überraschungen beschert, wie das von Glassius gewählte Motto aus Ps 77,11 deutlich macht: „Darunter leide ich, daß die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann.“ Glassius weist in beiden Büchern seiner Grammatica sacra darauf hin, daß er den letzten Traktatus über das „Nomen proprium“ eigentlich unmittelbar nach der Behandlung des Nomens hätte besprechen können.309 Daß er das „Nomen proprium“ dennoch ans Ende gestellt hat, hat jetzt den Vorteil, daß er mit einer Meditation des Namens Jesu evangeliumsgemäß schließen kann. So aber entsteht ein denkbar großer Kontrast zwischen den sprachlichen Härten der grammatischen Figuren und der Eindeutigkeit und Klarheit des Namens Jesu, zwischen den im vorletzten Distichon reflektierten Ungewißheiten angesichts des Deus absconditus
308 Vgl. z. B. Sp. 510 f. 309 Vgl. Sp. 531 und Sp. 1261.
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und der Heilsgewißheit angesichts des Deus revelatus, die durch das abschließende Schriftmotto aus Apg 4,12 unterstrichen wird. Führt man sich die Distichen auf diese Weise im Gesamtzusammenhang vor Augen, so kann man nicht umhin, hier bei der Reflexion der sprachlichen Phänomene die implizite Aufnahme der von Glassius bei Rabbi Kimchi aufgefundenen triadischen Aufteilung der hebräischen Grammatik in nomen, verbum und directio310 zu erkennen. Diese spiegelt sich darin wider, daß wir es auf der theologischen Ebene zu tun haben mit der Dreiheit von theologischer Offenbarung des „Namens“ Gottes, christologischer Realisierung einer heilsamen Gottesbeziehung des Menschen im verbum durch die Inkarnation des Christuslogos und durch sein Heilswerk, pneumatologischer Wegweisung (directio) der Gläubigen – auch und gerade durch die instrumenta der Grammatik – angesichts der Herausforderungen, die sich ihnen auf dem Weg zum Ziel in Gestalt vielfältiger Unwägbarkeiten einschließlich der sprachlichen Härten der grammatischen Figuren stellen. Die Rede von der Grammatica sacra ist daher nicht Ausdruck „vorkritischer“ Naivität, sondern verdankt sich vielmehr der Einsicht, daß die biblische Sprache auf allen ihren Ebenen die Realität und das Wirken jenes Gottes abbildet, der sich im fleischgewordenen Logos so offenbart, daß er die gesamte Weltwirklichkeit einschließlich ihrer sprachlichen Dimensionen in den Dienst seiner heilvollen Kommunikation mit den Lesern der Schrift stellt.
4.3.5 Die Disticha als Schlußmotti der Traktate Tractatus I. De Nomine (Sp. 689 f.) Tantum de Doctrina NOMINIS. Est NOMEN Domini turris fortissimo, currens Justus ad hanc, omni tutus ab hoste, viget. Prov. 18, 10.311
`bG"f.nIw> qyDIc, #Wry"-AB hw"hy> ~ve z[o-lD,g>mi Tractatus II. De Pronomine (Sp. 741 f.) Tantum de doctrina PRONOMINIS. Sum TUUS, esque MEUS, Jesu! o pronomina cordi Suavia! Da aeternum sim TUUS, esto MEUS! Cant. 6, 2. [= 6, 3]
`yli ydIAdw> ydIAdl. ynIa]
310 Vgl. Sp. 935. 311 Die Punktation der hebräischen Zitate erfolgt hier und nachfolgend wie in der BHS, die fast durchweg, aber nicht überall mit der von Glassius verwendeten Weise übereinstimmt.
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TRACTATUS III. DE VERBO (Sp. 913 f.) Tantum de doctrina VERBI. Vita, salus, via, Lux, cibus & medicina parata est In VERBO (hoc serva Christe benigne!) tuo. Psal. 33, 4.
`hn"Wma/B, Whfe[]m,-lk'w> hw"hy>-rb,D> rv'y" TRACTATUS IV. DE PARTICIPIO (Sp. 935 f.) Tantum de doctrina PARTICIPII. PARTICIPEM carnis nostrae Te, Christe, tenemus. PARTICIPES vitae simus ut usque tuae. Johan. 1. vers. 14. kai. o` lo,goj sa.rx evge,neto vers. 4. evn auvtw/| zwh. h=n TRACTATUS V. DE ADVERBIO (Sp. 1025 f.) Tantum de doctrina ADVERBII. AD-VERBI-UM bonem & gladium mens dedita JOVAE Confugit: his pugnans cuncta pericla fugat. Ephes. 6. v. 16. evpi. pa/sin avnalabo,ntej to.n qureo.n th/j pi,stewj &c. v. 17. kai. th.n ma,cairan tou/ pneu,matoj( o[ evstin r`h/ma qeou/ TRACTATUS VI. DE PRAEPOSITIONE (Sp. 1089 f.) Tantum de doctrina PRAEPOSITIONIS. Ex mundo; IN Christo; PER qli,yin; AD astra, fideli PRAEPOSITA, in fletus valle, beata via est. Actor. 14,22. Dia. pollw/n qli,yewn dei/ h`ma/j eivselqei/n eivj th.n basilei,an tou/ qeou/. TRACTATUS VII. DE CONJUNCTIONE (Sp. 1135 f.) Tantum de doctrina CONJUNCTIONIS. Quam suavis JESU atque animae CONUNCTIO sanctae! CONJUNCTUS maneam Ti quoque, CHRISTE, precor! 1. Cor. 6, 17. o` de. kollw,menoj tw/| kuri,w| e]n pneu/ma, evstiÅ TRACTATUS VIII. DE INTERJECTIONE (Sp. 1143 f.) Tantum de doctrina INTERJECTIONIS. INTERJECTA piis, heu! Quot sunt scandala vitae! Ista bene (aeternum VAE manet ista) cave. Matth. 18, 7. vAna,gkh ga,r evsti,n evlqei/n ska,ndala, plh.n ouvai. tw/| avnqrw,pw| evkei,nw|, di ou- to. ska,ndalon e,rcetai.
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LIBER QUARTUS. GRAMMATICUS SACRAE APPENDIX TRACTATUS I. DE VOCULARUM PRAEFIXARUM SIGNIFICATIS (Sp. 1195 f.) Tantum de doctrina PRAEFIXORUM. PRAEFIXAM optato cursu contingere metam Qui cupit, abstineat crimine, dura ferat. 1.Cor. 9, 24. 25. [Outw tre,cete( i[na katala,bhteÅ pa/j de. o` avgwnizo,menoj pa,nta evgkrateu,etai TRACTATUS II. DE FIGURIS GRAMMATICIS (Sp. 1259 f.) Tantum de figuris Grammaticis. a DEEST pax alma: malum sed b ABUNDAT. Dextera Celsi c MUTAT: & d INVERTAT e synchysin orbe malam! Psal. 77, 11.
`!Ayl.[, !ymiy> tAnv. ayhi ytiALx,
a Ellipsis. b Pleonasmus. c Enallage. d Hypallage. e Synchysis. TRACTATUS III. DE NOMINE PROPRIO (Sp. 1393 f.) Tantum de NOMINE PROPRIO. Sit JESU Domini benedictum in secula NOMEN: Hoc PROPRIO & solo NOMINE salvus ero. Actor. 4, 12. ou,te ga.r o,noma, evstin e[teron u`po. ouvrano.n, evn w-| dei/ swqh/nai h`ma/jÅ
4.4 Die Rhetorica sacra 4.4.1 Die rhetorische Analyse Zu den Tugenden der ausformulierten Rede (elocutionis virtutes) zählt die klassische Rhetorik neben der Latinitas bzw. dem Hellenismos die Klarheit (perspicuitas), den Schmuck (ornatus) und die Kohärenz (aptum).312 Handelt es sich bei den grammatischen Figuren um Phänomene, die als quasi konventionell gewordene Sprachabweichungen hinsichtlich ihrer Relation zur perspicuitas bzw. zur rationalen Verständlichkeit zu bedenken sind, so erfolgt mit der Hinwendung zu den rhetorischen Phänomenen der Übergang zum auf die Sinne und die Affekte der Adressaten zielenden ornatus.313 Glassius verbindet mit weiten Teilen der 312 Vgl. Lausberg, § 460; Dyck, Ticht-Kunst, S. 68–90. 313 Vgl. Lausberg, § 552: „Der Tropus dient dem ornatus […].“ (S. 283) Glassius verwendet allerdings an dieser Stelle Termini, die in der klassischen Rhetorik eher untergeordneten Rang haben. Vgl. Sp. 1425: „Potest totius elocutionis sacrae dei,nwsij, ka,lloj, kai. safh,neia (quantum Rhetoricam considerationem attinet […]) ad duo principalia referri capita, quorum alterum TROPUS est, alterum FIGURA.“ Explizit stellt er den Bezug auf den ornatus erst bei der Definition der Fi-
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klassischen Rhetorik314 die Zweiteilung der rhetorischen Phänomene in tropi, die den übertragenen (metaphorischen)315 Gebrauch von verba singula bezeichnen („verborum immutatio“316), und in figurae, bei denen es sich um verba conjuncta handelt und die auf den anderen drei Änderungskategorien, nämlich der „adiectio, detractio, transmutatio“317 (verborum) beruhen und als solche zum ornatus orationis beitragen.318 Den Tropen und den Figuren sind die beiden Traktate der Rhetorica sacra gewidmet. 4.4.1.1 Die Tropenlehre (Rhetorica sacra – Tractatus I.) Die Tropologia wird behandelt gemäß ihrer Zweiteilung in „species troporum“ und „affectiones troporum“. Auch hier greift Glassius nach eigener Bekundung für die Systematisierung auf den „Schulgebrauch“ zurück und nennt unter den Arten der Tropen die Metonymie, die Ironie, die Metapher und die Synekdoche. Deren jeweilige Definition folgt den Kategorisierungen der Dialektik.319 Zu den affectiones troporum zählen die Catachrese, die Hyperbel und die Allegorie mit den Unterarten des Sprichworts und des Rätselworts.320 guren her, wenn er schreibt: „Differunt haec duo, quod tropi ipsum verborum sensum concernunt, dum propria vocum significatio in aliam, cognatam contrariamve, convertitur […]. Figurae autem, quas & Schemata vocant […] sensum verborum per se non immutant variantque, sed sermoni tantum ornatum conferunt.“ 314 Vgl. Lausberg, § 601: „[…] die meisten […] trennen die Tropen von den Figuren, andere ordnen die Tropen den Figuren unter […]. Im übrigen ist ohnedies die Zugehörigkeit einiger Erscheinungen entweder zu den Tropen oder zu den Figuren strittig […].“ 315 Wichtig ist der Hinweis bei Lausberg, § 554: „Der Tropus wird auch als verbum translatum […], metafora, […], bezeichnet […], wobei zu beachten ist, daß die Bezeichnung metafora, nach aristotelisch auf einen der Tropen spezialisiert worden ist […].“ 316 Lausberg, § 552. Vgl. ebd.: „Der tropus als immutatio setzt ein semantisch nicht verwandtes Wort an die Stelle eines verbum proprium.“ 317 Lausberg, § 600, 601, zu den Änderungskategorien, die auch bei der Kategorisierung der grammatischen Figuren grundlegend waren, vgl. ausführlich Lausberg § 462. 318 Vgl. Sp. 1989: „[…] schemata seu figurae (quae sensum verborum per se non immutant, ut tropi, sed sermoni tantum habitudinem quandam notabilem ac ornatum conferunt) […].“ 319 Vgl. Sp. 1425 f.: „Hanc igitur juxta distinctionem duo exegeseos hujus Rhetoricae constituendi erunt tractatus, quorum prior Tropologia, posterior Schematologia est. Tropologiae, generali divisione, duae possunt constitui partes, quarum altera Troporum species; altera eorundem affections explicat. Species troporum, secundum vulgarem in scholis distinctionem, sunt quatuor: Metonymia, Ironia, Metaphora, Synecdoche. Quarum ordinis ratio ex argumentorum Dialecticorum, ex quibus tropi deducuntur, ordine dependet. Metonymia ex locis causarum & effectuum, itemque subjecti & adjuncti, deducitur. Ironia ex loco contrariorum. Metaphora ex loco comparatorum. Synecdoche demum ex loco distributionis totius in partes, & generis in species.“ 320 Vgl. Sp. 1426: „Affectiones troporum numerant tres: Catachresin, Hyperbolen & Allegoriam, cujus species quaedam sunt, paroemia, seu proverbium, & aenigma.“
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„Die Metonymie verwendet […] ein Wort in der Bedeutung eines anderen Wortes, das semantisch mit dem verwendeten Wort in einer realen Beziehung steht.“321 Glassius leitet die der Metonymie zugrundeliegenden Realbeziehungen nach den Regeln der Dialektik ab und bespricht daher die metonymia causae, in der die Ursache einer Sache für ihre Wirkung steht, und den umgekehrten Fall in Gestalt der metonymia effectus. Die metonymia subjecti als jener Tropus, in dem das Subjekt für ein Adjunkt steht, bildet zusammen mit der metonymia adjuncti ebenfalls ein reziprokes Paar. Bei der metonymia causae unterscheidet Glassius Personen, Instrumentalursachen, Handlungen und Bestandteile, die jeweils im Text für die durch sie gewirkten bzw. konstituierten Ergebnisse zu stehen kommen.322 Die metonymia effectus betrifft solche Aussagen, in denen eine Sache entweder für die sie bewirkende Person oder für das sie hervorrufende Mittel oder die sie verursachende Handlung steht.323 Zur metonymia subjecti gehören Aussagen, in denen ein umgreifendes Subjekt in Gestalt einer Person oder Sache für das jeweils „Verbundene“ oder „Umgriffene“ steht, so etwa ein Gefäß für seinen Inhalt, ein Ort für etwas dort Lokalisiertes, ein Besitzer für sein Eigentum oder ein Volk für dessen Wohngebiet, ein Objekt für diesem Zugehöriges, ein Bezeichnetes für das Zeichen selbst.324 Die jeweilige Umkehrung dieser Metonymien gehört zur Rubrik der metonymia adjuncti,325 wobei Glassius hier die wichtige Beobachtung hinzufügt, daß in der Schrift ein Name immer wieder für die jeweils gemeinte Person oder Sache selbst zu stehen kommt, was besonders hinsichtlich des Gottesnamens von hoher Relevanz ist.326 Doch auch das andere Extrem des semantischen Spektrums wird unter der Metonymie abgehandelt, nämlich jene Schriftstellen, in denen ein Sachverhalt nach dem Augenschein und nicht nach seinem Sein und Wesen beschrieben wird, „kata. do,xan“, „seu, qualis hominibus videtur esse, non qualis est in
321 Lausberg, § 565. 322 Vgl. die Überschriften Sp. 1427–1447: I. Persona efficiens pro re effecta. – II. Causa organica seu instrumentum, pro re per instrumentum effecta. – III. Res vel actio, pro effectu, ab illa re, vel per illam actionem producto. – [IV.] CAUSA MATERIALIS PRO MATERIATO. 323 Vgl. die Überschriften Sp. 1447–1457: I. Actio vel effectum pro persona efficiente, seu pro autore. – II. Res per instrumentum effecta pro instrumento seu causa organica. – III. Effectus pro re vel actione efficiente. – [IV.] MATERIATUM PRO CAUSA MATERIALI. 324 Vgl. die Überschriften Sp. 1457–1478: I. Subjectum recipiens in genere pro adjuncto ponitur. – III. [sic!] Continens pro contento, & Locus pro locato ponitur. – III. Possessor pro re possessa ponitur. – IV. Objectum pro eo, quod versatur circa illud, ponitur. – V. Signatum pro signo ponitur. 325 Vgl. die Überschriften Sp. 1478–1506: I. Accidens pro subjecto suo in genere ponitur. – II. Contentum pro continente, & locatum pro loco, ponitur. – III. Tempus pro rebus in tempore factis seu existentibus ponitur. – IV. Opinio hominum pro ipsa re ponitur. – V. Occupatum pro Objecto suo ponitur. – VI. Signum pro signato ponitur. – VII. Nomen pro ipsa persona vel re ponitur. 326 Vgl. Sp. 1505 f.
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sua natura“, von denen also gilt, wie Glassius rubriziert: „Opinio hominum pro ipsa ponitur“.327 Dazu gehören insbesondere Aussagen über physikalische Sachverhalte wie das Verhältnis des Mondes zu den Sternen oder die Rede von den Himmelsenden,328 aber auch gewichtige theologische Sachverhalte wie die Rede vom Evangelium als Torheit oder vom Teufel als dem „Gott dieser Welt“.329 Unter der ironia versteht Glassius dann jenen Tropus, durch den das genaue Gegenteil vom Gesagten ausgedrückt wird. Darunter fallen einerseits diejenigen Worte, die dem Wortverstand nach gegensätzliche Bedeutungen haben können, und andererseits solche Aussagen, durch die sich die jeweils redende Person verstellt, bis hin zum scharfen Sarkasmus.330 Was die zweite Gruppe betrifft, so untergliedert Glassius diese nach den redenden Subjekten und der jeweils intendierten Wirkung. Er unterscheidet zum einen die Ironie „IN SERMONE DEI ET CHRISTI“,331 die Glassius im Unterschied zu späteren pietistischen Hermeneuten noch nicht als mit einem frommen Gottesbild unvereinbar ansieht,332 von deren Gebrauch in Reden der Heiligen,333 zum andern den Gebrauch der Ironie zum Zwecke der
327 Sp. 1490. 328 Vgl. Sp. 1493 zu Jes 13,5: „A vulgi opinione haec phrasis desumta est, qui judicium oculorum secutus putat, coelum non esse sphaericum, sed hemisphaericum, & in extremis terrae finibus deficere, quibus inniti videtur coelorum extremitas.“ Glassius verweist ebd. auf eine Analogie aus der Profanliteratur, wenn er Horaz anführt, der in seinen Oden den Mond größer sein läßt als die Sterne, „quia vulgo ita existimatur, cum longe aliud Mathematici doceant.“ 329 Vgl. Sp. 1491. 330 Vgl. Sp. 1506: „Ironia est tropus, quo contrarium pro contrario (oppositum pro opposito: ita enim contrarii vox hic accipienda) ponitur; seu, cum ex re nominata res huic contraria intelligitur. Vox eivrwnei,a dissimulationem & elusionem, seu cavillationem significat. Rectius igitur hic tropus antiphrasis appellaretur. Retineamus sane unam appellationem usu in scholis receptam, cum quaedam huc pertinentia, non sine illusione & exprobratione pronunciata esse, in Scripturis legantur. Distingui ita potest, quod sit 1. vocum per se consideraturum, quae, antiphrasis ut vocetur, usus obtinuit (Rabbinis %p,h)e 2. Vocum in oratione certa positarum, & cum illusione vel exprobratione quadam pronunciatarum, quae Ironia vulgo dicitur, cujus species quaedam sarcasmus est, quae ironia est acerbior, calamitate oppressis insultans.“ 331 Vgl. Sp. 1513–1517 mit der zitierten Überschrift in Sp. 1513. 332 Vgl. Schröter, Rambach, S. 723 (hinsichtlich der von Johann Jakob Rambach wahrgenommenen Figuren und Tropen in der Schrift): „Besonders ironische Redeweise ist nur in den seltensten Fällen anzunehmen. Ausgeschlossen werden muss sie generell, wenn im Text Gott als Redender begegnet, da Ironie kein adäquates Ausdrucksmittel göttlicher Selbstmitteilung sein kann.“ 333 Vgl. Sp. 1517–1519.
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Anfechtung und Glaubensprüfung durch Gott334 von einem heuchlerischen oder gar diabolischen Gebrauch der Ironie.335 Ganze acht Kapitel der Rhetorica sacra sind den Metaphern gewidmet. Zunächst führt Glassius allgemein in diesen Tropus ein. Bei der Metapher, so definiert er mit der antiken Tradition, ist der Grund für die Verwendung eines Wortes dessen „Vergleichsbeziehung“336 zur bezeichneten Sache. „1. Quoad definitionem, dicitur esse tropus, cum vox a propria & genuina significatione ad aliam, sed cognatam, propter similitudinem transfertur.“337 Wie in der klassischen Rhetorik338 legt Glassius wert auf den Unterschied zwischen Metapher und Gleichnis (similitudo) bzw. Parabel, der allerdings dazu führt, daß die einfachere und kürzere Metapher bei der Auslegung bisweilen zum Gleichnis erweitert wird.339 Die Würde dieses Tropus zeigt sich bereits an seiner Häufigkeit, dann aber auch an seiner Bedeutung für die Wirkkraft und Evidenz der biblischen Aussagen.340 Auch zum modus tractandi hinsichtlich der Auslegung der Metaphern äußert Glassius sich grundsätzlich. Aufgrund der Vielfalt und der Eigentümlichkeiten der Dinge, die zur Metapher werden können, muß genau beachtet werden, worin der Vergleichspunkt mit der ausgesagten Sache besteht. Auch hier gilt die universale Regel, daß die gefundene Auslegung nicht vom Textzusammenhang und von der Analogie des Glaubens abweichen darf.341 Was die Vielfalt der Metaphern anlangt, so hält Glassius mit Caspar Bartholinus (1585–1629), Cicero und anderen fest, daß es nichts gibt, was nicht metaphorisch verwendet werden könnte, der Ozean der
334 Dazu zählt Glassius die Rede Gottes an Abraham in Gen 22,2 (Marginal: „Abrahae tentatio“) ebenso wie Jesu Brüskierung des „kanaanäischen Weibes“ in Mt 15,24.26 (Marginal: „Chananaeae mulieris tentatio“; Sp. 1520). Zur homiletischen applicatio s. u., Kap. 7.2.3.6.1. 335 Vgl. Sp. 1522–1525 (Marginal: „Ironiae exempla falsa“). 336 Lausberg, § 565. 337 Sp. 1525 f. 338 Vgl. Lausberg, § 558: „Die Metapher hat gegenüber der similitudo […] die virtus brevitatis voraus […]: durch die brevitas ist die Metapher ‚dunkler‘, aber auch drängend-unmittelbarer als der ausgeführte Vergleich.“ 339 Vgl. Sp. 1526: „2. Quoad differentiam a similitudine & parabola; haec inter metaphoram statuitur, & similitudinem, tum contractam, tum explicatam, quod in hac rei unius ad alteram sit manifesta collatio, & sic argumentum Logicum ea est. In metaphora vero unius pro altero simili est positio: quae tamen in explicatione per apertam similitudinem evolvenda est.“ 340 Vgl. Sp. 1526 f.: „3. Quoad dignitatem, tropus hic, uti reliquorum omnium frequentissimus est, ita etiam florentissimus jucundissimusque, qui miram stylo sacrarum literarum evne,rgeian & evidentiam conciliat.“ 341 Vgl. Sp. 1527: „4. Quoad tractandi modum, cum rerum, a quibus metaphorae ducuntur, proprietates saepe multae sint, igitur accurate videndum, ut medium comparationis, seu ratio similitudinis, recte inquiratur atque exprimatur, ne a textus sunafei,a| vel fidei analogia aberratio fiat.“
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Metaphern mithin unerschöpflich ist.342 Solches gilt auch vom Metapherngebrauch der Heiligen Schrift, weshalb es erst recht nützlich ist, diesen konkordanzartig zur Darstellung zu bringen, damit die Leser bei der Auslegung der Metaphern jeweils zu einem gesunden Urteil kommen können, wie Glassius seine nun folgende Darstellung der biblischen Metapher begründet.343 Der Thüringer beschließt dieses Kapitel mit Überlegungen über die Einteilung und Unterscheidung der Metaphern. Plutarch und Quintilian folgen dafür der Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Dingen, die zu vier Übertragungsmöglichkeiten führen (von belebten zu belebten, von unbelebten zu unbelebten Dingen, von belebten zu unbelebten sowie umgekehrt).344 Andere achten nicht so sehr auf das Vorkommen der Dinge in der Natur, sondern folgen einer grammatikalischen Einteilung, indem sie den verschiedenen Wortarten entlanggehend die Metaphern betrachten.345 Für beide Möglichkeiten nennt Glassius einige biblische Beispiele. Er selbst entscheidet sich aber für eine theologisch orientierte Einteilung. Die spezielle Metaphernlehre soll von denjenigen Metaphern handeln, durch die menschliche Eigentümlichkeiten (cap. 7) und Eigenschaften anderer Geschöpfe (cap. 8) auf Gott übertragen werden. Auch die Personifizierung unpersönlicher Dinge gehört in die spezielle Metaphernlehre (cap. 9), so daß dieser gleichsam ein anabatischer Charakter zueigen ist. Dem gegenüber geht die
342 Vgl. Sp. 1528 f.: „5. Quoad varietatem, in genere monet recte Bartholinus, desumi posse metaphoram a rebus omnibus, substantiis pariter & accidentibus, naturalibus earumque affectionibus, & artificialibus cujuscunque classis, ut superfluum sit, & impossibile, ea, ex quibus sumitur, recensere. Unde Cicero 3. de orat. ait: Nihil est in rerum natura, unde simile duci non possit; & addit, infinitos fere esse modos metaphorarum: Alii, genera metaphorarum, ajunt, ad certas & arctas classes vel tramites, non magis astringi posse, quam totus Oceanus cyatho exhauriri & asportari.“ Zum Cicero-Zitat vgl. Lausberg, § 558. 343 Vgl. Sp. 1529: „Idem hoc specietenus, de metaphoris in Scriptura sacra usurpatis, asseri fere potest, nisi quod maxime utile & operae precium sit, si non omnes, plerasque tamen & illustriores metaphoras sacrarum literarum, certo ordine (quantum in multitudine illa fieri postest) dispositas habere, & velut concordantias quasdam una conspicari, ut praeter usus alios, de eloquentia Sacrae literaturae sanum fieri in pietate judicium possit. Tentavi hic in sequentibus aliquid, & spicilegium satis amplum, ex amplissima illa segete, institui in timore Domini; aliis plenam hujus laboris messem lubens relinquo.“ 344 Vgl. Sp. 1529: „6. Quoad ovrqotomi,an & distinctionem, quidam hanc amplectuntur cum Plutarcho & Qvintiliano […] quod translationes fiant, vel a rebus animatis ad animatas, ut cum DEUS pro magistratu, pastor pro Principe, ponitur: Vel a rebus animatis ad inanimatas, ut cum lugere terra, oliva mentiri dicitur: Vel a rebus inanimatis ad animatas, ut cum Christus vitis & ostium dicitur: vel a rebus inanimatis ad inanimatas, ad cum fundamentum de mysterio salutis nostrae usurpatur, 1. Tim. 6, 19. 2. Tim 2, 19 &c.“ 345 Vgl. Sp. 1529: „Quidam vero non rerum ipsarum in natura, sed vocum in Grammatica, seriem attendentes, ita distinguunt, quod metaphorae sint in nominibus, verbis & adverbiis […].“
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allgemeine Metaphernlehre katabatisch-deduktiv346 vor und behandelt vier verschiedene Herkunftsbereiche des metaphorisch zur Anwendung gebrachten Materials: den Bereich der dem Menschen übergeordneten Sachverhalte, die das Göttliche ebenso umfassen wie die Elemente der Schöpfung, den Bereich der auf der Erde vorfindlichen Mineralien, Tiere und Pflanzen, den Bereich all dessen, was menschliches Leben im Besonderen ausmacht (cap. 10–12), und schließlich den Bereich des alttestamentlichen Gottesdienstes und der diesbezüglichen Personen und Riten (cap. 13).347 Auch zur Synekdoche, der vier Kapitel gewidmet sind, eröffnet Glassius seine Darlegungen zunächst mit einer allgemeinen Einführung zur Organisation des Materials. Da es hier um jenen Tropus geht, in dem eine Totalität oder ein Teil derselben sich jeweils wechselseitig ersetzen können, kommt man auf vier Unterkapitel, wenn man einerseits Gattung (genus) und deren konkrete Ausprägungen (species) und andererseits die Ganzheit und deren Glieder in ihrer wechselseitigen Verschränkung beim Metapherngebrauch wahrnimmt.348 Es folgen die Einzelkapitel, die den affectiones troporum in Gestalt der Katachrese, der Hyperbel, der Allegorie, des Paroemium und des Aenigma gewidmet sind. Im Falle der Katachrese legt Glassius Wert darauf, daß die darin vorliegende 346 Vgl. die Formulierung im Index zu Beginn der Philologia sacra, S. 54: „H.[ic] l.[ocus] proponitur duplici evxergasi,a|, speciali, cum ad Deum transferuntur, quae proprie sunt hominis aut aliarum creaturarum, per avnqrwpopa,qeian: Aut cum non personis tribuuntur ea, quae sunt personarum, per proswpopoii,an, capp. 7.8.9. & generali, cum a Deo & creaturis in tota natura obviis, aut a personis & rebus sacris metaphorae deducuntur. capp. 10.11.12.13.“ 347 Vgl. jeweils die Kapitelüberschriften: Caput VII. De Metaphoris ab Homine ad Deum translatis, quod genus avnqrwpopa,qeian vocant. (Sp. 1530–1602) – Caput VIII. De Metaphoris, ab aliis Creaturis ad Deum translatis. (Sp. 1603–1628) – Caput IX. De Metaphoris, quibus ut Personae proponuntur, quae non sunt, Quod genus proswpopoii,an vocant. (Sp. 1629–1657) – Caput X. De Metaphoris, quae a Deo, Angelis, Coelo, ac Elementis deducuntur. (Sp. 1657–1729) – Caput XI. De Metaphoris, quae a Mineralibus, Plantis & Animalibus desumuntur. (Sp. 1729–1787) – Caput XII. De Metaphoris, quae ab Homine, et quae illum attinent, desumuntur. (Sp. 1787–1874) – Caput XIII. De Metaphoris, quae a Personis et rebus sacris, & divinum cultum quacunque ratione attinentibus, desumuntur. (1874–1897) 348 Vgl. Sp. 1897: „Synecdoche est tropus, quo totum pro parte, & contra ponitur. Cumque totum vel sit genus, vel integrum; pars vel sit species vel membrum; Igitur de quatuor, qui vulgo constituuntur, Synecdoches modis ut ordine agatur, necessum est.“ – „Est igitur Synecdoche generis, cum genus pro specie, vel universale pro partiulari accipitur.“ (Cap. XIV.) – Sp. 1910: „Synecdoche speciei est, cum species pro genere, vel particulare pro universali ponitur.“ (Cap. XV.) – Sp. 1919: „Synecdoche integri est, cum integrum pro membro, seu totum […] pro parte ponitur.“ (Cap. XVI.) – Sp. 1926: „Synecdoche membri est, cum membrum pro integro, seu pars […] pro toto ponitur.“ (Cap. XVII.) Vgl. knapp Lausberg, § 573: „Die quantitative Beziehung wird [in der Synecdoche] realisiert als: 1) Teil-Ganzes-Beziehung in beiden Richtungen […] 2) Gattung-Art-Beziehung in beiden Richtungen […].“
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Härte des Sprachgebrauchs nicht der Schrift anzulasten ist.349 Zu den hier aufgezählten Erscheinungen zählt er dann auch viele ins Griechische übertragene Metaphern aus dem hebräischen Alten Testament.350 Wie die Katachrese gehört auch die Hyperbel zu den gewagteren Tropen, erweckt sie doch im wörtlichen Verstand den Anschein der Lüge, weshalb hier in besonderer Weise bei der Auslegung nicht so sehr auf den Wortlaut, sondern auf die Aussageabsicht zu achten ist.351 Glassius unterscheidet zwischen rhetorischen und logischen Hyperbeln, wovon die ersteren mit gewagten Metaphern, die letzteren mit überzogen erscheinenden Vergleichen arbeiten und beide jeweils als vergrößernde amplificatio oder als verkleinernde extenuatio vorkommen.352 Bei der Allegorie, dem Paroemium und der Rätselrede handelt es sich sodann jeweils um die Fortsetzung oder Verlängerung eines Tropus („tropi continuatio“353), womit bereits der gleitende Übergang zu den Gleichnissen angedeutet ist, die zwar wiederholt in der Rhetorica sacra Erwähnung finden, von Glassius aber in seiner Hermeneutik ausführlich besprochen werden.354 Während im zweiten (der Hermeneutik gewidmeten) Buch die allegoria rerum behandelt wird, geht es Glassius jetzt nur um die allegoria verborum. Da es sich zudem bei der Allegorie gleichsam um die Verlängerung von Metaphern einschließlich der Metonymie, der Ironie und der
349 Vgl. Sp. 1933: „Kata,crhsij, abusio, vocatur, non ac si Scriptura vocibus abuteretur, sed quia a communi tropice loquendi consuetudine ea, quae catachrestica sunt, aliquantum discedunt, & durius efferuntur vel cohaerent.“ Vgl. dazu Lausberg, § 562 (Quintilian-Zitat): „[…] catachresis, quam recte dicimus abusionem […].“ 350 Vgl. Sp. 1935 f. 351 Vgl. Sp. 1936 f.: Glassius eröffnet seine Definition mit einem Augustinzitat: „Uperbolh., superlatio, est ea tropi affectio, qua voces insolentius & audacius, rerum amplificandarum aut extenuandarum gratia, a nativa significatione in aliam traducuntur. August. lib. 16. de Civit. DEI cap. 21. Hoc modo (hyperbole) ut caeteris tropis, uti solere Scripturam, nullus, qui eam didicit, ambigit. Iste autem tropus, id est, modus locutionis fit, quando id, quod dicitur, longe est amplius, quam quod eo dicto significatur. Ne vero hyperbole ex Scriptura sacra, hoc praetextu eliminetur, quod mendacii species esse videatur, magis rem extollens deprimensve, quam in rei veritate est; observandum hic venit, quod in locutionibus ejusmodi non to. r`hto.n, sed di,anoia spectetur, per inde ut in tropis; quodque nullum insit fallendi propositum, nec dicendi falsum voluntas, in veracissimo verbi coelestis autore: quod demum non sit difformitas mentis & dictionis vel sermonis, quod ad mendacium proferendum requiritur.“ Vgl. Lausberg, § 579: „Die Hyperbel gehört dem audacior ornatus […] an […].“ 352 Vgl. Sp. 1937–1950. 353 Sp. 1950. Vgl. Sp. 1969, 1977. Bei Lausberg heißt es (§ 895): „[D]ie Allegorie ist eine in einem ganzen Satz (und darüber hinaus) durchgeführte Metapher […].“ 354 Vgl. die Querverweise auf Buch 2 in Sp. 1950.
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Synekdoche handelt, muß an dieser Stelle nicht mehr von deren Quellen geredet werden, sondern ist Raum, sich einzelnen komplexen Beispielen zuzuwenden.355 Dazu gehören alttestamentlich-messianische Schlüsselstellen wie Gen 3,15, Gen 49,11 f., die Todesallegorie in Pred 12,2 ff., das Hohelied als Ganzes, sowie prophetische Texte wie Jes 28,20, Am 3,12, Jes 38,12, Jer 11,16, 12,5, Ez 16,3 ff., Hos 13 und Sach 14,3–5, die Glassius behandelt,356 bevor er die weiteren Allegorien beider Testamente aufzählt und auf die Besprechung der diesen Allegorien jeweils zugrundeliegenden Metaphern in den vorigen Kapiteln verweist.357 Neben den einfachen Allegorien, die mit natürlichem Bildmaterial arbeiten, nennt er auch allegorias allusivas,358 die auf Geschichtsereignisse oder Realien aus dem alttestamentlichen Gottesdienst anspielen.359 Repräsentieren die Allegorien die allgemeine Form der continuatio Tropi, so das Sprichwort und das Rätselwort jeweils besondere Varianten derselben.360 Glassius referiert nach dem Hinweis auf die innerbiblischen Fachtermini lv'M' und paroimi,a361 zahlreiche Beispiele aus beiden Testamenten und notiert insbesondere das jeweilige Herkommen der im Neuen Testament aufzufindenden Sprichwörter, das über das Alte Testament hinausgehend auch den Talmud und heidnisches – lateinisches und griechisches – Schrifttum umfaßt.362 Im Kapitel über die Rätselworte greift Glassius breit auf jüdische Ausleger einschlägiger alttestament355 Vgl. Sp. 1950: „Duplicem autem allegoriam esse, verborum & rerum, in Philol. sacr. lib. 2. pag. 409. dictum fuit. Quarum prior hic attenditur, nihilque aliud, quam tropi continuatio est, & praesertim metaphorae. Etsi enim metonymiae, ironiae, & synecdochae etiam continuantur, non tamen tam crebro id fit, nec tanta cum emphasi, ut in florentissimo illo reliquorum tropo, unde & peculiari capite ut de continuata hac metaphora tractetur, necessitas flagitat: non tam, ut fontes, unde desumuntur allegoriae, monstrentur, (id enim supra in tractatione de metaphoris abunde satis, ut puto, praestitum) quam ut difficiliora quaedam in iis declarentur, & singularis earum conditio ostendatur.“ 356 Vgl. Sp. 1950–1963. 357 Vgl. Sp. 1964 nach der Auflistung von Bibelstellen: „[…] quorum explicatio, majori parte, ex metaphorae superiori tractatione desumi potest, ut actum hic agere necesse non sit.“ 358 Vgl. Sp. 1950: „[…] duplicem statuo allegoriam: Simplicem & allusivam. Illam voco, quae a rebus quibuscunque naturalibus desumta est: Hanc, quae ad alia, sive dicta, sive facta, respicit, atque inde translatitiam descriptionem deducit.“ 359 Vgl. Sp. 1964–1969: „Allegoriae allusivae exempla“, mit einem Rückverweis auf die Erwähnung der dem alttestamentlichen Kultus entlehnten gottesdienstlichen Metaphern im Neuen Testament in Cap. 13 (Sp. 1966). 360 Vgl. Sp. 1969: „Tropi sermone continuatio dupliciter considerari potest, in genere & in specie. Generica consideratio capite praecedenti extat. In speciali respectus habetur, vel ad vulgarem usum, & sic dicitur paroemia, proverbium vel adagium: vel ad singularem obscuritatem, & dicitur aenigma.“ 361 Vgl. Sp. 1969 f. 362 Vgl. Sp. 1970–1976.
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licher Stellen zurück und streicht hier besonders den vom Heiligen Geist gewirkten Nutzen derselben heraus. Mit Franciscus Junius (1591–1677) hält er fest, daß nicht jedes Gleichnis oder jede Allegorie auch ein Rätselwort sei, wohl aber jedes Rätselwort eine Allegorie.363 Glassius beschließt den I. Tractatus über die Tropen mit einem Distichon, einem Sinnspruch über die vier species troporum: „Tantum de doctrina TROPORUM a b c d Auri sacra fames mortalia pectora perdit vAuta,rkhj vitae sit tro,poj usque tuae. a Metonymia, aurum pro aureis nummis. b Ironia seu antiphrasis, sacrum pro execrando. c Metaphora, fames pro desiderio. d Synecdoche, pectus pro homine. Hebr, 13, 5. VAfila,rguroj o` tro,poj( avrkou,menoi toi/j parou/sinÅ“364
Biblischer Bezugs- und Zielpunkt ist Hebr 13,5, wo das Wort tropos für den christlichen Lebenswandel steht, der sich durch Genügsamkeit auszeichnen soll. Dies nimmt der Thüringer nun auf, indem er formuliert, der „sakrale“ Hunger nach Gold richte die sterblichen Herzen zugrunde, der Lebenswandel aber des Lesers solle genügsam sein. Ähnlich wie im Distichon über die Figuren in der Grammatica sacra markiert er auch hier einzelne Worte seines Sinnspruches mit Buchstaben, die darunter nach Art einer Legende ausgelegt werden. Das Gold, worauf sich der Hunger richten kann, repräsentiert die Metonymie, denn Gold steht hier für Goldmünzen. Eine Ironia oder Antiphrase steckt im Attribut „sacrum“, das gleichermaßen für Heiliges oder für Fluchwürdiges stehen kann. So wird deutlich: Was dem Goldliebenden ein heiliges Begehren ist, ist aus der Perspektive des Glaubens eine unselige Verirrung. Das Wort „fames“/Hunger stellt eine Metapher dar, steht es doch im übertragenen Sinne für den begierigen Wunsch nach Gold. Eine Synecdoche im Sinne des „pars pro toto“ ist hier das Wort „pectus“/ Herz, da es für den ganzen Menschen steht. Wendet man sich nach dieser Deutung dem zuletzt abgedruckten griechischen Bibelvers Hebr 13,5 zu, so ist die intendierte Quintessenz am Ende des ersten Tractatus der Rhetorica sacra die Mahnung, sich genügen zu lassen an der Vielfalt der biblischen Tropen und nicht nach außerhalb derselben liegendem Gold zu 363 Vgl. Sp. 1984: „[…] non omnis parabola aut allegoria pro aenigmate habeatur; sed omne aenigma sit allegoria.“ 364 Sp. 1987 f.
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trachten, das den Herzenshunger letztlich nicht stillen kann. Umgekehrt ist damit zugleich insinuiert, daß die biblischen Tropen die Kraft haben, den geistlichen Hunger des Menschen zu stillen, wofür Glassius in seinen theologischen Exkursen in der Rhetorica sacra reichlich Begründungsmaterial liefert. 4.4.1.2 Die Figurenlehre (Rhetorica sacra – Tractatus II.) In der Figurenlehre referiert Glassius zunächst die bei Aristoteles und Cicero überlieferte Zuordnung der Schemata oder Figuren zum ornatum corporis des Schauspielers im Unterschied zur Metapher, die dem ornatum orationis zuzuordnen ist.365 Auch daß die Kategorie der figura bei den Alten damit in Verbindung gebracht wird, daß das jeweilige genus orationis eines Schauspielers durch dessen Kleidung zur Darstellung gebracht wurde, ist Glassius eine Erwähnung wert.366 Die ebenfalls klassische Unterteilung der Figuren in figurae dictionis sive verborum und figurae sententiae vermag der Thüringer Rhetoriker mit Hilfe eines wiederum der Welt des Theaters entnommenen Hinweises von Gerrit Johann Vossius (1577–1649)367 anschaulich zu machen. Dieser sieht die figurae verborum in Analogie zur Bekleidung der Schauspieler, ohne welche diese nackt wären,368 während die figurae sententiae deren Körperbewegungen und Gesten entsprechen, die wiederum den Spielweisen der Musikinstrumente folgen und diese so
365 Vgl. Sp. 1989: „Sh,matoj vox inter alia praecipue significat habitum, vestitum & ornatum corporis; per metaphoram autem ad habitum ornatumque orationis significandum traducta est, uti & ab Aristot. lib 3. Rhet. cap. 8. Cicer. in Bruto & in orat. perfect. ursurpatur.“ Dazu Lausberg, § 600: „Als ornatus stellen die Figuren eine Änderung gegenüber der schmucklosen Rede dar. Die schmucklose Rede wird der (ausdruckslosen) Ruhelage des Körpers (eines Menschen, etwa des Schauspielers, des Redners) oder etwa einer archaischen Statue verglichen, während die figura (das schema) die von der Ruhelage abweichende Körperhaltung des Menschen oder der Statue ist: die abweichende Körperhaltung ist eine Lebensäußerung und drückt Affekte […] aus […]. Dementsprechend sind auch die rhetorischen Figuren eine Lebensäußerung und drücken Affekte […] aus, und zwar eben durch die Abweichung von der sprachlichen Ruhelage […].“ 366 Vgl. Sp. 1989: „Latinos nomen sch,matoj reddidisse figurae nomine, & ad orationis ornatum retulisse, quidam volunt, quod olim histriones in scena variis vestimenti generibus, quae figura proprie dicuntur, varia orationis genera exhibuerunt.“ 367 Es handelt sich um dessen Werk Commentariorum Rhetoricorum oratoriarum institutionum Libri VI. (Leiden 1606 ff.). 368 Man mag hier auch daran denken, daß Melanchthon „auf die alte, auf Cicero zurückgehende Bestimmung“ der Zuordnung von Dialektik und Rhetorik zurückgreift, „wenn er den Unterschied zwischen Dialektik und Rhetorik mit der Metaphorik der ‚nackten‘ Aussage und des ‚sprachlichen Gewandes‘ umschreibt“ (Danneberg, Melanchthons Deutung, S. 179 f.). Vgl. das Zitat aus Melanchthons Elementorum Rhetorices libri (a. a. O., S. 180, Anm. 127): „[…] dialectica res nudas proponit. Rhetorica vero addit elocutionem quasi vestitum.“
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von natürlichen Körperbewegungen unterscheidbar machen.369 Das Verhältnis beider Gruppen zueinander läßt sich auch mit der Übertragung des Leib-SeeleDualismus auf die Rhetorik umschreiben. Demnach beziehen sich die Wortfiguren in ausschmückender Weise auf den Körper einer Rede, die Satzfiguren hingegen auf deren Seele, weshalb dieselben insbesondere der heiligen Redeweise (der Schrift) Gewicht und Nachdruck verleihen: „Sunt igitur schemata seu figurae […] duplicis generis, ut a plerisque statuuntur: th/j le,xewj kai. dianoi,aj, dictionis & sententiae. Illae ad materiam ac veluti corpus orationis pertinent: hae vero ad formam & quasi animam, hoc est, ad sententiam. Figurae dictionis sunt, cum sermo figuratur dictionibus, quae vel ipsaemet certo ordine repetuntur, vel sono sibi apte & concinne respondent, utrumque emphaseos, simul & ornatus gratia. Figurae sententiae sunt, quae non in verbis, sed rebus ipsis consistunt, ex earumque habitu, sancto sermoni pondus & dei,nwsin conferunt.“370 „Brevi stylo“ zählt Glassius dann im ersten Kapitel seiner Figurenlehre nach diesen einführenden Definitionen als figuras dictionis in ihren griechischen und lateinischen Bezeichnungen und mit angefügten biblischen Beispielen auf: „EPIZEUXIS, subjunctio“, „ANADIPLOSIS, reduplicatio“, „CLIMAX, scala“, „ANAPHORA, relatio“, „EPISTROPHE, conversio“, „SYMPLOCE, complicatio“, „EPANALEPSIS, resumtio“, „EPANODOS, regressio“, „POLYPTOTON, casuum varietas“.371 Jeweils eigene Kapitel widmet Glassius dagegen der „PARONOMASIA“ („agnominatio“)372 und der „ANTANACLASIS“ („refractio seu reciprocatio“),373 die beide in der Schrift stark verbreitet sind, was durch die im Vergleich zu den zuerst aufgezählten Figuren große Menge der nun von Glassius benannten Beispiele zum Ausdruck kommt, von denen einige zudem erhebliche theologische Relevanz haben.374 Der Thüringer erhebt hier auch die Forderung, durch Rück-
369 Vgl. Sp. 1990: „Haec Vossius lib. 5. instit. orat. cap. 1. ubi etiam annotat, cum schema proprie duo significet, nimirum vestem exteriorem, & gestus corporis; ac inprimis saltatorum, respondentes Musicorum instrumentorum modulis; verborum quidem schemata similia esse habitui ac vestimentis, queis sine oratio sit velut nuda: schemata autem sententiarum respondere gestibus artificiosis, queis sine oratio similis sit homini, qui naturali solum motu incedat, moveaturque.“ 370 Sp. 1989 f. Zur deckungsgleichen lateinischen und griechischen Kategorisierung vgl. Lausberg, § 604 und § 755. 371 Sp. 1990–1995. 372 Sp. 1996. 373 Sp. 2003. 374 So setzt Glassius bei der Paronomasie von Petrus und Petra in Mt 16,16.18 zu einem längeren, kontroverstheologisch relevanten Exkurs über das rechte Verständnis dieser Stelle an (vgl. Sp. 2000 f.).
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übersetzung von Evangelientexten ins Aramäische auch in dieser Zielsprache nach möglicherweise erhellenden Paronomasien Ausschau zu halten.375 Es folgt in den weiteren Kapiteln IV–VII die Behandlung der Satzfiguren (figurae sententiae). Den Auftakt macht das Kapitel über die Satzfiguren im Aussagesatz („De figuris sententiae in logismo“).376 Hier nennt Glassius mit zahlreichen biblischen Beispielen die exclamatio, die correctio, die reticentia, die dazu führt, daß man stillschweigend Ausgelassenes ergänzen muß, und die aversio, d. h. die Anrufung anderer Personen einschließlich Gottes oder auch von nichtmenschlichen Geschöpfen und unbelebten Dingen.377 Besonderes Augenmerk richtet Glassius zum Schluß dieses Kapitels auf die personae effectio oder proswpopoii,a, die vorliegt, wenn in einer Rede andere Personen oder auch unbelebte Dinge als redende Personen vom Sprecher eingeführt werden,378 so daß man, wenn dieser Vorgang außerhalb einer Erzählung unmittelbar statthat, im Anschluß an Plato und Aristoteles von Mimesis reden kann.379 Prominentestes Beispiel hierfür und von großer theologischer Bedeutung auch für das Verständnis der Schriftinspiration ist dabei die feierliche prophetische Eröffnungsformel: „So spricht Gott der Herr“.380 Beim Aufruf verlogener Personen wie des Teufels ist darauf zu achten, daß einerseits in der Schrift auch Lügen zitiert werden können und andererseits nicht jede Aussage eines „Lügners“ auch schon per se falsch sein muß.381 Kapitel V hat den Fragesatz zum Gegenstand, dessen verschiedene Weisen und vielfältigen
375 Vgl. Sp. 2001 f. 376 Sp. 2009. 377 Vgl. Sp. 2009–2015. 378 Vgl. Sp. 2018: „Proswpopoii,a vel PERSONAE EFFECTIO est, qua in oratione vel alia persona loquens, vel res inanimata, ut persona loquens introducitur.“ 379 Vgl. Sp. 2018: „Caeterum figuram hanc quidam ita distinguunt, quod sit vel imperfecta, vel perfecta. Imperfectam vocant, qua alienae personae sermo leviter & oblique tantum repraesentatur, seu eum quis suo sermone, quid alia aliqua persona dixerit, narrat & exponit. Perfectam, cum persona propria velut omnino deposita, alia vel persona vel res, ut loquens introducitur, seu, cum ipsa introductae personae verba formalia recensentur: Quam ex Platone de Repub. 3. & Aristotele de Poet. mi,mhsin seu imitationem vocant […].“ Vgl. auch Sp. 2025. Der Dialogismus stellt dann wiederum eine connexa mimesis dar (Sp. 2026). 380 Vgl. Sp. 2019 f., hier 2020: „Et hac de causa non immerito dubito, an genus hoc sermonis, accurate loquendo, ad Rhetoricam hanc prosopopoejam referri debeat […] cum DEUS ipse Scripturae autor sit, & per Prophetas, ut ministros & amanuenses suos, immediate fuerit locutus & scripserit. Non homines DEUM loquentem introducunt, sed DEUS per illos qeopneu,stouj seipsum. Confer Hebr. 1, 1. Haec de sermone DEI.“ 381 Vgl. Sp. 2021–2024, zum letzteren vgl. Sp. 2024: „Non omnia, quae Diaboli & infideles prolocuti esse commemorantur, in se mala & falsa sunt, licet animo fallaci & fraudulento ea protulerint.“ Als Beispiele nennt Glassius Mk 1,14, Lk 4,43, Apg 16,16 f. und Joh 11,49 f.
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Gebrauch Glassius systematisch aufschlüsselt.382 Die Figur des Fragesatzes kann eine Vielfalt widersprüchlichster Affekte zum Ausdruck bringen oder bewirken: Verachtung, Bewunderung, Beweisführung, Zweifel, Erhöhung, Anklage, Beleidigtsein, ironisierendes Beleidigen, die Klage in ihren verschiedenen Abstufungen, Wünschen, Verbieten und Verwerfen.383 Eine wenn auch deutlich kürzere, aber ähnlich affektbezogene Aufzählung bietet das Kapitel über die Satzfiguren im „Dialogismus“384 (Addubitatio, Communicatio, Occupatio, Permissio, Concessio), der gerade im Römerbrief eine herausragende Rolle spielt,385 aber, wie Glassius bereits andernorts erwähnt hat, vor allem im Hohelied und in prominenten prophetischen Stellen vorliegt.386 Weil auch bei profanen Autoren zahlreiche weitere Satzfiguren über die bisher behandelten hinaus vorkommen, die sich durch ausschmückende und erhellende Kraft auszeichnen und von denen viele sich auch in der Schrift wiederfinden, werden diese abschließend besprochen. Dabei weist Glassius darauf hin, daß er in diesem Teil weniger einer schulrhetorischen als vielmehr einer dialektischen Klassifizierung folgt.387 Dem Kausalschema der Dialektik388 entsprechen die Satzfiguren der „Aivtiologi,a, causae redditio“ sowie die „Meta,stasij, translatio“,389 die beispielsweise vorliegt, wenn eine Schuld von einem auf den andern übertragen wird.390 Dem Achten auf die Umstände eines Sachverhalts391 entsprechen die Topographia, die Chronographia und die 382 Vgl. Sp. 2027–2032. 383 Vgl. Sp. 2032–2035: „Usus interrogationis varius est, & cuicunque propemodum affectui illa servit. […] Est interrogatio, ABOMINATIONIS […], ADMIRATIONIS […], AFFIRMATIONIS […], DEMONSTRATIONIS […], DUBITATIONIS […], EXALTATIONIS […], EXPOSTULATIONIS […], INDIGNATIONIS […], INSULTATIONIS & ironiae […], LAMENTATIONIS […], MISERATIONIS […], NEGATIONIS […], OPTATIONIS […], PROHIBITIONIS […], REJECTIONIS.“ 384 Vgl. Sp. 2036–2038. 385 Vgl. Sp. 2036 f. 386 Vgl. Sp. 2027: „Pertinet huc Canticum canticorum, quod continuatus est dialogismus; & caput 63. Esaiae, in quo collocutio instituitur inter Christum & Ecclesiam […]. Item Jer. 47, 6. 7.“ 387 Vgl. Sp. 2038: „Praeter schemata hactenus exposita, in Rhetorum profanorum scriptis multa etiam alia commemorantur, orationem partim exornantia, partim amplificantia, ex quibus non pauca ad characterem divinarum Scripturarum a nonnullis accommodantur. Ea ita comparata sunt, ut ad classes locorum Dialecticorum potius, quam ad Rhetorum scholas, quaedam pertineant; quaedam vero ad superius tradita reduci haud difficulter possint; aliqua etiam tanti non sint, ut peculiaria figurarum nomina iis dari, earundemque adeo numerum praeter necessitatem augeri necessum sit.“ 388 Vgl. Sp. 2038: „Ex causis desumta schemata […].“ 389 Sp. 2038. 390 Vgl. Sp. 2038 f.: „[…] cum causa vel culpa ab alio in aliud transfertur.“ Als Beispiele nennt Glassius Röm 7,8.14 ff., 8,3, 1Kor 4,6, 391 Vgl. Sp. 2039: „EX ADJUNCTIS ET CIRCUMSTANTIIS desumta schemata.“
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„u`potu,pwsij, repraesentatio“, die vorliegt, wenn Dinge so vor Augen geführt werden, als würden sie nicht erzählt, sondern würden tatsächlich gerade geschehen,392 ferner die Kundgabe eines Affektes und der argumentierende Syllogismus.393 Der Diversität und Disparatheit der Dinge verdanken sich wiederum die Figuren der digressio und der transitio, während antithetische Figuren die dialektische Kategorie des Gegensatzes aufnehmen.394 Auch die dialektischen Kategorien des Vergleichs, der Division und der Definition finden ihre rhetorischen Entsprechungen in spezifischen Satzfiguren.395 Den Abschluß bilden „EX TESTIMONIO desumta“, zu denen wie bei den profanen Autoren zuvorderst die „Gnw,mh, sententia“ zu zählen ist.396 Doch hierzu gehört nun für Glassius „[i]n specie & per analogiam“ auch, und das folgt vermutlich nicht umsonst nun am Ende der „Rhetorica sacra“, die Summe der im Neuen Testament angeführten Erfüllungen von alttestamentlichen Verheißungen.397 Dabei unterscheidet Glassius zwischen einer Betrachtung der Allegationen, die auf der Frage nach dem internen Sinn der Verheißungen der Schrift beruht, und einer Betrachtung, die auf die äußere Form der jeweiligen Allegationen achtet.398 Was die erste Herangehensweise betrifft, so nimmt Glassius hier die Forderung, es müsse stets auf den Sinn des Heiligen Geistes geachtet werden, so auf, daß er an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen sensus literalis und sensus mysticus einführt399 und dafür jeweils eine erhebliche Fülle an Beispielen benennt, in denen das Neue Testament deutlich alttestamentliche Stellen als erfüllt kenntlich
392 Vgl. Sp. 2042: „[…] cum res ita oculis subjicitur, ut non narrari, sed geri videatur.“ Als prominentes Beispiel nennt Glassius u. a. Jes 53. 393 Vgl. Sp. 2043: „Paqopoii,a, affectus expressio“, „Sullogismo.j, ratiocinatio“. 394 Vgl. Sp. 2043–2046: „EX DIVERSIS seu disparatis desumta schemata. Pare,kbasij, digressio […] Meta,basij, transitio.“ „EX OPPOSITIS & contrariis desumta schemata. Anti,qesij, contentio […] Antimetabolh., commutatio […] Antikathgori,a, accusatio adversa […] Antistrofh., inversio. […] vOxu,mwron, acutifatuum.“ 395 Vgl. Sp. 2048–2056: „EX COMPARATIS desumta schemata. Su,gkrisij, […] comparatio […] EX DIVISIONE desumta schemata. Merismo.j, distributio […] Sunaqrismo.j, congeries […] Ana,basij, incrementum […] EX DEFINITIONE desumta schemata. VEpexeh,ghsij, interpretatio […]. Peri,frasij, circumlocutio […].“ 396 Sp. 2056. 397 Sp. 2057 mit der Randbemerkung: „De allegatione oraculorum V. T. facta in N. T.“ 398 Vgl. Sp. 2057: „[…] agi hic potest de allegatione oraculorum Vet. Testamenti, in Novo facta ab Evangelistis & Apostolis, de qua utiliter quaedam observari queunt, concernentia tum formam internam, quae sensus oraculorum Scripturae est, tum formam externam, quae genus loquendi, seu character dicendi, & modus allegandi est.“ 399 Vgl. Sp. 2057: „Quoad formam internam, allegatio fit, vel in sensu ipso a Spiritu sancto intento; vel in analogica accommodatione. I. Sensus ipse a Spiritu sancto intentus tum literalis est, tum typicus & mysticus.“
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macht. Beim sensus literalis beschränkt Glassius sich auf die Nennung der alttestamentlichen Bibelstellen und des jeweiligen Fundorts ihrer Erfüllung im Neuen Testament.400 Beim sensus mysticus zählt er einige der verschiedenen Typen auch explizit und unter Nennung der jeweiligen neutestamentlichen Fundstelle auf.401 Glassius unterscheidet hiervon deutlich jene Stellen, in denen der neutestamentliche Gebrauch alttestamentlicher Worte nicht auf der Intention ihres ersten Autors, sondern auf Analogieschlüssen beruht.402 Was die Art und Weise des neutestamentlichen Schriftgebrauchs betrifft, so bespricht Glassius die unterschiedlichen Varianten, so die Allegation des hebräischen Textes oder jene nach der Septuaginta, die Allegation nach dem expliziten Wortlaut oder jene nach dem Sinn sowie sogenannte Mischzitate. Nicht vergessen wird vom Thüringer der Hinweis darauf, daß im Neuen Testament auch die Verwendung von Zitaten aus jüdisch-rabbinischem sowie aus griechisch-profanem Schrifttum zu finden ist.403 Auch diesen Traktat „de doctrina SCHEMATUM“ schließt Glassius mit einem Distichon, das die paulinische Rede vom sch/ma tou/ ko,smou tou,tou aus dem abschließend zitierten Vers 1Kor 7,31 aufnimmt und das zum baldigen Vergehen bestimmte Wesen dieser Welt in Kontrast setzt zur gewissen Hoffnung und festen Ruhe, die allein im Himmel bei Jesus zu finden ist: „Schema hujus mundi citius prolabitur undis, In (JESU) coelo solo spes rata, firma quies. I. Cor. 7, 31. para,gei ga.r to. sch/ma tou/ ko,smou tou,touÅ“ 404
Die Figuren, denen Glassius sich so ausführlich gewidmet hat, haben mithin wie die geschöpfliche Welt, aus der sie als sprachliche Phänomene genommen sind, eine zeitlich begrenzte Funktion. Wenn der Logos selbst kommt, der in Jesus Christus erschienener Garant der erhofften himmlischen Ruhe ist, werden die Figuren mit der Welt, aus der sie genommen sind, sich am Eschaton noch schneller brechen als die Wellen am Ufer des Meeres.
400 Vgl. Sp. 2058. 401 Vgl. Sp. 2058 f. Genannt werden das Passalamm, die eherne Schlange, Jona, Adam und Eva. 402 Vgl. Sp. 2059: „Analogica accommodatio […] est, quando verba Scripturae V. Test. usurpantur in N. Test. accommodanterque eventui; aut personae vel rei alicui, propter convenientiam & similitudinem, tribuuntur, facta ad eam rem extensione, quam proxime scriptor sanctus non intellexit vel significavit.“ 403 Vgl. Sp. 2061–2076. 404 Sp. 2075 f.
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4.4.2 Die Rhetorik und die Theologie Das Distichon am Ende weist uns den Weg für eine theologische Relecture der von Glassius dargelegten Rhetorica sacra. Brachten schon die zu den grammatischen Phänomenen und Figuren formulierten Sinnsprüche zum Ausdruck, daß Gott durch die in der Schrift überlieferte Sprachgestalt bzw. die durch die grammatischen Phänomene gebildeten Aussagen unmittelbare Wirkungen bei den Hörern seiner Botschaft hervorruft, so läßt die Betrachtung der einem Ozean gleichenden Fülle von in der Schrift zur Anwendung gebrachten rhetorischen Figuren nach der Begründung und der Sinnhaftigkeit dieser Fülle sowie dem daraus sich ergebenden methodischen Umgang mit ihr fragen. Dazu gibt Glassius beim Verfassen seiner Rhetorica zahlreiche Hinweise, deren systematische Sichtung ein komplexes Gesamtbild ergibt. Läßt sich die Vielfalt der grammatischen Figuren bereits durch die Dialogizität Gottes begründen, der durch seine nach sprachlichen Regeln geformte Selbstoffenbarung ja mit den Menschen als seinen vornehmsten Geschöpfen ins Gespräch eintreten will, so gilt das in einem noch höheren Maße für die Vielfalt der rhetorischen Figuren. Auch der Durchgang durch diese Vielfalt führt an einigen Stellen explizit zur Erkenntnis, daß Sprachlichkeit und Bildhaftigkeit bereits Gottes Wesen in seiner Ewigkeit bestimmen. Denn zum einen redet Gott immer schon auch jenseits aller Schöpfung in einem „sermo internus Sacrosanctae Trinitatis“, der dann durch die Sendung des ewigen Logos auch in der Schöpfung manifestiert wird, gibt doch die Schrift an herausragenden Stellen Aufschluß darüber, daß es eine menschlichem Reden analoge Korrespondenz von Sagen und Hören zwischen den drei göttlichen Personen gibt.405 Zum andern gilt nach Hebr 1,3, daß der vom Vater in einer generatio aeterna hervorgebrachte Sohn das Ebenbild der Herrlichkeit und Majestät des Vaters von Ewigkeit her ist und als solches zugleich als Urbild in die Welt gesandt wird, um nun wiederum selbst als ein Siegel den Menschen die verlorene Gottebenbildlichkeit einzuprägen.406 405 So schreibt Glassius zur Locutio Dei als einer anthropopathischen Metapher unter Hinweis auf Gen 1,26, 2,18, 3,22, 11,6 f., Ps 2,7 f. und Ps 110,1: „Respondet huic tw/| dicere in Sacrosancta Trinitate, to. audire, quod Filio tribuitur, Joh. 8, 26. 40. cap. 15, 15. & Spiritui sancto, Joh. 16, 13. &c. Nec dubium, quin Filius Dei ideo (inter alias causas) dicatur lo,goj Verbum, quia per eum sermonis interni Sacrosanctae Trinitatis, hoc est, decretorum divinorum manifestatio ad salutem, hominibus facta est. Confer Joh. 1, 1. 18.“ (Sp. 1565) 406 Vgl. Sp. 1597 f.: „In appellatione Salvatoris nostri, cum character substantiae DEI dicitur Hebr. 1,3. eandem metaphoram quidam statuunt, desumtam videlicet ab imagine sigillo expressa, prototypon per omnia referente. […] videtur carakth.r […] h. l. non tam imaginem ex sigillo cerae impressam, quam ipsum sigillum denotare, sensu eo, quod Pater totam suam essentiam & majestatem Filio, a se ab aeterno genito, intime quasi insculpserit, & seipsum in Filio quasi effigiarit,
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Nach Kol 1,15 gilt von Christus, daß er als „eivkw.n avora,tou“ die „substantialis imago Patris“ ist, „per quem Patrem cognoscimus, sicut per faciem cognoscere hominem solemus.“407 Christus steht mithin in einer doppelten Relation zum Vater und zu den Menschen, zu denen er gesandt ist: Er ist das Bild des unsichtbaren Vaters, der diesen kraft seiner Menschwerdung erkennbar macht für die Menschen, denen sein Angesicht zugewandt ist. Ebenfalls im Kontext einer Erläuterung zu Hebr 1,3, diesmal zum metaphorischen Begriff avpau,gasma, zitiert Glassius Liranus408 mit folgenden Worten: „Filius procedit a Patre, ut splendor a sole; qui splendor est soli coaevus, & esset aeternus, si sol esset aeternus.“409 Diese Beobachtungen macht Glassius im Kapitel über die von Menschen auf Gott übertragenen Metaphern, die auch Anthropopathien genannt werden. Die erste Antwort auf die Frage, wie es kommt, daß diese dem Bereich des Irdischen entnommenen Dinge und Worte in der Lage sind, ewige, göttliche Realitäten auszusagen, ist also auch hier der Hinweis auf die Inkarnation des Logos. Eine weitere Annäherung an die Beantwortung dieser Frage erfolgt, wenn man sich dem rhetorischen Gegenstück der auf Gott übertragenen Metaphern zuwendet, nämlich den auf Dinge der Schöpfung übertragenen Personifizierungen. Ein leuchtendes Beispiel hierfür ist die von Glassius als „Physica Christiana“ bezeichnete Kette des Hörens in Hos 2,21 ff.,410 die in der Verbindung von hungerndem Land, den Früchten der Erde, Getreide, Most und Öl, Himmel und Erde und schließlich Gott selbst zum einen die Sehnsucht der Schöpfung nach Gottes gnädiger Zuwendung, zum andern die Hörbereitschaft Gottes auf die Not seiner Schöpfung zum Ausdruck bringt. Alles Geschöpfliche ist von Gott durch dessen Wort auf übernatürliche, weil für irdische Ohren nicht hörbare Weise411 ins Leben gerufen, beim Namen gerufen und so zum Hören und Reden berufen. Nicht nur in den vielen von Glassius gesammelten Personifizierungen geschöpflicher Dinge wird das erkennbar,412 sondern auch in rhetorischen Figuren wie der Apostrophe oder Aversio, in der beseelte wie unbeseelte Geschöpfe zum Reden oder Hören, ut sit substantialis imago ejus […]. Christus est annulus ille signatorius coelestis, qui Patris gloriam & expressissimam majestatis imaginem in se ab aeterno habet: interim tamen in mundum & ipse missus est a patre, ut avrchgo.j vitae ac salutis nobis hominibus esset. […] Annulus signatorius imaginem cerae certam imprimit. Per Christum, imago DEI amissa in credentibus restituitur, hac in vita inchoative, in aeterna vita consummative […].“ 407 Sp. 1536, unter Hinweis auf Joh 14,9 f. 408 Gemeint ist Nikolaus von Lyra (1270–1349). 409 Sp. 1615. 410 Vgl. Sp. 1642: „Hos. 2,21. Et erit in die illa, exaudiam, dicit Dominus, exaudiam coelos, & ipsi exaudient terram. v. 22. Et terra exaudiet triticum, & mustum, & oleum: & haec exaudient Iizreel.“ 411 Vgl. Sp. 1563 f., unter Berufung auf Moses Maimonides (1135–1204) und Augustinus. 412 Vgl. Sp. 1628–1657, 2018 f.
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zum Lobpreis oder zur Zeugenschaft aufgerufen werden.413 Beim Namen gerufen hat Gott die Sterne, die als solche göttlich berufene nun selbst in mehrfacher Hinsicht „beredt“ sind, empfangen sie doch ihre der Schöpfung dienende Lichtkraft im Akt einer kommunikativen Mitteilung von der Sonne und werden so zum Bild für die Diener Christi im Predigtamt, die wiederum ihr Amt und die damit verbundene Leuchtkraft von Christus als der Sonne der Gerechtigkeit empfangen.414 Die dritte Annäherung an den Sachgrund für die Aussagekraft irdischer Dinge als Figuren fürs Überirdische ergibt sich aus der Wahrnehmung dessen, daß die beredte Schöpfung um des Menschen willen gemacht ist. Die Schöpfung ist nicht in erster Linie eine Aufgabe für den Menschen, sondern eine vom Menschen zu genießende Gabe. Denn den Gott gemäßen Zugang zur Schöpfung sieht Glassius nicht in einem ethischen Utilitarismus, sondern er bestimmt ihn in erster Linie ästhetisch als Empfangen und Genießen, wie es durch das klassische Verbum „frui“ zum Ausdruck kommt. Wenn Jesus in der Bergpredigt seinen Jüngern den Besitz der Erde verheißt, dann zielt das tatsächlich auf die Welt, in der sie leben. Denn als Gläubige sind sie in der Lage, deren Güter dankbar gegenüber Gott zu genießen, während die Ungläubigen sich nicht als Besitzer, sondern als Räuber erweisen, die die Gaben der Schöpfung mißbrauchen und verlieren, worunter wiederum die Schöpfung leidet.415 Zur Erhaltung seines leiblichen und geistlichen Lebens ist der Mensch, wie die Beobachtungen zur Metapher „edere“ zeigen, bestimmt 413 Vgl. Sp. 2014–2018. 414 Vgl. Sp. 1671: „Ut Sol lucem communicat suam stellis in coelo: Sic Christus, Sol justitiae, Mal. 4, 2. cognitionis salutaris lucem impertit fidelibus suis servis, 2. Cor. 4, 6. Stellarum exercitum educit Dominus in numero, & omnes nomine vocat, Esa. 40, 26. Idem ministros suos in Ecclesia tanquam exercitum sacrum adversus Satanam & mundum educit, eosque vocat nomine, Psal. 68, 12. […] Stellas posuit Deus in firmamento, ad illuminandum terram, Gen. 1, 17. Lux doctrinae, quam afferunt Ecclesiae ministri, sit coelitus allata, & ex solo coelesti verbo deducta, 2. Petr. 1, 16. 19.“ Zu Christus als Sonne und Licht der Welt vgl. auch Sp. 1616 f. Bezieht Glassius die Sterne, die von der Sonne ihr Licht empfangen, auf die Inhaber des Predigtamts, so erkennt Michael Walther im Mond ein „Bild vnd Conterfey der Christlichen Kirchen“: „Gleich wie der Mond all sein Liecht vnd Glantz von der Sonnen empfähet / also erhält auch sie alle ihre Schönheit von der Sonnen der Gerechtigkeit […].“ (Post. Myst., S. 46 f.) Johannes Cogeler (Imagines Elegantissimae. „Erleuchtete Bilder […]“, 1558, Neudruck: Berlin 2014, S. 86) wiederum erkennt im Verhältnis zwischen Sonne und Planeten ein Bild für das Verhältnis von Christus zu seinen biblischen Zeugen: „Sol est regula & norma omnium Planetarum: sic Christus est norma omnium Prophetarum & Apostolorum. Huic omnes Prophetae testimonium perhibent, hoc est, Clare & euidenter pronunciant […] remissionem peccatorum accipere per nomen ejus qui credunt in eum.“ 415 Vgl. Sp. 1718: „Matth. 5, 5. Beati mites, quoniam ipsi haereditabunt terram. […] hos, inquam, terram hanc vere ac tranquilla mente possidere & inhabitare, inque ea gratia & benedictione Jehovae frui, una cum posteris suis, dum impiorum bona tandem ex divina vindicta disperguntur velut in leves ventos: atque ita veros terrae possessores, & conservationis ejus quasi fulcra & columnas esse, cum impii una cum Diabolis, non nisi malae fidei possessores, & injusti quasi rapto-
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zur „fruitio & delectatio corporalis et spiritualis.“416 Mithin verknüpfen „fruitio et delectatio“ auf seiten des Menschen den Empfang der irdisch-leiblichen und der himmlisch-geistlichen Gottesgaben miteinander und verbinden so als die den göttlichen Gaben grundsätzlich angemessene Haltung das irdisch-zeitliche Leben mit dem himmlisch-ewigen.417 Unübersehbar ist nicht nur hier, daß sowohl von der Dialogizität Gottes als auch vom Gabecharakter der Schöpfung bei Glassius nicht mehr gesprochen werden kann, ohne auch das Widerspiel, den Abbruch der Kommunikation des Menschen mit Gott und den Mißbrauch der Schöpfung zu bedenken. Der Zustand des Paradieses, in dem der Mensch einerseits unmittelbar mit Gott zu verkehren in der Lage wäre und er andererseits noch in jedem Mitgeschöpf unverstellt Gottes Zuwendung erkennen könnte, ist aufgrund des Sündenfalls verloren. Mit Chrysostomus hält Glassius unter Hinweis auf 1Tim 6,16 fest, daß Gott für den Menschen nicht nur incomprehensibilis, sondern auch inaccessibilis ist.418 Sinngleich heißt es an anderer Stelle: „Incomprehensibilis419 sunt (inquit Flacius) Dei opera & actiones et neque nos assequi aliquid de iis possemus“, worauf allerdings sogleich die göttliche Lösung des Problems folgt, wenn Glassius mit Flacius fortsetzt: „[…] nisi sacra Scriptura iis uteretur loquendi de Deo formulis, quae rebus humanis propinquae sunt. Itaque Spiritui sancto, Scripturarum autori, placet, propter captus nostri imbecillitatem, nostro more balbutire, & blandius humiliusque, quam majestati tantae convenit, nobiscum per signa & verba agere &c.“420 Im übrigen gilt auch für die Rhetorica sacra, daß Glassius keineswegs übersieht, wie auch der Satan als Widersacher und Nachahmer Gottes sich die sprachlichen Figuren zum Erreichen seiner Zwecke zunutze macht.421
res sint, ob quorum malitiam omnis creatura ingemiscit, suique liberationem a vanitate & abusu nefando tacite a Creatore petit, Rom. 8, 20. 21.&c.“ 416 Vgl. Sp. 1827: „Est autem fruitio illa & delectatio (1.) corporalis & externa , […] (2.) Spiritualis, & interna.“ 417 Vgl. Sp. 1827 f., wo Glassius unter den zu genießenden geistlichen Gaben 1. (die Ziffern bei Glassius marginal) das Wort Gottes nennt, dann 2. den Glauben und schließlich 3.: „Tum de felicitatis aeternae complemento, seu ipsa vita aeterna beatissima […].“ 418 Vgl. Sp. 1614: „Chrysost. hom. 3. de incomprehens. DEI nat. Dicit Apostolus, quod DEUS inhabitet lucem inaccessibilem, quod longe plus est, quam incomprehensibilem. […].“ 419 Bei Flacius heißt es: „Incomprehensibilia namque sunt Dei opera […].“ (Clavis Scripturae, seu de sermone sacrarum literarum, in duas partes divisae, quarum prior singularum vocuum, atque locutionum sacrae scripturae usum ac rationem ordine alphabetico explicat; posterior de sermone sacrarum literarum plurimas generales regulas tradit, […], Frankfurt/Leipzig 1719, Band II, Tract. IV, Sp. 346) 420 Sp. 1531. 421 Zu den Lügen des Teufels vgl. u. a. Sp. 1513, 1522, 1755.
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Dessen ungeachtet aber sind für die Überwindung des Dilemmas der Unerreichbarkeit Gottes für den Menschen drei unerläßliche Faktoren benannt, die miteinander zusammenhängen: Allein der Heilige Geist kann das Wunder vollbringen, daß der sündige, dem Tod verfallene Mensch und der heilige, ewige Gott wieder zueinanderfinden. Dieses Wunder vollbringt er nicht ohne Mittel, Zeichen und Worte, durch die er sich an das menschliche Erfassungsvermögen anpaßt. Diese den menschlichen Dingen verwandten Formulierungen finden wir wiederum in der Heiligen Schrift. Damit aber ist die Schrift in ihrer Fülle Resultat einer göttlichen Kondeszendenz oder Synkatabasis, auf die nicht Gott selbst, sondern vielmehr der Mensch angewiesen ist. Wenn Glassius eben dies wiederholt betont, daß Gott beispielsweise trotz der metaphorischen Zuschreibung von Sinnesorganen auf ihn im Unterschied zum Menschen aufgrund seiner Allwissenheit und Omnipräsenz gerade nicht auf diese angewiesen ist,422 zeigt das aber umgekehrt auch, daß die menschlichen Sinnesorgane nun wiederum die Tür zum menschlichen Herzen sind, die Gottes Geist durch den Bilderreichtum der Schrift durchschreiten will. Was Glassius ausdrücklich für die Anthropopathie, die vom Menschen auf Gott übertragenen Metaphern, formuliert, gilt mutatis mutandis auch für die anderen Figuren und Tropen der Heiligen Schrift: „Anqrwpopa,qeia est metaphora, qua, quod creaturis & praesertim homini, proprie competit, ad Deum & res divinas per quandam similitudinem transfertur. Vocatur & sugkata,basij, condescensio, quia in sermone sacrosancto Jehova quasi descendit ad nos, & verbis humanis mysteria sua coelestia exprimit.“423 Hinsichtlich des Menschen ist diese Vorgehensweise des Geistes deshalb heilsam, weil der Zugang zu Gottes Wirklichkeit so eröffnet wird, daß der Mensch vor einer für ihn tödlichen unmittelbaren Konfrontation mit Gottes Majestät und Heiligkeit geschützt wird.424 Dies wird von Glassius nunmehr bei seiner Betrach-
422 So beispielsweise mit folgendem Augustinzitat (Sp. 1550): „Necessaria enim haec membra hominibus fuerunt, non Deo: quia inefficax hominis consilium fuisset, nisi cogitamen corpus implesset: Deo autem non necessaria, cujus voluntatem non tantum sine aliqua molitione opera subsequuntur, sed ipsa statim opera cum voluntate procedunt. Caeterum ipse totus oculus, quia totus videt: & totus auris, quia totus audit: & totus manus, quia totus operatur: & totus pes, quia totus ubique est &c.“ (de Trinitate) 423 Sp. 1530. Beim jungen Johann Gerhard heißt es in direkter Gebetsanrede an Christus: „Uerba enim quae locutus es nobis Spiritus & vita sunt, atque huius seculi verbis futurae vitae declaras gaudia.“ (Meditationes Sacrae [1603/4]. Mit einem Faksimile des Autographs. Kritisch herausgegeben und kommentiert von Johann Anselm Steiger [= DeP I,2], Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 103) 424 Bei Johannes Möller wird es dann heißen (Similitudines, § 30.a): „Wer in eine Sonne oder Mond=Finsternüß mit offenen Augen sihet / der verblendet jhm sein Gesicht / wer aber durch ein löchrichtes darzu bereitetes Papier sihet / der kan die Finsternuß desto besser ersehen / und schonet zugleich seines Gesichts: Also wenn uns GOtt seine Geheimnüsse als in einer Finsternüß
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tung der Schatten-Metapher (umbra) anschaulich ausgeführt. Wenn nach Lukas 1,35 der Heilige Geist die Jungfrau Maria überschattet, dann ist das per anthropopathian gesprochen. Impliziert ist damit zum einen, daß der Heilige Geist tatsächlich kommt und wirkt, zum andern, daß er dies auf eine Maria schützende und bewahrende Weise tut, wie Gott es im Tabernakel und mit Mose in Ex 33,22 f. getan hatte, der Gott nicht von Angesicht, sondern nur von hinten, a posteriori, sehen durfte.425 Darin aber sieht Glassius durchaus einen allgemein für den Umgang mit der Schrift und ihren Figuren gültigen Grundsatz, wenn er vom Schatten der unvollkommenen Offenbarung göttlicher Dinge spricht, mit dessen Erwähnung er das Kapitel über die Anthropopathie schließt, und Gott unter Aufnahme von 1Kor 13,12 darum bittet, dieser möge in eben solchem Schatten ihm und seinen Lesern himmlischen Schutz geben, bis auch sie das ewige Leben erlangen, wo sie nicht mehr durch schattenhafte Spiegel, sondern von Angesicht zu Angesicht Gott erkennen werden.426
und Spiegel in dieser Sterbligkeit fürstellet / werden wir vollend blind und unverständig / wenn wir sie mit offenen Vernunffts=Augen ansehen wollen / besser aber thun wir / wenn wir sie durch die H. Schrifft anschauen / so erlernen wir sie desto eher / und gläubigen jhnen desto leichter.“ Vgl. a. a. O., § 36.e: „Wie dem / der allzu steiff und lang mit offenen Augen in die Sonne sihet / die Sonne zur Finsternüß wird / und jhm endlich dunckel fürkomt: Also wer mit seiner Vernunfft allzusehr die Geheimnüsse GOttes durchschauen wil / dem werden sie endlich gar dunckel / und unvernemlich / und er geräht desto mehr in Irrtuhm.“ 425 Vgl. Sp. 1535: „Huc pertinet appellatio faciei divinae, quam videri in hac vita posse Jehova negat, Exod. 33, 20.23. Cui posteriora Dei, seu quae a tergo sunt, avnqrwpopaqw/j opponuntur, atque ea visurum Mosen promittitur: iisque aliqua gloriae divinae imago, revelatione coelesti in hac vita ostensa, intelligitur, sicut quis hominem ex tergo, & sic imperfecte, non autem perfecte & clare e facie agnoscit. Confer 1. Cor. 13,12.“ Zur aposteriorischen Gotteserkenntnis in Arbor vitae s. o., Kap. 2.2, S. 60. 426 Vgl. Sp. 1627 f.: „Sicut Mosi etiam in peculiari divinae gloriae apparitione, manus Dei opertione & quasi evpiskiasmw/| opus fuit, ne a divinitatis apparentis majestate absumeretur, Exod. 33,22. Tum in arcana foetus illius sanctissimi, in virginali utero Mariae, formatione, & ab omni peccati labe defensione, & cum persona tou/ lo,gou unitione mirandissima. Hanc emphasin ipsa umbrae vox innuit, quae luci contraria, & incomprehensibilis atque occultae evnergei,aj Dei index est, notata etiam nubis evpiskiasmw/| in tabernaculo foederis, Exod. 40, 35 […]. Et si cum umbra imperfectae rerum divinarum revelationis, caput hoc de avnqrwpopaqei,a| claudimus. Deum rogantes animitus, ut in umbra coelestis suae protectionis nos paterne foveat reficiatque, usque dum ad fulgentissimam vitae aeternae lucem perveniamus, ubi non per umbratile speculum, in aenigmate, sed de facie ad faciem ipsum videbimus & cognoscemus, 1. Cor. 13,12.“ Auch der reformierte Theologe Wilhelm Zepper nimmt die Figur der Überschattung als Bezeichnung des verborgenen Wirkens des Geistes bei der jungfräulichen Empfängnis Christi auf, ohne freilich auf den Aspekt des Schutzes einzugehen (Sylva, S. 79): „Et obumbrandi vocabulo significat arcanam Spiritus S. operationem, quâ ex massa & semine Mariae corpus Christi creavit, idque miraculosè, & praeter naturae ordinem, sine virili semina, mirabili, & nobis inenarrabili virtute: & foetum hunc à primo
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Im Vergleich zur eschatologischen Gottesschau erscheint daher die irdische, medial gebundene, als unvollkommen und schwach, wie Glassius hier und auch an anderer Stelle wiederum unter Hinweis auf 1Kor 13,12 betonen kann. Andererseits aber gilt nun nach 2Kor 3,18 zugleich auch, daß das Spiegelbild der göttlichen Herrlichkeit aufgrund der schattenhaften Verhüllung vom Menschen mit aufgedecktem Angesicht betrachtet werden kann, so daß die Wirkung dieser Herrlichkeit auf die Betrachter durch den Spiegel nicht gehemmt, sondern gefördert wird.427 Damit aber ist zwar kein „absoluter“ oder himmlischer Gottesdienst mit der dazu gehörigen Gotteserkenntnis schon unverhüllt auf Erden möglich, wohl aber auf der Grundlage seiner Selbstoffenbarung in den media des Wortes und der Sakramente die wahrhafte Anrufung des Namens und damit des Wesens Gottes selbst, wie Glassius wiederum Flacius in einem Zitat über die in der Schrift häufige metonymische Wendung „NOMEN DEI“ sagen läßt, wodurch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einer unmittelbaren Anrufung Gottes markiert wird.428 Es klang in einigen der Aussagen bei Glassius bereits an, daß der Geist die sprachlich-bildlich vermittelte und so den Menschen ergreifende Gottesoffenbarung durch eine doppelte Setzung gewährleistet. Das ist zum einen die Berufung Israels und damit verbunden die Institutionalisierung des alttestamentlichen Kultus. Das ist zum andern das Predigtamt, das Glassius im Alten wie im Neuen Testament verankert sieht. Der alttestamentliche Kultus bietet in seiner lebensumgreifenden (z. B. auch das Königtum429 einschließenden) Gestalt über die Schöpfung hinausgehend zahlreiche weitere – nunmehr nicht natürliche, sondern kulturell-künstlerische – conceptionis momento miraculosè sanctificavit in utero materno, efficiens, ne virginis Mariae peccatum in foetum hunc propagaretur, sed pura esset & integra generatio […].“ 427 Vgl. Sp. 1869: „Speculum, & inspectio illius, ad imperfectionem cognitionis mysteriorum Dei in hac vita, notandam adhibetur, 1. Cor 13, 12. Quemadmodum imperfecte res corporeas adspiciunt, qui earum imagines in speculo intuentur: Sic in hac vita tenuem quandam Dei & divinorum mysteriorum cognitionem habemus ex revelato verbo, si ad perfectissimam illam vitae aeternae sapientiam conferatur. Qua insuper specula quaedam, quem a sole fulgorem accipiunt, radiis quibusdam ad objecta transmittunt, igitur eleganter verbum katoptri,zesqai de luce cognitionis divinae Paulus usurpat, 2. Cor. 3, 18.“ 428 Vgl. Sp. 1505: „Cur tam crebro ponatur nomen pro ipso Deo, dicunt Theologi hanc esse rationem, quia nos non simpliciter aut absolute agnoscimus vel colimus Deum, sed tantum eatenus, quatenus se in verbo ac Sacramentis suis patefecit, ad eaque tum se, tum & cultores suos alligavit, Sic ergo addita voce nominis ad DEUM aut JESUM, indicari, nobis esse negotium cum DEO sic pate facto, illum nos celebrare, & ab eo omnem opem petere ac exspectare.“ = Flacius, Clavis I, Sp. 739. 429 So gilt von dem zum König gesalbten Hiskia, der zeitweilig das Joch Sanheribs von Juda fernhielt, wie Glassius Jes 10,27 unter Berufung auf den Kommentar von Rabbi Kimchi deutet: „Qua in re pulcherrimus typus Christi praecessit, qui ad hoc est Spiritu Dei unctus, ut jugum Satanae ab ipso corrumperetur.“ (Sp. 1745)
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Bilder und Figuren für die Gotteserkenntnis dar, die quasi die Umrisse eines Bildes vorzeichnen, das dann durch dessen Vollendung mit lebendigen Farben abgelöst wird.430 In ähnlicher Weise kann Glassius davon sprechen, daß auch die Patriarchen und Propheten den Ackerboden durch Bekämpfung des Götzendienstes vorbereitet und die ersten Samen der evangelischen Verheißung ausgesät haben, allerdings mit dunklen Hüllen der Worte zwar Christum venturum in mancherlei Hinsicht umreißen konnten („delinearunt“), aber selber es nur bis zum grünen Halm, nicht aber zur Reife des Saatfeldes und damit zur Erfüllung der Weissagungen bringen konnten.431 Auf die so die neutestamentliche Erfüllung vorweg skizzierende Bilderwelt des Alten Testaments kommt Glassius vor allem im achten Kapitel der Rhetorica sacra zu sprechen. Institutionen wie das Königtum Davids, das Priestertum Aarons, der Levitenstand, Orte wie das gelobte Land oder Jerusalem, Gebäude und Kultgegenstände wie der Tempel, der Altar oder das Hilasterion, selbst die Säulen und die Decke des Tempels, die rituellen Handlungen wie die Darbringung der Erstlinge, die Beschneidung, die Besprengung mit Blut oder mit Wasser, die Salbung mit Öl, gelten explizit oder auch implizit als „typi & umbrae“432 für christologische, ekklesiologische oder eschatologische Sachverhalte, die im Neuen Testament realisiert sind.433 Aber auch über die rituellen Bezüge weit hinausgreifend kann bei Betrachtung des Materials festgestellt werden, daß das gesamte Alte Testament einschließlich seiner Geographie, seiner Alltagsgegenstände und seiner geschichtlichen Episoden als Bilderbuch dient fürs Neue Testament. Was hier durchweg gilt, bringt Glassius auf den Punkt, wo er die „Corpus“Metapher in ihrer christologischen und ekklesiologischen Realisierung behandelt und dabei formuliert: „Dum corpus opponitur umbris, figuris & typis in V. Test. & ipsa veritas seu complementum, rerum per umbras illas praefiguratarum, ea notatur. Col. 2,17. Quae sunt umbra futurorum, corpus autem Christi, h. e. veritas & complementum in Christo est. […] In eod. cap. v. 9. omnis plenitudo Deitatis habitare in Christo dicitur swmatikw/j, corporaliter, h. e. vere, perfectissime, solidis430 Vgl. Sp. 1677: „Quando vero ceremoniae & typi Vet. Testam. dicuntur umbrae respectu Christi, Col. 2, 17. Hebr. 10, 1. non naturalis, sed artificialis, & pictoria intelligitur, pictores enim prius skia.n & umbratilem quandam delineationem praemittunt, postmodum vivis quasi coloribus imaginem absolvunt, umbra illa & delineatione prima evanescente.“ 431 Vgl. Sp. 1753: „Patriarchae & Prophetae agrum Dei sentibus idololatricis undique oppletum expurgarunt, concione legis veluti aratro quodam prosciderunt, & prima semina promissionum Evangelii sparserunt, verum illa in herba tantum manserunt, quippe quae Christum longe post, venturum obscuris verborum involucris nonnihil delinearunt; maturitatem hujus segetis, id est, oraculorum impletionem vivi attingere non potuerunt.“ 432 Sp. 1889 f. 433 Vgl. Sp. 1874–1897.
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sime, non typice & umbraliter, sicut in V. Test. Deus se manifestavit. Est autem inhabitatio illa & unio personalis & singularissima, uti ex Joh. 1, 14. 1.Tim. 3, 16. Hebr. 2, 14. & alibi docetur latius.“434 Dazu kommen alttestamentliche Stationen wie das Passalamm, Adam und Eva, die eherne Schlange, Jona, die im Neuen Testament ausdrücklich als Typen Christi aufgenommen werden,435 worin Glassius einen deutlichen Hinweis darauf sieht, daß es im Alten Testament neben dem sensus literalis, in dem direkte Prophezeiungen aufs Neue Testament formuliert sind, auch einen sensus typicus & mysticus gibt.436 Das Predigtamt wiederum erkennt Glassius als göttliche Setzung für die Erschließung bzw. „Entschlüsselung“ der Figuren aus den beiden Bereichen der Schöpfung und des Alten Testaments. Denn, so entnimmt Glassius Stellen aus beiden Testamenten, den zur Wortverkündigung Berufenen kommt im Gefüge der göttlichen Selbstoffenbarung eine zentrale Aufgabe zu. Aufgrund einer collatio von Jes 54,11 f., Mt 16,16.18, Joh 6,44 f., 1Kor 3,11, Jes 53,11 f., Kol 4,3, 1Kor 16,9, Jes 60,11 und Lk 24,32 erkennt der Gottesgelehrte in Aposteln, Evangelisten und allgemein in den treuen Predigern des Wortes Gottes und in ihren Predigten jene im biblischen Bild (Jes 54,11 f.) erwähnten Fenster aus Kristall, durch die das Licht des Himmels in die Kirche einfällt, und jene Tore von Rubinen, durch die die Eintretenden von himmlischem Licht erleuchtet werden.437 Christus bezeichnet sie nach Joh 4,36–38 metaphorisch als geistliche Erntearbeiter, wobei Glassius diese Stelle so deutet, daß er der Aussaat durch die alttestamentlichen Propheten die Erntearbeit durch die neutestamentlichen Apostel gegenüberstellt.438 Auch die metaphorische Rede davon, daß Gott durch die Hand von Propheten rede, deutet auf das ministerium, 434 Sp. 1533 f. 435 Vgl. Sp. 2058 f. 436 Vgl. Sp. 2057: „Sensus ipse a Spiritu sancto intentus tum literalis est, tum typicus & mysticus.“ 437 Jes 54,11 f. lautet in der Kurfürstenbibel: „Die [sic!] Elende / über die alle Wetter gehen / (du Christliche Kirche die du den Verfolgungen und allerlei Widerwärtigkeiten in diesem Leben bist unterworffen /) […] sihe / ich will deine Steine wie einen Schmuck legen / und will deinen Grund mit Saphiren legen / 12. Und deine Fenster aus Crystallen machen […].“ Dazu das paraphrasierte Zitat in der Philologia sacra, Sp. 1733: „Fenestrae ejus dicuntur esse ex crystallo, quibus Apostoli, Evangelistae, aliique fideles verbi divini praecones, eorumque sacri de JESU Christo sermones intelliguntur, per quos, ut fenestras crystallinas & pellucidissimas, lux coelestis Ecclesiae illabitur. Portae ejus dicuntur esse ex lapidibus gemmae rutilantis […] per quas jugis verbi divini prae dicatio intelligitur, ostium illud sermonis, Col 4, 3. 1.Cor. 16, 9. portae illae jugiter apertae, Esa. 60, 11. per quas qui ingrediuntur, quasi a gemma rutilante illustrantur, & ab igne coelesti accenduntur, Luc. 24, 32.“ 438 Vgl. Sp. 1753: „Messores in spirituali messe, quae collectio Ecclesiae est, metaphorice vocantur a Christo, verbi divinie praecones ac ministri, Joh. 4, 36. 37. 38. ubi insignis est eorum, qui seminarunt, & qui metunt, collatio: per illos Prophetas Veteris Testamenti, per hos Apostolos in Novo Testamento a se missos Salvator intelligit.“
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das darin besteht, daß die Propheten als Organe des Heiligen Geistes Haushalter jener Geheimnisse Gottes sind, die sie quasi mit ausgestreckter Hand selbst empfangen haben.439 Der Schmuck der Kirche, so nimmt Glassius eine weitere amtstheologische Metapher der Schrift auf, seien nicht die Kathedralsitze und andere Reichtümer, sondern die auf die Niedrigkeit ihres Ministeriums verweisenden Füße der Apostel und ihrer Nachfolger.440 Auch die Sohnschaft oder Kindschaft kann metaphorisch bezeichnen, was durchs ministerium verbi geschieht, wenn Paulus die durch seine Predigt zu Christus Geführten als seine Söhne bezeichnet.441 Wie die Sterne nach Gen 1,14 kraft des ihnen mitgeteilten Lichtes die Aufgabe haben, Tag und Nacht zu teilen, ist es die Aufgabe der Diener am Wort (ministri verbi), das ihnen durch Christus mitgeteilte Licht analog so einzusetzen, daß sie in der Lage sind, geistlich Tag und Nacht zu unterscheiden: „Ministrorum verbi est, dividere inter diem & noctem, lucem & tenebras, hoc est, discrimen boni & mali, pietatis & impietatis, diligenter ostendere & inculcare […].“442 Aus all diesen Eigentümlichkeiten und Setzungen des dreieinigen Gottes, seiner internen Dialogizität und Imagohaftigkeit, den beiden Wesenseigenschaften, die er auf je besondere Weise seiner gesamten Schöpfung und insbesondere den Institutionen des Alten Testaments mitteilt, ergibt sich nun die Aufgabe der Diener am Wort bei der Auslegung der Schrift in diesem komplexen Verweisungsgefüge. Ihre Auslegung, so beteuert Glassius mit dem französisch-reformierten Gelehrten Andreas Rivetus (1572–1651), gleiche weniger einer philosophischen Erkenntnis. Vielmehr nehme sie ihren Ausgangspunkt bei der sorgfältigen Betrachtung jener geschöpflichen Dinge und ihrer Kräfte bzw. Wirkungen, die Gott in seiner Offenbarung als Spiegelbilder benutzt, um durch sie bis zu einem gewissen Grad göttliche Dinge den Augen der Leser darzubieten.443 Die Aufgabe der Rhe439 Vgl. Sp. 1795: „De phrasi, qua DEUS in manu Prophetarum loqui dicitur, 2. Reg. 17, 13. Esa. 20, 2. Hag. 1, 1. c. 2, 1. quidam non incongrue: In manu significat ministerium: Prophetae namque organa sunt Spiritus Sancti, & dispensatores mysteriorum DEI, quae quasi per manum expendenda receperunt.“ 440 Vgl. Sp. 1802: „Non superbi caballi, sellae cathedrales, non speciosa pallia, galeri Cardinalitii, & alia preciosa in mundo, commendantur; sed simplicter pedes, quo quid aliud, quam humilitas Apostolicae legationis denotatur, & omnes eorum in docendi munere successores, ad eandem virtutem instigantur? 1. Cor. 2, 3. 4. Galat. 4, 13. 14. &c.“ Mit dem Hinweis auf weitere Stellen wie Eph 6,15, Ez 16,10, Gal 2,14, 2Kor 5,10 und Hebr 12,13. 441 Vgl. Sp. 1822: „Cumque ministerio verbi hoc tantum opus perficiatur, Paulus eos etiam, quos ad Christum, opera sua sancta, per Evangelium perduxit, suos filios vocat, 1.Cor. 4, 14. 17. Philem v. 10.“ 442 Sp. 1672. Glassius läßt hierzu eine collatio folgen von Jes 5,20, Jer 15,19, Röm 13,12 f., 2Kor 6,14 ff., Jes 6,2, Apg 17,31, 1Kor 15,41, 12,4 ff., Ps 148,3, Hi 38,7, Offb 1,20, Jes 51,16 und Dan 12,3. 443 So schreibt Glassius bei den grundlegenden Erwägungen zur „dignitas“ der Metaphern, Sp. 1526 f.: „Et vere dici potest, tou/ fu,sewj kai. kti,sewj Qeou/ frontisth,rion, nec non th/j
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torica sacra im Dienst der Schriftauslegung ist es mithin, durch das von Glassius reichlich praktizierte Nachzeichnen der göttlichen Kondeszendenz in den Worten der Schrift den Adressaten der Botschaft nun gegenläufig zur Aszendenz, zum Hinaufkommen zu den göttlichen Dingen und Gaben zu verhelfen. Solche Aszendenz aber ist nichts anderes als ein dem Geist als dem sich selbst erniedrigenden Verfasser der Schriften angemessenes, geistlich-demütiges Auslegen geistlicher Dinge für geistliche Menschen, wie Glassius unter Hinweis auf 1Kor 2,13 festhält.444 Mit altkirchlicher Terminologie aus der Feder von Theodoret und Gregor von Nazianz konkretisiert Glassius diese Aufgabe in der Auslegungsregel, daß anthropopathische Aussagen über Gott jeweils nun Gott gemäß ausgelegt werden müssen.445 Das Begriffspaar avnqrwpopaqw/j/qeoprepw/j findet sich daher unzählige Male in der Rhetorica sacra. Als Beispiel mag an dieser Stelle das repräsentative und christologisch gewichtige Zitat zum rechten Verständnis der Rede vom „Sitzen zur Rechten Gottes“ genügen: „Non proprie ea intelligenda, de situ quodam locali in certo coeli loco; sed avnqrwpopaqw/j Scripturae more posita, qeoprepw/j intelligenda & explicanda est de dominio praesentissime & potentissime operantis gubernantisque, uti clara explicatio habetur 1. Cor. 15, 25. Eph. 1, 20. 21. 22. cap. 4, 10. Hebr. 1, 3. 4. c. 8, 1.“446 Gott gemäße Auslegung hat dabei insbesondere die Regel zu beachten, daß bei metaphorischen Übertragungen kreatürlicher Sachverhalte auf Gott vor allem jede Unvollkommenheit auszuscheiden ist.447 Bei der Übertragung von menschlichen Affekten auf Gott ist zudem zu bedenken, daß es sich dabei nicht um zufällige, sondern um wesenhafte Aussagen handelt. „Quidam ita Deo tribuuntur, ut vere in ipso sint, sed non ea ratione imperfecta, & per modum qeognwsi,aj paidouth,rion hic apertum haberi, & piae sedulitatis ac diligentiae gymnasium pro-
poni, in quo de rebus divinis, ex inspectione ac consideratione rerum naturalium, evidens cognitio hauriri, a verbi coelestis scrutatoribus piis, abunde possit. Rivetus in Isagoge ad Scripturam sacram cap. 5. p. 49. Scriptura, dum versatur praecipue circa ea, quae gratiam & gloriam aeternam spectant, cognitionem omnem Philosophicam ipsa sibi substernit, eque rerum naturis tantum sumit, quantum opus est ad fabricandum speculum, per quod divina oculis nostris quadantenus repraesentantur.“ 444 Vgl. Sp. 1531: „DEUS nobis in sermone sugkatabai,nei, condescendit, uti dictum. Nos vero in explicandis & intelligendis istiusmodi humilibus, mente devota ad Deum ascendamus, & pneumatikoi/j pneumatika. sugkri,nontej, ut Apostolus loquitur 1. Cor 2, 13. digne de Deo & mysteriis divinis sentiamus, id quod sine Spiritus sancti gubernatione fieri non potest, […].“ 445 Vgl. Sp. 1531: „ vAnqrwpopaqw/j & oivkonomikw/j (verbo Theodoreti, dial. 2. qui Inconfusus inscribitur) quae de Deo dicuntur, qeoprepw/j, h. e. convenienter Deo, intelligenda sunt, ut Nazianzenus orat. 1. de Filio loquitur.“ 446 Sp. 1546. 447 Vgl. Sp. 1531: „Huc pertinet Theologorum canon: Quaecunque a creaturis transferuntur ad Deum, repurganda prius sunt ab omnibus imperfectionibus, & tum demum id, quod perfectum est, Deo attribuendum.“ Es folgt ein Hinweis auf die Hohelied-Auslegung Gregors von Nyssa (Sp. 1531 f.).
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accidentis, ut in homine; verum ratione longe puriori & eminentiori, adeoque per modum ipsius essentiae seu substantiae.“448 Das schöpferische Reden Gottes in Gen 1 dürfe man daher nicht im Sinne einer körperlich hörbaren Rede verstehen, da Gott Geist ist, weshalb für die stereotype Wendung „und Gott sprach“ gilt, was Glassius mit einem Zitat von Musculus zustimmend festhält: „Humano more Moses de Deo loquitur. Non est autem humano more locutus Deus. Verbum illius expressa est voluntatis illius virtus & efficacia […]. Ubi autem vox corporea sonitu transitorio prolata excluditur, facile cogitare licet, loqui Deum, nihil esse aliud, quam aliquid certa & efficaci voluntate statuere & facere.“449 Auch vom Arbeiten und Ruhen Gottes redet die Schrift, so Glassius mit einem Chrysostomus-Zitat („Hom. 10. in Gen.“), „[h]umano more & quadam attemperatione ad nostram institutionem“.450 Entsprechendes gilt von der „visio Dei“, die auf Gottes gubernatio verweist,451 und vom Riechen Gottes, wodurch seine benevolentia angezeigt wird.452 Die Rede von Gottes Wohnung im Himmel ist mit Flacius’ Clavis als „metaphorica significatio“453 anzusehen, das Aufheben unserer Augen zum Himmel wiederum geschieht, mit Brenz gesprochen, „humano quodam & paedagogico more“.454 Auch die zum christologischen status exaltationis gehörende Höllenfahrt (descensus ad inferos) und die Himmelfahrt (ascensus ad coelos) sind entsprechend geistlich zu verstehen.455 So nimmt es nicht wunder, daß sich Glassius’ Metaphernlehre über weite Strecken wie eine Lehre von den Eigenschaften Gottes liest. Auch sonst lassen sich die einzelnen Phänomene an vielen Stellen fast naturgemäß bestimmten dogmatischen Loci zuordnen. So dominieren bei der Metonymie, jener rhetorischen Figur, die insbesondere vom Verhältnis von Ursache und Wirkung lebt, biblische Aussagen, die sich der Pneumatologie, dem Wirken des göttlichen Geistes zuordnen lassen.456 Die Kontrafaktizität der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus und des dieser Rechtfertigung entsprechenden angefochtenen Christenlebens kommt besonders im Kapitel über die Ironia zur Sprache. Mehr als einmal setzen Gott, Christus oder von ihnen beauftragte Prediger wie Elia dieses Mittel ein, um den Sünder seiner Sündhaftigkeit zu überführen, wofür sich schon in der Urgeschichte mit Gen 3,22 in der ironischen Aufnahme des Versprechens des Versuchers: „Ihr werdet sein 448 Sp. 1550 mit der Fortsetzung ebd: „Et ita voces, quibus humani ejusmodi exprimuntur affectus, prius ab omni imperfectione depurandae mente fideli, atque sic de Deo rite intelligendae sunt.“ 449 Sp. 1563 f. 450 Sp. 1568. 451 Vgl. Sp. 1574 f. 452 Vgl. Sp. 1577 f. 453 Sp. 1589. 454 Sp. 1590. 455 Vgl. Sp. 1727. 456 Vgl. Sp. 1426–1431.
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wie Gott“ ein prominentes Beispiel findet.457 Auch bei der Versuchung Abrahams verstellt sich Gott in ironischer Weise, um Abraham zu einem guten Ziel zu führen, welches in der Darbietung einer Praefiguration des Messias durch diese Geschichte gipfelt.458 Ähnlich geht Christus mit der kanaanitischen Frau in Mt 15,24 um.459 Die Figuren dienen hier also sowohl textintern als auch in mimetischer Applikation des Textes hinsichtlich des Lesers seelsorglichen Zwecken, insbesondere der Stärkung des Glaubens. Das gilt auch von Sprichwörtern und von den Rätselworten. Exemplarisch bringt Glassius das am Ende des Kapitels über die Sprichwörter mit folgendem Flaciuszitat auf den Punkt: „Et Christus Matth. 17, 20. & Paulus 1. Cor. 13, 2. ad ostendendam fidei efficaciam, sumit locutionem & amplificationem a re inusitata & impossibili, quod ea etiam ipsos montes transferre queat. Aliqui curiose haec dicta de fide ad rem applicantes dicunt, montes esse potentes adversarios &c. Sed nihil tali applicatione opus est, cum verissimum sit, esse amplificationem a re impossibili sumtam, qua ostenditur, credenti omnia esse possibilia.“460 Wie in der Grammatica sacra gilt auch in der Rhetorica der Primat des Literalsinns: „Sensus proprius […] literalis semper est eligendus, nisi evidenter probetur contrarium.“461 Dafür sind insbesondere die Abendmahlsworte immer wieder 457 Vgl. Sp. 1513 f. Diese konfessionsübergreifende Einsicht verbindet Stapleton mit der Schulregel der Philosophen: „Actus accipit speciem ex obiecto“ und erläutert: „Als zu einem Exempel: Dort in dem Paradeiß sagt die Schlang zu der Eva / wann sie vonn der verbotenen Frucht essen werden / so sollen sie den Göttern gleich werden. Nach dem sie aber davon geessen / erholet auch GOTT dasselbig Wort vnnd sprach: Sehet Adam ist vnns nahet gleich worden. Diß saget aber GOtt inn einer andern Meynung / dann zuvor die Schlang. Die Schlang redet das / mit grosser Verheissung / sie zu verführen: Vnd war ein teufelischer Betrug. GOtt redet es / sie gleichsam außzulachen / auch jhnen vnnd allen jhren Nachkommenden zu Gemüth zuführen / Daß sie nicht allein das nit bekommen / was jhnen die Schlang verheissen / sondern auch das verlohren hätten / was sie zuvor habt […].“ (Kirchenpostill 2, S. 95) 458 Vgl. Sp. 1520: „Simulationem DEI tentatoriam hanc fuisse, ex v. 1. & ipso eventu constat. In bonum autem finem ea directa fuit, tum respectu Dei, ut ostenderet, se requirere ab homine obedientia, utut praecepta sua nostrae rationi absurda videantur, atque ita plenariam in voluntatem suam resignationem: tum respectu Abrahami & filii Isaaci, ut utriusque fides, virtus & constantia in sancto Dei obsequio innotesceret: tum respectu Messiae, cujus passio, mors & resurrectio, in hoc musthriw,dw typo praefigurata est, ut alibi docetur latius.“ 459 Vgl. Sp. 1520. 460 Sp. 1977. 461 Sp. 1455 (mit einem Bellarminzitat). Glassius wendet kurz zuvor (Sp. 1454) diesen von ihm geteilten Grundsatz Bellarmins gegen dessen Verständnis der Sünde in Röm 6–8 als Konkupiszenz und hält daran fest, daß hier von Sünde im eigentlichen Sinne die Rede ist. Zur Rede von Christus als dem Brot, das der Welt das Leben gibt, korrigiert Glassius die metaphorische Deutung der Welt auf die Ungläubigen und vertritt die Realität des ausgesagten Universalismus (vgl. Sp. 1465 f.). Bei den Abendmahlsworten wiederum gilt, daß zwar die Rede vom „Kelch“ tropisch, die Rede von Christi Leib und Blut aber realiter zu verstehen ist. Vgl. Sp. 1467: „Etsi autem hic tro-
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ein bevorzugtes Anschauungsmaterial, auf das Glassius eingeht, um gegen einen „abusus“ der figürlichen Deutung vorzugehen.462 Erst wenn der sensus literalis nicht mit der Glaubensregel übereinkommt und vor deren Hintergrund Unsinniges aussagen würde, ist nach dem tropischen Sinn zu fragen.463 Ein innerbiblisches Beispiel für eine notwendige Korrektur eines verfehlten wörtlichen Verständnisses durch ein tropisches ist das Wort Jesu in Lk 22,36 vom Kaufen eines Schwertes angesichts seiner bevorstehenden Passion, das die Jünger „proprie“ verstehen, eine Absurdität, die dann von Jesus in Vers 38 „modeste“ getadelt wird.464 Bei der von Glassius auch als „evolutio tropi“465 bezeichneten Auslegung der rhetorischen Phänomene lassen sich immer wieder Grundmuster entdecken, die sich nach den Regeln der Logica sacra bzw. den Zuordnungen der systematischen Theologie klassifizieren lassen. Sachverhalte aus Gottes Schöpfungswerk oder aus den gottesdienstlichen Riten Israels werden auf Entsprechungen in seinem Erlösungswerk bezogen, solche aus dem Alten Testament auf Entsprechungen im Neuen Testament, irdisch-materielle Dinge auf himmlisch-mystische. So zeigt die Verwendung der Verbums ar'B' in Gen 1 und Ps 51,12 die Analogie zwischen dem schöpferischen und dem auf die Rechtfertigung des Sünders zielenden erlösenden Handel Gottes an, so daß gilt: „Tam solius Dei opus est creare cor purum“.466 Für die Sonne und für die Gestirne im Werk der Schöpfung gibt es geistliche Entsprepus in voce poculi est, & ita in ipsis institutionis S. coenae verbis: tamen longe alia ejus ratio est, quam istius, quam in verbis: Hoc est corpus meum &c. Hic est sanguis meus N. Testamenti &c. Sacramentarii constituunt.“ 462 Vgl. Sp. 1477: „Atque haec quidem recte se habent, sed male fit a Calvinianis ad rem Eucharisticam accommodatio, ac si in verbis institutionis Sacrae coenae substantialibus: Hoc est corpus meum, hoc est sanguis meus &c. similis inesset tropus, sensus eo, quod corpus & sanguinem Christi esse, idem sit, ac esse signum ac symbolum corporis & sanguinis Christi, quae Oecolampadii & aliorum est detorsio. At vero de sensu verborum illorum Test. Christi Salvatoris, non ex analogia exemplorum quorundam (in tanto hoc mysterio plane alienorum) sed ex ipsa intentione & verbis instituentis claris & perspicuis, captivata ratione sub obsequium fidei, faciendum & judicium: cumque absurditas revera nulla sit (erroneo vero rationis humanae judicio quid non in mysteriis Dei absurdum?) proprio sensu, sine ulla tropica translatione & detorsione, ea accipienda, & interpretanda […].“ 463 Vgl. Sp. 1454 f.: „Praesertim vero propria vocabuli significatio arcte tenenda, nisi & evidenter tropica significatio demonstretur.“ 464 Vgl. Sp. 1504: „Sed Christus, voce sua, sermonem abrumpit, satis est, inquiens, ac discipulorum absurditatem modeste refrenat […].“ Verbunden ist dies freilich ebd. mit einer tropischen Deutung der Rede vom Schwert auf die Jesus bevorstehende Auseinandersetzung, für die aber auch 100 Schwerter nicht genug wären. 465 Vgl. z. B. Sp. 1681: „Evolutio tropi haec est: Quemadmodum […] Ita […]“, 1788: „Explicatio ac evolutio tropi ex allegatis dictis evidenter erui potest.“ 466 Sp. 1662, mit der Fortsetzung: „[…] h. e. hominem regenerare, a peccatis mundare, justificare, ac salvare, atque creare ipsum.“
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chungen in Christus und in den Inhabern des Predigtamts im Werk der Erlösung und der Heiligung,467 ja, die Ordnung in der Kirche bildet letztlich die schöpferische Ordnung des Himmels ab: „Et quemadmodum in coelo naturae omnia sunt ordinatissima, lucis & fulgoris plena: Ita in Ecclesia, Deus ordinis & pacis, 1. Cor. 14, 33. convenientissimo mediorum ordine credentes suos ducit, mirificat, salvat: & id splendore verbi sui salvifici &c.“468 Dem leiblichen Geborenwerden in der Schöpfung entspricht zum einen die Geburt des Erlösers aus der Jungfrau, zum andern ein geistliches Geborenwerden der Gläubigen durch den Heiligen Geist.469 Das gesamte Gebiet der Pflanzenmetaphorik läßt sich, sowohl was die einzelnen Pflanzenteile als auch die Pflanzenarten betrifft, in seinen verschiedenen Aspekten auf das Wachstum der Christen im Glauben und auf die Ausbreitung der Kirche übertragen.470 Was die alttestamentlichen Typen betrifft, so gilt, daß sie primär christologisch, dann aber auch sekundär auf die Kirche bzw. die ihr zugehörigen Gläubigen übertragen werden können. „Caeterum, ut a personis typicis quaedam desumta, Christo attribuuntur: Ita vicissim a Christo ipso quaedam translationes fiunt ad Ecclesiam & quae eam attinent.“471 Die Metaphern „Corpus“ und „Ecclesia“ bringen gleichermaßen zum Ausdruck, daß Sachverhalte, die von Christus ausgesagt sind, mutatis mutandis auch von seinen Christen, vom Wort, vom Glauben oder von der Kirche gelten.472 Ein besonders prominentes Beispiel für dieses komplexe Gefüge ist das Hoheliedbuch. So stellt Glassius einerseits fest, daß die Metapher des Küssens auf Gott übertragen wird, da im Hohelied beim küssenden Bräutigam die Rede „de filio Dei incarnando est“.473 Zugleich aber gilt, daß Gott bereits im Alten Testament durch seine direkten ebenso wie durch seine durch Mose und die Propheten vermittelten Erscheinungen immer wieder sein geliebtes Volk geküßt habe.474 Im gesamtbiblischen Kontext ist wahrzunehmen, was sich
467 Vgl. Sp. 1669–1673. 468 Sp. 1668 f. 469 Vgl. Sp. 1681. 470 Vgl. Sp. 1735–1757, hier Sp. 1739: „Hactenus partes quasdam terrae nascentium vidimus: Sequuntur genera & species eorundem; quas ordine enumerabimus. Planta, si Deo tribuatur, Ecclesia ejus & credentes intelliguntur.“ 471 Sp. 1877. 472 Vgl. Sp. 1788, 1877 f., 1894 f. (die alttestamentliche Aspersio des Volkes mit Blut oder Wasser ist ein Typus für die geistliche Reinigung durch das Blut Christi, die sich entfaltet 1. in Christi Versöhnungswerk durchs Blutvergießen, 2. im die Sünder reinigenden Wort des Evangeliums, 3. im durch den Geist gewirkten Glauben). 473 Vgl. Sp. 1560: „OSCULATIO DEO tribuitur, dum de Filio Dei incarnando sermo est, Cantic. 1,2.“ 474 Vgl. Sp. 1561: „Osculatus erat Jehova populum suum, tempore Veteris Testamenti, tum multis apparitionibus, tum mediate per Mosen, Prophetas, imo & Angelos se patefaciendo […].“ Vgl. Jo-
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in der Hoheliedbetrachtung zuspitzt, nämlich daß es sich beim Brautpaar um die allerlieblichste Metapher handelt, welche die unio spiritualis zwischen Christus und seiner Kirche bzw. der gläubigen Seele abbildet.475 Glassius verschweigt nicht Luthers und Brenz’ Deutung des Hohelieds als einen Hinweis auf das politische Reich im Rahmen der Zweireichelehre,476 deutet aber selbst mit großer Klarheit dieses Buch auf die catholica ecclesia. Darüber hinaus betont er in Analogie zur bei den Metaphern gebrauchten Rede von der evolutio tropi, daß auch die Auslegung der im Hohelied vorliegenden Allegorie neben der Beachtung des gesamten Schriftkontextes ganz auf der Grundlage der Betrachtung der „naturae rerum, ex quibus metaphorae ducuntur“, zu geschehen hat, wie er es besonders vorbildlich in der Postilla Salomonaea seines Lehrers Johann Gerhard verwirklicht sieht.477 Die mit der im Hohelied bezeugten unio spiritualis einhergehende „conformitas credentium cum Christo“,478 die Anfechtung und Leiden ebenso umfaßt wie Leben,
hann Gerhard, Post. Sal. I, S. 430: „Als der Mensch durch die Sünde den H. Geist verlohren / und aber der Sohn Gottes durch Annehmung menschlicher Natur und durch sein bitter Leyden und Sterben / so er in derselben erduldet / den H. Geist mit seinen Gaben dem Menschen wiederumb erworben / da hat der HErr Christus nach seiner Aufferstehung seine Jünger angeblasen und gesagt: Nehmet hin den H. Geist Joh. 20. anzudeuten / daß ers sey / welcher in der ersten Schöpffung dem Menschen einen lebendigen Odem eingeblasen. […] Wenn demnach allhie die geistliche Braut seufftzet und bittet: Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes / so bittet sie / daß jhr himlischer Bräutigam sich nach seiner offt wiederholeten Verheissung einstelle / den heiligen Geist […] jhr schencke / und also alles wiederumb gut mache und zu rechte bringe / was durch die Sünde der ersten Menschen ist verderbet worden.“ 475 Vgl. Sp. 1819: „Sponsi & sponsae usitata, at omnium jucundissima metaphora, unio spiritualis inter Christum & Ecclesiam piamque animam, exprimitur Hos. 2, 19. 20. Matth. 22, 2. seqq. Joh. 3, 20. 2. Cor. 11, 3. Apoc. 21, 2. 9. 10. &c. Bernhardus serm. 7. in Cant. Non sunt inventa aque dulcia nomina, quibus Verbi & animae dulces ad invicem exprimerentur affectus, quemadmodum sponsus & sponsa. Quo pertinet Canticum Canticorum Salomonis, ab Hieronymo in Epist. ad Paulin. epithalamium spiritualium nuptiarum, recte vocatum.“ 476 Vgl. Ernst Koch, Beobachtungen zum Umgang mit dem Hohenlied in Theologie und Frömmigkeit des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert, in: ders., Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert (= TSP 3), Waltrop 2005, S. 285–306, hier S. 298: „Umso beachtlicher ist der Tatbestand, daß Luthers eigene Auslegung des Hohenliedes von 1530/31, veröffentlicht durch Veit Dietrich 1539, die den Text des alttestamentlichen Buches auf die politische Ordnung des Volkes Gottes deutete, keine Nachfolge im Wirkungsbereich der Wittenberger Theologie gefunden hat.“ 477 Sp. 1959. Für Glassius gilt daher wie für Johann Gerhard und andere Vertreter der lutherischen Orthodoxie, daß „die affektiv-assoziationsfähige Sprache des Hohenliedes für die Formulierung des Verständnisses des Glaubens zu seinem Gegenüber wichtig blieb und als Chance nicht aufgegeben wurde.“ (Koch, Beobachtungen, S. 298) 478 Sp. 1878 mit zahlreichen einschlägigen Schriftstellen im Kontext.
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Sterben und Auferstehen bzw. Höllenfahrt wie Himmelfahrt, ist eine wesentliche Anwendungsgestalt zahlreicher metaphorischer Bibeltexte. Wichtig ist insbesondere bei den christologischen Übertragungen alttestamentlicher Metaphern, daß diese als Aussagen über Christus eben nicht mehr „umbraliter“, sondern wie z. B. die Rede vom Tempel für den Leib Christi oder vom Hilasterion für sein Sühneopfer mit einem nicht mehr zu steigernden Realitätsgehalt „verissime“ und „perfectissime“ zu verstehen sind.479 Werden aber aus dem Alten Testament übernommene Schattenbilder wie beispielsweise das aaronitische Priestertum nicht nur (realiter) auf Christus übertragen, sondern auch auf die Gläubigen, so gilt in deren Fall, daß diese Übertragung der alttestamentlichen Bilder wiederum „metaphorice“ geschieht.480 Freilich geht solche metaphorische Übertragung einher mit einer realen Anteilhabe an den von Christus mitgeteilten Heilsgütern, wie Glassius anhand der Metapher der Salbung (unctio) ausführt. Denn ihren Namen empfangen die Christen deshalb von Christus, weil sie durch das im Glauben empfangene Wort Teilhaber seiner heiligen Salbung geworden sind.481 Daß eine ganze Reihe metaphorischer Übertragungen zuerst Israel, dem Volk des Alten Testamentes gelten, nimmt Glassius nicht nur im Falle der Hohelieddeutung ernst, sondern beispielsweise auch, wenn er bei der Darbringung der Erstgeburt nicht nur die metaphorische Übertragung auf Christus und die Gläubigen erwähnt, sondern auch jene auf das jüdische Volk, welches nach Röm 11,16 die zuerst von Gott erwählte „Wurzel“ repräsentiert.482 Sachverhalte können nach den Kategorisierungen der Logica sacra durchdekliniert werden, etwa nach dem Kausalschema483 oder in der Zweiheit von Allgemeinheit und Besonderheit, die zur Dreiheit erweitert werden kann („in genere“ – „in specie“ – „in specialissime“). So gilt vom metaphorischen Gebrauch der Sinnestätigkeit des Sehens („Visus seu videre“), daß diese „in genere“ für optische Wahrnehmungen steht, „in specie“ die intellektuelle Zustimmung zum Wahrgenommenen bezeichnen kann, schließlich „Specialissime ad visionem spiritualem“ 479 Sp. 1880. 480 Während Christus nach Hebr der wahre Hohepriester ist, gilt von der Übertragung des Amtes der Priester allgemein: „Horum appellatio metaphorice tribuitur credentibus in Christum, Psa. 2, 9. 16. Esa. 61, 6. 1. Petr. 2, 5. 9. Apoc. 1, 6. c. 5, 10. cap. 20, 6. ob spiritualia illa sacrificia […].“ (Sp. 1889) 481 Vgl. Sp. 1895: „A Christo nostro Christiani dicimur, qui in eum credimus, Act. 11, 26. hoc est unctionis sanctae me,tocoi, Hebr. 1, 9. 1. Joh. 2, 20. unde facti a Christo reges & sacerdotes Deo & Patri credentes vocantur, Apoc. 1, 6. sicut ipse Christus, caput nostrum, summus Rex, idemque Sacerdos, per suam abundantissimam unctionem factus est.“ 482 Vgl. Sp. 1891–1893. 483 Das klassische scholastische Kausalschema legt Glassius in der Logica sacra dar (Sp. 2101 ff.), in der Rhetorica sacra dekliniert er es insbesondere bei der Lichtmetapher durch: 1. causa organica, 2. causa formalis, 3. causa finalis. (Sp. 1675 f.)
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übertragen werden kann, was wiederum eine prophetische Vision oder den vertrauensvollen Glaubensakt selbst bezeichnen kann.484 Die Krone (corona) meint „in genere“ den Gipfel des Jahres in der Erntezeit, „in specie“ die Königsherrschaft Christi, „specialissime“ das ewige Leben als Lohn für die Gläubigen.485 Auch die weiteren menschlichen Sinne, der Auditus, der Gustus, der Tactus bis hin zum Schlaf und zur Wachsamkeit, zum Essen, Trinken und Begehren, können natürliche und geistliche Phänomene repräsentieren.486 Zu achten ist nach Glassius darauf, daß ein und dieselbe Figur oder Metapher positive („in bonum“) und negative („in malum“) Bedeutungen haben kann. So kann das Feuer für das Brennen der Liebe, für die Ausbreitung des Evangeliums oder für Gottes Gericht und Zorn, in einer inversa similitudo487 aber auch für die Anfechtungen, durch die die Gläubigen von Sünden gereinigt werden, stehen.488 Der Mensch kann Knecht Gottes oder Knecht des Satans bzw. der Sünde sein, so daß auch das Herrsein von den entsprechenden Instanzen ausgeübt werden kann.489 Auch Kleidung kann positiv konnotiert sein als gegen geistliche Kälte, Nacktheit und ewigen Tod schützende Wohltat Christi für die Gläubigen oder negativ als Tarnung für Pseudopropheten und Irrlehrer.490 Stricke wiederum sind in der Regel Zeichen der Knechtschaft, können aber auch die Verpflichtung zum Gehorsam oder auf der anderen Seite eine Verstrickung in Sünde anzeigen.491 Freilich gibt es auch Metaphern, die nur in negativer Konnotation vorkommen wie z. B. der Ehebruch für den Götzendienst, wobei die „Ratio metaphorae“ wiederum in der positiv konnotierten Brautpaarmetaphorik verankert ist.492 Zwei Stellen sind abschließend hervorzuheben, durch die exemplarisch deutlich wird, welches Gewicht der figürliche Charakter der biblischen Offenbarung für Glassius in der Rhetorica sacra hat. Das erste Beispiel macht überdies erkennbar,
484 Vgl. Sp. 1810. 485 Sp. 1860 f. 486 Vgl. Sp. 1812–1816, 1827–1830. Zum „GUSTUS & TACTUS DEO tributi“ vgl. Sp. 1578 f. 487 Vgl. Sp. 1687. Vgl. auch Sp. 1692. 488 Vgl. Sp. 1684–1687. Bei Wolfgang Franz heißt es zu den in der Schrift mehrfach applizierten zoologischen Figuren des Adlers und des Löwen: „Porrò sicut Scriptura à Leonibus mutuatur imagines in bonam & in malam partem, ita quoque multa sunt in sacris literis petita ab aquilis in bonam partem.“ (Historia Animalium Sacra. In qua plerorumque animalium praecipuae proprietates in gratiam Studiosorum Theologiae & Ministrorum Verbi ad usum eivkonologiko.n breviter accommodantur. Wittenberg 31624, S. 327) 489 Vgl. Sp. 1825 f. 490 Vgl. Sp. 1871–1873. 491 Vgl. Sp. 1873 f. 492 Vgl. Sp. 1838.
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wie kreativ Glassius mit der Figürlichkeit der biblischen Offenbarung umgehen kann. So nimmt er sich im Kapitel über die „Ironia“ die Freiheit, eine „christliche Kabbala“ zu entwerfen über das hebräische Verbum aj'x', das im Kal „sündigen“, im Piel aber „von Sünde entsühnen oder reinigen“ bedeutet. Denn hierin erkennt Glassius eine geheimnisvolle Anspielung sowohl in Gestalt eines Gedenkens der göttlichen Barmherzigkeit, die nach Ez 33,11 dem bußfertigen Gottlosen Leben verheißt, worin sich ein „transitus“ vollzieht, der so leicht geschieht wie jener von der ersten Konjugation in die zweite, als auch in Gestalt eines Symbols für das Verdienst Christi, das nach 2Kor 5,21 darin zum Ausdruck kommt, daß er durch die imputatio der Sünden der Welt für uns zur Sünde gemacht ist und gerade so die Sünde gesühnt hat.493 Glassius treibt seine „Cabbala Christiana“ so weit, daß er im für die Piel-Verbformen typischen Punkt im mittleren der drei Buchstaben (Dagesch forte) einen Hinweis darauf sieht, daß Sühnung und Vergebung der Sünden bei der mittleren Person der heiligen Dreieinigkeit, Christus, als dem Mittler (nach 1Tim 2,5) zu suchen ist, der zudem selbst in seiner Passion und in seinem Sterben aufs schärfste punktiert bzw. zerstochen („compunctus“) wurde und so die Befreiung aus der Macht von Teufel und Tod vollbracht hat (Hebr 2,14). Auch wenn solche Erwägungen nicht „accurata“ sein mögen, wie er offen zugesteht, so sind sie doch, so meint der Theologe und Seelsorger, einer frommen Seele „non indigna“, zumal diese erfreut wird, wenn sie ihren geliebten Erlöser wo immer möglich, bis hin zum kleinsten Buchstaben sucht und findet.494 Das zweite Beispiel ist die Besprechung von Gen 3,15 zu Beginn des Kapitels über die Allegorien. Glassius erinnert nicht nur zum wiederholten Male an die Schlüsselrolle dieses Verses für die gesamtbiblische christologische Herme-
493 Vgl. Sp. 1513: „Cognosce hic obiter Christianam Cabbalam, & allusionem musthriw,dh; & quidem tum misericordiae divinae mnhmo,sunon. Quam facile transitur a prima conjugatione in secundam; tam facilis transitus peccatori veram poenitentiam agenti, a peccato ad DEI misericordiam, a peccatis mundantem, Ezech. 33,11. Tum meriti Christi su,mbolon. Peccatorum expiatio, & mundatio ab illis, est in ipso peccato (ratione radicis seu originis) quaerenda. At quomodo? In Christo, qui pro nobis peccatum factum est, 2. Cor 5, 21. per imputationem scilicet peccatorum totius mundi, ipso ut sacrificio vero propitiatorio factam; & poenas, pro peccatis illis toleratas & c.“ 494 Vgl. Sp. 1513: „Media radicis litera characteristicam notam conjugationis Piel (quae maxime activa est) dages videlicet, seu punctum literae mediae impressum sustinet. Expiatio & remissio peccatorum in media SS. Trinitatis persona, mediatore nostro Christo, unice quaerenda. 1. Tim. 2, 5. & is compunctus in passione & morte sua acerbissime fuit. Es. 53, 3. 5. quo ipso tamen efficacissime egit, & perfecit nostram ex Diaboli & mortis potestate liberationem. Hebr. 2, 14. &c. Haec, etsi accurata non sunt, consideratione tamen piae mentis nec indigna sunt: quae dilectissimum sibi Salvatorum, ubicunque potest, vel in parva etiam voce literaque quaerit, & in invento animitus delectatur.“
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neutik, wenn er – wiederum in der Tradition Luthers stehend – diese Stelle als „prima omnium promissio Evangelica, totum redemtionis per Christum futurae mysterium explicans“ bezeichnet.495 Die hermeneutisch grundlegende Bedeutung dieser Sichtweise für sein Gesamtwerk hatte er im übrigen bereits zuvor durch die Aufnahme einer Disputation über diese Stelle in seine Philologia sacra496 unübersehbar unterstrichen. Darüber hinaus aber erkennt er nun in dieser Schriftstelle gleichsam einen höchst prominenten Schlüsselvers für die biblische Figurenlehre, insofern es sich hier um eine „allegoria efformata, a DEO ipso proponitur“,497 handele. Das Protevangelium bietet sich ihm somit quasi zugleich als Prototyp biblischer Tropenlehre dar, wenn es heißt: „Omnes fere tropi his in verbis occurrunt, praesertim vero continuatio metaphorae.“498 Das wird sogleich in einem tropenkundlichen Durchgang lehrschulmäßig exemplifiziert. In der Figur der Schlange erkennt Glassius sowohl eine Metonymie, insofern sich in Wirklichkeit der Teufel dahinter verbirgt, als auch eine Metapher, die aufgrund des Fluchwortes auch über diese Stelle hinaus gesamtbiblisch für den Teufel verwendet werden kann.499 Die Erwähnung der Frau wiederum kommt für Glassius synekdochisch für das ganze adamitische Geschlecht zu stehen.500 Der „Schlangensamen“ verweist sodann metaphorisch auf die Schar der dem Messias in tödlicher Feindschaft entgegentretenden „Teufel“,501 während die Rede vom „Weibessamen“ metonymisch den Messias selbst bezeichnet.502 In der doppelten, zur Schärfung des Konflikts aufgenommenen Verwendung des Wortes „semen“
495 Sp. 1950. 496 Vgl. Sp. 1395–1424 (zwischen liber IV. und liber V.): „Disputatio de Protevangelio Genes 3. vers. 15. Contra Jacobum Gordonum Huntlaeum, Jesuitam Scotum, in illustri Academia Jenensi habita 10. Nov. Anno 1625.“ 497 Sp. 1950. 498 Sp. 1951. Vgl. die Übersetzung dieses Satzes in seinem Kontext bei Gallus, Nachkomme II, S. 89. 499 Vgl. Sp. 1951: „Dum serpentem alloquitur Jehova, & Diabolum intelligit, in eo vel metonymia est, quia in serpente Satanas latuerat, & per eum fuerat ad Evam locutus; vel metaphora, quia maledictus nunc verbo DEI serpens naturalis, v. 14. & abominabilis hominum generi factus, figuram Diaboli gerebat, unde & alias Serpentis & Draconis nominibus is designatur, Apoc. 12, 7. 8. &c.“ 500 Vgl. Sp. 1951: „Mulieris mentionem dum facit Jehova, synecdochice Adamum subintelligit, quin & humanum genus, ex his protoplastis (& ex hac omnium viventium matre, vers. 20.) oriturum.“ 501 Vgl. Sp. 1951: „Per semen serpentis, metaphorice tota Diabolorum caterva, quae Messiae interitum machinatura omni virulentia erat, intelligitur.“ 502 Vgl. Sp. 1951: „Per semen vero mulieris, kat’ evxoch.n Messias, Filius ille hominis (per metonymiam) qui machinanti Diabolorum catervae toti conficiendae, solus par futurus, eique se oppositurus erat.“
Die Rhetorica sacra
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erkennt Glassius eine „Antanaclasis“.503 Die komplexe Ankündigung des künftigen Ausgangs des Konflikts durch Gott stellt schließlich eine „metaphora continuata seu allegoria“ dar,504 wobei der erste Satzteil, der vom Zertreten des Kopfes des Schlangensamens handelt, metaphorisch die Wirkung des Verdienstes Christi bezeichnet,505 während der zweite Satzteil, der vom dem Weibessamen durch die Schlange zugefügten Fersenstich handelt, wiederum metaphorisch auf Passion und Tod Christi als das Mittel seines genugtuenden Heilswerkes verweist.506 Die metaphorisch-bildhafte Bedeutungsfülle dieses einen Verses führt Glassius abschließend bezeichnenderweise nicht nur zu dem theologischen Fazit, hier sei der Quellort aller prophetischen Weissagungen des Messias, sondern er verbindet dies mit einem ästhetischen Urteil und betont quasi als Folge dieser im Schriftvers vorgefundenen Verbindung von Dogmatik und Ästhetik die für die Rezipienten eminent tröstliche Wirkung desselben: „Haec de pulcherrimo illo oraculo, omnium propheticorum de Messia vaticiniorum fonte, & omnis consolationis fulcro, paulo meditatius fusiusque proponere placuit, quod Lectori pio non ingratum fore confido.“507 Die herausragende Rolle, die das Protevangelium im Kontext seiner Philologia sacra für Glassius spielt, wird noch dadurch verstärkt, daß er auch die bereits oben erwähnte, zwischen Grammatica und Rhetorica aufgenommene Disputation mit einem eigenen Distichon beschließt. Begründende, wiederum originalsprachlich zitierte Schriftstelle ist mit Röm 16,20 eine neutestamentliche Anspielung auf Gen 3,15, worin Glassius seine heilsgeschichtlich-christologische Lesart dieser Stelle als Protevangelium biblisch legitimiert sieht. Contritor capitis Serpentis Maxime! nostris Sub pedibus Satanam contere, CHRISTE, cito. Rom. 16, 20. o` de. qeo.j th/j eivrh,nhj suntri,yei to.n Satana/n u`po. tou.j po,daj u`mw/n evn ta,ceiÅ
503 Vgl. Sp. 1951: „Antanaclasis igitur unius vocis, seminis, diversimodo acceptae, hic est.“ 504 Sp. 1951. 505 Vgl. Sp. 1952: „Prior phrasis meriti & satisfactionis Christi effectum metaphorice declarat, qui est Diabolicae potentiae, saevitiae, & regni infernalis enervatio, destructio, & humani generis ex illo liberatio, cum justitiae & vitae aeternae reparatione.“ 506 Vgl. Sp. 1952: „Posterior phrasis meriti & sastisfactionis Christi modum mediumque metaphorice declarat, qui est passio & mors acerbissima.“ 507 Sp. 1954. Gallus (Nachkomme II, S. 91) übersetzt: „Es hat mir gefallen, all das über jene schönste Weissagung, die die Quelle aller prophetischen Weissagungen über den Messias und Stütze allen Trostes ist, in betrachtender und ausgedehnter Weise darzubieten, und ich möchte glauben, daß es dem frommen Leser nicht unwillkommen war […].“
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Das Distichon nimmt das Protevangelium im Zusammenklang mit Röm 16,20 insofern auf charakteristische Weise auf, als einerseits in der ersten Zeile Christus als der angeredet wird, der der Schlange bereits den Kopf zerbrochen hat. Andererseits wird sodann in Anführung der auf die eschatologische Zukunft bezogenen paulinischen Verheißung die auch mit dem geschichtlichen Erlösungswerk Christi noch unabgegoltene endgültige Vernichtung des Satans erbeten. Die Erfüllung dieser Bitte aber ist das verheißene Ziel, in dem endgültig Gott allein die Ehre gebührt.508
508 Das Distichon findet sich zentriert und damit verteilt über die beiden Spalten 1423–1424. Glassius fügt an das Zitat von Röm 16,20 ebenfalls zentriert an: Et tunc erit F I N I S, (am Rande erfolgt der Hinweis auf 1. Cor 15, 24.) & SOLI DEO GLORIA, Amen
5 D ie hermeneutische Philologie (Verstehenslehre) 5.1 D ie Unterscheidung von „sensus literalis“ und „sensus mysticus“ Glassius’ Analyse der rhetorischen Phänomene ist vielfach verwoben mit der Reflexion schriftinterner und schriftexterner Auslegungsvorgänge. Schriftextern bezieht er seine Beobachtungen an vielen Stellen auf kontroverstheologische Fragestellungen, die somit als Auseinandersetzungen um rechte oder falsche Schriftauslegung ansichtig werden. Schriftintern betrifft dies vor allem das Verhältnis von Altem und Neuem Testament. Die Unterscheidung von sensus literalis und sensus mysticus verdankt sich in der Rhetorica sacra der Wahrnehmung, daß die neutestamentlichen Autoren alttestamentliche Schriftstellen je unterschiedlich auslegen bzw. zur Anwendung bringen. Es wäre durchaus denkbar gewesen, hätte Glassius seinen „Liber secundus de scripturae sanctae sensu“ auf die Rhetorica folgen lassen. Beide Bücher verhalten sich zueinander wie Analyse und Synthese. Sachlich liegt der Vorrang auf den in der Rhetorica analysierten biblischen Phänomenen, aus denen man bei der Lektüre der Rhetorica die hermeneutische Theorie gleichsam erwachsen sieht.1 Methodisch verhilft die im zweiten Buch dargelegte hermeneutische Theorie zur differenzierten und begrifflich durchgeklärten Darstellung der rhetorischen Phänomene, wie Glassius sie im vierten Buch vorlegt. Insofern handelt es sich nach Glassius’ Selbstverständnis bei der hermeneutischen Theorie um eine auf der Wahrnehmung der schriftinternen Auslegungsvorgänge beruhende Anleitung zur Schriftauslegung. Die Konfrontation mit alternativen schriftexternen Auslegungsmodellen in der Rhetorik wird wiederum im Buch II so aufgenommen, daß die Grundlinien der eigenen Hermeneutik im Gespräch mit anderen Hermeneutiken ausdifferenziert werden. Glassius eröffnet seinen „Liber secundus de Scripturae Sacrosanctae Sensu“ mit einer Definition des Wortes „sensus“, die deutlich macht, daß er auf der sprachtheoretischen Ebene keinen Unterschied zwischen theologischer und allgemeiner Hermeneutik erkennt. Das Wort „Sinn“ bedeute nach allgemein akzeptiertem Verständnis nichts anderes als das, was durch mündliche Rede oder schriftli-
1 Daß Glassius bei der Abfassung von Buch II. bereits die Rhetorica sacra im Sinn hat, zeigen Verweise wie z. B. Sp. 496: „[…] in Rhetorica sacra sequentur […].“ Vgl. dazu Sdzuj, Improprie dicta, S. 369. https://doi.org/10.1515/9783110650556-005
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ches Wort bezeichnet bzw. zum Verstehen dargeboten werde.2 Als Quellen für das allgemein akzeptierte Verständnis bietet der Thüringer Zitate von Aristoteles, Plutarch und Basilius. Sprachliche Gebilde sind demnach Abbilder des in ihnen sich äußernden Geistes oder Intellekts.3 Daraus ergibt sich die nähere Bestimmung der heiligen Schriften und damit des Gegenstands der theologischen Hermeneutik als Abbildung (avpeiko,nisma) dessen, was Gott als ihr Autor durch sie den Menschen zu erkennen und zu verstehen mitteilt. Dabei nimmt Glassius hier parenthetisch im Schriftbegriff die Differenzierung in verba und res contenta vor: „Scripturae igitur sacrae sensus nihil aliud est, quam id, quod DEUS ipse Scripturarum autor in Scripturis, & per Scripturas (intelligo autem Scripturas tam quoad verba, quam quoad res contentas) tanquam per expressissimum divinae mentis avpeiko,nisma hominibus cognoscendum atque intelligendum exhibet.“4 Die hierin implizierte Erkenntnis, daß die verba an vielen Stellen der Schrift nicht mit den res contenta identisch sind, äußert sich darin, daß Glassius noch in der Präambel des ersten Teils seines zweiten Buches die Unterscheidung des Schriftsinnes in sensus literalis und sensus mysticus einführt.5 Bevor er den Sinn der Schrift in dieser Doppelung in einem zweiten Traktat einer Analyse zuführt, profiliert er sein eigenes Verständnis im Gegenüber zur zeitgenössischen römisch-katholischen, zur altkirchlichen und zur rabbinischen Hermeneutik. Glassius will mit seiner Entfaltung der These „Scripturae sacrosanctae sensus duplex est: Literalis & spiritualis seu mysticus“6 einen Mittelweg gehen, der zwei Extrempositionen vermeidet. Auf der einen Seite distanziert er sich von denjenigen Calvinisten, die nur einen Literalsinn der Schrift annehmen, während sie unter dem mystischen Sinn bereits eine Anwendung oder Anpassung („accommodatio“) jenes einzigen Literalsinns erkennen.7 Auf der anderen Seite wendet er sich
2 Vgl. Sp. 347: „Sensus vocabulum generice acceptum (uti nostro huic scopo congruit) nihil aliud est, quam id, quod oratione, tum oretenus prolata, tum scripto comprehensa, significatur, seu intelligendum offertur.“ 3 Vgl. Sp. 347: „Quemadmodum enim rerum mente comprehensarum avpeiko,nisma & character est oratio, vel ore prolata, vel Scriptura exhibita, […] Ita vicissim, quod illa oratione prolata vel scripta significatur, seu a mente dicentis (ei conveniter respondens) avpeikoni,zetai, sensus vocis, orationis, vel Scripturae alicujus dicitur.“ 4 Sp. 347. 5 Vgl. Sp. 348. 6 Sp. 348. Vgl. Stemmer, Weissagung, S. 48: „Dieser Satz Glassius‘ […] war zu Beginn des 17. Jahrhunderts einer der Grundsätze einer lutherischen Hermeneutik. Dabei formulierte er nur, was im Protestantismus, besonders seit Flacius, der Sache nach immer gesagt und vor allem in der Praxis der Schriftauslegung vollzogen worden war.“ 7 Vgl. Sp. 348: „Inter Calvinianos plerique, unum tantum simplicem & uniformem Scripturae sacrae agnoscunt sensum, qui literalis est; mysticum autem ad sensus unius diversam accommoda-
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gegen die nach seiner Auskunft von manchen päpstlichen Theologen vertretene Auffassung, wonach jeder Text der Heiligen Schrift diesen doppelten Sinn aufweise.8 Dennoch hält Glassius an seiner allgemein auf die ganze Schrift bezogenen These fest, daß die Schrift selber – quasi mit erhobenem Zeigefinger – anzeige, an welchen Stellen sie nicht nur literaliter, sondern auch mystisch auszulegen sei, weil der Heilige Geist selbst über den Literalsinn hinaus ein „mysterium“ bzw. einen geistlichen Sachverhalt anvisiere.9 Daraus ergibt sich die doppelte Definition, wonach es sich beim buchstäblichen Sinn um den durch die eigentümlichen oder übertragenen Worte selbst bezeichneten handelt, während der mystische Sinn nicht durch die Worte, sondern durch die durch die Worte bezeichnete Sache konstituiert wird: „Est enim Sensus literalis is, qui proxime & immediate per ipsa verba, sive sint propria, sive modificata, significatur […]. Sensus mysticus est, qui non significatur proxime per ipsa verba, sed per rem ipsis verbis significatam.“10 Durch das von Glassius erläuternd herangezogene Beispiel des Propheten Jona wird hier schon erkennbar, daß für den Thüringer der mystische, vom Heiligen
tionem referunt […].“ Daß dies nicht für alle Reformierten gilt, zeigt der Blick in Wilhelm Zeppers Postille (Sylva, S. 186): „Multi sunt scripturae textus, qui duplicem sensum capiunt, literalem & allegoricum, ut historia Melchisedeci, aenei serpentis, Jonae & similes. Pertinet huc praesens etiam textus, qui elegantem ecclesiae allegoriam continet. Mare enim mundus hic est. Navicula Petri, ecclesia. Ventus, Diabolus & tyranni, qui ecclesiam infestant. Apostoli, universus credentium coetus […].“ (zu Mt 8,23–28) Vgl. auch ders., Einfaltige Wegweis vnd Vorbereitung / Wie man die Bibel / oder H. götliche Schrift beydes gern vnd begierig / auch mit nutzen / vnd rechter erbawung im glauben vnd leben lesen möge. […], Herborn 1599, S. 289 f.: „In Propheten vnd Psalmen hat eine Rede oft zweierlei Verstand vnd Meinung / einen nach dem Buchstaben / einen nach dem Geist: Als was von Isaac / Joseph / Josua / Simson / Dauid / Salomo / Jona vnd andern / als vorbildern Christi: Item von zeitlichen leiblichen gefengnussen / oder erlösungen vnd wolthaten des Jüdischen volcks / nach dem buchstaben / vnd fürnemlich oder zu nechst geredt wird / daß dasselbige zugleich im geistlichen innerlichen vnd geheimen verstand auf Christum / die sünde / den ewigen tod / die ewige erlösung von sünden vnd todt / auf die eigentliche himlische wolthaten vnd güter des Reichs Christi gezogen vnd gerichtet wird.“ 8 Vgl. Sp. 348 f.: „Neque vero hac thesi id assertum itur, ac si in omni omnino Scripturae textu, & in singulis locis, duplex iste agnoscendus & amplexandus esset sensus. Ita quidam inter Pontificos opinantur, adducti loco Pauli 1. Cor. 10, 11.“ Auch die beiden jesuitischen Theologen Robert Bellarmin und Johannes Azorius (1536–1603) lehnen diese Sichtweise allerdings ab, worauf Glassius, a. a. O., Sp. 349 eigens hinweist. 9 Vgl. Sp. 349: „Sed de Scriptura sacra sermo est in genere, quod illa, non quidem in omnibus, sed tamen in aliquibus locis & textibus, quos ipsa Scriptura sacra digito quasi exerto monstrat, non literaliter modo sit explicanda, sed praeter literalem sensum, qui ex verbis eruitur, mysticum etiam admittat, hoc est, quod ipse Spiritus sanctus mysterium aliquod & rem spiritualem, in textu ali, literaliter prius intellecto & exposito, intendat, eamque eruendam esse, commonstret.“ 10 Sp. 349 f.
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Geist intendierte Sinn dem Neuen Testament bzw. in diesem Fall den Worten Christi zu entnehmen ist.11 Dies untermauert Glassius sodann durch eine vierfältige Begründung seiner These „A definitione“, „A Scripturae exemplis“, „Ab absurdo“ und „A Scripturae interpretationis ratione“.12 In Aufnahme seiner Definition der Schrift als Abbild des göttlichen Sinnes (mens divina) bekräftigt der Theologe die intentio Gottes bzw. des Heiligen Geistes als ausschlaggebend für die Feststellung des mystischen Sinnes bestimmter Schriftellen.13 Analog zur bereits zuvor herangezogenen Veranschaulichung der Definition des mystischen Sinnes durch den dreitägigen Aufenthalt des Propheten Jona im Bauch des Fisches (Jona 2,1 unter Berufung auf Mt 12,38 f.)14 bietet Glassius nunmehr den Hinweis auf die mystische Auslegung der ehernen Schlange (Num 21,8 f.) in Joh 3,14 f. Denn daraus gehe klar hervor, daß der Heilige Geist bereits in jener alttestamentlichen Geschichte an die Erhöhung des Messias am Kreuz gedacht habe. Glassius nimmt den Einwand auf, es handele sich hierbei lediglich um eine accommodatio. Dies wird von ihm nicht verneint, allerdings dahingehend präzisiert und verallgemeinert, daß es bei solchen Akkommodationen, die auf Christus selbst zurückgehen, um den vom Heiligen Geist intendierten mystischen Sinn gehe.15 Im Umkehrschluß folgert der Thüringer, es wäre absurd, wenn alles, was im Neuen Testament aus den alttestamentlichen Schattenbildern angeführt und auf Christus bezogen wird als auf den eigentlichen Kern der Schattenbilder, vorbei an
11 Vgl. Sp. 350: „Hunc enim sensum mysticum & typicum a Spiritu sancto, in illa ipsa historia literaliter intellecta, fuisse intentum, ostendit ipse Christus Matth. 12, 39. 40.“ 12 Sp. 350–352. 13 Vgl. Sp. 350: „Scripturae sensus, ut paulo superius notatum, est id, quod DEUS Scripturarum autor in Scripturis, & per Scripturas hominibus cognoscendum atque intelligendum exhibet. […] quod ipse Spiritus sanctus intendit & intelligit in Scripturae textibus, id sine omni dubitatione est illorum textuum sensus, uti constat. At praeter literam seu historiam ipsam, mysterium saepe Spiritus sanctus intendit & intelligit in Scripturae textibus. E.[rgo] non solum historia, sed & per historiam illam insinuatam mysterium Scripturae sensus sit, necessum est.“ 14 Vgl. Sp. 349 f. 15 Vgl. Sp. 350 f.: „Certe & res ipsa, & Salvatoris expressa confirmatio Johan. 3, 14. 15 certos nos reddunt, Spiritum S. in illa historia intellexisse & sensisse simul hoc, quod Messias debeat in cruce exaltari, ut vivant homines per ipsum. Si dicatur, Christum istius historiae ad se fecisse tantum accommodationem, respondeo, accommodationem fecisse concedo, quaeritur autem, an illam faciat praeter ipsius Spiritus sancti, in scripta illa historia Num. 21. loquentis, intentionem? Certe dici id haudquaquam potest. Sequitur ergo, quod Christus ad se talem fecerit accommodationem, ut simul eo ipso sensum Spiritus S. mysticum, quem in historia illa intendit, explicet, & illam ipsam Scripturam mystice interpretetur. Par ratio est aliorum, de quibus in speciali sensus mystici diexodo plura, DEO volente, dicentur.“
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der Absicht dessen ausgesagt wäre, der im Alten Testament spricht.16 Das gilt erst recht angesichts der Beobachtung, daß die neutestamentlichen Autoren sich auf die Worte des Alten Testaments berufen, was sich ins Gegenteil verkehren würde, würden sie darin Absicht und Sinn des Alten Testaments verdrehen.17 Als weiteres Beispiel nennt Glassius die Bezeichnung Melchisedeks (Gen 14) als Typus Christi in Hebr 7 eine apostolische applicatio, die für sich ebenfalls in Anspruch nimmt, daß sie der Intention des Heiligen Geistes gemäß ist.18 Unter der vierten Begründung seiner These führt Glassius die Unterscheidung ein zwischen der Wiedergabe des wahren Schriftsinnes und dessen nützlicher Anwendung: „A Scripturae interpretationis ratione. Constitit illa in duobus. 1. In veri sensus enarratione. 2. In accommodatione ad usum.“19 Aufgabe des ersten Schrittes ist die Erhebung des Skopus einer bestimmten Stelle. Im zweiten Schritt dagegen geht es um die praktische accommodatio der Schriftstelle, die Glassius nach 2Tim 3,16 und Röm 15,4 fünffach aufgefächert sieht.20 Wird daher, so folgert Glassius, im Neuen Testament ein typologischer Text der Schrift wie die Geschichte Jonas ausgelegt, dann erstreckt sich die Entfaltung des Typus nicht auf die accommodatio ad usum, sondern auf die Darlegung des wahren Sinnes. Denn bevor in der jeweiligen Geschichte verborgene Lehren, Zurechtweisungen, Vorschriften und Tröstungen erhoben werden, muß wahrgenommen und ausgelegt werden, wovon der prophetische Text handelt, ob nur buchstäblich an Jona zu denken ist oder zugleich mystisch an Christus. Ist diese Frage aus dem Vergleich mit Mt 12,39 f. geklärt, so steht die Tür zum zweiten Teil der Auslegung erst offen.21
16 Vgl. Sp. 351: „Si id, quod in V. T. est mystificum ac typicum, non est ipsius Scripturae V. T. sensus, sequitur, omnia, quae in N. T. ex umbris veteribus adducuntur, & ad Christum umbrarum corpus applicantur, citari & applicari praeter loquentis in V. T. intentionem. At consequens est absurdum.“ 17 Vgl. Sp. 351: „Cur enim Scriptores sacri in N. T. citant Mosis & Prophetarum ex V. T. verba? Certe ob hanc causam, ut fidem suis scriptis faciant. At quam fidem facient, si mala fide usurpent autorum dicta? si intentionem vel sensum eorum aut torqueant, aut, quod pejus est, pervertant?“ 18 Vgl. Sp. 351 f. 19 Sp. 352. 20 Vgl. Sp. 352: „ Illa est, qua Scripturae explicandae eruitur & indicatur propositum seu scopus, una cum themate, de quo agitur, & argumentis, quibus vel declaratur vel confirmatur. Haec est, quando ex Scriptura iam explicata profertur accommodatio, eaque quintuplex: 1. πρὸς διδασκαλίαν, ad doctrinam. 2. πρὸς ἔλεγχον, ad redargutionem. 3. πρὸς ἐπανόρθωσιν, ad correctionem. 4. πρὸς παιδείαν, ad institutionem. 5. πρὸς παράκλησιν, ad consolationem […].“ 21 Vgl. Sp. 352: „Jam vero si textus quidam Scripturae typicus, e. g. historia Jonae interpretanda est, tunc typi evolutio non certe ad accommodationem ac usum pertinet, sed ad partem priorem, quae est veri sensus enarratio. Antequam enim in historia ista latentes doctrinae, redargutiones, institutiones, consolationes, eruantur, videndum & interpretandum est, de quo textus Propheticus
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Im nächsten Schritt profiliert Glassius nun seine hermeneutische Theorie in Gestalt einer doctrina de sensu Scripturae,22 indem er sie jeweils mit derjenigen konfrontiert, wie er sie bei den päpstlichen, altkirchlichen und rabbinischen Autoren vorfindet. Hinsichtlich der päpstlichen Autoren erfolgt zunächst eine Kritik an der Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“.23 Zwar lobt Glassius die Unterscheidung in sensus literalis und sensus spiritualis sive mysticus, wie er sie etwa bei Bellarmin wahrnimmt.24 Auf seine Ablehnung stößt dagegen die Durchführung dieser Unterscheidung bei den Päpstlichen, da diese die wichtige Differenzierung in von der Schrift selbst angezeigte Allegorien einerseits und vom Ausleger eingetragene Allegorien andererseits nicht vornehmen: „Male confunduntur allegoriae in ipsa Scriptura monstratae, & ab interpretibus illatae.“25 Der zweite Kritikpunkt betrifft die Zuschreibung einer Vielzahl von Literalsinnen auf ein und denselben Text, wodurch die römischen Theologen die Klarheit der Schrift zu zerstören trachteten.26 Glassius referiert Bellarmins Meinung, die Schrift könne selbst nicht sagen, welche der jeweils möglichen Bedeutungen die wahre sei, weshalb sie dunkel sei und nicht ihr eigener Richter sein könne.27 Glassius sieht diese These von der obscuritas scripturae verursacht durch die von ihm bereits kritisierte Nicht-Unterscheidung zwischen in der Schrift selbst aufzufindenden und durch den Ausleger eingetragenen Allegorien bei den Päpstlichen.28 Dem gegenüber hält er daran fest, daß die Klarheit der Schrift gerade auch darin besteht, daß der Heilige Geist selbst in der Schrift explizit oder implizit darlegt, an welchen Stellen er einen mystischen
agat, an tantum literaliter de Jona, an simul mystice de Christo intelligendus sit? Quod quando ex collatione Matth. 12, 39. 40 expeditum, ad alteram interpretationis partem expeditior patet aditus.“ 22 Vgl. Sp. 352. 23 Glassius gibt ihn wieder in der Fassung: „Litera gesta docet: quid credas, allegoria: Moralis, quid agas: quo tendas, anagogia.“ (Sp. 354) 24 Vgl. Sp. 352 f.: „Bellar. lib. 3. de V. D. c. 3. facit primo distinctionem in sensum literalem sive historicum, & spiritualem sive mysticum. Hactenus, si recte intelligatur, non male.“ 25 Sp. 354. Bellarmin trifft der Vorwurf, „in unum chaos tam evggra,fouj quam avgra,fouj allegorias ipsum congerere.“ (ebd.) 26 Vgl. Sp. 355: „2. Multos literales sensus eidem Scripturae textui attribuendo. […] Romanenses vero, dum varietatem sensuum literalium introducunt, Scripturae claritatem & certitudinem, quantum in ipsis est, elidere satagunt.“ 27 Vgl. Sp. 357: „Bellarminus lib. 3. de V. D. c. 9. Scriptura varios sensus recipit, nec potest ipsa dicere, quis sit verus. Ergo (concludit exinde) obscura est, nec potest sui ipsius esse judex.“ 28 Vgl. Sp. 357: „Mirum non est, obscuritatis Scripturae causam Pontificiis inde enasci, quod non statim ipsis constet, quae res, cujus rei figura sit: cum in sensu mystico evvggra,fw|, qui in Scripturis ipsis explicatur, non acquiescant, sed Interpretum etiam, proprio ausu confictos, & invectos, solicite attendant typos.“
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Sinn intendiert hat.29 Abschließend stimmt Glassius den päpstlichen Theologen ausdrücklich darin zu, daß die Schrift der Auslegung bedürfe und diese vom Heiligen Geist geleitet sein müsse. Folgt man freilich der dargelegten Einsicht, daß der Geist in der Schrift markiert, wo er mystisch verstanden sein will, so erübrigt sich die auf römischer Seite vertretene und mit der vermeintlichen Unklarheit der Schrift begründete Zuflucht zum Urteil der Kirche, der Bischöfe oder des Papstes in Fragen der Schriftauslegung.30 Komplex ist der Befund bei den Kirchenvätern. Glassius teilt die Kritik des Hieronymus an Origenes, der zu oft den literarischen und historischen Sinn zugunsten allegorischer Abschweifungen vernachlässigt habe.31 Daß nach Hieronymus die geistliche Interpretation der Ordnung der historischen Auslegung folgen müsse, wird ebenfalls lobend erwähnt.32 Doch auch bei den Kirchenvätern vermißt Glassius die klare Unterscheidung zwischen durch die Schrift selbst vorgegebenen allegorischen Auslegungen und den vom Ausleger eingetragenen, was dann wiederum zu Lasten des zu erhebenden sensus literalis gehe.33 Allerdings weist Glassius wiederholt darauf hin, daß die päpstliche These von der Dunkelheit der Schrift mit den Vätern der Alten Kirche so wenig zu erweisen ist34 wie das damit einhergehende 29 Vgl. Sp. 357: „[…] claritas & perspicuitas ejus consistat etiam in hoc, quod quando Spiritus sanctus alicubi mysticum quid intendit, id alibi vel explicite, vel implicite, (utroque modo clare & perspicue) enucleet & exponat […].“ 30 Vgl. Sp. 358: „Bellarmini in d. l. c. 3. discursus hic est: Quia Scriptura sensum admittit multiplicem, indiget proinde interpretatione. Illa proficisci debet ab eo Spiritu, quo factae sunt Scripturae, 2. Petr. 1. Spiritus iste non nisi (idque certo) in Ecclesia invenitur, id est, in Concilio Episcoporum, confirmato a summo Ecclesiae totius Pastore, sive in summo Pastore cum concilio aliorum Pastorum. At vero, ut priora duo (Scripturam indigere interpretatione, illamque interpretationem debere ab ipso Spiritu sancto in Scripturis loquente proficisci, 2. Petr. 1, 20.) ultro concedimus, imo & urgemus & propugnamus; ita posterius illud, ceu reprobam caudam, & absurdam impiamque consequentiam assui, imo ex prioribus posterioris falsitatem suapte sponte pervideri asserimus, ut alibi haec probande locus sese aperiet latior.“ 31 Vgl. Sp. 358 f. 32 Vgl. Sp. 360. 33 Vgl. Sp. 360: „Quando sensus mystici & allegorici faciunt mentionem, non illas tantum intelligunt allegorias, quae in Scripturis explicantur, sed quas ipsimet etiam sensui literali superstruunt, praeter Scripturae explicationem. Id vero dum faciunt, in eruendo sensu literali interdum satis negligentes sunt & tepidi.“ 34 Vgl. Sp. 360 f.: „Origenes in Matth. 4. Scripturae sunt fons Jacob; siquidem in Scripturis bibunt docti, ut Jacob & filii, ac simplices & rudes, ut pecora ejus. Idem: Plato & Graecorum sapientes similes sunt Medicis iis, qui solis lautioribus prospiciunt, neglecta plebejorum multitudine. Judaeorum autem Prophetae & Christi discipuli, qui humanam sapientiam valere jusserunt, cibos curant saluberrimos, eaque compositione verborum utuntur, eoque apparatu, qui sit accommodatissimus ad captum IDIOTARUM. August. lib. 2. de Doct. Christ. c. 6. Ita Spiritus sanctus magnifice & salubriter Scripturas sanctas modificavit, ut locis apertioribus fami occurreret, obscurioribus autem fasti-
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Richteramt der Kirche bzw. des Papstes über die Schriftauslegung, wofür Glassius sich nicht nur auf Augustinus, sondern mit Gregor dem Großen ausdrücklich auch auf einen römischen Bischof beruft.35 Aus den von Glassius in diesem Teil abschließend auch kritisch rezensierten Äußerungen der Kirchenväter ist vor allem die Auseinandersetzung mit Augustinus über 1Kor 10,6.11 hervorzuheben. Entgegen der Meinung des Kirchenvaters und der ihm in diesem Fall folgenden päpstlichen Theologen Bellarmin und Becanus sei diese Stelle keineswegs ein Beleg für einen grundsätzlich zweifachen Schriftsinn. Vielmehr handele es sich bei dem warnenden „Typus“ oder Beispiel, als welches Paulus Israels Ungehorsam und Bestrafung auf der Wüstenwanderung den Korinthern vor Augen führt, nicht um eine mystische Auslegung, sondern um eine „accommodatio ad usum“ nach 2Tim 3,16.36 Allgemeiner gehalten, aber noch schärfer ist Glassius’ Kritik an der Schriftauslegung der Rabbinen, wo diese den mystischen, bei ihnen auch als kabbalistisch bezeichneten Sinn dem literarischen Sinn vorziehen und ihn darüber hinaus allzusehr vervielfältigen.37 Immerhin kündigt der Thüringer dennoch eine differenzierte Betrachtung der diversen kabbalistischen Auslegungen an, die für ihn bei aller Kritikwürdigkeit dennoch wertvoll sind,38 und schickt seiner Kritik eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den Rabbinen in der Unterscheidung zwischen sensus literalis und sensus mysticus voraus.39
dia detergeret: nihil enim fere de istis obscurioribus eruitur, quod non planissime alibi reperiatur. Idem lib. 2. contr. Donatist. cap. 6. Nulla obscuritas est in Scripturis, sed si manu mentis tuae Scripturarum januam pulsaveris, paulatim incipiens colligere rationem dictorum, aperietur tibi non ab alio, sed a DEI VERBO, quia solus Jesus in Evangelio suo mysteria legis revelavit. Gregor. Magnus: Scriptura fluvius est, in quo elephas natare possit, agnus ambulare.“ 35 Vgl. Sp. 361: „Gregor. Magnus (ipsemet Papa Romanus) lib. 18. moral. cap. 4. Qui vere loqui desiderat, e sacris literis sumere debet, quid loquatur: & omne, quod loquitur, AD DIVINAE AUTORITATIS FUNDAMENTUM REVOCET. Augustinus […] ita loquitur lib. de grat. & lib. arbitr. cap. 18. Illa causa judicem requirit, & quis erit judex? JUDICET APOSTOLUS, quia in Apostolo loquitur Christus &c. Confer eundem super Psal. 23.“ 36 Vgl. Sp. 361 f.: „1. Cor. 10, 6. Haec autem in figura facta sunt nostri. Et v. 11. Haec autem omnia in figura contingebant illis. […] ex illo loco nihil aliud doceri potest, quam quod Paulus veterum historiam ad Corinthios accommodet, & doceat, illa, quae veteribus acciderunt, esse typos, hoc est, imagines & tabulas, ut in iis videre possint, quid fugere & quid sequi debeant, item quomodo Deus erga peccatores sit affectus. […] Jam vero nouqesi,a non sensus mysticus, sed sensus Scripturae accommodatio est, ad usum, uti patet ex 2. Timoth. 3, 16.“ 37 Vgl. Sp. 363 f. 38 Vgl. Sp. 364. 39 Vgl. Sp. 363: „Recte quidem illi duplicem Scripturae sensum, literalem & arcanum sive mysticum, statuunt […].“ Daß gegen den so verstandenen Begriff der Kabbala als Bezeichnung des mystischen Schriftsinns an sich keine Einwände bestehen, hatte Glassius schon zuvor deutlich gemacht (vgl. Sp. 349).
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5.2 Der „sensus literalis“ Glassius gliedert sein Kapitel über den sensus literalis in einen definitorischen, einen analytisch-differenzierenden und einen ein Regelwerk darbietenden Teil.40 Onomatologisch schreitet er zuvor die hebräischen und griechischen Synonyme zum sensus literalis ab. Bei den Hebräern spricht man vom „[m;v.mi auditus“, womit zunächst die mündlich vorgetragenen Wörter, dann aber auch der literarische Sinn ihrer schriftlichen Gestalt bezeichnet wird.41 Die griechischen Synonyme lauten nou/j, dia,noia und r`hto.n. Die Betrachtung des Begriffes nou/j nimmt er unter Hinweis auf 1Kor 2,16 zum Anlaß, in impliziter Aufnahme seines zu Beginn des zweiten Buches formulierten sprachtheoretischen Grundsatzes, daß schriftliche Äußerungen ein Abbild des in ihnen sich äußernden Geistes sind, den Sinn Christi mit dem in den Schriften zu erforschenden und zu erhebenden Ratschluß Gottes zu identifizieren.42 Die lateinische Benennung sensus literalis schließlich stelle selber eine synekdochische Redewendung dar, stehe doch das Wort „litera“ für eine ganze mündlich vorgetragene oder schriftlich vorliegende Rede, so daß der sensus literalis die Intention des jeweiligen Sprechers oder Schreibers bezeichne.43 Glassius bespricht auch die beiden gelegentlich sinngleich für den sensus literalis gebrauchten Wendungen sensus historicus und sensus grammaticus. Der Nachteil der Rede vom sensus historicus sei dessen Beschränktheit auf jene Teile der Schrift, die Historien enthalten, während der sensus literalis alle Schriftteile umfasse, die nicht nur historischer, sondern auch dogmatischer oder prophetischer Art sein können.44 40 Vgl. Sp. 364 f. 41 Vgl. Sp. 365: „Apud Hebraeos literalis sensus vocatur [m;v.mi auditus, (quae appellatio proxime ad verborum voce viva prolatorum, consequenter ad eorundem scripto exhibitorum sensum literalem pertinet,) […].“ 42 Vgl. Sp. 365: „Haec significatione videtur accipi 1. Cor. 2, 16. Quis enim cognovit nou/n kuri,ou, mentem Domini, & mox: nos autem nou/n Cristou/, mentem Christi tenemus. Sive autem consilium Dei de salute nostra, sive sensum verbi divini in literas redacti, illa voce intelligamus, res eodem redit, consilium enim Dei, & id omne quidem, in Scripturis nobis revelatur; Scripturas igitur qui scrutatur & intelligit, nou/n mentem Christi tenet, hoc est, sensum verborum Christi accurate percipit, & eo ipso consilium ejus exacte novit.“ 43 Vgl. Sp. 366: „Appellatio Latina sensus literalis synecdochica est, a litera, quae vocis constituendae primum elementum est. Ut enim, per ampliationem synecdochicam, litera pro integra oratione, vel ore prolata vel scripta, sumitur, unde & ipsa artium susth,mata, bonae literulae, literae ingenuae dici consueverunt: ita & sensus literalis per eandem synecdochen dicitur is, qui proxime in oratione aliqua vel Scriptura, a dicente vel scribente intenditur ac spectatur […].“ 44 Vgl. Sp. 366: „Est etiam usus trita appellatio sensus historici, sed ea stricta nimiopere & angusta est, cum ad eam tantum Scripturae sacrae partem pertineat, quae historias continet, sensus autem literalis in omni Scriptura invenitur, sive historica, sive dogmatica, sive prophetica sit.“
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Im definitorischen Teil nimmt Glassius die Unterscheidung zwischen sensus literalis und sensus grammaticus vor. Über letzteren hinaus umfaßt der sensus literalis nicht nur die grammatische Gestalt eines Textes, sondern berücksichtigt auch die Rhetorik. Wo daher auf der grammatischen Ebene unter Verwendung bildlich-rhetorischer Mittel Dinge ausgesagt werden, die im wörtlichen Verstand in sich widersinnig und absurd sind, ist der sensus literalis nicht mit dem sensus grammaticus zu identifizieren, sondern derjenige Sinn, welcher der Intention des Heiligen Geistes und dem jeweiligen Kontext sowie der Analogie der Schrift entspricht.45 Darum gilt, daß Literalsinn auch dort vorliegt, wo etwas figürlich aufzufassen ist, wie Glassius hier am Beispiel vom unbeschädigten Treten auf Schlangen nach Ps 91,13 ausführt, wo es der Intention des Geistes nach um die Bewahrung in großen Gefahren geht: „Et ita literalis sensus est etiam in illis, quae figurate sunt accipienda.“46 Dem sensus grammaticus in seiner Unterscheidung vom sensus literalis entspricht auch der von manchen Theologen gebrauchte Begriff to. r`hto.n. Daher gilt, daß, was auch immer „meta. r`hto.n & sine tropo“ ausgelegt werden kann, der vom Heiligen Geist intendierte Literalsinn ist. Nicht aber gilt die Umkehrung, wonach was auch immer im Literalsinn als vom Geist intendiert feststeht, auch eigentlich und ohne Übertragung ausgelegt werden müsse.47 Aus alledem ergibt sich eine doppelte Bestimmung des sensus literalis: „SENSUS literalis est, qui proxime a Spiritu sancto, vel Christo in Scripturis loquente, intenditur. Estque vel proprius vel figuratus. Cum enim voces cujusque literae sive textus vel proprie vel improprie accipiantur, necessum est, sensum literalem etiam duplicem esse.“48 Der eigentliche Literalsinn (Sensus literalis proprius) ergibt sich aus den Worten in ihrer eigentlichen, von Modifizierungen oder Tropen unberührten Bedeutung, wofür Glassius als Paradigma auf die Abendmahlsworte verweist.49 Dagegen gilt: „Sensus literalis figuratus est, qui nascitur ex verbis tropice & modificate acceptis, cum nempe in litera seu textu Scripturae,
45 Vgl. Sp. 369: „[…] proprie acceptus sensus literalis est is, […] qui & Spiritus S. intentioni, & contextui, & Scripturae analogiae respondet.“ 46 Sp. 369. Vgl. die Fortsetzung a. a. O., Sp. 369 f.: „Sic sensus literalis dicti: super aspidem & basiliscum ambulabis, est hic: In maximis quibusque periculis & calamitatibus tutus ac salvus eris. Id enim Spiritus S. in eo loco intendit, ut ipsa contextus sunafei,a| ostendit.“ 47 Vgl. Sp. 370: „Omne r`hto.n est sensus literalis: sed non contra, omnis sensus literalis est to. r`hto.n; Seu ita: Quicquid meta. r`hto.n & sine tropo explicari debet, est sensus literalis, & a Spiritu sancto intentus; sed non contra: Quicquid sensu literali & a Spiritu sancto intento constat, id proprie & sine tropo explicandum est.“ 48 Sp. 370. 49 Vgl. Sp. 370: „Sensus literalis proprius est, qui oritur ex verbis in propria & nativa significatione acceptis. Sic in verbis Coenae: Accipite & comedite: Hoc est corpus meum: sensus literalis proprius est, quia nulla hic occurrit vox modificata seu tropo affecta.“
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qui explicandus est, tropus aliquis occurrit […].“50 Hierfür verweist Glassius auf Jesu Rede vom Lebensbrot in Johannes 6, das dort nicht Brot im eigentlichen Sinne bezeichne, sondern eine metaphorische Bezeichnung für das lebendigmachende Fleisch Christi darstelle.51 Muß beim sensus literalis figuratus die dia,noia beachtet werden, so beim Sensus literalis proprius to. r`hto.n.52 Die Regeln (canones) für die Auslegung des Schriftsinns unterteilt Glassius sodann in allgemeine und besondere. Die allgemeinen Regeln behandeln die Interpretation des sensus literalis an und für sich; die besonderen Regeln nehmen die soeben gemachte Differenzierung in eigentlichen und figürlichen Sinn in den Blick.53 Gegen enthusiastische Schriftverächter prägt Glassius in seinem ersten canon vor allem unter Berufung auf 2Petr 1,20 und Joh 5,39 ein: „Sensus literalis Scripturae textuum non parvi pendendus, sed maximo in precio habendus, & solicite eruendus est.“54 Buchstabe und Geist stehen gerade nicht im Gegensatz zueinander, vielmehr gilt, daß der Geist als verläßlichster Lehrer der Kirche das von ihm Geschriebene so verstanden wissen wolle, wie der Text selbst lautet und wie unter Berücksichtigung des jeweiligen Skopus, des jeweiligen Textzusammenhangs und der Harmonie und Analogie der Schrift ohne Zuflucht zu eingetragenen mystischen Auslegungen klar erhoben werden kann.55 Die zweite Regel lautet in kontroverstheologischer Abgrenzung gegen Calvinisten und Päpstliche, daß der Literalsinn eines Wortes oder Textes jeweils einer ist.56 Bestätigt wird diese Regel neben der allgemeinen Einsicht in die quasi ontische Konstanz der Dinge und in die Einheitlichkeit der Wahrheit durch das Selbstzeugnis der Schrift über ihre Klarheit, ihre Gewißheit und ihren Zweck.57 Gegen die 50 Sp. 371. 51 Vgl. Sp. 371: „Sic quando Joh. 6. Christus de pane vitae comedendo concionatur, sensus literalis est tropicus, neque enim panis proprie dictus, sed caro Christi vivifica, quae metaphorice panis dicitur […].“ 52 Vgl. Sp. 371. 53 Vgl. Sp. 371: „Regulae & canones, ad Scripturae interpretationem de sensu literali necessarii ita distingui possunt, ut quidam sint generales, quidam speciales. Illi loquuntur de sensu literali in se: Hi de sensu literali respectu factae superius distinctionis, in proprium & figuratum.“ 54 Sp. 371 („Canon I.“). Die Antipolemik richtet sich gegen die Weigelsche Polemik gegen die Diener des Buchstabens (vgl. Sp. 372). 55 Vgl. Sp. 372: „Nullum enim dubium, quin Spiritus sanctus, ceu fidissimus Ecclesiae Doctor, a se scripta sic voluerit intellecta, prout textus, ad dicentis scopum, antecedentium & consequentium cohaesionem, Scripturaeque panharmoniam ac analogiam, accurate expensus, sonat, ut nullo modo necessum sit, ad sensus mysticos, pro arbitrio confictos, & Scripturae illatos, confugere.“ 56 Vgl. Sp. 372: „Canon II. Unus tantum est cujusque tum vocis, tum contextus Biblici, literalis sensus.“ 57 Vgl. Sp. 375: „Theseos confirmatio. Confirmatur autem sequentibus argumentis. 1. A sensus & significationis natura. Forma unius rei essentialis non est nisi unica. […] 2. A veritatis unitate. Plus
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Annahme einer zumindest potentiellen Vieldeutigkeit der Schrift unter Hinweis auf Gottes Allmacht und Kreativität durch päpstliche Theologen bekräftigt Glassius zum einen, daß der Sinn der Schrift nicht nach dem zu beurteilen ist, was Gott vermag, sondern nach dem, was er als seinen Willen kundtut. Zum andern führt er zum wiederholten Mal 2Tim 3,16 ins Feld. Demnach ist das Argument der Päpstlichen, die den Umgang mit der Schrift zu Recht von Gott als ihrem Urheber her bestimmen wollen, gerade umzukehren. Weil die Schrift Gott zum Urheber hat, kann sie nicht viele literarische Sinngebungen haben, denn als kunstvoller Schöpfer des Verstandes und der Zunge vermag er selbst klar zu sprechen.58 Auch die faktische Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Auslegungen kann nicht gegen die Annahme eines klaren sensus literalis ausgespielt werden, sondern muß an der Schrift selbst unter Beachtung des Skopus, des Zusammenhangs und der Redeweisen beurteilt werden.59 Die alttestamentlichen Stellen, denen die Gegner vielfältigen Sinn zuschreiben und die Glassius sodann exemplarisch behandelt, stehen deshalb nicht im Widerspruch zur dargelegten Lehre vom sensus literalis, weil in ihnen entweder deutlich der sensus literalis erkennbar ist oder es sich bei ihnen um aus dem Neuen Testament klar erkennbaren sensus mysticus60 oder aber um typologische Entsprechungen handelt. Prominentes Beispiel für letzteres ist die Auslegung der messia-
uno in una eademque sententia verum esse nequit, verum enim & unum convertuntur. […] 3. A Scripturae sacrae claritate. Quodcunque varios admittit sensus literales, variasque significationes, illud in se & per se est obscurum. […] 4. A Scripturae sacrae certitudine […]“ 5. „A Scripturae S. fine. Si Scripturae sacrae nos debent […] sapientes reddere, instruere & informare, tum in fide, tum in vita, sequitur, quod ab illis omnem oporteat abesse ambiguitatem, & consequenter, sensuum literalium varietatem.“ Nur beim ersten Argument fehlt ein Hinweis auf Schriftstellen. Beim zweiten Punkt nennt Glassius Ps 119,142 und Joh 17,17, beim dritten Ps 19,9, 119,105, Spr 6,23, 2Kor 4,3 f. und 2Petr 1,19, beim vierten 2Petr 1,19 und Apg 26,22, beim fünften 2Tim 3,15–17 und Joh 20,31. 58 Gegen die jesuitische Behauptung der ambiguitas und obscuritas der Schrift hält Glassius fest (vgl. Sp. 378): „At longe alio, imo contrario modo argumentatur Apostolus 2. Tim. 3. 15. 16. 17. Scriptura est qeo,pneustoj, a Deo inspirata. Ergo potest nos sofi,sai, sapientes reddere, & ad omne bonum opus perfectos praestare. […] Invertimus igitur totum argumentum, & ita concludimus: Scriptura autorem Deum habet. Ergo non habet multos literales sensus. Ratio est, Deus enim mentis & linguae artifex perspicue loquitur. Ergo etiam sine ambiguitate loquitur, quae perspicuitate, & diametro adversa. DEUS est ipsa veritas, & verbum ipsius veritas, Joh. 17, 17. E. etiam unam tantum uno verbo intendit veritatem, cum plus uno verum esse non possit.“ 59 Vgl. Sp. 379: „De interpretationibus autem inter se discrepantibus (etsi non contrariis, vel a fidei analogia alienis) ex ipsa Scriptura, considerato textus scopo, sunafei,a|, phrasi &c. faciendum est judicium, & videndum, quaenam reliquis praeferenda, quaeque unicum istum a Spiritu sancto intentum sensum accuratius proponat.“ 60 Als Beispiel für den Literalsinn bespricht Glassius Gen 1,1, als Beispiel für mystischen Sinn die Aufnahme von Ex 12,46 in Joh 19,36 (Sp. 380 f.).
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nischen Verheißung aus 1Chron 17,13 bzw. 2Sam 7,12. Diese handelt, wie aus dem Gesamtkontext der Schrift hervorgeht, im sensus literalis von Salomon und seiner Herrschaft, im sensus spiritualis aber von Christus, der quasi bereits unter der Figur des Salomo von Gott antitypisch vorgestellt wird.61 Bei anderen Stellen entkräftet Glassius die Annahme eines mehrfachen sensus literalis mit dem Hinweis, daß unterschiedliche Akkommodationen ein und derselben alttestamentlichen Stelle im Neuen Testament den sensus literalis des Alten Testaments gerade nicht aufheben, sondern voraussetzen.62 Die nächste Regel, wonach jede beliebige Schriftstelle einen Literalsinn zuläßt,63 wird dann recht verstanden, wenn beachtet wird, daß der literarische Sinn nicht mit dem grammatischen identisch sein muß, sondern derjenige ist, der durch die Worte der Schrift, sei es im eigentlichen, sei es im übertragenen Sinn, bezeichnet wird,64 wie es insbesondere bei Gleichnissen zu beobachten ist.65 Regel IV. prägt explizit die bleibende Bindung des Literalsinns an den Wortlaut der Schrift ein: „Sensus Scripturae literalis a verbis Scripturae nequaquam est separandus.“66 Besonders zu dieser Regel stellt Glassius fast verzweifelt die Widersprüchlichkeit der päpstlichen Theologen fest, die einerseits mit vielen Äußerungen dieser Regel gänzlich beipflichten und sich dann wieder in anderen Äußerungen der Sache nach dem Schwenckfeldianismus annähern.67 Glassius nimmt das zum Anlaß für eine weitere sprachtheoretische Präzisierung, wenn er dem schottischen Jesuiten Gordon Huntlaeus (1541–1620) gegenüber die Unhintergehbarkeit der äußeren Form des Buchstabens einprägt, an die der Sinn der Schrift gebunden ist: „Recte quidem statuit Huntlaeus, Verbum Dei scriptum duabus constare partibus, litera, & vero literae sensu: habent enim se haec
61 Vgl. Sp. 383: „His ita remotis textui convenientissima est illa sententia, de Salomone, deque ejus & posterorum regno, uti & externa templi Hierosolymitani exaedificatione, sensu literali in praesenti loco agi: de Christo vero ejusque regno & beneficiis, sensu spiritualis seu mystico: is enim ut avnti,tupon a DEO sub figura Salomonis proponitur, a quo certo modo adumbratur & praefiguratur.“ 62 Vgl. zu Ps 2,7, Ps 2,12, Jes 53,4.8, Dan 9,27 und Joh 11,50: Sp. 383–389. 63 Vgl. Sp. 389: „Canon III. Quilibet Scripturae locus sensum literalem admittit.“ 64 Vgl. Sp. 390: „Sensum literalem esse eum, qui per verba Scripturae, sive proprie sive tropice in textu usurpata sint, proxime significatur. Et ubi verba tropice posita & usurpata sunt, ibi sensus literalis est, quem ipsae voces tropice positae insinuant.“ Beispiele hierfür sind zum einen das Gleichnis von den Bäumen, die sich einen König wählen in Ri 9,8, zum andern Jesu Wort vom Abhauen oder Ausreißen von zur Sünde verführenden Körpergliedern in Mt 5,30 (vgl. Sp. 389 f.). 65 Vgl. Sp. 390 f. mit dem Hinweis, daß weiter unten im Werk ausführlicher davon gehandelt werden soll. 66 Sp. 391. 67 Vgl. Sp. 391–396.
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duo ut materiale & formale, ut anima & corpus animatum: sed debuisset addere, formam non extra suum materiale, animam non extra suum corpus (quatenus est forma informans) esse quaerendam, hoc est, sensum Scripturae non extra illam literam, seu extra illa Scripturae verba (quorum sensus dicitur) esse quaerendum, sed ex ipsis debito & congruo modo eruendum.“68 Schwenckfeldianer und Päpstliche sind darin miteinander verbunden, daß sie beide die Schrift in letzter Konsequenz als toten Buchstaben betrachten, insofern sie nicht als lebendiges Wort für das rechte Verständnis ihrer selbst sorgen könne, weshalb sie eines externen Richters über ihren wahren Sinn bedürfe.69 Damit verbunden ist bei den Päpstlichen die Meinung, der Sinn der Schriften könne je nach Zeitgeist selbst wandelbar sein.70 Diesem Irrtum gegenüber bekräftigt Glassius die Verbindlichkeit der buchstäblichen Gestalt des Schriftsinnes für die regelgerechte Erhebung dieses Sinnes. Dabei wiederholt er noch einmal seinen sprachtheoretischen Grundsatz, daß – abgesehen vom delphischen Orakel – unabhängig von der mündlichen oder schriftlichen Darbietung des Ausgesagten die Worte ein Abbild der Gedanken des Geistes sind, eine Schatzkammer und ein Gefäß des Sinnes, der vom Autor intendiert ist, woraus dieser Sinn wie ein Kern hervorgeholt werden muß und kann. Dieser allgemeine Grundsatz gilt in besonderer Weise von der Schrift, die die Schatzkammer des vom Heiligen Geist intendierten Sinnes ist, weshalb ihr rechtes Verständnis aus ihr selbst zu erheben und nicht von außen in sie hineinzutragen ist. In eben dem Maß, wie von den menschlichen Autoren der Schrift in ihren Worten aufgenommen werden konnte, was der Wille Gottes bzw. der Sinn des Heiligen Geistes ist, können die Leser der Schrift diesen Sinn des Geistes aus dem geschriebenen Wort Gottes aufnehmen.71 Vielfältig wird in der Schrift selbst 68 Sp. 392. 69 Vgl. Sp. 393: „Sicut enim Schwenckfeldius ad Spiritum privatum homines remittebat, per quem Scripturae (in se litera mortua) vivifice intelligantur: Ita Pontificii ad Ecclesiam homines remittunt, ex qua verus Scripturae sensus sit petendus.“ 70 Vgl. Sp. 394: „Aliam Pontificiorum assertionem, quod sensus Scripturarum pro temporum ratione & diversitate variari possit.“ Das Beispiel des Cusanus, auf den Glassius hier eingeht, bespricht bereits Johann Gerhard in seinem Tractatus (S. 32–43, art. IX–XV). 71 Vgl. Sp. 395 f.: „Huic igitur Pontificio errori quartum hunc canonem opponimus, quod sensus Scripturae literalis, qui unicus, simplex & constans est, a litera Scripturae non sit separandus, sed ex ipsa, juxta Autoris scopum & fidei analogiam, eruendus. Idipsum probamus unico isto fundamento, quod deducitur ab exactissima verborum & sensus cohaerentia. Verba, sive ore prolata sive scripto exarata, uti sunt conceptuum mentis avpeiko,nisma, (nisi vel Dephica oracula vel Carmentae folia sint,) ita etiam sensus, a conceptu dicentis vel scribentis intenti, sunt quasi tamei/on & cortex, ex quo iste, ut nucleus, depromi unice debet & potest. Jam vero Scripturae sacrosanctae Spiritus sancti verba sunt. E. eaedem sensus a Spiritu sancto intenti certissimum sunt tamei/on, ex quo intelligentia (verbis Hilarii lib. 1. de Trin.) expectanda potius, quam imponenda, referenda magis, quam adferenda. Argumentum hoc evidentius facit 1. Quod Prophetae & Apo-
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bezeugt, daß ihre Worte lebendig sind und gehört werden sollen, weil Gott selbst durch sie gegenwärtig spricht und wirkt, was er sagt.72 Weithin konsensfähig auch unter den meisten päpstlichen Theologen73 ist nach Glassius „Canon V. Sensus literalis praecipue est argumentativus, non tamen excluso mystico.“74 Da aber aus jedem Wort Gottes Beweisgründe für die Lehre genommen werden können und auch Schriftstellen mit einem mystischen Sinn Wort Gottes sind, können diese zur Bekräftigung der Lehraussagen herangezogen werden.75 Für die Prüfung und Bewährung von Glaubenssätzen (Dogmen) gilt daher, daß solche aus klaren und evidenten Schriftzeugnissen hervorgehen müssen. Ein mystischer, sei es allegorischer, sei es typologischer, Sinn hat insoweit Gewicht, als er in der Schrift selbst erklärt wird. Bei Gleichnissen ist nicht die bildliche Ebene des Gleichnisses im buchstäblichen Sinn, sondern die durch das Gleichnis bezeichnete Sachebene beweiskräftig. Dabei sind über den Literalsinn hinausgehende Akkommodationen zwar möglich, aber für die Lehrbegründung nicht beweiskräftig.76
stoli suis auditoribus idem omnino proposuerunt, quod postea DEI voluntate in Scripturas redegerunt, 2. Cor. 1, 13. 1. Joh. 1, 3. 4. c. 2, 7. Perinde igitur, ut ab auditoribus Prophetarum & Apostolorum percipi potuit, quae sit DEI voluntas, quae Spiritus sancti mens & sententia, ex ipsorum verbis: ita idem nos ex scripto DEI verbo percipere possumus. Praedicatio & scriptio externa accidentia sunt, quae ipsum DEI verbum non mutant.“ 72 Vgl. Sp. 396, wo Glassius folgende Schriftstellen als Belege heranzieht: Mt 21,4, 22,31, Röm 3,19, 10,8, 1Kor 2,6 f., 15,34, 2Petr 1,19, Lk 16,26 und Hebr 4,12. Eine ähnliche Reihung bietet für Johann Gerhard Hägglund, Chemnitz, S. 88. Zur Sache vgl. Johannes Wirsching, Was ist schriftgemäß? Studien zur Theologie des äußeren Bibelwortes, Gütersloh 1971, S. 51 f. 73 Glassius zitiert u. a. Bellarmin und Thomas: „Bellarm. lib. 3. de V. D. c. 3. inquit: Convenit inter nos & adversarios, ex solo sensu literali peti debere argumenta efficacia. […] Thom. part. 1. q. 1. art. 10. Certum est symbolica argumenta non esse argumentativa: Ex sensu mystico argumentum efficax ad res fidei comprobandas non sumi, communis est Theologorum sententia.“ 74 Sp. 396. 75 Vgl. Sp. 398: „Negari tamen non potest, ex mystico sensu (quem Scriptura INTENDIT & explicat) non minus dogmatum peti posse confirmationes. Ex omni enim VERBO DEI argumenta firmiter desumi posse, constat. Jam vero sensus mysticus, ejusque in Scripturis explicatio, VERBUM DEI quin sit, nemo dubitare ausit.“ 76 Vgl. Sp. 398 f.: „(1.) In probandis fidei dogmatibus praecipua cura esse debet, de claris, firmis & evidentibus Scripturae testimoniis. Nullum enim fidei dogma est, quod non vel uno, vel pluribus etiam locis, Spiritus sanctus aperte, clare & perspicue proposuerit. (2.) Sensus mysticus, allegoricus & typicus, eo usque a probandum valet, quousque in ipsa Scriptura explicatur. […] (3.) In parabolis non ex sensu literali prioris parabolae partis (quae continet rem in similitudinem adductam) sed ex sensu literali posterioris partis (quae continet rem, ad quam similitudo applicatur, & de qua principaliter sermo parabolizanti est) qui tamen prioris partis est sensus mysticus, argumentum desumitur. (4.) Nec tamen ex omnibus, ad quae pars prior accommodari a nobis posse
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Diese Klärungen führen Glassius im nächsten Artikel vor die Aufgabe, besondere Regeln für die Bestimmung des sensus literalis in der Unterscheidung vom sensus mysticus zu erheben.77 Für die erste Regel stellt Glassius wiederum im Grundsatz einen breiten Konsens zwischen Luther sowie päpstlichen und calvinistischen Autoren fest.78 Demnach ist beim sensus literalis einer Schriftstelle strikt zu verharren, es sei denn, dieser verstieße gegen Glaubensartikel oder Liebesgebote, so daß die Textkohärenz bzw. die Glaubensregeln eine figürliche Deutung erzwingen würden.79 Weil jeder Glaubensartikel wiederum explizit auf klaren Worten der Schrift beruhen muß, die somit als des Glaubensartikels „sedes & domicilium“ bezeichnet werden können, hält die zweite Regel fest, daß solche Schriftstellen im buchstäblichen Wortsinn verstanden werden müssen.80 Nicht ausgeschlossen ist aufgrund dieser Regel, daß auch durch und durch figürliche Schriftaussagen wie Gen 3,15 als sedes doctrinae gelten können, wenn der in ihnen ausgesagte Glaubensartikel durch andere klare Schriftstellen im sensus literalis bestätigt wird.81 Die dritte Regel besagt, daß bei testamentarischen göttlichen Einsetzungen von mit Bundesschlüssen verbundenen gottesdienstlichen Vollzügen unter allen Umständen am sensus literalis festzuhalten ist, da die jeweiligen videtur, sed ex eo tantum, cujus vel expressa in Scriptura fit mentio, vel quod ex scopo parabolae certo eruitur, probatio deduci potest & debet.“ 77 Vgl. Sp. 399: „Articulus IV. Canones de sensu literali SPECIALES exhibens & explicans.“ 78 Vgl. Sp. 400: „B. Lutherus tom. 3. Jen. de serv. arbit. p. 195. Sic sentiamus, neque tropum in ullo Scripturae loco admittendum esse, nisi id cogat circumstantia verborum evidens, & absurditas rei manifeste in aliquem fidei articulum peccans; sed ubique inhaerendum est simplici, puraeque & naturali verborum significationi, quam Grammatica & usus loquendi habet. Videamus etiam Pontificiorum & quorundam ex Calvinianis consensum.“ Zur Lutherstelle vgl. WA 18,700,31–35 (De servo arbitrio, 1525). 79 Vgl. Sp. 400: „Canon I. Sensus literalis proprius arcte tenendus, nisi 1. in fidei articulos, aut charitatis praecepta, palam & vere incurrat; 2. Et simul evidenter ex eodem, vel aliis locis, figuratus sermo detegatur ac probetur. Alii Canonem ita proponunt: Verba Scripturae semper sunt accipienda proprie, nisi vel textus cohaerentia, vel clarior explicatio, vel fidei analogia, tropicam expositionem requirat.“ 80 Vgl. Sp. 402: „Canon II. Praesertim ubicunque fidei articulus ex professo traditur, ibi urgendus est sensus literalis proprius sive to. r`hto.n. Ratio hujus est: Quia omnis fidei articulus in Scripturis alicubi, ex professo propriis & perspicuis verbis est expositus, quae illius articuli propria quasi sedes & domicilium est. Augustinus lib. 2. de doctr. Christ. c. 6. & 9. Nihil est obscure dictum in Scripturis, quod spectet ad fidem, vel mores, quod non planissime dictum sit in aliis locis.“ 81 Vgl. Sp. 403 f.: „[…] concedimus, articulos fidei alicubi verbis quibusdam tropicis proponi, sed addendum hoc, nullum omnino esse fidei articulum, qui non ALICUBI ad minimum in Scripturis propriam sedem habeat, & in illa propriiis sine TROPO verbis (substantiam ejus quod attinet) EX PROFESSO exponatur, quod de prima etiam promissione verum est, quae non in V. solum T. scriptis Propheticis, sed Novi etiam Apostolicis, luculenter & verbis propriissimis est explicata. Vide Esaiae c. 53. & 1. Joh. 3, 8. &c.“
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Stellen als von Gott vorgegebene Norm für die Ausrichtung dieser Vollzüge gelten müssen.82 Dies gilt alttestamentlich für die Einsetzungen der Beschneidung, des Passafestes, die Promulgation des Dekalogs und des levitischen Gesetzes, neutestamentlich für Taufe und Abendmahl.83 Schließlich benennt Glassius in der vierten Regel die Evidenz und die Suffizienz als Kriterien für den Nachweis eines sensus tropicus.84 Ausschlaggebend dürfe nicht die Frage sein, ob eine figürliche Deutung einer Stelle möglich ist, sondern ob sie notwendigerweise aus dem Text selbst zu erheben ist,85 ein Grundsatz, den Glassius mit Luther gegen die zwinglianische Deutung der Abendmahlsworte geltend macht.86
5.3 Der „sensus mysticus“ Bei der Definition des mystischen Schriftsinns wehrt Glassius zunächst das Mißverständnis ab, es handele sich dabei um die Geheimnisse („Mysteria“) des christlichen Glaubens, die ja aus dem sensus literalis zu erheben sind. Vielmehr geht es um einen solchen Sinn gewisser Schriftstellen, der nicht schon durch die Worte der Schrift bezeichnet wird, sondern erst durch die in den Worten bezeichneten Sachverhalte vom Heiligen Geist als Autor der Schrift intendiert ist. Einzuteilen ist der sensus mysticus dreifach in einen allegorischen, typologischen und
82 Vgl. Sp. 404: „Canon III. Verba, quae continent primam cultus novi vel foederis institutionem, & recentem praeceptionem, sine tropis, sensu literali proprio, sunt accipienda. […] Ratio autem canonis est haec, illa enim verba a DEO proponuntur ut norma, ad quam omnia, quae in dubium & controversiam vocantur, examinari & dijudicare debent, ideo ne quis delinquendi exinde arripere possit ansam, proprie & perspicue a DEO proposita sunt.“ 83 Vgl. Sp. 404. 84 Vgl. Sp. 404: „Canon IV. Declaratio & demonstratio tropici sensus debet esse 1. evidens, 2. sufficiens.“ 85 Vgl. Sp. 405: „Aliud nimirum est significationis possibilitas extra textus seriem; aliud significationis tropicae necessitas in eadem. Non ergo fingere, sed invenire in textu debemus tropos.“ 86 Vgl. Sp. 405 f.: „Contra Cinglianos [sic!], qui tropum in vocula EST, pro SIGNIFICAT, ostensuri, satis esse putant, quibusdam alienis & a se contortis Scripturae exemplis id probare, quos gravissime Lutherus refellit, tom. 3. Jen. Germ. in Praefat. syngramm. fol. 285. Wenn schon dieser Grund / (daß EST soll heissen significat) ein Exempel in der Schrifft hätte / dennoch möchte damit nicht beweiset werden / daß auch in den Worten (das ist mein Leib) solte und müste so genommen werden / das werden sie nimmermehr beweisen / das weiß ich fürwar. Denn es gar viel ein anders ist / wenn ich sage / das mag so heissen / und wenn ich sage / das muß so heissen / und kan nicht anders. Auf das erste kan sich das Gewissen nicht verlassen / auf das andere aber kan sichs verlassen.“ Vgl. WA 19,457,17–23 (Erste Vorrede zum schwäbischen Syngramm, 1526).
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parabolischen Sinn.87 Allegorischer Sinn liegt vor, wenn aufgrund der Intention des Heiligen Geistes ein in der Schrift überliefertes historisches Ereignis auf ein Mysterium bzw. ein Lehrstück bezogen wird.88 „Typicus est, quando sub externis factis seu propheticis visionibus res occultae, sive praesentes sive futurae, figurantur, & praesertim, quando res gestae V. T. praesignificant seu adumbrant res gestas N. T.“89 Parabolischer bzw. gleichnishafter Sinn liegt vor, wenn ein erzählter Sachverhalt auf dessen geistlichen Sinngehalt bezogen wird.90 Vier Punkte müssen nach Glassius „in genere“ bei der Wahrnehmung des sensus mysticus beachtet werden. Zunächst benennt er als theologischen Grund für den sensus mysticus die Kondeszendenz, durch die Gott sich in seiner Selbstkundgabe an menschliches Fassungsvermögen anpaßt, indem er die himmlischen Geheimnisse unter den Hüllen menschlicher Realien darlegt: „Fundamentum ejus est DEI sugkata,basij, quam avnqrwpopa,qeian etiam vocant; quia enim DEUS in Scriptura sacra cum misellis agit hominibus, igitur saepius ipsis sugkatabai,nei seu condescendit, & ad captum ipsorum se accommodans, sub involucris rerum humanarum mysteria sua coelestia proponit.“91 Im zweiten Punkt bestimmt der Thüringer die doppelte Relation zwischen buchstäblichem und mystischem Sinn folgendermaßen: „Sensus literalis prior est mystico natura & ordine“.92 Implizit ist damit im Rückbezug der Vorrang des sensus literalis bei der Lehrbegründung 87 Vgl. Sp. 406: „Per mysticum vero sensum non intelligimus in genere fidei Christianae mysteria, quae ex sensu literali in suis sedibus & primariis Scripturae dictis eruuntur, (quo respectu quodvis dictum, articulum fidei & mysterium coeleste proponens, mysticum sensum habere, dici posset, juxta 1. Cor. 2, 6. 7. Rom. 16, 25.) sed in specie talem quorundam Scripturae locorum sensum, qui non verbis Scripturae proxime significatur, sed in ipsis rebus (per verba sensu literali denotatis) a Spiritu sancto, Scripturae autore, intenditur, seu, quod idem est, qui alio ex intentione Spiritus sancti refertur, quam ad id, quod verba immediate signifcant, quomodo vox musthri,ou Eph. 5, 32. Apoc. 17, 7. accipitur. Estque in universum triplex: ALLEGORICUS, TYPICUS, PARABOLICUS.“ 88 Vgl. Sp. 406: „Allegoricus est, quando historia Scripturae vere gesta ad mysterium quoddam, sive spiritualem doctrinam, ex intentione Spiritus sancti refertur.“ 89 Ebd. 90 Vgl. Sp. 406: „Parabolicus est, quando res aliqua ut gesta narratur, & ad aliud spirituale designandum refertur.“ 91 Sp. 406. Vgl. Stemmer, Weissagung, S. 48 f.: „Der Begriff der Synkatabasis, der in der patristischen Theologie eine lange Geschichte hat und in Luthers Theologie eine zentrale Bedeutung gewann, stammt aus der antiken griechischen Rhetorik und bezeichnet dort das akkommodative ‚Heruntersteigen‘ des Redners zu seinen Zuhörern, seine Anpassung an das Fassungsvermögen […] eines größeren Zuhörerkreises. Wie ein solcher Redner hat Gott sich zu den Menschen ‚heruntergelassen‘. Er hat sich bei der Mitteilung seiner Offenbarungslehre der Fassungskraft der alttestamentlichen Menschen angepaßt und ihnen die himmlischen Mysterien in verschleierter, verdeckter Form kundgetan.“ Unter Hinweis (a. a. O., S. 48, Anm. 4) auf den Artikel „Kondeszendenz“ in HWPh 4, Sp. 942–946. 92 Sp. 407.
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festgehalten. „Mysticus autem literali prior est dignitate. Hic enim, ut nobilior atque sacratior, magis intenditur a Spiritu sancto, quam ille.“93 Dem sensus mysticus wird ein Vorrang an Würde zugeschrieben, die sich dem erhöhten Aufwand bzw. der komplexeren Intentionalität verdankt, die der Heilige Geist als Autor der Schrift mit diesem betreibt. Glassius erläutert dies mit dem Hinweis auf die höhere Würde der durch Typologien und Gleichnisse bezeichneten geistlichen Sachverhalte gegenüber den bezeichnenden (historischen) Typen und literarischen Gleichniserzählungen.94 So gilt für ihn, was auch von Luthers Verhältnisbestimmung von Literalsinn und Allegorese (als Teilaspekt des sensus mysticus) gesagt werden kann: „Insofern bilden sensus historicus und sensus allegoricus keine Alternative, sondern ersterer umfängt den letzteren, wie auch umgekehrt letzterer den ersteren in sich hält.“95 Der dritte Punkt bei Glassius bezieht sich auf die Nomenklatur der drei Teilbereiche des sensus mysticus. Wenn man unter allegorischem Sinn diejenigen Texte faßt, in denen Aussageintentionen vorliegen, die über die literarische Ebene hinausgehen, kann man im typologischen und im parabolischen Sinn die Untergruppen des allegorischen Sinnes sehen. Da die Allegorie aber auch im strikten Sinn etwas von Typologien und Gleichnissen Unterschiedenes bezeichnen kann und dies zudem der allgemeinen Meinung der Theologen entspricht, werden Allegorien, Typologie und Gleichnisse gesondert behandelt.96 Zuletzt erinnert Glassius in seinem vierten, für die folgende Einzelbetrachtung grundlegenden Punkt an die Unterscheidung „inter sensum mysticum e,vggrafon, interque avgra,fouj mysticas accommodationes“,97 zwischen dem aus der sich selbst auslegenden Schrift zu erhebenden98 mystischen Sinn und den durch den Ausleger von außen herangetragenen Anwendungen ad usum (die wiederum, wie oben bereits ausgeführt wurde, sowohl auf nach dem sensus literalis als auch nach dem sensus mysticus zu lesenden Schriftstellen bezogen sein können).
93 Sp. 407. Danneberg (Grammatica, S. 157) schreibt zu dieser Doppelbestimmung: „Zwar weicht die einschlägige Auffassung des Glassius, wenn ich es richtig sehe, in dieser Hinsicht in keinem wesentlichen Punkt von der Tradition ab, doch gibt er der Sache eine prägnante Formulierung, die später gern zitiert wird […].“ 94 Vgl. Sp. 407. 95 Steiger, Zentralthemen, S. 172. 96 Vgl. Sp. 407. 97 Sp. 408. 98 Vgl. Sp. 407: „Repeto id, quod supra inculcatum fuit, quando de sensu Scripturae mystico hic agitur, intelligi tantummodo eum, quem Scriptura ipsa, sui ipsius interpres, dilucide commonstrat.“
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5.3.1 Von der allegorischen Schriftauslegung Bei der Definition der Allegorie folgt Glassius zunächst Quintilian, wonach an einer allegorischen Stelle den Worten nach etwas anderes bezeichnet wird als dem Sinn nach: „aliud verbis, aliud sensu ostendo“.99 Zu unterscheiden hiervon ist die von einigen ebenfalls als Allegorie bezeichnete metaphora continuata, die aber zur Lehre von den Tropen gehört und daher in der Rhetorik zu behandeln ist.100 Nach der Warnung vor einer allzu leichtfertigen Verwechslung der Allegorie mit dem Typus formuliert Glassius seine Definition der biblischen Allegorie folgendermaßen: „Rectius igitur definitur, quod sit rei alicujus mysticae seu spiritualis, per aliam, in Scripturis narratam, repraesentatio.“101 Auf diese Definition folgt die Unterscheidung in Allegorien, die in den biblischen Schriften ausdrücklich behandelt werden, und solchen, die von außen eingetragen werden: „Allegoria duplex est: Innata & Illata. INNATA est, quae in Scripturis ipsis expresse traditur, & haec proprie Scripturae sensus mysticus est.“102 Mit Hieronymus hält Glassius fest, daß Allegorien in der Schrift deutlich seltener vorkommen als Typologien, woraufhin er diese überschaubare Anzahl der Bibelstellen referiert, bei denen es sich durchweg um im Neuen Testament vorfindliche allegorische Auslegungen alttestamentlicher Texte handelt.103 Die in die Schrift von außen eingetragenen Allegorien verhalten sich zu den buchstäblichen Auslegungen wie der Gemäldeschmuck eines Hauses zum Mauerwerk: Sie haben den Vorzug der kreativen Vielfalt, tragen aber über ihre schmückende Wirkung hinaus nichts zur Stabilität des Hauses bei, die allein auf den buchstäblichen Auslegungen gründet.104 99 Sp. 408. 100 Vgl. Sp. 409. 101 Sp. 409. 102 Sp. 410. 103 Vgl. Sp. 410. Glassius bespricht Deut 25,4 mit der Auslegung aus 1Kor 9,9, Ex 34,29 mit 2Kor 3,7.13 f., Ps 19,5 mit Röm 10,18, Gen 2,24 mit Eph 5,31 f. und Hos 2,19, Lots Frau mit Lk 17,32, Ex 12,15.17 mit 1Kor 5,7 f., Gen 16 und 21 mit Gal 4,22. 104 Vgl. Sp. 410 f.: „ILLATA allegoria est, quam ipsa Scriptura non ostendit, sed quae ab Interpretibus infertur. Ejusmodi allegoriae similes sunt picturis; expositiones vero literales similes muris lapideis. Domus suam habet firmitatem ex muris lapideis, picturae domui nec minimam dabunt firmitudinem, es sind Schau=Essen / (allegoriae) unde substantia hominis ali nequit, quae sunt verba Dn. D. Frantz. de interpret. Script. orac. 123.“ Wolfgang Franz verweist an der von Glassius hier angegebenen Stelle auf Luthers Auslegung zu Jes 13 (Tractatus Theologicus Novus & Perspicuus. De interpretatione sacrarum scripturarum maxime legitima […], Wittenberg 1634, S. 764): „Allegoriae enim ceu ornamenta & amplificationes adhiberi debent. Et sunt planè hoc in docendo, quod est color in aedificio, color nec aedificat, nec sustentat domum, sed ornat tantùm. Sic etiam est allegoria. Historiae autem quia semper servatas aut minas Dei, aut promissiones testantur, tum fidem, tum timorem Dei alunt in cordibus.“ (= WA 25,141,36–40) Steiger (Zentralthemen, S. 164) bie-
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Damit sind Recht und Begrenztheit der eingetragenen Allegorien vorgezeichnet, was von Glassius in den nun folgenden „articuli“ weiter ausgeführt wird, die durchweg Leitlinien und Kriterien für eine angemessene Anwendung derselben darbieten. Raritas, concinnitas und utilitas sind die Kriterien, denen allegorische Auslegungen genügen müssen. Die raritas ergibt sich aus dem Vorrang des Literalsinns, der durch keine allegorische Auslegung relativiert werden darf. Weiter ist die raritas dem Grundsatz der claritas scripturae geschuldet, die durch übertriebene Affektiertheit der Auslegung in Frage gestellt werden könnte. Insbesondere bei Moralgeboten, Verheißungen, Drohungen und Lehrdiskursen ist grundsätzlich von einer allegorischen Deutung abzusehen. Raum für allegorische Auslegungen geben vielmehr die Zeremonialgesetze und die historischen Abschnitte des Alten Testaments, wobei jedoch die Wahrheit der Historie unangetastet bleiben und die Allegorien nüchtern gestaltet sein sollen. Für die Berechtigung der allegorischen Auslegung des Zeremonialgesetzes verweist Glassius auf Hebr 10,1. Die vorbildliche brevitas der Allegorese könne man an biblischen Beispielen wie 1Kor 9,9 f., 2Kor 3,13.15 und Eph 5,32 ablesen.105 Das Kriterium der Schlüssigkeit (concinnitas) bezieht sich nicht nur auf die interne Kürze und Klarheit einer Allegorese, sondern auch zum einen auf die Analogie des Glaubens, zu der keine allegorische Auslegung im Widerspruch stehen darf, zum anderen darauf, vor allem dort eine solche Auslegung zu suchen, wo die Schrift selbst mit Schlüsselworten oder Motiven solches nahelegt.106 Glassius verweist hierfür auf die paulinische Rede von Christus als Passalamm nach 1Kor 5,7, die zum Anlaß genommen werden kann, die vielen Aspekte des Passalamms allegorisch auf Christus und sein gläutet ein weiteres wichtiges Lutherzitat hierzu (WA 40/I,657,13 f.19–22): „Allegoriae non pariunt firmas probationes in Theologia, sed velut picturae ornant et illustrant rem […]. Est enim pulchrum, iam fideliter iacto fundamento et firmiter probata causa aliunde Allegoriam aliquam addere. Ut enim pictura est ornatus quidam domus iam extructae, ita Allegoria est lux quaedam orationis vel causae alicuius iam aliunde probatae […].“ Vgl. auch Kaspar Titius, Loci Alleg., fol. b2: „Wie nun die Farben / einem neuen wohlerbaueten Hause von aussen eine Zierde / Schein und Glantz geben / also ist es auch bewand mit den Parabeln und Gleichnissen / daß zwar dieselbigen in der Theologia, sonderlich in Glaubens=Articuln keinen gewissen Beweiß machen / wie die hellen klaren Sprüche […] der heiligen Schrifft; Aber gleichwol erklären sie solches fein deutlichen / daß man es desto ehe verstehen / besser einnehmen und länger kan behalten. […] Durch eusserliche Gleichniß / aus der Natur oder von andern leiblichen Dingen genommen / wird das Hertz und Gemüth der Menschen auffgemuntert / daß es die geistlichen und himmlischen Dinge / welche dadurch angedeutet seyn / desto besser kan fassen und begreiffen.“ Vgl. Marten, Buchstabe, S. 152. 105 Vgl. Sp. 411 f. Zum Respekt gegenüber der historischen Faktizität vgl. Sp. 412: „Ut in legibus potissimum Ceremonialibus V. T. (quae fuerunt umbrae futurorum bonorum, Hebr. 10, 1.) & in historiis quibusdam, salva tamen manente veritate historiae, allegorias, idque caute & sobrie, quaeramus.“ 106 Vgl. Sp. 412 f.
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biges Volk zu applizieren.107 So vollzieht der Thüringer methodisch, was der Neutestamentler Marius Reiser zur selben Stelle mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht hat: „Wenn das jüdische Fest Symbol transzendenter Realität ist, sind die alttestamentlichen Anweisungen dazu metaphorische Texte mit einem entsprechenden Referenten.“108 Beim Kriterium der Nützlichkeit (utilitas) ist wiederum zwischen den aus der Schrift selbst zu erhebenden und den in sie eingetragenen Allegorien zu differenzieren. Legt der Heilige Geist selbst in den Schriften etwas allegorisch aus, so kann diese Allegorie nicht nur zur Lieblichkeit, sondern auch zur Begründung einer Lehre nützlich sein. Für die vom Ausleger eingetragenen Allegorien aber gilt, daß sie nicht als lehrmäßige Argumente taugen, wohl aber als Ausschmückungen und Illustrationen der Lehre dienen. Ihr Ort ist folglich nicht die kontroverstheologische Auseinandersetzung, sondern die Unterweisung und Erbauung des Volkes etwa in der Predigt, da sie die Adressaten erfreuen und ihrer Müdigkeit wehren können.109 Damit begibt sich Glassius vollends auf das Gebiet der schriftexternen Auslegungsvorgänge. Denn die restlichen articuli zum sensus allegoricus sind ausschließlich Differenzierungen für den Bereich der eingetragenen Allegorien (allegoriae illatae) gewidmet. Die erste Differenzierung betrifft die Qualität der Allegorien, die zweite betrifft die Autorengruppen, bei denen die allegorische Auslegung in besonderer Weise geübt wird.110 107 Vgl. Sp. 412: „Ut opera detur, quo fontes allegoriae ex ipsa Scriptura monstrentur: saepe enim unica vocula clavis est ad aperiendum sensum allegoricum. Sic pleraque membra praecepti de agno Paschali, ad Christum & fidelem ejus populum applicari possunt, quia Paulus 1. Cor. 5, 7. dicit, Pascha nostrum pro nobis immolatus est Christus &c.“ 108 Marius Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (= WUNT 217), Tübingen 2007, S. 124 mit der Fortsetzung ebd.: „Dieser Referent aber ist nach 1 Kor 5,7 Christus.“ 109 Vgl. Sp. 413: „Ad utilitatem pertinent haec. 1. Ut si ipse Spiritus sanctus in Scripturis aliquid allegorice interpretetur, tuto allegoriam sequamur, utpote non ad suavitatem modo, sed ad dogma etiam probandum utilem. 2. Reliquas vero, quae ab Interpretibus commoda ratione afferuntur, non pro firmis dogmatum probationibus, sed pro secundariis tantum ornamentis & illustrationibus habeamus. 3. Atque ita illis utamur non in adversariis veritatis convincendis, sed in populo de suggestu erudiendo, seu in concionibus, in quibus decenter ac moderate adhibitae delectant, excitant, taedium auferunt, unde etiam exordiis maxime conveniunt.“ Glassius schließt den Abschnitt mit Literaturhinweisen auf Flacius und Johann Gerhard. Zu Luther vgl. Steiger, Zen tralthemen, S. 152: „Eine Allegorie hat demnach weder in der Grundlegung der Lehre noch in der kontroverstheologischen Arbeit etwas zu suchen und kann nichts zur Stiftung von Glauben und Gewißheit beitragen.“ Nötig ist daher auch für den Reformator die „Differenzierung zwischen constitutio fidei per sensum literalem und confirmatio fidei per sensum allegoricum“ (a. a. O., S. 153). 110 Vgl. Sp. 413: „Allegoriae in Scripturas illatae duplex potest dari distinctio, quarum prior a qualitate, posterior ab efficiente causa, sive ab iis, qui allegorico interpretandi modo utuntur desumta est.“
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Hinsichtlich der Qualität bietet Glassius eine klare Kriteriologie in Gestalt der Einteilung der Allegorien in angemessene und gezwungene oder allzu gekünstelte: „Priore divisione allegoria illata, est vel oblata, vel extorta & contorta.“111 Als angemessen können Allegorien gelten, die einen zu billigenden Grund im Literalsinn haben, dem Kriterium der sachlichen Kohärenz entsprechen und mit der analogia fidei übereinstimmen.112 Als Beispiele hierfür nennt Glassius die ekklesiologische Deutung der Arche Noahs bzw. der Sintflutgeschichte bis in die Details hinein sowie neben weiteren ekklesiologischen Deutungen solche, die auf das Leben der Christen angesichts der Herausforderungen des Glaubens in Gestalt göttlicher Gebote oder irdischer Anfechtungen bezogen sind.113 Auch neutestamentliche Texte wie Einzelzüge aus Gleichnissen oder der Heilsgeschichte können allegorisch so gedeutet werden, daß sie – wie z. B. der in der Sterbestunde Jesu im Tempel zerrissene Vorhang – zum einen auf die christliche Existenz im Glauben, zum andern auf die künftige eschatologische Erfüllung bezogen werden.114 Leser, die von dieser Sorte gebildeter und gottesfürchtiger Allegorien mehr kennenlernen wollen, werden von Glassius ausdrücklich auf homiletische Schriftauslegungen hingewiesen, worin man einen impliziten Querverweis innerhalb seines eigenen Lebenswerkes erkennen kann.115 Auch für die Rubrik der extorta & contorta allegoria, die weder dem Literalsinn noch der Analogie der Schrift gemäß ist, bietet Glassius Beispiele, so etwa die Deutung der Arche oder des Hohelieds auf Maria bei den Päpstlichen.116 Mit einem ausführlichen Lutherzitat aus dessen Exkurs „Von der figur und deutung“ im Anhang zu seiner Predigt über das Evangelium von den zehn Aussätzigen aus dem Jahr 1521, in dem bereits der Reformator der Sache nach die dreistufige Unterscheidung in „allegoria innata – illata oblata – illata extorta“ vornimmt, beschließt Glassius diesen Artikel und stellt so zum wiederholten Male in hermeneuticis den Anschluß an den ersten Quellort der Reformation her.117
111 Sp. 413. 112 Vgl. Sp. 413: „Oblata est, quae probabile fundamentum habet in literali sensu, & convenientiam rerum analogicam, tum etiam analogiae fidei conformis est.“ 113 Vgl. Sp. 413–417. 114 Vgl. Sp. 417. 115 Vgl. Sp. 417: „Haec & erudita sunt & pie excogitata. Plura exempla allegoriae illatae, at commodae & fidei analogiae congruae, afferri poterant, sed sufficiant isthaec pauca. Alia qui desiderat, adeat homileticos Scripturae locorum & textuum Evangelicorum expositores.“ 116 Vgl. Sp. 418. 117 Vgl. Sp. 419. In Glassius’ lateinischer Übersetzung lautet das Zitat: „Si non in novo Testamento figurae clara significatio est, non est ea nitendum: Si quidem Cacodaemon insignis artifex figuris ludit, ac si quam animam nanciscatur, quae sine certo fundamento Scripturas ad allegoriam torquet, eam quasi tesseram huc & illuc jactare solet, cujusmodi seductrices figuras in jure Canonico &
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Die Grundunterscheidung in allegoria illata oblata und allegoria illata extorta ist alsdann grundlegend für Glassius’ Rezension der allegorischen Auslegung bei den Kirchenvätern, bei den päpstlichen Theologen seiner Zeit und bei den „Kabbala“ genannten Allegorien der Rabbinen. Hinsichtlich der Kirchenväter setzt sich die Unterscheidung im Urteil fort, deren Gebrauch der Allegorese sei „ex parte intolerabile, ex parte tolerabile“.118 Als „intolerabilis“ beurteilt Glassius mit Hieronymus die Allegorese des Origenes, während andere wie Augustinus, Chrysostomus, Gregor von Nazianz und Gregor der Große als „tolerabilior“ eingestuft werden.119 Gegen Burgensis (Paulus von Burgos, 1352–1435) hält Glassius abschließend fest, daß die Annahme höherer Würde einer geistlich-allegorischen Auslegung gegenüber einer buchstäblichen nicht von den in der Schrift selbst vorliegenden Allegoresen auf die von außen herangebrachten zu übertragen ist, denn nicht jedes Bauwerk, das auf einem Fundament erbaut werde, sei eo ipso vortrefflicher als das Fundament selbst, ist doch auch die Kirche als auf Christus erbaute keineswegs vortrefflicher als Christus selbst.120 Damit bietet Glassius einen Hinweis darauf, daß die für die Ekklesiologie geltenden dogmatischen Grundentscheidungen sich im Umgang mit Fragen der Schriftauslegung widerspiegeln. Deutlich schlechter als die Kirchenväter kommen die zeitgenössischen römisch-katholischen und die jüdisch-rabbinischen Anwender der Allegorese weg. Beiden wirft Glassius die Mißachtung des Vorrangs der Schrift durch ein
Scholasticis Doctoribus commentus est, ut cum Papam Sole, Caesarem Luna significari ajunt. Triplex autem est significatio figurae, cum Scriptura ipsa significationem allegoricam proponit, ut cum Petrus Baptismum per Arcam Noach, Paulus per mare rubrum significat: & Christus crucem suam per serpentem Ioh. 3. huiusmodi significationes pro articulis fidei sunt habendae. Secunda, cum humanus captus figuram inducit, & per appositam similitudinem aliis aliquot claris Scripturae sententiis accommodat, ut Augustinus hoc in loco (Luc. 17, 12.) per lepram haeresin exponit, quanquam ipsa Scriptura non dicit, per lepram haeresin significari, sed alibi Scriptura haeresis claram mentionem facit: idcirco figura ista fidem non cogit, si enim convellatur, tamen immotum stat fundamentum, videlicet Scriptura, ad quam significationem illam traxerat. Tertia est nuda significatio ex proprio capite conficta, ubi figura sola est, neque quicquam in Scriptura extat, quod per hanc significari volunt, ut cum per Aaronem Papam intelligi volunt, cum tamen ne apiculus quidem Scripturae, Papae aut Papatus mentionem ullam faciat.“ Vgl. WA 8,386,17–387,17. Die drastische Aussage Luthers aus der Genesisvorlesung, er hasse die Allegorien, bezieht sich, so betont Glassius, nicht auf die in der Schrift dargebotenen (vgl. Sp. 441 f. mit dem ausführlichen Lutherzitat; WA, 43,668,1–14). 118 Sp. 420. 119 Vgl. Sp. 420 f. 120 Vgl. Sp. 422: „Si quid aliud praeter Scripturae ipsius expositionem inde eruitur, mystica ratione, secundarium est, & in pari dignitatis gradu cum sensu literali minime collocandum. […] Adde, quod non omne aedificium praestantius est fundamento, ut Burgensis ait. Christus enim est fundamentum, 1. Cor. 3, 11. Ecclesia aedificium, Eph. 2, 20. At num Ecclesia praestantior Christo est?“
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jeweils spezifisch gefaßtes Traditionsprinzip121 vor, was auf dem Feld der Allegorien dazu führt, daß an der Intention des Heiligen Geistes und der Schrift vorbei im Übermaß Jagd auf allegorische Sinnzuschreibungen gemacht wird.122 Freilich differenziert Glassius ähnlich wie bei den Kirchenvätern auch unter den rabbinischen Auslegern zwischen „saniores & antiqui“ und „recentiores superstitiosi“ und möchte selbst an dem Begriff der wahren, reinen und echten Kabbala festhalten, der nichts anderes meint als das mystische Verständnis der heiligen Schriften im rechten Sinn.123 Darum ist die rabbinische Schriftauslegung wie die kirchliche kritisch zu würdigen, so daß auch für sie gilt: „Distinguendum inter Cabbalam eruditam, & fidei analogiae conformem: & inter Cabbalam superstitiosam, impiam, & a fidei analogia discedentem.“124 Die akzeptablen kabbalistischen Auslegungen gehören nicht in den Bereich der Gewißheit stiftenden Schriftauslegung, gleichen vielmehr einem Spiel mit Aussagen oder Buchstaben, das unter Berücksichtigung der genannten Kriterien keineswegs verwerflich ist.125
5.3.2 Von der typologischen Schriftauslegung Der etymologische Überblick, mit dem Glassius auch diese Sektion eröffnet, ergibt eine große Bedeutungsvielfalt des Wortes „Typus“, von der freilich die für gemalte oder modellierte Kunstwerke gebräuchliche der theologischen Bedeutung am nächsten kommt.126 Denn Theologen verstehen unter Typus nichts anderes als Bilder und Figuren gegenwärtiger oder künftiger Dinge, insbesondere Sachverhalte aus dem Alten Testament, die Aspekte von Person und Werk Jesu
121 Vgl. Sp. 425: „Quod Pontificiorum in Ecclesia sunt traditiones, id in Judaeorum Synagoga est Cabbala […].“ 122 Vgl. Sp. 426: „Haec Cabbala posterior, quia cum allegorica Scripturae sacrae expositione (qualem Pontificii, uti dictum, adornant) in eo convenit, quod utraque sensum venatur praeter Spiritus sancti, seu Scripturae sacrae, mentem & intentionem (etsi alias discrimen aliquod utrique intercedit) placet paulo prolixius de ea hoc articulo tractare.“ 123 Vgl. Sp. 425: „[…] de Cabbala vera, pura & genuina loquimur, quae nihil aliud, quam mysticus Scripturarum sacrarum intellectus est […].“ 124 Sp. 438. 125 Vgl. Sp. 438: „Distinguendum inter certam Scripturarum expositionem, & inter iucundam allusionem: vel quod idem, inter firmum Scripturae locorum sensum, & suavem dictionum vel literarum quarundam lusum. Ad posteriorem classem expositiones Cabbalisticae (quae non sunt impiae vel superstitiosae) pertinent, non vero ad priorem […].“ 126 Vgl. Sp. 443: „Propius accedente ad scopum nostrum significatione tu,poj notat figuram, imaginem, simulacrum, effigiem, eamque vel pictam, vel fictam, vel sculptam vel quavis alia imitatione expressam.“
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Christi im Neuen Testament vorweg abgebildet haben.127 Biblische Synonyme aus dem Neuen Testament sind die Begriffe skia. (Kol 2,17, Hebr 8,5, 10,1), u`po,deigma (Hebr 8,5, 9,23), shmei/on (Mt 12,39) und parabolh. (Hebr 9,9, 11,19), das dem alttestamentlichen lv'm' entspricht.128 Für die kirchlichen Schriftsteller stellt Glassius fest, daß die Kategorien Allegorie und Typus ebenso wie Typus und Antitypus gerne verwechselt werden oder wechselseitig gebraucht werden. Im Lateinischen werden die Begriffe „exemplar“, „figura“ oder „praefiguratio“ benutzt, im Deutschen ragt die Benennung „Vorbild“ heraus. Dem onomatologischen Überblick läßt Glassius die Klarstellung folgen, daß es nach 1Petr 3,21 sachgerecht ist, die alttestamentlichen Bilder als Typen (in diesem Fall die Arche) und die durch sie vorweg angedeuteten neutestamentlichen Sachverhalte als Antitypen (in diesem Fall die Taufe) zu bezeichnen. Dem Begriff „Antityp“ entsprechen dabei die Synonyme „Archetyp“ und „Prototyp“. Neutestamentliche Analogien zum Begriff „Archetypus“ sind die Worte und Wendungen „corpus“ (Kol 2,17, als Entsprechungsbegriff zu „umbra“), „futura bona“ (Hebr 10,1), „imago rerum“ (Hebr 10,1), „res coelestes“ (Hebr 9,13), „vera“ (Hebr 9,24).129 Durch das letztgenannte Wort sieht Glassius angezeigt, daß die Bilder und Präfigurationen dieser Güter im Alten Testament vorweggegangen sind, was er wiederum mit der Aussage aus Joh 1,17 in Verbindung bringt, die Gnade und Wahrheit sei durch Jesus Christus vollbracht. Damit werde an dieser Stelle die Gnade dem Fluch des Gesetzes, die Wahrheit aber den Zeremonien, Schattenbildern und typologischen Präfigurationen entgegengehalten.130 Was die Klassifikation der Typen betrifft, so erkennt Glassius auch hier in der ihm zugänglichen Literatur die Gefahr, daß allzuleicht Begriffe unscharf verwendet und Phänomene miteinander verwechselt werden. So wendet er sich gegen die bei Benedikt Aretius (1522–1574) getroffene Unterscheidung „in typum historiae, facti & Sacramenti“.131 Konkret erkennt er hierin die Gefahr der Verwechslung von Allegorien und Typen, von Allegorien und Tropen bzw. Akkommodationen biblischer Beispiele ad usum, von in der Schrift enthaltenen und dort nicht 127 Vgl. Sp. 443: „Theologi hoc in negocio per Typos nihil aliud intelligunt, quam rerum sive praesentium sive futurarum imagines & figuras: & praesertim facta & historias V. T. quae de Christum Salvatorem in N. T. exhibendum respexerunt, eumque in actionibus, vita, passione, morte, & subsequente gloria praefigurarunt.“ 128 Vgl. Sp. 445 f. 129 Sp. 447 f. 130 Vgl. Sp. 448: „Ibid. [Hebr 9] v. 24. dicuntur ta. avlhqina., vera, quo ipso innuitur, imagines & praefigurationes sive adumbrationes eorum bonorum tantum in Vet. Test. praecessisse. Huc pertinet illud Joh. 1, 17. Gratia & veritas per Jesum Christum facta est. Quo in loco gratia legis maledictioni, veritas autem legis ceremoniis, umbris & typicis praefigurationibus, opponitur.“ 131 Sp. 448.
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enthaltenen Typen.132 Auch die von anderen Theologen vorgenommene Unterscheidung zwischen typus historiae und typus facti erscheint ihm nicht nachvollziehbar.133 Ähnliches gilt für die von calvinistischen Autoren vorgenommene Einteilung der Typen in solche, die entweder auf gegenwärtige oder zukünftige oder vergangene Sachverhalte verweisen, zumal sie zur Absicherung ihrer fehlerhaften Abendmahlslehre mißbraucht werde.134 Glassius selbst entscheidet sich für einen „typus duplex“: „Prophetiae & historiae, seu Propheticus & historicus.“135 Der prophetische Typus liegt vor, wenn die Propheten mit äußeren Symbolen verborgene Dinge hinsichtlich der Gegenwart oder der Zukunft vom Heiligen Geist getrieben durch Handlungen oder durch Visionen abbilden und bezeichnen.136 Bei prophetischen Zeichenhandlungen wird durch Dinge, die die Propheten auf Gottes Gebot hin mit der Tat ausführen, etwas Mystisches bzw. Verborgenes schattenhaft abgebildet.137 Bei prophetischen Visionen mit typologischem Charakter wiederum handelt es sich um schlafenden oder wachenden, gläubigen oder ungläubigen Personen von Gott eingegebene symbolische Träume.138 Zur Klasse der gläubigen Personen eingegebenen Träume gehört Jakobs Traum von der Himmelsleiter (Gen 28,12), dessen typologische Auslegung in Joh 1,51 zu finden ist. In diesem Traum wird sowohl die unio personalis der beiden Naturen Christi präfiguriert als auch die Frucht seiner Inkarnation, wie Glassius mit Hilfe 132 Vgl. Sp. 449 f.: „1. confunduntur allegoriae cum typis […] 2. Confunduntur etiam typi cum tropologia sive accommodatione dictorum vel exemplorum Scripturae, ad vitam & mores Christianorum informandos. […] 3. Confunduntur typi e,vggrafoi cum avgra,foij […].“ 133 Vgl. Sp. 450: „Distinguitur typus historiae a typo facti, qui tamen unum & idem videntur esse.“ 134 Vgl. Sp. 450. 135 Sp. 451. 136 Vgl. Sp. 451: „Typus Prophetiae seu propheticus est, quo Prophetae divinitus inspirati, suis in concionibus, partim commonitoriis, partim vaticinatoriis, crebro utuntur, quando videlicet symbolis externis res occultas, sive praesentes sive futuras, per Spiritum sanctum figurant & significant. Consistit autem in propheticis ac typicis 1. actionibus, 2. visionibus.“ 137 Vgl. Sp. 451: „Actiones prophetiarum typicae sunt, quando iis, quae exterius divino mandato Prophetae peragebant, […] mysticum aliquod & occultum adumbratur.“ Glassius bespricht in diesem Zusammenhang die einschlägigen Stellen: Jes 20,2, Jer 13,1 ff., 16,2.5, 19,1 f.10, 27,2 ff., 51,63, Ez 2,8 ff., 4,2 ff., 12,3, 24,3 ff., 37,13, Hos 1,2 ff., 1Kön 20,35 ff., Mt 21,19, Apg 21,10 ff. (vgl. Sp. 451–453) 138 Nicht dazu gehören Träume, durch die unverhüllt künftige Ereignisse dargeboten werden. Vgl. Sp. 453: „Articulus IV. De visionibus Propheticis ac typicis. […] ad visiones progrediendum, quae ita distribui possunt, quod oblatae fuerint vel dormientibus vel vigilantibus. Dormientibus quae oblatae, sunt divinitùs immissa somnia. Ea vero in duplici sunt differentia: Quaedam sunt nuda o`ra,mata, seu visa, quae citra figuras & involucra typorum repraesentant res arcanas & futuros eventus: quale fuit somnium Josephi Matth. 1, 20. cap. 2, 13. Magorum, Matth. 2, 12. Et haec h. l. non attenduntur. Quaedam vero sunt o;neira sumbolika. sive somnia talia, quae figuris & typis sunt tecta & involuta. Immissa autem talia leguntur partim fidelibus, partim infidelibus.“
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einer collatio mit weiteren neutestamentlichen Stellen ausführt, sowie das Ziel, um dessentwillen Jakob überhaupt Kanaan in Besitz nehmen soll, welches das künftige Kommen des Messias ist.139 Weiter nennt Glassius hier den Doppeltraum Josefs in Gen 37,5 ff., der freilich noch innerhalb desselben biblischen Buches (Gen 41 ff.) seine Auslegung findet, sowie den Traum Daniels von den vier aus dem Meer aufsteigenden Tieren (Dan 7,2 ff.), den Glassius mit Hilfe einer collatio mit Offb 13,1 ff. traditionell auf die Abfolge des babylonischen, des persischen und des römischen Weltreichs deutet.140 Zu den Träumen, die von Gott ungläubigen Menschen eingegeben wurden, zählen die Träume Pharaos in Gen 41 und die im Danielbuch überlieferten Träume Nebukadnezars, die jeweils von den von Gott erwählten Menschen Josef und Daniel gedeutet werden.141 Den Visionen, die wachenden Menschen zuteil werden, sind teilweise schon in der Schrift Auslegungen der darin enthaltenen Typen und Symbole hinzugefügt. Das betrifft die Vision Jeremias von den guten und schlechten Feigen in Jer 24, die Visionen Hesekiels vom Untergang Jerusalems (Ez 8–11) und von der Wiederbelebung des Totenfeldes (Ez 37), Daniels Vision vom doppelhörnigen Widder und einhörnigen Ziegenbock (Dan 8,1 ff.), die Visionen des Amos von den Heuschrecken, vom Bleilot in Gottes Hand und vom Granatapfelbaum (Amos 7 und 9) sowie die Visionen aus dem Sacharjabuch.142 Einen Sonderfall stellen die Visionen aus Jer 1,11–14 und Amos 8,2 dar, weil hier die Deutung nicht aus der Sache selbst, sondern „ratione allusiva“ „ex appellationibus“ erfolgt.143 Bei Visionen,
139 Vgl. Sp. 453 f.: „[…] certior Interpres est ipse Christus Joh. 1, 51. qui se visionis istius Jacobaeae antitypum constituit: Amen, Amen dico vobis, post hac videbitis coelum apertum, & Angelos Dei ascendentes ac descendentes super Filim hominis, h. e. indies magis magisque intelligetis, me esse illum ipsum, qui praefiguratus est in visione scalae Jacobaeae. Continetur autem in illa visione, 1. duarum naturarum in Messia personalis unio, quae per scalam super terra stantem, & cacumine suo caelum tangentem, praefiguratur. 2. Incarnationis tou/ Lo,gou fructus, qui exprimitur, Tum per scalae in caelum usque pertingentiam. Per Christum enim ascensus nobis in coelum patet Joh. 3, 14. 15. 16. & quidem unice per Christum, Act 4, 12. sicut unicam scalam Patriarcha vidit: Tum per Angelorum ascensum ac descensum, quod illi non amplius humano generi futuri sint infensi, sed potius amicissimi, (confer Luc. 2, 9. 13.) quod descendant ad credentium auxilium & ministerium, Hebr. 1, 14. & ascendant rursus, deportantes animas eorum in sinum Abrahae, Luc. 16, 22. Tum per adnexam a DEO benedictionem, vers. 14. Et benedicentur in te omnes familiae terrae, id est, in semine tuo. Haec est benedictio per Christum nobis contingens, Eph. 1, 3. Gal. 3, 8. 9. 3. Finis principalis, propter quem Abrahae ac Iacobi posteris terra Canaan in possessionem sit tradenda, videlicet ut esset certa sedes illius populi, ex quo Messias expectandus.“ 140 Vgl. Sp. 454. 141 Vgl. Sp. 454 f. 142 Vgl. Sp. 455–457. 143 Vgl. Sp. 455 sowie die Stellenangabe Sp. 457 mit dem Querverweis auf „lib. 1. tr. 4. sect. 1. de stylo prophetico, can 1. §. 2.“
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welche einer textimmanenten Interpretation entbehren, kann aber dennoch die Auslegung aus den Umständen und aus der collatio mit anderen Schriftstellen oder aufgrund des Ausgangs bzw. der Erfüllung der symbolischen Prophezeiung erfolgen. Dazu gehört die Vision vom Keltertreter in Jes 63, die zwar nicht ausdrücklich als Vision bezeichnet wird, aber den Umständen nach als eine solche geschildert und von Glassius als eine vom Propheten eingerichtete Unterredung zwischen Christus und der Kirche über dessen Passion und Verdienst gedeutet wird.144 Auch die große Vision des Tempels und der Stadt Jerusalem in Ez 40–48 ordnet Glassius hier ein, als deren Antitypus keineswegs jener Wiederaufbau unter Serubbabel und Nehemia, sondern vielmehr die Kirche als der mystische Tempel Gottes und gemäß der collatio mit der Johannesapokalypse dieselbe in ihrer himmlischen Gestalt anzusehen ist.145 Beim Typus der Historie handelt es sich um jene Spielart des mystischen Schriftsinnes, bei der Ereignisse oder Sachverhalte des Alten Testaments, insbesondere aus dem Bereich des jüdischen Kultes, Ereignisse aus dem Neuen Testament präfigurieren, allen voran Christus selbst, welcher als Kern der ganzen Schrift der Antityp aller im Gesetz geregelten gottesdienstlichen Zeremonien ist.146 Wie bei der Allegorie kann auch beim historischen Typus unterschieden werden: „[…] sit vel innatus, vel illatus. Innatus est, qui in Scripturis ipsis expresse traditur, seu, quando ipsa Scriptura sacra ostendit vel insinuat, aliquam sive ceremoniam sive rem gestam, res Nov. Test. & praesertim Christum mystico sensu adumbrasse.
144 Vgl. Sp. 457: „Hactenus visiones, quarum antitypa in ipso textu explicantur: sunt vero & aliae, quae interpretatione tali carent: desumenda autem explicatio vel ex circumstantiis & sunafei,a| textus, vel ex aliis Scripturae locis, vel ex ipso etiam vaticinii symbolici complemento & eventu. Tales sunt Esa. cap. 63, 1. seqq. ubi dialogismus a Propheta instituitur inter Christum & Ecclesiam, de eius sanctissima passione & merito. Etsi autem diserte visionis cujusdam ibi non fit mentio, circumstantiae tamen non obscure innuunt, ejusmodi visionem, qualis ibidem depingitur, Prophetae fuisse oblatam.“ 145 Vgl. Sp. 457: „Huc etiam pertinet descriptio typica templi & urbis, quae Ezechieli oblata narratur cap. 40. seqq. usque ad finem. Cujus antitypon nequaquam urbem & templum, per Zorobabelem & Nehemiam post solutam captivitatem restauratum, (uti doctores Hebraeorum quidam somniarunt) sed templum DEI mysticum, Ecclesiam veram, & civitatem coelestem aut spiritualem esse, peculiari commentario, praeter alios, ostendit & explicavit D. Hafenrefferus. Denique huc referenda Johannaea Apocalypsis, qua status Ecclesiae N. T. futurus, variis visionibus symbolicis typicisque divinitus proponitur, (unde Hieronym. in Epist. ad Paulinum de hoc libro ait, tot habere Sacramenta, quot verba,) cujus explicatio ex eventu & complemento desumi potest omnium optima.“ 146 Vgl. Sp. 458: „Typus historiae est sensus Scripturae mysticus, quo res gestae vel factae V. Test. & praesertim Sacerdotii & cultus Iudaici constitutio, praefigurant & adumbrant res in N. T. gestas, & praesertim Christum, omnium legalium ceremoniarum antitypum, & Scripturae universae nucleum.“
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Idque fit vel expresse & explicite; vel tacite & implicite: seu, quod idem est, Scriptura vel expresse ostendit, vel tacite insinuat, rem gestam typum Christi gessisse.“147 Zu den Typen, die explizit in der Schrift als solche kenntlich gemacht sind, gehören Jona (Mt 12,40), die eherne Schlange (Joh 3,14 f.), das levitische Opferpriestertum (Hebr 5 ff.). Implizite Typen sind der Gnadenstuhl (Röm 3,25), Josua als Führer ins verheißene Land (Hebr 4,8), das Manna als vom Himmel kommende Nahrung (Joh 6,32 ff.), das Passalamm (1Kor 5,7 und Joh 19,36), der Sündenbock Azazel nach Lev 16,20 f., wie es durch Joh 1,29 und 1Petr 2,24 nahegelegt wird, Isaaks Bindung (Hebr 11,19). Daß Simson in seinen Taten (Ri 13 ff.) ebenfalls ein Typus Christi gewesen ist, scheint Mt 2,23 nahezulegen. Daß König Salomo ein Typus Christi gewesen ist, geht aus Hebr 1,5, Apg 2,30 und 13,23 hervor, wo die dem David erteilte Verheißung, die im sensus literalis von Salomo spricht (2Sam 7,12 und 1Chron 17,11), auf Christus bezogen wird. Das von Gott als erstgeborener Sohn bezeichnete und aus Ägypten herausgeführte Volk Israel (Ex 4,23 und Hos 11,1) hat nach Mt 2,15 ebenfalls als typus Christi zu gelten.148 Einige Formulierungen in dieser Bestandsaufnahme bestätigen, daß bei der Zuordnung der genannten Stellen zur historischen Typologie nicht in jedem Fall volle Gewißheit gegeben oder auch nötig ist, was durch den Hinweis auf die Unvollständigkeit der Auflistung noch unterstrichen wird.149 Wie bei den vom Ausleger eingetragenen Allegorien ist auch bei den Typen zwischen angemessenen und verdrehten bei gleicher Kriteriologie zu unterscheiden.150 Glassius benennt als Beispiele für die Kategorie typus oblatus, vel extortus diverse Personen aus dem Alten Testament, bei denen einzelne Ereignisse oder Eigenschaften typologisch auf Christus bezogen werden können, und verweist allgemein als Fundort für solche typologischen Auslegungen auf die homiletischen Schriftausleger.151 Die Mühe, die bei dieser typologischen Auslegung von Texten des Alten Testaments verwendet wird, ist keineswegs unnütz. Denn auch wenn nicht alle Texte eine typologische Beziehung auf Christus aufweisen, besteht diese dennoch im allgemeinen und implizit. Glassius begründet dies mit dem Hinweis auf zwei neutestamentliche Stellen und die dort gemachten christo-
147 Sp. 458. 148 Vgl. Sp. 458 f. 149 Vgl. Sp. 460: „Alia exempla Scripturae lectio suppeditabit.“ 150 Vgl. Sp. 460: „Illatus typus est, quem ipsa Scriptura non ostendit, sed qui ab interpretibus infertur. Estque vel oblatus, vel extortus & contortus. Ille probabili cum analogia coniunctus est, cumque fidei analogia & re ipsa consentit. Hic vero omni fundamento destituitur, & a sensu literali nimis discrepat, & ad yeudanti,tupa refertur.“ 151 Vgl. Sp. 460: „Prioris exempla apud homileticos Scripturarum interpretes bene multa occurrunt.“
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logischen Aussagen. Zum einen ist dies der Befehl Christi, die Schriften zu erforschen (Joh 5,39), da diese Zeugnis von ihm geben. Diese Zeugnisse des Alten Testaments, von dem Christus hier redet, sind nicht nur in den explizit gemachten Vorbildern zu sehen, sondern auch in den impliziten Typen und Hüllen.152 Zum andern gilt die Aussage aus Offb 13,8, wonach Christus als das Lamm Gottes von Anbeginn der Welt getötet sei, nicht nur aufgrund des göttlichen Ratschlusses nach 1Petr 1,20, aufgrund des Verdienstes und der Wirksamkeit seines Heilswerks nach Apg 15,11 und Hebr 13,8 und aufgrund der (alttestamentlichen) Vorhersagen nach 1Petr 1,11, sondern auch aufgrund jener Typen, welche deshalb in fleißiger Meditation des Alten Testaments und unter Vergleichung mit dem Christuskern der Schrift ermittelt und heilsam dargelegt werden können.153 Vorbildlich durch152 Vgl. Sp. 461: „Qua in explicatione Vet. Test. textuum typica quae opera insumitur, haud insumitur inutiliter. Etsi enim in specie non omnium in Scripturis typica habetur ad Christum applicatio, habetur tamen in genere & implicite, cum (1.) Christus jubeat evrauna|/n ta.j grafa.j( scrutari Scripturas, (Vet. Test. quae tum, quando Christus haec loquebatur, solum extabant) & eas testimonium de se ferre pronunciet, quae testimonia Vet. Test. non in perspicuis modo oraculis, & clarissimis prophetiis, sed in typorum etiam involucris consistunt […].“ Vgl. Michael Walther, Post. Mos., S. 811 f.: „Es ist aber gar fleissig zu mercken / daß der jenigen Vorbilder / in welchen beym Mose / der von dem HERRN Messiâ trewlich vnd tiefsinnig geschrieben hat / die hohen Geheimnisse deß Himmelreichs / als in Involucris, Fasciis vnd Windeln / fein mercklich vnd wercklich eingewickelt vnnd eingedöckelt werden / Zweyerley Sorten vnd Arten vorhanden; Dann Etliche sind klar vnd hell / welche im Newen Testament auff etwas höheres außgedruckter Massen gezogen werden / als da ist der Baum deß Lebens im Paradieß / die Benamung Abrahams / die Auff opfferung Isaacs / die Traumleiter Jacobs / der fewrige Busch auff dem Berge GOTTES Horeb / das Manna der Israeliten / das Ehrne Schlänglein Mosis / die Mandelträchtige Rute Aarons / die Opfferlämmlein / vnnd dergleichen: Etliche hingegen sind obscurer vnnd dunckeler / auß denen nicht alsobald von jederman eingenommen werden mag / wie das rechtschaffene Himmlische Gut dadurch bezeichnet werde: Vnd derer Geschichten müssen desto embsiger vnd fleissiger deduciret vnd erforschet / mit andern klaren Texten conferiret vnd verglichen / vnd nach der Ehnlichkeit deß Glaubens expliciret vnd außgeleget werden / so findet vnd begründet sichs / mit inniglicher Wonne vnd süsser Hertzensfrewde / daß vnter den eusserlichen Rinden vnd Schalen mancher edler / wolgeschmacker Kern vnd geheime / annemliche Frucht anzutreffen stehe.“ Zu diesen dunkleren Bildern zählt Walther ebd. die das Ölblatt als Zeichen des Friedens bringende Taube in der Noahgeschichte. Vgl. schon Urbanus Rhegius, Dialogus, von der herrlichen, trostreichen Predigt, die Christus Luc. XXIIII von Jerusalem bis gen Emaus, den zweien Jüngern am Ostertag aus Mose und allen Propheten gethan hat, Wittenberg 1545, fol. C: „Denn Christus wird auff zweierley weis jn der Schrifft verkundiget / Ein mal durch tunckele Verheissung / vnd Figuren von ferne her. Zum andern / durch klare Verheissung / vnd helle ausgedruckte wort / Vnd alle verheissungen / die in der Biblien her nach folgen / gehen auff diesen Samen / vnd werden je lenger je klerer / Bis das er selbst jns fleisch kompt.“ 153 Vgl. Sp. 461: „2. cumque Apoc. 13, 8. dicatur, Agnum DEI esse occisum ab origine mundi, quod non tantum ratione divini decreti, 1. Petr. 1, 20. ratione meriti sive precii & efficaciae Act. 15, 11. Hebr. 13, 8. ratione praedictionum 1. Petr. 1, 11. sed etiam ratione typorum factum est, qui idcir-
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geführt sieht Glassius diese Art einer legitimen typologischen Schriftauslegung in den Advents- und Passionspredigten Friedrich Balduins (1575–1627), in Johann Arndts Kirchenpostille und in Valerius Herbergers (1562–1627) „Magnalia Dei“.154 Verdrehte Typologien hingegen erkennt er besonders bei päpstlichen Theologen, wenn diese beispielsweise das Papsttum oder das Mönchtum mit Hilfe typologischer Auslegungen biblisch zu legitimieren suchen.155 Gleichwohl führt die streng christologisch begründete typologische Schrifthermeneutik nicht zu einer thematischen Engführung. Denn die gemäß der skizzierten Kriterien legitimerweise dargebotenen typologischen Auslegungen können weiter unterteilt werden in Sachverhalte, die sich unmittelbar auf Christi Person und Werk, und andere, die sich auf seine Wirkungen bzw. auf zu ihm führende Sachverhalte beziehen.156 Zur zweiten Gruppe gehören die alttestamentlichen Typen der Taufe und des Abendmahls sowie die Typen der Kirche und des apostolischen Predigtamtes, die, worauf Glassius jeweils eigens hinweist, von Johann Gerhard in den jeweiligen Loci seiner Dogmatik fruchtbar gemacht werden.157 Weitere Typen-
co sedula Scripturae Vet. Test. meditatione, & cum Christo nucleo collatione, eruendi & salutariter proponendi sunt.“ 154 Vgl. Sp. 461. 155 Vgl. Sp. 461 f. 156 Vgl. Sp. 462: „Altera typorum historiae divisio est, quod quidam immediate respiciunt Christum: quidam vero ea, quae Christum attinent.“ 157 Vgl. Sp. 462 f.: „Posterioris classis sunt: Diluvium universale, in quo Noe cum suis, Arcae divinitus constitutae beneficio, servatus est: hoc enim typus constituitur Baptismi, 1. Petr. 3, 21. (eo applicari potest Psal. 29, 10.) qui vi & efficacia sanguinis Christi preciosissimi homines servat, iisque lavacrum regenerationis ac renovationis Spiritus S. est. Collationem typi cum antitypo vide apud D. Gerh. tom. 4. loc. de Bapt. §. 8. Eadem ratione circumcisionis corporalis in Vet. Test. Sacramentum Gen. 17. typus Baptismi Sacramenti Nov. Test. est, unde idem peritomh. avceiropoih,toj, circumcisio, quae non fit manibus, & peritomh. tou/ Cristou/, circumcisio Christi Col. 2, 11. appellatur. Sic sacrae Eucharistiae, alterius N. T. Sacramenti typi occurrunt, & a Theologis nostris proponuntur aliquot, videl. Typus Arboris vitae in medio paradisi positae, Gen. 2, 9. confer Apoc. 22, 15. Johan. 6, 53. 54. 55. Panis & vini a Melchisedeco prolati & Abrahamo oblati, Gen. 14, 18. 19. Agni Paschalis in avna,mnhsin liberationis ex Aegypto quotannis comesti, Exod. 12, 27. Confer. 1. Cor. 5, 7. cap. 11, 26. Mannae coelitus depluti, Exod. 16, 15. & aquae mirabiliter ad potum Israelitarum in deserto profluentis, Num. 20, 11. sanguinis foederalis Exod. 24, 3. 7. 8. Confer Hebr. 9, 20. panum propositionis Exod. 25, 30. Carbonis igniti, quo lingua Esaiae tacta & iniquitas eius ablata, Esa. 6, 6. quorum, ut & aliorum typorum, explicationem & applicationem vide apud Gerhard. tom. 5. de sacra Euch. §. 12. Sic Ecclesiae Nov. Test. typi statuuntur Paradisus Gen. 2, 8. arca Noe Gen. 6, 14. seqq. vocatio Abrahae Gen. 12, 1. Jos. 24, 2. conventus tabernaculum Mosis in deserto Exod. 26, 1. domus Rachabis Jos. 2, 18. c. 6, 23. Hierosolyma Psal. 87, 1. &c. (etsi aliqua allegorica potius, quam typica sunt) de quibus itidem Gerh. tom. 5. de Eccl. §. 24. & seqq. Sic duorum testamentorum typus (alii allegoriam volunt esse) ab Apostolo adducitur Gal. 4, 22. seqq. Sic quemadmodum summus V. T. Sacerdos Christi typus fuit: ita inferiores Sacerdotes ac Levitas Apostolorum ac reliquorum mini-
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gruppen, die auf dem Gebiet der erlaubten Typologien anzutreffen sind, sind die Typen von Ereignissen wie der Liebe Abrahams zu seinem Sohn und die Typen von Zeremonien etwa in Gestalt der levitischen Ordnungen158 sowie die Typen künftiger Dinge, von denen manche institutionalisiert und darum auf Wiederholung angelegt waren wie etwa das Passalamm oder der Bock Azazel, während andere außerordentlich und einmalig sind wie die eherne Schlange, Isaaks Opferung und Jonas Aufenthalt im Fisch.159 Schließlich kann nach Glassius auch zwischen totalen und partiellen Typen des Alten Testaments unterschieden werden. Ein totaler Typus präfiguriert in allen oder doch wenigstens den wichtigeren Teilaspekten seiner Erscheinung den Antitypus. Beispiele hierfür sind das Leben Josefs oder die Taten Simsons, die mit Ausnahme ihrer menschlichen Sündhaftigkeit in fast jeder Hinsicht auf Christus übertragen werden können. Jona dagegen gilt als Beispiel für einen partiellen Typus, was seinen dreitägigen Aufenthalt im Bauch des Fisches betrifft.160 Diese
strorum N. T. typos fuisse, haud absurde dicitur. Unde Mal. 3, 3. ministri Test. Novi typica appellatione vocantur filii Levi.“ 158 Vgl. Sp. 463: „III. Typi sunt vel rerum gestarum, vel ceremoniarum. Illi sunt, quando quaedam in V. T. a sanctis Dei hominibus gesta figuram habuerunt rerum in N. T. gestarum. Veluti quod Abraham, offerens filium ex amore Dei, typus est Dei Patris, tradentis filium suum in mortem, ex amore nostri, Rom. 5, 8. cap. 8, 32. quod Joseph venditus, & vicissim in thronum regni evectus, typus est Christi exinaniti & exaltati, Philip. 2, 6. seqq. Hi sunt, quando ceremoniae & tota constitutio cultus Levitici V. T. in literas divino Spiritu redacta, figuram gessit futurorum N. T. tempore bonorum, quorum explicationem evidentem exhibet Epistola ad Hebraeos.“ 159 Vgl. Sp. 463 f.: „IV. Typi futurorum (1.) quidam fuere stati & repetiti, qui hanc admittunt differentiam, quod vel certa temporis vicissitudine caruerunt: vel eadem fuere determinati. Priorem ad classem varia pertinent sacrificiorum genera, quae unius i`lasthri,ou sacrificii, a Filio Dei praestandi, fuere continua adumbratio. Posterioris classis typi, singulis vel annis vel diebus recurrerunt: Annis, ut agni paschalis mactatio, Exod. 12. Hirci Azazel in desertum emissio, Levit. 16, 21. Sacerdotis summi in sanctum sanctorum ingressus, Ebr. 9, 7. Diebus: ut matutinorum ac vespertinorum sacrificiorum oblatio, Num. 28, 4. (2.) Quidam vero sunt typi peculiares ac singulares, ea nempe, quae aliquando & semel contigerunt, quales sunt, serpentis aenei erectio Num. 21. Isaaci immolatio, Gen. 22. Ionae per triduum in pisce commoratio Jon. 2. &c.“ 160 Vgl. Sp. 464: „V. Typus V. Test. est vel o`liko.j totalis, vel meriko.j partialis. Totalem voco, qui in omnibus aut certe potioribus partibus antitypum praefigurat. Ejusmodi autem typum in ipsis Scripturis explicate haberi, asseri vix potest, nisi quis coniunctim Sacerdotium Leviticum, quod personarum, ceremoniarum Leviticarum, aedificiorum, vasorum sacrorum ratione consideratur, typum totalem dicere velit, cum omnia fere in eo occurrentia ad Christum in Epist. ad Hebraeos tum expresse, tum implicite referantur. Apud Interpretes autem Scripturarum totales (& ita illatos) typos dari extra dubium est. Ita enim Iosephi vitam & omnia fere gesta, Simsonis item, & aliorum, ad Christum typice accommodant, exceptis modo illis, in quibus humanitus lapsi sunt, quae tamen & ipsa ad corpus Christi mysticum, quod ab erroribus haud immune, a quibusdam accommodantur. Partiales typi sunt tales vel ex parte sui, vel ex parte antitypi. Ratione sui typus
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Vielfalt findet insofern eine weitere neutestamentliche Begründung, als sie die Aussage aus Hebr 1,1 widerspiegelt, wonach Gott durch die Väter polumerw/j kai. polutro,pwj geredet habe. Demnach verweise das Adverb polutro,pwj auf die Vielfalt der Visionen und Praefigurationen Christi im Alten Testament, während das Wort polumerw/j die Vielfalt der Personen und Zeiten und anderer Umstände auch in partikularen Aspekten umgreife.161 Daß Hebr 1,1 für Glassius eine Schlüsselstelle ist für die typologische Bibelauslegung, wird daran erkennbar, daß er damit nicht nur die articuli über die Vielfalt der typologischen Einteilungen abschließt, sondern auch die direkt folgenden neun Regeln mit dem Hinweis auf diese Stelle eröffnet. Die erste Regel, wonach bei den prophetischen Typen genau zu beachten ist, wo Christus mit seinem Amt und Verdienst sich selbst und wo er göttliche Wohltaten und Gerichte offenbart, nimmt Glassius mit Hilfe einer collatio von Hebr 1,1, Gal 4,4, Spr 8,31, Offb 13,8 und – wiederum – Joh 5,39 zum Anlaß, die kondeszendenztheologische Begründung für die Berechtigung der typologischen Schriftauslegung weiter zu präzisieren. Der Grund der ersten Regel besteht nach Glassius darin, daß der Sohn Gottes, bevor jene Fülle der Zeiten gekommen war, von der Gal 4,4 spricht, vielgestaltig und mannigfaltig (Hebr 1,1) sich mit seinem Verdienst und mit seiner Passion den Vätern und Propheten des Alten Testaments teils durch feste Verheißungen, teils durch typologische Visionen eröffnet und voraus abgeschattet hat und daß er so auf dem Erdkreis gespielt hat (Spr 8,31), weshalb er als Lamm Gottes als getötet vom Anfang der Welt an bezeichnet wird (Offb 13,8). Damit die Schriften also recht erforscht werden können und ermittelt werden kann, wo sie ein Zeugnis von Christus anführen, wie es seinem eigenen Befehl nach Joh 5,39 entspricht, ist eine sorgfältige Durchforschung erforderlich, in welchen prophetischen Visionen Christus sich selbst gleichsam vorausgeschattet und enthüllt hat.162 Diese grundsätzlichen Erwägungen führen Glassius dann zu der als
partialis est, qui una tantum vel altera actione & re gesta, sive etiam statu & conditione antitypum exprimit. Sic Jonas typum Christi gerere dicitur non in omnibus, quae praestitit, sed in certo hoc statu, quod nimirum per triduum in ventre cetu delituit Matth. 12, 40. Ratione antitypi partialis typus est, qui non omnia, quae in antitypo occurrunt, praefigurat, sed unum aliquod vel alterum. Sic idem Jonas non omnia, quae ad Christum eiusque vitam & conversationem pertinent, sed passionem tantum, mortem & quietem in sepulcro typice expressit.“ 161 Vgl. Sp. 464: „Huc referri potest, quod Hebr. 1, 1. Apostolus asserit, Deum olim locutum fuisse Patribus polumerw/j kai. polutro,pwj. Vox posterior polutro,pwj tum varia visionum genera, de quibus Num. 12, 6. tum varias Christi antitypi praefigurationes, denotat. Vox prior polumerw/j diversitatem & personarum, & temporum, & aliarum circumstantiarum complectitur, & ipsa voce notat, merikw/j & particulariter, illas tum visiones, tum typorum adumbrationes contigisse.“ 162 Vgl. Sp. 465: „Articulus VII. Canones de typis explicans. Canon I. In typis propheticis accurate dispiciendum, ubi Christus cum officio & merito suo seipsum manifestet, & ubi alia divina tum be-
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„Kriterium“ bezeichneten Regel, wonach an den Stellen des Alten Testaments, an denen von Gottes Gnade, von Versöhnung, von Loskauf, von Segen und von Vernichtung der Feinde gesprochen wird, so daß teils die Erklärung des Neuen Testaments, teils die Umstände der Worte des Textes selbst zeigen, dies sei auf Christus und seine Passion zu beziehen, eine andere – nicht auf Christus bezogene – Interpretation fälschlicherweise eingetragen würde.163 Bei Glassius’ im nächsten Kapitel dieser Arbeit zu betrachtenden Exegesen von Jes 63,1–7, Gen 3,15 und Ps 110 wird dieses Kriterium eine tragende Rolle spielen. Auch in der zweiten Regel „Plus est saepe in typo, quam in antitypo“164 knüpft Glassius nach einem einleitenden Irenäuszitat wieder an Hebr 1,1 und die daraus sich ergebende Einteilung der Typologien an. Weil nämlich Gott gewollt hat, daß eine einzige Sache oder Person im Alten Testament nicht in allen Stücken, sondern teilweise in dem einen oder anderen Typus die Abschattung künftiger Dinge darstelle, begegnen in der typischen Sache oder Person durchaus Züge, die nicht auf den Antitypus bezogen werden können, den sie also nur in bestimmter Hinsicht ausdrücken. Insbesondere die Makel der Heiligen des Alten Testaments, die Typen Christi repräsentieren, dürfen Christus nicht zugeschrieben werden. Denn wie ein Bild den abzubildenden Prototyp in Linien exakt umreißen kann, auch wenn ein Flecken zufällig darauf gespritzt worden ist, der vom Prototyp abweicht, so können fehlsame Menschen Typen und Bilder Christi sein, auch wenn ihre Schwächen Christus keinesfalls repräsentieren.165 Erst recht gilt von daher auch
neficia, tum judicia. Ratio canonis dependet ex illo, quod Filius Dei, antequam plenitudo illa temporis Gal. 4, 4. advenisset, polumerw/j kai. polutro,pwj se cum suo merito ac passione Patribus & Prophetis V. Test. partim manifestis promissionibus, partim etiam typicis visionibus patefecit, & adumbravit, atque ita lusit in orbe terrarum Prov. 8, 31. quo respectu inter alia Agnus Dei occisus dicitur ab origine mundi Apoc. 13, 8. Ut igitur Scripturas recte evreunw/men, & ubi illae testimonium de Christo perhibeant, investigemus, iuxta mandatum ipsius Ioh. 5, 39. accurata opus est diaske,yei, in quibus visionibus propheticis Christus seipsum adumbrarit quasi & patefecerit.“ 163 Vgl. Sp. 465: „Ubi hoc ponimus krith,rion: In quocunque V. Test. Prophetico textu agitur de gratia Dei, propitiatione, redemtione, benedictione, de hostium deletione, ita ut partim N. Test. lux & explicatio, partim textus ipsius circumstantiae verborumque ev,mfasij ostendat, ad Christum ejusque meritum & passionem pertinere, ibi perperam alia interpretatio fingitur & infertur, quem canonem de Scripturae V. Test. dictis B. Hunnius in Antipar. I. col. 765. fere ponit.“ Glassius wendet diese von Hunnius übernommene Regel hier sogleich an gegen Calvins Leugnung einer auf Christus bezogenen typologischen Deutung der Himmelsleiter in Gen 28 und des Keltertreters nach Jes 63,1–7 und verweist für letztere Stelle auf seine ausführliche Darlegung an anderer Stelle (vgl. Sp. 465 f., siehe unten, Kap. 6.2.1.2). 164 Sp. 466, Canon II. 165 Vgl. Sp. 466 f.: „Iren. lib. 2. cap. 40. Typus & imago secundum materiam, & secundum substantiam, aliquoties a veritate diversus est: secundum autem habitum & lineamentum debet servare similitudinem, & similiter ostendere per praesentia, illa, quae non sunt praesentia. Ratio canonis de-
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die umgekehrte Regel „Canon III. Plus est saepe in antitypo, quam in typo figuratum est.“166 Auch hier ist die Begründung ähnlich wie in der vorausgehenden Regel. Denn weil kein einziger Typus des Alten Testaments alle Aspekte der Person Christi ausdrückt, enthält der Antitypus in jedem Fall einen Bedeutungsüberschuß gegenüber dem Typus. Dieser bezieht sich dabei nicht nur auf die Art der Sache, sondern auch auf die Art der Darbietung derselben. Gemeint ist hierbei von Glassius beispielsweise der grundlegend qualitative Unterschied zwischen dem Mittleramt Moses, der Gottes Werkzeug bei der Befreiung Israels aus Ägypten ist, und dem Mittleramt Christi, der nicht nur Werkzeug, sondern selbst Ursache und Wirkmittel der Erlösung ist.167 Auch die nächsten beiden formulierten und kritisch auf exemplarische typologische Auslegungen theologischer Gegner bezogenen Regeln sind darin begründet, daß das typologische Zeugnis des Alten Testaments einerseits vielfältig ist, daß andererseits kein Typus für sich die ganze Fülle des Antitypus repräsentieren könne. Deshalb ist sorgfältig darauf zu achten, daß die Beziehung beider zueinanpendet ex distinctione typi postrema, artic. 6. Quia enim unam rem vel personam in Vet. T. non in omnibus, sed merikw/j in uno aliquo vel aliquibus, typum & umbram futurorum gerere Deus voluit, ideo in re vel persona typica plura omnino occurrunt, quae ad antitypum, (quem certa in re exprimunt) referri nequeunt. Et praesertim naevi ac peccata Sanctorum V. Test. qui typos Christi gesserunt, Christo sanctorum sanctissimo attribui nec debent, nec possunt. Ut enim imago picta prototypon referre omnibus lineamentis exacte potest, etsi macula aliqua sit forte aspersa, quae a prototypo discrepat: sic sanctorum vita typus & imago Christi esse potest, etiamsi naevis & infirmitatibus humanis fuerint obnoxii, quibus Christum haudquaquam repraesentant.“ Als Beispiel führt Glassius das alttestamentliche Priestertum an, das in vielerlei Hinsicht auf Christus verweist, wobei der Hebräerbrief auch zeigt, daß es viele Aspekte gibt, die zwar auf den alttestamentlichen Priester, aber nicht auf Christus zutreffen (vgl. Sp. 467). 166 Sp. 467. 167 Vgl. Sp. 467 f.: „Chrysost. hom. 61. in Gen. Oportet figuram minus habere, quam veritatem, quia alioquin non fuisset figura futurorum. Ratio canonis eadem est, quae precedentis. Quia enim Christi vitam & res gestas singulas non unus aliquis V. T. typus exprimit, ideo multo plura omnino in Christo antitypo, vel alia re adumbrata occurrunt, quam quae in typis spectantur. Quando autem dicitur, plus esse in antitypo, quam in typo, intelligendum id non tantum ratione rei, sed & ratione modi. Cujus exemplum exhibent Moses & Josua, quorum uterque typus Christi est, ille nostrae redemtionis, hic nostrae in coelum, veram patriam, introductionis. Modus tamen utrobique variat, & ratione modi plus omnino in antitypo est, quam typo. In typo est liberatio corporalis; in antitypo spiritualis: In typo redemtio simplex est, in antitypo talis, quae fit intercedente lu,trw|, & per Christi sanguinem, Rom. 3, 24. In typo redemtio, & in terram Canaan introductio per Mosen & Josuam fit, ut per ministros Dei, Hebr. 3, 5. In antitypo redemtio & salvatio nostra fit per Christum, ut per ai;tion th/j swthri,aj, salutis causam principalem Actor. 3, 15. c. 4, 12. Heb. 5, 9. Sic idem quoque Moses, cum dicatur mesi,thj Mediator, Gal. 3, 19. typus mediatorii Christi officii dici potest, ratione ipsius rei, licet in modo evidens sit disparitas. Moses mediator dicitur ob interpretandi & docendi officium, Exod. 19, 3. Deut. 5, 5. sed Christus insuper, & inprimis, ob satisfaciendi beneficium, 1. Tim. 2, 5. 6.“
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der angemessen erfolgt168 und daß von keinem Teiltypus alleine über den Charakter des Antitypus Urteile gefällt werden.169 Die Vielfalt und Komplexität der Typen erfährt noch darin eine Steigerung, daß die Propheten bzw. der durch sie sprechende Gott in vielen Texten die – bereits in der Stilanalyse von Glassius behandelte170 – Gewohnheit haben, unversehens vom Typus auf den Antitypus, von der leiblichen Sache auf die geistliche, überzugehen und so unmittelbar über Christus zu prophezeien pflegen. Darum ist für die Auslegung auf diesen Übergang und damit auf den Unterschied zwischen typologischen Entsprechungen und direkten Prophezeiungen genau zu achten, wie Glassius insbesondere Calvins alttestamentlicher Hermeneutik gegenüber geltend macht, der in messianischen Texten wie Ps 2,7 oder Mi 5,2 keine unmittelbaren Christusverheißungen, sondern allenfalls typologische Entsprechungen zu Christus erkennt.171 Canon VII. bekräftigt den zuvor bereits in Regel II. erwähnten Gedanken, daß die sündigen Aspekte alttestamentlicher Figuren nicht als Typen Christi gelten können. Eine gewisse Ausnahme nennt Glassius hier dennoch mit der Auslegung von Deut 21,23 in Gal 3,13, wonach Christus als am Kreuz Hängender gemäß alttestamentlichem Gesetz als von Gott verflucht gelte. Da diese Aussage aus Deut 21,23 weder mit dem Naturgesetz noch mit dem bürgerlichen Gesetz begründet werden kann, meint Glassius, Mose habe damit auf Christus Bezug genommen und so ähnlich wie beim Passalamm, dem kein Bein gebrochen werden durfte, eine „perpetua praefiguratio“ geschaffen, durch die in Israel quasi kontinuierlich vorweg auf Christus verwiesen worden sei.172 168 Vgl. Sp. 468: „Canon IV. Typi ad antitypum applicatio fiat commoda.“ 169 Vgl. Sp. 469: „Canon V. Quando unius rei multi sunt typi partiales, tum de antitypo non ex uno, sed ex omnibus conjunctim sumtis, faciendum est judicium.“ 170 S. o., Kap. 4.1.2.1, S. 133 f. 171 Vgl. Sp. 469 f.: „Canon VI. In explicatione typorum V. Test. accurate dispiciendum: An umbra, an vero ipsa veritas proponatur? h. e. an sub involucro typorum, an vero expressis oraculis (sensu literali de Servatore nostro loquentibus) Prophetae de Christo vaticinentur. Ratio dependet ex illa Prophetarum, imo ipsius Dei per Prophetas loquentis, consuetudine, qua a typo ad antitypum, a re corporea ad spiritualem de subito transire, & cum de aliis rebus sermo ipsis sit, ad Christum Scripturae nucleum se convertere, deque eo (non amplius sub involucro typorum, sed expressis verbis) prophetare solent. Cuius prophetici moris supra lib. 1. tract. 4. sect. 1. can. 7. facta fuit mentio. E. gr. Locum Psalm. 2, 7. Filius meus es tu, ego hodie genui te; Calvinus in comm. hujus Psalmi una cum toto Psalmo de Davide literaliter, de Christo vero typice intelligendum esse asserit. Locum Mich. 5, 2. Et tu Bethlehem Ephrata &c. ex te mihi egredietur Dux, idem Calvinus in comm. h. l. Judaico glossomate pervertit, & non de Christo literaliter, sed de politico aliquo gubernatore, typum Christi gerente, exponit; cum tamen haec, & si quae sunt alia, sensu literali de Christo intelligi debere, ipsa textus suna,feia luculenter evincat.“ 172 Vgl. Sp. 470 f. („Canon VII. Impii, in quo impii fuerunt, Christi figura & typus nequaquam constituendi.“)
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In einer weiteren Regel nimmt Glassius die Beobachtung auf, daß ein und dieselbe Sache Typus oder Bild für zwei, auch einander entgegengesetzte Dinge sein kann, was allerdings jeweils unterschiedliche Aspekte bei den Vergleichspunkten voraussetzt. So ist die Sintflut für die Gläubigen ein Typus der Taufe, für die Gottlosen aber ein Typus des Jüngsten Gerichts.173 Zuletzt ist auch die Regel zu beachten, daß viele in der Schrift vorkommenden Typen und Antitypen in der Gestalt der rhetorischen Figur der „evnallagh. & permutatio“ begegnen, die jeweils darauf zurückzuführen ist, daß der Antitypus mit dem Namen des Typus bezeichnet wird.174 Das gilt nach Glassius von Stellen aus dem Alten Testament, wo mit dem Namen David offenbar nicht die historische Königsfigur, sondern Christus gemeint ist. Auch die Rede vom Lamm Gottes (Joh 1,29.36), vom Gnadenstuhl (Röm 3,25), die Bezeichnungen des Fleisches Christi als Brot vom Himmel (Joh 6,32), der Taufe als Beschneidung (Kol 2,11) oder der neutestamentlichen Gemeinde als Berg Zion (Jes 2,2) und als Jerusalem (Gal 4,26, Offb 21,2), der Diener der Kirche im Predigtamt als Söhne Levis (Mal 3,3) gehören hierher. Eigens erwähnt Glassius den Bereich der durch Ausleger eingetragenen Typen, zu denen die – auch in seiner Spruch-Postille sehr häufig aufgegriffenen – Benennungen Christi als geistlicher oder himmlischer „Gideon“, „Josef“, „Simson“, „Salomon“, „Jonas“ etc. gehören wegen der Werke Christi, welche diese im Alten Testament genannten Heiligen vorweg darstellen. Ferner verweist er auf die Bezeichnung neutestamentlicher Güter durch Worte und Redewendungen, die offensichtlich aus den Umständen des Alten Testaments übernommen sind. Noch einmal erinnert Glassius auch hier an den Grund, „quod res veteris legis fuerint typi & figurae bonorum futurorum in N. T.“175 Die Regel umfaßt auch die Umkehrung, wenn nämlich in prophetischen oder geschichtlichen Typen einer Person oder einer Sache eine Bezeichnung zugelegt wird, die eigens dem Antitypus zusteht. Beispiele hierfür sind die symbolischen Prophetennamen in Jes 7,3 und 8,1–3 oder der Perserkönig Cyrus, der in Jes 45,1 als „Gesalbter des Herrn“ bezeichnet wird. Glassius plausibilisiert dieses Phänomen durch den Hinweis auf die allgemeine Regel, nach der Bilder die Namen ihres Prototyps, also der durch
173 Vgl. Sp. 471: „Canon VIII. Una res typus est & figura quandoque duorum, etiam contrariorum, sed alio & alio respectu. […] Diluvium, quatenus in eo enatavit Noe per arcam, fuit fidelibus typus Baptismi: quatenus vero eo mersi sunt impii, fuit typus supplicii reprobis irrogandi in extremo judicio.“ 174 Vgl. Sp. 471: „Canon IX. In typis & antitypis appellationum quandoque evnallagh. & permutatio contingit, ut figuratum & adumbratum figurae, umbrae aut typi: & contra, typus & figura rei repraesentatae vel antitypi nomen sibi adsciscat & vendicet.“ 175 Sp. 472.
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sie abgebildeten Person, tragen, etwa wenn ein Standbild Cäsars als Cäsar oder ein Bild Luthers als Luther bezeichnet wird.176
5.3.3 Von der Gleichnisauslegung Die Behandlung der Gleichnisse verläuft analog zur Behandlung der Allegorien und Typologien. Auf die Definition des Namens und der Sache folgt die Klassifikation der verschiedenen Gleichnisarten, bevor ein Regelkanon zur rechten Auslegung anleitet. In der etymologischen Betrachtung folgt Glassius der Deutung Ciceros und der des Hieronymus, die unter einer Parabel eine similitudo verstehen, die zum Ziel hat, etwas auszusagen durch ein anderes quasi „Herbeigeworfenes“, was der Bedeutung des zugrundeliegenden griechischen Verbs paraba,llein entspricht.177 Allerdings geht die Bedeutungsvielfalt (Polysemie) des griechischen Wortes parabolh. wie seines hebräischen Äquivalents lv'm' weit über das Gleichnis im engeren Sinn hinaus und kann auch für schlichte Vergleiche, Rätselworte, Sprichwörter, figürliche Redewendungen oder gar alttestamentliche Typen gebraucht werden.178 Im engeren, im folgenden von Glassius behandelten Sinn geht es beim Gleichnis um eine kunstvolle Erzählung eines Sachverhalts mit dem Ziel, dadurch etwas anderes zu bezeichnen.179 Jedoch hält Glassius es in seinem Kapitel über die Definition der Parabel für nötig, sich von fehlerhaften Definitionen abzugrenzen, die in der Literatur zu finden sind. Das betrifft vor allem die Meinung der römisch-katholischen Theologen Juan Azorius (1535–1603), Petrus Gillius (1490–1555) und Thomas Morton (1420–1500), es handele sich bei Gleichnissen um fortgesetzte Metaphern (metaphorae continuatae) oder Wortallegorien. Dem gegenüber hält Glassius fest, daß im Gleichnis im Unterschied zur Metapher Bildhälfte und Sachhälfte jeweils im Literalsinn gelesen werden müssen. Außerdem gilt, daß bei Metaphern die Worte im übertragenen Sinn ausschlaggebend für das Verständnis sind, während in den Parabeln das durch sie Bezeichnete nicht aus den Wörtern, sondern aus
176 Vgl. Sp. 473: „Huc kat’ avnalogi,an referri etiam potest Canon generalior, quod imagines gerant nomina sui prototypi, seu quod nomen vindicent sibi illorum, quorum personam repraesentant, & speciem exprimunt. Et ita statuam Caesaris Caesarem, imaginem Lutheri depictam, Lutherum vocare solemus.“ 177 Vgl. Sp. 473 f. 178 Vgl. Sp. 474–476. 179 Vgl. Sp. 475: „Demum proprie & stricte usurpatur pro artificiosa rei quasi gestae ad aliud significandum narratione, uti Matth. 13, 3. 10. 13. &c. cap. 21, 33. 45. cap. 22, 1. & multis aliis in locis accipitur.“
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den erzählten Sachverhalten erhoben wird.180 Nach weitgehend zustimmender Besprechung von Definitionen der Parabel durch Hieronymus, Thomas, Flacius und andere Gelehrte formuliert Glassius als Fazit: „Parabola est similitudo seu comparatio, qua res aliqua ut gesta & confecta apposite fingitur & narratur, & cum alia re spirituali confertur, seu ad eam significandam accommodatur.“181 Von der historia unterscheidet die Parabel, daß es in ihrer Bildhälfte nicht um die Erzählung tatsächlich geschehener, sondern erfundener und zur Belehrung in geeigneter Weise zusammengestellter Sachen geht. Mit Worten des Augustinus hält Glassius fest, daß solche Erzählungen, die um einer Bedeutung willen erfunden werden, als eine „Gestalt der Wahrheit“ anzusehen sind. Auch die Meinung des Horatius aus seiner „ars poetica“ wird zitiert, wonach dem Wahren sehr nahe ist, was des Vergnügens wegen erfunden ist. Doch auch der usus der Parabel geht weit über den informierenden Charakter der historia hinaus.182 Auch vom schlichten exemplum, bei dem es darum geht, aus einer vorgetragenen Geschichte positiv oder negativ eine nützliche Lehre zu ziehen, ist das Gleichnis zu unterscheiden. Zu solchen exempla zählt Glassius nicht nur die Hinweise Jesu auf vorbildliche Verhaltensweisen alttestamentlicher Figuren wie David oder die Königin von Saba (Mt 12,3 f.42) oder den warnenden Hinweis auf die Bluttat des Pilatus und den Einsturz des Turms von Siloah (Lk 13,1 ff.), sondern auch Jesu Erzählung von dem zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber gefallenen Menschen (Lk 10,30 ff.) sowie die Erzählung vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Lk 16,19 ff.), worin Glassius jeweils Hinweise auf tatsächlich geschehene Ereignisse erkennt.183 180 Vgl. Sp. 476–478. 181 Sp. 479. 182 Vgl. Sp. 479: „Differt igitur parabola I. ab Historia. 1. obiecto. Historia est narratio rei verae gestae: parabola vero rei fictae & ad docendum apte concinnatae. Neque tamen consequens hinc est, res eiusmodi fictas & artificiose compositas esse mendacia. Nam, ut respondet Augustinus lib. 2. quaest. Evang. q. 41. non omne, quod fingimus, mendacium est, sed quando id fingimus, quod nihil significat, tunc est mendacium. Cum autem fictio nostra refertur ad aliquam significationem, non est mendacium, sed aliqua figura veritatis. Alioquin omnia, quae a sapientibus & sanctis viris, vel etiam ab ipso Domino figurate dicta sunt, mendacia deputabuntur, quia secundum usitatum intellectum non subsistit veritas in talibus dictis. Huc pertinet illud Horatii in arte poet: Ficta voluptatis causa sunt proxima veris. Et si fabulae ad docendum accommodae non sunt mendacia, quanto minus parabolae? 2. Usu. Historia simpliciter narratur; parabola non narratur solum, quasi esset vere gesta, sed ad aliud insuper docendum vel implicite vel explicite refertur.“ 183 Vgl. Sp. 479–481, hier Sp. 480 zu Lk 10,30 ff.: „[…] neque enim proprie loquendo parabola ibi describitur, sed res vere gesta […]“; zu Lk 16,19 ff. (Sp. 480 f.): „[…] ex addito nomine pauperis non obscure colligi, tum temporis publice constitisse de medicitate & extrema pauperie Lazari, deque avaritia, luxu, impietate & immisericordia divitis istius cujus nomen Christus reticet: constitisse etiam, quomodo erga mendicum se dives gesserit, & quod uterque tandem fatis hac in terrena vita cesserit.“
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Die Einteilung der in der Schrift dargebotenen Parabeln erfolgt einerseits nach dem Inhalt der Bildhälfte,184 anderseits nach der Darbietungsweise der Deutung der Gleichnisse. Auf der Bildhälfte können entweder tatsächlich geschehene Sachen wie der täglich angerichtete Sauerteig oder mögliche Sachen wie die vom Herrn, der Arbeiter für seinen Weinberg sucht, oder aber unmögliche Sachen im Gleichnis von den Bäumen, die einen König über sich suchen, um des Vergleichs willen herangezogen werden.185 Was die Deutung des Gleichnisses betrifft, so kann diese entweder in der Schrift selbst vorhanden oder von außen eingetragen sein. Der innewohnende Sinn liegt vor, wenn die Schrift die Erklärung der Parabel darbietet, wie es etwa im Gleichnis von der vierfachen Saat oder dem Unkraut unter dem Weizen der Fall ist (Mt 13,3 ff.24 ff.). Eingetragener Sinn liegt dagegen vor, wenn die Erklärung durch die Ausleger geschieht. Auch in diesem Fall kann diese angemessen oder verdreht sein. Als angemessen hat diejenige Deutung zu gelten, die ihre Grundlage am Fundort der Parabel selbst (sedes parabolae) hat. Diese Grundlage umfaßt sowohl den Skopus des Sprechers als auch die analogia fidei, denen die Auslegung entsprechen muß. Zu beachten ist, daß es Parabeln gibt, deren Skopus im Text der Schrift selbst explizit angegeben wird, so etwa, wenn es zum Gleichnis von der königlichen Hochzeit heißt: „Viele sind berufen, aber wenige auserwählt“ (Mt 22,14). Als abgenötigt und verdreht hat dagegen jene Gleichnisauslegung zu gelten, die sowohl vom Skopus des Sprechers als auch von der Analogie des Glaubens abweicht.186
184 Glassius bezeichnet die Bildhälfte des Gleichnisses als „Res“ (Sp. 481), die Deutung oder Sachhälfte als „Formale“ (Sp. 482). 185 Vgl. Sp. 482: „ v,Eggrafoi parabolae in Scripturis occurrunt triplices. Quaedam continent rem gestam, quae adfertur in similitudinem, ut parabola de fermento: nam quotidie miscetur fermentum cum farina ad pinsendum panem. Aliae continent non quidem rem gestam, sed tamen possibilem ut parabola de Patrefamilias, qui primo mane exiit, conducere operarios in vineam suam, Matth. 20, 1. Aliae continent rem impossibilem, ut parabola de lignis, quae iverunt, ut ungerent sibi Regem: quales paucae sunt in Scriptura: multae apud exteros Scriptores.“ 186 Vgl. Sp. 482 f.: „Formale seu parabolae (evggra,fou, ejusque quae in sacris literis expresse habetur) sensus & applicatio secundum allegoriae & typi distinctionem supra cap. 9. & 16. traditam, ita dispesci potest, quod sit vel innata, vel illata. Innata est, quando ipsa Scriptura singularum (vel certe potissimarum) parabolae partium tradit explicationem & applicationem. Sic parabolae de seminatore seminis diversimode cadentis, Matth. 13, 3. seqq. Luc. 8, 4. seqq. de zizaniis, ab homine inimico tritico bono interjectis, Matth, 13, 24. seqq. singulis fere partibus a Christo ipsomet explicantur, & debito modo applicantur. Illata est, quando accommodatio parabolarum fit ab Interpretibus. Estque vel oblata, vel extorta & contorta. Oblata est, quae in ipsa parabolae sede suum habet fundamentum. Fundamentum istud tum scopus dicentis, tum fidei analogia est, quorum utrumque si interpres in expositione parabolarum accurate observet, rectum cursum tenebit, & inoffenso pede progredietur. E. gr. Matth. 22, 2. seqq. traditur a Christo parabola de Rege filio suo parante nuptias &c. singularum parabolae partium expositio & applicatio haud
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Die hermeneutische Philologie (Verstehenslehre)
Nach der Aufzählung der wichtigsten alt- und neutestamentlichen Gleichnisse, mit der er den Katalog der die Auslegung der Gleichnisse betreffenden Regeln eröffnet, wendet Glassius sich in Canon II. den Gründen zu, weshalb Christus von der gleichnishaften Art des Lehrens oft Gebrauch gemacht hat.187 Zunächst leiht der Thüringer sich Worte des Erasmus, die man als Verknüpfung der kreuzestheologischen Erkenntnislehre des Apostels Paulus nach 1Kor 2 mit der Lehrpraxis Christi ansehen kann. Denn im Unterschied zu den Syllogismen der Philosophen seien Gleichnisse, so Erasmus, insofern sie von alltäglichen Dingen ausgehen, gerade den einfachen Leuten angemessen. Darum habe Jesus diese ganz einfache, von Ruhmsucht fremde Art der Lehre für sich gewählt, damit aller Ruhm der durch das Evangelium erneuerten Welt Sache göttlicher Kraft sei. Darum habe er durch viele Gleichnisse die Seelen jener erweckt, damit sie die evangelische Rede mit einfachem Vertrauen und reinen Sinnen annehmen.188 Die weiteren Gründe betreffen zum einen Gott, zum anderen den Menschen. Der Grund, der Gott betrifft, ist die Erfüllung der Schriften bzw. der Verheißungen des Alten Testaments nach Mt 13,35 bzw. Ps 78,2, der in der Weimarer Bibel lautet: Ich will meinen Mund aufthun in Gleichnissen / und will aussprechen die Heimlichkeiten von Anfang der Welt.189 Was die Menschen betrifft, so ist zu unterscheiden zwischen frommen und unfrommen Rezipienten. Den Frommen dienen die Gleichnisse zum einen zur Belehrung (informatio) über himmlische Wahrheiten durch irdische Sachverhalte, wodurch Christus gemäß Mk 4,33 sich an das Fassungsvermögen seiner Hörer
quaquam additur, sed tantum scopus innuitur epiphonemate illo praeclaro: Multi enim sunt vocati, pauci vero electi, vers. 14. Hic parabolae scopus ipsius fundamentum est, cui si commodam expositionem observata fidei analogia Interpres superstruat, non errabit. Extorta & contorta parabolae expositio est, quae nullum plane in ipsis Scripturis fundamentum habet, & tum a dicentis scopo, tum a fidei analogia discedit.“ 187 Vgl. Sp. 485: „Canon II. Christus suis in concionibus parabolico docendi genera crebro usus est, non sine causa.“ 188 Vgl. Sp. 485: „Erasmus in paraph. N. Test. ad Marc. 4, 2. hac de re eleganter hunc in modum loquitur: Proponebat (Christus) parabolas, h. e. rerum notissimarum similitudines. Est enim hoc simplicissimum docendi genus, ac rudibus maxime accommodum. Videtur enim prima specie puerile ac ridiculum huius mundi sapientibus: Sed hoc docendi genus placuit aeternae sapientiae. Philosophi magna arte contortis Syllogismis tenebras offundebant auditoribus, Rhetores admirabili dicen di copia vim admovebant animis hominum. Pharisaei retrusa quaedam & a populari captu procul semota congerebant. Caeterum hoc doctrinae genus simplicissimum, & ab omni ostentatione alienum sibi delegit Iesus, ut tota gloria mundi per Evangelium innovati esset divinae virtutis. Multis itaque parabolis excitavit animos illorum, ut simplici credulitate purisque mentibus acciperent sermonem Evangelicum, unde salutis nostrae principium proficiscitur.“ 189 Vgl. Sp. 485, mit einem Zitat aus Tertullians Schrift gegen Marcion.
Der „sensus mysticus“
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„akkommodiert“.190 Dies wird von Christus selbst bestätigt, wenn er auch in Joh 3,12 beide Ebenen miteinander in Verbindung bringt und so deutlich macht, daß Gleichnisse, die von irdischen und allgemein bekannten Dingen genommen sind, zur Unterweisung der Menschen auf gute Weise beitragen, wie es auch der allgemeinen Lebenserfahrung entspricht.191 Des weiteren sollen die Gleichnisse bei den Frommen auch zur Erweckung des Lerneifers beitragen, wie Christus durch seinen wiederholt mit Gleichnissen verbundenen Ruf darlegt, der da lautet: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“192 Was die Gründe betrifft, die auf die Ungläubigen bezogen sind, so ist zu unterscheiden zwischen in der Sache selbst implizierten und akzidentiellen Gründen. Den ungläubigen Hörern gelten die Gleichnisse im Sinn einer Unterweisung und Lernanreizung, die dadurch motiviert ist, daß Christus auch jene gewinnen will, die seine Botschaft einstweilen zurückweisen. Frei190 Im Gegensatz hierzu steht die in der Postille Stapletons zu Mt 13,34 geäußerte Auffassung, die Aussage Jesu, er rede nichts ohne Gleichnisse, wende sich gegen die Lehre der Ketzer, die das Urteil über die Lehre dem Pöbel anheimstellen. Statt dessen gelte (Kirchenpostill I, S. 121 f.): „Diese Wort aber deß Euangelions geben zuverstehn / daß solches Vrtheyl nit dem gemeynen Volck / sondern den Kirchenlehrern vnnd Vorstehern gebüre / welche dem Volck die Paraboln vnnd dunckle Schrifften sollen erklären vnd entdecken / wie allhie die Jünger CHRISTI dem Volck gethan vnd geoffenbaret haben.“; a. a. O., S. 123: „Hierauß erscheynet / daß CHRISTUS in diesem Euangelio hab die recht Weyß / Regul vnd Ordnung das Volck zulehren inn der Kirchen / fürgeschriben / da er die Schar deß Volcks oder Pöfels inn Gleichnussen vnderwisen / den Aposteln aber solche Gleichnuß besonders hat erkläret.“; a. a. O., S. 124 f.: „Ist derhalben ein lauttere vnsinnige / hoffärtige / halßstärrige Frechheit der jetzigen Ketzer / die einem jeden Leyen Thür vnnd Thor öffnen / sich inn alle Schrifften einzulassen / auff sein mutwilliges Gefallen zuschrauffen / krümmen / durchgrüblen / außzulegen: Jederman frey machen / von Glauben vnnd Religion Sachen zuvrtheylen: Alle Hierarchische Ordnung der Kirchen verwirren: Alle Euangelische Parabeln / dunckle Stellen der Schrifft / verborgne Geheimnuß / strittige Lehrartickel / für so hell / klar vnnd deutlich außrüffen / daß sie einem jeden Burger oder Bawrn gar nit schwär / sondern Himmelklar zu verstehn seyen / auß sonderer Offenbarung deß Geistes Gottes […].“ 191 Vgl. Sp. 486: „Homines, ut dictum, in duplici sunt differentia. Quidam dociles & pii, quidam indociles & praefracti sunt. Piis & docilibus parabolarum illa usurpatio cessit. 1. Ad informationem. Id innuitur Marc. 4, 33. ubi dicitur, quod Christus talibus multis parabolis locutus fuerit verbum, kaqw.j hvdu,nanto avkou,ein, prout audire sive intelligere poterant: quo indicatur, Christum sermonem suum accommodasse captui auditorum, ut ii videl. de mysteriis regni coelestis hisce similitudinibus informarentur. Joh. 3, 12. Si terrena vobis dixi, ait Christus, & non creditis, quomodo, si dixero vobis coelestia, credetis? Quo innuit, parabolas & similitudines a rebus terrenis, & vulgo obviis desumtas, ad hominum informationem non parum facere &c. quod res ipsa etiam ostendit, dum simplicem populum doceri aptius videmus, quando similitudinibus res veluti praesens oculis subjicitur, & intellectui infertur, quam quando ratiocinationum ponderibus, & syllogismorum subtilitatibus res agitur.“ Es folgt ein Hieronymuszitat zu Mt 18, in dem dieser darauf verweist, es sei Gewohnheit der Menschen in Syrien und Palästina, jede Rede mit Gleichnissen zu verbinden (vgl. Sp. 486). 192 Vgl. Sp. 486.
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Die hermeneutische Philologie (Verstehenslehre)
lich gelten den dauerhaften Verächtern die Gleichnisse dann auch in einem überführenden Sinn, als „Illorum redargutio & confictio“.193 Explizit erkennt Glassius solches beispielsweise im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 21,40–43) und in Nathans Gleichnisrede an David (2Sam 12,6 f.). „Per accidens“ und eher als Wirkung denn als Grund ist nach Glassius zuletzt auch das Verbergen des göttlichen Mysteriums und die Verblendung der Gottlosen zu nennen, die unter Jesu Gleichnisverkündigung auch statthat, wie aus Mt 13,11 und Mk 4,11 f. hervorgeht.194 Es folgen weitere canones, die im engeren Sinn Auslegungsregeln enthalten. In Canon III. nimmt Glassius einmal mehr Zuflucht zur Pflanzenallegorie, wenn er Gleichnissen Wurzel, Rinde und Mark oder Frucht zuschreibt. Demnach ist die Wurzel das Ziel, das mit dem Gleichnis verfolgt wird, die Rinde die Ähnlichkeit, auf der die Vergleichung beruht. Beim Mark oder bei der Frucht handelt es sich um den mystischen Sinn, die Bedeutung des Gleichnisses. Quelle dieser Allegorie ist ein Zitat aus der Ecclesiastes-Auslegung des Hieronymus.195 Für den Ausleger aber ergibt sich daraus folgende Anweisung: „Ut igitur ex cortice medulla, nucleus sive fructus erui, & in succum sanguinemque converti possit, primario & potissimum ad radicem, postmodum etiam ad ipsum corticem respiciendum est: ut sequentes duo docebunt canones.“196 Die Beachtung des Skopus des im Gleichnis Sprechenden muß folglich, so Canon IV., zuerst erfolgen. Dabei geben die Gleichnistexte oft Hilfen, wenn sie nach dem Vorbild des „Promythion“ oder des „Epimythion“ in griechischen Fabeln den Skopus in Form einer „Proparabel“ oder einer „Epiparabel“ explizit ausformulieren. Als Beispiel für eine Epiparabel nennt Glassius Mt 19,30 und 20,16, als Beispiel für eine Proparabel die solenne Gleichniseinleitung: „Das Himmelreich gleicht […]“ in Mt 13.197 Nach Regel V. muß bei der 193 Sp. 487. 194 Vgl. Sp. 487 f. 195 Vgl. Sp. 488. 196 Sp. 488. 197 Vgl. Sp. 488 f.: „Canon IV. In explicatione & applicatione parabolarum legitime instituenda primo omnium attendendus est dicentis scopus. Quemadmodum Graeci apologorum sensum ex profabulatione vel affabulatione, vel ubi illa desint, ex ipsa fabula venandum esse docent, (ita enim illi loquuntur, mu/qoj, promu,qion, evpimu,qion:) Ita in parabola scopus ejus cognoscendus ex proparabola & epiparabola, vel si illa desint, ipsius parabolae corpus considerandum. Est autem proparabola tum id, quod praecedit, & quocum parabolica narratio contexitur: tum (& simul) dictum quoddam nervosum, quod interdum parabolae praeponitur, continens rem, cujus gratia parabola instituitur. Sic parabolam de patrefamilias conducente operarios in vineam suam Matth. 20. praecedunt illa verba emphatica: Multi primi erunt novissimi, & novissimi primi, Matth. 19, 30. (quae etiam parabolam sequuntur, Matth. 20, 16.) ex illis igitur cum praecedentibus conjunctim sumtis, scopus hujus parabolae eruendus. Sic proparabola insinuatur saepe illis vocibus: Simile est regnum coelorum &c. unde facile potest fieri genuina collatio & explicatio, Matth. 13, 31. Epiparabola est conclusio parabolae, epiphonema seu dictum insigne, parabolam sequens. Sic prae
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Gleichnisauslegung nicht akribisch jedes Detail des Gleichnisses auf einen geistlichen Gehalt hin befragt werden, da dieser ja nur Einzelaspekte betrifft. Damit sind die von geistlichen Intentionen freien Aspekte nicht bedeutungslos, dienen sie doch wie der Griff eines Schwertes oder der Resonanzkörper einer Zither dazu, daß die Klinke des geistlichen Inhaltes überhaupt erst schneiden kann bzw. die Saiten des Instruments klingen können.198 Weiter bedeutsam für die Gleichnisauslegung ist neben einer guten Kenntnis der Realien, die in der Bildhälfte aufgerufen werden,199 sowie neben der Beachtung der unterschiedlichen Möglichkeiten der Schlußfolgerung200 vor allem die Beschränkung der geistlichen Deutung auf das „Tertium comparationis“: „Parabola seu similitudo non est trahenda ultra comparationis tertium“.201 dictae parabolae subnectuntur haec verba: Sic erunt novissimi primi, & primi novissimi: multi enim sunt vocati, pauci vero electi, Matth. 20, 16. Sic parabolae de decem virginibus additur haec clausula: Vigilate itaque quia nescitis diem neque horam, in qua Filius hominis venit. Ex quo ejus parabolae scopus haud obscure discitur.“ 198 Vgl. Sp. 489 f. Glassius übernimmt für diese Gedanken ein längeres Zitat des spanischen Jesuiten Alfonso Salmeron (1515–1585), das auf ein Chrysostomuszitat folgt. 199 Vgl. Canon VII. 200 Vgl. Sp. 492: „Canon IX. Non omnes parabolae eodem modo concludunt, sed diversis.“ So gibt es Schlußfolgerungen „a simili“, „a minori“. 201 Sp. 491 (Canon VIII.). Daß in diesem Punkt ein kontroverstheologische Demarkationslinien übergreifender Konsens vorliegt, zeigt das Zitat von Michael Helding (Postilla / Das ist Predig vnd außlegung Nach Catholischer Lehre aller Sontäglichen Euangelien vnd mit etlichen den fürnembsten Festen / vom ersten Sontag daß Aduendts biß zu ende des Jahrs / jetzo zum dritten mahl vbersehen vnd mit vielen Predigen gemehret […], Mainz 1574, De Tempore, Sommerteil, S. CXXXVIII. A.): „Wo die schrifft oder Christus in der schrifft gleichnussen braucht / da wirt wol die natur vnd eygenschafft der ding / dazu die gleichniß angezogen ist / etlicher maß durch die gleichniß kündlich vnd offenbar / aber doch vergleicht sie sich nicht auf alle wege mit den dingen darzu sie gebraucht wirt. Darum ist auch nit von nöten / daß mann die gleichnissen an allen orten anneme / vnd so genawe durch suche / sondern allein so weit sie dienlich ist / die sachen kündtlich zumachen / darumb sie auff die ban bracht seindt.“ Dies wird dann an einem Beispiel vorgeführt, wenn es ebd. heißt: „Sihe / ich sende euch als die Schäfflein da mitten vnder die Wölffe / darumb seid klug als die Schlangen / vnd einfältig als die Dauben. Sehet / Christus heist hie sein Aposteln wie die Schlangen sein / muß mann nit verstehen in allen stücken / sonder an eim eynigen stück allein / Ein Schlang hat die natur / wenn sie geängstiget wirt / wickelt sie sich zusammen / vnnd windt jhren gantzen leib vmb das haupt / entpfengt die streich mit dem leich / läst sich allenthalben verwunden / allein daß das haupt vnuerseret bleibe / vnd wo sie das haupt ohn verwundt behelt / so hat sie gnug / vnnd achtet der andern wunden nicht. Also solten auch die Apostel Christi klug sein / daß sie Christum / jhr haupt behielten / leib vnd gut solten sie in die schantze schlagen / vnd die nit achten / die jnen den leib nehmen können / allein daß sie Christum / das haupt behilten / vnd von jrem heyligen glauben sich nit abtringen liessen. Also sollen die Apostel / wie die schlangen sein allein in dieser klugheit / in andern dingen sollen sie jhnen nit nachfolgen / dann ein schlang ist auch ein gifftig / böß / neidig thier / das nichts ver-
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5.4 Fazit Typologische, allegorische und parabolische Auslegung verbindender Vergleichspunkt, so läßt sich am Ende dieses Kapitels zusammenfassend festhalten, ist die Unterscheidung zwischen aus der Schrift selbst erhobenen Auslegungen und von außen an die Schrift herangetragenen Anwendungen ihrer buchstäblich oder figürlich prädizierten Texte und Inhalte. Die herangetragenen Applikationen oder Akkommodationen der Texte und ihrer Aspekte sind nur dann verwerflich, wenn sie dem Skopus der Schrift im Ganzen wie in den Details der auszulegenden Texte zuwiderlaufen. So bietet Glassius mit seiner hermeneutischen Theorie eine Kriteriologie für die theologische Arbeit an der Schrift, insbesondere für die Verhältnisbestimmung von Exegese und Homiletik, deren Anwendung und Bewährung er selbst sich zum einen in seinen akademischen Arbeiten (Kap. 6) und zum andern in seiner umfassenden Predigttätigkeit (Kap. 7) zuwendet.
tragen kan / sondern wo einer sie mit dem füß allein rühret / den vergifft sie vnd tödtet jhn gar.“ Zum reformkatholisch gesinnten Merseburger Erzbischof Michael Helding als Postillator vgl. Frymire, Primacy, S. 269–276.
6 Glassius’ exegetisches Werk 6.1 Die methodische Anleitung Seiner Darlegung der für die Erkenntnis des jeweils vorliegenden Schriftsinnes nötigen Hermeneutik („de sensu dignoscendo“) läßt Glassius noch im zweiten Buch der Philologia sacra eine kurze methodische Anleitung zur Schriftexegese folgen, die er unter die Überschrift „De scripturae sensu eruendo“ stellt.1 Einleitend nennt der Thüringer fünf Gründe, die eine solche Anleitung nötig machen. Der erste Grund ist die Wahrnehmung, daß in der Schrift Stellen begegnen, die auf den ersten Blick dunkel erscheinen. Die nächsten beiden Gründe heben auf die theologische und soteriologische Bedeutsamkeit der Schriftbotschaft ab. Zum einen würden in ihr des allmächtigen Gottes eigene Gedanken und lebensspendende Worte vorgelegt, die vom Menschen sorgfältigste Abwägung und Meditation verlangen. Zum andern gehe es in ihr um das ewige Heil, das nur durch das im Wort Gottes „Vorgeschriebene“ erlangt werden könne. Nach dieser positiven Begründung folgt in den letzten beiden Punkten der Hinweis auf Faktoren, die dem Schriftverstehen hinderlich sind und daher durch die methodische Anleitung abgewehrt werden müßten. Das ist zum einen die im menschlichen Geist tief verankerte Schläfrigkeit, Trägheit und Schwerfälligkeit, die sich einstellt, wo es um die Erkenntnis göttlicher Dinge geht. Zum andern habe der Ausleger auch mit der Verkehrtheit des Teufels zu rechnen, welcher durch die Nachlässigkeit der Menschen, erst recht aber durch die Häretiker das „mysterium iniquitatis“ vollziehe, indem er die Äußerungen des Heiligen Geistes verdrehe und fälschlich interpretiere. Aus diesen Gründen müsse der Eifer darauf gerichtet sein, Gewißheit über den richtigen, gesunden und grundlegenden Sinn der Schrift zu erlangen. Diesem Zweck diene die Darlegung der zu solcher Interpretation der Schrift beitragenden Mittel („media“).2 1 Sp. 493–506. 2 Vgl. Sp. 493: „Quia enim (1.) quaedam primo contuitu obscura in sacris Bibliis occurrunt; quia (2.) Dei omnipotentis lóo,gia & vivifica verba in illis proponuntur, quae accuratissimam in homine omnino requirunt pensiculationem & meditationem; quia (3.) de negocio hic salutis aeternae agitur, quam per ea, quae nobis in sacrosancto Dei verbo perscripta sunt, consequi possumus & debemus, Joh. 20, 31. quia (4.) profundissima ingenii humani, in divinis ejusmodi cognoscendis, est somnolentia, gravedo & tarditas; quia demum (5.) mira Satanae, per homines nequitiae, haereticorumque catervam mysterium iniquitatis operantis, in detorquendis falsoque interpretandis Spiritus sancti effatis, est malitia & pravitas: igitur omne misellis nobis hominibus studium eo conferendum, ut de recto, sano & fundamentali totius Scripturae sacrae sensu & intellectu constet. Id vero ut fieri possit, certo mediorum, ad interpretationem Scripturae sanctae facientium, opus est ductu, & quasi cynosura.“ https://doi.org/10.1515/9783110650556-006
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Glassius’ exegetisches Werk
Glassius hebt dabei die methodische Anleitung ab von den Differenzierungen, die er im vorherigen Teil entfaltet hatte. Ging es dort um die rechte Wahrnehmung des sensus mysticus, so geht es nunmehr um die Erhebung des sensus literalis.3 Für ausführliche Darlegungen der exegetischen Methodik verweist Glassius zustimmend auf den „Tractatus de interpretatione Scripturae“ Johann Gerhards, der damals als Bestandteil des ersten Bandes von dessen Loci vorlag, sowie auf den einschlägigen Traktat aus der Feder des Wittenberger Theologen Wolfgang Franz.4 Zunächst hält Glassius fest, daß er unter der Auslegung der Schrift nicht nur die Erhebung des Schriftsinns versteht, sondern auch dessen nachvollziehbare Darlegung, die insofern eine lebenspraktische Ausrichtung hat, als sie mit einer „accommodatio ad usum salutarem“ verbunden ist, welche ihren Ort nicht erst auf der Kanzel, sondern bereits auf dem akademischen Lehrstuhl hat.5 Während Glassius für die accommodatio ad usum auf eine weitere Gerhardschrift verweist, nämlich dessen „Methodus studii Theologici“, will er sich selbst auf die Erhebung des Schriftsinns beschränken. Hierfür folgt er der von Franz getroffenen Unterscheidung in Mittel und Werkzeuge („media & adminicula“). Geht es bei ersteren um die Sichtung der sprachlichen Phänomene, so bei letzteren um die Untersuchung und Zusammenstellung der jeweiligen Realien und Kontexte.6 In einer ersten Sectio über die Sichtung der sprachlichen Phänomene streicht Glassius zunächst die Notwendigkeit der Beschäftigung mit den Quellen in den Sprachen heraus, in denen die Schriften nach göttlichem Ratschluß verfaßt sind. Zwar können auch Übersetzungen, allen voran die Lutherbibel, hinreichend Auskunft über die heilsnotwendige Lehre geben. Gerade aber für die ecclesia militans und um einer in dieser notwendigen, schriftwidrige Lehren überführenden accommodatio willen ist die Kenntnis der hebräischen, chaldäisch-syrischen (aramäischen) und griechischen Sprache nach Glassius im Theologenstand unumgänglich.7
3 Vgl. Sp. 493: „Quando autem de sensu Scripturae eruendo loquor, sensum intelligo potissimum literalem; ad mysticum enim sensum cognoscendum qvae pertinere videntur, superius suis locis sunt inspersa & exposita.“ 4 Vgl. Sp. 493 f. 5 Vgl. Sp. 494: „Interpretationis Scripturae voce duo vel continentur vel denotantur: unum est veri & genuini sensus investigatio: alterum ejusdem plana & perspicua enarratio, addita ejusdem ad usum salutarem accommodatione. (Id quod vel e cathedra fit & in Academiis: vel e suggesto & in Ecclesiis.)“ 6 Vgl. Sp. 494: „[…] duo cum Dn. D. Frantzio legitimae genuini Scripturarum sensus investigationis propono momenta, media & adminicula. Primum est, loquelae & literaturae sanctae consideratio: Alterum rerum ipsarum, & contextuum inspectio & collatio.“ 7 Vgl. Sp. 495.
Die methodische Anleitung
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Für die konkrete Wahrnehmung der Sprachgestalt unterscheidet Glassius eine allgemeine, die der Stilanalyse sowohl der Schrift in ihrer Gesamtheit als auch einzelner ihrer Teile gewidmet ist, wofür er auf die im ersten Buch der Philologia entfalteten Traktate 3 und 4 verweist, und eine spezielle, in der „habitus & structura“ der Worte und Sätze zu erheben sind.8 In der speziellen Schriftinterpretation ist wiederum einerseits auf die einzelnen Wörter, andererseits auf die verbundenen Ausdrücke zu achten.9 Was die einzelnen Wörter betrifft, ist hier zu untersuchen, ob sie jeweils im eigentlichen oder im tropischen Sinne gebraucht werden, wofür Glassius auf seinen Traktat über den sensus literalis aus Buch 2 der Philologia sowie auf das in der Rhetorica zu erwartende Material verweist. Weiter muß geklärt werden, in welcher Bedeutung ein vorliegendes Wort benutzt wird. Besonders bei hebräischen Worten ist nicht nur auf deren Bedeutungsvielfalt zu achten, sondern auch auf die jeweilige accommodatio an eine bestimmte Textstelle.10 Für den ersten Arbeitsschritt nennt Glassius als Hilfsmittel einerseits zahlreiche Wörterbücher, so die hebräischen Lexika von Pagninus, Forster, Avenarius, Schindler und Buxtorf, das griechische Lexikon von Budäus und das lateinische von Heinrich Stephan sowie den ersten Teil von Flacius’ „Clavis Scripturae“. Andererseits verweist er allgemein auf den Nutzen von Konkordanzen, zu deren Gebrauch wiederum Wolfgang Franz vorbildlich anleite. Für den zweiten Arbeitsschritt, die accommodatio des Wortsinns an die jeweilige Textstelle, führt Glassius folgende Etappen auf: „1. accurata contextus inspectio“, wofür er insbesondere auf die wechselseitige Abhängigkeit von Wortanalyse und Kontextanalyse abhebt.11 „2. Loci paralleli collatio.“ Diesen textinternen Arbeitsschritten („media quasi interna“) folgen als „alia externa“: Die Sichtung von Lexika und Konkordanzen (3.), von Textparaphrasen und Übersetzungen (4.) sowie der Masoreten (5.) und anderer Bibelausleger (6.).12 Für die Untersuchung der verbundenen Ausdrücke gelten dieselben Regeln, wobei hier besonders auf die „collatio phrasium“ zu achten ist, die aus dem Abgleich mit wortgleichen oder sinnverwandten Parallelstellen besteht. Daher ist nach Glassius die Kenntnis der hebräischen und
8 Vgl. Sp. 495 f. 9 Vgl. Sp. 496: „Estque iterum ratione objecti duplex, nempe consideratio 1. vocum singularum, 2. phrasium conjunctarum.“ 10 Vgl. Sp. 496: „Ad utrumque hoc necessario pertinet, tum significationum cognitio, tum certae significationis ad praesentem locum accommodatio.“ 11 Vgl. Sp. 496 f.: „Etsi enim distincte proponuntur duo ista interpretationis media & adminicula, in usu tamen sunt coniunctissima, ita ut loquelae sanctae consideratio mox contextui ipsi, & contextus vicissim mox illi inservire possit ac debeat.“ 12 Vgl. zum ganzen Abschnitt bis hierhin Sp. 496 f.
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Glassius’ exegetisches Werk
griechischen Spracheigentümlichkeiten notwendig, für die es ein Regelwerk gibt, wofür er wiederum auf die Grammatica und auf die Rhetorica verweist.13 Ausführlicher noch als zur consideratio der sprachlichen Phänomene leitet Glassius in Sectio II. dann an zum Gebrauch des zweiten grundlegenden Interpretationsmediums, der Sichtung der Realia selbst und ihrer Kontexte: „De altero interpretationis Scripturae medio, quod est rerum ipsarum & contextuum consideratio.“14 Auch hier unterscheidet er eine allgemeine und eine spezielle Variante. Das medium generalis der Schriftinterpretation ist die tägliche Lektion der Schrift in einer kontinuierlichen Ordnung, auf die er nicht weiter eingeht, für die er aber wiederum auf die Ausführungen in Gerhards „Methodus“ hinweist.15 Die Schrift interpretation widmet sich insbesondere der Klärung des Verständnisses dunkler Texte der Schrift und wird von Glassius auf den Nenner gebracht: „Scripturarum sacrarum collatio“.16 Diese collatio ist verzweigt in eine „collatio remota“ und eine „collatio propinqua“. Bei der collatio remota handelt es sich darum, daß eine umstrittene und zweifelhafte Schriftstelle mit der analogia fidei abgeglichen und auf diese hin bzw. von dieser her geklärt wird.17 Schriftgrund für dieses Verfahren ist Röm 12,6. „Est autem fidei analogia seu regula nihil aliud, quam summa quaedam caelestis doctrinae, ex apertissimis Scripturae locis collecta, cujus partes duae sunt: Prior de fide, cujus capita praecipua exponuntur in Symbolo Apostolico: Posterior de charitate, cujus summam explicat Decalogus: utramque complectitur Apostolus 2. Tim. 1,13.“18 Die Analogie des Glaubens ist von solch großer Bedeutung, daß Glas13 Vgl. Sp. 497 f. 14 Sp. 498. 15 Vgl. Sp. 498: „Est & haec duplex: Generalis & specialis. Generalem nomino, qua integra Scriptura sacra, continuo ordine, & quotidie legitur. Quae lectio quomodo sit instituenda, vide in Methodo studii Theolog. D. Gerhard part. 3. sect. 1. cap. 2. p. 143. seqq.“ Hierzu und allgemein zur Einheit von „eruditio und pietas“ in der Orthoxie, vgl. Steiger, Philologia, S. 66–74. 16 Sp. 498. Zur theologischen Relevanz der „hermeneutisch verbindliche[n] Kraft des Zitats“ vgl. Renate Steiger, „Mit Jsaac kommst du gebunden […].“ Die Isaak-Christus-Typologie in der lutherischen Passionsbetrachtung der Barockzeit – Eine auslegungsgeschichtliche Studie, in: Johann Anselm Steiger, Ulrich Heinen (Hg.): Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der frühen Neuzeit, Berlin/New York 2006 (= AKG 101), S. 545–639, hier S. 554 f. mit dem Zitat a. a. O., S. 554. 17 Vgl. Sp. 498: „Remota est, qua textus controversus & dubius cum fidei analogia confertur, ad eamque exigitur.“ 18 Sp. 498. In der Kurfürstenbibel lautet Röm 12,6 mit den entsprechenden Erläuterungen: „Hat jemand Weissagung / (die Gabe die Heilige Schrifft auszulegen / 1. Cor. 14. v. 29.) so sey sie dem Glauben ähnlich / (er sehe wol zu / daß seine Auslegung mit den Haupt=Artickeln des Christlichen Glaubens / und mit den klaren Sprüchen der Heiligen Schrifft / in welchen diesselbe gegründet sind / übereinstimme / und denselben nicht zuwider lauffe […])“
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sius für ihr rechtes Verständnis als doppeltes Kriterium die Klarheit oder Eindeutigkeit sowie die Integrität oder Widerspruchslosigkeit aufstellt.19 Die klaren und aufgrund solcher Klarheit die Lehre begründenden Stellen der Schrift konstituieren eine güldene Kette („catena aurea“) von Glaubenslehren, die bei der Klärung dunkler Stellen der Schrift zur Anwendung gebracht werden muß. So kann beispielsweise die bei Paulus in großer Breite klar entfaltete Rechtfertigung nicht durch den dunkleren Jakobusbrief in Frage gestellt werden. Vielmehr führt der Abgleich des dunkleren Textes mit der hellen Lehre von der Rechtfertigung zur Schlußfolgerung, daß bei Jakobus ein anderer Begriff von Glauben und Rechtfertigung vorliegt als bei Paulus.20 Beispiele für Verletzungen der Widerspruchsfreiheit der regula fidei sieht Glassius bei den Arianern, wenn diese von der Lehre der göttlichen Wesenseinheit her die Trinität der Personen und die wahre Gottheit des Sohnes bekämpfen, obwohl diese aufgrund klarer Aussagen des Geistes zu glauben sind, und bei den Calvinisten, wenn diese die Lehre von der menschlichen Natur Christi gegen die durch die Schrift bezeugte substantielle Gegenwart seines Leibes und Blutes im Abendmahl wenden, obwohl nach der Schrift beides zu glauben ist.21 Dem gegenüber bezeichnet die collatio propinqua die Betrachtung eines Textes in seiner gesamtbiblischen Intertextualität, dies wiederum zum einen bezogen auf den unmittelbaren Kontext, zum anderen auf die jenseits des unmittelbaren Kontextes aufzusuchenden Parallelstellen.22 Schon bei Augustinus wie auch bei den Rabbinen sei zu lernen, daß sich der Sinn eines auszulegenden Textes unter Beachtung der „antecedentia & consequentia“ leicht erschließe.23 Schimpflich 19 Vgl. Sp. 498 f.: „Ad hanc analogiam fidei recte intelligendam pertinent Theologorum certi & firmi canones: 1. Nullum est fidei dogma, quod non alicubi propriis & perspicuis verbis in Scriptura sacra proponatur. […] 2. Caeterum monent & hoc Theologi, quod regula fidei acceptanda sint integra, neque ejus partes sibi invicem opponendae sint: seu, quod idem est, quod unum fidei dogma, quod claris & perspicuis verbis a Spiritu sancto in Scripturis proponitur, non sit oppugnandum ex alio fidei dogmate, cujus itidem clara & perspicua in Scripturis extat definitio.“ 20 Vgl. Sp. 498 f. mit dem Fazit Sp. 499: „Qvomodo autem locus Jacobi explicandus sit, docet ipsa textus probe inspecta, per fidem nimirum fidei professionem externam; per justificationem ejus exteriorem inter homines declarationem ibi intelligi.“ 21 Vgl. Sp. 499. 22 Vgl. Sp. 499/504: „Propinqua Scripturarum collatio est, qua textus explicatione indigens confertur, vel cum textu continuo & coniuncto, vel cum textu separato & disiuncto. I. In collatione PRIORI, textus interpretandi antecedentia & consequentia (quae ad eandem materiam vel directe, vel indirecte & per occasionem pertinent) saepe & accurate sunt perlustranda ac pensitanda. “ / „II. In collatione POSTERIORI, loci, uti vocantur, paralleli & se mutuo respicientes, iuxta se ponuntur & expenduntur.“ Es folgt a. a. O., Sp. 504 ein Origeneszitat: „Facilius in Scripturis quod quaeritur, invenitur, si ex pluribus locis, quae de eadem re scripta sunt, proferantur.“ 23 Vgl. Sp. 499 f.
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sei es, so die Rabbinen, vom Gesetz zu urteilen, wenn man noch nicht das ganze Gesetz gelesen hat.24 Beachtet werden müssen nun bei dieser collatio zum einen die Ordnung, die sich aus der Betrachtung der Textteile nach den Regeln der Dialektik ergibt, die Glassius an dieser Stelle nicht weiter ausführt, durch deren Erwähnung er aber die Brücke zur Logica sacra schlägt, zum andern die Umstände, deren sieben er wiederum in einem Distichon vorstellt: „Sunt autem in collatione hac praecipue attendenda tum ordo, tum circumstantiae. Ordo continet Dialecticam observationem membrorum orationis. Circumstantiae variae sunt, quae ad haec capita, disticho inclusa, referri queunt: Quis: Scopus: Impellens: Sedes: Tempusque: Locusque: Et modus: Haec septem Scripturae attendito Lector.“25 Mithin ist hier wahrzunehmen, daß die consideratio circumstantiae, hinsichtlich welcher Constantin Plaul bei August Hermann Francke (1663–1727) das Vorliegen „einer hermeneutikgeschichtlich frühen Form dessen“ zu erkennen meint, „was später unter dem Stichwort der historischen Interpretation firmieren sollte“,26 bereits bei Glassius zu finden ist, der hierfür wiederum selber an viel ältere Traditionen anknüpfen kann.27 Der erste, durch das Fragepronomen „Quis“ markierte Umstand bezieht sich auf das im Text sprechende oder handelnde Subjekt. Dies ist nicht nur angesichts der Beobachtung zu würdigen, daß der Geist in der Schrift auch Teufel und Gottlose mit ihren Lästerungen zu Wort kommen läßt, die nicht die Wahrheit reden. Besonders ist nach Glassius zu beachten, daß bei den Propheten ein häufiger Wechsel sprechender Personen in ein und demselben Kontext begegnet, so daß bisweilen Gott Vater, bisweilen Gottes Sohn, bald die Kirche und bald wieder ein Prophet als Sprecher eingeführt werden.28
24 Vgl. Sp. 500: „Turpe est de lege judicare, tota lege nondum inspecta.“ 25 Sp. 500. 26 Constantin Plaul, August Hermann Francke. Manuductio ad lectionem Scripturae Sacrae (1693) und Praelectiones hermeneuticae (1717), in: Oda Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016, S. 663–675, hier S. 672. 27 Vgl. Werner Alexander, Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 19: „Bekanntlich gehörte die Analyse solcher Nebenumstände schon im Mittelalter zu den festen Bestandteilen exegetischer Methodik […], wobei die hermeneutischen Vorfragen analog zur rhetorischen Inventionstopik für die narratio und argumentatio (quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando) entwickelt werden […].“ Vgl. a. a. O., S. 104. Die von Alexander genannten Fragepronomen finden sich wörtlich bei Francke (vgl. Plaul, Francke, S. 672). 28 Vgl. Sp. 500 f. Glassius verweist für letzteres auf folgende Stellen: Ps 2, Jes 63,1 ff., 49,14 f. und 51,11 ff.
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Am ausführlichsten behandelt Glassius den Skopus, dessen theologische Relevanz er zunächst e negativo mit Hinweis auf 1Tim 1,7 herausstellt, wonach die Verführer sich dadurch auszeichnen, daß sie selbst nicht merken, wovon sie sprechen. Von dieser Antithese her müsse sorgfältig das Ziel jedes beliebigen Kapitels oder einer Stelle der Schrift jeweils im Auge behalten werden.29 Die Skopuslehre wird in dreierlei Hinsicht entfaltet: „Considerari autem potest Scripturae scopus tripliciter: 1. Universaliter, […] 2. Communiter, […] 3. Singulariter […].“30 „1. Universaliter, quatenus libri sacri ad unicum eundemque scopum omnes collineant, qui est Christus Servator.“31 So lernt Glassius bei Augustinus, beruft sich aber sogleich auf Joh 5,39 und verweist weiter auf Lk 24,44, Apg 10,43, 1Kor 2,2 und Offb 19,10.32 Dieser Hinweis auf Christus als auf den Universalskopus der Schrift wird von Glassius präzisiert33 und gegenüber falschen Verständnissen abgegrenzt. Wenn in den Schriften alles auf Christus bezogen werden soll, sei das nicht so zu verstehen, als ob überhaupt in allen Worten und Sprüchen der Schrift explizit über den Mittler Christus gehandelt werde. Vielmehr gehe es zum einen darum, daß viele Aussagen der Schrift, insbesondere des Alten Testaments, solche Aussagen sind, die auf den ersten Blick etwas anderes darzubieten scheinen, bei sorgfältiger Auslegung in der Furcht des Herrn aber entweder ausdrücklich oder typologisch über den Heiland sprechen. Solche Aussagen sind genau zu erforschen, und Christus ist in ihnen zu suchen. Neben einem Augustinuszitat beruft Glassius sich hierfür auf ein anonymes Zitat, wonach die heiligen Bücher so gelesen werden müßten, als seien sie mit dem Blut Christi geschrieben.34 Zum andern gilt, 29 Vgl. Sp. 501: „De seductoribus Paulus dicit 1. Tim. 1. v. 7. quod non attendant, qua de re loquantur, neque quid de ea affirment vel negent. Ex antithesi igitur vult nos accurate observare scopum cuiuslibet capitis vel loci Scripturae sacrae.“ 30 Sp. 501 f. 31 Sp. 501. 32 Vgl. Sp. 501: „Omnia quae scripta sunt in sacris literis, ad Christum referuntur, ait August. in Psal. 71. Inde conjungitur a Christo ipso Ioh 5, 39. & Scripturae diligens meditatio: scrutamini Scripturas; & Scripturae unicus ille scopus: Et illae sunt, quae testimonium perhibent de me. Confer etiam Luc. 24. v. 44. Act. 10. v. 43. 1. Cor. 2. v. 2. Apoc. 19. v. 10.“ 33 „Omnium scopus Christus est, quomodo intelligendum.“ So die Randbemerkung dazu auf Sp. 501. 34 Vgl. Sp. 501 f.: „Quando autem dicitur, quod in Scripturis omnia ad Christum referantur, non ita intelligendum, ac si in omnibus omnino Scripturae verbis & effatis proxime de Christo Mediatore agatur. […] Sed ita id accipiendum, 1. qvod multa Scripturae, praesertim Vet. Test. sint effata, qvae prima fronte aliud prae se ferre videntur: expensa autem & in Domini timore considerata, de Salvatore nostro vel expresse vel tupikw/j loquuntur: illa igitur perscrutanda, & Christus in iis quaerendus. Quo pertinet illud Augustinii tract. 9 in Ioh. Non sapit vetus Scriptura, si non Christus in ea intelligatur: Itemque, quod alius quidam: Biblia sacra (inquit) sunt legenda, ac si sanguine Christi per totum scripta essent.“
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daß alles, was in den Schriften vorgetragen wird, uns zuletzt zur Liebe Christi und auf die (von ihm) den Menschen gewährten Wohltaten hinführen soll als auf das höchste Ziel, von dem wie vom Ursprung oder einer Quelle her alles auf uns überströmt, was in den Schriften verheißen wird. Dieser allgemeine Skopus muß ebenso wie die Analogie des Glaubens beachtet werden, damit bei der Schriftinterpretation nichts vorgetragen wird, was gegen Christi Person, Amt oder Wohltaten gerichtet ist.35 „2. Communiter, quatenus quilibet Scripturae sanctae liber habet proprium scopum, ad quem explicandum omnia & singula capita faciunt.“36 Der Skopus, der dem jeweiligen Buch der Schrift zueigen ist, wird erkannt aus hingebungsvoller wiederholter Lektüre des jeweils ganzen Buches. Mitunter werde der Skopus im ersten Kapitel des jeweiligen Buchs aphorismusartig benannt. So werde der Skopus der Psalmen im Ps 1 ausgedrückt, in dem vom Glück der Frommen und vom Unglück der Unfrommen die Rede ist. Des Skopus des Sprüchebuchs sei enthalten in 1,7, wo die Furcht des Herrn als der Weisheit Anfang bezeichnet wird, der Skopus des Predigerbuches in 1,2, wo es heißt, alles sei eitel. Denn auf diesen Skopus werde alles bezogen, was Kohelet in eben diesem Buch überliefert.37 „3. Singulariter“ ist der eigentümliche Skopus kleinerer Textabschnitte in ihrem jeweiligen Kontext. Auch er muß an allen Stellen der Schrift, vor allem aber in Gleichnissen, aufgespürt werden, damit die Auslegung legitim ist.38 Als dritten zu beachtenden Umstand nach dem Subjekt und dem Skopus eines Textes nennt Glassius das Motiv des jeweiligen textinternen Schreibers oder Sprechers. So spreche Christus je nach dem, was ihn jeweils antreibt, anders zu den Hochmütigen als zu den Kleinmütigen. Auch Paulus trete je nach Anlaß an einer Stelle ganz anders auf als an einer anderen, so etwa, wenn er Timotheus in Apg 16
35 Vgl. Sp. 502: „2. Quod quaecunque in Scripturis proferuntur, tandem ad Christi amorem, & beneficia generi humano praestita, nos exerto quasi digito deducant, ut ad summum finem, a quo ut principio & fonte etiam omnia, quae in Scripturis promittuntur, ad nos promanant. Ut igitur ad analogiam fidei, ita etiam ad hunc scopum universalem semper est respiciendum, ne quicquam in interpretatione Scripturarum proferatur, quod Christo, ejusque vel personae, vel officio, vel beneficiis, adversum sit, atque ita ejus gloriam labefactet, & beneficia extenuet. Qua de re alibi plura.“ 36 Sp. 502. 37 Vgl. Sp. 502: „Is deprehenditur ex devota lectione & relectione integri libri. […] Interdum scopus in primo libri capite aphorismo aliquo eleganti exprimitur. Sic Psalmorum scopus exprimi videtur Psal. 1. quo docetur de felicitate piorum & infelicitate impiorum. Proverbiorum scopus continetur cap. 1, 7. Timor Domini est initium sapientiae. Ecclesiastis cap. 1, 2. Vanitas vanitatum & omnia vanitas. Hunc enim ad scopum omnia referuntur, qvae in isto libro Coheleth tradit.“ 38 Vgl. Sp. 502: „3. Singulariter, quatenus est scopus proprius huic vel illi Scripturae loco & contextui. Qui cum in omnibus Scripturae locis, tum vel maxime in parabolis solicite investigandus est, ut interpretatio sit legitima.“
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um der Schwachen willen beschneide, in Gal 2 aber die Beschneidung des Titus um der Abwehr der Gegner willen verbiete.39 Mit „Sedes“ bezeichnet Glassius den Umstand, wenn an einer bestimmten Stelle ein Sachverhalt vorsätzlich oder eher beiläufig behandelt wird. Die erkennbar vorsätzliche Behandlung von Glaubensartikeln an bestimmten Stellen macht diese zu „sedes ejus articuli“, die wiederum für die Darlegung der Lehre entscheidende Bedeutung haben. Wenn dieselben Themen an anderen Stellen beiläufig behandelt werden, so finden diese Stellen in den sedes ihr Maß, worin wiederum eine Anwendung der Regel der analogia fidei zu sehen ist.40 Auch die Beachtung der jeweiligen Zeit („Tempus“) und des jeweiligen Ortes („Locus“) sind für das Textverstehen von Bedeutung ebenso wie der „Modus“ des jeweiligen Redens, Schreibens oder Handelns.41 Abschließend behandelt Glassius als zweiten Aspekt der collatio propinqua den Abgleich eines bestimmten Textes mit seinen jenseits des unmittelbaren Zusammenhangs auffindbaren innerbiblischen Parallelstellen. Dieser Abgleich vollzieht sich wiederum entweder wechselseitig oder linear.42 Eine collatio reciproca liegt vor, wenn bestimmte Stellen an anderen Orten der Heiligen Schrift wiederholt werden. In diesem Fall müssen in der Auslegung diese Stellen im Verbund miteinander betrachtet werden, was u. a. die Wahrnehmung von Variationen schärft.43 Intertestamentarisch hat diese collatio sowohl hinsichtlich der typologischen Auslegung als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Weissagung und Erfüllung 39 Vgl. Sp. 503: „Impellens. Intelligentia dictorum ex causis sumenda est dicentis, Hilarii effatum est. Cum impellente autem causa occasio dictorum connotatur. Sic aliter Christus loquitur ad superbos ac praefractos Pharisaeos, aliter ad auditores cupidos veritatis, & demissos: Aliter salutis viam monstrat Pharisaeo, aliter Nicodemo; ille confidebat, se propriis viribus posse consequi regnum caelorum, hic vero suam miseriam agnoscens, Christo humiliter erudiendum se subjiciebat. Sic occasio diversa diversificat etiam Pauli factum: modo enim Timotheum in gratiam infirmorum circumcidit, Act. 16. modo Titum ob adversariorum contentionem circumcidi prohibuit. Gal. 2.“ 40 Vgl. Sp. 503: „Sedes, nempe alicuius materiae, thematis sive dogmatis fidei. Maxime enim in Scripturae explicatione dispiciendum, an aliquo in loco thema, argumentum, articulus fidei, & dogma tractetur ex professo, an incidenter. Si ex professo, is locus sedes eius articuli dogmatisve appellatur. E. G. Locus de creatione tractatur clare & ex professo Gen. 1. & 2. Locus de hominis corruptione & peccato originali Gen. 3. Psal. 51. Rom. 2. 3. & 7. Doctrina de iustificatione, Rom. 3, 4. Gal. 2, 3. de electione Eph. 1. 2. Tim. 1. de sacra Caena Matth. 26. Marc. 14. Luc. 22. 1. Corinth. 10. 11. Ex his itaque sedibus iudicandum est de his materiis. Quod si aliis in locis haec eadem themata tractentur incidenter, ad primarias sedes ea sunt exigenda & referenda, nec (si quaedam discrepantia in iis videtur contineri) contra propriam sedem sunt urgenda. Sed potest hoc etiam referri ad analogiam fidei, de qua paulo ante.“ 41 Vgl. Sp. 503 f. 42 Vgl. Sp. 504: „Estque haec collatio […] vel reciproca, vel alio directa.“ 43 Vgl. Sp. 504: „Omnes igitur ejusmodi loci in genuina interpretatione conjungendi. Interdum enim quaedam variationes evxhgh,sewj, tum brevitatis causa in talibus repetitis occurrunt.“
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besondere Bedeutung, wie Glassius ausdrücklich markiert: „Pertinet etiam huc collatio typi cum antitypo, & praedictionum in Veteri, cum earum complemento in N. T.“44 Eine collatio alio directa erkennt Glassius dort, wo es um auf den Ausdruck oder auf eine Sachaussage bezogene Parallelstellen geht, ein und derselbe Sachverhalt oder Lehrsatz an verschiedenen Stellen variierend wiederholt wird, wie es der Gelehrte in der Übereinstimmung von Gen 3,15 mit 1Joh 3,8 erkennt.45 Nach der hiermit abgeschlossenen Darlegung der media interna bietet Glassius kurze Hinweise auf die unter der Rubrik media externa zu fassenden christlichen und jüdischen Kommentatoren, die er jeweils in ältere und jüngere einteilt, womit die Auslegungen der „Väter“ einerseits und der Zeitgenossen andererseits gemeint sind. Für weitere Differenzierungen verweist er auch hier neben Luther46 auf den „Methodus“ von Johann Gerhard.47 Ein besonderes Anliegen ist Glassius die Berücksichtigung älterer wie jüngerer jüdischer Ausleger. So grenzt er sich ausdrücklich von jenen ab, die die Beschäftigung mit jüdischer Auslegung rundweg ablehnen, und distanziert sich vorsichtig, aber eindeutig, von Aussagen Luthers und des Hebraisten Johann Forster, die zu hart gegen die jüdischen Lehrer und rabbinischen Kommentatoren geurteilt hätten.48
44 Sp. 504. 45 Vgl. Sp. 504 f.: „Alio directa collatio est, qua locus datus cum aliis confertur, qui congruunt ei, vel paralleli sunt, tum quoad phrasin […] tum quoad sententiam & rem ipsam. Una enim eademque res, unum idemque doctrinae coelestis caput, saepius in sacris quandoque repetitur, […] Sic loco Gen. 3, 15. Semen mulieris conteret caput serpentis, convenit ille 1. Ioh. 3, 8. In hoc apparuit Filius DEI, ut dissolvat opera diaboli &c.“ 46 Vgl. Sp. 505: „Lutherus super Genes. c. 2. p. 27. Labores Patrum venerari decet, fuerunt magni viri, sed tamen homines, qui labi potuerunt, & lapsi sunt.“ Das Zitat findet sich wörtlich auch bei Gerhard, Tractatus, S. 362, Z. 3–5. Vgl. WA 42,91,26–30. 47 Vgl. Sp. 505. 48 Vgl. Sp. 505 f.: „[…] ita nec illorum laudandum est, ut mollissime dicam, praeceps iudicium, qui Christianis lectione eorum […] plane interdicunt, eorundemque scripta etiam exegetica ne cassa digna nuce aestimant. […] Et hoc limitationis quasi malagmate lenienda esse iudico verba B. Lutheri, sicubi durius in Iudaeorum Magistros invectus fuisse legitur: uti & Iohannis Forsteri Hebraei excellentis, quae in praefat. Lexici posita contra Rabbinorum Peruschim seu commentaria visuntur.“ Zu Forster vgl. Burnett, Hebraism, S. 97: „Johannes Forster was the only Christian Hebraist writer who sought complete independence from Jewish authorities in his notorious Dictionarium Hebraicum Novvum (1557). Over the course of his career, Forster had come to doubt the value of Jewish scholarship […]. Significantly, however, Forster continued to use the Targums to elucidate the meanings of words in his dictionary.“
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6.2 D ie intertestamentarische Hermeneutik in Glassius’ exegetischen Werken Steiger hat hinsichtlich des in der Philologia sacra von Glassius entfalteten Begründungsmusters für die typologische und allegorische Schriftauslegung den Terminus „Intertestamentarische Hermeneutik“ geprägt.49 Diese spielt in den exegetischen Werken des Thüringers eine überragende Bedeutung. Wie in seiner für die typologische Auslegung maßgeblichen collatio von Hebr 1,1, Gal 4,4, Spr 8,31, Offb 13,8 und Joh 5,39 deutlich wird, erkennt Glassius die theologische Begründung für die Aufgabe, Christus überall in der Schrift zu suchen, in seiner Selbstbindung bzw. Kondeszendenz in die sprachlichen Formen der Schrift, damit aber letztlich in der Ubiquität des Logos, der bereits vor seiner Inkarnation sich offenbart, indem er als die göttliche Weisheit (Spr 8,31) auf der gesamten Klaviatur der sprachlichen Formen der Schrift zu spielen in der Lage ist. Dabei leuchtet etwa im Zusammenhang des Hinweises auf Offb 13,8 auf, daß Person und Werk des inkarnierten Christus bereits untrennbar mit dem sich alttestamentlich verbergenden und entbergenden Logos verbunden sind, er sich „mit seinem Verdienst und mit seiner Passion den Vätern und Propheten des Alten Testaments teils durch feste Verheißungen, teils durch typologische Visionen eröffnet und voraus abgeschattet hat“.50 Für den Namen und damit die Person des Erlösers führt Glassius dies in seiner „Onomatologia Messiae Prophetica“ von 1624 vor, für das Werk und die Wohltaten Christi wiederum in der „Christologia Mosaica“, in der „Christologia Davidica“, aber auch in der Auslegung von Jes 63,1–7. Diese Werke sind verbunden mit den akademischen Stationen im Leben von Glassius. So gibt die 1624 im Druck erschienene Auslegung über Jes 63,1–7 seine Antrittsvorlesung an der Universität Jena aus dem Jahr 1621 wieder. Die Druckfassung der Christologia Davidica wiederum bietet zwischen der ersten und zweiten Disputation die Inauguralvorlesung dar anläßlich des Antritts seiner erneuten Jenaer Professur im Jahr 1638.51 Als Gegenstück ist die ebendort 1640 gehaltene Abschiedsrede im Anhang zur Christologia Mosaica abgedruckt und offenbar so auch im Anschluß an die vorangehenden Vorlesungen
49 Steiger, Philologia, S. 88. 50 A. a. O., S. 119 f. 51 Christologia Davidica, è Psalm. CX. conscripta (= CD), in: Glassius, Opuscula, S. 259–275: Oratio de Caussa Finali, Usu Fructuqve Sessionis Christi ad Dexteram Dei“, In amplissimo et freqventi Academiae consessu, sub auspiciis operarum publicarum habita Jenae d. 2. April. A. C. 1638. (a. a. O., S. 259)
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gehalten worden.52 Beide Reden nehmen Bezug auf die mit ihnen in der Druckfassung verbundenen Vorlesungen. In beiden Reden erzeigt Glassius seinem Lehrer und Vorgänger Johann Gerhard seine Ehrerbietung. Diese lateinischen Schriften erweisen sich somit aufgrund ihres biographischen Kontextes als akademisch-exegetische Grundlegung der später in den deutschsprachigen homiletischen Werken zur Anwendung gebrachten intertestamentarischen Hermeneutik. Zugleich markieren sie jeweils spezifische Aspekte dieser Hermeneutik, indem sie Christus als Skopus auch des Alten Testaments in den neutestamentlich auf ihn bezogenen Namen, Verheißungen und in der Figur des Keltertreters vor Augen führen. Es spricht einiges dafür, die Darstellung der Chronologie der akademischen Publikationen folgen zu lassen. Denn am Anfang steht die Auslegung des Keltertretermotivs nach Jes 63, das Glassius’ Autorschaft insofern umrahmt, als es dann bei der durch ihn besorgten Kurfürstenbibel als programmatisches Titelblatt wiedererscheint. Es folgt die Untersuchung zu den messianischen Namen im Alten Testament. Figur und Namen weisen auf die christologische Mitte der Schrift als Krippe Christi, die in den promissionalen Texten des Protevangeliums und des 110. Psalms ihre protologische und eschatologische Rahmung und Einbettung erfährt.
6.2.1 Christus als Skopus der Schrift: in pictura – Christus als Keltertreter 6.2.1.1 Das Titelkupfer der Weimarer Bibel Augenfällig wird der Zusammenhang der intertestamentarischen Hermeneutik mit der von Glassius geübten figürlich-multimedialen Schriftauslegung bei der Betrachtung des Titelkupfers der „Kurfürstenbibel“. Dieses hat zuletzt durch Franziska May eine Würdigung erfahren und bietet sich als Ausgangspunkt dar.53 Denn es gibt mehrere Gründe, dieses Titelkupfer prominent in eine Darstellung 52 Christologia Mosaica, è prioribus Capitibus Geneseos (= CM), in: Glassius, Opuscula, S. 185– 190: Valedictio Publica, Post habitam Dissertationem Qvintam Christologico-Mosaicam, 2. Octob. 1640. 53 Franziska May, Golgatha – Christus in der Kelter. Zu Entwicklung und Rezeption eines Bildmotives, in: Johann Anselm Steiger, Ulrich Heinen (Hg.), Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit (= AKG 113), Berlin/New York 2010, S. 129–159. Zum erweiterten kunstund musikhistorischen Kontext des Keltertreterbildes vgl. Renate Steiger, Jsaac, S. 561–580, mit der Abbildung des Titelkupfers der Kurfürstenbibel a. a. O., S. 563; ferner Johann Anselm Steiger, Christus pictor. Der Gekreuzigte auf Golgatha als Bilder schaffendes Bild. Zur Entzifferung der Kreuzigungserzählung bei Luther und im barocken Luthertum sowie deren medientheoretischen Implikationen, in: ders., Ulrich Heinen (Hg.): Golgatha, S. 93–127, hier S. 111–115, mit der Abbildung des Titelblatts und einiger Details a. a. O., S. 113, 115. Vgl. auch Abb. 3 in diesem Band (s. u., S. 865).
Die intertestamentarische Hermeneutik in Glassius’ exegetischen Werken
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der hermeneutischen Theologie Glassius’ mit einzubeziehen. Schließlich war er als Verfasser des Vorwortes zur Kurfürstenbibel, als Kommentator mehrerer biblischer Bücher und als Hauptredaktor wesentlich am Entstehungsprozeß dieser Bibelausgabe beteiligt. Insofern konnte das Bildprogramm des Titels nicht ohne sein Mitwissen entstanden sein. May weist darauf hin, daß der wie Glassius zum engen Kreis um Herzog Ernst gehörende Berater Sigismund Evenius (1585–1639) nicht nur die Anregung zur Herausgabe der Bibel gegeben hatte, sondern auch den Entwurf des Titelkupfers anfertigte, den wiederum nach Auskunft von Georg Wolfgang Panzer „Christian Richter (Ende 16. Jh.–1667) ausführte und der Stecher Johannes Dürr (ca. 1600–1663) auf die Druckplatte brachte“.54 Zudem gehört Glassius zu jenen Standespersonen, die im unteren Bilddrittel auf der rechten Seite des auf die aufgeschlagene Bibel zeigenden Heilandes zu sehen sind.55 Die Aussagekraft des Titelkupfers für die Hermeneutik besteht in seiner Multikontextualität bzw. in seinem intertestamentarischen, heilsgeschichtlichen, christologischen, skriptologischen und ekklesiologischen Gefüge. „Seiner Bildstruktur nach handelt es sich bei diesem Frontispiz um ein Simultanbild, in dem thematisch korrespondierende oder in Korrespondenz gesetzte Personen und szenische 54 May, Golgatha, S. 144. May bezieht sich auf Angaben in: Georg Wolfgang Panzer, Geschichte der Nürnbergischen Ausgaben der Bibel von Erfindung der Buchdruckerkunst an bis auf unsere Zeiten, Nürnberg 1778, S. 189–198, hier S. 195 (vgl. a. a. O., S. 144, Anm. 34). Richter war Pegnitzschäfer, ein erneuter Hinweis auf die enge Verflechtung des Glaß’schen Werkes bzw. seiner Rezeption mit dem Wirken dieser Nürnberger Sprachgesellschaft. Am unteren Rand des Titelkupfers finden sich die Inschriften „C Richter Delineavit“ und „Johann Dürr sculpsit“. 55 May identifiziert die hier zu sehenden Standespersonen wie folgt: „Ganz links steht Kaiser Ferdinand III. (1608–1657) mit den Reichsinsignien (er regierte von 1637–1657), neben ihm ist ein Ungar auszumachen. Es liegt die Vermutung nahe, daß es sich bei dieser Person um den Türkenbesieger Georg I. Rákóczy (1591–1648) handelt. […] Auf Rákóczy folgt Herzog Ernst, der Initiator der ‚Biblia‘, der Kurfürstenornat trägt, und als letzte der Herrscherpersönlichkeiten erscheint sein jüngster, allerdings bereits verstorbener Bruder Bernhard (1604–1639), als bedeutender Feldherr in Kürassieruniform. Diese Gruppe wird ergänzt durch maßgebliche Vertreter der lutherischen Orthodoxie. Im Vordergrund ist die Rückansicht eines Geistlichen zu sehen, der durch seine Stellung den Betrachter in das Geschehen einführen soll, er ist als ein solcher durch Mantel und Kappe erkennbar. Das Profil läßt vermuten, daß es sich bei dieser Person um Johann Gerhard handelt, der den Betrachter zu Christus und zur Heiligen Schrift führt. Für diese Vermutung spricht, daß links neben Bernhard Gerhards Schüler Salomon Glassius deutlich erkennbar ist.“ (May, Golgatha, S. 147, Anm. 41) NB: Die Tatsache, daß das Titelkupfer mit seinem theologischen Programm auch den Kaiser einbezieht, zeigt, daß die spätere Hoffnung Catharina Regina von Greiffenbergs darauf, den österreichischen Kaiser für die lutherische Reformation zu gewinnen, jedenfalls der Sache nach an die Motivwahl des in Nürnberg, der langjährigen Wirkungsstätte der Adelsfrau, gedruckten Titelkupfers anknüpfen konnte. (Vgl. dazu Traugott Koch: Die „Passions-Betrachtungen“ der Catharina Regina von Greiffenberg im Rahmen ihres Lebenslaufes und ihrer Frömmigkeit, [= FSÖTh 137], Göttingen 2013).
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Handlungsvorgänge aus verschiedenen historischen und zeitlichen Kontexten in einer Darstellung zugleich realisiert und präsentiert werden.“56 Als „Titelblatt“ ausgewiesen ist die um des umgebenden Bilderreichtums willen verkleinerte Darbietung des „Titulus der Bibel“ sowie des Impressums als Aufschrift auf einem Antependium an einem „auf einem eigenen Sockel stehenden Lesepult“.57 Die Platzierung dieses Pultes in einem „apsidiale[n] Chorquadrat“58 verleiht dem Bild eine räumliche Dimension, so daß die im unteren Bilddrittel und die in den oberen zwei Bilddritteln versammelten Gläubigen eine gegliederte Einheit formen: die Kirche der Irdischen im Vordergrund und die Kirche der Vollendeten – quasi als „Wolke der Zeugen“ – im Hintergrund. Dem Titulus in der Bildmitte entspricht in der unteren Szene die wie auf einem Altar aufgeschlagene Bibel, auf die der mit einem Nimbus geschmückte Christus mit dem Finger der rechten Hand zeigt. Die Inschrift der linken Bibelseite bietet Ps 40,859 dar, jene auf der rechten Seite Joh 5,39.60 Dem lehrenden Christus unterhalb bzw. vor dem Titulus steht oberhalb bzw. räumlich hinter diesem eine Darstellung des Christus in der Kelter auf einem Hügel gegenüber, der mit der Siegesfahne in der Hand über die zu seinen Füßen liegenden Verderbensmächte triumphiert, während zugleich aus seinen fünf Wunden Blutstrahlen sich auf die umstehenden Gestalten aus dem Alten und aus dem Neuen Testament ergießen. Das Geschehen aber vollzieht sich vor bzw. unter der geöffneten Herrlichkeit des Himmels. Die Deutung des Bildes erfolgt durch eine collatio von vier Bibelstellen: Hebr 61 13,8 in einem in die Gloriole eingeschriebenen Bogen oberhalb der Kelter, Jes 63,362 als Begründung der Verbindung des Keltertreterbildes mit Christi Passion auf dem Golgathahügel unterhalb der unterlegenen Verderbensmächte, rechts und links davon wiederum Sach 9,1163 und Hebr 9,1464 als alt- und neutestamentliche Bezeugungen der Heilswirkung des Blutes Christi. Steiger kommentiert dazu: „Betrachtet man diesen Kupferstich im Kontext der zeitgenössischen Auslegungsund Predigttradition, zeigt sich in der kunstvollen Art und Weise der Darstellung des Sohnes Gottes die für die lutherische Sicht der Dinge typische Dialektik von 56 May, Golgatha, S. 151. 57 A. a. O., S. 147. 58 A. a. O., S. 150. 59 „Psalm 40. v. 8. Im Buch ist von mir geschriben.“ 60 „Johan. 5. v. 39. Suchet in der Schrift Dann die Zeiget von mir.“ 61 „Jesus Christus gestern vnd heute vnd in alle Ewigkeit. Heb. 13. v. 8.“ 62 „Esa: 63. v. 3. Ich trette die Kelter alleine. Vnd ist niemandt vnter den Völcker mit mir. darumb ist ihr Vermögen auff mein Gewandt gesprützet.“ 63 „Zach: 9. v. 11. Du leßest durchs Blut deines Bundes aus deine Gefangene.“ 64 „Heb. 9: v. 34. Wie viel mehr wird das Blut Christi vnser Gewißen reinigen von den todten Wercken.“
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höchster Hoheit und tiefster Niedrigkeit, von majestas und exinanitio des Gekreuzigten. Es ist der in der Kelter des göttlichen Zornes und dem ewigen Strafgericht Gottes gekelterte Sohn Gottes, der durch eben dieses Leiden und durch seinen Tod die Verderbensmächte Teufel, Tod und Sünde ein für allemal überwindet. Nicht erst der auferstandene Christus ist der Sieger, sondern der Gekreuzigte ist es, der den durch den Kreuzstab und die Siegesfahne symbolisierten Sieg davonträgt.“65 Dieser Sieg kommt durch die applicatio des den fünf Wunden des Keltertreters entströmenden Blutes den Gläubigen des Alten wie des Neuen Testaments zugute, die rechts und links neben und vor ihm aufgereiht sind und die zugleich die Vielzahl der Protagonisten der „Biblia“ bzw. die „Wolke der Zeugen des seligmachenden Glaubens“ (Hebr 12) repräsentieren. Von der heilsvermittelnden Besprengung mit dem Blut Jesu Christi ist neutestamentlich beispielsweise in 1Petr 1,2 und Hebr 12,24, implizit auch in Offb 7,14 die Rede.66 Prominente Personen sind mit Namen und zum Teil mit Attributen markiert, so daß sich daraus implizit eine erweiterte collatio von Bibelstellen ergibt. Adam und Eva lassen dabei an das Protevangelium in Gen 3,15 denken. Mose mit den Gesetzestafeln (nach Ex 20) und Aaron als Hoherpriester (nach Hebr 9 f.) deuten auf jeweils spezifische Weise auf die Notwendigkeit des christologischen Heilswerks voraus. Isaak als Kind mit einem Bündel Holz unter dem Arm zu Füßen seines ihn mit der rechten Hand berührenden Vaters repräsentiert einen alttestamentlichen Typus der Kreuzigung Christi (Gen 22). Noahs Arche wiederum weist typologisch voraus auf die Taufe (1Petr 3,20 f.), durch die nach neutestamentlichem Zeugnis das am Kreuz vollbrachte Heilswerk Christi seligmachend den Gläubigen appliziert wird. König David mit Zepter und Harfe hat ebenfalls als alttestamentlicher Typus Christi sowie als Verkünder seiner Passion etwa im Psalter zu gelten. Auf der anderen Seite stehen die gläubigen Sünder des Neuen Testaments, darunter der Schächer am Kreuz, Petrus, Paulus, Johannes der Täufer und Maria Magdalena. Deren Salbgefäß zu ihren Füßen weist auf das Begräbnis Christi voraus, das Lamm zu Füßen des Täufers auf Christi Passion. Mit dem Schwert in der Hand des Paulus und den Schlüsseln in der Hand des Petrus wird wiederum die den Aposteln anvertraute Vollmacht angedeutet, die durch das Blut Christi vollbrachte Versöhnung mit Gott nun auch in der Evangeliumsverkündigung und im Zuspruch der Sündenvergebung (Mt 16,19, 18,18 und Joh 20,23) zu applizieren. Einbezogen in dieses Gesamtgeschehen aber wird die im unteren Bilddrittel zu sehende zeitgenössische Menschenmenge des 17. Jahrhunderts aus allen Ständen 65 Steiger, Philologia, S. 129. 66 Nicht zu lösen sind diese Aussagen von jenen über die heilsstiftende Wirkung von Christi am Kreuz vergossenem Blut wie Röm 3,25, 5,9, 1Kor 11,25, Eph 1,7, 2,13, Kol 1,20, 1Petr 1,19, 1Joh 1,7, Hebr 9,14, 10,19, 13,12 und Offb 1,5.
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durch den sich selbst anhand der aufgeschlagenen Schrift lehrenden auferstandenen und daher lebendig in seiner Kirche gegenwärtigen Christus. Der Nutzen der durch die Schriftworte vermittelten applicatio seines Leidens und Sterbens kommt durch eine weitere Bibelstelle am Fuß bzw. Fundament des Podestes zum Ausdruck, auf dem die Bibel liegt: „Wie viel nach dieser Regel einher gehen, über die sei Friede und Barmherzigkeit“ (Gal 6,16). Das Medium, durch das die gegenwärtig Gläubigen Anteil an der Heilstat Christi gewinnen und so gleichsam in die Blutbesprengung der Kirche aller Zeiten mit einbezogen werden, ist also die geöffnete Schrift, durch die Christus sich selbst verkündet und die daher alleinige Richtschnur des Glaubens ist, wie durch ein vor dem Podest hängendes Lot visuell verdeutlicht wird. Wenn es darüber hinaus stimmt, daß, wie Franziska May meint, neben dem lehrenden Christus Glassius selbst zu sehen ist und in seiner Gruppe auch schräg von hinten Johann Gerhard, „der den Betrachter zu Christus und zur Heiligen Schrift führt“,67 dann ist im Titelkupfer nicht nur eine Abgrenzung gegenüber römischem Amtsverständnis zu erkennen,68 sondern auch positiv die Rolle der Inhaber des evangelischen Predigtamts angedeutet. Diese vollziehen durch ihre Fokussierung auf den sich selbst in der Schrift und durch die Schrift lehrenden Christus nichts anderes als die Einübung und Fortsetzung der Evangeliumsverkündigung, wie Christus sie seinen Aposteln und den Predigern als deren Nachfolgern anvertraut hat. Über die Umsetzung dieser Aufgabe – auch in Gestalt der Edition der vorliegenden Bibelausgabe – gibt Glassius in seiner Vorrede zur Kurfürstenbibel und darüber hinaus in vielen amtstheologisch fokussierten Predigten seiner Spruchpostille Aufschluß.69 6.2.1.2 Die Vorlesung über Jesaja 63,1–7 May weist darauf hin, daß die Herausgeber der Kurfürstenbibel mit der Verbindung des Keltertretermotivs aus Jes 63 mit dem Golgathageschehen in einer bis in die früheste Zeit der Kirche zurückreichenden und auch kunstgeschichtlichen Tradition stehen.70 Daß es sich hierbei aber nicht um einen unreflektierten Tradi67 May, Golgatha, S. 147, Anm. 41. 68 So betont bei Steiger, Philologia, S. 129 f.: „Entscheidende Bedeutung kommt hierbei zudem dem Umstand zu, daß das dem Sohn Gottes in der Kelter ausgepreßte Blut – anders als in zeitgenössischen Darstellungen römisch-katholischer Provenienz – allen Umstehenden, den Gestalten sowohl des Alten als auch des Neuen Bundes, direkt zukommt, d. h. ohne eine Vermittlung durch kirchliche Amtsträger.“ Vgl. May, Golgatha, S. 148 f. 69 Vgl. unten Kap. 7.1.2.4; 7.2.3.3. 70 May zitiert Tertullian und Gregor den Großen (Golgatha, S. 130 f.; zur vorreformatorischen ikonographischen Tradition vgl. a. a. O., S. 131–142). Marten verweist auf Clemens Alexandrinus,
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tionalismus handelt, erweist sich darin, daß Glassius an einer prominenten Stelle seiner Vita sich der Aufgabe stellte, die passionstheologische Auslegung von Jes 63,1–7 gegenüber konkurrierenden Lesarten exegetisch zu begründen. So trägt die 1624 besorgte Veröffentlichung seiner Jenaer Inauguralvorlesung aus dem Jahr 1621 den Titel: „Colloqvii Passionalis Seu Capitis LXIII. Es. versuum priorum sex, qvibus suavissimum Christi de sua passione & victoria; cum Propheta colloqvium describitur, pia & orthodoxa explanatio“.71 Die Entstehung des Titelkupfers im engen Umkreis, ja unter auch visueller Einbeziehung der Person von Glassius, wie May dies darstellt, ist also kein Zufall, sondern sachlich bereits durch die Ausführungen seiner Inauguralvorlesung begründet. Das Titelkupfer spiegelt den Aufbau der Vorlesung wider. Diese gliedert sich in die Fragen nach dem Subjekt der Prophetie in Jes 63, nach dem in Form der explicatio des Textes zu erhebenden sensus des Keltertretermotivs (im Titelkupfer durch die Bibelstellen im oberen Drittel erläutert) und nach dem usus für die Gläubigen. Der Nutzen wird im Bild intertestamentarisch durch die Blutbesprengung und rezeptionsästhetisch durch die Unterweisung der Zeitgenossen durch Christus zum Ausdruck gebracht. So stößt man auf den glücklichen Umstand, daß Glassius zu dem Bildprogramm des Titelkupfers der Kurfürstenbibel selber eine theologische Deutung darbietet. Eingebettet ist diese in eine Darlegung der intertestamentarischen Hermeneutik auf der Grundlage einer collatio von Bibelstellen. Als Belege für die Annahme, daß Christus Ziel und Zentrum der ganzen inspirierten Schrift ist, nennt der Thüringer Offb 19,10, Apg 10,43, Joh 5,39 und Lk 24,27.44.72 Um die Erkenntnis Christi genau aufzuschreiben bzw. die Lehre vom Messias und seinem Werk vor den Augen der Menschen darzulegen und sie so den Herzen einzuprägen, hätten die heiligen Schreiber verschiedene Mittel gebraucht: „Illius notitiam ut cordibus hominum penitissimè infigerent & accuratè inscriberent sancti Vates, variis usi leguntur modis. Qvandoqve enim apertis verbis73 […], qvandoqve visionibus & signis […],74 qvandoqve actionibus certis […],75 qvandoqve ovvnomaqesi,a| seu pro-
der die christologische Deutung des Blutes in Gen 49,11 mit Jes 63,1–7 verbinde (Buchstabe, S. 71, Anm. 186). 71 Glassius, Opuscula, S. 593–620. 72 Colloqvii Passionalis […] explanatio, in: Glassius, Opuscula, Leiden 1700, S. 593–620 (= CP), hier S. 593. Der Titel spricht von sechs Versen, ausgelegt werden nach heutiger Zählung 1–7. 73 A. a. O., S. 593: „[…] qvae partim formâ futurâ, Esa. XI. 1. seqq. c. XXXII. 1. Gen. XLIX. 10. partim verò, & utplurimùm formâ praeteritâ, ad indicandam rei futurae certitudinem, proponunt, Esa. IX. 6. c. LIII. 4. seqq. c. LX. 1. seqq. &c.“ 74 „Esa. VI. 1. seqq. Conf. Joh. XII. 41.“ 75 „Jon. II. 1. 11. Conf. Matt. XII. 40.“
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priorum nominum impositione […],76 qvandoqve votis & optatis […],77 qvandoqve etiam pulcris colloqviis, doctrinam de Messia, ejusqve officio & beneficiis, oculis hominum exponunt, cordibusqve inculcant.“78 Zu den zuletzt genannten schönen Kolloquien zählt Glassius zum einen das Hohelied, in dem es um die gegenseitige Liebe zwischen Christus und der Kirche gehe, und zum andern Jes 63,1–7, wo die Passion Christi bzw. deren Hauptsache Gegenstand des Gesprächs sei.79 Abgelehnt wird diese christologische Deutung von Jes 63,1–7 von Calvin, Abraham Scultetus und Wolfgang Musculus, die hier einerseits Gott selbst als Rächer beschrieben sehen, der andererseits in ihrer Lesart lediglich die zeitnahe Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft ansagen wolle.80 Für eine „affirmative“ Beantwortung der Frage, ob es sich bei dem Träger des blutbesprengten Gewandes um Christus handele, kann Glassius aber nicht nur altkirchliche Ausleger wie Hieronymus, Origenes, Athanasius, Cyprian und Ambrosius, sondern auch einige reformierte Theologen nennen.81 Für die christologische Auslegung führt Glassius zwei Argumente an: „1. Textus sunafei,a & cum praecedentibus cohaerentia. […] 2. Collatio Novi Testamenti.“82
76 „Esa. VII. 14. c. IX. 7. Jer. XXIII. 8. c. XXXIII. 16.“ 77 „Gen. XLIX. 19. Psal. XIV. 7.“ 78 CP, S. 593. 79 Vgl. CP, S. 593 f.: „Qvorum modorum postremus tùm in Cantico Canticorum, tùm in praestituto capitis LXIII. Esaiae initio, maximè conspicuus est. Ut enim in illo amor Christi & Ecclesiae mutuus, ut & pleraqve Salvatoris Benignissimi beneficia: Ita in hoc, passio ejusdem amara, & jucunda, praesertim passionis clausula; utrobiqve pulchrâ hypotyposi & suavissimô dialogismô seu collocutione proponuntur.“ 80 Vgl. CP, S. 594 f.: „Negativam amplectitur mordicúsqve defendit Joh. Calvinus in comment. p. 206. cujus verba audire placet: Hoc caput (inqvit) violenter torserunt Christiani, qvasi ad Christum haec pertinerent, cùm Propheta simpliciter de ipso DEO pronunciet. Atqve finxerunt hìc rubicundum Christum, qvòd sangvinem suum in cruce fuderit. Atqvi nihil tale voluit Propheta. Simplex sensus est, Dominum hìc rubicundis vestibus prodire in populi conspectum, ut omnes intelligant, ipsum ultorem suorum ac vindicem esse. Et p. 603. Ridiculum esse, ait, ista referre ad Christum. Calvinum seqvitur, & ab ipso verba qvasi mutuatur Abraham Scultetus in idea concion. super Esaiam, cujus verba haec sunt: Qvi Christum finxerunt rubicundum hìc, sangvine propriô, qvem in cruce funderit, madentem, ii mentem Prophetae non tenent. Ante hunc Wolfg. Musculus etiam in comm. per omnia Calvino suo astipulatur [sic!], & simplicter de DEO liberante Judaeos ex captivitate Babylonica, omnia explicat […].“ 81 Vgl. CP, S. 595: „Affirmativam econtrà potior Christianorum Interpretum pars tuetur, inter antiqviores Hieronymus in h. l. Orig. in Matth: tr. XV. Athan. q. LXXVIII. Cypr. in symb. Apost. Ambr. de inst. virg. Lyran. in h. l. Inter recentiores, ii, qvi Lutherum seqvuntur, pleriqve: Inter Calviniani dogmatis asseclas, ipse Zwinglius, Oecolampadius, Pellicanus, Gvaltherus, Junius & Tremellius, Piscator, & Toflanus, qvi omnes à Calvini Judaica & singulari opinione non sine ratione discedunt. Pro affirmativa hac stabilienda faciunt.“ 82 CP, S. 595 f.
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Hinsichtlich der Einbettung der Keltertreterpassage im Kontext des Jesajabuchs verweist der Gelehrte vor allem auf die Worte Jes 62,10–12, in denen zunächst zur Wegbereitung für den Messias aufgerufen wird, wie einer collatio mit ähnlich lautenden Worten beider Testamente zu entnehmen ist, bevor dann von der Ankunft des göttlichen Heils die Rede ist, wofür ebenfalls Parallelstellen im Alten wie im Neuen Testament benannt werden können.83 Auf der anderen Seite aber könne für Calvins Auslegung ins Feld geführt werden, daß der Zusammenhang mit den nachfolgenden Abschnitten im Jesajabuch von der Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft handele.84 Diese Einrede beantwortet Glassius durch den Hinweis auf die in prophetischen Texten zu beobachtende Gewohnheit, innerhalb eines Abschnittes unversehens einen Übergang vom Typen auf den Antitypen vorzunehmen: „Attendenda Prophetarum consvetudo est, qvâ à typo ad antitypum de subito transire, & praesertim liberationi ex captivitate Babylonicae (qvae typus est liberationis spiritualis ex captivitate infernali per Messiam praestitae) mentionem Christi Servatoris intertexere non rarò solent.“85 Zur Bestätigung dieser Lesart verweist Glassius auf Jes 65,1, wo nach den Fürbitten um die Befreiung aus Babylon wiederum mit der universalen Berufung der Völker zum Heil ein Übergang „ad N. T. tempus“ in der prophetischen Rede vorliege.86 Die neutestamentliche Stelle, durch welche die christologische Lesart bestätigt wird, ist Offb 19,11.13.15, die mit den Motiven der Gerechtigkeit, des blutgetränk-
83 Vgl. CP, S. 595: „I. Cap. LXII. praeced. (cum qvo pericope praesens nexu insolubili cohaeret, cujus etiam pars à qvibusdam habetur) v. 10. ita habet: Transite, transite per portas, complanate viam, ô populi, sternite, sternite viam: qvae verba cum Esa. XL. 3. Mal. III. 1. collata, de venturo Messia loqvi liqvidò apparent, attestantibus Matthaeô, c. III. 3. Marcô, c. I. 2. Lucâ, c. III. 4. Johanne, c. I. 23. II. Post exhortationem ad viae complanationem, v. 11. cap. praeced. ipse adveniens introducitur Dominus (qvi idem est cum eo, qvem rubicundis vestibus c. LXIII. conspicit divinus vates) his verbis: Ecce Jehova audiri fecit ad extremum terrae. Dicite filiae Sion, Ecce Salus tua (%[ev.yI Ecce ipsum nomen JESU. Confer Act. IV. 12.) venit, ecce merces ejus cum ipso, & opus ejus coram eo: Qvae verba exactè congruunt cum verbis Esa. XXXV. 4. c. XL. 10. Zach. IX. 9. qvibus cum dictis si conferantur loca Novi Testamenti, cum primo qvidem Matth. I. 21. c. XI. 5. cum secundo Joh. X. 11. cum tertio Matth. XXI. 5. rursus de nemine alio, praeterqvàm de Messia promisso, sermonem esse evidenter liqvet.“ 84 Vgl. CP, S. 596: „Ceterùm posset pro Calvino qvis excipere, cohaerere eandem hanc prophetiam etiam cum seqventibus, & esse partem capitis LXIII. In posterioribus verò capitis hujus verbis de captivitate Babylonica, deqve liberatione ex eadem sermonem esse. De DEO igitur ex eadem captivitate redimente, in praestituto etiam textu agi.“ 85 CP, S. 596. Glassius bietet ebd. einen Querverweis auf die Behandlung dieses Phänomens in der Philologia sacra: „Videatur Philolog. sacra lib. I. Tract. IV. Sect. I. Can. VIII. “ 86 Vgl. CP, S. 596: „In capite sanè LXV. 1. post preces pro liberatione ex Babylonico carcere conceptas & fusas, ad N. T. tempus, & ad vocationem gentium universalem iterum à Propheta fit regressus, ut omni fide dignum habemus testem Apostolum, Roman. X. 20.“
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ten Gewandes und des Keltertretens angesichts des göttlichen Zornes zahlreiche inhaltliche Parallelen zu Jes 63,1–7 aufweist. Gleichwohl setzt Glassius sich mit den Einwänden des reformierten Theologen Abraham Scultetus (1566–1624) gegen diese collatio auseinander, der auf die Unterschiede zwischen beiden Schriftstellen abhebt. Diese Bedenken lassen sich aber nach Glassius überwinden, wenn neben der zwischen Vater und Sohn auch im Zorn gegen die Feinde bestehenden Einheit die Möglichkeit eines (heilsgeschichtlich bedingten) Gedankenfortschritts bei der neutestamentlichen Aufnahme der Passage vom universalen Angriff Christi auf die Feinde in seiner Passion hin zum partikularen Krieg gegen die Feinde der Kirche in Rechnung gestellt wird.87 Dennoch steht noch die Klärung der Frage aus, ob in Jes 63,1–7 auch von der Passion Christi die Rede sei, zumal eine ganze Reihe Ausleger bis hin zu Luther zwar eine christologische Deutung dieser Stelle bejahen, nicht aber eine Deutung auf die Passion vertreten.88 Glassius erkennt auch hier die Lösung darin, daß der scheinbare Gegensatz durch eine „subordinatio“ der Interpretationen überwunden werden kann. Dafür nimmt er eine doppelte Unterscheidung vor, zum einen zwischen dem bereits in der Erniedrigung Christi sich ereignenden Leidenskampf und dem in seiner Erhöhung sich vollziehenden Sieg über die Feinde, zum andern zwischen den geistlichen Feinden Christi und der Kirche als seines mystischen Leibes einerseits und deren real-geschichtlichen Handlangern in Gestalt der Tyrannen und Verfolger der Kirche andererseits.89 Damit ist die Deutung von Jes 63,1–7
87 Vgl. CP, S. 597: „Posset eqvidem qvis pro Sculteto hanc qvoqve adferre disparitatis in utroqve textu rationem: qvod ex nostra hypothesi Esa. LXIII. de Christi passione agatur, neqvaqvàm verò Apoc. XIX. Sed facile hoc est solutu: Nulla enim utrobiqve oppositio, sed subordinatio duntaxat. Esa. LXIII. de universali hostium à Christo in officio tàm Sacerdotali, ratione passionis, qvàm Regio, ratione subsecutae exaltationis devictorum, deletione agitur: Apoc. XIX. de particulari hostium Ecclesiae debellatione, ab eodem Messia capite Ecclesiae & Duce summo praestita. A thesi igitur ad hypothesin, ab universali includente ad particulare inclusum fit in loco Apocalyptico progressus: Qvae qvàm sibi non opponantur invicem, qvámqve subjecti utrobiqve identitas, eapropter non tollatur, Sole aestivô meridianô clariùs conspicitur. 4. Qvid verò sibi verba Sculteti ista volunt, Christum calcare lacum furoris & irae non suae, sed DEI omnipotentis? Qvasi verò alia Christi, alia DEI ira ac justitia esset, qvae sibi invicem opponerentur.“ 88 Vgl. CP, S. 598: „Qvidam enim de Christo gloriosè contra hostes Ecclesiae triumphante (ut Tollanus & alii) qvidam de Christo in caelum ascendente (ut Hector Pintus in com. h. l. ex Dionysio. Hieronymo, Cyrillo, Haymone) qvidam de Christo Synagogam Judaicam funditus exscindente (ut Lutherus tom. III. lat. Jen. in expl. h. l.) qvidam de Christo finaliter Ecclesiam redimente (ut Piscator Herbornensis, qvi tamen hìc inconstans est. In scholiis enim Latinis ad redemtionem, qvam diximus, finalem: in Germanica verò versione ad ipsam passionem refert) qvidam demum de Christo ad judicium gloriosè veniente (ut Lyranus in h. l.) exponunt.“ 89 Vgl. CP, S. 598: „Nos dictas interpretationes non oppositas, sed potiùs […] subordinatas esse, & amicè concordare, statuimus, sententiam nostram hisce proponentes theorematibus: 1. Distin-
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nicht auf die Passion Christi beschränkt, schließt diese aber als essentiellen Teil seines Heilswerks ebenso ein wie die daraus sich ergebenden Folgen im Stande seiner Erhöhung, weshalb Glassius als Fazit formulieren kann, Christus sei auch in seiner Passion Skopus, Kern, Schiffsbug und Achterdeck des prophetischen Spruches: „Sunto,mwj dicendo, CHRISTUS acerrimè in passione sua luctans, & victoriosè post passionem triumphans, omnémqve hostium potentiam frangens, oraculi nostri prophetici scopus & nucleus, prora & puppis est.“90 In seiner Auslegung des Abschnittes im engeren Kontext setzt Glassius bei der Ausgangsfrage des Propheten ein, der in bewundernder und um Klärung der Sachverhalte bemühter Absicht nach der Identität der auf ihn zukommenden Person fragt. Was den Ausgangspunkt des Kommenden betrifft, so urteilt Glassius aufgrund der Rolle Edoms als Feind des Gottesvolkes und der ebendort zu lokalisierenden Stadt Bozra im Einklang mit einem von ihm an vielen Stellen herangezogenen Schriftausleger: „Nos cum Dn. Brentio dicimus, sicut Edomitae significant generaliter omnes hostes populi DEI: ità & Bozra per synecdochen significare generaliter omnia loca, omnia imperia & regna hostium Ecclesiae, sive ii hostes sint spirituales, sive corporales & terreni.“91 Ergänzt wird diese Deutung Bozras und Edoms als Synekdoche für die Gottesfeinde im Stil einer inventio a nomine durch den Hinweis darauf, daß der Name Edom von der roten Farbe abgeleitet und daher in Jes 63,2 fast wörtlich bei der Beschreibung des Gewandes wieder aufgenommen ist.92 „Habitus sive vestitus“ des von Edom Kommenden bedenkt Glassius sodann hinsichtlich der Paradoxie, die sich dadurch auftut, daß die blutrote Farbe aufgrund von Stellen wie Ps 51,16, Ez 16,6, Jes 1,15, 4,5 und Jer 2,34 mit der Sündhaftigkeit des Menschen das Gegenteil von triumphierendem „decor“ anzeigt.93 Die Verwendung dieses Bildes vom mit Blut besprengten Kleid erfolgt daher zum einen als typologische Übertragung des Gegenbildes eines heroischen und im Kampf siegreichen Kriegers.94 Zum andern erkennt Glassius im prophetischen
guendum inter acerrimam Christi pugnam, & inter gloriosam ejusdem victoriam. De utraqve textus noster orthodoxè & rectè exponitur. Pugna in summa exinanitione & acerba passione: victoria in gloriosa resurrectione, ascensione & sessione ad dextram DEI conspicitur. 2. Distinguendum inter hostes Christi, & Ecclesiae, corporis ejus mystici, spirituales & corporales. Illi sunt satanas, mors, inferus, peccatum. Hi sunt tyranni, persecutores, impii & praefracti peccatores, qvae tota caterva Gen. III. 15. Semen serpentis nuncupatur. Utriqve hostes hoc in dialogismo intelliguntur: Illi qvidem prw,twj primariò; hi verò deute,rwj secundariò & conseqventer.“ 90 CP, S. 598. Zur Terminologie vgl. PS, Sp. 508. 91 CP, S. 601. 92 Vgl. CP, S. 601. 93 CP, S. 601 f. 94 Vgl. CP, S. 602: „Ex typo seu imagine prophetae oblata, & ex antitypo ratio hujus perspici pot est. Offertur Christus Prophetae imagine herois cujusdam magnanimi & bellatoris fortissimi. Huic
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Staunen über den „decor“ des Gewandes ähnlich wie in Ps 45,3.9. einen ebenfalls typologischen Hinweis auf die von Christus angenommene menschliche Natur.95 Die Identifizierung des in der ersten Antwort Redenden mit Christus ergibt sich einerseits aus den göttlichen Attributen der Gerechtigkeit und implizit der Barmherzigkeit, die von ihm prädiziert werden und auf sein „officium“ verweisen, andererseits aus seiner Vollmacht, Hilfe bzw. Rettung zu bringen, die sich in einer neutestamentlichen collatio wiederum dreifach „ratione satisfactionis“ (1Joh 2,2), „ratione remissionis“ (1Tim 1,15 f.) und „ratione liberationis“ (Mt 16,18) entfalten und mit 1Kor 1,30 zusammenfassen läßt.96 Der zweite Teil des „Kolloquiums“ wird durch die zweite Prophetenfrage eröffnet, die auf den Grund der Rotfärbung des Gewandes des nunmehr vorgestellten Heilsbringers gerichtet ist. Glassius erkennt die Besonderheit der Aufnahme des Bildes von der Weinkelter darin, daß damit gleichermaßen Erniedrigung und Erhöhung bzw. Leiden und siegreiche Auferstehung des Erlösers bezeichnet werden: „Huic igitur qvaestioni Salvator pulcerrimè respondet, suam & passionem & victoriosam resurrectionem ac exaltationem, similitudine à torculari seu vindemia desumtâ, describens.“97 Die „parabolica locutio“ vom Treten der Kelter sieht Glassius in einer collatio von Jos 10,24, Ps 91,13, 129,3, Jes 51,23, Gen 3,15, Ps 110,1, 1Kor 15,25 f. und Röm 16,20 im Gewohnheitsrecht des Siegers nach dem Krieg begründet, die unterlegene Macht quasi „unter die Füße zu treten“, was dann in geistlicher Hinsicht in den Folgen des Sieges Christi über die Feinde Satan, Tod und Hölle und damit seines vehementen Zornes über diese sein Gegenbild findet.98 autem hominum generi honestum & gloriosum est, habere vestem respersam sangvine, ex qvo magnanimitas ejus & fortitudo in hostium sangvine fundendo exserta & exercita perspicitur: extra hunc statum, sangvinarium & crudelem notat hominem, ut videre est Esa. I. 15. c. IX. 5. Jer. II. 34. & abominandam foeditatem, Ezech. XVI. 6. Qvod enim uno locô foedum est, id alio locô solet esse perqvàm honestum, qvia qvod uno locô virtutis est indicium, idem alio locô animi pravè constituti, aut rei crudeliter gestae est argumentum. Sordidae vestes in luctu & funere ingenuos decent, & principes viros, extra illum rerum articulum servile ac ignobile vestimentum est.“ 95 Vgl. CP, S. 602 f.: „Ratione antitypi vestimenta illa herois à Propheta visi (Vestis illa vWbl. à qvibusdam stola, ab aliqvibus chlamys, qvam miles; ab aliis paludamentum, qvod Imperator gestare solet, vocatur) nihil aliud nisi assumendam denotant humanam naturam, qvae in crucis ligno, effusô sangvine rubuit, at verò sangvis Christi ille pulcerrimus est, & nihil elegantius illâ clementiâ, qvam DEI filius suô sangvine testatum nobis reddidit. Unde Psal. XLV. 3, 9. eadem vestium Christi, h. e. assumtae humanitatis formositas summoperè praedicatur.“ 96 CP, S. 603 f. 97 CP, S. 604. 98 Vgl. CP, S. 605 f.: „Cur illâ ipsâ parabolicâ locutione Propheta voluerit uti? Respondemus igitur, Prophetam, vel Triumphatorem potiùs Christum in sermone prophetico alludere ad vetustam illam victorum consvetudinem, qvi, qvos armis subjugaverant, sterni jubebant, séqve aliorum pedibus conculcandos praebere. […] Consvetudini isti fides ex aliqvibus etiam scripturae locis con-
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Stellt das Bild des Keltertretens die Vehemenz des Sieges heraus, so verweist die Auskunft des Gefragten, die Kelter allein getreten zu haben, auf die Ausschließlichkeit des nur durch den Sohn Gottes möglichen Werkes: „Qvô ipsô nihil docetur aliud, qvàm liberationem humani generis & potentissimorum illius hostium debellationem à nemine potuisse perfici, praeterqvàm à solo DEI filio.“99 Darin, daß der Sieg des Keltertreters nicht ohne gewaltsame blutige Besudelung seines Gewandes vonstatten ging, sieht Glassius eine Kongruenz zu Gen 3,15, wonach die zertretene Schlange zuvor dem Zertreter einen Fersenstich zufügt.100 In der Antwort des Keltertreters erkennt der Thüringer eine accommodatio an die Redeweise des Fragestellers, der bereits die Rotfärbung paradoxal mit dem Schmuck des Gewandes in Verbindung brachte.101 Die aufgenommene Metaphorik besteht darin, daß beim Treten einer Weinkelter die zertretenen Trauben immer auch die Kleidung des Keltertreters in Mitleidenschaft ziehen. So gesehen liegt in der Rede von der Besudelung des Gewandes die rhetorische Figur der Paradoxie vor, wie sie in der Schrift wiederholt in Aussagen zur Passion Christi wie Jes 53,2 f., 2Kor 5,21 und Gal 3,13 zu beobachten
ciliari potest. Jos. X. 24. ex vincentium ista consvetudine Josua mandat, ut qvinqve Regum subjugatorum cervices principes exercitus calcarent. Ite (inqvit) & ponite pedes vestros super colla Regum istorum. Ps XCI. 13. eidem consvetudini intentus Propheta Regius, cùm victoriam piorum ab infensissimis inimicis vult describere, inqvit, Super aspidem & basiliscum ambulabis, & conculcabis leonem & draconem. Eodem respiciunt verba Ps CXXIX. 3, ubi Ecclesia de hostibus ipsam duriter affligentibus inqvit: Super dorsum meum araverunt arantes, prolongaverunt sulcum suum: nisi qvòd metaphora ab agricolis aratoribus deducta hîc immixta est. Esa. LI. 23. hostes Ecclesiae iterum introducuntur, ipsi hisce insultantes verbis: Incurva te, & transibimus super te: posteà addit Propheta: Et posuisti, ut terram corpus tuum, & velut plateam transeuntibus. Et huc qvoqve spectant illa scripturae loca, ubi hostes spirituales, Satan, mors, infernus, &c. dicuntur scabellum pedum Christi, sive subjici pedibus Christi & ipsius membrorum, Genes. III. 15. Semen mulieris conteret caput serpentis. Ps. CX. 1. Donec ponam inimicos tuos scabellum pedum tuorum. Qvod 1.Cor. XV. 25. 26. repetitur & ad victoriam Christi applicatur. Rom. XVI. 20. Deus pacis conteret Satanam sub pedibus vestris.“ Nach Beispielen aus profanen Kriegen verschiedener Epochen nennt Glassius als Beispiele für noch extremere Praktiken (vgl. CP, S. 606): 2Sam 12,31, 1Chr 20,2, Ri 8,16, Am 1,3, Klgl 1,15 und Offb 14,19. 99 CP, S. 607. 100 Vgl. CP, S. 609: „Congruit ferè cum hoc, qvod Gen. III. 15. in proteuangelio dicitur, qvòd semen mulieris (qvod Christus est) contriturum sit qvidem caput robur, regnum, potentiam) serpentis, nihilominus tamen fore, ut serpens contriturus sit calcaneum ipsius, h. e. totâ vi ipsi se oppositurus, & in crucem per sua organa adacturus. Pari enim modô h. l. & Christi victoriae, & hostilis violentiae fit mentio.“ 101 Vgl. CP, S. 609: „Cùm igitur Propheta (cui facta isthaec visio) qvaerat de vestium coinqvinatione. v. 1. Qvis est iste veniens de Edom, […] fermentatus, tinctus, pollutus vestibus? igitur ad illius qvaestionem Triumphator in responsione sua se accommodat, & inqvinationis voce utitur.“
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ist:102 „Utrumqve igitur de Christo in humana natura passo praedicatur, & pollutio, & decor sive gloria, prius kata. do,xan posterius kat’ avlh,qeian: prius ratione ipsius passionis, posterius ratione victoriae ab hostibus reportatae, & praestitae in ipsa & sangvinis effusione satisfactionis, pro peccatis nostris, à qvibus per sangvinem Christi mundamur.“103 Die Besudelung seines Gewandes verbindet Glassius über eine collatio von 1Petr 2,24, Hebr 1,3, 1Joh 1,7 und 2Kor 5,21 mit dem Motiv des Austausches zwischen Christus und den Gläubigen, insofern sein Blutvergießen und damit seine Besudelung durch die Sünde der Welt die Reinigung der Sünder zur Folge hat, durch deren Sünde er beschmutzt wurde.104 Die detailgenaue Sichtung des Wortlauts der Verse Jes 63,4–7 unternimmt Glassius in Verbindung mit der Frage nach den Sachgründen zum einen für das Werk des Keltertreters an sich, zum andern dafür, daß er dieses alleine vollbringen muß.105 Dieses Werk des Keltertreters vollzieht sich nach Vers 4 sowohl als göttliche Vergeltung gegenüber den Feinden Gottes als auch als göttliche Heilstat für die Menschen. Die Ankündigung dieses Werks in Gestalt einer inneren Absichtserklärung ist im Hebräischen ein Anthropomorphismus (yBiliB. in corde meo), der wiederum „göttlich“ ausgelegt werden muß und zum einen die göttliche Verfügung des Tages des Zornes („ratione divini decreti“), zum andern die heilsgeschichtliche Erfüllung dieses Dekretes („ratione adventus & complementi“) beinhaltet.106 Die Bedeutung des letztgenannten Aspekts wird von Glassius durch den Hinweis auf das Jubel- oder Erlaßjahr und eine collatio von Stellen, die den Advent dieses Jahres zum Inhalt haben, veranschaulicht.107 Auch der Sachgrund für die Einsamkeit Christi im Werk des Keltertretens wird sodann in Vers 5 „avnqrwpopaqw/j“ angegeben, wenn der Keltertreter verwundert und vergeblich nach Helfern Ausschau hält. Unter Hinweis auf Sach 9,9 weist Glassius darauf hin, daß der Helfer, von dem hier die Rede ist, in seiner Passion selbst ein geretteter Retter ist: „Christum enim non solùm est Salvator, sed etiam ipse est salvatus, id est, qvia passione & morte suâ nos redimere voluit, & in profundum miseriae nostrae descendit, ideò ipsum priùs salvari oportuit, ut salvatus ipse etiam nos salvare posset.“108 Hier liegt in gewisser Weise eine strukturelle Ana102 Vgl. CP, S. 609 f. 103 CP, S. 610. 104 Vgl. CP, S. 610. 105 Vgl. CP, S. 610: „Facti ratio, qvae respectu Christi duplex redditur. 1. Cur torcular calcaverit, h. e. hostium catervam tàm fortiter oppugnaverit, tàm gloriosè expugnaverit? 2. Cur solus id fecerit?“ 106 CP, S. 611. 107 Vgl. CP, S. 611; die collatio umfaßt Lev 25,9 ff., Jes 61,2, 49,8, 2Kor 6,2, Gal 4,4, Lk 11,22, 1Joh 3,8, Hebr 2,14, Hos 13,14 und Dan 9,25. 108 CP, S. 613, es folgt der Hinweis auf Jes 53,8 und Apg 2,24.
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logie zur bei Gregor dem Großen vorfindlichen Wahrnehmung, „daß derjenige, der in der Kelter gepreßt wird, und derjenige, der die Kelter tritt, ein und derselbe ist: ‚Solus enim torcular in quo calcatus est calcauit […].‘ […] Derjenige, der die Kelter tritt, wird selbst gekeltert. D. h. Christus als der Keltertreter ist der Richter über die, die nicht geglaubt haben, und gleichzeitig der in der Kelter Leidende, der das Gericht auf sich nimmt, um das Leben der Nichtglaubenden zu gewinnen und sie damit zu retten […].“109 Das Gerichtshandeln an den Feindesvölkern wird wiederum in Vers 6 unter Rückgriff auf die Realien des Weinkelterns geschildert, wobei Glassius zur Verdeutlichung auf die vielen Schriftstellen verweist, in denen das Trunkensein Ausdruck des göttlichen Zorns über seine Feinde darstellt.110 Die abschließende Frage nach dem usus der Perikope beantwortet Glassius mit den Worten: „Caput principale & doctrina praecipua hujus pericopes Propheticae, est passio amarissima Salvatoris nostri Jesu Christi, cujus accurata descriptio ex hoc Prophetico dialogismo haberi potest.“111 Acht Aspekte der Passion zählt der Thüringer auf, zu deren Betrachtung die Perikope anleite. Zunächst geht es um die Wahrnehmung der leidenden Person („Persona patiens“): „Illa Christus Jesus est, qvi tempore V. T. erat adhuc a;sarkoj & persona simplex.“112 Nicht vom Leiden der im Alten Testament allein in der Gottheit präsenten Person Christi ist aber in Jes 63 die Rede, sondern wie Vers 4 zeigt, vom angekündigten künftigen Leiden des Sohnes Gottes in der angenommenen menschlichen Natur.113 Damit geht dann zweitens eine „Naturae determinatio“ einher, insofern der Retter nicht seiner göttlichen Natur nach, sondern seiner angenommenen menschlichen Natur nach ins Leiden geht, was durch die Rede vom blutbespritzten Gewand deutlich wird und von Glassius durch Hinweise auf 1Petr 3,18, 4,1, Kol 1,22, Hebr 2,14 und Hi 10,11 erläutert wird.114 Die Passion selbst wird drittens gleich in mehreren Aspek109 May, Golgatha, S. 130 f. 110 Vgl. CP, S. 614. Glassius nennt Ps 75,9, Jes 29,9, 51,17.21, Jer 25,15, Klgl 3,15, Hab 3,16 und faßt diese Stellen mit folgenden Worten zusammen: „Inebriatos igitur furore DEI inimicos, nihil aliud est, qvàm horrendis divinae irae documentis, suppliciis scil. & doloribus exqvisitissimis esse refertos & repletos.“ 111 CP, S. 615. 112 CP, S. 615. 113 Vgl. CP, S. 615: „Ipsi tamen passio hôc capite adscribitur, non qvasi divina natura in se esset passa, sed qvia certô constitutô tempore, v. 4 erat carnem assumturus, & in ea opus redemtionis expediturus. Haec divina persona, qvae filius DEI est, seipsam proponit, iis verbis: Ego sum qvi loqvor in justitia, multus ad servandum. v. 1. Huc pertinent loci, ubi in N. T. passio filio DEI adscribitur. “ Genannt werden: Apg 3,15, 20,28, 1Kor 2,18, Gal 2,20, 1Thess 2,15, Hebr 5,8 und Offb 11,8 (vgl. CP, S. 615 f.). 114 Vgl. CP, S. 616. Zudem erwähnt der Theologe in diesem Zusammenhang den Lehrbrief Papst Leos an Flavian sowie die dogmengeschichtlichen Positionen von Eutyches und den Theopaschiten einerseits, von Nestorius und den Calvinisten andererseits, von denen die ersteren sich der
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ten ansichtig. Ausführlich geht Glassius hier noch einmal auf die vom Keltertreter erlittenen Folgen seines Handelns ein, die er u. a. ins Licht von Jes 43,24b rückt.115 Die weiteren Aspekte sind die Besprengung der Kleider mit Blut, die Gewalt, die von den Feinden ausgeht, die Einsamkeit des Keltertreters sowie sein Eifer und Kampf. Viertens ist die innere Willensbewegung zu bedenken, die den Keltertreter sein Heilshandeln antreten läßt, sodann fünftens die Ziele und Wirkungen der Passion. Diese sind wiederum fünferlei: „1. Hostium potentissimorum expugnatio, v. 3. 6. 2. Humani generis redemtio. v. 4. Redemti mei, &c. 3. Ecclesiae perpetua defensio, v. 6. 4. Justitiae perfectae reductio, v. 1. Ego sum qvi loqvor in justitia, &c. 5. Vitae aeternae collatio, ibid. Qvi magister sum ad salvandum, &c.“116 Im sechsten Schritt wendet Glassius die Beobachtung, daß Christus als Keltertreter alleine das Heil vollbringen muß, gegen die Rechtfertigungslehre der Päpstlichen, insbesondere gegen die Heilsmittlerschaft Mariens bzw. die Annahme einer Verdienstlichkeit ihres Mitleidens mit Christus.117 Daß die Erlösung in Jes 63,4 als Frucht des Leidens Christi nach Joh 3,16, 1Joh 2,2 und 2Kor 5,15 universale Bedeutung hat, betrachtet Glassius im siebten Punkt und in Auseinandersetzung mit der calvinistischen Lehre von der nur partikularen Geltung des Verdienstes Christi. Zuletzt ist im siegreichen Einherschreiten des Keltertreters ein Hinweis auf die Folge der Passion Christi zu erkennen, nämlich seine Erhöhung zur Rechten Gottes nach Lk 24,26 und Hebr 8,1.118 Welche wichtige Rolle Jes 63,1–7 für die intertestamentarische Hermeneutik von Glassius spielt, wird in seiner abschließenden Auflistung weiterer diesem prophetischen Text entnommener Lehrtopoi deutlich,119 die zumindest implizit in der Auslegung bereits eine Rolle spielten. So erkennt der Thüringer zunächst aufgrund einer collatio von Jes 63,1–7 mit Joh 8,56 und Apg 15,11 eine grundlegende Identität des Glaubensobjektes und damit der confessio fidei im Alten und im Neuen Testament bei freilich zu beachtender Variabilität im Modus des Offenbarwerdens des Glaubensinhalts: „Eadem fides, idem fidei objectum, (Christus) eadem fidei confessio, idem fidei affectus in V. & N. T. est: modus revelationis tantùm variat: ut
Vermischung der beiden Naturen, die zweitgenannten der ebenso verwerflichen Trennung derselben schuldig machen. 115 „Ja, mir hast du Arbeit gemacht in deinen Sünden / und hast mir Mühe gemacht in deinen Missethaten.“ 116 CP, S. 618. 117 Vgl. CP, S. 618. 118 Vgl. CP, S. 619. 119 „Alii ex hoc Prophetico textu depromtorum locorum communium aphorismi.“ So die Überschrift (CP, S. 619).
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Christi & Prophetae de passione & victoria Dominica dialogismus innuit, v. 1. seqq. vide Joh. VIII. 56. Act. XV. 11.“120 Dokumentiert werde in diesem Abschnitt die wahre und ewige Gottheit Christi, denn Christus stelle sich hier nicht nur dem Propheten als Person vor, sondern schreibe sich das Heilswerk zu, das nach dem Gesamtzeugnis der Schrift allein Gottes ist und insbesondere in Gestalt des Sieges über die Feinde einen Akt göttlicher Allmacht darstelle.121 Daß die Propheten künftige Dinge aufgrund göttlicher Offenbarung als gleichsam gegenwärtig verkünden konnten, ist Ausdruck der in 2Petr 1,19 bezeugten Gewißheit und autoritativen Verläßlichkeit ihrer Schriften.122 Eine Bestätigung der christologischen Deutung von Jes 63 erkennt Glassius in dem erkenntnistheoretischen Grundsatz, wie er in Joh 1,18 formuliert ist.123 Die im Erlösungswerk Christi konstituierte tröstliche Gewißheit des Heils in Gestalt der im Modus göttlicher Verheißung dargebotenen Gerechtigkeit, wie sie in der Vergebung der Sünden und in der Befreiung vom Bösen appliziert wird, sieht Glassius in Jes 63 ebenso bezeugt.124 Das gilt auch für die um der Glaubensgewißheit willen bedeutsamen Lehrtopoi der göttlichen Allmacht und des göttlichen Willens bzw. der göttlichen Wahrhaftigkeit.125 Auch die Teilgabe des Sieges Christi über die sich ihm widersetzenden Feinde nach Jes 63,3.6 an die Gläubigen, die ausweislich 120 CP, S. 619. Glassius wendet dies ebd. unter Hinweis auf eine einschlägige Schrift von Balthasar Meisner kontroverstheologisch gegen die Photinianer: „Errant igitur Photiniani, asserentes V. T. Patres non in Christum credidisse, neqve per fidem in illum salvatos esse. Vide B. Meisn. Theol. Phot. p. 778. seqq.“ 121 Auch hier mit antiphotinianischer Zuspitzung: „II. Verae & aeternae JESU CHRISTI deitatis documenta in hoc capite egregia, cùm is 1. Prophetae se ut personam veram exhibuerit. 2. cùm magistrum ad salvandum se profiteatur, v. 1. qvod solius DEI est, Esa. XLIII. 11 Conf. Act. IV. 2. In nullo alio salus. 3. cùm divinum brachium, hoc est, omnipotentiam sibi attribuat. v. 5. 4. cùm hostes vincat, qvos superare solius DEI est, diabolum scil. infernum, mortem, v. 2 & seqq. 5. cùm redemtos suos vocet, v. 4. cui redemti Jehovae vocantur praeced. c. V. ult. Errant igitur iidem Photiniani, Christi divinitatem perperam & blasphemè impugnando.“ (CP, S. 619) 122 Vgl. ebd.: „III. Cùm Prophetae res futuras coram qvasi praesentissimas divinâ manifestatione videant & praedicant, summa est scriptorum propheticorum certitudo & autoritas avuto,pistoj, 2. Pet. I. 19.“ 123 Vgl. ebd.: „IV. Cùm Esaias ex ipso Christo qvaerat & discat qvisnam sit, ostenditur, de Christo sine Christo nihil sciri, Joh. I. 18.“ 124 Vgl. CP, S. 619 f.: „V. In responso servatoris: Ego sum qvi loqvor in justitia, & magister sum ad salvandum, summum latet solatium. Justitiam loqvitur viam justitiae monstrando, promissa divina certissimè praestando. Magister est ad salvandum tùm ratione infinitae satisfactionis, 1. Johan. II. 2. tùm ratione certae peccatorum remissionis, Psal. CXXX. 7. tùm ratione plenariae tandem ab omni malo liberationis; qvibus omnibus qvid consolatione vivificâ plenius.“ 125 Vgl. CP, S. 620: „VI. In eodem responsio firmum fidei Christianorum latet fulcrum, cujus columnae duae: DEI potentia, ejusdémqve benefica voluntas & veracitas. Qvia enim DEUS potest & vult nos servare, ideò fides nostra avmeta,plwtw/j consistit. Posse autem, patet ex illo, qvòd dicitur
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einer collatio mit Eph 6,12 ff., Röm 16,20 und 1Kor 15,54 ff. im Kampf mit denselben Feinden stehen, ist Glassius hier eine Erwähnung wert.126 Zu dieser ekklesiologischen Kontextualisierung tritt die eschatologische, wenn der Thüringer das „annus redemtorum Jehovae“ aus Jes 63,4, wie es im Erlösungswerk Christi realisiert worden ist, der endzeitlichen Errettung in Gestalt der Totenauferstehung analogisiert.127 Sachgrund dieser doppelten Kontextualisierung des Kampfes und Sieges Christi aber ist dessen wirksame Präsenz bei seiner gegenwärtigen Kirche, in der er seinen damaligen Kampf für die Gläubigen quasi fortsetzt und einst unter endgültiger Besiegung der Feinde in der Seligkeit vollenden wird.128 Die Liste der Lehrtopoi liest sich so wie eine dogmatische Begründung des Bildprogramms der Kurfürstenbibel mit seiner mehrfachen Verschränkung von Altem und Neuem Testament, Skriptologie und Christologie, Ekklesiologie und Eschatologie: Die um Christus Versammelten sind ja als Wolke lebender Zeugen ins Bild gesetzt, denen durch den Dienst der schriftbasierten Verkündigung fortwährend weitere Gläubige hinzugefügt werden.
6.2.2 C hristus als Skopus der Schrift: in nomine – Onomatologia Messiae Prophetica Das Motiv des Blutes Christi, mit dem auch die Heiligen des Alten Testaments besprengt und erlöst sind, findet eine weitere christologische Entsprechung in einer namenstheologischen Betrachtung der Figur des Erlösers, der Glassius magister ad salvandum: Velle, liqvet ex illo, qvòd dicitur loqvi in justitia, id est, veraciter loqvi, & promissa certô certius complere.“ 126 Vgl. ebd.: „VII. Hostes virulentissimi Christo pugnanti se opponunt, ab eodem tamen gloriosè vincuntur: v. 3. 6. Eadem sors CHRISTI membrorum, piorum hominum: pugnandum cum hostibus, Ephes. VI. 12. seqq. à qvibus tandem vi CHRISTI victoriae triumphum reportant. Roman. XVI. 20. 1. Cor. XV. 54. seq.“ Daß dieser Kampf aufgrund der Überlegenheit Christi über seine Feinde auch von den Gläubigen in Siegesgewißheit ausgefochten werden kann, betont Glassius in einem weiteren Punkt: „IX. Tam facile est CHRISTO omnes hostes trucidare, & delere, qvàm facile est ebrium hominem vel digitulô admotô humi projicere. v. 6. Si igitur DEUS pro nobis, qvis contra nos? Rom VIII. 31.“ 127 Vgl. ebd.: „VIII. Venit annus redemtorum Jehovae in universali CHRISTI redemtione. v. 4. veniet etiam annus redemtionis in universali beatorum resurrectione, ubi redemti Domini venient cum gaudio aeterno. Esa. XXXV. 10.“ 128 Vgl. CP, S. 620: „X. CHRISTUS non semel tantùm hostium spiritualium potentiam in passione vicit, sed qvotidiè etiam Ecclesiae suae praesentissimus, contra qvosvis inimicos ipsam defendit. Psal. CX. 2. Matth. XVI. 18. eosdem tandem plenariâ panwleqri,a| deleturus, & Ecclesiam aeternâ felicitate & gloriâ beaturus. Pro qvibus omnibus beneficiis glorioso nostro Triumphatori in seculum benedicto sit laus, honor & benedictio in myriades seculorum. AMEN, AMEN.“
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in Gestalt der „ONOMATOLOGIA Messiae Prophetica“ ein eigenes Werk widmet.129 Den Einsatz im programmatischen „Praeloqvium“ nimmt der Thüringer bei der Frage danach, was die Frommen des Alten Testaments vom Fest der Geburt des Erlösers wahrnahmen.130 Aufgrund der collatio von Joh 8,56 und 1Petr 1,10–12 stellt Glassius fest, daß die Väter und Propheten bereits „ferventer“, „laetanter“ und „utiliter“ die Christgeburt gefeiert hätten, nach der sie, erfüllt von einem „appetitus iste Spiritualis“,131 sehnlich und voller Freude Ausschau hielten,132 zumal die Erwartung Christi nach 1Petr 1,11 auch sein Leiden einschließt, mit dem seine Geburt unlöslich verbunden ist. Daß aber die Väter nach 1Petr 1,12 mit ihrer Verkündigung des kommenden Erlösers denen dienen, denen nunmehr post Christum natum die frohe Botschaft verkündet wird, gibt Glassius Anlaß zu seiner zum Thema hinführenden Anwendung dieser Einsichten. Haben die Alten Nutzen daraus gezogen, Christus im Zukünftigen zu suchen, so gilt das erst recht für diejenigen, die nunmehr durch Betrachtung der alttestamentlichen Ankündigungen des kommenden Heilandes profitieren werden, die also Christus im Vergangenen suchen.133 Solche Ankündigungen aber sind nicht allein in expliziten Verheißungen, sondern auch in alttestamentlich dem Erlöser zugeschriebenen „nomina, appellationesqve“134 zu finden. In seiner der Erstausgabe von 1624 vorangeschickten Widmungsrede an Matthias Hoë von Hoënegg hatte Glassius geschrieben: „Spiritum sanctum Scripturas sacras modificare (qvâ voce Augustinus alicubi utitur) evoluisse certum est, ut cordibus contritis anxiis-
129 Vgl. Glassius, Opuscula, S. 375–510 (= OMP). 130 OMP, S. 375: „Qvid de festo Genethliaco Domini & Salvatoris nostri JESU CHRISTI senserint pii Testamenti Veteris […].“ 131 Ebd. 132 Daß diese Anschauung Teil eines konfessionsübergreifenden sensus communis ist, zeigt ein Blick auf Abraham Scultetus (Psalm=Postill, S. 62): „Das A und das O / der Anfang und das Ende / das Mittel und der Kern der gantzen H. Schrifft / altes und neues Testaments ist der gebenedeyte Same Abrahams / Christus Jesus / […] Dann von ihm zeugen die Propheten / von ihm schreiben die Evangelisten / von ihm reden die Apostel. Und sol derowegen niemand meynen / als ob allererst im neuen Testament man angefangen habe Weyhnachten zu feyren. Nein traun. Viel hundert / ja etlich tausend Jahr zuvor / haben die glaubigen altes Testaments im geist Weyhnachten gefeyret / indem ihnen die zukünfftige Geburt Messiae / theils durch herrliche Weissagungen / theils durch liebliche bilder ist fürgehalten worden. Und ist einmahl gewiß / daß auch im alten Testament kein mensch jemahls ist selig worden / es sey dann / daß er sich im geist gefreuet hat über dem werthen kind / welches von anbegin den Ertzvättern verheissen / endlich aber / in der fülle der zeit / zu Bethlehem ist geboren worden.“ 133 Vgl. OMP, S. 376: „Qvae cùm ita sint, non inutilis sanè ponitur opera, si, ut illi futura; ita nos praeterita scrutemur, & in V. T. de Christi Salvatoris adventu vaticinia, oculum & animum attentiorem dirigamus.“ 134 OMP, S. 376.
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qve solus Jesus Christus, non in promissionibus solum, sed in nominibus etiam ei assignatis, dulcesceret.“135 Gerade diese Namen sind, wie Glassius mit einem Zitat aus Dionysius Areopagita betont, besonders dazu geeignet, Aufschluß über Christi Person und Amt zu geben, weshalb Glassius mit Chemnitz festhalten kann, daß die so geschöpfte Erkenntnis „non nisi Grammatica est.“136 Diese erkenntnisstiftende Wirkung des Namens identifiziert Glassius unter Berufung auf Hld 1,3 mit dem von Christus als dem Bräutigam sich auf seine Braut, die Kirche und die Christenseele, ergießenden Heilsöl.137 Als dritten Empfänger dieses Öls nennt er über die Kirche und die Seele hinaus unter Berufung auf Apg 10,43 das Alte Testament: „In V. T. scriptura. Huic enim (Christo) omnes Prophetae testimonium dant, qvòd in nomine ejus remissionem peccatorum accipiant omnes, qvi credunt in eum, Act X. 43. Unde in scriptis Prophetarum V. T. variis & suavissimis appellationibus diffunditur.“138 Das sich auf die Gläubigen ergießende Öl des Namens Jesu ist mithin nicht nur eine Analogie des Blutes im Bild des Keltertreters. Mit einem Zitat aus Bernhards Hoheliedauslegung faßt Glassius darüber hinaus den sich in den Heiligen Schriften ergießenden Namen Jesu auch in Analogie zur gustatorischen Wirkung von Öl (und Salz) für die Bekömmlichkeit von Speisen als das, was Schreiben und Reden der Schrift erst bekömmlich macht.139 Zugleich vergesellschaftet so der sich auf die Schriften wie auf deren Rezipienten
135 Opuscula, S. 3 (Die Seitenzählung beginnt nach dem Vorwort von Thomas Crenius und der Oratio Parentalis von Michael Walther neu bei 1). 136 Vgl. OMP, S. 376: „Qvemadmodùm enim Dionys. in lib. de div. nom. asserit summam eorum omnium qva de DEO scienda ac credenda, in appellationibus, qvae ipsi in sacris libris tribuuntur, contineri: Ita idipsum de nominibus Christo attributis verè affirmare possumus, qvòd videlicet, ea proponant omnia, qvae de Christi persona & officio scitu sunt necessaria. Tota nostra de hoc articulo cognitio non nisi Grammatica est, ait B. Chemnitius, & ex Nominum istorum cognitione verè in cognitionem ipsarum rerum, ipsorumqve mysteriorum (qvoad ea patefacta & ad salutem necessaria est) deducimur.“ 137 Vgl. ebd.: „Sicut oleum diffunditur nomen tuum, ^m,v. qr;WT !m,v,. inqvit Ecclesia ad Christum Sponsum suum, Cant. 1,3. Verè oleum est ejus nomen, propter suavitatem, fragrantiam, fructuumqve multiplicitatem: Verè diffusum est istud oleum & hoc suavissimum nomen (1.) In universali Ecclesia. Sicut enim oleum optimum, si funditur, fragrantiam de se longè latéqve emittit: Sic doctrina de nomine Salvatoris per totum diffusa est mundum, per Apostolorum praeconium, Luc. XXIV. 27. Col. I. 6. (2.) In fideli anima. Charitas enim DEI qvae per nomen Christi unicè ad nos deducitur, evkke,cutai, (instar olei) diffusa est in cordibus nostris, per Spiritum sanctum, qvi datus est nobis, inqvit Gentium Apostolus Rom. v. 5.“ 138 Ebd. 139 Vgl. OMP, S. 376 f.: „Bernh. serm. XV. in Cant. col. 532. Aridus est omnis animae cibus si non oleô istô infunditur: Insipidus est, si non hôc sale conditur. Si scribas, non sapit mihi nisi legero ibi JESUM, si disputes aut conferas, non sapit mihi, nisi sonuerit ibi JESUS.“
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gleichermaßen sich als Heilsöl ergießende Jesusname die Rezipienten mit den Gläubigen des Alten Testaments. Der Aufgabe, dieses Öl in den Messiae appellationes „ex Scriptura“ zu heben und für einen heilsamen Gebrauch zu erschließen, wendet Glassius sich zu, indem er zunächst die Möglichkeiten einer systematischen „distributio“ der Christusnamen vorstellt, bevor er eine an den zwei Naturen und an den drei Ämtern Christi orientierte Klassifizierung folgen läßt: „seqventes appellationum Christi constituimus classes: 1. Earum, qvae divinam naturam. 2. Qvae humanam. 3. Qvae personam su,nqeton, sive naturam utramqve. 4. Qvae Officium Christi in genere. 5. Qvae officium Propheticum. 6. Qvae Sacerdotale. 7. Qvae Regium exprimunt. Qvibus adde 8. appellationes genericas, & 9. ab interpretibus qvibusdam ex scripturarum locis alienè intellectis Christo attributas. In singulis classibus appellationes 1. Propriae, 2. Tropicae adducentur. “140 6.2.2.1 Die Namen für die göttliche Natur Christi Bei den Namen, welche die göttliche Natur des Messias anzeigen (Klasse I.), unterscheidet Glassius solche, die das göttliche Wesen, andere, die die göttliche Person, und schließlich solche, die göttliche Eigenschaften benennen.141 Durchweg setzt er ein bei appellationes, deren Geltung für den Messias im Neuen Testament bezeugt wird, und gibt diesen Befund redundant mit der Formel: „Ita Messias nominatur“ (in der Fortsetzung jeweils: „Item“ […] „Conf.[eratur] […]“) wieder. So heißt es, um gleich das erste und besonders prominente Beispiel zu nennen, bei dem Gottesnamen hwhy: „Ita Messias nominatur Exod. XVII. 2. Num. XIV. 22. Conf. I. Cor. X. 9. It. Es. VIII.13, 14. Confer Luc. II. 34. I. Pet II. 8. Item, Esa. VI. 1. Confer Johan. XII. 41. Item Esa. XLV. 21, 22, 23. Confer Rom. IV. 11. Item Jerem. XXII. 6. c. XXXIII. 16. Confer I. Cor. I. 30. &c.“142 Aber auch dem unmittelbaren Zusammenhang eines alttestamentlichen Textes kann die Übertragung des Gottesnamens auf den Messias entnommen werden, wenn es sich um Stellen handelt, in denen Gott mit Gott spricht und somit ein innertrinitarischer Dialog vorliegt. Darüber hinaus zitiert oder erwähnt Glassius oft jüdische Ausleger, die 140 OMP, S. 378. Diese Klassifizierung findet sich ähnlich auch bei Johann Gerhard, Von der person vndt amptt vnsers Herrn Jesu Christi. Handschrift, ediert als Appendix in: Steiger, Zentralthemen, S. 295–379, hier Cap. 3: „Von andern mancherleyen nahmen, so dem Herrn Christo in der H. Schrifft gegeben werden.“, S. 302–306. 141 Vgl. OMP, S. 379: „Divinae naturae appellationes exprimunt vel divinam essentiam, ut Jehova, Adonai, Elohim, El gibbor, Elion seu excelsus, vel divinam u`po,stasin, ut Filius DEI, Verbum Domini, Angelus faciei: Vel divina attributa, ut Sapientia, Sanctus, Primus & novissimus, Fortis, Potens, Benedictus, Dominus universae terrae, de qvibus porrò distinctim & ordine.“ 142 Ebd.
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ebenfalls eine messianische Auslegung des Gottesnamens an bestimmten Stellen darbieten.143 Nach der Nennung der jeweiligen biblischen Fundorte wendet sich Glassius der Bedeutung und den Besonderheiten der appellationes zu, bevor er auch hier in allen Fällen eine applicatio ad usum anschließt. Daß der Name hwhy ein allein Gott geltendes Proprium („Soli DEO vero proprium, & nulli creaturae communicabile“, „nomen appropriatum“, „[m]aximè emphaticum & significativum“) darstellt, geht auf Selbstbezeugungen Gottes und auf menschliche Bekenntnisse zurück.144 Die tiefste Bedeutung ist in Ex 3,14 zu finden, wo der Gottesname als Derivat von „esse hwh“ erkennbar wird, woraus in collatio mit anderen Bibelstellen als weitere Bedeutungsdimensionen „DEI […] subsistentiam“, „Creaturarum à DEO dependentiam“, „DEI aeternitatem“ „immutabilitam“ „[e]t insuper veritatem“ zu schöpfen sind.145 Auch die „Autoritas & majestas“ des Gottesnamens wird von Glassius bedacht, wenn er diesen als „Augustum, venerabile, & tremendum“ bezeichnet und daran erinnert, daß er deshalb bei den Israeliten als unaussprechlich galt.146 Der usus didaktiko.n besteht in der Klarheit, daß derjenige „verus DEUS“ ist, dem dieser Name zugeschrieben wird. Im usus evlegctiko.n haben diejenigen als ebenso verwerflich zu gelten, die die Gottheit Christi leugnen, wie diejenigen, die den Gottesnamen einem Geschöpf zuschreiben. Paideutisch ermahnt das „nomen tremendum“ zur Gottesfurcht und Frömmigkeit. Trost aber kann im parakletischen Nutzen deshalb geschöpft werden, weil gilt: „Salvator noster Jehova est, E. salvare & potest & vult.“147 Für die messianische Deutung des Titels „ynda Adonai, Dominus“ in der Geschichte vom Besuch der drei Engel bei Abraham im Hain Mamre (Gen 18,3.27) beruft Glassius sich auf die Auslegung von Kirchenvätern wie Hilarius, Gregor von Nazianz und Theodoret.148 Den Nutzen erhebt er aus dem Hinweis auf die rechte Wahrnehmung Gottes als eines von den Menschen zu ehrenden Herrn aus Mal 1,6. Mit Andreas Masius (1514–1573) zitiert der Thüringer hier einen der aus seiner Sicht
143 Vgl. ebd.: „Qvò pertinent etiam loca 1. ubi Jehova de Jehova loqvitur: Ex. XXXIV. 5, 6. 2. ubi Chaldaica paraphr. de Messia nomen id exponit. Os. I. 7. Domus Juda miserebor, & salvabo eos in Jehova DEO suo. Chald. Super domum Juda miserebor, & salvabo eos in Verbo Domini DEI eorum. Esa. XXVIII. 5. In die illa erit Jehova exercitium in Corona decoris, &c. Tharg. In tempore illo erit yyd ahyvm […].“ 144 OMP, S. 379 f. 145 OMP, S. 380. Für den letzten Punkt weist Glassius auf Flacius’ Clavis hin. 146 Ebd.: „[…] à priscis Judaeis pro avnekfwnh,tw| haberetur […].“ Mit der Fortsetzung, ebd.: „[…] qvi ab ejus pronunciatione reverentiae ergò abstinuere, & pro eo legêre Adonai, cujus etiam puncta vocalia (uti & qvandoqve nominis Elohim, qvando Adonai praecedit) habere ab iisdem dicitur.“ 147 OMP, S. 380 f. 148 Vgl. OMP, S. 381: „Hilarius, lib. IV. de Trin. Nazianzenus, orat. II. de Theol. Euseb. lib. V. demonst. Euang. C. IX. Theodor. Qvaest. LXVIII. in Gen.“
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besseren päpstlichen Schriftausleger, der davon spricht, daß die Kabbalisten den Namen „Adonai“ als einen Schlüssel ansahen, durch den der Zugang zu Gott für den Menschen aufgetan wird.149 Auf den in Hebr 1,8 aufgenommenen 45. Psalm (V. 7 f.) sowie auf Ps 47,6 („ascendit Elohim in jubilo“), „ubi de ascensione gloriosa Messiae sermo est“, verweist Glassius für den christologischen Gebrauch des Titels ~yhil{a/,, der, auch wenn er nur von einer göttlichen Person gebraucht wird, doch immer den Hinweis auf die pluralitas Dei impliziere.150 Ein heilsamer usus dieses Namens geht aus der Selbstvorstellung als Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs dadurch hervor, daß hierin erstens die Liebe des Erlösergottes nicht nur zu Abraham, sondern zu allen seinen Kindern, zweitens die Heilsgewißheit in Christus, der nach Röm 8,31 „pro nobis“ ist, und drittens aufgrund der collatio mit Mt 22,31 f. und Hab 1,12 die „corporum futura resuscitatio“ abzulesen ist.151 Die Deutung des Titels „rABGI lae Deus fortis“ ergibt sich daraus, daß dieser Bestandteil der messianischen Verheißung in Jes 9,6 ist. Der usus besteht in dem Vertrauen, das die Gläubigen zu Christus als dem Sieger über ihre Feinde aufgrund dieses Titels haben.152 Daß auch bei der Verwendung des Titels „!Ayl.[, Excelsus“ in Ps 47,3 vom Messias die Rede ist, geht aus dem Kontext des Psalmes, insbesondere aus V. 6 hervor, wo von der „ascensio“ die Rede ist, eine Deutung, die in Kol 2,15 expliziert wird. Der usus kann aus Ps 113 in einer collatio mit Phil 2,7 f. und Mt 11,29 entfaltet werden und besteht sowohl in der majestätischen Höhe als auch in der Demut und der Güte des Messias, die die Adressaten der Schrift ihm
149 Vgl. OMP, S. 381 f., hier S. 382: „Non possum non huc adscribere verba Andreae Masii Papistae qvidem, at sanioris; & dexterrimi scripturae sacro-sanctae interpretis, qvae in ejus Comment. Josuae VII. leguntur de nominibus praedictis duobus, Jehova, Adonai. Usum enim eorum practicum (utut ex Judaeorum qvaedam sint depromta libris) pulcrè & suaviter illustrant. Ita autem habent: Solent duo ista nomina saepiùs in vehementioribus precationibus istô modô conjungi à viris sanctis, in sacra historia (sicut Jos. VII. 7.) qvod ita factum, qvomodo DEUM Patrem Ecclesia omnia orat per filium. […] Sic Cabalistae, diviniores Hebraeorum Philosophi tradunt, illud nomen Adonai esse tanqvàm clavem, qvâ patefit aditus ad DEUM Jehovam […]. Deniqve neminem ad Jehovam penetrare posse, nisi per Adonai.“ 150 OMP, S. 383: „Si verò personaliter de una Trinitatis Persona usurpetur, tùm respectum ad illam pluralitatem includit, sensu eô, illam personam, cui tribuitur, esse verum DEUM, & personam unam ex illis tribus […].“ 151 OMP, S. 383 f. 152 Vgl. OMP, S. 384 f. Glassius weist auf die Möglichkeit hin, den Doppelnamen im Sinne der Zweinaturenlehre zu deuten: „Posset dici, priore voce la divinam, posteriore rABGI humanam naturam […] & conjunctâ utrâqve Messiam qea,nqrwpon denotari.“ (a. a. O., S. 384). Für den usus stellt er eine collatio von Ps 24,8, Ps 110, Jes 25,8 ff., 49,24 f., 59,16 ff., 63,1 ff., Kol 2,15, 1Kor 15,54 ff., Ps 7,12 f. und Ps 5,5 ff. auf (a. a. O., S. 384 f.).
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gegenüber zu Demut in seiner Nachfolge und zur Dankbarkeit anstacheln.153 Die messianische Bedeutung des Gottesattributs „ydv Omnipotens“ erhebt Glassius aus dem Textzusammenhang und aus den Implikationen des hier von Gott mit Abraham geschlossenen Gnadenbunds.154 Der usus sei aus Ps 36,7–10 ersichtlich, wo die Suffizienz der göttlichen Gnadengaben abgemalt wird („depingitur“) und sowohl das Werk der Errettung als auch der partiellen Heiligung in diesem Leben und die vollendete Heiligung im ewigen Leben prädiziert wird.155 „hwhy !b Filius Jehovae“ ist ein Name, dessen messianische Bedeutung klar aus dem Neuen Testament hervorgeht, wie die collatio von Ps 2,7 und Jes 42,1 mit den Berichten von Taufe und Verklärung Jesu nach Mt 3,17 sowie Mt 17,5 ergibt, was durch weitere neutestamentliche allegationes bestätigt wird.156 Doch schon in Ps 2 findet Glassius Anhaltspunkte, die durch die collatio mit der Nathansverheißung aus 2Sam 7,14 und die allegatio in Hebr 1,5 unterstützt werden.157 Bestätigt wird die messianische Deutung durch die Erweiterung der collatio, die Glassius einerseits zur Fragestellung: „Cur Filius Dei Meßias dicatur?“158 und andererseits zur Frage nach dem „modus“ seiner vielfältig bezeugten unergründlichen ewigen Geburt aus dem Vater führt.159 Der usus dieses Namens wird von Gott in Mt 17,5 überliefert und dient dem Erkenntnisgewinn sowohl über Christus als auch über die Seinen. Des Vaters Wohlgefallen hat der Sohn Gottes, weil von ihm die Fülle des Heils nach Joh 1,16 empfangen wird, welcher Heilsempfang sich als „auditio 153 Vgl. OMP, S. 385 f. Glassius führt in diesem Zusammenhang eine kontroverstheologische Auseinandersetzung mit dem reformierten Herborner Theologen Piscator, der Ps 47,6 nicht auf die Himmelfahrt Christi, sondern auf Gottes Einzug im Jerusalemer Tempel bezieht, kann sich aber für seine eigene Sicht auf „Tremellio & Junio“ berufen (vgl. a. a. O., S. 385). 154 Vgl. OMP, S. 386: „Loqvi enim hìc filium DEI, Messiam nostrum Benedictum, partim ex eo apparet, qvod idem, qvi capite seqventi, hìc etiam Abrahamo conspiciendum sese exhibet. Illum autem Mediatorem fuisse nostrum, textus evidentia evincit, vide suprà de appellatione Adonai: partim ex eo, qvòd fedus gratiae cum Abrahamo pangit, & sacramentum conferendae o;rganon kai. sfragi/da instituit: qvae gratia extra Messiam locum non invenit. Eadem appellatio tributa Messiae, occurrere videtur Gen. XXVIII. 3, XXXV. II.“ Petrus Galatinus nennt nach Glassius auch Ps 91,1 und Hi 33,4 als Belegstellen. Auch daß die LXX den Titel oft mit pantokra,twr wiedergeben, erwähnt Glassius (vgl. a. a. O., S. 387), macht sich aber nicht die entsprechenden Stellen aus der Johannesapokalypse hier zunutze. Dafür erwähnt er jüdische Ausleger wie Aben Esra (1093-ca.1168) und Rabbi Mardochai (auch: Mordechai) Nathan (15. Jahrhundert, Verfasser einer hebräischen Konkordanz), die deutlich machen, daß dieser Gottesname niemals für Geschöpfe verwendet wird. 155 Vgl. OMP, S. 387 f. 156 Apg 4,25, 13,33, Hebr 1,5. 157 Vgl. OMP, S. 388 f. Weiter nennt Glassius Spr 3,4, Ps 72,17 und den Hinweis von Flacius auf Dan 3,25.28. 158 OMP, S. 389 (marginal). Unter Nennung von: Ps 2,7, 51,7, Prov 8,24 f., Mi 5,1, Gen 17,6, 46,26, Ri 8,30. 159 Vgl. OMP, S. 389 f.
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et meditatio verbi“ nach 2Petr 1,19 und im auf den Herzensgehorsam ausgerichteten rechten Lesen der Schrift nach Joh 5,39 vollzieht.160 Die sapientia (hm'k.x)' als Gottesnamen bezieht sich zum einen im Plural, wie er in Spr 9,1 vorliegt, auf das Wesen der drei göttlichen Personen, wie man in Röm 16,27 und 1Tim 1,17 erkennen kann. Zum andern meint sie nach Spr 8,1 die zweite Person der Trinität, wie die collatio mit Joh 1,1 zeigt. Denn hier geht es jeweils um eine distinkte und um eine göttliche Person, was durch die von der Weisheit ausgesagten Attribute bestätigt wird. So wird ihr in Spr 8,22–31 die Schöpfungsmittlerschaft zugeschrieben, worauf insbesondere die Rede vom Spielen der Weisheit in Spr 8,31 deutet.161 Ihre Geburt vor aller Schöpfung nach Spr 8,24 f. zeigt, daß hier der ewige Logos beschrieben ist, der im Kontext dieser Stelle auch „!wma Artifex“ genannt wird (Spr 8,30).162 Ihr lustvolles Spiel auf dem Erdkreis, eine Metapher „à tenella puerorum vel infantium aetate deducta[]“,163 bezieht sich ebenfalls auf Christus, wie die explicatio in Mt 11,19, 23,34, Lk 7,35, und 11,49 deutlich macht. Der Nutzen besteht darin, daß Christus als die Weisheit Gottes nach 1Kor 1,30 nicht für sich geblieben ist, sondern sich durch ihn ihr Schatz auf die Menschen ergossen hat.164 So gilt auch für diesen Namen, was Ps 48,11 zum Ausdruck bringt, wonach der Ruhm Gottes auf Erden seinem Namen entspricht, er also so angerufen wird, wie er sich zu erkennen gibt. Der usus ergibt sich zum einen aus der Selbstmanifestation der Weisheit in der Offenbarung nach Joh 1,18 und Röm 16,25: „Ratione manifestationis, qvia in verbo Euangelii consilium DEI sapientissimum de salute nostra nobis manifestavit, & adhuc qvotidiè manifestat.“165 Zum andern erstreckt sich der Nutzen „ratione sanctificationis“ auf die erleuchtende Wirkung dieser weisheitlichen Gottesmanifestation in den Menschenherzen nach
160 Vgl. OMP, S. 390 f., mit dem wichtigen Zitat (a. a. O., S. 391): „Pater jubet nos audire Christum: Christus verò nos remittit ad scripturas, utpote qvae testimonium de se perhibeant, Joh. V. 39. Scripturam igitur Sacrosanctam si audimus, si legimus, si scrutamur & meditamur, Christum ipsum audimus.“ 161 Vgl. OMP, S. 391 f. Im weiteren Verlauf greift Glassius auch den Namen !Ama auf, der in Luthers Übersetzung mit „Werkmeister“ wiedergegeben wird und ebenfalls von der Schöpfungsmittlerschaft im Sinne von Joh 1,3 und Kol 1,16 zu verstehen ist, was im usus nicht nur eine Einladung zum Lob der Allmacht des Heilandes darstellt (Ps 102,26–28, Hebr 1,10–12), sondern auch das Verlangen nach der neuen Schöpfung weckt (Röm 8,20, Phil 3,20 f.). Dazu vgl. a. a. O., S. 396 f. 162 OMP, S. 396 f. 163 OMP, S. 392. 164 Vgl. OMP, S. 393: „Vocatur autem Christus sapientia, uti supra dictum. Ergò Nobis etiam factus est sapientia, inqvit Paulus, totumqve sapientiae suae thesaurum in nos miseros homines effundit.“ 165 Ebd.
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2Kor 3,18 und 4,6, so daß auch dieser Gottesname zur meditatio scripturae und zur Frömmigkeit anreizt.166 Nur kurz geht Glassius auf die appellatio „vwdq Sanctus“ nach Jes 6,3 ein. Daß im Trishagion die drei Personen der Gottheit und damit auch die Person Christi bezeichnet sind, erschließt sich allerdings erst aus Joh 12,41 und Apg 28,25.167 Erst recht gibt es für die ebenfalls jesajanische appellatio „Primus & Novissimus“ (Jes 48,12, 41,4) zum einen innerjesajanische Hinweise auf den Messias in Jes 48,16 und 61,1, vor allem aber neutestamentliche Entsprechungen in Offb 1,11.17 und 22,13. Glassius referiert verschiedene Deutungsmöglichkeiten. So meine Andreas von Caesarea (563–637) in seinem Kommentar zur Johannesapokalypse, der Erste sei der Messias nach der Gottheit, der Letzte nach der Menschheit, in Anspielung auf 1Kor 15,48. Andere deuteten die appellatio auf die causa efficiens und die causa finalis der ganzen Schöpfung. Glassius selbst meint: „[…] praeferenda tamen illa est, hanc esse descriptionem aeternitatis absolutae DEO soli propriae, qvae kat’ avnqrwpopa,qeian his & aliis locutionibus solet in scripturis circumscribi. q. d. ego is sum, ante qvem nihil est, imò per qvem factum est, qvicqvid factum est qviqve ut omnia intereant, superstes illis omnibus manet, h. e. verus & aeternus DEUS.“168 Als usus ergibt sich ebenfalls aus einer Jesajastelle (44,6) der Trost darüber, daß der Erlöser der ewige Gott ist, dessen Werk durch nichts zu erschüttern ist. Zum Trost tritt die exhortatio, um dieser Gewißheit willen nun nach dem zu trachten, der sie gewährt, und in seinem Namen alles zu beginnen und zu beenden.169 Der Name „!ma yhla Deus Amen“ (Jes 65,16) stehe in einem Kapitel, das von der Berufung der Heiden zur Kirche handelt, was erst in der Zeit des gekommenen Messias vollendet wurde. Außerdem werde die hebräische Benennung „Amen“ in Offb 3,14 auf Christus bezogen. Inhaltlich gehe es zum einen darum, daß Wahrheit zum Wesen des Messias gehört, weshalb er in 1Joh 5,20 „verus ille DEUS“ genannt werde.170 Dann verweise der Titel auf seine Wahrhaftigkeit nach Offb 3,14 und Joh 17,17 und erinnere schließlich an die Gewohnheit Christi, viele seiner Worte mit der „confirmandi formula, Amen, Amen, dico vobis“ einzuleiten. Eine Analogie dazu findet Glassius in der kabbalistischen Benennung für den Messias als „Dominus […] Rex fidelis.“171 Der Nutzen bestehe in der auf dieser Verläßlichkeit des Heilan-
166 Vgl. zum ganzen Abschnitt OMP, S. 391–393. 167 Vgl. OMP, S. 393. 168 OMP, S. 394. 169 Vgl. zum ganzen Abschnitt OMP, S. 393–395. Den usus entwickelt Glassius (a. a. O., S. 394 f.) durch eine collatio von Jes 44,6 mit Lk 1,33, Jes 9,7, Ps 37,28, Hebr 9,12, 1Kor 1,30, Jes 35,10, Ps 31,2, Röm 5,5, Offb 1,17, Kol 3,1 f., Ps 73,25 und Kol 3,17. 170 OMP, S. 395. 171 Ebd.
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des gründenden Gewißheit (2Kor 1,20, Ps 89,3, Hebr 6,17 ff.), die sich gerade in der Anfechtung auswirkt (Eph 6,12–14), in der Mahnung, gegen vernunfthörige und häretische Einwände am Wort der himmlischen Wahrheit festzuhalten (2Kor 10,5, 1Kor 2,14 f.), in der Verpflichtung, dieser Wahrheit in Wort und Tat gerecht zu werden (1Thess 4,6), und in der Einladung zum Gebet auch gegen alle Zweifel im Geist und in der Wahrheit nach Joh 4,23 f. Der Hinweis auf die Schlußformel christlichen Betens und ihre Bedeutung beschließt die Erwägungen über den usus: „Unde clausula nostrarum precum sit consolationis, confirmationis & assertionis illa vocula, totô pectoris affectu depromta, Amen. Matth. VI. 13.“172 „%wrb Benedictus“ werde der Messias in Ps 72,18 genannt, einem Psalm, der in seiner Gänze von ihm handele, was durch Mt 21,9 und Röm 9,5 bestätigt werde. Dieser Name verweise sowohl auf Gottes Wesen, auf die von ihm ausgehenden Wirkungen sowie auf den Lobpreis, den die Menschen als Empfänger dieser Wirkungen ihm schulden. Der Nutzen bestehe nach Gen 26,4, 28,14, Ps 67,7 f., Ps 72,17, Gal 3,8 ff. und Eph 1,3 in der Wahrnehmung Christi als des gebenedeiten Samens und der Quelle allen Segens, der durch den Kanal des Wortes und der Sakramente auf die Sünder fließe und aus dem diese daher zu ihrem Heil schöpfen und den schuldigen Dank erstatten sollen.173 6.2.2.2 Die Namen für die menschliche Natur Christi Die die menschliche Natur Christi betreffenden appellationes (II. Klasse) werden unterteilt in solche, die diese selbst ihrem Wesen nach meinen, und andere, die sich auf den jeweiligen „status“ der Erniedrigung oder der Erhöhung beziehen. Die erste Gruppe wird weiteren Unterteilungen unterzogen. Zum einen sind da die „Generaliores“, in denen keine Rede vom geschichtlichen Ort des Messias ist. Bei diesen unterscheidet Glassius die „propriae“: „Homo, Filius, hominis, vir“ und die „metaphoricae“: „Germen Domini, germen justum, surculus etc.“ Dann gibt es die „Specialores, qvibus fit mentio ortus, familiae, & matrix, ex qva Christus secundùm carnem prodiit, & natus fuit, qvales sunt Natus virginis, Semen mulieris, Semen Abrahae, Isaaci, Jacobi, Davidis: Virga de stirpe Isaei, & surculus de ejus radicibus: Radix Isai.“ Als Namen, die Christi „status exinanitionis“ betreffen, werden „Enosch“, „Humilis seu afflictus“, „Vermis“ und „Cerva aurorae“ benannt. Für den „status exaltationis“ verweist Glassius auf Namen, die das königliche Amt Christi betreffen und daher an späterer Stelle besprochen werden.174
172 OMP, S. 396. 173 Vgl. OMP, S. 397 f. (zum ganzen Abschnitt) 174 Zu diesem Abschnitt vgl. OMP, S. 399.
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Die Bezeichnung „~da homo“ für den Messias, wie sie nach Glassius in 2Sam 7,19, 1Chron 17,17 und Jes 2,22 vorliegt, ergibt sich erstens aus der Vollständigkeit seiner menschlichen Natur nach Leib und Seele (Hebr 2,16 f., Joh 1,14, 1Tim 3,16, Röm 9,5), zweitens „[r]atione Adami primi hominis collationis“ gemäß Röm 5,12 ff. und 1Kor 15,45 ff. und drittens „peculiariter, ratione sanguinis sui effusionis“, was der Thüringer mit einer inventio a nomine durch die Wortverwandtschaft mit „~wda rubicundus“ (Hld 5,10, Jes 63,2) begründet und als Hinweis auf die blutige Passion versteht.175 Mit „~da-!b Filius hominis“ folgt jener Name, den Jesus selbst im Neuen Testament von sich gebraucht (Mt 16,13, 25,31, 26,24), der aber schon im Alten Testament in messianisch gedeuteten Texten verwendet wird (Ps 8,5, Dan 7,13). Glassius meint mit Hinweis auf Hi 19,21, Jer 49,33, Ez 2,1 und Ez 3,4, dieser Name sei „deducta ex vulgari consuetudine“. Daß der Name keineswegs nur eine Bezeichnung für den erniedrigten Christus, sondern erst recht für den erhöhten ist, geht dagegen aus Mt 26,64 deutlich hervor.176 Durch den Gebrauch des Wortes „vya Vir sive homo“ für den Messias (Gen 4,1, Sach 6,12), der ebenfalls vom allgemeinen Sprachgebrauch abgeleitet ist (Ex 19,13, Hos 11,9), wird zum einen Christi menschliche Natur bezeichnet. Zum andern ist darin ein Hinweis zu sehen auf die dieser Natur durch die Vereinigung mit der Hypostase des Logos zukommende „excellentia & dignitas“, schließlich auch auf das priesterliche und königliche Amt des Messias als eines siegreichen Kriegsheldes (Ex 15,3) gegen Teufel und Tod (Hebr 2,14, Kol 2,15, Ps 110,2, 2,9).177 Auch das Nomen „rbg“ bedeutet „Vir“ und verweist in Jer 31,22 auf die Empfängnis des Messias, wie der Zusammenhang des Kapitels erweist, in dem es um das messianische Heilswerk bzw. um das „Fundamentum Novi Federis“ geht. Erst hier kommt Glassius wieder auf den usus zu sprechen, der nach 1Tim 2,5 f. aus dem Wunder der Inkarnation zu schöpfen ist und somit auch von den drei zuvor genannten appellationes gelten mag. Der Nutzen hinsichtlich der Betrachtung Christi besteht in der Wahrnehmung seiner vollen Wesensgleichheit (Homousie) mit den Menschen (Deut 4,24, Hebr 12,29, 4,15, Eph 5,30) und der Wirksamkeit seines Heilswerkes, das er als mediator zwischen Gott und Mensch und als für alle Menschen geltende Versöhnung nach 1Joh 2,2 und Joh 1,29 vollbracht hat. Der Nutzen hinsichtlich der Betrachtung des Lesers und Hörers besteht in der Einsicht sowohl in die Tiefe des menschlichen Elends als auch in die Süßigkeit (suavitas) der durch den Menschen
175 OMP, S. 399 f. Ablehnend verweist Glassius hier auf kabbalistische Spekulationen über die drei Buchstaben des Wortes Adam. 176 Vgl. zu diesem Abschnitt OMP, S. 400. 177 Vgl. OMP, S. 400 f.
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Christus überbrachten Gnade. „Cogita prius, & de te ipsa, tuisqve viribus despera: Cogita posterius & in unice homine Christo ad finem usqve firmiter spera.“178 Zu den Variationen, in denen der Messias als eine Pflanze (xm;c,) oder ein Gewächs bezeichnet wird (Sach 3,8, 6,12, Jes 4,2, Jer 23,5, 33,15, Jes 11,1), gibt Glassius zu bedenken, daß diese Stellen in der chaldäischen Paraphrase messianisch ausgelegt werden. Außerdem verbindet die Septuaginta dieses Nomen an den genannten Stellen mit dem Wort avnatolh., was wiederum in Lk 1,78 von Christus prädiziert wird. Zudem wird drittens auch die Verbform xmc an vielen alttestamentlichen Stellen gebraucht, wo es um den Messias und seine Wohltaten geht (Jes 61,11 f., 43,19, Ps 85,12, 132,17, Sach 6,12). Matthäus wiederum verweist auf rc,nE als weiteres Pflanzenwort, wenn er in Mt 2,23 Jesus als Nazoräer bezeichnet. Als weiteren Grund gibt Glassius die inhaltliche Korrespondenz zwischen dem Hervorkommen einer Pflanze aus der Erde und der menschlichen Herkunft des aus der Jungfrau geborenen Christus an. Der Nutzen aber besteht in der Betrachtung der irdischen Geburt und der irdischen, der Qualität nach durch „Constantia“ und „Fragrantia“ ausgezeichneten Früchte des Messias, wie sie in Jes 11,1–3 aufgezählt und in Gestalt von „sapientia“, „consilium“, „fortitudo“ und „timor Domini“ „ad confirmationem“, „ad consolationem“ und „ad exhortationem“ den Gläubigen dargeboten werden. Die confirmatio beruht darauf, daß Christus die lebendigmachenden Früchte zueignet: „Ergò etiam fructus Arboris istius vivificae nostri sunt.“ Die consolatio als Nutzen gründet in der Einwohnung Christi durch den Glauben nach Eph 3,17 und Gal 2,20, die von keinem Feind erschüttert werden kann (Röm 8,32–38). Die exhortatio aber fließt aus dem Wohlgeruch der Evangeliumserkenntnis, wie diese von Christus als Baum des Lebens ausgeht und den Seinen zuteil wird (2Kor 2,14–16), so daß auch diese zu fruchtbringenden Bäumen werden (Ps 1,3, 92,13 f., Jes 44,4, 60,2, Ez 34,29).179 „Filius virginis“ wird der Messias in Jes 7,14 genannt. Nach einer etymologischen Begründung der Bedeutung des Wortes hm'l.[; aus dem Verbum ml[ bietet Glassius Hinweise aus dem sonstigen „usus scripturae“ darauf, daß damit oft eine Jungfrau bezeichnet wird (Gen 24,43, Ex 2,8, Hld 1,3, 6,7, Ps 68,26, Spr 30,19). Daß dies auch in Jes 7,14 so ist, zeigt für Glassius neben dem „testimonium Matthaei“ (1,22 f.) der Immanuelsname des geborenen Kindes im unmittelbaren Textzusammenhang bei Jesaja.180 Nutzen kann der Leser ziehen aus der Betrachtung Marias, 178 Vgl. zu diesem Abschnitt OMP, S. 401 f., mit dem Zitat S. 402. 179 Vgl. zu diesem Abschnitt OMP, S. 402–405. 180 Zur Vertretbarkeit dieser Auslegung vgl. Reiser, Bibelkritik, S. 323: „Wenn das angekündigte Kind dann den Namen ‚Gott-mit-uns‘ erhalten soll, kann man zumindest vermuten, daß es sich um kein ganz gewöhnliches Kind handelt.“; S. 324: „So ist es auch aus heutiger Sicht nicht nur erlaubt, sondern naheliegend, die Immanuelsweissagung nach dem hebräischen Text, zumin-
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Immanuels und seiner selbst. Die Betrachtung der Jungfrau führt zur Einsicht in ein Geschehen, das allein der göttlichen Allmacht zuzuschreiben ist, wofür Glassius im Wunder des blühenden Aaronstabes nach Num 17 eine Analogie erkennt. Die Betrachtung Immanuels führt zum – in einem Zitat Gregors von Nyssa zum Ausdruck gebrachten181 – Staunen über die Erniedrigung und Herabkunft des Logos zum Heil der Menschen nach 1Joh 4,9 f. Hinsichtlich der Gläubigen ist an das „Spiritualis Christi nativitatis mysterium“ zu erinnern, das geistliche Geborenwerden Christi in den Seinen, durch das diese ihm gleichgestaltet werden (Gal 4,19), wenn sie durch Wasser und den Geist zu Kindern Gottes angenommen werden: „Qvemadmodùm igitur Christus natus fuit ex pura virgine: Sic sine virginitate mystica spiritualiter in nobis non nascitur, Virginitas ista est, qvâ abstinetur non à legitimo conjugio, sed à complexu & consuetudine Satanae, mundi, carnis, & ita à peccato, 1. Cor. XI. 2. Apocal. XIV. 4. Confer 2. Corinth. VI. 15, 16, 17.“182 Auch in der Benennung „Semen mulieris“ in Gen 3,15 erkennt Glassius einen Hinweis auf die Jungfrauengeburt, was er hier zum wiederholten Male durch den Kontrast zur sonstigen alttestamentlichen Redeweise begründet, die bei Nachkommen immer die Vorväter, nicht aber die Mütter angibt. Den „Usus ex appellatione“ entnimmt er Jes 53,10, wo davon die Rede ist, daß der Gottesknecht nach seinem Schuldopfer Nachkommen ohne Ende haben wird. Darin erkennt Glassius als Nutzen einen Hinweis „de perpetuate Ecclesiae“, eine consolatio angesichts dessen, daß Christus eines Wesens mit den Menschen geworden ist, und schließlich eine durch Hinweise auf die Geschichte Israels verstärkte Mahnung, sich davor zu hüten, zum „semen Satanae“ (Joh 8,44) zu werden.183 In weiteren messianischen Weissagungen wurzeln die verwandten oder dem Sinne nach ähnlich lautenden Namen „Semen Abrahae, Isaaci, Jacobi, Davidis“ (Gen 22,18, 26,4, 28,14, 2Sam 7,12), „Virga de stirpe Isai“ (Jes 11,1) und „Radix Isai“ (Jes 11,10). Gemeint ist hier jeweils der „ortus Messiae secundum carnem“. Grund für den Gebrauch dieser Pflanzenmetapher „radix“, die neutestamentlich in Offb 5,5 und 22,10 zu finden ist, ist die biblische Rede davon, daß es es sich bei den Vätern Israels um die Erstlinge des heilsgeschichtlichen Baumes handelt (Röm 11,16). Damit aber ist angezeigt, daß Christus der Erstgeborene der dann nach Jes 11,10 auch aus den Heiden dest aber nach dem Septuagintatext als messianische Weissagung zu verstehen.“; S. 328: „Die Weissagung des Propheten ist wie ein merkwürdig geformtes Schlüsselloch, in das der Schlüssel Christus genau hineinpaßt.“ 181 Vgl. OMP, S. 406: „In Immanuële proponitur tibi Ingens humilitatis & dilectionis argumentum. Magnum & excelsum aliqvod operari (inqvit Gregorius Nyssenus) in Deo non miraculum, sed natura ejus consentaneum est. At in humilem & abjectum statum descendere eum, qvi omnium supremus est, id verò omnem admirationem superat.“ 182 Vgl. zu diesem Abschnitt OMP, S. 405–407 mit dem langen Zitat a. a. O. S. 406 f. 183 Vgl. zu diesem Abschnitt OMP, S. 407.
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herzugerufenen geistlichen Gottesfamilie ist: „Christus igitur Radix Isai & Davidis dicitur, qvia est verus ille pimogenitus, Ps LXXXIX. 28. ex Isai & Davidis familia ortus, & fundamentum qvasi ac radix totius familiae DEI Spiritualis.“184 Die messianische Bedeutung der die Niedrigkeit Christi anzeigenden appellationes „homo miser“, „afflictus“, „vermis“, „cerva aurorae“ ergibt sich aus ihrer Herkunft aus vom Neuen Testament her messianisch und passionstheologisch gedeuteten alttestamentlichen Stellen. Für das Wort vwna aus Ps 8,5 ist die Allegation in Hebr 2,6–9 zu beachten.185 Der Name „afflictus“ (ynI[') aus Sach 9,9 wird in Mt 21,5 beim Einzug Jesu in Jerusalem aufgenommen, die applicatio ad usum besteht nach Hebr 2,17 f., 4,15 f. und Mt 11,28 f. in dem Trost, den zu spenden dieser demütige Christus für die mit ihm verbundenen Angefochtenen in der Lage ist.186 Im höchsten Maße gesteigert ist die Niedrigkeit des Heilandes in der Selbstbezeichnung als Wurm in Ps 22,7. „Mediator de sua passione ita loqvitur. […] Vox t[lwt vermem, vermiculum significat, qvi ab omnibus teritur & contunditur.“187 Die collatio mit Jes 1,18 und Ex 25,4 im Kontext der Passion Jesu führt zur Betrachtung der Herstellung der blutroten Purpurfarbe, mit der nach Jes 61,10 und Ps 45,14 f. diejenigen geschmückt sind, die vor Gott stehen, was in einer paradoxen Typologie bei Jesu Verspottung im Purpurmantel wiederkehrt, den er gleichsam wie die Purpurschnecken mit seinem sühnenden Blutopfer färbt. Der usus aber ist dort erkennbar, wo dem „Würmlein Jakob“ und damit der Christi Kreuz gleichförmigen Kirche Alten und Neuen Testaments das in Jes 41,14 erschallende „Fürchte dich nicht“ und damit die Gewißheit der Gemeinschaft mit ihm auch in der Vollendung nach Röm 8,29 und Phil 3,21 zugesprochen wird.188 Daß es im gesamten 22. Psalm um Christus geht, ist für Glassius Grund zur Annahme, daß David auch mit der in der Morgenröte gejagten „Hirschkuh“ (rx;V;h; tl,Y