360 62 120MB
German Pages XLIV, 3211 [3037] Year 2020
Georg F. Hoffmann · Michael J. Lentze Jürgen Spranger · Fred Zepp · Reinhard Berner Hrsg.
Pädiatrie Grundlagen und Praxis 5. Auflage
Springer Reference Medizin
Springer Reference Medizin bietet Ärztinnen und Ärzten die optimale Lösung für ihren Arbeitsalltag. Unser Publikationsangebot beinhaltet die Qualität, die man von Springer kennt, bietet aber den Vorteil, dass das Wissen kontinuierlich aktualisiert wird und die Leser somit immer auf dem neuesten Stand sind. Die großen, umfassenden Fachbücher sind als Printausgabe verfügbar, zusätzlich bieten wir dynamische online Publikationen an. Der Vorteil der Live Reference-Ausgaben: Das Bücherregal muss nicht in regelmäßigen Abständen erneuert werden, denn die Informationen sind jederzeit online abrufbar – schnell, übersichtlich und in deutscher Sprache. Schnelle online First Publikationen bieten nach wie vor gesichertes Wissen, denn alle Kapitel sind von führenden Experten verfasst und peer-reviewed. Springer Reference Medizin wächst ständig um neue Kapitel und Fachgebiete. Alle deutschsprachigen Referenzwerke – auch anderer Fächer – finden Sie unter www.springerreference.de. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13534
Georg F. Hoffmann • Michael J. Lentze Jürgen Spranger • Fred Zepp • Reinhard Berner Hrsg.
Pädiatrie Grundlagen und Praxis Begründet von Michael J. Lentze, Jürgen Schaub, Franz-Josef Schulte und Jürgen Spranger
5., vollständig überarbeitete Auflage
mit 1030 Abbildungen und 502 Tabellen
Hrsg. Georg F. Hoffmann Zentrum für Kinder und Jugendmedizin Universitätsklinikum Heidelberg Heidelberg, Deutschland Jürgen Spranger Sinzheim, Deutschland
Michael J. Lentze Bonn, Deutschland
Fred Zepp Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsmedizin Mainz Mainz, Deutschland
Reinhard Berner Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Dresden, Deutschland
ISSN 2625-3461 ISSN 2625-350X (electronic) Springer Reference Medizin ISBN 978-3-662-60299-7 ISBN 978-3-662-60300-0 (eBook) ISBN 978-3-662-60306-2 (print and electronic bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2001, 2003, 2007, 2014, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag © istock.com/FatCamera (Symbolbild mit Fotomodellen) Umschlaggestaltung: deblik Berlin Lektorat/Plannung: Christine Lerche Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort zur 5. Auflage
Sechs Jahre sind seit Erscheinen der letzten Auflage vergangen. Diese neue Auflage hat den rasanten Zuwachs medizinischen Wissens, die Veränderungen der ärztlichen Tätigkeiten und Strukturen zu bewältigen. Um das Fachgebiet Pädiatrie umfassend darzustellen, halten wir, im Einvernehmen mit dem Verlag, die komplexe Struktur eines im Hintergrund organisierten, multimedialen und kontinuierlich aktualisierbaren elektronischen Nachschlagewerkes zusammen mit einem gedruckten Fachbuch „Pädiatrie“ für zeitgemäß. Ein deutschsprachiges Standardwerk der Kinder- und Jugendheilkunde erscheint nach wie vor unverzichtbar. Leider verstarb im Sommer des vergangenen Jahres im Alter von 89 Jahren Herr Prof. FranzJoseph Schulte. Er hat die Konzeption dieses Werkes ganz wesentlich mitgestaltet und war Mitherausgeber der ersten 3 Auflagen. Über 40 Jahre arbeitete und prägte er die Pädiatrie in Deutschland und im internationalen Kontext nicht nur im Bereich der Neuropädiatrie, sondern als herausragender Arzt, klinischer Lehrer und Wissenschaftler die gesamte Kinder- und Jugendmedizin. Er ist einer der letzten gewesen, die unser Fach in Gänze und Tiefe durchdrungen haben. Der enormen Zunahme des Wissens geschuldet erscheint das Fachbuch Pädiatrie wieder mehrbändig. Das vorliegende Werk soll den derzeitigen Wissensstand in der Pädiatrie umfassend darstellen und im deutschsprachigen Raum auch in Zukunft das Standardwerk der Kinderund Jugendheilkunde bleiben. Die aktualisierte Darstellung des pädiatrischen Wissensstandes erforderte neue Konzeptionen und Kapitel, Straffungen und vor allem die Mitarbeit von nahezu 300 Kolleginnen und Kollegen. Viele von ihnen haben schon an den vergangenen Auflagen mitgearbeitet, einige ihre Aufgaben weitergegeben, andere sich neu eingebracht. Neben den neuen Autoren konnte Herr Prof. Reinhard Berner als neuer Herausgeber gewonnen werden. Gleichzeitig mit dem gedruckten Buch erscheint die elektronische Version und steht dann als eBook sowie als aktualisierbares Live-Reference-Werk zur Verfügung. Damit können die Vorzüge digitaler Medien, wie z. B. die freie Volltextsuche, uneingeschränkt genutzt werden. Die Adressen in den Kapiteln entsprechen den Angaben der Autoren zum Zeitpunkt der Online-first-Veröffentlichung und wurden im Autorenverzeichnis nach bestem Wissen aktualisiert. Ein herzliches Dankeschön gilt den ausgeschiedenen Autorinnen und Autoren der letzten Auflagen. Ohne ihre Mitarbeit wären die Entwicklung und Perzeption dieses Werkes nicht erfolgreich gewesen. Herzlichen Dank auch an unsere Leserinnen und Leser für die zahlreichen konstruktiven und kritischen Kommentare und Anregungen. Sie sind bei der Neuauflage berücksichtigt worden und in die entsprechenden Kapitel eingeflossen. Das Fachbuch richtet sich besonders an Kinder- und Jugendärztinnen/-ärzte und solche, die sich in der Weiterbildung befinden. Es soll als fachliche Referenz Rückhalt geben, Nachschlagewerk der Kinder- und Jugendheilkunde und so auch in unseren Nachbardisziplinen eine Hilfe bei der zunehmend interdisziplinären Versorgung unserer Patienten sein. Die Nutzer dieses zweibändigen Werkes sollen (alle) pädiatrischen Fragen zufriedenstellend beantwortet finden.
V
VI
Vorwort zur 5. Auflage
Dem Verlag danken wir für die stets konstruktive und hilfreiche Zusammenarbeit, die dieses Werk in seiner Qualität und im Layout kontinuierlich verbessert hat. Wir wünschen uns, dass diese 5. Auflage genauso großen Anklang wie die bisherigen findet und ihren Platz in der Entwicklung der deutschsprachigen Pädiatrie behalten wird. Heidelberg, Bonn, Sinzheim, Mainz, Dresden Herbst 2020
G. F. Hoffmann M. J. Lentze J. Spranger F. Zepp R. Berner
Inhaltsverzeichnis
Band 1 Teil I Basiskonzepte der Kinder- und Jugendmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1
Basiskonzepte der Kinder- und Jugendmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Spranger und Fred Zepp
3
2
Ethik in der Pädiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Niethammer
9
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Jenni
15
4
Wachstum und Entwicklung in der Pränatal- und Neugeborenenperiode . . . . Oskar Jenni
53
5
Wachstum und Entwicklung im Säuglingsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Jenni
63
6
Wachstum und Entwicklung im Kleinkindalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Jenni
77
7
Wachstum und Entwicklung im Schulalter und in der Adoleszenz . . . . . . . . . Oskar Jenni
91
Teil II
Krankheitsprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
8
Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Burkhard Lawrenz
9
Hüftgelenkdysplasie und postnatales Hüftgelenkscreening . . . . . . . . . . . . . . . 119 Gerolf Schweintzger
10
Neugeborenenscreening . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 René Santer, Alfried Kohlschütter und Annerose Keilmann
11
Rachitisprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Dirk Schnabel
12
Jodprophylaxe der Struma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Klaus Mohnike
13
Impfungen und Reiseimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Fred Zepp und Markus Hufnagel
14
Zahnärztliche Untersuchung und Prophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Christian H. Splieth
VII
VIII
Inhaltsverzeichnis
Teil III
Kind und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
15
Prävention und Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Rüdiger von Kries
16
Soziale Faktoren und „neue Morbidität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Knut Brockmann, Hans Georg Schlack, Christiane Deneke und Fuat Aksu
17
Plötzlicher Kindstod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Christian F. Poets und Gerhard Jorch
18
Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Bernd Herrmann, Ingo Franke und Meinolf Noeker
19
Internet- und Computersucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Christoph Möller
20
Substanzmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Rainer Thomasius
21
Unfälle und Unfallverhütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Peter Spitzer und Michael E. Höllwarth
22
Pädiatrische Umweltmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Karl Ernst von Mühlendahl
23
Schadstoffe und Atemwegserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Erika von Mutius und Joachim Heinrich
24
Chronische Krankheiten und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Knut Brockmann, Rainer Blank, Markus A. Landolt, Hubertus von Voss, Raimund Schmid und Hans Georg Schlack
25
Entwicklungsstörungen und Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Ute Moog und Rainer Blank
26
Pädiatrische Sportmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Andreas Rosenhagen, Eszter Füzéki und Winfried Banzer
Teil IV
Ernährung, Wasser- und Mineralhaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
27
Grundlagen der Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Mathilde Kersting und Hildegard Przyrembel
28
Normale Ernährung von Neugeborenen und Säuglingen . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Mathilde Kersting, Hildegard Przyrembel, Karl Zwiauer, Kurt Baerlocher und Pascal Müller
29
Normale Ernährung von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Mathilde Kersting und Hildegard Przyrembel
30
Infusionstherapie und parenterale Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Berthold Koletzko
31
Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Martin Wabitsch
32
Malnutrition (Unterernährung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Michael J. Lentze
33
Vitaminmangelkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Hansjosef Böhles
Inhaltsverzeichnis
IX
34
Wasser- und Mineralhaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Wolfgang Rascher
Teil V
Medizinische Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
35
Das menschliche Genom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Dagmar Wieczorek und Hermann-Josef Lüdecke
36
Epigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Bernhard Zabel und Dirk Prawitt
37
Angeborene körperliche Anomalien: Definition und Klassifikation . . . . . . . . . 425 Stefan Mundlos
38
Angeborene körperliche Anomalien: klinische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Denise Horn und Peter Meinecke
39
Chromosomale Diagnostik, chromosomale Aberrationen . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Simone Schuffenhauer und Heidemarie Neitzel
40
Molekulare Diagnostik und Genomanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Stefan Mundlos
41
Angeborene körperliche Anomalien: Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Annette Queißer-Wahrendorf
42
Dysmorphogenetische Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Rainer König
43
Genetische Beratung und Pränataldiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Stephanie Spranger
44
Therapie genetisch bedingter Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Johannes Zschocke
Teil VI
Pränatale Medizin und Neonatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
45
Pränatale Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Karl Oliver Kagan, Harald Abele und Christian F. Poets
46
Pränatale Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Andreas Müller, Peter Bartmann und Christoph Härtel
47
Grundlagen der Neonatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Christian P. Speer
48
Intrauterines Wachstum, Wachstumsstörungen und Postmaturität . . . . . . . . . 541 Michael Zemlin und Ludwig Gortner
49
Enterale Ernährung von Frühgeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Walter A. Mihatsch
50
Medikamente und toxische Substanzen mit Auswirkung auf den Feten . . . . . . 551 Michael Zemlin und Ludwig Gortner
51
Morbus haemolyticus neonatorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Christian P. Speer
52
Neonatale Alloimmunthrombozytopenie und weitere fetomaternale Inkompatibilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Michael Zemlin und Ludwig Gortner
X
Inhaltsverzeichnis
53
Perinatale Asphyxie und hypoxisch-ischämische Enzephalopathie . . . . . . . . . 561 Mario Rüdiger
54
Neurologie des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Christoph Bührer
55
Lungenkrankheiten bei Früh- und Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Christian P. Speer
56
Intestinale Atresien und Stenosen bei Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Christian P. Speer
57
Icterus neonatorum und Hyperbilirubinämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Christian P. Speer
58
Störungen der fetalen Erythropoese und Koagulopathien . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Christian P. Speer
59
Metabolische Störungen bei Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Christian P. Speer
60
Perinatal und postnatal erworbene Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Andreas Müller, Peter Bartmann und Christoph Härtel
Teil VII
Jugendmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
61
Jugendmedizin und Jugendgesundheitsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Uwe Büsching und Fred Zepp
62
Spezielle Organerkrankungen von Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Wieland Kiess
63
Jugendgynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Nikolaus Weissenrieder und Ivonne Bedei
64
Jungen – Sexualentwicklung und sexuelle Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Bernhard Stier und Reinhard Winter
65
Transition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Wieland Kiess
Teil VIII
Stoffwechselkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
66
Differenzialdiagnose und Notfallbehandlung von Intermediärstoffwechselkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Georg F. Hoffmann und Stefan Kölker
67
Harnstoffzyklusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Johannes Häberle
68
Aminoazidopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Stefan Kölker und Georg F. Hoffmann
69
Organoazidurien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 Stefan Kölker und Georg F. Hoffmann
70
Genetische Defekte des Monosaccharidstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 Thomas Meissner und René Santer
Inhaltsverzeichnis
XI
71
Familiäre Hypercholesterinämie und verwandte Störungen des Lipidstoffwechsels (Hyperlipoproteinämien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 Kurt Widhalm
72
Genetische Defekte der Fettsäurenoxidation und des Ketonstoffwechsels . . . . 735 Ute Spiekerkötter
73
Mitochondriopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 Wolfgang Sperl und Peter Freisinger
74
Kreatinmangelsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 Georg F. Hoffmann
75
Glykogenspeicherkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 René Santer und Kurt Ullrich
76
Mukopolysaccharidosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Jürgen Spranger
77
Oligosaccharidosen und verwandte Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 Jürgen Spranger
78
Sphingolipidosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Julia B. Hennermann
79
Peroxisomale Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809 Jutta Gärtner und Hendrik Rosewich
80
Angeborene Glykosylierungsdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Thorsten Marquardt
81
Defekte der Cholesterolbiosynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 Georg F. Hoffmann
82
Defekte des Purin- und des Pyrimidinstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 Birgit Assmann und Jörgen Bierau
83
Porphyrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833 Ulrich Stölzel und Manfred O. Doss
Teil IX
Endokrinologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
84
Diabetes insipidus und Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion . . . . . . . . . 841 Wolfgang Rascher
85
Krankheiten von Hypophyse und Hypothalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 Roland Pfäffle
86
Krankheiten der Schilddrüse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 Markus Bettendorf und Joachim Pohlenz
87
Störungen des Kalzium-Phosphat-Stoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Dirk Schnabel
88
Störungen der Nebennierenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899 Carl-Joachim Partsch und Felix Riepe
89
Krankheiten der Keimdrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Olaf Hiort
XII
Inhaltsverzeichnis
90
Pubertät und Pubertätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Sabine Heger und Olaf Hiort
91
Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949 Martin Wabitsch und Beate Karges
92
Wachstumsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965 Dirk Schnabel
Teil X
Immunologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
93
Physiologie der B- und T-Lymphozyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975 Mathias Hauri-Hohl und Johannes Trück
94
Immunologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987 Carsten Speckmann und Stephan Ehl
95
Angeborene Immundefekte mit vorwiegender Störung der Antikörperproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991 Johannes Trück und Mathias Hauri-Hohl
96
T-zelluläre und kombinierte Immundefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 Stephan Ehl und Carsten Speckmann
97
Sekundäre Immundefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 David Nadal
98
HIV-Infektion und AIDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033 Tim Niehues und Jennifer Neubert
99
Erhöhte Infektanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043 David Nadal
100
Komplementsystem und Komplementdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 Michael Kirschfink
101
Phagozytenfunktionsdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1055 Reinhard Seger
Teil XI
Autoimmunkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1059
102
Definition und Pathogenese der Autoimmunkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . 1061 Günther Dannecker und Norbert Wagner
103
Juvenile idiopathische Arthritis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065 Hans-Iko Huppertz, Gerd Horneff und Fred Zepp
104
Juvenile Spondyloarthritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085 Daniel Windschall und Hans-Iko Huppertz
105
Infektassoziierte Arthritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093 Hans-Iko Huppertz
106
Systemischer Lupus erythematodes und seltene rheumatische Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099 Norbert Wagner und Günther Dannecker
107
Episodische Fiebersyndrome – autoinflammatorische Syndrome . . . . . . . . . . 1109 Gerd Horneff und Angela Rösen-Wolff
Inhaltsverzeichnis
XIII
108
Amyloidosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121 Hans-Iko Huppertz
109
Vaskulitiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123 Christian M. Hedrich
110
Juvenile Dermatomyositis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 Hans-Iko Huppertz
111
Sklerodermie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1135 Hermann Girschick
Teil XII 112
Allergie und allergische Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141
Allergische Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143 Eckard Hamelmann
Teil XIII
Infektionskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1161
113
Prinzipien der Infektiologie und Infektionsepidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . 1163 Reinhard Berner, Ulrich Heininger und Heinz-Josef Schmitt
114
Epidemiologie und Prävention von nosokomialen Infektionen in der Pädiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171 Thomas Hauer, Arne Simon und Markus Dettenkofer
115
Sepsis und toxisches Schocksyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203 Markus Hufnagel
116
Bakterielle Infektionen: grampositive und gramnegative Kokken . . . . . . . . . 1217 Reinhard Berner
117
Bakterielle Infektionen: grampositive Stäbchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1237 Ulrich Heininger
118
Bakterielle Infektionen: gramnegative Stäbchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243 Reinhard Berner, Ulrich Heininger, Klaus-Michael Keller und Hans-Iko Huppertz
119
Bakterielle Infektionen: Anaerobier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1265 Reinhard Berner, Markus Hufnagel, Roland Elling und Klaus-Michael Keller
120
Atypische bakterielle respiratorische Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1273 Markus Hufnagel und Roland Elling
121
Atypische bakterielle Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281 Markus Hufnagel, Roland Elling, Christoph Berger, Hans-Iko Huppertz und David Nadal
122
Atypische bakterielle Infektionen: Spirochäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295 Hans-Jürgen Christen und Helmut Eiffert
123
Atypische bakterielle Infektionen: Mykobakteriosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1303 Hans-Iko Huppertz und David Nadal
124
Respiratorische Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1315 Marcus Panning und Johannes Forster
XIV
Inhaltsverzeichnis
125
Gastrointestinale Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323 Marcus Panning und Johannes Forster
126
Masern, Mumps, Röteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329 Volker Schuster, Christoph Berger und Hans-Wolfgang Kreth
127
Slow-virus-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335 Volker Schuster und Hans-Wolfgang Kreth
128
Virale hämorrhagische Fieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1339 Markus Hufnagel und David Nadal
129
Rabies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1349 Christoph Berger
130
Adenovirus-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1351 Marcus Panning und Johannes Forster
131
Parvovirus-B19-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1355 Marcus Panning, Volker Schuster und Hans-Wolfgang Kreth
132
Herpesvirus-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1359 Volker Schuster, Hans-Wolfgang Kreth und David Nadal
133
Mykosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373 Andreas Groll
134
Protozoen und Helminthen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1387 Robin Kobbe
Teil XIV
Notfall- und Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1419
135
Pädiatrische Notfall- und Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1421 Sebastian Brenner
136
Atemwegsmanagement und Vorgehen bei respiratorischer Insuffizienz . . . . . 1425 David Brandt, Sebastian Brenner und Stefan Winkler
137
Akute Herzkreislaufinsuffizienz und Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437 Heike Schützle und Sebastian Brenner
138
Akute Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1449 Heike Schützle und Sebastian Brenner
139
Akzidentelle Hypothermie und Hyperthermie: aktives Temperaturmanagement, thermische Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1455 Heike Schützle und Sebastian Brenner
140
Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463 Axel Hahn
Teil XV
Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473
141
Grundlagen der Pharmakologie und Arzneimitteltherapie . . . . . . . . . . . . . . 1475 Hannsjörg W. Seyberth, Eva Neumann und Matthias Schwab
142
Antimikrobielle Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1497 Reinhard Berner und Thomas Lehrnbecher
Inhaltsverzeichnis
XV
143
Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1521 Friedrich Ebinger
144
Fieber und fiebersenkende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527 Fred Zepp
145
Komplementärmedizinische/alternative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1531 Jürgen Spranger
Band 2 Teil XVI Krankheiten von Verdauungstrakt, Peritoneum, Bauchwand und Pankreas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1535 146
Speicheldrüsenkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1537 Rudolf Reich
147
Fehlbildungen im Kiefer- und Gesichtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Rudolf Reich
148
Krankheiten des Kiefergelenks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1549 Rudolf Reich
149
Zahnkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1551 Reinhard Schilke und Georg Hillmann
150
Krankheiten des Zahnfleisches und der Mundschleimhaut . . . . . . . . . . . . . . 1567 Reinhard Schilke und Georg Hillmann
151
Krankheiten des Ösophagus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1573 Sibylle Koletzko
152
Krankheiten von Magen und Duodenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1591 Sibylle Koletzko
153
Akute Gastroenteritis und postenteritisches Syndrom (persistierende Diarrhö) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1607 Michael J. Lentze
154
Zöliakie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1615 Klaus-Peter Zimmer
155
Kuhmilchallergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1623 Klaus-Michael Keller
156
Angeborene Krankheiten des Gastrointestinaltrakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1627 Michael J. Lentze
157
Kurzdarmsyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1637 Walter Nützenadel
158
Angeborene Krankheiten mit Strukturveränderungen des Darms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1639 Michael J. Lentze
159
Morbus Crohn und Colitis ulcerosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643 Klaus-Michael Keller
XVI
Inhaltsverzeichnis
160
Eiweißverlierende Enteropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1653 Michael J. Lentze
161
Funktionelle Störungen des Darms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1657 Klaus-Michael Keller, Sibylle Koletzko und Stephan Buderus
162
Strukturdefekte und neuronale Störungen des Darms . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1669 Sibylle Koletzko
163
Immundefizienz und Darmkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1681 Klaus-Michael Keller
164
Appendizitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1687 Christian Lorenz
165
Peritonitis und Aszites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1693 Martin Metzelder und Benno Ure
166
Bauchwanddefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1697 Martina Heinrich und Dietrich von Schweinitz
167
Pankreaskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1703 Heiko Witt
Teil XVII
Krankheiten der Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1711
168
Entwicklung und Funktion der Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1713 Thomas S. Weiß und Michael Melter
169
Cholestase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1723 Simone Kathemann
170
Morbus Wilson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1733 Roderick Houwen und Thomas Müller
171
α1-Antitrypsin-Mangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1737 Klaus Pittschieler
172
Hepatitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1741 Stefan Wirth
173
Krankheiten der extrahepatischen Gallenwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1753 Thomas Lang
174
Akutes Leberversagen und Lebertransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1763 Michael Melter und Burkhard Rodeck
175
Portale Hypertension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1777 Simone Kathemann
Teil XVIII
Krankheiten der Atmungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1783
176
Morphologie der Lunge und Entwicklung des Gasaustauschapparates . . . . . 1785 Stefan A. Tschanz und Peter H. Burri
177
Atemregulation und Gasaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1793 Christian F. Poets
178
Atemphysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1799 Jürg Hammer und Urs Frey
Inhaltsverzeichnis
XVII
179
Pulmonale Abwehrmechanismen und mukoziliäre Clearance . . . . . . . . . . . . 1803 Christian Rieger
180
Kardiopulmonale Reanimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1807 Bendicht Wagner
181
Symptome und klinische Befunde häufiger respiratorischer Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1813 Josef Riedler
182
Diagnostik bei Luftwegskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1823 Ernst Eber
183
Zwerchfelldefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1833 Jörg Fuchs
184
Kongenitale Anomalien von Atemwegen und Lungen inklusive primäre ziliäre Dyskinesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1839 Ernst Eber
185
Tracheobronchitis und Bronchiolitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1851 Johannes Forster
186
Infektiöse Pneumonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1855 Ulrich Heininger
187
Aspirationspneumonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1859 Philippe Stock
188
Atelektasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1863 Joachim Freihorst
189
Überblähungen und Lungenemphysem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1867 Martin H. Schöni
190
Bronchiektasen und Lungenabszess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1871 Christian Rieger
191
Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1875 Johannes H. Wildhaber und Alexander Möller
192
Zystische Fibrose (Mukoviszidose) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1889 Sabina Schmitt-Grohé, Michael J. Lentze und Jobst Henker
193
Lungenödem, Lungenembolie und Lungeninfarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1915 Nicolaus Schwerk
194
Lungentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1923 Holger Christiansen
195
Thoraxtrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1925 Martin Metzelder
196
Traumatische Schäden an Trachea und Bronchien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1929 Thomas Nicolai
197
Fremdkörperaspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1933 Thomas Nicolai
198
Diffuse (interstitielle) Krankheiten der Lunge und der Pleura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1937 Jürgen Seidenberg und Nicolaus Schwerk
XVIII
Inhaltsverzeichnis
199
Pneumothorax, Pneumomediastinum, Hydrothorax, Hämatothorax und Chylothorax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1947 Thomas Nicolai
200
Thoraxdeformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1951 R. Boehm und Dietrich von Schweinitz
201
Atemphysiotherapie bei pulmonalen Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1953 Beatrice Oberwaldner
202
Sporttherapie und pulmonale Rehabilitation bei chronischem Lungenleiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1959 Carl-Peter Bauer
Teil XIX
Herz- und Gefäßkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1963
203
Herz- und Gefäßkrankheiten: allgemeine Symptomatik, Anamnese, klinische und ergänzende Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1965 Gernot Buheitel
204
Fetaler und neonataler Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1983 Ulrike Herberg
205
Herzinsuffizienz und Hypoxämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1987 Hans Heiner Kramer
206
Angeborene Herz- und Gefäßanomalien: Epidemiologie und Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1997 Johannes Breuer
207
Primär nichtzyanotische Vitien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1999 Johannes Breuer
208
Primär zyanotische Vitien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2021 Johannes Breuer
209
Angeborene Gefäßanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2039 Johannes Breuer
210
Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2043 Thomas Paul
211
Kardiomyopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2053 Ludger Sieverding
212
Herztumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2065 Ludger Sieverding
213
Myokarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2069 Thomas Paul
214
Perikarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2071 Thomas Paul
215
Infektiöse Endokarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2075 Hans Heiner Kramer
216
Rheumatische Erkrankungen und Herzbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2083 Ulrich Neudorf und Thomas Paul
Inhaltsverzeichnis
XIX
217
Arterielle Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2087 Brigitte Stiller
218
Pulmonale Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2095 Johannes Breuer
219
Orthostatische Dysregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2101 Karl-Otto Dubowy
220
Sporttauglichkeit und Leistungsphysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2103 Karl-Otto Dubowy
Teil XX Krankheiten der blutbildenden Organe, Gerinnungsstörungen und Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2109 221
Erythrozyten: physiologische Besonderheiten im Kindesalter . . . . . . . . . . . . 2111 Joachim Kunz und Andreas Kulozik
222
Anämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2117 Joachim Kunz und Andreas Kulozik
223
Funktionsstörungen des Hämoglobins und Polyzythämie . . . . . . . . . . . . . . . 2147 Joachim Kunz und Andreas Kulozik
224
Neutrophile Granulozyten - Neutrophilien, Neutropenien und Neutrophilenfunktionstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2151 Cornelia Zeidler und Nicole Töpfner
225
Physiologie der Gerinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2161 Frauke Bergmann und Ralf Knöfler
226
Hämorrhagische Diathesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2165 Frauke Bergmann und Ralf Knöfler
227
Hereditäre Thrombophilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2193 Frauke Bergmann und Ralf Knöfler
228
Erworbene Koagulopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2203 Frauke Bergmann und Ralf Knöfler
229
Krankheiten der Milz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2211 Nicole Töpfner
230
Grundlagen der pädiatrischen Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2215 Thomas Klingebiel, Peter Bader und Simone Fulda
231
Leukämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2227 Arndt Borkhardt, Peter Bader und Thomas Klingebiel
232
Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2239 Alexander Claviez
233
Histiozytosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2249 Milen Minkov und Gritta Janka-Schaub
234
Transplantation hämatopoetischer Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2257 Peter Bader
235
Solide Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2269 Thomas Klingebiel, Thorsten Langer und Arndt Borkhardt
XX
236
Inhaltsverzeichnis
Tumoren des Gehirns und des Spinalkanals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2291 Gudrun Fleischhack, Kristian Pajtler und Stephan Tippelt
Teil XXI Krankheiten der Niere, der ableitenden Harnwege und des äußeren Genitales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2309 237
Physiologische Grundlagen der Nierenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2311 Siegfried Waldegger
238
Nephrologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2315 Anette Melk
239
Fehlbildungen der Nieren (inklusive zystischer Nephropathien) und ableitenden Harnwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2321 Stefanie Weber
240
Harnwegsinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2329 Rolf Beetz
241
Enuresis und funktionelle Harninkontinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2335 Rolf Beetz
242
Nephritisches und nephrotisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2341 Lutz T. Weber
243
Hereditäre Glomerulopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2347 Stefanie Weber
244
Glomerulonephritiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2355 Burkhard Tönshoff
245
Tubulopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2361 Jens König und Martin Konrad
246
Urolithiasis und Nephrokalzinose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2373 Bernd Hoppe
247
Vaskulitiden mit renaler Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2383 Dieter Haffner
248
Hämolytisch-urämisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2389 Franz Schaefer
249
Akutes Nierenversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2395 Christoph Aufricht
250
Chronische Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2401 Franz Schaefer
251
Dialyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2407 Claus Peter Schmitt
252
Nierentransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2413 Burkhard Tönshoff
253
Renale Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2419 Elke Wühl
254
Fehlbildungen und Krankheiten des äußeren Genitales . . . . . . . . . . . . . . . . . 2423 Olaf Hiort
Inhaltsverzeichnis
XXI
Teil XXII
Krankheiten des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2429
255
Neurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2431 Florian Heinen und Steffen Berweck
256
Entwicklungsstörungen des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2435 Angela Kaindl, Eugen Boltshauser, Georg C. Schwabe und Heidi Bächli
257
Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen . . . . . . . . . . 2461 Rainer Blank
258
Zerebralparesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2463 Ingeborg Krägeloh-Mann
259
Neurokutane Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2477 Gerhard Kurlemann
260
Rett-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2501 Bernd Wilken und Folker Hanefeld
261
Neurodegenerative Erkrankungen der grauen Hirnsubstanz . . . . . . . . . . . . 2507 Alfried Kohlschütter
262
Neurodegenerative Erkrankungen der weißen Hirnsubstanz . . . . . . . . . . . . . 2515 Marco Henneke und Jutta Gärtner
263
Bewegungsstörungen und Neurotransmittererkrankungen . . . . . . . . . . . . . . 2523 Birgit Assmann und Christine Klein
264
Vitaminresponsive Enzephalopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2539 Barbara Plecko
265
Spinozerebelläre Ataxien und hereditäre spastische Paraplegien . . . . . . . . . . 2545 Nicole I. Wolf
266
Infantile neuroaxonale Dystrophie Seitelberger und CockayneSyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2549 Rudolf Korinthenberg
267
Vaskuläre Krankheiten des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2553 Martin Schöning
268
Kopfschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2565 Friedrich Ebinger
269
Bakterielle Infektionen des zentralen Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2571 David Nadal, Horst Schroten und Franz J. Schulte
270
Virusinfektionen und antikörpervermittelte Krankheiten des zentralen Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2581 David Nadal, Matthias Kieslich, Martin Häusler und Andreas van Baalen
271
Multiple Sklerose und andere entzündliche demyelinisierende Erkrankungen des zentralen Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2591 Jutta Gärtner und Peter Huppke
272
Verletzungen des zentralen Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2599 Steffen Berweck und Florian Heinen
XXII
Inhaltsverzeichnis
273
Epilepsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2615 Bernd A. Neubauer und Thomas Bast
274
Nichtepileptische Anfälle und paroxysmale Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . 2639 Bernd A. Neubauer
Teil XXIII
Krankheiten der Muskulatur und Nerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2645
275
Spinale Muskelatrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2647 Janbernd Kirschner
276
Krankheiten der peripheren Nerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2651 Rudolf Korinthenberg
277
Krankheiten der neuromuskulären Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2661 Ulrike Schara und Angela Abicht
278
Kongenitale Myopathien und Muskeldystrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2669 Ulrike Schara
279
Progressive Muskeldystrophien und fazioskapulohumerale Muskeldystrophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2679 Janbernd Kirschner
280
Myotone Dystrophie Typ 1 (DM1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2685 Ulrike Schara und Sören Lutz
281
Krankheiten mit Myotonie oder periodischen Paralysen . . . . . . . . . . . . . . . . 2689 Ulrike Schara und Birgit Uhlenberg
282
Idiopathische entzündliche Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2693 Mareike Lieber und Tilmann Kallinich
283
Stoffwechselbedingte Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2697 Barbara Plecko
Teil XXIV
Seelische Entwicklung und ihre Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2703
284
Kinder- und jugendpsychiatrische und -psychologische Untersuchung . . . . . 2705 Franz Resch
285
Psychiatrische und psychologische Behandlung im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2715 Beate Herpertz-Dahlmann und Michael Simons
286
Psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern . . . . . . . . 2721 Alexander von Gontard
287
Posttraumatische Belastungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2725 Meinolf Noeker, Ingo Franke und Bernd Herrmann
288
Prävention und Intervention bei Vernachlässigung und Deprivation . . . . . . . 2731 Meinolf Noeker, Ingo Franke und Bernd Herrmann
289
Umschriebene Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2735 Gerd Schulte-Körne
290
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2741 Harald Bode
Inhaltsverzeichnis
XXIII
291
Tic-Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2745 Aribert Rothenberger
292
Störungen des Sozialverhaltens und Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . 2749 Klaus Schmeck
293
Suchttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2755 Rainer Thomasius
294
Dissoziative und somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2759 Franz Resch
295
Psychische Störungen im Zusammenhang mit somatischen Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2767 Georg G. von Polier
296
Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2771 Beate Herpertz-Dahlmann
297
Suizidversuch und Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2777 Franz Resch
298
Autistische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2781 Michele Noterdaeme
299
Psychosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2785 Benno Graf Schimmelmann und Franz Resch
Teil XXV
Krankheiten des Stütz- und Bindegewebes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2793
300
Osteochondrodysplasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2795 Jürgen Spranger
301
Dysostosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2823 Andrea Superti-Furga
302
Hereditäre Bindegewebskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2835 Beat Steinmann, Marianne Rohrbach und Gabor Matyas
303
Arthrogryposen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2861 Rainer König
304
Wirbelsäulenkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2863 Sylvie Marx und Sean Nader
305
Beinachsenfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2871 Johanna Correll, Sylvie Marx, Faik Kamel Afifi und Sean Nader
306
Hüftgelenkerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2875 Christel Schäfer und Leonhard Döderlein
307
Kniegelenkerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2885 Sean Nader und Sylvie Marx
308
Fußerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2893 Johanna Correll, Sylvie Marx, Faik Kamel Afifi und Sean Nader
309
Osteomyelitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2901 Markus Knuf
XXIV
310
Inhaltsverzeichnis
Gutartige Knochentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2909 Stefan Bielack, Thekla von Kalle und Thomas Wirth
Teil XXVI
Augenkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2915
311
Entwicklung des Sehorgans und der Sehfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2917 Birte Neppert
312
Ophthalmologische Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2919 Birte Neppert
313
Augenstellungs- und Motilitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2923 Birte Neppert
314
Sehfunktionsminderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2929 Birte Neppert
315
Krankheiten der Lider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2931 Bettina Wabbels
316
Krankheiten der Tränenwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2935 Bettina Wabbels
317
Konjunktivitis und andere Bindehautveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2937 Thorsten Böker
318
Krankheiten der Hornhaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2941 Thorsten Böker
319
Krankheiten der Linse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2945 Thorsten Böker
320
Krankheiten der Iris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2947 Birte Neppert
321
Krankheiten der Pupille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2949 Birte Neppert
322
Krankheiten der Uvea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2951 Thorsten Böker
323
Krankheiten von Netzhaut und Glaskörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2953 Thorsten Böker
324
Krankheiten des Sehnervs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2961 Bettina Wabbels
325
Krankheiten der Orbita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2963 Bettina Wabbels
326
Erhöhter und erniedrigter Augeninnendruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2965 Thorsten Böker
327
Augenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2967 Bettina Wabbels
Teil XXVII 328
Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2969
Krankheiten des äußeren Ohrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2971 Friedrich Bootz
Inhaltsverzeichnis
XXV
329
Krankheiten des Mittelohrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2977 Friedrich Bootz
330
Krankheiten des Innenohrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2987 Friedrich Bootz
331
Krankheiten der Nase und der Nasennebenhöhlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2991 Friedrich Bootz
332
Krankheiten der Mundhöhle, der Zunge, des Mundbodens und der Kopfspeicheldrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3001 Friedrich Bootz
333
Krankheiten des Rachens und Halses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3007 Friedrich Bootz
334
Krankheiten des Kehlkopfes und der Trachea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3019 Friedrich Bootz
335
Hörstörungen, Sprachstörungen, Sprechstörungen und Stimmstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3029 Götz Schade
Teil XXVIII
Hautkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3035
336
Benigne Dermatosen bei Neugeborenen und Säuglingen . . . . . . . . . . . . . . . . 3037 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
337
Bakterielle Infektionen der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3041 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
338
Virale Infektionen der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3045 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
339
Mykosen der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3047 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
340
Epizoonosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3049 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
341
Lichtdermatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3051 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
342
Ekzematöse Dermatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3053 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
343
Urtikarielle Dermatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3057 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
344
Erythematosquamöse Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3059 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
345
Papulöse und nodöse Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3063 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
346
Erworbene bullöse Autoimmunerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3067 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
347
Genodermatosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3069 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber, Astrid Steen und Rainer König
XXVI
Inhaltsverzeichnis
348
Hauttumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3077 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
349
Acne vulgaris bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3081 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
350
Krankheiten der Hautanhangsgebilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3085 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
351
Krankheiten des Nagelorgans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3087 Regina Fölster-Holst, Thomas Bieber und Astrid Steen
Teil XXIX
Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3089
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Arzneimitteltabellen für die Pädiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3091 Tobias Ankermann
353
Dosierungstabellen für Digitalispräparate in der Kinderkardiologie . . . . . . . 3127 Tobias Ankermann
354
Pädiatrisch relevante Arzneimittelinteraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3131 Tobias Ankermann
355
Grundlagen der Laboranalytik in der Pädiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3145 Johannes Lotz
356
Ausgewählte Referenzwerte in der Pädiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3151 Johannes Lotz
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3159
Über die Herausgeber
Prof. Dr. med. Georg F. Hoffmann Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg Studium der Humanmedizin in Göttingen und Birmingham, Großbritannien. Facharztausbildung in Göttingen, San Diego, USA, und Heidelberg, Schwerpunkte Neonatologie und Neuropädiatrie. Habilitation 1992 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zu dem Thema „Die Mevalonazidurie - Eine Stoffwechselerkrankung der Cholesterin- und Isoprenoidbiosynthese“. Oberarzt und Leiter der Sektion „Pädiatrische Stoffwechselerkrankungen“ an der Universitäts- Kinderklinik Heidelberg (1992–1994). Universitätsprofessor und Leiter der Klinik Pädiatrie II an der Universitäts-Kinderklinik der Philipps-Universität Marburg (1994–1999) mit den Schwerpunkten Neuropädiatrie und Stoffwechselerkrankungen. Seit 1999 Geschäftsführender Ärztlicher Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg. Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Halle. Klinische und wissenschaftliche Schwerpunkte: Stoffwechselerkrankungen, Neugeborenenscreening, seltene Erkrankungen, Neuropädiatrie. Prof. em. Dr. med. Michael J. Lentze Studium der Medizin in München, Promotion 1975. Ausbildung zum Kinderarzt am Dr. von Haunerschen Kinderspital in München. 1984 Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universitüt Bern. Research Fellow im Department of Gastroenterology am Peter Bent Brigham Hospital, Havard Medical School. Leiter der Gastroenterologischen Abteilung an der Universitätskinderklinik Inselspital Bern (1980–1990). Ordentlicher Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn (1990–2012). Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Bonn (1991–2011). Seit 2001 Direktor des Forschungsinstitutes für Kinderernährung in Dortmund. Seit 2004 Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Halle. Derzeit Gastprofessor an der Universitätskinderklinik der Staatlichen Medizinischen Universität Tiflis/ Georgien. Forschungsschwerpunkte: Kongenitale Diarrhö, Kinderernährung, Zöliakie, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.
XXVII
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Über die Herausgeber
Prof. em. Dr. med. Jürgen Spranger Studium und Promotion an der Universität Freiburg. Habilitation 1968 an der Universität Kiel. Medizinalassistent in Freiburg und Berlin, Assistenzarzt und Facharztausbildung in Heidelberg, Münster und Kiel. Forschungsaufenthalte am Sloan-Kettering Institute New York (1957–1958) und Children’s Hospital, Harvard Medical Center, Boston (1968– 1969). Oberarzt der Universitäts-Kinderklinik Kiel (1969–1974), seit 1972 in leitender Funktion. Außerplanmäßige Professur der Universität Kiel 1971. Gastprofessur am Department of Genetics der University of Wisconsin, Madison (1971–1972). Berufung an den Lehrstuhl für Kinderheilkunde der Universität Bonn (1974) und der Universität Mainz (1974). Von 1974 bis 1998 Direktor der Universitätskinderklinik Mainz. Auszeichnungen: Czerny-Preis der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde 1972, Heubner-Preis der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde 2004. Seit 1988 Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Halle. Wissenschaftlicher Schwerpunkt: Wachstumsstörungen im Kindesalter, medizinische Genetik. Prof. Dr. med. Fred Zepp Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin der Johannes GutenbergUniversität, Mainz Studium der Humanmedizin an der Universität Mainz und der University of Wisconsin in Madison (1975–1981). Assistenzarzt an der Kinderklinik in Mainz, Habilitation 1992. Seit 1998 Direktor der Universitäts-Kinderklinik und Kinderpoliklinik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (heute Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin), Leitung des „Referenzlabors für zellvermittelte Immunität“ und des Impfzentrums der Universitätskinderklinik Mainz. Prodekan für Forschung am Fachbereich Medizin der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (2001–2011). Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin (2009–2012). Mitglied der STIKO seit 1998, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer seit 2006 und auch Mitglied des Vorstands des Wissenschaftlichen Beirats seit 2012, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Paul-Ehrlich-Instituts seit 2012, seit 2012 Mitglied der Scientific Advisory Group in Vaccines der EMA (CHMP). Forschungsschwerpunkte: Pädiatrische Immunologie und Infektiologie. Anregung und Durchführung mehrerer nationaler und internationaler multizentrischer Studien auf dem Gebiet der Impfstoffentwicklung.
Über die Herausgeber
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Prof. Dr. med. Reinhard Berner Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Studium der Humanmedizin an der Universität Würzburg und der Université de Caen, Frankreich 1983–1989. Promotion 1990. Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Hygiene und Mikrobiologie der Universität Würzburg, Wissenschaftlicher Assistent Universitätskinderklinik Freiburg, Anerkennung als Kinderarzt 1997. Zusatzbezeichnung Infektiologie, Kinder-Rheumatologie und Fachkunde Laboruntersuchungen im Gebiet Kinderheilkunde. Habilitation 2001. Kommissarischer Ärztlicher Direktor 2004– 2005 und Sektionsleiter Pädiatrische Infektiologie, Immunologie und Vakzinologie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Uniklinikum Freiburg 2007–2011. Seit 2012 Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Uniklinikum Dresden; seit 2013 Sprecher des UniversitätsCentrums für Seltene Erkrankungen, Uniklinikum Dresden. Vorstandsmitglied Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und Vorstandsmitglied Sächsisch-Thüringische Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (STGKJM). Erster Vorsitzender Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) 2005–2009; zweiter Vorsitzender 2016–2017. Forschungsschwerpunkte: Molekulare und klinische Epidemiologie invasiver Infektionskrankheiten. Autoinflammatorische und immunsdysregulatorische Erkrankungen. Prävention von Autoimmunerkrankungen.
Autorenverzeichnis
Harald Abele Department für Frauengesundheit, Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen, Deutschland Angela Abicht Labor für Molekulare Myologie, Friedrich-Baur-Institut München, München, Deutschland Faik Kamel Afifi Schön Klinik Vogtareuth, Vogtareuth, Deutschland Fuat Aksu Vestische Kinder- und Jugendklinik, Universität Witten/Herdecke, Datteln, Deutschland Tobias Ankermann Klinik für Kinder und Jugendmedizin I, Universitätsklinikum SchleswigHolstein, Campus Kiel, Kiel, Deutschland Birgit Assmann Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Christoph Aufricht Medizinische Universität Wien, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien, Österreich Heidi Bächli Pädiatrische Neurochirurgie, Universitätsklinikum Heidelberg, Neurochirurgische Klinik, Heidelberg, Deutschland Peter Bader Stammzelltransplantation und Immunologie, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Frankfurt am Main, Deutschland Kurt Baerlocher St. Gallen, Schweiz Winfried Banzer Institut für Sportwissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Peter Bartmann Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Thomas Bast Epilepsiezentrum Kork, Epilepsieklinik für Kinder und Jugendliche, KehlKork, Deutschland Medizinische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland Carl-Peter Bauer Fachklinik Gaißach, Zentrum für chronische Erkrankungen, Gaißach, Deutschland Ivonne Bedei Zentrum für Frauenheilkunde & Geburtshilfe, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen, Gießen, Deutschland Rolf Beetz Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrische Nephrologie, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
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Christoph Berger Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Frauke Bergmann MVZ wagnerstibbe, Hannover, Deutschland Reinhard Berner Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Steffen Berweck Schön Klinik Vogtareuth, Klinik für Neuropädiatrie und Neurologische Rehabilitation, Vogtareuth, Deutschland Markus Bettendorf Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde I, Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Thomas Bieber Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Stefan Bielack Pädiatrie 5 (Onkologie, Hämatologie und Immunologie), Klinikum Stuttgart – Olgahospital, Stuttgart, Deutschland Jörgen Bierau Department of Clinical Genetics, Maastricht University Medical Centre, Maastricht, Niederlande Rainer Blank Kinderzentrum Maulbronn gGmbH, Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Maulbronn, Deutschland Harald Bode Sozialpädiatrisches Zentrum, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland R. Boehm Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie, Universitätsklinikum Leipzig AÖR, Leipzig, Deutschland Hansjosef Böhles Frankfurt am Main, Deutschland Thorsten Böker Klinikzentrum Mitte, Augenklinik, Dortmund, Deutschland Eugen Boltshauser Neuropädiatrie Emeritus, Kinderklinik Zürich, Zürich, Schweiz Friedrich Bootz Bonn, Deutschland Arndt Borkhardt Zentrum für Kinderheilkunde-und Jugendmedizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland David Brandt Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Sebastian Brenner Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Johannes Breuer Abteilung für Kinderkardiologie, Universitätsklinikum Bonn, Zentrum für Kinderheilkunde, Bonn, Deutschland Knut Brockmann Sozialpädiatrisches Zentrum, Universitätsmedizin Göttingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Göttingen, Deutschland Stephan Buderus St. Marienhospital Bonn, Bonn, Deutschland Gernot Buheitel II. Klinik für Kinder und Jugendliche, Mutter-Kind Zentrum Schwaben, Universitätsklinikum Augsburg, Augsburg, Deutschland Christoph Bührer Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland Peter H. Burri Institut für Anatomie, Universität Bern, Bern, Schweiz
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
XXXIII
Uwe Büsching Gemeinschaftspraxis, Bielefeld, Deutschland Hans-Jürgen Christen Kinderkrankenhaus auf der Bult, Allgemeine Kinderheilkunde, Hannover, Deutschland Holger Christiansen Abteilung für Päd. Onkologie, Hämatologie und Hämostaseologie, Universitätsklinikum Leipzig, Department für Frauen- und Kindermedizin, Leipzig, Deutschland Alexander Claviez Klinik für Kinder- und Jugendmedizin I, Pädiatrische Onkologie/Hämatologie/KMT-Einheit, Universitäts-Klinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel, Kiel, Deutschland Johanna Correll Kinderorthopädie, Klinikum rechts der Isar, München, Deutschland Günther Dannecker Kinderrheumatologische Ambulanz, Charite – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland Christiane Deneke Hamburg, Deutschland Markus Dettenkofer Institut für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, Gesundheitsverbund Landkreis Konstanz, Radolfzell, Deutschland Leonhard Döderlein Schriesheim, Deutschland Manfred O. Doss Konsultation Porphyrie, Marburg, Deutschland Karl-Otto Dubowy Zentrum für angeborene Herzfehler, Herz- und Diabeteszentrum Bad Oeynhausen, Bad Oeynhausen, Deutschland Ernst Eber Klinische Abteilung für Pädiatrische Pulmonologie und Allergologie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich Friedrich Ebinger St. Vincenz Krankenhaus Paderborn, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Paderborn, Deutschland Stephan Ehl Centrum für Chronische Immundefizienz, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg, Deutschland Helmut Eiffert Institut für Medizinische Mikrobiologie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Roland Elling Sektion für Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie, Universitätsklinikum Freiburg, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Freiburg, Deutschland Gudrun Fleischhack Pädiatrische Hämatologie/Onkologie, Kinderklinik III Universitätsklinikum Essen, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Essen, Deutschland Regina Fölster-Holst Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Kiel, Deutschland Johannes Forster Merzhausen, Deutschland Ingo Franke (verstorben) Bonn, Deutschland Joachim Freihorst Kinderpneumologische Ambulanz, Klinikum Stuttgart – Olgahospital, Stuttgart, Deutschland Peter Freisinger Klinikum für Kinder- und Jugendmedizin, Klinikum am Steinenberg, Reutlingen, Deutschland Urs Frey Pneumologie, Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), Basel, Schweiz Jörg Fuchs Abteilung für Kinderchirurgie und Kinderurologie, Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin, Tübingen, Deutschland
XXXIV
Autorenverzeichnis
Simone Fulda Institute for Experimental Cancer Research in Pediatrics, J.W. Goethe University Hospital Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland Eszter Füzéki Institut für Sportwissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Jutta Gärtner Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Hermann Girschick Pediatrics, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Berlin, Deutschland Ludwig Gortner (verstorben) Homburg/Saar, Deutschland Andreas Groll Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin –Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland Johannes Häberle Abteilung für Stoffwechselkrankheiten, Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Dieter Haffner Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Pädiatrische Nieren-, Leberund Stoffwechselerkrankungen, Hannover, Deutschland Axel Hahn Bundesinstitut für Risikobewertung, Berlin, Deutschland Eckard Hamelmann Kinderzentrum Bethel, Evangelisches Klinikum Bethel, Medizinische Fakultät OWL der Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Jürg Hammer Pneumologie und Intensivmedizin, Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), Basel, Schweiz Folker Hanefeld Emer. Direktor der Abteilung Pädiatrie 2 mit Schwerpunkt Neuropädiatrie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Christoph Härtel Universitätsklinikum Würzburg, Kinderklinik und Poliklinik, Würzburg, Deutschland Thomas Hauer Deutsches Deutschland
Beratungszentrum
für
Hygiene,
Freiburg/Breisgau,
Mathias Hauri-Hohl Abteilung für Stammzelltransplantation, Labor für Stammzellen und Zelluläre Therapien, Universitätskinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Martin Häusler Sektion Neuropädiatrie und Sozialpädiatrie, Universitätsklinikum Aachen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Aachen, Deutschland Christian M. Hedrich Department of Women’s and Children’s Health, University of Liverpool, Institute of Translational Medicine, Liverpool, Großbritannien Department of Paediatric Rheumatology, Alder Hey Children’s NHS Foundation Trust Hospital, Liverpool, Großbritannien Sabine Heger Pädiatrie III, Endokrinologie, Diabetologie, AUF DER BULT, Kinder- und Jugendkrankenhaus, Hannover, Deutschland Florian Heinen Pädiatrische Neurologie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie, LMU Zentrum für Entwicklung und komplex chronisch kranke Kinder – iSPZ Hauner, LMU, Klinikum der Universität München, Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, München, Deutschland Ulrich Heininger Abteilung für Pädiatrische Infektiologie und Vakzinologie, UniversitätsKinderspital beider Basel (UKBB), Basel, Schweiz
Autorenverzeichnis
XXXV
Joachim Heinrich Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Leiter AG Globale Umweltmedizin, Klinikum der Universität München, AöR, München, Deutschland Martina Heinrich Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik, Dr. von Haunersches Kinderspital, München, Deutschland Jobst Henker Dresden, Deutschland Marco Henneke Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Julia B. Hennermann Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland Ulrike Herberg Abteilung für Kinderkardiologie, Universitätskinderklinik Bonn, Zentrum für Kinderheilkunde, Bonn, Deutschland Beate Herpertz-Dahlmann Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Uniklinik RWTH Aachen, Aachen, Deutschland Bernd Herrmann Klinikum Kassel, Kinder- und Jugendmedizin, Kassel, Deutschland Georg Hillmann Pleckhausen, Deutschland Olaf Hiort Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Lübeck, Deutschland Georg F. Hoffmann Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Klinik Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Michael E. Höllwarth Department of Paediatric and Adolescent Surgery, Medical University of Graz, Graz, Österreich Bernd Hoppe Pädiatrische Nephrologie, Universitätsklinikum Bonn, Kinderklinik, Bonn, Deutschland Denise Horn Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland Gerd Horneff Zentrum Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie, Asklepios Klinik Sankt Augustin GmbH, Sankt Augustin, Deutschland Roderick Houwen Department of Pediatric Gastroenterology, University Medical Centre Utrecht, Utrecht, Niederlande Markus Hufnagel Sektion für Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie, Universitätsklinikum Freiburg, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Freiburg, Deutschland Hans-Iko Huppertz Professor-Hess-Kinderklinik, Klinikum Bremen-Mitte gGmbH, Bremen, Deutschland Peter Huppke Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Gritta Janka-Schaub Klinik für pädiatrische Hämatologie und Onkologie, Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Oskar Jenni Abteilung Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Gerhard Jorch Universitätsklinikum Magdeburg, Universitätskinderklinik, Magdeburg, Deutschland Karl Oliver Kagan Universitäts-Frauenklinik Tübingen, Tübingen, Deutschland
XXXVI
Angela Kaindl Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neurologie und Sozialpädiatrisches Zentrum, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland Tilmann Kallinich Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Deutschland Beate Karges Sektion Endokrinologie und Diabetes, RWTH Aachen, Aachen, Deutschland Simone Kathemann Klinik für Kinderheilkunde II, Universitätsklinikum Essen, Essen, Deutschland Annerose Keilmann Stimmheilzentrum Voice Care Center, Bad Rappenau, Deutschland Klaus-Michael Keller Fachbereich Kinder- und Jugendmedizin, Deutsche Klinik für Diagnostik, DKD Helios Klinik, Wiesbaden, Deutschland Mathilde Kersting Forschungsdepartment Kinderernährung, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Matthias Kieslich SP Neurologie, Neurometabolik und Prävention, Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Frankfurt am Main, Deutschland Wieland Kiess Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum, Leipzig, Deutschland Michael Kirschfink Institut für Immunologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Janbernd Kirschner Abteilung Neuropädiatrie und Sozialpädiatrisches Zentrum, Zentrum für Kinderheilkunde, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Abteilung Neuropädiatrie, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Christine Klein Institut für Neurogenetik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Lübeck, Deutschland Thomas Klingebiel Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Frankfurt, Goethe Universität, Frankfurt am Main, Deutschland Ralf Knöfler Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Markus Knuf Klinik für Kinder und Jugendliche, Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken, Wiesbaden, Deutschland Pädiatrische Infektiologie, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland Robin Kobbe Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Alfried Kohlschütter Hamburg, Deutschland Berthold Koletzko Kinderklinik und Kinderpoliklinik, LMU – Ludwig-Maximilians-Universität München, Dr. von Haunersches Kinderspital, München, Deutschland Sibylle Koletzko Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Klinikum der Universität München, LMU München, München, Deutschland Stefan Kölker Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Klinik Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Jens König Pädiatrische Nephrologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland Rainer König Bioscientia Humangenetik, Ingelheim, Deutschland
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
XXXVII
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Humangenetik, Frankfurt am Main, Deutschland Martin Konrad Department of Pediatric Nephrology, University Children’s Hospital, Münster, Deutschland Rudolf Korinthenberg Freiburg, Deutschland Ingeborg Krägeloh-Mann Tübingen, Deutschland Hans Heiner Kramer Klinik für angeborene Herzfehler und Kinderkardiologie, Campus Kiel, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel, Deutschland Hans-Wolfgang Kreth Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik, Würzburg, Deutschland Andreas Kulozik Klinik für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie, Immunologie und Pneumologie, Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Joachim Kunz Klinik für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie, Immunologie und Pneumologie, Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Gerhard Kurlemann Bonifatius Hospital Lingen, Kinderklinik, Neuropädiatrie, Lingen, Deutschland Markus A. Landolt Abteilung für Psychosomatik und Psychiatrie, Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Psychologisches Institut, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Thomas Lang Klinikum Starnberg, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Starnberg, Deutschland Thorsten Langer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck, Deutschland Burkhard Lawrenz Praxis für Kinder- und Jugendmedizin, Arnsberg, Deutschland Thomas Lehrnbecher Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Klinik für Kinderund Jugendmedizin, Frankfurt, Deutschland Michael J. Lentze Bonn, Deutschland Mareike Lieber Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Deutschland Christian Lorenz Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie, Klinikum Bremen-Mitte, Bremen, Deutschland Johannes Lotz Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland Hermann-Josef Lüdecke Institut für Humangenetik, Universitätklinikum, Heinrich-HeineUniversität, Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Sören Lutz Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Helios Klinikum Niederberg, Velbert, Deutschland Thorsten Marquardt Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland Sylvie Marx Abteilung Kinderorthopädie, Schön-Klinik Vogtareuth, Vogtareuth, Deutschland
XXXVIII
Gabor Matyas Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten, Zentrum für Kardiovaskuläre Genetik und Gendiagnostik, Schlieren-Zürich, Schweiz Peter Meinecke Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Thomas Meissner Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie, Universitätsklinikum Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Anette Melk Abteilung für Pädiatrische Nieren-, Leber- und Stoffwechselerkrankungen, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Michael Melter Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin (KUNO-Kliniken), Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland Martin Metzelder Klinische Abteilung für Kinderchirurgie, Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich Walter A. Mihatsch Klinik für Kinder und Jugendliche, APL Professur an der Universität Ulm, Schwaebisch Hall, Deutschland Milen Minkov Abteilung für Kinder- und Jungendheilkunde mit Department für Neonatologie, KA Rudolfstiftung der Stadt Wien, Wien, Österreich Klaus Mohnike Universitätskinderklinik, Otto-von-Guericke-University, Magdeburg, Deutschland Ute Moog Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Alexander Möller Abteilung Pneumologie, Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Christoph Möller Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Auf der Bult, Zentrum für Kinder und Jugendliche, Hannover, Deutschland Andreas Müller Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Pascal Müller Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen, Schweiz Thomas Müller Universitätsklinik für Pädiatrie I, Medizinische Universität, Innsbruck, Österreich Stefan Mundlos Institut für Medizinische Genetik, Charité – Universitätsmedizin, Campus Virchow, Berlin, Deutschland David Nadal Universität Zürich, Zürich, Schweiz Sean Nader Abteilung Kinderorthopädie, Schön-Klinik Vogtareuth, Vogtareuth, Deutschland Heidemarie Neitzel Institut für Humangenetik, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland Birte Neppert Augenklinik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein – Campus Lübeck, Lübeck, Deutschland Bernd A. Neubauer Abteilung für Neuropädiatrie, Sozialpädiatrie und Epileptologie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Gießen, Deutschland Jennifer Neubert Pädiatrische Onkologie, Hämatologie und Immunologie, Universitätsklinikum Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
XXXIX
Ulrich Neudorf Klinik für Kinderheilkunde III, Bereich Kardiologie, Universitätsklinik Essen, Essen, Deutschland Eva Neumann Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart, Deutschland Thomas Nicolai Kinderklinik und Kinderpoliklinik, Dr. von Haunersches Kinderspital, München, Deutschland Tim Niehues Helios Kliniken Krefeld, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Krefeld, Deutschland Dietrich Niethammer (verstorben) Tübingen, Deutschland Meinolf Noeker Landesrat für Krankenhäuser und Gesundheitswesen, Landschaftsverband Westfalen Lippe, Münster, Deutschland Michele Noterdaeme Josefinum, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Augsburg, Deutschland Walter Nützenadel Heidelberg, Deutschland Beatrice Oberwaldner Postgraduate School, Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich Kristian Pajtler Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ) Heidelberg Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Marcus Panning Institut für Virologie, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg, Deutschland Carl-Joachim Partsch Endokrinologikum Hamburg, Hamburg, Deutschland Thomas Paul Klinik für Pädiatrische Kardiologie und Intensivmedizin, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Roland Pfäffle Abteilung für Pädiatrische Endokrinologie, Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche, Leipzig, Deutschland Klaus Pittschieler Marienklinik, Bozen, Italien Barbara Plecko Abteilung für Allgemeine Pädiatrie, Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde Graz, Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich Christian F. Poets Abteilung Neonatologie, Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen, Deutschland Joachim Pohlenz Pädiatrische Endokrinologie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland Dirk Prawitt Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Molekulare Pädiatrie, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland Hildegard Przyrembel Berlin, Deutschland Annette Queißer-Wahrendorf Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland Wolfgang Rascher Erlangen, Deutschland Rudolf Reich Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Franz Resch Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universitätsklinik Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
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Josef Riedler Kardinal Schwarzenberg Klinikum, Abteilung für Kinder-und Jugendmedizin, Schwarzach im Pongau, Österreich Christian Rieger Ruhr Universität Bochum, Bochum, Deutschland Felix Riepe Kinderärzte Kronshagen, Kronshagen, Deutschland Burkhard Rodeck Christliches Kinderhospital Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Marianne Rohrbach Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Andreas Rosenhagen Abteilung Sportmedizin, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Sportwissenschaften, Frankfurt, Deutschland Angela Rösen-Wolff Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Hendrik Rosewich Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Aribert Rothenberger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland Mario Rüdiger Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland René Santer Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Götz Schade Abetilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Bonn, Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Bonn, Deutschland Franz Schaefer Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Ulrike Schara Zentrum für neuromuskuläre Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, Universitätsklinikum Essen, Bereich Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie, Essen, Deutschland Christel Schäfer Orthopädische Kinderklinik Aschau, Aschau im Chiemgau, Deutschland Reinhard Schilke Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde, Hannover, Deutschland Benno Graf Schimmelmann Praxisgemeinschaft KJP-Hoheluft, Hamburg Universität Bern, Bern, Schweiz Hans Georg Schlack Bonn, Deutschland Klaus Schmeck Kinder- und Jugendpsychiatrische Forschungsabteilung, Universitäre Psychiatrische Kliniken, Universität Basel, Basel, Schweiz Raimund Schmid Kindernetzwerk e. V., Aschaffenburg, Deutschland Heinz-Josef Schmitt Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland Claus Peter Schmitt Sektion für Pädiatrische Nephrologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Heidelberg, Deutschland Sabina Schmitt-Grohé Zentrum für Kinderheilkunde, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Dirk Schnabel SPZ für chronisch kranke Kinder, Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
XLI
Martin H. Schöni (verstorben) Bern, Schweiz Martin Schöning Tübingen, Deutschland Horst Schroten Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Mannheim, Mannheim, Deutschland Simone Schuffenhauer Institute of Human Genetics, Helmholtz Zentrum München, Neuherberg, Deutschland Franz J. Schulte (verstorben) Hamburg, Deutschland Gerd Schulte-Körne Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Universität München, München, Deutschland Volker Schuster Universitätsklinikum Leipzig, Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche, Leipzig, Deutschland Heike Schützle Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Matthias Schwab Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart, Deutschland Abteilung Klinische Pharmakologie, Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen, Deutschland Georg C. Schwabe Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Carl-Thiem-Klinikum Cottbus, Cottbus, Deutschland Gerolf Schweintzger LKH Hochsteiermark Standort Leoben, Steiermärkische Krankenanstaltengesellschaft m.b.H., Leoben Hochsteiermark, Österreich Nicolaus Schwerk Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Reinhard Seger Abteilung für Pädiatrische Immunologie/HSZT, Universitäts-Kinderklinik Zürich, Zürich, Schweiz Jürgen Seidenberg Klinik für Pädiatrische Pneumologie und Allergologie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Oldenburg, Deutschland Hannsjörg W. Seyberth Landau, Deutschland Ludger Sieverding Abteilung Kinderkardiologie, Pulmologie und Intensivmedizin, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Tübingen, Deutschland Arne Simon Klinik für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg/Saar, Deutschland Michael Simons Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Uniklinik RWTH Aachen, Aachen, Deutschland Carsten Speckmann Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland Christian P. Speer Universitätsklinikum Würzburg, Kinderklinik und Poliklinik, Würzburg, Deutschland Wolfgang Sperl Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Uniklinikum Salzburg, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg, Österreich Ute Spiekerkötter Universitätsklinikum Freiburg, Allgemeine Kinder- und Jugendmedizin, Freiburg, Deutschland
XLII
Peter Spitzer Forschungszentrum für Kinderunfälle, Graz, Österreich Christian H. Splieth Präventive Zahnmedizin u. Kinderzahnheilkunde, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Stephanie Spranger Praxis für Humangenetik-Bremen, Bremen, Deutschland Jürgen Spranger Sinzheim, Deutschland Astrid Steen Hautarztpraxis Meckenheim, Meckenheim, Deutschland Beat Steinmann Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Bernhard Stier Beauftragter für Jungenmedizin des BVKJ e.V., Kinder- und Jugendarzt, Hamburg, Deutschland Brigitte Stiller Klinik für Angeborene Herzfehler, Universitäts-Herzzentrum Freiburg Bad Krozingen, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg, Deutschland Philippe Stock AKK Altonaer Kinderkrankenhaus gGmbH, Hamburg, Deutschland Ulrich Stölzel Porphyriezentrum Sachsen, Klinikum Chemnitz gGmbH, Klinik für Innere Medizin II, Chemnitz, Deutschland Andrea Superti-Furga Division of Genetic Medicine, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne, Schweiz Rainer Thomasius Deutsches Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ), Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Stephan Tippelt Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderklinik III Universitätsklinikum Essen, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Essen, Deutschland Burkhard Tönshoff Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Nicole Töpfner Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Johannes Trück Abteilung für Immunologie, Forschungszentrum für das Kind, Universitätskinderspital Zürich, Zürich, Schweiz Stefan A. Tschanz Institut für Anatomie, Universität Bern, Bern, Schweiz Birgit Uhlenberg Kinderarztpraxis am Bundesplatz, Berlin, Deutschland Kurt Ullrich Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Benno Ure Kinderchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Andreas van Baalen Klinik für Neuropädiatrie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Kiel, Deutschland Alexander von Gontard Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg, Deutschland Thekla von Kalle Radiologisches Institut, Klinikum Stuttgart – Olgahospital, Stuttgart, Deutschland Rüdiger von Kries Abteilung Epidemiologie, Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin, München, Deutschland
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
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Karl Ernst von Mühlendahl Kinderumwelt gGmbH, Kinderärztliche Beratungsstelle für Allergie- und Umweltfragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V., Georgsmarienhütte, Deutschland Erika von Mutius Klinikum der Universität München, Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, München, Deutschland Helmholtz Zentrum München - Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Institut für Asthma- und Allergieprävention, Neuherberg, Deutschland Georg G. von Polier Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kinderund Jugendalters, Universität RWTH Aachen, Aachen, Deutschland Dietrich von Schweinitz Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik, Dr. von Haunersches Kinderspital, München, Deutschland Hubertus von Voss Privatinstitut für Soziale Pädiatrie im Zentrum für Humangenetik und Laboratoriumsdiagnostik, Martinsried-Planegg, Deutschland Bettina Wabbels Augenklinik, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Martin Wabitsch Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Ulm, Deutschland Norbert Wagner Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinik Aachen, Aachen, Deutschland Bendicht Wagner Abteilung für pädiatrische Intensivbehandlung, Hopital Cantonal Fribourg, Fribourg, Schweiz Siegfried Waldegger Department für Kinder- und Jugendheilkunde, Universitätsklinikum Innsbruck, Innsbruck, Österreich Stefanie Weber Klinik für Kinder- und Jugendmedizin II, Universitätsklinikum Marburg, Marburg, Deutschland Lutz T. Weber Kindernephrologie, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universität zu Köln, Medizinische Fakultät und Uniklinik, Köln, Deutschland Thomas S. Weiß Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin (KUNO-Kliniken), Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland Nikolaus Weissenrieder München, Deutschland Kurt Widhalm Österreichisches Akademisches Institut für Ernährungsmedizin, Wien, Österreich Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich Dagmar Wieczorek Institut für Humangenetik, Universitätklinikum, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Johannes H. Wildhaber HFR Fribourg – Universität Fribourg, Fribourg, Schweiz Bernd Wilken Klinikum Kassel, Kassel, Deutschland Daniel Windschall Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Asklepios Klinik Weißenfels, Weißenfels, Deutschland Stefan Winkler Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland Reinhard Winter Sozialwissenschaftliches Institut Tübingen, Tübingen, Deutschland
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Stefan Wirth Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universität Witten-Herdecke, HELIOS-Universitätsklinikum Wuppertal, Wuppertal, Deutschland Thomas Wirth Orthopädische Klinik, Klinikum Stuttgart – Olgahospital, Stuttgart, Deutschland Heiko Witt Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin (EKFZ), Klinikum rechts der Isar (MRI), Technische Universität München, Freising-Weihenstephan, Deutschland Nicole I. Wolf Emma Children’s Hospital, Abteilung Kinderneurologie, Amsterdam University Medical Centers., Vrije Universiteit, Amsterdam, Niederlande Elke Wühl Sektion für Pädiatrische Nephrologie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Bernhard Zabel Mainz, Deutschland Cornelia Zeidler Medizinische Hochschule Hannover, Kinderklinik, Hannover, Deutschland Michael Zemlin Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg/Saar, Deutschland Fred Zepp Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland Klaus-Peter Zimmer Abteilung Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie, Justus-Liebig-Universität, Gießen, Deutschland Johannes Zschocke Humangenetik Innsbruck, Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich Karl Zwiauer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Universitätsklinikum St. Pölten – Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, St. Pölten, Österreich
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Teil I Basiskonzepte der Kinder- und Jugendmedizin
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Basiskonzepte der Kinder- und Jugendmedizin Jürgen Spranger und Fred Zepp
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Kinderheilkunde als Teil der Medizin
Pädiatrie ist die auf die Betreuung von Kindern und Jugendlichen spezialisierte Disziplin der Medizin. Sie ist ein altersbegrenzter Teil der Allgemeinmedizin mit dem Anspruch, Kinder und Jugendliche im Kontext ihrer Lebenswelt ganzheitlich und umfassend zu betreuen. Ihre breite und vielfältige Differenzierung entspricht der Entwicklung der internistischen Spezialdisziplinen. Kaum eine medizinische Disziplin hat in den vergangenen 50 Jahren so intensiv vom Fortschritt der modernen Lebenswissenschaften profitiert wie die Kinder- und Jugendmedizin. Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war sie prioritär mit Fragen der Säuglings- und Kinderernährung und der Behandlung und Kontrolle von Infektionskrankheiten befasst. Die Fortschritte auf den Gebieten Immunologie, Genetik, molekularer Medizin und nichtinvasiver bildgebender Untersuchungstechniken haben eine hochmoderne Pädiatrie begründet, der es gelungen ist, die Ursachen vieler seltener Krankheiten zu entschlüsseln und innovative therapeutische Konzepte zu entwickeln. Ein Schwerpunkt der pädiatrischen Forschung blebt jetzt die Ursachenforschung und Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten seltener Erkrankungen. Als Besonderheit hat sich dabei ein enges Verhältnis zwischen Pädiatrie und Genetik herausgebildet. Dies erklärt sich daraus, dass die meisten genetisch determinierten Krankheiten im Kindes- und Jugendalter auftreten. Fortschritte der genetisch orientierten Medizin ermöglichen es, dass Kinder mit noch vor wenigen Jahren unheilbaren Genopathien heute in guter Lebensqualität das Erwachsenenalter erreichen. Zusammen mit Kindern
J. Spranger (*) Sinzheim, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Zepp Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected]
aus anderen Subdisziplinen, die an früher tödlichen, heute aber beherrschbaren Krankheiten leiden und einer langjährigen Nachsorge bedürfen, erwartet sie eine gezielte Transition, d. h. eine strukturierte Überführung aus der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin. Zentrale Aufgabe von pädiatrisch tätigen Ärztinnen und Ärzten ist die Sicherstellung der körperlichen und geistigseelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Bei der Geburt angelegte Strukturen und Funktionen des Organismus sind zu bewahren, in ihrer Entwicklung zu fördern, im Krankheitsfall wiederherzustellen. Jedes Kind soll sein körperliches und geistiges Potenzial optimal entfalten und die bestmögliche Lebensqualität erlangen. Somit verlangt pädiatrische Tätigkeit besondere Kenntnisse der altersabhängigen Veränderung physiologischer und pathophysiologischer Abläufe, der geistigen und seelischen Entwicklung sowie der besonderen Abhängigkeit, Verletzlichkeit unter Berücksichtigung der eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit des Kindes. Pädiatrie ist mithin nicht nur eine kurative, sondern in hohem Maße präventiv handelndes medizinisches Fachgebiet. Eine Besonderheit der Pädiatrie ist die Erweiterung der Arzt-Patienten-Beziehung durch Eltern oder andere Sorgeberechtige. Sie sind zusätzliche, in Aufklärung und Beratung einbezogene, nicht aber selbst erkrankte Ansprechpartner. Kinder- und Jugendmedizin ist mithin immer auch Familienmedizin. Sie erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Verständnis für Sorgen und Ängste von Eltern und Angehörigen. Die kinderärztliche Entscheidung geht damit immer durch den Filter einer dritten Instanz. Kinderärztin und Kinderarzt arbeiten gewissermaßen unter Aufsicht der Eltern. Sie arbeiten jedoch auch mit deren Assistenz. Eltern übernehmen Funktionen, für welche in anderen medizinischen Disziplinen fremde Personen wie Schwestern, Pflegekräfte oder Sozialarbeiter benötigt werden. Nicht verschwiegen sei allerdings, dass Kinder gelegentlich auch vor ihren Eltern zu schützen sind.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_2
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J. Spranger und F. Zepp
In der letzten Dekade haben gerade in industrialisierten Staaten ökonomische Gesichtspunkte die Kinder- und Jugendmedizin vor neue Herausforderungen gestellt. Getrieben von den rasant steigenden Kosten moderner diagnostischer und therapeutischer Verfahren wird gefordert, für jeden Patienten die wirtschaftliche Bilanz der individuellen medizinischen Betreuung zu berücksichtigen. Moderne Krankenhäuser sollen wie ein Hochleistungsbetrieb im vorgegebenen Fertigungstakt funktionieren. Der Patient wird zum Kunden und der Arzt zum Dienstleister im Gesundheitsgeschäft. Medizinische Versorgung primär unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Erfolgs und nicht des individuellen Zugewinn an Wohlbefinden und Lebensqualität ist bedrückend und birgt besonders für das Kindes- und Jugendalter enorme Gefahren. Pädiatrie dient umfassend der Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit und Lebensqualität zukünftiger Generationen. Diese Grundlage unserer medizinisch-ethischen Verantwortung darf nicht von puren ökonomischen Interessen reguliert und gesteuert werden. Deshalb gehört es zu den vornehmsten Aufgaben der Pädiatrie, die Interessen von Kindern und Jugendlichen in merkantil dominierten Versorgungsstrukturen mit Vehemenz zu vertreten. In diese Aufgabe sind Ärztinnen und Ärzte, Fachverbände, berufspolitische Vereinigungen, Kinderkrankenpflege und Betroffeneninitiativen gleichermaßen einbezogen.
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Frühe Entwicklung der deutschsprachigen Pädiatrie
Mit der Erkenntnis der körperlichen und seelischen Besonderheiten des Kindes grenzte sich die Pädiatrie im späten 18. Jahrhundert von der Erwachsenenmedizin ab. Wurden Kinder zuvor als unfertige Erwachsene begriffen und bei schwerer Krankheit zusammen mit erwachsenen Patienten in denselben Räumlichkeiten behandelt, entwickelten sich aus Einrichtungen für Arme, Waisen- und Findelkinder die ersten Kinderkrankenhäuser. 1802 entstand aus dem Waisenhaus Maison de l’enfant Jésus in Paris das Hôpital des Enfants Malades. Das erste Kinderkrankenhaus des deutschsprachigen Raums, nach St. Petersburg und Paris das dritte in Europa, wurde 1837 in Wien errichtet. Aus ihm entstand 1849 das St.-Anna-Kinderspital, die erste deutschsprachige Universitätskinderklinik und Zentrum der führenden Wiener Schule der Kinderheilkunde mit noch heute erinnerten Ärzten, wie Mauthner und von Pirquet. Aus rein spekulativen Annahmen über die Ursache von Kinderkrankheiten entwickelte sich eine auf sorgfältiger Beobachtung und naturwissenschaftlicher Analyse gegründete pädiatrische Krankheitslehre. In Deutschland berief 1893 Friedrich Althoff, vortragender Rat im preußischen Kultusministerium, unter dem Eindruck einer Sterblichkeits-
rate von über 30 % der Lebendgeborenen Otto Heubner aus Leipzig nach Berlin. Ein Jahr später ernannte er ihn zum ersten deutschen Ordinarius für Kinderheilkunde – gegen den Protest der Berliner medizinischen Fakultät unter Wortführung Virchows. Pädiatrie wurde Lehr- und Prüfungsfach. Aus akribischer klinischer Beobachtung und Krankheitsbeschreibung, ihrer Kontrolle durch die pathologische Anatomie, den Erkenntnissen der Bakteriologie (Theodor Escherich, Claus v. Pirquet) und Ernährungslehre resultierten Erfolge in der Bekämpfung von Infektions- und Ernährungskrankheiten. Es begann eine wissenschaftliche Blütezeit, die bis in die frühen 1930er-Jahre andauerte. Namen wie Czerny, Finkelstein, Moro, von Pfaundler sind mit der Erinnerung an diese Zeit verbunden. In ihr wurden die heute selbstverständlichen Grundlagen der kurativen und präventiven Pädiatrie geschaffen, das Wissen um Ernährungsphysiologie, Impfungen, die Rachitis und Rh-Inkompatibilität, um nur Weniges zu nennen. Mit dem Niedergang der Kinderheilkunde im Einflussbereich des Nationalsozialismus, durch Berufsverbot, schließlich der Vertreibung maßgeblicher Pädiater sowie den Folgen des Weltkriegs, war es der Schweiz vorbehalten, die Tradition der deutschsprachigen Pädiatrie fortzuführen und auf ihrem internationalen Niveau zu halten. Mithilfe ihrer schweizer Kollegen konnten deutsche und österreichische Kinderärzte nach dem Krieg wieder Anschluss an die internationale Kinderheilkunde gewinnen. Erinnert sei an die von Fanconi, Prader, Rossi, Zellweger und anderen in Zürich gestalteten Fortbildungsseminare.
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Veränderungen des Aufgabenspektrums seit 1945
Während in Entwicklungsländern infektions- und ernährungsassoziierte Mangelkrankheiten zentrale Aufgaben der Kinderheilkunde blieben, verdrängten in den hoch entwickelten Ländern Impfungen und Antibiotika, Hygiene und immer detailliertere Kenntnisse der Ernährungsphysiologie und -pathologie diese Krankheiten aus den Kliniken. In den Vordergrund der klinischen Pädiatrie schoben sich seltene, häufig genetisch determinierte Entwicklungsstörungen und in zunehmendem Umfang chronische Krankheiten. Biochemie, Immunologie, Molekularbiologie und -genetik, technische Innovationen wie Sonografie, Magnetresonanz- und Positronenemissionstomografie revolutionierten die Diagnostik. Die Zahl bekannter Krankheiten wuchs ebenso rasch wie das Wissen um physiologische und pathophysiologische Vorgänge. So umfasst die moderne Pädiatrie heute mehr als 9000 identifizierte seltene Krankheiten. Nach dem Kinder- und Jugend-Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Institutes leiden mehr als 16 % aller Kinder- und Jugendlichen unter
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Basiskonzepte der Kinder- und Jugendmedizin
chronischen Störungen ihrer Gesundheit. Seit der Jahrtausendwende zog die Informationstechnologie, z. B. in Form von Computern, in Kliniken und Praxen ein. Fortschritte der Kommunikationstechnologie erweiterten Wissensumfang und Informationsanspruch der Eltern. Antibiotika, Hormone, Zytostatika, neue operative und pädiatrisch-therapeutische Verfahren einschließlich Flüssigkeits- und Elektrolyttherapie, Transplantation, interventionelle Verfahren, z. B. in der Kinderkardiologie und -chirurgie, Immun- und Gentherapie, ermöglichen ein Leben mit Krankheiten und Entwicklungsdefekten, die früher den sicheren Tod bedeuteten. Kam die Diagnose einer Leukämie im Jahre 1970 noch einem Todesurteil gleich, so werden heute mehr als 80 % der betroffenen Kinder geheilt. Kinder mit Ösophagusatresie, Myelomeningozelen, sehr kleine Frühgeborene hatten damals kaum eine Überlebenschance. Fortschritte der Prä- und Perinatalmedizin, neue intensivmedizinische und operative Verfahren sicherten ihr Leben, nicht selten freilich um den Preis einer vorübergehenden oder lebenslangen Behinderung. Mit der Betreuung behinderter und chronisch kranker Kinder entstand ein neues Aufgabenspektrum.
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Strukturentwicklung der Pädiatrie
Wie die Erwachsenenmedizin passte sich die Kinderheilkunde den unübersichtlicher werdenden Kenntnissen und Verfahren durch Spezialisierung an. Glaubten leitende Ärzte der 1960er-Jahre die Kinderheilkunde noch weitgehend überblicken zu können, ist die moderne Pädiatrie ohne Spezialbereiche nicht mehr denkbar. Anders als in angelsächsischen Ländern wuchs in Deutschland allerdings mit der Spezialisierung die Gefahr der intellektuellen und organisatorischen Absonderung einzelner Teilgebiete. Der damit verbundene Hang zum Partikularismus gefährdet zunehmend die ganzheitliche Betreuung von Kindern. Verglichen vor allem mit englischsprachigen Ländern hat die deutsche Pädiatrie eine besondere Struktur. Sie ist gekennzeichnet durch die strenge Trennung zwischen stationärer und ambulanter Betreuung. Zahl und Organisationsgrad der niedergelassenen Kinderärzte und -ärztinnen übertreffen die vieler anderer Länder. Ihre Qualifikation führte zur weitgehenden Verlagerung der pädiatrischen Grundversorgung und Prävention aus dem stationären in den ambulanten Bereich. In die Klinik, insbesondere auch ihre neonatologischen, intensivmedizinischen und onkologischen Bereiche, werden bevorzugt nur noch schwere, unklare oder hochspezielle Behandlungsfälle eingewiesen. Sie bilden eine personalintensive und anspruchsvolle, aber für Aus- und Weiterbildung zunehmend schmalere Basis. Studenten und Weiterbildungsassistenten sehen überwiegend schwere und
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seltene Krankheiten, die Pädiatrie des Alltags wird häufig nur in Notfallambulanzen und Bereitschaftsdiensten erfahren. Die damit verbundenen organisatorischen und ökonomischen Schwierigkeiten prägen das Bild der heutigen Kinderklinik ebenso wie die zwischen 1970 und 1980 erfolgte Öffnung für die erwachsenen Angehörigen. Wenige Patienten, kritische und anspruchsvolle Eltern ergeben im heutigen Versorgungssystem eine sehr schmale wirtschaftliche Basis.
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Präventive Medizin – Sozialpädiatrie
Neben dem erweiterten Behandlungsspektrum übernahm die ambulante Pädiatrie vermehrt Aufgaben der sekundären und tertiären Prävention, von Krankheitsfrüherkennung und Rehabilitation. In Deutschland setzten sich Kinderärzte wie Nitsch, Schmid, von Harnack, Theobald, Hellbrügge u. a. für die Verlagerung der individuellen in die staatlich gelenkte und öffentlich finanzierte Vorsorge ein. Unter dem Begriff der Sozialpädiatrie wurden Vorsorgeuntersuchungen systematisiert und ein Netzwerk von Frühförderungszentren eingerichtet. Ökonomisch gesehen bringt Prävention im Kindesalter bessere höhere Ersparnisse als präventive Maßnahmen im späteren Lebensalter, d. h. in und nach den Jahren der individuellen Produktivität und Wertschöpfung. Mit dem intensivierten Wunsch nach Krankheitsfrüherkennung wuchs freilich auch die Gefahr von Überdiagnostik und Übertherapie. Die Erkennung des Normalen bleibt ebenso eine der Hauptaufgaben der Pädiatrie wie die kritische Evaluierung therapeutischer Neuerungen.
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Kinderarzt und Gesellschaft
Die Beratung der Eltern bei fetalen oder genetisch determinierten Krankheiten, die Frage lebensverlängernder Maßnahmen bei unheilbar Kranken, die Achtung der Entscheidungsfreiheit der Eltern, Persönlichkeitsschutz, das Recht auf Wissen und Nichtwissen sind Themen, denen sich der Kinderarzt nicht entziehen kann und zu denen er ethisch fundierte Entscheidungen zu treffen hat. Sie sind Teil der unmittelbaren Patienten-Arzt-Beziehung. Doch das Kind ist nicht nur Patient, sondern ein schutzbedürftiges Wesen in einer zunehmend von wirtschaftlichen Aspekten dominierten Gesellschaft. Die Entwicklung neuer Medikamente, die Diskussion um familiäre und öffentliche Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern oder um die Zulassung genetisch-diagnostischer Maßnahmen, um nur einige Beispiele zu nennen, darf sich nicht ausschließlich an den Interessen der Erwachsenen orientieren. Die Pädiatrie war schon immer eng mit der öffentlichen Gesundheitsfürsorge verbunden. Sie hat die bleibende Verpflichtung, ihre Stimme für Kinder in der Öffentlichkeit zu erheben.
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J. Spranger und F. Zepp
Ökonomisierung und evidenzbasierte Pädiatrie
Mit steigender Lebenserwartung und Lebensqualität erhöhen sich die Kosten der Medizin. Versuche ihrer Begrenzung führen zu ausgedehnten Kontrollsystemen, Verwaltungsarbeit und zeitlicher Einschränkung genau des Teils der ärztlichen Tätigkeit, dessen Mangel von der Solidargemeinschaft beklagt wird, nämlich der sprechenden, einfühlend-ganzheitlichen Medizin. An der Wurzel ökonomischer Schwierigkeiten und des atmosphärischen Unbehagens liegen die Unbestimmtheit des Gesundheitsbegriffs, der Anspruch auf allerbeste Medizin für alle, die zunehmende Beanspruchung des Gesundheitssystems durch Patienten aus anderen Kulturbereichen, und schließlich eine höhere Wertstellung von Familien- gegenüber Arbeitszeiten seitens des ärztlichen und Pflegepersonals. Die in der Erwachsenenmedizin geläufige Diskussion zwischen privat und öffentlich zu bezahlenden medizinischen Maßnahmen spart die Pädiatrie weitgehend aus, befreit sie jedoch nicht von ihrer Pflicht zur Wirtschaftlichkeit und damit einer prozess- und ergebnisorientiert hohen Qualität. Die Qualität medizinischer Angebote und Interventionen soll wissenschaftlich belegt sein. Von rationalen Begründungen und Hypothesen ausgehend, sollen sie auf der Basis wiederholbarer, sachorientierter, widerlegbarer Beobachtungen und Erfahrungen beruhen. Wissenschaftlich begründete Verfahren und Eingriffe werden unter dem Begriff der evidenzbasierten Medizin subsumiert. Klinische Evidenz, d. h. der auf Beobachtung und Schlussfolgerung beruhende wissenschaftliche Nachweis einer diagnostischen, therapeutischen oder präventiven Wirkung, kann aus systematischen Untersuchungen und ihrer Metaanalyse hervorgehen. Sie dienen als externe Quelle ärztlicher Entscheidungsfindung. Goldstandard externer Evidenz ist die randomisierte, Placebo-kontrollierte, prospektive Doppelblindstudie. Ihr Nachteil ist die begrenzte Übertragbarkeit ihrer Befunde auf das Individuum. Eine Letalitätswahrscheinlichkeit von 90 % sagt nicht aus, ob ein betroffenes Individuum zu den 90 Sterbenden oder 10 Überlebenden gehören wird. Evidenz erwächst ebenso ohne statistische Prüfungsverfahren intern, d. h. aus individueller Erfahrung. Die Wirksamkeit einer Transplantation genetisch manipulierter Zellen lässt sich aus der Korrektur eines lebenslang bestehenden kombinierten Immundefekts bei einem einzigen Kind belegen. Zur Ermittlung von Heilungswahrscheinlichkeit und Komplikationsrate dieser Intervention bei der kombinierten Immunschwäche bedarf es jedoch auch hier der seriellen prospektiven Untersuchung. Interne Evidenz, d. h. persönliche Erfahrung, ist zur Interpretation von externer Evidenz und den daraus gewonnenen Leitlinien sowie für ihre Anwendung im Einzelfall unabdingbar. Interne Evidenz kann aber als solche nicht generalisiert werden. Sie eignet sich nicht zur Bildung allge-
meingültiger Lehrsätze und unterliegt als Individualurteil vermehrt der Gefahr von Irrtum und Täuschung. Nur durch strukturierte Untersuchung der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in den praktischen ärztlichen Alltag kann beurteilt werden, welche medizinischen Innovationen tatsächlich einen Fortschritt für Kinder und Jugendliche bedeuten.
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Kinderarzt, Umwelt und Irrationales in der Pädiatrie
Eine Statistik des Jahres 1907 belegt, dass im Deutschen Reich 439,7 pro 1000 Kinder bis zum 16. Lebensjahr starben. Die mittlere Lebenserwartung von männlichen Neugeborenen betrug 45 Jahre, die eines weiblichen 48 Jahre. In Mitteleuropa ist die Neugeborenenmortalität seit dem Ende des 2. Weltkriegs von Werten um 40 auf solche um 5 pro 1000 gesunken und die davon wesentlich abhängige Lebenserwartung auf nunmehr 90 Jahre für Frauen und 84 Jahre für Männer gestiegen. Dieser Zuwachs an Lebensjahren ist mit einem ebenso großen Gewinn an Lebensqualität und Genussfähigkeit verbunden. Demgegenüber steht eine unverändert große, ja wachsende Angst vor schädigenden Einflüssen einer als lebensfeindlich empfundenen, naturwissenschaftlich geprägten Zivilisation. Mit dem Verschwinden von Hunger und Krieg, der Beherrschung von Naturgewalten und tödlichen Epidemien richtet sich die gleiche Angst auf Verunreinigungen von Luft und Nahrung im Picogrammbereich ebenso wie auf die Effekte einer hoch technisierten Medizin. So irrational diese Ängste sein mögen, beeinflussen sie dennoch Befindlichkeiten und fordern ärztliche Abhilfe. Die deutschsprachige Pädiatrie stellt sich dieser Aufgabe u. a. mit einem Informations- und Aufklärungssystem für Umweltgefährdungen. Dass auf dem Boden irrationaler Ängste irrationale, alternative Formen der Medizin gedeihen, hat komplexe Ursachen (▶ Kap. 145, „Komplementärmedizinische/alternative Verfahren“).
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Dieses Buch
Das vorliegende Buch geht über Leitlinien hinaus, indem es sie begründet, erklärt und dem individuellen Urteil öffnet. Es erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und Ausschließlichkeit. Viele Erkenntnisse sind extern validiert, andere beruhen auf tradierter Einschätzung und persönlicher Erfahrung. Alle jedoch öffnen sich und unterliegen dem Postulat der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit. Sie verändern sich mit jeder neuen Auflage dieses Fachbuchs. Widerlegbarkeit, Entwicklung, Änderung sind Wesensmerkmale
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Basiskonzepte der Kinder- und Jugendmedizin
der Schulmedizin. In diesem Sinn ist dieses Buch bewusst, und nicht ohne Stolz, ein Werk der Schulmedizin.
Weiterführende Literatur Guven B, Ma S, Grason H (2009) Early childhood health promotion and its life course health consequences. Acad Pediatr 9:142–149 Haas SA, Glymour MM, Berkman LF (2011) Childhood health and labor market inequality over the life course. J Health Soc Behav 52:298–313 Kiene H (2001) Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung. Springer, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo Lantos JD, Ward NA (2013) A new pediatrics for a new century. Pediatrics 131(Suppl 2):S121–S126
7 Merlo G, Page K, Ratcliffe J et al (2015) Bridging the gap: exploring the barriers for using economic evidence in healthcare decision making and strategies for improving care. Appl Health Econ Health Policy 13:303–309 Rosenberger M (2006) Die beste Medizin für alle – um jeden Preis? Dtsch Ärztebl 103:C626–C629 Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardon WS (1996) Evidence based medicine: what it is and what it is n’t. Br Med J 312:71–72 Spranger J (2005) Krankheit und Geld. Gedanken zur Ökonomie in der Medizin. Pädiatr Praxis 68:139–148 Weyersberg A, Roth B, Woopen C (2018) Pädiatrie: Folgen der Ökonomisierung. Dtsch Ärzteblatt:A382–A386
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Ethik in der Pädiatrie Dietrich Niethammer
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Ethik als Grundlage ärztlichen Handelns Gesetzgeber hat mit Gesetzen wie dem Arzneimittelgesetz
Ethik ist ganz generell die Theorie der Moral. Wenn man sich seiner moralischen Urteile sicher ist, benötigt man eigentlich zur Bestätigung keine Theorie. Das ändert sich aber spätesten dann, wenn man sein Verhalten rechtfertigen muss oder wenn in einer Gesellschaft Unsicherheiten über gültige moralische Grundsätze bestehen oder Neuerungen einen moralischen Konsens über deren Wertigkeit verlangen. Die Medizinethik befasst sich mit Fragen nach dem richtigen ärztlichen Handeln, was erlaubt oder nicht zulässig ist, wobei es speziell um den Umgang mit dem kranken und gesunden Menschen geht. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen es bei medizinethischen Diskussionen und Festlegungen nur um das ärztliche Handeln ging, betreffen die Überlegungen heute auch andere Berufsgruppen wie z. B. Pflegekräfte oder auch Mitarbeiter der Krankenkassen. Bis zum Ende des 2. Weltkriegs war der Hippokratische Eid eine allgemein anerkannte Leitlinie für das ethisch korrekte ärztliche Handeln, und es bestand ein allgemeiner Konsens über die moralischen Regeln für das ärztliche Handeln. Spätestens die tief unmoralischen Experimente der nationalsozialistischen Ärzte an Insassen von Konzentrationslagern machten jedoch deutlich, dass es dringend der Festlegung ethischer Richtlinien bedurfte. Das Genfer Ärztegelöbnis durch die Generalversammlung des Weltärztebundes von 1948 und die Verabschiedung des Internationalen Codes der ärztlichen Ethik im folgenden Jahr durch das gleiche Gremium waren die ersten Versuche, sich auf internationaler Ebene auf allgemeingültige ethische Richtlinien zu einigen. Im Jahre 1964 verabschiedete das gleiche Gremium in Helsinki „Ethische Grundsätze für die Forschung am Menschen“, die als die „Deklaration von Helsinki“ in die Geschichte eingegangen ist und mehrfach in den Folgejahren, zuletzt 2013, revidiert und an die neusten Entwicklungen angepasst wurde. Der
D. Niethammer (*) Tübingen, Deutschland
(AMG) oder dem Medizinproduktegesetz ebenso deutlich gemacht, dass auch gesetzliche Regelungen notwendig sind, die das ärztliche Handeln direkt betreffen. Die Entwicklungen der modernen Medizin führen zunehmend zu kontroversen Vorstellungen in der Gesellschaft und auch innerhalb der Ärzteschaft, die es im Interesse der kranken Menschen dringend notwendig machen, einen Konsens zu erreichen, nicht zuletzt, weil auch gesetzgeberische Aktionen notwendig werden. Es sei nur an die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) im Jahre 2011 erinnert. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass sich bestimmte ethische Vorstellungen über die Jahre ändern können, sodass Revisionen von ethischen Richtlinien angezeigt sein können oder müssen.
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Ethik in der Pädiater-Patient-Beziehung
2.1
Empathie
Eigentlich bedarf die Empathie als grundsätzliche Basis des ärztlichen Handelns keiner ethischen Begründung. Es muss aber hier betont werden, dass ein Arzt ohne Empathie zu seinen Patienten sich aus ethischer Sicht (aber wahrscheinlich nicht nur aus dieser Perspektive) eindeutig unethisch verhält.
2.2
Paternalismus der Ärzte und Autonomie des Patienten
Seit Hippokrates war die Medizin des Abendlandes davon geprägt, dass der Arzt die Verantwortung für seinen Patienten trägt und in dessen Sinne handelt („salus aegroti prima lex“ und „nil nocere“). Er alleine entscheidet über die notwendige Diagnostik und Therapie. Bis weit in das 20. Jahrhundert
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_1
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D. Niethammer
wurde dieser Paternalismus durch den Arzt nicht in Frage gestellt, sondern durchaus von den Patienten und der Gesellschaft als adäquat empfunden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Zweifel an der Richtigkeit dieses Konzeptes lauter. Am Ende der jahrzehntelangen Diskussion stand der autonome Patient, der nach ausführlicher Information durch den behandelnden Arzt letztendlich über die Art der durchzuführenden Diagnostik und Therapie selbst entscheidet. Die amerikanische Bezeichnung „informed consent“ bürgerte sich als Kurzform für diese Vorgehensweise ein. Die ursprüngliche Verantwortungsethik wurde sozusagen durch eine Vertragsethik ersetzt, nach der der Arzt seinen Patienten ausführlich über die Vor- und Nachteile der verschiedenen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten informiert und ihm die Entscheidung überlässt: Arzt und Patient schließen einen Behandlungsvertrag. Bei Kindern oder anderweitig nicht einwilligungsfähigen Menschen haben die Eltern oder ein Vormund das alleinige Entscheidungsrecht. Es besteht weithin die Ansicht, dass das Prinzip der Autonomie für diese Personengruppe nicht gelten kann. Das ist aber in dieser Ausschließlichkeit nicht richtig. Zwar ist nach unserer Rechtsprechung eine Maßnahme bei einem nicht einwilligungsfähigen Patienten einer Körperverletzung gleichzusetzen, wenn der Arzt sie ohne Einwilligung der Eltern oder des Vormundes vornimmt. Das kann aber umgekehrt nicht bedeuten, dass man die Kinder grundsätzlich nicht informiert und in die Entscheidungsfindung nicht mit einbezieht. Kranke Kinder und besonders Jugendliche können oft sehr genau verstehen, worum es geht, und sie müssen daher als Betroffene ebenso informiert und nach ihrer Meinung gefragt werden („informed assent“). Auch sie haben ein Recht auf Autonomie. Ab welchem Alter sie diese einfordern können, kann nur im Einzelfall entschieden werden, ohne Frage können aber schon 4- bis 5-jährige Kinder Zusammenhänge begreifen und eine Meinung äußern. In der Regel werden sie den Entscheidungen ihrer Eltern folgen. Es kann aber durchaus vorkommen, dass ein Kind im Gegensatz zu seinen Eltern eine bestimmte Maßnahme ablehnt. Hier muss man als Arzt versuchen, die Gründe für die abweichende Haltung zu ergründen. Das kann in der Tat gelegentlich schwierig sein. Und es kann notwendig werden, dem Kind beizustehen und den Eltern den Wunsch ihres Kindes zu erläutern und eventuell für die Umsetzung zu kämpfen.
2.3
Aufklärung und Ehrlichkeit des Arztes
Früher war es üblich, Kinder und Jugendliche nicht über die Natur ihrer Erkrankung aufzuklären. Die allgemein akzeptierte Meinung war, dass Kinder nicht über den Tod nachdenken und sich auch über Erkrankungen keine Gedanken machen (sollen) – eine Haltung, die auf Sigmund Freud
zurückging und später noch von Jean Piaget untermauert wurde. Heute wissen wir, dass das falsch ist und dass die Kinder sehr wohl intensiv über ihre Erkrankung und deren Folgen nachdenken. Es ist deshalb äußerst wichtig, dass man sie ausführlich und ehrlich aufklärt. Manchmal wollen das Eltern nicht, weil sie Angst vor den Gesprächen und Fragen haben, die daraus entstehen können, oder sie möchten ihr Kind vor bitteren Wahrheiten schützen (▶ Abschn. 10.3 in Kap. 16, „Soziale Faktoren und ‚neue Morbidität‘“). Manchmal weichen Eltern der Situation aus, indem sie erklären, sie würden ihr Kind selber aufklären. Diesem Vorhaben sollte man misstrauisch gegenüber sein, nicht nur weil die Eltern in der Regel dazu tendieren, die Situation zu beschönigen, sondern weil man als Arzt dann nicht darauf vertrauen kann, dass das Kind alle für es wichtigen Informationen bekommt. Vielmehr sollte man den Eltern vorschlagen, dass man die Aufklärung mit ihnen gemeinsam durchführen will. Das hat außerdem den Vorteil, dass das Kind vorgeführt bekommt, dass es denselben Informationsstand wie die Eltern erhält. Wenn man selber davon ausgeht, dass man bei der Aufklärung immer ehrlich sein sollte – und davon muss man unbedingt ausgehen, dann sollte man sich auch im Klaren darüber sein, dass sich Lügen verbieten; und Ausflüchte sind auch eine Form der Lüge. Schwerkranke Kinder begreifen aus dem Verhalten ihrer Eltern und der Ärzte den Ernst der Lage. Natürlich stellen sie Fragen. Wenn ihnen aber keine klare Antwort gegeben wird oder sie mit Ausflüchten abgespeist werden, verstummen sie und stellen das nutzlose Fragen ein. Sie merken, dass sie ihren Eltern mit ihren Fragen Angst einjagen und diese dadurch verunsichert werden. Und verunsicherte Eltern sind für Kinder immer eine zusätzliche Belastung. Und so stellen sie das Fragen ein und bleiben mit ihren eigenen Ängsten alleine. Man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass die Aufklärung kein einmaliges Geschehen ist, mit dem die Angelegenheit ein für allemal erledigt ist. Es ist vielmehr ein kontinuierlicher Prozess während der Erkrankung, der allerdings nicht immer gleich intensiv ist. Hat das Kind erfahren, dass man sich bemüht, immer ehrlich zu antworten, wird es im Laufe der Zeit immer sicherer, dass es mit den eigenen Fragen und Ängsten nicht alleine gelassen wird. Natürlich ist es nicht immer einfach, ehrliche Antworten zu geben und man ist versucht, einer klaren Antwort auszuweichen. Aber es ist unendlich wichtig, dass die Kinder sich auf ehrliche Antworten verlassen können. Und wenn das so ist, dann haben auch gute Nachrichten eine viel höhere Aussagekraft. „Es ist im Moment alles in Ordnung“ ist dann wirklich eine glaubwürdige Aussage. Ein Problem ist, dass Kinder in der Regel keinen Termin vereinbaren, um ihre Fragen zu stellen, und so stellen sie wichtige Fragen oft unverhofft in einem Gespräch über Alltagsdinge. Darauf muss man gefasst sein. Aber auch dann darf man sich nicht mit Ausflüchten begnügen.
2
Ethik in der Pädiatrie
2.4
Wenn ein Kind sterben muss
Wenn man seinem Patienten vermitteln konnte, dass man wirklich nicht lügt und sich immer um ehrliche Antworten bemüht, und das Kind auch im Verlauf der Betreuung keinen Grund hatte, anzunehmen, dass das nur schöne Worte sind, sondern erfahren hat, dass man sich an das Versprechen, niemals zu lügen, hält, dann ist das eine gute Basis für die Betreuung eines Kindes am Ende seines Lebens. Auch jetzt muss das Kind sich darauf verlassen können, dass es nicht belogen wird. Die Frage „Muss ich bald sterben?“ verlangt dann ebenso nach einer klaren Antwort. Natürlich kommt auch dem noch so erfahrenen Kinderarzt die Antwort nicht leicht über die Lippen. Und trotzdem muss es sein. Die Reaktion der Kinder kann heftig sein. Manchmal fangen sie an zu schreien, manchmal stehen sie auf und nehmen ihre Eltern in den Arm, aber fast immer kommen sie dann bald zur Sache, nämlich wie es jetzt weitergeht. Schon 7- oder 8-Jährige denken bei einer schweren Erkrankung durchaus auch über die Möglichkeit des Sterbens nach und befassen sich intensiv mit diesem Vorgang. Und dann kommen sehr bald Fragen wie „Werde ich beim Sterben alleine sein?“, „Tut sterben weh?“, „Wann werde ich sterben?“ oder „Was kommt danach?“ – solche und andere Fragen treiben die Kinder um, und sie suchen nach Antworten. Man kann den Kindern versichern, dass sie nie allein gelassen werden. Dass Sterben weh tut, kann man nicht ganz sicher ausschließen. Aber eine Antwort wie „Ich war schon oft dabei, aber ich hatte nie den Eindruck, dass es weh tut“ kann sehr hilfreich sein. Dass man den Zeitpunkt nicht festlegen kann, verstehen die Kinder auch, wenn man ihnen z. B. sagt, dass das niemand weiß und dass man durchaus noch vor ihnen sterben kann. Und was danach kommt, wissen wir natürlich auch nicht, aber man kann mit ihnen gemeinsam fantasieren, wie es sein könnte. „Ich kann nichts mehr für Dich tun“ ist eine Aussage, die falsch ist, nicht nur deshalb, weil man durchaus noch etwas tun kann und muss. Aber diese Aussage signalisiert dem Patienten, dass man ihn jetzt mit seinem Schicksal allein lässt und dass gerade zu einem Zeitpunkt, an dem er den Beistand am notwendigsten benötigt. „Ich bin weiter für Dich da“, ist die viel adäquatere Aussage. Und in der Tat hört ja das Betreuungsverhältnis durch den Arzt erst mit dem Tod des Patienten auf. Das Sterben ist der letzte Abschnitt des Lebens, und der Patient benötigt den Beistand seines Arztes jetzt ebenso wie in der Zeit davor. Der einzige Unterschied ist, dass sich jetzt das Behandlungsziel ändert.
2.5
Palliativmedizin
Wenn allen Beteiligten klar ist, dass der Patient bald sterben muss, ist der Zeitpunkt gekommen, von der kurativen Medi-
11
zin auf die palliativmedizinische Betreuung umzuschalten (im Amerikanischen „transitioning from cure to care“). Und da bleibt für Ärzte und Pflegekräfte noch viel zu tun. Die Betreuung eines sterbenden Kindes oder Jugendlichen ist eine große Herausforderung für jeden Arzt, und nicht jeder ist dieser Aufgabe gewachsen. Auf der einen Seite ist das Sterben eines Patienten in der Pädiatrie zum Glück ein seltenes Ereignis. Vielleicht ist das der Grund, warum dieses Thema in der Ausbildung häufig zu kurz kommt. Mancher Arzt mag sich deswegen, aber auch aus anderen Gründen mit einer solchen Aufgabe überfordert fühlen. Das sollte er sich dann aber auch eingestehen und nicht verzweifelt versuchen, seine Probleme zu überspielen. Er tut sich und seinem Patienten damit keinen Gefallen. Auf der anderen Seite ist es notwendig, dass Ärzte, die in Spezialgebieten tätig sind, in denen das Sterben eines chronisch kranken Kindes nicht ganz ungewöhnlich ist, sich selber klarmachen, dass sie sich im Interesse ihrer Patienten auch dieser Aufgabe stellen müssen, denn andernfalls würden sie einen Patienten, den sie eventuell über eine lange Zeit betreut haben, in der letzten Phase seines Lebens allein lassen. Und das ist außerdem ein Lebensabschnitt, in dem sich die jungen Patienten nur noch schwer auf neue Menschen einlassen können. In manchen Kliniken ist es üblich, dass ein bestimmter Kollege für diese Zeit die Betreuung eines Patienten übernimmt. Eventuell hat er in der Tat große Erfahrung als Sterbebegleiter, aber er hat nicht immer eine Beziehung zu dem Kind, die auf einem über lange Zeit erfahrenen Vertrauen beruht. So sollte er besser die jüngeren Ärzte bei der Betreuung ihres sterbenden Patienten beraten und überwachen und ihnen mit seiner Erfahrung helfen. Am Anfang der palliativmedizinischen Phase steht die Entscheidung, intensivierte lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen. Dazu gehört auch die Festlegung, ggf. auf Reanimationsmaßnahmen zu verzichten. Das ist für die Eltern ein schlimmer Moment. Man sollte nicht von ihnen verlangen, diese Entscheidung zu verantworten, sondern es ist eine ärztliche Aufgabe, ihnen zu vermitteln, warum es sinnvoll sein kann, eine derartige Entscheidung zu treffen, um dann gemeinsam zu einem Beschluss zu kommen. Das Ergebnis sollte dann schriftlich in der Akte festgehalten werden, damit sich auch andere Mitglieder des Teams über die Situation informieren können. Die Behandlung von Symptomen wie die schwere Atemnot und ein optimales Konzept für die Schmerzbehandlung machen den medizinischen Teil der Palliativmedizin aus. Auch in diese Entscheidungen sollten, wenn immer möglich, die Kinder und Jugendlichen mit einbezogen werden. Es überrascht immer wieder, welche klaren Vorstellungen manche junge Menschen davon haben, was für sie der richtige Weg ist. Man sollte nicht vergessen, dass sie durch ihre Erkrankung und deren Verlauf große Erfahrung gewonnen haben. Schwierig kann es sein, wenn es sich um einen
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D. Niethammer
Jugendlichen handelt. Aber auch hier zeigt sich immer wieder, dass oft klare Vorstellungen über das weitere Vorgehen bestehen. Ein offener und ehrlicher Dialog ist eine Voraussetzung dafür. Manchmal wird die Bitte an den Arzt herangetragen, das Leiden aktiv zu beenden (Euthanasie). Das ist aber keine ärztliche Aufgabe und sollte auch im Interesse der Eltern abgelehnt werden, die nach dem Tod ihres Kindes mit der Tatsache leben müssen, dass ihre Bitte erfüllt wurde. Das bedeutet nicht, dass man gelegentlich zur Linderung des Leidens Medikamente in einer Dosierung einsetzen muss, die den Sterbevorgang beschleunigen. Noch schwieriger kann die Entscheidung sein, die aktive Beatmung zu beenden, wenn nicht mehr damit zu rechnen ist, dass der Patient das Bewusstsein wiedererlangt, also die Intensivbehandlung keine positive Zielsetzung mehr hat. Es ist ein unethisches Verhalten, sich um derartige Diskussionen und Entscheidungen zu drücken. Das einfache Fortführen der Intensivbehandlung ohne ein zu erreichendes Ziel ist unärztlich.
2.6
Forschung in der Pädiatrie
Die Haltung, Forschung an Kindern sei unethisch, ist eindeutig falsch, denn man schließt sonst diese Altersgruppe von jedem Fortschritt aus. Forschungsergebnisse, die an Erwachsenen gewonnen wurden, können wegen der physiologischen Besonderheiten des jungen Organismus nicht ohne Weiteres übertragen werden. Auf der anderen Seite sind die ethischen Anforderungen an den forschenden Kinder- und Jugendarzt hoch mit klaren Richtlinien, wie sie in dem deutschen Arzneimittelgesetz festgelegt sind. Aber auch auf europäischer Ebene hat die Arzneimittelbehörde EMA (European Medicines Agency) klare allgemeingültige Vorstellungen entwickelt, die für die Forschung zur Entwicklung neuer Arzneimittel gelten. Für Einzelheiten zu diesem Problem und allen ethischen Aspekten der pädiatrischen Forschung sei verwiesen auf Marckmann und Niethammer 2010. Wichtig ist, dass eine Forschung ohne eine Bewertung des Forschungsvorhabens durch eine Ethikkommission, wie sie inzwischen in allen medizinischen Fakultäten und Ärztekammern etabliert sind, nicht zulässig ist, wobei es wichtig ist, dass mindestens ein Mitglied der Kommission Pädiater ist.
2.7
Ethisches Komitee
Im klinischen Alltag kommt es immer wieder zu Situationen, bei denen Diskussionen und sogar Uneinigkeit über das weitere Vorgehen bestehen (z. B. Weiterbehandlung eines schwer geschädigten Frühgeborenen oder die Indikation einer mutilierenden Operation). Nicht nur ist es notwendig, dass sich alle an der Betreuung des kranken Kindes beteilig-
ten Mitarbeiter um einen Tisch versammeln, sondern es sollte auch die Diskussion mit einem ethischen Komitee gesucht werden, das den Sachverstand von erfahrenen Ärzten und Pflegekräften aus verschiedenen Gebieten, Patientenvertretern, Psychologen und Seelsorgern vereint. Im Gegensatz zu den USA gibt es hierzu in Deutschland noch keine rechtliche Regelung für die Einsetzung oder Zusammensetzung eines solchen Komitees, doch sind die größeren Kliniken zunehmend dazu übergegangen, derartige Gremien zu etablieren. Auch hier ist es wichtig, dass mindestens ein Vertreter der Kinder- und Jugendmedizin Mitglied ist.
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Spezielle ethische Probleme in der Pädiatrie
Es gibt viele diagnostische und therapeutische Bereiche in der Pädiatrie, die ihre speziellen ethischen Probleme haben, wie z. B. die Transplantationsmedizin oder die Neonatologie. Aber es darf nicht übersehen werden, dass auch bestimmte diagnostische Verfahren ethischen Konfliktstoff beinhalten.
3.1
Genetik
Das gilt besonders für die neueren Entwicklungen im Bereich der Genetik, die vielen Menschen Angst machen. So verbinden viele Menschen die Präimplantationsdiagnostik (PID – also die genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vor der Einpflanzung in die Gebärmutter) mit der Vorstellung der Produktion von „Designerbabys“, etwas, was sie zu Recht ablehnen. Dabei geht es bei diesem Verfahren darum, bei bekannten genetischen Defekten in der Familie zu verhindern, dass ein Kind mit einer schweren Krankheitslast geboren wird. Dadurch wird der werdenden Mutter eine Amniozentese und eventuell ein Abort erspart, beides Verfahren, die Risiken beinhalten und mit erheblichen psychischen Belastungen für die Frauen verbunden sind. Familien, in denen schon mehrfach Mitglieder aufgrund bestimmter genetischer Defekte unter einer schweren Erkrankung gelitten haben und vorzeitig gestorben sind, wissen, warum sie dieses Leiden einem weiteren Familienmitglied ersparen wollen. Man sollte ihnen nicht vorwerfen, dass sie behinderte Menschen abwerten wollen, wie es manche Vertreter von Behindertenverbänden manchmal tun. Sie haben das Leiden bei anderen Mitgliedern der Familie ertragen müssen, und sie wollen es zu Recht bei einem weiteren Mitglied verhindern. Ethisch umstritten ist der Einsatz der PID für die Suche eines passenden Spenders für eine lebensrettende Knochenmarktransplantation. Hier ist die bereits geübte Praxis, nach Amniozentese und Molekulardiagnostik das nicht passende Kind abzutreiben, sicher problematischer.
2
Ethik in der Pädiatrie
3.2
Transplantationsmedizin
In der Transplantationsmedizin gibt es noch andere ethische Probleme. Die Verfügbarkeit von Organen und Prioritätensetzungen sind inzwischen durch Gesetze geregelt. Das gilt auch für die Verwendung von Lebendspendern. Im Gegensatz zur Knochenmarktransplantation, bei der Kinder und andere nichteinwilligungsfähige Menschen als Spender herangezogen werden dürfen, gilt das nicht für die Organspende. Ein schwieriges Problem für den Pädiater ist stets, in einer Situation, in der ein schwer geschädigtes Kind auf der Intensivstation zu einem potenziellen Organspender geworden ist, in einem Gespräch die Einwilligung zur Organentnahme von den Eltern zu erhalten. Viele neigen dazu, sich diesem Problem zu entziehen, und verhindern vielleicht dadurch, dass ein anderes Kind endlich von der Warteliste genommen werden und z. B. von der Dialyse befreit werden kann. Dieses Verhalten ist jedoch unethisch.
3.3
Neonatologie
Die Neonatologie ist ein Bereich der Pädiatrie, in dem besonders häufig schwerwiegende Entscheidungen von Ärzten verlangt werden. Die moderne Intensivmedizin hat dazu geführt, dass die Schwangerschaftsdauer für die mögliche Überlebensfähigkeit immer kürzer und das Geburtsgewicht immer niedriger geworden sind. Die Diskussionen um die absoluten Grenzwerte werden manchmal heftig geführt, und man ist ihnen bei den heutigen Möglichkeiten sicher sehr nahe gekommen. Aber man darf nicht vergessen, dass noch am Anfang der 1970er-Jahre ein Geburtsgewicht unter 2500 g weithin als mit dem Leben nicht vereinbar angesehen wurde. Auch die Frage, wie weit eine Intensivbehandlung von Neugeborenen mit schweren Fehlbildungen gehen soll, ist im Einzelfall nicht einfach zu beantworten, wie auch bei Kindern, bei denen zum Zeitpunkt der Geburt die Prognose nicht feststeht, sie aber ohne medizinische Maßnahmen nicht überlebensfähig sind. Und die Konsequenzen für die Familie, in der ein schwer behindertes Kind aufwachsen soll, sind ein nicht zu vernachlässigender Punkt bei den Überlegungen zum Einsatz oder Fortsetzung intensivmedizinischer Maßnahmen.
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Folgerungen für den Pädiater
Der Kinder- und Jugendarzt hat eine besondere moralische Verantwortung, sind doch seine Patienten selber noch nicht geschäftsfähig und (abhängig vom Alter) zum Teil noch gar nicht in der Lage, ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche zu formulieren. Noch immer ist es umstritten, in welchem Alter Kinder in der Lage sein können, ihre Situation zu begreifen und zu therapeutischen Maßnahmen kompetent Stellung nehmen zu können. Ohne Zweifel konnte in diesem Kapitel nur ein begrenzter Ausschnitt an Problemen dieser vielschichtigen Problematik angesprochen werden. Der Autor konnte nur ihm besonders wichtig erscheinenden ethischen Probleme in der Pädiatrie aufzeigen und mögliche Konflikte deutlich machen. Es darf nicht vergessen werden, dass es hier nicht um ein generelles ethisches Regelwerk gehen kann. Die Beziehung zwischen einem Arzt und einem Patienten hat zwar generelle Aspekte, bleibt aber letztendlich immer ein individuelles Geschehen. Daher ist zu fordern, dass sich der Arzt seiner ethischen Verantwortung bewusst ist und seine diesbezüglichen Vorstellungen immer wieder überdenkt und eventuell korrigiert. Das gehört ebenso zum ärztlichen Handeln wie die kontinuierliche Fortbildung auf seinem medizinischen Fachgebiet. Zwei grundsätzliche ethische Forderungen sind besonders wichtig: Es ist unethisch, zu lügen, und es ist ebenso unethisch, einer schwierigen Entscheidung durch Weiterführung von Intensivmaßnahmen auszuweichen.
Weiterführende Literatur Deutsch E, Spickhoff A (2014) Medizinrecht, 7.Aufl. Springer, Berlin/ Heidelberg. (enthält alle wesentlichen Deklarationen und Richtlinien) Marckmann G, Niethammer D (Hrsg) (2010) Ethische Aspekte der pädiatrischen Forschung. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Niethammer D (2008) Das sprachlose Kind: Vom ehrlichen Umgang mit schwer kranken und sterbenden Kindern und Jugendlichen. Schattauer, Stuttgart Niethammer D (2010) Wenn ein Kind schwerkrank ist (medizinHuman Bd 11). Suhrkamp, Berlin Schöne-Seifert B (2007) Grundlagen der Medizinethik. Kröner, Stuttgart Wiesing U, Marckmann G (2009) Freiheit und Ethos des Arztes. Herausforderungen durch evidenzbasierte Medizin und Mittelknappheit. Alber, Freiburg
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Grundlagen der kindlichen Entwicklung Oskar Jenni
1
Grundsätzliches zur Entwicklung des Kindes
Die Pädiatrie zeichnet sich als medizinisches Fachgebiet dadurch aus, dass sich der Kinderarzt mit einem Organismus beschäftigt, der sich ständig verändert. Dies gilt für einzelne Organfunktionen wie beispielsweise den Blutdruck oder die Atemfrequenz genauso wie für das Kind als Ganzes. Das Kind wächst und entwickelt sich über viele Jahre. Es verändert seine Gestalt und eignet sich ständig neue Fähigkeiten und Verhalten an. Ausreichende Kenntnisse über die kindliche Entwicklung sind eine notwendige Voraussetzung, um Kinder und Jugendliche und ihre Familien umfassend betreuen zu können. Fallbeispiel 1: Ein Kind ist seit 2 Wochen wegen einer Pneumonie hospitalisiert. Endlich geht es ihm besser und man entschließt sich zur Entlassung. Die Assistenzärztin geht zum Kind und teilt der Mutter die Entscheidung mit. Sie sagt zum Kind: „Morgen darfst du endlich nach Hause“. Die Mutter ist sehr glücklich. In welchem Alter kann das Kind die Bemerkung der Assistentin erst verstehen? Fallbeispiel 2: Ein Kind wird für einen Chemotherapieblock hospitalisiert. Der Oberarzt begrüßt zusammen mit dem Medizinstudenten das Kind und dessen Eltern. Er bittet den Studenten einen Aufnahmestatus zu erheben. Beim Verlassen des Zimmers sagt der Medizinstudent: „Ich komme in 10 Minuten wieder und untersuche dich dann“. In welchem Alter kann das Kind die Bemerkung des Studenten erst verstehen? Die beiden Fallbeispiele zeigen, dass Kenntnisse über die kindliche Entwicklung (hier über das Zeitverständnis) wich-
tig sind, damit ein angemessener Umgang mit dem Kind überhaupt möglich ist (▶ Abschn. 7 in Kap. 6, „Wachstum und Entwicklung im Kleinkindalter“). Es ist eine wichtige kinderärztliche Aufgabe, Verzögerungen und Störungen im Wachstum und in der Entwicklung von Kindern frühzeitig zu erfassen und notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Eltern erwarten, dass der Kinderarzt das Kind in Bezug auf Wachstum, Entwicklung und Verhalten betreuen und Familien kompetent beraten kann. Tatsächlich haben Beratungen in der kinderärztlichen Praxis in den letzten 30 Jahren einen großen Stellenwert erhalten. Während früher meist infektiologische Fragestellungen im Vordergrund standen, macht heute die Beratungstätigkeit (z. B. im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen) durchschnittlich 50 % der ambulanten ärztlichen Tätigkeit aus. Der Kinderarzt muss über ein solides Grundwissen über die Entwicklung eines Kindes verfügen. Er soll die wichtigsten Entwicklungsmeilensteine kennen, mit den gängigen Entwicklungsmodellen und Erziehungsvorstellungen vertraut und fähig sein, im Gespräch und durch Beobachtung herauszufinden, welche Erwartungen die Eltern an das Kind haben und wie sie mit dem Kind umgehen. Schließlich sollte er auch die relevanten psychosozialen Einflussfaktoren kennen und deren mögliche Auswirkungen auf die Entwicklung eines Kindes abschätzen können. Die kindliche Entwicklung lässt sich anhand der folgenden 3 Prozesse charakterisieren: 1. Wachstum: Entwicklungsparameter nehmen quantitativ zu, z. B. Körpergröße, Muskelkraft oder Wortschatz. 2. Differenzierung: Entwicklungsparameter verändern sich qualitativ, indem sie sich morphologisch und funktionell ausdifferenzieren, z. B. Ausbildung der Greiffunktion, der Syntax oder der sekundären Geschlechtsmerkmale.
O. Jenni (*) Abteilung Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_3
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O. Jenni
3. Spezifizierung: Entwicklungsparameter werden mit der Anpassung an die Umwelt in ihren Funktionen festgelegt, z. B. die Motorik beim Aneignen des Schreibens oder die Sprache durch den Erwerb der Muttersprache. Die Spezifizierung wird in der Pubertät weitgehend abgeschlossen, z. B. bezüglich motorischer Geschicklichkeit oder Sprachkompetenz. Kinder entwickeln sich ganzheitlich, d. h. Teilbereiche wie Motorik oder Sprache stehen in einer ständigen Wechselwirkung miteinander. Wenn in diesem Kapitel die Entwicklung in verschiedene Bereiche aufgeteilt wird, geschieht dies lediglich aus didaktischen Gründen, denn die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung lassen sich so besser darstellen. Die kindliche Entwicklung wird anhand der folgenden 6 Teilbereiche besprochen: • • • • • •
Körperliches Wachstum und Gehirnentwicklung Motorik Beziehungs- und Sozialverhalten Ernährungs- und Schlafverhalten Kognition Sprache
Viele der in diesem Kapitel dargestellten Befunde stammen aus den Zürcher Longitudinalstudien über das kindliche Wachstum und die Entwicklung. In diesen Studien wurden seit 1954 bei mehr als 700 Kindern das Wachstum und die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter untersucht. Die Zürcher Longitudinalstudien gehören weltweit zu den umfassendsten Studien über das Wachstum und die kindliche Entwicklung.
1.1
Körperliches Wachstum und Gehirnentwicklung
Allgemeines Die somatische Entwicklung zeichnet sich durch eine Größen- und Volumenzunahme sowie eine morphologische und funktionelle Differenzierung der Organsysteme aus. Damit verbunden ist ein Wandel in Gestalt und Erscheinung. Die Eigenheiten des Wachstumsprozesses lassen sich am besten an einer individuellen Wachstumskurve ablesen. In Abb. 1a ist die Wachstumskurve eines einzelnen Kindes dargestellt. Die Körpergröße nimmt im 1. Lebensjahr rasch zu, flacht in den folgenden Jahren zunehmend ab, um nach einer erneuten, leichten Zunahme in der Pubertät die Erwachsenengröße zu erreichen. Einen noch besseren Einblick in die Dynamik des Längenwachstums vermittelt die Geschwindigkeitskurve, die sich aus der Ableitung der Wachstumskurve ergibt (Abb. 1b). Die Wachstumsgeschwindigkeit ist im 1. Lebensjahr außerordentlich hoch. Sie nimmt bis zum 7. Lebensjahr ständig ab. Im frühen Schulalter kommt es zu einer vorübergehenden leichten Zunahme des Wachstums (sog. mid-growth spurt). In der Pubertät nimmt das Längenwachstum kurzfristig stark zu, um danach innerhalb weniger Jahre zum Abschluss zu kommen. In den ersten 2 Lebensjahren wird das Wachstum vor allem durch die Ernährung bestimmt, während danach genetische und hormonelle Einflüsse eine große Rolle spielen (z. B. Wachstum- und Schilddrüsenhormone im Schulalter und Sexualhormone in der Pubertät). Die Wachstumsgeschwindigkeit weist bei allen Kindern den gleichen Kurvenverlauf auf. Dies gilt nicht nur für die Gesamtlänge, sondern auch für die Längenmaße von Beinen,
b
a
Alter (Jahre)
Alter (Jahre)
Abb. 1 a, b Wachstumskurve bei einem einzelnen Kind. a Körpergröße, b Wachstumsgeschwindigkeit der Körpergröße (Größenzunahme pro Jahr; Proband der ersten Zürcher Longitudinalstudie; nach Prader et al. 1989)
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Grundlagen der kindlichen Entwicklung
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Abb. 3 Gestaltwandel
Alter (Jahre)
Abb. 2 Mittlere Geschwindigkeitskurven, ausgedrückt in Prozenten der erreichten Erwachsenengröße, für Armlänge (- - -), Rumpflänge ( ) und Beinlänge (____) bei (oben) Jungen und (unten) Mädchen (nach Gasser et al. 1991)
Armen und Rumpf (Abb. 2). So unterscheidet sich das Wachstum des Rumpfs von demjenigen der Beine und Arme nur dadurch, dass die Wachstumsgeschwindigkeit der Extremitäten in jedem Alter etwas größer ist und der pubertäre Wachstumsschub früher einsetzt. Letzteres führt dazu, dass die Kinder zu Beginn der Pubertät eher lange Arme und Beine haben. Die interindividuellen Unterschiede in der Körpergröße lassen sich auf ein unterschiedlich ausgeprägtes Wachstum über die ganze Entwicklungsperiode zurückführen. Kinder, die als Erwachsene groß sind, wachsen in jedem Alter etwas mehr als diejenigen, die eine geringe Erwachsenengröße erreichen. Der dynamische Ablauf des Wachstums ist aber bei kleinen und großen Individuen grundsätzlich gleich. Da sich die verschiedenen Körperabschnitte ungleich rasch entwickeln, kommt es im Verlauf der prä- und postnatalen Entwicklung zu einem Gestaltwandel (Abb. 3). Das Wachstum ist nicht nur von Kind zu Kind unterschiedlich ausgeprägt, es verläuft auch unterschiedlich rasch und dauert damit verschieden lange an. Die interindividuellen Unterschiede in der Wachstumsdauer können bis zu 5 Jahre betragen. Das Wachstumstempo ist dabei unabhängig von der Körpergröße: Kleine und große Kinder können gleichermaßen verschieden rasch wachsen. Ein unterschiedliches Wachstumstempo kann vor allem im frühen Schulalter und
Alter (Jahre) Abb. 4 Unterschiedliche Wachstumsdynamik: 2 Mädchen mit raschem (offener Kreis Frühentwicklerin) bzw. langsamen Wachstum (geschlossener Kreis Mädchen mit konstitutioneller Wachstumsverzögerung) bei gleicher Erwachsenengröße. 3., 50. und 97. Perzentile der Normpopulation (Daten aus der ersten Zürcher Longitudinalstudie)
in der Pubertät zu erheblichen Größenunterschieden zwischen Kindern führen. In Abb. 4 ist das Längenwachstum zweier Mädchen dargestellt, die in den ersten Lebensjahren und nach Abschluss des Wachstums gleich groß sind. Ihre Wachstumsdynamik ist aber sehr unterschiedlich. Das eine Mädchen (offener Kreis) wächst viel rascher als das andere (geschlossener Kreis), was im Alter von etwa 12 Jahren
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O. Jenni
vorübergehend zu einer Differenz in der Körpergröße von 14 cm führt. Männer sind durchschnittlich 13 cm größer als Frauen (Daten aus der ersten Zürcher Longitudinalstudie). Dieser Geschlechtsunterschied kommt erst im Verlauf der Pubertät zustande. Im präpubertären Alter sind die Jungen im Mittel lediglich 1,5 cm größer als die Mädchen (Abb. 5a). Da der pubertäre Wachstumsspurt bei Mädchen 1,5 Jahre früher eintritt als bei Jungen, sind die Mädchen mit etwa 12 Jahren vorübergehend etwas größer als gleichalte Jungen. Der Geschlechtsunterschied von 13 cm in der Erwachsenenendgröße lässt sich zu gleichen Teilen auf einen stärkeren pubertären Wachstumsschub und eine um durchschnittlich 1,5 Jahre längere Wachstumsdauer beim männlichen Geschlecht zurückführen (Abb. 5b).
a
Die Wachstumsgeschwindigkeit ändert sich aber nicht nur innerhalb von Monaten und Jahren, sondern der Wachstumsverlauf kann innerhalb von Tagen oder Wochen und in Abhängigkeit von der Jahreszeit kurzfristig schwanken (Abb. 6). Dies gilt besonders für das Säuglings- und Kleinkindalter, aber auch für spätere Altersgruppen. Aus diesem Grund sind wiederholte Messungen nur in größeren Zeitintervallen sinnvoll (z. B. maximal alle 3 Monate im Säuglingsalter und höchstens alle 6 Monate ab dem Alter von 6 Jahren).
Körpermaße und Messmethodik Um das Wachstum eines Kindes zuverlässig zu beurteilen, braucht es eine standardisierte Messtechnik und Normwerte. Es gibt zwei unterschiedliche Methoden, wie Normwerte von Wachstumskurven erhoben werden können. Einerseits können die Körpermaße anhand einer repräsentativen Stichprobe von Kindern und Jugendlichen einer umschriebenen Population erfasst werden. Man spricht dann von Referenzkurven (Referenzwerten). Andererseits können die Körpermaße anhand einer möglichst gesunden und optimal ernährten (aber nicht repräsentativen) Population erhoben werden. In diesem Fall spricht man von Standardkurven (Standardwerten). Die heute häufig gebrauchten WHO-Kurven beruhen auf einer Population von gesunden, optimal ernährten Kindern aus verschiedenen Kulturen (WHO Multicenter Growth Reference Study, http://www.who.int/childgrowth/standards/en/). Gewicht Das Kind wird entweder nackt gewogen oder anschließend das ungefähre Gewicht der getragenen Kleidungsstücke vom Messwert abgezogen. Das Körpergewicht wird auf 100 g genau erfasst.
b
Chronologisches Alter Abb. 5 Geschlechtsunterschied im Längenwachstum: Mittelwertskurve der Distanzmaße und Wachstumsgeschwindigkeit (nach Prader et al. 1989)
Körpergröße Sie wird in den ersten 2 Lebensjahren liegend bestimmt. Ein Untersucher, z. B. die Mutter, hält den Kopf des Kindes an der oberen Begrenzung der Messeinrichtung fest. Der Kopf wird so positioniert, dass die Verbindungslinie zwischen dem Gehörgang und dem äußeren Augenwinkel vertikal verläuft. Der zweite Untersucher streckt den Rumpf und die Beine des Kindes und bringt die Fußsohlen in festen Kontakt mit dem Messbrett. Ab dem 24. Lebensmonat wird die Körpergröße stehend bestimmt. Das Kind wird aufgefordert, so an der Messeinrichtung zu stehen, dass Fersen, Gesäß und Hinterhaupt dem Messbrett anliegen. Fußknöchel oder Knie berühren sich gegenseitig. Der Kopf wird so positioniert, dass die Verbindungslinie zwischen dem Gehörgang und dem äußeren Augenwinkel horizontal verläuft. Das Kind wird vom Untersucher sanft gestreckt, indem er dessen Kopf am Unterkiefer fasst und leicht nach oben zieht. Das Kind darf dabei die Fersen nicht anheben. Das Messbrett wird auf den Kopf aufgesetzt. Die Messung wird auf 1 mm genau abgelesen.
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Grundlagen der kindlichen Entwicklung
19
Abb. 6 Kurzfristige Schwankungen im Wachstum. Tägliche Längenmessungen zwischen dem 9. und 26. Lebensmonat eines Kleinkindes (vertikale Striche Durchschnitt der Tagesmessungen inklusive der Standardabweichung). Das statistische Modell identifizierte 13 kurzfristige Wachstumsspurts innerhalb dieser knapp 18 Monate (nach Lampl et al. 1992)
Alter (Jahre)
Kopfumfang Das Messband wird so um den Kopf des Kindes gelegt, dass es oberhalb der Augenbrauenwülste zu liegen kommt und über die Prominenz des Hinterhaupts verläuft. Das Messband soll so fest angezogen werden, dass die Haare zusammengepresst sind. Die Messung wird auf 1 mm genau abgelesen und sollte 3-mal bestimmt werden. Der endgültige Wert ergibt sich aus dem Durchschnitt der vorgenommenen Messungen. Damit werden mögliche Messfehler gering gehalten. Aus diesen 3 Körpermaßen lassen sich die folgenden zusätzlichen Bezugsgrößen ableiten: • Wachstumsgeschwindigkeit (cm/Jahr): Zunahme der Körperlänge pro Jahr. • Gewicht für Körperlänge: Körpergewicht auf die Körperlänge bezogen. • Body-Mass-Index (BMI, kg/m2): Körpergewicht (kg) dividiert durch die Körpergröße (m2). Der BMI korreliert recht gut mit der Fettmasse und ist darum ein häufig verwendetes Maß für Über- oder Untergewicht. Das zuverlässigste Maß für die Fettmasse eines Individuums ist allerdings die Hausfaltendicke des Trizeps oder der subskapulären Hautfalten. Knochenalter Das Knochenalter zeigt an, ob das Wachstum eines Kindes durchschnittlich, verzögert oder beschleunigt verläuft. Das Knochenalter wird anhand der Anzahl, Größe und Form von Knochenkernen einer Röntgenaufnahme ermittelt. Bei den Bestimmungsmethoden nach Greulich und Pyle sowie Tanner und Whitehouse werden Handröntgenbilder verwen-
det. Es gibt in der Zwischenzeit auch Verfahren, welche es erlauben, die Bestimmung des Knochenalters aus dem Röntgenbild untersucherunabhängig und standardisiert mit einem Computerprogramm auszuwerten, z. B. mit BoneXpert. Zielgröße Aufgrund der signifikanten korrelativen Beziehung zwischen der Körpergröße des Kindes und derjenigen der Eltern (Korrelationskoeffizient r ¼ 0,6) kann abgeschätzt werden, welche Erwachsenengröße ein Kind unter gleichen Lebensbedingungen und bei ungestörtem Wachstum erreichen wird. Die sog. Zielgröße errechnet sich folgendermaßen: ð½Gr oße des Vaters þ Gr oße der Mutter 2Þ þ 6,5 cm f ür Jungen bzw: 6,5 cm f ür Mädchen 95 % der Erwachsenengrößen liegen innerhalb eines Streubereichs von 8,5 cm des errechneten Werts. Wachstumsprognose Sie kann anhand der aktuellen Körpergröße des Kindes (nach dem 6. Lebensjahr) und dem Knochenalters geschätzt werden. Tab. 1 von Bayley und Pinneau gibt den prozentualen Anteil der Körpergröße an, die ein Kind bei einem bestimmten Knochenalter erreicht hat. Mit zu berücksichtigen ist, ob das Knochenalter im Vergleich zum chronologischen Alter verfrüht, durchschnittlich oder verzögert ist.
Klinische Relevanz Eine klassische Normvariante beim kindlichen Wachstum ist die konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät (Abb. 4). Diese beginnt häufig schon im Vorschulalter und ist durch eine verlangsamte Reifungsentwicklung charakteri-
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O. Jenni
Tab. 1 Berechnung der Wachstumsprognose aus Körpergröße und Knochenalter (nach Bayley und Pinneau 1952) Knochenalter (Jahre) 6,0 6,6 7,0 7,6 8,0 8,6 9,0 9,6 10,0 10,6 11,0 11,6 12,0 12,6 13,0 13,6 14,0 14,6 15,0 15,6 16,0 16,6 17,0 17,6 18,0 18,6
Jungen/Knochenalter Verfrüht Normal
67,0 68,5 69,6 70,9 72,0 73,4 74,7 75,8 76,7 78,6 80,9 82,8 85,0 87,5 90,5 93,0 95,8 97,1 98,0 98,5 99,0
69,5 70,9 72,3 73,9 75,2 76,9 78,4 79,5 80,4 81,8 83,4 85,3 87,6 90,2 92,7 94,8 96,8 97,6 98,2 98,7 99,1 99,4 99,6 100,0
Verzögert 68,0 70,0 71,8 73,8 75,6 77,3 78,6 80,0 81,2 81,9 82,3 83,2 84,5 86,0 88,0
Mädchen/Knochenalter Verfrüht Normal 72,0 73,8 71,2 75,7 73,2 77,2 75,0 79,0 77,1 81,0 79,0 82,7 80,9 84,4 82,8 86,2 85,6 88,4 88,3 90,6 89,1 91,4 90,1 92,2 92,4 94,1 94,5 95,8 96,2 97,4 97,2 98,0 98,0 98,6 98,6 99,0 99,0 99,3 99,3 99,6 99,5 99,7 99,8 99,9 99,9 99,9 100,0
Verzögert 73,3 75,1 77,0 78,8 80,4 82,3 84,1 85,8 87,4 89,6 91,8 92,6 93,2 94,9 96,4 97,7 98,3 98,9 99,4 99,6 99,8 99,9 100,0
Die Zahlen geben an, wie viel Prozent der zu erwartenden Körpergröße bei einem gegebenen Knochenalter erreicht sind. Knochenalter normal: chronologisches Alter +1 Jahr; Knochenalter verfrüht/verzögert: weicht um >1 Jahr vom chronologischen Alter ab (nach Bayley und Pinneau 1952). Die Werte sind auch heute noch gültig.
siert. Die Kinder sind kleiner als ihre Altersgenossen, zeigen ein verzögertes Knochenalter und einen späteren Eintritt in die Pubertät. Die konstitutionelle Verzögerung im Wachstum ist meist genetisch bedingt und häufig war auch ein Elternteil davon betroffen. Sehr oft ist die konstitutionelle Wachstumsverzögerung auch mit unreifem sozialem Verhalten assoziiert. Schon der Begriff impliziert, dass die Kinder das verspätete Wachstum wieder aufholen und eine normale Erwachsenengröße im familiären Zielbereich erreichen.
Gehirnentwicklung Die Entwicklung des zentralen Nervensystems (ZNS) ist ein komplexer Prozess und die Zunahme des Kopfumfangs spiegelt die ZNS-Entwicklung nur ungenügend wider. Die Neurogenese, die Migration der Neurone, die Zelldifferenzierung und das Axonwachstum finden vorwiegend pränatal statt. Darum scheint das Gehirn um die Geburt in seiner Grundstruktur weitgehend entwickelt und verändert sich danach oberflächlich gesehen nur noch wenig (Abb. 7). Auf der mikroskopischen und funktionellen Ebene finden nach der Geburt allerdings mit der Bildung von Synapsen, Dendriten
und neuronalen Netzwerken nach wie vor große Veränderungen statt (Abb. 7). Ein besonderes Phänomen ist die starke Überproduktion (Blooming) und die nachfolgende Elimination von überschüssigen Synapsen (Pruning, Abb. 8). Auch wenn die Mechanismen dieses Prozesses nicht vollständig geklärt sind, so scheinen besonders diejenigen Synapsen verstärkt zu werden, die häufig gebraucht und diejenigen eliminiert, die selten oder nicht gebraucht werden (Hebb’sches Konzept „fire together wire together“). Die initiale Überproduktion von Synapsen führt in der frühen Kindheit zu einem recht undifferenzierten neuronalen Netzwerk und einer ungenauen und ineffizienten Informationsübertragung (Abb. 9). Das inneffiziente Netzwerk benötigt dabei viel Energie, was sich im Anstieg der zerebralen Durchblutungsrate und des Glukoseverbrauchs in den ersten Lebensjahren zeigt (Abb. 10). Mit dem Pruning werden im Verlaufe der Kindheit diejenigen Verbindungen eliminiert, die sich als ineffizient erwiesen haben und viel Energie brauchen. Dieser Prozess kann mit der langsamwelligen Aktivität im Elektroenzephalogramm (EEG) des Schlafs abgebildet
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
21
Abb. 7 Zusammenfassende Darstellung des Entwicklungsverlaufs des zentralen Nervensystems. Im oberen Teil ist die Dauer einiger neuronaler Entwicklungsschritte skizziert, im unteren Teil wird der zeitliche Verlauf der Synaptogenese und Synapsenelimination in verschiedenen Hirnarealen dargestellt
Abb. 8 Synaptogenese und Synapsenelimination in den ersten 2 Lebensdekaden. Während es im Vorschulalter zu einem eigentlichen Blühen von synaptischen Verbindungen kommt, so werden viele dieser Verbindungen im Verlauf der Pubertät wieder abgebaut
bei Geburt
werden (Abb. 10). Auch die pränatale und unmittelbar postnatale Myelinisierung äußert sich in einer deutlich verbesserten Leitungsfähigkeit der neuronalen Netzwerke. Die vorangehend beschriebenen Entwicklungsprozesse finden in allen Teilen des Gehirns statt, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Einzelne Hirnregionen zeigen unterschiedliche Reifungszeitpunkte in der Synaptogenese. Die
mit 6 Monaten
mit 8 Jahren
mit 16 Jahren
visuellen Systeme reifen rascher als der motorische oder frontale Kortex. Zum Zeitpunkt der Geburt sind sensorische Funktionen wie Sehen, Hören und Tasten bereits weitgehend entwickelt, während motorische und höhere kognitive Funktionen noch nicht ausgereift sind. Tatsächlich findet die Synaptogenese zuerst in posterioren Anteilen des Kortex und erst später in frontalen Arealen statt. Auch die nachfolgende
22
O. Jenni
Kinder
Erwachsene
70
Synapsendichte
Synapsen/100 µm³
60 50 40 30 20 10
Synapsenelimination zeigt unterschiedliche Zeitverläufe (Abb. 11). Erst in der Adoleszenz findet die Synapsenelimination in denjenigen Kortexbereichen statt, die für komplexe kognitive Leistungen verantwortlich sind (z. B. für Gedächtnis, exekutive Funktionen). Generell erreichen die vorderen Hirnregionen wie bei der Synaptogenese und Synapsenelimination die Ausreifung deutlich später (Abb. 11). In den letzten Jahren mehren sich Hinweise, dass die Entwicklung verschiedener psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen mit den oben beschriebenen Reifungsprozessen assoziiert ist. So werden Störungen im Pruning mit der Entwicklung einer Schizophrenie oder einer Depression in Zusammenhang gebracht. Es gibt verschiedene bildgebende Verfahren, um die Hirnentwicklung beim Kind sichtbar zu machen. Heute werden besonders die Elektroenzephalografie (EEG), die Computertomografie (CT), die Magnetresonanztomografie (MRT) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) in der Diagnostik eingesetzt. Die Verfahren werden zunehmend auch kombiniert, um Strukturen (hohe räumliche Auflösung von MRT) und Funktionen (hohe zeitliche Auflösung von EEG) gleichzeitig darzustellen und korrelieren zu können. Während in den letzten Jahren zunehmend gesicherte Erkenntnisse bezüglich der Hirnentwicklung auf der strukturellen Ebene beschrieben wurden (auch in umfangreichen MRT-Längsschnittuntersuchungen), ist die Interpretation von funktionellen Befunden nach wie vor schwierig. Eine neuere Entwicklung ist der zunehmende Einsatz von modernen MRT-Techniken (z. B. Diffusions-Tensor-Bildgebung als Bindeglied zwischen funktionellen und strukturellen Messungen, MR-Spektroskopie zur Messung des Hirnmetabolismus und Resting-State Netzwerkanalysen).
Amplitude langsamer Wellen (µV)
Abb. 9 Überproduktion von Synapsen führt zu undifferenziertem, ineffizientem Netzwerk im Kindesalter (rechts). Im Erwachsenenalter werden diejenigen Synapsen verstärkt, die gebraucht und diejenigen eliminiert, die nicht gebraucht werden (links)
400
Glukose-Verbrauch (µmol/min/100g)
0
70
Langsamwellige EEG Aktivität
350 300 250 200 150 100 50 Energieverbrauch
60 50 40 30 20 10 0 0
5
10 15 Alter (Jahre)
20
Abb. 10 Verlauf der Synapsendichte (histologisch), der langsamwelligen Aktivität im Elektroenzephalogramm (EEG) und des zerebralen Energieverbrauchs (nach Huttenlocher und Dabholkar 1997; Kurth et al. 2010; Chugani 1998)
1.2
Motorik
Allgemeines Der Begriff Motorik wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Aus Sicht der Bewegungswissenschaften bedeutet Motorik die Gesamtheit aller Steuerungs- und Funktionsprozesse, welche der Haltung und Bewegung zugrunde liegen. Motorische Fähigkeiten umfassen dabei
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
2–5J
23
5–8J
8–11
11–14J
Minimal
14–17J
17–20J
Maximal Langsamwellige EEG Aktivität
Abb. 11 Posteroanteriore Entwicklung des Kortex. Räumliche Verteilung der langsamwelligen EEG-Aktivität ( Mädchen, motorische Fähigkeiten und Temperament) bestimmt als von Umgebungsfaktoren (Jahreszeit, Zeit außer Haus, Verkehr in der Nachbarschaft und Familienstruktur). Die übermäßige Aktivität eines Kindes hat im klinischen Alltag mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) einen großen Stellenwert erhalten.
Methodik Für eine Einschätzung der Motorik im Vorschul- und Schulalter stehen verschiedene standardisierte Untersuchungsinstrumente zur Verfügung (Tab. 2).
Abb. 13 Entwicklung der körperlichen Aktivität (nach Eaton et al. 2001)
Klinische Relevanz Es gibt zahlreiche Kinder, die durch motorische Schwierigkeiten in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind. Auffälligkeiten in der motorischen Entwicklung eines Kindes können aufgrund ihres klinischen Erscheinungsbildes grob in zwei Kategorien unterteilt werden. Die erste Gruppe umfasst neuromotorische Störungen wie beispielsweise die Zerebralparese oder neuromuskuläre Erkrankungen. Für die zweite Kategorie wird nach ICD-10 unter F82 der Begriff umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) verwendet. Während Zerebralparese und neuromuskuläre Störungen relativ selten auftreten, so leiden etwa 5 % aller Kinder an einer UEMF.
Tab. 2 Tests zur Beurteilung der Motorik Test Movement Assessment Battery for Children – 2 (M-ABC-2)a
Altersbereich 3–17 (Deutsche Normen)
Untertests Handgeschicklichkeit Ballfertigkeiten Balance
Bruininks-Oseretsky Test of Motor Proficiency, Second Edition (BOT-2)b Körperkoordinations-test für Kinder (KTK)c
4–15 (Deutsche Normen) 5–14 (Deutsche Normen) 4–6
Rennen, Balance, Koordination, Hand-AugeKoordination, Geschwindigkeit von motorischen Aufgaben und Geschicklichkeit Rückwärts Balancieren, monopedales Überhüpfen, seitliches Hin- und Herspringen und seitliches Umsetzen Gewandtheit, Koordinationsfähigkeit, feinmotorische Geschicklichkeit, Gleichgewichtsvermögen Rein motorische Leistungen (repetitive, alternierende und sequenzielle Bewegungen); adaptive Leistungen (Steckbrett, Schraubenbrett, Perlen, Sprünge seitwärts, Standweitsprung, Aufstehen und Absitzen) Gleichgewicht (statische Balance)
Motoriktest für 4- bis 6-jährige Kinder (MOT 4–6)d Zürcher Neuromotorik-2
3–18 (Schweizer Normen)
Bemerkungen Normierung für die Altersbereiche 3–6, 7–10, 11–16 Jahre; empfohlener Test für die Diagnostik der umschriebenen Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) Acht Untertests, mit insgesamt 53 Aufgaben, Lang- und Kurzversion; empfohlener Test für UEMF
17 Testaufgaben
Leistung (Zeit) und Bewegungsqualität (Mitbewegungen) werden quantitativ erfasst.
a Henderson SE, Sudgen DA, Barnett AL (2007) Movement Assessment Battery for Children – Second Edition (Movement ABC-2). London: Harcourt Assessment. Deutsche Bearbeitung nach Petermann (2015) b Bruininks R (2005) Bruininks-Oseretski test of motor proficiency, 2nd ed. NCS Pearson, Inc. Deutsche Bearbeitung nach Blank, Jenetzky und Vinc¸on 2014 c Kiphard EJ, Schilling F (2017) Körperkoordinationstest für Kinder. 3. überarbeitete und ergänzte Auflage d Zimmer R (2015) Motoriktest für 4–6-jährige Kinder (MOT 4–6). 3. überarbeitete und neunormierte Auflage Kakebeeke TH, Knaier E, Chaouch A, Caflisch J, Rousson V, Largo RH, Jenni OG (2018) Neuromotor development in children. Part 4: new norms from 3 to 18 years. Dev Med Child Neurol; 60(8): 810–819
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
1.3
Beziehungs- und Sozialverhalten
Allgemeines Die wechselseitige Bindung zwischen Eltern und Kind stellt die Ernährung, die Pflege und den Schutz des Kindes sicher und ermöglicht die Weitergabe von Fähigkeiten und Wissen. Das Kind hat eine angeborene Bereitschaft, sich an Personen zu binden, die ihm vertraut sind. Ist ein Kind an eine Person gebunden, sucht es bei ihr Nähe und Zuwendung. Ihre Anwesenheit gibt ihm Sicherheit und macht es aktiv. Wenn sich die Bezugsperson vom Kind entfernt, reagiert es mit Nachlaufen und Verlassenheitsängsten. Bowlby spricht diesem Verhalten eine instinktive Qualität zu: Das Kind bindet sich an die Eltern und andere Bezugspersonen unbesehen davon, wie gut und zuverlässig sie seine Bedürfnisse befriedigen. Die Stärke der Bindung hängt nicht von der Qualität der ElternKind-Beziehung ab. Wird ein Kind von seinen Eltern vernachlässigt oder abgelehnt, führt dies im vorpubertären Alter nicht zu einer Schwächung der kindlichen Bindung. Im Gegenteil: Elterliche Gleichgültigkeit und Ablehnung ängstigen das Kind so sehr, dass es sich umso mehr um ihre Nähe und Zuwendung bemüht. Das Kind ist biologisch darauf angelegt, bei vertrauten Personen Schutz zu suchen, selbst dann, wenn diese die Aggressoren sind. Diese emotionale Abhängigkeit wirkt sich für Kinder fatal aus, die von den Eltern oder anderen Bezugspersonen misshandelt oder missbraucht werden. Die Art und Weise, wie die Eltern mit dem Kind umgehen, bestimmt nicht die Stärke der kindlichen Bindung, hat aber gleichwohl allergrößte Auswirkungen auf das Kind: Die Qualität des elterlichen Verhaltens ist entscheidend für sein psychisches Wohlbefinden und sein Selbstwertgefühl. Das Kind kann nicht nur im 1. Lebensjahr Bindungen eingehen. Die Bereitschaft, sich zu binden, ist auch im Kleinkindesalter und selbst im Kindergarten- und Schulalter noch vorhanden, wenn auch nicht mehr so vorbehaltlos und ausgeprägt wie in den ersten 2 Lebensjahren. Sie hängt davon ab, wie viel Geborgenheit und Zuwendung das Kind bis dahin erhalten hat und wie groß die Bereitschaft der zukünftigen Bezugspersonen ist, sich auf eine Beziehung mit dem Kind einzulassen, z. B. bei einer Adoption. Weil das Kind auf die Nähe einer vertrauten Person angewiesen ist, löst jede Trennung Angst aus. In den ersten Lebensjahren braucht es den ständigen Kontakt mit wenigstens einer Bezugsperson. Neben der Trennungsangst bindet das Fremdeln das Kind zusätzlich an die Bezugspersonen. Die Bindung der Eltern an das Kind ist nicht so bedingungslos wie diejenige des Kindes an die Eltern. Für die elterliche Bindung haben angeborene und hormonell unterstützte Verhaltensweisen anfänglich eine Sicherungs- und Starterfunktion. Sie helfen den Eltern, sich in den ersten Lebenswochen auf das Kind auszurichten und verstärken ihr fürsorgliches Verhalten. So ruft sich das Kind den Eltern mit seinem Schreien immer wieder in Erinne-
25
rung. Mit seinem Lächeln belohnt es sie für ihre Fürsorge und erhöht ihre Neigung, sich ihm zuzuwenden. Es zeigt ihnen mit seiner Zufriedenheit, dass es sich wohl fühlt, wenn sie in seiner Nähe sind, seine Bedürfnisse befriedigen und sich mit ihm beschäftigen. Die Eltern freuen sich an seiner Erscheinung und seinem Verhalten und fühlen sich als Erziehungspersonen bestätigt, wenn das Kind ihnen nacheifert und ihr Verhalten nachahmt. Die Zuwendung, die sie von ihrem Kind erhalten, und die Erfahrungen, die sie täglich mit ihm machen, verstärken und erhalten ihre Bereitschaft, sich um das Kind zu kümmern. In der Kind-Eltern-Beziehung stellt sich nie ein stabiler Zustand ein. Die Bindungen zu den Eltern, anderen Bezugspersonen und Gleichaltrigen wandeln sich ständig und beeinflussen sich wechselseitig (Abb. 14). Die Eltern und Bezugspersonen müssen ihre Fürsorge und ihr Verhalten laufend dem Kind anpassen. In der Adoleszenz kommen die Fürsorge und die Weitergabe von Fähigkeiten und Wissen weitgehend zu einem Abschluss. Die emotionale Abhängigkeit von den Eltern schwächt sich so weit ab, dass der junge Erwachsene tragfähige Beziehungen mit fremden Menschen eingehen und schließlich eine eigene Familie gründen kann. Die Bindungen, die ein Kind in jeder Entwicklungsperiode eingeht, sind immer auch Lernerfahrungen. Sie bestimmen seine Erwartungen, die es in künftige Beziehung setzen wird, und beeinflussen seine Einstellung zu anderen Menschen sowie seinen Umgang mit ihnen. Wie Eltern und Fachleute mit einem Kind umgehen, wirkt sich auf seine zukünftige Bindungsbereitschaft, sein Sozialverhalten und sein Selbstwertgefühl aus. Das Beziehungsverhalten eines Kindes wird wesentlich durch die Fähigkeit mitbestimmt, soziale Signale zuverlässig wahrzunehmen, richtig zu deuten und vorteilhaft darauf zu reagieren. Seine wichtigsten Anteile sind das Beherrschen der nichtverbalen Kommunikation, die Einsicht in die eigene Befindlichkeit und das Erfassen von Stimmungen
Eltern
Gleichaltrige
Alter in Jahren Abb. 14 Wandel und Stärke der Bindungen im Verlauf der Entwicklung
26
und Motivationen bei den Mitmenschen. Das Beziehungsverhalten entwickelt sich aus den konkreten Erfahrungen, die das Kind im Umgang mit seinen Mitmenschen macht. Es eignet sich die für seine Kultur maßgebenden Verhaltensweisen, sozialen Regeln und Wertvorstellungen durch imitatives Lernen an. Ein wichtiger Aspekt der Entwicklung des Sozialverhaltens ist die soziale Kognition. Sie besteht – sehr vereinfacht ausgedrückt – aus der Intro- und Extrospektion. Unter Introspektion wird die Fähigkeit verstanden, in sich selbst hineinzufühlen, die eigene Befindlichkeit – wenn auch in einem begrenzten Ausmaß – emotional und kognitiv zu erfassen. Als Extrospektion wird die Fähigkeit bezeichnet, sich in andere Menschen hineinzufühlen, deren Gefühle, Gedanken, Verhalten und Motivation reflektieren zu können. Ein Meilenstein der Introspektion ist das Auftreten der Selbstwahrnehmung gegen Ende des 2. Lebensjahrs. Die Entwicklung der Extrospektion wird mit dem Auftreten der sog. Theorie des Geistes (Theory of Mind, ToM; nach Wimmer und Perner) deutlich. In den ersten Lebensjahren gehen die Kinder davon aus, dass andere Menschen genauso denken und fühlen wie sie selbst. Entwicklungspsychologische Studien haben gezeigt, dass Kinder im Alter von 3–4 Jahren die Fähigkeit entwickeln, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sie können sich vorstellen, dass jeder Mensch bestimmte Absichten, Gedanke und Gefühle hat und dass sich diese von den eigenen unterscheiden. Sich in einen anderen Menschen hineinzufühlen heißt aber nicht nur diese Gefühle auch nachzuempfinden (empathisch zu sein), sondern sie gedanklich zu verstehen. Diese Fähigkeit erlaubt dem Kind, Handlungen vorauszusehen und Absichten anderer zu beurteilen.
Methodik Zur Beurteilung des Bindungsverhaltens haben Ainsworth und Mitarbeiter 1978 den Fremde-Situations-Test geschaffen. Der Test umfasst eine standardisierte Beobachtungssituation, mit welcher die Bindungsqualität zwischen Kind und Mutter beschrieben werden kann. Die Entwicklung der Selbstwahrnehmung kann im Rouge-Test von Bischof-Köhler aus dem Jahre 1989 objektiviert werden. Bei diesem Test wird dem Kind im Spiel möglichst unbemerkt ein roter Fleck auf die Stirn gemalt. Vor einen Spiegel gesetzt, bemerkt das Kind den Fleck erstmals zwischen 18 und 24 Monaten. In diesem Alter beginnt das Kind, sich als Person bewusst wahrzunehmen und sich von anderen Personen abzugrenzen. Die Selbstwahrnehmung ist eine Voraussetzung dafür, Vornamen und Ich-Form zu verwenden. Um die Entwicklung der ToM zu beschreiben, wurde von Wimmer und Perner die „Sally und Ann“-Aufgabe erfunden. Mit dieser Aufgabe kann nachgewiesen werden, ob ein Kind versteht, dass andere Menschen andere Vorstellungen (z. B. falsche Überzeugungen) haben können (Abb. 15).
O. Jenni
Abb. 15 False-belief-Paradigma „Sally and Ann“. Wenn das Kind eine Theory of Mind hat, versteht es, dass Sally den Bären im Kinderwagen suchen wird, obwohl das Kind weiß, dass der Bär in Wahrheit in der Kiste ist, weil er von Anne dorthin gelegt wurde (nach Wimmer und Perner 1983)
Für den Kinderarzt sind grundlegende Kenntnisse über die Entwicklung des sozialen Verhaltens für die klinische Arbeit unerlässlich. So ist Wissen über die Entwicklung der ToM für einen kindgerechten Umgang wichtig. Ein 2-jähriges Kind kann die Absichten und Handlungen des Arztes (z. B. für eine Untersuchung) nicht voraussehen und gedanklich nachvollziehen. Meist wird sich der Kinderarzt für die Beurteilung des Beziehungs- und Sozialverhaltens eines Kindes aus zeitlichen Gründen mit den Informationen aus dem sozialen Umfeld und aus Elterngesprächen begnügen müssen.
Klinische Relevanz Eine klassische Störung im Beziehungs- und Sozialverhalten ist die Autismus-Spektrum-Störung. Kinder mit sozialen Auffälligkeiten suchen in den ersten Lebensmonaten nur begrenzt Augenkontakt zu ihren Bezugspersonen, lächeln weniger und zeigen eine geringe Responsivität im sozialen
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
Austausch. Dies kann den Beziehungsaufbau zu ihren Bezugspersonen erschweren. Eltern berichten dann häufig, dass die Kinder erst zu einem verspäteten Zeitpunkt oder gar nicht gefremdet oder Trennungsangst gezeigt hätten. Außerdem werden das Ausbleiben von gemeinsam gerichteter Aufmerksamkeit, der Selbsterkennung im Spiegel und der Entwicklung einer ToM als frühe Anzeichen für eine autistische Störung gesehen.
1.4
27
Essverhalten und Wohlbefinden beeinflussen sich gegenseitig. Mit Zuwendung oder Liebesentzug können die Eltern auf das Trink- und Essverhalten ihres Kindes einwirken. Gleichzeitig übt das Kind mit seinem Verhalten auch eine große Macht auf die Eltern aus. Ein Kind, das beim Essen kräftig zupackt, erfreut die Eltern. Ein Kind, das wenig isst, ängstigt sie. Eltern haben einen imperativen Drang, ihr Kind zu ernähren. Sie werden, wenn es ein schlechter Esser ist, leicht verunsichert.
Ernährungs- und Schlafverhalten Schlafverhalten
Körperfunktionen wie Kreislauf, Atmung und Verdauung müssen gewährleistet sein, damit ein Kind gedeihen kann. Einige dieser Funktionen werden von bestimmten Verhaltensweisen begleitet, die Eltern und Kinderarzt häufig beschäftigen. Dazu gehören insbesondere das Trink-, Ess- und Schlafverhalten.
Ernährungsverhalten Das kindliche Essverhalten wird von physiologischen Regulationsmechanismen, individuellen Entwicklungseigenheiten des Kindes, der Eltern-Kind-Interaktion und -Beziehung sowie sozialen und kulturellen Einflüssen geprägt. Kinder werden im Verlaufe ihrer Entwicklung unterschiedlich ernährt. Die Ernährungsform ist dem jeweiligen Entwicklungsstand des kindlichen Organismus angepasst. Sie entspricht seinen Möglichkeiten von Nahrungsaufnahme, Verdauung, Stoffwechsel und Ausscheidung. Im Säuglingsalter ist das Kind bei der Ernährung vollständig von den Eltern und anderen Bezugspersonen abhängig. Danach beginnt es, in seinem Trink- und Essverhalten zunehmend selbstständig zu werden und erwirbt kulturspezifische Esstechniken. Bereits Neugeborene und junge Säuglinge unterscheiden sich voneinander in ihrem Trinkverhalten. Größere Kinder können ausgeprägte Abneigungen und Vorlieben für bestimmte Speisen aufweisen. Das Essverhalten und die Bedeutung, welche die Nahrung und das Essen für Kinder bekommen, sind aber nicht nur Ausdruck individueller Eigenheiten, sondern werden immer auch durch die familiären Erfahrungen mitgeprägt. Eltern ernähren ihre Kinder und erziehen sie durch ihr Vorbild zu bestimmten Essgewohnheiten. Fütterungs- und Ernährungsrituale hängen ganz wesentlich von kulturellen und geografischen Begebenheiten ab. In manchen Kulturen wird das Essen der Säuglinge von den Bezugspersonen vorgekaut, während andere diese Praxis als unhygienisch und sogar gefährlich beurteilen. In wieder anderen Kulturen werden die Kinder während des Fütterns getragen und in anderen sitzt das Kind in einem Sitzchen. Die große Variabilität der kulturellen Praktiken zeigt, dass Kinder anpassungsfähig sind und darum rigide Empfehlungen bezüglich des Essverhaltens vermieden werden sollten.
Schlafstadien und -zyklen Das Schlafverhalten ändert sich im Verlaufe der kindlichen Entwicklung sehr stark. Anhand des EEG und von Körperfunktionen wie Atmung, Augenbewegungen und Muskeltonus lassen sich zwei Funktionszustände (Stadien) des Schlafs unterscheiden: REM- und Non-REM-Schlaf. Der REM-Schlaf geht mit einem charakteristischen Muster des Elektroenzephalogramms, einer unregelmäßigen Atmung, gelegentlicher motorischer Unruhe und schnellen Bewegungen des Augapfels unter den Augenlidern einher (rapid eye movements). Der Non-REM-Schlaf zeichnet sich durch eine große motorische Ruhe, eine regelmäßige Atmung und das Fehlen von raschen Augenbewegungen aus. Er setzt sich elektroenzephalografisch aus 3 Unterstadien zusammen (Abb. 16). Schlafzyklen entstehen durch regelmäßige Wechsel zwischen den Stadien des REM- und Non-REM-Schlafs sowie dem Wachzustand (Abb. 17). Es gibt kein Alter, in dem die Schlafzyklen gewissermaßen ausgereift sind. Sie verändern sich ständig im Verlauf des Lebens. Beim jungen Säugling dauert ein Schlafzyklus etwa 50 min. Er verlängert sich bis ins Erwachsenenalter auf 90–120 min.
Schlafregulation Zwei biologische Prozesse steuern den Schlaf und das Wachsein beim Menschen: der zirkadiane Prozess und die Schlafhomöostase (Abb. 18). Der zirkadiane Prozess (lat. „circa“; dies, ungefähr einen Tag, 24 Stunden) beschreibt einen regelmäßigen und schlafunabhängigen Prozess, der dem Menschen ermöglicht, nachts zu schlafen und tagsüber wach zu sein. Der anatomische Sitz der „inneren Uhr“ ist in den suprachiasmatischen Kernen des Zwischenhirns lokalisiert und steuert neben Wachheit und Schlaf auch Körpertemperatur, Atmung, Blutdruck, Herztätigkeit, Harnausscheidung, Hormonproduktion und Genaktivität. Die innere Uhr wird hauptsächlich durch den Hell-Dunkel-Wechsel synchronisiert. Andere Zeitgeber wie Lärm, soziale Kontakte oder regelmäßige Nahrungsaufnahme sind bei der täglichen Anpassung von geringerer Bedeutung.
28 Abb. 16 Schlafstadien aufgezeichnet mittels EEG, Elektrookulogramm (EOG) und Elektromyogramm (EMG) im REM- und Non-REM-Schlaf
O. Jenni Hirnströme EEG
Augen EOG
Muskeln EMG
Wach Non-REM-Schlaf - Stadium 1 - Stadium 2 - Stadium 3 REM-Schlaf 0 1 2 3 4 5 0 1 2 3 4 5 0 1 2 3 4 5 Sekunden
Sekunden
Sekunden
Abb. 17 Schlafverhalten im Verlauf einer Nacht bei Kindern, jungen und älteren Erwachsenen
Dem zirkadianen Prozess gegenüber steht der homöostatische, schlafabhängige Prozess. Während des Wachseins nimmt die Schlafbereitschaft so weit zu, dass wir schließlich einschlafen. Im Verlauf der Nacht bauen wir den Schlafdruck wieder ab.
Schlafdauer Genauso wie sich die Schlaf-Wach-Zyklen und die Schlafregulation im Verlauf des Lebens ständig verändern, sind auch die Gesamtschlafdauer und die Anteile von REM- und NonREM-Schlaf stark altersabhängig (Abb. 19). Die Schlafdauer
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
29
Abb. 18 Erklärungsmodell der zirkadianen und homöostatischen Schlaf-Wach-Regulation (2-Prozess-Modell, nach Borbély 1982). Oberste Grafik: Zunehmende zirkadiane Wachheit im Verlauf des Tages und abnehmende Wachheit in der Nacht. Mittlere Grafik: Zunehmender homöostatischer Schlafdruck im Verlauf des Tages und abnehmender Schlafdruck in der Nacht. Unterste Grafik: Wechselspiel der beiden Prozesse
l
l
und der Anteil des REM-Schlafs nehmen mit zunehmendem Alter immer mehr ab. Der Schlafbedarf ist in jedem Alter von Mensch zu Mensch unterschiedlich groß. Es gibt Neugeborene, die lediglich 14 Stunden und andere, die 20 Stunden pro 24 Stunden schlafen. Die meisten Erwachsenen benötigen 7–8 Stunden Schlaf, damit sie am nächsten Tag ausgeruht sind. Einige kommen jedoch mit 3–4 Stunden Schlaf pro Nacht aus, während andere 9–10 Stunden benötigen.
Alter (Jahre) Abb. 19 Dauer des Gesamtschlafs sowie Anteile von REM- und NonREM-Schlaf von der Geburt bis ins hohe Alter (nach Roffwarg et al. 1966)
Methodik Störungen des Ernährungs- und Schlafverhaltens gehören zu den häufigsten Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter. Einer Beratung sollte immer eine sorgfältige Erfassung des kindlichen Verhaltens vorausgehen. Das Schlafverhalten wie auch das Trink- und Essverhalten eines Kindes kann mit einem 24-Stunden-Protokoll zuverlässig erfasst werden (Abb. 20). Die Eltern werden gebeten, das kindliche Verhalten während 7–14 Tagen aufzuzeichnen. Die Schlafstruktur wird durch eine Polysomnografie (PSG, nächtliche Schlafableitung des EEG, der Augenbewe-
30
O. Jenni
Abb. 20 24-Stunden-Protokoll
gungen und des Muskeltonus) erfasst. Eine weitere Methode zur Schlafaufzeichnung ist die Aktimetrie, bei welcher das Bewegungsmuster eines Kindes während der Nacht und des Tages aufgezeichnet und so die Schlaf-Wach-Aktivität über mehrere Tage oder Wochen erfasst werden kann (▶ Kap. 5, „Wachstum und Entwicklung im Säuglingsalter“).
Klinische Relevanz Ernährungsverhalten Ein beeinträchtigtes Fütter- und Essverhalten tritt im Kindesalter häufig auf. Essstörungen sind jedoch meistens selbstlimitierend, wenn sie frühzeitig erkannt und die Familien adäquat aufgeklärt und begleitet werden. Eine wichtige Rolle kommt dem Kinderarzt zu, der die besorgten und verunsicherten Eltern mit Hinweis auf das breite Spektrum des kindlichen Essverhaltens und der Gewichtsentwicklung beruhigen kann. Störungswertige Formen sind davon abzugrenzen, da diese bedeutsame Fehlentwicklungen auf Seiten des Kindes, der Bezugsperson oder auf der interaktionellen Ebene nach sich ziehen.
Schlafverhalten Schlafstörungen gehören zu den häufigsten Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter. Bei der Beurteilung von kindlichen Schlafstörungen müssen alterstypische Merkmale beachtet werden. So sind beispielsweise im Vorschulalter Schlafstörungen wie Widerstand beim Zubettgehen, nächtliches Erwachen oder der Pavor nocturnus (Angstschreck) häufig, während im Schulalter und in der Adoleszenz vor allem Einschlafschwierigkeiten und Tagesmüdigkeit vorkommen.
1.5
Kognition und Intelligenz
Allgemeines Unter Kognition oder kognitiven Fähigkeiten werden einzelne Denkleistungen verstanden, bei welchen spezifische Informationen der Umwelt und des Organismus aufgenommen und in einer für den Organismus sinnvollen Weise verarbeitet werden. Der Begriff Intelligenz ist ein Sammelbegriff für alle kognitiven Fähigkeiten und wird mit dem Intelligenzquotienten (IQ) erfasst. In der klinischen Praxis hat sich die Beschreibung
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
von verschiedenen kognitiven Fähigkeiten und Kompetenzen bewährt. Drei dieser Fähigkeiten werden im Folgenden näher erläutert. 1. Logisch-mathematische Fähigkeiten: Sie bestehen im weitesten Sinne aus der Einsicht über das Wesen von Objekten und deren Zusammenwirken. Voraussetzungen dazu sind wiederholte, genaue Beobachtungen, das Erstellen von widerspruchsfreien, qualitativen und quantitativen Kriterien sowie ein systematischer Umgang mit denselben. Ein Teilbereich der logisch-mathematischen Funktionen ist das Zahlenverständnis (Arithmetik). Der Ursprung dieser Fähigkeiten wurzelt in den konkreten Erfahrungen, die das Kind in den ersten Lebensjahren mit der gegenständlichen Umwelt macht. Es entwickelt sehr früh ein Verständnis für kausale Beziehungen. So entdeckt der Säugling, dass Musik erklingt, wenn er an der Schnur der Musikdose zieht. Mit 18–24 Monaten realisiert das Kind, dass Gegenstände aufgrund bestimmter Eigenschaften gleich oder verschieden sein können. Diese Einsicht ist der Beginn des Kategorisierens, einer wichtigen Grundfunktion des logischen Denkens. Das logische Denken bleibt bis zur Pubertät anschaulich konkret, d. h. das Kind kann nur mit Objekten oder deren mentalen Bildern wie Zahlen umgehen. In der Adoleszenz stellt sich schließlich formales Denken ein. Logische Zusammenhänge können nun mit abstrakten Begriffen wie Zeichen oder Symbolen, z. B. in der Algebra, dargestellt werden. 2. Figural-räumliche Fähigkeiten: Sie beinhalten die Kompetenz, Gegenstände in ihrem Aussehen und ihrer Ausdehnung sowie in ihren Bewegungen und räumlichen Beziehungen zueinander zu erfassen. Die Entwicklung der figural-räumlichen Kompetenz nimmt ihren Anfang im Säuglings- und Kleinkindesalter, wenn das Kind seine Umgebung betrachtet, sich im Raum bewegt und sich mit Gegenständen beschäftigt. Im Alter von 3–4 Jahren beginnt es, seine Vorstellungen im Spiel konstruktiv umzusetzen. Es baut z. B. aus Bauklötzen und Legosteinen dreidimensionale Gebilde wie etwa ein Haus oder ein Flugzeug. Im Schulalter verfügt es über ein gut entwickeltes Orientierungsvermögen. In der Adoleszenz stellt sich schließlich mit dem formalen Denken die Fähigkeit ein, Landkarten zu lesen und darstellende Geometrie zu betreiben. 3. Exekutive Funktionen: Als exekutive Funktionen bezeichnet man geistige Fähigkeiten, die ein zielorientiertes Denken und an die Situation angepasstes Verhalten ermöglichen und unangebrachtes Handeln hemmen. Sie kommen somit vor allem dann zum Tragen, wenn eine Abweichung von Gewohnheiten und gut eingeübten Verhaltensmustern nötig ist. Es werden verschiedene Komponenten beschrieben: Neben der Reaktionshemmung (Inhibition), dem Arbeitsgedächtnis und der geistigen Flexibilität werden auch weitere Fähigkeiten wie die Aufmerksamkeitsteuerung, die Planungsfähigkeit oder die
31
Wortflüssigkeit zu den exekutiven Funktionen gezählt. Exekutive Funktionen sind für den Schulerfolg und den Umgang mit den eigenen Emotionen außerordentlich wichtig. Bis weit in die 1960er-Jahre glaubte man, dass Kinder kognitive Kompetenzen sehr rasch erlernen und diese sich nicht wesentlich von denjenigen der Erwachsenen unterscheiden. Generell war man sich einig, dass das menschliche Denken mit allgemeinen, für alle Alter gültigen Gesetzen beschrieben werden kann. Es galt die Regel, dass Kinder einfach „kleine Erwachsene“ seien. Erst Piaget stellte ein erstes Modell der kognitiven Entwicklung beim Kind vor, das trotz Kritik auch heute noch Gültigkeit hat. Die Entwicklung der Kognition wurde von Piaget in altersspezifische Kategorien zusammengefasst (Tab. 3). Piaget berücksichtigte die exekutiven Funktionen in seinem Modell der kognitiven Entwicklung nicht. Aber auch diese grundlegenden kognitiven Funktionen zeigen einen Reifeprozess von der frühen Kindheit bis in das junge Erwachsenenalter. So sind Reaktionshemmung, Arbeitsgedächtnis und geistige Flexibilität erst im Erwachsenenalter mit der Ausbildung des frontalen Gehirns vollständig entwickelt.
Methodik Die geistige Entwicklung eines Kindes kann in den ersten Lebensjahren mithilfe von Entwicklungstests und dem kindlichen Spielverhalten erfasst (Tab. 4) und ab etwa 3 Jahren mit Intelligenztests abgebildet werden (Tab. 5). Für die Untersuchung von exekutiven Funktionen werden neuropsychologische Testverfahren wie der Stroop-Test, der Turm von London oder der Regensburger Wortflüssigkeitstest, aber auch Fragebögen wie das Verhaltensinventar zur Beurteilung exekutiver Funktionen (BRIEF) verwendet. Für die EinschätTab. 3 Phasen der kognitiven Entwicklung (nach Piaget 1975) Periode Sensomotorische Periode
Alter Geburt bis 2 Jahre
Präoperationale Periode
2–6 Jahre
Konkret operationale Periode
7–12 Jahre
Formal operationale Periode
nach 12 Jahren
Kognitive Fähigkeiten Konkrete Erfahrungen führen zu ersten Vorstellungen der sozialen und gegenständlichen Umwelt Symbolfunktionen in Sprache (z. B. Wörter) und Denken (z. B. Selbst-/Fremdwahrnehmung) Logisches Denken anhand konkreter Objekte und deren mentaler Repräsentation (z. B. Mengen- und Zahlenbegriff, Zeitvorstellung, Konservation physikalischer Größen) Abstraktes und deduktives Denken, Aufstellen und Testen von Hypothesen, Umgang mit abstrakten Symbolen (z. B. Algebra)
32
O. Jenni
Tab. 4 Entwicklungstests Deutsche Bearbeitung Reuner und Rosenkranz 2014
Altersbereich (Jahre) 0–3,5
Brandt und Stricker 2001 (deutsche Übersetzung)
0–2
Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik
Hellbrügge et al. 1978c
0–3
Wiener Entwicklungstest (WET) 2012d
KastnerKoller und Deimann 2012 Petermann et al. 2013
3–6
Test Bayley-Scales of Infant Development, 3rd Edition (Bayley III) 2007a Griffiths 1983/2001b
Entwicklungstest 6 Monate bis 6 Jahre – Revision (ET 6–6-R) 2013e
6 Monate bis 6 Jahre
Untertests Kognitive Entwicklung, Sprache (rezeptiv und expressiv), Motorik (Grobmotorik, Feinmotorik), Fragebögen zur sozioemotionalen Entwicklung und zum Alltagsverhalten Motorik persönlich-sozial Hören und Sprechen Auge und Hand Leistungen Statomotorik Sinnesorgane Spielvermögen Sprache Sozialverhalten Motorik, Visuomotorik/visuelle Wahrnehmung, Lernen und Gedächtnis, kognitive Entwicklung (inklusive Rechnen) und Sprache, sozialemotionale Entwicklung Körper- und Handmotorik, kognitive Entwicklung (Gedächtnis, Handlungsstrategien, Kategorisieren), Sprachentwicklung, Sozialentwicklung, emotionale Entwicklung
Bemerkungen Am besten standardisierter Entwicklungstest, für klinischen und wissenschaftlichen Gebrauch Für diagnostischen Gebrauch
Für diagnostischen Gebrauch, veraltet
Für diagnostischen Gebrauch
Für diagnostischen Gebrauch
a
Bayley N (2007) Bayley Scales of Infant Development (3nd ed.). San Antonio: Psychological Corporation. Deutsche Bearbeitung und Normen von Reuner und Rosenkranz b Griffiths R (1983) Griffith Entwicklungsskalen (GES) zur Beurteilung der Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahren. Deutsche Bearbeitung von Brandt I und Stricker. Beltz, Weinheim 2001 c Hellbrügge T, Lajosi F, Menara D, Schamberger R, Rautenstrauch T (1978) Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik. Erstes Lebensjahr. Urban & Schwarzenberg, München d Kastner-Koller U, Deimann P (2012) Wiener Entwicklungstest (WET). Ein Verfahren zur Erfassung des allgemeinen Entwicklungsstandes bei Kindern von 3 bis 6 Jahren, Hogrefe Verlag, Göttingen, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage e Petermann F, Stein IA, Macha T (2013) Entwicklungstest sechs Monate bis sechs Jahre (ET 6–6-R), revidierte Auflage, Pearson Assessment, Frankfurt am Main
zung schulischer Fertigkeiten wie Schreiben, Lesen und Rechnen stehen ebenfalls standardisierte Tests zur Verfügung (z. B. der Zürcher Lesetest oder der Salzburger Leserechtschreibtest).
Allgemeines Sprache ist Kommunikation mit Symbolcharakter. Sie ermöglicht einerseits eine Informationsübermittlung und andererseits differenzierte zwischenmenschliche Interaktionen. Mithilfe von Sprache und nichtsprachlicher Kommunikation (Tonfall, Klangfarbe der Stimme, Blickverhalten, Mimik und Körperhaltung) werden soziale Beziehungen aufgenommen und unterhalten sowie emotionales Befinden wahrgenommen und mitgeteilt. Sprachentwicklung und Beziehungsverhalten sind in den ersten Lebensjahren eng miteinander verbunden. So können Sprachstörungen häufig zu auffälligem Sozialverhalten führen. Ebenso können Störungen des Sozialverhaltens mit einer abweichenden Sprachentwicklung einhergehen, z. B. bei autistischen Kindern. Ein typisches Merkmal der Sprachentwicklung ist die außerordentlich große Variabilität von Kind zu Kind. Es zeigt sich darum kein universeller Ablauf des Spracherwerbs
im Kindesalter. Die Sprachentwicklung wird durch das Geschlecht (Mädchen zeigen eine schnellere Sprachentwicklung als Knaben), den Geschwisterrang (Erstgeborene > Zweitgeborene) und den sozioökonomischen Hintergrund der Familie (höherer Bildungsstand > tiefer Bildungsstand) beeinflusst. Sprachverständnis (rezeptive Sprache) und sprachliche Ausdrucksfähigkeit (expressive Sprache) schließen im Wesentlichen 4 Sprachebenen ein.
Sprachebenen 1. Phonetik und Phonologie: Diese Ebene umfasst die Laute der Sprache, ihre Eigenschaften und Funktionen. 2. Morphologie und Syntax: Darunter versteht man, die Struktur von Wörtern (Morphologie, z. B. Deklination und Konjugation) und wie diese zu Sätzen zusammengesetzt und angeordnet werden (Syntax, Grammatik). Das Kind beginnt bereits im 1. Lebensjahr aufgrund konkreter Erfahrungen Beziehungen zwischen Wort- und Satzgebilden herzustellen. 3. Semantik und Lexik: Dieser Bereich umfasst die Bedeutung und den Sinn von Wörtern. Kinder müssen Wörter lernen, um Sätze mit Bedeutungen bilden zu können. Das
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
33
Tab. 5 Intelligenztest Deutsche Bearbeitung Tellegen et al. 2018
Altersbereich (Jahre) 2–8
Stanford-Binet Intelligence Scale, fifth edition 2003b
Keine
3 bis Erwachsenenalter
KABC II Kaufman Assessment Battery for Children-IIc
Melchers und Melchers 2015
3–18
Wechsler Intelligence Scale for Children – fifth edition (WISC-V)d
Petermann und Petermann 2017
6–16
Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – IV (WPPSI-IV)e
Petermann 2018
2,5–7
Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – III (WPPSI-III)f Intelligence and Development Scales (IDS)g
HAWIVAIII, Petermann 2009 Grob et al. 2009
3–7
Intelligence and Development Scales – Preschool (IDS-P)h
Grob et al. 2013
3–5
Intelligence and Development Scales – 2 (IDS-2)i
Grob und Hagmannvon Arx 2018
5–20
Test Snijders-Oomen non-verbaler Intelligenztest (SON 2–8)a
5–10
Untertests Puzzles Kategorien Zeichenmuster Situationen Mosaike Analogien Skalen: Fluid reasoning Knowledge Quantitative reasoning Visual-spatial processing Working memory Skalen: Sequenziell Simultan Lernen Planung Wissen Skalen: Sprachverständnis visuell-räumliche Verarbeitung fluides Schlussfolgern Arbeitsgedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit Skalen: Sprachverständnis visuell-räumliche Verarbeitung fluides Schlussfolgern Arbeitsgedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit Gesamt-IQ, Verbal- und Handlungs-IQ sowie zwei weitere Indizes (Verarbeitungsgeschwindigkeit und allgemeine Sprachskala) Skalen: Kognition Psychomotorik sozial-emotionale Kompetenz Mathematik Sprache Skalen: Kognition Psychomotorik sozial-emotionale Kompetenz Denken logisch-mathematischSprache Skalen: Kognition exekutive Funktionen sozial-emotionale Kompetenz Fein- und Visuomotorik Lesen/Rechtschreiben
Bemerkungen Ein von der Sprache unabhängiger Intelligenztest (ursprünglich für schwerhörige Kinder entwickelt)
Für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch
Am häufigsten gebrauchter Intelligenztest, für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch
Für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch
Für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch
Für diagnostischen Gebrauch, Darstellung eines Entwicklungsprofils
Für diagnostischen Gebrauch, Darstellung eines Entwicklungsprofils
Für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch
(Fortsetzung)
34
O. Jenni
Tab. 5 (Fortsetzung) Test Adaptives Intelligenz Diagnostikum 3 (AID 3)j Coloured Progressive Matrices (CPM, Raven 2001)k
Deutsche Bearbeitung Kubinger und HolocherErtl 2014 Bulheller und Häcker 2002f
Altersbereich (Jahre) 6–15
5–11
Untertests Adaptives Testverfahren, 10–15 Subtests ergeben ein kognitives StärkenSchwächen-Profil
Bemerkungen Für diagnostischen Gebrauch
Einzeltest zur sprachfreien Einschätzung des logisch-analytischen Denkens
Screening-instrument
a
Tellegen PJ., Laros JA, Petermann F (2018) Snijders-Oomen non-verbaler Intelligenztest von 2 bis 8 Jahre (SON-R 2–8), 4. Aufl. Hogrefe Verlag, Göttingen b Terman LM, Merrill MA (1957) Stanford-Binet-Intelligenz-Test S-I-T. Hogrefe, Göttingen c Kaufman AS, Kaufman AL (2015) K-ABC-II, Kaufman assessment battery for children, second edition. Pearson Assessment, Frankfurt am Main. Deutschsprachige Fassung von Melchers und Melchers 2015 d Wechsler Intelligence Scale for Children – fifth edition, WISC-V. Deutsche Version Petermann F, Petermann U, Pearson Assessment, Frankfurt am Main 2017 e Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – IV, WPPSI-IV. Deutsche Version Petermann F, Pearson Assessment, Frankfurt am Main, 2018 f Wechsler HAWIVA-III – Hannover-Wechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter – III Folgeversion: Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – third edition. Deutsche Version Petermann F unter Mitarbeit von Lipsius M. Pearson Assessment, Frankfurt am Main 2009 g Grob A, Meyer C, Hagmann-von Arx P (2009) Intelligence and Development Scales (IDS). Intelligenz- und Entwicklungsskalen für Kinder von 5–10 Jahren. Bern: Verlag Hans Huber h Grob A, Reimann G, Gut J, Frischknecht MC (2013) Intelligence and Development Scales – Preschool (IDS-P). Intelligenz- und Entwicklungsskalen für das Vorschulalter. Bern: Verlag Hans Huber i Grob A, Hagmann-von Arx P (2018) Intelligence and Development Scales – 2 (IDS-2). Hogrefe, Göttingen, 2018 j Kubinger KD, Holocher-Ertl S (2014) AID-3 Adaptives Intelligenz Diagnostikum 3, Hogrefe, Göttingen k Bulheller S, Häcker H (2002) Coloured Progressive Matrices (CPM), Pearson Assessment, 3. Aufl., Frankfurt am Main
Tab. 6 Beziehung zwischen Kognition und Sprache (Piaget 1975) Kognition Erkennen von Gegenständen Erkennen von Handlungen Erkennen von räumlichen Beziehungen Erkennen von zeitlichen Beziehungen Erkennen von kausalen Beziehungen
Rezeptive Sprache Verstehen von Substantiven, Namen Verstehen von Verben Verstehen von Präpositionen des Ortes Verstehen von Präpositionen der Zeit Verstehen von finalen Sätzen
Lexikon umfasst sozusagen den Wortschatz eines Individuums. Diese Ebene ist eng mit der kognitiven Entwicklung verknüpft. 4. Kommunikation und Pragmatik: Diese Ebene ermöglicht die soziale Anwendung der Sprache. Diese Teilkompetenz hat ihre Wurzeln in der nonverbalen Kommunikation der ersten Lebensjahre und orientiert sich am Kommunikationsstil der sozialen Umgebung. Eine für die klinische Arbeit wichtige Einsicht wurde von Piaget im Jahre 1975 formuliert. So tritt im Verlauf der Entwicklung zuerst ein kognitives Verständnis für einen bestimmten Begriff auf; darauf folgen das sprachliche Verständnis und schließlich die sprachliche Ausdrucksfähigkeit (Tab. 6). So erfasst ein Kind zuerst kognitiv die vertikale Dimension des Raums, danach setzt es diese Raumvorstellung mit der gehörten Präposition „auf“ in Verbindung und schließlich ist es auch fähig, die Präposition beim Sprechen zu verwenden. Es sind aber nicht nur kognitive Prozesse für den
Expressive Sprache Gebrauch von Substantiven, Namen Gebrauch von Verben Gebrauch von Präpositionen des Ortes Gebrauch von Präpositionen der Zeit Gebrauch von Warum-Fragen
Spracherwerb wichtig, sondern die Sprache übt auch einen Einfluss auf die Kognition aus. So führt das Benennen eines Oberbegriffs dazu, dass Kinder zuverlässiger Objekte visuell kategorisieren können. Eine normale kognitive Entwicklung ist eine wichtige Voraussetzung für die Sprachentwicklung. Die Integration von Symbolinhalten sowie die Ausweitung und Differenzierung der gesprochenen und geschriebenen Sprache als Kommunikationsmittel setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort.
Methodik Die Sprachentwicklung zeichnet sich in jedem Alter durch charakteristische Entwicklungsstadien aus (Abb. 21). Zur Beurteilung der Sprache kann der Kinderarzt die anamnestischen Angaben der Eltern und direkte Beobachtungen, z. B. im Spiel, heranziehen. Dabei sollte er immer die große zeitliche Variabilität in Betracht ziehen, mit der die einzelnen Entwicklungsstadien, z. B. das Wachstum des Wortschatzes, auftreten können (Abb. 22).
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
35
Abb. 21 Meilensteine der Sprachentwicklung
Alter (Jahre)
fI
I I
I I
−
−
− I
I − −−
I
I
I I I
I
I
I
I I
I I
individuellen Sprachentwicklung immer auch das Hörvermögen, die kognitive Entwicklung sowie das Milieu, in dem das Kind aufwächst, berücksichtigt werden. Differenzierte Abklärungen der sprachlichen Fähigkeiten werden durch die Berufsgruppe der Logopäden/-innen durchgeführt.
Klinische Relevanz Wenn Kinder bedeutende Abweichungen vom normalen Spracherwerb zeigen, dann spricht man von einer Spracherwerbsstörung. Mit einer Häufigkeit von fast 6 % gehört die Spracherwerbsstörung zur häufigsten Entwicklungsstörung im Kindesalter. Spracherwerbsstörungen können isoliert vorkommen oder durch eine anderweitige Störung wie beispielsweise eine kognitive Entwicklungsstörung, eine Hörstörung oder eine neurologische Erkrankung verursacht sein.
Abb. 22 Wachstum des Wortschatzes zwischen 18 und 30 Monaten (nach Szagun et al. 2009)
Zur präzisen Einschätzung der Sprachkompetenz stehen standardisierte Tests zur Verfügung (Tab. 7). Für die Beurteilung der Sprachkompetenz eines Kindes müssen neben der
2
Entwicklungstheorien
2.1
Allgemeines
Die Vorstellungen, die sich Eltern und Kinderärzte über das Zusammenwirken von Erbgut und Umwelt machen, prägen die Art und Weise, wie sie mit dem Kind umgehen, ganz wesentlich mit. Diese Vorstellungen bestimmen, bis zu welchem Grad sie seine Entwicklung und seine Persönlichkeit als etwas Vorbestimmtes und Vorgegebenes betrachten oder
36
O. Jenni
Tab. 7 Sprachtests Deutsche Bearbeitung Angermaier 1977
Altersbereich (Jahre) 4–8
Fox-Boyer, Bäumer, Müller, Merzbecher 2006 Grimm und Schöler 1978
3–10
Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern (ELFRA)d
Grimm und Doil 2000
12/24 Monate
Sprachentwicklungstest für 2-jährige Kinder (SETK-2)e Sprachentwicklungstest für 3-5jährige Kinder (SETK 3–5)f
Grimm (2016, neu normiert) Grimm (2015, neu normiert)
2–3
Fragebogen zur frühkindlichen Sprachentwicklung (FRAKIS)g Sprachbeurteilung durch Eltern – Kurztests für 2- bzw. 3-jährige Kinder (SBE-2-KT, SBE-3-KT)h
Szagun et al. 2009 Suchodoletz 2012
18–30 Monate
Satzstruktur morphologische Struktur Satzbedeutung Wortbedeutung interaktive Bedeutung Integrationsstufe ELFRA-1: Sprachproduktion, Sprachverständnis, Gesten und Feinmotorik; ELFRA-2: produktiver Wortschatz, Syntax, Morphologie Wort- und Satzverständnis sowie -produktion Satzverständnis, sprachliche Regelbildung, phonologisches Arbeitsgedächtnis, Satzgedächtnis Wortschatz und Grammatik
24–36 Monate
Wortschatz
Test Entwicklungstest Sprache 4–8 Jahre (ETS 4–8)a
Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (TROGD)b
Heidelberger Sprachentwicklungstest (HSET)c
3–9
3–6
Untertests Sprache verstehen, Grammatikentwicklung, Silben erkennen, Farbnamen, LesenlernTest, Motorik
Bemerkungen Für diagnostischen Gebrauch
Für diagnostischen Gebrauch
Für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch
Screening-instrument für die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen
Für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch Für diagnostischen und wissenschaftlichen Gebrauch Screening-instrument Screening-instrument (z. B. für U7 und U7a), in verschiedenen Sprachen erhältlich
a
Angermaier M (1977) Psycholinguistischer Entwicklungs-Test, Manual, Beltz, Weinheim Fox-Boyer, A (Hrsg.) (2006) TROG-D Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses, Schulz-Kirchner Verlag, Idstein c Grimm H, Schöler H (1978) Heidelberger Sprachentwicklungstest. Handanweisung für die Auswertung und Interpretation. Westermann, Braunschweig; Hogrefe Verlag, Göttingen d Grimm H, Doil H (2000) Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern (ELFRA), Hogrefe Verlag, Göttingen e Grimm H (2000) Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2). Hogrefe Verlag, Göttingen f Grimm H (2001) Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3–5). Hogrefe Verlag, Göttingen g Szagun G, Stumper, B, Schramm AS (2009) Fragebogen zur frühkindlichen Sprachentwicklung: FRAKIS. Pearson Assessment, Frankfurt am Main h Suchodoletz W (2012) Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen. Der SBE-2-KT und SBE-3-KT für zwei- bzw. dreijährige Kinder. Kohlhammer: Stuttgart b
aber als ein Produkt ihrer Bemühungen und des Milieus, in dem das Kind aufwächst. Es gibt verschiedene Entwicklungstheorien, die sich mit den Annahmen über die Wechselwirkungen zwischen Anlage und Umwelt befassen. Die beiden Extreme beruhen auf einer endogenistischen (Dispositionsmodelle, d. h. Entwicklung ist vorgegeben, kein Einfluss von äußeren Faktoren) und einer exogenistischen Sichtweise (Umweltmodelle, d. h. Entwicklung wird ausschließlich durch äußere Faktoren geprägt). Beide Modelle gelten allerdings heutzutage als überholt, weil Entwicklung nicht „entweder von der Anlage oder der Umwelt“, sondern „sowohl von der Anlage wie auch der Umwelt“ geprägt wird. Dazu wurden verschiedene interak-
tive Entwicklungsmodelle beschrieben. Im Folgenden wird exemplarisch die verhaltensgenetische Sicht genauer beschrieben.
2.2
Verhaltensgenetische Sicht
Verhaltensgenetische Studien haben in den vergangenen 30 Jahren wesentlich zum Verständnis des Zusammenspiels von Genetik und Umwelt beigetragen. Von großer Bedeutung waren dabei Adoptions- und Zwillingsstudien. Aufgrund unterschiedlicher Konstellationen von genetischer Verwandtschaft und gemeinsamer Umwelt konnte man abschätzen,
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
Abb. 23 Intellektuelle Leistungsfähigkeit in der Adoleszenz: Genetische Verwandtschaft und gemeinsame Umwelt (MZ monozygot; DZ dizygot; nach Scarr 1992)
37
I II II II
I I
I
welchen Einfluss Erbgut und Umwelt auf die kindliche Entwicklung haben. Die wissenschaftlichen Befunde legen auf den ersten Blick nahe, dass die kindliche Entwicklung hauptsächlich durch genetische Faktoren bestimmt wird (Abb. 23). So besteht in Bezug auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit nur ein sehr geringer Unterschied in der korrelativen Beziehung zwischen Kindern, die mit ihren leiblichen Eltern zusammenleben, und Kindern, die von ihren biologischen Eltern getrennt aufwachsen (Korrelation 0,40 bzw. 0,32). Kinder, die gemeinsam aufwachsen, aber von biologisch verschiedenen Eltern stammen, weisen als Jugendliche jedoch kaum mehr Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit auf. In interaktiven Entwicklungsmodellen wird das Kind als ein aktives Wesen gesehen, das auf seine Umwelt einwirkt und selektive Erfahrungen macht. Der Einfluss, den das Kind auf seine Umwelt nehmen kann, ist in der frühen Kindheit noch klein, nimmt aber mit dem Alter immer mehr zu. Es hat sich gezeigt, dass eineiige Zwillinge, die mit identischem Erbgut in verschiedenen Familien aufgezogen werden, sich sehr ähnlich entwickeln, während zweieiige Zwillinge, die in der gleichen Familie aufwachsen, aber nur zur Hälfte genetisch verwandt sind, mit dem Alter immer verschiedener werden und in der Adoleszenz nur noch einen Ähnlichkeitsgrad wie Geschwister aufweisen. In welch hohem Ausmaß das Kind durch seinen Entwicklungsplan bestimmt wird, zeigt sich dann, wenn ungünstige äußere Bedingungen seine Entwicklung beeinträchtigen. Fällt die Benachteiligung weg, setzt ein Aufholwachstum (catch-up growth) ein, welches das Kind auf seine vorbestimmte Entwicklungslinie zurückführt. Wie ausgeprägt diese Eigenregulation ausfallen kann, zeigt Abb. 24. Die Eigenregulation gleicht mit großer Genauigkeit das Wachstumsdefizit aus. Das Wachstum verläuft nur so lange
beschleunigt, bis diejenigen Körpermaße wieder erreicht sind, die der vorbestimmten Entwicklungslinie entsprechen. Diese Eigenregulation kann nicht nur beim Wachstum, sondern auch bei der sprachlichen und intellektuellen Entwicklung nachgewiesen werden, ist jedoch beim Beziehungsoder Sozialverhalten schwieriger zu erfassen. Wissenschaftliche und klinische Beobachtungen sprechen dafür, dass alle Entwicklungsbereiche über eine Eigenregulation verfügen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung: Ungünstige Lebensbedingungen wirken sich auf die Entwicklungsbereiche verschieden stark aus und Entwicklungsverzögerungen können unterschiedlich wettgemacht werden. So können Beeinträchtigungen des Wachstums und der intellektuellen Entwicklung eher kompensiert werden als solche des Beziehungs- und Sozialverhaltens. Entwicklungsverzögerungen können nicht beliebig lange aufgeholt werden. Je älter ein Kind ist und je länger seine Entwicklung beeinträchtigt wird, desto geringer wird die Aufholentwicklung ausfallen. In der frühen Kindheit bestimmen die Eltern mit ihrer Erbanlage und ihrer Gestaltung der Umwelt in einem hohen Maße die Entwicklung eines Kindes. Diese hohe Übereinstimmung zwischen Erbgut und Umwelt kommt dadurch zustande, dass die Eltern das Milieu, in dem das Kind aufwächst, nach ihrer eigenen genetischen Veranlagung gestalten (Abb. 25). So regen Eltern, die gut und viel lesen, ihre Kinder frühzeitig mit ihrem Vorbild zum Lesen an. Haben Eltern aber Leseschwierigkeiten, werden sie weniger Bücher kaufen, kein Vorbild für ihre Kinder sein und diese weniger zum Lesen motivieren. Hat ein Kind die Leseschwäche der Eltern geerbt, wird seine Lesebereitschaft zusätzlich beeinträchtigt sein. Die enge Beziehung zwischen elterlichem Erbgut, Phänotyp und Umweltgestaltung führt dazu, dass der sozioökono-
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O. Jenni
Abb. 24 a–c Ausgeprägte Wachstumsverzögerung bei einem Jungen, der an unzureichender Ernährung und Vernachlässigung litt. Normalisierung der Ernährung und Milieuänderung führten zu einem ausgeprägten Aufholwachstum und zu vollständiger Kompensation des Wachstumsdefizits. Die Mittellinie (50 %) beschreibt den Mittelwert, die Linien von 3 % und 97 % den Streubereich des jeweiligen Körpermaßes. a Gewicht, b Länge, c Kopfumfang (Fallbeispiel aus den Zürcher Longitudinalstudien)
b
a
c
l
Alter (Monate)
Alter (Monate)
Alter (Monate)
I
Abb. 25 Frühe Kindheit: Einwirkung des elterlichen Erbguts (G Genotyp) und des elterlichen Phänotyps P, der auch die Umwelt U mitgestaltet, auf die Entwicklung des Kindes
mische Status (SES), z. B. definiert durch die schulische Ausbildung und berufliche Stellung der Eltern, eine der wichtigsten Einflussgrößen der frühkindlichen Entwicklung darstellt. Er bestimmt die intellektuelle Entwicklung weit mehr als sämtliche pränatalen und perinatalen Risikofaktoren. Sein Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung ist in Abb. 26 dargestellt. In den ersten 2 Lebensjahren ist die intellektuelle Entwicklung in allen 3 sozialen Klassen vergleichbar. Danach stellen sich zunehmend Unterschiede zwischen den Klassen ein. Im Alter von 9 Jahren besteht zwischen den mittleren Intelligenzquotienten der höchsten und tiefsten sozialen Klasse eine Differenz von 10 IQ-Punkten. Da der Phänotyp der Eltern durch deren eigene Entwicklung mitbestimmt wird, wirken sich neben der schulischen und beruflichen Ausbildung auch Kindheitserfahrungen und kultureller Hintergrund auf den Umgang mit dem Kind aus. Einflussreiche Faktoren sind die Partnerschaft der Eltern sowie die Arbeits- und Wohnbedingungen. Bei einer außerfamiliären Betreuung des Kindes (Krippen, Tagesmütter etc.) sind Ausbildung, Verfügbarkeit und Konstanz der Bezugspersonen von Bedeutung.
I
I
I
Alter (Jahre) Abb. 26 Intellektuelle Entwicklung (Handlungs-EQ/IQ) in den ersten 9 Lebensjahren bei Schweizer Kindern (n ¼119) in Abhängigkeit von 3 sozialen Klassen (1 niedrigste, 2 mittlere, 3 oberste soziale Klasse, nach Largo et al. 1989)
Im Verlauf der Schulzeit und vor allem in der Adoleszenz nimmt der elterliche Einfluss ab, während besonders die außerfamiliären Erfahrungen in der Schule und mit gleichaltrigen Kameraden immer bedeutungsvoller werden (Abb. 27). Das Kind bestimmt mit dem Älterwerden seine Beziehungs- und Erfahrungsbereiche zunehmend selbst. Schulische Leistungen, Freizeitaktivitäten und Bekanntenkreis unter Gleichaltrigen drücken immer mehr seine individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten aus.
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
39
seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechend aussucht. Quantitative entwicklungsdynamische Aspekte spielen dabei eine wesentliche Rolle. Lesefreudige Kinder lesen in einem Monat 50 % mehr als leseunwillige. Erstere lesen auch anspruchsvollere Bücher. Wird dieser Unterschied über die gesamte Entwicklungsperiode hochgerechnet, ergibt sich bezüglich Leseerfahrung und Wissensstand ein beeindruckender Unterschied im Erwachsenenalter. Geringe Unterschiede in den individuellen Fähigkeiten können so im Verlauf der Kindheit zu sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Befähigungen führen.
Ein erheblicher Anteil der Variabilität zwischen Eltern und Kind kann verhaltensgenetisch nicht erklärt werden. Wesentliche nichtgenetische Faktoren wie beispielsweise innerfamiliäre Faktoren bestimmen die Entwicklung mit. Die Familie spielt als Mikrokosmos eine wesentliche Rolle. So wird das Selbstwertgefühl und Rollenverhalten durch die Geschwisterkonstellation mitbestimmt. Der wichtigste Faktor scheint aber der Einfluss zu sein, den jedes Familienmitglied ausübt, indem es mit seinem Verhalten auf die anderen einwirkt und Reaktionen, Beziehungen und Tätigkeiten hervorruft oder unterdrückt. Genetisch determinierte Anlagen und Umwelt prägen gemeinsam die Entwicklung. Das Erbgut schafft in der organischen Anlage die strukturellen und funktionellen Voraussetzungen. Der Organismus kann dieses Entwicklungspotenzial je nach Umweltbedingungen in unterschiedlichem Maße umsetzen. Sind die Umweltbedingungen günstig, wird die Anlage weitgehend verwirklicht. Sind sie ungünstig, wird nur ein Teil des Entwicklungspotenzials ausgeschöpft. Selbst unter optimalen Bedingungen kann der Organismus nur realisieren, was anlagemäßig vorgegeben ist. Dieser Zusammenhang zwischen Anlage und Umwelt gilt grundsätzlich für alle Entwicklungsbereiche. Das wesentlichste Ergebnis der verhaltensgenetischen Forschung ist die Erkenntnis, dass die Umwelt nicht auf ein passives Kind einwirkt. Das Kind gestaltet seine Umwelt entscheidend mit, indem es Beziehungen und Erfahrungen
2.3
Neben dem oben dargestellten verhaltensgenetischen Modell gibt es weitere interaktive Entwicklungsmodelle, die besagen, dass sowohl das Kind wie auch die Umwelt den Entwicklungsverlauf aktiv mitbestimmen. Die sog. Transaktionsmodelle oder dynamischen Interaktionsmodelle gehen davon aus, dass die Entwicklung aus einer permanenten und wechselseitigen Einflussnahme zwischen Kind und Umwelt entsteht. Das heißt, die Umwelt wirkt unablässig auf das Kind ein, aber auch das Kind auf seine Umwelt. Das soziale Umfeld des Kindes ist in Abb. 28 dargestellt. In den ersten Lebensjahren werden die Bedürfnisse des Kindes durch die primären Bezugspersonen befriedigt. In welchem Umfang die Eltern und andere Bezugspersonen wie Großeltern für das Kind sorgen können, hängt von ihrem eigenen physischen und psychischen Wohlbefinden, ihren partnerschaftlichen Beziehungen sowie den aktuellen beruflichen und wirtschaftlichen Bedingungen ab. Die Lebensbedingungen der gesamten Familie stehen unter dem Einfluss des gesellschaftlichen Umfeldes. So wirken sich ungünstige wirtschaftliche Verhältnisse, die mit Arbeitslosigkeit und Verarmung einhergehen, nachteilig auf den Zusammenhalt der Familie und damit auch auf die Entwicklung der Kinder aus.
I
I
I
Abb. 27 Schulalter und Adoleszenz. Beziehung zwischen elterlichem Erbgut und Umweltfaktoren sowie ihre Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes (G Genotyp, P Phänotyp, U Umwelt)
Abb. 28 Wirkung der Umwelt auf die kindliche Entwicklung (nach Bronfenbrenner 1979)
I
I
Weitere interaktive Entwicklungsmodelle
II
I
I
I
I I
I
I
fI
I II
I
I
I I
40
O. Jenni
Kulturelle Faktoren wie religiöse oder ethnische Zugehörigkeit können die Entwicklung eines Kindes beeinflussen. Mit dem Eintritt in den Kindergarten und die Schule werden die Kinder in ihrer sozioemotionalen und kognitiven Entwicklung zunehmend von den gesellschaftlichen Einrichtungen (Bildungswesen, Freizeitangebot etc.) geprägt. Eine zentrale Aussage des ökologischen Modells besteht darin, dass sich jede Veränderung in einem Subsystem auch auf andere Subsysteme auswirkt.
2.4
Passungsmodelle
Neben den oben beschriebenen, bedeutsamen Entwicklungstheorien gibt es auch sog. Mini-Modelle, die nur Teilaspekte der kindlichen Entwicklung erklären. Im Goodness-of-FitModell wurde beispielsweise postuliert, dass eine optimale Entwicklung dann erfolgt, wenn eine Übereinstimmung zwischen den Eigenheiten und Fähigkeiten eines Kindes einerseits und den Erwartungen, Anforderungen und Möglichkeiten der Umgebung andererseits besteht (Abb. 29). Besondere kindliche Eigenheiten führen nicht zwangsläufig zu Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen, sondern die Umwelt beeinflusst entscheidend mit, wie Eigenschaften eines Kindes sich auf seine langfristige Entwicklung auswirken. Eine kindliche Auffälligkeit ist nicht an sich ein Problem, problematisch ist allenfalls, wie das Umfeld damit umgeht und welche Erwartungen die Bezugspersonen haben. Als Beispiel sei erwähnt, dass ein sehr aktives Mädchen, das zusammen mit 3 Brüdern in einer Bergbauernfamilie aufwächst, als weniger „gestört“ wahrgenommen wird wie dasselbe Mädchen als Einzelkind einer Akademikerfamilie in einer städtischen Umgebung. Eine fehlende Übereinstimmung zwischen Kind und Umwelt kann ein fehlangepasstes Verhalten oder eine gestörte Entwicklung zur Folge haben. Auf Grund dieser Erkenntnisse hat Largo das Passungsmodell zum Fit-Konzept erweitert, das in der Elternberatung von Kindern mit Verhaltens- und Entwicklungsstörungen sehr hilfreich ist (Abb. 29). Damit der Kinderarzt die Entwicklung eines Kindes richtig einschätzen kann, muss er einerseits das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen und Eigenheiten und andererseits
Abb. 29 Passungsmodell
Passung
Person
Umwelt
seine Umwelt zu erfassen suchen. Dabei gilt es insbesondere auf mögliche Diskrepanzen zwischen den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes und dem Erziehungsstil sowie den Erwartungen von Eltern und anderen Bezugspersonen wie Lehrer zu achten.
2.5
Entwicklungsfaktoren
Viele verschiedene Entwicklungsstudien haben die folgenden 3 Bereiche für die sozioemotionale Entwicklung der Kinder als besonders bedeutungsvoll herausgestellt: 1. Emotionale und soziale Sicherheit: Das psychische Wohlbefinden des Kindes hängt grundlegend davon ab, wie seine Bedürfnisse nach Nahrung, Pflege und Schutz befriedigt werden, ob es sich geborgen fühlt und ob es die emotionale Zuwendung erhält, die ihm das Gefühl gibt, von seinen Bezugspersonen akzeptiert zu sein. Als Bezugspersonen werden Erwachsene bezeichnet, welche die Bedürfnisse und Eigenheiten des Kindes kennen, seine Bedürfnisse befriedigen und die dem Kind in Erscheinung und Verhalten vertraut sind. Für die meisten Kinder sind ihre Eltern die Hauptbezugspersonen. Einige wesentliche Aspekte der emotionalen und sozialen Sicherheit, die vom Kinderarzt beachtet werden sollen, sind in der folgenden Übersicht aufgeführt. 2. Vorbilder, Wertvorstellungen und Erziehungsstile: Der Umgang der Eltern und anderer Bezugspersonen mit dem Kind sowie untereinander bestimmen seine zukünftige soziale Kompetenz. Mit ihrem Erziehungs- und Beziehungsstil vermitteln die Eltern dem Kind Umgangsformen, Wertvorstellungen und Einschätzungen von sich selbst und den anderen. Es existieren unterschiedliche Erziehungsstile. So fordern autoritär erziehende Eltern Gehorsam und schränken die Autonomie des Kindes ein. Im Gegensatz dazu steht der permissive Erziehungsstil, bei welchem die Eltern den kindlichen Handlungsspielraum wenig einschränken und dem Kind eine hohe Autonomie überlassen (sog. Laissez-faire-Erziehung). Dazwischen existiert der autoritative Erziehungsstil, der wohl die besten Entwicklungsbedingungen für ein Kind bietet. Dabei berücksichtigen die Eltern die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder und sorgen für ein liebevolles Umfeld, setzen aber gleichzeitig Regeln und Grenzen. 3. Entwicklung und Selbstbestätigung: Das Kind hat einen inneren Drang, sich zu entwickeln, d. h. sich Fähigkeiten und Wissen anzueignen. Dazu notwendig sind Erfahrungen mit der sozialen und dinglichen Umwelt, die dem jeweiligen Entwicklungsalter angepasst sind. In den ersten Lebensjahren werden diese Erfahrungen vor allem durch die Eltern ermöglicht, danach zunehmend von außerfamiliären Bezugspersonen wie Kindergärtnerinnen und Lehrern, aber auch von gleichaltrigen Kameraden.
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
Emotionale und soziale Sicherheit
Einschätzung von Grundbedürfnissen, Qualität der Betreuung sowie Beziehungen zu Bezugspersonen und Gleichaltrigen Kind: • Wie verhält sich das Kind gegenüber Bezugspersonen? • Wie ausgeprägt sind Trennungsängste und Fremdeln? • Welche Lernerfahrungen hat das Kind bisher mit Bezugspersonen gemacht?
41
gemildert oder ganz verhindert. Die Ansicht, dass sich Risiko- und Schutzfaktoren in einer einfachen Rechnung aufsummieren lassen und lebenszeitlich unabhängig sind, greift jedoch zu kurz. Es handelt sich vielmehr um eine komplexe Wechselwirkung, in der Schutzfaktoren kontextabhängig und spezifisch auf widrige Umstände wirken. Eine zusammenfassende (aber nicht vollständige) Übersicht über Risiko- und Schutzfaktoren gibt Abb. 30. Fallbeispiel
Wie negativ sich ein Zusammentreffen nachteiliger Lebensbedingungen auf die Entwicklung eines Kindes auswirken kann, zeigt die folgende Fallgeschichte: Tobias war ein zufriedener und aktiver Säugling, der sich in den ersten 2 Lebensjahren sehr gut entwickelt hatte (Abb. 31). Als er 2 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden; Tobias kam in mütterliche Obhut. Ein halbes Jahr nach der Scheidung erkrankte seine Mutter an Brustkrebs und verbrachte wiederholt Wochen und Monate in stationärer Pflege. Sie starb, als Tobias 6 Jahre alt war. Zwischen dem 3. und 7. Lebensjahr war Tobias bei verschiedenen Pflegefamilien und in einem Heim untergebracht. Im Alter von 7 Jahren wurde Tobias adoptiert. Er bekam in den folgenden Jahren wieder die notwendige Geborgenheit und Zuwendung, was sich auf sein psychisches Wohlbefinden und seine intellektuelle Leistungsfähigkeit positiv auswirkte.
Umwelt: Wie ist die Betreuung bezüglich Kontinuität? Wie ist die Qualität der Betreuung? Wer sind die Bezugspersonen? Wie schätzen Sie die Bedürfnisse des Kindes ein? Wie sind die Beziehungen zu den Geschwistern bezüglich Konstellation und Qualität der Beziehungen? • Wie sind die Beziehungen zu Gleichaltrigen bezüglich Kontaktmöglichkeiten und Qualität der Beziehungen? • • • • •
2.6
Risiko- und Schutzfaktoren
Das Erfassen von Risikofaktoren ist ein in der Medizin weit verbreiteter wissenschaftlicher und klinischer Ansatz. In Bezug auf den zeitlichen Ablauf werden folgende Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung unterschieden: pränatale Risikofaktoren (z. B. intrauterine Infektionen), perinatale Risikofaktoren (z. B. Asphyxie) und postnatale Risikofaktoren (z. B. Trennung der Eltern, Abb. 31). Während es sich bei pränatalen und perinatalen Faktoren mehrheitlich um organische, Kind-orientierte Ursachen handelt, sind es bei den postnatalen vor allem psychosoziale, Umgebungs-orientierte Risiken, die die Entwicklung nachteilig beeinflussen können. Kinder mit Risikofaktoren tragen im Vergleich zu Kindern ohne solche ein statistisch erhöhtes Risiko für Entwicklungsstörungen. Nicht jeder Risikofaktor stellt aber per se eine Entwicklungsgefährdung dar. Kommt es hingegen zu einer Häufung von Risikofaktoren bei gleichzeitigem Fehlen von Schutzfaktoren kann sich dies auf die Entwicklung des Kindes negativ auswirken. Dies bedeutet, dass ein Schutzfaktor besonders oder ausschließlich dann wirksam ist, wenn eine Gefährdung vorliegt. Bei fehlenden Schutzfaktoren kommen die risikoerhöhenden Umstände voll zum Tragen. Beim Vorhandensein eines protektiven Faktors hingegen werden die entwicklungshemmenden Einflüsse des Risikos
3
Erfassung der Variabilität
Es gibt kein Entwicklungsmerkmal, das bei allen Kindern gleich ausgeprägt wäre. Wenn der Kinderarzt die Entwicklung und das Verhalten eines Kindes beurteilen will, muss er die Variabilität des Verhaltens bezüglich Ausmaß und Erscheinungsformen ausreichend kennen. Nur so kann er die Bedeutung einer allfälligen individuellen Abweichung richtig einschätzen.
3.1
Interindividuelle Variabilität
Es gibt verschiedene Methoden, um die Variabilität zu beschreiben, die ein bestimmtes Entwicklungsmerkmal bei Kindern aufweisen kann. Weit verbreitet ist die Verwendung sog. Perzentilenkurven, z. B. für Körperlänge, Schlafdauer, motorische Leistungen, Wortschatz etc. Sie geben an, wie unterschiedlich entwickelt Kinder in jedem Alter sind (Abb. 32).
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O. Jenni
Kind
• Mädchen • Kognitive Stärken • Soziale Kompetenzen • Ruhiges Temperament • Gutes Selbstwertgefühl
• Prä-, peri- oder postnatale Faktoren • Chronische Krankheiten • Genetische Störungen • Schwieriges Temperament
• Niedriger soziökonomischer Status • Psychische Erkrankung der Eltern • Alkohol- / Drogenmissbrauch der Eltern • Arbeitslosigkeit der Eltern • Enge Wohnverhältnisse • Finanzielle Probleme • Soziale Isolation • Elterliche Trennung • Elterliche Gewalt/Missbrauchserfahrungen • Ungünstige Erziehungspraktiken
Risikofaktoren
Schutzfaktoren
• Hoher sozioökonomischer Status • Stabile Bezugspersonen, die Vertrauen und Autonomie fördern • Offenes und anregendes Erziehungsklima („autoritativ“) • Zusammenhalt, Stabilität und konstruktive Kommunikation in der Familie und im weiteren Beziehungsnetz • Positive Geschwisterbeziehungen • Qualität der Beziehung der Eltern
Umfeld Abb. 30 Risiko und Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung
Perzentilenkurven beschreiben die Verteilung eines Merkmals in der Normalpopulation. Sie geben an, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Messwert normal ist. Je mehr der Wert von der 50. Perzentile abweicht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Auffälligkeit vorliegt. Ein Kind, das mit seiner Körpergröße über der 97. oder unter der 3. Perzentile liegt, ist allerdings nicht notwendigerweise auffällig. 6 % der Normalbevölkerung liegen außerhalb dieser Perzentilenwerte. Andererseits wächst auch nicht jedes Kind normal, dessen Körpergröße zwischen der 3. und 97. Perzentile liegt.
Perzentilenwerte, denen eine Normalverteilung der Messgröße (z. B. der Körpergröße) zugrunde liegt, werden als Gauß-Perzentilen bezeichnet (Abb. 33). Deren Berechnung ergibt sich durch eine feste Beziehung zwischen Standardabweichung und Prozentwerten (z. B. Mittelwert +1,28 Standardabweichung ¼75. Perzentile). Andere Skalen, die sich auf die Normalverteilung beziehen, sind die Z- oder SDS-Skalen (SDS, standard deviation score). Entwicklungsund Intelligenzquotienten beruhen ebenfalls auf der Annahme einer Normalverteilung; eine Standardabweichung beträgt 15 EQ/IQ-Punkte (Abb. 33).
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
43
die Qualität der Aussprache und Satzbildung, sind für eine zuverlässige Beurteilung notwendig.
3.2
I
− − − − − −
I
-
I -
I
Alter in Jahren
Abb. 31 Vorübergehend schwerer, intellektueller Entwicklungsrückstand, der durch eine Depression infolge ungünstiger psychosozialer Bedingungen ausgelöst wurde. Die graue Zone bezeichnet den Normbereich für Entwicklungs- und Intelligenzquotienten (EQ/IQ; Zweite Zürcher Longitudinalstudie; nach Largo et al. 1989)
Einige Eigenschaften wie Körpergewicht oder Wortschatz sind nicht normal verteilt (Abb. 32). Ihre Verteilung in der Bevölkerung kann durch empirische Perzentilen wiedergegeben werden, die direkt aus den Daten errechnet werden. Nicht normalverteilte Standards zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu den Gauß-Standards eine asymmetrische Verteilung aufweisen. Die normale Variation der kindlichen Entwicklung wird in Screeninginstrumenten (z. B. dem Denver-Test) als sog. Normbereich definiert. Die Annahme, dass ein Kind, das eine Störung aufweist, sich immer außerhalb dieses Bereiches befindet, ist nicht richtig, wie Abb. 34 am Beispiel der Zerebralparese illustriert. Das freie Gehen setzt bei neurologisch unauffälligen Kindern zwischen 10 und 20 Monaten ein. Kinder mit einer schweren bis mäßigen Zerebralparese liegen deutlich außerhalb dieses Altersbereichs. Kinder mit einer leichten Zerebralparese jedoch finden sich im oberen oder sogar im mittleren Normbereich. Sie machen die ersten Schritte im gleichen Alter wie gesunde Kinder. Ein normales Geh-Alter schließt also eine motorische Störung keineswegs aus. Eine leichte Behinderung führt wohl zu einer Verzögerung in der Entwicklung, die aber so gering sein kann, dass das Entwicklungsmerkmal immer noch altersgemäß auftritt. Um eine leichte motorische Störung zu erfassen, ist es daher notwendig, nicht nur den Zeitpunkt des Gehens, sondern auch die Art und Weise zu beurteilen, wie sich das Kind bewegt. Dies trifft nicht nur für die Motorik, sondern auch für andere Entwicklungsbereiche wie etwa die Sprache zu. So kann ein Kind durchaus altersgemäß die ersten Worte und die ersten Sätze sprechen. Seine Artikulation und seine Satzbildung sind aber auffällig. Weitere Untersuchungsparameter, wie
Entwicklungsverlauf und Stabilität
Fragen um Kontinuität und Diskontinuität, Stabilität und Veränderung der kindlichen Entwicklung werden in der Literatur immer wieder diskutiert. Grundsätzlich gilt, dass sich das Wachstum und die Entwicklung eines Kindes anhand von Verlaufskurven weit zuverlässiger beurteilen lassen als aufgrund einzelner Messpunkte (Abb. 35). Auch wenn Wechsel in der Längen- oder Gewichtsperzentile in den ersten 2 Lebensjahren recht häufig und meist normal sind, weil sich das Kind in dieser Zeit seinen eigenen genetisch definierten Wachstumskanal sucht, zeichnet sich ein normales Wachstum dadurch aus, dass Gewicht, Länge und Kopfumfang in etwa parallel zu den Perzentilenkurven im Wachstumskanal verlaufen. Diese hohe Stabilität des Wachstums während der Kindheit kann auch statistisch beschrieben werden (Korrelationen zwischen Alter 5– 16 Jahre für Größe 0,88, Gewicht 0,86 und Kopfumfang 0,90). Im Gegensatz dazu zeigen andere Entwicklungsbereiche eine geringere Stabilität (motorische Aufgaben 0,60, Intelligenz 0,72). Trotz der hohen Stabilität von Größe, Gewicht und Kopfumfang zeigt das kindliche Wachstum aber gelegentlich sprunghafte Eigenschaften (im Intervall von Wochen, Abb. 6, oder während der Pubertät, Abb. 1). Eine Abweichung vom Perzentilenverlauf indiziert in der klinischen Praxis weitere Untersuchungen. Wie aus Abb. 35 zu ersehen ist, können bei einer Wachstumsstörung die Messpunkte durchaus zwischen der 3. und 97. Perzentile liegen. Nur der Verlauf zeigt die Wachstumsstörung an. Bei der Einschätzung des Entwicklungsverlaufs ist zu berücksichtigen, dass sich viele Fähigkeiten und Verhalten nicht kontinuierlich entwickeln. So verläuft die frühe Sprachentwicklung in Etappen (einzelne Wörter, 2-Wort-Sätze etc.). Zusätzlich ist zu beachten, dass nicht alle Kinder die gleiche sequenzielle Abfolge von Entwicklungsstadien zeigen. Besonders offensichtlich ist dies bei der lokomotorischen Entwicklung (▶ Kap. 5, „Wachstum und Entwicklung im Säuglingsalter“). Auch beim Erwerb des Lesens und Schreibens wenden die Kinder unterschiedliche Lernstrategien an.
3.3
Wachstums- und Entwicklungsgeschwindigkeit
Kinder sind nicht nur unterschiedlich groß und schwer. Sie wachsen auch verschieden rasch. Unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeiten können dazu führen, dass Kinder mit gleichem Wachstumspotenzial in einem bestimmten Alter unterschiedlich groß sein können (Abschn. 1.1). Dass sich
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Abb. 32 Perzentilenkurven von Körpergröße, Schlafdauer, Dauer motorischer Leistungen und Wortschatz (nach Prader et al. 1989; Iglowstein et al. 2003; Szagun et al. 2009; Largo et al. 2001b)
3
Grundlagen der kindlichen Entwicklung
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l l l
l l
Abb. 33 Standardskalen basierend auf einer Normalverteilung der Messwerte. Z-/SDS-Skala, Standard-Deviation-Score-Skalen
l
darauf zurückzuführen, dass die biologische Zeitskala bei Mädchen in jedem Alter etwas weiter fortgeschritten ist als bei Jungen. Mädchen sind bereits bei der Geburt etwas reifer als Jungen. Dieser Reifungsunterschied vergrößert sich im Verlauf der Kindheit und führt dazu, dass Mädchen im Mittel 1,5 Jahre früher in die Pubertät eintreten und ihre Entwicklung dementsprechend früher abschließen als Jungen. Geschlechtsunterschiede finden sich in vielen Entwicklungsbereichen, insbesondere in der Sprach- und Sozialentwicklung, aber auch in der Feinmotorik und der kognitiven Entwicklung (besonders bei den exekutiven Funktionen). Jungen haben einen geringfügigen Vorteil in der somatischen Entwicklung, da ihr Wachstumspotenzial etwas größer ist, und in der Grobmotorik, weil sie über etwas mehr Muskelkraft verfügen. Die Geschlechtsunterschiede sollten allerdings nicht überbewertet werden. Die mittleren Differenzen zwischen Mädchen und Jungen sind viel kleiner als die Unterschiede von Kind zu Kind. So bilden Mädchen 2-Wort-Sätze im Mittel 3 Monate früher als Jungen, nämlich mit 20 bzw. 23 Monaten. Bei Jungen und Mädchen kann dieser Meilenstein jedoch bereits mit 12–15 Monaten oder erst mit 24–36 Monaten auftreten. Mit anderen Worten: Jungen können also durchaus eine raschere Sprachentwicklung aufweisen als gleichaltrige Mädchen.
3.5
Alter (Monate) Abb. 34 Geh-Alter bei neurologisch unauffälligen termingeborenen Kindern und bei Kindern mit unterschiedlich ausgeprägter Zerebralparese (nach Largo et al. 1985)
die Wachstumsgeschwindigkeit im Verlaufe der Kindheit ständig verändert und unter gleichaltrigen Kindern und je nach Geschlecht unterschiedlich groß sein kann, zeigt Abb. 36. Nicht nur das Tempo im körperlichen Wachstum ist von Kind zu Kind unterschiedlich rasch, sondern auch in der kognitiven und sprachlichen Entwicklung (Abb. 37).
3.4
Geschlechtsunterschiede
Mädchen entwickeln sich präpubertär etwas rascher als Jungen (Abb. 36). Die Geschlechtsunterschiede sind u. a.
Beziehung zwischen Wachstums- und Entwicklungsparametern
Um das Gewicht eines Kindes richtig beurteilen zu können, reichen Perzentilenkurven und selbst der Gewichtsverlauf nicht aus. Das Gewicht muss auf die Körperlänge des Kindes bezogen werden (Vergleich der Proportionen). Dazu stehen Normkurven zur Verfügung, in denen die Gewicht-LängeBeziehung in Perzentilen dargestellt wird. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Berechnung des BMI. Eine geringe, aber klinisch unbedeutende Beziehung besteht zwischen Körpergröße und Kopfumfang (Korrelationskoeffizient r ¼ 0,4). Große Kinder haben also nicht notwendigerweise größere Köpfe als kleine Kinder. Auch zwischen anderen Entwicklungsbereichen gibt es gewisse, wenn auch eher geringe Beziehungen. So zeigen sich zwischen den sprachlichen und den kognitiven Fähigkeiten oder den motorischen und kognitiven Fähigkeiten Korrelationen mit einem Koeffizienten um 0,2. Man kann aber daraus nicht zwangsläufig schließen, dass kognitiv weit entwickelte Kinder auch motorisch stark sind. Grundsätzlich gilt, dass die Beziehung zwischen Entwicklungsbereichen bei Kindern mit Entwicklungsstörungen generell höher ist als bei Kindern mit normaler Entwicklung.
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a
c
l
l
l
l
d
b
Alter (Monate)
Alter (Monate)
Abb. 35 a–d Individueller Verlauf von Gewicht und Körpergröße. a, b Normaler Verlauf entlang der Perzentilen; c, d Wachstumsverzögerung bei einem Kind mit Zöliakie, die zu einem Durchkreuzen der Längen- und Gewichtperzentilen führt. Die Diätbehandlung bewirkt ein Aufholwachstum
Abb. 36 Wachstumsgeschwindigkeit für die Körperlänge von Mädchen und Jungen (blau Jungen, grau Mädchen; nach Zürcher Longitudinalstudien)
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Grundlagen der kindlichen Entwicklung
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Abb. 37 Darstellung von 12 individuellen Entwicklungsverläufen der kognitiven Fähigkeiten von normal sich entwickelnden Kindern und Kindern mit leichtem Entwicklungsrückstand (nach Zürcher Longitudinalstudien, Jenni et al. 2015). Die Steilheit der Entwicklungslinien spiegelt die unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeit wider
3.6
Ausprägung elterlicher Merkmale
Ein weiterer hilfreicher Bezugspunkt bei der Einschätzung von Wachstum und Entwicklung ist die elterliche Ausprägung eines bestimmten Merkmals. Für das Längenwachstum kann die sog. Zielgröße aus der Körpergröße der Eltern errechnet werden. Sie gibt einen Hinweis, ob das Wachstum eines Kindes im Rahmen seiner genetischen Veranlagung verläuft (Abschn. 1.1). Hinsichtlich der intellektuellen Leistungsfähigkeit kann davon ausgegangen werden, dass 90 % der Kinder einen IQ aufweisen, der demjenigen ihrer Eltern mit einer Streuung von 20 IQ-Punkten entspricht (Annahme: Korrelation des IQ zwischen Kind und Eltern, r ¼ 0,5). Weicht ein Kind in seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit wesentlich davon ab, sollte eine Ursache dafür gesucht werden. Klinisch besonders bedeutungsvoll ist die Ausprägung elterlicher Merkmale, wenn beim Kind eine Teilleistungsstörung wie eine Legasthenie oder Dyskalkulie vorliegt. Bei vielen betroffenen Kindern findet sich darum eine positive Familienanamnese.
3.7
Intraindividuelle Variabilität
Die Vielfalt besteht nicht nur zwischen den Kindern, sondern auch beim einzelnen Kind selbst. So kann z. B. das eine Kind in der Motorik weiter fortgeschritten sein als in seiner intel-
lektuellen Entwicklung, während ein anderes Kind sprachlich sehr begabt, aber motorisch ungeschickt ist. Seine Entwicklung verläuft also nicht im Gleichschritt. Jedes Kind verfügt über ein individuelles Profil aus Stärken und Schwächen in den verschiedenen Entwicklungsbereichen. Um die Fähigkeiten eines Kindes anschaulicher darzustellen, hat sich das sog. Entwicklungsprofil bewährt (Abb. 38). Der Entwicklungsstand eines Kindes wird dabei nicht mit einem Kennwert wie IQ angegeben, sondern das Entwicklungsalter wird für verschiedene Entwicklungsbereiche eingeschätzt. Das Entwicklungsalter entspricht demjenigen Alter, in welchem der jeweilige Rohwert eines Untertests aus einem standardisierten Entwicklungstest von der Hälfte aller Kinder erreicht wird. Das Entwicklungsalter kann mithilfe von Testmanualen oder durch die Benutzung eines Computer-Auswertungsprogramms ermittelt werden. Das Verhalten eines Kindes wird ganz wesentlich durch das Zusammenwirken der verschiedenen Entwicklungsbereiche bestimmt. Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Symptome können besonders dann auftreten, wenn Entwicklungsbereiche stark auseinanderklaffen und Kinder extrem diskrepante Leistungen zeigen. Kinder können mit einem sehr unausgeglichenen (d. h. inhomogenen oder dissoziierten) Entwicklungsprofil nur schwer umgehen und werden dadurch verunsichert. So kann ein Kind in Wutanfälle ausbrechen, wenn seine kognitiven Fähigkeiten deutlich weiter fortgeschritten sind als seine sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten.
48
Abb. 38 Entwicklungsprofile bei Schulkindern. a Junge, b Mädchen
O. Jenni
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Grundlagen der kindlichen Entwicklung
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4
Wachstum und Entwicklung in der Pränatal- und Neugeborenenperiode Oskar Jenni
1
Pränatalperiode
Differenzierung, Spezifizierung und Wachstum des kindlichen Organismus sind nie größer als in der Pränatalperiode. Damit verbunden sind zahlreiche Risiken und eine hohe Mortalität. Mindestens 30 % der Schwangerschaften enden mit einem Spontanabort, zumeist während des 1. Trimesters und oftmals als Folge einer chromosomalen Störung. Der Uterus bietet dem Kind viel Schutz, ist aber dennoch durchlässig für zahlreiche Umwelteinflüsse, wie Infektionen (z. B. Toxoplasmose, Röteln) und chemische Noxen (z. B. Quecksilber, antiepileptische Medikamente, Alkohol oder Drogen). Hohe Temperatur und Bestrahlung können zu körperlichen und geistigen Störungen sowie zu einer Wachstumsverminderung führen. Etwa 5 % der Kinder sind frühgeboren, d. h. sie kommen vor der vollendeten 37. SSW auf die Welt.
1.1
Wachstum
Die körperliche Entwicklung zwischen Zeugung und Geburt dauert ca. 40 Wochen und umfasst 3 Perioden (Abb. 1).
Organanlage In den ersten 8 Lebenswochen werden die Organe angelegt. Nach einer Phase intensiver Zellteilung bilden sich mit 14 Tagen eine Körpersymmetrie sowie ein Kopf- und ein Schwanzende aus. Daraufhin beginnen sich die verschiedenen Gewebe zu differenzieren. Die Neuralplatte erscheint an der ektodermalen Oberfläche des trilaminaren Embryos, faltet sich zum Neuralrohr ein und bildet die neurale Leiste, die zum peripheren Nervensystem wird. Zwischen 21 und 28 Tagen entstehen die Herzkammern, Gefäße sprießen aus und vereinigen sich zu einem Blutkreislauf. Ein einfacher O. Jenni (*) Abteilung Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]
Darm entsteht, aus dem die Leber, die Bauchspeicheldrüse und die Lungen durch Ausstülpungen hervorgehen. Die Somiten, Vorläufer der Skelettmuskeln und Wirbel, erscheinen. Mit 42 Tagen sind die ersten Fingerstrahlen sichtbar. Aus den Schlundbögen entwickeln sich Mandibula, Maxilla und äußeres Ohr. Die Linsenplakoden treten auf, die den Sitz des zukünftigen Auges bestimmen. Anfang des 3. Schwangerschaftsmonats sind alle Organe angelegt. Das Kind ist zu diesem Zeitpunkt etwa 30 g schwer und 6 cm lang.
Organdifferenzierung Im 3.–6. Schwangerschaftsmonat differenzieren sich die Organe bis zur Funktionstüchtigkeit aus. Lungenbläschen und Bronchien werden gebildet, die Produktion des Surfactantfaktors setzt ein. Das Hör- und Gleichgewichtsorgan sowie die Augen reifen aus. Die Myelinisierung des Nervensystems setzt ein. Ende des 2. Schwangerschaftstrimenons sind die Organsysteme so weit ausgereift, dass die meisten Kinder, die in der 25.–27. SSW auf die Welt kommen, mithilfe der modernen Geburtshilfe und Neonatologie überleben. Das Körpergewicht beträgt in diesem Alter 500–800 g und die Körperlänge etwa 35 cm. Organwachstum Im letzten Schwangerschaftstrimenon nehmen die Kinder an Länge und an Gewicht zu. Sie vergrößern ihr Körpergewicht zwischen der 26. und 40. SSW um das 4- bis 7-Fache. Die Gewichtszunahme ist durch eine Vergrößerung aller Organe und die Bildung eines kräftigen Unterhautfettgewebes bedingt, das postnatal als Wärmeschutz und Energiespeicher dient. Am Termin geborene Jungen sind durchschnittlich 3500 g und Mädchen 3300 g schwer. Sie weisen eine mittlere Körperlänge von 52 bzw. 50 cm auf. Für die meisten Zwillinge wird die plazentare Versorgung in den letzten Schwangerschaftswochen unzureichend. Ihr Geburtsgewicht ist deshalb
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_16
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54
O. Jenni
1.3 l
l
Abb. 1 Somatische Entwicklung und Körpergewicht in der Pränatalperiode
im Durchschnitt 600 g niedriger als dasjenige von Einzelkindern. Ihr Längenwachstum ist zumeist nicht beeinträchtigt. Drillinge und Vierlinge sind in ihrer Versorgung noch mehr eingeschränkt als Zwillinge. Sie sind daher bei der Geburt wesentlich leichter und auch kleiner als Einzelkinder.
1.2
Motorik
Die werdende Mutter verspürt Kindsbewegungen erstmals mit 16–20 SSW. Die Anfänge der motorischen Aktivität des ungeborenen Kindes reichen jedoch weit in die Frühschwangerschaft zurück. Im Ultraschall sind einfache Bewegungen bereits in der 8. SSW nachweisbar (Abb. 2). Zwischen der 9. und 14. SSW entwickeln sich alle Bewegungsmuster, die am Geburtstermin bei Neugeborenen zu beobachten sind. Die verschiedenen Bewegungen werden kaum durch äußere Reize ausgelöst. Sie sind vor allem Ausdruck einer eigenständigen motorischen Aktivität, die die folgenden 4 Aufgaben erfüllt: 1. Einüben von Bewegungsmustern: Geradezu lebenswichtig für das Kind ist das Einüben derjenigen Verhalten, die bei der Geburt auf Anhieb funktionieren müssen wie das Atmen, Saugen und Schlucken. 2. Einüben von Organfunktionen: Die Atembewegungen fördern das Wachstum der Lungen. Das Trinken von Fruchtwasser regt den Darm zur Resorption und die Nieren zur Ausscheidung an. 3. Modellierung der Gliedmaßen: Muskeln, Knochen und Gelenke entwickeln sich nur normal, wenn sich das Kind regelmäßig bewegt. Die Bewegungen modellieren die Gliedmaßen. 4. Einstellung in den Geburtskanal: Vor der Geburt stellt das Kind seine Körperlage so ein, dass es mit dem Kopf in den Geburtskanal eintritt und damit auf die schonende Weise auf die Welt kommt.
Beziehungsverhalten
Die Beziehung der Eltern zum Kind beginnt weit vor der Geburt. Sie entsteht aus den Erwartungen, welche die Eltern in ihr zukünftiges Kind setzen, aus ihren partnerschaftlichen und familiären Vorstellungen sowie aus den Erfahrungen, die die Eltern während der Schwangerschaft mit dem Kind und dem Partner machen. In der Entwicklung der Eltern-KindBeziehung können im Verlauf der Schwangerschaft 3 Erlebnisperioden unterschieden werden: • 1. Trimenon: Die Schwangerschaft macht sich bereits in den ersten Wochen für die meisten Frauen körperlich deutlich bemerkbar. Vermehrte Müdigkeit und Übelkeit, Heißhunger auf und Widerwillen gegen bestimmte Speisen können auftreten. Obwohl die schwangere Frau ihr Kind noch nicht wahrnimmt, beschäftigt es sie aber gleichwohl. Die Frau spürt, dass das Kind ihr Leben verändern wird. Sie muss sich mit ihrer zukünftigen Rolle als Mutter und den Veränderungen, die sich in ihrem privaten und beruflichen Leben ergeben werden, auseinandersetzen. Ambivalente Gefühle treten auf, unabhängig davon, ob die Schwangerschaft geplant war oder nicht. Sie gehören zu jeder Schwangerschaft. Auch der angehende Vater macht sich Gedanken, wie sich das Kind auf Partnerschaft und Beruf auswirken wird. • 2. Trimenon: Mit den ersten Kindsbewegungen in der 16.–20. SSW nimmt die Mutter das ungeborene Kind erstmals als ein unabhängiges Wesen wahr. Aufgrund seines Musters an Aktivität und Reaktivität beginnt sie, ihm individuelle Persönlichkeitsmerkmale zuzuschreiben. • 3. Trimenon: In den letzten Wochen vor der Geburt beginnt sich das innere Bild aufzulösen, das sich die Mutter im Verlauf der Schwangerschaft von ihrem Kind gemacht hat. Sie macht sich bereit für die reale Beziehungsaufnahme mit ihrem Kind.
1.4
Ernährung und Schlafverhalten
Während der Schwangerschaft wird das ungeborene Kind über die Plazenta umfassend von der Mutter versorgt. Es bezieht von ihr alle Nährstoffe, die es für seine Entwicklung und sein Wachstum benötigt und kann die Schlacken an sie abgeben. Mutter und Kind bilden eine Symbiose, d. h. Fehlund Mangelernährung beeinflussen die fetale Entwicklung. In den ersten Schwangerschaftsmonaten ist das ungeborene Kind in einem Bewusstseinszustand, der elektrophysiologisch weder dem späteren Wachsein noch Schlaf entspricht. Das zirkadiane System scheint allerdings bereits funktionstüchtig zu sein. Herzfrequenz, Körpertemperatur und Hormonausscheidung unterliegen schon intrauterin einem 24Stunden-Rhythmus, der durch die mütterlichen Zeitgeber
4
Wachstum und Entwicklung in der Pränatal- und Neugeborenenperiode
Abb. 2 Häufigste Bewegungsmuster während der Schwangerschaft. Die Striche geben an, ab welchem Alter die verschiedenen Bewegungsmuster beobachtet werden (nach Prechtl 1988)
l
ll l l
synchronisiert wird. Im letzten Trimenon können bei frühgeborenen Kindern die Vorläufer von Schlaf- und Wachzustand beobachtet werden. Mit etwa 36 SSW beginnen sich eigentliche Schlaf- und Wachperioden auszubilden.
1.5
55
Kognition und Kommunikation
Unser Wissen über die Erfahrungen, die ein ungeborenes Kind im Verlauf der Pränatalperiode macht, und deren Bedeutung für seine spätere Entwicklung ist begrenzt. Beispielsweise ist das Kind seit der Frühschwangerschaft motorisch vielseitig aktiv, ohne dass wir wissen, ob und wie sich diese Aktivitäten auf die geistige Entwicklung auswirken. Allerdings ist die auditive Wahrnehmung des ungeborenen Kindes eingehend untersucht worden. Das Innenohr hat bereits mit 20 SSW Erwachsenengröße erreicht und ist teilweise funktionstüchtig. Mit 36–40 SSW ist das Hörorgan ausgereift, die Hörzellen reagieren elektrophysiologisch wie beim erwachsenen Menschen. Mithilfe von EKG- und EEG-Aufzeichnungen konnte gezeigt werden, dass das ungeborene Kind auf akustische Reize zuverlässig mit einer Änderung von Herzfrequenz und Hirnaktivität reagiert. Während laute Geräusche die Herzfrequenz ansteigen lassen und das ungeborene Kind sich vermehrt bewegt, bewirken die menschliche Stimme und Musik eine Abnahme der Herzfrequenz und eine motorische Beruhigung. Das Kind vermag zwischen der Stimme der Mutter und derjenigen fremder Personen zu unterscheiden. Das ungeborene Kind ist ebenfalls zur Habituation fähig. Fetale Bewegungen verstärken sich als Antwort auf akustische Reize und vermindern sich nach mehrmaligen Wiederholungen. Ein anderer akustischer Reiz ruft wiederum die ursprüngliche Antwort hervor. Diese frühe Form des Lernens ist bei neurologisch beeinträchtigten oder intrauterin unterversorgten Kindern vermindert.
2
Neugeborenenperiode
Nach der Geburt muss sich das Kind an die neuen Lebensbedingungen anpassen. Seine Atmung und sein Kreislauf bewältigen diese Umstellung innerhalb weniger Minuten. Verdauung, Stoffwechsel und Ausscheidung kommen nur langsam über Stunden und Tage in Gang. Der Säugling braucht schließlich Wochen und Monate, um seinen SchlafWach-Rhythmus dem Tag-Nacht-Wechsel anzugleichen.
2.1
Wachstum
Das Neugeborene verbraucht in den ersten Lebenstagen mehr Kalorien, als ihm zugeführt werden, und scheidet mehr Flüssigkeit aus, als es aufnehmen kann. Der daraus resultierende Gewichtsverlust beträgt bei den meisten Kindern 3–6 % des Geburtsgewichts, kann aber bis zu 10 % ausmachen (Abb. 3). Das Längenwachstum bleibt in den ersten Lebenstagen weitgehend aus. Der Kopfumfang kann je nach Ausmaß des Flüssigkeitsverlusts und der Größe der Geburtsgeschwulst zu- oder abnehmen. Nach 5–10 Tagen ist das Geburtsgewicht wieder erreicht. Danach setzt ein rasches Körperwachstum ein.
2.2
Motorik
Das Neugeborene weist zahlreiche Reflexreaktionen auf. Seine Motorik besteht zudem aus einer sehr beschränkten Haltungskontrolle, aus Spontanbewegungen und gelegentlichen koordinierten Bewegungen. Eine entwicklungsneurologische Beurteilung des Neugeborenen und jungen Säuglings umfasst die Einschätzung von generellem Verhalten, Reaktivität, Reflexe, Haltung, Tonus und Bewegungen. Letztere werden im Folgenden genauer beschrieben.
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O. Jenni
− − − − −
Abb. 3 Verlauf des Körpergewichts in den ersten 12 Lebenstagen bei 3 ausgewählten Kindern (nach den Zürcher Longitudinalstudien)
Reflexreaktionen Darunter sind motorische, gleich ablaufende Verhaltensweisen zu verstehen, die durch einen bestimmten Reiz zuverlässig ausgelöst werden. Einige dieser Reflexverhalten sind geradezu lebenswichtig. Wird der Säugling mit dem Gesicht nach unten abgelegt, dreht er den Kopf zur Seite. Dieser Reflex („schützende Seitwärtsdrehung“) stellt sicher, dass die Nasenatmung erhalten bleibt. Nachfolgend werden besondere Reflexreaktionen beschrieben: • Suchreflex: Berühren die Wangen oder die Lippen eines hungrigen Neugeborenen die mütterliche Brust, beginnt es nach der Brustwarze zu suchen und versucht, diese in den Mund zu bekommen. Suchbewegungen können beim hungrigen Kind auch mit einem Schnuller oder einem Finger ausgelöst werden. Es orientiert sich in seinem Suchverhalten auch nach dem mütterlichen Geruch. • Saugreflex: Berühren die Lippen die Brustwarze, saugt das Neugeborene die Brustwarze in die Mundhöhle und hält sie mit Ober- und Unterkiefer fest. Die Zunge drückt die Brustwarze gegen den Gaumen und streicht die Milchzisternen der Brustdrüsen von hinten nach vorne aus. Anschließend öffnet sich der Mund etwas, der Druck der Zunge lässt nach, und die Zisternen füllen sich erneut. • Schluckreflex: Während Monaten trinkt das ungeborene Kind Fruchtwasser. Der Schluckreflex ist bei der Geburt eingeübt und abgestimmt mit den Saug- und Atembewegungen. Beim Trinken führt der Säugling 10–30 Saugbewegungen während etwa 15 sec aus und schluckt dabei 1- bis 4-mal. Nach 1–2 Schluckbewegungen macht der Säugling einen Atemzug. Er kann saugen und schlucken und dabei gleichzeitig atmen. Da er ausschließlich durch die Nase atmet, kann ihn bereits ein banaler Schnupfen beim Trinken behindern.
Abb. 4 Moro-Reaktion (mit freundl. Genehmigung von O. Jenni)
• Moro-Reaktion: Das Kind wird aus einer sitzenden Stellung heraus rasch um etwa 30 % nach hinten bewegt. Es extendiert und abduziert die Arme und evtl. auch die Beine, um die Extremitäten anschließend zu flektieren und zu adduzieren (Abb. 4). • Greifreflex: Druck auf die Innenfläche der Hände oder auf die Fußsohle bewirkt eine Beugung der Finger bzw. Zehen
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Wachstum und Entwicklung in der Pränatal- und Neugeborenenperiode
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• Variation (Bewegungsrepertoire über die Zeit) • Komplexität (Variabilität im Raum) • Glattheit des Bewegungsablaufs (Fluency) In den ersten Lebenswochen sind die spontanen Bewegungen der GM eher langsam und windend (Writhing Movements), während nach 8 Wochen die Bewegungen mit kleiner Amplitude, moderater Geschwindigkeit und variabler Beschleunigung aller Körperteile in alle Richtungen zunehmen (Fidgety Movements).
Koordinierte (willkürliche) Bewegungen Mit den Händen führt das Neugeborene gelegentlich koordinierte Bewegungen aus. Es bringt seine Hände zum Mund, hält sie vor die Augen und fixiert sie kurzzeitig. Koordinierte (willkürliche) Bewegungen nehmen im Verlauf der ersten Lebensmonate zu. Bei der Beurteilung der Motorik des Neugeborenen sollte sein aktueller Verhaltenszustand immer mitberücksichtigt werden. Sein motorisches Verhalten fällt je nach Verhaltenszustand, in dem sich das Kind gerade befindet, unterschiedlich aus (Tab. 1). Unerfahrene Untersucher sollten ein Neugeborenes nur dann neurologisch beurteilen, wenn es sich im Verhaltenszustand 3 befindet.
Abb. 5 a, b Greifreflex an a Füßen und b Händen
(Abb. 5). Am stärksten wird der Reflex hervorgerufen, wenn ein Fell über die Handinnenfläche oder Fußsohle gezogen wird.
Haltung Wenn der Säugling aufrecht gehalten wird, z. B. an der Schulter der Mutter, vermag er den Kopf kurze Zeit zu halten, insbesondere dann, wenn es etwas Interessantes zu sehen oder zu hören gibt. Ansonsten verfügt das Neugeborene noch über keine Haltungskontrolle. Unwillkürliche Spontanbewegungen (General Movements) Das Neugeborene streckt und beugt rhythmisch und alternierend Arme und Beine. Die Qualität dieser unwillkürlichen Spontanbewegungen (die sog. General Movements, GM; Abb. 6) hat eine gute prognostische Aussagekraft für spätere motorische Störungen (z. B. eine Zerebralparese). Normale GM zeichnen sich durch die folgenden 3 Merkmale aus:
2.3
Beziehungs- und Sozialverhalten
Unmittelbar nach der Geburt ist das Neugeborene ausgesprochen wach und aufmerksam. Seine erhöhte Bereitschaft zur Kontaktaufnahme kann durch Analgetika und Anästhetika, die die Mutter während der Entbindung erhalten hat, aber auch durch eine fetale Hypoxie beeinträchtigt werden. Diese initiale Phase der sozialen Interaktion ist gefolgt von einer Periode mit langen Schlafphasen. In den folgenden Tagen treten nur noch kürzere Perioden von Wachsein und Aufmerksamkeit auf. In den Wochen und Monaten danach wendet sich das Kind immer mehr den Personen zu, die seine Bedürfnisse befriedigen, mit ihm zusammen sind und ihm Geborgenheit und Zuwendung geben. Die Stunden nach der Geburt haben für die Eltern eine außergewöhnliche emotionale Qualität, die wahrscheinlich durch Hormone verstärkt wird. Die Erfahrungen der ersten Lebensstunden spielen aber keine Schlüsselrolle in dem Sinne, dass, wenn dieser Kontakt zwischen Eltern und Kind nach der Geburt ausbleibt, eine bleibende Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Beziehung zu befürchten wäre. Dies ist ein Glück für alle Eltern und Kinder, denen ein gegenseitiges Kennenlernen nach der Geburt aus äußeren Gründen verwehrt ist, z. B. weil das Kind durch Kaiserschnitt entbunden oder wegen Frühgeburtlichkeit in ein anderes Spital verlegt werden muss.
58 Abb. 6 Oben: normale General Movements bei einem 3-monatigen Kind. Unten: abnorme General Movements (mit freundl. Genehmigung der Erziehungsberechtigten und von Hadders-Algra 2018)
O. Jenni
4
Wachstum und Entwicklung in der Pränatal- und Neugeborenenperiode
Die Geburt und die unmittelbare Zeit danach ist für Eltern und Kind ein bewegendes, aber kein grundlegend prägendes Erlebnis. Die Bindung zwischen Eltern und Kind entwickelt sich aus den unzähligen kleinen und großen Erfahrungen, die sie im Verlauf von Monaten und Jahren miteinander machen werden. Im ersten Gespräch mit den Eltern sollte der Kinderarzt zu erfahren suchen, welche Bedeutung das Kind für sie hat, welche Erwartungen, Ängste und Sorgen sie haben und wie ihre Lebensbedingungen sind (Tab. 2).
2.4
59
Ernährung
Die orale Nahrungszufuhr ist in den ersten Lebenstagen unzureichend. Um diese Zeit zu überbrücken, kommt das Kind mit einem Energievorrat an Fett und Kohlenhydraten (Glykogen) auf die Welt. Das Neugeborene braucht anfänglich nicht voll ernährt zu werden. Wenn die Mutter ihr Kind in den ersten Minuten nach der Geburt an die Brust legt, sucht es nach der Brustwarze und macht die ersten Saugversuche. Saugen und Schlucken sind
Tab. 1 Reizantwort in Abhängigkeit vom Verhaltenszustand (+++ erhöht; ++ mittel; + erniedrigt; Verhaltenszustand Muskeltonus Propriozeptive Reflexe Sehnenreflexe Moro Exterozeptive Hautreflexe Suchreflex Greifreflex Nozizeptive Reflexe Babinski Auditive Reaktionen Visuelle Folgebewegungen Vestibulookuläre Reflexe
fehlend; nach Prechtl 1974)
Schlaf 1 +++
Übergangsphase 2 (+)
Wachzustand 3–5 ++
+++ +++
(+) (+)
++ ++
(+)
++ ++
+
+++ ++ ++
+++ +++ +++ +++
Tab. 2 Faktoren, die das elterliche Verhalten beeinflussen können Einflussfaktoren Psychosoziale Faktoren Partnerbeziehung Eigene Kindheits- und Familienerfahrung Soziale Integration Ethnische Zugehörigkeit Schwangerschaft Frühere Schwangerschaft Verlauf der Schwangerschaft Soziale Umstellung Geburt Umstände Trennung von Mutter und Kind Neonatalperiode Komplikationen Erste Lebensmonate Trinkverhalten Schlafverhalten Schreien Psychomotorische Entwicklung Partnerschaft Mutter Vater
Beispiele Gegenseitiges Verständnis, Rollenverteilung und -akzeptanz, Familienplanung Beziehung zu eigenen Eltern; Scheidung, Tod eines Elternteils Freundes- und Bekanntenkreis, berufliche Situation, Wohnung, Stadt/Land Religion, kultureller Hintergrund Aborte, Totgeburten Langes Liegen, Tokolyse, Blutungen, Kindsbewegungen Aufgabe von Beruf, Mutterrolle Frühgeburtlichkeit, Kaiserschnitt, Komplikationen bei Mutter und Kind Dauer der Trennung, Distanz zwischen Gebärklinik und Neonatologie Atemnotsyndrom, Infektion, Blutaustausch Ernährungsschwierigkeiten Fehlender Tag-Nacht-Rhythmus „Bauchkoliken“ Entwicklungsverzögerung, zerebrale Bewegungsstörung Isolation, Anpassung an Mutterrolle, Verlust beruflicher Tätigkeit und sozialer Kontakte, Unterstützung durch den Ehemann Nähe/Distanz zum Kind, Haltung als Ehepartner, Beanspruchung durch Beruf, Rolle des Ernährers
60
O. Jenni
Tab. 3 Verhaltenszustände des Neugeborenen (nach Prechtl 1974) Verhaltenszustand Augen Spontanbewegungen Atmung Muskeltonus
1 (ruhiger Schlaf) Geschlossen, ruhig Selten Regelmäßig Normal
2 (aktiver Schlaf) Geschlossen, rasche Bewegungen Gelegentlich Unregelmäßig Erniedrigt
Verhalten, die das Kind vor der Geburt während Monaten eingeübt hat (Abschn. 2.2, Reflexreaktionen). Bis zur 34. SSW sind diese Reflexmechanismen so weit entwickelt, dass ein Kind, das zu diesem Zeitpunkt zur Welt kommt, ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen kann. Spätestens ab dem 6. Schwangerschaftsmonat sind die Brustdrüsen funktionsbereit. Die Milchbildung wird durch die hormonelle Umstellung bei der Geburt in Gang gesetzt. Der Säugling löst durch sein Saugen die Bildung und Ausscheidung der Milch aus. Wie beim kindlichen Trinkverhalten spielen auch bei der Milchbildung Reflexmechanismen eine wichtige Rolle: • Milchbildungsreflex: Der Saugreiz des Kindes setzt bei der Mutter im Vorderlappen der Hirnanhangsdrüse Prolaktin frei, das die Brustdrüse zur Milchbildung anregt. Je häufiger die Mutter das Neugeborene an die Brust legt, desto stärker wird die Brustdrüse stimuliert und desto größer ist die Milchmenge. • Milchausscheidungsreflex: Der Saugreiz bewirkt im Hinterlappen der Hirnanhangsdrüse die Ausschüttung von Oxytocin ins mütterliche Blut. Das Hormon bringt die Muskelfasern, die sich um die Milchdrüsen und -gänge winden, zur Kontraktion; dadurch wird die Milch aus den Zisternen gepresst.
2.5
Schlafverhalten
Die Schlafstadien sind beim Neugeborenen noch unreif. Weil vor der Geburt und unmittelbar danach EEG, EOG und EMG noch keine stabilen und reproduzierbaren Schlafmuster zeigen und die Stadieneinteilung mittels neurophysiologischer Methoden unzuverlässig ist, hat sich die Verhaltensbeobachtung als geeignete Methode im Neugeborenenalter etabliert. Das Verhalten des Säuglings wird dabei anhand von Atmung, Augen, Motorik, Muskeltonus und Stimmungslage in 5 Stadien eingeteilt (Tab. 3). Die Verhaltenszustände nach Prechtl definieren einen aktiven (entspricht dem REM-Schlaf) und ruhigen Schlaf (entspricht dem Non-REM-Schlaf). Im Gegensatz zum REM-Schlaf des Erwachsenen ist der Säugling im aktiven Schlaf unruhiger, bewegt sich mehr und zeigt Zuckungen (twitches) und Grimassen (z. B. Engelslächeln). Bei Neugeborenen folgt auf den Wachzustand häufig unmittelbar akti-
3 (wach, ruhig) Offen Keine Regelmäßig Normal
4 (wach, aktiv) Offen Häufig Unregelmäßig Erhöht
5 (schreiend) Offen/geschlossen Häufig Unregelmäßig Erhöht
l
l
l
l
Abb. 7 Darstellung von 2 Schlafzyklen eines neugeborenen Kindes (QS ruhiger Schlaf, AS aktiver [REM] Schlaf, IS Übergangsschlaf, W Wach). Der 1. und der 2. Zyklus sind von einer Wachphase unterbrochen, die nicht zu den eigentlichen Schlafzyklen gehört. Im AS sind viele Bewegungen (M ) sichtbar (mod. nach Jenni et al. 2004)
ver Schlaf, während bei Erwachsenen der Schlaf meist im Non-REM-Schlaf beginnt. Tatsächlich ist der aktive Schlaf beim Neugeborenen und Säugling weit ausgedehnter als beim älteren Kind und Erwachsenen. Neugeborene schlafen meist die Hälfte ihrer Schlafzeit im aktiven Schlaf, während die Erwachsenen nur noch etwa 20 % REM-Schlaf zeigen. Im Verhaltenszustand 3 ist das Kind motorisch ruhig und am aufmerksamsten. Schlafzyklen entstehen durch regelmäßige Wechsel zwischen aktivem und ruhigem Schlaf (Abb. 7). Beim Säugling beträgt die Länge des Schlafzyklus 50–60 min, beim Erwachsenen 90–110 min. Im Verlauf der Nacht treten beim Neugeborenen bis zu 10 Zyklen auf, beim Erwachsenen können meist 4–5 Zyklen unterschieden werden.
2.6
Kognition und Kommunikation
Das Neugeborene verfügt bereits über ein differenziertes Wahrnehmungsvermögen. Es kann visuelle Reize unterschiedlich verarbeiten und zeigt eine visuelle Präferenz für Gesichter. Es kann ein Objekt fixieren und horizontal verfolgen. Seine Blickdistanz liegt bei 20–25 cm, was etwa der Distanz zum mütterlichen Gesicht entspricht, wenn es auf dem Arm der Mutter liegt. Es vermag eine menschliche Stimme von Tönen, Klängen und Geräuschen zu unterscheiden. Es wendet sich vorzugsweise weiblichen Stimmen zu und dreht zuverlässig den Kopf, wenn zu ihm auf Ohrhöhe mit einer hohen Stimme gesprochen wird.
4
Wachstum und Entwicklung in der Pränatal- und Neugeborenenperiode
Das Neugeborene reagiert darauf, wie es aufgenommen und auf dem Arm gehalten wird. Es kann Mundstellungen nachahmen. Das Neugeborene teilt sich mit seiner Körpersprache (Mimik, Haltung und Bewegungen des Körpers) und durch sein Schreien mit.
Weiterführende Literatur Birch LL, Johnson SL, Andresen G, Peters JC, Schulte MC (1991) The variability of young children’s energy intake. N Engl J Med 324:232–235 Eimas PD, Siqueland ER, Jusczyk P, Vigorito P (1971) Speech perception in infants. Science 171(3968):303–306 Fantz RL (1965) Visual perception from birth as shown by pattern selectivity. Ann N Y Acad Sci 118:793–814 Hadders-Algra M (2018) Neural substrate and clinical significance of general movements: an update. Dev Med Child Neurol 60(1):39–46 Henkel C, Jenni OG, Bindt C, Holtz S (2016) Entwicklung des Essverhaltens von Säuglingen und Kleinkindern aus entwicklungspädiatrischer und kinderpsychiatrischer Sicht ? Monatsschr Kinderheilkd 164(4):294–300
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5
Wachstum und Entwicklung im Säuglingsalter Oskar Jenni
Im 1. Lebensjahr ist das Kind auf vielerlei Weise damit beschäftigt, sich an die neue Umwelt anzupassen: an flüssige und feste Nahrung, an den Tag-Nacht-Wechsel, an die Schwerkraft und den Raum. Vor allem aber muss es mit den Bezugspersonen und der gegenständlichen Umgebung vertraut werden, die sein Gedeihen ermöglichen und seine Entwicklung gewährleisten.
1
Wachstum
Im Mittel verdreifacht sich das Körpergewicht im 1. Lebensjahr: Die Körperlänge nimmt um 25 cm und der Kopfumfang um 12 cm zu (Abb. 1).
1.1
Korrektur der Wachstumsparameter
Bei Frühgeborenen ( Mädchen), während 80 % eindeutige Rechtshänder sind. Die übrigen 10 % der Kinder sind mehr oder weniger beidhändig (Ambidexter). Es muss allerdings betont werden, dass die Händigkeit ein Kontinuum ist (von einer extremen Links- zu einer extremen Rechtshändigkeit).
Abb. 3 Zunahme des Bewegungsdrangs im Kleinkindalter nach Geschlecht ( fette Linien Mittelwert, gestrichelte Linien 95 %-Konfidenzintervalle; Daten nach Schmutz et al. 2017)
Abb. 4 Erstmaliges Auftreten von feinmotorischen Meilensteinen in der frühen Kindheit (nach Zürcher Longitudinalstudien, nach ZEPPELIN mittels Bayley-III)
2.4
Zum Konzept der Meilensteine und Grenzsteine
Meilensteine bezeichnen das erstmalige Auftreten von bestimmten Entwicklungsschritten, z. B. in welchem Alter ein Kind frei sitzen kann und zu greifen beginnt (Abb. 2 und 4). Das Konzept der Meilensteine geht auf die frühen Untersuchungen von Gesell und Armatruda (1947) zurück, welche die Entwicklung von Kindern analysierten, dokumentierten, verschiedene Entwicklungsstufen beschrieben und die ersten eigentlichen Entwicklungsnormen bestimmten. Diese Normen wurden später von vielen Entwicklungstests übernommen (z. B. vom Bayley-Test, Griffith-Test oder den DenverEntwicklungsskalen). Bei den motorischen Meilensteinen (Abb. 2 und 4) fällt auf, dass der Altersbereich des erstmaligen Auftretens eines Meilensteins mit zunehmendem Alter immer größer wird, d. h. je älter die Kinder werden, desto variabler treten bestimmte motorische Entwicklungsschritte auf. Während 80 % aller Kinder zwischen 10 und 20 Monaten die ersten freien Schritte gehen, können die meisten Kinder zwischen 1,5 und 4,5 Jahren auf einem Bein stehen. Eine mögliche Erklärung für die zunehmende Variabilität im Auftreten der motorischen Meilensteine ist, dass die frühe motorische Entwicklung stärker durch genetische Programme bestimmt wird als die Motorik im Vorschul- und Schulalter, in dem motorische Erfahrungen und Umwelteinflüsse eine große Rolle spielen. Tatsächlich ist die große interindividuelle Variabilität von motorischen Meilensteinen stark von der Interaktion zwischen genetischer Variabilität sowie von Adaptationsleistungen an Umweltbedingungen und kulturellen Vorstellungen geprägt. Die große Variabilität bezüglich des Erreichens eines motorischen Meilensteins macht die Voraussage für spätere motorische Fähigkeiten und Qualitäten wie auch für allfällige Störungen im Bewegungsverhalten unzuverlässig. Für die Vorhersage der motorischen Entwicklung eignen sich Meilensteine nicht. Das Erreichen eines spezifischen motorischen Meilensteins korreliert nicht mit späteren neuromotorischen Leistungen (und auch nicht mit Intelligenzleistungen im Schulalter). Ein Kind, welches erst im Alter von 16 Monaten
Feinmotorik Kann Türe öffnen Wirft Ball in Korb Drehbewegungen Dreipunktegriff Zieht drei Perlen auf Erstes Auftreten 10%
90% 50%
12
18
24 30 Alter (Monate)
36
42
80
O. Jenni
175
Perlen einfädeln
150
Zeit (s)
125 100 75
I
I
50 Knaben Mädchen
25 0 3
3.5
4 4.5 Alter (Jahre)
I 5
Steckbrett
80
Abb. 6 Beziehungen im Kleinkindesalter
70
Werden Grenzsteine nicht altersentsprechend erreicht, so kann dieser Umstand ein Hinweis auf eine neurologische Störung sein und erfordert weitere diagnostische Untersuchungen.
60 Zeit (s)
I
50 40 30 20
3 Knaben Mädchen
10 0 3
3.5
4 4.5 Alter (Jahre)
5
Abb. 5 Entwicklungsverlauf, Variabilität und Geschlechtsunterschiede in feinmotorischen Fähigkeiten im Kleinkindalter (Daten nach Kakebeeke et al. 2013)
frei laufen kann, zeigt später nicht zwangsläufig schwächere motorische Leistungen als ein Kind, das diesen wichtigen motorischen Meilenstein bereits mit 10 Monaten erreicht hat. Trotzdem ist die Anamnese der motorischen Meilensteine in der Praxis wichtig. Michaelis hat dazu das sog. Grenzsteinprinzip formuliert. Als Grenzstein bezeichnet man den Zeitpunkt, bei welchem 90–95 % aller Kinder einen bestimmten motorischen Entwicklungsschritt erreicht haben. Klassische motorische Grenzsteine sind: • • • •
Sichere Kopfkontrolle mit 6 Monaten Freies Sitzen mit 9 Monaten Freies Gehen mit 20 Monaten Beidbeiniges Hüpfen von der untersten Treppenstufe mit 3 Jahren • Pedale treten und Steuern eines Dreirades mit 4 Jahren • Sicherer Einbeinstand mit 5 Jahren • Freihändiges (mit Beinen alternierendes) Treppengehen mit 6 Jahren
Beziehungs- und Sozialverhalten
Zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr erwirbt das Kind zunehmend Selbstständigkeit und Autonomie. Die Fähigkeit, Beziehungen zu außerfamiliären Personen aufzunehmen, nimmt ständig zu (Abb. 6). Das Kind ist aber immer noch auf die Unterstützung von elterlichen Bezugspersonen angewiesen, wenn es in Kontakt mit Erwachsenen und Kindern treten will. So braucht es anfänglich den Rückhalt eines Elternteils, wenn es eine Spielgruppe besucht. Es muss mit der Gruppenleiterin und den anderen Kindern zuerst vertraut werden, bevor es sich ohne Eltern wohl fühlen kann. Tatsächlich haben Erzieherinnen von Spielgruppen oder Kinderkrippen wichtige Aufgaben als außerfamiliäre Bezugspersonen. Eine Kontinuität in der Betreuung und eine fundierte Ausbildung in Kleinkinderziehung sind dabei wichtige Grundvoraussetzungen für eine gute Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern. Die zeitliche und räumliche Abhängigkeit von Bezugspersonen bleibt während des ganzen Vorschulalters bestehen: Das Kind ist auf die ständige Anwesenheit einer vertrauten Person angewiesen, die auf seine Bedürfnisse eingehen kann. Es verlangt viel Zuwendung, nicht nur in Form von Körperkontakt und sprachlichem Austausch. Gemeinsame Erfahrungen sind wichtige Formen der Zuwendung. Spielen und Singen und gemeinsame Erlebnisse mit Bezugspersonen im Haus und im Freien geben dem Kind ein Gefühl des Angenommenseins und der Zugehörigkeit. Geborgenheit können sich Kleinkinder untereinander, z. B. in einer Spielgruppe, in einem beschränkten Ausmaß
6
Wachstum und Entwicklung im Kleinkindalter
geben. Ihre Fähigkeiten, sich emphatisch zu verhalten, sind allerdings noch beschränkt. Sie interessieren sich aber für das Verhalten und Tun der anderen Kinder. Erstes antizipierendes Verhalten zeigt sich im Rollenspiel, das gegen Ende des 3. und im 4. Lebensjahr auftritt. Die Erweiterungen, die das Beziehungsverhalten zwischen 2 und 5 Jahren erfährt, werden wesentlich durch die Selbstwahrnehmung sowie ein sich ständig erweiterndes Raum- und Zeitverständnis bestimmt. Zwischen 18 und 24 Monaten beginnt das Kind sich als Person wahrzunehmen und von anderen Menschen abzugrenzen (▶ Kap. 3, „Grundlagen der kindlichen Entwicklung“). Damit verdichten sich seine Gefühle von Geborgenheit oder Verlassensein zu bewussten Vorstellungen. Das Kind realisiert, dass es alleine ist, wenn es nachts aufwacht. Trennungs- und Verlassenheitsängste lassen in seiner Fantasie Schreckgestalten entstehen, die in Ecken und hinter Vorhängen des dunklen Kinderzimmers lauern (auch die magische Phase des Kleinkindalters genannt). Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Bindungsbereitschaft ist unter gleichaltrigen Kindern aber sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt Kinder, die ein größeres Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit haben als andere, was sich als große Schüchternheit gegenüber einer nicht vertrauten fremden Person, mit Schlafen im Elternbett (Abb. 7) oder als Geschwistereifersucht äußern kann. Kinder mit einem eher hohen Geborgenheitsbedürfnis tragen häufig ein sog. Übergangsobjekt, eine Art „Mutterersatz“ (z. B. Tüchlein, Teddy, Spielzeug) mit sich herum. Solche Objekte können Bezugspersonen für eine gewisse Zeit ersetzen und dem Kind auf seinem Weg zur eigenen Selbstständigkeit helfen. Sie geben den Kindern ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit.
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Ein weiteres wichtiges Verhaltensphänomen tritt im Alter zwischen 2 und 4 Jahren auf: das Trotzen. Das Kind möchte eigene Vorstellungen durchsetzen und erlebt, dass diese entweder nicht umsetzbar sind oder von den Eltern nicht toleriert werden. Trotzen ist Ausdruck der sich entwickelnden Selbstwahrnehmung und zunehmenden Autonomieentwicklung. Trotzreaktionen kommen bei allen Kindern in unterschiedlicher Ausprägung vor, verschwinden meist im 4. Altersjahr mit dem Auftreten einer Theory of Mind (▶ Kap. 3, „Grundlagen der kindlichen Entwicklung“) und sind ein typisches Beispiel eines Reifungsphänomens im Vorschulalter.
4
Im 2. Lebensjahr wird das Kind bezüglich Trinken und Essen weitgehend selbstständig. Im 3. Lebensjahr zieht es Kleidungsstücke wie Socken oder Mütze aus. Ein bis zwei Jahre später kann es sich selbstständig an- und auskleiden. Im Alter zwischen 2 und 5 Jahren reifen die Blasen- und Darmfunktionen so weit heran, dass das Kind aus einem inneren Bedürfnis heraus sauber und trocken werden will (Abb. 8). Das Kind ist dann bereit, sauber und trocken zu werden, wenn es die Darm- und Stuhlentleerung bewusst wahrzunehmen beginnt. Die Eigenwahrnehmung stellt sich zwischen 18 und 48 Monaten ein. Sie äußert sich in Mimik, Körperhaltung und Sprache. Die meisten Kinder werden mit wenig erzieherischem Aufwand sauber und trocken, wenn die Eltern dem Kind beim Auftreten der Eigenwahrnehmung als Vorbild dienen und es in praktischen Belangen unterstützen. Etwa 50 % der Kinder werden im Verlauf des 3. Lebensjahrs tagsüber sauber und trocken, weitere 40 % im 4. und praktisch alle Kinder im 5. Lebensjahr. Die Blasenkontrolle nachts entwickelt sich etwas später als diejenige tagsüber. Etwa 10 % der Jungen und 5 % der Mädchen nässen im Alter von 5 Jahren nachts noch ein.
5
Abb. 7 Schlafen im Elternbett als Ausdruck von Bedürfnis nach Geborgenheit. 40 % der 4-jährigen Kinder der Zürcher Longitudinalstudien schlafen gelegentlich im Elternbett, 12 % sogar regelmäßig (nach Jenni et al. 2005)
Selbstständigkeit (am Beispiel Sauberkeitsentwicklung)
Ernährungsverhalten
Die interindividuellen Unterschiede in der Entwicklung des Essverhaltens sind auch im Kleinkindalter sehr groß (Abb. 9). So benutzen die einen Kinder bereits mit 12 Monaten einen Löffel, andere erst mit 18 Monaten. Ab dem 1. Geburtstag beginnen die Kinder zu essen, was auf den Familientisch kommt. Speisen müssen aber immer noch häufig püriert und zerkleinert werden, weil das Kauvermögen bei den meisten Kindern erst im Verlaufe des 2. und bei einigen erst im 3. Lebensjahr ausreichend entwickelt ist. Zwischen dem 7. Lebensmonat und Ende des 3. Lebensjahres beginnt das Kind nach und nach eigene Bedürfnisse auszuhandeln. Zunächst will es Nahrung selbst in der Hand halten und zum
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O. Jenni
Abb. 8 Entwicklung der Blasenund Darmkontrolle tagsüber (nach Largo et al. 1996)
l
Abb. 9 Entwicklung des Trinkund Essverhaltens (nach Zürcher Longitudinalstudien)
Isst mit Gabel l l
Spielt
l
ll
l
Mund führen und gegen Ende des 1. Lebensjahres verlangt es, den Löffel zu halten. Spätestens Anfang des 2. Lebensjahres will es mit anderen essen und einen eigenen Teller haben. Die Kinder ahmen dabei das Essverhalten der Eltern häufig nach und wollen selbstständig essen und trinken. Häufig findet sich im Kleinkindalter das sog. Picky Eating gegenüber unvertrauten Speisen als passageres Phänomen. Das selektive Vermeiden von bitteren und sauren Nahrungsmitteln wird als evolutionsbiologisch adaptives Verhalten für die Zeit beschrieben, in der das motorisch aktive Kleinkind Essbares unkontrolliert erreichen kann, aber noch kein Bewusstsein für Unverträgliches ausgebildet hat. Studien zeigten, dass jedes 2. Kleinkind ein gewisses selektives Ess-
verhalten mit einem Gipfel im frühen 3. Lebensjahr und einer steten Abnahme bis zum Schulalter zeigt.
6
Schlafverhalten
6.1
Schlafdauer und Mittagsschlaf
Der Schlafbedarf ist in jedem Alter und von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich (Abb. 10). Der individuelle Schlafbedarf ist eine relativ stabile Größe, d. h. dass Langschläfer in der Regel Langschläfer bleiben und Kurzschläfer auch später in ihrem Leben wenig
6
Wachstum und Entwicklung im Kleinkindalter
83
Abb. 10 Perzentilenkurven für die Gesamtschlafdauer per 24 Stunden in den ersten 18 Lebensjahren (nach Zürcher Longitudinalstudien, mod. nach Iglowstein et al. 2003)
Abb. 11 Häufigkeit des Tagschlafs (dunkle Balken 2 Tagschlafepisoden, helle Balken 1 Tagschlafepisode; nach Iglowstein et al. 2003)
schlafen. Zwillingsstudien bestätigen diesen Befund und zeigen, dass genetische Anlagen dabei eine große Rolle spielen. Erst mit der Anpassung der inneren Uhr an den 24-Stunden-Tag-Nacht-Wechsel und der Reifung der Schlafhomöostase kommt es im Verlauf des Kleinkindalters zu einer Umverteilung des Schlafs vom Tag in die Nacht. Es gelingt den Kindern tagsüber zunehmend längere Zeit wach zu sein, d. h. der homöostatische Schlafdruck baut sich langsamer auf. Mit der Zeit wird die Dauer des Tagschlafs kürzer, einzelne Episoden entfallen und schließlich bleibt der Tagschlaf im Vorschulalter ganz aus (Abb. 11). Im Gegenzug nimmt die Dauer des Nachtschlafs zu.
Wie oft und wie lange das einzelne Kind tagsüber schlafen soll, hängt von den biologischen Vorgaben der Schlafregulation (vor allem der Schlafhomöostase) und vom Erziehungsstil der Eltern ab. Als Regel gilt: Kinder sollen tagsüber so viel schlafen können, dass sie im Wachzustand zufrieden und an ihrer Umgebung interessiert sind. Weil der Schlafbedarf (d. h. Nachtschlaf plus Tagschlaf) unter gleichaltrigen Kindern so unterschiedlich ist, gibt es keine Regel, wie viel Schlaf ein Kind in einem bestimmten Alter benötigt. Für jedes Alter gilt aber: Ein Kind kann nur so viel schlafen, wie es seinem Schlafbedarf entspricht (Abb. 12). Muss es mehr Zeit im Bett verbringen, kann es
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O. Jenni
auf verschiedene Weise reagieren: Es kann am Abend nicht einschlafen, wacht morgens sehr früh auf oder ist nachts mehrmals für längere Zeit wach. Es kann für Eltern eine Hilfe sein, den Schlafbedarf ihres Kindes selbstständig oder unter fachlicher Anleitung zu erfassen und die Bettzeit entsprechend anzupassen. Die Erfahrung zeigt, dass gerade diejenigen Kinder Einschlafoder Durchschlafprobleme zeigen, die einen geringen Schlafbedarf haben. Es ist verständlich, wenn Eltern bevorzugen, dass ihr Kind am Abend früh ins Bett geht und lange schläft, damit sie genügend Zeit für Haushalt, Freizeitaktivitäten und die Paarbeziehung haben. Stellen sich die Eltern jedoch nicht auf den individuellen Schlafbedarf ihres Kindes ein, so resultieren oft hartnäckige Schlafstörungen. Eine Erhöhung des biologisch vorgegebenen und homöostatisch regulierten Schlafbedarfs durch verhaltenstherapeutische oder medikamentöse Maßnahmen ist nicht möglich.
6.2
Parasomnien
Unter Parasomnien versteht man ungewöhnliche Verhaltensmuster während des Schlafs oder des Schlaf-Wach-Übergangs. Parasomnien treten bei fast 40 % aller Kinder im Vorschulalter und weniger im Schulalter auf (Tab. 1). Typische Parasomnien sind das nächtliche Angsterschrecken (Pavor nocturnus), die weniger dramatische nächtliche Schlaftrunkenheit (confusional arousal), das Schlafwandeln, das Sprechen im Schlaf oder Angstträume (Alpträume). Typische Parasomnien für das Kleinkindalter sind rhythmische Bewegungen, vor allem des Kopfs, die vor dem Einschlafen beginnen und im Schlaf teilweise andauern. Rhythmische Bewegungsmuster beginnen meist im 1. Lebensjahr und enden spontan im 3. oder 4. Lebensjahr (Abb. 13). Der Pavor nocturnus grenzt sich von einem epileptischen Anfall durch folgende Eigenschaften ab: • • • • • •
Komplexes Verhaltensmuster Keine stereotypen Bewegungen Länger als 1 min Selten mehr als 2-mal pro Nacht Kein Auftreten in Gruppen Fast immer Auftreten im ersten Drittel der Nacht
Die Unterscheidung gelingt mit einer Videoaufzeichnung meist sehr zuverlässig.
Abb. 12 Erwartete Schlafdauer und Bettzeit. Entspricht die Bettzeit von 19:30 Uhr bis 7:30 Uhr dem effektiven Schlafbedarf (hellblauer Balken, 12 h), dann schläft das Kind durch. Stimmen Bettzeit und Schlafbedarf nicht überein, so kommt es zu verspätetem Einschlafen, frühem Aufwachen oder nächtlichen Wachphasen (blaue Balken, 10 h)
7
Kognitive Entwicklung
Nach Piaget geht im 2. Lebensjahr die sensomotorische Periode zu Ende und wird durch die präoperationale Periode abgelöst, die sich durch das Auftreten der sog. Symbolfunk-
Tab. 1 Pavor nocturnus und Angstträume Merkmal Schlafphase
Pavor nocturnus Partielles Aufwachen aus tiefem Schlaf (Non-REM-Stadium III)
Zeitliches Auftreten Erster Eindruck vom Kind Verhalten des Kindes
1–3 h nach dem Einschlafen Kind mit aufgerissenen Augen, außer sich
Verhalten des Kindes gegenüber Eltern Wiedereinschlafen Erinnerung Was tun als Eltern?
Sitzt im Bett, schlägt um sich. Rennt umher in bizarrer Manier. Gesichtsausdruck zeigt offensichtliche Angst, Zorn oder Verwirrung. Ausgeprägtes Schwitzen, jagender Puls, starkes Atmen. Verhalten normalisiert sich sofort nach Aufwachen Nimmt Eltern nicht wahr. Lässt sich nicht beruhigen. Stößt Eltern weg, schreit und schlägt um sich, wenn gehalten Rasch Keine Abwarten, nicht versuchen, Kind zu wecken. Vor Verletzungen schützen
Alter
1.–5. Lebensjahr
Angstträume Angstmachender Traum mit REM-Schlaf gefolgt von Aufwachen In der 2. Hälfte der Nacht Waches Kind weint oder ruft nach Eltern Weint und ist verängstigt. Angst dauert nach Aufwachen an
Nimmt Eltern sofort wahr, will getröstet werden. Oft verzögert Auch am folgenden Tag Zuwendung. Falls Bedürfnis mit Kind über Traum reden 3.–10. Lebensjahr
6
Wachstum und Entwicklung im Kleinkindalter
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tionen anzeigt. Die kognitive Entwicklung kann im Spielverhalten des Kindes (räumliches Spiel, Zeichnen, Kategorisieren, kausale Zusammenhänge erkennen, Symbolspiel) abgebildet werden (Abb. 14). Im Folgenden werden einige dieser kognitiven Entwicklungsschritte genauer dargestellt.
7.1
Figural-räumliche Vorstellung
Figural-räumliche Fähigkeiten entwickeln sich im Säuglingsund Kleinkindesalter, wenn das Kind seine Umgebung betrachtet, sich im Raum bewegt und sich mit Gegenständen beschäftigt. Ab dem 2. Lebensjahr setzt sich das Kind in seinem Spiel intensiv mit den räumlichen Beziehungen zwischen den Gegenständen auseinander. Diese Auseinandersetzung spiegelt sich in einer charakteristischen Abfolge von Spielverhalten wider (Abb. 14).
Abb. 13 Rhythmische Bewegungen in den ersten Lebensjahren (nach Klackenberg 1971)
Bis zum Alter von 5 Jahren sind die räumlichen Vorstellungen so weit entwickelt, dass das Kind die Raumdimensionen im Spiel konstruktiv umsetzen kann. Es baut z. B. aus Bauklötzen oder Legosteinen dreidimensionale Gebilde wie etwa ein Haus oder ein Flugzeug. Die Entwicklung der figural-räumlichen Wahrnehmung kann aber nicht nur qualitativ mit dem Spielverhalten des Kindes beobachtet, sondern bereits mit geeigneten Testmethoden untersucht werden (Abb. 15). Auch wenn man die figural-räumliche Wahrnehmung konkret testet, zeigt sich eine große Variabilität zwischen einzelnen Kindern. Während einige 5-jährige Kinder nur 15 Kärtchen in der richtigen Reihenfolge korrekt platzieren, so können andere Kinder bereits 32 Kärtchen richtig ordnen (Abb. 15).
7.2
Zeichnen
Ein besonderer Schritt in der kognitiven Entwicklung eines Kindes zeigt sich im Auftreten des Zeichnens (Abb. 16). Im 2. Lebensjahr erkennt das Kind die Funktion eines Stiftes und ergreift ihn mit der Hand (spontanes Kritzeln). Erste Vorformen von Zeichnungen werden auf ein Blatt Papier gekritzelt (spitzes Kritzeln). Das Kind entdeckt, dass seine Bewegungen sichtbare Spuren hinterlassen. Die zeichnerische Tätigkeit ist zu diesem Zeitpunkt ganz von schwungvollen Bewegungen des Oberkörpers bestimmt. Erst später im 2. Lebensjahr verlagert sich der Bewegungsdrehpunkt immer mehr vom Oberarm (spitzes Kritzeln), zum Ellenbogen (rundes Kritzeln) und schließlich auf das Hand- und die Fingergelenke (sinnunterlegtes Kritzeln). Ende des 2. und zu Beginn des 3. Lebensjahres können Kinder eine horizontale und vertikale Linie nachzeichnen. Aus dem Kreiskritzeln entwickelt sich im Folgenden eine erste geometrische Form: der Kreis. Die geometrischen
Raumspiel Leert Behälter Füllt Behälter Leert Fläschchen Kippt Fläschchen aus, imitativ Kippt Fläschchen spontan Turm mit 2 Würfeln Turm mit 4 Würfeln Zug mit 4 Würfeln Turm mit 8 Würfeln Mauer mit 4 Würfeln Brücke mit 3 Würfeln Erstes Auftreten 10%
90% 50%
0
12
18
24 Alter (Monate)
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48
Abb. 14 Räumliches Spielverhalten im Kleinkindalter als Spiegel der kognitiven Entwicklung (nach Zürcher Longitudinalstudien)
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Grundformen werden dann im Verlauf zu komplexeren Formen zusammengesetzt (z. B. zum Kreuz), die das Kind dann auch benennt. Ab dem 4. Lebensjahr verfügt es über erste konkrete Motive, die sich aus den Grundformen ableiten. Sie zeichnen dann einen sog. Kopffüßler, die erste Darstellung der menschlichen Gestalt (Abb. 17). Bis zum Kindergartenalter sind die meisten Kinder fähig, den Menschen mit den wichtigsten Körperteilen, aber auch Häuser und Bäume wiederzugeben. Die große Variabilität im zeichnerischen Gestalten zwischen Kindern wird nicht nur durch kognitive Fähigkeiten des Kindes (wie z. B. die figural-räumliche Vorstellungskraft, Gedächtnis, Aufmerksamkeit), sondern auch durch den Bildungsstand der Bezugspersonen, die Förderung sowie die motorischen Möglichkeiten eines Kindes maßgeblich beeinflusst.
7.3
Symbolspiel
Zwischen 12 und 18 Monaten macht das Kind einen ersten Schritt hin zur Entwicklung von sog. Symbolfunktionen.
Nach Piaget entsteht über die verzögerte Nachahmung eine innere Vorstellung einer Handlung. Diese innere Vorstellung ist unabhängig von den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten, in der das Kind die Handlung erlebt hat, und damit auf neue Situationen übertragbar. Dies ermöglicht dem Kind, eine Handlung, z. B. „mit dem Löffel zu essen“ nicht nur bei sich auszuführen. Es kann auch die Mutter oder die Puppe mit dem Löffel füttern (repräsentatives Spiel I). In einem weiteren Schritt stellt sich das Kind vor, dass die Puppe selbst mit dem Löffel isst (repräsentatives Spiel II). Anfang des 3. Lebensjahrs ist seine Vorstellungskraft schließlich so weit entwickelt, dass das Kind nicht nur einzelne Handlungen, sondern ganze Handlungsabläufe mit einer gemeinsamen Thematik darstellen kann (sequenzielles Spiel). Es spielt z. B. in der Puppenstube „essen am Familientisch“ oder „zu Bett gehen“ nach. Die Symbolfunktionen sind von ausschlaggebender Bedeutung für die Kognition, das Sozialverhalten und die Sprachentwicklung. In Abb. 18 sind die verschiedenen Spielformen mit Symbolcharakter aufgeführt.
7.4
Abb. 15 Entwicklung der visuellen Wahrnehmung (Aufgabe aus den Intelligenz und Entwicklungsskalen IDS-P, Kärtchen mit Bildern von unterschiedlich langen Buntstiften sollen in eine Rangreihe gebracht werden; nach Daten aus SPLASHY, Swiss Preschoolers’ Health Study)
Zeitverständnis
In den ersten 3 Lebensjahren verfügt das Kind über keine konkreten Zeitvorstellungen. Die Mutter kann ihrem 2-jährigen Kind nicht begreiflich machen, dass sie nur einige Minuten wegbleibt, wenn sie im Keller etwas holen möchte. Erste Zeitvorstellungen entwickeln sich im 4. Lebensjahr. Das Kind beginnt in diesem Alter einfache zeitliche Angaben wie „Nach dem Mittagsschlaf gehen wir auf den Spielplatz“ zu verstehen. Bis zum Schulalter dehnt sich das kindliche Vorstellungsvermögen auf immer größere Zeiträume aus. Ein 4- bis 5-jähriges Kind verfügt über Zeitvorstellungen, die sich über einige Tage erstrecken, und versteht Begriffe wie „gestern, heute und morgen“. Nummerische Zeitbegriffe (z. B. die Zeitdauer 10 Minuten oder die Uhrzeit 18 Uhr) versteht das Kind gewöhnlich erst ab etwa 8 Jahren (▶ Kap. 3, „Grundlagen der kindlichen Entwicklung“). Die Variabilität besonders in der Entwicklung des numerischen Zeitbegriffs ist allerdings sehr groß: Die einen Kinder können die Uhrzeit bereits mit 6 Jahren,
Zeichnen Kritzelt spontan Kritzelt spitz Kritzelt rund Zeichnet vertikal/horizontal nach Kreis Kreuz Erstes Auftreten 10%
90% 50%
0
12
24 Alter (Monate)
Abb. 16 Entwicklung des Zeichnens in den ersten Lebensjahren (nach Zürcher Longitudinalstudien)
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6
Wachstum und Entwicklung im Kleinkindalter
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andere erst mit 10 Jahren lesen. Eine Vorstellung von der Zeit zu haben, bedeutet allerdings nicht, sie auch korrekt interpretieren zu können. Dazu braucht es Fähigkeiten der Handlungsplanung und ausreichend ausgebildete exekutive Funktionen.
7.5
Exekutive Funktionen
Exekutive Funktionen zeigen im Kleinkindalter zwischen 3 und 6 Jahren einen eigentlichen Entwicklungsschub (Abb. 19). Diese kognitiven Fähigkeiten (▶ Kap. 3, „Grundlagen der kindlichen Entwicklung“) sind eine Voraussetzung, um Gedanken zu ordnen sowie Verhalten und Emotionen zu regulieren. Es werden grundsätzlich 3 Komponenten von exekutiven Funktionen beschrieben:
• die Reaktionshemmung (z. B. die selektive Aufmerksamkeit: Fokussierung auf ein wichtiges Merkmal und gleichzeitig Unterdrückung von irrelevanten Merkmalen, Abb. 19, links), • das Arbeitsgedächtnis (z. B. sich an [visuelle] Objekte [Abb. 19, rechts] oder an eine mündliche Anweisung von Erwachsenen erinnern) und • die geistige Flexibilität (z. B. zwischen Aufgaben wechseln, kreativ denken oder die Perspektive eines anderen einnehmen; ▶ Kap. 3, „Grundlagen der kindlichen Entwicklung“).
7.6
Der Ursprung dieser Fähigkeiten liegt in den konkreten Erfahrungen, die das Kind in den ersten Lebensjahren mit der gegenständlichen Umwelt macht. Mit etwa 2 Jahren realisiert es, dass Gegenstände aufgrund bestimmter Eigenschaften gleich oder verschieden sein können. Es sortiert oder gruppiert Spielsachen und Gegenstände nach bestimmten Eigenschaften. Diese Einsicht ist der Beginn des Kategorisierens, einer Grundfunktion des logischen Denkens (Abb. 20). Ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt in den kognitiven Fähigkeiten ist das Zahlenverständnis. Bereits das Neugeborene und der Säugling verfügen über eine – wenn auch noch beschränkte – Mengenvorstellung. Die erste Unterscheidung von Mengen, die das Kind im Verlauf des 3. Lebensjahres bewusst vornimmt, umfasst Vorstellungen wie „eines“ und „vieles“. Damit wird es dem Kind möglich, Einzahl und Mehrzahl von Hauptwörtern zu bilden. Frühestens im 4. und 5. Lebensjahr beginnt sich ein Zahlenbegriff einzustellen. Er bleibt vor dem Schuleintritt bei den meisten Kindern auf 1–5 beschränkt.
8
Abb. 17 Kopffüßler von Kindern zwischen 3 und 4,5 Jahren (mit freundl. Genehmigung aus Jenni 2013)
Logisch-mathematische Fähigkeiten
Sprachentwicklung
Das Sprachverständnis (rezeptive Sprache) ist im Kleinkindesalter weiter entwickelt als der sprachliche Ausdruck (expressive Sprache). In Abb. 21 sind die wichtigsten Meilensteine der expressiven und rezeptiven Sprache zusammengestellt.
Spiel mit Symbolcharakter Funktionelles Spiel Rollt Ball Repräsentatives Spiel 1 Als-ob-Spiel Repräsentatives Spiel 2 Sequentielles Spiel Erstes Auftreten 10%
0
12
90% 50%
Abb. 18 Spiel mit Symbolcharakter (nach Daten aus Largo und Howard 1979)
24 Alter (Monate)
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Abb. 19 Entwicklung von exekutiven Funktionen im Vorschulalter. Links Sortieren von Karten nach einem farblichen Merkmal (Enten mit gelbem versus weißem Schnabel) unter Zeitdruck. Ignorieren von irrelevantem Stimulus (gelbe Sonne) erschwert die Aufgabe. Rechts: Wiedererkennen von geometrischen Formen in einer Auswahl unterschiedlicher Formen mit veränderten Farben (Daten aus SPLASHY, erhoben aus den Intelligenz- und Entwicklungsskalen IDS-P)
Kategorisieren Legt 3-Formenbrett zurück Sortiert 3-Formenbrett Ordnet 3 Farben zu Sortiert nach Größen Konzept von 1 Erstes Auftreten 10%
0
12
90% 50%
18
24 Alter (Monate)
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48
Abb. 20 Kategorisieren im Kleinkindalter als Spiegel der kognitiven Entwicklung (nach Zürcher Longitudinalstudien, nach ZEPPELIN mittels Bayley-III)
8.1
Sprachverständnis
Gegen Ende des 1. Lebensjahres kann das Kind die Bezeichnung von Personen und Gegenständen verstehen, mit denen es täglich in Berührung kommt. Es reagiert sinngemäß auf Fragen wie „Wo ist Papa?“. Sagt die Mutter „nein“, hält das Kind – mindestens einen Augenblick lang – in seiner Tätigkeit inne. Zwischen 12 und 18 Monaten wächst das Interesse des Kindes an Gesprächen. Es hört aufmerksam zu, wenn Eltern und Geschwister miteinander sprechen. Gegen Ende des 2. Lebensjahres versteht das Kind Sätze wie „Wenn wir auf dem Spielplatz sind, darfst du mit dem Ball spielen.“ Kleinkinder haben eine große Vorliebe für Kinderreime. Sie können sie sich mühelos mithilfe von Melodie und rhythmischen Begleitbewegungen merken. Der Inhalt der Reime interessiert die Kinder dabei weit weniger.
8.2
Sprachausdruck
Anfang des 2. Lebensjahrs entwickeln die Kinder einen sog. Sprechjargon, der sich aus längeren Lautfolgen zusammensetzt und zumeist keine eigentlichen Wörter enthält. Das Charakteristische des Jargons ist, dass die Kinder Fluss,
Rhythmus und Tonfall der Umgebungssprache nachahmen. Die Kinder machen nicht nur die Sprechweisen der Familienangehörigen nach, sondern auch Umgebungslaute wie Hundegebell oder das Geräusch eines fahrenden Autos. Die ersten Wörter treten bei den meisten Kindern zwischen 12 und 18 Monaten auf. Bei vielen Kindern weist die frühe Sprachentwicklung einen sprunghaften Charakter auf: Der Wortschatz weitet sich nicht kontinuierlich, sondern in Schüben aus. Wenn der Wortschatz auf 20–50 Wörter angewachsen ist, beginnen die Kinder 2-Wort-Sätze zu bilden. Diese entstehen aus der Verbindung zweier Wörter, die nicht als ein Begriff auftreten, z. B. „Eva Schuhe“. Kinder zwischen 2–4 Jahren haben ein großes Interesse, die Namen von allen möglichen Gegenständen zu erfahren. Sie stellen den ganzen Tag „Was-Fragen“ und erwarten, dass die Eltern Auskunft geben. Eine Eigenheit der frühen Sprachentwicklung besteht darin, dass das Kind die Bedeutung eines Wortes überdehnt. Mit dem Wort „Kuh“ bezeichnet es z. B. alle größeren Tiere, also nicht nur Kühe, sondern auch Pferde, Schafe und Ziegen. Es neigt auch dazu, die Bedeutung eines Wortes einzuengen. So braucht es z. B. das Wort „Auto“ nur für das Fahrzeug der Familie, nicht aber für andere Autos. Die expressive Sprachentwicklung zwischen 2 und 5 Jahren weist die folgenden Merkmale auf:
6
Wachstum und Entwicklung im Kleinkindalter
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Sprache Rezeptiv Identifiziert 2 Bilder Identifiziert 2 Objekte Identifiziert 4 Objekte Zeigt auf 1 benanntes Körperteil Zeigt auf 4 benannte Körperteile Versteht einfache Aufforderung Versteht Präposition „in“ und „auf“ Versteht Präposition „unter“ Teile vom Auto/Hund Sprache Expressiv Plaudert 2-silbige Lautketten 4-silbig Papa/Mama gezielt 3 Worte (außer Papa und Mama) 50 Worte 2-Wort-Satz Verben Adjektive Artikel Präsens konjugiert Partizip Perfekt Hilfsverben Pronomen Präpositionen Quantitativa Mehrwortäußerung Benutzt seinen Namen Benutzt „Ich“ Fragewörter Benutzt Pluralformen Mehrwortäußerung Passiv Satzgefüge Erstes Auftreten 10%
90%
0
12
50%
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Abb. 21 Entwicklung von Sprachmeilensteinen (Sprachverständnis und Sprachausdruck) im Kleinkindalter (nach Zürcher Longitudinalstudien; mit freundl. Genehmigung von Szagun 2013)
• Eigenschaftswörter (Adjektive): Zweijährige Kinder verwenden kaum Eigenschaftswörter. Erst ab dem 3. Lebensjahr eignen sich die Kinder zunehmend Eigenschaftswörter an. • Tätigkeitswörter (Verben): Zweijährige Kinder verwenden nur die Infinitivform. Die Beugung (Konjugation) wie auch die verschiedenen Zeitformen der Tätigkeitswörter erwerben die Kinder im 3.–5. Lebensjahr. Voraussetzungen dafür sind, dass das Kind sich und andere Menschen als eigenständige Personen wahrnimmt, sowie über einen Mengen- und einen Zeitbegriff verfügt.
• Persönliche Fürwörter (Pronomen): Zweijährige Kinder sprechen von sich, indem sie ihren Vornamen benutzen. Im Verlauf des 3. Lebensjahres sind „mein“ und „mir“ diejenigen Pronomen, die die Kinder zuerst verwenden. Es folgen „du“ und schließlich „ich“. Mit den ersten Mengenvorstellungen erschließt sich den Kindern auch die Bedeutung der Wir-Form. • Kausalbegriffe: Ein Bewusstwerden von Kausalzusammenhängen setzt im 3. und 4. Lebensjahr ein. Die Kinder kommen ins „Fragealter“. Die Kinder stellen den ganzen Tag „Warum-Fragen“.
90
8.3
O. Jenni
Wichtiges für den kinderärztlichen Alltag
Spricht ein Kind im Alter von 24 Monaten noch keine 50 Wörter oder bildet noch keine 2-Wort-Sätze, dann bezeichnet man es als Late Talker und es sind weitere (besonders logopädische) Abklärungen indiziert. Eine Spracherwerbsstörung kann in diesem Alter jedoch noch nicht sicher diagnostiziert werden, da der Verlauf der Sprachentwicklung bei den Late Talkern sehr unterschiedlich ist. Manche Late Talker holen die Verzögerung bis sie 3 Jahre alt sind auf (Late Bloomer), andere bilden eine Spracherwerbsstörung aus oder zeigen sprachliche Auffälligkeiten. Mit dem Eintritt in den Kindergarten ist die Sprache bei den meisten Kindern so weit entwickelt, dass sie im täglichen Umgang in vollständigen, grammatikalisch korrekten Sätzen sprechen. Die Artikulation, wenn auch noch unvollständig, ist auch für Außenstehende gut verständlich. Die meisten Eltern spüren intuitiv, welche Wörter und Satzkonstruktionen ihr Kind versteht, und passen ihre Sprechweise seinem Sprachverständnis an. Der folgende Umgang mit dem Kind wirkt sich fördernd auf seine Sprachentwicklung aus: Die Eltern übernehmen nicht die Sprechweise des Kindes. Sie vereinfachen aber ihre Sprache so weit, dass das Kind sie versteht. Sie haben eine akzeptierende Grundhaltung, können gut zuhören und das Kind bestätigen. Sie korrigieren die inhaltliche Aussage und den Wahrheitsgehalt dessen, was das Kind sagt, nicht aber die grammatikalische Form. Sie berichtigen eine falsche Satzkonstruktion nur, wenn diese die Aussage unverständlich macht. Entscheidend für die Sprachentwicklung des Kindes sind das elterliche Interesse am Kind und ihre innere Bereitschaft zur Kommunikation. Kinder, deren Eltern zwei verschiedene Sprachen sprechen, können im Vergleich mit Kindern, die nur eine Sprache hören, eine langsamere Sprachentwicklung aufweisen. Die Verzögerung kann sich mit einem kleineren Wortschatz und einem einfacheren Satzbau bis ins frühe Schulalter bemerkbar machen. Dieser vorübergehende Nachteil sollte aber Eltern nicht davon abhalten, ihrem Kind mehr als eine Sprache zu vermitteln.
Weiterführende Literatur Bischof Köhler D (1989) Spiegelbild und Empathie. Huber, Bern Borbély AA (1982) A two process model of sleep regulation. Hum Neurobiol 1(3):195–204 Gallahue D, Ozmun J (2006) Understanding motor development: infants, children, adolescents, adults. McGraw-Hill, Boston Geissmann H, Fahrländer E, Margelist T, Jenni OG (2012) Wie entwickeln sich Late Talkers? In: Hellbrügge T, Schneeweiss B (Hrsg) Kinder im Schulalter. Klett-Cotta, Stuttgart, S 52–67 Gesell A, Amatruda CS (1947) Developmental Diagnosis. Hoeber, New York
Grob A, Reimann G, Gut J, Frischknecht MC (2013) Intelligence and Development Scales – Preschool (IDS-P). Intelligenz- und Entwicklungsskalen für Vorschulalter. Hans Huber, Bern Iglowstein I, Jenni OG, Molinari L, Largo RH (2003) Sleep duration from infancy to adolescence: reference values and generational trends. Pediatrics 111(2):302–307 Jenni OG (2013) Wie die Kinder die Welt abbilden – Was man daraus folgern kann. Pädiatr up2date 3:227–253 Jenni OG, Benz C (2011) Entwicklung der Schlaf-Wach-Regulation im Kindesalter: Ein Modell zum Verständnis von Schlafstörungen. In: Keller H (Hrsg) Handbuch für Kleinkindforschung, 4. Aufl. Hans Huber, Bern, S 1032–1056 Jenni OG, Latal B (2009) Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter. Kinderarztl Prax 80:180–188 Jenni OG, LeBourgeois MK (2006) Understanding sleep-wake regulation and sleep disorders during childhood: the value of a model. Curr Opin Psychiatry 19:282–287 Jenni OG, Zinggeler Fuhrer H, Iglowstein I, Molinari L, Largo RH (2005) A longitudinal study about bedsharing and sleep problems among Swiss children in the first 10 years of life. Pediatrics 115:233–240 Jenni OG, Caflisch J, Molinari L, Largo RH (2007) Sleep duration from age 1 to 10 years: variability and stability in comparison with growth. Pediatrics 120(4):e769–e776 Jenni OG, Benz C, Latal B (2011) Wenn die kindliche Entwicklung nicht im Gleichschritt verläuft – Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten besser verstehen. Pädiatr up2date 2:199–228 Jenni OG, Aziz C, Caflisch J, Rousson V (2013) Infant motor milestones: poor predictive value for outcome of healthy children. Acta Paediatr 102(4):e181–e184 Kakebeeke TH, Caflisch JA, Locatelli I, Rousson V, Largo RH, Jenni OG (2013) Neuromotor development from 3 to 5 years. Part 3: motor performance in preschool children. Dev Med Child Neurol 55(3):248–256 Klackenberg G (1971) A prospective longitudinal study on children. Data on psychic health and development up to 8 years of age. Acta Paediatr Scand 224:1–239 Lanfranchi A, Neuhauser A (2013) ZEPPELIN 0-3: Theoretische Grundlagen, Konzept und Implementation des frühkindlichen Förderprogramms „PAT –Mit Eltern Lernen“. Frühe Bildung 2(1):3–11 Largo RH (2017) Babyjahre. Piper, München Largo RH, Howard JA (1979) Developmental progression in play behavior of children between nine and thirty months. I: spontaneous play and imitation. Dev Med Child Neurol 21(3):299–310 Largo RH, Molinari L, von Siebenthal K, Wolfensberger U (1996) Does a profound change in toilet-training affect development of bowel and bladder control? Dev Med Child Neurol 38:106–116 Messerli-Bürgy M, Kakebeeke TH, Arhab A, Stülb K, Zysset A, LeegerAschmann CS, Schmutz EA, Fares F, Meyer A, Munsch S, Kriemler S, Jenni OG, Puder JJ (2016) The Swiss Preschoolers’ Health Study (SPLASHY): objectives and design of a prospective multi-site cohort study assessing psychological and physiological health in young children. BMC Pediatr 16(1):85 Michaelis R, Niemann G (2004) Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie. Grundlagen und diagnostische Strategien. Thieme, Stuttgart Piaget J (1975) Gesammelte Werke. Studienausgabe. Klett, Stuttgart Schmutz EA, Leeger-Aschmann CS, Radtke T, Muff S, Kakebeeke T, Zysset A, Messerli-Bürgy N, Stülb K, Meyer A, Arhab A, Munsch S, Jenni OG, Puder JJ, Kriemler S (2017) Correlates of preschool children’s objectively measured physical activity and sedentary behavior: a cross-sectional analysis of the SPLASHY study. Int J Behav Nutr Phys Act 14(1):1 Szagun G (2013) Sprachentwicklung beim Kind. Beltz, Weinheim/Basel
7
Wachstum und Entwicklung im Schulalter und in der Adoleszenz Oskar Jenni
1
Schulalter
Zwischen 6 und 12 Jahren eignet sich das Kind die grundlegenden Kulturtechniken an. Akademische Fähigkeiten und ein vielfältiges Wissen werden ihm besonders durch die Schule und andere Institutionen vermittelt. Die Beziehungen zu den Gleichaltrigen bekommen für das Schulkind eine immer größere Bedeutung, während es sich langsam von seinen Eltern abzulösen beginnt.
1.1
Wachstum
Die körperliche Entwicklung verläuft im Schulalter kontinuierlich weiter, aber mit etwas geringerer Intensität als in den ersten Lebensjahren. Die erste Streckung (mid-growth spurt) mit 7 Jahren fällt bei den meisten Kindern so schwach aus, dass sie nicht wahrgenommen wird. Die Körpergestalt bleibt während der mittleren Kindheitsperiode recht stabil. Die zweiten Zähne brechen ab dem 5.–7. Jahr bis ins Erwachsenenalter durch. Das lymphoide Gewebe kann im frühen Schulalter hypertroph sein; vergrößerte Tonsillen und Adenoide machen aber nur ausnahmsweise eine chirurgische Intervention erforderlich. Die Sexualorgane bleiben unreif.
1.2
Motorik
Im Verlaufe des Schulalters wird die Bewegungskoordination des Kindes immer besser und das Leistungsvermögen (z. B. das Tempo in einer motorischen Aufgabe) und die Kraft nehmen kontinuierlich zu (Abb. 1). Der unterschiedliche Kompetenzgrad, der dabei erreicht wird, ist von der familiären
Disposition, der Reifungsgeschwindigkeit und der Trainingsintensität abhängig und äußert sich in einer großen interindividuellen Variabilität motorischer Funktionen.
1.3
Beziehungs- und Sozialverhalten
Im Schulalter wird das Kind fähig, selbstständig Kontakt zu Erwachsenen und Gleichaltrigen aufzunehmen (Abb. 2). Diese Beziehungen werden für das Kind in dieser Altersperiode so wichtig, dass sich ein Mangel nachteilig auf sein Wohlbefinden und Selbstwertgefühl auswirkt. Das Schulkind hat eine innere Bereitschaft, sich auf fremde Erwachsene auszurichten und von ihnen zu lernen. Es braucht – im Gegensatz zum Kleinkind – seine Eltern oder andere Hauptbezugspersonen immer seltener als Vermittler. Das Schulkind ist nicht mehr auf die unmittelbare Nähe vertrauter Erwachsener angewiesen. Es braucht aber die Gewissheit, dass es jederzeit an eine Bezugsperson gelangen kann. Die Beziehung zu den Eltern bleibt die sichere Basis, von der aus das Kind außerfamiliäre Erfahrungen macht. Meilensteine der zunehmenden Unabhängigkeit sind Erfahrungen wie das erste Nächtigen im Hause eines Freundes oder die Teilnahme an einem Feriencamp. Das Schulkind braucht nicht nur die Zuwendung und Anerkennung von Eltern und Bezugspersonen wie Lehrern, sondern immer mehr auch von seinen Kameraden. Es ist darauf angewiesen, dass es mit seinen Fähigkeiten und Leistungen von ihnen akzeptiert wird und sich so die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sichern kann. Organisationen wie eine Sportgruppe bieten Gelegenheiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen außerhalb der Familie aufzubauen. Kinder können sich gegenseitig ein Gefühl von Nähe und Sicherheit geben. Tiefe und tragfähige Freundschaften sind nun möglich,
O. Jenni (*) Abteilung Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_6
91
92
O. Jenni
Abb. 1 a Geschwindigkeit sequenzieller Fingerbewegungen. Das Diagramm gibt die Zeit an, die Kinder zwischen 6 und 12 Jahren benötigen, um 5-mal die folgende Bewegungsabfolge durchzuführen: Der Daumen berührt nacheinander Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger und kleinen
Finger, 10., 50. und 90. Perzentile. b. Geschwindigkeit im Seitwärtshüpfen: 15 Sprünge; 10., 50. und 90. Perzentile (nach Kakebeeke et al. 2018)
1.4
Ernährungsverhalten
Das Ernährungsverhalten im Schulalter wird durch die Vorbildfunktion der Familie und durch das Verhalten von Gleichaltrigen wesentlich bestimmt. Fehlernährung von Schulkindern ist weit verbreitet. So bevorzugen Kinder oft Lebensmittel mit einer hohen Energiedichte (Junk Food und gesüßte Getränke). l
l
1.5 l
l
Abb. 2 Beziehungen im Schulalter
Freundschaften, die über Monate und Jahre andauern können. Aber auch Gegnerschaften und konflikthafte Beziehungen mit Gleichaltrigen gestalten das Beziehungsverhalten. Die neuen Medien haben in den letzten Jahren zu großen Veränderungen im Beziehungs- und Sozialverhalten von Kindern geführt. So lernen sie heute schon im Schulalter, mit Kameraden über das Smartphone zu kommunizieren, sich medial und online im Internet zu informieren, zu spielen und sich zu beschäftigen. Schulkinder verfügen heute über eine große Vielzahl neuer Möglichkeiten der Kommunikation und Beziehungsgestaltung, die sie gleichzeitig aber auch neuen „Gefahren“ aussetzen.
Schlafverhalten
Einschlafstörungen sind in dieser Altersperiode recht häufig, weil sich der Einschlafzeitpunkt im Schulalter immer mehr in den Abend und in die Nacht verschiebt. Außerdem können Schulschwierigkeiten und Beziehungsprobleme mit Gleichaltrigen Einschlafschwierigkeiten begünstigen. Ab dem Schulalter können die Merkmale der inneren Uhr zuverlässig mit Fragebogen erfasst werden. Als Chronotypus wird diejenige Eigenschaft bezeichnet, die uns zum Morgentyp („Lerche“) oder Abendtyp („Eule“) macht. Der Morgentyp wacht in der Regel frühzeitig auf, erreicht sein Leistungsmaximum bereits am frühen Morgen und legt sich in der Regel abends relativ frühzeitig schlafen. Der Abendtyp hingegen wacht morgens tendenziell später auf, ist erst am Nachmittag und Abend voll leistungsfähig und geht entsprechend spät ins Bett.
1.6
Kognition
In den ersten Schuljahren eignen sich die Kinder die grundlegenden akademischen Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben
7
Wachstum und Entwicklung im Schulalter und in der Adoleszenz
93
Abb. 3 Untersuchungsanordnung von Piaget zur Untersuchung der Mengenkonstanz. Das Schulkind erkennt, dass das Volumen gleich bleibt, wenn es von einem breiten und flachen Gefäss in ein hohes Gefäß umgegossen wird (nach Piaget 1975)
4.0
12 Jahre
3.5 9
3.0 Zählspanne
und Rechnen an. Im Verlauf benutzen sie diese Grundkenntnisse, um Wissen zu erwerben, Zusammenhänge zu verstehen und Probleme zu lösen. Im frühen Schulalter vollzieht sich der Wandel vom präoperationalen zum konkret logischen Denken. Das magische, egozentrische und wahrnehmungsgebundene Denken des Kleinkindes wird abgelöst durch ein erweitertes kognitives Verständnis. Das Schulkind versteht die Bedeutung von Regeln, vermag verschiedene Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen und seine Wahrnehmung durch logische Einsichten zu relativieren. Letzteres zeigt sich beispielsweise darin, dass für ein Schulkind, nicht aber für ein Kleinkind das Volumen einer Flüssigkeit konstant bleibt, wenn es von einem breiten und flachen Gefäß in ein hohes und schmales Gefäß umgegossen wird (Abb. 3). Neben diesen mehr qualitativen Entwicklungsschritten im Denken der Kinder verändern sich auch andere grundlegende kognitive Leistungen. So nimmt beispielsweise die Zeit, die für die Verarbeitung von Informationen bei kognitiven Aufgaben nötig ist stark ab (z. B. die Zählgeschwindigkeit). Das führt unter anderem auch dazu, dass das Schulkind zunehmend mehr Gedächtnisinhalte (z. B. eine längere Zählspanne) behalten kann (Abb. 4). Auch die exekutiven Funktionen werden immer besser, die Aufmerksamkeitsleistung nimmt zu und ebenso die Fähigkeit ablenkende Reize zu kontrollieren. Die interindividuelle und intraindividuelle Variabilität von Körpergröße, kognitiven Fähigkeiten, schulischen Fertigkeiten, Bewegungsverhalten und sprachlichen Kompetenzen ist im Schulalter sehr groß. Leistungsversagen und -verweigerung sowie sekundäre Verhaltensauffälligkeiten, wie motorische Unruhe, vermehrte Aggressivität und gestörtes Beziehungsverhalten, treten darum gehäuft auf. Kinder, die an solchen Störungen leiden, müssen diesbezüglich umfassend abgeklärt werden. Dazu gehört eine sorgfältige Beurteilung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und die Erfassung von Teilleistungsschwächen, wie einer Leserechtschreibstörung (Legasthenie) oder einer Rechenstörung (Dyskalkulie), sowie die Untersuchung
11 10
2.5
8 7
2.0 1.5 6 Jahre 1.0 0.5
500 400 300 Zahltempo (Milisekunden)
200
Abb. 4 Beziehung zwischen Zählgeschwindigkeit und Zählspanne in Abhängigkeit vom Alter (nach Case et al. 1982)
der motorischen, sprachlichen und sozialen Kompetenzen. Insbesondere müssen die Erwartungen und Erziehungsvorstellungen der Eltern und Lehrer in Erfahrung gebracht werden. Interventionen sollten neben therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen besonders darin bestehen, die schulischen Anforderungen den individuellen Fähigkeiten des Kindes anzupassen und das Umfeld so zu gestalten, dass das Kind seine Stärken einsetzen und positive Lernerfahrungen machen kann (▶ Kap. 3, „Grundlagen der kindlichen Entwicklung“).
1.7
Sprache
Die formale Sprachentwicklung ist im frühen Schulalter weitgehend abgeschlossen. Geringfügige Auffälligkeiten in Artikulation und Syntax kommen aber bei 5–10 % der Kinder noch vor. In der Grundschule geht es besonders darum, die Kompetenzen der gesprochenen Sprache weiter auszuweiten
94
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und auf die geschriebene Sprache zu übertragen (Lesen und Schreiben).
2
Adoleszenz
In der Adoleszenz werden Entwicklung und Wachstum abgeschlossen. Zuvor macht der Organismus einen letzten Entwicklungsschub durch. Ein hormonell ausgelöster Reifungsprozess bewirkt einen Wachstumsspurt, einen Gestaltwandel und das Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale. Die kognitiven Fähigkeiten erweitern sich um neue Denkkategorien. Im Bindungs- und Sozialverhalten findet ein tiefgreifender Umbruch statt.
Tab. 1 Definition der Pubertätsmerkmale. Abkürzungen wie B2 oder P3 bezeichnen das Alter, bei dem eine Weiterentwicklung von einem bestimmten Pubertätsstadium zum nächsten stattfindet (nach Tanner 1962) Stadium Pubesbehaarung (P) (beider Geschlechter)
PH1
PH2 PH3
PH4
PH5
2.1
Wachstum PH6
Die Pubertätsentwicklung kann anhand der Tanner-Stadien festgehalten werden (Tab. 1). Das Hodenvolumen kann mit dem Orchidometer durch vergleichende Palpation geschätzt (Abb. 5) oder durch eine Sonografie exakt bestimmt werden.
Wachstum und Pubertät bei Mädchen Der pubertäre Wachstumsschub setzt bei den Mädchen im Mittel mit 9,6 Jahren ein, erreicht seinen Gipfel mit 12,2 Jahren und findet seinen Abschluss zwischen 15 und 16 Jahren (Abb. 6). Die Mädchen erreichen 99 % der Erwachsenengröße im Mittel mit 15,3 Jahren. Die Entwicklung der Pubesbehaarung setzt bei einem mittleren Alter von 10,4 Jahren ein (P2). Sie wird gefolgt von der Brustentwicklung (B2: 10,9 Jahre) und der Axillarbehaarung (A1: 12 Jahre). Während sich das Auftreten dieser 3 Pubertätsmerkmale über mehrere Jahre hinzieht, finden alle 3 Merkmale etwa gleichzeitig ihren Abschluss, nämlich bei einem mittleren Alter von 13,9–14 Jahren. Die Pubesbehaarung tritt bei den meisten Mädchen zuerst auf, gefolgt von der Brustentwicklung und der Axillarbehaarung; Axillarbehaarung und Menarche treten nie als 1. Merkmal auf (Tab. 2). Selten wird als Entwicklungsvariante eine isolierte Schambehaarung/Achselbehaarung oder Brustentwicklung im vorpubertären Alter beobachtet (prämature Pubarche/Axillarche oder Thelarche). Das durchschnittliche chronologische Alter der Menarche beträgt derzeit 12,8 Jahre. Alle Mädchen haben zum Zeitpunkt der Menarche den Gipfel des pubertären Wachstumsschubs überschritten. Mit der Menarche ist die Phase der größten Längenzunahme abgeschlossen. Ein männlicher Behaarungstyp (P6) wird bei etwa 20 % der Mädchen bis zum 18. Lebensjahr beobachtet. In diesem Alter ist bei allen Mädchen die Axillarbehaarung voll entwickelt (A3). Gesichtsakne tritt frühestens mit 11,5 Jahren auf, kommt in den folgenden Jahren bei 50 % der Mädchen vor
Brustentwicklung (B) Mädchen
B1 B2
B3
B4
B5
Genitalentwicklung (G) Jungen
G1
G2
G3
G4
G5 Axillarbehaarung (AH)
AH1 AH2 AH3 AH4
Merkmale Pubes nicht weiter entwickelt als Behaarung der Bauchhaut. Eigentliche Schamhaare fehlen Spärliches Wachstum einzelner langer, pigmentierter Haare Behaarung beträchtlich dunkler, gröber und stärker gelockt. Spärliche Ausbreitung über das Schamdreieck Behaarung ähnelt dem ErwachsenenTyp, jedoch erheblich geringere Ausbreitung und kein Übergreifen auf Oberschenkel Erwachsenenbehaarung mit horizontaler oberer Begrenzung und Ausbreitung auf die Oberschenkel Wie PH5, jedoch mit zusätzlicher Ausbreitung entlang der Linie alba (männlicher Behaarungstyp) Ausschließliches Hervortreten der Mamille Brustknospe, halbkugelige Vorwölbung im Bereich des Warzenhofs, der sich im Durchmesser vergrößert Weitere Vergrößerung über den Warzenhof hinaus, ohne Trennung ihrer Konturen Weitere Vergrößerung mit gesonderter Vorwölbung im Bereiche des Warzenhofs Reife Brust, Zurückweichen der Warzenhofvorwölbung in die allgemeine Brustkontur Testes, Skrotum und Penis haben die gleiche Größe wie in der früheren Kindheit Vergrößerung von Skrotum und Testes. Strukturveränderung und Rötung der Skrotalhaut. Penis unverändert Vergrößerung des Penis, zunächst hauptsächlich in der Länge. Weiteres Wachstum von Skrotum und Testes Dickerwerden des Penis und Entwicklung der Glans. Dunkelfärbung der Skrotalhaut Erwachsenengröße und -form des Genitales Keine Spärlich Mäßig Ausgedehnt
und ist nach dem 16. Lebensjahr rückläufig. 81 % aller Mädchen weisen zwischen 11 und 18 Jahren Akne unterschiedlichen Schweregrades und Dauer auf. Striae an den Hüften werden frühestens bei 12-jährigen Mädchen beobach-
7
Wachstum und Entwicklung im Schulalter und in der Adoleszenz
Abb. 5 Orchidometer (aus Prader et al. 1989)
Tab. 2 Zuerst auftretende Pubertätsmerkmale bei Mädchen und Jungen (nach Largo und Prader 1983a, b) Mädchen Pubesbehaarung Pubesbehaarung und Brustentwicklung Brustentwicklung
% 53 29
Jungen Genitalentwicklung Hodenvolumen 3 ml
% 41 20
18
17
Menarche
0
Genitalentwicklung und Pubesbehaarung Genitalentwicklung und Hodenentwicklung 3 ml Pubesbehaarung Genitalentwicklung, Pubesbehaarung und Hodenvolumen 3 ml
0
9 8 5
tet. Bis zum 18. Lebensjahr treten sie bei insgesamt 41 % der Mädchen auf. Die verschiedenen Pubertätsstadien können außerordentlich variabel eintreten (Tab. 3). Die Standardabweichungen reichen von 0,9–1,3 Jahre und die Streubereiche von 5–6,5 Jahre. So können die Pubesbehaarung und die Brustentwicklung bei einigen Mädchen bereits im Alter von 8–9 Jahren auftreten, bei anderen ist dies erst im Alter von 13–15 Jahren der Fall. Die Menarche kann frühestens zwischen 9 und 10 Jahren, spätestens zwischen 16 und 17 Jahren beobachtet werden. Die Entwicklung der Pubesbehaarung dauert im Mittel 3,6 Jahre, die Dauer der Brustentwicklung beträgt im Mittel 3,2 Jahre. Im Einzelfall kann die Entwicklungsdauer weniger als 1 Jahr oder aber auch mehr als 6 Jahre betragen (Tab. 4). Die Entwicklung der Pubesbehaarung und der Brustentwicklung sind signifikant miteinander korreliert. Zwischen dem Auftreten der Pubesbehaarung bzw. der Brustentwicklung und dem Erscheinen der Menarche verstreichen im
95
Mittel 2,7 bzw. 2,2 Jahre. Dieses Intervall kann weniger als 1 Jahr oder aber bis zu 6,5 Jahre betragen. Die außerordentlich große Streuung im zeitlichen Auftreten der Pubertätsmerkmale wie auch in der Dauer der Pubertätsentwicklung führt dazu, dass zwischen 12 und 15 Jahren die meisten Mädchen sich in einem intermediären Stadium der Pubertätsentwicklung befinden; einige Mädchen sind körperlich bereits voll ausgereift und andere noch nicht in die Pubertätsentwicklung eingetreten. Diese großen interindividuellen Unterschiede in der somatischen Entwicklung können erhebliche psychosoziale Auswirkungen haben. Zwischen den Pubertätsmerkmalen, dem Längenwachstum und der Knochenreifung bestehen signifikante Beziehungen. Für ein bestimmtes Stadium der Pubesbehaarung befinden sich 80–90 % der Kinder in 2 benachbarten Bruststadien. So weisen beispielsweise 87 % der Mädchen, die ins Stadium P3 eintreten, ein Stadium B2 oder B3 auf. Die Gesichtsakne setzt bei der Mehrheit der Mädchen im Stadium 4 und 5 der Brustentwicklung ein. Zum Zeitpunkt des Auftretens der Schambehaarung und der Brustentwicklung haben die Mädchen im Durchschnitt 85,1 bzw. 87,2 % der Erwachsenengröße erreicht (Tab. 5). Dies entspricht einem verbleibenden Längenwachstum von durchschnittlich 24,5 bzw. 21,1 cm. Zu berücksichtigen sind wiederum die großen Standardabweichungen. Der Gipfel des pubertären Wachstumsschubs wird von den meisten Mädchen im Stadium 2 und 3 der Pubesbehaarung und Brustentwicklung erreicht (Tab. 6). Beim Eintreten der Menarche befinden sich 20–30 % der Mädchen im Stadium 3 der Pubesbehaarung und Brustentwicklung, etwa 40 % im Stadium 4 und wiederum 20–30 % im Stadium 5 (Tab. 7). Zwischen Menarche und Knochenalter besteht eine engere Korrelation als zwischen Menarche und chronologischem Alter. Die Menarche tritt bei einem mittleren Knochenalter von 13,2 Jahren auf; die Standardabweichung ist deutlich kleiner als zwischen Menarche und chronologischem Alter (0,7–1,1 Jahre). Die Menarche setzt bei 90 % der Mädchen bei einem Knochenalter von 12,5–14,5 Jahren ein. Die pubertäre Gewichtszunahme beträgt etwa 40 % des Erwachsenengewichts. Sie hinkt um einige Monate hinter dem Längenwachstum her. Der Adoleszente streckt sich zuerst und legt erst dann an Fülle zu. Bei den Mädchen nimmt vor allem das Fettgewebe und bei den Jungen das Muskelgewebe zu. Nach Frisch und Revelle setzt die Menarche bei einem mittleren Körpergewicht von 48 kg ein (Streuung: 33,3–72,5 kg). Die mittlere Größe bei der Menarche beträgt 156,9 cm, was einer erreichten Erwachsenengröße von 95,3 % entspricht oder einem verbleibenden Größenwachstum von durchschnittlich 7,8 cm. Im Einzelfall können diese Werte wiederum außerordentlich variieren. So gibt es Mädchen, die zum Zeitpunkt der Menarche weniger als 90 % ihrer Erwachsenengröße erreicht haben; sie werden nach der Menarche noch bis zu
96
O. Jenni
18 cm wachsen. Andere Mädchen weisen bereits 99,2 % ihrer Erwachsenengröße auf; das verbleibende Größenwachstum beträgt lediglich noch 1,4 cm. Im ersten Jahr nach der Menarche beträgt die Zykluslänge bei 70 % der Mädchen 21–35 Tage, bei 7 % der Mädchen weniger als 21 Tage und bei 23 % mehr als 35 Tage (Tab. 8). Mit zunehmendem gynäkologischem Alter nimmt die Zahl der kurzen wie auch der sehr langen Zyklen ab. Diese Regulierung der Menstruationszyklen geht mit einer Zunahme der ovulatorischen Zyklen einher. Im 1. Jahr nach der Menarche weisen lediglich 14 % der Mädchen ovulatorische Zyklen auf. Bis zum Ende des 2. Jahres sind es bereits 50 % und im 5. Jahr 87 % der Mädchen. Damit hat sich bei den meisten Mädchen die Geschlechtsreife eingestellt.
Abb. 6 Mittleres Auftreten der Pubertätsmerkmale bei Mädchen/ Jungen (nach Largo und Prader 1983a, b)
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Wachstum und Pubertät bei Jungen Bei den Jungen setzt die Pubertätsentwicklung mit einer Vergrößerung der Hoden von einem präpubertären Volumen von 1–2 auf mindestens 3 ml ein (Abb. 6 und 7 sowie Tab. 3). Der Hodenvergrößerung folgt die Entwicklung des Genitales sowie der Pubes- und Axillarbehaarung. Ejakulationen treten erstmals im letzten Drittel der Pubertätsentwicklung auf. Der Gipfel des pubertären Wachstumsschubs stellt sich mit etwa 14 Jahren ein. Der Stimmbruch tritt immer nach dem Gipfel auf. Die Erwachsenengröße wird im Mittel mit 17 Jahren erreicht. Akne wird bei 30 % der Jungen bis zum 18. Lebensjahr beobachtet. Die Entwicklung des Bartwuchses und der Körperbehaarung setzt sich bis ins 3. Dezennium fort.
7
Wachstum und Entwicklung im Schulalter und in der Adoleszenz
97
Tab. 3 Normalwerte der Pubertätsentwicklung (nach Largo und Prader 1983a, b)
Gipfel des pubertären Wachstumsschub Pubesbehaarung PH2 PH3 PH4 PH5 Brustentwicklung B2 B3 B4 B5 Genitalentwicklung G2 G3 G4 G5 Menarche Stimmbruch Hodenwachstum
Mädchen Mittleres Auftreten (Jahre) 12,2
Standardabweichung (Jahre) 0,8
Streubereich (Jahre) 9,5–15,0
10,4 12,2 13,0 14,0 10,9 12,2 13,2 14,0
1,2 1,2 1,1 1,3 1,2 1,2 0,9 1,2
8,0–14,0 9,5–15,0 10,0–16,0 11,5–17,5 8,0–14,5 9,0–15,5 10,0–15,5 12,0–18,0
12,8
1,1
Jungen Mittleres Auftreten (Jahre) 13,9
Standardabweichung (Jahre) 1,0
Streubereich (Jahre) 11,5–16,0
12,2 13,2 14,1 14,9
1,5 1,2 1,0 1,1
9,0–15,5 10,0–16,0 11,0–16,5 12,5–17,5
11,2 12,9 13,8 14,7
1,5 1,2 1,1 1,1
8,5–15,5 10,0–16,0 11,5–16,5 12,5–7,5
14,6 11,8
1,1 0,9
12,0–17,0 9,5–15,5
15,3
1,2
12,5–18,5
10,0–17,0
Beginn (3 ml) Ende
B Brustentwicklung, G Genitalentwicklung, P Pubesbehaarung Tab. 4 Dauer der Entwicklung von Pubesbehaarung und Brustentwicklung sowie zeitliche Beziehung zur Menarche (nach Largo und Prader 1983a, b) Merkmal Pubesbehaarung Brustentwicklung
Mittlere Abweichung (Jahre) 3,6 2,7 3,2 2,2
P2–5 P2–M B2–5 B–M
Standardabweichung (Jahre) 1,1 1,1 1,4 1,1
Streubereich (Jahre) 1,0–6,5 0,5–4,9 0,5–6,5 0,2–6,5
B Brustentwicklung, M Menarche, P Pubesbehaarung Tab. 5 Verbleibendes Wachstum bei Auftreten von Pubesbehaarung und Brustentwicklung (nach Largo und Prader 1983b) P2 Mittelwert 85,1 24,5
Größe/Wachstum Erreichte Erwachsenengröße (%) Verbleibendes Wachstum (cm)
Standardabweichung 3,0 5,1
B2 Mittelwert 87,2 21,1
Standardabweichung 2,9 5,0
B Brustentwicklung; P Pubesbehaarung Tab. 6 Prozentuale Verteilung der Pubesbehaarung und Brustentwicklung zum Zeitpunkt des pubertären Wachstumsgipfels (nach Largo und Prader 1983b) Merkmal Pubesbehaarung (%) Brustentwicklung (%)
Stadium 1 4 5
Stadium 2 37 43
Die Pubertätsentwicklung der Jungen ist wie bei den Mädchen durch eine große Variabilität bezüglich Zeitpunkt und Dauer gekennzeichnet (Tab. 3 und 4). Im Alter von 12–15 Jahren sind gleichaltrige Jungen sehr unterschiedlich weit
Stadium 3 49 47
Stadium 4 10 2
Stadium 5 3
entwickelt. Die Mehrheit steht mitten in der Pubertätsentwicklung, einige Jungen sind bereits geschlechtsreif und andere weisen noch keine sekundären Geschlechtsmerkmale auf. Eine erhebliche körperliche Entwicklungsverzögerung
98
O. Jenni
Tab. 7 Prozentuale Verteilung der Pubesbehaarung und Brustentwicklung zum Zeitpunkt der Menarche (nach Largo und Prader 1983b) Merkmal Pubesbehaarung (%) Brustentwicklung (%)
Stadium 1 0
Stadium 2 3
Stadium 3 20
Stadium 4 46
Stadium 5 31
0
5
31
40
24
Tab. 8 Zyklusdauer und Auftreten ovulatorischer Zyklen in Abhängigkeit vom gynäkologischen Alter (nach Apter und Vihko 1977)
Zykluslänge 35 Tage (%) Ovulatorische Zyklena (%) a
Gynäkologische Alter (Jahre) 0 1 2 7 4 4 70 76 77 23 19 19 14 38 50
3 3 81 15 48
4 3 81 16 64
5 3 88 9 87
Serumprogesteron 14 Lebenstage, mit graugrüner Hautfärbung), dunklem Urin und entfärbten Stühlen manifestiert. Aufgrund der neuen Kinder-Richtlinie muss bei U2, U3 und U4 im Rahmen der Anamnese die Stuhlfarbe des Kindes von den Eltern erfragt werden. Da die U2 bei den meisten Kindern bereits am 3. oder 4. Lebenstag durchgeführt wird, ist die Stuhlfarbe in der Regel noch unauffällig. Daher sollte eine Stuhlfarbkarte mitgegeben und die Eltern aufgefordert werden, sich bei entfärbten Stühlen unverzüglich beim Arzt zu melden. Die Stuhlfarbkarte wird nicht von den KVen zur Verfügung gestellt, sondern muss anderweitig bestellt werden (z. B. unter www.bvkj-shop.de oder www.basca.ch (Abb. 2).
4.8
Screening auf konnatale Hüftdysplasie
Hüftdysplasien können unbehandelt zu mangelnder Ausbildung der knöchernen Hüftpfanne und konsekutiv zur Früharthrose führen. Das Screening wird heute sonografisch nach Graf durchgeführt. Dieses muss bei der U3 allen Eltern für ihre Kinder angeboten werden und erfordert eine Qualifikation, die von Pädiatern und Orthopäden erworben werden kann. Für den Einsatz im GKV-System sind neben dieser Qualifikation eine Genehmigung und ein zertifiziertes Sonografie-Gerät erforderlich. Das universelle Screening besteht in einer klinischen Untersuchung der Hüftgelenke auf Beweglichkeit (insbesondere Abduktionshemmung) ohne Subluxationsversuch nach Barlow und auf Beinlängendifferenz bei U2 und U3 sowie der Hüftsonografie in der 4.–5. Lebenswoche (Toleranzzeit bis zur 8. Lebenswoche entsprechend U3).
112
B. Lawrenz
Abb. 2 Stuhlfarbkarte (© 2018 Universitätsspital Genf. Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ohne Zustimmung des Autors nicht gestattet. Dient nur zu Informationszwecken)
STUHL-FARBEN-KARTE
normal
Die Stuhlfarbe Ihres Neugeborenen 1
Liebe Eltern, Beobachten Sie die Stuhlfarbe Ihres Neugeborenen! Manche
2
Wie auch immer die Stuhlfarbe Ihres Kindes ist, bringen Sie diese Karte in die erste Konsultation bei Ihrem Kinderarzt vor Ende des ersten Lebensmonates. 3
und der Urin stark gelb wird, muss
4
kontaktieren. Sie finden auch weitere Informationen auf der Webseite www.basca.ch.
5
Geburtsdatum Datum der Stuhlprobe 6
Name des Kindes
Geschlecht m w
Vorname 7 © 2018 Universitätsspital Genf. Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ohne Zustimmung des Autors nicht gestattet. Dient nur zu Informationszwecken.
4.9
Screening auf Augenfehlbildungen, Augenmotilitätsstörungen und Refraktionsfehler
Für die Reifung eines normalen Sehvermögens sind neuronale Entwicklungsprozesse notwendig, die nur stattfinden, wenn in der Sehrinde regelmäßig adäquate Reize ankommen. Störungen, die dies verhindern, führen zur Amblyopie, deren Leitsymptom die verminderte Sehschärfe ist. Eine Visus-Bestimmung ist meist gegen Ende des 3. Lebensjahres, manchmal erst später möglich. Eine Amblyopie ist
anormal
durch Entfernung des Sehhindernisses und Training des Auges behandelbar. Je später die Behandlung beginnt, umso geringer die Reversibilität und größer der erforderliche Therapieaufwand. Schwere Störungen der Netzhautabbildung müssen schon in den ersten Lebenswochen behandelt werden, um eine irreversible Amblyopie zu vermeiden. Zur frühen Detektion amblyogener Störungen wird bei U2 und U3 ein Durchleuchtungstest (Transilluminationstest) mit einem Ophthalmoskop an jedem Auge einzeln aus 10–30 cm Entfernung durchgeführt (sog. Prüfung im durchfallenden Licht), um Trübungen der brechenden Medien zu erkennen,
8
Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen
113
Abb. 3 Konnatale Katarakt im rechten Auge (mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. med. Michael Gräf, Gießen)
die im Auflicht einer Visitenlampe nicht sichtbar sind (Abb. 3). Ziel ist die Diagnose der konnatalen Katarakt, die ohne frühzeitige Operation. Um dies zu verhindern, muss die Operation einer konnatalen Katarakt sehr früh erfolgen. Der Verdacht auf eine Katarakt beim Neugeborenen ist ein ophthalmologischer Notfall und erfordert die sofortige Vorstellung beim Augenarzt. Ab U4 wird der Durchleuchtungstest nach Brückner bei jeder U bis zur U7 mit einem Ophthalmoskop aus der Ferne (3–4 m Abstand) und aus der Nähe (20–50 cm Abstand) durchgeführt und der Fundus-Reflex beider Augen im simultanen Seitenvergleich beurteilt. Ein verminderter Reflex kann eine Trübung der brechenden Medien, eine Pigmentstörung der Retina, eine intraokuläre Raumforderung oder eine Netzhautablösung als Ursache haben. Eine Seitendifferenz des Reflexes wird aber auch durch Anisometropie oder Strabismus verursacht (Abb. 4). Anisometropie ist schon bei einem Seitenunterschied des Brechkraftfehlers von 2 dpt erkennbar. Dazu dient die Prüfung aus 3–4 m Entfernung. Die Pupille des stärker fehlsichtigen Auges leuchtet dann weniger hell. Bei dunkelhäutigen Kindern ist der Reflex infolge der stärkeren Pigmentierung des Augenhintergrundes abgeschwächt, sodass die Beurteilung schwieriger sein kann. Ein Schielwinkel unter 6 (Mikrostrabismus) allein, ohne Anisometropie, ist mit dem Brückner-Test meist nicht feststellbar, ebenso wenig mit einem elektronischen ScreeningAutorefraktometer. Ein Mikrostrabismus stört die binokulare Kooperation und ist daher mit einem Stereotest erkennbar. Der Einsatz eines elektronischen Screening-Autorefraktometer kann dennoch sinnvoll sein. Dieses misst im Prinzip das gleiche wie der Brückner-Test, kann aber eventuelle Schielwinkel, Ametropien und Astigmatismus quantifizieren und ist weniger von der Erfahrung des Untersuchers abhängig. Der Test kann bei Kindern ohne familien- und eigenanamnestischen Risiko für eine Sehstörung um den 2. Geburtstag angeboten werden, ansonsten auch früher. Risikofaktoren für eine Sehstörung sind Refraktionsfehler, Strabismus und potenziell erbliche Augenerkrankungen in der Herkunftsfamilie sowie beim Kind Frühgeburt, neurologische oder metabolische Erkrankungen, Entwicklungsstörungen, Auffälligkeiten der Augen auf Fotos (insbesondere fehlender oder seitendifferenter Rotreflex in frontalen Blitzlichtaufnahmen!) und von den Eltern vermutete Sehstörungen.
Abb. 4 Hyperopie des rechten Auges: Aus der Ferne erscheint der Fundusreflex am stark fehlsichtigen Auge dunkler (mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. med. Michael Gräf, Gießen)
Natürlich muss bei jeder U ab U2 das Auge zusätzlich auf morphologische Auffälligkeiten, wie Ptosis, Kolobome und Bulbusgröße bzw. Hornhautdurchmesser sowie auf Nystagmus inspiziert werden. Laut Kinder-Richtlinie kommt von U4–U6 die Untersuchung der Blickfolge zur Detektion einer Fixationsschwäche hinzu, ab U6 Größe, Form und Lichtreaktion der Pupillen, ab U7a die Symmetrie der Lichtreflexe auf der Hornhaut (Hirschberg-Test, Abb. 5) sowie ab U6 die Beachtung einer Kopffehlhaltung im Sinne eines Torticollis ocularis als mögliches Zeichen z. B. angeborener Fehlinnervationssyndrome. Bei U7a, U8 und U9 sind zusätzlich ein Stereotest und eine Visus-Bestimmung vorgesehen. Der Stereotest dient – wie bereits erwähnt – zur indirekten Aufdeckung manifesten Schielens. Zwar sind laut Kinder-Richtlinie Lang-Test 1 und
114
B. Lawrenz
Abb. 5 Hirschberg-Test. Oben: Normalbefund mit symmetrischer Lage der Hornhautspiegelbilder vor beiden Pupillen. Unten: Esotropie. Das Spiegelbild am schielenden Auge ist entgegen der Schielrichtung verschoben. Außerdem erkennt man im Bild den unterschiedlich hellen Fundusreflex (analog zum Brückner-Test) (mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. med. Michael Gräf, Gießen)
2, Titmus-Test (mit Polarisationsbrille und Fliege) und TNO-Test (mit Rot-Grün-Brille) erlaubt, aber der Lang-Test 1 sollte bevorzugt werden, da dessen Sensitivität höher ist als die der anderen Tests. Wenn die Stereogramme (Katze, Auto, Stern) erkannt werden, ist manifestes Schielen sehr unwahrscheinlich. Werden sie nicht benannt oder gezeigt, kann eine Störung des Binokularsehens bestehen oder die Mitarbeit ist noch nicht ausreichend. Der Visus wird für beide Augen monokular idealerweise mit Lea-Symbolen (Abb. 6) in 3 m oder dem C-Test nach Haase in 5 m Entfernung geprüft, am einfachsten, indem das Kind die Symbole benennt bzw. die Öffnung der Cs mit der Hand anzeigt (nonverbale Strategie, auch als Formenwiedererkennungstest mit Lea-Symbolen, Sheridan-Gardiner- oder Hohmann/Haase-Test möglich). Die Abdeckung des anderen Auges soll nicht durch die Hand der Mutter oder gar des Kindes erfolgen, sondern durch ein Okklusionspflaster (für Untersuchungen weniger stark klebend verfügbar als für die Therapie) oder durch eine kindgerechte einseitig okkludierende Brille. Um die U9, spätestens mit 6 Jahren, sollte ein Visus von 1,0 erreicht sein. Bedeutsamer als der Absolutwert ist die Visus-Differenz zwischen beiden Augen. Bei einem Seitenunterschied von 2 Zeilen und mehr auf der Sehtafel soll auf jeden Fall eine augenärztliche Abklärung erfolgen. Wird das Sehscreening auf die beschriebene Art und Weise durchgeführt, kann eine beidseitige Hyperopie übersehen werden, die das Kind akkommodativ kompensiert, die aber dennoch zur Amblyopie führen und auch ein Innenschielen auslösen kann. Auch ein Astigmatismus wird nicht sicher auffallen. Um diese diagnostische Lücke zu schließen, ist eine Refraktometrie bzw. Skiaskopie in Zykloplegie als universelles Screening erforderlich, z. B. im Alter von 3–7 Jahren, bei Vorliegen von Risikofaktoren, v. a. Schielen oder Fehlsichtigkeit in der direkten Verwandtschaft, mit 1 Jahr.
Abb. 6 Reihenoptotypen nach Lea Hyvärinen
Die Untersuchung ist für einen Augenarzt relativ problemlos durchführbar.
4.10
Erneutes Hörscreening nach universellem NeugeborenenHörscreening
Hörtests im Vorschulalter erfassen zahlreiche Kinder mit Schallleitungsschwerhörigkeiten (meist aufgrund von Paukenergüssen nach Otitiden oder bei Adenoid-/Tonsillarhyperplasie etc.). Es konnte gezeigt werden, dass diese bei normaler Sprachentwicklung und allgemeiner Entwicklung nicht therapiebedürftig und daher nicht Ziel eines Screenings sind. Jedoch gibt es Innenohrschwerhörigkeiten und zentrale Hörstörungen, die sich erst nach dem NHS manifestieren oder erworben werden. Daher stellt sich die Frage, ob und in welchem Alter ein erneutes Hörscreening sinnvoll ist. Zu dieser Frage gibt es bisher nur eine aussagekräftige Untersuchung. Sie stammt aus Großbritannien und zeigt, dass man mit einer Audiometrie im Alter von 5–6 Jahren unter 100.000 Kindern zusätzlich 34 Fälle von ein- oder beidseiti-
8
Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen
gen persistierenden Hörverlusten von mehr als 20 dB im Jahr finden kann. Das entspricht bei der heutigen Geburtenrate in Deutschland etwa 250 Kinder pro Jahr. Allerdings findet in diesem Altersfenster in Deutschland eine Schuleingangsuntersuchung mit einem Hörtest statt. Dennoch verlangt die Kinder-Richtlinie nun eine Tonaudiometrie bei Kindern im Alter von 3,5 bis 4 Jahren 2 Monaten (Toleranzgrenzen der U8). Die Hörschwelle muss mit mindestens 5 Frequenzen und 4 Lautstärken geprüft werden (empfohlen werden 500, 1000, 2000, 4000, 6000 Hz, jeweils bei 20, 30, 40 und 50 dB). Das Screening gilt als auffällig, wenn auf mindestens einem Ohr bei 30 dB 2 oder mehr Frequenzen nicht gehört werden. Schon während der ersten Monate hat sich in den Praxen gezeigt, dass ca. 50 % der Kinder bei U8 mit der Tonaudiometrie überfordert sind.
4.11
Screening auf chronische Nierenerkrankungen
Eine Urinuntersuchung mit Mehrfachteststreifen diente schon bisher bei U8 und U9 der Detektion einer Mikrohämaturie oder Proteinurie als Frühzeichen chronischer Nierenerkrankungen. Mit der neuen Kinder-Richtlinie ist die Untersuchung bei U9 entfallen und jetzt nur noch Bestandteil der U8. Ein Screening auf arterielle Hypertension wurde leider nicht eingeführt.
4.12
Screening auf Wachstumsstörungen und Störungen der Gewichtsentwicklung
Zur Verlaufsdokumentation der somatischen Daten einschließlich des BMI dienen geschlechtsspezifische Perzentilkurven am Ende des Heftes (für Länge und Gewicht je einmal von 0–24 Monaten und je einmal von 0–7 Jahren sowie für den BMI von 0–7 Jahren nach Kromeyer-Hauschild; für den Kopfumfang von 0–48 Monaten nach Prader). Das Überoder Unterschreiten der Normgrenzen, aber auch ein Kreuzen der Perzentilen veranlasst zur Abklärung und gegebenenfalls Intervention.
4.13
Vorausschauende Beratung – primäre Prävention
Ab der U2 enthält jede U mehrere Themen, zu denen die Eltern beraten werden. Erweiterter Beratungsbedarf wird zusätzlich dokumentiert. Bei jeder U ist eine Ernährungsberatung vorgesehen. Von U2–U5 wird zu den bekannten Risikofaktoren für einen plötzlichen Kindstod beraten. Dies muss mit der nötigen Sensibilität erfolgen, damit Eltern nicht verängstigt werden.
115
Informationen zur Karies-Rachitis-Prophylaxe werden von U2–U6 gegeben, ergänzt durch Empfehlungen zur Mundhygiene und Mundgesundheit, zur zahnschonenden Ernährung und zur Zahnpflege (▶ Kap. 11, „Rachitisprophylaxe“ und ▶ Kap. 14, „Zahnärztliche Untersuchung und Prophylaxe“). Die Zahnreinigung erfolgt bis zum 2. Geburtstag 1-mal täglich, danach 2-mal täglich durch die Eltern. Im 5. Lebensjahr entwickeln die meisten Kinder ausreichende motorische Fähigkeiten, um selber Zähne zu putzen und den größten Teil der Zahnpasta auszuspucken. Ein Nachputzen durch die Eltern ist aber meist noch bis zum 8. Geburtstag erforderlich. Von U5–U9 sollen die Eltern auf die zahnärztlichen Früherkennungsuntersuchungen hingewiesen werden, die vom Durchbruch des 1. Zahns bis zum 6. Geburtstag 1-mal jährlich angeboten werden. Von U2–U7 soll auf regionale Unterstützungsangebote (wie die Frühen Hilfen) hingewiesen werden. Die Beratung zu vermehrtem Schreien, Schlaf- und Essstörungen wird sich auf betroffene Familien konzentrieren oder solche Eltern, bei denen man ein Risiko dafür wahrnimmt (hier kommt es besonders auf die Vermeidung eines Schütteltraumas oder anderer Misshandlungen an). Eine Beratung zu alterstypischen Unfallrisiken (Sturz vom Wickeltisch, Treppensturz, Verbrühung/Verbrennung, Ertrinken, Stromunfälle, später Verkehrsunfälle) wird bei den meisten Eltern sinnvoll sein. Zur Förderung der Sprachentwicklung sollen Eltern mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache sprechen. Mit der vom G-BA zusätzlich erwähnten Beratung zur Gebärdensprache ist der Pädiater überfordert. Falls sie bei hörbehinderten Kindern erforderlich ist, müssen das Spezialisten übernehmen (Pädaudiologen, Hörbehinderten-Frühförderung etc.). Hinzu kommt die Beratung zum UV-Schutz. Kinder unter 1. Jahr sollen nicht der direkten Sonne ausgesetzt werden und brauchen daher nur in Ausnahmefällen Sonnenschutzmittel, dann aber mit Lichtschutzfaktor 50. Im gesamten Kindesalter sollen starke UV-Einstrahlung und Sonnenbrände vermieden werden. Schließlich soll zur Suchtgefahr beraten werden. Dabei geht es im 1. Lebensjahr noch um die Süchte der Eltern, z. B. stellt die Alkoholsucht des Vaters ein Risiko für häusliche Gewalt dar. Später kommt die Beratung der Eltern zum kindlichen Gebrauch von Bildschirmmedien hinzu, da diese bereits im Kindesalter ein hohes Suchtpotenzial haben. Das analoge Lernen ist die Voraussetzung für digitales Lernen, nicht umgekehrt. Aber auch eine Dauerbeschallung mit Hörspielen oder Radio soll vermieden werden, da diese Aufmerksamkeitsdefizite und Hörschäden hervorrufen kann. Bei U3 findet die 1. Impfberatung mit Angebot eines Impftermins statt. Die Überprüfung des Impfstatus nach der Schutzimpfungs-Richtlinie des G-BA mit entsprechender Beratung der Eltern ist Inhalt jeder weiteren U. Diese kann aber nicht die Impfberatung der Eltern vor Aufnahme ihres Kindes in eine Kindertageseinrichtung (Kita) nach dem Prä-
116
B. Lawrenz
ventionsgesetz ersetzen, denn hier geht es um den Schutz jüngerer oder kranker Kinder in der gleichen Kita, während die Impfberatung bei den Us sich wohl meist auf den Individualschutz des Kindes beziehen wird.
4.14
Inanspruchnahme von U2 bis U9
In Deutschland gibt es keine Pflicht zur Wahrnehmung von Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen. Die Teilnahmeraten für die einzelnen Us lagen Anfang des Jahrtausends für die U3 etwas über 95 %, fiel aber bis zur U9 auf ca. 86 % ab. Dann wurden in zahlreichen Bundesländern Wege beschritten, die Inanspruchnahme zu erhöhen, meist mit unterschiedlich aufgebauten Melde- und Erinnerungssystemen, die letztlich darauf hinauslaufen, dass Familien, deren Kinder nicht zur U gebracht werden, vom öffentlichen Gesundheitsdienst oder der Jugendhilfe kontaktiert werden. Dies hat zu einem deutlichen Anstieg der Inanspruchnahme geführt: Sie liegt jetzt für die U3 bei 98–99 % und für die U9 immerhin noch um 95 %.
Da sich im Wachstum häufig die Refraktion ändert und das subjektiv kaum bemerkt wird, erfolgt ein Sehtest (es sei denn, das Kind befindet sich bereits in augenärztlicher Überwachung oder Therapie). Eine Tonaudiometrie kann z. B. eine beginnende Hochtonschwerhörigkeit durch Schallexposition aufdecken (zunehmende Häufigkeit besonders beim Hören mit In-ear-Kopfhörern, da hier die Umgebungsgeräusche kaum abgeschirmt werden und das Kind daher verleitet wird, die Musik lauter aufzudrehen). Zum Screening auf Nierenerkrankungen erfolgt eine Urinuntersuchung auf Glukosurie, Proteinurie und Mikrohämaturie. Zum Abschluss werden Eltern und Kind problemorientiert und vorausschauend zu gegebenenfalls aufgedeckten Problemen sowie altersbezogenen Gesundheitsrisiken (gesunde Ernährung, ausreichendes Trinken, Kariesprophylaxe, viel Bewegung, wenig Mediennutzung, Unfallverhütung, Sonnenschutz, rauchfreie Umgebung) beraten. Der Impfschutz wird geprüft, gegebenenfalls werden Impflücken geschlossen und auf nachfolgende Impfungen hingewiesen.
5 4.15
Paed.Check® U10 und Paed.Check ® U11
Um die große Lücke zwischen U9 mit 5 Jahren und J1 mit 13 Jahren zu schließen, hat der Berufsverband der Kinderund Jugendärzte e. V. (BVKJ) Anfang dieses Jahrtausends 2 zusätzliche Us konzipiert. Sie wurden als GrundschulCheck U10 für die Zeit zwischen 7. und 9. Geburtstag sowie als Schüler-Check U11 zwischen 9. und 11. Geburtstag eingeführt und inzwischen unter dem geschützten Markennamen Paed.Check ® geführt. Mit der U10 und der U11 soll ein Screening auf somatische Krankheiten und Entwicklungsstörungen, psychosomatische Erkrankungen und psychosoziale Störungen, verhaltensbezogene Gesundheitsrisiken erfolgen. Dazu dient die Anamnese mit Fragen zur körperlichen Gesundheit (Erkrankungen, Operationen, Allergien, Schmerzen, Medikamente), zur schulischen und sozialen Situation, zum Bewegungsverhalten und zur Mediennutzung. Mit dem Mannheimer Elternfragebogen (MEF) wird auf zahlreiche psychosomatische Beschwerden, Störungen und Krankheiten gescreent, wie hypochondrisches Verhalten, Ess-, Schlaf- und Sprachstörungen, Tics, emotionale Störungen, Ängste und Phobien, ADHS, Verhaltensstörungen, Zwangsstörungen, Depressivität, Suizidalität sowie Nikotin- und Alkohol-Missbrauch. Es folgt eine orientierende Untersuchung des ganzen Körpers mit Messung von Körperhöhe und Gewicht, Berechnung des BMI und Blutdruckmessung mit Einordnung in die altersentsprechenden Perzentilen. Dabei werden Verhalten und Interaktion mit den Eltern beobachtet und beurteilt.
Jugendgesundheitsuntersuchung (J1)
Die J1 ist in einer eigenen Richtlinie des G-BA geregelt (Jugendgesundheitsuntersuchungs-Richtlinie), die sich auf Absatz 2 des damaligen § 26 SGB V begründet. Sie trat am 28. August 1998 in Kraft und wurde zuletzt im Jahr 2016 aufgrund des Präventionsgesetzes geändert und um eine „Präventionsempfehlung“ erweitert. Die J1 soll im 14. Lebensjahr durchgeführt werden; die vorgegebene Toleranzzeit erstreckt sich vom 12. bis zum 15. Geburtstag. Ziel der J1 ist „. . . die Früherkennung von Erkrankungen, die die körperliche, geistige und soziale Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden.“ „. . . Anamnese und körperliche Untersuchung beschränken sich dabei auf diejenigen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die schon in einem frühen Stadium einer Behandlung und Beratung zugeführt werden können bzw. von Bedeutung sind für die soziale Integration des Jugendlichen.“ Gleichzeitig soll durch Früherkennung psychischer und psychosozialer Risikofaktoren einer Fehlentwicklung in der Pubertät vorgebeugt und auf individuell auftretende gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen gescreent werden, um die Jugendlichen über die hierdurch vermittelte gesundheitliche Gefährdung frühzeitig aufzuklären. Die Anamnese beinhaltet Fragen nach bekannten Gesundheitsstörungen, Anzahl der Arztbesuche in den vorangegangenen 12 Monaten, nach vollständigem Impfschutz und Jodprophylaxe (mit Jodsalz), nach der familiären Situation, der schulischen Entwicklung und dem Gesundheitsverhalten (Medikamente, Drogen). Motorische und visuomotorische Leistung kann man z. B. mit der Frage nach Sport- und
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Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen
Kunst-Noten screenen, die seelische Entwicklung durch Fragen nach schulischer und sozialer Integration, Essverhalten und Stimmung. Pubertätsprobleme und Sexualkontakte werden ebenfalls abgefragt. Bei der körperlichen Untersuchung werden Körperhöhe, Gewicht und Blutdruck gemessen, die Tanner-Stadien der Pubertät erfasst, Hals-, Thorax- und Bauchorgane untersucht, dabei besonders auf eine Struma geachtet, und das Skelettsystem mit dem Haltungstest nach Matthiaß und dem Vorbeugetest auf Skoliose untersucht. Die Beweglichkeit der Hüfte wird geprüft, um Zeichen einer Epiphysiolysis capitis femoris zu erkennen. Eine Blutentnahme mit Cholesterin-Bestimmung erfolgt nur bei Hinweisen auf familiäre Hypercholesterinämie (bekannte Einnahme von Lipidsenkern oder koronare Herzkrankheit vor dem 40. oder Herzinfarkt vor dem 50. Geburtstag in der Herkunftsfamilie). Schließlich informiert der Arzt den Jugendlichen und seine Eltern über das Ergebnis der Untersuchungen, um mögliche Auswirkungen im Hinblick auf die weitere Lebensgestaltung zu erörtern. Dabei soll der Arzt insbesondere das individuelle Risikoprofil des Jugendlichen ansprechen und diesen auf Möglichkeiten und Hilfen zur Vermeidung und zum Abbau gesundheitsschädigender Verhaltensweisen hinweisen. Bei Bedarf kann dazu eine Präventionsempfehlung für Leistungen zur verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Absatz 5 SGB V ausgestellt werden. Eine schriftliche Befundmitteilung an die Jugendlichen oder ihre Eltern ist nicht vorgesehen. Die Inanspruchnahme der J1 liegt nur bei 40–50 %. Die Untersuchung wird etwa zur Hälfte von Pädiatern und von Allgemeinmedizinern/hausärztlich tätigen Internisten erbracht.
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Jugendabschlussuntersuchung J2
Diese Untersuchung dient als Abschlussuntersuchung vor dem Übergang zur Erwachsenenmedizin. Da junge Erwachsene häufig gesund sind, daher nur selten zum Arzt gehen, und es zumindest für junge Männer lange Jahre keine Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen mehr gibt, ist dies oft die letzte Gelegenheit für eine Überprüfung von Gesundheit und Impfschutz mit Beratung zu einem gesunden Leben und Hinweise auf notwendige Auffrischimpfungen. Mit der J2 soll wie bei U10 und U11 ein Screening auf somatische Krankheiten und Entwicklungsstörungen, psychosomatische Erkrankungen und psychosoziale Störungen sowie verhaltensbezogene Gesundheitsrisiken erfolgen. Dazu dient die Anamnese mit Fragen zur körperlichen Gesundheit (Erkrankungen, Operationen, Allergien, Schmerzen, Medikamente), zur schulischen/beruflichen und sozialen Situation, zum Bewegungsverhalten, zur Mediennutzung und zur Lebenszufriedenheit. Mit dem Mannheimer Jugend-
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lichenfragebogen (MJF) wird (analog zum Mannheimer Elternfragebogen bei U10 und U11) auf zahlreiche psychosomatische Beschwerden, Störungen und Krankheiten gescreent, wie hypochondrisches Verhalten, Ess-, Schlafund Sprachstörungen, Tics, emotionale Störungen, Ängste und Phobien, ADHS, Verhaltensstörungen, Zwangsstörungen, Depressivität, Suizidalität sowie Nikotin- und AlkoholMissbrauch. Es folgt eine orientierende Untersuchung des ganzen Körpers mit Messung von Körperhöhe und Gewicht, Berechnung des BMI und Blutdruckmessung mit Einordnung in die altersentsprechenden Perzentilen. Dabei werden das Verhalten und die Interaktion mit Ärztin/Arzt und Praxispersonal beobachtet und beurteilt.
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Hüftgelenkdysplasie und postnatales Hüftgelenkscreening Gerolf Schweintzger
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Hüftgelenkdysplasie
Definition Bei der Hüftgelenkdysplasie handelt es sich um eine mangelnde Überdachung des Hüftkopfes durch eine fehlangelegte (dysplastische) Hüftpfanne, die bereits beim Neugeborenen vorliegen kann. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Hüftluxation um einen Zustand, bei dem der Hüftkopf die Hüftpfanne bereits verlassen hat. Es gibt Hüftgelenke, die bei der Geburt klinisch unauffällig waren, sich aber aufgrund der Reifungsstörung der Hüftpfanne verschlechtern können. Die Hüftluxation ist ein dynamischer Gleitprozess des Hüftkopfes aus der Pfanne und somit ein Endstadium. 1989 wurde erstmals von einer sich entwickelnden Erkrankung gesprochen und auf den dynamischen Prozess aufmerksam gemacht. (DDH, Developmental Dysplasia of the Hip). Somit spricht man heute von einer „Hüftreifungsstörung“ und nicht von einer „kongenitalen Hüftluxation“. Ätiologie und Epidemiologie Es handelt sich bei der Hüftreifungsstörung um ein multifaktorielles Geschehen. Eine familiäre Häufung konnte gezeigt werden, es wurde über genetische Faktoren spekuliert, deren Bedeutung noch nicht geklärt ist. Das weibliche Geschlecht ist deutlich häufiger betroffen, die Mädchenwendigkeit wird mit 1:4 bis 1:8 angegeben. Interessant ist die Rolle der mechanischen Faktoren. Intrauteriner Platzmangel wie Oligohydramnion, Mehrlingsschwangerschaft, Beckenendlage führen zu Scherkräften und unphysiologischem Druck auf das knorpelige Pfannendach. Dieses Phänomen kann auch postnatal nachgewiesen werden. In Ländern mit einer speziellen Wickeltechnik der Säuglinge (sog. Pucken, engl. „tight swaddling“) kann eine erhöhte G. Schweintzger (*) LKH Hochsteiermark Standort Leoben, Steiermärkische Krankenanstaltengesellschaft m.b.H., Leoben Hochsteiermark, Österreich E-Mail: [email protected]
Inzidenz an Hüftreifungsstörungen und -luxationen beobachtet werden. Durch die Fixierung mit extendierten Beinen entsteht eine ungünstige biomechanische Situation bei sog. grenzwertigen Hüftgelenken. Der dadurch entstehende Druck auf das nicht ossifizierte Pfannendach führt dazu, dass diese Gelenke nicht ausreifen und sich verschlechtern können. Die Inzidenz der Hüftreifungsstörungen ist daher auch geografisch unterschiedlich. Im deutschsprachigen Raum liegt sie bei 2–5 %. Die Unschärfen der Definition einer Hüftdysplasie in der internationalen Literatur und die unterschiedlichen Methoden der Diagnostik erklären auch die Streuung von 1–8 %. Ätiologisch sind teratogene Hüftluxationen von Hüftreifungsstörungen abzugrenzen. Dazu zählen Erkrankungen wie Arthrogryposis multiplex congenita, Larsen-Syndrom, Ehlers-Danlos-Syndrom und Verschlussstörungen des Neuralrohres wie Myelomeningozelen. Eine Sonderform sind neuromuskuläre Erkrankungen mit Spastik der unteren Extremitäten, ob sie jetzt angeboren (kongenital) oder erworben im weiten Kreis postnataler Probleme von Frühgeborenen und asphyktischen Neugeborenen vorliegen. Das Überwiegen des Zuges der Hüftadduktoren führt zu einer sekundären Luxation bei zunächst ausgereiftem Hüftgelenk, die als sog. neurogene Hüftluxation definiert wird. Diagnose Ziel aller Untersuchungen ist die Früherkennung eines Hüftproblems, im Idealfall im Neugeborenenalter. Klinische Untersuchung Diese spielt eine wichtige Rolle, darf aber nicht überbewertet werden, da sie alleine zur sicheren Diagnose einer Hüftreifungsstörung nicht geeignet ist. Instabilitäten können hingegen erkannt werden, allerdings ist die Diagnosestellung abhängig vom Alter des Kindes und auch von der Erfahrung des Untersuchers. Zunächst werden Hüft- und Kniegelenke gebeugt:
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_10
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G. Schweintzger
• Roser-Ortolani-Phänomen: tritt bei instabilen Hüften auf. Bei Abduktion der gebeugten Beine springt der dezentrierte Hüftkopf mit einem fühlbaren Schnappen wieder in das Pfannenzentrum zurück. • Barlow-Manöver: Provokation einer Dislokation der instabilen Hüfte aus der Pfanne durch Druck auf den gebeugten, adduzierten Oberschenkel. Diese beiden Untersuchungsmanöver sind in der Literatur am meisten zitiert. Allerdings kann es durch das mechanische Trauma an den Gefäßsinusoiden am Hüftkopf und der Gefahr einer möglichen Alteration der versorgenden Arterien (Aa. circumflexae femoris) zu einer Beeinträchtigung der Durchblutung des Hüftkopfes kommen. Daher wird die wiederholte Untersuchung dieser Zeichen nicht mehr empfohlen. • Abduktionshemmung: Die Wertigkeit dieses Zeichens wird zu Recht kritisch hinterfragt. Eine Bedeutung hat vor allem die einseitige Abspreizhemmung nach der Neugeborenenperiode. • „dry hip click“: Dieses häufige Phänomen hat keine klinische Bedeutung. Es handelt sich um ein feines, spürbares Knacken, das auch manchmal in einem stabilen Gelenk zu hören ist (ähnlich dem provozierbaren Knacken in den Fingergelenken). Es darf daher nicht mit dem Roser-Ortolani-Phänomen verwechselt werden. • Faltenasymmetrie: Eine Faltendifferenz liegt bei 30– 56 % aller Neugeborenen und Säuglingen vor! Sie ist für die Diagnostik unzureichend und sollte daher nicht mehr zur Diagnose herangezogen werden. Röntgen Dieses Untersuchungsverfahren ermöglicht nur die Beurteilung der ossifizierten Strukturen und war vor der Einführung der Hüftsonografie das bildgebende Verfahren der Wahl. Bewertet wird die Stellung des knöchernen Hüftkopfes zur Pfanne, sowie die Ausformung der Pfanne (in: normal, dysplastisch, subluxiert, luxiert; Abb. 1). Probleme: Die Röntgenuntersuchung hat nur mangelnde bis keine Aussagekraft vor dem 3. Lebensmonat, zudem stellt sie eine Strahlenbelastung dar. Ein Qualitätsverlust der Aufnahmen entsteht durch Beckendrehung und Kippung mit messtechnischen Problemen. Die Beurteilung erfordert Erfahrung. Die Problematik in der Befundung zeigt sich unter anderem durch zahlreiche Messlinien, die von verschiedenen Autoren eingeführt wurden. Diese beurteilen die Stellung des Kopfes in Relation zur Pfanne. Magnetresonanztomografie Ausgezeichnete Auflösung anatomischer Strukturen, hervorragende Bilder. Wegen der Notwendigkeit einer Sedierung und (noch) zu langer Untersuchungsdauer sowie der Kosten, ist das Verfahren bisher nicht für die breite Anwendung oder das Screening geeignet. In Einzelfällen (zur Repositionsbeurteilung) wichtig.
Abb. 1 Luxiertes Gelenk links, massive Dysplasie rechts bei einem Dreijährigen
Arthrografie Sie wird heute nur mehr in Ausnahmefällen angewendet. Ultraschall Im Jahre 1978 begann REINHARD GRAF mit ersten Ultraschalluntersuchungen des Bewegungsapparates. 1980 gelang die sonografische Unterscheidung einer „luxierten“ von einer „nicht luxierten“ Hüfte. Es erfolgte die Erstpublikation unter dem Titel „The diagnosis of hip dislocation by the ultrasonic compound treatment“. Die verbesserte Ultraschalltechnologie ermöglichte es, Veränderungen und Deformierungen der ossären und nichtossären Strukturen immer subtiler zu erfassen. Es erfolgte eine differenziertere Einteilung in sog. Hüfttypen, welche die alten, auf der klinischen Untersuchung und dem Röntgen basierenden unpräzisen Begriffe, wie Dysplasie oder Subluxation ersetzt hat (Tab. 1). Heute werden Linearschallköpfe mit einer Frequenz von 10 MHz und mehr bei Neugeborenen empfohlen und verwendet. Die Reproduzierbarkeit durch eine exakte Abtasttechnik von lateral in einer koronaren Ebene führte zu einer breiten Anwendung durch Orthopäden, Pädiater und Kinderradiologen. Diese Abtasttechnik ermöglicht, korrekte, reproduzierbare Bilder in der Standardebene durch die Mitte der Gelenkpfanne anzufertigen. Diese ist definiert durch eine klare Darstellung des Unterrandes des Os ilium, einer gerade nach kranial verlaufenden Iliumkontur und der klaren Darstellung des echoreichen Labrum acetabulare. Nur diese Schnitte dürfen für eine Befundung, die eine Kombination aus Beschreibung und Messtechnik ist, herangezogen werden. Die Beschreibung (Morphologie) erfolgt über eine präzise Terminologie, gestützt auf die vorher durchgeführte anatomische Identifizierung und die Brauchbarkeitsprüfung. Die Messtechnik (Morphometrie; Abb. 2) dient zur Absicherung. Es werden zwei Winkel von 3 Linien gebildet:
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Hüftgelenkdysplasie und postnatales Hüftgelenkscreening
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Tab. 1 Hüfttypen nach Graf
Hüfttyp Typ I reifes Hüftgelenk, jedes Alter Typ IIa (plus) physiologisch unreif ! altersentsprechend 3 mg/dl • Verlängerte PQ-Zeit (gilt nicht, sofern die Karditis schon ein Hauptkriterium ist) Folgende Konstellationen erlauben unmittelbar die Diagnosestellung eines rheumatischen Fiebers: isolierte Chorea minor (nach Ausschluss anderer ZNS-Erkrankungen), Karditis nach Streptokokkeninfekt und Rezidiv des rheumatischen Fiebers. Der kulturelle Nachweis von Streptokokken ist nur in ca. 25 % der Fälle positiv, stellt aber einen wichtigen diagnostischen Hinweis dar. In Zweifelsfällen kann die Bestimmung der Anti-DNase B und der Antihyaluronidase erfolgen. Die Echokardiografie erfolgt zum Nachweis bzw. Ausschluss morphologischer und funktioneller Veränderungen bei Herzklappenbeteiligung (Abb. 1), der Funktionsdiagnostik des linken Ventrikels sowie der Detektion eines Perikardergusses. In der Farbkodierung können auch klinisch inapparente Klappeninsuffizienzen dargestellt werden. Die aktualisierten Jones-Kriterien legen dazu echokardiografische Kriterien fest. Das EKG wird zur Erfassung von Tachykardie, PQ-ZeitVerlängerung und Erregungsrückbildungsstörungen abgeleitet. Differenzialdiagnose Bakterielle Endokarditis, Myokarditis, dilatative Kardiomyopathie, kongenitale Mitralinsuffizienz bzw. Mitralklappenprolaps, kongenitales Aortenklappenvitium mit Aorteninsuffizienz sowie akzidentelle und funktionelle Herzgeräusche.
Abb. 1 Valvulitis der Mitralklappe mit sigifikanter Mitralklappeninsuffizienz bei einem 11 Jahre alten Mädchen mit Chorea minor (farbkodierte Echokardiografie, Vierkammerblick)
Therapie Ziele der Behandlung sind die Beseitigung des Antigens, die Therapie der Karditis/Inflammation und der Folgeerkrankungen sowie die Rezidiv- und Umgebungsprophylaxe. Zur Streptokokkeneradikation erfolgt eine Penicillinbehandlung (100.000 IE Penicillin V/kg KG verteilt auf 3 Tagesdosen, maximal 3,6 Mio. IE/Tag, über 10 Tage; bei Penicillinallergie 15 mg Clarithromycin/kg KG verteilt auf 2 Tagesdosen). Zur entzündungshemmenden Therapie und auch bei der Gelenkmanifestation werden nichtsteroidale Antiphlogistika (z. B. Ibuprofen 30 mg/kg pro Tag verteilt auf 3 Einzeldosen) eingesetzt. Bei einer ausgeprägten Karditis wird eine Therapie mit Prednisolon in der initialen Dosierung von 2 mg/kg KG pro Tag, maximal 80 mg/Tag, für mindestens 2 Wochen empfohlen. Zur Therapie der Herzinsuffizienz, ▶ Kap. 205, „Herzinsuffizienz und Hypoxämie“. Ein signifikanter Perikarderguss/Tamponade erfordert die Drainage. Sollte eine herzchirurgische Behandlung der Klappenerkrankung erforderlich werden, sollte diese möglichst nach Abklingen der Entzündung bzw. 1 Jahr nach der akuten Erkrankung erfolgen. Verlauf und Prognose In 70–80 % der Erkrankungen wird heutzutage im akuten Stadium, meist innerhalb der ersten 2 Wochen, eine Herzbeteiligung nachzuweisen sein. Die Datenlage zum Verlauf ist schwierig, da historische und aktuelle Untersuchungen nicht deckungsgleich sein können. Bei mildem Ausmaß ist ein
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Rheumatische Erkrankungen und Herzbeteiligung
2085
Tab. 1 Herzbeteiligung bei der juvenilen idiopathischen Arthritis und bei Kollagenosen/systemischem Lupus erythematodes Perikarditis
Myokarditis
Endokarditis
Sonstige
Therapie
+ 20–30 % (+) (+)
+ 1–10 % – –
(+)
Arrhythmien
Kortikosteroide
– (+)
– –
Juvenile Spondylarthritiden Systemischer Lupus erythematodes
–
–
–
+ 31 %
+ 40 %
Sonderform: neonataler Lupus (Mutter Anti-SS-A/B-AK)
–
(+)
Aortitis (sehr selten) + Libman-SacksEndokarditis 13–65 % Mitralklappe (Aortenklappe) Endokardfibroelastose (+)
– Selten erforderlich Selten erforderlich Kortikosteroide
Juvenile idiopathische Arthritis Systemische Form (Morbus Still) Oligoarthritische Form Polyarthritische Form
Verschwinden der Auffälligkeiten in 30–40 % beschrieben. In den verbliebenen Fällen kommt es als rheumatische Herzerkrankung bei natürlichem Verlauf über 2 Dekaden bei 40 % zu einer Progredienz oder zum Tod der Erkrankten. In der untersuchten Gruppe aus Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen war die Mortalität 16,9 % innerhalb von 2 Jahren im Studienverlauf. Ursachen sind vor allem kardiale Dekompensation, aber auch Schlaganfälle. Die Herzbeteiligung erfordert im Verlauf eine routinemäßige, z. B. jährliche kardiologische Kontrolle. Prophylaxe Die primäre Prävention zur Vermeidung des rheumatischen Fiebers ist die adäquate antibiotische Behandlung von Streptokokkeninfektionen. Kinder mit einem erworbenen Klappenfehler infolge eines rheumatischen Fiebers bedürfen einer langjährigen Prophylaxe gegenüber einer Streptokokken-AInfektion (Durchführung der Prophylaxe, ▶ Kap. 105, „Infektassoziierte Arthritiden“). Bei persistierenden Klappenveränderungen ist eine Endokarditisprophylaxe nach den aktuellen Leitlinien empfohlen (▶ Kap. 215, „Infektiöse Endokarditis“).
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Herzbeteiligung bei der juvenilen idiopathischen Arthritis und bei Kollagenosen im Kindesalter
Bei dieser heterogenen Gruppe von chronisch-entzündlichen Erkrankungen kommt es in unterschiedlicher Häufigkeit zu einer Mitbeteiligung des Herzens. Beim systemischen Lupus
Koronar-arteriopathie, pulmonale Hypertonie
AV-Block III
Herzschrittmacher
erythematodes (SLE) und seiner Sonderform, dem neonatalen Lupus, ist die Herzbeteiligung von großer Bedeutung. Zu Häufigkeit, Art und gegebenenfalls Therapie der kardialen Beteiligung, Tab. 1.
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Arterielle Hypertonie
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Brigitte Stiller
Während mehr als 20 % der Erwachsenen von Bluthochdruck betroffen sind, ist dieser im Kindesalter eine zwar seltene, aber oftmals nicht erkannte Erkrankung. Unbehandelt führt Bluthochdruck unabhängig von der Ätiologie zur Arteriosklerose und weiterer Progredienz von Gefäßveränderungen. Daher hat bereits der Bluthochdruck im Kindesalter eine erhöhte Morbidität und Letalität im späteren Lebensalter zur Folge. Um das Risiko späterer zerebrovaskulärer ischämischer oder hämorrhagischer Ereignisse zu reduzieren, ist die frühzeitige Diagnosestellung und Behandlung auch bei asymptomatischen Kindern und Jugendlichen wichtig. Definition Als arterielle Hypertonie bezeichnet man eine dauerhafte Erhöhung des systolischen und/oder diastolischen Blutdruckwertes über der 95. Perzentile der Altersnorm. Es sollten mindestens 3 Messungen zu verschiedenen Gelegenheiten erfolgt sein. Blutdruckwerte bis zur 90. Perzentile bezogen auf Geschlecht, Alter, Körpergröße gelten als normal, Werte zwischen der 90. und der 95. Perzentile als hochnormal (Abb. 1). Ein Blutdruck von 120/80 sollte bei Schulkindern und Jugendlichen nicht überschritten werden, bei Säuglingen sollten systolisch 105 mmHg nicht überschritten werden. Die Deutsche Hochdruckliga hat aktuell für den oberen Zielblutdruck Erwachsener einen Korridor von 125–134 mmHg systolisch empfohlen, in Abhängigkeit vom kardiovaskulären Risiko, und 5 min Ruhe, mindestens 2 Messungen mit Abstand von 1 Minute und Angabe des niedrigeren Wertes. Neue amerikanische Leitlinien nach der SPRINT-Studie sprechen beim Erwachsenen von manifester Hypertonie, ab 120/80. Damit
werden >40 % aller Amerikaner zu Patienten und bekommen nebenwirkungsträchtige Medikamente empfohlen. Normwerttabellen für den Blutdruck im Kindesalter wurden in verschiedenen Studien erstellt (Abb. 1). Ätiologie Unterschieden werden essenzieller arterieller Hypertonus und sekundärer, organisch bedingter Hypertonus. Im Säuglings- und Kleinkindesalter überwiegen die sekundären Formen der arteriellen Hypertonie, wobei die häufigste Ursache neben den renovaskulären Erkrankungen (▶ Kap. 253, „Renale Hypertonie“) die Aortenisthmusstenose darstellt.
B. Stiller (*) Klinik für Angeborene Herzfehler, Universitäts-Herzzentrum Freiburg Bad Krozingen, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_212
Ursachen der sekundären arteriellen Hypertonie im Kindesalter
• Renale Erkrankungen: – Renalparenchymatöse Ursachen – Hämolytisch-urämisches Syndrom – Glomerulonephritis – Pyelonephritis – Polyzystische oder multizystische Nierendegeneration – Obstruktive Uropathie – Diabetische Nephropathie • Tumoren: – Wilms-Tumor (Neuroblastom) • Renovaskuläre Ursachen: – Nierenarterienstenose oder fibromuskuläre Dysplasie – Nierenvenenthrombose • Kardiovaskuläre Ursachen: – Aortenisthmusstenose – Midaortic-Syndrom – Williams-Beuren-Syndrom – Entzündliche Prozesse der Aorta (Fortsetzung) 2087
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Abb. 1 a, b Blutdruckperzentilen für die Altersgruppen a 0–12 Monate und b 1–13 Jahre
B. Stiller
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Arterielle Hypertonie
• Endokrinologische und systemische Ursachen: – Phäochromozytom, Nebennierenrindentumor, Cushing-Syndrom – Primärer Hyperaldosteronismus – Hyperthyreose – Adrenogenitales Syndrom – Lupus erythematodes – Morbus Recklinghausen • Zentralnervöse Ursachen: – Hirntumor – Intrakraniale Blutung – Erhöhter Hirndruck – Enzephalitis – Neuroblastom • Autoimmunerkrankungen: – Systemischer Lupus erythematodes – Polyarteritis nodosa – Rheumatoide Arthritis – Goodpasture-Syndrom – Wegener-Krankheit – Mixed connective tissue disease • Sonstiges: – Adipositas – Schwangerschaft – Schmerzen – Ehemalige Frühgeburt – Intrauterine Wachstumsretardierung – Stressreaktion – Zustand nach Organtransplantation Bei der essenziellen Hypertonie sind die Kinder oft übergewichtig und haben eine positive Familienanamnese mit erhöhten Serumtriglyzeridwerten, niedrigem HDL-Cholesterinspiegel und anderen kardiovaskulären Erkrankungen in der Familie. Gelegentlich entwickelt sich eine Hypertonie nach Einstellung auf Medikamente ober bei Missbrauch von Medikamenten oder stimulierenden Substanzen. Medikamente, die einen Hypertonus auslösen können
• Schleimhautabschwellende Nasentropfen (Phenylephrin, Epinephrin, Oxymetazolin) • Nichtsteroidale Antirheumatika • Glukokortikosteroide • Immunsuppressiva (Calcineurininhibitoren: Ciclosporin, Tacrolimus) • Mineralokortikoide (Fluorocortisol, -prednison) • Ketokonazol • Lakritze
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• • • • •
Sexualhormone (Östrogene, Gestagene, Androgene) Anästhetika (Ketamin, Naloxon) Antidepressiva, Anxiolytika und Neuroleptika Antiemetika (Metoclopramid, Alizaprid) Stimulanzien (Amphetamine, Kokain, Alkohol, Koffein, Nikotin, Energy-Drinks)
Cave! Bei Kindern mit „Hyperaktivitätssyndrom“ kann die medikamentöse Einstellung mit Methylphenidat zu arteriellem Hypertonus führen. Frühgeborene oder Kinder, die in der Neonatalperiode einen Nabelarterienkatheter hatten, weisen ebenfalls ein erhöhtes Risiko für Hypertonus auf. Pathogenese Der Blutdruck wird durch das Herzzeitvolumen und den peripheren Gefäßwiderstand beeinflusst. Hier liegt ein komplexer Regulationsmechanismus vor, in dem sowohl das vegetative Nervensystem als auch das endokrinologische System ineinandergreifen. Der Sympathikotonus wird in der Medulla oblongata reguliert und von Hypothalamus und Kortex moduliert. Der Sympathikotonus erreicht schließlich über Rückenmark und Grenzstrang die Endorgane der Kreislaufregulation (Nieren, Blutgefäße). Die Endorgane bestimmen letztlich den Blutdruck. Hinzu kommen hormonelle Einflüsse aus der Hypophyse und der Nebenniere. Die parasympathische Gegenregulation mit Stimulation von Barorezeptoren sorgt letztlich für einen Reflexbogen, der wieder zur Medulla oblongata zurückführt. Bei der sekundären Hypertonie liegen renale (75 %), kardiovaskuläre (15 %) und endokrine Ursachen (5 %) vor, welche systematisch behandelt werden sollten (renale Hypertonie, ▶ Kap. 253, „Renale Hypertonie“).
Langfristige Endorganschäden bei arterieller Hypertonie
• • • •
Linksventrikuläre Hypertrophie Mikroalbuminurie, Proteinurie, Niereninsuffizienz Hypertensive Enzephalopathie Fundus hypertonicus, Papillenödem, Netzhautblutung und -ablösung
Langfristige kardiovaskuläre Folgeerkrankungen bei arterieller Hypertonie
• Arteriosklerose • Aortenaneurysma, Dissektion • Atheromatose aller Arterien (Fortsetzung)
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• Endotheliale Dysfunktion, verminderte Gefäßreagibilität • Koronare Herzerkrankung, Myokardinfarkt • Hypertensive restriktive Kardiomyopathie • Periphere arterielle Verschlusskrankheit • Chronische Niereninsuffizienz • Ischämischer oder hämorrhagischer Schlaganfall, vaskuläre Demenz Diagnose Zur Diagnostik stehen verschiedene Methoden zur Verfügung: Klinische Untersuchungen Während der ausführlichen Eigen- und Familienanamnese bezüglich Diabetes, Hyperlipämie, Hypertonie, kardiovaskulären Erkrankungen und Adipositas sollte auch die Perinatalperiode erfragt werden. Risikofaktoren zur Entwicklung der späteren arteriellen Hypertonie sind: Frühgeburt, Mangelgeburt bei intrauteriner Wachstumsretardierung, Oligo- oder Polyhydramnion und die postnatale Anlage eines Nabelarterienkatheters. Ferner muss anamnestisch nach Thorax- und Kopfschmerzen, Nasenbluten, Flush-Symptomatik, Erbrechen, Flankenschmerz, Polyurie, intermittierender Hämaturie und temporären Sehstörungen gefragt werden. Die häufigste Ursache einer kardiovaskulären Hypertonie ist die Aortenisthmusstenose. Diese Fehlbildung führt zu einer Blutdruckerhöhung im prästenotischen Bereich (RRMessung rechter Arm) und zu einer Minderdurchblutung im poststenotischen Bereich. Hier sollte als Referenzwert der Blutdruck an den Beinen gemessen werden. Der Abgang der A. subclavia sinistra kann bereits auf Höhe der Isthmusstenose liegen und falsch niedrige Werte anzeigen. Bei der Auskultation sollte zum Ausschluss der Aortenisthmusstenose neben der vorderen Thoraxapertur auch am Rücken zwischen den Schulterblättern abgehorcht werden. Der Blutdruck sollte mit passender Manschette bei ruhigem Kind am rechten Arm gemessen werden. Bei der erstmaligen Blutdruckmessung sollte die Messung einmalig an allen Extremitäten erfolgen. Bei Säuglingen und Kleinkindern ist die Blutdruckmessung aufwendig und ergibt bei unsachgemäßer Durchführung falsche Werte. In diesem Alter ist eine oszillometrische Messung am ehesten zuverlässig. Die Manschette muss der Körpergröße des Kindes entsprechen. Zu kleine Manschetten erzeugen falsch hohe Werte. Der aufblasbare Teil der Manschette sollte zwei Drittel des Oberarms umschließen. Die breiteste Manschette, die bei angewinkeltem Arm noch bequem angelegt werden kann, ist am besten geeignet. Die wiederholte 24-h-Langzeit-Blutdruckmessung ermöglicht Aussagen über periodische Blutdruckspitzen, ferner
B. Stiller
über Blutdruckverhalten bei Belastung und über die zirkadiane Variabilität des Blutdrucks. Ferner hilft sie, eine harmlose „Praxishypertonie“ auszuschließen. EKG und Echokardiografie sind bei der Erstdiagnose obligat. Im EKG sollten Zeichen der Linkshypertrophie ausgeschlossen werden. Bei manifester Hypertonie ist ferner die Augenhintergrunduntersuchung notwendig, die zum Ausschluss eines Fundus hypertonicus, also einer pathologischen Veränderung an den Netzhautarterien, dient. Befundkonstellation bei essenzieller Hypertonie Folgende Befundkonstellation ist charakteristisch für eine essenzielle Hypertonie: • • • • •
fortgeschrittenes Schulalter, positive Familienanamnese, moderate Erhöhung des systolischen Wertes, Variabilität bei nachfolgenden Messungen, hoher Ruhepuls, ausgeprägte Stressreaktion mit überschießendem Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck, • Adipositas, ungenügende Bewegung. Befundkonstellation bei sekundärer Hypertonie • Lebensalter unter 10 Jahre, • plötzlicher Beginn der Symptomatik, • typische Vorerkrankungen, • Auffälligkeiten bei körperlicher Untersuchung, z. B. Mangelgedeihen, • fehlende positive Familienanamnese. Indikationen zur Blutdruckmessung • Screening: – Vorsorgeuntersuchungen ab dem Schulalter, – bei jedem unklaren Krankheitsbild. • Gezielte Messung bei: – Verdacht auf renale Erkrankung, – Verdacht auf kardiale Erkrankung, – akuter neurologischer Erkrankung (Krampfanfall, Bewusstseinstrübung etc.), – Kopfschmerzen, – Nasenbluten, – familiärer Belastung, – vor und während spezieller Medikamenteneinstellung (Tab. 1).
Labordiagnostik • Primär: – Blutbild, – Harnstoff und Kreatinin, – Serumelektrolyte, – Blutfette (Cholesterin, Triglyzeride),
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Arterielle Hypertonie
2091
Tab. 1 Antihypertensive Medikamente im Kindesalter Dosierung (mg/kg KG pro Tag)
Dosisintervall Medikament (h) Diuretika Hydrochlorothiazid 1–2 12 Furosemid 0,5–5 8–12 Sympathikushemmstoffe Metoprololsuccinat 0,1–1 12 Atenolol 1–2 24 (β-Blocker) Prazosin (α10,02–0,5 8–12 Blocker) Clonidin 0,005–0,03 8–12 Kalziumantagonisten (Retardpräparate) Nifedipin 0,5–3 8–12 ACE-Hemmer Captopril
0,5–3 30 % Elliptozyten im Blutbild, niedrigem Haptoglobin und mäßig erhöhter Retikulozytenzahl. Durch das gleichzeitige Vorliegen mehrerer Mutationen, die die Vernetzung des Membranskeletts beeinträchtigen, können alle Schweregrade einer hämolytischen Anämie bis hin zur Transfusionsbedürftigkeit entstehen. Neugeborene können sich mit schwerem Neugeborenenikterus präsentieren, jedoch liegen nicht immer die typischen Elliptozyten in diagnostischer Zahl vor. In diesen Fällen kann eine Untersuchung der Erythrozytenmorphologie beider Eltern wegweisend sein. Die Diagnose der hereditären Elliptozytose stützt sich vorwiegend auf die Erythrozytenmorphologie bei Patient und Eltern, Spezialuntersuchungen wie die Quantifizierung von Spektrinoligomeren oder der molekulare Mutationsnachweis sind selten indiziert. Die hereditäre Pyropoikilozytose (griech.: „pyr“ Feuer, „poikilo“ bunt, verschiedenartig und „cýtos“ Zelle) wird als Extremvariante der Elliptozytose aufgefasst, bei der neben einer ausgeprägten hämolytischen Anämie eine bunte Erythrozyten-
2132
morphologie mit Sphärozyten und Erythrozytenfragmenten, jedoch oft nur wenige Elliptozyten vorliegen (Abb. 5). Durch die zahlreichen Erythrozytenfragmente imponiert die Pyropoikilozytose als mikrozytär. Namensgebend war hier die ausgeprägte thermische Instabilität: Während normale Erythrozyten bei 49 C fragmentieren, ist das bei der Pyropoikilozytose schon bei 45 C der Fall. Bei der Pyropoikilozytose besteht im Säuglings- und Kleinkindesalter häufig Transfusionsbedarf, der sich später zurückbilden kann. Eine Sonderform ist die auf Melanesien (pazifische Inselgruppe) begrenzte, dominant vererbte südostasiatische Ovalozytose, die sich neben einer leichten Hämolyse durch eine relative Malariaresistenz auszeichnet. Bei ihr liegt eine heterozygote Mutation des Gens für das Bande-3-Protein vor, morphologisch finden sich neben Elliptozyten auch die pathognomonischen stomatozytischen Elliptozyten, bei denen die zentrale Aufhellung durch einen Balken zweigeteilt ist. Homozygotie für die entsprechende Mutation wurde bislang nie gefunden, sie verursacht mutmaßlich einen intrauterinen Fruchttod durch Hydrops fetalis. Wie andere chronisch-hämolytische Anämien auch, kann sich die Elliptozytose mit einer aplastischen Krise bei Erstinfektion mit Parvovirus B19 oder auch mit einer Cholelithiasis manifestieren. Therapie Wie bei der hereditären Sphärozytose kann auch bei der Elliptozytose durch eine Splenektomie die Hämolyse verringert und der Hämoglobinwert normalisiert werden. Die Indikation hierzu wird in Analogie zur Sphärozytose in Abhängigkeit vom Schweregrad gestellt, in der Regel anhand des Transfusionsbedarfs.
Andere hereditäre Membrandefekte Eine heterogene Gruppe von dominant vererbten Veränderungen der Eythrozytenmembran ist durch die veränderte Membranpermeabilität für Kationen charakterisiert. Diese kann durch einen vermehrten Natriumeinstrom zu einem Anschwellen der Zellen (hereditäre Stomatozytose, Abb. 6) oder über einen vermehrten Kaliumausstrom zu einem Schrumpfen der Zellen (hereditäre Xerozytose) führen. Über die Messung des MCHC können, über die charakteristische Erythrozytenmorphologie hinaus, Formen mit dehydrierten Erythrozyten von solchen mit überhydrierten Erythrozyten unterschieden werden. Dazwischen besteht ein breites Spektrum von Mischformen, zu denen neben hämolytischen Anämien auch die familiäre Pseudohyperkaliämie zählt. Pathogenetisch liegen Veränderungen von Transmembrantransportern zugrunde, beispielsweise durch Mutationen in dem mechanosensitiven Kationenkanal PIEZO1 bei der hereditären Xerozytose. Die Diagnose wird anhand der Erythrozytenmorphologie und der Familienanamnese vermutet. Die Abgrenzung zur hereditären Sphärozytose und zur Elliptozytose ist relevant,
J. Kunz und A. Kulozik
weil eine Splenektomie bei der Xerozytose und bei der Stomatozytose mit einem hohen Risiko für thrombembolische Komplikationen bis hin zum fatal verlaufenden pulmonalen Hypertonus verbunden und deshalb kontraindiziert ist.
4.2
Hereditäre Enzymdefekte der Erythrozyten
Erythrozyten sind Zellen ohne Organellen und verfügen damit über ein stark eingeschränktes Stoffwechselrepertoire (Abb. 9). Einzige Energiequelle ist der glykolytische Abbau von Glukose zu Laktat. Das dabei frei werdende ATP wird hauptsächlich für den Erhalt des elektrochemischen Gradienten der Zellmembran benötigt. Da Erythrozyten in ihrer Eigenschaft als Sauerstofftransporter und aufgrund der Redoxeigenschaften des Häm-Eisens einem unablässigen oxidativen Stress ausgesetzt sind, müssen sie nicht nur Energie in Form von ATP, sondern auch Reduktionsmittel in Form von NADPH bereitstellen. Letzteres wird für die Entgiftung von Peroxiden über das Glutathionsystem eingesetzt. Die Reduktion des ständig spontan entstehenden Methämoglobins wird über das bei der Glykolyse anfallende NADH bestritten. Nahezu alle Zellen des Körpers hängen von der Glykolyse ab, dennoch manifestieren sich die meisten Enzymopathien der Glykolyse ausschließlich mit Hämolyse. Nur wenige Glykolysedefekte betreffen auch andere Gewebe und verursachen etwa schwere neuromuskuläre Störungen, wie der seltene Triosephosphatisomerasemangel. Die scheinbar exklusive Sensitivität der Erythrozyten gegenüber Enzymopathien erklärt sich nicht nur aus der gewebespezifische Expression von Isoenzymen, sondern vor allem auch aus dem Unvermögen reifer Erythrozyten, Proteine neu zu synthetisieren und damit die verminderte Stabilität eines Enzyms zu kompensieren. Die meisten erythrozytären Enzymdefekte sind autosomalrezessiv vererbt. Wichtigste Ausnahme ist der häufige Mangel der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase, der X-chromosomal vererbt wird. Der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel verläuft meist in Schüben, seltener als chronische hämolytische Anämie. Die anderen Enzymopathien werden vermutet bei kongenitalen chronischen hämolytischen Anämien, die keine charakteristischen Auffälligkeiten der Erythrozytenmorphologie aufweisen und bei denen kein Hinweis auf eine Antikörperbeladung der Erythrozyten, also ein negativer Coombs-Test, vorliegt (hereditäre, chronische, nicht-sphärozytotische hämolytische Anämie). Ein universeller Screening-Test für Enzymopathien steht nicht zur Verfügung, sodass zur Diagnosestellung die Aktivitäten aller infrage kommenden erythrozytären Enzyme bestimmt werden müssen.
222
Anämien
2133
Glutathionreduktase Glukose 2 GSH
ATP Hexokinase
NADP
ADP
NADPH
Fruktose-1,6-Bisphosphat
GSSG
NADP
G - 6 - Pdehydrogenase
NADPH Ribulose - 5 - P
6-P-GlukonatCO2 dehydrogenase Xylulose - 5 - P
Fruktose-6-P Transketolase
Phosphofruktokinase
ADP
2 GSH
6-P-Gluconat
Glukose-6-Phosphat Glukosephosphatisomerase Fruktose-6-Phosphat ATP
GSSG
Transaldolase Ribose - 5 - P
Glycerinaldehyd - 3 - Phosphat
(Pentosephosphat-Zyklus)
Dihydroxyacetonphosphat
Glycerinaldehyd3 - Phosphat
Triosephosphatisomerase NAD NADH Bisphosphoglyceratmutase
1,3 - Bisphosphoglycerat ADP Methämoglobinreduktase
Phosphoglyceratkinase
ATP
2,3 - Bisphosphoglycerat
3 - Phosphoglycerat Phosphoglyceratmutase
Hb FeII
2 - Phosphoglycerat
Hb FeIII
Phosphoenolpyruvat ADP Pyruvatkinase ATP Pyruvat NADH NAD
Laktatdehydrogenase Laktat
Abb. 9 Stoffwechselschema des Erythrozyten. Die hereditären Enzymdefekte sind mit einem Rahmen markiert
Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel Der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel ist die häufigste Enzymmangelkrankheit und betrifft weltweit über 400 Mio. Menschen. Aus der Übereinstimmung des Verbreitungsgebiets des Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangels mit dem der Malaria hat man geschlossen, dass Menschen mit Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel durch
eine relative Resistenz gegen Malaria einen Überlebensvorteil genießen. Genetik und Pathogenese Der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel wird X-chromosomal vererbt. Dennoch können auch heterozygote Frauen betroffen sein: Nach der Lyon-Hypothese wird in jeder Kör-
2134
J. Kunz und A. Kulozik
perzelle zufallsmäßig eines der beiden X-Chromosomen inaktiviert, sodass ein somatisches Mosaik resultiert. Folglich besitzt etwa die Hälfte der Erythrozyten die Enzymausstattung eines hemizygoten Mannes und ist entsprechend empfindlich gegen Hämolyse. Darüber hinaus können vor allem in Kulturkreisen mit einer hohen Rate konsanguiner Partnerschaften Mädchen und Frauen von einem homozygoten Glukose-6Phosphat-Dehydrogenase-Mangel betroffen sein. Bislang wurden rund 140 verschiedene Mutationen im Gen für die Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase beschrieben, überwiegend Missense-Mutationen, die die Stabilität des Enzyms verringern. Bei den häufigen Mutationen mit höherer Restaktivität des Enzyms tritt eine Hämolyse nur krisenhaft auf bei Einwirkung von Noxen, wie der Einnahme bestimmter Medikamente oder bei Infektionen. Bei den seltenen sporadisch auftretenden Mutationen mit geringer Restaktivität kommt es zu dem Bild einer chronischen, nicht sphärozytotischen hämolytischen Anämie. Die Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase als Schlüsselenzym des Pentosephosphatwegs wird für die Bereitstellung von Reduktionsäquivalenten zur Detoxifizierung von reaktiven Sauerstoffspezies benötigt. In gesunden Erythrozyten arbeitet die Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase nur mit 1–2 % ihrer maximalen Aktivität, sodass eine große Reserve an Reduktionspotenzial besteht. Diese fehlt beim Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel, sodass oxidativer Stress nicht kompensiert werden kann und zur akuten Hämolyse führt.
weil Retikulozyten und junge Erythrozyten wesentlich höhere Enzymaktivitäten aufweisen als gealterte Erythrozyten.
Klinische Symptome und Diagnose Viele Menschen mit reduzierter Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Aktivität bleiben lebenslang asymptomatisch. Im symptomfreien Intervall ergeben sich aus dem Blutbild keine Auffälligkeiten. Erstes Krankheitszeichen kann ein Neugeborenenikterus im Sinne eines Icterus gravis sein. Die typische klinische Manifestation jedoch ist die akute hämolytische Krise mit Ikterus, Rückenschmerzen, Anämie und Hämoglobinurie, selten bis zum akuten Auftreten eines Nierenversagens. Im Blutbild finden sich oft Heinz-Körperchen, also Präzipitate denaturierten Hämoglobins, eine Anisozytose und eine Poikilozytose. Ausgelöst werden diese Krisen durch Infektionen (u. a. Hepatitis, Zytomegalievirus), den Verzehr von Saubohnen (Vicia faba) und durch bestimmte Medikamente. Hierzu zählen unter anderem Malariamittel wie Primaquin und Antibiotika wie Sulfamethoxazol oder Nitrofurantoin. Eine ausführliche Liste risikobehafteter Medikamente wird von der Associazione Italiana Favismo gepflegt und kann unter www.g6pd.org abgerufen werden. Bei entsprechender Anamnese und Klinik ist die Diagnose Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel wahrscheinlich und kann durch eine Messung der Enzymaktivität in Erythrozyten bestätigt werden. Dabei muss beachtet werden, dass unmittelbar nach einer hämolytischen Krise ein Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel verschleiert sein kann,
Genetik und Pathogenese Der Pyruvatkinasemangel wird autosomal-rezessiv vererbt. Bislang wurden etwa 160 verschiedene Mutationen beschrieben, die über eine Verminderung der Pyruvatkinaseaktivität zu einer hämolytischen Anämie führen. Die Pyruvatkinase katalysiert den letzten Schritt der Glykolyse, nämlich die unter physiologischen Bedingungen nahezu irreversible Übertragung eines Phosphatrests von Phosphoenolpyruvat auf ADP. Beim Pyruvatkinasemangel wird die ATP-Synthese durch die Glykolyse blockiert, gleichzeitig häufen sich die proximalen Metabolite der Glykolyse an. Hierzu zählt unter anderem 1,3-Bisphosphoglycerat, das wiederum im Gleichgewicht mit 2,3-Bisphosphoglycerat steht. Dieser Metabolit senkt die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins und fördert die Sauerstoffabgabe ins Gewebe, wodurch Patienten mit Pyruvatkinasemangel niedrigere Hämoglobinwerte tolerieren als Patienten mit Anämien anderer Ursache. Auf welchem Weg die ATP-Depletion der Erythrozyten zur Hämolyse führt und ob daran noch andere Mechanismen beteiligt sind, ist unbekannt.
Therapie und Prophylaxe Die meisten Patienten mit Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel können ein weitgehend normales Leben führen, indem sie die Noxen meiden, die eine hämolytische Krise auslösen können. Das setzt voraus, dass die Patienten und ihre Ärzte die Diagnose kennen und über auslösende Faktoren geschult sind. Selbsthilfegruppen tragen hierzu bei. Die Behandlung des Neugeborenenikterus bei Glukose-6Phosphat-Dehydrogenasemangel unterscheidet sich nicht von der des Neugeborenenikterus aus anderer Ursache. Häufig sind allerdings intensive Fototherapie und Transfusionen notwendig. Neugeborene mit Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Kernikterus. Obwohl Patienten mit chronischer hämolytischer Anämie aufgrund eines Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangels gelegentlich eine Splenomegalie entwickeln, profitieren sie meist nicht von einer Splenektomie.
Pyruvatkinasemangel Der Pyruvatkinasemangel ist der häufigste Defekt der erythrozytären Glykolyse und damit die häufigste Ursache der hereditären, chronischen, nichtsphärozytotischen hämolytischen Anämie. Seine Prävalenz in der weißen Bevölkerung wird auf 1:20.000 geschätzt.
Klinische Symptome und Diagnose Der klinische Schweregrad des Pyruvatkinasemangels kann variieren von einer subklinischen, kompensierten hämolytischen Anämie bis zum anhaltenden Transfusionsbedarf ab
222
Anämien
2135
dem Neugeborenenalter. Präsentierende Symptome sind Ikterus in der Neonatalzeit und darüber hinaus, Anämiezeichen und Splenomegalie. Im Gegensatz zu anderen hämolytischen Erkrankungen sind die Retikulozytenzahlen oft nicht proportional zur Hämolyseaktivität erhöht, weil Retikulozyten und junge Erythrozyten bevorzugt in der Milz sequestriert werden. Als Komplikationen können insbesondere Gallensteine und eine Hämosiderose auftreten. Letztere ist nicht nur durch wiederholte Transfusionen begünstigt, sondern auch durch die Suppression von Hepcidin durch die gesteigerte Erythropoese. Die Diagnose wird anhand der Aktivitätsmessung der Pyruvatkinase aus Erythrozyten gestellt. Der Schweregrad der Hämolyse korreliert nur schwach mit der gemessenen Enzymaktivität. Häufige Fehlerquellen bei der Messung sind die Verunreinigung der Probe durch vorangegangene Transfusionen oder durch Leukozyten, die im Vergleich zu Erythrozyten eine um den Faktor 300 höhere Pyruvatkinaseaktivität aufweisen. Therapie Besonders im Neugeborenen- und Säuglingsalter sind Transfusionen oft unumgänglich. Aufgrund der oben erwähnten erniedrigten und damit für die Sauerstoffabgabe günstigen Sauerstoffaffinität der Erythrozyten bei Pyruvatkinasemangel sollte die Entscheidung zur Transfusion noch weniger als sonst
durch den Hämoglobinwert, sondern durch die funktionelle Beeinträchtigung indiziert werden. Viele Patienten werden während des Kleinkindesalters transfusionsunabhängig oder brauchen Transfusionen nur noch in Ausnahmesituationen, wie bei Infektionen oder während der Schwangerschaft. Bei anhaltendem Transfusionsbedarf ist die Splenektomie indiziert. Durch sie steigt in der Regel die Retikulozytenzahl stark an, der Hämoglobinwert wird um 1–3 g/dl angehoben. Auch nach einer Splenektomie besteht die Hämolyse weiter und kann unter anderem eine Cholelithiasis und eine Hämosiderose begünstigen. Zumindest bei regelmäßigen Transfusionen ist eine Chelattherapie nötig, um eine Eisenüberladung zu vermeiden.
Andere erythrozytäre Enzymdefekte Neben den beiden relativ häufigen Mängeln der Glukose-6Phosphat-Dehydrogenase und der Pyruvatkinase sind noch weitere, seltene Enzymopathien als Ursache hämolytischer Anämien beschrieben worden. Sie werden in Tab. 4 zusammengestellt. Gemeinsam ist allen Erkrankungen das Fehlen kausaler Therapieoptionen. Die symptomatische Therapie besteht aus Transfusionen bei entsprechender Indikation, gegebenenfalls begleitet von einer Eisenchelattherapie. Wie bei allen chronischen hämolytischen Anämien kann dem erhöhten Folsäurebedarf durch Folsäuresupplementation begegnet werden.
Tab. 4 Seltene hereditäre Defekte des erythrozytären Stoffwechsels Enzym Hexokinase Glucosephosphatisomerase
Vererbung Autosomalrezessiv Autosomalrezessiv
Phosphofructokinase
Autosomalrezessiv
Aldolase
Autosomalrezessiv Autosomalrezessiv
Triosephosphatisomerase
Phosphoglyceratkinase
Xchromosomalrezessiv
Pyrimidin 50 -Nucleotidase
Autosomalrezessiv
Adenosindesaminase
Autosomaldominant
Klinik Chronische Hämolyse
Therapie Symptomatisch
Chronische Hämolyse, gelegentlich krisenhaft; selten neuromuskuläre Erkrankung Chronische Hämolyse; Myopathie (entspricht Glykogenose Typ VII, Tarui) Chronische Hämolyse; Myopathie Chronische Hämolyse, schwere neuromuskuläre Störung
Symptomatisch; Splenektomie
Symptomatisch
Symptomatisch Symptomatisch, allogene Stammzelltransplantation
Chronische Hämolyse; bei ♂ gelegentlich auch neurologische Störungen oder Myopathie in wechselnder Ausprägung Chronische Hämolyse
Symptomatisch; Splenektomie
Chronische Hämolyse
Symptomatisch
Symptomatisch
Besonderheit Unvollständiges Ansprechen auf Splenektomie Retikulozytose nach Splenektomie
Je nach Art der Mutation nur Muskelzellen oder nur Erythrozyten oder beide betroffen Schweregrad der Myopathie sehr variabel Schweregrad der neuromuskulären Erkrankung ist limitierend und führt oft im Kleinkindalter zum Tod Heterozygote Frauen können als somatisches Mosaik symptomatisch mit Hämolyse, nicht jedoch mit neuromuskulärer Störung sein Charakteristische basophile Tüpfelung DD Bleivergiftung! Einzige Enzymopathie, bei der erhöhte Enzymaktivitäten eine Hämolyse bedingen
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4.3
J. Kunz und A. Kulozik
Immunhämolytische Anämien
Im Gegensatz zu den intrinsischen oder korpuskulären hämolytischen Anämien, die durch Veränderungen der Membran oder des Stoffwechsels der Erythrozyten selbst verursacht sind, zählen die immunhämolytischen Anämien zu den extrinsischen Hämolysen. Gemeinsam ist allen Formen der immunhämolytischen Anämien das Vorliegen von gegen Erythrozyten gerichteten Antikörpern. Diese verkürzen die Lebensdauer der Erythrozyten entweder, indem sie die Erythrozyten für die Makrophagen des retikuloendothelialen Systems zum Abbau markieren oder indem sie die Erythrozyten direkt durch Aktivierung des Komplementsystems zerstören. Im ersten Fall spricht man von einer extravasalen Hämolyse, im zweiten von intravasaler Hämolyse. Die Geschwindigkeit der extravasalen Hämolyse wird durch die Kapazität des retikuloendothelialen Systems von Milz und Leber begrenzt, der Abbauort der Erythrozyten wird klinisch durch eine Splenomegalie, seltener Hepatomegalie offensichtlich. Bei einer alleinigen extravasalen Hämolyse treten zwar die laborchemischen Zeichen der Hämolyse mit Anämie, Retikulozytose, Hyperbilirubinämie und Haptoglobinerniedrigung auf, jedoch findet sich typischerweise kein freies Hämoglobin im Plasma, keine exzessiv erhöhte LDH und keine Hämoglobinurie. Die seltenere intravasale, komplementvermittelte Hämolyse wird durch komplementaktivierende Antikörper ausgelöst und geht aufgrund des fulminanteren Verlaufs mit der Freisetzung von Hämoglobin ins Plasma häufiger mit einer Hämoglobinurie und mit der Gefahr des akuten Nierenversagens einher. Diagnostisch wegweisend für immunhämolytische Anämien ist der Nachweis einer Antikörperbeladung der Erythrozyten im direkten Antiglobulin-Test, auch Coombs-Test genannt. Hierfür werden Patientenerythrozyten mit Serum inkubiert, das gegen humane Immunglobuline gerichtet ist. Eine Agglutination zeigt die Antikörperbeladung der Erythrozyten an.
Isoimmunhämolytische Anämien Unter isoimmunhämolytischen Anämien versteht man antikörpervermittelte Hämolysen, die nicht durch Autoantikörperbildung vermittelt werden. Sie kommen zustande durch passive Übertragung von antierythrozytären Antikörpern von der Mutter auf das ungeborene, nicht blutgruppenkompatible Kind (Morbus haemolyticus neonatorum), durch Transfusion von erythrozytären Antikörpern mit nicht blutgruppenkompatiblem Plasma oder durch Transfusion von nicht kompatiblen Erythrozytenkonzentraten. Häufigste Ursache ist der physiologische Übergang von fetalen Zellen in den Kreislauf der Mutter, der bei entsprechender Inkompatibilität (typischerweise eines Rh(+)-Kindes bei Rh()-Mutter) eine Immunisierung der Mutter verursacht und bei einer folgenden
Schwangerschaft zum Morbus haemolyticus neonatorum führen kann. Daher muss bei Rh()-Schwangeren peripartal und bei pränatalen Eingriffen, wie etwa Amniozentesen, die Anti D-Prophylaxe durchgeführt werden. Außerdem müssen Rh()-Frauen stets mit Rh()-Blut transfundiert werden. Die Symptomatik der isoimmunhämolytischen Anämie hängt von der Art der Autoantikörper ab. Beim Morbus haemolyticus neonatorum, der Rhesus-Erythroblastose, werden Antikörper der Klasse IgG übertragen, die eine chronische extravasale Hämolyse verursachen und bei Überschreitung der Kompensationsfähigkeit des Feten zum Hydrops fetalis führen. Bei der Transfusion von im AB0System inkompatiblen Blutkonserven führen die Isoagglutinine des Empfängers, die der Klasse IgM angehören, über eine Komplementaktivierung zu einer fulminanten intravasalen Hämolyse mit schwersten Allgemeinreaktionen bis zum Schock und zur Verbrauchskoagulopathie. Bei den ersten Anzeichen einer solchen Transfusionsreaktion muss die Transfusion abgebrochen und eine Schocktherapie eingeleitet werden. Hochdosierte Glukokortikoide können hilfreich sein.
Autoimmunhämolytische Anämie Autoimmunhämolytische Anämien (AIHA) gelten im Kindesalter als selten, ihre Inzidenz wird auf weniger als 1:100.000 geschätzt. Bei rund der Hälfte der Patienten tritt die AIHA nicht isoliert (primäre AIHA), sondern im Kontext einer systemischen Autoimmun- oder Immundefekterkrankung (sekundäre AIHA) auf. Eine Assoziation mit malignen Erkrankungen, wie sie im Erwachsenenalter besteht, ist bei Kindern und Jugendlichen selten. Klassifizierung Die gebräuchlichste Klassifizierung der AIHA berücksichtigt das Temperaturoptimum für die Bindung der Autoantikörper an Erythrozyten in vitro und die Klasse der Autoantikörper. Die AIHA vom Wärmetyp wird überwiegend durch IgGAutoantikörper verursacht, die bei Körpertemperatur optimal an Erythrozyten binden. Wärmeantikörper können meist in vivo kein Komplement aktivieren und führen zu einer extravasalen Hämolyse. Klinisch fallen neben Anämiezeichen, Splenomegalie und Ikterus bei der akuten Form oft auch Fieber und Bauchschmerzen auf, gelegentlich kann die Hämolyse jedoch auch kompensiert sein und chronisch verlaufen. Bei der AIHA vom Kältetyp liegen Autoantikörper der Klasse IgM vor, überwiegend postinfektiös nach Mykoplasmenpneumonie oder EBV-Primärinfektion. Diese binden in vitro bei etwa 4 C optimal an Erythrozyten und können bei höheren Temperaturen über eine direkte Komplementaktivierung zur intravasalen Hämolyse führen. Das Ausmaß der Hämolyse wird durch die Temperaturamplitude und den Titer der Autoantikörper bestimmt, die Klinik gleicht derje-
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Anämien
nigen der akuten AIHA vom Wärmetyp. Durch die intravasale Hämolyse tritt jedoch häufiger eine makroskopisch sichtbare Hämoglobinurie mit dunkelroter Urinfarbe auf. Meist ist die Erkrankung akut auftretend und innerhalb von Tagen reversibel. Die bei älteren Erwachsenen beschriebene chronische AIHA vom Kältetyp ist im Kindesalter eine Rarität. Die paroxysmale Kältehämoglobinurie oder AIHA vom Typ Donath-Landsteiner tritt ausschließlich im Kindesalter nach viralen Infekten auf und wird durch Autoantikörper der Klasse IgG verursacht, die in der Kälte an Erythrozyten binden und durch Komplementaktivierung zur intravasalen Hämolyse führen. Klinisch fällt neben den anderen Hämolysezeichen vor allem die durch Kälteexposition induzierte Hämoglobinurie mit Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Fieber auf. Auch die AIHA vom Typ Donath-Landsteiner ist, wie die AIHA vom Kältetyp mit IgM-Autoantikörpern, oft innerhalb von Tagen reversibel. Eine bei Kindern extrem seltene Sonderform der AIHA ist die durch medikamenteninduzierte oder medikamentenabhängige Autoantikörper ausgelöste. Häufigste auslösende Medikamente sind Antibiotika und nichtsteroidale Antiphlogistika. Diagnose und Differenzialdiagnose Wie bei hämolytischen Anämien aus anderer Ursache findet sich bei der AIHA laborchemisch eine Anämie mit Retikulozytose und Hyperbilirubinämie. Das Ausmaß der LDH-Erhöhung im Plasma und der Nachweis freien Hämoglobins im Plasma weisen auf eine intravasal ablaufende Hämolyse hin. Auch eine Hämoglobinurie ist Zeichen der intravasalen Hämolyse und Warnsignal für ein drohendes Nierenversagen. Im Blutausstrich können sich agglutinierte Erythrozyten finden, oft auch eine durch die Autoantikörper vermittelte Kugelzellbildung, die morphologisch von der hereditären Sphärozytose nicht unterschieden werden kann. Für die Diagnose und Klassifizierung entscheidend sind der Nachweis von gebundenen und freien Autoantikörpern und deren Klasse sowie einer Komplementbeladung der Erythrozyten. Bei vortransfundierten Patienten muss auch nach Alloantikörpern gesucht werden. Nach Diagnose einer AIHA sollte stets auch nach zugrunde liegenden Immundefekt- und Autoimmunerkrankungen gesucht werden. Hierzu zählen die Messung der IgG-, IgAund IgM-Spiegel, eine Immunphänotypisierung der Lymphozyten und der Nachweis antinukleärer Antikörper. Therapie und Prognose Bei lebensbedrohlicher Anämisierung ist die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten trotz grundkrankheitsbedingt positiver Kreuzprobe wirksam und sicher. Die AIHA vom Wärmetyp spricht oft auf eine immunsuppressive Therapie mit Glukokortikoiden (Prednisolon
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2 mg/kg/Tag oder Dexamethasonpulse 0,5 mg/kg/Tag für 4 Tage) an. Diese muss dann vorsichtig über Wochen reduziert werden. Die Therapie der steroidrefraktären und der steroidabhängigen AIHA kann die Hinzunahme von Azathioprin, in Ausnahmefällen auch Rituximab, Cyclophosphamid oder Cyclosporin A erfordern. Die kälteabhängige AIHA ist oft rasch reversibel, sodass der Schutz vor Kälteexposition meist genügt. Glukokortikoide sind beim Vorliegen von Kälteantikörpern nicht gut wirksam.
4.4
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH)
Definition und Pathogenese Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) ist eine erworbene, klonale Erkrankung des Knochenmarks. Dem pathologischen Klon fehlt durch eine somatische Mutation des PIG-A-Genes die Fähigkeit zur Synthese von Membranproteinen mit Glykosylphosphatidylinositol(GPI)-Anker. Davon betroffen ist unter anderen das Protein CD59, dessen Wirkung als membranständiger Inhibitor der komplementvermittelten Lyse in den Zellen des pathologischen Klons fehlt. Obwohl auch Granulozyten und Monozyten denselben Defekt tragen, sind insbesondere Erythrozyten ohne GPIverankerte Proteine empfindlich gegen komplementvermittelte, intravaskuläre Hämolyse. Die PNH kann isoliert auftreten oder im Zusammenhang mit einem Knochenmarkversagen bei aplastischer Anämie oder im Rahmen eines MDS. Sie ist eine seltene Erkrankung, die überwiegend im Erwachsenenalter, gelegentlich jedoch auch bei Schulkindern und Jugendlichen auftritt. Klinische Symptome und Diagnose Die komplementvermittelte, intravasale Hämolyse ist, aufgrund des oft nächtlichen und krisenhaften Auftretens mit Hämoglobinurie, namensgebendes und oft auch präsentierendes Symptom der PNH. Ihr Schweregrad hängt von dem Anteil des GPI-defizienten Klons, dem Schweregrad der GPI-Defizienz und von der Komplementaktivität ab. Durch letzteres erklärt sich die oft durch Infekte ausgelöste Hämolyse. Die Hämolyse und damit verbundene Hämoglobinurie kann neben der Anämisierung zu weiteren Komplikationen führen, darunter zum akuten Nierenversagen, zur Hämosiderose der Nierentubuli mit chronischer Niereninsuffizienz und zum Eisenmangel. Freies Hämoglobin im Plasma bindet Stickstoffmonoxid (NO), wodurch dessen relaxierende Wirkung auf glatte Muskulatur verloren geht. Dadurch wird die insbesondere im Rahmen von hämolytischen Krisen auftretende gastrointestinale Symptomatik mit Bauchkrämpfen und Ösophagusspasmen, aber auch die typische erektile Dysfunktion erklärt.
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J. Kunz und A. Kulozik
Neben der Hämolyse die zweite bedrohliche Komplikation der PNH ist die Neigung zu venösen Thrombosen, oft auch in ungewöhnlichen Stromgebieten, wie den Lebervenen oder den intrakraniellen Sinus venosus. Die PNH kann mit Thrombozytopenie und Neutropenie, also einer Knochenmarkinsuffizienz, einhergehen, die bis zur aplastischen Anämie fortschreiten kann. Bei einem Teil der Patienten mit aplastischer Anämie und refraktärer Zytopenie/ MDS finden sich ebenfalls kleine GPI-defiziente Klone. Allerdings können auch bei gesunden Menschen gelegentlich Granulozyten mit PIG-A-Mutation und GPI-Defizienz nachgewiesen werden. Die Diagnose einer PNH muss erwogen werden bei anderweitig nicht erklärlicher Hämolyse oder Zytopenie, bei Hämoglobinurie, bei ungewöhnlichen Thrombosen sowie bei allen Patienten mit aplastischer Anämie und MDS. Sie wird gesichert durch den durchflusszytometrischen Nachweis des GPI-defizienten Klons in Erythrozyten, Granulozyten oder beiden.
topenie begleitet. Im Blutausstrich finden sich die typischen Fragmentozyten, oft in Helmform (Abb. 7). Beispiele für Mikroangiopathien mit Hämolyse sind das hämolytischurämische Syndrom (HUS; ▶ Kap. 248, „Hämolytisch-urämisches Syndrom“), die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP; ▶ Kap. 248, „Hämolytisch-urämisches Syndrom“) und das Kasabach-Merritt-Syndrom bei großen gefäßreichen Tumoren (▶ Kap. 348, „Hauttumoren“).
4.6
Hämolytische Anämien aufgrund einer pathologischen Hämoglobinzusammensetzung
Mikroangiopathische hämolytische Anämie
Hereditäre Störungen des Hämoglobins, also Hämoglobinopathien, können entsprechend der Funktion und relativen Abundanz des Hämoglobins eine Vielzahl von Symptomen verursachen. Diese werden bedingt durch Störungen des Sauerstofftransports, Störungen der rheologischen Eigenschaften des Blutes, Störungen der Blutbildung, Störung der Membraneigenschaften der Erythrozyten und Instabilität der Erythrozyten, also Hämolyse. Bei jeder einzelnen Hämoglobinopathie können die genannten Aspekte in wechselnder Ausprägung vorhanden sein. Hämoglobin (HbA) ist ein Heterotetramer aus je 2 α- und β-Globinketten mit insgesamt 4 Häm-Gruppen als Sauerstoffbindungsstelle. Die Bindung von Sauerstoff erfolgt kooperativ, d. h. wenn eine Sauerstoffbindungsstelle besetzt und die stabilere Deoxyform aufgebrochen ist, werden auch die übrigen Bindungsstellen leichter besetzt. Daraus resultiert die sigmoide Kurve der Sauerstoffbindung, die durch physiologische Veränderungen, u. a. des pH-Werts, der Chloridund Kohlendioxidkonzentration und der Konzentration an 2,3-Bisphosphoglycerat verschoben wird. Dadurch werden Sauerstoffaufnahme und -abgabe in der Lunge bzw. im Gewebe optimiert. Hämoglobin in Vollblut ist bei einer Sauerstoffspannung von 26 mmHg halbmaximal mit Sauerstoff gesättigt. Dies liegt im Bereich der mittleren venösen Sauerstoffspannung von 30 mmHg und erlaubt eine gute Ausschöpfung der Sauerstofftransportkapazität. Genetisch liegen den Hämoglobinopathien Mutationen der Globingene zugrunde. Grundsätzlich unterscheidet man 2 Typen von Globingenmutationen: • Bei der einen wird das Expressionsniveau der betroffenen Globinkette reduziert, was zur Thalassämie führt. • Bei der anderen ändert sich die Struktur des Hämoglobins, was als Hämoglobinanomalie bezeichnet wird.
Bei den mikroangiopathisch bedingten hämolytischen Anämien kommt es zur intravasalen Hämolyse durch mechanische Schädigung der Erythrozyten in einem pathologischen Gefäßbett. Meist ist die Hämolyse nur ein Aspekt einer schwerwiegenden Erkrankung, sie wird regelhaft von einer Thrombozy-
Viele der Hämoglobinanomalien bleiben asymptomatisch, weil die meisten Aminosäuresubstitutionen in den Globinketten funktionell neutral bleiben. Für die klinische Ausprägung ist darüber hinaus von Bedeutung, wann während der Entwicklung eine Globinkette exprimiert wird. Störungen
Therapie Die etablierten Therapieoptionen bei der PNH sind Bluttransfusionen, Supplementation von Eisen und Folsäure, Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten oder fraktioniertem Heparin und bei aplastischer Anämie eine immunsuppressive Therapie. In ausgewählten Fällen wurde die allogene Stammzelltransplantation erfolgreich eingesetzt. Prognoselimitierend sind insbesondere thrombotische Ereignisse, die auch unter prophylaktischer Antikoagulation auftreten, aber auch die Progression in eine aplastische Anämie, ein MDS oder auch eine akute Leukämie. Mit dem monoklonalen Antikörper Eculizumab, der gegen das Komplementprotein C5 gerichtet ist und die Bildung des terminalen Komplementkomplexes C5b-9 verhindert, wurde eine an der Pathophysiologie orientierte Therapie der PNH entwickelt. Eculizumab kann den Transfusionsbedarf verringern und die Komplikationen der Hämolyse verhindern, inklusive die belastenden gastrointestinalen Symptome. Auch die Rate bedrohlicher thrombotischer Ereignisse scheint durch Eculizumab deutlich gesenkt zu werden. Dennoch kann durch Eculizumab keine Heilung erzielt werden, da der GPI-defiziente und potenziell prämaligne Klon bestehen bleibt.
4.5
222
Anämien
des β-Globins beispielsweise werden erst ab einem Alter von 3–6 Monaten symptomatisch, wenn physiologischerweise die Expression des fetalen γ-Globins abgelöst wird durch β-Globin. Bei den Thalassämien kann sich kein oder, bei noch vorhandener Restaktivität des betroffenen Gens, zu wenig normales Heterotetramer bilden. Das quantitativ regelrecht gebildete andere Globinkettenpaar ist nicht funktionell, schlecht löslich und als sog. Überschussglobin toxisch für die erythropoetische Zelle. Bei den homozygoten β-Thalassämien führt das überschüssige α-Globin zur ineffektiven Erythropoese, d. h. zum Zelltod bereits auf der Stufe der erythroiden Vorläuferzellen im Knochenmark bei nur geringgradiger peripherer Hämolyse. Bei den α-Thalassämien findet sich vornehmlich eine periphere Hämolyse. Das Überschusshämoglobin ist stabiler als bei der β-Thalassämie und kann ab der späteren Säuglingszeit im frischen Blut als HbH (β4) und in der Fetalzeit, der Neugeborenenperiode und in der frühen Säuglingszeit als Hb Bart’s (γ4) nachgewiesen werden. Bei den schweren Formen der α-Thalassämie haben diese Überschusshämoglobine den jeweiligen klinischen Erkrankungen als HbBart’s Hydrops fetalis bzw. als HbH-Krankheit den Namen gegeben. Es gibt auch Thalassämien, bei denen es zusätzlich zu Veränderungen der Globinkettenstruktur kommt. Häufiges Beispiel ist das HbE. Die in Europa zahlenmäßig bedeutsamsten Hämoglobinopathien sind die Sichelzellkrankheit und die Thalassämiesyndrome. In Asien ist das HbE ausgesprochen häufig.
Hämolytische Anämien aufgrund instabiler Hämoglobine Beispielhaft für diese seltene Form der hereditären hämolytischen Anämie ist das Hb Köln, bei dem eine Mutation der Häm-Bindetasche die Häm-Globin-Interaktion und damit das Hämoglobin insgesamt destabilisiert. Dadurch wird die Oxidation des Häm-Eisens begünstigt. Das oxidierte Häm kann vom Globin dissoziieren oder aber kovalent an den Globinanteil gebunden werden. Letztlich kommt es zur irreversiblen Denaturierung des Hämoglobins mit Bildung der mikroskopisch nachweisbaren Heinz-Körperchen. Instabile Hämoglobine werden autosomal-dominant vererbt. Klinisch zeigen sich Blässe, Ikterus und Splenomegalie, die Abbauprodukte des Häms können den Urin braun färben (Mesobilifuszinurie). Die Hämolyse kann krisenhaft verstärkt werden durch Infektionen oder auch durch Exposition mit Medikamenten wie Sulfonamiden. Die typischen Heinz-Innenkörper können am besten im mit Brillantkresylblau gefärbten Blutausstrich dargestellt werden. Die Diagnose wird durch die DNA-Analyse der Globingene gesichert. Die meisten Patienten mit Heinz-Körper-Anämie bedürfen keiner spezifischen Therapie. Auslösende Agenzien sollten gemieden werden, hämolytische oder aplastische Krisen
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können durch Transfusionen überbrückt werden. Eine Splenektomie ist nur bei Hypersplenismus indiziert. Einzelne Patienten wurden, in Analogie zur Sichelzellkrankheit, mit Hydroxycarbamid behandelt.
Sichelzellkrankheit Definition und Pathophysiologie Die Sichelzellkrankheit ist eine autosomal-rezessiv vererbte hämolytische Anämie, die sich aufgrund der Neigung zu Gefäßverschlüssen durch pathologisch veränderte Erythrozyten, die Sichelzellen, als Multiorganerkrankung manifestiert (Tab. 5). Genetisch liegt der Sichelzellkrankheit eine Homozygotie für die HbS-Mutation (β6Glu ! Val), eine gemischte Heterozygotie für HbS und β-Thalassämie (Sichelzell-β-Thalassämie) oder eine gemischte Heterozygotie für HbS und andere anomale Hämoglobine, z. B. HbC (HbSCKrankheit) zugrunde. Da bei Heterozygoten eine relative Resistenz gegen schwere Verlaufsformen der Malaria besteht, ist das Vorkommen der HbS-Mutation an das Vorkommen der Malaria gebunden („balancierende Selektion“). In Deutschland tritt die Sichelzellkrankheit ausschließlich bei Immigranten aus dem Mittelmeerraum, Zentralafrika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Indien auf. HbS polymerisiert im deoxygenierten Zustand zu langen Aggregaten und zwingt dem betroffenen Erythrozyten die namensgebende Sichelform auf (Abb. 10). Diese geschädigten Erythrozyten verlieren ihre Verformbarkeit und werden durch das retikuloendotheliale System bevorzugt abgebaut. Sie sind, gemeinsam mit einer chronischen HyperkoagubiliTab. 5 Ausgewählte Organmanifestationen der Sichelzellkrankheit Organ ZNS
Lunge Gastrointestinaltrakt
Milz Skelettsystem
Urogenitaltrakt
Auge Blut
Manifestation - Kinder: ischämische Infarkte durch Verschlüsse großer Arterien - Erwachsene: intrakranielle Blutungen Akutes Thoraxsyndrom, pulmonaler Hypertonus Girdle-Syndrom: paralytischer Ileus bei Mesenterialinfarkt, Cholezystolithiasis und Cholezystitis, Leber: Sequestration, Infarkte Milzsequestration, funktionelle Asplenie durch Milzinfarkte Schmerzkrisen, Osteomyelitis, avaskuläre Osteonekrosen Verlust der Urinkonzentrationsfähigkeit, Makrohämaturie durch Papillennekrosen, Proteinurie, chronisches Nierenversagen, Priapismus Proliferative Retinopathie Chronische hämolytische Anämie, aplastische Krise
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Abb. 10 Erythrozytenmorphologie bei Sichelzellkrankheit: Sichelzellen
tät und einer multifaktoriell bedingten Endothelschädigung, verantwortlich für die Neigung zu Gefäßverschlüssen, die zu den zahlreichen Komplikationen der Sichelzellkrankheit führt. Klinische Symptome Die chronische hämolytische Anämie ist meist gut kompensiert und zeigt sich als Blässe, Ikterus, beim Kleinkind auch mit einer Splenomegalie. Symptomatisch werden die Kinder meist im Alter von einigen Monaten, wenn die γ-GlobinSynthese von der Synthese des mutierten β-Globins abgelöst wird. Wie bei anderen chronischen hämolytischen Anämien ist eine Cholezystolithiasis häufig. Die Erstinfektion mit Parvovirus B19 kann eine aplastische Krise auslösen. Für die Prognose und auch die Lebensqualität von Patienten mit Sichelzellkrankheit sind die durch Vasookklusion hervorgerufenen Symptome wesentlich beeinträchtigender als die der Hämolyse. Häufigste solche Ereignisse sind akute Schmerzkrisen, auch als vasookklusive Krisen bezeichnet, die bei kleinen Kindern bevorzugt als Hand-Fuß-Syndrom auftreten, bei größeren Kindern die langen Röhrenknochen und auch den Rumpf betreffen. Sie werden ausgelöst durch Kälte, Infektionen oder Dehydratation. Die Schmerzen werden als vernichtend empfunden und bedürfen regelhaft einer intensiven Analgesie, oft auch mit Opioiden. Schmerzkrisen können als entzündliche Reaktion von Fieber und einem lokalen Ödem begleitet sein, sodass im Einzelfall die Abgrenzung zur Osteomyelitis schwierig sein kann, die im Gegensatz zur vasookklusiven Krise typischerweise jedoch asymmetrisch auftritt. Okklusionen der Mesenterialgefäße manifestieren sich mit Bauchschmerzen und paralytischem Ileus und werden als Girdle-Syndrom bezeichnet.
J. Kunz und A. Kulozik
Das relativ saure und hypoxische Milieu der roten Milzpulpa begünstigt die Aggregation des HbS. Dies kann bei Kleinkindern zur lebensbedrohlichen Milzsequestration führen, die sich als rasch einsetzende Milzvergrößerung mit krisenhafter Anämisierung trotz hoher Retikulozytenzahlen äußert und eine dringliche Transfusionsindikation darstellt. Auch ohne klinisch apparente Milzsequestration kommt es aufgrund rezidivierender Milzinfarkte typischerweise zur funktionellen Asplenie, die sich in der besonderen Anfälligkeit für invasive Infektionen durch bekapselte Erreger äußert. Ähnlich wie die Milz sind auch die Papillen des Nierenmarks anfällig für die Sichelzellbildung. Daraus resultierten Papillennekrosen, die sich akut als Makrohämaturie und chronisch als Hyposthenurie und Niereninsuffizienz manifestieren. Durch die Sequestration von Blut in der Lungenstrombahn kommt es zum akuten Thoraxsyndrom. Dieses äußert sich durch Thoraxschmerzen, Husten, Tachydyspnoe und radiologisch als neu aufgetretenes Infiltrat, sodass es von einer Pneumonie nicht unterschieden werden kann. Auslösend können pulmonale Infekte mit Minderperfusion einzelner Lungenabschnitte sein, aber auch Fettembolien nach vorangegangenen Schmerzkrisen. Das akute Thoraxsyndrom löst jenseits des Kleinkindesalters die Milzsequestration als häufigste letal verlaufende Komplikation der Sichelzellkrankheit ab und wird wie diese mittels (Austausch-)Transfusionen behandelt. Etwa 7 % der Sichelzellpatienten erleiden, oft schon im Kindesalter, Verschlüsse oder auch Blutungen der großen intrakraniellen Gefäße, die sich als Apoplex äußern. Beschleunigungen der Flussraten in der A. cerebri media können mittels transkranieller Doppler-Messung festgestellt werden und zeigen an, welche Patienten einem hohen Risiko für solche Infarkte ausgesetzt sind. Sie werden ebenso wie Patienten mit bereits erfolgten Schlaganfällen einem prophylaktischen chronischen Transfusionsprogramm zugeführt. Bei männlichen Patienten jenseits des 5. Lebensjahres, insbesondere bei solchen mit ausgeprägter Hämolyse, kann ein Priapismus akut Schmerzen und auf Dauer eine Impotenz verursachen. Diagnose Laborchemisch findet sich bei der homozygoten Sichelzellkrankheit eine hyperregeneratorische hämolytische Anämie mit der typischen Morphologie (Abb. 10). Die Auftrennung der Hämoglobinvarianten ergibt den Nachweis von HbS ohne Nachweis von HbA. Die isolierte Heterozygotie für HbS, bei der etwa 30–40 % HbS nachgewiesen werden, hat keinen Krankheitswert. Die Diagnose kann im Neugeborenenscreening wie auch später im Leben mittels Hämoglobinanalyse oder auch molekulargenetisch gestellt werden. Ein solches Screening wurde in Deutschland bisher nicht etabliert, hat aber in Ländern wie den USA, Belgien oder dem Vereinigten
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Anämien
Königreich zu einer deutlichen Reduktion der Sterblichkeit von Patienten mit Sichelzellkrankheit im Kleinkindesalter geführt. Therapie und Prävention Die frühzeitige Diagnosestellung und Prophylaxe mit Penicillin sowie die konsequente Durchführung der Pneumokokken- und Meningokokkenimpfung kann die Mortalität durch die infektiösen Komplikationen der funktionellen Asplenie verringern. Die Eltern der Patienten mit Sichelzellkrankheit sollten zur täglichen Milzpalpation angeleitet werden, um eine Milzsequestration frühzeitig zu erkennen. Die prophylaktische Gabe von Hydroxycarbamid kann in allen untersuchten Altersgruppen, u. a. durch die Induktion der HbF-Synthese, die Häufigkeit von Schmerzkrisen und des akuten Thoraxsyndroms senken. Sie hat sich auch bei Kleinkindern als sicher erwiesen und gilt als grundsätzlich indiziert bei allen Patienten mit symptomatischer Sichelzellkrankheit. Etablierte Indikation für ein chronisches Transfusionsprogramm ist die Verhinderung eines ZNS-Infarktes nach vorangegangenem Infarkt und bei erhöhten Flussgeschwindigkeiten in der A. cerebri media. Vor größeren chirurgischen Eingriffen kann ebenfalls durch Transfusionen das Risiko perioperativer vasookklusiver Komplikationen verringert werden. Schmerzkrisen bedürfen einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr, einer warmen Umgebung und einer schnellen und intensiven Analgesie. Indikationen zur Transfusion bzw. Austauschtransfusion sind lebensbedrohliche vasookklusive Ereignisse, also die Milzsequestration, das akute ThoraxSyndrom, ein akuter ZNS-Infarkt und das Girdle-Syndrom. Der Priapismus bei Sichelzellenpatienten kann konservativ mit ausreichender Flüssigkeitszufuhr, Blasenentleerung, Analgetika und oral verabreichten α-adrenergen Agonisten (Effortil) behandelt werden. Persistiert hierunter der Priapismus über >3 Stunden, wird die intrakavernöse Gabe von α-Adrenergika (Suprarenin) empfohlen. Auch Transfusionen sind gegen chronisch-rekurrierenden Priapismus wirksam. Einzig etablierte kurative Therapie der Sichelzellkrankheit ist die allogene Stammzelltransplantation. Sie wird mittlerweile für alle Patienten mit Sichelzellkrankheit, für die ein HLA-identischer Stammzellspender in der Familie zur Verfügung steht, empfohlen. Darüber hinaus gibt es Einzelfallberichte einer erfolgreichen Gentherapie mit einem lentiviralen Vektor. Prognose Wie der klinische Verlauf ist auch die Prognose der Sichelzellkrankheit ausgesprochen variabel und hängt unter anderem vom genetischen Hintergrund ab. Bei optimaler Betreuung erreichen 90 % der Patienten mit Sichelzellkrankheit das
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Erwachsenenalter, die durchschnittliche Lebenserwartung wird mit 40–50 Jahren bei stark reduzierter Lebensqualität angegeben.
5
Anämien mit Dyserythropoese und ineffektiver Erythropoese
Von ineffektiver Erythropoese spricht man, wenn im Knochenmark zwar erythropoetische Vorläufer in großer Zahl nachweisbar sind, aber aufgrund einer beschleunigten Apoptose der Vorläufer nur unverhältnismäßig wenige Retikulozyten in das periphere Blut ausgeschwemmt werden. Einige der zuvor unter hyporegeneratorische Anämien beschriebenen Erkrankungen, wie die megaloblastären Anämien und die sideroblastischen Anämien, zeichnen sich neben anderen Merkmalen auch durch eine ineffektive Erythropoese aus. Im Folgenden werden angeborene Erkrankungen beschrieben, bei denen eine vererbte Störung zur ineffektiven Erythropoese führt.
5.1
Thalassämiesyndrome
Thalassämien sind Erbkrankheiten, bei denen die verminderte Expression einer Hämoglobinkette zu einer mikrozytären Anämie mit intra- und extramedullärer Hämolyse führt. Durch das Ungleichgewicht zwischen den Globinketten präzipitieren die überschüssigen Globinketten oder bilden infunktionelle Tetramere, wie das HbH (β4) oder Hb Bart’s (γ4). Wenn diese mit pathologischen Innenkörpern beladenen Erythrozyten das Knochenmark verlassen können, werden sie bevorzugt von der Milz abgebaut. Es wurden mehrere Hundert Mutationen der Globingene beschrieben, die Thalassämiesyndrome verursachen können. Je nachdem, welche Globinkette vermindert gebildet wird, spricht man von α-, β-, γ- oder δ-Thalassämie. Davon sind insbesondere die ersten beiden von klinischer Bedeutung und zählen zu den häufigsten Erbkrankheiten weltweit. Die Thalassämiesyndrome werden in der Regel rezessiv vererbt. Aufgrund der Vielzahl der Thalassämiemutationen mit variabler Auswirkung auf das Expressionsniveau der betroffenen Globinkette, aufgrund des gleichzeitigen Vorliegens von mehreren Thalassämiemutationen und aufgrund des Einflusses modifizierender genetischer Faktoren ist die klinische Ausprägung der Thalassämiesyndrome sehr variabel und kann nicht immer aus der Sequenzanalyse der Globingene vorhergesagt werden (Tab. 6). Die Prävalenz der Thalassämie ist, wie auch die der Sichelzellkrankheit und des Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangels, in Malariaendemiegebieten erhöht. Durch die
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Tab. 6 Klinische Erscheinungsformen der β-Thalassämie Parameter Hämoglobinkonzentration (g/dl)
β-Thalassaemia minor >10
MCV (fl) HbA2 (%) HbF (%)
55–69 3,5–8 1–5
β-Thalassaemia intermedia 7–10 kein regelmäßiger Transfusionsbedarf 50–60 Variabel 20–80
Hepatosplenomegalie, Skelettveränderungen durch Knochenmarkhyperplasie Organsiderose Therapie
–
++
– Keine; humangenetische Beratung, wenn beide Eltern heterozygot sind
++ Optionen: Transfusionen bei Bedarf Eisenchelattherapie bei Bedarf Hydroxycarbamid Splenektomie
Immigration aus dem Mittelmeerraum, Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Indien ist vor allem die β-Thalassämie auch in Mitteleuropa zu einer relevanten Krankheit geworden. Die α-Thalassämie ist vor allem in Südostasien, weniger in Afrika und den Mittelmeerländern verbreitet.
Heterozygote b-Thalassämie Das Vorliegen einer heterozygoten β0- oder β+-Mutation, also einer Mutation des β-Globingens mit vollständig oder teilweise fehlender Expression, führt zu einer ausgeprägten Mikrozytose, jedoch nur zu einer leichtgradigen Anämie oder einer Hb-Konzentration im unteren Normalbereich ohne klinische Symptome (Thalassaemia minor). Die fehlende Anisozytose und das normwertige Ferritin unterscheiden die Thalassaemia minor von der Eisenmangelanämie. Hilfreich bei der Diagnose kann das Blutbild beider Eltern sein, von denen mindestens ein Teil ebenfalls eine Mikrozytose aufweisen sollte. Die Diagnose wird über die Hämoglobinanalyse bestätigt. Die in relativem Überschuss vorliegenden α-Globinketten binden sich unter diesen Bedingungen vermehrt an die δ-Globinketten, sodass das HbA2 (α2δ2) erhöht ist. Eine molekulargenetische Sicherung der Diagnose ist im Kontext einer humangenetischen Beratung indiziert, wenn beide Eltern heterozygot sind. Die Thalassaemia minor erfordert keine Therapie. Häufig führt die Mikrozytose ohne oder bei leichter Anämie zu der Fehldiagnose einer Eisenmangelanämie. Eine Eisensubstitution ist jedoch bei der Thalassaemia minor nur bei nachgewiesenem Eisenmangel mit erniedrigtem Serumferritin indiziert. Liegt bei beiden Eltern eine Thalassaemia minor vor, besteht das Risiko einer homozygoten Thalassaemia major.
β-Thalassaemia major 10 % des Blutvolumens treten die Zeichen eines Volumenmangelschocks mit Tachykardie, Blutdruckabfall und Bewusstseinsstörung ein, bevor im Blutbild Änderungen von Hämatokrit oder Hämoglobinkonzentration messbar sind. Erst nach 8–24 Stunden fällt der Hämatokrit durch Einstrom von extravasaler Flüssigkeit ab. Die sich entwickelnde Anämie ist bei akuter Blutung normozytär, während eine mikrozytäre Anämie auf einen chronischen Blutverlust mit Eisenmangel hindeutet. Nach etwa 5 Tagen ist ein reaktiver Retikulozytenanstieg zu erwarten.
6.2
Anämie durch chronischen Blutverlust
Der Eisenverlust durch chronischen Blutverlust kann die Kapazität zur intestinalen Eisenaufnahme übersteigen und dann zu einer hypochromen, mikrozytären Anämie führen. Ursachen sind insbesondere okkulte Blutungen aus dem Gastrointestinaltrakt, aber auch Hypermenorrhoe bei adoleszenten Mädchen und rezidivierende Epistaxis. Neben der Beseitigung der Blutungsquelle ist eine Eisensupplementation erforderlich.
Weiterführende Literatur
Abb. 13 Knochenmarkzytologie bei CDA Typ II: Multinuklearität der Erythroblasten
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Funktionsstörungen des Hämoglobins und Polyzythämie
223
Joachim Kunz und Andreas Kulozik
Funktionsstörungen des Hämoglobins können entweder, bei den Thalassämien, durch eine verminderte Synthese einer der Globinketten oder, bei den Hämoglobinanomalien, durch die Produktion eines fehlerhaften Hämoglobins verursacht sein. Dieses Kapitel fokussiert auf die hereditären Varianten und erworbenen Funktionsstörungen des Hämoglobins, die entweder zur Instabilität, zur veränderten Sauerstoffaffinität, zur Methämoglobinbildung oder zur Polyzythämie führen.
1
Instabile Hämoglobinvarianten
Instabile Hämoglobinvarianten führen zu einer autosomaldominant vererbten hämolytischen Anämie mit charakteristischen Heinz-Körpern. Eine detaillierte Beschreibung dieser Form der Hämoglobinanomalien findet sich in ▶ Kap. 222, „Anämien“.
2
Thalassämische Hämoglobinvarianten
Bei thalassämischen Hämoglobinvarianten ist ein Strukturdefekt des Hämoglobins mit einer verminderten Synthese verbunden. Die häufigste dieser Varianten ist das HbE, bei dem eine Mutation des β-Globins sowohl die mRNA-Prozessierung als auch die Stabilität des Proteins beeinträchtigt. Homozygot Betroffene leiden unter einer leicht ausgeprägten hämolytischen Anämie. Die gemischte Heterozygotie für HbE und eine β0-Mutation verläuft meist als transfusionsbedürftige Thalassaemia major oder aber, in Abhängigkeit von genetischen
J. Kunz (*) · A. Kulozik Klinik für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie, Immunologie und Pneumologie, Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ), Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; andreas.kulozik@med. uni-heidelberg.de
Modifikatoren, auch als milde Thalassaemia intermedia. Ein Thalassämiephänotyp ergibt sich auch bei hyperinstabilen Globinvarianten, die schon vor Einbau in das Hämoglobintetramer degradiert werden.
3
Hämoglobinvarianten mit veränderter Sauerstoffaffinität
Liegt eine erhöhte O2-Affinität und damit eine verminderte O2-Abgabe ins Gewebe vor, führt dies zu einer Polyglobulie. Bei der Therapie dieser seltenen Hämoglobinanomalien ist zu bedenken, dass die Polyglobulie eine Adaptation an eine verminderte Sauerstoffabgabe an das Gewebe darstellt und eine Aderlasstherapie im Grundsatz nicht indiziert ist. Ausnahme kann sein, wenn Symptome der Hyperviskosität des Blutes auftreten bzw. konkret zu befürchten sind (Abschn. 5). Eine verringerte O2-Affinität resultiert in einer verbesserten O2-Abgabe ins Gewebe, jedoch einer geringeren Funktionsreserve und damit geringeren körperlichen Belastbarkeit. Die Untersättigung kann durch die verminderte Erythropoetinausschüttung zu einer leichtgradigen Anämie und zur Zyanose führen. Oft durchlaufen solche Patienten einen aufwändigen diagnostischen Parcours, bevor die Diagnose durch Hämoglobinanalyse oder molekulargenetisch gestellt werden kann.
4
Methämoglobinämie
Methämoglobin, also oxidiertes Hämoglobin mit an Häm gebundenem Fe3+, entsteht unter physiologischen Umständen ständig spontan und wird durch die Methämoglobinreduktase zu Hämglobin reduziert. Eine Methämoglobinämie von >1,5 g/dl äußert sich aufgrund des veränderten Absorptionsspektrums als schmutzig grau-braune Zyanose. Da Methämoglobin nicht zur reversiblen Sauerstoffbindung befähigt ist, führt ein Methämoglobinanteil von >40 % zu
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_217
2147
2148
J. Kunz und A. Kulozik
Allgemeinsymptomen wie Dyspnoe und Tachykardie, noch höhere Methämoglobinanteile können letal sein.
4.1
Toxische Methämoglobinämie
Die toxische Methämoglobinämie tritt auf, wenn die Exposition gegenüber oxidierenden Substanzen wie Nitrit oder Sulfonamiden die Kapazität der Erythrozyten zur Methämoglobinreduktion überschreitet. Aufgrund der leichteren Oxidierbarkeit des HbF und der relativ geringen Methämoglobinreduktaseaktivität sind besonders Früh- und Neugeborene anfällig für die toxische Methämoglobinämie. Auslöser können die Therapie mit Stickstoffmonoxid oder die Zubereitung der Milchnahrung mit nitrathaltigem Wasser sein. Therapeutisch wird neben der Meidung auslösender Noxen die intravenöse Gabe von Methylenblau eingesetzt, wodurch ein Teil des Methämoglobins wieder reduziert werden kann.
4.2
Kongenitale enzymopenische Methämoglobinämie
Seltene Ursache einer Methämoglobinämie ist der autosomalrezessiv vererbte Mangel der NADH-Methämoglobinreduktase. Eine Therapie ist meist nicht notwendig, die Gabe von Ascorbinsäure kann den Methämoglobinanteil senken.
4.3
Hämoglobin-M-Varianten
Bei den seltenen Hämoglobin-M-Varianten ist die HämBindungsstelle durch Mutationen so verändert, dass oxidiertes Häm durch die Methämoglobinreduktase nicht wieder reduziert werden kann. Die Krankheit wird autosomal-
dominant vererbt und führt trotz der ausgeprägten Zyanose nur zu einer geringen Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Diagnose wird, als Differenzialdiagnose kardiopulmonaler Ursachen einer Zyanose, durch die Hämoglobinanalyse oder durch Sequenzierung der Globingene gestellt. Reduzierende Agenzien wie Methylenblau sind bei Hämoglobin-M-Varianten wirkungslos. Eine Therapie ist meist nicht erforderlich.
5
Polyzythämien
Definition und klinische Symptome Unter Polyzythämie oder Erythrozytose versteht man eine Vermehrung der Erythrozytenmasse. Wenn diese auf einer autonomen, nicht von Erythropoetin abhängigen Proliferation der Erythrozyten beruht, spricht man von einer primären Polyzythämie. Wird die Erythropoese durch erhöhte Erythropoetinspiegel verursacht, wie sie bei chronischer Hypoxie oder deregulierter EPO-Sekretion vorliegen, spricht man von sekundärer Polyzythämie (Tab. 1). Alle Polyzythämien im Kindesalter sind extrem selten, die häufigste Form ist die erworbene sekundäre Polyzythämie bei chronischer Hypoxie. Gemeinsam ist allen Polyzythämien der rosige, bei Hypoxie jedoch schnell ins zyanotische wechselnde Teint. Die subjektiv wahrgenommenen Symptome, nämlich Kopfschmerz, Schwindel, Tinnitus, Sehstörungen und Synkopen, werden durch die Hyperviskosität und die mit ihr im Zusammenhang stehende Minderperfusion ausgelöst. Die bedrohlichste Komplikation der Polyzythämie sind thrombotische Ereignisse, insbesondere das Budd-Chiari-Syndrom. Diagnose und Therapie Eine Polyzythämie wird vermutet, wenn bei wiederholten Untersuchungen ein Hämatokrit- bzw. Hämoglobinwert
Tab. 1 Klassifikation und Differenzialdiagnose der Polyzythämie Art der Polyzythämie Primäre Polyzythämie Sekundäre Polyzythämie
Erworben/kongenital Pathogenese Erworben Polyzythämia vera Kongenital Erworben
Kongenital
EPO-Rezeptor-Mutationen Bei Hypoxie Bei autonomer EPO-Sekretion Hämoglobinvarianten mit erhöhter O2-Affinität 2,3-BPG-Mutasemangel Mutationen im von Hippel LindauGen oder in HIF2a
EPO Erythropoietin, BPG Biphosphoglycerat
Beschreibung Myeloproliferative Erkrankung mit Veränderungen aller 3 Zellreihen und Splenomegalie Autosomal-dominant vererbt mit unvollständiger Penetranz SaO2 anhaltend 40 %
FIX-Konzentrat
80 IE/kg KG 30 IE/kg KG 30 IE/kg KG 20 IE/kg KG 20–30 IE/kg KG 30 IE/kg KG 60 IE/kg KG 40 IE/kg KG 30 IE/kg KG 60 IE/kg KG 40 IE/kg KG 30 IE/kg KG 20–40 IE/kg
Initial 2-mal/Tag , Tag 1–15 1-mal/Tag , Tag 16–21 Alle 3 Tage als Prophylaxe 2-mal/Woche 1-mal/Tag , 3–5 Tage Präoperativ 1-mal/Tag , postoperativ Tag 1–3 1-mal/Tag , postoperativ Tag 4–10(14) Präoperativ 1-mal/Tag , postoperativ Tag 1–3 1-mal/Tag , postoperativ Tag 4–42 2-mal/Woche oder bei Halbwertszeitverlängerung 1-mal alle 10–14 Tage
>80 % 60 % 30 % >2 % >2 % >15 % 60 % 40 % >20 % 60 % 40 % >20 % >2 %
Plasmatisches FVIIKonzentrat rFVIIa-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
4- bis 6-mal/Tag (siehe Hämophilie)
30–50 %
15–20 μg/kg KG
4- bis 6-mal/Tag (siehe Hämophilie)
FI-Konzentrat
40–70 mg/ kg KG
Nach Bedarf
Prothrombinkomplex
DefizitIE/ kg KG-Faktor DefizitIE/ kg KG-Faktor
Prophylaxe
FVIII-Konzentrat Alternativ Emicizumab
Kleine OP Große OP
FVIII-Konzentrat FVIII-Konzentrat
Gelenk-OP, Endoprothese
FVIII-Konzentrat
Leichte Hämophilie Hämophilie B Kleinere Blutung Gelenk-, Muskelblutung ZNS-Blutung
DDAVP
Prophylaxe Kleine OP Große OP
FIX-Konzentrat FIX-Konzentrat FIX-Konzentrat
Gelenk-OP, Endoprothese
FIX-Konzentrat
Prophylaxe
FIX-Konzentrat
20–30 IE/kg KG 50 IE/kg KG 30 IE/kg KG 20 IE/kg KG 50 IE/kg KG
>30 % 100 % >50 % >30 % >100 %
FVII-Mangel
FI(Fibrinogen)-Mangel >1g/l
FII-Mangel
FX-Konzentrat
Quick >60 % Quick >60 %
FV-Mangel (Fortsetzung)
2182
F. Bergmann und R. Knöfler
Tab. 7 (Fortsetzung) Indikation
Präparat FFPb
Dosis 20 ml/kg KG
Frequenz und Dauer All 12 h
Zielbereich 10–15 %
FX-Konzentrat
DefizitIE/ kg KG-Faktor
FFP
15–20 ml/kg KG
Alle 24–48 h
>20 %
FXIII-Konzentrat FXIII-Konzentrat
10 IE/kg KG 35 IE/kg KG
Alle 4 Wochen zur Prophylaxe Präoperativ;
Nach Effekt >30 %
FX-Mangel 10–15 %
FXI-Mangel FXIII-Mangel (schwer) Große OP
Postoperativ, bis zu 1-mal/Tag (Spiegel!) Von-Willebrand-Syndrom VWS Typ 1c DDAVP
0,3 μg/kg KG, p. i. (30 min) 20–30 IE/kg KG
Max. 2-mal/Tag, max. für 3–4 Tage
0,3 μg/kg KG, p. i. (30 min) 20–30 IE/kg KG
Max. 2-mal/Tag, max. für 2 Tage
FVIII/VWFKonzentrat FVIII/VWFKonzentrat
40 IE/kg KG (+TK) 40 IE/kg KG (+TK)
2-mal/Tag, 10–14( 21) Tage
40 IE/kg KG (+TK) 30–40 IE/kg KG
1-mal/Tag, 5–10 Tage 1-mal/Tag, 3–5 Tage
30–40 IE/kg KG
2- bis 1-mal/Tag, 5–10 Tage
30–40 IE/kg KG
2-mal/Woche
Schleimhautblutung, OP
FVIII/VWFKonzentrat FVIII/VWFKonzentrat FVIII/VWFKonzentrat FVIII/VWFKonzentrat Tranexamsäure (zusätzlich)
10–20 mg/ kg KG (auch p. o.)
Alle 6 h, max. 2 g/Tag
Antithrombinmangel Angeboren
AT-Konzentrat
Alle 3 Tage als Prophylaxe
AT nicht 80 %
DefizitIE/ kg KG 10–20 ml/kg KG
4-mal/Tag
>70 %
10–20 ml/kg KG
2- bis 3-mal/Tag
10–15 mg/ kg KG i. v. oder 15–25 mg/kg p. o
Alle 8 h
100–200 IE/ kg KG
24-h-Dauerinfusion
VWS Typ 2c
VWS Typ 3 Große OP ZNS-, gastrointestinale Blutung Adenotomie, Tonsillektomie Zahnextraktion Gelenk-, Muskelblutungen Dauertherapie
FVIII/VWFKonzentrat DDAVP (nach Testung) FVIII/VWFKonzentrat
Protein-C-Mangel, schwer PC-Konzentrat FFPb Protein-S-Mangel, schwer FFPb Antifibrinolyse Tranexamsäure
Antikoagulation Heparin, unfraktioniert
Prophylaxe
Nach Bedarf
Nach Bedarf
2-mal/Tag, 10–14( 21) Tage
VWF:Akt >50 % VWF:Akt >50 % VWF:Akt >50 % VWF:Akt >50 % VWF:Akt >80–50 % VWF:Akt >80–50 % VWF:Akt >50–30 % VWF:Akt >30–50 % VWF:Akt >80–50 % VWF:Akt >5 %
4-mal/Tag
(Fortsetzung)
226
Hämorrhagische Diathesen
2183
Tab. 7 (Fortsetzung) Indikation
Präparat Therapie (initialer Bolus)
Dosis 75–100 IE/ kg KG
Frequenz und Dauer
Zielbereich
Dauerinfusion
400–800 IE/ kg KG/Tag ca. 25 IE/kg KG/ h ca. 20 IE/kg G/h
24-h-Dauerinfusion
Prophylaxe 2. Lebensmonat
1 mg/kg KG, s.c.
1-mal/Tag
Ziel-aPTT: 60–80 sec Ziel-aPTT: 60–80 sec Ziel-aPTT: 60–80 sec Anti-FXa-E.: 0,1–0,4
Prophylaxe >2. Lebensmonat Therapie 2. Lebensmonat Therapie >2. Lebensmonat Protaminsulfat
1,5 mg/kg KG, s.c. 1 mg/kg KG, s.c.
1-mal/Tag
1,5 mg/kg KG, s.c. 1 mg/100 IE unfraktioniertes Heparin
2-mal/Tag
6 mg/m2 3 mg/m2 1–2 mg/m2
Tag 1 Tag 2 Tag 3–180
Warfarin Warfarin
0,2 mg/kg Dosisanpassung je nach INR-Wert
Tag 1 ab Tag 2
Acetylsalicylsäure
ca. 2–3 mg/ kg KG
1-mal/Tag (Wirkdauer 5–7 Tage)
rt-PA
0,1–0,2 mg/ kg KG 0,8–2,4 mg/ kg KG und Tag
Bolus i. v. (10 min)
Säuglinge >1 Jahr Heparin, niedermolekular (Enoxaparin)
Heparin-Antidot
Langfristige Antikoagulation Phenprocoumon Phenprocoumon Phenprocoumon
Arterielle Thrombosen Lysetherapie
rt-PA
24-h-Dauerinfusion 24-h-Dauerinfusion
2-mal/Tag
Anti-FXa-E.: 0,1–0,4 4-h-Wert AntiFXa-E.: 0,4–1,0 4-h-Wert AntiFXa-E.: 0,4–1,0
1/3 der Dosis als Bolus, 2/3 p. i. (30 min)
INR: 2–3,5 (nach Indikation) INRZielbereich: wie bei Phenprocoumon
Dauerinfusion bis zu 7 Tagen
p.o. per os; s.c. subcutan; p.i. per infusionem; (+TK) evtl. zusätzliche Gabe von Thrombozytenkonzentraten erforderlich; VWF-Akt VWF-Aktivität; aPTT aktivierte partielle Thromboplastinzeit b Bei wiederholter Applikation von gefrorenem Frischplasma (FFP) innerhalb kurzer Zeit ist auf das Problem der Volumenbelastung zu achten. Notfalls sind diuretische Maßnahmen indiziert c Die Angaben gelten für leichtere Formen dieser beiden Subtypen. Darüber hinaus können die gleichen Maßnahmen wie beim VWS Typ 3 bei Bedarf zum Einsatz kommen d Zur Steuerung der Therapie sind Anti-FXa-Einheiten ca. 4 Stunden nach Gabe zu bestimmen. Bei niereninsuffizienten Patienten ist auch ein Talspiegel vor der nächsten Gabe zu messen, um Überdosierungen zu verhindern e Eine zusätzliche Low-dose-Heparinisierung zur Reokklusionsprophylaxe ist erforderlich Betrifft auch die Verwendung eines FVIII-Konzentrates mit verlängerter Halbwertszeit Bei Verwendung eines FIX-Konzentrates mit verlängerter Halbwertszeit kann je nach Präparat und der individuellen Pharmakokinetik das Intervall zwischen den Applikationen verlängert werden
sind, je nach betroffenem Faktor, sehr unterschiedlich. Eine schwere Blutungsneigung wird vor allem bei fehlendem FVIII (Hämophilie A) und FIX (Hämophilie B) beobachtet, jedoch auch bei den selteneren Defizienzen von Fibrino-
gen (FI), FII, FV, FVII, FX und FXI. Die seltenen Ursachen einer Blutungsneigung machen zusammen nur 3–5 % aller angeborenen Koagulopathien aus. Die Prävalenz liegt für die homozygoten oder compound-heterozygoten Formen bei
2184
F. Bergmann und R. Knöfler
1–2:1 Mio., der schwere FVII-Mangel ist mit 1:500.000 häufiger. Das Fehlen von FXII korreliert trotz erheblicher Auswirkungen auf die aPTT nicht mit einer Blutungs- oder Thromboseneigung. Im Folgenden werden Hämophilie A und Hämophilie B in Bezug auf Pathophysiologie, klinische Symptome und Therapie ausführlicher dargestellt. Mit einer Prävalenz von 1:5000–30.000 männliche Neugeborenen ist die Hämophilie A mindestens 6- bis 7-mal häufiger als die Hämophilie B. Die übrigen Defekte sind der Vollständigkeit halber ebenfalls aufgeführt. Die diagnostisch wegweisenden Partialtests der Gerinnung sind Abb. 5 zu entnehmen.
2.1
Hämophilie A
Definition Die Hämophilie A ist eine X-chromosomal-rezessiv vererbte Koagulopathie auf der Grundlage eines FVIII-Mangels, bedingt durch Defekte des F8-Gens. Betroffen sind Jungen in einer Häufigkeit von 1:5000. In Deutschland geht man von ca. 6000 Blutern aus (Hämophilie A und B). Historie Die erste schriftliche Erwähnung von Blutern stammt aus dem Talmud des 5. Jahrhunderts n. Chr. und bezieht sich auf die Erlaubnis, die Beschneidung weiterer
FXII
aTTP
FXI
TPZ, Quick, INR FIX
FVII
FVIII
TF FX FV FII FI
TZ
Abb. 5 Analyse plasmatischer Gerinnungsfaktoren mit Partialtests: Vitamin-K-abhängige Faktoren (blau) und Kofaktoren der Serinproteasen (türkis). Ein Defekt einzelner Faktoren lässt sich grob orientierend näher lokalisieren und dann durch Einzelfaktorenanalyse identifizieren. Ein isolierter Faktor-VIII-Mangel, wie bei der Hämophilie A, fällt z. B. durch eine isolierte aPTT-Verlängerung auf, ein Faktor-VII-Mangel durch eine isolierte Verlängerung der Thromboplastinzeit bzw. durch eine Erniedrigung des Quick-Werts
Söhne aus Familien, in denen bereits Knaben anlässlich einer Beschneidung verblutet sind, zu unterlassen. Auch der große arabische Arzt Khalaf Ibn Abbas, genannt Albucasis, erwähnt in seinen Abhandlungen aus dem 10. Jahrhundert ein Dorf mit einer auffälligen Anzahl von Männern, die nach trivialen Wunden verbluteten. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Hämophilie mit ihren typischen klinischen und hereditären Aspekten als hemorrhagic disposition stammt von dem Amerikaner Otto (1803). Der Begriff Hämophilie wurde von dem sprachlich korrekteren Ausdruck Hämorrhagophilie abgeleitet und stammt von dem deutschen Arzt Schoenlein (1839). Die klassische Hämophilie wurde einer breiteren Bevölkerungsschicht vor allem durch ihr Auftreten in den europäischen Fürstenhäusern bekannt. Als Stammmutter vieler hämophiler männlicher Nachkommen und weiblicher Konduktorinnen gilt Königin Victoria von England. Der bekannteste Hämophilie-Patient war der junge Zarewitsch Alexander. In Deutschland waren die beiden Söhne des Prinzen Heinrich von Preußen betroffen, die mütterlicherseits Cousins des Zarewitsches Alexander waren. Mittels verbesserter molekulargenetischer Methoden wurde die Diagnose Hämophilie B in dieser Adelsfamilie gestellt. Erbgang Aufgrund des X-chromosomal-rezessiven Erbganges sind meist nur Jungen von einer klinisch bedeutsamen Hämophilie A betroffen. Frauen mit einem F8-Gendefekt sind entsprechend einem Heterozygotenstatus primär als Konduktorinnen zu betrachten und selten klinisch symptomatisch, z. B. bei einer ungleichmäßigen Inaktivierung der X-Chromosomen oder bei Homozygotie bzw. Compound-Heterozygotie für einen F8-Gendefekt. Töchter eines hämophilen Vaters sind obligate Konduktorinnen, seine Söhne sind nie betroffen (Ausnahme, die Mutter ist Konduktorin). Andere Ursachen für einen klinisch bedeutsamen FVIII-Mangel bei Frauen und auch bei Männern können Defekte des VWF-Gens (Abschn. 1.5) und des LMAN1-Gens sowie des MCFD2-Gens (Abschn. 2.6) sein sowie ein erworbener Antikörper gegen FVIII. Das F8-Gen ist ca. 186 kb groß und auf dem langen Arm von Chromosom X in der Region Xq 28 lokalisiert. Es besteht aus 26 Exons. Die Genstruktur und die abgeleitete Proteinsequenz sind homolog zum F5-Gen bzw. zum FV-Protein. Das größte Intron (Intron 22) enthält 2 weitere transkribierte Gene (F8A- und F8B-Gen) mit unbekannter Funktion. Das F8A-Gen findet sich in 2 weiteren Kopien ca. 500 kb telomerwärts gelegen. Es ist insofern von großer Bedeutung, als intrachromosomale Rekombination zwischen diesen homologen Sequenzen mit der Folge einer partiellen Geninversion für ca. 30–40 % der Fälle schwerer Hämophilie A verantwortlich ist. Mindestens 1/3 aller Hämophilie-APatienten hat keine positive Familienanamnese, es treten häufig Spontanmutationen auf.
226
Hämorrhagische Diathesen
2185
Der FVIII ist ein großes Glykoprotein, das im Plasma durch nichtkovalente Bindung an den VWF stabilisiert wird. Er hat ein Molekulargewicht von ca. 265 kDa und besteht aus einer Reihe sich wiederholender funktioneller Domänen. Er wird durch thrombinvermittelte begrenzte Proteolyse zu FVIIIa aktiviert und dient dann als Kofaktor für die Aktivierung von FX durch IXa. Als Inhibitor fungiert der aktivierte Protein-CKomplex mittels proteolytischer Inaktivierung des FVIIIa. Klinische Symptome Hämophilie-Patienten unterscheidet man nach Schweregraden in Abhängigkeit von gerinnungsspezifischen Laborparametern, die anders als bei anderen Faktorenmangelzuständen gut mit der klinischen Symptomatik korrelieren. Klinisch relevant sind die schwere Hämophilie (Restaktivität von FVIII bzw. FIX 1 % bis 5 % bis 25 % bis 30 % (gegebenenfalls 50 %) meist ausreichend (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).
2.8
FX-Mangel
Der schwere FX-Mangel ist eine sehr seltene, autosomalrezessiv vererbte Gerinnungsstörung, die klinisch durch Haut- und Schleimhautblutungen, Epistaxis, Menorrhagien, Hämaturie, gelegentlich Gelenkblutungen sowie Blutungen nach inadäquatem Trauma gekennzeichnet ist. Frauen mit schwerem FX-Mangel neigen zu Fehlgeburten, vorzeitiger Plazentalösung und Frühgeburten. Man kann zwischen rein quantitativen Defekten und dysfunktionellem FX unterscheiden. Zu beobachten sind eine verlängerte aPTT und ein erniedrigter Quick-Wert bei normaler Thrombinzeit. Durch Einzelfaktorenanalyse wird die Diagnose gesichert; durch Bestimmung des FX-Antigens wird zwischen dysfunktionellem und quantitativem Defekt differenziert. Da der FX mit 40 Stunden eine lange Halbwertszeit besitzt, ist die Gabe von gefrorenem Frischplasma in Fällen kleinerer Blutungen ausreichend. Darüber hinaus kann Prothrombinkomplex-Konzentrat gegeben werden. Dabei müssen jedoch der sehr unterschiedliche Gehalt an FX in den verschiedenen Präparaten und die Möglichkeit von Thrombosen berücksichtigt werden. Insofern ist ein verfügbares FIX-Konzentrat, welches auch FX enthält, zu bevorzugen (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).
2.9
FXI-Mangel
Der schwere FXI-Mangel, auch Hämophilie C genannt, ist sehr selten, erreicht jedoch in einzelnen Populationen höhere Prävalenzen, wie im Baskenland und bei Ashkenazi-Juden
2190
F. Bergmann und R. Knöfler
wurde eine Häufigkeit von 1–3:1.000 ermittelt. Der Erbgang ist nicht streng autosomal-rezessiv, da auch bei Heterozygotie durchaus Blutungen beobachtet werden. Die klinische Symptomatik ist variabel. Schwere Blutungen sind selten und treten praktisch nur im Rahmen von Verletzungen und Operationen auf. Nasenbluten, Weichteil- und Nachblutungen nach Zahnextraktion sowie Menorrhagien werden gelegentlich beobachtet. Gelenkblutungen treten praktisch nie auf. Wegweisend ist beim schweren FXI-Mangel die stark verlängerte aPTT bei normalem Quick-Wert und normaler Thrombinzeit. Die Diagnose wird durch Einzelfaktorenanalyse gesichert. Ähnlich deutliche Verlängerungen der aPTT werden beim schweren FXII-Mangel beobachtet. Therapeutisch ist wegen der langen Halbwertszeit des FXI von 48 Stunden die Gabe von gefrorenem Frischplasma in der Regel ausreichend. Insbesondere bei Blutungen oder Eingriffen im HNO-Bereich empfiehlt sich die zusätzliche Gabe von Fibrinolysehemmern, wie Tranexamsäure. Ein FXI-Plasmakonzentrat ist in Deutschland derzeit nicht zugelasse.
2.10
FXII-Mangel
Der Faktor XII, auch Hageman-Faktor genannt, nach dem ersten Patienten, bei dem dieser Mangel auffiel. Der FXIIMangel, wird praktisch nur bei Routinegerinnungsuntersuchungen, z. B. präoperativ, durch die korrespondierende, z. T. erheblich verlängerte aPTT entdeckt. Insbesondere bei Kindern wird die leichte FXII-Verminderung als passageres, infektassoziiertes Phänomen häufiger beobachtet durch eine Interferenz der Messung mit komplexierenden Antiphospholipid-Antikörpern. Der heterozygote FXII-Mangel ist klinisch inapparent. Der schwere FXII-Mangel, beruhend auf homozygoten oder compound-heterozygoten Gendefekten, fällt klinisch ebenfalls nicht durch eine Blutungsneigung auf. Der Widerspruch zwischen der beim FXII-Mangel exzessiv verlängerten In-vitro-Gerinnungszeit (aPTT) und der fehlenden Blutungsneigung ergibt sich aus der Tatsache, dass die Initiierung der Blutgerinnung primär über den exogenen Weg der Gerinnung durch den Tissue-Factor/FVII-Komplex erfolgt. Erst sekundär mit der Aktivierung von FXI durch das initial gebildete Thrombin erfüllt der endogene Weg seine Funktion.
2.11
Hämatome auf. Wegweisend sind 2–3 Tage verspätet auftretende Nachblutungen nach Operationen durch das instabile Fibringerinsel. Die Patienten neigen außerdem zu schlecht heilenden Wunden mit ausgeprägter Narbenbildung. Einen erworbenen FXIII-Mangel, der 30 % jedoch meist nicht unterschreitet, findet man bei der Schoenlein-HenochPurpura, bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und bei großen Wunden und Verbrennungen, wo FXIII als sog. Spurenelement rasch abfällt. Bei Patienten mit angeborenem Mangel ist der FXIII im Plasma und in den Thrombozyten reduziert. Heterozygote Patienten mit FXIII-Werten um 40–50 % sind meist asymptomatisch. Im Plasma besteht FXIII aus 2α-Ketten, die die enzymatische Aktivität einer durch Thrombin und Ca2+ zu aktivierenden Transglutaminase tragen, und 2 β-Ketten, die als Trägerprotein fungieren. Defekte in α- oder β-Ketten, die von unterschiedlichen Genen kodiert werden, können für den FXIII-Mangel verantwortlich sein. In Thrombozyten finden sich nur die α-Ketten. Die Funktion des FXIII besteht in der Quervernetzung von Fibrinmolekülen über Amidbindungen zwischen der Lysin-ε-Aminogruppe und der γ-Carbonylgruppe des Glutamins. Hierdurch wird Fibrin stabilisiert und vor vorzeitiger Lyse durch Plasmin geschützt. Diagnose und Therapie Mit den üblichen Partialtests (aPTT, Quick, Thrombinzeit) lässt sich ein FXIII-Mangel nicht erfassen, da die Wirkung des FXIII erst nach der Fibrinbildung einsetzt, wohl aber zumindest bei der schweren Form mittels Thrombelastografie. Die Bestimmung erfordert z. B. die Messung der Transglutaminaseaktivität des FXIII an einem geeigneten synthetischen Substrat über die Freisetzung von Ammoniak oder immunologische Methoden. Für die Differenzierung des FXIII-Mangels können weiterführende, immunologische Methoden zur Quantifizierung der betroffenen α- oder β-Untereinheiten herangezogen werden. Therapeutisch ist die Substitution von FXIII-Konzentrat das Mittel der Wahl, gegebenenfalls auch die Gabe von gefrorenem Frischplasma. Zur Behandlung von Blutungen sollten FXIII-Werte >30 % angestrebt werden. Der minimale notwendige Wirkspiegel ist jedoch mit 5–10 % sehr niedrig und die Halbwertszeit des FXIII mit 5–7 Tagen sehr lang. Es genügen daher meist Substitutionsabstände von mehreren Tagen bis Wochen (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).
FXIII-Mangel
Der FXIII-Mangel ist nur bei FXIII-Werten 50 μM/l empfohlen und ist auch nur dann eine Leistung der Krankenkasse. Frühere Berichte eines Zusammenhangs zwischen der MTHFR-Mutante und thromboembolischen Ereignissen auch im Kindesalter konnten nicht bestätigt werden. Metaanalysen zahlreicher Studien zum Einfluss der MTHFR-Mutante auf das Auftreten von Thromboembolien ließen ebenfalls keinen signifikanten Zusammenhang erkennen, was durch den Einfluss des Folsäureangebots mit der Nahrung erklärt wird. Da der Homocysteinspiegel auch vom Angebot an Folsäure und Vitamin B12 abhängig ist, lässt er sich diätetisch beeinflussen. Allerdings konnte eine Metaanalyse verschiedener Studien keinen Effekt einer Folsäure-Supplementation auf das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse nachweisen – die langfristige Einnahme wird nicht empfohlen, da auch pathologische Zellen zum Wachstum angeregt werden können. Diätetische Maßnahmen sind zu bevorzugen. Eine Vielzahl von erhöhten Homocysteinwerten ist auf eine falsche Präanalytik zurückzuführen und daher kritisch zu prüfen, ob die Blutentnahme morgens nüchtern erfolgte (ein eiweißreiches Frühstück erhöht den Wert) und ob eine Spezialmonovette eingesetzt wurde, um die kontinuierliche Freisetzung von Homocystein aus den Erythrozyten zu blocken. Alternativ kann Homocystein aus Serum bestimmt werden, welches binnen 1 Stunde nach Entnahme vom Blutkuchen separiert wurde.
4.2
4.3
dieser Parameter ist hinsichtlich der Präanalytik z. T. kritisch und hat daher keinen Eingang in die Routinediagnostik gefunden. Sie wird für die Thrombophiliediagnostik nicht empfohlen. Die erworbenen Störungen sind klinisch von erheblicher Relevanz.
4
Sonstige Thrombophilien
Hierzu gehören seltene hereditäre Defekte und häufigere Varianten weiterer Faktoren, deren Bedeutung für die Thrombophilie teils relevant ist, teils aber noch diskutiert wird und damit noch nicht abschließend beurteilt werden kann.
4.1
Mutation im Prothrombin-Gen
Hyperhomocysteinämie
Homocystein-Werte >12–30 μMol/L werden als moderate Erhöhung angesehen, 30–100 μMol/l als intermediäre und >100 μMol/l als schwere Hyperhomocysteinämie definiert. Eine schwere Hyperhomocysteinämie, wie sie von der seltenen Stoffwechselkrankheit Homocystinurie bekannt ist, geht mit einer arteriellen und venösen Thromboseneigung einher. Pathophysiologisch wird ein Endothelschaden, hervorgerufen durch erhöhte Homocysteinspiegel, diskutiert. Reduzierte Aktivitäten der Enzyme Cystathionin-β-Synthase und 5-Methyltetrahydrofolsäure-Homocystein-Methyltransferase führen zur Akkumulation von Homocystein. Die Aktivität der 5-Methyltetrahydrofolsäure-Homocystein-Methyltransferase wiederum ist vom Angebot an 5-Methyltetrahydrofolsäure abhängig, dessen Spiegel u. a. durch 5,10-MethylentetrahydrofolsäureReduktase (MTHFR) reguliert wird. Eine häufige genetische thermolabile MTHFR-Variante (MTHFR, 677C > T) geht unter Umständen in ihrer homozygoten Form mit einem mäßig erhöhten Homocysteinspiegel im Blut einher. Es besteht aber keine strenge Genotyp-Phänotyp-Korrelation. Das thermolabile MTHFR-Allel findet sich zu ca. 40 % der kaukasischen Normalbevölkerung, ca. 10 % sind homozygot. Somit ist die
Erhöhter Lipoprotein(a)-Spiegel
Ein erhöhter Spiegel von Lipoprotein(a) (Lp[a]) wurde ebenfalls als erblicher Thrombophiliefaktor beschrieben. So scheint Lp(a) mit der koronaren Herzkrankheit und mit zerebrovaskulären Ereignissen und in jungen Jahren auch mit venösen Thrombosen zu korrelieren. Lp(a) besteht aus einem Low-density-Lipoproteinanteil und einem Glykoproteinanteil, dem Apolipoprotein a (Apo [a]). Apo(a) besitzt eine hohe strukturelle Homologie mit Plasminogen ohne dessen funktionelle Aktivität. Der pathophysiologische Mechanismus könnte daher auf einer kompetitiven Hemmung von Plasminogen beruhen. Gegen diese Hypothese spricht das Fehlen einer ausgesprochenen Thromboseneigung bei Patienten mit komplettem Plasminogenmangel. Lp(a)-Spiegel sind in der Bevölkerung sehr variabel und meist genetisch determiniert. Die Normwerte liegen zwischen 7,2 13,1 mg/dl bzw. 17 31 nmol/l (ist die heute gebräuchliche Einheit) bei Singapur-Chinesen und 45,7 25,9 bzw. 110 62 nmol/l bei Schwarzafrikanern sowie bei Kaukasiern bei 18,7 23,1 bzw. 45 55 nmol/l. Diese großen Unterschiede in den bisher untersuchten
227
Hereditäre Thrombophilie
Populationen relativieren die Bedeutung von Lp(a) als etabliertem Risikofaktor für Thrombosen im Kindesalter. Die Prävalenz erhöhter Werte bei Kaukasiern wird mit 7–8 % angegeben, in einigen Studien bei Kindern mit Gefäßverschlüsse zeigte sich eine ähnliche Prävalenz, es konnte auch kein erhöhtes Rezidivrisiko für die isolierte Lp(a)-Erhöhung gezeigt werden, anders für die Kombination mit weiteren hereditären Risikofaktoren.
4.4
Faktor-VIII-Erhöhung
Persistierend erhöhte Faktor-VIII-Plasmaspiegel über der >90er-Perzentile des altersentsprechenden Referenzbereiches bzw. bei Jugendlichen >150 % gelten auch im Kindesalter als milder Risikofaktor (Level I). Vermutet wird ebenfalls eine genetische Disposition, da es ein familiäres Vorkommen gibt. Der FVIII ist aber ein Akutphaseprotein, erhöhte Werte müssen daher mehrfach bestätigt werden und die erstmalige Bestimmung sollte frühestens 2–3 Monate nach der akuten Thrombose erfolgen. Bei parallel erhöhten CRP-Werten ist von einer erworbenen, passageren Störung auszugehen, die weniger thrombogen ist. Der Faktor VIII ist nicht transportstabil und sollte daher nur aus frisch entnommenem Zitratblut bestimmt werden.
4.5
Schwerer ADAMTS13-Mangel
ADAMTS13, die spezifische VWF-spaltende Metalloprotease, wurde 2001 identifiziert. Das ADAMTS13-Gen ist 37 kb groß und liegt auf Chromosom 9q34. Das Gen, verteilt auf 29 Exons, kodiert für ein Protein von 1427 Aminosäuren. Die Protease spaltet normalerweise die besonders großen VWF-Multimere, die in der primären Hämostase, vor allem unter Bedingungen hoher Scherkräfte, wie sie in der Mikrozirkulation vorherrschen, eine besondere Rolle spielen. Die proteolytische Schnittstelle des VWF liegt in dessen A2-Domäne zwischen Y1605 und M1606. Der schwere ADAMTS13-Mangel ist für das lebensbedrohliche Krankheitsbild der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) in ca. 50 % der Fälle verantwortlich (Mortalität ohne Therapie 80–90 %). Ihr liegt eine Mikroangiopathie mit hyalinen Thromben in der Mikrozirkulation zugrunde, die erstmals 1924 von Moschkowitz beschrieben wurde. Es existieren eine hereditäre, autosomal-rezessiv vererbte Form, die auch Upshaw-Schulman-Syndrom (USS) genannt wird, und eine erworbene Form auf der Basis von Autoantikörpern gegen die Protease. Beim USS findet man homozygote und compoundheterozygote ADAMTS13-Mutationen, die über das gesamte Gen verteilt sind. Bisher wurde nur eine einzige Mutation identifiziert, die häufiger auftritt (4143insA). Sie ist auf Patienten aus Zentral- und Nordeuropa beschränkt.
2201
Fehlt die Protease als Regulator der VWF-Multimergröße, findet eine unkontrollierte Adhäsion und Aggregation von Thrombozyten in der Zirkulation statt, mit der Folge der Bildung der oben genannten hyalinen Thromben. Diese findet man in vielen Organen, insbesondere in den Nieren, dem ZNS, der Lunge und den Mesenterialgefäßen, dem Herzen, weniger in der Leber. Bei Kindern mit einer TTP ist die hereditäre Form häufiger, während bei Erwachsenen meist durch Antikörper bedingte Formen vorherrschen. Beiden Formen gemeinsam ist klassischerweise die hämolytische Anämie mit Fragmentozyten und erhöhter LDH, die Thrombozytopenie, eine mehr oder weniger ausgeprägte neurologische Symptomatik und eine unterschiedlich schwere Einschränkung der Nierenfunktion. Die Unterscheidung zum hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) ist manchmal schwierig, aber von besonderer Bedeutung, da die therapeutischen Optionen unterschiedlich sind (▶ Kap. 248, „Hämolytisch-urämisches Syndrom“). Hier hilft die rasche Bestimmung der ADAMTS13-Aktivität aus Zitratblut in einem Speziallabor. Klinische Symptome und Diagnose In Abhängigkeit von der Krankheitsaktivität kann die Symptomatik sehr heterogen sein. Oligosymptomatische Formen machen die Abgrenzung zu verwandten Krankheitsbildern schwierig. Beispielsweise kann eine Thrombozytopenie auch isoliert vorkommen und führt dann zur Verwechslung mit der ITP. So konnten bei 3 von 50 Kindern mit der vorherigen Diagnose einer ITP ein schwerer ADAMTS13-Mangel und damit eine TTP diagnostiziert werden. Meist ist aber auch eine Hämolyse nachweisbar, wenn auch nicht immer sehr ausgeprägt. Finden sich nur diese beiden Symptome, ist die Verwechslung mit einem Evans-Syndrom (sehr seltene autoimmunhämolytische Anämie in Kombination mit einer autoimmunen Thrombozytopenie) möglich, wobei beim EvansSyndrom ein positiver Coombs-Test zur richtigen Diagnose führen sollte. Weiterführend ist hier auch die Bestimmung der ADAMTS13-Aktivität. Wegen der klinisch individuell sehr unterschiedlichen Verläufe kann die klinische Manifestation bereits beim Neugeborenen, aber durchaus auch erst beim älteren Erwachsenen erfolgen. Die Neugeborenenperiode bietet allerdings ein diagnostisches Fenster, da praktisch alle erst später diagnostizierten Kinder retrospektiv eine passagere Thrombozytopenie und einen prolongierten Ikterus bereits postpartal aufwiesen. Therapie Wichtig ist die Unterscheidung zwischen der hereditären Form und der erworbenen Form durch Antikörper wegen der unterschiedlichen therapeutischen Optionen. Während erstere allein durch die Gabe von Frischplasma behandelt werden kann, erfordert letztere einen wiederholt durchge-
2202
führten täglichen Plasmaaustausch bis zur Stabilisierung der Thrombozytenzahlen (ca. 150 G/l) und zusätzliche immunsuppressive Maßnahmen. Die Prognose verbessert sich durch diese Therapie dramatisch von 10–20 % auf 80–90 % Überleben. Für die hereditäre Form wird derzeit ein rekombinant hergestelltes ADAMTS13-Konzentrat im Rahmen einer Phase-3-Studie getestet.
Weiterführende Literatur Andrew M, Vegh P, Johnston M, Bowker J, Ofosu F, Mitchell L (1992) Maturation of the hemostatic system during childhood. Blood 80:1998–2005
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Erworbene Koagulopathien
228
Frauke Bergmann und Ralf Knöfler
1
Erworbene Koagulopathien
Definition Die erworbene Koagulopathie ist eine Störung der sekundären Hämostase durch Synthesedefizite, immunologische oder medikamentöse Faktoren.
1.1
Vitamin-K-Mangel-Koagulopathie
Definition Bei Vitamin-K-Mangel besteht eine hämorrhagische Diathese durch mangelnde Aktivität der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren FII, VII, FIX, FX und Protein C und S. Unter besonderen Umständen kann der Mangel der ebenfalls VitaminK-abhängigen Inhibitoren Protein C und Protein S überwiegen mit der Folge einer Thrombophilie. Der Vitamin-K-Mangel kann alimentär oder durch Resorptionsstörungen im Darm bedingt sein. Letztere wiederum sind ein sekundäres Phänomen bei Malabsorptions- oder Maldigestionssyndromen, z. B. bei Kurzdarmsyndrom, bei Cholestasestörungen (z. B. Gallengangsatresie, α1-Antitrypsinmangel), bei Zöliakie, bei zystischer Fibrose, bei Enterokolitis oder postenteritischem Syndrom. Komplette parenterale Ernährung ohne Vitamin-K-Supplementation sowie aufgehobene endogene Biosynthese von Vitamin K im Darm durch die Darmflora bei langdauernder Antibiotikatherapie sind weitere Ursachen. Einen generellen Mangel aller Vitamin-K-abhängigen Faktoren ohne Vitamin-K-Mangel gibt es als Folge eines seltenen, hereditären Defektes der F. Bergmann (*) amedes MVZ wagnerstibbe für Laboratoriumsmedizin, Hämostaseologie, Humangenetik und Mikrobiologie, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Knöfler Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: ralf.knoefl[email protected]
γ-Carboxylase (GGCX-Gen), die für die γ-Carboxylierung der Gerinnungsfaktorvorstufen zuständig ist (VKCFD Typ I). Ein weiterer genetischer Defekt ist für die Vitamin-K-EpoxidReduktase beschrieben (VKORC1-Gen). Mutationen dieses Gens können ebenfalls für den generellen Mangel der VitaminK-abhängigen Faktoren verantwortlich sein (VKCFD2), aber auch für eine relative Resistenz (wichtige Determinante für die Dosierung) oder – im Gegenteil – für eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Vitamin-K-Antagonisten. Die häufigste Vitamin-K-Mangel-Koagulopathie, vor allem jenseits des frühen Säuglingsalters, ist Folge einer Phenprocoumon-Antikoagulanzientherapie (Marcumar, Falithrom) und damit iatrogen. Dabei spielen unzuverlässige Einnahme und Dosierungsprobleme eine Rolle. Auch eine akzidentelle Ingestion ist möglich (gegebenenfalls in suizidaler Absicht). Physiologie Die Vitamin-K-abhängigen Faktoren werden nach ihrer primären Biosynthese an speziellen Glutaminsäureresten, die in der sog. Gla-Domäne der Gerinnungsfaktoren konzentriert sind, unter Addition von CO2 durch die γ-Carboxylase carboxyliert. Die hierdurch entstandenen Gla-Reste mit ihren beiden Carboxylgruppen sind in der Lage, Kalzium zu binden. Diese Interaktion mit Kalzium ermöglicht erst die normale Bindung der Gerinnungsfaktoren an Membranoberflächen. Reduziertes Vitamin K (Vitamin-K-Hydroquinon) ist an der Carboxylierung der oben genannten Gerinnungsfaktoren als Kofaktor beteiligt. Es wird dabei unter Aufnahme von Sauerstoff und Freisetzung von Wasser zu einem inaktiven Epoxid oxidiert. Eine VitaminK-Epoxid-Reduktase überführt das Vitamin-K-Epoxid wiederum in Vitamin K, das durch die Vitamin-K-Reduktase erneut zum aktiven Hydroquinon reduziert wird. Dieser Zyklus lässt sich durch Kumarine hemmen, die spezifisch die EpoxidReduktase inhibieren (Abb. 1). Der Effekt wird für die Antikoagulanzientherapie durch Kumarine, d. h. durch VitaminK-Antagonisten wie Warfarin, Phenprocoumon und Acenocoumarol genutzt.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 G. F. Hoffmann et al. (Hrsg.), Pädiatrie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60300-0_222
2203
2204
PIVKA
F. Bergmann und R. Knöfler Glu
Gla
Carboxylierte
CH2
CH2
Faktoren
CH2
CH2
COO−
COO− CO2
OH
O
Carboxylase
O R OH
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O
R O Vitamin K
Abb. 1 Vitamin-K-Zyklus
Vitamin K wird mit der Nahrung aufgenommen. Da es sich um ein fettlösliches Vitamin handelt, fördert eine lipidreiche Nahrung die Resorption. Zusätzlich wird Vitamin K durch die Standortflora des Darms synthetisiert. Die Speicherung von Vitamin K erfolgt in der Leber. Bei Vitamin-KMangel werden die nichtcarboxylierten Vorstufen (protein induced in vitamine K absence, PIVKA) weiterhin synthetisiert und können immunologisch nachgewiesen werden. Klinische Symptome Die klinischen Symptome variieren abhängig von Ursache und Zeitpunkt des Auftretens einer Blutung. Frühform der Vitamin-K-Mangelblutung Die früheste Manifestationsform der Vitamin-K-Mangelblutung besteht in einer schweren Blutungsneigung bereits während des 1. Lebenstages, häufig verbunden mit zerebralen Blutungen. Unter Umständen war die Schwangerschaft kompliziert durch die Einnahme von Medikamenten wie Antikonvulsiva, Vitamin-K-Antagonisten und Antibiotika/Tuberkulostatika oder Laxanzienabusus. Jedoch findet man nicht immer eine Ursache bei der Mutter. Vitamin K ist schlechter plazentagängig als andere fettlösliche Vitamine. Morbus haemorrhagicus neonatorum Die klassische Form der Vitamin-K-Mangelblutung, der Morbus haemorrhagicus neo-
Abb. 2 Meläna bei Vitamin-K-Mangelblutung des Neugeborenen
natorum bei nicht ausreichendem Prothrombinkomplex, tritt bei nicht durchgeführter Vitamin-K-Prophylaxe bei 0,1–1 % der Neugeborenen während der ersten 2–5 Lebenstage auf und manifestiert sich als Nabel- oder Schleimhautblutung, Neigung zu flächenhaften Hämatomen, Blutungen aus dem Magen-DarmTrakt (Meläna, Abb. 2) und aus Punktionsstellen, z. B. nach Blutentnahme für Screeningtests. Manchmal treten auch zerebrale Blutungen auf. Der Vitamin-K-Mangel des Neugeborenen beruht auf ungenügendem diaplazentarem Transfer, einem nur geringen Speicher in der Leber, fehlender Zufuhr während der ersten Lebenstage bei geringer Trinkmenge und niedrigem Vitamin-K-Gehalt der Muttermilch und auf fehlender Besiedelung des Darms durch Vitamin-K-produzierende Bakterien. Der Mangel an einem Prothrombinkomplex beruht zusätzlich auf einer verminderten Synthese der Gerinnungsfaktoren durch Unreife der Leber. Der Gerinnungsdefekt ist bei Frühgeborenen ausgeprägter. Spätform der Vitamin-K-Mangelblutung Die späte Form der Vitamin-K-Mangelblutung jenseits der 1. Lebenswoche bis zu mehrere Wochen postnatal beruht auf nicht ausreichender oraler Zufuhr, meist in Verbindung mit einer Vitamin-KResorptionsstörung. Die gefürchtete Folge können subdurale und intrazerebrale Blutungen sein. Man beobachtet diesen Blutungstyp vor allem bei voll gestillten Säuglingen, da Muttermilch nur ein Viertel des Vitamin-K-Gehalts von Kuhmilch besitzt, und im Rahmen von Grundkrankheiten, wie chronischer Diarrhö, zystischer Fibrose, α1-Antitrypsinmangel, Hepatitiden und Cholestasesyndromen (z. B. Gallengangsatresie). Die späte Vitamin-K-Mangelblutung als isoliertes Symptom sollte daher immer Anlass zu einer entsprechenden Diagnostik sein. Ein Vitamin-K-Mangel wird auch bei Kindern beobachtet, die nur mit Sojamilch ernährt werden. Eine gastrointestinale Blutung kann bei Neugeborenen und Säuglingen jedoch auch durch Verschlucken mütterli-
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Erworbene Koagulopathien
chen Bluts, z. B. aus Rhagaden der Brustwarzen, vorgetäuscht werden (Melaena spuria). Thrombophilie bei Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten Abgesehen von der Koagulopathie kann es im Rahmen einer Antikoagulanzientherapie mit Vitamin-K-Antagonisten bei konstitutionellem Protein-C- oder Protein-S-Mangel auch zu thrombotischen Ereignissen kommen. Das klinische Bild der Kumarinnekrose entspricht der Purpura fulminans bei schwerem Protein-C- oder -S-Mangel. Es wird hervorgerufen durch den vergleichsweise zu den anderen Gerinnungsfaktoren schnelleren Abfall der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsinhibitoren Protein C und Protein S mit einer daraus resultierenden Verschiebung der Hämostase in Richtung Thrombophilie. Diagnose In Korrelation zu den Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren findet sich bei der Vitamin-K-Mangelblutung eine starke Erniedrigung des Quick-Werts auf 1 g/l und die Thrombozytenzahl >50/nl zu halten. Aufgrund des Blutungsrisikos wird eine Heparingabe nicht mehr generell empfohlen. Nur wenn thrombotische Komplikationen bzw. Mikrozirkulationsstörungen überwiegen, wird die Antikoagulation mit unfraktioniertem Heparin (da kürzere Halbwertzeit als niedermolekulares) als Dauerinfusion eingesetzt (▶ Kap. 226, „Hämorrhagische Diathesen“, siehe dort Tabelle zur Indikation, Dosierung, Applikation und Therapiesteuerung bei der Behandlung von Störungen der Hämostase). Die zusätzliche Gabe von Antithrombin wird routinemäßig nicht mehr empfohlen, da in Studien keine Mortalitätssenkung gezeigt werden konnte. Der Einsatz von rekombinantem aktiviertem Protein C im Rahmen einer Sepsis hatte in Studien zur Verbesserung der Prognose einer DIG geführt, allerdings um den Preis gefährlicher Blutungen, sodass dieses Präparat wieder vom Markt genommen wurde. Ein Protein-C-Kon-
2208
F. Bergmann und R. Knöfler
zentrat aus Plasma (CEPROTIN ®; Fa. Takeda), welches nicht aktiviert ist, scheint diesbezüglich ein deutlich niedrigeres Risikoprofil zu haben und wird bei Kindern mit Purpura fulminans eingesetzt. Organspezifische Supportivmaßnahmen ergänzen die intensivmedizinische Therapie bei diesen Patienten. Es gibt keine harten Studiendaten für das adäquate therapeutische Vorgehen bei Kindern mit DIG.
2
Immunologisch bedingte Störungen der plasmatischen Hämostase
2.1
Inhibitoren gegen Gerinnungsfaktoren
Im Rahmen von Autoimmunprozessen können auch Autoantikörper gegen Gerinnungsfaktoren auftreten. Eine erworbene Hämophilie durch Autoantikörper gegen FVIII oder ein erworbenes VWS durch Autoantikörper gegen VWF sind im Erwachsenenalter selten, im Kindesalter jedoch eine absolute Rarität. Theoretisch sind Antikörper gegen jeden einzelnen Gerinnungsfaktor möglich. Im Kindesalter werden häufiger Autoantikörper bzw. die erworbene Verminderung der Inhibitoren der Gerinnung beschrieben. Bei Kindern können diese 1–2 Wochen nach einer bakteriellen oder viralen Infektion (z. B. Streptokokken, Varizellen) auftreten und mit Thrombosen oder einer Purpura fulminans (PF) infolge eines Protein-C- oder Protein-S-Mangels einhergehen. Eine PF kann auch im Rahmen einer akuten Infektion mit bestimmten Erregern auftreten und stellt dann eine lebensbedrohliche Komplikation dar. In schweren Fällen von Autoimmunkoagulopathien führt eine Substitutionstherapie meist nicht zum Erfolg und eine immunsuppressive Therapie ist indiziert.
Antiphospholipid-Syndrom Definition Anti-Phospholipid-Antikörper (aPL) sind die häufigsten erworbenen Inhibitoren der Gerinnung. Sie können mit einem breiten klinischen Symptomspektrum assoziiert sein, es stehen arterielle oder venöse Gefäßverschlüsse auch an atypischer Lokalisation im Vordergrund. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung. Die Antikörper vom Typ IgG oder IgM sind gegen Plasmaproteine gerichtet, die eine hohe Affinität zu negativ geladenen Oberflächen haben wie phospholipidabhängige Plasmaproteine bzw. Phospholipidmembranen. Erstmals wurden sie bei Patienten mit systemischem Lupus erythematodes (SLE) beschrieben, die über eine Verlängerung von Gerinnungszeiten auffielen, daher der Begriff Antikoagulanz. Zur Gruppe der aPL gehören neben dem Lupusantikoagulanz (LA, funktionelle Bestimmung aus Zitratblut) auch der Nachweis der Anti-Cardiolipidantikörper
(aCL) und Anti-β2-Glykoprotein-I-Antikörper (Anti-β2-GPIAK) mittels immunologischer Bestimmung aus Serum. In der Pädiatrie fallen diese Antikörper jedoch viel häufiger als Zufallsbefund bei klinisch asymptomatischen Kindern im Rahmen der präoperativen Diagnostik durch eine verlängerte aPTT, seltener durch verminderten Quick-Wert auf. Dies lässt, ebenso wie der Begriff Antikoagulanz, eine Blutungsneigung vermuten, eine solche wird jedoch nur in sehr seltenen Ausnahmefällen beobachtet. Bei asymptomatischen Kindern sollte man dann besser nur von einem unspezifischen Inhibitorphänomen sprechen, um eine Verunsicherung durch die Terminologie Lupusantikoagulanz/Antiphospholipid-Syndrom zu vermeiden. Von einem Antiphospholipid-Syndrom (APS) darf nur gesprochen werden, wenn die klinischen Kriterien erfüllt sind: arterielle und/oder venöse Thrombose auch kleiner Gefäße und Bestätigung des pathologischen Labortestergebnisses nach 12 Wochen. Niedrigtitrige oder nur schwach positive aPL alleine erfüllen die Kriterien nicht. Epidemiologie In der Normalbevölkerung findet man passager aPL mit einer Häufigkeit in Abhängigkeit vom Alter von ca. 2–5 %, in einem Thrombosekollektiv (Erwachsene!) findet sich dieses Phänomen bei 10(–20) % der Patienten. Werden die aktuellen Klassifikationskriterien zugrunde gelegt, ist der Anteil bei 80 %. Mit den aktuell durchgeführten risikoadaptierten und auf die Entitäten abgestimmten Polychemotherapie-Regimen kommt dem histologischen Subtyp praktisch keine prognostische Bedeutung mehr zu. Ein Befall des ZNS, fehlendes initiales Therapieansprechen und Alter (bei einigen Subgruppen, z. B. junges Alter bei lymphoblastischen Lymphomen vom B-Zell-Vorläufertyp, adoleszente Patientinnen mit lymphoblastischen Lymphomen vom T-Zelltyp) stellen ungünstige Faktoren dar. Innerhalb der Therapiegruppe für Burkitt-Lymphome/ reifzellige B-ALL (ALL: akute lymphatische Leukämie) bestehen stadien- und LDH-abhängige Unterschiede der Ergebnisse. Die Rezidivkaskade bei B-NHL und großzellig anaplastischem Lymphom (anaplastic large cell lymphoma, ALCL) ist deutlich kürzer als bei B-Zell-Vorläufer ALL, dieses trifft vor allem für Burkitt-Lymphome bzw. B-ALL zu. Hier kann nach 9-monatiger rezidivfreier Nachbeobachtung praktisch von einer Heilung ausgegangen werden. Im Gegensatz zu erwachsenen Patienten scheint dem ALKStatus (ALK: anaplastische Lymphomkinase) per se bei Kindern keine prognostische Bedeutung zuzukommen. Die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation stellt eine Therapieoption bei Patienten mit rezidivierten oder refraktären Lymphomen dar (▶ Kap. 234, „Transplantation hämatopoetischer Stammzellen“).
1.1
NHL: wichtigste Formen
Aus der Vielzahl der NHL im Kindesalter sollen hier exemplarisch die 3 häufigsten Unterformen – NHL vom BurkittTyp/B-ALL, lymphoblastische Lymphome und großzellig anaplastische Lymphome – dargestellt werden.
Burkitt-Lymphome/B-ALL Definition Burkitt-Lymphome bzw. ihre systemische Manifestation – B-ALL bei >25 % Knochenmarkbefall – machen mit ca. 50 % die häufigste Untergruppe der NHL im Kindesalter aus. Zytomorphologisch liegt ein L3-Phänotyp nach der FAB-Klassifikation vor. Es handelt sich um den am schnellsten wachsenden humanen Tumor mit einer mittleren In-vitroZellverdopplungszeit von 24 Stunden und Proliferationsraten zwischen >95 und 100 %. Ätiologie Burkitt-Lymphome kommen in 2 morphologisch identischen Formen vor, endemisch und sporadisch. Mikroskopisch zeigt sich eine monomorphe Population undifferenzierter, mittelgroßer Lymphozyten mit basophilem Zytoplasma und prominenten Nukleolen sowie einzelnen eingestreuten benignen Histiozyten, die für das charakteristische sog. SternenhimmelErscheinungsbild verantwortlich sind. Immunphänotypisch
232
Lymphome
weisen die Tumoren eine Expression der Oberflächenmarker sIg und κ- oder λ-Kette auf. Mittels Genexpressionsanalysen ist mittlerweile eine Unterscheidung zwischen Burkitt-Lymphomen und morphologisch nahezu identischen diffus großzelligen B-NHL möglich geworden. Epidemiologisch bestehen erhebliche geografische Unterschiede: So handelt es sich bei der endemischen Form um den häufigsten Tumor bei Kindern im tropischen Afrika. Seine Verteilung geht mit Gebieten hoher Malariaprävalenz einher. Eine durch den Parasiten bedingte Immunsuppression ist mit der Tumorinduktion assoziiert worden. Demgegenüber liegt in Europa und Nordamerika fast ausschließlich die sporadische Form vor. Unterschiede zwischen beiden Formen bestehen darüber hinaus hinsichtlich einer assoziierten EBVInfektion. Diese kommt bei endemischer Form zu >90 % vor, demgegenüber aber nur in ca. 20 % der sporadischen Formen. HIV-assoziierte Burkitt-Lymphome zeigen fast immer eine EBV-Positivität und häufig eine HHV8-Infektion der Tumorzellen. Genetik Charakteristisch für Burkitt-Lymphome ist eine Deregulierung des auf dem langen Arm von Chromosom 8 lokalisierten c-myc-Onkogens durch Translokationen im Rahmen von Immunglobulin-Rearrangements. Die 3 häufigsten Translokationen – t(8;14)(q24;q32), t(2;8)(p11;q24) und t(8;22)(q24; q11) – betreffen den Lokus auf dem Immunglobulin-Gen für die Schwerkette (Chromosom 14), κ-Leichtkette (Chromosom 2) bzw. λ-Leichtkette (Chromosom 22) und machen ca. 80 %, ca. 15 % bzw. ca. 5 % der zytogenetischen Aberrationen aus. Mittlerweile sind für Burkitt-Lymphome mit Translokation t(8;14) unterschiedliche Bruchpunkte für die endemische und sporadische Form beschrieben worden. Klinische Symptome Während zwei Drittel der Patienten mit endemischem Burkitt-Lymphom eine primäre Manifestation im Kieferbereich zeigen, ist das klinische Bild bei der sporadischen Form wesentlich variabler und mit einem häufigen Befall peripherer Lymphknoten und Manifestation im Knochenmark verbunden. Therapie Die Therapie der Burkitt-Lymphome/B-ALL erfolgt nach einer Vorphase zur kontrollierten Zytoreduktion mit einer kurzen intensiven Chemotherapie rasch aufeinander folgender, auf Cyclophosphamid und hochdosiertem Methotrexat beruhender Zytostatikakombinationen. Das Prinzip dieser 2–6 gepulsten Therapiezyklen (abhängig vom Stadium sowie LDH) orientiert sich an der hohen Proliferationsrate dieser Tumoren. Besonders Patienten mit großen abdominellen Tumoren weisen ein hohes Risiko für die Entwicklung eines lebensbedrohlichen Tumorlyse-Syndroms auf. Der Einsatz
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des monoklonalen Anti-CD20-Antikörpers Rituximab zeigt wie im Erwachsenenalter eine hohe Wirksamkeit bei pädiatrischen Patienten.
Lymphoblastische Lymphome Epidemiologie und Ätiologie Lymphoblastische Lymphome machen ca. 20–25 % der NHL im Kindesalter aus. Die Tumorzellen ähneln überwiegend T-Zellen aus dem Thymus und zu einem geringeren Anteil B-Vorläuferzellen. Zytomorphologisch weisen sie einen L1/L2-Phänotyp nach FAB-Klassifikation auf (▶ Kap. 230, „Grundlagen der pädiatrischen Onkologie“ und ▶ Kap. 231, „Leukämien“). Das immunologische Expressionsmuster variiert je nach Linienzugehörigkeit. So sind lymphoblastische Lymphome vom T-Typ generell positiv für CD1 und CD3 mit Koexpression von CD4 und CD8, meist positiv für TdT und negativ für HLA-DR und CD34. Weitere Merkmale hängen vom zellulären Reifungsgrad ab. Molekulargenetisch lassen sich Rearrangements an T-Zell-Rezeptorgenen für die verschiedenen Ketten (α, β, γ, δ) nachweisen. Bei der von B-Vorläuferzellen stammenden Form werden CD19, CD22, CD79, HLA-DR und TdT exprimiert. Auch hier kommen nach Differenzierungsgrad weitere Marker hinzu, wie CD10 oder cyIgM. Klinische Symptome Klinisch besteht bei lymphoblastischen T-NHL häufiger ein Mediastinalbefall (Abb. 1). Hier kann es zu erheblichen, z. T. lebensbedrohlichen respiratorischen Komplikationen kommen. Außerdem ist auf eine obere Einflussstauung zu achten. Demgegenüber findet sich bei den Formen vom B-Vorläufertyp bevorzugt ein nodaler Befall. Therapie Die Therapie der lymphoblastischen Lymphome wird stadienabhängig durchgeführt, basiert auf den Grundlagen der Behandlung der ALL und ist mit dieser nahezu identisch. Eine lokale Strahlentherapie des Primärtumors wird nicht durchgeführt.
Großzellig anaplastische Lymphome (Ki-1Lymphome) Definition und Ätiologie Das großzellig anaplastische Lymphom (anaplastic large cell lymphoma, ALCL) wurde erstmals 1985 als eigene Entität der NHL beschrieben. Morphologisch finden sich pleomorphe, teils bizarre, teils Hodgkin-ähnliche anaplastische Zellen mit kohäsivem Wachstum und sinusoidaler Ausbreitung. ALCL sind durch die Expression von CD30 (Ki-1-Antigen) charakterisiert. Immunologisch werden ALCL vom T- und Null-Typ unterschieden. Ätiologisch wurde in den letzten Jahren die charakteristische Translokation t(2;5)(p23;q35) identifiziert. Mittlerweile wurden weitere Translokationen,
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A. Claviez
Abb. 1 a 4-jähriger Junge mit Mediastinaltumor bei lymphoblastischem Lymphom vom T-Zell-Typ. Die Diagnosestellung erfolgte aus dem Pleuraerguss. b Komplette Normalisierung des Röntgenbefundes 5 Wochen nach Therapiebeginn
z. B. t(1;2)(q21;p23), t(2;3)(p23;q21) beschrieben. Als Subtyp ist das lymphohistiozytische Lymphom mit häufigem extranodalem Befall zu unterscheiden. Epidemiologie Der Anteil der ALCL an den NHL im Kindesalter beträgt 1,5 cm und sonografischen Auffälligkeiten (echoarm, rund, peripheres Gefäßmuster). Im Rahmen der Staging-Untersuchung ist eine genaue Untersuchung der Lymphknotenstationen und ihrer Abflusswege durch Schnittbilderfahren erforderlich. Die FDG-PET-Untersuchung in Kombination mit CT oder MRT stellt für die initiale Diagnostik und prognostische Beurteilung des Therapieansprechens die entscheidende Bildgebung dar (Abb. 5). Die Diagnosesicherung erfolgt durch eine offene Biopsie und erfordert den histologischen Nachweis der neoplastischen
232
Lymphome
2245
Erkrankungen sind NHL, sowie Primärmanifestationen bzw. Metastasen solider Tumoren abzugrenzen.
Abb. 4 Zervikaler Lymphknotenbefall bei einem 7-jährigen Patienten (MCHL, Stadium IIA, „Nüsse im Sack“-Phänomen)
Abb. 5 FDG-PET bei einem 19-jährigen Patienten mit refraktärem Hodgkin-Lymphom nach Primär- und Rezidivtherapie (multiple Nuklidmehrbelegungen infraklavikulär rechts, mediastinal beidseits und axillär links)
H- und RS- oder L- und H-Zellen. Eine Feinnadelpunktion ist aufgrund der aus der paucizellulären Natur des Lymphoms herrührender technischer Probleme (Sampling-Error bei Mediastinalbefall mit Fibrose und Sklerose) obsolet. Immunhistochemisch werden je nach Subtyp der Nachweis von CD30, CD20 und CD15 in den Tumorzellen verlangt. Differenzialdiagnostisch sind u. a. entzündliche Lymphknotenveränderungen bei Lymphadenitis colli, infektiöse Mononukleose, Toxoplasmose, CMV, atypische Mykobakterieninfektion und Brucellose zu erwägen. An malignen
Therapie Hodgkin-Lymphome zeichnen sich durch eine hohe Empfindlichkeit gegenüber Zytostatika und ionisierenden Strahlen aus und zählen zu den mit am besten behandelbaren Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Die Behandlung sieht den risikoadaptierten Einsatz einer kombinierten Chemoradiotherapie vor. Die Chemotherapie des aus den GPOH-Therapiestudien weiterentwickelten prospektiv und multinational durchgeführten EuroNet-PHL-C1-Therapieprotokolls besteht aus 2–6 Zyklen unterschiedlicher Zytostatikakombinationen (OEPA: Vincristin/Oncovin, Etoposid, Prednison, Adriamycin; COPP: Cyclophosphamid, Vincristin, Prednison, Procarbazin oder COPDAC: Dacarbazin statt Procarbazin), an die sich bei unzureichendem Ansprechen auf die initiale Chemotherapie – nachgewiesen mittels funktioneller (FDG-PET) und anatomischer (MRT/CT) Bildgebung – eine niedrig dosierte sog. Involved-field-Bestrahlung (20 Gy) anschließt (Abb. 6). Mittlerweile ist Procarbazin durch Dacarbazin (COPDAC) bei gleicher Effektivität, jedoch geringerer Gonadotoxizität komplett ersetzt worden. Die Splenektomie ist, auch bei eindeutigem Milzbefall, mittlerweile obsolet. Bei Patienten mit einer geplanten Milzbestrahlung (funktionelle Asplenie) ist die vorherige Pneumokokkenimpfung zu empfehlen. Patienten mit einem Hodgkin-Lymphom benötigen eine lange Nachbeobachtungszeit, um therapiebedingte Spätfolgen (vor allem Sekundärmalignome nach Bestrahlung, Kardiotoxizität und Infertilität) frühzeitig erfassen zu können. Prognose Die Prognose von Kindern und Jugendlichen mit HodgkinLymphom ist exzellent. Die Gesamtüberlebensraten liegen für alle Subtypen und Stadien bei risikoadaptierter Therapie, auch bei längerer Nachbeobachtung, bei >90 %. Auch die Wahrscheinlichkeit für das ereignisfreie Überleben (EFS) liegt stadienabhängig zwischen 80 und >90 %. Dabei ist die Effektivität der primär eingesetzten Chemotherapie maßgeblich für den Erfolg der Behandlung. Die in den letzten Jahren sukzessive durchgeführten Dosisreduktionen der Strahlentherapie und Modifikationen der Chemotherapie haben nicht zu einer Verschlechterung der Prognose geführt, es ist vermutlich mit einer Reduktion therapieassoziierter Nebenwirkungen zu rechnen. Hierzu tragen auch entsprechende Verkleinerungen der Strahlentherapiefelder (CT-basierte, 3D-geplante Bestrahlung in konformaler Technik) bei. Selbst Patienten, die aufgrund eines Rückfalls eine Rezidivtherapie benötigen, haben mit einer Rezidivtherapie realistische Heilungsraten. Maßgeblich für die Prognose dieser Patienten ist der Rezidivzeitpunkt. Patienten mit einem frühen chemothera-
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A. Claviez
Abb. 6 Stratifizierter, stadienabhängiger Behandlungsplan der inzwischen abgeschlossenen multizentrischen Therapiestudie EuroNetPHL-C1 (TG Therapiegruppe; OEPA Vincristin/Oncovin, Etoposid, Prednison, Adriamycin; COPP Cyclophosphamid, Vincristin, Predni-
son, Procarbazin; COPDAC Cyclophosphamid, Vincristin, Prednison, Dacarbazin; RT Radiotherapie; AR „adequate response“, adäquate Antwort; IR „inadequate response“; inadäquate Antwort; R Randomisierung)
piesensitiven Rezidiv profitieren von einer Hochdosistherapie mit nachfolgender autologer peripherer Blutstammzelltransplantation. Mittlerweile befinden sich zahlreiche, derzeit in PhaseI/II-Therapiestudien eingesetzte Substanzen jenseits der klassischen Chemotherapie (Antikörperkonjugate, Histondeacetylase- und mTOR-Inhibitoren, Checkpoint-Inhibitoren), die molekulare Zielstrukturen angreifen, in Testung. Brentuximab vedotin, ein Anti-CD30-Antikörperkonjugat, hat bei rezidivierten und refraktären CD30-positiven Lymphomen beeindruckende Ergebnisse gezeigt und stellt damit eine neue Option für Hochrisikopatienten dar. Der Stellenwert der allogenen Transplantation bei Hodgkin-Lymphomen ist vor dem Hintergrund dieser neuen Therapieoptionen rückläufig.
multinationalen Hodgkin-Therapiestudie EuroNet-PHL-C2 durch Etoposid (OEPA statt OPPA) bzw. Dacarbazin (COPDAC statt COPP) ersetzt. Weitere Probleme betreffen das Auftreten einer meist subklinischen Hypothyreose bei Patienten nach Hals-/Mediastinalbestrahlung. Wachstumsstörungen stellen unter den reduzierten Strahlentherapiedosen keine nennenswerte Komplikation mehr dar. Eine anthrazyklininduzierte Kardiotoxizität tritt bei den derzeit eingesetzten Adriamycindosen in der Regel nicht auf. Da heutzutage keine Splenektomien mehr durchgeführt werden, sind infektiologische Komplikationen nur selten nach abgeschlossener Therapie zu beobachten. Das Hauptproblem nach abgeschlossener erfolgreicher Tumortherapie stellt zweifellos die Entwicklung sekundärer maligner Neoplasien dar. Art und Zeitpunkt des Auftretens der beobachteten Tumoren hängen von der applizierten Therapie ab. Für die Entwicklung sekundärer Leukämien – meist AML (akute myeloische Leukämie) – und myelodysplastischer Syndrome werden vor allem Alkylanzien und TopoisomeraseII-Inhibitoren verantwortlich gemacht, wohingegen solide Tumoren hauptsächlich im Bestrahlungsfeld auftreten. Das Risiko für die Entstehung von Zweitmalignomen mit der derzeit
Spätfolgen der Therapie Eine wesentliche Bedeutung kommt bei der hohen Kurabilität von Hodgkin-Lymphomen im Kindesalter dem Auftreten von Spätfolgen durch die antineoplastische Therapie und deren Minimierung zu. Aufgrund der durch die alkylierende Substanz Procarbazin ausgelösten Gonadotoxizität bei bis zu 60 % der Jungen wurde das Medikament in der aktuellen
232
Lymphome
in Deutschland verwendeten risikoadaptierten Therapie liegt für hämatologische Neoplasien bei etwa 1 % und für solide Tumoren bei etwa 5 % nach 20 Jahren vor, wobei die Zahlen aufgrund der schwierigen Erfassung dieser vor allem im Erwachsenenalter auftretenden Komplikationen mit einer Ungenauigkeit behaftet sein können.
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233
Histiozytosen Milen Minkov und Gritta Janka-Schaub
1
Grundlagen
Krankheiten, bei denen Monozyten, Gewebsmakrophagen (Histiozyten) und dendritische Zellen, sowie deren Knochenmarkvorläufer eine dominierende Rolle spielen, werden als Histiozytosen bezeichnet. Hauptfunktion der dendritischen Zellen ist die Antigenpräsentation, während bei den Makrophagen die Phagozytose im Vordergrund steht. Beide Zellarten haben eine hohe sekretorische Leistung, u. a. von inflammatorischen Zytokinen. Die Histiozytosen werden aktuell in 5 große Gruppen unterteilt. Aus kinderhämatologischer Sicht relevant sind die Gruppe L (Langerhans-Zell-Histiozytose, LCH; Erdheim-Chester-Erkrankung, systemisches juveniles Xanthogranulom), die Gruppe R (Rosai-Dorfman-Erkrankung und andere systemische Non-LCHSyndrome) sowie die Gruppe H (hämophagozytische Lymphohistiozytosen). Die LCH ist durch aktivierende somatische Mutationen im MAPK-Signalübertragungswegs sowie Zeichen systemischer Inflammation gekennzeichnet, weswegen diese auch als inflammatorische Neoplasie bezeichnet wird. Die Erdheim-Chester-Erkrankung, das systemische juvenile Xanthogranulom (Xanthogranulomatose) und die Rosai-DorfmanErkrankung (Sinushystiozytose mit massiver Lymphadenopathie) werden auch als „seltene“ oder „Non-LCH“-Histiozytosen bezeichnet und kommen im Kindesalter extrem selten vor. Sie werden hier nicht näher beschrieben.
M. Minkov (*) Abteilung für Kinder- und Jungendheilkunde mit Department für Neonatologie, KA Rudolfstiftung der Stadt Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] G. Janka-Schaub Klinik für pädiatrische Hämatologie und Onkologie, Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
2
Langerhans-Zell-Histiozytose
Definition Die Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH) ist gekennzeichnet durch eine monoklonale Proliferation von dendritischen Zellen, deren Zelloberflächenphänotyp demjenigen der normalen Langerhanszellen der Haut sehr ähnlich ist. Ihre klinische Manifestation reicht vom isolierten Befall eines Organs (am häufigsten Skelett), mit exzellenter Prognose, bis hin zur multisystemischen Ausbreitung, die auch fatal verlaufen kann. Frühere Bezeichnungen waren eosinophiles Granulom für den isolierten Knochenbefall, Hand-Schüller-ChristianKrankheit für die Trias Knochenläsionen, Exophthalmus und Diabetes insipidus, und Abt-Letterer-Siwe-Krankheit für den disseminierten Befall von Haut und inneren Organen. Der frühere Begriff Histiozytose X fasste die 3 Krankheitsbilder zusammen, zwischen denen fließende Übergänge bestehen. Epidemiologie Die Inzidenz wird auf 0,4–1,0/100.000 Kinder 40 mg/m2/h; entsprechend der Körperoberfläche ca. >1 g/Tag) assoziiert mit einer HyS. Weber (*) Klinik für Kinder- und Jugendmedizin II, Universitätsklinikum Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
palbuminämie 3 g/ Tag) bei gleichzeitig normalen Blutzuckern und Fehlen anderer tubulärer Störungen.
Ätiologie und Pathogenese Unter physiologischen Bedingungen resorbiert die Niere ca. 180 g Glukose am Tag und trägt so zu einem ausgeglichenen Blutzuckerhaushalt bei. Hauptverantwortlich hierfür ist der natriumgetriebene Glukosetransporter (SGLT2) in der luminalen Membran der proximalen Tubuluszellen. Die Effektivität dieses Transportprozesses ist sehr hoch, sodass beim Gesunden 40 mg/dl positiv wird. Der Glukosetoleranztest ist unauffällig. Eine molekulargenetische Diagnosesicherung ist möglich, jedoch aufgrund der fehlenden therapeutischen Konsequenz so gut wie nie indiziert. Therapie Auf eine Therapie kann fast immer verzichtet werden. Im Falle seltener symptomatischer Hypoglykämien sollte eine Zufuhr von Kohlenhydraten in zahlreichen kleinen Mahlzeiten erfolgen.
3
Renales Fanconi-Syndrom
Definition Als Fanconi-Syndrom (auch Debré-de-Toni-Fanconi-Syndrom) bezeichnet man eine komplexe Störung des proximalen Tubulus, die sich durch eine kombinierte Resorptionsstörung von Aminosäuren, Phosphat, Glukose und Bikarbonat (komplettes Fanconi-Syndrom) oder einzelner der genannten Substanzen (inkomplettes Fanconi-Syndrom) auszeichnet. Ätiologie und Pathogenese Es werden eine primäre/idiopathische und eine sekundäre Form unterschieden. Die sekundäre Form tritt meist im Rahmen hereditärer Stoffwechselerkrankungen (Tab. 2) oder bedingt durch Intoxikation (Chemotherapie, Blei) auf. Das primäre Fanconi-Syndrom kommt familiär oder sporadisch vor und kann sich in jedem Alter manifestieren. Klinische Symptome Infolge der Verluste von Wasser, Salz und organischen Substanzen präsentieren die Patienten eine Polyurie, Polydipsie,
245
Tubulopathien
2363
Tab. 2 Sekundäre Tubulopathien im Rahmen von Stoffwechselerkrankungen Krankheit Nephropathische Zystinose
Vererbung AR
Gen CTNS
Genprodukt Zystinosin
Lowe-Syndrom (okulozerebrorenales Syndrom)
XR
OCRL1
PhosphatidylinsositolBiphosphat(PIP2)-5-Phosphatase
Fanconi-Bickel-Syndrom
AR
GLUT2
Faciliative glucose transporter
Primäre Hyperoxalurie Typ I
AR
AGXT
Adeninphosphoribosyltransferasemangel
AR
APRT
Alanin-GlyoxylatAminotransferase Adeninphosphoribosyltransferase
Galaktosämie
AR
GAL1PUT
Hereditäre Fruktoseintoleranz
AR
ALDOB
Galaktose-1-PhosphatUridyltransferase Fruktose-1-Phosphat-Aldolase B
Tyrosinämie Typ I
AR
FAH
Fumarylacetoacetathydrolase
Morbus Wilson
AR
ATP7B
Kupfertransportierende ATPase
Zytochrom-C-Oxidase-Mangel
Mitochondrial
Zytochrom-C-Oxidase u. a.
Klinik Renales Fanconi-Syndrom, Nierenversagen, Wachstumsretardierung, Kornealveränderungen Vitamin-D-resistente Rachitis, mentale Retardierung, Katarakt, renales FanconiSyndrom, Nierenversagen Malabsorption, Gedeihstörung, renales Fanconi-Syndrom Nephrolithiasis (Ca-Oxalat), Leber- und Nierenversagen Nephrolithiasis (2,8-Dihydroxyadenin) Renales Fanconi-Syndrom, Hepatomegalie, Katarakt Renales Fanconi-Syndrom, mentale Retardierung, Hypoglykämie, Koma Renales Fanconi-Syndrom, Leberzirrhose, Gerinnungsstörung Renales Fanconi-Syndrom, Leberzirrhose, Gerinnungsstörung Renales Fanconi-Syndrom, Multiorganbeteiligung
AD autosomal-dominant, AR autosomal-rezessiv, XR X-chromosomal-rezessiv
Distales Konvult NaCl Ca2+ Mg2+
Proximaler Tubulus Na+ AS Glc HCO−3 PO4 Ca2+
Aldosteronsensitives Na+ distales Nephron K+
Sammelrohr
Dicker aufsteigender Teil
NaCl H2O
Henle-Schleife
Dünner Teil
NaCl Ca2+ Mg2+
H2O H+
Abb. 1 Elektrolytresorption entlang des Tubulusapparats (mod. nach Seyberth und Schlingmann 2011)
Dehydratationszustände, Salzhunger und eine metabolische Azidose. Ähnlich der renal-tubulären Azidose resultieren bei unzureichender Therapie rachitische Knochenveränderungen und ein Kleinwuchs. Häufiger als bei den isolierten Tubulo-
pathien kann sich bei Patienten mit einem Fanconi-Syndrom im Langzeitverlauf eine chronische Niereninsuffizienz entwickeln.
Diagnose Im Urin findet sich eine Hyperaminoazidurie, Glukosurie und Hyperphosphaturie. Im Blut zeigt sich dagegen häufig eine hyperchlorämische metabolische Azidose kombiniert mit niedrigen Serumphosphatspiegeln und gelegentlich einer Hypokaliämie. Sonografisch kann eine Nephrokalzinose vorliegen.
Therapie Die Therapie erfolgt symptomatisch durch Substitution von Wasser (1–3 l/Tag zusätzlich), Phosphat (1–3 g/Tag) und Natrium- oder Kaliumbikarbonat bzw. -zitrat (15 mmol/kg KG/Tag). Die Substitution sollte möglichst gleichmäßig über den Tag verteilt erfolgen. Meist ist zusätzlich eine VitaminD-Substitution zur Verbesserung der intestinalen Phosphatresorption indiziert. Strenge Kontrolle der Serumspiegel von Kalzium, Phosphat und Parathormon sind zur Reduktion des Nephrokalzinoserisikos essenziell.
2364
3.1
J. König und M. Konrad
Lowe-Syndrom (okulozerebrorenales Syndrom, OCRL)
Das X-chromosomal vererbte Lowe-Syndrom ist durch kongenitale Katarakte und Glaukom, mentale Retardierung, muskuläre Hypotonie und ein renales Fanconi-Syndrom charakterisiert. Mutationen im OCRL1-Gen führen zu einem Defekt der intrazellulären Phosphatidylinsositol-Biphosphat(PIP2)-5Phosphatase. Mutationen im gleichen Gen können auch den Phänotyp einer Dent-Krankheit hervorrufen. Neben den Folgen des renalen Fanconi-Syndroms sind die Patienten durch das stark eingeschränkte Sehvermögen sowie langfristig durch die Entwicklung einer chronischen Niereninsuffizienz stark beeinträchtigt. Typisch ist das Vorliegen eines kongenitalen Katarakts in Kombination mit Zeichen eines renalen Fanconi-Syndroms. Die Diagnose wird molekulargenetisch gesichert. Die Therapie entspricht der des renalen Fanconi-Syndroms.
4
Hereditäre Salzverlusttubulopathien
Definition Angeborene Salzverlusttubulopathien wurden früher häufig unter den Begriffen Bartter-Syndrom und Gitelman-Syndrom zusammengefasst. Nach dem aktuellen molekulargenetischen Verständnis handelt es sich jedoch um pathophysiologisch eigenständige Erkrankungen des tubulären Ionentransports (Tab. 3). Die unterschiedlichen Formen des Bartter-Syndroms beruhen dabei auf Defekten im dicken aufsteigenden Teil der Henle-Schleife (TAL), die des Gitelman-Syndroms im Bereich des distalen Konvoluts (DCT). Als Leitsymptome sind allen Defekten ein schwerer Salzverlust mit ausgeprägtem Salzhunger, eine Polyurie sowie eine hypokaliämische metabolische Alkalose gemein.
4.1
Antenatales Bartter-Syndrom
NKCC2-Defekt Ursache ist ein Defekt des Natrium-Kalium-2ChloridKotransporters (NKCC2), der laborchemisch den Effekt von Furosemid imitiert. Bereits präpartal zeigt sich ein ausgeprägtes Polyhydramnion, das fast immer zu einer Frühgeburtlichkeit führt (sog. antenatales Bartter-Syndrom). Postpartal sind die Kinder durch eine lebensbedrohliche Polyurie bedroht. Aufgrund der begleitenden Hyperkalziurie entwickeln fast alle Kinder innerhalb weniger Wochen eine Nephrokalzinose. ROMK-Defekt Ursächlich ist ein defekter apikaler Kaliumkanal (ROMK), durch den das resorbierte Kalium nicht zurück ins tubuläre Lumen zirkulieren kann, womit die Salzreabsorption im TAL zum Erliegen kommt (Abb. 2). Das klinische Bild entspricht folglich dem des NKCC2-Defekts mit dem Unterschied einer oft nicht diagnostizierten initialen passageren Hyperkaliämie. Barttin-Defekt Dieser Defekt stellt die schwerste dauerhafte Subform dar (transiente Form, siehe unten „MAGE-D2-Defekt“), da er klinisch einer Kombination aus antenatalem und klassischem Bartter-Syndrom entspricht. Verantwortlich hierfür ist ein defektes Protein namens Barttin. Dieses fungiert als Untereinheit der beiden Chloridkanäle ClC-Ka und ClC-Kb im dicken aufsteigenden Teil der Henle-Schleife und dem distalen Konvolut, sodass die Salzreabsorption in beiden Tubulusabschnitten zum Erliegen kommt. Laborchemisch findet sich neben einer hypokaliämischen metabolischen Alkalose eine Hypochlorämie, Hypomagnesiämie und Hyperkalziurie. Zusätzlich verursacht der Barttin-Defekt eine Innenohrschwerhörigkeit, die in den meisten Fällen an eine Taubheit
Tab. 3 Hereditäre Salzverlusttubulopathien Nomenklatur Antenatales Bartter-Syndrom
Gendefekt SLC12A1
KCNJ1 Antenatales Bartter-Syndrom mit Innenohrschwerhörigkeit X-chromosomales transientes antenatales Bartter-Syndrom Klassisches Bartter-Syndrom
BSND
Gitelman-Syndrom
SLCl12A3
EAST-Syndrom
KCNJ10
MAGED2 CLCNKB
Genprodukt Na-K-2ClKotransporter (NKCC2) Luminaler Kaliumkanal (ROMK) Barttin MAGE-D2Regulation der Ubiquitinierung Basolateraler Cl-Kanal (ClC-Kb) NaCl-Kotransporter (NCCT) Basolateraler Kaliumkanal (Kir4.1)
Klinisches Bild Polyhydramnion, Polyurie, Hyperkalziurie, Nephrokalzinose
Polyhydramnion, Polyurie, Hyperkalziurie, Nephrokalzinose Polyhydramnion, Polyurie, Hypochlorämie, Hypomagnesiämie, Innenohrschwerhörigkeit, chronisches Nierenversagen Polyhydramnion, Polyurie, Hyperkalziurie, evtl. NephrokalzinoseSistieren der Symptome nach einigen Wochen Hypochlorämie, leichte Hypomagnesiämie, Gedeihstörung Hypomagnesiämie, Hypokalziurie, Tetanien Hypomagnesämie, Hypokalziurie, EAST-Syndrom (Epilepsie, Ataxie, Innenohrschwerhörigkeit, Tubulopathie)
245
Tubulopathien
a
2365
Dicker aufsteigender Teil der Henle-Schleife
Urin
Blut
Mg2+ Ca2+ ROMK
3Na+
ATPase
2K+
K+ K+ 2 Cl− Na+
CLC-Ka
Cl−
NKCC2
Barttin
Cl− CLC-Kb
Claudin-16
Mg2+ Ca2+
Claudin-19
+ 8 mV
b
Distales Konvolut
Urin
Blut
3Na+ Na+ Cl−
tät der Erkrankung. Allerdings handelt es sich um einen transienten Phänotyp, die meisten überlebenden Patienten zeigen bereits am errechneten Geburtstermin kaum noch klinische Symptome. Die genaue Pathophysiologie dieser Erkrankung ist bislang unklar. Man nimmt an, dass MAGED2 während der Fetalzeit eine entscheidende Rolle für die Expression der tubulären Salzreabsorption hat, die im späteren Leben nicht mehr notwendig ist oder anderweitig kompensiert werden kann.
ATPase
Klassisches Bartter-Syndrom
Diesem Typ liegt ein Defekt des renalen Chloridkanals ClC-Kb zugrunde, der basolateral den Austritt des apikal reabsorbierten Chlorids aus den Tubuluszellen des TAL und DCT ermöglicht. Da in diesen Tubulusabschnitten neben ClC-Kb mit ClC-Ka ein weiterer Chloridkanal exprimiert wird, erklärt sich ein im Vergleich zum antenatalen BartterSyndrom weniger ausgeprägter Phänotyp mit meist unauffälliger Neonatalperiode und Gedeihstörungen im Kleinkindalter (sog. klassisches Bartter-Syndrom). Laborchemisch zeigt sich eine teils ausgeprägte Hypochlorämie sowie ein für den distalen Tubulusabschnitt typischer Magnesiumverlust. Eine Nephrokalzinose tritt nur selten auf.
2K+
Kir4.1 NCCT
4.2
K+ CLC-Kb
Cl− Barttin
Abb. 2 a,b Ionentransport a im dicken aufsteigenden Teil der HenleSchleife (TAL) und b im distalen Konvolut (DCT). (Mod. nach Seyberth und Schlingmann 2011)
grenzt. Häufiger als bei den anderen Subtypen entwickeln die Patienten ein chronisches Nierenversagen.
MAGE-D2-Defekt Dieser X-chromosomal vererbte Defekt führt zwar zu einer schweren Verlaufsform eines antenatalen Bartter-Syndroms mit sehr frühem Auftreten eines schwersten Polyhydramnions (meist vor der 22. SSW) und in der Folge zu extremer Frühgeburtlichkeit. Auch der postnatal auftretende Salzverlust ist meist sehr stark ausgeprägt. Hierdurch erklärt sich eine im Vergleich zu den anderen Varianten erhöhte Mortali-
4.3
Gitelman-Syndrom
Ursache ist ein genetischer Defekt des Thiazid-sensiblen Natrium-Chlorid-Kotransporters (NCCT), der im distalen Konvolut den wesentlichen Transportmechanismus für die Salzreabsorption darstellt. Klinisch fallen die Patienten meist erst im Schulalter mit leichten unspezifischen Symptomen wie Muskelschwäche, allgemeiner Müdigkeit, Muskelkrämpfen und in manchen Fällen durch eine Wachstumsretardierung auf. Im weiteren Verlauf sind viele Patienten jedoch häufig stark in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Selten werden schwerwiegende Komplikationen wie eine hypokaliämische Rhabdomyolyse, Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle oder eine Chrondrokalzinose beobachtet. Laborchemisch sind eine Hypomagnesämie sowie eine Hypokalziurie charakteristisch.
4.4
EAST-Syndrom
EAST steht als Akronym für Epilepsie, Ataxie, Schwerhörigkeit und Tubulopathie. Als Ursache dieses komplexen Krankheitsbildes konnte ein defekter Kaliumkanal (Kir4.1) identifiziert werden. An der Niere wird Kir4.1 im Bereich des distalen Konvoluts basolateral exprimiert (Abb. 2) und stellt gemeinsam mit
2366
J. König und M. Konrad
der Natrium-Kalium-ATPase den gerichteten Salztransport in diesem Tubulusabschnitt sicher. Klinisch und laborchemisch entspricht die Tubulopathie dem Gitelman-Syndrom. Diagnose und Therapie von Salzverlusttubulopathien Bei Patienten mit Polyurie/Polyurie und Salzhunger sollte das Vorliegen einer hypokaliämischen metabolischen Alkalose an eine Salzverlusttubulopathie denken lassen. Eine Krankheitsmanifestation im frühen Neugeborenenalter sowie eine begleitende Hyperkalziurie mit Nephrokalzinose deuten darauf hin, dass der zugrunde liegende Defekt im Bereich des dicken aufsteigenden Teils der Henle-Schleife zu finden ist. Ein leichterer klinischer Verlauf, eine Hypomagnesiämie und das Fehlen einer Hyperkalziurie sind dagegen typisch für Tubulopathien, die das distale Konvolut betreffen. Eine exakte Diagnose kann meist nur molekulargenetisch getroffen werden. Alle Salzverlusttubulopathien gehen mit erhöhten Renin- und Aldosteronwerten einher. Erhöhte Prostaglandin-E2-Spiegel finden sich hingegen vor allem bei den verschiedenen Formen des antenatalen Bartter-Syndroms. Therapeutisch steht die Substitution von Wasser und Elektrolyten im Vordergrund. Daneben hat sich bei den Varianten des antenatalen Bartter-Syndroms die pharmakologische Blockade der überschießenden Prostaglandin-E2-Produktion mit Indometacin (0,5–2,0 mg/kg KG/Tag) als effektive Therapie erwiesen. Auf die Gabe von kalziumsparenden Thiaziddiuretika sollte beim antenatalen Bartter-Syndrom verzichtet werden, da so physiologische Kompensationsmechanismen außer Kraft gesetzt und die Patienten durch weitere Wasser- und Salzverluste gefährdet werden.
5
Familiäre Hypomagnesiämie mit Hyperkalziurie und Nephrokalzinose
Definition Die familiäre Hypomagnesiämie mit Hyperkalziurie und Nephrokalzinose (FHHNC) zählt zur Gruppe der Magnesiumverlusterkrankungen. Es handelt sich um eine autosomalrezessiv vererbte Störung der parazellulären Elektrolytreabsorption im Bereich der Henle-Schleife (Abb. 2). Ätiologie und Pathogenese Ursächlich liegen der FHHNC Mutationen in zwei verschiedenen Genen (Claudin[CLDN]16 und Claudin[CLDN]19) zugrunde, die für Proteine kodieren, die an der Niere spezifisch in sog. tight junctions der Henle-Schleife exprimiert werden. Die Defekte führen zu Veränderungen der parazellulären Elektrolytreabsorption mit ausgeprägten Magnesiumund Kalziumverlusten.
Klinische Symptome Typische Symptome bei Manifestation einer FHHNC sind Polyurie/Polydipsie und rezidivierende Harnwegsinfektionen. Laborchemisch bestehen eine Hypomagnesiämie und eine Hyperkalziurie. Im Verlauf der Erkrankung entwickelt sich bei allen Patienten eine medulläre Nephrokalzinose, auch Nierensteine kommen vor. Häufig kommt es zu einer progredienten Niereninsuffizienz, die bereits im Kindes- und Jugendalter eine Nierenersatztherapie erfordern kann. Ein Teil der Patienten zeigt zusätzlich schwere Augenveränderungen mit ausgeprägter Myopie, Nystagmus und/oder Makulakolobomen (nur bei CLDN19-Defekten). Diagnose Laborchemisch kann die klinische Diagnose weiter untermauert werden durch den Nachweis eines erhöhten Parathormons und einer Hyperurikämie, dies bereits vor Eintreten einer Niereninsuffizienz. Letztendlich wird die Diagnose molekulargenetisch gesichert. Therapie Die Therapie der FHHNC erfolgt rein symptomatisch. Neben einer Magnesiumsubstitution und zusätzlichem Flüssigkeitsangebot zielt sie auf die Vermeidung weiterer Harnwegsinfektionen und die Reduktion der Kalziumausscheidung mit Thiaziddiuretika.
6
Renal-tubuläre Azidose
Definition Renal-tubuläre Azidosen (RTA) sind Störungen der renalen Säure-Basen-Regulation. Sie sind laborchemisch durch eine hyperchlorämische Azidose bei normaler Anionenlücke charakterisiert und können primär als hereditäre Störung oder sekundär im Rahmen von Stoffwechselleiden, Autoimmunerkrankungen oder Intoxikationen auftreten. Ätiologie und Pathogenese Gesunde Kinder produzieren täglich ca. 1–3 mmol/kg KG nichtflüchtige Säureäquivalente, die mithilfe der renalen Azidogenese ausgeschieden werden müssen. Zwei Mechanismen sind hierfür entscheidend: Die Rückresorption von filtriertem Bikarbonat, die zu 80–90 % im proximalen Tubulus erfolgt, sowie die Sekretion von H+-Ionen im Sammelrohr. Entsprechend werden 3 Formen der RTA unterschieden: • Proximale RTA (Typ 2): Störung der Bikarbonatresorption im proximalen Tubulus mit konsekutivem Abfall des Serumbikarbonats auf 12–15 mmol/l. Da die distale Ansäuerung des Urins noch funktioniert, kann der Urin-pH auf K+ + Na+) bedeutet, dass die Ammoniumkonzentration im Urin normal ist und die Azidose durch einen proximalen Bikarbonatverlust hervorgerufen wird (RTA Typ 2). Ein Kationenüberschuss im Urin (Cl < K+ + Na+) hingegen deutet auf eine ungenügende Ammoniogenese im Sammelrohr durch eine gestörte H+Sekretion hin (RTA Typ 1). Auch durch zusätzliche Säurebelastung mit Ammoniumchlorid kann bei dieser Form der Urin-pH nicht auf 20 mmol/l) sowie des Serumkaliums und der Hyperkalziurie. Hierzu muss eine orale Bikarbonatsubstitution möglichst gleichmäßig über den Tag verteilt erfolgen. Alternativ kann auch Zitrat (z. B. Kaliumzitrat), das in der Leber zu Bikarbonat verstoffwechselt wird, verabreicht werden. Bei der proximalen Form sind initial oft große Mengen Bikarbonat (5–15 mmol/kg KG/Tag) notwendig. Aufgrund einer spontanen Besserungstendenz kann die Substitution jedoch oftmals nach den ersten Lebensjahren reduziert oder sogar beendet werden. Dagegen sind bei der distalen Form
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J. König und M. Konrad
geringere Substitutionsmengen (ca. 1–2 mmol/kg KG/Tag) notwendig, diese allerdings dauerhaft. Auch über die Pubertät hinaus sollte bei der distalen RTA die Bikarbonatsubstitution zur Reduktion des Nephrokalzinoserisikos und Vermeidung einer Niereninsuffizienz fortgesetzt werden. Bei Vorliegen rachitischer Knochenveränderungen ist zusätzlich eine Vitamin-D-Therapie indiziert. Die hyperkaliämische RTA erfordert vor allem eine Korrektur des renalen Salzverlusts sowie je nach Diagnose gegebenenfalls die Gabe eines synthetischen Mineralokortikoids (Fludrocortison 0,1–0,15 mg/Tag).
Aldosteronsensitives distales Nephron Urin
Na+
Blut
+
MR
ENaC
3Na+
ATPase
2 K+
ROMK
7
Pseudohypoaldosteronismus
7.1
Pseudohypoaldosteronismus Typ I
Definition Dem Pseudohypoaldosteronismus (PHA) Typ I liegt ein fehlendes Ansprechen auf Aldosteron im Sinne einer Endorganresistenz zugrunde. Leitsymptome sind ein ausgeprägter Salzverlust mit Hyperkaliämie und metabolischer Azidose. Die leichtere, autosomal-dominant vererbte Form betrifft ausschließlich die Nieren (renale Form), während die autosomalrezessiv vererbte Form durch Beteiligung multipler Organe (Kolon, Speicheldrüsen, Schweißdrüsen) klinisch schwerwiegender verläuft (generalisierte Form). Ätiologie und Pathophysiologie Der rein renalen Form liegt eine heterozygote Mutation im Mineralokortikoidrezeptor (MR) zugrunde. Die generalisierte Form ist hingegen auf Mutationen in der α-, β- oder γ-Untereinheit des epithelialen Natriumkanals (ENaC) zurückzuführen. In beiden Fällen resultiert eine verminderte Natriumresorption im Sammelrohr mit Salzverlust und erhöhten Serumspiegeln von Renin und Aldosteron (Pseudohypoaldosteronismus). Die gleichzeitig verminderte Sekretion von Kalium- und H+-Ionen bewirkt eine metabolische Azidose mit Hyperkaliämie (Abb. 3). Klinische Symptome Die Kinder fallen in den ersten Lebenswochen durch rezidivierendes Erbrechen, Exsikkose und mangelndes Gedeihen auf. Salzverlustkrisen im Rahmen von Infektionen können lebensbedrohlich verlaufen. Die Symptomatik ist bei der generalisierten Form ausgeprägter als bei der rein renalen. Diagnose Die Kombination eines renalen Salzverlusts mit hyperkaliämischer Azidose sollte an einen PHA Typ I denken lassen. Beweisend sind stark erhöhte Serumspiegel von Renin und Aldosteron sowie das fehlende Ansprechen auf Mineralokortikoidgabe. Die Diagnose kann molekulargenetisch durch Mutationsnachweis im Mineralokortikoidrezeptor (renale
K+
Abb. 3 Aldosteronabhängiger Ionentransport im distalen Nephron und Sammelrohr. ENaC epithelialer Natriumkanal, MR Mineralokortikoidrezeptor (mod. nach Seyberth und Schlingmann 2011)
Form) oder in einer der 3 Untereinheiten des ENaC (generalisierte Form) gesichert werden. Insbesondere bei Geschwistern von Erkrankten sollte zur Vermeidung schwerwiegender Komplikationen direkt postpartal eine molekulargenetische Untersuchung erfolgen. Therapie Neugeborene müssen aufgrund des teils schwerwiegenden Salzverlusts in den ersten Lebenswochen intensiv in Bezug auf Serumnatrium, -kalium und Säure-Basen-Status überwacht werden. Die Therapie erfolgt durch orale Substitution von NaCl (3–8 mmol/kg KG/Tag). Das Ausmaß der Substitution wird an der Normalisierung der Hyperkaliämie und des Reninspiegels ausgerichtet. Die renale Form zeigt mit zunehmendem Alter eine spontane Besserung, sodass ab dem 4. Lebensjahr meist auf eine NaCl-Substitution verzichtet werden kann. Auch die generalisierte Form bessert sich im Verlauf. Ein völliger Verzicht der NaCl-Gaben ist jedoch meist nicht möglich.
7.2
Gordon-Syndrom/ Pseudohypoaldosteronismus Typ II
Definition Das Gordon-Syndrom zählt zu den seltenen erblichen Formen der arteriellen Hypertonie und wird durch eine überschießende Salzresorption im distalen Konvolut hervorgerufen. Autosomal-dominante, selten auch -rezessive Erbgänge sind beschrieben.
245
Tubulopathien
Ätiologie und Pathophysiologie: Eine gestörte Regulation des durch Thiazid hemmbaren Natriumchlorid-Kotransporters (NCCT) bewirkt eine fast vollständige Resorption des intraluminalen Natriumchlorids. Hierdurch kommt es einerseits zu einer Salzüberladung des Blutes mit der Folge einer arteriellen Hypertonie, andererseits fehlt Natrium weiter distal im Sammelrohr als Triebkraft für die dort stattfindende Sekretion von K+ und H+ in den Urin. Es resultiert das Bild einer renal-tubulären Azidose mit Hyperkaliämie (Typ 4). Mutationen der den Salztransport regulierenden Kinasen Wnk1 und Wnk4 konnten als Ursache der überschießenden Funktion des NCCT identifiziert werden. Außerdem wurden Mutationen im sog. Actin-bindingprotein-Kelch-like-3-Gen (KLHL3) beschrieben. Klinische Symptome In der frühen Kindheit entspricht das klinische Bild einer renal-tubulären Azidose mit Hyperkaliämie. Im Rahmen intestinaler Infektionen können Elektrolytentgleisungen mit Serumkaliumspiegeln über 8 mmol/l die Patienten vital gefährden. Charakteristisch ist daneben eine oft nur schwer einzustellende arterielle Hypertonie, die teilweise bereits im frühen Kindesalter, oft jedoch erst jenseits des 10. Lebensjahres hinzutritt und bei unzureichender Behandlung mit einem erheblichen kardiovaskulären Risiko behaftet ist. Diagnose Typisch ist eine hyperchlorämische Azidose mit Hyperkaliämie. Die Serumreninspiegel sind meist supprimiert, die Serumaldosteronspiegel jedoch normwertig (Pseudohypoaldosteronismus Typ II). Typisch ist ein transtubulärer Kaliumgradient (TTKG) >5. Eine Normalisierung der Laborwerte durch Thiazidgabe bestätigt die Diagnose. Therapie Die Therapie besteht in einer spezifischen Blockade des NCCT mit Thiaziddiuretika (Hydrochlorothiazid 1–2 mg/kg KG/Tag), was meist mit einer raschen Normalisierung der arteriellen Hypertonie sowie der Laborveränderungen beantwortet wird.
8
Liddle-Syndrom/ Pseudohyperaldosteronismus
Definition Das Liddle-Syndrom ist die häufigste monogen vererbte Form der arteriellen Hypertonie. Es zeichnet sich aus durch eine überschießende Natriumresorption im Sammelrohr mit begleitender hypokaliämischer Alkalose, ohne dass erhöhte Aldosteronspiegel vorliegen (Pseudohyperaldosteronismus). Die Vererbung erfolgt autosomal-dominant.
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Ätiologie und Pathophysiologie Mutationen in der β- und γ-Untereinheit des epithelialen Natriumkanals (ENaC) verhindern den Kanalabbau aus der luminalen Membran bei Nachlassen der Aldosteronwirkung und wirken so funktionssteigernd („gain of function mutations“). Klinische Symptome Es resultiert eine durch Salzüberladung bedingte arterielle Hypertonie. Gleichzeitig entsteht durch die kompensatorische Sekretion von Kalium- und H+-Ionen eine hypokaliämische Alkalose. Diagnose Typisch ist die Kombination einer verminderten fraktionellen Natriumexkretion (FeNa) mit begleitender hypokaliämischer Alkalose bei supprimierten Plasmarenin- und -aldosteronspiegeln. Die Diagnose wird durch den molekulargenetischen Mutationsnachweis gesichert. Therapie Die Therapie besteht in einer salzarmen Diät sowie einer spezifischen Blockade des ENaC durch Amilorid oder Triampteren. Die pharmakologische Blockade des Mineralokortikoidrezeptors mit Spironolakton zeigt hingegen keine Wirkung.
9
Diabetes insipidus renalis
Definition Der Diabetes insipidus renalis ist eine seltene kongenitale Erkrankung, der eine Endorganresistenz gegenüber Vasopressin/antidiuretischem Hormon (ADH) zugrunde liegt. Klinisch äußert sich dies in einem fehlenden Konzentrationsvermögen der Niere mit hohem Flüssigkeitsverlust. Ätiologie und Pathogenese Abhängig von der Plasmaosmolarität führt die Freisetzung von Vasopressin aus dem Hypophysenhinterlappen zu einer Vasopressin-vermittelten Zunahme der Wasserrückresorption im Sammelrohr. Verantwortlich hierfür sind luminale Wasserkanäle, sog. Aquaporine. Die häufigere X-chromosomale Form des Diabetes insipidus renalis beruht auf einem genetischen Defekt des Vasopressin-V2-Rezeptor-Gens (AVPR2). Seltener liegen dem Krankheitsbild autosomal-rezessiv vererbte Mutationen im Aquaporin-2-Gen (AQP2) zugrunde. Klinische Symptome In der Säuglingszeit ist die Erkrankung durch die noch unreife Nierenfunktion maskiert. Betroffene Säuglinge fallen daher zunächst durch unspezifische Symptome wie erhöhte Irritabilität, schlechtes Gedeihen, Erbrechen, Exsikkose und
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Fieberschübe (Durstfieber) auf. Laborchemisch ist eine Hypernatriämie als Zeichen der hypertonen Dehydratation typisch. Erst mit Reifung der Nierenfunktion zeigt sich die klassische Symptomtrias einer ausgeprägten, tageszeitunabhängigen Polyurie, Polydipsie und Ausscheidung eines hypotonen Urins. Das Urinvolumen kann beim Jugendlichen dabei 10–20 l/Tag betragen. Häufig wird eine Einnässsymptomatik über das 6. Lebensjahr hinaus beobachtet. Infolge der anhaltenden Polyurie entwickeln manche Patienten eine Dilatation der ableitenden Harnwege bis hin zur Hydronephrose und Megazystis. Diagnose An erster Stelle steht die oft typische Anamnese. Eltern berichten über sehr häufiges Windelwechseln mit großen Urinmengen. Das Vorliegen laborchemischer Veränderungen hängt von der Flüssigkeitszufuhr ab. Bei ausgeglichenem Wasserhaushalt zeigen sich keine Veränderungen, mangelnde Flüssigkeitszufuhr führt dagegen zur Hypernatriämie, Hyperchlorämie und erhöhten Plasmaosmolarität (>310 mosmol/ kg). Der Urin zeigt eine erniedrigte Osmolarität, ist ansonsten aber unauffällig. Die Plasma-Vasopressin-Konzentration ist bei Dehydratation stark erhöht, bei Euvolämie jedoch normwertig. Beweisend für das Vorliegen eines renalen Diabetes insipidus ist ein pathologischer Durstversuch mit fehlendem Ansprechen im Desmopressinkurztest.
Praktische Durchführung von Durstversuch und Desmopressinkurztest
• Durstversuch: – Kontinuierliche Überwachung während des Tests – Zu Testbeginn Blase entleeren – Ab Testbeginn keine Flüssigkeitszufuhr für maximal 7 h – Bestimmung von Körpergewicht, Urinmenge und -osmolarität alle 1–2 h – Zu testende Bestimmung von Osmolarität und Natriumspiegel in Urin und Serum – Beurteilung: • Anstieg der Urinosmolarität auf 1,5 nach Desmopressin-Gabe: Diabetes insipidus centralis • Urin-/Plasmaosmolarität 3 %, Fieber, Tachykardie, Blutdruckabfall, neurologische Symptome Der Durstversuch sollte jedoch aufgrund der großen Exsikkosegefahr im Säuglingsalter gar nicht und später nur zeitlich auf maximal 7 Stunden begrenzt durchgeführt werden. Cave! Die Hydrierung nach erfolgreicher Testdurchführung muss langsam erfolgen, um die Gefahr eines Hirnödems zu vermeiden! Bei aufgrund der Familienanamnese dringendem Verdacht auf das Vorliegen eines X-chromosomalen Diabetes insipidus renalis kann auf diese belastende Diagnostik zugunsten einer molekulargenetischen Untersuchung verzichtet werden. Der Vasopressin-V2-Rezeptor besitzt auch eine Bedeutung im Gerinnungssystem und bewirkt physiologischerweise einen Anstieg von Gewebsplasminogenaktivator (t-PA), Faktor VIII und Von-Willebrand-Faktor. Das Ausbleiben eines solchen Anstiegs nach Desmopressingabe kann als zusätzlicher Hinweis auf das Vorliegen eines VasopressinV2-Rezeptor-Defekts und zur Abgrenzung gegenüber einem Aquaporindefekt verwandt werden. Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch müssen andere Ursachen einer Polyurie ausgeschlossen werden: Diabetes mellitus, Nephronophthise, chronische Niereninsuffizienz, Diuretika-Abusus, Salzverlusttubulopathien, obstruktive Uropathien, Nierendysplasie, Hyperkalzämie. Bei den genannten Erkrankungen ist meist noch eine gewisse Konzentrationsfähigkeit der Nieren erhalten. Der Ausschluss einer habituellen Polydipsie mit sekundärer Polyurie kann sich anamnestisch schwierig gestalten. Typischerweise ist die Polyurie dabei jedoch auf den Tag beschränkt und sistiert nachts. Therapie Kurzfristig ist insbesondere im Säuglingsalter eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zur Vermeidung einer Exsikkose
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Tubulopathien
zu gewährleisten. Auf lange Sicht sollte zur Reduktion der Polyurie und Vermeidung einer hypertonen Dehydratation die Trinkmenge jedoch soweit wie möglich beschränkt werden. Durch salzarme (1 mmol/kg KG/Tag) und eiweißreduzierte Kost (2 g/kg KG/Tag) sinkt die osmotische Belastung der Nieren, wodurch der Flüssigkeitsverlust weiter gesenkt werden kann. Es muss jedoch darauf geachtet werden, dass insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern eine für das Wachstum ausreichende Eiweißversorgung sichergestellt ist. Medikamentös vermögen Thiaziddiuretika (Hydrochlorothiazid 2 mg/kg KG/Tag) die Urinausscheidung effektiv zu senken. Diese paradoxe antidiuretische Wirkung beruht auf einer Reduktion der extrazellulären Natriumkonzentration mit kompensatorisch gesteigerter Salz- und Wasserresorption im proximalen Tubulus. Dem durch Hydrochlorothiazid verursachten Kaliumverlust kann durch zusätzliche Gabe kaliumsparender Diuretika (Amilorid) entgegengewirkt werden. Prostaglandininhibitoren (Indomethazin 2 mg/kg KG/Tag) können den Urinfluss durch Drosselung der glomerulären Filtration senken. Indomethazin wirkt vor allem in Kombination mit Hydrochlorothiazid und sollte daher nicht als Monotherapie verabreicht werden. Unter Indomethazin muss die Nierenfunktion engmaschig kontrolliert werden. Cave! • Im Gegensatz zu Nieren-gesunden Kindern mit hypertoner Dehydratation, sollten Kinder mit Diabetes insipidus keine physiologische Kochsalzlösung erhalten (mit Ausnahme Bolusgaben bei akutem hypovolämischem Schock). Als Rehydratationslösung empfiehlt sich „freies Wasser“ als 5-prozentige Glukoselösung. Die absolute Menge orientiert sich hierbei an der Diurese. Hintergrund hierfür ist, dass bei Kindern mit Diabetes insipidus die Wasserverluste weit über den Salzverlusten liegen. Bei
2371
Rehydratation mit isotonen Lösungen bestünde daher die Gefahr einer weiteren Zunahme der Hypernatriämie mit der Gefahr einer osmotischen Demyelinisierung. • Bolusgaben hypotoner Rehydratationslösungen müssen aber vermieden werden, da bei zu schneller Rehydrierung die Gefahr eines Hirnödems besteht. • Die Ausstellung eines Notfallausweises ist bei Patienten mit Diabetes insipidus dringend zu empfehlen.
Weiterführende Literatur Bockenhauer D, Bichet DG (2017) Nephrogenic diabetes insipidus. Curr Opin Pediatr 29:199–205 Bökenkamp A, Ludwig M (2011) Disorders of the renal proximal tubule. Nephron Physiol 118(1):1–6 Emma F, Bertini E, Salviati L, Montini G (2012) Renal involvement of mitochondrial cytopathies. Pediatr Nephrol 27(4):539–550 Konrad M, Hou J, Weber S et al (2008) CLDN16 genotype predicts renal decline in familial hypomagnesemia with hypercalciuria and nephrocalcinosis. J Am Soc Nephrol 19(1):171–181 Louis-Dit-Picard H, Barc J, Trujilano D et al (2012) KLHL3 mutations cause familial hyperkalemic hypertension by impairing ion transport in the distal nephron. Nat Genet 44(4):456–460, S1–3 Rodríguez-Soriano J (2000) New insights into the pathogenesis of renal tubular acidosis – from functional to molecular studies. Pediatr Nephrol 14(12):1121–1136 Santer R, Calado J (2010) Familial renal glucosuria and SGLT2: from a mendelian trait to a therapeutic target. Clin J Am Soc Nephrol 5 (1):133–141 Seyberth HW, Schlingmann KP (2011) Bartter- and Gitelman-like syndromes: salt-losing tubulopathies with loop or DCT defects. Pediatr Nephrol 26(10):1789–1802 Simonetti GD, Mohaupt MG, Bianchetti MG (2011) Monogenic forms of hypertension. Eur J Pediatr 171(10):1433–1439 Wesche D, Deen PM, Knoers NV (2012) Congenital nephrogenic diabetes insipidus: the current state of affairs. Pediatr Nephrol 27 (12):2183–2204
Urolithiasis und Nephrokalzinose
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Bernd Hoppe
Epidemiologie Auch bei Kindern und Jugendlichen ist in den letzten Jahren die Prävalenz von Urolithiasis (UL) und Nephrokalzinose (NC) deutlich angestiegen. Dies ist nicht nur in den Schwerpunktambulanzen, sondern durchaus auch in der pädiatrischen Praxis zu bemerken. Beim pädiatrischen Patienten sind dabei genetische und anatomische Erkrankungen die Hauptursachen (~75 %) für Nierensteinerkrankungen, diese sollten natürlich schnell diagnostiziert und dann auch prompt behandelt werden. Die Inzidenz der pädiatrischen UL/NC wird auf ungefähr 10 % derer beim Erwachsenen geschätzt, liegt aber eher höher, da relativ oft (bei 15–40 % der Kinder mit Steinen), unspezifische Symptome nicht direkt an eine Urolithiasis denken lassen. In der Zwischenzeit wird aber davon berichtet, dass die Vorstellungen in den Notaufnahmen mit akuter Steinproblematik vor allem bei Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen hat. Urolithiasis und/oder Nephrokalzinose finden sich bei Kindern jeden Alters. Ein geschlechtsspezifischer Unterschied ist nicht mehr vorhanden, das Risiko für Steinerkrankungen ist auch beim weiblichen Geschlecht (metabolisches Syndrom?) deutlich angestiegen. Die Nephrokalzinose tritt eher in den ersten Lebensjahren auf, sie ist häufiger bei Tubulopathien oder bei angeborenen Stoffwechselerkrankungen zu finden. Jüngere Kinder haben einen höheren Anteil an Nierensteinen, während ältere Patienten mit obstruktivem Ureterkonkrement zur Vorstellung kommen. Definition Der Terminus Urolithiasis beschreibt Steine, die in den Nieren und ableitenden Harnwegen gefunden werden, also auch Blasensteine (Abb. 1a). Unter Nephrolithiasis (NL) versteht man nur die in den Nieren lokalisierten Steine (Abb. 1b–d), Nephrokalzinose meint Kalziumsalzablagerungen in den B. Hoppe (*) Pädiatrische Nephrologie, Universitätsklinikum Bonn, Kinderklinik, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected]
Tubuli, dem Tubulusepithel und/oder dem Interstitium (Abb. 1e). Während die Zusammensetzung der Ablagerungen bei der Ultraschalluntersuchung meist unklar bleibt, unterscheiden die Pathologen zwischen einer Nephrokalzinose durch Kalziumphosphat und einer Oxalose durch Kalziumoxalat(CaOx)Ablagerungen. Die Nephrokalzinose wird auch durch die anatomische Region der Ablagerung beschrieben: Eine medulläre, unterteilt in 3 Subtypen aufbauend auf dem Ausmaß der Echogenitätserhöhung, wird von einer kortikalen (z. B. bei akuter kortikaler Nekrose) und einer diffusen, generalisierten Nephrokalzinose unterschieden. Eine Nephrokalzinose führt nicht unbedingt zu Nierensteinen, und umgekehrt kann eine Urolithiasis mit oder ohne Nephrokalzinose einhergehen. Jedoch können sie auch beim selben Patienten zeitgleich oder nacheinander folgend auftreten (Abb. 1c, d). Differenzialdiagnostisch sollte bei Verdacht auf Nephrokalzinose im Ultraschall auch an Mikrokalkuli, erkennbar als kleine hyperechogene Spots