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German Pages 266 [280] Year 2008
Martina Stemich Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
tOPICS IN ANCIENT PHILOSOPHY Themen der antiken Philosophie Herausgegeben vonâ•›/â•›Edited by Ludger Jansen • Christoph Jansen • Christof Rapp Band 2â•›/â•›Volume 2
Martina Stemich
Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
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ISBN 978-3-938793-80-0 2008 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work
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Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
1
Vorwort
3
Einleitung
5
1 Einführung zu Parmenides und zu seiner Schrift
17
1.1 Einleitung
17
1.2 Parmenides’ Leben 1.2.7 Datierung 1.2.2 War Parmenides ein Heiler? 1.2.3 Wer war Parmenides’ Lehrer?
18 18 19 21
1.3 Das Lehrgedicht
28
1.4 Das Prooimion 1.4.1 Seine Bedeutung im Lehrgedicht 1.4.2 Verschiedene Deutungsrichtungen
32 32 35
1.5 Einmalig oder wiederholbar, punktuell oder prozesshaft? 39 1.6 Zusammenfassung
40
1.7 Eine zweite Arbeitshypothese
42
2 Der Kuros als Lernender
45
2.1 Einleitung
45
2.2 Die Göttin
46
2.3 Der Kuros 2.3.1 Exkurs: Das homerische „Ich“ 2.3.2 Vorsokratische Philosophie: Eine Überwindung Homers?
52 54
2.4 Die aktive Wissenssuche des Kuros
57
55
VIII
Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
2.5 Parmenides als Kuros und Lehrender
62
2.6 Zusammenfassung
64
3 Der Beginn der Lehre: Die Wegweisung in B 1.28-30
67
3.1 Einleitung
67
3.2 Der Auftrag zu lernen
68
3.3 Die zwei Bereiche: „Du musst alles erfahren“ (B 1.28) 3.3.1 Πυθέσθαι: Mehr als Lernen allein 3.3.2 Der historische Hintergrund: Kann man überhaupt etwas wissen? 3.3.3 Die beiden Lernbereiche 3.3.4 Erstes Zwischenergebnis
70 72
3.4 Der erste Bereich: das unbewegte Herz der Wahrheit (B 1.29) 3.4.1 Das ἦτορ des Parmenides 3.4.2 Das unbewegte Herz: Zur Bestimmung von ἀτρεμής 3.4.3 Die Fähigkeit, zu überzeugen: zur Bestimmung von εὐπειθέος 3.4.4 Zur Wahrheit in B 1.29 3.4.5 Zweites Zwischenergebnis 3.5 Der zweite Bereich: Die Scheinmeinungen (B€1.30) 3.5.1 Zum Sinn, Schein-Meinungen zu lernen 3.5.2 Die Menschen im Lehrgedicht (1): Der Wissende 3.5.3 Die Menschen im Lehrgedicht (2): Die Sterblichen 3.5.4 Βροτῶν δόξαι zur Bestimmung der Scheinmeinungen 3.5.5 Worin liegt der Fehler der Sterblichen?
73 75 76 77 78 81 83 84 87 88 90 92 93 95 97
Inhaltsverzeichnis
3.6 Drittes Zwischenergebnis 3.7 Zusammenfassende Bemerkungen 4 Der pädagogische Rahmen um Parmenides
IX
98 100 103
4.1 Einleitung
103
4.2 Das homerisch-hesiodische Erziehungsideal
104
4.3 Philosophieren als Schulung in der Vorsokratik
107
4.4 Platon auf dem Hintergrund von Athens Erziehungspraxis
109
4.5 Übersicht
114
4.6 Parmenides’ Wissen soll unüberwindbar sein
116
4.7 Ausblick
120
5 Drei Lernstufen
123
5.1 Einführung
123
5.2 Der erste Schritt: Lerne!
125
5.3 Der zweite Schritt: Nimm es dir zu Herzen!
127
5.4 Der dritte Schritt: Urteile! 5.4.1 Zur Funktionsverschiebung zwischen Kuros und Göttin 5.4.2 Was beurteilt werden soll
129
5.5 Zusammenfassung und Übergang
135
6 B 16 DK: Einübung in die rechte Krasis
137
132 134
6.1 Einleitung
137
6.2 Die Stellung von B 16 im Lehrgedicht
138
6.3 Zum Überlieferungskontext von B 16
142
6.4 Der deskriptive Sinn von B 16 6.4.1 Die Menschen 6.4.2 Das Denken: νόος und νοεῖν
148 148 149
˘
Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
6.5 Die präskriptive Anwendung
154
6.6 Der erste Vers: Die Mischung der vielbewegten Glieder 157 6.6.1 Κρᾶσις in medizinischem Zusammenhang 159 6.6.2 Die Glieder 161 6.7 Die Hauptthese von B 16
164
6.8 Eine Ergänzung: B 16.3-4
165
6.9 Schlussüberlegungen
168
7 B 4 DK: Die Zusammenschau der Widersprüche
171
7.1 Einleitung
171
7.2 Kontext und Überlieferung von B 4
172
7.3 B 4.1: Schaue stetig mit dem Geist 7.3.1 „Schaue!“ 7.3.2 „Schaue mit dem Geist“ 7.3.3 „Schaue gleichermaßen“ 7.3.4 Ab- und anwesend zugleich 7.3.5 Der Ausgleich der Dinge auf das Sein
175 175 177 179 181 184
7.4 Die drei weiteren Zeilen von B 4
188
7.5 Die philosophische Bildung des Schauens
191
7.6 Kann der Kuros wirklich das Seiende erkennen?
192
7.7 Zusammenfassende Bemerkungen
195
8 Die Seinsmerkmale aus der Sicht des Kuros
197
8.1 Einleitung
197
8.2 Verschiedene Wege für verschiedenartige Menschen
198
8.3 Die Merkmale des Seienden und das Denken des Kuros 204 8.3.1 Das Seiende aus räumlicher Perspektive 210 213 8.3.2 Das Seiende aus zeitlicher Perspektive 8.4 Zusammenfassung
216
Inhaltsverzeichnis
9 Zusammenfassung und Bewertung
XI
219
9.1 Der Kuros denkt selbständig 9.1.1 Therapeutisches bei Parmenides 9.1.2 Einüben von Seinserkenntnis als Lebenskunst
219 221 223
9.2 Parmenides und Heraklit im Vergleich
224
9.3 Forschungsergebnisse
229
10 Liste der Parmenidesausgaben
237
11 Bibliographie
239
12 Liste der philologischen Hilfsmittel
265
13 Liste der Abkürzungen
267
Nachruf
269
Vorbemerkung
O
bwohl Martina Stemich die Absicht hatte, ihre Habilitationsschrift zwecks einer zukünftigen Veröffentlichung zu korrigieren und zu verbessern, konnte die Verfasserin des vorliegendes Buches diesen Wunsch nicht erfüllen. Eine lange und schwere Krankheit hat Martina Stemich diese Möglichkeit im Juli 2005 genommen (siehe den Nachruf unten). Ihre Familie hat sich anschliessend dem Departement der Philosophie der Universität Freiburg (Schweiz), Martinas Alma mater, mit der Bitte zugewandt, die beabsichtigte Veröffentlichung, trotz der schwierigen Umstände, zu betreuen. Die Korrekturarbeiten wurden von Frau Dr. Marlis ColloudStreit übernommen mit Hilfe von Sigismond Roduit und beschränken sich auf formelle Aspekte. Inhaltliche Verbesserungen, die allein der Verfasserin zustanden, wurden durch ihr Schicksal verunmöglicht. Wir bitten daher um Nachsicht und Verständnis bei der Lektüre dieses Buches. Herr Professor Rafael Ferber (Luzern) hat die Arbeit grosszügig unterstützt. Wir möchten ferner auch den Kollegen Dr. Ludger Jansen und Dr. Christoph Jedan für ihre wertvolle Beihilfe und die Aufnahme des Manuskripts danken sowie dem Departement der Philosophie der Universität Freiburg (Schweiz), das die notwendige finanzielle Unterstützung beigesteuert hat. Dominic J. O‘Meara August 2007
Vorwort
D
er Schweizerische Nationalfonds hat das Forschungsprojekt zur vorliegenden These mit einem Stipendium unterstützt, ohne welches diese Arbeit nie zustande gekommen wäre. Dafür und für die Empfehlung, einen Teil der Forschungszeit im Ausland zu verbringen, bin ich sehr dankbar. Ich danke Malcolm Schofield für die Einladung nach Cambridge, für seine hilfreichen Vorschläge und anregenden Diskussionen, besonders in der frühen Phase meiner Untersuchungen. Das Buch wurde zu großen Teilen in der kollegialen Atmosphäre in der Bibliothek der Classical Faculty der Universität von Cambridge, England, verfasst. Als ‘Research Fellow’ hatte ich freien Zugang zur University Library und zu vielen Collegebibliotheken; ich konnte Vorlesungen besuchen und die Computer der Fakultät benutzen. Für diese idealen Arbeitsbedingungen möchte ich allen zuständigen Mitgliedern der Classical Faculty danken. Dass die Schrift in der vorliegenden Form entstehen konnte, verdanke ich der Hilfe vieler. Zunächst möchte ich meinem früheren Doktorvater, Â�Dominic J. O’Meara, danken, der diese Arbeit mit guten Gesprächen und Korrekturvorschlägen auf vielfältige Weise gefördert hat. Besonders danke ich John A. Graham, der in vielen Gesprächen ermutigend das Werden dieser Arbeit begleitet hat. Auch Denis O’Brien hat meine Arbeit mit hilfreicher Kritik gefördert. Christoph Jedan und Ludger Jansen, die verschiedene Fassungen des Manuskripts durchgesehen und wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht haben, bin ich sehr verbunden. Des weiteren möchte ich den folgenden Professoren und Kollegen danken, die Teile oder das ganze Manuskript gelesen haben oder sich in Diskussionen mit Kritik und Anregungen hilfreich erwiesen haben: Rafael Ferber, Geoffrey E.R. Lloyd, Â�Douglas R. Hedley, Oliver Primavesi, Patricia Curd, Suzanne Stern-Gillet, Alexander P.€D. Mourelatos, Laura Gemelli-Marciano, Michela Sassi, Luc Brisson und Sabine Grebe. Vor allem aber möchte ich meiner Mutter und Felix Huber für ihre großzügige Unterstützung und ihr Vertrauen danken sowie meinem Sohn Niels, der während der vergangenen Jahre viel Geduld und Ausdauer entwickelt hat und mit seiner Lebensfreude die Trockenheit dieser Arbeit immer wieder aufgelockert hat. Ihnen widme ich diese Arbeit.
Einleitung
I
n der Antike haben Philosophen den Alltagsmenschen als rastlos und unstet beschrieben, der dumpfen Sinnes und verwirrt ist und seine Möglichkeiten nicht ausschöpft. Auch Parmenides übt Kritik an der Wahrnehmungsweise im Alltag (DK B 6.4-9) und formuliert eine Erkenntnislehre, die zu einer Wirklichkeit führt, die unentstanden und endlos, immer und absolut unveränderlich ist: Zu dem Seienden. Welche Denkerfahrung liegt Parmenides’ Beschreibung des Seienden zugrunde? Hat das Seiende etwas mit dem Menschen zu tun? Kann der Mensch das Seiende überhaupt erkennen? Die Frage, was Parmenides’ Lehre des Seienden bedeute, bildete unzweifelhaft einen der großen Gegenstände der alten griechischen philosophischen Diskussion. Die große Anzahl der Schriften über Parmenides beweist, dass die Interpretation seines Denkens auch heute noch sehr umstritten ist. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung soll weniger die Erkenntnis des Philosophen als der Weg des Menschen hin zur Erkenntnis stehen.
Ziel der Untersuchung In dieser Arbeit sollen zwei Leitfragen besprochen werden. Erstens geht es darum, in Parmenides’ Schrift Anleitungen zur Seinserkenntnis auszumachen, und zweitens um den Versuch, Parmenides’ Beschreibung des Zieles der Erkenntnissuche in Zusammenhang mit der geistigen Haltung desjenigen, der es erkennt, zu erforschen. Meiner ersten Leitfrage folgend, werde ich in Parmenides’ Gedicht Zeilen aus Fragmenten auf ihre pädagogische Relevanz prüfen. Tatsächlich zeigt eine Reihe von Textstellen im Lehrgedicht, dass Parmenides eine graduelle Einübung in die Seinserkenntnis lehrt. Mein Arbeitsziel begründet auch den Leitgedanken, dass die eleatische Seinslehre als Ergebnis einer Erkenntnissuche entstanden ist, die den Menschen vom Zustand, nichts zu wissen, zur Seinserkenntnis bringt. Soweit ersichtlich liegt bis jetzt noch keine ausführliche Untersuchung vor, die Parmenides’ Denken aus lerntheoretischer Betrachtungsweise analysiert. Parmenides thematisierte, gemäß unserer Überlieferung, zwar nicht, dass Lernen in einen größeren Lebenszusammenhang eingebettet ist, doch ist das Vorkommen dieser Thematik zu Parmenides’ Zeit durchaus belegt. Allerdings herrscht die Meinung vor, dass erst mit und nach Sokrates und
˘
Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
Platon philosophisch begründete Lebensmodelle und konsequente Wissenssuche entwickelt wurden. Platon stellt wiederholt die Frage, was Wissen ist, und liefert zugleich ausgefeilte Vorschriften und ein Trainingsprogramm für angehende Philosophen. Ausführlich wurde die Idee einer Philosophie als Lebensweg im Rahmen hellenistischer Studien diskutiert. Philosophie als Anleitung zur Erkenntnissuche und als Lebensschule entstand jedoch keineswegs erst im Hellenismus. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass sich Philosophieren als methodische Erkenntnissuche und als graduelles Bildungsgeschehen sukzessiv in den verschiedenen Philosophieschulen entwickelte und dass Ansätze dazu bereits in der Vorsokratik entstanden sind. Es gibt zwar einzelne Untersuchungen zur Einübung in die Philosophie im Rahmen des vorsokratischen Denkens. Es gibt Studien, die zeigen, dass auch die pythagoreische Askese zur philosophischen Erkenntnis führen soll. Ansonsten ist der auf Aristoteles Darstellung gründende Gedanke verbreitet, dass Vorsokratiker vor allem die Natur erforschten. In meiner früheren Studie zu Heraklit habe ich aufgezeigt, wie ein vorsokratischer Denker, mehr als ein Jahrhundert vor Platon, eine Methode zur Erkenntnis beschreibt. Heraklit stellt seine Suche nach Wissen als Selbstsuche dar (DK 22 B 101). Durch die Erkenntnis des Logos in sich gelangt er zum Verständnis des kosmischen Logos und der Gesetzmäßigkeit der Welt. Die hier vorgelegte Studie knüpft thematisch in mancher Hinsicht an diese Untersuchung an. Auch Parmenides sucht systematisch nach Erkenntnis. Im Vordergrund dieser Arbeit soll aber nicht ein Vergleich mit anderen Denkern geschehen, sondern Parmenides soll in seiner Eigentümlichkeit interpretiert werden und grundsätzlich weder als Vorläufer von Platon noch als ein Denker, der auf Heraklits Philosophieren antwortete, noch schließlich als geistiger Erbe des Pythagoras, interpretiert werden. Mein zweites Beweisziel betrifft nicht mehr den Erkenntnisweg, sondern das Ankommen im Bereich der Erkenntnis. Dabei geht es um die Frage, was denkt der Lernende, wenn er Seiendes erkennt? Es erhebt sich also die Frage, inwiefern die ontologische These des Lehrgedichtes umsetzbar ist, das heißt inwieweit die Beschreibung der Seinsmerkmale den Zustand der philosophischen Erkenntnis weiter klären kann. Meine Arbeitsthese soll vor allem im achten Kapitel, welches das Seiende aus der Sicht des Kuros erforscht, diskutiert werden. Der Grundzug des vorliegenden Entwurfs betrifft Parmenides’ LernÂ� theorie; nämlich seine Darstellung des Aufstiegs des Kuros zum philosophischen Denken. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen daher dieje-
Einleitung
˘
nigen Fragmente, die das Lerngeschehen und die Kompetenzstufen im Bildungsgeschehen erwähnen. Diese sind unterschiedlicher Art: Sie umfassen einerseits das Ansammeln eines breiten Wissensspektrums, die Fähigkeit zu überlegen und eigenständig zu urteilen und betreffen andererseits das Einüben einer besonderen körperlich-geistigen Disposition, die den ganzen Menschen verwandeln kann. Die Analyse dieser Lernschritte wird den Hauptteil meiner Studie ausmachen.
Zum Aufbau der Arbeit Das erste Kapitel bietet eine Einführung zu Parmenides und zu seinem Gedicht. Nach einer Besprechung der Lebensdaten und einiger doxoÂ� graphischer Bemerkungen, welche die Lehre des Eleaten ideengeschichtlich einreihen und Bezüge zwischen Parmenides’ Leben und Lehre herzustellen suchen, werde ich seine Wahl, in Hexametern zu schreiben, thematisieren. Dabei möchte ich auch diskutieren, inwiefern Parmenides’ Schrift ein Lehrgedicht ist. Ein weiterer Teil befasst sich mit dem Prooimion des Parmenides. Darin soll der Stellenwert der Route des Kuros zur Göttin ausgemacht werden. Es ist zu zeigen, dass Parmenides seinen philosophischen Diskurs innerhalb eines wohlbekannten Traditionsrahmens von Bildern und Gedanken situiert, weil er seine Hörerschaft von einem altvertrautem Boden abholen will, um sie von dort aus auf einen ungewöhnlichen Denkweg mitzunehmen. So wie die philosophischen Gedanken des Parmenides in eine Rahmenhandlung gebettet sind, spielt sich auch der Erkenntnisweg des Kuros in seiner persönlichen Beziehung zur lehrenden Göttin ab. Im zweiten Kapitel werde ich diskutieren, warum der Eleate gerade eine weibliche Gottheit als Wegweiserin für den Kuros gewählt hat. Parmenides stellt sich nicht als Autodidakt vor. Mit Textbeispielen werde ich die aktive und zugleich bewusst passive Rolle des Kuros gegenüber der Göttin erläutern und aufzeigen, inwiefern der Eleate in seinem Gedicht ein Bildungsgeschehen vorführt. Parmenides’ Darstellung des Kuros, der seine Schülerrolle durchbricht und selbst zum Lehrenden wird, ist die Haltung desjenigen, der die Erkenntnissuche erfolgreich abgeschlossen hat. Die besondere Lehrer-Schüler-Situation zwischen der Göttin und dem Kuros macht nicht zuletzt klar, dass das Lehrgedicht auf Parmenides’ Lernerfahrung basiert. Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Lernversprechen der Göttin am Ende des Prooimions. Der Kuros soll zwei Wissensbereiche meistern, nämlich das „unerschütterliche Herz der Wahrheit“ und die „unglaubwürdigen
˘
Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
Meinungen der Sterblichen.“ Ich werde ausführen, auf welche Art Parmenides mit der Formulierung dieses Lernauftrages wiederholt traditionelle Gedankenmuster durchbricht. Des weiteren werde ich argumentieren, dass die Abwertung der Meinungen der Sterblichen, erkenntnispsychologisch gelesen, eine diagnostische und prognostische Funktion für den Lernenden aufweisen. Ihre Beschreibung leitet den Kuros einerseits dazu an, sein Alltagsbewusstsein zu befragen und andererseits fordert sie ihn heraus, diesen unphilosophischen Zustand zu überwinden. Die Vorstellung, der Kuros solle beide Wissensbereiche meistern, führt schließlich zur Konsequenz, dass Parmenides im Lehrgedicht nicht eine ontologische Trennung zwischen Seinsbereichen darlegt, sondern unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, nämlich die Erkenntnis des Seienden einerseits und das vermeintliche Erkennen (Scheinmeinen) andererseits. Das vierte Kapitel informiert über die Erziehungsvorstellungen und die entsprechende Praxis zu Parmenides’ Zeit und schlägt eine Brücke über die pythagoreische Schule und Heraklits Lehre zu Platons pädagogischen Idealen. Im Vordergrund steht die Frage nach dem Stellenwert von ‘Lernen’ im vorparmenideischen Gedankenraum. Dann soll im zweiten Teil des Kapitels eine Textstelle im Lehrgedicht besprochen werden, die auffällig dem homerischen Ideal, stets ‘der Beste’ zu sein, ähnelt. Anhand dieses Beispiels möchte ich aufzeigen, dass der Eleate zwar Werturteile aufgreift, die homerisch klingen, deren Bedeutung im Lehrgedicht indes gewandelt ist. Das fünfte Kapitel hebt drei Lernanweisungen im Lehrgedicht hervor. Diese leiten graduell einen Lernvorgang an, der aus ineinandergreifenden und sich ergänzenden Kompetenzstufen besteht und der den Kuros vom Zustand, nichts zu wissen, demjenigen höchster Erkenntnisfähigkeit näher bringen soll. Die erste Etappe umfasst die Aufforderung, der Kuros solle alles lernen (28 B 1.28), während die zweite bestimmt, er solle das Wissensmaterial „verinnerlichen“ (28 B 2.1 und B 6.2). Schließlich betrifft der dritte Lernauftrag, der Kuros solle die Worte der Göttin mit Logos prüfen, was an seine geistige Eigenständigkeit appelliert. Nicht zuletzt impliziert der dritte Lernauftrag (28 B 7.5), dass der Kuros die Schülerrolle gegenüber der Göttin überwinden soll – und kann. Im sechsten Kapitel schlage ich eine Lesart von B 16 vor, welche die Beschreibung des Zusammenhanges zwischen körperlichen Zuständen und dem Erkennen des Menschen pädagogisch deutet. Auch dieses Fragment beschreibt eine erkenntnistheoretische Schulung: es gibt dem Menschen einen Hinweis, wie er vom Alltagszustand, in dem die vielbewegten Glieder
Einleitung
˘
sein Denken (νόος) bestimmen, zum Kuros werden kann. Wenn er den Hinweis der Göttin versteht, kann er Kraft seines νόος eine κρᾶσις, ‘Mischung der Glieder’ bewirken, die zu harmonischer Ganzheit führt. Dann deckt sich sein Zustand mit der Eigenschaft des Seienden, οὐλομελές, eins, zusammenhängend zu sein. Auch das siebte Kapitel beschäftigt sich mit der philosophischen Schulung des Kuros. Ich werde in B 4 die Anleitung der Göttin zu einer besondere Schau untersuchen. Gemäß B 4.1 soll der Kuros mit νόος stetig auf die zugleich ab- und anwesenden Seienden schauen. Kraft der aufrechterhaltenen Aufmerksamkeit über die Vielheit der Dinge hinweg, soll der Kuros ein Schauen einüben, das auf das Seiende schlechthin weist. Im letzten Teil des Kapitels greife ich dann die strittige Frage auf, ob der Kuros überhaupt Seiendes erkennen kann. Diesem Einwand begegne ich mit einem Zeugnis des Aristoteles, das zeigt, dass das Problem nicht auf der Ebene der Wirklichkeit, sondern auf derjenigen des Menschen liegt. Hiermit enden die Untersuchungen zur ersten Arbeitshypothese. Ich werde dafür argumentieren, dass Parmenides’ Lehrgedicht eine philosophische Anleitung zur Kultivierung der Erkenntnisfähigkeit enthält, welche verschiedene Lernmethoden umfasst. Gemeinsam führen die Lernschritte zur Entwicklung des geistigen Potenzials des Kuros, durch das er fähig wird, das Seiende zu erkennen. Das achte Kapitel wendet sich der zweiten Leitfrage zu, die, von den Seinsmerkmalen ausgehend, Angaben über den Zustand des Kuros, der Seiendes erkennt, ableiten will. Mehrheitlich konzentriert sich die Parmenidesforschung auf den Wahrheitsweg und auf eine Analyse der Seinsmerkmale. Mein Interesse gilt jedoch der Frage, ob von den Seinsmerkmalen ausgehend, Hinweise über den Geisteszustand des Erkennenden ableitbar sind. Im Hintergrund steht hier die Konvergenztheorie, nach der sich der Erkennende und sein Erkenntnisobjekt entsprechen, und die, in B 3 behauptete Entsprechung von Denken und Sein. Ich werde mithin untersuchen, inwieweit die zeitlich und räumlich bestimmten Eigenschaften des Seienden, den Zustand des Kuros im Moment der Erkenntnis umschreiben. Im neunten und letzten Kapitel sollen die Fäden meiner Studien zusammengeführt werden. Zu Beginn werde ich nochmals Parmenides’ Eigenständigkeit gegenüber anderen Denkschulen hervorheben. Daraufhin sollen Berührungspunkte zwischen Parmenides’ Lehre und Theorien, die antikes philosophisches Denken als Seelenleitung interpretieren, mit modernen Betrachtungen über Philosophie als eine Form von Lebenskunst verglichen
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
werden. Ein Vergleich zwischen Heraklits und Parmenides’ Erkenntnissuche soll deutlich machen, dass Philosophie in der Vorsokratik mehr als ἱστορίη ist nämlich auch eine Lehre zu methodischer Erkenntnissuche. Am Ende des Kapitels sollen die Ergebnisse der vorliegenden Studie nochmals zusammengefasst werden.
Anmerkungen zur Parmenidesforschung In der wissenschaftlichen Literatur zu Parmenides sind es vor allem logisch bzw. ontologisch orientierte Untersuchungen, die im Vordergrund des Interesses standen und immer noch stehen. Im englischsprachigen Raum ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Arbeiten von G.L. Owen (1960 und 1966) hinzuweisen. Sie bilden die Grundlage für die anglo-amerikanische Diskussion des Lehrgedichtes. Owen bestimmt, dass der Gegenstand der Untersuchung, das ἔστι (z.€B. in B 2.3-6), in einem existentiellen Sinn zu deuten ist (S. 90) und demjenigen entspricht, worüber gedacht und gesprochen werden kann. Diese formale Aussage werde mit den Seinsattributen ausgefüllt, welche bestimmen, dass Wahrheit existiert, während Doxa rein „dialektisch“ zu verstehen sei. Die Argumentation bestimmt Parmenides als den radikalsten Pionier der Vorsokratik; sie bespricht Parmenides’ Beziehung zu Denkern vor oder nach ihm jedoch nicht. Wie Owen sind auch Stokes (1971), Gallop (1984) und Â�McKirahan (1994) der Interpretation eines numerischen Monismus verpflichtet, wonach das Seiende einem einzigen möglichen Untersuchungsgegenstand entspreche. Barnes (1979) zieht dieser eine abgewandelte Interpretation vor, nach der es Parmenides darum gehe, die Bedingung wissenschaftlicher Forschung zu bestimmen. Wie Owen liest er ἔστι existentiell: Dasjenige, was Gegenstand einer Untersuchung werden kann, muss auch existieren. Anders als Owen bestimmt Barnes, dass es für Parmenides nicht nur einen möglichen Untersuchungsgegenstand gebe. Der Autor interpretiert, dass Doxa falsch sei und bloß der Wahrheitsteil der Parmenidesschrift zähle. Kirk, Raven und Schofield (1957) interpretieren das Subjekt von ἔστι zugleich existentiell und prädikativ und bestimmen es als „was immer ist“. Hierbei werden Parmenides’ paradoxe Aussagen über dasjenige, was nicht ist, als eine willkommene Herausforderung gesehen, unsere Annahmen über Bedeutung, Referenz und Existenz neu zu überdenken. O’ Brien (1987) kritisiert die Deutung von Owen, doch übernimmt er dessen existentielle Lesart von ἔστι. Auch diese äußerst ausführliche Studie untersucht Parmenides’ Lehre ohne einen geschichtlichen Zusammenhang
Einleitung
11
mit anderen Denkern aufzuzeigen. Das Werk abstrahiert, wie die meisten in der anglo-amerikanischen Diskussion, von der Untersuchung einer Beziehungen zwischen Parmenideischem, Orphischem, Pythagoreischem, usw. Denken. Coxon (1986) räumt der vorsokratischen Gedankengeschichte Raum ein und bestimmt Parmenides’ Denken im Rahmen der damaligen Diskussion. Der Eleate habe gegen diejenigen philosophischen Theorien argumentiert, die behaupten, die Welt sei wirklich und verändere sich ständig. Parmenides sei durch Pythagoreisches Gedankengut geprägt, obwohl er es kritisiere. Sein Denken sei durch die Frage bestimmt, wie die Wirklichkeit beschaffen sein muss, damit der Mensch sie erkenne. Die Antwort darauf sei, dass das unteilbare, unveränderliche Seiende der einzig legitime Forschungsgegenstand sei. Tarán (1965) bezeichnet als Subjekt von Parmenides’ Untersuchung das Seiende mit seinen rational festgelegten Merkmalen und bestimmt, dass die phänomenale, der Sinneserfahrung zugängliche Welt unwirklich ist. Gemäß Tarán haben die auf Parmenides folgenden Pluralisten seinen Monismus nicht verstanden. Ausführlich geht Curd (1998) auf den Zusammenhang zwischen dem Lehrgedicht und früheren wie auf Parmenides folgende vorsokratische Denker ein. Die Autorin bestimmt Parmenides als eine Zentralfigur der vorsokratischen Ideengeschichte und sieht in seiner Darstellung von Doxa das Modell für spätere kosmologische Untersuchungen. Parmenides wolle nicht frühere Theorien kritisieren, sondern die bestehenden Untersuchungen verbessern, indem er neue Kriterien zur Darstellung dessen, was ist, bestimmt habe. Dabei müsse der Untersuchungsgegenstand mit den Seinsmerkmalen übereinstimmen, was nicht bedeute, dass nur ein einziger Forschungsgegenstand existiere. Curd nennt Parmenides’ Lehre einen prädikativen Monismus, der es späteren Denkern erlaubt habe, unveränderbare Grundeinheiten in ihrem Weltbild anzunehmen. In der deutschsprachigen Parmenidesinterpretation bilden Heideggers Ausführungen über Parmenides in seiner Schrift Einführung in die Metaphysik und seine Vorlesungen über Parmenides (WS 1942-3) einen Meilenstein. Grundlegend für seinen Ansatz ist die Unterscheidung zwischen dem gewöhnlichen Sichauskennen, welches das Geläufige meistert und beherrscht, und dem wesentlichen Wissen (des Seins), welches das ‘Aufmerken auf den Anspruch des Anfangs’ betrifft. Es gehe bei der Seinserkenntnis um die Wesenserfahrung der Wahrheit als wahres Wissen. Dabei meistere
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
der Wissenssuchende nicht das Sein, sondern werde von diesem angegangen. Die vorgeschlagene Methode besteht darin zu versuchen, das Denken (des Parmenides) nachzudenken. Obwohl Heidegger Parmenides’ Schrift ein Lehrgedicht nennt und sein Denken als Lehre bezeichnet, ist es die Göttin der Wahrheit, die alles über den Denker und das zu Denkende entscheidet. Hierbei wird deutlich, dass die Grundinterpretation dieses Autoren einerseits auf dem denkenden Zurücktreten vor einer nicht anders als „Sein“ zu nennenden Wahrheit gründet und andererseits auf einer Wandlung des Denkens. Soweit ersichtlich, ist dieses Wissen jedoch nicht methodisch erlernbar, weil Heidegger der Göttin die aktive Rolle in der Wissensvermittlung zuspricht, und die Aufgabe des Lernenden einzig darin besteht, zu erkennen, dass er das Sein nicht meistern kann und, dass er sich von diesem angehen lassen muss. Engelhard (1996) analysiert, wie sich sichere Erkenntnis bei Parmenides definiert. Es handle sich um eine rein sprachliche Definition, nach welcher der rechte Weg der Forschung dadurch bestimmt ist, dass „ist“ gesagt werden kann, während „ist nicht“ unerlaubt ist. Es gebe keine inhaltliche Beschreibung dieser Erkenntnis, denn es handle sich um eine Logik, in welcher das Subjekt keinerlei Einfluss auf Erkenntnis hat. Es gebe nur Platz für richtige und falsche Sätze. Parmenides’ Denken stelle keine Beziehung zwischen der Welt der Wahrheit und derjenigen des Scheins her. Doch muss der Kuros abseits der menschlichen Pfade gehen (B 1.27), denn es gebe keine wahre Erkenntnis in der Welt der Menschen. Der Autor sieht, dass in dieser Analyse wahre Erkenntnis nicht sagbar ist. Die Göttin teile eine inhaltslose, formale Rede mit, die konsequent durchdacht ist, aber keinerlei menschlichen Einfluss zulässt. Insofern stelle Parmenides’ Schrift eine Reflexion auf die Grundbedingung von Erkenntnis dar, welche erst eine inhaltlich bestimmte Erkenntnis sinnvoll mache. Die 1996 publizierte Habilitationsschrift Wiesners untersucht eine Auswahl von Parmenidesfragmenten über die Bedeutung von νόος, Wahrheit und Sein im Lehrgedicht. Die Überlegungen werden einflussreichen Parmenidesinterpretationen gegenübergestellt. Die Ansätze dieser Arbeit betreffen nicht die Frage, was Erkenntnis für das erkennende Subjekt bedeutet noch bestimmen sie Lernschritte in Parmenides’ Schrift. Auch die für die vorliegende Untersuchung konsultierten französischsprachigen (Beaufret 1955, Cassin 1979, Cordero 1984, Frère 1987, Collobert 1993 und Conche 1996) sowie italienischsprachigen Parmenidesforschungen (Untersteiner 1958, Ruggiu 1975 und Reale 1987) behandeln das
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Gedicht des Parmenides nicht aus lerntheoretischer Perspektive. Weder in der Parmenidesinterpretation noch in der Sekundärliteratur kommen Hinweise über eine Pädagogik des Eleaten vor. Im Zentrum einer anderen Interpretationsrichtung steht Parmenides’ Prooimion. Der zufolge wird das Lehrgedicht als religiös motiviert gedeutet (Jaeger 1947, Bowra 1953, Townsley 1965 und Robinson 1975). Diese Deutungen gehen allerdings nicht von der Idee aus, dass Seinserkenntnis erlernbar sei. Die genannten Interpretationsmodelle sind insofern defizitär, als sie die eleatische Gedankenwelt einseitig entweder auf einen mythischen Wirklichkeitshorizont projizieren oder auf eine Gedankenwelt, die keinen Bezug zum Menschen hat. Die vorliegende Studie ergänzt die bestehenden Interpretationen um eine neue Perspektive. Für analytische Interpreten gilt Parmenides als Philosoph, der eine logisch analysierbare Seinslehre dargestellt hat, die Generationen von Denkern beschäftigte, während die bildhaften Aspekte seines Denkens als eher unphilosophisch gelten. Die vorliegende Studie indes will das Lehrgedicht dahingehend interpretieren, dass es nach Parmenides nicht nur um die Wesensbestimmungen des Seienden geht, sondern auch um die Bedingungen erfolgreichen Erforschens des Seienden. Diese lerntheoretisch orientierte Sichtweise untersucht die Fragmente nach objektiven Hinweisen für damalige Zuhörer, in der Absicht, anhand der Kritik des Alltagszustandes die defizitäre Wirklichkeitswahrnehmung zu erkennen und anhand konkreter Anweisungen auf die Möglichkeit zu höherer Erkenntnis zu weisen. In der Parmenidesforschung ist das Thema einer Anleitung zur Seinserkenntnis aus dem hier zugrunde gelegten Gesichtspunkt nicht berücksichtigt worden. Zwar verlieh H. Diels 1897 Parmenides’ Schrift erstmals den Titel eines Lehrgedichtes, doch ging er in seiner kommentierten Textausgabe nicht auf die Implikationen einer Lehre bei Parmenides ein. W. Jaeger nannte 1943 in seiner Abhandlung zur Paideia in der Antiken Welt Parmenides einen Pädagogen; allerdings erklärte der Autor nicht, aufgrund welcher Fragmente er diese Meinung vertritt noch, inwiefern die Philosophie des Eleaten pädagogisch zu nennen ist. Das Thema einer philosophischen Anleitung wurde dann von P. Hadot bezüglich seiner Studien im Rahmen der Hellenistischen Philosophie untersucht. Hadot hatte betont, dass Philosophie in der hellenistischen Zeit vor allem Seelenleitung ist; eine psychagogische Lehre also, worin die Rolle des Wissenden darin besteht, Vorbild für mögliche Schüler zu sein. In einer früheren Arbeit habe ich mit Blick
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auf Heraklit (1996) zu veranschaulichen gesucht, dass die Bedeutung von Philosophie als erkenntnistheoretische Anleitung bereits in Textstellen der vorsokratischen Periode zu erkennen ist. Was die Fragestellung meiner Untersuchung betrifft, berühren Curds Untersuchungen zum Teil ähnliche Themen. Es heißt, der Mensch müsse seinen Geist kontrollieren und dazu benutzen, die rechten Entscheidungen zu treffen. Ein ruhiger Geist könne die Wahrheit von „was ist“ erkennen. Nur wenn der Jüngling das Kriterium einer vernünftigen, konzentrierten Erforschung von Aletheia und Doxa erfülle, könne er „das, was ist“ erfolgreich erkennen. Dabei geht die Autorin nicht auf den Inhalt der Wahrheit oder dessen, „was ist“ ein. Curds Arbeit behandelt hauptsächlich das Vermächtnis des Eleatischen Denkens für die klassische griechische Philosophie, weshalb die Autorin die Modalitäten für die Erforschung dessen „was ist“ nicht weiter untersucht. Allgemein jedoch ist festzustellen, dass die Diskussion der Frage nach dem Sinngehalt des Lehrauftrages und nach dem Inhalt der einzelnen Lernschritte in den aufgezählten Interpretationsrichtungen nicht auszumachen ist. Auch die Diskussion über die Bedeutung des Seins für denjenigen, der es erkennen soll, fand meines Wissens keine adäquate Antwort in den eingesehenen Forschungsarbeiten, denn die Ermittlung der Bestimmung von ἔστι sowie die Aussage, erfolgreiches Forschen führe zur Erkenntnis von „was ist“ können vom Standpunkt der vorliegenden Untersuchung nicht hinreichen. Kurz: Die jährlich umfangreicher werdende kontroverse Literatur über Parmenides hat soweit ersichtlich nicht diskutiert, wie sich Erkenntnis gemäß Parmenides erlernen lässt.
Zur Methode Die Textstellen der Parmenidesschrift sind größtenteils nach Diels-Kranz (DK) zitiert, in besonderen Fällen aber auch nach O’Brien/Frère. Das griechische Original ist bei den diskutierten Fragmenten und, so oft es sinnvoll schien, in den Fussnoten angefügt. Der Klarheit wegen habe ich bei bestimmten Wörtern den griechischen Begriff im Haupttext beibehalten, sofern der übersetzte Begriff mehrdeutig oder dem Original nicht nah genug übersetzbar ist. Die abgekürzten Titel antiker Autoren in den Fußnoten sind nach Liddell-Scott-Jones (LSJ: 1996) zitiert. Auch ist die Diskussion der Parmenidesliteratur kurz gehalten, um die Entwicklung der Leitgedanken nicht unnötig zu beschweren. Inzwischen gibt es unzählige Parmenidesausgaben und Artikel, die Aspekte seines Den-
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kens hervorheben. Diese Arbeit will die Lesenden nicht durch die verschiedenen Textanalysen und Debatten führen und bietet keine neue Textausgabe. In den Fussnoten wird jedoch auf die in der Sekundärliteratur vertretenen Meinungen verwiesen. Diese Studie untersucht Parmenides’ Frage, ob sichere Erkenntnis möglich ist. Parmenides’ Antwort ist, dass der Mensch mit Logos die höchste Wahrheit mit Sicherheit erkennen kann; doch muss er hierzu einer bestimmten Lernstrategie folgen und seinen Geist einüben.
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ir wissen sehr wenig über Parmenides’ Leben und über die Zusammenhänge seiner Lehre mit früheren Traditionen. Wenig wissen wir auch über religiöse Hintergründe, die möglicherweise das parmeniÂ�deische Denken mitbestimmt haben. Zwei unterschiedliche Überlieferungen versuchten in der Antike, Parmenides’ Denken geschichtlich einzureihen. Gemäß der einen war Parmenides’ Schüler des Xenophanes und gemäß der anderen wurde er über Ameinias mit dem Pythagoreismus verbunden. Im Folgenden soll besonders die zweite Überlieferungsrichtung diskutiert werden, weil sie, anders als die erste Traditionsrichtung, eine Wechselseitigkeit zwischen der Lebensform und der Lehre des Eleaten auszumachen sucht. Dann soll ergründet werden, warum Parmenides entschied, in HexaÂ� metern zu formulieren. Weil seine Schrift nicht nur in Rhapsodenform verfasst ist, sondern einer pädagogischen Intention folgt, soll präzisiert werden, warum Parmenides’ Schrift zu Recht als ein Lehrgedicht bezeichnet wird. Ein weiterer Teil dieses Kapitels widmet sich der Besprechung des Â�Prooimions in Parmenides’ Gedicht. Darin beschreibt Parmenides seine Wagenfahrt in die Bereiche der Göttin, die ihn philosophisch instruieren wird. Die Bildersymbolik des Weges des Kuros wurde kontrovers gedeutet. Hier sollen die Hauptvarianten der verschiedenen Interpretationsrichtungen zusammengefasst werden. In einem weiteren Schritt soll für ein nicht räumliches Verständnis der Reise argumentiert werden. Die Reise des Kuros zur Göttin veranschaulicht die Entfaltung des menschlichen Verstehens – und zwar vom vermeintlichen Wissen des common sense bis hin zur wirklichen Erkenntnis der Wahrheit. Schließlich wird das Prooimion als Parmenides’ Einleitung zu seinem philosophischen Denken besprochen und sein Bezug zum Hauptteil des Textes gezeigt. Es bleibt zu diskutieren, inwiefern die Verbformen, welche die Reise des Kuros im Prooimion beschreiben, auf eine einmalige – in der Vergangenheit abgeschlossene – oder auf eine wiederholte Handlung hinweisen.
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1.2 Parmenides’ Leben 1.2.7 Datierung Schon die antiken Doxographen waren sich über Parmenides’ Geburtsjahr uneinig. Platon berichtet in Parm. 127a-d über Parmenides’ und Zenons Auftauchen in Athen zu den großen Panathenäen, als Parmenides ungefähr 65 Jahre alt und Sokrates sehr jung, σφόδρα νέον, gewesen sein sollen. Von Sokrates’ Lebensdaten ausgehend, läge das Begegnungsjahr zwischen ihm und Parmenides zwischen 455 und 450 v.€Chr. Aufgrund dieser Details müsste Parmenides zwischen 520 und 515 v.€Chr. geboren sein. Die platonische Datierung ist kontrovers. Platons Angaben verschieben Parmenides’ Leben um eine Generation gegenüber denjenigen des athenischen Grammatikers Apollodoros, der Parmenides’ Geburtsdatum um 544-541 v.€Chr. situ-
Sokrates starb im Jahr 399 v.€Chr., als er 70 Jahre alt war; mithin wurde er um 469 v.€Chr. geboren. Der „sehr junge“ Sokrates muss ungefähr 15-18 Jahre alt gewesen sein, als er Parmenides traf. Platon verweist auf diese Begegnung zudem in Theait. 183e und Soph. 217. Für Platons Datierung entscheiden KRS (1994) 264: „So unbefriedigend ein später platonischer Dialog als Grundlage der Chronologie auch sein mag, ist doch kaum zu bezweifeln, dass er verlässlicher ist als das Schema Apollodors“. Diese Meinung vertreten auch Bicknell (1966) 5-14, Erbse (1998) 15-30, Gallop (1984) 4, und Guthrie (1996) 1. Curd (1998) 15, entscheidet sich für Platons Datierung, räumt aber ein: „But I do not pretend that this arrangement is the only possible.“ Fritz v. (1945) 228, Anm. 25, nennt Apollodorus’ ἀκμή Angaben „usually only a rough approximation to the age of forty.“ Schon Athenaeus, Deipnosoph. XI 505f., ärgerte sich ungefähr 200 Jahre n.Chr. über Platons Chronologie und über sein Nebeneinanderstellen von Sokrates und Parmenides. So bestreitet auch Makrob. Sat. I,1, dass Platons Erzählung ein geschichtliches Zeugnis ist. Zeller (1873) 79, meint, dass wir es mit einer freien Dichtung zu tun haben. Zeller (1919) 680f., Anm. 1 geht auf mögliche Gründe ein, die Platon dazu bewogen, Parmenides und Sokrates nebeneinanderzustellen. Der Autor meint, Platon habe auf diese Weise das Verhältnis des eleatischen Systems zu seinem eigenen erklären wollen. Wilamowitz-Moellendorff (1919) 209, zögert, Parmenides’ Besuch in Athen ernst zu nehmen. OCD erwähnt nur Platons Angaben: „Parmenides of Elea is said (…) to have visited Athens in his sixty-fifth year (Pl. Parm. 127b).“Rapp (1997) 102, begründet die Untragbarkeit der Schilderung Platons damit, dass „Parmenides eine eigentümlich einseitige Darstellung der Parmenideischen Lehre“ vorträgt, während der junge Sokrates die Ideenlehre vertritt, „wie sie gewiss erst von Platon formuliert wurde“.
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iert, ungefähr um die Zeit der Gründung Eleas in der Magna Graecia um das Jahr 540 v.€Chr. Er legt die Hochblüte (akmé) in Parmenides’ Leben in die 69. Olympiade, was den Jahren zwischen 504 und 501 v.€Chr. entspricht.
1.2.2 War Parmenides ein Heiler? Parmenides wurde in eine adelige, reiche Familie geboren. In seiner Geburtsstadt lehrte er später und war vermutlich ein Gesetzgeber. Anders als die Datierung, sind diese Angaben unumstritten. Zudem nehmen einige Autoren aufgrund archäologischer Funde im heutigen Velia an, dass Parmenides ein Heiler war. Hauptexponent dieser Interpretationsrichtung ist Kingsley, der aufgrund besagter Inschrift, die kontroverse These vertritt, Parmenides sei ein Â�Phôlarchos, ein Herr der Höhle, Inkubationspriester und Heiler gewesen. Nach Kingsley ist Parmenides weniger zu den Philosophen, als zu den ἰατρομάντεις, den weisen Männern aus der Tradition der Phokäer, die gleichzeitig Ärzte und Seher
Vgl. D.L. IX 23 = FGrHist 244 F 341. Zur Zuschreibung der Quelle zu Apollodoros vgl. Jacoby (1902) 227-232. Überhaupt nicht auf die Datierung gehen Collobert (1993), Cordero (19972), Engelhard (1996), Mourelatos (1970) und O’Brien/Frère (1987) ein. Battistini, (1968) 101, Cassin (1998) 10 und Reale (1998) 11, entscheiden sich für Apollodors Datierung. Vgl. Graham (2002) 10-11 (unpubl. Manuskript): „The Platonic date is in no way comparable to that of Apollodorus. The latter is history, the former fiction. We do not have two historical dates to chose from. (…) (This) anachronism is thought to serve Plato’s artistic or philosophical aims.“ D.L. IX 21: „Denn er stammte aus einem glänzenden und reichen Hause.“ Parmenides war als Philosoph von Elea bekannt: vgl. Suda: ‘Parmenides: Ἐλεάτης φιλόσοφος Die Bürger seiner Stadt sollen jährlich Parmenides’ Gesetzen Treue geschworen haben. Vgl. Plu. adv. Col. 32 p. 1126A.; Speusippus ap. D.L. IX 23. Die Inschrift lautet: ΠΑΡΜΕΝΕΙΔΗΣ ΠΥΡΗΤΟΣ ΟΥΛΙΑΔΗΣ ΦΥΣΙΚΟΣ: „Parmenides son of Pyres Ouliadês phusikos“. Nun ist festzuhalten: Seit Aristoteles gilt der Begriff φυσικός zur Einteilung seiner Vorgänger in die Kategorie der Naturforscher: vgl. Arist. Ph. I, 184b18f. und Arist. Ph. I, 187a12f.: Demnach steht der Begriff οί φυσικοί seit Aristoteles hauptsächlich für die antiken Naturphilosophen. Gesagtem ist entgegenzusetzen, dass in römischer Zeit eine eleatische Medizinschule existierte, die sich mit dem Gott Apollo Oulios, auf Parmenides unter seinem Kultnamen ‘Ouliadês’ berief. Zur neugefundenen Inschrift von Velia vgl. Merlan (1966) 256. Für Informationen zur Medizinschule vgl. Rawson (1985) 30ff. Kingsley (1999). Besagtes Buch hat das Interesse an Parmenides’ Philosophie in weiteren Kreisen angeregt. Im Folgenden werde ich diese kontroverse Untersuchung besprechen und zeigen, dass Kingsleys Interpretation, nach der das philosophische Denken des Parmenides Ausdruck schamanenartiger Techniken und einer mystisch-philosophischen Lebensschule ist, verfehlt ist.
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waren, zu zählen. Gemäß Kingsley bedeute ‘Philosophieren’ nach alter Überlieferung die Suche des Menschen nach dem Göttlichen und die Einübung in den eigenen Tod. Der Autor interpretiert das Prooimion im Sinne einer religiös motivierten Initiation, in dem der Weg des Weisen hinab in die Mysterien der Göttin Persephone führe: Dort, in der Unterwelt, gewinne der Weisheitssuchende neues Wissen. Parmenides sei ein Meister der Katabasis gewesen, der seine Schüler in die Mysterien von Tod und Wiedergeburt und in eine schamanenhafte Religiosität eingeweiht habe. Das Prooimion umschreibe in rätselhafter Sprache die bewusst gewählte Reise und Initiation in den Bereich der Toten, aus dessen Tiefen ein Traum oder eine heilende Vision den Menschen von Grund auf verwandeln konnte.10 Parmenides habe als Lehrer der InkubaÂ�tionspraxis den Menschen durch wiederholte Beschwörungsformeln und Gesang von einer Alltagsbewusstheit zu einem Geisteszustand gebracht, der jenseits der normalen raum-zeitlichen Kategorien führte. Gemäß Kingsley wirkte Parmenides als Experte dieses ekstatischen, kataleptischen Zustandes und war in Verbindung mit dem Gott Apollo und mit dessen Kultstätten, als Initiationsmeister einer sogenannten suspendierten Lebendigkeit; eines Zustandes absoluter Unbeweglichkeit.11 Der Autor betont in diesem Sinne die Rolle des Parmenides als Meister der ἡσυχία, der absoluten Stille, die er als Schüler des Pythagoreers Ameinias gelernt hatte.12 Gemäß Kingsley ist diese Lesart des philosophischen Denkens des Eleaten, das sich als Suche nach dem Göttlichen versteht, in Platons Interpretation von Parmenides verloren gegangen. Ein Haupteinwand gegenüber dieser Deutung, die zugegebenermaßen auf den ersten Blick überzeugt, liegt darin, dass diese Sichtweise für eine Interpretation des parmenideischen Denkens nicht hinreicht. Denn, obwohl Kingsleys Deutung viele übersehene Aspekte des Eleatischen Denkens in den
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LSJ: physician and seer of Apollo and Aesculapius. Vgl. Kingsley (1999) 59-74: „travelling in the direction of his own death, consciously and willingly (59). To die before you die, no longer to live on the surface of yourself (73)“. Dieser Interpretation nach geht die Route hinab, in die Gefilde von Demeter, wo der Initiand seinem eigenen Tod begegnet (59), damit er mit neuem Wissen zum Leben zurückkehre. Doch es steht zur Frage, ob Kingsley die Symbolik der Reise im Prooimion nicht überinterpretiert und platonisches Denken, wonach Philosophieren das Einüben von Sterben bedeutet (z.€B. Pl. Phd. 81a), in Parmenides hineinliest. Vgl. zur Diskussion auch Domanski (1996) 7-9. Vgl. ders. 156ff. und 62ff. Kingsley (1999) 128-9, verweist auf die inhaltliche Nähe dieses Zustandes mit Praktiken aus der althinduistischen Tradition. Ich werde im folgenden Abschnitt den Begriff ἡσυχία erneut aufgreifen.
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Vordergrund stellt, berücksichtigt sie zu wenig, dass der Weg der Forschung des Parmenides zu einer geistesklaren, kritisch nachprüfbaren Erkenntnis führen soll. Strenggenommen verführt Kingsleys These zur Assoziation von Parmenides Lehre mit Schamanenartigem,13 welche gerade Parmenides’ Wahrheitslehre, aber auch seinen wissenschaftlichen Fragmenten im zweiten Teil des Lehrgedichtes, widerspricht. Schließlich reicht Kingsleys ParmenidesÂ� interpretation, die Parmenides’ Wirken als Heiler, Höhlenpriester und Politiker hervorkehrt, nicht, um Parmenides’ Seinslehre besser zu verstehen. Nicht zuletzt ist diese Interpretation, weil sie einzig auf dem Prooimion aufbaut, für Parmenides’ philosophisches Gedankengebäude nicht zulänglich.14
1.2.3 Wer war Parmenides’ Lehrer? Die doxographische Tradition ist uneinheitlich, was die Zusammenhänge von Parmenides’ Philosophieren mit anderen Schulen angeht.15 Zwei Überlieferungsrichtungen erklären zwei unterschiedliche Ausgangspunkte zu Parmenides’ Lehre. Gemäß der einen Schulrichtung war der Eleate mit Xenophanes verbunden und seine theologischen Gedanken sollen in engem Zusammenhang mit Xenophanes’ Werk entstanden sein.16 Offenbar jedoch war diese Geschichte 13 14
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Kingsley (1999) 239-43, nennt das Schamanenartige ‘mystisch’ und ‘göttlich’. Der Parmenidestext gibt keine Hinweise auf Traumdeutungen oder auf Erfahrungen wie Höhlenschlaf, und es bestehen meines Wissens keine Zeugnisse, die hierüber Auskunft geben. Noch verspricht der Eleate Heilung oder prophezeit zukünftige Ereignisse. Hätte Parmenides, wie Epimenides von Kreta, sein Wissen im Höhlenschlaf erträumt, wäre diese Sache überliefert worden. Vgl. DK I 27-37. Hingegen stellt sich Empedokles in den Reinigungen, wie ein Gott dar und spricht von der Erwartung Tausender, die ihm folgen und Orakelsprüche, Krankheitsdiagnosen und heilbringende Worte suchen (31 B 112 DK). In 31 B 111 DK verspricht Empedokles seinem Schüler, mit Willensgewalt Winde zu stillen oder herbeizuholen, Regen oder Trockenheit zu schaffen und Tote ins Leben zurückholen zu können. Gorgias bezeugte, dass er selbst dabei gewesen sei, als Empedokles zauberte. [Satyros bei D.L. VIII 59]. Vgl. zur Diskussion Burkert (1962) 130 Anm. 211. Moderne Parmenidesausgaben umgehen das Problem, indem sie es nicht behandeln. Ein Beispiel dafür ist die Parmenidesstudie von O’Brien/Frère (1987), die jeglichen historischen Ansatz ignoriert und Parmenides’ Gedicht strikt unter philologisch und philosophischen Gesichtspunkten analysiert, jedoch von jeglicher Besprechung des religiösen Hintergrundes, möglicher Beziehungen des Gedichtes mit Pythagorismus, Orphismus oder späteren Denkern abstrahiert. Vgl. D.L. I 15: „Die italische aber zeigt folgenden Verlauf: auf Pherekydes folgt Pythagoras, auf diesen sein Sohn Telauges, auf ihn Xenophanes, auf ihn Parmeni-
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schon in der Antike zweifelhaft, weshalb sie Diogenes an anderer Stelle in dem Sinne nuancierte, dass Parmenides zwar Hörer des Xenophanes war, nicht aber seine Ideen annahm.17 Gemäß der anderen Traditionslinie stand Parmenides durch Ameinias der pythagoreischen Schule nahe.18 und gelangte durch diesen zu einem kon-
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des, auf ihn Zenon von Elea, auf ihn Leukippos (…)“ [Übers. Apelt, Zekl] Und D.L. IX 21: „Den Xenophanes hörte Parmenides (…).“ Vgl. auch Theophrastos’ Aussage, zitiert bei Simp. in Ph. 22.26. Theophrastos soll seine Bemerkung von Aristoteles übernommen haben, der wiederum eine Behauptung von Platon als Ausgangspunkt für seinen Bericht genommen haben könnte. Zur Idee, dass Parmenides von Xenophanes seine philosophische Lehre über das Seiende übernommen habe, vgl. Pl. Sph. 242d: „Unser eleatisches Volk aber, angefangen von Xenophanes und sogar noch vorher, setzt in seinen Mythen auseinander, das was man alles nennt, in Wirklichkeit eins sei“ (DK 21 A 29). Vgl. Arist. Metaph. Α 5, 986b18-22: „Denn Parmenides scheint sich an das der Definition nach Eine zu halten (…). Xenophanes indes, der erste von denen, die eine Einheit postulierten (denn Parmenides soll sein Schüler gewesen sein) machte nichts klar, ...“ [Übers. KRS 180]. Vgl. zur Diskussion KRS 180: „Bei den Doxographen wird allgemein angenommen, dass Xenophanes zumindest einen Teil seines Lebens in Elea verbracht und dass er dort die eleatische Philosophenschule begründet hat.“ Und KRS 265: „Mit Gewissheit gibt es bei Parmenides Nachklänge von Xenophanes’ Theologie und Epistemologie, und diese Nachklänge sind nicht nur verbaler Art.“ Gemäß Coxon (1986) 18, hat Parmenides Xenophanes’ Theologie radikal erneuert. Gegen eine Verbindung der Philosophie des Parmenides mit Xenophanes’ Denken ist Tarán (1965) 3. 28 A 1,4: D.L. IX 21: „Obschon er [Parmenides] aber sein [Xenophanes] Hörer war, war er doch nicht sein Nachfolger (οὐκ ἠκολούθησεν)“ [Übers. Apelt, Zekl]. 28 A 1,4: D.L. IX 21: „Er stand auch in engem Verkehr mit dem Pythagoreer Ameinias (…), einem armen, aber ganz vortrefflichen Mann. An ihn schloss er sich enger an (μᾶλλον ἠκολούθησε) und errichtete ihm nach seinem Tode ein Heroenheiligtum (…)“ [Übers. Apelt, Zekl]. Vgl. Procl. in Prm. (Cousin 619); Phot. Bibl. Kap. 249, 439a; Aristoxenos zählt Parmenides zu den Pythagoreern. So Strabo VI 1.1 p. 252; Suda (s.v. ParmeÂ�nides); Arist. Metaph. Α 5,986b22; Simp. in Ph. (Comm. Arist. Gr.) IX, 25. Die Verknüpfung von parÂ�menideischem mit pythagoreischem Gedankengut wurde vielerorts diskutiert. Vgl. Reich (1954) 287ff., der gegen eine Verbindung von Parmenides mit pythagoreischen Gedankengut entscheidet; English (1912) 81-94, der beweist, dass Parmenides’ Doxa pythagoreischen Ursprungs ist; Riedweg (2002) 151, der das Verhältnis des Parmenides zu Pythagoras kontrovers beurteilt und vor allem die geographische Nähe des Parmenides zu Metapont als Ursprung der Vermutung, Parmenides habe über die „italische Philosophie“ gewusst, vermutet. Die vorliegende Untersuchung soll auch zeigen, dass die Diskussion von Parmenides als Pythagoreer im Zusammenhang mit dieser Arbeit müßig ist.
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templativen Leben.19 Die Sache ist kontrovers, doch an dieser Stelle wenig relevant. Bemerkenswert ist hier die Rezeption von Parmenides als pythagoreischem Denker.20
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D.L. IX 21: καὶ ὑπ’ Ἀμεινίου, ἀλλ’ οὐκ ὺπὸ Ξενοφάνους εἰς ἡσυχίαν προετράπη: „(…) Auch war er durch Amenias, nicht durch Xenophanes zum Seelenfrieden gelangt“. [Übers. Apelt, Zekl]. Weder DKP, DNP noch OCD nennen Ameinias als eigenes Stichwort. Nur ein kurzer Eintrag in DPA transkribiert die Diogenesaussage (Vol. I, S. 159). Auch Zhmud (1997), der Ameinias viermal anführt, gibt keine zusätzliche Information über den Pythagoreer. Ameinias kommt – wider Erwarten – auch nicht in Burkerts Studie über den alten Pythagoreismus vor (weder 1962 noch 1972). Doch widmet ihm Kingsley (1999) ein ganzes Kapitel (S. 196ff.). Einige moderne Autoren interpretierten die genannte doxographische Angabe dahingehend, dass die eleatische Philosophie auf pythagoreischem Lehrgut basiere. Vgl. in diesem Sinne Burkert (1962) 257ff. und Zhmud (1997). Besonders Coxon (1986) 18-19, beÂ�tont den pythagoreischen Einfluss auf Parmenides: „Parmenides was preceded by Pythagoras. It is certain in any case that he was deeply influenced both by Pythagorean theory and by Pythagorean way of life.“ Hingegen gehen Gigon, Raven und Tannery von Parmenides’ Lehre aus, um Schlüsse auf den Pythagoreismus zu ziehen. Diels (1897) 21, meint, zwar habe Parmenides eine enge Beziehung mit dem βίος Πυθαγόρειος unterhalten, die pythagoreische Literatur also gekannt, doch trenne ihn sein Rationalismus „von allem diesem orphischen, pythagoreischen, ekstatischen Wesen“, „der nur noch die äußere Form, nicht mehr den Inhalt der Mystik auf sich wirken lässt.“ So meint auch English (1912) 94, dass der Wahrheitsteil in Parmenides’ Gedicht die pythagoreischen Lehren widerlegt. Parmenides der pythagoreischen Schule zuzuordnen, wird durch seinen Wohnort, Elea in Süditalien, das heutige Velia, nahegelegt. Auch mag diejenige Tradition, die Parmenides’ Philosophieren mit den ReÂ�sultaten des pythagoreischen Denkens in Zusammenhang brachte, darauf gründen, dass der Eleate, wie Pythagoras, als sehr weise galt. Vgl. D.L. IX 23, der Timon zitiert (Fr. 44 Diels): „der gewaltige Denker Parmenides, abhold der Meinung, der von der Vorstellung Trug den Gedanken führte zur Höhe.“ Meines Erachtens kommt es hier nicht auf eine geschichtlich nachprüfbare Verbindung zwischen Parmenides und Pythagoras an. Sie mag genauso wenig relevant sein, wie die Idee, Pythagoras habe seine Seelenwanderungslehre von den Ägyptern übernommen [Vgl. Iamb. VP Kap. XIX]. Es bleibt zu entscheiden, was von einer pythagoreischen Lebensform für Parmenides abzuleiten ist. Entsprach sein Lebensgang etwa damaligen Vorstellungen über ein pythagoreisches Leben? Oder bildete die Vorstellung einer pythagoreischen Schule das einzige Modell, wonach Parmenides’ Lehre begründbar schien? Vgl. Curd (1998) 26-7, Anm. 8; und (1998) 19-20, Anm. 47: „But there is so little evidence that it is quite difficult to be confident about picking out any details in Parmenides as particularly influenced by the Pythagoreans.“
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Diogenes’ Auskunft über Parmenides’ Leben enthält genaugenommen einen Konversionsbericht. Dieser besagt erstens, Parmenides sei nicht aufgrund eigener Überlegungen, sondern aufgrund seiner Beziehung zu Ameinias zu einer neuen Lebensweise übergewechselt21 und bezeichnet zweitens diese neu eingenommene Lebenshaltung als ‘Seelenruhe’, ἡσυχία.22 Die erste Information situiert den Eleaten in einer Lehrer-Schüler-Situation,23 wie sie Parmenides auch in seinem Gedicht in dem Verhältnis des Kuros24 zu der ihn belehrenden Göttin darstellt. Was aber bedeutet die zweite Information, der Eleate habe ein ruhiges Leben geführt? Obwohl gemäß Überlieferung Parmenides aus einer wohlhabenden Familie stammte, bildet die Idee einer privilegierten Lebensform keinen hinreichenden Grund, um von einem ruhigen Leben zu sprechen. Das Wort ἡσυχία weist auf eine Lebensweise, die mit der sozialen Position des Eleaten nicht begründbar ist. Sinnvoller ist hingegen, Parmenides’ ‘ruhiges’ Leben als ein ‘nach innen gewendetes, kontemplatives Leben’ zu deuten.25 21
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Nach dem Sinngehalt von προτρέπω (hinführen, hinwenden, hintreiben, ermuntern), hat Parmenides durch Ameinias’ Einfluss zu einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens seine Denkrichtung beziehungsweise seine Lebensart geändert. Ausführlich über den Genre des Protrepticus, der seit dem 5.€Jh.€v.€Chr. überliefert ist diskutiert Düring (1961). Vgl. in Pl. Euth. 278e-282d, die Einladung des Sokrates an Kleinias zur Weisheit. Vgl. die nicht erhaltene Frühschrift des Aristoteles, Protreptikos, und die darauf gründende Tradition der Mahnschriften, die Einladungen zur Philosophie sind, so z.€B. Cic. Hortensius. Vgl. zur Diskussion Gaiser (1959); Most (1992). Vgl. die Übersetzungen in LSJ: rest, quiet, silence, stillness, esp. of the Pythagoreans, Luc. Vit. Auct. 3. Der Begriff wird erstmals im 5.€Jh.€v.€Chr. genannt: Vgl. Isocr. Orat., Antid. 227.5; Xenophon Hist., Hell 6.5.9.5 und Mem. 2.1.21.7; Prodicus Soph., Fragmenta 2.6. Jeweils dreht sich die Bedeutung von ἡσυχία um Ruhe, Gelassenheit, Stille, im Gegensatz etwa zu Krieg. Ich werde diese Thematik im folgenden Kapitel diskutieren. Die ionische und poetische Form κοῦρος steht seit homerischen Texten für einen jungen Mann, für jemanden, der bei den Opfern oder bei dem Essen hilft oder der ein junger freier Mann ist [Bailly]. Vgl. Pl. Lg. 772a1, worin κοῦρος καὶ κόρας heiratsfähige Jungen und Mädchen bedeutet. Der Begriff κοῦρος steht in der Mysterienliteratur rituell für einen Jüngling, der in die Mysterien eingeweiht werden soll. Ausführlich diskutiert wird der Begriff im Abschnitt 2.3. Der Begriff ἡσυχία, vermittelt letztlich die Idee von Muße und Gleichmut. Dies widerspricht keineswegs der Aussage, Parmenides habe als Gesetzgeber amtiert. Bereits Solon lebte eine Verbindung von gesetzgeberischer und philosophischer Lebensform. Kingsley (1999) 203-6, interpretiert: „What Ameinias taught Parmenides wasn’t anything to do with thinking as we understand thinking, or philo-
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Die Annahme einer besonderen Lebensform für den Philosophen entspricht einem traditionellen Denkschema. Schließlich wurde bereits in der Vorsokratik nach der geeigneten Lebensart gefragt, und Philosophen stellten Überlegungen über mögliche Zusammenhänge zwischen einer gewissen Lebenshaltung und deren Auswirkung auf Gesellschaft und Menschen an.26 Ausdrücklich erörterte Platon solche Fragen in seinen Dialogen.27 Insofern das Thema einer Konvergenz zwischen der individuellen und der universellen Ordnung einer allgemein anerkannten Vorstellung in der Geschichte des frühen griechischen Denkens entsprach, bildet die doxographische Zuschreibung einer besonderen Lebensform für Parmenides keine Ausnahme. Dennoch: In einem kurzen Vergleich mit anderen Textstellen bei Diogenes, in denen das Wort ‘Seelenruhe’, vorkommt, zeigt sich, dass die Zuweisung von ἡσυχία als Charakterisierung des Lebens des Parmenides dem Sinngehalt nach eine Besonderheit von Parmenides hervorhebt. Diogenes hat sieben Mal das Wort ἡσυχία im Zusammenang mit den alten Philosophen angewandt. Um einen Vergleich zu ermöglichen, der den Sinngehalt von ἡσυχία im Parmenidesbericht hervorhebt, werde ich die Textstellen kurz vergleichen. Zum ersten nennt Diogenes den Begriff ἡσυχία, um über die Maxime des Periander zu sprechen, welche besagt, Ruhe (ἡσυχία) sei, im Gegensatz zur Eile (προπέτεια), gut;28 zweitens zitiert er Platons Vergleich zwischen „Krieg führen“ und „in Frieden leben“;29
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sophical reflection. It had to do with incubation (…) the stillness experienced in incubation.“ (205-6). Obwohl ich damit einiggehen kann, dass ‘Denken’ vor 2500 Jahren nicht mit unserem heutigen Begriff bedeutungsgleich ist, ist Kingsleys Interpretation irreführend, da sie den philosophischen Aspekt in Parmenides’ Werk zu wenig berücksichtigt. So formulierte Demokrit die These, dass eine bestimmte Schulung das ganze menschliche Wesen verändere. Vgl. 68 B 33: Clem. Al. Strom. IV 151: καὶ γάρ ἡ διδαχὴ μεταρυσμοῖ τὸν ἄνθρωπον μεταρυσμοῦσα δὲ φυσιοποιεῖ: „Denn die Erziehung formt zwar den Menschen um, aber durch diese Umformung schafft sie Natur“ [DK II 152-3]. Solon weist im Postulat einer notwendigen Gelassenheit oder Ruhe des Individuums zum Wohle der Gesellschaft auf das Motiv einer mikro- und makrokosmischen Entsprechung zwischen dem Menschen und der Welt. Solon nennt ἡσυχία als Bedingung für die friedliche Gesellschaft. Vgl. Demosthenes 19.255 ff., gemäß Solons Beschreibung sei eine ideale πόλις nur aufgrund eines ausgeglichenen Geistes der Bewohner erreichbar. Mit ἡσυχία meint Solon gleichzeitig den inneren Frieden des Menschen wie den Frieden in der Gesellschaft. Vgl. z.€B. Pl. Grg. 492d6 und 500c3 zur Frage nach der rechten Lebensform. D.L. I 97.18. D.L. III 93.3.
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drittens berichtet der Autor über Zenon, der sagte, dass ἡσυχία Entzündung (d.€h. Liebesfeuer) heile;30 er schildert eine pythagoreische Zeile, welche die Jünglinge zur Ruhe ermahnt;31 dann nennt er das Wort im Zusammenhang mit Pyrrhons ruhigem Lebenswandel32 und erzählt schließlich über Epikuros’ Spruch, ein zurückgezogenes, ruhiges Leben verleihe Sicherheit.33 Doch stellt Diogenes einzig Parmenides als jemanden dar, der zum ‘ruhigen Leben’ (εἰς ἡσυχίαν) konvertierte.34 Ein Vergleich mit anderen Lebensberichten bei Diogenes Laertios macht deutlich, dass er nur Parmenides solch eine umfassende Konversionsgeschichte zuschreibt. Der Autor berichtet wenig über den Beginn des philosophischen Lebens oder über etwas einem Konversionsgeschehen Vergleichbares bei anderen vorsokratischen Philosophen.35 Auch gibt er keine Auskunft über Sokrates’ Hinwendung zur Philosophie. Allerdings suggeriert er, dass Platon durch die Begegnung mit Sokrates zum Philosophieren übergewechselt sei.36 Einzig letztere Geschichte bietet etwas dem Parmenidesbericht Vergleichbares, berichtet sie doch über die Grundsätzlichkeit einer radikalen Transformation. In den folgenden Kapiteln werde ich klären, inwiefern diese besondere Lebensform mit der Lehre des Eleaten aufgrund von Anhaltspunkten im Lehrgedicht zu stärken ist.37 Hierbei geht es um die Frage, ob der Diogenes30 31 32 33 34
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D.L. VII 17.9. D.L. VIII 7.7. D.L. IX 65.8. D.L. X 143.10. Vgl. die im Hellenismus geläufige These, dass ein Philosoph ein gelassenes Leben, nämlich ein Leben in ἀταραξία, mit einer unverwirrten Seele, frei von Angst, führen sollte. Vgl. Demokrit VS 68 A 167. Weitere Stellen bei D.L. X 96 und D.L. IX 107. Siehe auch: Cic. Fam. 15,19. Vgl. zur Diskussion P. Hadot (2002) 22-38. Von Thales erzählt Diogenes (I 23), der Milesier sei zunächst politisch tätig gewesen und habe sich dann der Naturbetrachtung zugewendet; über Anaximenes ist zu lesen, er sei Schüler des Anaximander gewesen (D.L. II 3); Anaxagoras sei Schüler des Anaximenes gewesen und habe sein väterliches Vermögen an seine Verwandten abgetreten, um sich der Betrachtung der Natur zu widmen (D.L. II 6-7). Ähnlich habe Heraklit zugunsten seines Bruders auf die amtliche Königswürde verzichtet, und habe, ohne jemandes Lehre zu folgen, sich selbst erforscht (D.L. IX 5-6). D.L. III 5-6: Diogenes berichtet, der junge Mann habe sich zuvor in Dichtung, Tragödie und Malerei versucht und sei, nachdem er Sokrates kennengelernt habe, ununterbrochen dessen Hörer gewesen. Vgl. v.a. das sechste, siebte und achte Kapitel.
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bericht, auch unabhängig von einer Diskussion über seine Historizität, etwas Authentisches im philosophischen Denken des Parmenides trifft. Immerhin suggeriert er eine Korrelation zwischen der Erkenntnislehre im Lehrgedicht und der Lebenshaltung für den Kuros. Indem ich den Diogenesbericht paradigmatisch für ein bestimmtes Verständnis des eleatischen Denkens lese, werde ich ihn im Folgenden in seiner philosophischen Aussagekraft deuten. Es gibt drei Gründe, die meinen Versuch unterstützen. Erstens wird sich im Laufe dieser Arbeit zeigen, dass die Merkmale der unerschütterlichen, unveränderlichen Wahrheit, die Idee eines absolut ruhigen Lebens dessen, der das Seiende erkennen will, nahelegt.38 Ein zweiter Grund, den Diogenesbericht nicht einfach wegzudiskutieren, hängt mit der vorsokratischen Adäquationsthese zusammen. Denn er konkretisiert so gelesen auf plausible Weise die Bemerkung des Theophrastus, Parmenides habe gesagt, Gleiches werde durch Gleiches erkannt.39 Drittens soll diese Arbeit nachweisen, dass der Diogenesbericht Autobiogra38
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Platon hat den Begriff ἡσυχία angewandt, um im Dialog Parmenides über die Bewegungslosigkeit des Seienden, beziehungsweise das Fehlen der Bewegungslosigkeit des Nichtseienden, zu sprechen: Vgl. Pl. Prm. 139b1-2: ἀλλὰ μὴν τό μηδέποτε ἐν τῷ αὐτῷ ὂν οὔθ’ ἡσυχίαν ἄγει οὔθ’ ἔστηκεν: „Was aber nirgend jemals bleibt, das hat keine Ruhe und besteht nicht.“ Vgl. sodann: Pl. Prm. 162e24: τό γε μὴν ἀκίνητον ἀνάγκη ἡσυχίαν ἅγειν, τὸ δὲ ἡσυχάζον ἑστάναι: „Und was nicht wechselt hat doch notwendig Ruhe, und was Ruhe hat, besteht.“ [Übers. Schleiermacher]. Platons Anwendung des Begriffes ἡσυχία für die Eigenschaft des Seienden – absolut bewegungslos und unveränderlich zu sein –, kommt der Aussage im Prooimion des Parmenides nahe, die Wahrheit sei ἀτρεμής (B 1.29). Eine ausführliche Diskussion folgt im Kapitel über die Seinsmerkmale. Vgl. zur Thematik Stratton (1917) 66-7 und 155f. Gemäß Hadot (1989) 178-88, wird der erkennende Mensch in der Antike zu demjenigen, was er erkennt. Er gleicht sich somit mit seiner mikrokosmischen der makrokosmischen Struktur der Wirklichkeit an. Vgl. Empedokles 31 B 109: Arist. de An. A2.404b 8: „Denn durch Erde schauen wir Erde, durch Wasser das Wasser, durch Äther den göttlichen Äther, aber durch Feuer das vernichtende Feuer; die Liebe ferner durch unsere Liebe und den Hass durch unseren traurigen Hass.“ [DK I 351] Vgl. Arist. de An. 430a2: καὶ αὐτος δὲ νοητός ἐστιν ὥσπερ τὰ νοητά, wonach die Objekte des Geistes und der Geist (mind) potentiell identisch sind. Vgl. Kahn (1968-9) 723: „Both the philosophic significance of Parmenides’ identification and its historical importance will be clearer if we bear in mind the similar doctrine of Aristotle, who insists that „knowledge (ἐπιστήμη) in act is identical with the thing known“ (de An. 431a1). In its second formulation this principle is even more explicitely Parmenidean: „the faculty of intellect (νοῦς) in act is the things which it apprehends (de An. 431b17; 430a3; 417b23f; 431b21 ff. etc.)“
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phisches im Lehrgedicht aufgreift. Tatsächlich bestärken Textelemente in Parmenides’ Schrift die Vorstellung, dass ein ruhiges Leben die Erkenntnis des absolut unbeweglichen Seienden unterstützen kann. Insofern kräftigt Diogenes’ Nachricht die Idee, dass Parmenides’ philosophische Lehre Ausdruck einer gelebten Erkenntnissuche ist und, dass sie im Zusammenhang mit einer besonderen Form innerer Ruhe enstand. Nicht zuletzt liegt in umgekehrter Argumentation der Gedanke nahe, dass jemand, der wie der Kuros im Lehrgedicht das Wissen der Göttin hinterfragen und das Seiende erkennen soll, notwendigerweise nicht (mehr) das unruhige Alltagsleben der Vielen führt. Der doxographische Bericht über Parmenides’ Leben bietet also mehr als historische Daten: Er ermöglicht Rückschlüsse auf die Geschichte seiner Wirkung.
1.3 Das Lehrgedicht Parmenides’ Werk – gemäß Diogenes Laertius war es seine einzige Schrift40 – gilt als einer der besterhaltenen Texte der vorsokratischen Philosophie überhaupt. Es wird vermutet, dass knapp ein Viertel des Originals überliefert ist, nämlich 150 Verse, bzw. 1147 Wörter.41 Was die Rezeption von Parmenides’ Lehre anbelangt, wurden Zeilen seiner Schrift von Empedokles, Platon, Aristoteles und Theophrastos zitiert;42 doch im Anschluss daran wurde der Eleate annähernd vierhundert Jahre lang in uns erhaltenen Texten nicht zitiert, um erst bei Plotin, Clemens und Proklos erneut aufzutauchen.43 Der späteste Autor, dem zu Beginn des 6.€Jh€n.€Chr. noch die ganze Schrift zur Verfügung stand, Simplikios, schrieb in seinem Kommentar zu Aristoteles’ De caelo und Physik weite Auszüge daraus ab, weil 40 41
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D.L. I 16. Informationen hierüber finden sich bei O’Brien/Frère (1987) 311; Coxon (1986) 1-7; Brisson (1990) 686. Nach Diels (1897) 25-6, sind etwa neun Zehntel der ἀλήθεια und „nach einer weniger sicheren Abschätzung vielleicht ein Zehntel“ der δόξα enthalten. Vgl. Diels (1897) 26: „Die ältesten Zeugen für den Text des Parmenides sind außer Empedokles, der ihn bekämpft und nachahmt, Platon der freilich ungenau zitiert, und Aristoteles, dessen Exemplar von Parmenides’ Schrift schlechter war als das des Theophrast. Wir kommen also in unserer Rezension bestenfalls auf ein attisches Exemplar des vierten Jahrhunderts, weiter nicht.“ Vgl. Cordero (1987) 3-24.
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er feststellte, dass der Text selten geworden sei.44 Tatsächlich zitierte er zwei Drittel der uns bekannten Verse, wodurch er heute die einzige Quelle für den Großteil des verfügbaren Textmaterials ist. Parmenides verfasste seine Schrift in Hexametern. Andere Vorsokratiker jedoch haben in Prosa formuliert. So hatte Anaximander bereits vor 547/546€v.€Chr. seinen Text in Prosa verfasst.45 Auch Heraklit46 schrieb sein ausdrucksstarkes Werk in Kunstprosa, die intensive visuelle Assoziationen provoziert. Die Frage stellt sich, ob Parmenides bewusst eine anachronistische Form wählte, wenn wir annehmen, dass philosophische Prosa einen Fortschritt markierte. Anders gefasst, lässt sich fragen, ob es einen erklärbaren Grund dafür gibt, dass die Milesier ihre Abhandlungen in Prosa verfassten, während Xenophanes, Parmenides und Empedokles in der Magna Graecia in Versen schrieben.47 Schließlich ruft die Versform von Parmenides’ Schrift in Erinnerung, dass die griechische Kultur bis ins späte fünfte Jahrhundert v.€Chr. eine ‘Singkultur’ war,48 in der Dichter σοφοί, weise Männer waren.49 Zudem waren Hexameter gut memorierbar und dem Publikum leicht zugänglich.50 Die formel44 45
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50
DK I 221: 28 A 21 = Simp. in Ph. 144.25-28. Ein Schüler des Thales, Anaximander v. Milet (ca. 610/9 - 547/46) soll als erster griechischer Philosoph in Prosa geschrieben haben. Ihm wurden wissenschaftliche Entdeckungen zugeschrieben, wie die Erfindung des Gnomon, das Erstellen einer Sternenkarte und einer Weltkarte. Vgl. KRS 112ff. DK I 139ff. Heraklits Leben erstreckt sich ungefähr zwischen 525 - 475 v.€Chr. Schließlich war der damalige Übergang zwischen Prosa und Dichtung relativ fließend. Vgl. die Bemerkung von Reale (1998) 12-3: „i versi [di Parmenide] sono quasi-prosa e addirittura, in alcuni casi, dura prosa.“ Vgl. Herrington (1985) 3-4. Die gewonnene Erkenntnis des Dichters galt als göttliches Geschenk, und der Dichter war, als Erwählter der Musen oder einer Göttin, ihr Herold. Vgl. Hom. Od. VIII 44-5; 62-4; Hes. Th. 22-34; Hes. Op. 661-2. Dass Dichtkunst als Weisheit angesehen wurde, bezeugen Passagen, in denen das Werk des Dichters mit Wörtern wie: οἶδα, σοφία, σοφός, ἐπίσταμαι umschrieben wird. Vgl. Hom. Od. XI 368; Archil. Fr. 13; Sol. 13.52; Theogn. Trag. 770, 772. Vgl. zur Diskussion Murray (1995) 6-12. In diesem Sinne sprechen Russo/Simon (1968) 493: „It is the extreme pleasurableness of the physical participation in a recital [pleasure for both poet and audience] that makes it such an effective learning process.“ Ein gebildeter Bürger wußte das Nötige aus dem Gedächtnis. Vgl. Hussey (1972) 78. Bücher wurden für öffentliche Dekrete und Gesetze benutzt. Vgl. Normann (1997) 80-1; Thomas (1989), 1.€Kap.
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haften Wortwendungen, wie sie von der homerisch-hesiodischen Dichtung bekannt waren, vermochten es, bekannte Bilder und Vorstellungen zu evozieren und zugleich komplexe und nuancierte Assoziationen bei den Hörern entstehen zu lassen. Parmenides war im Rahmen der Dichtung in der Lage, die Vorteile der mündlichen Tradition zu nutzen und zugleich neue philosophische Konzepte und abstrakte Formeln einzuführen.51 Die Geschichte gab Parmenides Recht und bewies auf überzeugende Weise, dass abstraktes philosophisches Denken durchaus innerhalb der Erfordernisse der Metrik praktizierbar ist. Insofern hat Parmenides sich mit allen Vorteilen in der Dichterform ausgedrückt und zugleich philosophische Argumente erfolgreich artikuliert.52 51
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Vgl. Floyd (1992) 251f., der an gewählten Textstellen des Prooimions meisterhaft beweist, wie dessen reiche Bilderwelt im Vergleich zu ähnlich klingenden, allen Zuhörern bekannten epischen Sequenzen eine bewusste Ambiguität oder bestimmte Kolorierung vermitteln konnten, was der Text allein nicht vermocht hätte. Vgl. Mackenzie (1982) 7: „poetry has one great advantage over prose, namely that it permits, even encourages, deliberate echoes and wordplays. (…) poetry is thus particularly suited to some philosophical jobs, notably the gadfly work of dialectic which goads the reader into thinking for himself.“ Bowra (1937) 97-112, sieht den allgemein bekannten kulturellen Hintergrund im Prooimion als Mittel dafür, eine neue Botschaft weniger befremdend erscheinen zu lassen. Vgl. Miller (1979) 15, das homerisch-hesiodische Gedankengut führe, jenseits dieser Vorstellungswelt die quest ein. Mourelatos (1970) 39: Parmenides benutzte die vorgegebene Tradition in der Absicht „to think new thoughts in and through them“. Vgl. Owens (1979) 15-29, Parmenides habe zwar Bilder aus der Tradition übernommen, unterliege ihnen aber nicht, sondern wende sie als Mittel an, um in seinen Hörern Vorstellungen zu evozieren, die seine philosophische Botschaft vorbereiten. Vgl. Schwabl (1963) 134-42, das der Tradition entnommene Material müsse im Sinne eines prinzipiellen Umdenkens verstanden werden (141). Tarán (1965) 31, nennt die Fahrt des Kuros „literary device“. Vgl. dann Barnes (1979) 155: „It is hard to excuse Parmenides’ choice of verses as a medium for his philosophy“, eine m.E. unzutreffende Bemerkung. Vgl. in diesem Sinne Aristoteles’ Bemerkung in Poet. 1. 1447b18, alles was Empedokles mit Homer gemeinsam habe, sei die Versform. Ansonsten seien Homer ein Dichter und Empedokles ein Wissenschaftler gewesen. Ferrari (1984) 205, gibt zu bedenken, dass im Grunde genommen auch Platon seine philosophischen Ideen „by fixing oral discourse – conversations – in writing“ ausdrückte. Vgl. Reale (1998) 14-15, der die Prosaform in Ionien als „strumenti ipomnematici (riassunti) di idee sviluppate nella dimensione dell’oralità“ nennt. „Proprio facendo uso del tradizionale strumento tecnologico della comunicazione mediante i versi egli [Parmenide] ha distrutto i fondamenti stessi su cui si basava l’epos (…). Utilizzando i versi ha reso necessaria l’eliminazione dei versi nella comunicazione dei messaggi filosofici.“
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Somit ist auszuschließen, dass Parmenides’ Wahl in Versen zu schreiben ein Indiz seiner Konventionalität ist. Überzeugender ist, dass der Dichterphilosoph die damalige Kultur seinen Zwecken bewusst anpasste. Obschon die suggestiven Vorstellungsbilder vor allem des Prooimions den homerischhesiodischen Kulturhintergrund evozieren und fast jeder Vers in B 1 auf ein bekanntes Thema verweist,53 und obwohl der Eleate (wie schon Hesiod zu Beginn der Theogonie) sich von einer göttlichen Kraft belehren lässt,54 stehen diese Motive bei Parmenides im Dienste einer provokativen philosophischen Lehre.55 Kurz: Der Schutz der traditionellen Form sowie die Macht der göttlichen Stimme garantieren Parmenides Glaubwürdigkeit und Autorität. Die Poetik des Philosophen steht im Dienste seiner Lehre. Nach Aristoteles’ poetologischer Konzeption ist nicht das Versmaß das entscheidende Merkmal für ποίησις, Dichtung, sondern ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, also die Tatsache, dass Dichtung μίμησις Nachahmung, ist.56 Parmenides’ philosophisches Gedicht ist ein Lehrgedicht und somit grundsätzlich didaktisch gedacht, insofern es eine neue philosophische Theorie als Ansprache an einen Schüler darstellt.57 Ein Großteil der Verse ist mit imperativischen 53
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So betont Coxon (1986) 9-11, Parmenides’ Ausdrucksweise stamme zu weiten Teilen aus der Ilias und der Odyssee: Coxon macht im Prooimion Vokabular, Satzstellung und Bildsymbolik aus, die direkt homerisches Material aufgreifen. Vgl. Heimpel (1986) 127-51, der Hesiod, orphische Initiationsmotive und die orphische Kosmogonie als Hintergrund zu Parmenides’ Prooimion bestimmt. Mit Eggers (1960) 377, ist darauf zu achten, dass zwar in der Ilias und der Odyssee die wichtigste Quelle für das Verständnis des Parmenides zu suchen ist, dass Parmenides aber auch eigene Wortbildungen vornimmt und, dass nicht unbedingt bei Homer oder irgendeinem anderen Vorgänger die Bedeutung einiger zusammengesetzter Wörter zu suchen ist, sondern höchstens die Bedeutung der Grundwörter. Vgl. Hes. Th. 20-25, worin der Schafhirte von den Musen (θεαί μοῦσαι) angesprochen und mit Stab und Lorbeer ausgerüstet wird, damit er mit göttlicher Stimme über vergangene Dinge und über die Götter berichte. Vgl. in diesem Sinne Rossetti (1997) 331-2: „(la) scelta di Parmenide di incastonare la presentazione del suo nuovo e ardito sapere (… per) stimolare l’attenzione e (…) generare delle motivazioni oblique grazie alle quali (…) investire energie intellettuali adeguate nella ricezione dell’ardue discorso che segue.“ Vgl. Arist. Po. I 1447b17. Zweifellos ahmt Parmenides’ Schrift nichts nach, sondern hat einen Bedeutungsspielraum, der von erzählender Dichtung (B 1.1-23 DK) und literarischer Didaktik (B 1.24 - B 8.51 DK) zur Darstellung selbst gewonnener, wissenschaftlicher Erkenntnisse und Einsichten reicht (ab B 9 DK). Der Tradition, in Lehrgedichten zu formulieren, als Anleitung eines Adressaten und als Identifikationsmodell für Zuhörende bzw. Lesende, begegnen wir erstmals bei Hesiod, dem Gründer der didaktischen Dichtung, dann bei Parmenides und
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Wendungen als Ansprache an den Kuros, den Hauptadressaten der Lehre, gehalten und als Anleitung, um zur Erkenntnis der Göttin zu gelangen.58 Der Text ermutigt im Modell des Kuros die Hörenden oder Lesenden, sich mit dem Angesprochenen zu identifizieren. Didaktisch ist das Gedicht also insofern, weil es als Rede göttlicher Autorität den Lernenden überzeugen will, und in Hexameterform die Botschaft mnemonisch unterstützt. Bedeutend für die Zuweisung von Parmenides’ Schrift in die Gruppe der Lehrgedichte ist wie gezeigt, vor allem die Tatsache, dass die Versform im Dienste der philosophischen These steht.
1.4 Das Prooimion 1.4.1 Seine Bedeutung im Lehrgedicht Parmenides beschreibt im ersten Fragment seines Textes, dem Prooimion, die Reise des Kuros zur Göttin.59 (Sonnen-)Mädchen geleiten den Jüngling, der auf einem mit Stuten gespannten Wagen fährt, fern der menschlichen Gefilde. Sie übertreten mit ihm die Schwelle zwischen Tag und Nacht und gelangen durch das Tor der Göttin Dike zur Göttin (θεά), die den Jüngling freundlich begrüßt und in ihre Lehre einführt.
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Empedokles und wieder in der hellenistischen Epoche wie in der römischen Literatur. Vgl. zum Thema der didaktischen Poesie Albrecht (1992) 217-24. Effe (1977) 22-23, definiert das Lehrgedicht als „eine Form «direkter lehrhafter Dichtung», in welcher das Didaktische am unverhülltesten, intensivsten und systematischsten in den Vordergrund tritt. Das antike Lehrgedicht ist inhaltlich dadurch bestimmt, dass (der Lehrstoff) in metrisch gebundener Form vorgetragen wird (…), wobei der Adressat häufig mit Namen genannt, in jedem Fall aber (…) wiederholt vom Dichter mit imperativischen Wendungen angeredet wird und so in die Sachdarstellung als Zielpunkt mit eingezogen wird.“ Vgl. die Definition von Erren (1956) 24: „Wir unterscheiden Lehrgedichte grundsätzlich daran von anderen Gedichten, dass ein Lehrgedicht ausdrücklich (…) als ein Gespräch zwischen Autor und literarisch Angesprochenem sich darstellt.“ Die Autorität, die Parmenides durch den Rückgriff auf die Stimme der Göttin in Anspruch nimmt, soll im nächsten Kapitel erneut aufgegriffen werden. Vgl. Gallop (1984) 28: „In presenting his message as the teaching of a goddess, he claims superhuman authority for it, and thereby shows a proper regard for its consistency.“ Vgl. Champlin (1967-9) 340: „the poet is opposed (…) to the man-made standards.“ Der Bedeutungsgehalt der Göttin in Parmenides’ Gedicht wird im folgenden Kapitel ausführlicher besprochen.
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In der frühgriechischen Dichtung sind Prooimien Wegbereiter für den Hauptteil des Gesanges. Sie wurden der Dichtung mit Musenanruf oder Themenangabe vorangeschickt.60 Aristoteles definiert Proömien als ‘Wegleitung’ und weist ihnen die Aufgabe zu, das Wohlwollen der Hörer, ihre Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit zu wecken.61 In Parmenides’ Prooimion finden wir eine Selbstdarstellung des Autors, die durch die Göttin gelieferte Versicherung der Glaubwürdigkeit und guten Ausrichtung der philosophischen Suche sowie Angaben der Leitziele des Gedichtes. Diese Elemente der Rahmenerzählung hatten im griechischen Kulturraum eine wichtige Funktion. Das Thema der Wagenfahrt wie die Darstellung der Suche des Philosophen als Reise entspricht der Bedeutung des Wortes Prooimion, das in sich den Begriff οἶμος, Weg, enthält.62 Die rhapsodische Struktur beeindruckte schon Kommentatoren in der Antike, und die kosmische Reise des Parmenides wurde bereits in der Alten Welt als Metapher gedeutet.63 Die moderne Parmenidesforschung hat das Prooimion widersprüchlich interpretiert.64 Unumstritten ist allerdings, dass der Reiseweg zu Erkenntnis und Wahrheit führen soll. 60 61 62
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Vgl. Hom. Il. 1.1; Od. 1.1, und den Eingang zu beiden Epen Hesiods. Ar. Rhet. III 1414f. nennt Prooimien Heilmittel gegen Unaufmerksamkeit und gegen eine ungünstige Disposition der Hörenden. Diels untersucht (1897) 16-22, das Thema der Wagen-, Himmels- oder Höllenfahrt in der vorparmenideischen Überlieferung. Vgl. Becker (1937) bes. 139f., der das Denkbild des Weges im homerischen Rahmen, bei Pindar und Herodot diskutiert, bevor er dasselbe bei den Philosophen Parmenides, Heraklit und Empedokles bespricht. Vgl. die allegorische Interpretation bei S. E. M. VII.112-4. Moderne Kommentatoren divergieren weitgehend in ihrer Interpretation des Stellenwertes einerseits des homerisch-hesiodischen Hintergrundes des Prooimions und andererseits der Bedeutung der angeführten Bildersymbolik im philosophischen Kontext des Gedichtes. Einige Autoren haben sich ausschließlich mit dem Prooimion beschäftigt. Vgl. Pellikan-Engel (1978), die ausführlich auf homerischhesiodische Hintergründe im Prooimion hinweist. Kingsley (1999) interpretiert die Philosophie des Parmenides einzig aufgrund des Prooimions. Burkert (1969) 1-30, sieht im Prooimion Einflüsse aus der orphischen Tradition. Mourelatos (1970) 1. Kap., untersucht die verbalen Parallelen zwischen Homer und Parmenides und vergleicht die Route des Parmenides mit Odysseus’ Herumreisen, bevor er Ithaka erreichte. Er legt großen Wert auf die Ausdruckskraft und Dominanz der Reisesymbolik: er hat bereits mit dem Titel „The Route of Parmenides“ die Wichtigkeit der Wegthematik im philosophischen Denken des Parmenides hervorgehoben. Schwabl (1963) 138, sieht die gleiche Struktur in Parmenides’ Prooimion wie in demjenigen der hesiodischen Theogonie und findet darin formale Analogien
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Eine Deutungsvariante sieht den Weg des Kuros zur Göttin als Offenbarungserlebnis und meint, dass Parmenides’ Wahrheitssuche nicht aufgrund intellektuellen Forschens, sondern aufgrund von Initiation und Offenbarung zu lesen sei.65 Diese Auslegung geht davon aus, dass der Eleate sein Wissen nicht aufgrund eigenen Denkens erlangt hat.66 Ich werde dafür argumentieren, dass die Offenbarungsthese für Parmenides’ Lehrgedicht wenig plausibel ist. Eine zweite Deutungsvariante liest die Rahmenerzählung als Parmenides’ Mittel, Tradition bewusst für seine Eigeninteressen einzusetzen. Er habe mit den bekannten Vorstellungen der epischen Literatur die notwendige Voraussetzung geschaffen, um seine komplexen philosophischen Erörterungen auf möglichst nachvollziehbare Weise einzuleiten.67 Demnach sei es ihm
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sowie eine für die rhapsodische Singstruktur charakteristische Partienformung. Hingegen bespricht Barnes (1979) 156, die Lehre des Eleaten erst ab den letzten vier Versen des Prooimions, während er die Wegbeschreibung zur Göttin als “of little philosophical importance“ überspringt. So Diels (1897) 16: „Schon jetzt dürfen wir also behaupten, der große Wurf der Seelenverzückung und Entrückung gehört nicht dem eleatischen Rationalismus, sondern dem orphischen Mystizismus an.“ Auch Mansfeld (1983) 287, betont, die Einführung zum Lehrgedicht „beschreibt eine außerordentliche Erfahrung des Dichterphilosophen: eine Entrückung.“ Bowra (1937) 112, meint, Parmenides’ Wahrheitssuche spiegele eine mystische Erfahrung wider: der Eleate wende religiöse Symbole an, weil Wissenssuche eine religiöse Aktivität für ihn bedeute: „he writes not as a mere logician but as one who has had a very special experience similar to that of those who have consorted with the gods.“ Jaeger (1936) 240, sieht im Prooimion das unvergängliche Bekenntnis einer philosophischen Inspiration, die dem Bereich des Religiösen entnommen ist. Darin wird der „wissende Mann“ zum Eingeweihten, der zur Schau der Mysterien der Wahrheit berufen ist. Robinson (1975) 624, liest im Prooimion die Darstellung einer Offenbarung „of the nature of all things.“ Verdenius (1948-9) 116-31, betont, die meisten modernen Autoren hätten übersehen, dass Parmenides die Terminologie der Mysterienreligionen anwende und Wissen in Form göttlicher Offenbarung erlangt habe (119). Auch Mansfeld (1964) 251, versteht im Prooimion die „objektive Wiedergabe eines religiösen Erlebnisses“, wobei die Göttin so objektiv von Parmenides erlebt sei wie Hesiods Begegnung mit den Musen. Townsley (1975) 343-51, nennt das Lehrgedicht „faithful expression of a genuine religious revelation“, dessen visionärer Charakter von den modernen Autoren oberflächlich wegargumentiert werde. Klowski (1967) 132, spricht von tief erlebter Schau. Diese Richtung vertritt Miller (1979) 14: „Parmenides masterfully appropriates Homer to introduce his project: a far-ranging quest for knowledge which will do battle with the opinion of others.“ Vgl. auch D’Alessio (1995) 145-6. Wöhrle
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gelungen, einen Bezugsrahmen und Wissenshorizont für seine intellektuelle Herausforderung zu schaffen. Diese Interpretationsvariante ist meines Erachtens überzeugender, weil sie das Prooimion im Zusammenhang mit der Kultur seiner Zeit liest, ohne es mit mystischen Deutungen zu beschweren. Dass dem Motiv einer Reise des Kuros in göttliche Gefilde mehr als vernünftige Überlegungen abzugewinnen sind, liegt auf der Hand. Die Zielvision des Lehrgedichtes, das Wissen der Göttin für den Kuros, kann im damaligen Kulturrahmen durchaus ‘göttlich’ genannt werden, ohne damit einen mystischen Bedeutungshintergrund zu haben. Somit ist entschieden, das Lehrgedicht ist ein philosophisches Gedicht und thematisiert philosophisches Wissen, hat jedoch nicht Offenbarungscharakter. Das Thema soll im Laufe dieser Arbeit weiter geklärt werden. Im Folgenden werde ich einige Deutungsvarianten diskutieren, die sich damit auseinandersetzen, wohin, räumlich gesprochen, die Bildersymbolik der Reise des Kuros führt.
1.4.2 Verschiedene Deutungsrichtungen Drei Richtungen haben die Parmenidesinterpreten dem Prooimion abgewonnen. Die Route des Kuros zur Göttin wurde entweder als Anabasis, als Katabasis oder als eine Reise, die weder nach oben noch nach unten führt, sondern die eine Veränderung anzeigt, interpretiert. Die erstgenannte Interpretation versteht Parmenides’ Reise zur Göttin im Anschluss an Sextus68 als Allegorie des Aufstieges vom Dunkeln zum Licht, von der Nacht der Unwissenheit und des Irrtums zur Aufklärung und deutet die Bildersymbolik der Route als einen Durchbruch des Geistes.69 Das
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(1993) 167-80, wiederum betont, die Wahl des dichterischen Ausdrucks verbinde sich mit dem (kulturell) konservativen Erwartungshorizont des okzidentalen Griechentums. Dagegen meint Pfeiffer (1975) 188, Parmenides’ Wahrheit gründe auf literarischer Fiktion. S. E. M. 109ff. Viele Parmenidesforscher haben diese Richtung eingeschlagen. So bezeichnet Bowra (1953) 39, den Weg des Dichterphilosophen „from error to enlightenment“. Ders. (1937) 97-112, interpretiert die Route des Kuros als Wechsel vom Nichtwissen zur Erkenntnis. Burkert (1962) 262, spricht von „Offenbarung als Weg aus der Nacht zum Licht (…).“ Eine ähnliche Interpretation geben Coxon (1986) 161-2; Deichgräber (1958) 42; Fränkel (1960) 157-97; Furley/Allen (1975) 1-47; Gigon (1968) 246ff; Kranz (1916) 1158-76. Jaeger (1947) 96, schreibt von der „religiösen Erfahrung im Reiche des Lichts“. Townsley (1975) 345: „he is now telling his voyage to enlightenment (…) transported into the divine region (…).“ Verdenius (1949) 116-31, assoziiert das Prooimion mit Lichtmystizismus.
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Gewicht liegt hierbei auf den Zeilen B 1.8-10, nämlich, dass die Sonnenmädchen, nachdem sie die Bereiche der Nacht verlassen haben, zum Licht, εἰς φάος, gelangen. Gemäß der im Folgenden auszuarbeitenden Lektüre soll gezeigt werden, dass der Reiseweg des Kuros einen Prozess der philosophischen Wissenssuche ist und nicht mystisch-religiöse Wahrheitsuche. Zur Entstehungszeit des Lehrgedichtes bildete die homerisch-hesiodische Tradition den kulturellen Horizont der Adelsgesellschaft70 und Religiosität wurde öffentlich, im Sinne von kollektiven, nach außen gerichteten Ritualen praktiziert, nicht aber als einsame Inspirationssuche.71 Infolgedessen messe ich dieser Interpretation wenig Plausibilität zu. Schwieriger wird die Diskussion im Zusammenhang mit dem Terminus κοῦρος, Jüngling,72 der das Lehrgedicht mit der orphisch-pythagoreischen Tradition und mit Einweihungsritualen zu assoziieren scheint. Parmenides’ kreativer, philosophisch relevanter Teil im Lehrgedicht kann mit orphisch-pythagoreischen Argumenten nicht diskutiert werden. Außerdem ist es deutlich zu kurz gegriffen, das Lehrgedicht ausgehend von der Perspektive des Prooimions allein analysieren zu wollen. Es bereitet als Rahmenerzählung auf die Diskussion im Lehrgedicht vor und erweckt mit seinen intensiven Bildern das Anfangsinteresse der Hörenden. Betraf die erste besprochene Lesart eine Anabasis, so sieht die zweite Deutungsvariante im Prooimion eine Katabasis, nämlich die Erzählung eines Hinabstieges in die Unterwelt, um dort das Wissen der Initiierten zu empfangen. Diese Deutung basiert auf der Annahme, dass sich die Sonnennmädchen, nachdem sie das Haus der Nacht verlassen haben, beeilen, den Dichterphilosophen vom Licht des Tages zurück ins Haus der Nacht zu holen.73 70 71 72
73
Ausführlich diskutiert in Kap. 4. Zur kollektiv ausgerichteten Religion im damaligen Griechenland vgl. Garland (1995) Vorwort und 28ff. Ausführlich diskutiert in Nock (1933) bes. Kap. XI: „Conversion to Philosophy“ (165-186). Diskutiert in Anm. 24. Vgl. B 1.24: S. E. M. VII 111: ὧ κοῦρ’ (ἀθανάτοισι συνάορος ἡνιόχοισιν): „Jüngling, der du unsterblichen Wagenlenkern gesellt“ [DK I 230]. Ich werde das Thema des Kuros – als Gegenspieler der Sterblichen weiter unten erneut aufgreifen. Vgl. den Abschnitt 2.3. Als Katabasis interpretieren: Furley (1989), 27-37; Morrison (1955) 59ff. Vgl. Blank (1982) 169: „the narrator is brought into the „underworld“, into the House of Night (…) in a setting of other καταβάσεις such as those of Epimenides, Aristeas and Pythagoras, or of eschatological mystery cults, like that of Demeter“. Vgl. Gallop (1984) 6: „Thus his privileged access to truth will be gained, like that of Odysseus visiting the underworld, through descent into a magic region“.
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Erstmals wurde eine schamanistisch begründete Interpretation des Prooimions am Anfang des 20. Jahrhunderts von Morrison vorgeschlagen und ungefähr 50 Jahre später durch den Vergleich mit den Goldplättchen von Turioi, von Hipponion und der platonischen Eschatologie und im Vergleich zur pythagoreischen Katabasis durch Burkert, gestärkt. Der Autor, der im Pythagoreismus Schamanistisches ausgemacht hatte, sieht auch in Parmenides Prooimion schamanistische Elemente.74 Er erklärt, Parmenides habe den Weg zur Erkenntnissuche als Weg zur Höhle der Göttin genommen, was er mit dem uralten asiatischen Motiv der Initiationsriten von Männerbünden um das kultische Zentrum der mütterlichen Höhle verbindet. Diesen Ritus sieht Burkert speziell in der Heimatgegend des Parmenides, in Unteritalien, mit Helios und dem Demeterkult verbunden. Allerdings bedeutet der „Weg
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Gilbert (1907) 25-45, nennt Parmenides’ Reise eine „Höllenfahrt“. Mourelatos (1970) 15, bestätigt, dass die verschiedenen Eigenschaften der Göttin (der Autor interpretiert verschiedene Aspekte derselben Gottheit im Prooimion) suggerieren, dass der Kuros eine Reise in die Unterwelt tut: „All this strongly suggests the office of an infernal deity“. Hingegen meint Coxon (1986) 161-2: „The suggestion that they are at home in the ‘house of night’, from which they emerge to meet P. after he has commenced his journey along the way of the goddess, rests on the mistaken assumption that P. envisages night and her house in Hesiodic terms instead of in those of his own cosmology“. Siehe zur Diskussion auch: Burkert (1969) 1ff. Hierüber berichten: Feyerabend (1984) 1ff; Foti-Pugliese (1974) 108ff.; Gilbert (1907) 25-45; Sassi (1988) 386. Burkert (1962) 86ff. Der Autor assoziiert zur Route des Kuros zur Göttin verschiedene Elemente aus der abendländischen Tradition, so zum Beispiel die Theogonien des Orpheus, Hesiods und Epimenides, eine Verbindung mit der kretischen Kulttradition, Kulturelemente der Sybillenhöhle zu Cumae und des Gilgameš Epos. Burkerts Lesart des Prooimions wird oft mit dem Thema der Katabasis in Verbindung gebracht, obwohl dies nicht seine Intention war (s. weiter unten). Auch Sassi (1988) 386-96, verpflichtet sich dieser Interpretationsschule: „(…) il suo tragitto nell’oltretomba (…) assomiglia a quello di un poeta-sciamano in cerca di conoscenza.“ Eliade (1992) hat den Schamanismus als eine Ekstasetechnik bestimmt, mit der ein Priester-Schamane in einem tranceähnlichen Zustand mit Göttern, Geistern oder Seelen von Verstorbenen in Verbindung treten kann. Das inspirierte Wissen des Schamanen wird durch Askesepraktiken und Rituale in einer engen LehrerSchüler-Beziehung erreicht. Typisch für einen Schamanen sind seine mantischen Fähigkeiten, seine Reisen zwischen den Welten der Götter, Menschen und Dämonen, die Fähigkeit der Bilokation sowie, Kranke zu heilen und Verstorbene im Jenseits zu begleiten.
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zur Höhle“ bei Burkert nicht unbedingt Hinabstieg.75 Leider reduziert Burkert in seiner Schrift zeitlich und räumlich differenzierte Kulturen auf ein einziges Motiv.76 Zur dritten Variante, die besagt, dass der Kuros in seiner Reise zur Göttin weder hinab- noch hinaufsteigt, sei nochmals Burkerts Artikel genannt. Mit weit greifenden Assoziationen weist der Autor darauf hin, dass eine Initiationsreise nicht unbedingt als Anabasis oder als Katabasis zu verstehen sei, sondern als Bewegung in ein Jenseits, gleichsam in einen Raum, der schlicht weit weg liegt, hinter der alltäglichen Wahrnehmung. Diese Lesart hat den Vorteil, die Route des Kuros nicht räumlich zu verstehen, sondern im Sinne einer geistigen Verwandlung.77 Die ersten beiden Erklärungen tragen wenig zum philosophischen Denken des Parmenides bei und sind im Vergleich zur dritten unzureichend. Die letztgenannte und vorzuziehende Interpretationsvariante hingegen leitet die Bildersymbolik des Prooimions zu einer metaphorischen Lesart über, wonach Parmenides das Thema der Reise bewusst einsetzt, um die Idee einer geistigen Veränderung vom Menschen im Alltagszustand zum Wissenden zu vermitteln. 75 76
77
Vgl. Burkert (1969) 1-30. Gegen die schamanistische Deutung sind KRS (1983) 223. Vgl. ders. S. 180, bezüglich des dem Pythagoras zugeschriebenen Schamanismus: „Es ist aber zweifelhaft, wie weit ein Einfluss von zentralasiatischen schamanistischen Kulturen auf das archaische Griechenland historisch gesichert werden kann oder inwieweit eine Institution, die für das Leben politisch primitiver Nomadenvölker zentral ist, die Aktivitäten eines griechischen Weisen in der komplexen Gesellschaft eines reichen mächtigen Stadtstaates überhaupt erhellen kann.“ Auch Pellikan-Engel (1978) 64-5, zweifelt an der Deutung, die Parmenides’ Prooimion schamanistisch begründet. Kritisch sind auch Eliade (1982) 369ff. und Mansfeld (1964) 190. Mehrere Autoren kommen zu einem ähnlichen Schluss. Vgl. in diesem Sinne Curd (1998) 19; Fränkel (1975) 5; Schmitz (1988) 140. Zusammengefasst mit Mourelatos (1970) 15-16: „The honest conclusion (…) is that the topography of the journey is blurred beyond recognition. So we are not in a position to specify a particular story of a journey (…). But a hypothesis closer to the facts at our disposal is that the blur is intentional“. Metaphorisch, nämlich als „Gang des parmenideischen Denkens“ lesen das Prooimion: Diels (1987) 7f.; Havelock (1958) 140; Mackenzie (1982) 8; Meuli (1935) 172; Nilsson (1976) 617. Coxon (1986) 17, betont: „The prologue may (..) be read as an account of the way in which the poet (..) actually experienced (..) his first achievement of a state of philosophic illumination.“ Auch Mansfeld (1983) 288, schließt: „deutlich ist immerhin, dass die Reise in ein Jenseits führt, das die gewohnte Erfahrung der Menschen weit übersteigt.“
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Die Vorstellung einer geistigen Transformation führt aber zur Frage, ob sie einmalig erfolgt oder einen sich wiederholenden Prozess voraussetzt und, ob sie punktuell, gleichsam plötzlich aufblitzend, oder graduell geschieht. Schließlich fragt sich auch, ob diese geistige Veränderung nur Parmenides widerfahren ist oder ob das Prooimion ein Bildungsgeschehen ankündigt. Im folgenden Abschnitt werde ich diese Fragen besprechen.
1.5 Einmalig oder wiederholbar, punktuell oder prozesshaft? Die Frage, ob der Inhalt des Prooimions ein einzigartiges oder ein prinzipiell wiederholbares Ereignis darstellt, wurde wiederholt diskutiert.78 Allgemein unbestritten ist freilich, dass die Form der Verben, die etwa das Führen, Tragen,79 also die Reisebewegung des Kuros im Prooimion ausdrücken, als Aoristform auf eine in der Vergangenheit in sich abgeschlossene und einmalige Handlung weist. Nun besitzen die Aoristformen eine Doppelbedeutung; nämlich einerseits, dass der Aorist entweder im Sinne einer effektiven Aktionsart zu lesen ist, wonach die Reise des Kuros einmalig in der Vergangenheit abgeschlossen liegt; anderseits als ingressive Aktionsart, wonach der Aorist lediglich das Beginnen des Reisens in der Vergangenheit benennt, im Sinne etwa von „die Stuten begannen, den Kuros zu führen (…).“ Gleichgültig ob Parmenides erzählt, der Kuros habe eine Reise in Angriff genommen (ingressive Deutung) oder aber, er habe die Reise zustande gebracht und zu Ende geführt (effektive Deutung), liegt die Reise jeweils in der Vergangenheit. Der Reisebericht ist mithin rückblickend geschrieben, nachdem der Kuros die Erkenntnis der Wahrheit erlangt hat. 78
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Im Sinne einer Kontinuität interpretiert Coxon (1986) 14: „the present tense φέρουσιν in line 1 implies that he is still standing on the chariot as he writes (…), since this journey is a figure for the methodical pursuit of theoretical philosophy (…).“ Vgl. des weiteren D’Alessio (1995) 145: „notare il presente e l’ottativo, che presuppongono per il viaggiatore, una potenziale repetibilità del viaggio (…).“ Auch Tarán (1965) 9-10, betont: „The whole line (B 1.1) is general and the relative clause emphasises the fact that the horses repeatedly carry him. (…) poet and horses have already traveled this road.“ Verdenius (1967) 103: „Der Denker nennt sich selbst (…) einen wissenden Mann, weil er diesen Denkweg schon öfters begangen hat. Die Iterativa ἱκάνοι (Fr. 1.1) und σπερχοίατο (Fr. 1.8) erklären sich nur aus der Voraussetzung, dass die Auffahrt kein einmaliges Erlebnis war.“ Vgl. βῆσαν und ἄγουσαι in B 1.2; ὑπεδέξατο in B 1.22.
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
Doch das Motiv weist eine zusätzliche Bedeutung auf. Insofern das Wissen, das durch den Weg des Kuros zur Göttin figurativ initiiert wurde, im Moment des Berichtens bereits gewonnen ist, mag zwar die Reise in der Vergangenheit abgeschlossen sein, doch ist sie als Thema einer Veränderung nur als systematische Entwicklung verstehbar; und zwar als Sinnbild einer graduellen Bewegung hin zum gesuchten Wissen des Philosophen.80 Die vielen Imperative im Lehrgedicht fordern auf, den Alltagszustand zu überwinden und ein Wissender zu werden. Dies ist nur als Prozess hin zur Erkenntnis verstehbar. Parmenides’ philosophische Argumente berichten also über das Resultat einer langen Erkenntnissuche. Mehr noch als die Verbformen suggeriert das Thema der Reiseroute des Wissenssuchenden die Vorstellung, dass das Prooimion einen Wandel des ganzen Menschen ankündigt, der nicht blitzartig und einmalig geschehen kann, sondern graduell erfolgt. Schließlich ist in der Bildersymbolik der Suchreise ebenfalls angelegt, dass die Route des Parmenides gleichermaßen für andere Erkenntnissuchende begehbar ist. Hiermit ist darauf hingewiesen, dass das Prooimion ein Bildungsgeschehen ankündigt, das in der Identifikationsfigur des Kuros auch die Hörenden ansprechen soll.
1.6 Zusammenfassung Nicht nur die Lebensdaten des Parmenides sind kontrovers, sondern auch die doxographische Einordnung der eleatischen Schule. Eine Traditionslinie verbindet Parmenides mit Xenophanes, eine andere assoziiert ihn mit pythagoreischem Lehrgut und schreibt ihm eine besondere Lebensform zu. Die Parmenides von der zweiten Traditionslinie zugeschriebene Seelenruhe korrespondiert vor dem Hintergrund der antiken Adäquationstheorie zu 80
In diesem Sinne versteht sich auch die Aoristform in Heraklits B 101 DK: ἐδιζησάμην. Dieses Verb weist darauf, dass das Resultat des Suchens nicht auf eine unmittelbar erworbene Erkenntnis weist, sondern auf die in der Vergangenheit sukzessive gewonnene Erkenntnis durch eine Handlung des Suchens: Vgl. zur Diskussion Stemich Huber (1996) 99. Vgl. Mourelatos (1970) 16: „The story Parmenides (the poet) tells us in first-person narration is that he was before, and now – as he relates the journey – is again in the company of us, his fellow men. Both he and we have in the past been and still are, „on the road“ (…). Vgl. zum Motiv der Reise in vorparmenideischer Tradition und bei Parmenides: Mourelatos (1970) bes. 16-25. Das Motiv wurde des weiteren durch Becker (1937) aufgearbeitet.
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Parmenides’ Lehre von der Unbewegtheit des Seienden. Zudem weist die Nachricht über Parmenides’ Leben auf Elemente des Gedichtes, die Autobiographisches vermuten lassen. Der Text des Parmenides ist in Hexametern abgefasst. Die metrische Form wie die systematische Anrede mit imperativischen Wendungen der belehrenden Göttin an den Kuros bestimmen, dass Parmenides’ Schrift grundsätzlich didaktisch gedacht und somit ein Lehrgedicht ist. Die Rahmengeschichte stellt die Hauptfiguren des Gedichtes vor und gibt seine Grundausrichtung an. Die Bildersymbolik im Prooimion wurde unterschiedlich interpretiert, nämlich als Aufstieg zum Licht der Erkenntnis, als Hinabstieg in die Unterwelt oder als Bild für eine Entwicklung weg vom Zustand, nichts zu wissen im Alltag zu demjenigen, in dem das Wissen der Göttin verstehbar ist. Eine Auslegung, die das Prooimion als Himmelfahrt im ekstatisch-religiösen Sinne sieht, tut wenig zur philosophischen Sache. Die Annahme einer Art vorsokratischen Theologie bei Parmenides ist auch deshalb zurückzuweisen, weil die Rede der Göttin keine für die damalige Zeit erkennbaren theologischen Motive erhellt. Letztlich geht es weniger um die Göttin, als um Erkenntnissuche. Auch eine Deutung, die im Prooimion Schamanistisches ausmacht, reicht vom philosophischen Standpunkt aus nicht für eine bündige Diskussion der logischen Argumente im Hauptteil des Lehrgedichtes. Die Implikation einer bestimmten Ausrichtung der Route ist mit einer philosophischen Klärung der Argumente des Eleaten inkompatibel. Beide Deutungsvarianten legen das Gewicht allzusehr auf die Auswertung von traditionellem Material. Zudem bleibt bei einer schamanistischen Interpretation ein Rätsel, warum der Eleate in der Ideengeschichte als Begründer genauer deduktiver Argumente genannt wird, der Generationen von Philosophen im Banne hielt. Nun ist es durchaus plausibel, dass der Beginn der Wissenssuche in religiöser und traditioneller Symbolik erscheint, weil die quest die ganze Persönlichkeit des Kuros modifiziert. Doch überzeugt es mehr, die eindringlichen Worte und Bilder als Metaphern in Parmenides’ Werk zu lesen, als Worte für etwas, das im damaligen Bezugsrahmen nicht anders sagbar war. Es ist wahrscheinlich, dass Parmenides das Symbolmaterial des Prooimions gezielt auswählte, um seine Rede innerhalb eines bekannten Traditionsrahmens zu situieren.81 Das vertraute Hintergrundwissen bietet den Ausgangs81
In diesem Sinne Russo/Simon (1968) 492, wonach das Rezitieren traditioneller Geschichten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die Zuhörenden ver-
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punkt für die philosophischen Argumente, die in der Folge für die Hörerschaft den Status der Unangreifbarkeit bekommen. So wird das philosophische Denken des Parmenides jeder Kritik enthoben, entstammt es doch einem göttlichen Bereich. Insofern liefert das Prooimion den gelungenen Rahmen zum neuartigen Denken des Parmenides. Es geht nicht darum, eine bestimmte Richtung der Suchreise des Kuros auszumachen sondern vielmehr darum, die Frage neu zu stellen. Dann muss der Sinngehalt des Weges im Rahmen von Parmenides’ philosophischem Diskurs erforscht werden. In dieser Lesart beschreibt die Route des Kuros seine geistige Entwicklung aus einem verwirrten Leben in Scheinmeinungen zu gleichsam göttlicher Erkenntnis. Die Reise ist somit Sinnbild einer vollständigen Transformation der Weltsicht des Reisenden.82 Ich schlage vor, das Lehrgedicht als Weg der Wahrheitssuche mit Parmenides zu gehen; mit anderen Worten, sein Gedicht qua Lehre nach Angaben über die Erfordernisse einer philosophischen Erkenntnissuche zu untersuchen. Hierfür ist es notwendig, einen neuartigen Forschungsweg einzuschlagen.
1.7 Eine zweite Arbeitshypothese Wie bereits in der Einleitung angekündigt, werde ich das Lehrgedicht von einer neuen Perspektive aus analysieren und damit ein bis anhin unerforschtes Element in die Diskussion einbringen. Zur Stärkung dieses Anliegens kommt Mourelatos’ Einladung, auch alternative Interpretationen in Erwägung zu ziehen, um der Vielfältigkeit des Philosophen gerecht zu werden.83
82 83
bindet: „imparts a sense of cultural continuity which is especially satisfying to a tradition-minded society“. Vgl. Jordan (1990) 29f.: „Parmenides aims (…) to completely supplant and destroy the everyday beliefs that he has left behind on his journey to see the goddess“. Mourelatos (1979) 5: „What we hope for is to make connections, historical ones, conceptual ones. So we must be willing to entertain alternative interpretations, just so that we remain alert to all these possible connections. For the study of philosophical fragments – even if in no other field – the type of tolerant pluralism advocated by Feyerabend seems the only reasonable stance methodologically.“ Und der Autor zitiert Feyerabend (1963) 25: „Empiricism demands that the empirical content of whatever knowledge we possess be increased as much as possible. Hence the invention of alternatives in addition to the view that stands in the center of discussion constitutes an essential part of the empirical method.“ [ap. P.K. Feyerabend, «How to be a good empiricist – A Plea for Tolerance in Matters Epistemological», in B. Baumrin (ed.), Philosophy of Science. The Delaware Seminar, vol. 2, 1962-3, New York, 25].
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Diese Arbeit geht nicht vom Seienden oder der Wahrheit des Philosophen aus, sondern vom Prozess hin zur Erkenntnis der Wahrheit. Damit grenzt sich diese Untersuchung von einem Großteil der heutigen Parmenidesstudien ab, die das eleatische Lehrgedicht vor allem als ontologische These analysieren. Im Unterschied hierzu, werde ich im Folgenden nach den Voraussetzungen, nämlich nach den Anleitungen zum Wissen über das Seiende des Parmenides forschen. Ich verspreche mir von dieser Lesart ebenfalls Konsequenzen für die Bedeutung von Parmenides’ Beschreibung der Wirklichkeit. Ich werde gleichsam einen Schritt zurücktreten und ausgewählte Textstellen im Lehrgedicht interpretieren, die eine Methode aufzeigen, durch die Parmenides seine Erkenntnis lehrte. Denn ich gehe davon aus, dass Parmenides um einen Weg zu seinem besonderen Wissen wusste, und somit lehrte, erfolgreich nach der Seinserkenntnis zu suchen.84 Ich werde dafür argumentieren, dass Parmenides eine systematische Methode hin zur Seinserkenntnis beschreibt und dass dieses Wissen weder in einer einmaligen Offenbarung oder als punktuelle Einsicht entstand, sondern das Resultat einer über längere Zeit hinweg geleisteten Einübung ist.85 Parmenides stellt sich selber nicht als Entdecker der Lehre zur Seinserkenntnis vor.86 Es ist eine Göttin, die dem Kuros Anleitungen, Gebote und Verbote gibt und schließlich ihre Autorität zurücknimmt. Im folgenden Kapitel soll die komplexe Beziehung des Kuros zur Göttin diskutiert und die sich zwischen Passivität und Aktivität ändernde Rolle des Kuros untersucht werden.
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Vgl. Robinson (1975) 623-4: „Parmenides was in fact already operating with a theory of knowledge“ und „The ascertainment of truth (…) involves the adoption of a particular philosophical path of inquiry.“ Dem gegenüber vgl. Jordan (1990) 34: „Parmenides gives us no guidance on how to take his argument or his conclusions. He simply presents us with the way of Truth and then moves on to the Way of Seeming.“ Vgl. in diesem Sinne den englischen Ausdruck „training the mind“. Mit Tarán (1965) 12: „the man who knows because he has already travelled on it“ und S. 13, zu σπερχοίατο in B 1.8: „Again the iterative emphasizing the repetition of the trip.“ Dagegen schreiben: Mourelatos (1970); Pfeiffer (1975) 188; Schmitz (1988a) 13. Ganz anders Heraklit, der behauptet, keinen Lehrer gehört und alles selber gelernt zu haben. Vgl. D.L. IX 5.
2
Der Kuros als Lernender
2.1 Einleitung
S
o wie das Lehrgedicht im Rahmen des Prooimions gefasst ist, so spielt sich der spezifische Erkenntnisweg des Parmenides im Rahmen der Beziehung des Kuros zu seiner Göttin ab. Ihr Verhältnis bildet gleichsam einen zweiten Rahmen zum Kerngedanken im Lehrgedicht, und zwar zum Weg des Kuros zur Seinserkenntnis. In einem ersten Schritt soll die Rolle des fiktionalen Urhebers der Seinslehre, das heißt die Rolle der Göttin, behandelt werden. Die Vorrede gibt an, Parmenides’ philosophische Gedanken stammten nicht von ihm, sondern seien durch eine Göttin gegeben. Welche Aufgabe hat ihr Auftritt im Lehrgedicht, wenn Parmenides dann doch angehalten ist, ihre Lehre zu untersuchen? Damit stellt sich auch die Frage: Warum vertritt gerade eine weibliche Gottheit die Erkenntnislehre des Parmenides und überhaupt, warum hebt sich im Prooimion wie im Haupttext hauptsächlich das weibliche Element hervor?87 Zweitens soll die Bedeutung des Kuros im Lerngeschehen untersucht werden. Die Schrift des Parmenides stellt ein komplexes Nebeneinander von Selbstbestimmung und Passivität dar. Es bleibt zu entscheiden, ob das Gewinnen der Seinserkenntnis im Lehrgedicht durch das Hören der Rede der Göttin allein geschieht oder aber einen eigenständigen Weg zur Seinserkenntnis meint; ob mit anderen Worten der Kuros passiver Zuhörer der Göttin oder autonomer Mitgestalter des Bildungsgeschehens ist. Die Wissenssuche beginnt zwar im Prooimion mit dem bewussten Entschluss des Kuros, sich auf den Suchweg einzulassen,88 entwickelt sich jedoch im Anschluss daran zur Erzählung eines gleichsam passiven Hingeführtwerdens in den Bereich der Göttin, zu ihren Lehranweisungen und schließlich zur Rückeroberung seiner Selbständigkeit. Eine Analyse der Veränderungen in der Rollenverteilung zwischen dem Philosophenschüler und der göttlichen Lehrerin zeigt, dass sie auf pädagogischen Überlegungen gründet. Der Kuros wird im Laufe des Gedichtes von demjenigen, der zur Erkenntnissuche geleitet wird, zu jemandem, der als Wissender andere anleiten kann. 87 88
Vgl. die Stuten in B 1.1; die Sonnenmädchen in B 1.5; die belehrende Göttin in B 1.23; die Göttin, die Eros erschuf in B 13. Vgl. B 1.1: S. E. M. VII: ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι:„soweit nur die Lust mich ankam“ [DK I 288].
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
Daraus ergeben sich folgende Fragen: Inwieweit beinhaltet der Bericht einer belehrenden Göttin und des ihr zuhörenden Jünglings ein traditionelles Element in Parmenides’ Denken? Hat die Göttin eine damals anerkannte Symbolfunktion oder kommt ihr im Rahmen der Erkenntnissuche eine tiefere Bedeutung zu? Schließlich wäre auch zu überlegen, inwieweit Parmenides bewusst die Rede der Göttin einsetzt, um sein Denken glaubwürdig und unhinterfragbar zu machen.
2.2 Die Göttin Am Ziel seiner Reise gelangt der Kuros zur Göttin:89 Nichts sagt der Dichterphilosoph über ihr Aussehen. Die Göttin scheint dem κοῦρος wohlgesinnt und heißt ihn willkommen.90 Doch ihr Haus ist erst nach einer langen Reise durch den Bereich der Nacht und in Begleitung der Sonnenmädchen erreichbar. Der Weg dorthin führt aus die menschlichen Gefilde, außerhalb des Bereichs des common sense. Die Route führt, anders gesagt, hinaus aus der Geborgenheit des Gewohnten, durch die Tore der Nacht und an die Grenzen aller bekannten Wirklichkeit.91 Die Numinosität der Begegnung ist suggestiv. Dass die Göttin ambivalent ist, wohlwollend und gefährlich zugleich, zeigt sich in ihrer Aussage, kein schlechtes Schicksal habe ihn gesandt.92 Trotz alledem wagt sich der κοῦρος aus eigenem Antrieb dorthin:93 Die Reise, auf 89
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Er gelangt dorthin auf einem offenbar unüblichen Weg: Vgl. B 1.2-3: ὁδὸν (…) δαίμονες: „(auf den) Weg (…) die Dämonen (die Göttinnen) …“ [ DK I 228]. DK wählen die Form im Plural, nämlich der Ἡλιάδες, während O’Brien (19871) 3: ὁδὸν (…) δαίμονος: „way of the daimon“, im Singular, übernimmt, was der Passage bei Sextus (S. E. M. VII 111) entspricht. B 1.22: S. E. M. VII 111: καί με θεὰ πρόφρων ὑπεδέξατο [DK I 230]. Dann nimmt sie: Parmenides’ Hand in ihre und spricht ihn an. Vgl. B 1.22-23: χεῖρα δὲ χειρί / δεξιτερὴν ἕλεν, (…) καὶ με προσηύδα. B 1.9 und B 1.27. Vgl. B 1.26: S. E. M. VII 111: χαῖρ’, ἐπεί οὔτι σε μοῖρα κακή προὔπεμπε νέεσθαι: „Denn keinerlei schlechte Fügung entsandte dich“ [DK I 230]. Ein deutlicher Hinweis auf den Doppelcharakter der Göttin zeigt B 8.51-52: Simp. in Ph. 30.17-19 (Diels): δόξας δ’ἀπο τοῦδε βροτείας μάνθανε, κόσμον ἐπέων ἀπατηλὸν ἀκούων: „lerne die menschlichen Schein-Meinungen kennen, indem du meiner Worte trügerische Ordnung hörst [DK I 239]; genauer: „en prêtant l’oreille à l’arrangement trompeur de mes dires“ [Frère (19871) 44]. Fürwahr das Janusgesicht einer Gottheit! Zur Diskussion vgl. Gilbert (1907) 25-45. B 1. 1: S. E. M. VII 111: ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι: „soweit nur die Lust mich ankam“ [DK I 228].
Der Kuros als Lernender
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der nur die quietschenden Naben des Wagens zu hören waren94 – die Vorstellung von Fahrtwind und einsamer Kühle stellt sich von selbst ein – und die Stimmen der Sonnenmädchen, die Dike bereden, die Tore von Tag und Nacht zu öffnen, endet unvermittelt vor der Göttin. Bloß ihre Empfangsgeste und Anrede sind vorgestellt. Im Prooimion ist sie schlicht als θεά95 bezeichnet. …τῆι ‘ρα δι’ αὐτέων ἰθὺς ἔχον κοῦραι κατ’ ἀμαξιτὸν ἅρμα καὶ ἵππους καὶ με θεὰ πρόφρων ὑπεδέξατο, χείρα δὲ χειρί δεχιτερὴν ἕλεν, ὧδε δ’ἔπος φάτο καί με προσηύδα ὦ κουρ’ (…)96 „Da nun mitten durchs Tor lenkten die Mädchen stracks dem Geleise nach Wagen und Rosse. – Und es nahm mich die Göttin huldreich auf, ergriff meine rechte Hand mit der ihren und so sprach sie das Wort und redete mich an: «Jüngling (…)»“97 Was wissen wir über diese Göttin? Das Prooimion berichtet nur über ihre Begegnung mit dem Kuros und legt das Schwergewicht auf den Beginn ihrer Lehre. Meine Untersuchungen werden klären, warum es für Parmenides keine im Sinne der schamanistischen Interpretation charakterisierbare Göttin geben kann und warum es unplausibel ist, sie ähnlich der großen Göttinnen des griechischen Pantheons, der homerisch-hesiodischen Tradition, mit menschlichen Erscheinungsformen und Attributen bestimmen zu wollen. Auch ist es meines Erachtens wenig einleuchtend, sie als Metapher für den von Burkert so genannten mütterlichen Bereich zu definieren.98 Des weiteren ist die Vorstellung, dass die Göttin und ihre Lehre aufgrund 94 95
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B 1.6-7. B 1.22. Zur Vielgestaltigkeit der Göttin: vgl. Mourelatos (1970) 21-9 demnach ist die vielgesichtige Göttin im Lehrgedicht Δίκη (Gerechtigkeit), Ἀνάνκη (Zwang), Μοῖρα (Schicksal), Πειθώ (Überzeugung) und Θέμις (rechte Ordnung). Hiermit haben wir es mit einer Götterfigur zu tun, die nicht mit homerisch-hesiodischen Göttermotiven vergleichbar ist. S. E. M. VII 111B 1.20-23. Übers. DK I 230. Gegen Kuspit (1964-1965) 747, der meint, die Göttin führe den Jüngling zu einer Wahrheit, die nicht „objective novel truth“ sondern „truth from the realm of the mother“ sei; sowie gegen Burkerts Ansatz (1969) 1-30. Auch gegen Kingsley (1999) 104-8, der die δαίμων mit Persephone, der Göttin der Unterwelt, identifiziert.
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
einer Traumvision zustande gekommen sind, undenkbar, denn ein Traum kann ihre komplexen Argumente nicht induziert haben.99 Schließlich ist die Handhabung des Vorstellungskomplexes einer belehrenden Göttin als literarische Fiktion allein müßig. Das Wissen um die Wahrheit der Göttin erfordert eine ichstarke Stellungnahme des Kuros ihr gegenüber: Deshalb ist nicht auszuschließen, die belehrende Stimme der Göttin im Lehrgedicht als Stimme des Philosophen zu interpretieren, als führende geistige Kraft während der Wahrheitssuche des Kuros.100 Meint Parmenides ausdrücklich eine weibliche Gottheit? Dass das weibliche Element in Parmenides’ Denken dominiert, wird aufgrund verschiedener Verse im Lehrgedicht deutlich. Eindeutig stehen θεά in B 1.22 und δαίμων in B 1.3 als zwei bedeutungsähnliche Begriffe für weibliche Gottheit. Des weiteren beherrschen andere weibliche Elemente neben Parmenides’ Gottheit das Prooimion wie auch im Hauptteil des Lehrgedichtes. Es sind, um ein Beispiel zu nennen, nicht einfach Pferde, sondern Stuten, die den Eleaten in die Gefilde der Göttin führen.101 Dann wird der Kuros durch Sonnenmädchen auf seiner Route zur Göttin begleitet102 und es ist eine weib99
Hingegen wurde von Epimenides, dem halb-legendären Mystiker Kretas angenommen, er habe seine Weisheit über die göttlichen Dinge in Träumen, nämlich in einem jahrelangen Höhlenschlaf erlangt [D.L. I 109]. 100 Heidegger untersuchte der Begriff ‘Wahrheit’ in Bezug auf Parmenides und seine Göttin und bestimmte ihn als ein Schlüsselwort im Verständnis des Lehrgedichtes. Er macht in diesem Sinne auf die „reichlich abstrakte“ Göttin bei Parmenides im Gegensatz zur unmittelbaren Erscheinung einer Göttin, wie sie aus der Welt der Griechen vertraut ist, aufmerksam und folgert, dass keine „mythische Erfahrung“ vorliege, sondern, dass der Eleate aus freien Stücken den Begriff Wahrheit zu einer „unbestimmten Göttinngestalt personifiziert“ habe, vielleicht, um seinen abstrakten Gedanken „mehr Fülle und Farbe“ zu geben. Vgl. Heidegger (1982) 7-8: Genauso wie Parmenides in B 1.29 habe auch Empedokles in B 1 ἀληθεία hypostasiert. 101 B 1.1: Sext. Adv. Math. VII 111: ἵπποι ταί με φέρουσιν (…): „Die Rosse, die mich dahintragen“ [DK I 228]. Vgl. die Übers. von O’Brien/Frère (19871): „The mares that carry me (…)“ und: „Les cavales qui m’emportent (…)“. Die hier genannten letzten zwei Übersetzungen berücksichtigen nicht, dass der Begriff im Plural die weibliche Form als grammatisches Geschlecht bedeuten kann Auch Verdenius (1967) 104, betont die Weiblichkeit der Pferde, „wahrscheinlich, weil nach Parmenides im weiblichen Wesen das Licht überwiegt“ und fügt in Anm.22 an, dass für Parmenides mit der größeren Lichtkraft die damit verbundene größere Erkenntniskraft des Weiblichen gemeint sei. Siehe zu letzterem Thema: Gomperz (1924) 28-30. 102 B 1.5: (…) κοῦραι δ’ὁδὸν ἡγεμόνευον: „Mädchen wiesen den Weg“ [DK I 228] und in B 1.9 sind sie Ἡλιάδες κοῦραι: „Sonnenmädchen“ genannt [DK I 229].
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liche Gottheit, welche die Tore des Palastes hütet und – durch die „sie kundig beredenden Sonnenmädchen103 überzeugt – öffnet.104 Nicht zuletzt erscheint im zweiten Teil des Lehrgedichtes eine δαίμων, deren Eigenschaften denjenigen eines Demiurgen gleichkommen. Diese weibliche Gottheit regiert gemäß B 12 über die Welt. Sie sitzt zwischen den Ringen von Feuer und Nacht und steuert alle Dinge.105 Schließlich folgt in B 13 die Beschreibung einer weiblichen δαίμων, welche laut Parmenides als erster Gott Ἔρωτα, (den Gott) Liebe, ersann.106 Parmenides’ Gottheit wird im Lehrgedicht nicht als ‘Muse’ bezeichnet: Der Philosoph nennt sie in ihrer Begegnung mit dem Kuros ‘Göttin’.107 Die Tatsache, dass Parmenides durch die Belehrung einer weiblichen Gottheit zum Wissen des Seienden gelangt, hat ideengeschichtliche Grundlagen. Das Thema einer weiblich-göttlichen Inspiration erscheint wiederholt 103 B 1.15: (…): μαλακοῖσι λόγοισιν [DK I 229]. 104 Das „Tor der Bahnen von Tag und Nacht“ wird von der Göttin Dike „die Vielstrafende“, die auch dessen Schlüssel besitzt, verwaltet. Vgl. B 1.11-14 [DK I 229]. 105 Vgl. 12.3-4: Simp. in Ph. 31.14-15 (Diels): ἐν δὲ μέσωι τούτων δαίμων, πάντα κυβερνᾶι / πάντα γὰρ {ἣ} στυγεροῖο (…): „Und inmitten in diesen ist die Daimon (Göttin), die alles lenkt“ [DK I 243]. Parmenides’ δαίμων ist eine mächtige Figur, die als alles steuernde, an das Weise in Heraklits B 41 erinnert, das ἐκυβὲρνησε πάντα διὰ πάντων, „alles auf alle Weise zu steuern weiß.“ [DK I 160]. Auch in Heraklits 22 B 64 und 22 B 66 (DK) wiederholt sich das Thema des Leitens und Steuerns, hier auf den Aspekt des Feuers bezogen, der, wie in meinen Ausführungen (1996) 209-17, gesagt, als Umschreibung von Charakteristika des Logos zu lesen ist. Bei Heraklit freilich kommen dem kosmisch-führenden Prinzip männliche Eigenschaften zu. 106 Vgl. B 13.1: Pl. Smp. 178b: „Zuallererst ersann sie (die Daimon der Geburt oder der Liebe) von allen Göttern den Eros (darauf aber …)“ [DK I 243]. O’Brien/Frère (1987) 68, erklären, dass gemäß Simp. in Ph. 39.17, das Subjekt dieses Fragmentes dasselbe ist, wie die δαίμων in Parmenides B 12. Zur Vielschichtigkeit des Begriffes in vorparmenideischer Tradition vgl. Wilamowitz-Moellendorff (1955) Vol. I, 556-64. Vgl. Merlan (1966) bes. 274-5. Der Autor betont, Parmenides müsse die Überlegenheit des weiblichen Geschlechtes über das männliche behauptet haben; was er mit der Deutung von 28 A 32 bestätigt. 107 Vgl B 1.22: καί με θεὰ (…). Keine der von mir konsultierten Kommentare nennen Parmenides’ Göttin eine Muse. Vgl. nochmals Mourelatos (1970) 21-9. Boyancé (1993) 241 Anm. 2, erwähnt zwar, dass Heraklit sein Werk Mousai genannt habe, und dass Empedokles die Offenbarungen der Musen glaubwürdig nennt, aber Parmenides’ Bezug zu seiner Göttin wird in diesem Kontext nicht erwähnt.
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in antiken Texten.108 Verschiedene Philosophen haben in der griechischen Antike der weiblichen Inspiration eine besondere Stellung beigemessen. So zum Beispiel Empedokles, der die Muse Kalliope zur Inspiration anruft109 und der Lehre der Muse vertraut.110 Bei Platon allerdings geschieht Inspiration nicht unbedingt durch eine weibliche Gottheit. Einerseits nennt er im Symposion Diotima, eine Priesterin und nicht göttliche Lehrerin des Sokrates, durch die der Gott der Philosophen, Apollo, spricht,111 und andererseits berichtet Sokrates in seiner Rede vor Gericht über seine innere Stimme, die göttlich, aber nicht weiblich ist.112 Die Frage, warum der Kuros in Parmenides’ Lehrgedicht durch eine Göttin belehrt wird, hat auch kulturelle Hintergründe. Frauen pflegten in der damaligen griechischen Gemeinschaft den Umgang mit den Göttern und waren als unersetzliches Bindeglied zwischen dem männlichen Teil der Gesellschaft und dem kultisch-sakralen Bereich wirksam.113 Insofern könnte die symbolische Vormachtstellung des weiblichen Elementes bei Parmenides kulturgeschichtlich begründet sein. 108 Vgl. Hom. Il. 2, 491,598, worin die Musen als Töchter des Zeus bestimmt werden; Hes. Th. 22-34, 55.76. Boyancé (1993) bes. 231-53 berichtet ausführlich zum Thema der Musen bei den antiken Philosophen. Gemäß Boyancé waren es die Musen, die, mehr als andere antike Gottheiten, in einer geistigen Beziehung mit den Menschen standen. Dichter und Philosophen der Antike adoptierten die Musen als ihre besonderen Gottheiten. Platon hingegen berichtet, die Musen ständen für den Menschen der Straße für Göttinnen der Musik, doch sei für ihn, anders als für die Vielen, die Philosophie die wahre Musik. Vgl. Pl. Phd.61a2-3: „weil nämlich die Philosophie die vortrefflichste Musik ist“ [Übers. Schleiermacher]. Ap. Boyancé (1993) 262 Anm. 2. 109 Vgl. Emped. 131.1-3: Hippol. Ref. VII 31: „Denn wenn es dir gefiel, unsterbliche Muse (…), so tritt dem Betenden jetzt wieder helfend zur Seite, Kalliope, da ich über die seligen Götter eine gute Lehre offenbaren will“ [DK I 365]. 110 31 B 4: Clem. Str. V 18: „Wie aber die vertrauenswürdigen Lehren aus dem Munde unserer Muse (πιστώματα Μοῦσης) gebieten (…)“ [DK I 311]. 111 Vgl. Pl. Symp. 201 d2f.: „Und so will ich euch denn jetzo lassen eine Rede über den Eros welche ich einst von einer Mantineerin Namens Diotima gehört habe (…) wiederholen“ [Übers. Schleiermacher]. 112 Vgl. Pl. Ap. 31d2: „dass mir etwas Göttliches und Dämonisches widerfährt (…) Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie“ [Übers. Schleiermacher]. Sokrates prüfte zu Beginn seiner Tätigkeit als Philosoph das delphische Orakel, das dem Gott Apollo gehört: Vgl. Pl. Ap. 20e10-21a4. Vgl. zur Diskussion Riddel (1867) 101-9; Rowe (1998) 239-599. 113 Frauen waren Kulturstifterinnen und Priesterinnen und pflegten stellvertretend für die ganze Gesellschaft den Bereich des Religiösen. Vgl. Graham (1984)
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Die genannten Argumente machen die vielschichtigen Implikationen deutlich, die Parmenides möglicherweise bestimmt haben, seine philosophische Lehre durch eine Göttin vortragen zu lassen. Insofern ist es denkbar, dass die Bildersymbole im Prooimion dem Eleaten zutiefst entsprochen haben und dass er sie zugleich bewusst einsetzte. Die obigen Argumente haben des weiteren deutlich gemacht, warum die These, der Eleate habe die Göttin für sein Denken aufgrund traditioneller Motive geschaffen, zu kurz greift.114 Es ist doch eher der Fall, dass die Instruktion durch eine Göttin den Eleaten einerseits mit der Tradition der museninspirierten Dichter verbindet und andererseits seiner philosophischen Argumentation die notwendige Rückbindung mit seiner Zivilisation garantiert. Weil also das weibliche Element in der frühen griechischen Kultur die Verbindung der Gesellschaft zum Göttlichen garantierte und weil die weiblich bestimmte, göttliche Inspiration einen Topos im antiken Denken ausmacht, vermittelt auch die Vorstellung der Göttin im Lehrgedicht des Parmenides in kulturell vorgegebener Weise zwischen dem Philosophen und dem Gefilde der höchsten Erkenntnis. Dass die „wahre Überzeugung“115 mit göttlicher Autorität daher kommt, unterstreicht mithin einesteils die absolute Gewißheit, mit der Parmenides seine Lehre vorträgt, und bietet andererseits einen Hinweis auf die tiefe Verbundenheit des Philosophen mit der Kultur seiner Zeit.116 Schließlich gewährleistet die Göttin im Lehrgedicht die Verbindung zwischen der Welt des Parmenides als Sterblichem und derjenigen des Kuros als Fähigem, ein 304-10; wie ders. (1995) 13: „any Greek woman had an important role to play in the religious life of the community“. Vgl. auch Burkert (1977) 157-62. 114 Vgl. Schwabl (1963) 138-41; Wöhrle (1993) 167-9. Im Laufe der Arbeit soll auch die aufklärerische Intention des Lehrgedichtes hervorgehoben werden. Genauer besprochen wird der Aspekt im Abschnitt 5.4. 115 Vgl. B 1.30: Plu. adv. Col.: (…) πίστις ἀληθής [DK I 230]. 116 Metaphorisch gesprochen, ist der Philosoph im Bilde der Göttin, die ihn mit entgegengestreckten Händen empfängt, zu Hause angekommen. Auf dieser Diskussionsebene bedeutet die Tatsache, dass das Element des Göttlichen im Lehrgedicht weiblicher Natur ist, nicht mehr als ein kulturgeschichtliches Element; umso mehr, als im traditionellen griechischen Götterhimmel durchaus als männlich (im psychologischen Sinne) zu charakterisierende Göttinnen leben, etwa Athena, die Göttin der Weisheit und des Krieges. Psychologisch gesagt, dient die den Weg weisende und belehrende Stimme der Göttin der Stimme des Philosophen, und hilft – im sokratischen Sinne – seine Einsichten hervorzubringen. Zur Mäeutik des Sokrates vgl. Pl. Tht. 148c-151d. Ich werde das Thema in einem Aufsatz ausarbeiten.
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Wissender zu werden. Sie vermittelt die notwendige Spannkraft, die den Kuros befähigt, von der Wahrnehmung der seienden Dinge zum Seienden der Göttin überzugreifen und zurück, die erlangte Einsicht – und Erkenntnisfähigkeit überhaupt – der Welt der Sterblichen zugänglich zu machen.117 Von dieser Analyse ausgehend soll der Blick zum Kuros zurückgehen. Ich werde seine Beziehung zum weiblichen δαίμων vor allem im Bereich der Zeilen zwischen B 1 und B 8 besprechen. Darin wiederholt sich bis auf wenige Ausnahmen die traditionelle Rollenkonstellation zwischen göttlichem Wissen und Ignoranz der Sterblichen. Die Ausnahmen aber – die den gleichsam untraditionellen Aspekt im Lehrgedicht hervorheben – sind von einer solchen Reichweite, dass sie hinreichen, Parmenides als einen selbständigen Wahrheitssucher erscheinen zu lassen.
2.3 Der Kuros Der Begriff ‘Kuros’ bezieht sich in der Mysterienliteratur rituell auf einen einzuweihenden Jüngling.118 Kein Philosoph wendet diesen Begriff vor Parmenides an. Dann ist der Terminus bei Empedokles zur Bezeichnung von ‘Knabe’ und von ‘Sohn’ zu finden.119 Parmenides stellt sich im Lehrgedicht selber als Kuros vor, der von einem göttlichen Wesens belehrt wird. Die Bildersymbolik und die Verben im Prooimion vermitteln den Eindruck, dass Parmenides ein passiver Zuhörer der Göttin ist.120 Denn nicht der Kuros 117 Veranschaulicht im Übergang in B 8.50-61; vgl. zur Diskussion den Abschnitt 4.6. Danach lehrt Parmenides durch die Stimme der Göttin aus beiden Wissensbereichen, nämlich Wahres und Scheinmeinungen. Dann beschreibt Parmenides Kosmologisches z.B im Bild des Mondes in B 14: Plu. adv. Col. Kap. 15, 1116A: „Der Mond ein nachtleuchtendes, um die Erde irrendes fremdes Licht“. Poetischer: „(…) claire, dans l’obscurité de la nuit, errante autour de la terre, lumière venue d’ailleurs (ἀλλότριον φῶς)“ [Übers. Frère (19871) 69]. Durchaus trocken kommt eine biologische Theorie daher. B 12.4: Simp. in Ph. 31.15 (Diels): „Denn überall regt sie (die δαίμων) die grausige Geburt und Paarung an (…)“ [DK I 243]. 118 Vgl. die orphischen Hymnen 8.10; 34.5; 52.9. Zum Begriff ‘Kuros’ vgl. die Fußnote 24. 119 Emp. B 117: D.L. VIII 77: „Denn ich wurde bereits einmal als Knabe, Mädchen Pflanze, Vogel und flutentauchender, stummer Fisch“ [DK I 359] und B 155: D.L. VIII 43: „Telauges, berühmter Spross der Theano und des Pythagoras“ [DK I 373]. 120 In einem solchen hinnehmenden Sinn versteht sich auch die oben genannte Deutung Burkerts, das Prooimion knüpfe an männliche Initiationsriten an, in denen eine Muttergöttin einen Jüngling in die Mysterien einweiht. Vgl. Burkert (1969) 1-30. Rappe (1995) 135, zieht den Vergleich zwischen dem passiven Verhalten des
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geht zu ihr, sondern Sonnenmädchen führen den Jüngling zur Göttin. Die relevanten Textstellen besagen, dass Stuten ihn tragen, dass Sonnenmädchen ihn geleiten und führen und,121 dass eine wohlwollende Göttin ihn empfängt und anspricht.122 Sie besänftigt ihn und beginnt ihr Lernversprechen, indem sie ihn auffordert, auf ihre Lehre zu hören, auf eine besondere Art zu schauen und seine Gedanken auf eine bestimmte Form von Wissen zu lenken.123 Zusammengefaßt: Die Wortwahl in diesem Teil des Prooimions wie des Hauptteils des Lehrgedichtes suggerieren eine deutlich hierarchisch gestufte Rollenverteilung zwischen der Göttin und dem Kuros. Von den Versen am Anfang des Lehrgedichtes – von B 1.23 bis zu B€10.5€– ist Parmenides’ Schrift in imperativischer Form an den Kuros als Adressat der Göttin gerichtet. Doch ab dem zehnten Fragment geht der Text von der Anredeform in einen größtenteils kosmologisch-wissenschaftlichen, jedenfalls unpersönlichen Bericht über.124 Hierbei handelt es sich möglicherweise um Beobachtungen, die aus Parmenides’ eigener Natur- und Sternbetrach-
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Dichterphilosophen im Prooimion und einer Stelle in Hom. Od. XIII 89, worin die Phäakenschiffe den schlafenden Odysseus ohne dessen Zutun nach Ithaka tragen (8.556). Der Autor verbindet schließlich Parmenides’ Passivität mit dem Motiv eines initiatorischen Erlebnisses. Die relevanten Textstellen sind: „(Die Stuten) die mich tragen“ (με φέρουσιν: B 1.1); „(die Göttinnen) geleiteten mich“ (μ’ ἄγουσαι: B 1.2); „führten mich“ (φερόμην (…) B 1.4); „geleiten mich“ (πέμπειν: B 1.8); „(die Göttin) empfing mich“ (με… ὑπεδέξατο B 1.22) [DK I 228-30]. B 1.22-23: „Sie nahm mit ihrer Hand meine Rechte und sprach mich an“ (χεῖρα δέ χεῖρι δεξιτερὴν ἕλεν (…) με προσηύδα) [DK I 230]. So spricht die Göttin zum Kuros: „die Wagenlenkerinnen, die dich tragen“ (σε φέρουσιν: B 1.25); „nicht ein böses Geschick sandte dich“ (σε (…) προὔπεμπε B 1.26); „du sollst alles erfahren“ beziehungsweise „lernen“ (χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι: B 1.28); „du wirst lernen“ (μαθήσεαι: B 1.31); „ich sage dir“ (ἐγὼν ἐρέω: B 2.1); „empfange meine Erzählung nachdem du sie gehört hast“ (κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας: B 2.1); „ich zeige dir“ (τοι φράζω: B 2.6); „du kannst nicht wissen“ (οὒτε γὰρ ἄν γνοίης: B 2.7); „du könntest nicht aufzeigen“ (οὔτε φράσαις: B 2.8); „schau!“ (λεῦσσε: B 4.1); „du wirst nicht trennen“ (οὐ γὰρ ἀποτμήξει:B 4.2); „ich gebiete dir“ (σ’ ἐγω (…) ἄνωγα: B 6.2); „ich halte dich ab“ (σ’ἀφ’ (ὁδοῦ ..) {εἴργω: B 6.3); „halte deine Gedanken (…) fern“ (σὺ (…) ἀφ’ (ὁδοῦ…) εἶργε νόημα: B 7.2); „lass nicht Gewohnheit dich zwingen“ (μηδέ σ’ἔθος (…) βιάσθω: B 7.3); „urteile vernünftig“ (κρῖναι δὲ λόγῳ: B 7.5); „lerne“ (μάνθανε: B 8.52); „ich sage dir“ (σοι ἐγὼ (…) φατίζω: B 8.60); „du wirst wissen“ (εἴσῃ: B 10.1); „du wirst erkunden“ (πεύσῃ: B 10.4); „du sollst wissen“ (εἰδήσεις: B 10.5). Mit Ausnahme von B 16, das ich im sechsten Kapitel als indirekte Anleitung für den Kuros interpretieren werde.
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tung stammen, die in der Überlieferung zum Bereich der sterblichen Meinungen gezählt wurden und wahrscheinlich deswegen weniger gut erhalten sind. Sie werden in B 8.52 als „irreführende Rede der Göttin“ angemeldet,125 jedoch dann nicht mehr in direkter Anredeform formuliert.126 Es steht nun zur Diskussion, ob die eingangs besprochene Passivität des Kuros auf der Suche nach Erkenntnis geschichtlich und kulturell vorgegeben ist und inwieweit Parmenides die traditionellen Vorstellungsmuster seiner Zeit übernahm, um sie seiner eigenen Lehre anzupassen. Um die Frage zu klären, werde ich im Folgenden exkursartig den kulturellen Hintergrund zu Parmenides’ Selbstdarstellung skizzieren.
2.3.1 Exkurs: Das homerische „Ich“ Laut Homer und Hesiod folgt der Mensch weniger individuellen Werten, sondern er lebt in einer Tradition kulturell tradierter, und nicht autonom bestimmter, Werte.127 Vom homerisch-hesiodischen Standpunkt aus gesehen, halten die alten Helden Zwiegespräche mit anderen Menschen, mit Göttern oder mit nach außen verlegten Teilen ihrer selbst.128 Das ‘Ich’ des homerischen Protagonisten kann seinen ‘Teilpersönlichkeiten’ in Form eines autonomen ‘Du’ gegenüberstehen, dem es folgt, ausgeliefert ist oder das es zu beeindrucken sucht.129 In diesem Sinne besteht in epischen Erzählungen
125 Simp. in Ph. 30.18-19 (Diels): (…) κόσμον ἐμῶν ἐπέων ἀπατηλὸν (…): „(…) meiner Worte trügliche Ordnung (…)“ [DK I 239]. 126 Vgl. Popper (1998) 135, der Parmenides’ wissenschaftlichen Aussagen einen hohen Stellenwert beimisst: „I propose that the reason why Parmenides made his goddess add an elaborate cosmology to her Way of Truth is that he was himself the author of this interesting and highly original version of a cosmology on traditional lines going back to Anaximander, Heraclitus, Xenophanes and others.“ 127 Vgl. ausführlich in Kap. 4. 128 Vgl. zur Diskussion Darcus Sullivan (1995) 14, welche noos, phrên, thumos, kradiê, êtor, ker und prapis als Begriffe nennt, die im alten Griechenland psychische Aktivitäten bezeichnen: Allerdings stehe keiner dieser Termini für das, was wir heute als Persönlichkeit oder Selbst umschreiben würden: „Persons and psychic entities remain always distinct, and the person has differing relationships with them“. Snell (1978) 25, bemerkt, dass Thymos bei Homer zugleich das Ich und ein angeredetes Du bedeute, was eine innere Spannung offenbare. 129 Vgl. z.€B. Hom. Od. XX 17-21, als Ulysses sein Herz, κραδίη, anredet, es solle durchhalten – und es gehorchte.
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kein bewusst geführter innerer Dialog.130 Die damalige Persönlichkeitsvorstellung charakterisiert sich vielmehr durch das Bild eigenständiger einzelner Bestandteile des Menschen, weshalb ein Individuum sich nicht bewusst verantwortlich gegenüber diesen sich oft widersprechenden Teilaspekten fühlte. Hinzu kommt, dass der homerische Mensch dem Kräftefeld des unvorhersehbaren göttlichen Wirkens ausgeliefert war und schicksalsmäßig von dem Wohlwollen der Götter abhing. Da mithin die menschlichen Gefühlsregungen durch die Götter, also von außen bestimmt waren, konnte der homerische Mensch nicht frei Handlungen vollziehen und dafür verantwortlich gemacht werden.131 Es fragt sich, was die vorsokratischen Philosophen dieser Tradition entgegengesetzt haben.
2.3.2 Vorsokratische Philosophie: Eine Überwindung Homers? Verstanden sich die vorsokratischen Denker, mehr als die homerischen Helden, als autonome Individuen? Inwieweit grenzten die Vorsokratiker ihre Lehren von göttlichen Kräften, den alten Werten und den Meinungen ihrer Mitmenschen ab?132 Es gibt hierauf keine einfachen Antworten. Vielmehr vermitteln die überlieferten Texte den Anschein, dass die vorsokratischen Denker ihre Ideen zur gleichen Zeit im Rahmen ihrer Tradition und diese überwindend formulierten. 130 Es besteht kein Dialog, dem ein Gefühl der Einheit oder Entzweiung zwischen dem Ich und seinen Gelüsten, Ängsten und Enttäuschungen entspricht, sondern gleichsam eine Trennung zwischen den verschiedenen Teilen einer Person. 131 Götter stacheln die Menschen zu Handlungen an, flüstern ihnen Ideen ein, eine Göttin trägt ihren Schönheitswettbewerb auf dem Schicksal der Menschen aus. Kurz: Im traditionellen epischen Denken gilt ein Mensch meist nicht als ein autonom handelndes Subjekt, sondern als Spielball der Götter. Nichtsdestotrotz Â� musste der Mensch für „seine“ Taten büßen, falls diese nicht mit den gesellschaftlichen Normen übereinstimmten. Diese ambivalente Situation, einerseits den Schicksalsmächten und Göttern ausgeliefert und trotzdem zur Verantwortung herangezogen zu werden, spiegelt sich dramatisch im „König Ödipus“ wieder. Was dem Einzelnen oder einer Gruppe freilich offenstand, war mit den Göttern zu verhandeln, um sie freundlicher zu stimmen. Vgl. zur Diskussion Schmitt (1990). 132 Vgl. Jaeger (1953) 71f, nach dem erstmals Heraklit, Parmenides und Empedokles den Menschen für sein Handeln verantwortlich machten. Vgl. die Diskussion bei Lloyd (1987) 59ff, der den Vorsokratikern zuschreibt, ihre Lehre selbstbewusst dargestellt zu haben.
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Xenophanes133 betonte im sechsten Jahrhundert v.€Chr., dass keine Menschen sicheres Wissen besitzen, wohl aber die Götter.134 Er stellte sich allerdings als Autor seiner Schrift dar, was ein gewisses Maß an Selbstvertrauen voraussetzt.135 Heraklit hatte behauptet, keinem Lehrer gefolgt zu sein,136 und sich selbstbewusst als Urheber seiner Lehre erklärt.137 Er nannte ausdrücklich seine Präferenzen138 und verkündete, er habe (um Wissen zu erreichen) sich selbst gesucht.139 In der Ichform formulierte er ein starkes Selbstbewusstsein140 und grenzte voller Überzeugung seinen λόγος vom Logos (als allumfassendem Gesetz) ab.141 Auch sagt er sich wiederholt von jeglicher Tradition los.142 133 Xenophanes hatte Homer und Hesiod beschuldigt, schlechte Vorstellungen über die Götter verbreitet zu haben [21 B 11: DK I 132], die Götter als Abbild der Menschen geschaffen zu haben [21 B 14; B 15; B 16: DK I 132-3]. 134 21 B 34: S. E. M. VII 49 110: „Und das genaue (σαφές) freilich, erblickte kein Mensch (…) Schein(meinen: δόκος) haftet an allem“ [DK I, 137]. 135 Ders. B 34.2: (…) ἅσσα λέγω περὶ πάντων: „die ich nur immer erwähne“ [DK I 137]. 136 D.L. IX 5: „Schon von jung auf erregte er Aufsehen (…) Er ging bei niemandem in die Lehre (…).“ 137 22 B 1: S. E. M. VII 132: (…) ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι : „wie ich sie [solche Worte und Werke] erörtere“ [DK I 150]. 138 22 B 55: Hippol. refut. IX 9: (…) ταῦτα ἐγὼ προτιμέω: „Alles [wovon es Gesicht, Gehör, Kunde gibt] das ziehe ich vor“ [DK I 162]. 139 22 B 101: Plu. adv. Col. Kap. 20. 1118c: ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν: „Ich durchforschte mich selbst“ [DK I 173]. 140 So zum Beispiel in B 49: Galen De dign. Puls. VIII 773 K.: „Einer gilt mir (ἐμοὶ) zehntausend (…)“ [DK I 161]; in B 108: Stob. Flor. I 174 Hense: „So vieler Worte ich gehört habe, keiner kommt zu erkennen (…)“ [DK I 175]. Mit Heraklit bestätigt sich Curds Definition vorsokratischen Philosophierens in ihrem Vortrag über The Presocratics as Philosophers an der Konferenz in Lille „Savoir et Textes“ (1.-4.10.2000): „Philosophical enquiry includes a certain degree of selfconsciousness“ (S. 4). 141 22 B 50: Hippol. refut. IX 9: οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας (…): „Haben sie nicht mich, sondern den Logos vernommen (…)“[DK Ι 161]. 142 Nach dem Sagen des Ephesers hat die Welt keinen göttlichen Ursprung. (Vgl. 28 B 30). Heraklit setzt sich – mit 28 B 56 und B 57 – vehement von den kulturell anerkannten Autoritäten Homer und Hesiod ab. Er distanziert sich von den Lehren des Archilochos, des Xenophanes, des Hekataios und des Pythagoras (vgl. 28 B 40; B 41; B 42) sowie gegen den allgemeinen common sense seiner Zeit (vgl. 28 B 73; B 74; B 75).
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Ambivalenter formuliert Empedokles: Einerseits ruft er auf traditionelle Weise die Musen zur Inspiration an und lässt es andererseits offen, ob in den darauf folgenden Versen seiner Schrift das ‘Ich’ für die Muse steht oder auf Empedokles’ eigene Meinung weist.143 Inwieweit nun Parmenides im Rahmen der Tradition blieb und auf welche Art er sich daraus lossagte wird nie gänzlich zu beantworten sein, denn beide Aspekte sind im Lehrgedicht vorhanden. Umso mehr, als sich im Hauptteil alsbald eine Spannung zwischen Parmenides’ unpersönlicher Wiedergabe der göttlichen Worte und der ausdrücklichen Forderung nach einer eigenständigen Haltung des Kuros abzeichnet. Dennoch steht fest, dass die philosophische Argumentation im Hauptteil des Lehrgedichtes auf eine autonome Position des Philosophen hinweist. Die Göttin gibt zwar die Anleitungen zur Erkenntnissuche, doch ist anzunehmen, dass de facto die im Lehrgedicht genannten Erkenntnisse Parmenides’ Errungenschaft bilden.
2.4 Die aktive Wissenssuche des Kuros In Kapitel 2.2 wurde erörtert, wie die Göttin über weite Teile des Lehrgedichtes den aktiven Part spielt. Tatsächlich bezeichnet sie sich entschieden als ἐγώ144 und legt allemal fest, was der Philosoph zu wissen, zu lernen, zu
143 So etwa in der Abhandlung über die Natur: 31 B 8.1: Plu. adv. Col. 10p. 1111F: ἄλλο δέ τοι ἐρέω: „Doch ein anderes will ich Dir verkünden“ [DK I 312]; 31 B 9.5: Plu. adv. Col. 11p. 1113AB: (…) νόμωι δ’ ἐπίφημι καὶ αὐτός: „doch dem Brauche nach sage auch ich so dazu“ [DK I 313]. Beim letzten Beispiel kann mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass die persönlichen Meinung des Empedokles gemeint ist. 144 In B 8.60: Simp. in Ph. 39.7-8 (Diels): τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοικότα πάντα φατίζω: „Diese Welteinrichtung teile ich dir als wahrscheinlich-einleuchtende mit“ [DK I 240]. Nicht mehr emphatisch das Pronomen ἐγώ nennend, immer noch in der Ichform gehalten: vgl. B 5: Procl. in Prm. 1 p. 708,16-17 (Cousin): „Ein Gemeinsam-Zusammenhängendes aber ist es mir (ξυνόν δέ μοί ἔστιν), von wo ich auch den Anfang nehme (ἄρξωμαι); denn dorthin werde ich wieder zurückkommen (ἵξομαι)“ [DK I 232]. Vgl. B 8.50: Simp. in Ph. 38.28 (Diels): ἐν τῶι σοι παύω πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημα (…): „Damit beschließe ich für dich mein verlässliches Reden und Denken (…)“ [DK I 239].
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erfahren hat und wovon er abhalten soll.145 Bei genauerem Hinschauen bildet sogar ihre Einladung, der Kuros solle ihre Widerlegung beurteilen, einen Auftrag.146 Bliebe die belehrende Stimme der δαίμων, wie in der Sichtweise der homerischen Psychologie, dem Ich-Selbst-Bewusstsein des Philosophen fremd,147 dann wäre er ihrer Welterklärung widerstandslos ergeben. Doch Parmenides’ 145 Vgl. für Textstellen die Fußnote 123. 146 Vgl. B 7.5: D.L. IX 22: κρῖναι:„urteile!“ [DK I 235] Der Aspekt des Urteilens als kritisches Urteilen soll nicht überproportional bewertet werden. Die Sache erfordert eine vertiefte Diskussion. Immerhin steht das Imperativ inmitten weiterer Anleitungen an den Kuros [vgl. die Diskussion im Abschnitt 5.3.]. 147 Die Stimme der Göttin ist gleichsam als innere Stimme, als Teilaspekt der Persönlichkeit des Parmenides zu verstehen, die der Eleate in alter Tradition nach außen projiziert. Vgl. die Parallele bei Sokrates in Pl. Ap. 31d: „ὄτι μοι θεῖόν τι καί δαιμόνιον γίγνεται (…) φωνή τις γιγνομένη“; „wie etwas Göttliches (…) mir zufällt.“ (Dieses Göttliche, Sokrates’ Daimon, ist im Neutrum genant) Dasjenige, was im homerischen Kontext als Dialog mit – nach außen gekehrten – Teilpersönlichkeiten eines Menschen geschieht, kommt in heutiger Sprache als innerer Monolog daher. Mit anderen Worten haben die heutigen Menschen die Götter in die Alltagswelt, in die Wirklichkeit des Menschen geholt und bezeichnen das Herz, den θυμός oder die φρήν als Teile ihrer selbst. Folgerichtig würden wir heute kaum einen Wortwechsel im homerischen Stil zwischen Persönlichkeitsteilen eines Individuums erwarten. In Sinne einer modernen Erläuterung der Thematik hat C.G. Jung in seinen Überlegungen zum psychischen Funktionieren des Menschen postuliert, dass das alltägliche Ichbewusstsein in ständigem Energiefluss mit anderen, mehr oder weniger bewussten Komplexen seines psychischen Haushaltes steht. Dabei beinhaltet der Begriff Komplex eine moderne Betrachtungsweise über innerpsychische Kräfte, die in einem archaischen Bewusstsein als Götter, Schicksalsmächte, jedenfalls als außerhalb der Persönlichkeit existierende, das Individuum dominierende Wesenheiten erfahren wurden. Gemäß dieser Interpretation käme also das Gespräch der Göttin mit Parmenides einem Beispiel von aktiver Imagination gleich, dem Paradigma eines Gespräches eines Mannes mit seinem innerpsychischen weiblichen Anteil. Vgl. eine kurze Zusammenfassung über die Diskussion im Jungschen Kontext Samuels (1997) 6f. Dennoch kann in letzter Analyse die Beziehung des Kuros zu seiner Göttin weder – im homerischen Sinne – als nach außen projizierter, noch – in modernem Verständnis – als inneres Gespräch gedeutet werden, weil im Lehrgedicht keine Diskussion zwischen dem Kuros und der Göttin geschieht, also auch keine Dialektik zwischen widersprüchlichen Perspektiven. In Parmenides’ Schrift spricht allein die Göttin, und der Philosoph schweigt, denn seine Erkenntnissuche geschieht gerade nicht im Dialog. Auch fordert die Rede der Göttin, welche philosophische Erkenntnis zum Ziel hat, anders als im homerischen Kontext keinen inneren (oder nach außen projizierten) Konflikt heraus. Im Gegensatz hierzu bezweckt im
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Denken entspricht nicht mehr der homerischen Psychologie, weshalb der Kuros selbst bestimmen kann, wieweit er der Lehre der Göttin begegnen oder überhaupt, wieweit er sich auf die Reise einlassen will. Insofern täuschen die Termini, die zu bezeugen scheinen, dass die Göttin einen passiven Kuros anleitet und verleiten dazu, die komplexe Beziehung von Kuros und Göttin einseitig zu beurteilen. Bereits der erste Vers im Prooimion macht deutlich, dass der Kuros zugleich inaktive und autonome Haltungen auf dem Weg zur Erkenntnis der höchsten Wahrheit einnimmt: Der Reiseweg in die mythischen Gedankenwelten des Prooimions beginnt mit der Behauptung in der ersten Zeile: „Die Rosse, die mich dahintragen, zogen mich fürder, soweit nur mein θυμός begehrte.“148 Die Zeile nennt einen Teil der Persönlichkeit des Parmenides als pars pro toto, nämlich den θυμός des Dichters,149 im Sinne eines Subjektes des Geschehens.150 Gemäß dieser Interpretation beginnt der Kuros seinen homerischen Kontext eine Auseinandersetzung zwischen dem Helden und z.€B. seinem θυμός, dass er eine kontroverse Entscheidungen treffen muss oder eine neue Handlungsstrategie plant oder im Dialog mit (seinen) widerstreitenden Strebungen Lösungen sucht. 148 B 1.1: S. E. M. VII 111: ἴπποι καί με φέρουσιν, ὅσον τ’ ἐπὶ θυμὸς ἰκάνοι: „Die Rosse, die mich dahintragen, zogen mich fürder, soweit nur die Lust mich ankam“ [DK I 228]. Im Sinne, dass θυμός Subjekt des Geschehens ist übersetzen O’Brien/ Frère (19871) 3: „as far as ever desire might reach to“; „aussi loin que puisse parvenir mon désir“. 149 Das Wort θυμός bedeutet eine heftige emotionale Haltung; mehr als eine – wie DK übersetzt – nicht weiter festgelegte Neigung oder Absicht. Vgl. Frère (1995) 47, der den Begriff mit coeur, ardeur, emportement übersetzt: „l’élan ardent du θυμός“. Das Wort steht seit Homer für leidenschaftliche Sehnsucht, Mut und Zorn wie für Wille, Charakter und Geist [Vgl. Chantraine (1977) I 446; Frisk (1973) I 693-4; Jaeger (1953) 90; LSJ; Snell (1955) 27-33.]. 150 Vgl. die Diskussion oben, nach der in epischer Tradition ein Mensch sich als eine Vielfalt von psychischen und somatischen Entitäten erlebte. (Vgl. die Fußnote 128.) Die Bedeutungsvielfalt von θυμός wurde in Stemich Huber (1996) 64ff. im Gegensatz zu ‘Psyche’ besprochen. Vgl. zu diesem Thema auch Dihle (1985) 37f. Diese Deutung, Thymos als aktiver emotionaler Aspekt von Parmenides und als pars pro toto zu lesen, wurde von einigen Autoren hinterfragt, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich ‘Thymos’ und ‘Ich’ in der epischen Tradition widerstreiten können. Vgl. Ballauff (1963) 70; Böhme (1929) 8f. Es wurde zudem thematisiert, ob sich θυμός auf die Stuten bezieht, in dem Sinne, dass die Pferde, so weit ihr Thymos reicht, Parmenides tragen. Dagegen argumentiert Coxon (1986) 157, Parmenides meine in erster Instanz seinen eigenen Thymos, dessen Inkarnation die Stuten als Symbol seines eigenen Impulses zu Philosophieren, seien.
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Reiseweg zur Göttin aus eigenem Willen. Damit stellt er sich bereits in der ersten Zeile des Prooimions eigenverantwortlich dar. Zumindest kann festgehalten werden: Dies alles geschieht nicht wider seinen Willen. Ein weiterer Ausdruck zu Beginn der Vorrede zu seiner Schrift macht auf die aktive Rolle des Parmenides aufmerksam: Im dritten Vers bezeichnet sich der Kuros als wissenden Mann,151 was ohne weiteres als Widerspruch zum Begriff ‘Kuros’ als den einzuweihenden Jüngling gelesen werden kann.152 Doch das Nebeneinander von κοῦρος und wissendem Mann macht klar, dass der Terminus ‘Kuros’ im Lehrgedicht als Arbeitsbegriff dient und nicht den Eleaten als jung und unterworfen charakterisieren will. Freilich kompliziert sich das Verständnis der Passage in der dritten Zeile des Prooimions insofern diese Zeile gerade auf den entgegengesetzten Punkt hinzuweisen scheint: Denn im ἣ κατὰ ‹…› φέρει εἰδότα φῶτα ist der Wissende nicht Subjekt des Satzes, sondern wird auf dem Weg der Göttin getragen. Ich habe mit diesen Textbeispielen deutlich gemacht, dass sich im Lehrgedicht Aspekte von Autonomie und von Passivität abwechseln.153 Und die Diskussion, ob Parmenides aktiver Mitgestalter des Erkenntnisweges oder passiver Zuhörer der Göttin ist, kann an dieser Stelle nicht annehmbar entschie151 B 1.3: S. E. M. VII 111: εἰδότα φῶτα: „den wissenden Mann“ [DK I 228]. 152 Der Begriff κοῦρος mag irreführen. Vor Parmenides wurde er bei keinem Vorsokratiker überliefert [DK III 243]. Nach Parmenides kommt der Begriff bei Empedokles B 117 und B 155 als Bezeichnung von Knabe (neben Mädchen und Vogel) und von Nachkomme, Spross, vor, oder in orphischen Fragmenten, etwa 1 B 13.1 [DK I 13]. Die Mysterienliteratur – wie etwa die orphischen Hymnen, 8.10; 34.5; 52.9 – nennt κοῦρος rituell, um einen Götterjüngling oder den einzuweihenden Jüngling anzusprechen. Die Datierung der orphischen Literatur ist allerdings kontrovers. Vgl. West (1983) 1ff. 153 Doch ist der Eleate als „ἐγώ“ in den Fragmenten – im Sinne etwa von: „ich sage“ – nirgends anzutreffen. Die Passivform des berichtenden Philosophen etwa in B 1.1, B 1.2: „mich“, ist nicht in Betracht zu ziehen, da sie nichts zur Argumentation beitragen. Hierzu Mourelatos (1970) 16: „We ought to respect his approach of self-effacement“. Vgl. zur Diskussion Curd (1998) 20: „Despite representing the Kuros as the recipient of the goddess’ story, Parmenides does not show him as a passive hearer of what the goddess has to say.“ Vgl. auch Verdenius (1949) 121: „Parmenides’ relation to his goddess is not one of devotion and humiliation, but rather of cooperation: he even shakes hands with her.“ Seine Übersetzung von B 1.23 wird dem Text allerdings nicht gerecht. Dagegen meint Kuspit (1964-1965) 748-9: „On the journey to the goddess Parmenides is not autonomous (…). The journey is neither an effort of will, nor a grand tour of the imagination (…).“ Vgl. des weiteren Lesher (1984) 29.
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den werden. Die Schwierigkeit, einen klaren Standpunkt zu finden, macht jedoch darauf aufmerksam, dass Parmenides’ Weg zur Erkenntnis gleichzeitig Aspekte aktiver Einflussnahme und bewusster Passivität erfordert.154 An dieser Stelle drängt sich eine interessante Beobachtung auf: Die Tatsache, dass der Kuros durch die Göttin zum Wissen hingeführt wird und, dass er zugleich als Wissender unterwegs ist, belehrt zu werden, impliziert, dass der Kuros sich willentlich instruieren lässt, obschon er um die Lehre der Göttin weiß. Hieraus wird evident, dass der Kuros den Lernweg in didaktischer Intention geht, um möglichen Schülern den Weg zur Seinserkenntnis zu weisen. Zusammengefasst: Die bewusst gewählte Passivität des Philosophen, um höchste Erkenntnis zu erreichen, ist im Bild durch die den κοῦρος tragenden Rosse dargestellt. Sie führen ihn gerade so weit, als sein θυμός es wünscht.155 Anders gesagt, lässt er sich aus eigenem Willen von den Rossen tragen und von den Sonnenmädchen führen, um mit ihrer Hilfe sein Ziel zu erreichen. Dass der Philosoph bewusst passiv und zugleich aktiv ist, wird des weiteren mit der Feststellung bestärkt, dass der Kuros als bereits Wissender den Weg, der zum Wissen der Göttin führt, geht. Und gerade die Besprechung derjenigen Ausdrücke im Prooimion, die eine autonome Haltung des Kuros signalisieren, hat deutlich gemacht, dass sich ein didaktisches Geschehen anbahnt. Insofern bestätigen diese Textstellen, dass Parmenides’ Schrift eine Lehre zum Aufstieg zur Seinserkenntnis enthält. Im folgenden Abschnitt werde ich die Verbindung zwischen dem Kuros und seiner Göttin aus pädagogischer Perspektive her prüfen.
154 Mit Lesher (1984) 24-5, lässt sich argumentieren, dass Parmenides im Prooimion einen durchgehend passiven Kuros darstellt; doch wird ab dem Fragment B 2 der Auftrag an den Kuros deutlich, aktiv zu werden. 155 Insofern Rosse normalerweise gelenkt werden, bestärkt das Bild, dass der Dichterphilosoph einig mit der von den Rossen eingeschlagenen Richtung sein muss. Er kämpft nicht gegen sie an, wirkt weder bremsend noch anspornend. Das Bild von Reiter und Ross oder von Pferdegespann und Kutscher hätte ohne weiteres auch anders aussehen können, so wie das spätere Beispiel bei Platon bestätigt. Im Phaidros nämlich kämpft der Kutscher mit dem uneinigen Gespann, als Sinnbild des Ringens der Vernunft gegen die Leidenschaften. Vgl. Pl. Phdr. 246b247c; vgl. zur Diskussion Romilly (1991) 59.
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2.5 Parmenides als Kuros und Lehrender Die Göttin instruiert den Kuros, alles zu lernen156 – den Bereich der Scheinmeinungen wie die höchste Wahrheit – und das Gelernte zu meditieren.157 Sie warnt ihn vor der falschen Forschungsrichtung.158 Alle ihre Anleitungen, Hinweise und richtungsweisenden Ratschläge kommen im Lehrgedicht in der Anredeform an den Kuros daher und begründen unmissverständlich eine Lehrer-Schüler-Situation,159 in welcher der Kuros im Untergeordnetenverhältnis zu einer zugleich Vertrauen und Schauer erweckenden Macht steht. Um so mehr erstaunt die Bestimmung der Göttin im Hauptteil des Lehrgedichtes, der Kuros solle ihren Elenchos kritisch prüfen.160 Damit ist ein bedeutsamer Aspekt im Lehrgeschehen festgelegt: Der Kuros soll unabhängig denken und den Weg der Wissenssuche eigenständig gehen. Die Göttin thematisiert damit einen wichtigen Punkt in der Lehre: Das Lehrer-SchülerVerhältnis ist strenggenommen nicht durch Abhängigkeit geprägt, sondern beabsichtigt die geistige Autonomie des Lernenden.
156 B 1. 28: Simp. in Cael. 557 (Heiberg): χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι: „Nun sollst du alles erfahren“ [DK I 230]. Dieses Lernversprechen wird im folgenden Kapitel besprochen. 157 Vgl. B 2.1: Procl. in Ti. I 345.18 (Diehl): (…) κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας: „nimm du dich aber des Wortes an, das du hörtest“ [DK I 231]. Die Bedeutung von κομίζω, erhalten, heimführen, vor dem Vergessen retten, hüten, damit etwas nicht verloren geht, weist auf eine aktive Einstellung desjenigen, der sich (die Worte) zu Herzen nimmt. Vgl. des weiteren B 6.2: Simp. in Ph. 86.27-28 (Diels): (…) τά σ’ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα: „das heiße ich dich wohl beherzigen“ [DK I 232]. 158 Der Kuros soll zuhören: Vgl. B 2.1: Procl. in Ti. I 345.19 (Diehl): σὺ (…) ἀκούσας [DK I 231]; er soll etwas denken oder nicht denken: Vgl. B 6.1: Simp. in Ph. 86.27 (Diels): χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν (…): „Nötig ist zu sagen und zu denken (…)“ [DK I 232]; und er soll sich mit dem, was die Suche hindert, nicht auseinandersetzen: B 6.3-4: Simp. in Ph. 117.6-8 (Diels): πρώτης γάρ σ’ἀφ’ὁδοῦ ταύτης διζήσιος {εἴργω}: „Denn das ist der erste Weg des Forschung, von dem ich dich fernhalte“ [DK I 233]. 159 Erstmals zeichnete I. Hadot (1969) 9-38, in ihrer Untersuchung zur griechischen und römischen Seelenleitung die alte griechische Tradition eines Lehrer-SchülerVerhältnisses, nach. Ein Schüler suchte sich einen persönlichen Lehrer, der ihn philosophisch anleiten sollte; weniger, um diskursives Wissen zu lernen als, um sich bestimmte Denk- und Charaktereigenschaften anzueignen. 160 Procl. in Prm. 665.26 (Cousin): κρῖναι δὲ λόγῳ: „mit dem Denken bring zur Entscheidung …“ [DK I 235]. Besprochen in: 5.4.
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Genau gesehen beinhaltet Parmenides’ Schrift zwei verschiedene Momente in der Lehrer-Schüler Konstellation: Einerseits ein passives Moment – insofern der Kuros zur Göttin hingeführt wird und angeleitet wird, Lerninhalte aufzunehmen – und andererseits ein aktives – insofern der Kuros im Prooimion erstens aus eigenem Willen den Lernweg geht, zweitens die Wissenssuche als jemand antritt, der bereits ein Wissender ist, und weil er sich drittens mit dem Gelernten auseinandersetzen und es kritisch prüfen soll. Die weiter unten besprochenen Einübungen in die Seinserkenntnis wären ohne die bewusste Anstrengung und Ausdauer des Kuros ergebnislos. Die Wissenssuche ist notwendigerweise aktiv. Nun kündigt sich eine verwirrende Anleitung beim Abschluss der Rede über die Wahrheit an. Beim Übergang im Lehrgedicht vom ersten zum zweiten Teil bemerkt die Göttin, der Kuros solle ihrer nicht vertrauenswürdigen Rede über sterbliche Dinge zuhören, damit er unübertrefflicher Bester sei.161 Auf diese Zeilen folgt eine Lehre, die nicht mehr in Anredeform formuliert ist, sondern als unpersönliche Anreihung von Tatsachenwissen. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um die wissenschaftliche Erkenntnis des Parmenides handelt. Damit stellt sich die Frage: Ist die Göttin im zweiten Teil des Lehrgedichtes hinfällig geworden, oder besagt diese Entwicklung lediglich, dass Parmenides durch die gewonnene Erkenntnis die Welt nun autonom verstehen kann? Damit wäre in der Tat die Funktion der Göttin erfüllt. Zusammengefaßt: Parmenides stellt sich im Motiv einer Lehrer-Schüler Situation, im Weg zur Göttin, in ihren Instruktionen wie in ihrer letztlichen Entbehrlichlichkeit, im Gegensatz zu Heraklit, keineswegs als Autodidakt dar. Doch durchbricht der Kuros durchgehend die hierarchische LehrerSchüler-Situation, nicht zuletzt dann, wenn er mit seinem Logos den Inhalt des Logos der Göttin erkennt.162 Indem das Lehrgedicht eine Entwicklung vom schülerhaften Lernen zur kritischen Analyse sichtbar macht, festigt sich die Idee, dass Parmenides fassbar ein Lerngeschehen schildert; eine Entwicklung vom Nichtwissen zum 161 B 8.61: Simp. in Ph. 38.39.9 (Diels): ὡς οὐ μή ποτέ τίς σε βροτῶν γνώμῃ παρελάσσῃ: „So ist es unmöglich, dass dir irgendeine Ansicht der Sterblichen jemals den Rang ablaufe“ [DK I 240], prägnanter formuliert: „for no mortal ever to be able to overtake you in the conclusion he has come to“ [Übers. Frère/O’Brien (1987) 45]. Vgl. ausführlicher zum Thema im Abschnitt 4.6. 162 Im Laufe dieser Arbeit soll diskutiert werden, inwiefern der Kuros, als jemand, der mit seinem eigenen Logos dem Logos der Göttin begegnet. Vgl. die Diskussion im Abschnitt 7.6.
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höchsten Wissen der Göttin. Schließlich ist es einer guten Lehrer-SchülerSituation eigen, dass der Lehrer am Ende abkömmlich und der Schüler sein eigener Meister wird; letztlich jemand, der andere Schüler anleitet.
2.6 Zusammenfassung Das Lehrgedicht stellt nicht einen Dialog im platonischen Sinne oder eine Auseinandersetzung zwischen dem Kuros und der Göttin dar. Im Grunde genommen ist der erste Teil des Lehrgedichtes die Wiedergabe eines Monologes. Es ist ein Bildungsgeschehen, in dem der Göttin die Aufgabe zukommt, den Kuros zu instruieren, damit er zur Erkenntnis der Wahrheit gelange. Der Kuros steht ihr vorderhand als passiver Zuhörer gegenüber. Die Untersuchungen in diesem Kapitel haben indes genauer bestimmt, dass die Rollenverteilung zwischen der Göttin und dem Kuros eine didaktische Funktion erfüllt. Der erste Teil dieses Kapitels befasste sich mit Überlegungen zur Vorstellung der Göttin im Lehrgedicht. Ihre Aufgabe im Bildungsgeschehen ist komplex und ihr Bild scheint wesentlich kulturell vorbestimmt zu sein. Dass eine Göttin den Kuros auf der Wissenssuche anleitet, liefert nicht zuletzt einen Hinweis auf die tiefe Verwurzelung des Philosophen in seiner Kultur. Gemäß der vorliegenden Interpretation führt sie ihn zur Bildung seines philosophischen Denkens. In der scheinbar hierarchischen Beziehungsstruktur zwischen dem Philosophen und der Göttin leitet die Göttin den Kuros an, berät und warnt ihn. Zwar scheint letzterer in erster Instanz passiv zu sein, doch bezeugt bereits die erste Zeile des Prooimions, dass sich der Kuros willentlich in diejenigen Gefilde tragen lässt, von denen er Wissensgewinn erwartet. Insofern macht auch die Passivität des Kuros einen notwendigen Teil der Erkenntnissuche aus. Schließlich kommt er nicht unbedarft daher, sondern geht als bereits Wissender den Weg der Suche nach Erkenntnis.163 Während die Göttin dem Kuros zu Beginn ihrer Anweisungen numinos gegenüber steht, wird sie, nachdem er der Kognition des Seienden näher gekommen ist, überwindbar.164 Denn Passivität und Autonomie machen 163 Vgl. die Erläuterungen oben zu B 1.1. 164 Schließlich bezeugen die vielen Imperative, die wie ein Geländer den Weg der Forschung säumen und fest umrissen die Situation einer Lehrer-Schüler Verbindung abbilden, eine Beziehung, in der die Göttin eindeutig keine Vision vermittelt, sondern den Kuros anleitet, eigenständig zu forschen.
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zwei unabdingbare, sich ergänzende Aspekte auf dem Weg zur Erkenntnis aus. Der Kuros soll lernen, mit seinem Logos den Logos der Göttin zu prüfen, und kann mit Logos Sein erkennen. Im Laufe des Lehrgedichtes wird klar, dass der Kuros autonom ist und selbst das Wissen der Göttin lehren kann. Didaktisch ist freilich nicht nur die besondere Beziehung zwischen Kuros und Göttin im Rahmen von Parmenides’ Schrift, sondern zugleich die Inszenierung des gesamten Lerngeschehens. Denn genauso wie es dem Kuros durchgehend freigegeben ist, ob und inwiefern er mit der göttlichen Darstellung einig geht, bietet sich für die damaligen Zuhörenden die Möglichkeit, sich kritisch gegenüber den Eröffnungen der Göttin beziehungsweise für oder gegen Parmenides’ neue Ideen zu entscheiden. In den nächsten Kapiteln sollen die Lernetappen für den Kuros systematisch thematisiert werden. Den Aufbruch zum Lerngeschehen signalisiert die Göttin bereits in den letzten Versen des Prooimions mit der Erklärung, Parmenides solle lernen, und zwar alles. Das nächste Kapitel soll sich mit diesem Lernversprechen befassen.
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Der Beginn der Lehre: Die Wegweisung in B 1.28-30
3.1 Einleitung
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ieses Kapitel handelt vom Lernversprechen der Göttin am Ende des Prooimions. Ihr Auftrag, der Kuros solle alles lernen, nämlich die unveränderbare Wahrheit der Göttin und die Meinungen der Sterblichen, bedeutet weniger, dass der Kuros inhaltlich alles wissen soll, als vielmehr, dass er verschiedene Erkenntnisarten meistern soll. Er soll wissen, dass es ein ungenaues Alltagswissen gibt und eine höhere göttliche Erkenntnis. Es geht mithin um die menschliche Erkenntnisfähigkeit. ‘Wissender’ und ‘Sterblicher’ zu sein, entspricht gemäß Parmenides nicht verschiedenen Menschen, sondern unterschiedlichen Stadien in der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. In der hier vorgeschlagenen Lektüre des Lehrgedichtes sollen sie als Stufen des menschlichen Erkenntnisvermögens untersucht werden. Ich schlage im Folgenden eine Lektüre des Lernauftrages in den Versen 1.28-30 vor, nach der Parmenides’ Beschreibung der Sterblichen in erster Linie in ihrer didaktischen Funktion für mögliche Schüler relevant ist und zwar als Diagnose des Alltagszustandes des Menschen. In Übereinstimmung mit dieser Lesart weist die Beschreibung des Kuros in prognostischer Weise auf die Möglichkeit des Menschen, göttliche Erkenntnis gewinnen zu können. Der Mensch aber kann gemäß einer pädagogischen Lektüre des Lehrgedichtes potentiell beides: Er mag als Sterblicher im Kreise der Gewohnheiten gefangen bleiben oder als Kuros die Seinserkenntnis gewinnen. Parmenides formuliert hiermit ein dynamisches Menschenbild und erneuert auf kreative Weise überlieferte Denkstrukturen. Denn erstens widerruft er – im Bild des Kuros – diejenige Sichtweise, nach der nur Götter und Seher die höchste Wahrheit erkennen können165 und vermeidet zweitens – mit dem Auftrag auch die sterblichen Meinungen zu kennen – die Überheblichkeit all jener, die eine bestimmte Form von Wissen erlangt haben und die prinzipiell alles Wissen, das nicht ihrer neu gefun-
165 Vgl. Xenophanes B 34.
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denen Wahrheit entspricht, verachten.166 Somit weist der Lernauftrag der Göttin auf den Zustand des Menschen, der die Wirklichkeit falsch bestimmen oder aber die Wahrheit entdecken kann.
3.2 Der Auftrag zu lernen Der Kuros hat sein Reiseziel erreicht. Die Göttin hat ihn willkommen geheißen und mit dem Auftrag, er solle alles lernen, ihre Anweisungen – die den Hauptteil des Lehrgedichtes ausmachen – begonnen.167 Ganze drei Zeilen am Ende des Prooimions umschreiben inhaltlich das Lernversprechen der Göttin. Barnes zufolge sind es die eigenartigsten Verse in Parmenides’ gesamtem Werk.168 In der Tat verwundert die Wortwahl in den letzten Zeilen des Prooimiums. Hier geschieht der Übergang von der mythischen Reise des Kuros in die Gefilde der Göttin zur philosophischen Lehre. Bis jetzt schien sich der Text in einem traditionellen Vorstellungsrahmen zu bewegen. Nun aber konfrontieren ungewohnte Worte und Ausdrücke die Zuhörenden. Wen überhaupt spricht Parmenides an? Die in Hexametern vorgeführte Bilderwelt des Prooimions konnte von vielen Menschen verstanden werden; doch ist anzunehmen, dass die darauf folgende philosophische Lehre höchstens diejenigen ansprach, die mit dem Kuros den Weg der Erkenntnissuche gehen konnten.169 Die diesen Wendepunkt im Lehrgedicht kennzeichnenden drei Verse lauten:
166 Diese Sichtweise lässt sich zum Beispiel in Heraklits Fragmenten nachweisen. Siehe z.€B. 22 B 42 gegen Homer und Archilochos; 22 B 40 mit der Kritik gegen Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios; 22 B 57 gegen Hesiod; 22 B 81 mit dem Insult gegen Pythagoras; u.s.w. Diese Thematik wird ausführlich in Stemich Huber (1996) Abschnitt 5.3 besprochen. 167 Ich nenne „Hauptteil“ denjenigen Teil des Lehrgedichtes, der als Anredeform gehalten ist und diskutiere an dieser Stelle nicht, inwiefern die Zeilen, die auf B 8.52 folgen, als Instruktion der Göttin oder ausdrücklich als Parmenides’ Denken zu verstehen sind. 168 Barnes (1982) 156: „Its last four lines, however, call for comment; for they present one of the strangest features of Parmenides’ work.“ 169 Vgl. in diesem Sinne Diels (1897) 23: „Parmenides spricht zu Vertrauten (…), denen er die Grundlinie seines Systems ans Herz legt. Es ist der von seiner Spekulation völlig durchdrungene Lehrer, der sich an seine Jünger wendet.“
Der Beginn der Lehre: Die Wegweisung in B 1.28-30
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(…) Χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι ἠμὲν ἀληθείης εὐπειθέος ἀτρεμὲς ἦτορ ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής.170 „(…) Du musst aber alles erfahren, sowohl der überzeugenden Wahrheit unbewegtes Herz, als auch der Sterblichen Meinungen, denen nicht innewohnt wahre Überzeugung.“171 Nach dem generellen Auftrag in B 1.28, der Kuros solle alles lernen, zergliedern die beiden darauf folgenden Verse die Aufforderung inhaltlich, nämlich der Kuros solle zwei Formen von Wissen – die wahre Erkenntnis und die sterblichen Meinungen – lernen. Die Verse am Ende des Prooimions zeigen eindeutig, dass Parmenides’ Schrift ein Bildungsgeschehen darstellt. Die Verben πυθέσθαι in B 1.28 und μαθήσεαι in B 1.30 weisen auf eine weitgefasste Form des Lernens hin, was durch den Bedeutungsunterschied der beiden Verben unterstrichen wird. Während das erste Verb eher bedeutet, Wissen aufgrund von Erfahrung zu sammeln, besagt das zweite, Verstehen, Lernen, entstehe durch Urteilen.172 Die Lernaufforderung an den Kuros wiederholt sich im Vers B 8.52 mit μάνθανε, lerne! Dieser Lernauftrag bestimmt, der Kuros solle ἀκούων, hörend lernen.173 Hiermit sind die Aufgaben für den Kuros programmatisch umschrieben: Er soll ein weitgefasstes Lernprogramm aufgrund einer Methode erfüllen, die verschiedene Formen des Lernens umfasst. Vorerst liegen die beiden Lernbereiche – ἀλήθεια und δόξα – nebeneinander, das heißt außer einer hierarchisch höherstehenden Bewertung der Wahrheit gegenüber den Scheinmeinungen lässt die Göttin keinerlei Verbindung zwischen ihnen durchblicken. Dass sie jedoch in Zusammenhang stehen, soll im Laufe dieses Kapitels klar werden. Zuvor zum ersten Vers des Lernauftrages.
170 28 B I 28-30: S. E. M. VII 111 [DK I 230]. Von O’ Brien/ Frère (19871) 7, übernehme ich die Kleinschreibung von ἀλήθεια [anders: DK]. 171 Übers. Engelhard (1996) 17. 172 Vgl. ausführlich Kenig Curd (1992) 129. 173 Vgl. Simp. in Ph. 30.19 (Diels): μάνθανε, κόσμον ἐμῶν ἐπέων ἀπατηλὸν ἀκούων: „lerne (…) indem du meiner Worte trügliche Ordnung hörst“ [DK I 239].
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3.3 Die zwei Bereiche: „Du musst alles erfahren“ (B 1.28) Nachdem die Göttin dem Kuros versichert hat, dass ihn ein gutes Schicksal auf den Weg gesandt hat,174 kündigt sie den Lernauftrag mit der unpersönlichen Form an: χρεώ, es ist notwendig.175 Obwohl χρεώ hier üblicherweise dahingehend übersetzt wird, dass der Belehrung der Göttin Nachdrücklichkeit verliehen wird,176 ist es meines Erachtens sinnvoller, mit Mourelatos das in der Vorsokratik oft angewandte Wort177 mehr als einen dem Individuum auferlegten Zwang im Sinne einer Übereinstimmung zu lesen. Gemäß Mourelatos’ Untersuchungen beinhaltet χρή – im Unterschied zu δεῖ, das eine objektive, vordringliche Notwendigkeit bedeutet – die subjektive Teilnahme am Geschehen, erfordert also Adaptation oder Übereinkunft im Sinn von „ich meine, dass es angemessen ist oder sich geziemt (das zu tun, zu denken oder zu sagen, was χρή fordert).178 In der Folge soll eine Lesart vorgezogen 174 B 1.26-7: S. E. M. VII 111: χαῖρ’. ἐπεὶ οὔτι σε μοῖρα κακή προὔπεμπε νέεσθαι↜/ τήνδ’ὁδον (…): „Freude dir! Denn keinerlei schlechte Fügung entsandte dich, diesen Weg zu kommen (…)“ [DK I 230]. 175 Der Begriff kommt wiederholt im Lehrgedicht vor. So in B 1.32: χρῆν δοκίμως (…): „Du wirst lernen“ [DK I 230]; in B 2.5: (…) τε καὶ χρεών ἐστι μὴ εἶναι: „(…) dass Nichtsein erforderlich ist“ [DK I 231]; in B 6.1: χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν (…): „Nötig ist zu sagen und zu denken (…)“ [DK I 232]; in B 8.9: (…) τί δ’ἄν μιν καὶ χρέος ὦρσεν: „ (…) Welche Verpflichtung hätte es auch antreiben sollen?“ [DK I 236]; in B 8.11: οὔτως ἢ πάμπαν πελέναι χρεών ἐστιν ἢ οὐχι: „So muss es also entweder ganz und gar sein oder überhaupt nicht“ [DK I 236]; in B 8.44-45: (…) τὁ γὰρ οὔτε τι μεῖζον / οὔτε τι βαιότερον πελέναι χρεόν ἐστι τῇ ἢ τῇ: „Es darf ja nicht da oder dort etwas größer / oder etwas schwächer sein“ [DK I 238-9]; und in B 8.54: τῶν μίαν οὐ χρεών ἐστιν (…): „von denen man freilich eine nicht ansetzten sollte (…)“ [DK I 239]. 176 Der Begriff kann, um das Verpflichtende, die Unbedingtheit einer Sache zu unterstreichen, eingesetzt werden. Schließlich impliziert er auch, dass dasjenige, was auf χρεώ folgt, unvermeidlich wahr ist. 177 Vgl. DK III 472. 178 Vgl. Mourelatos (1970) 277-8. Siehe auch Mourelatos (1970) App. III, 277-8: „(…) χρή is „subjective“ and δεῖ is „objective“; the former involves an element of self interest, whereas the latter is akin to νόμος, „law, decree“; with χρή one becomes obliged to enter actively into the practice of something, with δεῖ one passively submits“. Vgl. auch Bernadete (1965) bes. 290-5, worin am Beispiel platonischer Dialoge gezeigt wird, dass δεῖ nicht nur ein gesetzlicher Begriff ist, sondern auch göttliche Unabdingbarkeit meinen kann, während χρή bei Platon mehrheitlich im Kontext menschlicher Meinungen Anwendung findet.
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werden, die in χρή eine Übereinkunft zwischen dem Kuros und der Göttin sieht, da unsere Untersuchungen im vorigen Kapitel erwiesen haben, dass der Kuros sich willentlich auf den Weg zur Göttin begibt und, dass er wissend auf Wissenssuche geht. Mit der vorgeschlagenen Lesart von χρή im Sinne eines notwendigen Einverständnisses des Kuros zum Lernauftrag fügt sich das Lernversprechen der Göttin nahtlos in das didaktische Programm des Philosophen. Nun stellt sich die Frage nach dem Inhalt des Lernauftrages. Was soll der Kuros wirklich lernen? Was bedeutet die Aussage im Vers B 1.28, der Kuros solle „alles“ lernen? Mit den zwei nachfolgenden Zeilen, er solle die Scheinmeinungen der Sterblichen und die Wahrheit kennen lernen, besagt die Göttin nicht nur, dass der Kuros zwei unterschiedliche Wissensbereiche meistern soll, sondern impliziert zugleich, dass er über das Scheinwissen der Sterblichen und über das höhere Wissen der Göttin verfügen soll. Genauer gesagt, informiert der Lernauftrag nicht nur inhaltlich über Wissensmaterial, sondern auch über den notwendigen epistemischen Zustand, den die zwei Bereiche involvieren. Ich werde im Laufe dieses Kapitels genauer bestimmen, was mit dieser Feststellung gemeint ist. Zweitens stellt sich die Frage, welchen Zweck der doppelte Lernauftrag erfüllen soll. Warum soll Parmenides neben der ἀληθείης εὐπειθέος ἀτρεμὲς ἦτορ auch die βροτῶν δόξας wissen und sich mithin zusätzlich zur Wahrheit der Göttin auch diejenige Perspektive aneignen, die ihm sowieso schon geläufig ist?179 Wie gesagt, fasst das Lernziel πάντα, alles ins Auge: Das Wort πάντα weist auf die Formel ‘Wahrheit und Scheinmeinungen’, womit die Göttin festlegt, dass der Kuros einen in sich widersprüchlichen und zugleich komplementären Wissensbereich meistern soll. Liest man Parmenides’ Schrift als öffentlich vorgetragenes Lehrgedicht, dann fällt auf, dass die Zuhörenden des Dichterphilosophen vom Anfang des Vortrages an in einer Gegensatzspannung eingefangen sind, die sich über weite Teile des Lehrgedichtes erstreckt.180 Diese Spannung wird von Parmenides genutzt, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörenden zu halten. 179 Vgl. zur Diskussion Cordero (1997) 171-214, der ein Kapitel seiner Parmenidesausgabe der Diskussion der Gegensatzspannung zwischen Wahrheit und Scheinmeinungen widmet. Der Autor vertritt die Meinung, dass es zwar für Parmenides nur eine Wirklichkeit gibt, doch verschiedene Arten, Inhalte dieser einen Wirklichkeit wahrzunehmen (vgl. bes. S. 212-3). 180 Letztlich konkretisiert sich dieser Gegensatz nochmals in B 8.51: Im Übergangsmoment von der Darstellung der Wahrheit zu demjenigen der Meinungen: Simp.
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In den folgenden Abschnitten werde ich die wichtigsten Begriffe aus dem Vers 1.28 diskutieren, angefangen mit demjenigen Verb, das den Lernauftrag zuerst ausdrückt.
3.3.1 Πυθέσθαι: Mehr als Lernen allein Die Gedichtzeile B 1.28 endet mit der Verbform πυθέσθαι, (du sollst) lernen, hören oder erfahren.181 Der Bedeutungsgehalt von πυνθάνομαι umfasst Formen der Wissensaneignung, die von Lernen durch Hörensagen bis zu Erforschen reichen. Genau gesagt impliziert das Verb, dass der Kuros sich rationales, diskursives Wissen aneignen soll, das sowohl durch passive Lernformen und als durch aktives Forschen entstehen kann.182 Das Verb ist seit der Odyssee geläufig. Es ist mit πίστις, Überzeugung, verwandt.183 Die Wortetymologie weist darauf hin, dass das Verb inhaltlich mit der Konnotation von aufmerksam, wach sein einhergeht, was vermittelt, dass die Göttin ein Lernen intendiert, das nicht aufgrund von Traum oder Trance zu gewinnen ist, sondern einen aufmerksamen, klaren Geist verlangt. in Cael. 558.5-6 (Heiberg): „Damit beschließe ich für dich mein verlässliches Reden und Denken über die Wahrheit. Aber von hier ab lerne die menschlichen Schein-Meinungen kennen (…)“ [DK I 239]. 181 Zu πυνθάνομαι vgl. LSJ 1554: „learn whether by hearsay or by inquiry“, bedenken, erfahren. DK und Engelhard übersetzen: erfahren. O’ Brien: „you must hear about all things“; Frère „(Il faut que tu sois) instruit“; Coxon: „You must be informed.“ Die verschiedenen Übersetzungen machen deutlich, dass das geforderte Lernen verschiedene Formen der Wissensaneignung bedeuten soll. 182 Das Verb πυνθάνομαι ist bei den Vorsokratikern selten: Neben den zwei Parmenides-Stellen listet DK III 380, gerade 6 weitere Textstellen auf, nämlich Emped. 31 B 2.9 und 31 B 112.11; Thrasim. 85 B 1; Mus. 2 B 7; Gorg. 82 B 11a; Krit. 88 B 44, in denen das Verb vorkommt. 183 Vgl. Frisk (1973 II) 625, wonach πυνθάνεσθαι auf seine Verwandschaft mit mehreren Sprachen weist; so mit dem aind. Bodhati: wachen, aufmerksam sein und dem indogerm. *bheudh-e: nimmt wahr, ist aufmerksam. Frisk weist zudem auf die formale Entsprechung des Wurzelpräsenz von πεύθομαι mit der Schwachstufe πίστις, Vertrauen, verwandt und mit dem aind. buddhi, Einsicht, Verstand, Geist. Der Begriff kommt im Lehrgedicht in B 1.30 vor: S. E. M. VII 111: „(…) wie auch der Sterblichen Schein-Meinungen, denen nicht innewohnt wahre Gewissheit (πίστις ἀληθής)“ [DK I 230]. Vgl. auch B. 8.28. Vgl. Simp. in Ph. 39.40: „Denn Enstehen und Vergehen (…) verstieß die wahre Überzeugung (πίστις ἀληθής)“ [DK I 237]. In letzteren Textstellen steht der Begriff im Zusammenhang mit Wahrheit, nämlich als wahre Überzeugung.
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Zudem bestimmt die Göttin in der Zeile B 1.28 nochmals durch das Wort πάντα, das für den Lerninhalt steht, dass der Kuros ein in jedem Sinne weit gefasstes Lernprogramm vor sich hat.184
3.3.2 Der historische Hintergrund: Kann man überhaupt etwas wissen? Göttliche Wahrheit zu erkennen war in der epischen Tradition nicht jedem Menschen, sondern einzig Göttern und inspirierten Menschen gegeben, die das Privileg des Hellsehens besaßen.185 Doch auch die Aussagen der Götter – durch Musen den Dichtern vermittelt – waren nicht allezeit grundsätzlich verbindlich. Hesiod erwägt bereits, dass die Musen, für Menschen ununterscheidbar, beliebig Wahrheit oder Schein verkünden können.186 Während solches Wissen in der homerischen Literatur noch nicht angezweifelt wird und den Menschen alles, was Musen verkünden, wahr ist, beginnen zu Hesiods Zeit die Menschen das Vertrauen in die absolute Verlässlichkeit der Musen in Frage zu stellen und sind dennoch nicht in der Lage, sichere Erkenntnis zu erlangen. Deshalb respektieren sie weiterhin ihren Wissensvorsprung. Musen galten weiterhin als einzige Informationsquelle für die Wahrheit der Dichter. Um diese Wahrheit zu verkünden, entblößte sich der Dichter seiner menschlichen Beschränkungen und sprach gleichsam mit den Worten der Muse.187 Das Hören vertrauenswürdiger Tatsachen (von Göttern 184
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Schließlich vgl. B 8.12: Simp. in Cael. 137.3-6 (Heiberg): „Auch wird ja die Kraft der Überzeugung (πίστις ἰσχύς) niemals einräumen, aus Nichtseiendem könne irgend etwas anderes als eben dieses hervorgehen“ [DK I 236]. Dass ‘Lernen’ im Lehrgedicht einen weiten Bedeutungsgehalt innehat, bestätigt sich nicht zuletzt anhand des Themas der Reise, ὁδός, zuerst im Prooimion und erneut in B 2. Das Wort ὁδός verdeutlicht bildhaft, dass derjenige, der das Wissen der Göttin erlangen will, nicht nur Wissen ansammeln kann, sondern einen Lernweg gehen muss. Die Thematik des Weges als Lernprozess wird weiter unten, im Abschnitt 8.2, nochmals diskutiert. Das Verb kommt des weiteren in B 10.4 vor, als Erkunden im Rahmen des Doxateils. Vgl. Clem. Al. Strom. V, XIV 138.1: „(…) und das umwandernde Wirken und Wesen des rundäugigen Mondes wirst du erkunden (πεύσηι)“ [DK I 241]. Zur Wissenssuche vor Parmenides vgl. Détienne (1990) 145-7; Kahn (1968/ 1969) 705ff. Vgl. Hes. Th. 27-8: „Wir wissen trügenden Schein in Fülle zu sagen, dem Wirklichen ähnlich; wir wissen aber auch, wenn es uns beliebt, Wahres zu künden“ [Übers. Marg]. Vgl. Hom. Il. II 484-5: „Göttinnen seid ihr, allgegenwärtig und alles erkennend“.
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oder Musen erzählt) zählte als persönliche Erfahrung. Wenn ein Dichter Musen und Götter gehört hatte, dann hatte er ihr Wissen erlangt, weil er dabei gewesen war: Er hatte seine Kenntnisse durch persönliche Sinneserfahrung erreicht.188 Nun formulierten – im Gegensatz zu den Dichtern und Rhapsoden – vorsokratische Philosophen ihre Bedenken zur epischen Vorstellung von Wahrheit. Xenophanes Kritik an der traditionellen Beschreibung der Götter wurde in vier Zeilen tradiert: Er tadelte, dass Menschen die Götter nach menschlichem Muster erdichteten189 und entlarvte die Charakterisierung der Götter als menschliche Projektion. Xenophanes konzipiert seinen Gottesbegriff gerade in polemischer Abgrenzung gegenüber den tradierten mythischen Göttergestalten. Dessen ungeachtet bleibt er der traditionellen Sichtweise verpflichtet, wonach einzig der Gott Wahres weiß,190 während der Mensch nicht wahrer Einsicht fähig ist, weil er bloß Scheinwissen hat.191 Demgegenüber postuliert Heraklit, wahre Erkenntnis sei Menschen möglich; allerdings nur demjenigen, der ein Weiser wird. Heraklits Fragmente betonen die Möglichkeit einer introvertierten Suche nach dem tief in der ψυχή verborgenen λόγος, durch welchen erst die Gesetzmäßigkeit des kosmischen Logos erkannt werden kann – ein im damaligen Denkraum ungewöhnlicher 188 Vgl. Hussey (1990) 12-14. 189 Vgl. 21 B 15: Clem. Al. Strom. V 110: „Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte“ [DK I 132-3]. 190 Vgl. 21 B 23: Clem. Al. Strom. V 109: „Ein einziger Gott unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch in Gedanken“ [DK I 135]. 191 Vgl. 21 B 34: S. E. M. VII 49.110: „Und das Genaue freilich erblickte kein Mensch und es wird auch je niemand sein, der weiß (erblickt hat) in bezug auf die Götter und alle Dinge (…); denn selbst wenn es einem in höchstem Maße gelänge, ein Vollendetes auszusprechen, so hat er selbst trotzdem kein Wissen davon; Schein(meinen) haftet an allem“ [DK I 137]. Menschliches Wissen gründet, gemäß Xenophanes auf Erfahrung, was sich etwa in 21 B 38 zeigt: „Wenn Gott nicht den gelblichen Honig geschaffen hätte, so würde man meinen, die Feigen seien viel süßer (als sie uns jetzt erscheinen)“ [DK I 138]. Dies besagt, der Maßstab für unser Wissen (etwa über das Süßeste) bemisst sich auf unserer Erfahrung, ist also kein absoluter Maßstab. Vgl. zur Diskussion Hussey (1990) 19: „‘opinion’ seems at first sight to be spoken of, remarkably, as a human artefact“.
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Ansatz.192 Wie bereits erwähnt, durchbricht auch Parmenides die Trennlinie zwischen göttlichem und menschlichem Wissen, denn der Kuros soll lernen, das Wissen der Göttin vernünftig zu kritisieren.193 Ich komme damit auf die Diskussion der inhaltlichen Dimension der geforderten zwei Erkenntnisbereiche im Prooimion.
3.3.3 Die beiden Lernbereiche Die Verse B 1.29-30 besprechen nicht den Inhalt von ‘Wahrheit’ und ‘Meinungen’. Denn der Lernauftrag der Göttin bietet epistemologisch relevante Informationen nur insofern die Wortwahl von B 1.29 und B 1.30 ankündigt, dass der Kuros die Haltung, die ‘Scheinmeinungen’ und ‘Wahrheit’ ausmachen, erkennen soll. Anders gesagt thematisiert der Lernauftrag weniger den Inhalt von ‘Wahrheit’ oder δόξαι, als vielmehr den für die Erkenntnis der δόξαι oder der Wahrheit notwendigen Geisteszustand. In diesem Sinne werde ich in den folgenden Abschnitten den Lernauftrag von der Perspektive des Menschen her besprechen, der Scheinwissen oder Wahrheit erkennt. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn die Göttin verkündet, den Annahmen der Sterblichen läge keine wahre Gewissheit zugrunde194 und sie führten im Kreise herum,195 so werde ich die Sache von der Seite des Menschen angehen, dessen Denken sich im Kreise dreht und das als solches nicht überzeugen kann. Haben wir einmal den Standpunkt gewechselt, dann verlegt sich das Schwergewicht der Diskussion – von der Bedeutung der δόξαι – auf die in Scheinmeinungen verstrickten Menschen und von der Wahrheit auf die, die 192 Hierzu muss sich der Alltagsmensch von seiner eingeengten Sichtweise befreien, um sich durch eigene Anstrengung die göttliche Sichtweise anzueignen. Heraklit sagt allerdings eindeutig, der Mensch sei fähig, wahre Erkenntnis zu erlangen. Vgl. die Kap. 5 und 7 in Stemich Huber (1996) 131ff. und 169ff. 193 Anders drückt das Thema Trabattoni (1998), 18-9, aus. Der Autor bestimmt, Parmenides habe auf polemische Art gegen Xenophanes festgelegt, dass der Mensch nicht nur Alltagswissen haben, sondern auch höheres Wissen erlangen kann. 194 Vgl. B 1.30: „(der sterblichen Schein-Meinungen), denen nicht innewohnt wahre Gewissheit (πίστις ἀληθής)“ [DK I 230]. 195 Vgl. B 6.9: Simp. in Ph. 78.4: (…) πάντων δὲ παλίντροπός ἐστι κέλευθος: „(…) und für die es bei allem eine gegenstrebige Bahn gibt“ [DK I 233]. Der Aspekt einer in sich zurückdrehenden Wahrheit ist besonders in der Übersetzung von O’Brien (19871) 25, hervorgehoben: „ of all ‹these people› the path is one that turns back upon itself.“
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Wahrheit der Göttin erkennenden Menschen. Die folgenden Abschnitte dieses Kapitels sollen aufzeigen, wie Parmenides im Lehrgedicht die Denk- und Wissensstrukturen des Alltagsmenschen sowie die zur Seinserkenntnis notwendige geistige Haltung beschreibt.196 Infolge der hier vorgeschlagenen Lesart, die Doxai aus der Perspektive der in Meinungen verstrickten Menschen und Wahrheit aus der Perspektive desjenigen, der Wahrheit erkennt, untersucht, und aus der Interpretation, die nach dem geistigen Zustand des Menschen fragt, der in δόξαι oder ἀλήθεια begriffen ist, umfasst der Auftrag der Göttin, πάντα, alles zu lernen, mehr als gleichsam wahre oder falsche ἱστορίη, selbsterkenntnis-theoretische Elemente.
3.3.4 Erstes Zwischenergebnis Der Lernauftrag von B 1.28 beinhaltet, dass Parmenides sowohl ἀλήθεια als auch die βροτῶν δόξαι wissen soll. Gemäß dem vorgeschlagenen Verständnis von χρεώ, das den Beginn der Instruktionen der Göttin kennzeichnet, wird einerseits deutlich, dass der Kuros nur so weit lernen kann, als er mit der angebotenen Lehre übereinstimmt und dass er andererseits notwendigerweise mit der Lehre der Göttin übereinstimmen muss. Hiermit unterstreicht sich nochmals die im vorherigen Kapitel festgestellte „aktive Passivität“ des Kuros, die nicht nur als eine zur Erkenntnissuche notwendige Gratwanderung zwischen Handeln und Geschehenlassen zu deuten ist. Denn der mit χρεώ beginnende Lernauftrag verweist zugleich auf die weiter oben genannte Feststellung, dass der Wissensuchende bereits Wissender ist197 und bestätigt damit die didaktische Intention der Route des Kuros. Dasjenige, was er lernen soll, betrifft ein Wissen, das sich nicht unter den Sammelbegriff ἱστορίη subsumieren lässt. Nicht zuletzt bestimmt sich durch die Wortetymologie des Verbs πυνθάνομαι, dass der Kuros aufmerksam und klaren Geistes forschen muss, um erfolgreich die Wahrheit der Göttin erkennen zu können. 196 Die hier vorgeschlagene Lesart will vor die platonische Reduktion der parmenideischen Lehre auf eine bloß ontologische Interpretation des Seienden greifen. Vgl. Brisson (1990) 687: „Mais sur quoi porte le Poème? Depuis Platon et Aristote, on n’a voulu retenir que la dimension ontologique du discours de la déesse (…).“ 197 Vgl. Detienne (1990) 138: „Par tous ces traits, Parménide se présente sous le masque de l’Élu, de l’homme d’exception: il est celui qui sait.“
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In der Aufgabe, πάντα, alles zu lernen, durchbricht Parmenides zwei Mal die damals etablierten Gedankenmuster. Erstens überschreitet er die traditionelle Einteilung, nach der nur Götter und eine Elite von Sehern und Dichtern göttliche Wahrheit erkennen können,198 und zweitens verleiht er dem Bereich des Lernens außerhalb von ‘Wahrheit’ im Bereich der Doxa eine neue Bedeutung.199 In den folgenden Abschnitten werde ich die Aufmerksamkeit von den Objekten der menschlichen Erkenntnis auf den Menschen verlagern, der über Wahrheit oder Meinungen verfügt. Welchen Zustand hält Parmenides dafür verantwortlich, dass der common man die Wirklichkeit fehlinterpretiert und die unglaubwürdige Wahrheit als wahr bestimmt? Genauso werde ich weiter unten die Lehre der Göttin auf den zur Seinserkenntnis notwendigen Zustand untersuchen. Zunächst also soll der erste Lernbereich diskutiert werden, derjenige, der den Weg der Wahrheit nennt.
3.4 Der erste Bereich: das unbewegte Herz der Wahrheit (B 1.29) Mit dem Ausdruck ἀληθείης εὐπειθέος ἀτρεμὲς ἦτορ, das unerschütterliche Herz der überzeugenden Wahrheit, umschreibt der Eleate das Ziel der Erkenntnissuche für den Kuros. Diese poetische Umschreibung der Wahrheit enthält relevante Informationen über das anvisierte Lernziel, die aber in den eingesehenen Kommentaren nur vereinzelt diskutiert werden.200
198 Vgl. 31 B 34, besprochen im Abschnitt 2.3.2 (Ende), Anm. 134, S. 69. Decleva Caizzi (1974) 161, diskutiert, wie der Mensch mit Xenophanes gesprochen im Rahmen des „modo esclusivamente umano“ akzeptieren kann, ein relatives Wissen zu erreichen. Doch Parmenides postuliert, dass der Mensch wirklich das Wissen der Göttin gewinnen kann. Vgl. in diesem Sinne Trabattoni (1998) 18: „(…) l’intero proemio del poema di Parmenide costituisce il rovesciamento speculare della tesi senofanea. Contro la separazione tra il sapere divino e il sapere dell’uomo (…), la dea mostra al discepolo che esiste una via capace di condurre l’uomo verso quel sapere negatogli da Senofane.“ 199 Panchenko (1994) 35, und ders. (1997) 175, diskutiert in diesem Sinne die wichtige Rolle der kosmologischen Spekulationen des Parmenides. 200 Für die eingesehenen Textausgaben vgl. die Liste der Parmenidesausgaben. Ich berücksichtige an dieser Stelle v.€a. die Analyse von Coxon (1986) 168-9.
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Aufgrund der vier zueinander in ungewöhnlicher Wechselbeziehung stehenden Wörter in diesem Vers bildet sich möglicherweise bei den Zuhörenden eine erwartungsvolle Spannung.201 Sie stellt die Wahrheit der Göttin als faszinierenden Lernbereich in Aussicht. Der Vers B 1.29 enthält eine erste Herausforderung an den Kuros und ist insofern vielversprechend, als er ein Rätsel enthält. Ich werde diese Zeile anschließend an eine Erörterung der einzelnen Begriffe, als ein Denkspiel, diskutieren. Damit soll aufgezeigt werden, dass eine Interpretation, nach der Parmenides objektives Wissen über den Bereich des Seienden versus subjektive Meinungen über den Bereich der Doxai lehrte, gemäß dem Programm der letzten vier Zeilen von B 1 revisionsbedürftig ist. Die Anleitung Lernbereiche zu meistern, folgt einer didaktischen Intention. Das Erlernen der Wahrheit der Göttin bildet das Hauptziel der Erkenntnissuche des Kuros: Dieses Ziel bedeutet immer dann eine für den Menschen erkennbare Wahrheit, wenn er den Instruktionen der Göttin folgt.
3.4.1 Das ἦτορ des Parmenides Gegenstand von der Zeile B 1.29 ist (ἀτρεμὲς) ἦτορ. Soweit ersichtlich kommt das Wort in der vorsokratischen Philosophie ansonsten nicht vor;202 und der Ausdruck ἦτορ ἀληθείης, Herz der Wahrheit, erscheint sonst nirgends in der antiken philosophischen Literatur.203 Das Wort ἦτορ wurde von Homer im Zusammenhang mit Tieren, Menschen und Göttern ver201 Diese bildet sich durch die üblichen Assoziation einerseits von „das stille Herz“ und „die überzeugende Wahrheit“ im Gegensatz zur genauso möglichen Vorstellungsverknüpfung von „das überzeugende Herz“ und „die unbewegte Wahrheit.“ Letztere Verknüpfung entspricht einem alltäglichen Verständnis, nach dem sich „Herz“ mit einer emotionalen Qualität (hier: „überzeugen(d)“) verbindet und „Wahrheit“ mit einer sie objektivierenden Qualität (hier: „unbewegt“). Dadurch, dass das Adjektiv „unbeweglich“ dem „Herz“ zugesellt ist, entsteht der Eindruck, dass es dingfest ist, während die Wortverbindung „Wahrheit“ und „überzeugend“ auf menschliches Urteilen verweisen könnte. 202 In DK III 200, finden wir nur einmal den Begriff ἦτορ, nämlich den bei Parmenides angewandten Ausdruck ἦτορ ἀληθείης. Das Wort erscheint später in Pl. Lg. III 3888c5, als Zitat von Hom. Il. XXII 168. 203 Im TLG lässt sich dieser Ausdruck weder bei Homer noch bei Hesiod, Platon oder Aristoteles nachweisen. Einzig diejenigen Autoren führen ἦτορ ἀληθείης an, die sich auf die Textstelle bei Parmenides beziehen, nämlich Clemens Alexandrinus, Plutarchus, Proklos, Sextus Empiricus, Simplikios und Theophrastos.
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wendet,204 weshalb die Deutung einiger Parmenidesinterpreten, das ἦτορ sei als ἦτορ ἀληθείης nicht auf den Menschen bezogen, sondern auf die abstrakte Wahrheit des Philosophen zu nuancieren ist.205 Denn der Sinngehalt des Begriffes ist trotz allem nicht so abstrakt wie es einige Interpreten gerne hätten. Ich schicke einige Überlegungen zur Begriffsbestimmung voraus. Im Unterschied zur heutigen Vorstellung von Herz verweist die Bedeutungsgeschichte von ἦτορ auf eine für heutiges Empfinden andere Art, Denken und Gefühle wahrzunehmen. Erstens wird Herz als Körperorgan in der Antike meist mit κραδία benannt206 und zweitens geht unsere Vorstellung von Herz im übertragenen Sinn des Wortes, als Sitz „herzlicher“ Emotionen und höherer Gefühle, im alten Griechenland inhaltlich nicht mit ἦτορ einher. Im homerisch-hesiodischen Kontext ist ἦτορ eine körperliche Entität, die in der Brustregion den Sitz des Lebens darstellt und involviert intensive Emotionen und Leidenschaften. Sollte je ἦτορ in eine intellektuelle Aktivität verwickelt sein, so geschieht es nur im Rahmen einer emotional geladenen Situation.207 Das Wort steht inhaltlich θυμός nahe. Dieser war im homerischen Sprachgebrauch mit den Lungen assoziiert und galt als Ursprungsort von Atem und Herzschlag. Emotionen können demnach θυμός wie ἦτορ aufrühren und bestimmen hauptsächlich die Handlungsweise eines Menschen.208 204 Darcus Sullivan (1996) 25-29, fügt ihrem Artikel eine Liste der Stellen bei Homer an, in denen der Begriff ἦτορ vorkommt; so zum Beispiel in Hom. Il. VIII 413, eine Passage, in der Athena und Hera mit wutentbrannten ἦτορ und φρένες zum Kampfplatz gehen; in Hom. Il. XXI 389, worin „das liebe ἦτορ“ des Zeus vor Freude lacht; in. Hom. Il. XX 169 als Beispiel des kühnen ἦτορ im κραδίη des Löwen. Meistens findet der Begriff bei Menschen Anwendung, stets als Ausdruck von Emotionen wie Wut, Grausamkeit, Mut, Angst, Kraft, Leiden und Freundlichkeit. Es erscheint als psychische Energie und als Lebenskraft zugleich und dient in letzterem Sinne auch als Metapher für den Lebensatem. 205 So betont Darcus Sullivan (1995) 73: „Parmenides is to grasp the essence of truth, an essence that will prove firm and unshaken. Etor here indicates the core of truth“; dies nachdem die Autorin auf den „strongly physical aspect“ des Wortes hingewiesen hatte (70). 206 Vgl. z. B. Aesch. Choeph. 832f. Κραδία ist die poetische Form des Wortes καρδία. 207 Vgl. Hom. Il. I 188. Vgl. auch Mourelatos (1970) 215, der übersetzt: „the Kuros will learn the «temper of εὐπειθέος truth».“ Vgl. zur Diskussion Darcus Sullivan (1996) 11-29, bes. 26. 208 In Parmenides B 1.1 steht Thumos als Wille und Mut. In Heraklits 22 B 85 steht Thumos im Gegensatz zu Psyche; und in Empedokles B 145,2 und B 128,10 als Leben. Vgl. Onians (1994) 46 und 80-2. Gemäß Darcus Sullivan (1996) 11,
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Für die vorliegende Untersuchung ist irrelevant, welchen Körperteil ἦτορ darstellt.209 Obwohl also ἦτορ einen ausgeprägt materiellen Sitz im Menschen hat – konkreter oder dichter als es der Atem beziehungsweise die ψυχή ist –210 entspricht es im Lehrgedicht zugleich einer Essenz der Wirklichkeit, die der Kuros kennen lernen soll. In der Folge hat auch ἀληθεία, die mit ἦτορ verbunden ist, zugleich etwas mit dem Lebendigen und mit der Funktion, die ἀληθεία für den Kuros hat, zu tun. Dann werden aufgrund des ἦτορ die Seinsmerkmale211 Aspekte der Wahrheit, die notwendigerweise etwas mit den hier besprochenen Eigenschaften von ἦτορ gemeinsam haben. Die Gefahr eine neuplatonische Kolorierung in die Wahrheit des Parmenides hineinzulesen und das Seiende des Eleaten als rationales, göttliches Wesen zu deuten, ist hiermit gebannt.212 Denn das Lehrgedicht gibt keinen Anlass auf eine rationale Gottheit zu schließen. Doch ist die Frage, inwieweit die höchste Wahrheit gemäß Parmenides auch einen Sitz im Menschen hat, durchaus angebracht. Auch steht sie inhaltlich Heraklits Erkenntnislehre nahe, der postulierte, dass die persönliche Erfahrung des Logos in der eigenen Psyche und der unpersönliche kosmische Logos übereinstimmen.213
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besitzt ἦτορ einen schmaleren Bedeutungsumfang als Thumos. Vgl. ders. (1980) 135-50; sowie Snell (1955) bes. 27-33; Jaeger (1953) 90f. Θυμός und ἦτορ involvieren eine emotionale Form von Bewusstsein und Lebenskraft: Ἦτορ weilt im Herz- oder Brustraum, während θυμός mehr Raum im Körper einnimmt; ansonsten sind sie zu weiten Teilen koextensiv. Im homerischen Sprachgebrauch ist ἦτορ Sitz des Lebens (vgl. Hom. Il. V 250; 22.452); meistens jedoch der Sitz von Gefühlen, Leidenschaft und Begierde. Vgl. z. B. Hes. Th. 139. Snell (1978) 12, diskutiert, wie das Wort Vorläufer eines Abstraktums wird. Aufgrund der Tatsache, dass ἠτορ bei Göttern, Tieren und Menschen vorkommt. Vgl. B 8.2-4. Die Eigenschaften des Seienden umschreiben sich als: (es ist) ungeboren (ἀγένητον), unvergänglich (ἀνώλεθρον), unerschütterlich (ἀτρεμές), ganz und einheitlich (οὐλομελές), ohne Ziel oder Ende (ἀτέλεστον). Vgl. zur Diskussion Finkelberg (1986-1987) bes. 406. So etwa gemäß 22 B 50: Hippol. Refut., IX 9: „Haben sie nicht mich, sondern den Sinn (λόγος) vernommen, so ist es weise, dem Sinn gemäß zu sagen (ὁμολογεῖν), alles sei eins“ [DK I 161]. Vgl. Stemich Huber (1996) 177, bes. die Schlussfolgerungen im 8. Kap., S. 222f.
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Zurück zum Lehrgedicht: Die Göttin nennt, um die Wahrheit zu beschreiben, das ἦτορ, das Herz der Wahrheit. Sie hätte eine weitaus unpersönlichere Mitte der überzeugenden ἀλήθεια bestimmen können.214 Doch der Eleate legte – mit der Wortwahl ἦτορ – fest, dass die Wahrheit der Göttin in Bezug zum Menschen steht, der sie erkennen kann.
3.4.2 Das unbewegte Herz: Zur Bestimmung von ἀτρεμής Nicht nur ἦτορ, sondern auch ἀτρεμής ist mit Blick auf den Menschen zu verstehen. Das α-privativum von ἀτρεμής umschreibt eine positive Qualität der Wahrheit. Mit ἀληθεία und εὐπειθέος verbunden, entsteht eine sprachlich auffällige Lautverbindung, wodurch der Bestimmung der Wahrheit in B 1.29 eine positive Spannung zukommt, ein wirkungsvolles Mittel, die Zeile formelhaft ins Gedächtnis einzuprägen. Nun entsteht beim Rezipienten, der eine unabhängig vom Menschen existierende Wahrheit voraussetzt, spontan die Meinung, man müsse ἀτρεμής mit einem Wert übersetzen, der sich auf ein Ding bezieht, etwa mit unbewegt. Doch liegt der erste Gehalt von ἀτρεμής gerade nicht in dinghaften Vorstellungen, sondern bezieht sich auf den Menschen: Denn des Wort bedeutet nicht zitternd, unerschrocken und ruhig zu sein.215 Aufgrund dieser Wortkonnotation bestätigt sich, dass die Wahrheit der Göttin nicht nur einem absoluten Seinsbereich entspricht, sondern zugleich auch Vorstellungen, die den Menschen und seine Fähigkeit zu erkennen bedeuten.216 214 Hätte Parmenides mit τὸ μέσον im Sinne von Mitte, Zwischenraum, seine Wahrheit bestimmen können? Immerhin war τὸ μέσον in der Vorsokratik ein geläufiges Wort [Vgl. DK III, 276]. Hierbei geht es nicht um die Eventualität, ob Parmenides aus stilistischen oder metrischen Gründen ἦτορ vorzog. Schließlich war der Begriff μέσον auch Parmenides geläufig, hat er ihn doch zur Beschreibung des Zentrums des Universums angewandt. Vgl. 28 B 12.3: Simp. in Ph. 39.16 (Diels): „Und inmitten (ἐν μέσῳ τούτων) von diesen ist die Daimon (…)“ [DK I 243]. 215 Genauso zeigt die Verbindung von ἀτρεμής mit dem Substantiv ἀτρεμία, Unbeweglichkeit, Unerschrockenheit, zusammen mit dem Verb τρέμω, (vor Furcht) zittern, beben, einen Bezug zum Menschen. 216 Vergleichsweise wendet Xenophanes – als einziger Vorsokratiker außer Parmenides – denselben Begriff an, um seine Vorstellungen über das Göttliche anschaulich zu machen. Vgl. 21 A 28: [Arist.] De Melisso Xenophane Gorgia cc 3.4 (Bekker): τό δέ ἓν οὔτε ἀτρεμεῖν οὔτε κινεῖσθαι [DK I 118] und in 21 A 35: Tim. Fr. 60: (…) τὸν ἀπ’ ἀνθρώπων θεὸν ἐπλάσατ’ ἶσον ἁπάντηι ἀσκηθῆ νοερώτερον ἠὲ νόημα [DK I 124,1-2].
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Das Adjektiv ἀτρεμές erscheint des weiteren in B 8.4, in der Bestimmung des Seienden unerschütterlich zu sein,217 was bestätigt, dass das unerschütterliche Herz der Wahrheit inhaltlich mit den Seinsattributen einhergeht – nämlich unbewegt, unveränderlich zu sein und unerschütterlich am selben Ort zu bleiben.218 Somit verknüpft sich ἀτρεμής gedanklich mit der Idee des Seienden, das vollkommen unveränderlich und unbeweglich ist.219 Was bis zu diesem Untersuchungspunkt eine gedanklich leicht nachvollziehbare Feststellung ausmacht, wird auf den Menschen bezogen, schwieriger. Wie soll die absolut still stehende Wahrheit den Menschen betreffen, den Parmenides gerade durch Metaphern der Bewegung charakterisiert und welcher gerade im Gegensatz zu ἀτρεμές, unruhig und in Veränderung begriffen ist?220 Dennoch, an wen überhaupt wendet sich das Lehrgedicht, wenn nicht gerade an Menschen, die unstet sind? Nun sind die Menschen zwar ihrem Wesen nach rastlos und in ständiger Bewegung und haben als solche keinen Zugang zur Seinserkenntnis, doch läge sonst kein Sinn darin, dass Parmenides die Menschen Etwas lehrt, zu dem sie keine Beziehung haben können. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass es an den Sterblichen
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Dann kommt das Wort erneut bei Platon im Zusammenhang mit einer religiösen Vision vor, nämlich im Dialog Phaidros zur Bezeichnung eines quasi kontemplativen Zustandes während Sokrates’ Wiedererinnerung an die Idee des Schönen: Vgl. Pl. Phdr. 250c3: „Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chore wir (…) des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen und in ein Geheimnis geweiht waren (…) zu untadeligen, unverfälschten, unwandelbaren (ἀτρεμῆ) seligen Gesichten vorbereitet (…) rein und unbelastet von diesem Körper (…).“ In B 8.4: Plu. adv. Col. Kap. 13, 1114C: „Auf diesem sind gar viele Merkzeichen: weil ungeboren ist es auch unvergänglich, denn es ist ganz in seinem Bau und unerschütterlich (ἀτρεμὲς) sowie ohne Ziel (…)“ [DK I 235]. Nämlich, erstens mit ἀκίνητον, (vgl. B 8.26 und B 8.38); zweitens mit κεῖται (vgl. B 8.29); und drittens mit ἔμπεδον αὗθι μένει (vgl. B 8.30). Und diese Eigenschaft der Wahrheit des Philosophen steht eindeutig im Gegensatz zur Vorstellung von Veränderung und Unruhe, als Attribut der in Scheinmeinungen verstrickten Menschen. Vgl. etwa B 8.38-41: Simp. in Ph. 146.4-5 (Diels): „Darum wird alles bloßer Name sein, was die Sterblichen in ihrer Sprache festgesetzt haben, überzeugt, es sei wahr: Werden sowohl als Vergehen, Sein sowohl als Nichtsein, Verändern des Ortes und Wechseln der leuchtenden Farbe“ [DK I 238]. Vgl. auch Guthrie (1996) 36, der die Unbeweglichkeit des Seienden, mit dem Begriff ἀτρεμές im Prooimion zusammenliest. Hier ist der Alltagsmensch gemeint, wie er in B 6.5-9 dargestellt wird.
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liegt, aus ihrem νόος πλακτός, ihrem unsteten Geist,221 einen νόος ἀτρεμής, einen unerschütterlichen Geist, zu machen, um die Seinserkenntnis gewinnen zu können.222 Im Folgenden soll ein anderer Aspekt von der Wahrheit der Göttin besprochen werden: Ihre Überzeugungskraft.
3.4.3 Die Fähigkeit, zu überzeugen: zur Bestimmung von εὐπειθέος223 Der Terminus εὐπειθέος ist wortverwandt mit πειθώ (überzeugen) und πίστις (Glauben),224 was auf ein weiteres Charakteristikum der Wahrheit des Parmenides weist.225 Mit εὐπειθής hat Parmenides nochmals ein in der Vorsokratik ungewohntes Wort gewählt, das tatsächlich nur in diesem Lehrgedicht und einzig in dem hier zu besprechenden Vers vorkommt.226 Parmenides’ Deutung von εὐπειθής kommt ebenfalls bei Platon vor, der das Wort unter anderem 221 B 6.6: „schwankender Sinn“. 222 Diese Überlegung verweist auf den oben genannten Bedeutungsgehalt von ἀτρεμές in Platons Dialog Phaidros. Vgl. Anm. 216. 223 B 1.29 wurde nicht nach der DK-Übersetzung mit „εὐκυκλέος“ [DK I 230] zitiert. Die gleiche Wortwahl wie DK befindet sich bei Cordero (1997) 36: „la vérité bien arrondie und bei KRS 267: „wohlgerundete Wahrheit“. Hier soll die Wahl von O’Brien (19872) 316-8, vorgezogen werden, der „εὐπειθέος“ liest: Der Autor macht auf die neuplatonische Umarbeitung von εὐπειθέος in εὐφεγγέος (wohl erleuchtet) oder εὐκυκλέος (wohlgerundet) aufmerksam; beides Varianten, die dem Original nicht gerecht werden Diese Varianten „ne sont en effet que des moyens expéditifs employés par des éditeurs d’époque tardive pour supprimer tout écart entre la doctrine de Parménide et celle de Platon (…) pour maintenir sans tâche et sans faille l’unité doctrinale des «sages de jadis».“. Vgl. auch die Wortwahl von Engelhard (1996) 17: „der überzeugenden Wahrheit“; sowie von Coxon (1986) 50: „persuasive reality“. 224 Vgl. dazu B 1.30: D.L. IX 22, über die Meinungen, denen gerade nicht πίστις ἀληθής zukommt. 225 Mit dem Epithet εὐπειθής wird die Wahrheit einflussreich. Bildlich gesprochen, kann sie den νόος der Menschen bewegen. Hiermit fügt sich der unerschütterlichen Wahrheit des Parmenides eine Eigenschaft hinzu, die Platons Beschreibung der Form des Schönen vorwegzunehmen scheint. Vgl. in diesem Sinne Coxon (1986) 169; sowie Robinson (1975) 632. Zur These, nach der Platon Parmenides’ Lehrgebäude als Grundstein für seine Theorie der Formen übernommen habe, vgl. Furth (1968) 111-32. 226 Gemäß DK III 183.
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in psychologischem Zusammenhang zur Bestimmung von gehorsam sein und auf Lebewesen bezogen, anwendet.227 In Anlehnung an diesen Bedeutungsgehalt stärkt sich die bereits formulierte These, dass Parmenides zur Umschreibung der Wahrheit eine Terminologie anwendet, die äußerst konkret ist.228
3.4.4 Zur Wahrheit in B 1.29 Der Terminus ἀλήθεια bildet einen Grundstein im Denken des Parmenides: In ihm sind Wirklichkeit, Sein und das Denkbare überhaupt mitgemeint. In B 1.29 wird das Substantiv erstmals formuliert und wiederholt sich als Adjektiv in B 1.30.229
227 Vgl. Pl. Lg. IV 715c2, im Superlativ als gehorsamster Mensch (εὐπειθέστατος); sowie in: Pl. Lg. VII 801e5 und IX 880a7, als den Gesetzen gehorchend; des weiteren in Pl. Lg. IV 718c8, zur Charakterisierung der Menschen, die so sanftmütig wie möglich in Bezug auf die Tugend sein sollen. Wir finden das Wort in Pl. Phdr. 254a1, für ein sanftmütiges Pferd; sowie in Pl. Phdr. 271d6, zur Bezeichnung leicht zu überzeugender Menschen; die gleiche Bedeutung ist auch in Pl. Epin. 989b8, zu finden. Schließlich in Pl. Sph. 254a10, in der Bedeutung, etwas sei (keineswegs) leicht zu erblicken. 228 Wahrheit ist auch bei Heraklit auf den Menschen bezogen; es ist dasjenige, was Alltagsmenschen aufgrund ihrer Seinsart nicht erkennen können: Vgl. 22 B 17: Clem. Al. Strom. II 8: „(Denn) es verstehen solches viele nicht, so viele auch darauf stoßen (…)“ [DK I 155]. Vgl. auch 22 B 34: Clem. Al. Strom. V 116: „Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen; so sind sie wie Taube. (…)“ [DK I 159]. Vgl. schließlich 22 B 72: Marc. Aurel. IV 46: „Mit dem Sinn (logos), mit dem sie doch am meisten beständig verkehren, dem Verwalter des Alls, mit dem entzweien sie sich, und die Dinge, auf die sie täglich stoßen, die scheinen ihnen fremd“ [DK I 167]. 229 In B 1.30 wird die Wahrheit als πίστις ἀληθής umschrieben. Das Abstraktum erscheint in B 2.4: Procl. in Prm. 1078.2 (Cousin): „Der eine Weg (…) ist die Bahn der Überzeugung (denn diese folgt der Wahrheit)“ [DK I 131]. Vgl. zudem B. 8.5: Simp. in Ph. 41.8-9: „Damit beschließe ich für dich mein verlässliches Reden und Denken über die Wahrheit“ [DK I 239]. Als Adjektiv kommt das Wort erneut in B 8.17 vor: „Entschieden ist aber nun, wie notwendig, den einen Weg als undenkbar, unsagbar beiseite zu lassen (es ist ja nicht der wahre Weg)“ [DK I 236]. Vgl. B 8.28: Simp. in Ph. 79.32-80.2: „(…) denn Entstehen und Vergehen wurden in die Ferne verschlagen, es verstieß sie die wahre Überzeugung“ [DK I 237]. Vgl. B 8.39: Simp. in Ph. 145-6 (Diels): „(…) was die Sterblichen in ihrer Sprache festgesetzt haben, überzeugt, es sei wahr“ [DK I 238].
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Das Wort, das schon bei Solon mit der Bedeutung von wahrem Sprechen im Gegensatz zu Lügen verwendet wird,230 ist sowohl in der pythagoreischen Überlieferung als auch in der Vorsokratik ein Schlüsselwort. Ich werde mich auf Betrachtungen zum Begriff im Lehrgedicht beschränken.231 Einige Autoren verstehen die Wahrheit des Eleaten als eine objektiv außerhalb des Individuums gegebene Entität.232 Sie gehen davon aus, dass Parmenides einen Wahrheitsbegriff geschaffen hat, der ein objektives Sein im strikten Gegensatz zum Nicht-Seienden postuliert. Für diese Interpretation spricht die Begriffsgeschichte von ἀλήθεια, nach der Wahrheit in der antiken griechischen Gesellschaft für eine objektiv existierende höhere Wirklichkeit steht, 233 mit der die Mitglieder der Gesellschaft mit Hilfe von Dichtern und Sehern in Beziehung treten konnten. Andererseits ist Wahrheit auch eine mentale Kategorie, ein Zustand, der es einem Menschen ermöglicht, jenseits des common sense in einer höheren Denkart zu sein. Ein Zustand, der im Vergleich zum Alltagsdasein wie Wachsein im Vergleich zum Träumen ist.234 Die sich nun stellende Frage ist, ob die objektive und die subjektive Vorstellung von Wahrheit zwei Aspekte einer Sache ausmachen. Seher und Dichter hatten durch Inspiration Zugang zu einer höheren Wirklichkeit, die auf der Ebene des Göttlichen immer schon existierte. Philosophen indes 230 Vgl. Sol. 10.3. Siehe auch Detienne (1990), dessen Studie den vorparmenideischen Kontext zum antiken Verständnis von Wahrheit untersucht. 231 Zu Parmenides’ Konzept von Wahrheit vgl. Bröcker (1978) 504-5; Coxon (1974) 241-70; Graeser (1977) 145-55 und Masi (1988) 159-96. 232 Coxon (1986) 168, betont für die drei Textstellen, an denen das Substantiv im Lehrgedicht erscheint, ἀλήθεια “denotes not truth as an attribute of thought or language but objective reality as often in Plato (e.g. R. VI 511e)“. Das zu ἀλήθεια gehörende Adjektiv ἀληθής „[can] denote truth of thought, but is better understood here as meaning ‘real’“. Engelhard (1996) 165 schreibt: „In der Erkenntnis der Dinge erfährt der Mensch etwas über eine Welt, die außerhalb von ihm liegt. (…) Parmenides siedelt die Lösung des Problems der Differenz zwischen menschlicher Erkenntnis und Welt auf der Seite der Welt an (…), damit garantiert ist, dass die Erkenntnis der Welt nicht durch menschliches Zutun verdorben wird (…).“ Mit dieser Sichtweise kann diese Untersuchung nicht übereinstimmen. Vgl. auch Wiesner (1996) 251: „der eine Weg (…) ist der Weg der Überzeugung, denn er geht mit der objektiven Realität (…) zusammen.“ 233 Siehe in diesem Sinn Detienne (1990) 4: „La conception occidentale d’une vérité objective et rationnelle est historiquement issue de la pensée grecque.“ 234 Vgl. in diesem Sinne auch Heraklit, der in 22 B 1 (Ende) feststellt: „Den anderen Menschen aber bleibt unbewusst, was sie nach dem Erwachen tun, so wie sie das Bewusstsein verlieren für das, was sie im Schlafe tun.“
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entwickelten eine Methode, logische Prinzipien und Techniken zu erkennen, mit denen sie einen Geisteszustand erreichen konnten, der anderen nachvollziehbar und wiederholt reproduzierbar war, um Wahrheit mit dem Verstand zu erfassen.235 Es gibt einen Bedeutungsunterschied zwischen ἀλήθεια und den inhaltlich naheliegenden Begriffen ἐτεός und ἔτυμος, die Parmenides allerdings nicht verwendet.236 Während letztere wahr und wirklich in objektivem Sinne meinen, bedeutet ἀλήθεια die menschliche Leistung hin zum Wahren. Für unsere Untersuchung ist es demnach sinnvoll, eine Lesart zu bevorzugen, die beim Wort ἀλήθεια auch den Aspekt wahres Sprechen oder wahres Tun berücksichtigt, und nicht einzig die metaphysische Sichtweise betrachtet.237 Schließlich ist ‘Wahrheit’ eine Errungenschaft des individuellen Menschen, der Wahrheit erfährt; und letztlich ist sie immer erst durch einen Menschen, der Wahres erkannt hat, thematisiert worden.
235 Vgl. Ferber (1998) 13: „Im Unterschied zur Religion will nämlich die Philosophie nicht glauben, sondern wissen.“ Interessant ist Heideggers Interpretation von Wahrheit als Unverborgenheit: Heidegger (1969) 74f. stellt zu B 1.29 fest, Parmenides sei der erste Philosoph, der das Verständnis von ἀλήθεια mit Unverborgenheit gleichgesetzt habe. Dies impliziere, dass Wahrheit etwas offenlegen muss, was objektiv vorgegeben ist. Demgegenüber postuliert Snell (1979) 17, ἀλήθεια bedeute ursprünglich die subjektive Seite der Erfahrung, genauso wie das Adjektiv ἀληθής bei Homer im Wesentlichen auf den Bereich des Subjektiven eingeschränkt sei: Dort galt es dem im Gedächtnis lückenlos Festgehaltenen, das nacherzählt werden kann. Dieser Aspekt wird mit Bezug auf λήθη, das Vergessen, deutlich, denn λήθη weist auf einen Zustand des menschlichen Gedächtnisses. Vgl. Chantraine (1977) Bd. III, 618-9: Von der Privativbildung aus der Wurzel *λαδ verbindet sich das Wort ἀλήθεια mit λανθάνω, was in der Bedeutung von ungesehen, der Aufmerksamkeit entgehen auf den Menschen weist, der einer Sache nicht bewusst ist. Wenn wir die etymologische Bedeutung von ἀλήθεια zusammen mit der alten Bedeutung von wahrhaftig sein zusammenfassen, so betrifft das Adjektivabstraktum auch im Lehrgedicht in erster Linie den Wert Ehrlichkeit im Gegensatz zur Lüge. Zur Diskussion vgl. Krischer (1965) 161-74; Urmson (1990)€18. 236 Die homerischen Begriffe ἐτεός und ἔτυμος verweisen beide – als wahr, wirklich€– auf objektiv Zutreffendes. Vgl. Snell (1979) 15. 237 Vgl. Mackenzie (1982) 8: „The Greek notion of ἀλήθεια however, is not strictly metaphysical (…). Both the philosophical and the paraphilosophical traditions associate ἀλήθεια with intellectual exercise, telling the truth.“
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Man könnte einwenden, Parmenides habe das Wort den Bedürfnissen seines Denkens angepasst und in seiner Vorstellung von ἀλήθεια schwinge die Konnotation von Wahrheit als Wirklichkeit mit. Dieser Einwand ist nicht abzuweisen, denn die objektive ist letztlich nicht von der subjektiven Seite in Parmenides’ Wahrheitsbegriff abgrenzbar.238 Parmenides umschreibt die Wahrheit der Göttin also mit Begriffen, die weniger eine außerhalb des Individuums existierende abstrakte Sache hervorheben, als vielmehr den Bezug zum Menschen, der sie erkennt und denken kann. Mit der hier vorgeschlagenen Betonung des subjektiven Aspektes von Wahrheit soll auf weniger bekannte Aspekte der Diskussion aufmerksam gemacht werden.
3.4.5 Zweites Zwischenergebnis Der Vers B 1.29 zählt den ersten Teil des Lernauftrages der Göttin auf, den Bereich der Wahrheit. Die Diskussion hat gezeigt, dass sich ἦτορ, das Herz der Wahrheit der Göttin, auf den Menschen bezieht. Es geht mit Emotionen und Gefühlen einher und hat für die Epiker seinen Sitz in der Brustregion von Göttern, Menschen und Tieren. Parmenides bestimmt durch seine Wortwahl, dass der Wahrheit des Seienden nicht nur eine zentrale Bedeutung zukommt, sondern zugleich, dass sie eine Wahrheit für den Menschen ist. Gleichermaßen bezieht sich das dem Herzen der Wahrheit zugeordnete Adjektiv ἀτρεμής, unerschütterlich zu sein, dem Sinngehalt nach auf menschliches Verhalten. Was das Epithet der Wahrheit, εὐπειθής, überzeugend zu sein, betrifft, so erfasst auch dieses Wort einen Bezug zum Menschen. Hiermit verstärkt sich die These, dass es im Lehrgedicht vor allem um die Wahrheit für den Philosophen geht, um Wahrheit als persönliche rational reproduzierbare Erfahrung. Das Wort weist also hier auf eine menschliche Leistung. Zusammengefasst sei festgehalten, dass die Bedeutung des Vokabulars von B 1.29 deutlich macht, dass die Anleitung der Göttin, das unerschütterliche, überzeugende Herz der Wahrheit zu erlernen, kaum nur besagen will, der Kuros solle eine objektiv vorgegebene Wahrheit erlernen. Zu Beginn der Diskussion von B 1.29 bemerkte ich, diese Zeile enthalte ein Rätsel. In der Tat beinhaltet B 1.29 insofern ein Denkspiel, als es eine Gegensatzspannung zwischen der weltlichen Bedeutung der einzelnen Wörter und der Vorstellung eines erhabenen Wertes heraufbeschwört. Es ist denkbar, dass sich die damaligen Zuhörenden dieser zweifachen Botschaft bewusst waren. 238 Ich verweise weiter unten auf das achte Kapitel zur epistemologischen Konnotation von Wahrheit.
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Tatsächlich bestätigt sich diese Grundeigenschaft des Lehrgedichtes, in Gegensatzspannungen emotional herausfordernde Bilder zu evozieren, bereits im Prooimion. In den hier zu besprechenden Versen geht der Auftrag vom Vers B 1.29, der Kuros solle das „unerschütterliche Herz der überzeugenden Wahrheit“ lernen, mit B 1.30 in den gegenteiligen Auftrag über, der Kuros solle die „Scheinmeinungen der Sterblichen“ lernen. Der durch ἠμὲν eingeleitete Vers B 1.29 ist eng mit dem folgenden, der durch ἠδέ eingeleitet ist, verbunden, was zum Schluss führt, dass die überzeugende Wahrheit zur darauf folgenden Antithese gehört.239 Und dadurch, dass der Kuros zugleich beide Bereiche erlernen soll, zeichnet sich eine Spannung ab, die geradezu herausfordert, gelöst zu werden. Im Folgenden werde ich diskutieren, inwiefern das Wissen der Wahrheit und das Meistern des vermeintlichen Wissens der Sterblichen den Lernenden selber betrifft. Denn der Auftrag an den Kuros kann nur sinnvoll sein, wenn er berücksichtigt, dass beide Lernbereiche nicht unbedingt zwei sich gegenseitig ausschließende Wirklichkeitsbereiche betreffen. Auf den Lernenden bezogen ist vielmehr anzunehmen, dass die Lernbereiche didaktisch miteinander in Beziehung stehen. Gemäß der hier vorgeschlagenen Lektüre geht es dann weniger um eine Aufspaltung zwischen Seinsbereichen, als um verschiedene Erkenntniszustände. Der Kuros soll verstehen, dass beide Bereiche Aspekte des menschlichen Erkennens bilden können – allerdings nicht im Sinne einer ἵστορίη, als bloßes Ansammeln von Wissen. Im Folgenden soll die Bedeutung der Scheinmeinungen der Sterblichen für den Kuros näher untersucht werden.
3.5 Der zweite Bereich: Die Scheinmeinungen (B€1.30) In der Zeile B 1.30 beschreibt die Göttin den zweiten Teil des Lernprogrammes, nämlich die „sterblichen Meinungen, denen nicht innewohnt wahre Überzeugung“.240 Die Göttin fordert, der Kuros müsse beide Lernbereiche meistern. Er soll also neben der Wahrheit auch die Scheinmeinungen lernen. 239 In B 1.30: Plu. adv. Colot. Kap. 13, 1114E: οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής [DK I 230]. 240 Der Lernauftrag am Ende des Prooimions ist im Abschnitt 3.2 auf griechisch und deutsch zu lesen.
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Das Wort „Meinungen“ impliziert den Sinn, menschengeprägt, menschengemacht zu sein.241 So sind auch im Lehrgedicht die Meinungen als Meinungen der Menschen – und nicht etwa der Götter – zu verstehen.242 Sie existieren nur relativ, im subjektiven Sinne, sind nicht sicher, sondern nur vorläufig in der Welt der Scheinmeinungen begründet. Freilich bestätigt Parmenides mit dem Begriff nicht einfach die traditionelle Hierarchie zwischen dem göttlichen Wissen und dem menschlichen Unwissen.243 Die Sache ist komplexer. Schließlich meldet sogar die Göttin an, dass sie trügerische Worte verkünden kann,244 und verlangt umgekehrt, der Kuros solle ihr Wissen kritisch beurteilen.245 Nun stellt sich die Frage, warum die Göttin den Kuros anleitet, Meinungen zu lernen, die menschengemacht, mithin von ihrer Perspektive her beurteilt, unsicher und widerlegbar sind. Zunächst scheinen sie – als bloß homerischer Gemeinplatz – nicht nur überflüssig, sondern fehl am Platz zu sein.246 Ich werde im folgenden Abschnitt den Sinn dieser überraschenden Aussage des Parmenides herausarbeiten und in seinem pädagogischen Gehalt erforschen, also mit Hinblick auf die Frage nach Parmenides’ Methode, Erkenntnis zu vermitteln.
241 Siehe Frisk I (1973) 409-10, der zur Geistesgeschichte des Begriffs δόξα Wörter wie Ansehen, Ruhm und Pracht nennt. Vgl. Horn/Rapp (2002) 115, welche von der homerischen Bedeutung des Begriffs Vermutung und Erwartung ausgehen (Il. 10,324, Od, 11,344) und dann zur zunächst negativen Bedeutung des Terminus in der Philosophie, nämlich als Gegensatz zur Wahrheit von Parmenides bis Platon führen. 242 Das Wort δόξα ist im Lehrgedicht nochmals mit dem Begriff die „Sterblichen“, die Meinungen haben, assoziiert, nämlich in B 8.51 als: δόξας (…) βροτείας [DK I 239]. 243 Parmenides unterstützt gerade nicht die traditionelle Sichtweise die sich damit begnügt hatte, dem Menschen nur Scheinwissen, Ungenaues zuzutrauen. Vgl. zur traditionelle Sichtweise Alkmaion: 24 B 1: Diog. VIII 83: „Von den sichtbaren Dingen, [genauso wie] von den irdischen, haben nur die Götter genaue Kenntnis (σαφήνεια), den Menschen aber [ist es nur gegeben], auf Grundlage von Beweisen zu urteilen (τεκμαίρεσθαι)“ [DK I 214]. 244 Vgl. 28 B 8,51-53: Simp. in Ph. 30.19 und 30.23 (Diels): „Aber von hier ab lerne die menschlichen Schein-Meinungen kennen, indem du meiner Worte trügliche Ordnung hörst“ [DK I 239]. 245 In B 7.5. Ausführlicher hierzu vgl. den Abschnitt 5.4. 246 Hierzu vgl. Voigtländer (1980) über die Philosophen und die Vielen.
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3.5.1 Zum Sinn, Schein-Meinungen zu lernen Warum betont die Göttin, dass der Kuros, der längst unterwegs ist, das göttliche Wissen zu gewinnen, sich auch mit dem Scheinwissen der Sterblichen befassen soll? Die Göttin stützt ihre Absicht in B 8.61: Der Kuros soll Scheinmeinungen wissen, damit es „unmöglich (sei), dass (ihm) irgendeine Ansicht der Sterblichen jemals den Rang ablaufe.“247 Doch ist wenig einleuchtend, warum jemand, der den Weg der Erkenntnissuche längst als „wissender Mann“ (B 1.3) aufgenommen hat, sich darum kümmern sollte, ob irgendein Sterblicher ihn im Wissen um Meinungen überholen könnte. Die Rechtfertigung der Göttin ist werbewirksam. Nennt das Lehrgedicht überhaupt eine hinreichende Begründung dafür, dass auch die Scheinmeinungen zu lernen seien?248 Zunächst scheint allein eine Erkenntnissuche, die auf den Weg der Wahrheit führt,249 erstrebenswert zu sein, und die Überlieferung und Rezeption des Lehrgedichtes vermitteln den Eindruck, dass vor allem die rationale Argumentation um „was ist“’ und „was nicht ist“ die wahre Errungenschaft des Parmenides darstellt.250 Die Göttin aber macht anderes geltend. Eine nähere Umschreibung der Scheinmeinungen ist mit den auf B 1.30 folgenden zwei Zeilen gegeben.251 Als benötigte der soeben geäußerte paradoxe Lernauftrag ein Argument, bekräftigt die Göttin, der Kuros solle nichtsdestotrotz diese Dinge lernen, nämlich δοκοῦντα und δοκίμως, Meinungen und Erscheinungen. Da ich weiter unten in diesem Kapitel ausführlich die Bedeutung von δόξα bei Parmenides diskutieren werde, halte ich hier einzig 247 Simp. in Ph. 39.9 (Diels): „so ist es unmöglich, dass dir irgendeine Einsicht der Sterblichen jemals den Rang ablaufe“ [DK I 240]. 248 Curd (1998) 15, beantwortet diese Frage: „There is a positive lesson to be learnt from the Doxa: although it is deceptive, it serves as a model for a successful account of the world reported by senses.“ Ähnlich auch Long (1975) 12: „The Doxa as a Dualism of opposed principles represents the best false account that mortals give.“ 249 Vgl. B 2.3-4: Procl. in Ti. I 34523-24 (Diehl): „The one ‹way› (…) is a path of persuasion, for ‹persuasion› accompanies truth“ [Übers. O’Brien (19871) 16]. 250 Die überwiegende Mehrheit v.a. der angelsächsischen Parmenidesinterpreten haben fast ausschließlich den Wahrheitsteil des Lehrgedichtes diskutiert. 251 B 1.31-32: ἀλλ’ἔμπης καἱ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα / χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα: „Doch wirst du trotzdem auch dieses kennen lernen und zwar so, wie das ihnen Scheinende auf eine probehafte, wahrscheinliche Weise s e i n müsste (…)“ [DK I 230].
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fest, dass der sogenannte zweite Lernbereich „das was (allgemein) angenommen ist“, umfassen soll.252 Ich sehe zwei mögliche Endzwecke hinter dem Auftrag, auch die Annahmen der Sterblichen zu wissen. Zum ersten sei mit Mourelatos betont, dass durch Parmenides’ Hervorheben auch der Notwendigkeit, Scheinmeinungen zu wissen, ein ideengeschichtlich bedeutungsvoller Schritt getan ist.253 Im philosophischen Denken vor Parmenides hieß es zum einen, Menschen könnten göttliches Wissen nicht erkennen (sondern nur Götter, die ihr Wissen möglichenfalls Dichtern und Sehern zu erkennen geben),254 und zum anderen gewannen Philosophen zwar bis dahin unerforschte Erkenntnisse, doch grenzten sie sich dann vehement von dem vermeintlichen Wissen der Vielen ab.255 Parmenides nun lädt ein, Zugang zu beiden Wissensarten zu finden: Seine Schrift bietet auch neue Einsichten in kosmologische und biologische Zusammenhänge, bietet also einen Kompromiss zwischen der Verneinung der Erreichbarkeit höchsten Wissens für den Menschen einerseits und der Negation andererseits derjenigen Erkenntnisse, die nicht unter die neu entdeckte Gewissheit fallen. Zum zweiten hat der Auftrag der Göttin, auch βροτῶν δόξας zu lernen, einen didaktischen Zweck. Die Forderung – auf dem Hintergrund der Wahrheit – den Bereich der Scheinmeinungen zu lernen, führt insofern eine didaktische Perspektive ein, als eine alltägliche Selbst- und Welteinschätzung des common man erst im Zusammenhang mit der Wahrheit der Göttin bewusst werden kann: Und frühestens auf diesem Hintergrund wird jene gleichwie un252 Ich fasse hier Mourelatos (1970) 194-221, zusammen. Vgl. weiter unten den Abschnitt 3.5.4. 253 Mourelatos (1970) 216-9. Siehe auch Popper (1998) 149: „Of this world of illusion Parmenides gives a marvellous and highly original description, incorporating for the first time (as far as we know) the borrowed light of the moon, the identity of the Morning and Evening Stars, and, it seems, the spherical shape of the Earth.“ 254 Mit Mourelatos (1970) 217, sei Xenophanes B 34 genannt, eine gleichsam pessimistische vorsokratische Lösung zur Frage nach dem menschenmöglichen Wissen. Vgl. S. E. M. VII 110: „Und das Genaue freilich erblickte kein Mensch und es wird auch nie jemand sein, der es weiß (erblickt hat) in bezug auf die Götter und alle Dinge, die ich immer nur erwähne; denn selbst wenn es einem im höchsten Maße gelänge, ein Vollendetes (τετελεσμένον) auszusprechen, so hat er trotzdem kein Wissen (οὐκ οἶδε) davon; Schein(meinen) (δόκος) haftet an allem“ [DK I 137]. 255 Gut dokumentiert ist dieser „Schattenaspekt“ der Wissenssuche bzw. Wahrheitsfindung bei Heraklit, der praktisch jeden anderen ihm bekannten Denker – mit Ausnahme von Bias – der Unwissenheit bezichtigt und jede – von seiner unterschiedenen – Wahrheit verwirft. Vgl. zum Thema Stemich Huber (1996) bes. 146-50.
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philosophische Sichtweise, die aufgrund lebenslanger Gewohnheit256 immer schon und selbstverständlich den Verstehens- und Wirklichkeitshorizont ausgemacht hat, hinterfragbar. Nicht nur ist der Mensch dann gezwungen, seinen Standpunkt zu ändern und seine Sichtweise als eine mögliche, relativiert zu sehen. Sondern die beiden Lernbereiche führen dahin, dass er δόξαι nutzen kann, ohne sich – wie die Sterblichen – in sie zu verstricken.257
3.5.2 Die Menschen im Lehrgedicht (1): Der Wissende Um Parmenides’ Standpunkt weiter zu klären, ist es an dieser Stelle notwendig, sein Menschenbild summarisch zu erläutern. In seiner Schrift erscheinen verschiedene Arten von Menschen: Auf der einen Seite stehen die Wissenden, vertreten durch den Kuros, der sich willentlich belehren lässt und Zugang zur Erkenntnis der Göttin bekommt. Auf der anderen Seite sind die Sterblichen: diejenigen Menschen, die sich im Alltagswissen verfangen und nur δόξαι kennen. Der Unterschied zwischen diesen Extremen liegt letztlich darin, wissend oder unwissend zu sein. Indem Parmenides den Kuros zum Vorbild setzt, bestimmt er zugleich, dass es für den Menschen möglich ist, göttliches Wissen zu erlangen. Wenn es nun einem bestimmten Menschen – dem Kuros – gelingt, die Grenzlinie zwischen dem Unwissen der Sterblichen und dem göttlichem Wissen zu überschreiten, sollte es grundsätzlich auch anderen Menschen offen sein, diese Kluft zu überwinden. Somit bricht der Eleate die traditionelle TrennÂ�linie zwischen göttlichem Wissen und menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf. Gerade weil der Kuros diese Dinge lernen soll, ist eine Interpretation des Lehrgedichtes, die es im Sinne eines Offenbarungsgeschehens auslegt, unsinnig. Desgleichen wird die Idee, Parmenides’ Wahrheit sei Glaubenssache, seinem philosophischen Lehrgebäude nicht gerecht. Nicht zuletzt bürgt der Auftrag, der Kuros solle die Widerlegung der Göttin vernünftig beurteilen dafür, dass Parmenides’ Philosophie keine neue religiöse Welterklärung bietet.258 Ich werde in diesem Kapitel argumentieren, dass die Möglichkeit für den Men256 Vgl. B 7.3: ἔθος πολύπειρον. 257 Bei Parmenides’ Anwendung des Begriffs ‘Doxa’ wird nochmals ein pädagogisches Projekt sichtbar, das an Heraklits Paideia erinnert. Der Epheser hatte vom Standpunkt des Weisen her die Vorstellungen und Denkweisen des Alltagsmenschen verurteilt, um einen Ansporn zu bieten, Gewohnheiten zu durchbrechen und ein Erkenntnissuchender zu werden. Vgl. zur Diskussion Stemich Huber (1996) 155ff. 258 Vgl. B 7.5: D.L. IX 22: „(…) κρῖναι δὲ λόγῳ (…)“
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schen, Göttliches zu hinterfragen, die Trennlinie zwischen göttlichem Wissen und menschlicher Ignoranz endgültig zunichte macht. Im Sinne des Lehrgedichtes zu lernen und zu urteilen befähigt den Menschen –€vom Zustand des βροτός ausgehend – das Wissen der Göttin zu gewinnen.
3.5.3 Die Menschen im Lehrgedicht (2): Die Sterblichen Die Erkenntnissuche des Kuros hat ihren Ausgangspunkt in der Sicht- und Seinsweise der Sterblichen. In didaktischer Lektüre sind die Menschen zunächst alle βροτοί und werden zum Kuros, wenn sie ihre Erkenntnisfähigkeit entwickeln. Erst in Abgrenzung zur falschen Wirklichkeitsauffassung der Sterblichen finden die Menschen die Möglichkeit, sich auf die Erkenntnis der Wahrheit der Göttin auszurichten. Auf welche Art aber nutzt der Eleate die Beschreibung der Sterblichen in seinem Lehrgebäude? Das Lehrgedicht trennt schematisch zwischen dem Wissenden259 und den Nichwissenden.260 Die βροτοί wissen nichts und der Kuros soll alles wissen. Für den Zustand der Sterblichen, nichts wissend zu sein, ist kennzeichnend, dass sie zweiköpfig, ratlos und verwirrten Geistes sind,261 stumpf dahinleben und blind sind262 – oder zugleich stumpf von Sinnen und nicht sehend. Sie sehen nicht, was sie sehen sollten und hören nicht, was sie hören sollten und sind nicht imstande, richtig – der Wahrheit gemäß – zu sprechen.263 Sie stehen gleichsam mit offenem Mund da, eine verworrene, unentschiedene Masse.264 Das Motiv der geistig stumpfen Vielen bildet in der Vorsokratik 259 B 1.3: Der Kuros ist εἰδότα φῶτα. 260 In B 6.4 sind die Sterblichen βροτοὶ εἰδότες οὐδέν. 261 Nach B 6.4-9: Simp. in Ph. 117.8-13: „Doppelköpfe (δίκρανοι). Denn Ratlosigkeit steuert (ἀμηχανίη (…) στήθεσιν) in ihrer Brust den hin und her schwankenden Sinn (πλαγκτὸν νόον). Sie aber treiben dahin stumm zugleich, und blind (φοροῦνται κωφοὶ ὁμῶς τυφλοίτε), die verblödeten, unentschiedene Haufen (τεθηπότες ἄκριτα φῦλα)“ [DK I 233]. Sie sind in einem Zustand, der sich mit O’Brien (19872) 25, als „a mind astray“ zusammenfasst. 262 Mit B 6.6-7. Interessanterweise ist im Sprachgebrauch der Göttin kein Unterschied zur Verbform für den Kuros auszumachen: denn im Prooimion wird auch der Wissende getragen (vgl. z.€B. B 1.1; B 1.4; B 1.25). 263 Mit B 7. 4-5: D.L. IX 22: „(…) das blicklose Auge und das dröhnende Gehör und die Zunge (…)“ [DK I 235]. Mit O’Brien (19872) 25, übersetzt: „to exercise an aimless eye, an echoing ear and tongue.“ 264 Es wurde spekuliert, dass Parmenides mit der obigen Kritik Heraklit treffen wollte. Die Tatsache, dass sich Heraklit – wie Parmenides – gegen die Meinungen der Vie-
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keine Neuheit.265 Parmenides nennt die Sterblichen mit dem Begriff φῦλα einen Stamm oder eine Horde,266 Menschen also, die ihre Identität im Kollektiv finden. Die Sterblichen sind eine ἄκριτα φῦλα, eine Gruppe, die unfähig ist, etwas zu erkennen,267 während der Kuros κριτικός sein soll; er soll gemäß dem Auftrag in B 7.5 fähig sein, zu urteilen. Das Verhalten der Sterblichen ist implizit auch durch den Ausdruck in B 7.3 beschrieben, der Kuros solle nicht durch Brauchtum gezwungen sein,268 den falschen Weg zu gehen. Die Alltagsüberzeugungen aber zwingen die Menschen,269 sich im Alltagstrott im Kreise zu drehen,270 was nichts mit dem
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len, gegen Tradition und Glauben wendet, macht es meiner Meinung nach wenig plausibel, dass die Kritik in B 6 dem Epheser gilt. Warum auch sollte Parmenides den Einzelgänger aus Ephesos mit einem Wort bezeichnet, das einen Stamm oder ein Volk definiert? Dagegen Mourelatos (1970) 240: „The doctrine of the coincidence of opposites, celebrated by Heraclitus (…) is rejected by Parmenides“; und ders., Anm. 55, S. 240: „Parmenides saw this, that the opinions of all men were unconscious and unsystematic Heracliteanism.“ Viele der Fragmente Heraklits machen dies deutlich. Vgl. zur Thematik Voigtländer (1980). Mit Mourelatos (1970) 35, beschreibt Parmenides weniger wortgewandt als Heraklit oder Empedokles die Eigenschaften der Sterblichen. Vgl. B 6.7: Simp. in Ph. 117.11 (Diels): (… ἄκριτα φῦλα: „(…) unentschiedene Haufen“ [DK I 233]. Mit O’Brien (19872) 25, übersetzt: „agape, hordes incapable of discernment.“ Dazu im Gegensatz steht der Auftrag an den Kuros in B 7.5, kritisch zu urteilen. Vgl. ἄκριτος: unfähig zu spüren, wahrzunehmen, zu erkennen (nach LSJ); konfus, unklar (nach Bailley). Clem. Al. Strom. V, XIV 112.2: μηδέ σ’ ἔθος πολύπειρον (…) βιάσθω: „(…) es soll dich nicht vielerfahrene Gewohnheit (…) zwingen“ [DK I 234-5]. Ein Thema, das auch Heraklit formulierte. Vgl. z.€B. 22 B 74: Marc. Aurel. IV 76: „Man soll es ferner nicht tun als Kinder der Erzeuger, d. h. schlicht ausgedrückt ‘wie wir es übernommen haben’“ [DK I 167]. Auch 22 B 18: Clem. Al. Strom. II 17: „Wenn er’s nicht erhofft, das Unerhoffte wird er nicht finden, da es unaufspürbar ist und unzugänglich“ [DK I 155], impliziert, derjenige der Wissen sucht, muss den Alltagshorizont der gewohnten Ansichten und Vorurteile überwinden. Vgl. Heraklits 22 B 78, worin ἔθος als die Alltagsverfassung samt dem entsprechenden Geisteszustand vorkommt: Origenes Cels. VI 12: „Denn menschliches Wissen (ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον) hat keine Einsichten, wohl aber göttliches“[DK I 168]. Veranschaulicht mit B 6.9, mit dem Bild eines zu sich zurückführenden Weges: Vgl. Simp. in Ph. 78.4 (Diels): (…) πάντων δὲ παλίντροπός ἐστι κέλευθος: „ (…) für die es bei allem eine gegenstrebige Bahn gibt.“ Gut verständlich in der Übersetzung von O’Brien (19871) 25: „of all ‹these people› the path is one that turns back upon itself.“
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bewusst gewählten sich Einlassen des Kuros im Prooimion271 gemeinsam hat. Parmenides spricht also über die Sterblichen als Gegenpart zu seinem philosophischen Diskurs. Ihre Blind- und Stumpfheit bilden die unmittelbaren Ursachen ihrer inkorrekten Wirklichkeitswahrnehmung und ihres irrigen Weltbildes.272 Ihre Bindung an eine falsche Wirklichkeitsvorstellung ist vom philosophischen Standpunkt her unhaltbar. Wir werden als nächstes ermitteln, worin die sterblichen Auffassungen fehl gehen.
3.5.4 Βροτῶν δόξαι zur Bestimmung der Scheinmeinungen Die Rede der Göttin ist insofern verwirrend, als sie einerseits δόξαι abwertet und gleichzeitig fordert, dass der Kuros sie erlernen soll. Allerdings besteht ein klarer Unterschied zwischen den Sterblichen, die Meinungen vertreten, während sie blind daran glauben, und der Göttin, die kritische Distanz zu ihren Meinungen einhält.273 Scheinbar jedoch wendet die Göttin die
Ambivalenz der δόξαι als wirksames Mittel in der Belehrung an274 und der Kuros soll sein Wissen um die Scheinmeinungen bewusst im Prozess der Erkenntnissuche einsetzen. Wie ist dies gemeint?
271 Vgl. B 1.1, besprochen im Abschnitt 2.4. 272 Ihre falsche Beurteilung kommt in den Verben νομίζω, τίθημι und ὀνομάζω vor. Vgl. zu νομίζω: B 6.8: Simp. in Ph. 78.3 (Diels): „οἶς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ εἶναι ταὐτὸν νενόμισται: „denen das Seiende und das Nichtsein für dasselbe gilt und nicht für dasselbe (…)“ [DK I 233]. O’Brien/Frère (1987) 25, übersetzen νενόμισται mit „sont estimés“ bzw. “are reckoned.“ Vgl. zu τίθημι: B 8.55: Simp. in Ph. 30.25 (Diels): ἀντία δ’ ἐκρίναντο δέμας καὶ σήματ’ ἔθεντο: „und sie schieden die Gestalt gegensätzlich und sonderten ihre Merkzeichen voneinander ab“ [DK I 239-40]. Vgl. zu ὀνομάζω: B 8.53: Simp. in Ph. 30.23 (Diels): μορφὰς γὰρ κατέθεντο δύο γνώμας ὀνομάζειν: „Sie haben nämlich ihre Ansichten dahin festgelegt, zwei Formen zu benennen“ [DK I 239]. 273 Die Tatsache, dass die Göttin mit den Welterklärungen anders mit βροτῶν δόξαι umgehen kann, ist im achten Fragment beschrieben, wenn sie den Übergang von der Seinslehre zur Lehre über die Scheinmeinungen ankündigt. Vgl. B 8.50-52: Simpl. in Ph. 30.17-19 (Diels): Damit beschließe ich für dich mein verlässliches Reden und Denken über die Wahrheit. Aber von hier ab lerne die menschlichen Schein-Meinungen kennen (…)“ [DK I 239]. Vgl. in diesem Sinne Mourelatos (1974) 317: „Mortals practice amphilogy innocently and thereby fall into error, the goddess practices amphilogy with full knowledge, and thereby reveals the truth.“ 274 Curd (1998) III Kap., diskutiert ausführlich mögliche Gründe dafür, dass Parmenides einen derart großen Teil seines Lehrgedichtes der Doxa widmete.
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Ich hole weiter aus, um die didaktische Tragweite einer Erkenntnis der Scheinmeinungen zu veranschaulichen. Nachdem die Göttin mit B 1.28-30 die gegensätzlichen Wissensbereiche abgesteckt hat, gehen die folgenden zwei Verse genauer auf den Bereich der Scheinmeinungen ein; man könnte meinen, als deren Rechtfertigung.275 In B 1.31-2 deklariert die Göttin, der Kuros solle trotzdem δοκοῦντα und δοκίμως, Meinungen und Erscheinungen – oder mit Mourelatos, das (allgemein) Angenommene – kennenlernen.276 Die Sterblichen definieren im Lehrgedicht die Wirklichkeit mit Wörtern, die von der Wurzel ‘δοκ-’ abstammen.277 Daraus, dass die δοκ- Wörter Annahmen meinen, die aufgrund von Überlegung entstanden sind, wird deutlich, dass sie dem Menschen nicht einfach zukommen, sondern in freier Entscheidung entstehen.278 Indes sind sie nicht im Sinne der höheren Wahrheit wahr. Wie aber kann der Mensch, der gemäß Parmenides’ Darstellung stumpfen und verwirrten Geistes ist, eine klare beziehungsweise wahre Erkenntnis – das Wissen der Göttin – gewinnen? Das Problem liegt weniger in den δόξαι, als darin, dass die Sterblichen aufgrund ihrer verzerrten Wahrnehmung falsch urteilen, beziehungsweise etwas als wahr annehmen, das unwahr und nicht vertrauenswürdig ist. Der Kuros aber, der das Wissen der Göttin zu erlangen sucht und der einsieht, dass sein Alltagswissen nur aus Scheinmeinungen besteht, kann diese Erkenntnis als Lernhilfe einsetzen. Er kann verstehen, dass seine Bildung einen Erfassungsbereich beinhaltet, der unvollständig ist, weil er nicht wirkliches Erkennen bedeutet, sondern bloß das Erfassen einer Pluralität von Seienden, die in Widersprüche aufgespalten sind. Wenn ein Zuhörender Parmenides’ Diagnose des menschlichen Alltagszustandes versteht, dann erkennt er sich 275 B 1.31-32: ἀλλ’ ἒμπης καὶ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦτα / χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα: „Doch wirst du trotzdem auch dieses kennen lernen, und zwar so, wie das ihnen Scheinende auf eine probehafte, wahrscheinliche Weise sein müsste, indem es alles ganz und gar durchdringt“ [DK I 230]. In der Übersetzung von Mourelatos (1970) 216: „But, nevertheless, this also you shall learn, how it would be right for things deemed acceptable to be acceptably; just being all of them altogether.“ 276 Ich fasse im folgenden Mourelatos (1970) 194-221 zusammen. 277 B 1.30: βροτῶν δόξαι; B 1.31: δοκοῦντα und 1.32: δοκίμως. Vgl. wortgeschichtlich Sprute (1962) 36-44. 278 Vgl. Mourelatos (1970) 196, der δοκεῖν – im Gegensatz zu φαίνεσθαι, etwas erscheint intuitiv – kriteriologisch – im Gegensatz zu phänomenologisch – deutet.
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selbst darin wieder.279 Dann kann er im Vergleich zum Maßstab der Wahrheit des Philosophen seine Annahmen als kritisierbare Welterklärungen verstehen – und sie überwinden.
3.5.5 Worin liegt der Fehler der Sterblichen? Es gibt Zeilen im Lehrgedicht, die suggerieren, dass die Scheinmeinungen der Sterblichen falsch angewandte Namen oder Begriffe sind und, dass die Sterblichen fehl gehen, weil sie Gegensätze bestimmen und die Welt in Polaritäten definieren. Einige Autoren deuten, dass die phänomenale Welterfahrung der Sterblichen durch die Sinnesorgane – anstatt auf rationale Art mit dem Geist (νόος) – den Ursprung ihrer Fehleinschätzungen ausmache,280 weshalb der Inhalt ihrer Gedanken falsch sei.281 Dieses trifft durchaus zu. Doch überlesen diese Interpreten den dynamischen Bezug zum Menschen, der beides ist. Immer ist der Mensch ein Sterblicher, der in Scheinmeinungen verfangen ist; dabei ist er potentiell zugleich ein Kuros, der die göttliche Wahrheit erkennen kann. Ich möchte im Folgenden fragen, warum die Denk- oder Wissensinhalte der Menschen gemäß Parmenides nicht vertrauenswürdig sind. Schließlich gehe ich davon aus, dass die Göttin die Sterblichen nicht bloß kritisiert, weil sie falsch denken, sondern weil der Mensch im Alltagszustand sein Potential nicht ausschöpft. Wie gesehen, liegt die Wurzel der Fehlinterpretation der Sterblichen darin, dass ihr νόος herumirrt, weshalb sie unfähig sind, sich auf die Wahrheit des Philosophen zu konzentrieren. Sie sehen stattdessen nur Scheinwahrheiten – gerade weil ihr νόος nicht ἀτρεμές sein kann. Der 279 Mourelatos (1970) 218, liefert in diesem Sinne eine pädagogische Deutung: „(…) the promise that we will learn (a) what it takes for δοκοῦντα to be genuinely of reality; (b) what is the reason for saying that δοκοῦντα are not δοκίμως, as things are (= among mortals).“ 280 Vgl. Miller (1977) 255: „The error of mortals consists in their attempt to use names for contrary forms such as „light“ and „dark“. Such names function as excluders, since the application of one rules out the application of the other.“ Mourelatos (1970) 221 betont: „The conceptual scheme of ‘Doxa’ is incoherent, because the κρίσις, „decision, separation“, on which it is based is not radical enough.“ 281 Curd (1992) 106: „The deception in the Doxa lies not in its being the thought of mortals (any mortals), but in its content, and particularly in the ontological assumptions necessitated by the nature of two principles that serve as its archai. (…)“ Diese Arbeit soll hingegen deutlich machen, dass diejenige Doxa, von der Parmenides spricht, darin besteht, eine Fehleinschätzung oder falsche Wirklichkeitsauffassung des Alltagsmenschen zu sein.
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Vorwurf der Göttin an die Sterblichen spielt also nicht unbedingt die Sinne gegen den Geist aus, sondern tadelt vor allem die unbefriedigende Art, beide einzusetzen.282 Bei einer genauen Lektüre derjenigen Fragmente, in denen die Sinnenhaftigkeit und der Geist gemeinsam vorkommen, wird sichtbar, dass beide Aspekte im Menschen miteinander verbunden sind. Gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretation geht es daher nicht darum, den Körper gegen den Geist auszuspielen – denn ein Mensch kann nicht körperlos Mensch sein. Ich werde im sechsten Kapitel dafür argumentieren, dass Parmenides durchaus auch der Sinneswahrnehmung eine für die Erkenntnissuche förderliche Aufgabe zuweist.
3.6 Drittes Zwischenergebnis Die Göttin hat die Wahrheit im Gegensatz zu den Meinungen vorgestellt. Scheinbar führt der Weg der Annahmen der Sterblichen in die der Wahrheit entgegengesetzte Richtung. Umfasste die Wahrheit die Kraft der Überzeugung,283 so sind die menschlichen Meinungen weder überzeugend noch vertrauenswürdig, weil ihnen keine πίστις ἀληθής innewohnt. Doch ungeachtet der Tatsache, dass Meinungen einen unerfahrbaren Weg entlang führen,284 soll sich der Wissende nicht davon fernhalten. Das ist ein interessanter Widerspruch. Weil es gemäß der Göttin nicht damit getan ist, diesen Bereich zu verwerfen, ist es plausibel, dass ihrer Forderung, auch Scheinmeinungen zu lernen, eine wesentliche, instrumentelle Funktion zukommt. Das Verständnis nämlich, dass die Erkenntnisse des Alltags nicht mehr als Scheinmeinungen sind, kann das Erlernen der richtigen Haltung gegenüber dem Wissen der Göttin erleichtern. Nun bietet die Aufgabe der Göttin, Scheinmeinungen zu lernen, mehr als den Vorschlag eines Lerninhaltes, er bietet Anschauungsmaterial zur Selbsterkenntnis. Denn der Kuros versteht erst im Kontrast zur vertrauenswürdigen Wahrheit, dass die Göttin in ihrer Beschreibung der Sterblichen tref282 Ähnlich auch bei Heraklit. Vgl. 22 B 107: S. E. M. VII 126: „Schlimme Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, sofern sie Barbarenseelen haben“ [DK I 175]. 283 Vgl. oben, Abschnitt 3.3.1, S. 86f. 284 Mit B 2.6: Procl. in Ti. I 345.24: „dieser Pfad ist (…) völlig unergründbar“ [DK I 231]. Vgl. die Übersetzung von O’Brien (19871) 17: „a road of which we can learn nothing.“
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fend seinen Alltagszustand darstellt. Erst als Folge der Einsicht, dass seine normale Geisteshaltung zu Fehlurteilen und zu einer falschen Wirklichkeitsauffassung führt, kann der Mensch seine Überzeugungen in Frage stellen. In didaktischer Hinsicht ist also das Erlernen von Doxa deshalb bedeutsam, weil ihre Beschreibung sowie die Darstellungen der sterblichen Verfassung zur Möglichkeit für den Kuros führt, diese zu überwinden.285 Die vorherigen Abschnitte befassten sich mit einer Begriffsbestimmung der Scheinmeinungen und mit der Ermittlung derjenigen, die solche Meinungen vertreten. Ich habe begründet, warum Parmenides die Menschen nicht statisch, in ihrer Unwissenheit gefangen, beschreibt. Das Lehrgedicht verweist im Bild des Kuros – der göttliches Wissen gewinnen kann – und der βροτοί – welche die Wahrheit nicht erkennen – auf Entwicklungsstufen menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Parmenides’ Menschenbild ist dynamisch angelegt. Demnach bildet das Verständnis des Kuros, dass die Erkenntniswelt des common man aus Scheinmeinungen, also Fehleinsichten, besteht, eine erste Stufe hin zur Erkenntnis der Wahrheit des Philosophen. Die Ursache dafür, dass die Sterblichen nicht die Wahrheit des Seienden erkennen können, ist ihr Geisteszustand. Denn die βροτοί sind dumpfen, unsteten Geistes und folgen einem kollektiven Gewohnheitstrott, weshalb sie unfähig sind, eigenständig zu urteilen, klar zu sehen, zu hören oder zu sprechen. Der Kuros aber lernt, insofern er diese Sachlage einsieht, zunächst sich selbst zu erkennen.286 Infolge meiner Interpretation von B 1.30, welche dem Lernen der Scheinmeinungen der Sterblichen vor allem eine diagnostische Funktion zuschreibt, ist die Vorstellung, dass der Mensch als Kuros die Erkenntnis des Philosophen gewinnen kann, in erster Linie prognostisch zu deuten.287 285 Vgl. in diesem Sinne Trabattoni (1998) 16: „Parmenide vuole dire che τὰ δοκοῦντα hanno un εἶναι solo δοκίμος (…). Si tratta di un avvertimento (…) a non farsi ingannare dalle apparenze (…).“ 286 Schon Heraklit hatte nicht nur eine Lebenspraxis als Voraussetzung zur Erkenntnissuche gefordert, sondern auch, dass der Alltagsmensch seine weniger erfreulichen Seiten, nämlich dumpf und schlafend, traditionsgebunden und von den Meinungen Anderer abhängig zu sein, erkenne und überwinde. Erst dann wird der Mensch gemäß Heraklit frei, sich auf den Suchweg zu machen. Vgl. die Diskussion in Stemich Huber (1996) 145ff. 287 Parmenides vertritt die optimistische Einstellung, dass Menschen die Wahrheit der Göttin erkennen können, wenn sie ihren epistemischen Zustand richtig einschätzen; wenn sie also beginnen, an ihren Alltagserkenntnissen zu zweifeln.
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3.7 Zusammenfassende Bemerkungen Die Verse B 1.28-30 nehmen den Inhalt des Lehrgedichtes voraus Der Kuros solle alles lernen, nicht nur die Wahrheit der Göttin, sondern auch die Meinungen der Sterblichen. Die Wortwahl im Lernversprechen der Göttin zeigt, dass der Lernende sich aktiv am Lernprozess beteiligt. Dabei involviert das Lernen ein breites Spektrum von Fähigkeiten, vor allem aber einen klaren Geist. Der Lernbereich, den B 1.29 als „unerschütterliches Herz der Wahrheit“ beschreibt, setzt nicht nur eine objektive Wirklichkeit außerhalb des Menschen voraus, sondern zugleich auch die Möglichkeit eines Zugangs zu dieser Wirklichkeit für den Menschen. Es geht bei Parmenides’ Wahrheit weniger um eine ontologische These, als auch um eine epistemische Lehre. Eine traditionelle Deutung, welche die Wahrheit des Parmenides ohne den hier vorgeschlagenen Bezug zum Menschen abhandelt, ist schon deshalb unbefriedigend, weil sie die Tragweite der Begriffe, die in B 1.29 die Wahrheit umschreiben, übersieht. Daher ist ein Verständnis, welches ‘Wahrheit’ zugleich in ihrer ontologischen Bedeutung und menschenbezogenen Eigenschaft anerkennt, vorzuziehen. Im Gegensatz zum ersten Lernauftrag soll der Kuros im Vers B 1.30 ungewisse Scheinmeinungen kennenlernen. Ich habe dafür argumentiert, dass es mit der Kritik der Doxa nicht so sehr um ein Infragestellen des Inhaltes von Meinungen geht, als um Parmenides’ Diagnose der Sterblichen, die in Scheinmeinungen denken. Parmenides’ Urteil betrifft den Geisteszustand des Menschen, der für das Entstehen von Doxa verantwortlich ist. Gemäß der oben vorgeschlagenen Lektüre, können die Menschen ihre Erkenntnisfähigkeit entfalten und sinngemäß in wissende „Kuroi“ und unwissende „Sterbliche“ gegliedert werden. Dem Menschen jedoch ist als Anlage das Scheinwissen wie das Wissen der Göttin gegeben. Nichtwissen bedeutet so gesehen die Nichtentfaltung der menschlichen Anlage, göttliche Erkenntnis zu erreichen. Gemäß der vorgeschlagenen Interpretation bildet die Aufgabe für den Kuros, auch Doxa kennenzulernen, einen notwendigen Bestandteil des Bildungsgeschehens. Durch sie lernt der Kuros mit Hilfe der Instruktionen der Göttin, diejenigen Denk- und Erkenntnisstrukturen zu begreifen, die ihn hindern beziehungsweise unterstützen, das Ziel der Kognition des Seienden zu erlangen. In diesem Sinne enthält die Aufgabe für den Kuros, auch den Bereich der Scheinmeinungen zu kennen, zugleich eine Forderung nach Selbsterkenntnis.288 288 Vgl. Stuart (1980) 13: „To understand that one’s normal, unphilosophical view of the world rests on quicksand is the first step (…).“ Der Gedanke, dass die Kognition der Wahrheit mit dem Wissen um das eigene Nichtwissen einhergeht, ist sokratisch.
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Die Seinsweise der rastlosen Sterblichen mit ihren wechselhaften Meinungen ist als solche dem Sein, der absolut reglosen Wahrheit des Philosophen, fremd.289 Meine Untersuchungen wollen deutlich machen, dass es fragwürdig und kaum begründbar ist, die Wirklichkeit des Parmenides zwischen der banalen Welt der Sterblichen und dem erhabenen, abstraktunerschütterlichen Bereich der Wahrheit zu trennen. Diese Trennung ist deswegen nicht haltbar, weil das Seiende gemäß der Göttin schon immer existiert290 und ganz ist,291 ohne Anfang und ohne Ende.292 Wenn das Seiende jetzt und überall ist, dann ist es fraglos auch dort, wo die sterblichen Menschen sind – doch sie erkennen dies nicht.293 Aufgrund dieser Bestimmungen der göttlichen Realität im Lehrgedicht ist es logisch unmöglich, sich eine zweigeteilte Wirklichkeit vorzustellen.294 Indes ist es durchaus plausibel, verschiedene Wirklichkeitswahrnehmungen anzunehmen. So gelesen, weist der Lernauftrag der Göttin auch auf die Tatsache, dass das Scheinwissen einerseits und die Wahrheit der Göttin andererseits weniger verschiedene Realitäten betrifft, als unterschiedliche Arten wahrzunehmen. Der Philosoph indes versteht, dass es aus göttlicher Perspektive um eine selbe Realität geht.
289 In diesem Sinne betont Hippolytus in seinem Buch über die Physiker (1.14), dass Parmenides zwei sich widersprechende Teile verfasst habe: ap. Osborne (1987) 209. 290 Gemäß B 8.21: Simp. in Cael. 559.17: „So ist Entstehen verlöscht (γένεσις ἀπέσβεσται) und verschollen Vergehen (ἄπυστος ὄλεθρος)“ [DK I 237]. 291 Gemäß B 8.24: Dam. Pr. Kap. 276: „(…) es ist vielmehr ganz von Seiendem erfüllt (πᾶν δ’ἔμπλεόν ἐστιν ἐόντος)“ [DK I 237]. 292 Gemäß B 8.27: Simp. in Ph. 79.32f. (Diels): „.. ist es ohne Anfang, ohne Ende (ἄναρχον, ἄπαυστον) (…)“ [DK I 237]. Und gemäß B 8.33: Simp. in Ph. 40.6 (Diels): „… es ist unbedürftig (οὐκ ἐπιδευές;)“ [DK I 238]. In diesem Sinne nennt Engelhard (1996) 54, das Seiende vollendet, weil es bedürfnislos und in sich abgeschlossen ist. 293 Genauso kritisierte Heraklit: 22 B 16: Clem. Paed. II 99: „(Denn) es verstehen solches viele nicht, soviele auch darauf stoßen, noch erkennen sie es, wenn sie es lernen (…)“ [DK I 155]. 294 Auch diese Feststellung ist bei Heraklit zu finden; denn er bestimmt, dass der innere Logos des Menschen und der kosmische Logos eins sind. Vgl. zusammengefasst in Stemich Huber (1996) 220-223.
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Nun steht zur Frage, inwieweit Parmenides’ didaktischer Ansatz in seiner philosophischen Anweisung auf traditionell vorgegebenen Motiven gründet und inwieweit sie eine Neuentwicklung alter Vorstellungen mit sich bringt. Um diese Frage beantworten zu können, werde ich im nächsten Kapitel die kulturell vorgegebenen Lernvorstellungen zu Parmenides’ Zeit erforschen.
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Der pädagogische Rahmen um Parmenides
4.1 Einleitung
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ie bisherigen Kapitel bewegten sich vor allem im Umkreis des Prooimions. Gemäß der vorliegenden Interpretation ist der eleatische Text in pädagogischer Intention entstanden und Parmenides’ pädagogische Konzepte sind bereits im Lernversprechen am Ende des Prooimions erkennbar. Vor einer weiteren Analyse der didaktischen Anleitungen zur Seinserkenntnis ist es unabdingbar, über die Erziehungsvorstellungen um Parmenides’ Zeit zu sprechen. Beweisziel dieses Kapitels ist folglich zu klären, welche Erziehungsmethoden vor Parmenides im alten Griechenland existierten und wie weit sich Parmenides daran hielt. Schließlich soll auch die Frage gestellt werden, inwiefern er durch sein Lehrgedicht Vorläufer und Ausdruck einer veränderten pädagogischen Tradition geworden ist. Vor allem soll geklärt werden, ob die im Lehrgedicht vorgeschlagene Lernmethode durch homerisch-hesiodische Vorstellungen geprägt ist und in welchen Aspekten der Eleate die kulturell vorgegebenen pädagogischen Konstanten seiner Zeit weiterentwickelte. Des weiteren soll ein Vergleich mit Platons ungefähr 100 Jahre nach Parmenides entstandenen Idealvorstellung zur παιδεία gezogen werden. Es geht im besonderen um Parmenides’ Lehrmethode in der Geschichte der Erziehung im alten Griechenland. Ein erster Abschnitt soll die traditionelle Art der Wissensvermittlung, die sich der homerischen Epen und der hesiodischen Werke bedient, darstellen. Es wurden jahrhundertelang Epen vorgetragen, die auf homerisch-hesiodischen Kollektivmeinungen gründeten. In Absetzung zu dieser Gepflogenheit entwickelten sich bereits in der Vorsokratik philosophisch und religiös begründete, individuell geprägte Lehrer-Schüler-Verbindungen, in denen Schüler nach festgelegten Regeln eine geistige Disziplin einübten. Zudem schafften vorsokratische Denker, gerade im Widerspruch zur öffentlichen Kultur, eigenständige Theorien. So rühmte sich zum Beispiel Heraklit, keinen Lehrer gehört und im Alleingang gelernt zu haben,295 verwarf die Lehrer der Volkstradition und begann eine autonome Wissenssuche.
295 Vgl. D.L. IX 5: „Er ging bei niemandem in die Lehre, erklärte vielmehr, er erforsche sich selbst und schöpfe sein ganzes Wissen aus sich selbst.“
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In der frühen Antike geschah Lernen hauptsächlich durch mündliche Vermittlung und kaum durch Lesen. Diese Tatsache reflektiert sich noch in Platons Bestimmung, Lernen geschehe vor allem im Dialog. Dass Platon in klaren pädagogischen Vorstellungen das homerisch-hesiodische Erziehungsideal in Frage stellte, spricht für die Lebendigkeit der antiken didaktischen Tradition. Ein abschließender Abschnitt wird Parmenides in den so gespannten Rahmen verorten. Dieses Kapitel soll aufzeigen, dass Parmenides’ Lehre zwischen der traditionellen Annahme einerseits, nach der die Götter für die Entscheidungen der Menschen verantwortlich sind und der sokratisch begründeten individuellen Verantwortlichkeit andererseits, steht. Die Gegensatzspannung dieser verschiedenen Modi von moralischer Verantwortlichkeit reflektiert sich darin, dass Parmenides in seiner Schrift mit göttlicher Stimme fordert, der Kuros solle eigenständig handeln. Zunächst sei die epische Idealvorstellung der Heldenschulung näher betrachtet, soweit sie für meine Belange relevant ist.
4.2 Das homerisch-hesiodische Erziehungsideal Die Geschichtsschreibung über die Wurzeln unserer kulturellen Identität greift vor allem auf homerische und hesiodische Texte und mythologische Erzählungen zurück. Diese bilden die ältesten uns verfügbaren Dokumente über die Erziehungsvorstellungen in der antiken griechischen Kultur296 und gelten als Nachweise für gesellschaftliche Normen, die vor der Ilias, der Odyssee und den Werken Hesiods entstanden sind; nämlich in einer längst vor dem 8.€Jh. v.€Chr. beginnenden, dichterischen Tradition.297 Lange vor Parmenides’ Zeit haben sich die Menschen im alten Griechenland an den epischen Idealen von Ruhm, Ehre und Freundschaft orientiert und, in Nachahmung der Helden der Dichtung, deren Wertvorstellungen 296 Vgl. zur Diskussion Rabbow (1954); P. Hadot (1981); Domanski (1996). Dass die oben genannte Sichtweise über die Entstehung unserer Kulturgeschichte einseitig ist, beweisen u.€a. die kontroversen Theorien von Bernal (1987). Immerhin waren die nahöstlichen Kulturen mitentscheidend für die Entwicklung der griechischen Ideengeschichte. Nicht zuletzt bildeten die Verbindungswege im persischen Riesenreich zwischen den Völkern der östlichen Küste Griechenlands und des Hindukusch im 6.€Jh.v.€Chr. relevante Kontakt- und somit Inkulturationsmöglichkeiten für die involvierten Völker. Vgl. Bowen (1972) 58: „The trade routes went in both directions; the rhapsodes took Homer out, the merchants brought new ideas in.“ 297 Vgl. Marrou (1955) 27ff.
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verinnerlicht. Auch die generationenlang paränetisch vorgetragenen hesiodischen Anweisungen über richtiges Betragen und Handeln prägten sich im Volkswissen ein: Sie wurden kollektiv durch Heldensänger vermittelt, die von Ort zu Ort zogen und stundenlang den versammelten Menschen vortrugen. Die epischen Erzählungen spiegeln die Wertmaßstäbe eines gemeinschaftlichen, aristokratischen Kriegerlebens wider. Junge Menschen sollten diesen Idealen nachleben.298 Ein homerischer Held verfügte über enzyklopädisches Wissen und kannte praktische Verhaltensregeln wie theoretische Wissensgrundlagen zu allen lebenswichtigen Angelegenheiten.299 Er sollte stets mutig sein. Wenige Zutaten und festliegende Verhaltensregeln bildeten die Hauptelemente dieser traditionellen Erziehung. Dieselben kollektiven Grundsätze des Epos wiederholten sich in Erfahrungssätzen, gnomischen Lehren und Dogmen.300 Reiche Söhne hatten einen Diener (θεράπων) und Freund zugleich (ἑταῖρος) zur Seite, der sie in ihrer Wertbildung führte.301 Diese Praxis widerspiegelt sich im Bericht über Cheiron und Phönix, die mythischen παιδαγωγοί, die ihre Helden von Kindesbeinen an begleiteten und diesen alles, was sie wussten, beibrachten. 298 Beispielsweise in Nachahmung der ritterlichen Erziehung der κοῦροι im Dienst ihres königlichen Herrn. Vgl. z.€B. Hom. Il. I 463; 470; 473-4; IX 175; Hom. Od. I 148; III 33; XXI 271. 299 Im Motiv der Heldenerziehung durch den Kentaur Cheiron zeigt sich eine pädagogische Idealvorstellung des epischen Zeitalters. Vgl. Pindar, 3. Pyth. Ode, 11.57. Zu Cheiron vgl. Beck (1964) 49-51. Cheiron erzog Achilles nach dem Muster einer Heldenpädagogik, wonach sich Achilles sportlich, in ritterlichen Tugenden, in Gesang und Saitenspiel, Jagd- und Waffenübungen zu bewähren hatte, sowie in den Künsten des Hellsehens (μαντική). Er wurde in Recht und gesetzlichem Handeln (δικαιοσύνη) sowie schließlich in Chirurgie und Pharmakopöe (ἰατρική), angeleitet. Vgl. hierzu Hom. Il. XI 831-2 und IV 219. Darüber berichtet Plu. Thes. c.2. 300 Vgl. ausführlich Krause (1851) 44ff; siehe auch Stemich Huber (1996) 21-31. 301 So in Hom. Il. XI 75ff., am Beispiel des Patroklos als Begleiter des Achilles. Dieses Motiv zeigt sich in der Rede des alten Lehrers Phoinix, der Achilles erklärt, er habe ihn für das Leben ausgebildet und angeleitet, ‹gut zu sprechen› und ‹gute Taten› zu tun. Vgl. Hom. Il. IX 434ff. und Hom. Il. IX 442: „μύθων τε ῥητῆρ’ ἔμεναι, πρηκτῆρά τε ἔργων“. Besprochen in Krause (1851) 49. Vgl. auch Marrou (1955) 33, ein junger Mann solle zugleich ein guter Orator und ein guter Krieger sein. Der Mentor sollte den Helden schützen und seine Zukunft im voraus erblicken. Vgl. in diesem Sinne die Darstellung der Göttin Athena als Mentorin des Telemachus: Hom. Od. I 80f.; II 267ff. Vgl. zu diesem Thema Curren (2000), bes. Kap.€1, worin die griechische paideia des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts sowie die Gepflogenheit, Sklaven zur Erziehung einzusetzen, diskutiert wird.
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Rhapsoden vermittelten der antiken griechischen Gesellschaft das Wissen um ἀρετή, das vor allem aus heroischen Moralvorstellungen bestand, die auf Ehre und Ruhm gründeten und auf der Erwartung, dass ein Mensch stets „der Beste“ sein sollte.302 Die Barden und Dichter hatten daher auch die Funktion von Volkserziehern, die das heroische Beispiel (παράδειγμα) der Heldentaten zur Nachahmung vorführten und in diesem Geiste Generationen von Griechen nach einem sich gleichbleibenden Menschenideal bildeten.303 Diese Sachlage war dadurch begünstigt, dass das kulturelle Leben eines Großteils der damaligen Griechen mindestens bis ins fünfte vorchristliche Jahrhundert hauptsächlich auf mündlicher Tradition basierte.304 Die Menschen konnten lange Passagen aus den Epen auswendig. Marrou zitiert in diesem Sinne eine Stelle aus Xenophons Symposium, worin Nikeratos erzählt, wie ihn sein Vater, der aus ihm einen ἀνὴρ ἀγαθός machen wollte, gezwungen habe, die ganzen homerischen Texte zu lernen. So sei er (Nikeratos) jetzt noch fähig, die Ilias und die Odyssee auswendig zu rezitieren.305 Tatsächlich behauptete sich der Einsatz von Schrift außerhalb von administrativen und Handelszwecken erst ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. Durch die Verwendung der Schrift im Bereich der Prosa und der philosophischen Spekulation entstanden neue Kulturmuster, durch die sich ein neues Menschenbild anbahnen konnte.306 302 So sollte ein Mensch mit dem Leit- und Vorbild des lebensgewandten und schlauen Odysseus lernen, sich in jeglicher Situation zu helfen zu wissen und niemals anderen unterlegen zu sein. Ein ἄριστος zu sein verbindet sich vor den platonischen Frühdialogen vornehmlich mit dem epischen Helden- und Adelsideal: vgl. Hom. Il. 9.498; Il, 13.275-7. An dieser Stelle sei an die antike Auffassung über die kalokagathia, die charakterliche Güte, und an den kaloskagatos, den „guten und schönen Menschen“ erinnert, eine Vorstellung die in der klassischen griechischen Gesellschaft an erster Stelle dem wohlgeborenen und Reichen zukam. Obwohl der Begriff zunächst bloß als adliges Standesideal und als Distinktionsmerkmal gegenüber dem Volk Anwendung fand (z.€B. in Pl. R. 569a), so löste er sich spätestens mit den Sophisten und in Platons Frühdialogen aus der Bindung an den Adelsstand und wurde zur Beschreibung des guten und ehrenhaften Mannes, zum Beispiel als Erziehungsideal in der Politeia (505b-531c), eingesetzt. 303 Vgl. Pl. Phdr. 245a. 304 Vgl. Robb (1994) 21-96, bes. 141. 305 Marrou (1955) 35, zitiert Xenophon, Symp. III,5, der die Kompetenz, die epischen Werke auswendig zu rezitieren, verspottet. Vgl. hierzu Barclay (1959) 103. 306 Bowen (1972) 57-62: „The alphabet (…) made literacy available potentially to all; its economy brought symbolic literacy forward as a ready utility for further specu-
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Die traditionellen Verhaltensmuster implizierten, dass sich der Mensch unter bestimmte Vorstellungsbilder eingliederte, nicht aber autonom zwischen Lebenszielen wählte, in eigener Reflexion moralische Werte umstrukturierte oder zu erneuern suchte.
4.3 Philosophieren als Schulung in der Vorsokratik Von diesem Kontext eines Erziehungsmodells ausgehend, das auf homerisch-hesiodisch geprägten Wertvorstellungen gründete, führten philosophische Denker weiter.307 Seit dem 6.€Jh. v.€Chr. existierten in der Magna Graecia pythagoreisch geprägte, philosophische Gemeinschaften, die neuartige Wertvorstellungen einführten und versuchten, die vorgegebenen Ideale in Frage zu stellen. Schüler dieser frühpythagoreischen Gemeinschaften, die religiös und geistig begründet oder durch politische Interessen verbunden waren,308 lebten nach gemeinsamen Glaubenssätzen, trugen spezielle Kleidung und folgten strengen diätetischen Richtlinien, während ihr Tagesablauf durch Verhaltensnormen strukturiert war.309 Hiermit übten sie einen Zustand ein, der den vernünftigen Teil des Menschen stärken und es ihm ermöglichen sollte, über seine Begierden zu siegen. Ein pythagoreischer Anhänger lebte, als Einübung zur σωφροσύνη, den in Form von Akusmata tradierten Worten seines Lehrers nach und prägte hierdurch im Laufe der lation, eroding the old warrior ideal as it opened the way to the creation of a world of ideas ready for exploration“ (61). 307 So bestätigt Xenophanes in 21 B 11: Herodian, π. διχρ. p. 296: „Da von Anfang an alle nach Homer gelernt haben (…)“ [DK I 131]. Bereits Heraklit hatte vehement gegen Homer und Hesiod als Volkserzieher gewettert. Vgl. 22 B 42; B 56; B 57; B 106. Vgl. hierzu Stemich Huber (1996) 23f. und 146-9. Klar gegen die traditionelle Erziehung durch die dichterischen Epen spricht Platon. Vgl. Pl. R. X 606e. 308 Die Überlieferung berichtet, dass sich Pythagoreer der Jugenderziehung widmeten und hierzu eine pädagogische Methode entwickelt hatten. Vgl. Aristox. Fr. 33, 34, 36-7, 42-6. Ausführlich in Zhmud (1993) 79. 309 Porphyrios. Iamb. VP thematisiert ein Menschenbild und eine Technik zur Einkehr in sich selbst als Bedingung zur Erkenntnis schlechthin. Dabei ging es um „gelebte Philosophie“, um eine Lebensform, mehr als um Theorie. Vgl. zur Thematik Albrecht v. (1966) 51ff. Pl. Lg. 6.783c, assoziiert den pythagoreischen Vegetarismus mit der orphischen Lebensweise; Xenophanes schrieb Pythagoras die Metempsychosistheorie zu [DK 21 B 37]. Tjiattas (1989) 394-402, geht auf die erzieherische Funktion der pythagoreischen Lebensweise ein. Vgl. zudem die Diskussion der pythagoreischen Philosophie bei Burkert (1962) und Riedweg (2002).
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Zeit einen seelischen Â�habitus.310 Durch das inspirierende Charisma des Pythagoras war ein enges Lehrer-Schüler-Verhältnis gegeben, welches das Lernen fördern sollte.311 Kurz, das gemeinsame Suchen von Wissen begründete eine Lebensform, und die frühpythagoreischen Vereinigungen hatten zugleich Züge einer asketischen und wissenschaftlichen Schulung. Ob diese Gruppierungen heute mehr im Sinne von religiös-kultischen oder wissenschaftlichen Gemeinschaften oder aber als politische Organisationen verstanden werden, hängt oftmals vom kommentierenden Autor ab.312 Eigentlich sind nach heutigem Wissen die verschiedenen Ausrichtungen des pythagoreischen Denkens nicht klar voneinander abgrenzbar. Diese Arbeit soll den Erweis bringen, dass, so wie im pythagoreischen Denken Philosophie als Lebenspraxis angelegt war, in der Vorsokratik andere Denkschulen sich einer methodischen Erkenntnissuche widmeten.313 Bereits bei den frühen ionischen Denkern ist eine innovationsfreudige Forschungsart zu beobachten, in der Schüler die Ideen des Lehrers kritisierten 310 Zu σωφροσύνη, Besonnenheit, vgl. Burkert (1962) 150ff.; sowie Tjiattas (1989) 394f. Die Konnotation des Begriffs ist komplex und versteht sich, im Gegensatz zu ὕβρις, als gesunder Menschenverstand, Vernünftigkeit, Maßhalten. Zu dem Wort ‘Akusmata’ vgl. Iamb. VP 82-6; siehe hierzu auch Kalogerakos (1996) III. Abschnitt; I. Hadot (1969) 23-7. Der Begriff ‘habitus’ ist wiederholt in stoischen Texten zu lesen. Vgl. Sen. Epist. 94.48.1-2: „«Philosophia», inquit, «dividitur in haec, scientiam et habitum animi.“ Wobei ‘habitus’ für den Charakter und die Verfassung eines Menschen steht. Vgl. Tjiattas (1989) 399: „The Pythagoreans are arguably the first in a long line of philosophers (…) who recognised that intellectual apprehension of moral principles is not sufficient to ensure moral action, that it is necessary to mobilise a mechanism that will work to transform individuals on the level of their preferences, motives, and basic beliefs (…). In Pythagorean terms, the only way to ensure the constitution of a moral environment is to set up a set of techniques and exercises which will causally bring about subjects capable of freely deliberating and choosing as befits moral agents.“ 311 Vgl. die Studien von Délatte (1962). Die pythagoreische Lerngemeinschaft funktionierte ähnlich, wie es Jahrhunderte später im Garten des Epikur wiederzufinden ist. 312 Während Zhmud (1993) bes. 75-85, bemüht ist zu beweisen, dass die pythagoreischen Gemeinschaften sozialpolitischen Organisationen ähnelten, betont Burkert (v.a. 1983) ihren religiösen Aspekt. Riedweg (2002) wiederum vermittelt einen Überblick über den Stand der heutigen Erkenntnisse über Pythagoras und seine Schüler. 313 Hiergegen teilt Sassi (1994) 29ff., die Philosophie der Magna Graecia und der Milesier in verschiedene Tendenzen auf, nämlich in zwei grundverschiedene Denktraditionen. Meines Erachtens trifft diese Unterscheidung prinzipiell zu, ist allerdings gemäß des Beispiels von Heraklit zu differenzieren.
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und schließlich durch eigenen Theorien ersetzten. Die knappe Überlieferung legt nahe, dass die ersten uns bekannten griechischen Philosophen auf unkonventionelle Art forschten.314 Ein Beispiel sei mit Heraklit gegeben, der Philosophie im Sinne von Wissenssuche und als παιδεία konzipierte.315 Keines seiner Fragmente gibt klare Anleitungen, wie genau sein Wissen nachvollziehbar sei. Doch berichtet das Fragment 101 über Heraklits Methode, durch Rückwendung auf sich selber Erkenntnis zu erlangen.316 Hiermit prägte Heraklit ein aufklärerisches Weltund Menschenbild. Er setzte sich mit seiner autonomen Einstellung vehement von den Wertmaßstäben seiner Zeit ab.317 Bereits in den obigen Kapiteln wurde deutlich, dass Parmenides’ Schrift mehr als bloß homerisch-hesiodische Pädagogik widerspiegelt. Eine kurze Darstellung des Ausbildungscurriculums im alten Athen soll deutlich machen, wie Parmenides ideengeschichtlich im Spannungsfeld zwischen epischen Vorstellungen einerseits und Platons Erziehungsvorstellungen andererseits stand.
4.4
Platon auf dem Hintergrund von Athens Erziehungspraxis
Die griechische Erziehungspraxis war fast ausschließlich auf militärische Zwecke ausgerichtet und nur wenige junge Menschen kamen in den Genuss öffentlicher Erziehung.318 Im demokratischen Athen war es einzig 314 Ich meine, die Welterklärungen des Thales, Anaximander oder Anaximenes widerlegen sich teilweise gegenseitig und zeigen hiermit unabhängiges Denken. Vgl. in diesem Sinne Popper (1998) 23: „(…) the Ionian School was the first in which pupils criticised their masters, in one generation after the other. (…) It meant a break with the dogmatic tradition which permits only one school doctrine, and the introduction in its place of a tradition that admits plurality of doctrines which all try to approach the truth by means of critical discussion.“ 315 Heraklit weist auf das Missverständnis vieler, die im Sinne einer ἱστορίη zwar viel wissen oder Vieles kennenlernen wollen, die Wahrheit des Philosophen aber nicht erkennen können, weil sie nicht lernbar, sondern nur durch eigene Anschauung erreichbar ist. 316 Vgl. 22 B 101: Plu. adv. Col. 118C: „ἐδιζησάμην ἐμεωτόν“ [DK I 173]. Ansonsten überlässt der Epheser einen Schüler sich selber. 317 Vgl. Stemich Huber (1996); knapper und konzis diskutiert in Stemich (1998). 318 In Pol. VII.2 1324b7-10 berichtet Aristoteles über die Sitte, in Sparta und Kreta Erziehung auf dem Hintergrund des Kriegsgedankens zu strukturieren.
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denjenigen möglich, die es sich leisten konnten, den Tag in Schulen zu verbringen, sich athletisch ausbilden zu lassen, die „Kunst der Musen,“ Dichtung und Erzählkunst zu lernen, und sich Wissen in Grammatik und Arithmetik anzueignen.319 Die Knaben sollten zudem lernen, was gerecht, ehrbar und heilig ist, und die alten Texte beim Lesen, Singen und Tanzen verinnerlichen. Es ist uns heute unmöglich festzustellen, wie viele Jungen auf diese Art lernten noch ist es klar, ob überhaupt ein Mädchen an solch einer Erziehungspraxis teilnahm. Fest steht, dass wohlhabende Familien Hausklaven heranzogen, um die jungen Menschen zu den verschiedenen Ausbildungsstätten zu begleiten und, um sie zu überwachen. Ihre Rolle als Betreuer reichte bis zur moralischen Erziehung der ihnen anvertrauten Kinder: Sie standen als παιδαγωγοί dem athenischen Knaben auch außerhalb der Schulzeit zur Verfügung.320 Die Unterweisung des wohlhabenden Bürgers war weniger praktischen Zielen gewidmet, als der Initiation in eine Lebenshaltung, die weit gefasst, Lebenskunst bedeutete.321 Die Ausbildung hierzu ist in Platons Idealstaat Männern und Frauen gleichermaßen zugesagt,322 ganz im Unterschied zu
319 Im Musikunterricht lernten sie, Dichtung auf der Lyra zu begleiten und im gymnastischen Curriculum den Körper zu stählen, damit er kampfbereit, stark und schön werde. Vgl. die Darstellung bei Barclay (1959) 113-41. 320 Ausführlicher Beck (1964) 105-9. Platon (Pl. Lg. 223a-b) beschwert sich, dass diese Begleiter schlecht ausgewählt würden, obwohl sie derart einflussreich auf die Kinder wären. Vgl. zu diesem Thema Curren (2000) 14: „The view of ancient moralists was at least inconsistent (…) in insisting on entrusting the moral formation of children to slaves. One could scarcely justify slavery by asserting the slave’s incapacity for self-governance, and judge a slave well-equipped to govern a child.“ 321 Vgl. Barclay (1959) 79-84; Freeman (1922) 43f. Der Unterschied zwischen praktischen und theoretischen Lebenszielen liegt hier in der Gegenüberstellung von handwerklicher Tätigkeit einerseits und dem Ideal eines Lebens in Muße andererseits. Dies führte in Platons philosophischer Theorie zu einer Hierarchisierung der Formen des Wissens, wobei die Erkenntnis der Idee des Guten dem höchstmöglichen Wissen entsprach. Das Ideal eines theoretischen Lebens geht indes auf Pythagoras zurück, der das philosophische Leben als das Höchste erachtete. 322 Pl. R. V 455. Platons Forderung nach einer Chancengleichheit der Geschlechter wiederholt sich in Pl. Lg. 805a-c; 806b-c. Genauso polemisiert Arist. Pol. 1.5.12 und 2.6.5, gegen die Vernachlässigung einer Hälfte der Mitglieder der Gesellschaft.
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den damaligen athenischen Vorstellungen.323 Platons Erziehungsideal sah vor, dass ein Mensch gut, das heißt ein guter Bürger, ist, wenn er gerecht regieren und regiert werden kann.324 Der traditionellen Erziehungspraxis stellt Platon seine eigene Erziehungsvision gegenüber.325 In seiner Reaktion auf die Grundfächer athenischen Lernens, definiert er das Motiv gymnastischer wie musikalischer Unterweisung326 neu. Diese sollen zusammen gelehrt werden, um in einem ausgewogenen Nebeneinander eine ausgezeichnete körperliche Kondition und einen Idealcharakter hervorzubringen. Platon sieht zudem vor, dass Lesen, Schreiben und Mathematik bestimmte geistige Eigenschaften entwickeln sollten, wobei er vor allem die mathematische Ausbildung hervorhebt, da er der Meinung ist, dass sie den Menschen aufgeweckt, achtsam und schnell lernend mache.327 Er betont, dass das Üben des Denkens den Geist eines Schülers bis zur Erkenntnis der höchsten Wahrheit schärfen könne.328 Mathematik soll in diesem Sinne mehr als Wirtschaft, Politik und alle anderen Künste den Menschen – der zu höchster Erkenntnis fähig ist – prägen und einen tiefen Einfluss auf seine Charakterbildung ausüben und einen klaren Geist fördern.329 Es wird mithin klar, dass Platon die traditionelle Erziehungspra323 Tatsächlich waren in Athen Mädchen von jeglicher schulischen Ausbildung ausgeschlossen. Vgl. zu diesem Thema Barclay (1959) 91-4. 324 Pl. Lg. 643e; 644a. Auch Xenophon berichtet, dass Sokrates Handwerk und Handel verachtete, weil solche Aktivitäten den Körper und den Geist schwächten und keine Zeit für das Pflegen freundschaftlicher Beziehungen und für den Staat ließen. Vgl. Xen. Oic. 4.2.3. Dasselbe Thema wiederholt Arist. Pol. 8.3.2 und 8.2.1: Nützlichsein gebühre keinem Ehrenmann, denn es mache den Menschen vulgär. 325 Die Kritik an den traditionellen Märchendichtern Homer und Hesiod ist in Pl. R. II 376e3-378e3. 326 So diene γυμναστική, als ein lebenslanges Streben, den Körper gesund zu erhalten und Musik diene dazu, die Menschen besser zu machen. Sie habe die Macht, zu Schönheit der Seele zu führen; deshalb soll musische Erziehung auf dieses Ziel hin geprüft und in abgeänderter Form angewandt werden, diskutiert in Pl. R. III 398a-402d; sowie Pl. Lg. 799a-800a. Auch Aristoteles geht davon aus, dass Musik einen Einfluss auf die Charakterbildung des Menschen habe, weshalb er wie Platon fordert, Musik müsse kontrolliert und reguliert werden, damit den Kindern die rechten Werte vermittelt würden. Vgl. Arist. Pol. 8.4.3-8; 7.11. 327 Vgl. Pl. Lg. 747b3-6. 328 Vgl. Pl. R. VII 526b1-3. 329 Vgl. die Ausbildung der Philosophen im Idealstaat, worin das Erlernen von Gymnastik und Musik sowie der Berufskünste nur vorbereitende Wissenschaften sind, während die Arithmetik schlussendlich der Erkenntnis der Ideen dient. Vgl. Pl. R.
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xis im Hinblick auf das letzte Ziel seines Philosophierens, die Erkenntnis der höchsten Wahrheit, hinterfragt. Seine Überzeugung, dass Athens παιδεία infolge ihrer falschen Zielsetzungen von Grund auf erneuerungsbedürftig sei, führt ihn dazu, nicht nur die damaligen Erziehungsideale, sondern die Lebensziele des athenischen Bürgers schlechthin zu kritisieren.330 Platon denkt metapädagogisch, wenn er nach Sinn und Zielvorstellung jeglichen erzieherischen Vorhabens fragt und untersucht, welche Werte überhaupt in der Bildung des Menschen gefördert werden sollen. Die platonischen Dialoge erschüttern die selbstsicheren Werturteile der Bürger Athens.331 So wendet der platonische Sokrates zum Beispiel im Dialog Kriton die athenischen Moralvorstellungen rigoros an, um sie zu ihrer vollen Konsequenz zu führen. Seine Folgerichtigkeit folgt einer Logik, die sich von moralischer Trivialität und Opportunismus klar distanzieren will.332 Platon forscht nach Bildungsidealen,333 mit denen präzise Konzepte und schließlich eine klare Erkenntnisfähigkeit ausgebildet werden können. Diese Zielvorstellung hebt sich markant von dem Hintergrund der Lebensziele von Sokrates’ Gesprächspartnern ab.334 Strenggenommen, enthält Platons Erziehungsreform mehr als individuelle Konzepte oder eine Änderung des Curri-
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VII 526a3-5: „(…) diese Wissenschaft ist (…) notwendig, da sie offensichtlich die Seele zwingt, sich mit Hilfe des Reinen Denkens der reinen Wahrheit zu nähern“ [Übers. von K. Vretska]. Scharf angegriffen werden die common man Lebensziele in Pl. Ap. 29d10-e3. Es ist Anliegen der Frühdialoge Platons, durch die sokratische Untersuchung einzelner Begriffe, die Tragweite ethischer Vorstellungen zu präzisieren. Diese Thematik wird spätestens im Augenblick der Aporie, dem Enden eines Dialoges in der Ausweglosigkeit, offenbar. Dann ist Sokrates’ Gesprächspartner gezwungen, seine Wertvorstellungen und ethischen Maßstäbe zu überprüfen. Vgl. Pl. Kriton, einen Dialog, der wie schon Euthyphron und die Apologie, Sokrates’ ethische Haltung nachzeichnet. Im Kriton weigert sich Sokrates, aus dem Gefängnis zu fliehen, da er durch seine Flucht seiner Familie und der Glaubwürdigkeit der Gesetzesordung schaden würde. So fragt Platon in der Auseinandersetzung mit dem sophistischen Lehrprogramm im Protagoras, ob Tugend gelehrt werden kann. Vor dieser Sache steht die wesentlichere sokratische Frage, ‹was ist Tugend?› Vgl. Pl. Men. 70a1-4. Das beweist beispielsweise Diotimas Rede im Symposium, worin sie die hohen Anforderungen Platons an den Menschen darlegt. Mit Eros als philosophischem Anliegen und treibender Kraft für das nie endende Bemühen des Philosophen, Erkenntnis der höchsten Wahrheit zu erlangen. Vgl. Pl. Smp. 220c ff. Vgl. als Gegenvorstellung Pl. Grg. 455d6-457c3, in der Darstellung des Redners der Antike, der seine Kunst zum Schaden anderer anwendet.
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culums, einen politischen Diskurs. Schließlich umfasst sein Erziehungsideal politische Konsequenzen, weil die zur philosophischen Lebensweise heranzubildenden fähigen Menschen nur im bestmöglichen Staat ihr Potential voll und ganz entfalten können und weil andererseits „gerechte Menschen“ einen „gerechten Staat“ bilden.335 Der angehende Philosoph soll ein Leben lang die Fähigkeit kultivieren, gerecht im höchstmöglichen Sinne, nämlich in harmonischer Ausgewogenheit seiner Seelenanlagen, zu sein. Und nur die ihrem Wesen nach ausgewogene Seele ist tugendhaft und trägt zu einem gerechten Staat bei.336 Wie aber vermittelt Platon selbst Wissen? Er beschreibt in den sokratischen Dialogen, dass die gesellschaftlich fundierten Moralvorstellungen der Kritik des Philosophen, der nach absoluten ethischen Werten sucht, nicht standhalten.337 Das vielmals diskutierte sokratische Fragen338 hat freilich 335 Jaeger (1944) verstand die in den Dialogen aufgeworfenen Themen als Variationen und Entwicklungen eines selben pädagogischen Anliegens: Im dialektischen Prozess werden weniger Konzepte als solche geklärt, als vielmehr der Geist des Schülers gestärkt. Das sokratische Suchen nach präzisem Wissen diene der Ermittlung des würdigsten und für den Philosophen sinnvollsten Lebensweges. Auch Kenny (1969) 229-53, und Vlastos (1969) 505-21, deuten Platons Verständnis von Gerechtigkeit als ‘geistige Gesundheit’, nach der Platons Staatsutopie parallel mit der Idee eines psychisch gesunden Menschen laufe. 336 Denn Gerechtigkeit als Ordnung der Seele geht einher mit der Gerechtigkeit im Staat. Vgl. Pl. R. IV 443d8-444a8. Zur Diskussion siehe Gordon (1999) 57-61; 93ff. Woods (1987) 23: „The division of the soul is central to the Republic (…), because the threefold structure of a soul is represented by Plato as mirroring the structure of the ideal city that Plato constructs as part of his enquiry.“ 337 Die platonischen Dialoge sind grundsätzlich pädagogisch ausgerichtet. Vgl. in diesem Sinne Annas (1985); Gordon (1999); Yong (1996); Zubiri (1944). Ausführlich in Jaeger, Paideia, Vol. II (1944). 338 Was die bisherige Sokrates-Forschung anbelangt, waren vor allem die Studien von G. Vlastos ausschlaggebend (1991 und 1994). Seitdem entstand, besonders im anglo-amerikanischen Sprachraum, eine Neubelebung der Sokrates-Figur. In den darauf folgenden Studien wurde primär dem erkenntnistheoretischen Aspekt des elenchos nachgegangen und die Ethik Sokrates’ als rationale Leistung erklärt. Allerdings begrenzen sich auch diejenigen Ansätze, welche die Philosophie des platonischen Sokrates in ihrem praktisch-pädagogischen und gleichsam seelenleitenden Aspekt hervorheben wollen, in aller Regel auf Feststellungen der Art, die Erkenntnis der eigenen Ignoranz habe einen heilenden Effekt. Meines Erachtens begeht eine solche Deutung nicht nur einen psychologischen Fehlschluss, sondern reduziert den philosophischen Diskurs des platonischen Sokrates auf einen anachronistischen Rationalismus, welcher schon der damaligen Konnotation der spezifischen Begriffe nicht gerecht wird.
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nichts mit sophistischen Machtkämpfen gemeinsam.339 Es ist – auf eine von der sophistischen Methode unterschiedliche Art – erlernbar.340 Platons Akademie war – als Ort der Zusammenarbeit des Lehrers mit seinen Schülern – letztlich seiner Idealvorstellung von Erziehung zur bestmöglichen Entfaltung des menschlichen Potentials verpflichtet.341 Für Platon gründet effektives philosophisches Lernen in einer intensiven Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, wobei Dialektik als wirksamste Methode philosophischer Ausbildung zählt; nicht zuletzt, weil sie das aktive Mitdenken der Dialogpartner erfordert.342 Platon übernimmt keineswegs homerische Muster, denn seine Schüler sollen nicht durch Auswendiglernen philosophisches Wissen erlangen. Ganz im Gegenteil werden beide Gesprächspartner im Idealfall gerade erst im gemeinsamen Hinterfragen und im gemeinsamen Aushalten der Ausweglosigkeit, zu Wissenden.
4.5 Übersicht Der Ursprung der vorsokratischen Erziehungsvorstellungen liegt in der Tradition der homerischen Epen. Von Kindesbeinen an und über Generationen hinweg lebten die Menschen einem in sich gleichbleibenden Menschenideal nach, das von reisenden Rhapsoden perpetuiert wurde. Am Leitbild der aristokratischen Helden der alten Epen lernten die Menschen allumfassende Verhaltensregeln, die einer heroischen Moral folgten, die auf der Erwartung gründete, ein Mensch sollte immer der Beste sein. 339 Zu Platons Zeit hatten die Sophisten bewusst Gewicht auf die sprachlich-rhetorische Komponente und damit auf die Wirkungskraft einer nach bestimmten Kriterien aufgebauten Rede als Erziehungsfaktor, gelegt. Vgl. I. Hadot (1969). 340 Vgl. zur wiederholten Frage bei Platon, ob Tugend lernbar sei, zum Beispiel Pl. Men. 86c-90a und Pl. Prt. 318a-325c. 341 Und zwar im höchsten Sinne derjenigen des Philosophenkönigs. In diesem Sinne kommentiert Robin (1929) XCI, zu Pl. Smp. 209b-d, dass die philosophische Arbeit erst aufgrund der Zuneigung zwischen Lehrer und Schülern möglich ist; und ders. (1933), LIV, wie die Zusammenarbeit von Lehrer und Schüler im gemeinsamen Streben nach Wahrheit nur aufgrund einer tiefen gegenseitigen Liebe möglich sei, die sich in der gemeinsamen Liebe zur Wahrheit begründe. 342 Mit διαλεκτική meint Platon, dass der Mensch durch Diskussion (διὰ λόγου) die Erkenntnis „dessen was ist“ erlangen kann: Vgl. Pl. Cra. 390c10. Dialektiker suchen etwa die Klärung eines Begriffs durch die Methode eines sachbezogenen Zweiergesprächs, das in Form von Fragen und Antworten geführt wird, wobei in Platons Dialogen Sokrates meist die Rolle zukommt, das Gespräch zu führen. Vgl. Pl. R. VII 532ff.
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In dieser hauptsächlich oralen Kultur, die auf der Verinnerlichung kollektiver Werte basiert, war Lernen vor allem ein passiver Prozess. Die Menschen wurden von Erzählungen und Wertvorstellungen geprägt, nicht aber angeleitet, in selbständiger Anstrengung Erkenntnisse zu suchen. Sogar das Wissen der Dichter ist durch göttliche Inspiration oder Musen gegeben. Schließlich ist selbst Heilungswissen oder initiatorisches Wissen insofern passiv bestimmt, als es im Tempelschlaf oder im Inkubationsritual dem Menschen zuwuchs. Hingegen entwickelte sich im sechsten vorchristlichen Jahrhundert eine ionische Philosophiebewegung, ἱστορίη, als eigenständiges Forschen und Wissenansammeln von Daten in verschiedenen Wissensbereichen.343 Die homerischen Vorstellungen dominierten in der Vorsokratik und zu Platons Zeit die führende Gesellschaft. Erstmals griffen vorsokratische Denker dieses Modell an und setzten ihm neue Gedanken entgegen. Relevant ist dabei die pythagoreische Schulrichtung, nach der sich Schüler von den gesellschaftlichen Annahmen abgrenzten und neuartige eschatologische, wissenschaftliche und ethische Gedanken entwickelten. Lernen gestaltete sich innerhalb einer solchen philosophischen Schule als Lebensgemeinschaft und als Ort einer engen Lehrer-Schüler-Beziehung.344 Nicht nur in der Magna Graecia wurde Philosophieren methodisch praktiziert. Während an der Ostküste des alten Griechenland Denker Naturerklärungen und kosmologische Theorien ausarbeiteten,345 entwickelte Heraklit eine Methode zur Erkenntnissuche, mit der er zugleich den Menschen und die Gesetzmäßigkeit des Kosmos verstehen konnte. Auch Platons pädagogischer Standpunkt grenzt sich von den traditionellen Wertvorstellungen ab. Seine Lehrmethode differenziert sich insofern gegenüber kollektiven, homerischen Lebensidealen, als Erziehung gemäß Platon mit seinen verschiedenen Entwicklungsmodellen den verschiedenartigen Anlagen der Menschen entsprechen will, was eine gewisse Individualisierung der erzieherischen Vorstellungen impliziert. Platons Ansicht, dass das bestmögliche Lebensziel theoretisch sein muss – insofern nur Sklaven „arbeiteten“ – widerspiegelt die damalige Gesellschaft. Platons Pädagogik 343 Vgl. zur Bedeutung von ἱστορίη als Erkundigung, Erforschung, oder Naturkunde bei den ionischen Naturphilosophen Thales, Anaximander und Anaximenes Pl. Phd. 96a1ff. 344 Doch wissen wir zu wenig hierüber, um Genaueres ableiten zu können. 345 Vgl. die Recherchen von Panchenko (1994; 1997), der die wissenschaftlichen Theorien der Vorsokratiker über Himmelskörper untersucht. Vgl. auch Popper (1998) 7-32.
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weist, weit über die damaligen athenischen Vorstellungen hinaus, auf die Entfaltung eines neuen Menschenbildes. Gemäß der Politeia zielt seine Menschenerziehung dahin, die Selbstentfaltung des Individuums zugunsten des Kollektivwohls zu transzendieren, so dass der Mensch seine bestmöglichen Fähigkeiten in erster Linie als Bürger entwickelt.346 Zeitlich steht Parmenides’ Lehre auf halbem Weg zwischen den homerisch-hesiodischen Vorstellungen und Platons Theorien. Im ersten Kapitel wurde auf die inhaltliche Nähe der Bildersymbolik des Prooimions zur epischen Gedankenwelt hingewiesen. Nun erinnern zwei Verse im Hauptteil des Lehrgedichtes an homerische Erziehungsideale. Ich werde im Folgenden diese Parmenideszeilen besprechen und daraufhin versuchen, die Lehre des Eleaten ideengeschichtlich zwischen Homer und Platon zu situieren. Schließlich sollen die folgenden Seiten belegen, wie Parmenides durchaus homerisch klingende Werte übernommen, doch von ihnen ausgehend, sein eigenes Gedankengebäude entwickelt hat.
4.6 Parmenides’ Wissen soll unüberwindbar sein Die Göttin hatte im Vers B 8.50 gemeldet, dass sie ihr verlässliches Reden und Denken über die Wahrheit beenden würde347 und dass der Kuros ab nun die menschlichen Scheinmeinungen lernen sollte,348 ihren trügerischen Worten – über eine ungenaue Ordnung – zuhörend.349 Der Grund, warum der Kuros, nachdem er (alles) über das Seiende und die wahre Erkenntnis gehört hat, nun auch die wahrscheinliche Welterklärung der Göttin erlernen soll, wird mit dem Vers B 8.61 evident, der besagt, dass niemand jemals den Kuros in seinen Schlussfolgerungen überholen solle.350 346 Gemäß Platons sokratisch begründetem Erziehungsideal soll der Mensch die alten Wertmaßstäbe revidieren und als selbständiger Bürger dazu beitragen, die Erkenntnisse des Philosophen in der polis zu realisieren. 347 B 8.50-51: Simp. in Cael. 558.5 (Heiberg): ἐν τῷ σοι παύω πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημα / ἀμφὶς ἀληθείης (…): „Damit beschließe ich für dich mein verlässliches Reden und Denken über die Wahrheit (…)“ [DK I 239]. 348 B 8.51-52: Simp. in Ph. 30.18-9 (Diels): (…) δόξας δ’ἀπὸ τοῦδε βροτείας / μάνθανε „(…) Aber von hier ab lerne die menschlichen Schein-Meinungen kennen“ [DK I 239]. 349 B 8.52: Simp. in Ph. 30.18-9 (Diels): (…) κόσμον ἐμῶν ἐπέων ἀπατηλὸν ἀκούων: „indem du meiner Worte trügliche Ordnung hörst“ [DK I 229]. 350 B 8.60-61: Simp. in Ph. 38.39.9 (Diels): τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοικότα πάντα φατίζω, / ὡς οὐ μή ποτέ τίς σε βροτῶν γνώμῃ παρελάσσῃ: „Diese Welteinrich-
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Die Begründung der Göttin ist der Idee nach mit traditionellen epischen Werten verknüpft: Tatsächlich erinnert sie an das homerische Ideal, dass der Held immer der Beste und stets den Anderen voraus sein sollte.351 Die Forderung der Göttin klingt paradox. Weshalb überhaupt soll der Kuros etwas lernen, das ohnehin dem Bereich der Wahrheit unterlegen scheint? Warum soll er sich darum bemühen, der Beste dort zu sein, wo – laut Lehrgedicht€– keine klare Erkenntnis möglich ist?352 Die Schwierigkeit ist von einem anderen Standpunkt her anzugehen. Wenn wir die ontologisch begründete Trennung im Lehrgedicht zwischen den zwei Wissensbereichen, nämlich klares Wissen versus Scheinmeinungen über Veränderliches, suspendieren und stattdessen den Widerspruch aus epistemischer Perspektive untersuchen,353 stellen wir den Menschen, der entweder etwas für-wahr-hält oder der das Seiende der Göttin erkennt, in den Mittelpunkt. Diese Lektüre eröffnet eine epistemisch begründete Diskussion über die tieferliegende Motivation in Forderung der Göttin, der Kuros solle auch einen Wissensbereich meistern, der außerhalb der unerschütterlichen Wahrheit liegt. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die Forderung in B 8.60-61 unmöglich im homerischen Sinn, in Nachahmung althergebrachter Muster gemeint sein kann. Der Auftrag, der Kuros solle sich in einem anderen Bereich als demjenigen der Wahrheit als Bester hervortun, erfordert eine ungewöhnliche Kompetenz. Denn, wie es Platons Höhlengleichnis suggeriert, dass derjenige, der die Wahrheit gesehen hat, nochmals ins Dunkle hinabsteigen und der beste Schattendeuter sein kann,354 soll der Kuros neben der Seinserkenntnis, im Bereich der weltlichen Dinge außergewöhnlich fachkundig sein.
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tung teile ich dir als wahrscheinlich-einleuchtende in allen Stücken mit; so ist es unmöglich, dass dir irgendeine Ansicht der Sterblichen jemals den Rang ablaufe“ [DK I 240]. So in Hom. Il. VI 208; IX 784. Vgl. Bolgar (1969) 37. Schließlich betont die Göttin selbst, ihr διάκοσμος sei (nur) ἐοικώς, ungefähr, akzeptabel, wahrscheinlich, angemessen, annähernd. In O’Brien/Frère (1987) 45: „(…) looks good enough (…), for no mortal …“; „(…) je te la déclare d’une vraisemblance telle, qu’aucun des mortels (…).“ Die Verben νοείν – vor allem für die Erforschung des Bereichs des Seienden (vgl. B 2.2 und B 3) – und die Ausdrücke εἴσῃ, πεύσσῃ, εἰδήσεις – für das kosmologische Wissen (vgl. B 10) – sprechen eindrücklich über verschiedene Arten von Erkenntnis. Vgl. Engelhard (1996) 116-8. Vgl. das Höhlengleichnis in Pl. R. VII 514a-17a. Genau: Pl. R. 520c1-6: „Ihr müsst also nun wieder hinabsteigen jeder in seiner Ordnung, zu der Wohnung der
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Falls Gesagtes stimmig ist, führt es von der Annahme, das Wissen um die höchste Wahrheit mache den Philosophen weltfremd, zu einer unerwarteten Konsequenz.355 Dann impliziert die Forderung, dass derjenige, der um die philosophische Wahrheit weiß, mit seiner tiefgründigen Einsichtsfähigkeit seiner Kultur verbunden bleiben und sie instruieren soll. Letztlich steht dieses Thema inhaltlich dennoch platonischem Gedankengut nah. Denn mit den hier erwähnten Versen wird der wissende Kuros zu jemandem, der den Vielen den Weg weisen kann, das ist ein gesellschaftlich engagierter Bürger. Bemerkenswerterweise stimmt diese Schlussfolgerung mit Berichten über Parmenides’ Leben überein.356 Dass der Kuros den kosmologischen und wissenschaftlichen Spekulationen seiner Zeit voraus sein soll, bestätigt nicht zuletzt, dass Parmenides’ Zielvorstellung über denjenigen, der das Seiende der Göttin erkennt, keineswegs im Elfenbeinturm reinen Denkens endet, sondern eine Entfaltung des ganzen Menschen meint, der kompetenter als jeder andere, verschiedene Formen von Wissen meistert. Der Lernauftrag der Göttin besagt weniger, dass der Kuros unterschiedliche Wissensbereiche, als dass er verschiedenartige Modi zu erkennen meistern soll. Diese Lesart veranschaulicht, wie sich letztlich die Erkenntnis der Wahrheit der Göttin und das vermeintliche Wissen der Sterblichen in Parmenides’ Lehrgedicht begegnen, insofern der Kuros, der die Wahrheit erkannt hat, nicht ontologisch zwischen sich ausschließenden Seinsbereichen, sondern epistemisch zwischen Erkenntnisweisen unterscheiden357 und um beide wissen soll. Übrigen und euch mit ihnen gewöhnen, das Dunkle zu schauen. Denn gewöhnt ihr euch hinein: so werdet ihr tausendmal besser als die Dortigen sehen und jedes Schattenbild erkennen was es ist und wovon, weil ihr das schöne, gute und gerechte selbst in der Wahrheit gesehen habt. Und so wird uns und euch der Staat wachend verwaltet werden und nicht träumend (…)“ [Übers. Schleiermacher]. 355 Die Schlussfolgerung, dass der Wissende gleichwohl an der Praxis orientiert sein müsse, trotzt jeglicher mir bekannten Interpretation des Lehrgedichtes. Die Sache impliziert unweigerlich die Frage, warum in der Überlieferung hauptsächlich der Abstraktionsprozess des Eleaten diskutiert wurde und der lebenspraktischen Seite der parmenideischen Philosophie vergleichbar wenig Achtung gezollt wurde. 356 Vgl. die Nachricht bei D.L. IX 23: „Er scheint auch als Gesetzgeber für seine Mitbürger tätig gewesen zu sein (…).“ 357 Vergleichsweise siehe Heraklit 22 B 78: Orig. c. Cels.: „Denn menschliches Wissen hat keine Einsichten, wohl aber göttliches“. Auf ähnliche Weise scheint der
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Pädagogisch betrachtet und als Sinnbild der Entwicklung des Kuros zu einer universellen, starken Persönlichkeitsstruktur, erschüttert der Lernweg der Göttin jegliche einmal eingenommene Haltung. So kündigt die Feststellung im Prooimion, der Kuros gehe den Weg der Wahrheit abseits vom Kollektiv,358 an, dass derjenige, der das Wissen der Göttin erlangen will, als Einsamer nach Wahrheit suchen muss. Der Kuros muss abgeschieden von der Gesellschaft seine alltägliche Selbst- und Welteinschätzung aufgeben359 und ist unversehens gezwungen, seinen Standpunkt zu ändern. Er lernt seine alltägliche Sichtweise, im Vergleich mit der Perspektive auf das Sein, als Scheinmeinung zu verstehen. Diese Wertverschiebung ermöglicht es dem Kuros bestenfalls, sich auf das Erlernen der Seinserkenntnis, wie es im Hauptteil des Lehrgedichtes dargestellt ist, einzulassen. Doch folgt hierauf, paradox und nochmals erschütternd, die oben besprochene Instruktion, die bestimmt, dass die damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Dinge der Welt nun ebenfalls und vortrefflich gelernt werden sollen.360 Dadurch ist der Kuros zum zweiten Mal herausgefordert, seinen einmal gewonnenen Standpunkt loszulassen: Mit anderen Worten, er soll seine Lebenseinstellung wiederholt prüfen.361 Genaugenommen weist das Lehrgedicht darauf hin, dass die philosophische Einstellung – zu jedem Zeitpunkt der Suche – absolute Unvoreingenommenheit erfordert und die Fähigkeit, sich auf keiner je schon erreichten Wissensstufe festzulegen.
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Â�Epheser eher epistemische denn ontologische Trennlinien zu ziehen. Vgl. zu diesem Fragment Stemich Huber (1996) 165-6. Dies wäre allerdings nur mit 28 A 24 zu erklären, demnach der Fehler der Menschen darin besteht, zwei Formen zu sehen, wo es in Wirklichkeit, nach dem Logos, nur eine Form, nämlich Feuer, gibt. Ich verweise auf die Diskussion in 7.6, S. 220f. Vgl. B 1.27: S. E. M. VII 111: (…) ἀπ’ ἀνθρώπων (…): „(dieser Weg ist) außerhalb von der Menschen Pfade (…)“ [DK I 230]. Vgl. B 7.3: ἔθος πολύπειρον: „die vielerfahrene Gewohnheit“ [DK I 234]. Diese Wörter belegen, dass das Gewohnte, das allen Gemeinsame, nicht zur Wahl desjenigen gehört, der Parmenides’ philosophische Wahrheit sucht. Es präzisiert sich, dass der nach B 8.60 folgende διάκοσμος nicht mit der dumpfen Weltsicht und den Scheinmeinungen der Sterblichen zu Beginn des Lehrgedichtes zu verwechseln ist. Diese Sache ist mit einem Satz von Sokrates vergleichbar: Pl. Ap. 38a5-6: „Und wenn ich wiederum sage, dass (…), ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient gelebt zu werden (…)“ (Übers. Schleiermacher).
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Kurz: Obschon der Lernauftrag der Göttin scheinbar an homerische, kollektive Vorstellungen knüpft, führt er im Gegenteil zu einer unerwartet individuellen Weltsicht.362 Mit der Besprechung von B 8.60-61 – der Kuros solle (auch) außerhalb des Bereichs der Wahrheit unübertrefflich sein – wurde deutlich, dass derjenige, der die höchste Erkenntnis des Philosophen gewonnen hat, gemäß Parmenides nicht weltfremd sein, sondern zugleich um die Dinge der Welt wissen soll. Die Besprechung dieser Zeilen im Lehrgedicht hat deutlich gemacht, dass Parmenides zwar homerisches Gedankengut aufgreift, es aber einem völlig neuen Bedeutungsspektrum zuführt. Soweit bis jetzt sichtbar, zeichnet die Schrift des Eleaten ein Erziehungsideal, nach dem der philosophische Lernweg des Kuros eine kritische, starke Persönlichkeit mit einem breiten Wissenshorizont zum Ziel hat.
4.7 Ausblick Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wurde festgehalten, dass die homerischhesiodische Thematik im Prooimion Parmenides’ lediglich als Rahmen diene, um die Hörerschaft von einem bekanntem Wissensboden abzuholen und in sein neuartiges Denken einzuführen.363 Die Diskussion des pädagogischen Kontextes hat nochmals bestätigt, dass der Eleate sich nicht den traditio362 Vgl. das Motiv im Vers B 7.5, dass der Kuros auch die Rede der Göttin in Frage stellen und selbst bestimmen soll, als einen Meilenstein in der Entwicklung vom episch begründeten, kollektiven Denken zum sokratisch begründeten Individualismus. 363 Hiermit wird bestätigt, dass die Idee, Parmenides’ Erkenntnisse seien ihm durch die Göttin zugekommen, nicht haltbar ist. Schließlich ist der Kuros durchgehend gefordert, anhand der Instruktionen der Göttin seinen eigenen Suchweg zu gehen. Es ist mit den bis anhin eingesehenen Anweisungen des weiteren klar geworden, dass die Interpretation, Parmenides’ Schrift gründe auf Inspiration, müßig ist. Denn eine Inspiration geht von anderen Prämissen aus, als die Lehre der Göttin zu verstehen gibt. Um den Unterschied zwischen Parmenides’ Lehranweisungen und dichterischer Inspiration aufzuzeigen, sei Platon herangezogen: Pl. Ion 534c-d: hier wird festgehalten, dass der Gott den Dichtern den Geist (νοῦς) nimmt und sie gleichsam benützt. In Pl. Ion 536c, sprechen die Dichter οὐ γὰρ τέχνῃ οὐδ’ ἐπιστήμῃ sondern θείᾳ μοίρᾳ καὶ κατοκωχῇ. Göttliche Besessenheit also und göttliche Beeinflussung machen Dichten gemäß Platon aus, Wissen aber im Sinne Platons ist das nicht.
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nellen Wertvorstellungen verpflichtet sieht. Haben wir einmal geklärt, dass Parmenides mit dem Lernauftrag der Göttin einen eigenständigen Diskurs hält, können wir die am Ende des Prooimions angekündigte Lehre in ihren Etappen thematisieren. Das folgende Kapitel ist der Untersuchung von drei Lernschritten gewidmet, durch die der Kuros zum Wissen der Göttin gelangen soll.364
364 Um einen Vergleich zu nennen, liefern Heraklits Fragmente Informationen über Lernschritte, die als lebenspraktische Anleitungen und als Forderung nach einer besonderen Einstellung, eine unabdingbare Voraussetzung bilden, um zur Erkenntnis der höchsten Weisheit gemäß Heraklit zu gelangen. In diesem Sinne bildet 22 B 18 eine der Prämissen von Heraklits Erkenntnissuche: Clem. Al. Strom. II 17.4: „Wer Unerhofftes nicht erhofft, kann es nicht finden: unaufspürbar ist es und unzugänglich“ [Snell (1983) 11]. Vgl. zur Diskussion Stemich Huber (1996) Kap.€3. Ein weiterer Vergleich macht deutlich: Im platonischen Gedankengebäude ist Wissenssuche ethisch. Die sokratische Lebenspraxis der Frühdialoge vermittelt die Idee, dass der Mensch, der sich selbst und alle übernommenen Wertvorstellungen ein Leben lang hinterfragt, moralisch lebt. Lernen geschieht im platonischen Kontext als Prozess im Dialog und gemäß Richtlinien, die Platon in seiner Schule ausgearbeitet hat.
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Drei Lernstufen
5.1 Einführung
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as Lehrgedicht des Parmenides vermittelt prima facie den Eindruck, dass der Philosoph keine expliziten Anweisungen zur Erkenntnissuche bietet.365 Doch wurde inzwischen deutlich, dass die Göttin sich in didaktischer Absicht an den Kuros wendet. Deshalb ist auch anzunehmen, dass Hinweise zu einer philosophischen Wissenssuche im Textmaterial auszumachen sind. Dieses Kapitel soll nachweisen, dass es möglich ist, im Lehrgedicht die Beschreibung verschiedener Lernmethoden zu erkennen; Lernmethoden, die den Prozess der philosophischen Erkenntnissuche laut Parmenides veranschaulichen.366 Die aufzuzeigenden Lernschritte werden zum unmittelbaren Verständnis durch Vergleiche mit vor- und nachparmenideischem Textmaterial erweitert und in einer sinnvollen Beziehung zueinander erklärt. Damit soll deutlich werden, dass philosophische Erkenntnis gemäß Parmenides auf einem graduellen Bildungsgeschehen basiert. Entsprechend dem zu Beginn dieser Arbeit formulierten Beweisziel, wonach Parmenides im Lehrgedicht Schritt für Schritt eine Einübung in die Seinserkenntnis vorstellt, befasst sich das vorliegende Kapitel mit einer Präzisierung; nämlich mit drei bestimmten Aspekten des Lernauftrages. Es 365 Eine Erklärung dafür, dass Parmenides im Lehrgedicht keine ethisch-moralischen, also keine die Lebensführung betreffenden Anweisungen erteilt, könnte in der fragmentarischen Überlieferung der Texte liegen. Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, dass Parmenides’ Lehre pythagoreischem Gedankengut nahesteht, weshalb das Nennen von Lebensvorschriften überflüssig, weil allerseits bekannt, ist. Dabei werde ich an dieser Stelle die Thematik nicht weiter verfolgen, weil die Verbindung des Parmenides mit pythagoreischem Gedankengut zu kontrovers und zu wenig erwiesen ist. Vgl. hierzu Curd (1998) 26 Anm. 8: „Any claim about early Pythagoreanism must remain conjectural, because the difficulties in determining the content of Pre-Parmenidean Pythagorean theories. (…) Parmenides’ relation to the Pythagoreans is unclear (…) Whatever the relation, it is probable that Parmenides knew well the Pythagorean views.“ Nicht zuletzt hat Parmenides’ Lehre weniger mit Lebensvorschriften zu tun, als mit der Erkenntnis des Seienden. Instruktionen, welche die Erkenntnis des Seienden betreffen, verlangen nicht unbedingt lebenspraktische, sondern epistemologische Fertigkeiten. 366 Auch Kahn (1969) 703, antwortet auf die Frage: „wonach sucht Parmenides?“ mit der Feststellung, dass der Eleate Wissen, Erkenntnis und Wahrheit anstrebe. Der Autor bestimmt damit, dass es im Lehrgedicht um Erkenntnissuche geht.
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geht um drei sich ergänzende und ineinandergreifende Kompetenzen, die den Kuros vom Geisteszustand des Sterblichen aus dem Wissen der Göttin näherbringen sollen. Gemäß einer ersten Lernetappe ist der Kuros gehalten, alles zu lernen,367 während eine weitere Lernstufe bestimmt, er solle sich das Gelernte zu Herzen nehmen und verinnerlichen. Schließlich besagt ein dritter Lernauftrag, der Kuros solle die Worte der Göttin mit Logos prüfen: Er wird mithin mit göttlicher Autorität aufgefordert, die göttliche Autorität in Frage zu stellen. Eine ungewöhnliche Anleitung, die den Kuros zu geistiger Eigenständigkeit befreien sollte. Mit letzterer Anleitung erhärtet sich die eingangs vorgeschlagene These, dass der Kuros die hierarchisch bestimmte Schülerbeziehung zur Göttin überwinden kann und selber zum Lehrer werden soll.368 Dadurch, dass im Lehrgedicht eine stufenweise Ausbildung zur philosophischen Erkenntnis enthalten ist, wird nochmals klar, dass es in Parmenides’ Gedankengebäude nicht nur um die Beschreibung einer ontologischen Einsicht geht, sondern auch um Epistemologie.369 Weiter oben hatte ich die Haltung des Kuros gegenüber der Göttin diskutiert und gezeigt, dass er passiv und zugleich aktiv am Lerngeschehen beteiligt ist.370 Nun bestärken die folgenden Untersuchungen die These einer notwendigerweise engagierten Haltung des Kuros in der Erkenntnissuche und machen deutlich, dass stufenweises Lernen ohne seine kontinuierliche Mitarbeit nicht denkbar wäre. Der Lernauftrag der Göttin ist zugleich ein Lernversprechen. Im folgenden Abschnitt werde ich die ersten Formulierungen dieses Lernauftrages wie sie am Ende des Prooimiums stehen, thematisieren. Als erstes soll diejenige Gruppe von Kompetenzen besprochen werden, welche den Kuros anleitet, Wissen anzusammeln.
367 Vgl. die Diskussion im dritten Kapitel. 368 Besprochen im Abschnitt 2.5. 369 Dagegen Ferber (1989) 46: „Diese platonische Theorie der Erkenntnisstufen (…) dürfte so die platonische Antwort auf die stufenlose Erkenntnistheorie des Parmenides bilden (…).“ 370 Vgl. hierzu den Abschnitt 2.3.2.
Drei Lernstufen
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5.2 Der erste Schritt: Lerne! Wie gesehen, stellt die Göttin am Ende des Prooimions ihr Lernprogramm vor,371 das besagt, der Kuros solle alles lernen, und zwar das „unbewegliche Herz der Wahrheit“ wie die „unsicheren Meinungen der Sterblichen“. Hiermit nennt sie eine erste Kompetenzstufe, die verlangt, dass derjenige, der die Seinserkenntnis anstrebt, lerne, und zwar alles. Die Verben πυθέσθαι372 und μαθήσεαι373, die in imperativischen Wendungen diese erste Instruktion formulieren, besagen, dass der Kuros gleichsam fragend und erforschend lernen soll. Während das Verb μανθάνειν ein breites Bedeutungsspektrum, vom Sinngehalt durch Erfahrung, Praxis oder Studium zu lernen, sowie zu verstehen, und wahrzunehmen, enthält,374 besitzt das Verb πυνθάνομαι die Konnotation von Lernen durch Hörensagen, Erkundschaften oder Erforschen.375 Nach Bailly steht πυνθάνομαι dem Verb ἐρωτῶ [ἐρωτάω]376 nahe, womit klarer der Gehalt von πυνθάνομαι als Informationen sammeln, sich Wissen aneignen und Wissen suchen sichtbar wird. Der Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Verben unterstreicht das Spektrum von Lernformen, die sich der Kuros aneignen soll. Beide Verben erscheinen wiederholt im Lehrgedicht377 und stellen jeweils ein weitgefasstes Lernen in Aussicht. Nun kündigt das Lernversprechen in B 1.28: πάντα πυθέσθαι an, dass der Kuros den Bereich der Wahrheit wie des Scheins kennenlernen soll; doch die relevanten Textstellen machen deutlich, dass die erste Lernstufe 371 28 B 1.28-32 [DK I 230]. Besprochen im 3. Kap. 372 Vgl. B 1.28: Simp. in Cael. 557.25 (Heiberg): (…) χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι: „Nun sollst du alles erfahren“ [DK I 230]. 373 Vgl. B 1.31: Simp. in Cael. 557.25 (Heiberg): (…) ταῦτα μαθήσεαι (…): „(…) wirst du dieses (...) kennen lernen (…)“ [DK I 230]. 374 Das Verb hat einen Bezug zur wissenschaftlichen Kenntnis: vgl. Frisk II, 170. 375 Nach LSJ. Wortgeschichtlich steht das Verb mit nachfragen, sich erkundigen, erforschen, zusammen, also mit einer Wissenssuche, die besonders durch die Naturphilosophen Ioniens bekannt geworden ist. Vgl. Frisk II, 625f. 376 Fragen stellen, ausfragen, bitten. 377 Und zwar, mit der Form πεύσῃ in B 10.4, der Jüngling werde über den Mond wissen. Vgl. Clem. Al. Strom. V, XIV 138.1: ἔργα τε κύκλωπος πεύσῃ περίφοιτα σελήνης: „das umwandernde Wirken und Wesen des rundäugigen Mondes wirst du erkunden“ [DK I 241]; sowie mit dem Imperativ μάνθανε in B 8.51: Simp. in Ph. 30.18-19 (Diels): (…) δόξας δ’ ἀπὸ τοῦδε βροτείας μάνθανε: „(…) lerne die menschlichen Schein-Meinungen kennen“ [DK I 239].
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vor allem eine Fähigkeit anstrebt, die sich nicht unmittelbar auf die sichere Seinserkenntnis bezieht. Vielmehr machen diese Stellen klar, dass es sich um Gebiete der Doxai oder der Kosmologie handelt.378 Kurz, der Kuros soll sich ein umfangreiches Sachwissen aneignen, das dem Sinngehalt der Verben nach aufgrund von Forschung, Untersuchungen und praktischer Schulung entsteht.379 Diese Form von Lernen geschieht als Prozess hin zur Erkenntnis und ordnet sich dem Gehalt nach unter die antike Vorstellung von ἱστορίη.380 Insofern kündet der erste Lernschritt lediglich eine Etappe auf dem Weg zur Erkenntnis des Kuros an. Damit wird ersichtlich, dass das Lernversprechen der Göttin am Ende des Prooimions eine propädeutische Funktion hat und nicht das unmittelbare Wissen über das Seiende betrifft. Die mit μανθάνω und πυνθάνομαι genannten Lernformen entsprechen nicht dem Ziel des Philosophen. Das Erforschen eines breiten Spektrums von Einzelheiten genügt nicht, um die Tiefe des Seienden zu erkennen, doch es bildet eine unabdingbare Voraussetzung hierzu. Der im Folgenden genannte Lernauftrag gibt also eine Ergänzung und Klärung der ersten Lernstufe ab.381 378 Im Ausdruck in B 1.31: ταῦτα μαθήσεαι ist nur der Bereich der Doxa gemeint; in B 10.4: κύκλοπος πεύσῃ (…) σελήνης ist kosmologisches Wissen gemeint; und im Ausdruck in B 8.52: δόξας (…) βροτείας / μάνθανε sind Scheinmeinungen angesprochen. Auch die negative Form von πυνθάνομαι betrifft nicht den Bereich des Seienden: Vgl. B 2.6: Procl. in Prm 1078.5 (Cousin): τὴν δή τοι φράζω παναπευθέαν ἔμμεν ἀταρπόν: „dieser Pfad ist, so künde ich dir, gänzlich unerkundbar“ [DK I 231]; „je te le fais comprendre, est un sentier dont rien ne se peut apprendre“ [Übers. Frère in O’Brien/Frère (1987) 17]. Die französische Übersetzung hebt den Lernaspekt der Aussage hervor. 379 Vgl. Pl. Tht. 151e, mit der These des Theaitetos, Erkenntnis sei Wahrnehmung. 380 Ein Begriff, der für das Sammeln von Faktenwissen steht, das aus Reisen, Erzählungen und Beobachtungen hervorgeht. Der Begriff ἱστορία ist bei Herodot zentral: sein Werk widerspiegelt dies durch Berichte über europäische und asiatische Völker, geographische und ethische Informationen, Kriegsberichte und Kuriositäten. Herodot wird oftmals als der erste objektive Berichterstatter, als der erste Historiker des Abendlandes dargestellt. Die Schriften Galens (vgl. z.€B. Gal. I.144) dokumentieren Fallbeispiele als ἵστορας [LSJ]. 381 Hiermit zeigt sich eine Nähe zu Heraklits Denken, der – ähnlich wie Parmenides – die Idee ausdrückte, dass erst das verstehende Wahrnehmen wirklich erkennt. Vgl. 22 B 107: S. E. M. VII 126: „Schlimme Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, sofern sie Barbarenseelen haben“ [DK I 175]. Hier geht es darum, dass der Mensch das Gehörte und Gesehene auch verstehen soll, weil ansonsten die Daten der Sinneswahrnehmung sinnlos sind.
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5.3 Der zweite Schritt: Nimm es dir zu Herzen! Hatte der erste Lernschritt am Ende des Prooimions den Auftrag enthalten, der Kuros solle zwei sich gegenüberliegende und widersprüchliche Bereiche erlernen, betrifft der zweite Lernauftrag eine Vertiefung. Anders gesagt, fordert die nächste Lernstrategie nicht das Ansammeln weiterer Lerninhalte, sondern eine neue Einstellung zum erlernten Wissensmaterial. Diese zweite Kompetenzstufe wird von DK direkt anschließend an das Prooimion gebracht.382 Die Anweisung im zweiten Fragment – also dem ersten aus dem Hauptteil des Lehrgedichtes – ist dringlicher als die Anweisungen in B1, und die Göttin spricht den Kuros inständig an: „komm, ich will (dir) sagen.“383 Der Kuros soll ihren Worten Gehör schenken und sie sich zu Herzen nehmen.384 Die imperativische Wendung, die den Lernauftrag im zweiten Fragment einleitet – κόμισαι – betont die dringliche Notwendigkeit für den Kuros, sich eine neue Einstellung anzueignen: er soll sich die Lerninhalte mehr als erarbeiten, zu eigen machen.385 Tatsächlich hat das Fragment B 2 den Kern der Lehre zum Inhalt. Denn es beschreibt die Lernbereiche genauer und stellt für den Kuros, der das Seiende erforschen soll, den einen Weg als gangbaren386 versus den anderen als unsicheren, schwankenden Forschungsweg der Sterblichen387 vor. Man könnte sagen, dass B 2 insofern eine normative Angabe macht, als der Kuros zu diesem Zeitpunkt seine Gedanken nicht an den Forschungsweg der Sterblichen verschwenden soll, da es jetzt um die Gewinnung der philosophischen Erkenntnis geht. 382 B. 2.1. 383 B 2.1: Procl. in Ti. I 345.18 (Diehl): εἰ δ’ ἄγ’ ἐγὼν ἐρέω [DK I 231]. 384 B 2.1: Procl. in Ti. I 345.18 (Diehl): κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας: „(nimm du dich aber des Wortes an, das du hörtest)“ [DK I 231]. Deutlich im Sinne der vorliegenden Deutung ist folgende Übersetzung: „and do you listen and take it well to heart“ [Übers. O’Brien (19871) 16]. Nebenbei bemerkt: Das Verb κομίζω kommt vor Parmenides bei keinem anderen Vorsokratiker vor [DK III 239]. 385 Snell (1978) 38-40, betont, wie μανθάνειν ursprünglich keine menschliche Anstrengung meinte, sondern eher das Einwirken von Erfahrungen ohne großes Zutun des Individuums. Erst allmählich sei Lernen als geistige Aktivität mit der Vorstellung, dass es Mühe involviert, verbunden worden. 386 Vgl. B 2.3-4: Simp. in Ph. 116.28-9 (Diels): ἡ μὲν ὅπως ἔστιν (…) πειθοῦς ἐστι κέλευθος (…): „Der eine Weg, das IST ist (…) ist die Bahn der Überzeugung (…)“ [DK I 231]. 387 Vgl. B 2.5-6: Simp. in Ph. 116.30-31 (Diels): ἡ δ’ ὡς οὐκ ἔστιν (…) παναπευθέα ἔμμεν ἀταρπόν: „der andere (…) [ist] gänzlich unerkundbar“ [DK I 231].
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Gesagtes wiederholt sich weiter unten im Lehrgedicht: Mit dem Ausdruck φράζεσθαι ἄνωγα in B 6.2388 fordert die Göttin, der Kuros solle das Gelernte geistig durchgehen, es gleichsam verinnerlichen. Zu Beginn des Fragmentes ging es – wie in B 2 – um den Unterschied zwischen dem möglichen und dem nicht möglichen Forschungsbereich,389 somit nochmals um die zentrale Lehre der Göttin. Schließlich impliziert der Gehalt in der Anweisung σ’ ἐγὼ (…) φράζεσθαι,390 dass sich der Kuros mit dem Gelernten über längere Zeit hinweg auseinandersetzen soll. Der Aspekt der Kontinuität in dieser Anleitung wird besonders in der Übersetzung von O’Brien/ Frère deutlich, wonach der Kuros (die Instruktion der Göttin) im Geiste herumdrehen oder meditieren soll.391 Damit bestätigt sich nochmals, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht punktuell geschehen kann, sondern sich prozesshaft heranbildet.392 Die erstgenannte Anweisung – zu lernen und zu forschen – hatte erfordert, dass der Kuros die Aufmerksamkeit nach außen verlegt und umfangreiche Kenntnisse erwirbt. Nun verlangt der zweite Lernauftrag – dass sich der Kuros die Lehre der Göttin zu Herzen nehmen und im Geiste herum388 B 6.2: Simp. in Ph. 86.28 (Diels): τά σ’ ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα: „das heiße ich dich wohl beherzigen“ [DK I 232-3]. Mit dem Verb φράζω in medialer Form wandte Parmenides als einzigen Vorsokratiker den Ausdruck ἅνωγα, mit dem Gehalt zu befehlen – „ich gebiete dir zu meditieren“ – an. Vgl. DK III 56. 389 Das ist um die Bestimmung dessen, was der Kuros denken und sagen solle, um zwischen möglicher und unmöglicher Erkenntnis zu unterscheiden. Vgl. B 6.1-2: Simp. in Ph. 86.27-28 (Diels): (…) ἔστι γὰρ εἶναι, / μηδὲν οὐκ ἔστιν (…): „(…) dass nur das Seiende ist; denn Sein ist, ein Nichts dagegen ist nicht (…)“ [DK I 232]. 390 Vgl. oben, die Fußnote Nr. 388. Nebenbei bemerkt: Das Verb φράζω kommt im Lehrgedicht insgesamt drei Mal vor, jedoch nur in B 6.2 in medialer Form. Nämlich in der Bedeutung: melden, bestimmen in: B 2.6: Procl. in Ti. I 345.24 (Diehl): „so künde ich dir (τοι φράζω)“ [DK I 231]; sowie in: B 2.8: Procl. in Ti. I 345.27 (Diehl): „(kannst du nicht) aussprechen (οὔτε φράσαις) [DK I 231]; und die genannte Textstelle in B 6.2. Auch die einzig überlieferte Textstelle mit demselben Verb bei Heraklit zeigt das Verb in aktiver Form: 22 B 1: S. E. M. VII 132: „(wie ich sie erörtere…) erklärend (φράζων)“ [DK I 150]. Genauso kommt bei Gorgias – dem einzigen Vorsokratiker, den DK III nach Parmenides zitieren – das Verb in der Aktivform vor, nämlich in 82 B 11a22 als „φράσον τούτοις“ [DK II 299]. 391 Vgl. die Übersetzung von O’Brien/Frère (1987) 24: „These ‹things› I command you to turn over in your mind“ ; „Voilà ce que je t’enjoins de méditer“. 392 Diese Feststellung begegnet der Überlegung weiter oben, einige Verbformen im Prooimion suggerierten eine wiederholte Fahrt des Kuros. Vgl. die Besprechung im Abschnitt 1.5. Vgl. zur Diskussion auch Fränkel (1960) 155; Loenen (1959) 53.
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drehen soll – eine Interiorisierung des Gelernten. Damit macht die Göttin geltend, dass der Kuros in erster Instanz viel Wissensmaterial (πάντα) ansammeln soll und in einem zweiten Schritt die Wissensmenge analysieren, sie anders gesagt verdichtend organisieren und sich verfügbar machen soll. Aus lerntheoretischer Perspektive fordert der zweite Lernauftrag den Kuros zur Vertiefung des Gelernten auf. Schließlich bedeutet ‘etwas Gelerntes fürsich-meditieren’ dem Sinngehalt nach eine eigenständige Übung; es bedeutet, sich das Gelernte immer und immer wieder vor Augen zu führen. Allerdings betrifft auch diese Kompetenzstufe nicht das unmittelbare Wissen der Göttin, doch sie geleitet den Kuros auf seiner Erkenntnissuche weiter. Immerhin enthält das Lehrgedicht eine weitere relevante Weisung: Der Kuros soll die Lehre der Göttin mit Logos beurteilen. Hiermit ist die dritte Lernetappe auf dem Weg zur Seinserkenntnis genannt.
5.4 Der dritte Schritt: Urteile! Nachdem die Göttin in B 6 die Schwäche der Sterblichen dargestellt hat393 und zu Beginn von B 7 vor dem widersinnigen Forschungsweg gewarnt hat,394 wendet sie mit B 8 ihre ganze Aufmerksamkeit dem einzig gangbaren Forschungsweg zu.395 Gleichsam im Übergang zwischen diesen zwei Bereichen erteilt sie dem Kuros den Auftrag, er solle vernünftig urteilen (κρῖναι δὲ λόγῳ)396 was eine entscheidende Wende im Lerngeschehen kennzeichnet. Es geht nicht darum, dass der Kuros über allgemeine Dinge, sondern schlechterdings über die Lehre der Göttin urteilen soll – und zwar „mit Logos“. Diejenigen Textstellen im Lehrgedicht, an denen das Wort λόγος vorkommt,397 legen nahe, dass der Logos, mit dem der Kuros den Elenchos 393 Vgl. B 6.4-9. Beschrieben im dritten Kapitel. 394 Vgl. B 7.2: ἀλλά σὺ τῆσδ’ ἀφ’ ὁδοῦ διζήσιος εἶργε νόημα: „vielmehr halte du von diesem Weg der Forschung den Gedanken fern“ [DK I 234]. Dieser Forschungsweg ist aufgrund vielfacher Gewohnheit und der falschen Sinneswahrnehmung der Sterblichen entstanden und für die Göttin beziehungsweise den Philosophen nicht zufriedenstellend. Diskutiert in den Abschnitten 3.5.3 und 3.5.4. 395 B 8.1-2: Simp. in Ph. 145.1: „Aber nur noch eine Wegkunde bleibt dann, dass IST ist“ [DK I 235]. Daraufhin nimmt die Göttin die Beschreibung der Eigenschaften des Seienden auf, besprochen weiter unten im Kapitel 8. 396 D.L. IX 22: (…) κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον: „(…) mit dem Denken bring zur Entscheidung die streitreiche Prüfung“ [DK I 235]. 397 Nur dreimal im Lehrgedicht ist das Wort λόγος überliefert. Der Terminus steht im Prooimion für die Worte der Sonnenmädchen. Vgl. B 1.15: S. E. M. VII 111: τήν
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der Göttin prüfen soll, nicht einfach für menschliche Vernunft oder Rede398 steht. Vielmehr suggerieren sie, dass der Kuros mit Logos eine gleichsam göttliche Fähigkeit besitzt: Sein Logos scheint demjenigen der Göttin gleichwertig zu sein, denn nur in diesem Sinn ist eine vernünftige Kritik der Lehrrede der Göttin denkbar. Daraus wird ersichtlich, dass λόγος in B 7.5 mehr als dem Geisteszustand oder der Rede der Sterblichen, dem Wortgehalt nach einer der höchsten menschlichen Erkenntnisfähigkeiten überhaupt entspricht.399 Demnach schreibt Parmenides dem Menschen eine gleichwie göttliche Erkenntnisfähigkeit zu, die der Kuros gemäß B 7.5 anwenden soll, um die göttliche Belehrung zu hinterfragen. Was aber bedeutet die imperativische Äußerung, κρῖναι, urteile,400 für die didaktische Beziehung zwischen dem Kuros und seiner Göttin?401 Steht der Auftrag in B 7.5 bloß als Trennlinie zwischen einander sich ausschließenden Wissensbereichen? Oder impliziert das Objekt des Urteilens, der πολύδηριν ἔλεγχος der Göttin,402 dass der Kuros entscheiden soll, ob er der kontroversen Beweisführung der Göttin überhaupt trauen kann? Indes: Die Tatsache, dass der Kuros urteilen soll, setzt voraus, dass die Göttin ihn grundsätzlich als entscheidungsfähig bestimmt.
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δὴ παρφάμεναι κοῦραι μαλακοῖσι λόγοισιν: „Ihr nun sprachen die Mädchen mit weichen Worten und beredeten sie kundig“ [DK I 229]. Die dritte Textstelle, an denen der Begriff vorkommt, ist B 8.50: Dort steht das Wort λόγος für die Rede der Göttin. Vgl. B 8.50-51: Simp. in Ph. 30.17 (Diels): ἐν τῷ σοι παύω πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημα / ἀμφίς ἀληθείς: „Damit beschließe ich für dich mein verlässliches Reden und Denken über die Wahrheit“ [DK I 239]. Das Wort λόγος wird meist im Sinne von menschlicher Fähigkeit übersetzt. Vgl. LSJ: inward debate; thinking reasoning, thought, reason as a faculty. Mit λόγος kann der Mensch zwischen Optionen wählen. Vgl. 28 A 1: D.L. IX 23: κριτήπιον δὲ τὸν λόγον εἶπε (…): „(disse) che il criterio da seguire è la ragione“ [Übers. Reale (1988) 67-9]. Gemäß Parmenides ist der Logos entscheidend, während die Sinneswahrnehmung ungenau ist. Dass der Mensch mit Logos höchste Erkenntnis erlangen kann, ist zudem in einem weiter unten zu besprechenden Aristoteleszitat (über Parmenides’ Denken) angemerkt, nach dem der Mensch das Seiende κατά τὸν λόγον – und die Vielheit mit der Sinneswahrnehmung, erkennt. Vgl. 28 A 24, diskutiert im Abschnitt 7.6. Trennen, unterscheiden, wählen, entscheiden. Das Verb ist laut Wortetymologie mit der Vorstellung von richten, Gerichtsstätte, Kampfrichter verbunden [Frisk]. Mit dem Verb κρίνω steht der Kuros, gleichsam gratwandernd, zwischen zwei Wissensbereichen. Er soll sich entscheiden, nämlich zwischen Bereichen unterscheiden, auseinanderurteilen, kurz, zwischen Möglichkeiten wählen. B 7.5: „die streitreiche Prüfung“ [DK I 235].
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Ideengeschichtlich zeigt sich, dass κρίνειν die Bedeutungsbreite von einem unumstößlichen kosmischen Richten bis zum menschlichen, vielleicht fehlbaren Urteilen hat. Historische Belege zu κρίνω in dieser Zeitspanne sind rar. Bei Heraklit richtet und urteilt das Feuer, das sinngemäß mit dem kosmischen Gesetz einhergeht, wodurch dem Verb bei Heraklit ein quasi göttliches Vermögen zukommt.403 Bei Empedokles hat κρίνω den Gehalt eines Naturgesetzes, und das Feuer ist – als scheidende Instanz – gleichsam weltschöpferisch.404 Hingegen schreibt Anaxagoras mit κρίνω dem Menschen Urteilskraft zu.405 Auch Demokrit wendet das Verb im Sinne einer menschlichen Fähigkeit an.406 Schließlich schreibt auch Platon den Menschen die Fähigkeit zu entscheiden zu.407 Kurz, diese wenigen überlieferten Textbeispiele deuten auf eine Bedeutungsverschiebung von κρίνω als göttliches zu menschlichem Urteilen.
403 Vgl. 22 B 66: Hippol. IX 19: „(…) Denn alles, sagt er, wird das Feuer, herangekommen, richten und fassen (verurteilen) (κρινεῖ καὶ καταλήψεται)“ [DK I 165]. Ich deutete an anderer Stelle [Stemich Huber (1996) 220f.], wie Feuer und Logos bei Heraklit auf ein gleiches, nämlich auf das Wirklichkeitsgesetz, hinweisen. 404 Vgl. 31 B 154 (eine zweifelhafte Zeile): Plu. esu. carn. I 2 p. 993c: „Das war damals (im Anfange der Welt) noch nicht die Zeit, wo die Sonne fest in ihrer unbeirrbaren, sicheren Bahn lief und Morgen und Abend schied (ἔκρινεν)“ [DK I 371]. 405 Vgl. 59 B 21: S. E. M. VII 90: „Infolge ihrer (der Sinne) Schwäche sind sie nicht imstande, das Wahre zu unterscheiden (κρίνειν τἀληθές’)“ [DK II 43]. 406 Vgl. 68 B 173: Stob. II 9.2: „Den Menschen wächst Übles aus Gutem (…) Es ist nicht berechtigt, solche Dinge unter die üblen zu rechnen (κρίνειν) (…)“ [DK€II€179]. 407 So können die Menschen in Pl. R. IV 420c1; 433c4; Pl. Plt. 732a1, für das Beste oder Nützlichste und in Pl. R. II 360e3 zwischen Lebensformen entscheiden oder in richterlichem Sinne urteilen. Vgl. auch: Pl. Ap. 32b4; 35c3; 35d8; 37b1; Pl. Plt. 695a5; 695b1. Im Dialog Gorgias erscheint das Verb in Zusammenhang mit dem Totengericht: Vgl. Pl. Grg. 523c6; 523e3; 523e6; 524a4; 524a6; 526e5.
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Aus einer Nebeneinanderstellung des Verbs in Parmenides’ Lehrgedicht mit dem Wortverwandten Substantiv κρίσις408 folgt zudem, dass der Forderung der Göttin in B 7.5 eine grundsätzliche, bedeutungsvolle Funktion zukommt, die eine Wende im Lerngeschehen ankündigt. Denn die Instruktion κρῖναι δὲ λόγῳ hebt – im Zusammenhang mit dem besprochenen Sinngehalt von λόγος im Lehrgedicht – die Unterordnung des Kuros zur Göttin auf. Ich werde das Thema im nächsten Abschnitt besprechen.
5.4.1 Zur Funktionsverschiebung zwischen Kuros und Göttin Folgend auf die Anleitung, der Kuros solle urteilen, bezeichnet sich die Göttin als Urheberin der Lehre.409 In zwei Versen wirft sie sinnbildlich gesprochen den Ball dem Kuros zu und nimmt ihn wieder zurück, was im Leser eine eigentümliche Spannung hervorruft: Wie kann der Kuros, der einerseits die vertrauenswürdige Wahrheit der Göttin lernen soll, auf der anderen Seite ihr Gebot, ihre Rede zu beurteilen, einschätzen? Sind ihre Aussagen doch nicht unumstößlich klar? Überraschend kommt für den damaligen Kulturraum nicht nur die Vorstellung, ein Schüler könne die Ideen seines Lehrers prüfen, sondern mehr noch der Hinweis, der Kuros könne eine Lehre, die ausdrücklich mit göttlicher Autorität daherkommt, kritisch bewerten. Der Auftrag, die göttliche Instruktion kritisch zu beurteilen, steht in Kontrast zu den Vorstellungsbildern des Prooimions, womit der Eleate ein außergewöhnliches Element einführt und über jegliche Tradition hinausgeht. Schließlich übertrifft diese Anweisung die traditionelle Auffassung, die Musen oder die Götter könnten die Menschen betrügen.410 Denn obschon die Göttin beider-
408 Trennung, Urteil, Interpretation. Vgl. die Forderung der Göttin, sich für den rechten Weg der Forschung zu entschließen in B 8.15-16: Simp. in Ph. 145.1f.: „Die Entscheidung (κρίσις) aber hierüber liegt in folgendem: IST oder NICHT IST! Entschieden (κέκριται) aber ist nun, wie notwendig, den einen Weg als undenkbar (…)“ [DK I 236]. Hier bestimmt die Göttin und vermittelt den Eindruck, dass die Entscheidung mit unumstößlicher Sicherheit geschieht. 409 Die Göttin bezeichnet die streitbare Prüfung in B 8.1: Simp. in Ph. 145.1: ἐξ ἐμέθεν ῥηθέντα: „die von mir genannt wurde“ [DK I 235]. 410 Vgl. in diesem Sinne Lesher (1984) 29, wonach Parmenides zum ersten Mal ausdrückt, dass der Mensch fähig ist, seinen eigenen Geist zu kontrollieren. Dies sei im Widerspruch zur traditionellen Darstellung der, den Göttern passiv ausgelieferten Menschen, etwa in Hom. Od. XVIII 136f.
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lei – die „vertrauenswürdige Wahrheit“411 und eine trügerische Rede – lehren kann,412 kündigt sie jeweils an, welchen Bereich sie besprechen wird.413 Damit ermöglicht sie dem Kuros letztlich, ihrem Sprechen zu trauen. Die Weisung zur kritischen Überprüfung überwindet die Vorstellung einer doppeldeutigen Muse oder Gottheit, der die Menschen hilflos ausgeliefert sind, denn die Göttin fordert mit dem Auftrag κρῖναι eine differenziertere Einstellung zu ihrer Mitteilung. Der Kuros steht der als wahr und unwahr bestimmten göttlichen Rede mit λόγος kritisch gegenüber. Ein eigenständiges Urteilen im Sinne des κρῖναι mit den oben besprochenen Kompetenzstufen setzt voraus, dass der Kuros das gewonnene Wissen meditiert und vertieft hat. Erst dann ist er kompetent, über die Lehre der Göttin mit Logos zu denken, denn die Aufgabe zu urteilen setzt voraus, dass der Kuros die Fähigkeit erlangt hat, eigenständig mit Wissensmaterial umzugehen. Die Anleitung κρῖναι setzt also voraus, dass der Kuros als selbständig denkendes Gegenüber der Göttin bestehen kann. Es geht nicht nur darum, dass er zwischen richtigen und falschen Informationen unterscheiden oder eine hierarchisch höhergestellte Meinung verwerfen soll, sondern darum, in eigener Instanz die Lehre zu reflektieren – eine Aufforderung zu eigenständigem Denken. Mit dieser autonomen Position ist der Kuros der Göttin nicht mehr untertan. Mit dieser Anweisung führt das Lehrgedicht in eine aufklärerische Dimension des Denkens und perpetuiert somit eine relevante Seite des vorsokratischen Philosophierens.414 411 Vgl. B 1.30: Plu. adv. Col. Kap. 13114E: πίστις ἀληθής: „wahre Gewissheit“ [DK I 230]; B 2.4: Procl. in Ti. I 345.19: πειθοῦς ἐστι κέλευθος (…)„das ist die Bahn der Überzeugung (…), welche der Wahrheit folgt“ [DK I 231]; und B 8.50-51: Simp. in Ph. 38.30 (Diels): ἐν τῷ σοι παύω πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημαâ•›/ ἀμφὶς ἀληθείης (…): „Damit beschliesse ich für dich mein verlässliches Reden und Denken über die Wahrheit“ [DK I 239]. 412 B 8.51-52: Simp. in Ph. 38.31 (Diels): (…) δόξας δ’ ἀπὸ τοῦδε βροτείας / μάνθανε, κόσμον ἐμῶν ἐπέων ἀπατηλὸν ἀκούων: „Aber von hier ab lerne die menschlichen Schein-Meinungen kennen, indem du meiner Worte trügliche Ordnung hörst“ [DK I 239]. 413 B 8.50-51: „Damit beschliesse ich für dich mein verlässliches Reden (…)“[DK I 239]; sowie B 8.51: „Aber von hier ab (…)“ [DK I 239]. 414 Die uns bekannten vorsokratischen Philosophen waren aufklärerisch tätig. So fragten sie z.€B. nach dem Göttlichen fernab der traditionellen Kategorien und des öffentlichen Kults und suchten nach der kosmischen Ordnung wie nach denjenigen Prinzipien, die der Welt zugrunde liegen. Explizit parodiert Xenophanes das tradierte Götterbild und die Grundgewissheiten seiner Zeit, wenn er z.€B. in 21 B 11 sagt: S. E. M. IX 193: „Alles haben den Göttern Homer und Hesiod ange-
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Im Vergleich zu anderen Vorsokratikern indes, die tradiertes Wissen durch innovative Ansätze ablösten, beinhaltet Parmenides’ Ausspruch insofern eine Weiterentwicklung, als das Gebot, althergebrachte Muster zu durchbrechen, gerade mit der Stimme der Göttin, also mit durchaus etablierter Autorität daherkommt. Genau genommen bedeutet die Weisung der Göttin, ihr Wissen zu beurteilen, die Forderung nach absoluter Autonomie gegenüber jeglichem tradiertem Wissen.
5.4.2 Was beurteilt werden soll Der Lernauftrag in B 7.5 besagt, der Kuros solle den πολύδηριν ἔλεγχον der Göttin beurteilen. Der Begriff ἔλεγχος ist uns heute vor allem durch Sokrates’ Methode der Dialektik geläufig, nämlich als Kreuzverhör und routinemäßige Widerlegung einer gegnerischen Meinung.415 Doch mit dem hier zu diskutierenden Vers soll der Kuros nicht bloß über eine Denkweise befinden, sondern die Lehrrede der Göttin prüfen.
hängt, was nur bei Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen“ [DK I 132]. Auch Heraklit geht mit traditionellem Brauchtum nicht zimperlich um, wenn er in 22 B 5, 22 B 14 und 22 B 15 kultisches Handeln, Tempelverehrung und Reinigungsrituale verspottet oder wenn er hart den Kern der damaligen Pietät angreift und in 22 B 96 wettert, man sollte Leichen eher wegwerfen als Mist. Aufklärerisch bestimmt Heraklit schließlich mit 22 B 116, allen Menschen stehe es zu, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu denken. 415 Wortgeschichtlich weist das Wort ἔλεγχος zu Beginn des 5. Jh. v.€Chr. auf den Prüfungsprozess oder die Untersuchung der wahren Natur einer Person oder Sache. Vgl. Eurip. Alcestis 640; ders. Heracl. 162-3; Hdt. Gesch. I 209. Im epischen Kontext steht der Elenchos für das Ergebnis einer negativ ausfallenden Prüfung. Dort bedeuten das Substantiv ἔλεγχος wie auch die dazugehörenden Verben und Adjektive vor allem Scham und Schande Vgl. Hom. Il. XI 312-15; Od. XXI. 424-5; Hes. Th. 26-7; Theogn. 1011. Dieselben Begriffe kommen bei Pindar als Beschämung im Zusammenhang mit athletischen Wettkämpfen vor. Vgl. Pind. Ol. IV 17-8; Pind. Nem. III 15-7. Platon nutzt den Elenchos als Mittel, um einen Dialogpartner dahin zu führen, sein vermeintliches Wissen einzusehen. In den Frühdialogen Platons indes, in denen es wiederholt darum geht, ungeprüftes Wissen durch den Elenchos in Frage zu stellen, stürzen die Gesprächspartner in die Aporie ab, ohne zur Wahrheit des platonischen Sokrates vorzustoßen. Vgl. Pl. Apol. 39c. Weitere Beispiele befinden sich in: Pl. Prt. 344b4; Grg. 471e7; 475e7; Smp. 220a6. Die folgenden Überlegungen basieren auf Lesher (1984).
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Es ist erklärlich, dass der Kuros über die irrenden Meinungen der Sterblichen und die Gewalt der Gewohnheit urteilen kann.416 Außergewöhnlich aber ist die Weisung, er solle auch die göttliche Autorität mit seiner eigenständigen Ansicht konfrontieren. Es ist schließlich plausibel – den Gedanken weiterführend – zu fragen, ob der Kuros zu guter letzt fähig sein sollte, über die Seinsattribute und die Wahrheit der Göttin überhaupt zu befinden. Daraus folgt, dass sein Wissen nicht von der Göttin übernommen werden kann: Es muss in einem selbständigen Denkprozess erarbeitet werden, um dem hohen Anspruch philosophischer Erkenntnis zu entsprechen. Damit ist eine Eigenheit des philosophischen Erkennens überhaupt bestimmt: Denn die Wahrheit kann man letztlich nur selber gewinnen. Auf das Bildungsgeschehen im Lehrgedicht hin gelesen, involvieren die ersten zwei Lernschritte, dass der Kuros ein gewisses Maß an Disziplin und Reife erlangen muss, bevor er über die Lehre der Göttin urteilen kann, und mit B 7.5 ist bestätigt, dass er dieser Anforderung genügt. In der Forderung der Göttin, der Kuros solle durch eigenen Nachvollzug ihre Lehrrede beurteilen, liegt auch, dass der Kuros in diesem Punkt auf die gleiche Höhe des Wissens gelangen kann wie sie.417
5.5 Zusammenfassung und Übergang Dieses Kapitel untersuchte Kompetenzstufen, die den Kuros zu einem unmittelbaren Wissenszuwachs und zur Entfaltung einer gewissen geistigen Disziplin führen sollen. Ich bezeichnete als erste Stufe das anfängliche Lernversprechen der Göttin am Ende des Prooimions, das zwei Wissensbereiche umfasst, nämlich die Erkenntnis der unerschütterlichen Wahrheit des Seienden und die Scheinmeinungen der Sterblichen. Dieser allgemein gehal416 Die Seinsweise des common man charakterisiert sich gerade dadurch, dass er nicht mit Vernunft (Logos) urteilt, sondern im Kreise der Gewohnheiten getrieben, dumpf und gleichwie blind (dahin)lebt. Einen fundamentalen Unterschied hierzu bildet die Bestimmung für den Kuros, mit Logos zu urteilen, weil sie erstens besagt, dass der Mensch überhaupt Logos haben kann und weil sie ihn zweitens auffordert, Gebrauch davon zu machen. 417 Der radikalen Herausforderung in B 7.5 ist inhärent, dass die Erkenntnisfähigkeit des Kuros derjenigen der Göttin gleichkommen kann. Als Parallele zu einer solchen Wende sei Heraklits Annäherung der menschlichen an die göttliche Perspektive genannt, sobald der Mensch der philosophischen Sichtweise (gemäß Heraklit) habhaft wird. So in 22 B 78 und in 22 B 124. Vgl. in diesem Sinne zu Heraklit Graeser (1986) 14-5; Stemich Huber (1996) 166-7.
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tene Lernauftrag impliziert, dass der Kuros, um alles zu wissen, seine Aufmerksamkeit nach außen richten muss. Diese Lernform ist mit dem Begriff ἱστορίη umschreibbar. Mit der zweiten Kompetenzstufe hingegen vervollständigt sich sein Forschen von einem primär extravertierten Wissenansammeln zu einer Verinnerlichung des gewonnenen Wissensmaterials. Der Kuros soll nicht mehr flächendeckend lernen, sondern sich das Gelernte zu Herzen nehmen und es meditieren. Die dritte Kompetenzstufe, die Forderung, die göttliche Autorität mit eigener Vernunft zu prüfen, macht schließlich deutlich, dass der Kuros zu Unrecht verdächtigt worden war, passiv den Weg der Erkenntnissuche zu gehen. Diese Instruktion befreit ihn grundsätzlich zu geistiger Eigenständigkeit. Lernpsychologisch gesehen, führt der Auftrag κρῖναι zur Einsicht, dass das Wissen um die Wahrheit des Philosophen weder tradiert noch übernommen werden kann, sondern nur im unmittelbar selbständigen Suchen zu gewinnen ist. Diese Lernschritte betreffen nicht den Zustand der Seinserkenntnis, sondern Etappen im Prozess hin zur Erkenntnis. Sie sind keine zeitliche Abfolge einzelner Entwicklungsstufen und nicht einmalige, punktuelle Ereignisse, sondern bilden einen graduellen Prozess sich wiederholender Kompetenzaspekte, die sich ergänzen und wechselseitig steigern. Lernen geschieht langsam, und die methodischen Anleitungen in Parmenides’ Schrift folgen unweigerlich diesem Grundgesetz. Die als dritte Lernstufe genannte Anweisung hat zur Folge, dass sich das Wissen der Göttin und das Wissen des Kuros letztlich entsprechen. Damit ist der Kuros in diesem Stadium kein Schüler der Göttin mehr, sondern ihr gleichstehend.418 Der Auftrag κρῖναι in B 7.5 führt nicht nur eine Wende im Lernprozess des Kuros ein, sondern stellt auch einen Drehpunkt in der Geschichte des abendländischen Denkens dar. Denn er bestimmt, dass der Mensch nicht passiv – im homerisch-hesiodischen Sinne – göttlichen Mächten ausgeliefert sein muss, sondern seinen Werdegang selber prägen kann. Im folgenden Kapitel sollen weitere Aspekte der Erkenntnissuche nachgezeichnet werden, indem diejenigen Verse im Lehrgedicht hervorgehoben werden sollen, die verdeutlichen, dass neben den genannten Lernstufen auch eine besondere Einübung zur Seinserkenntnis notwendig ist, die den Kuros in seiner ganzen Persönlichkeit beansprucht. 418 Vgl. die weiter oben diskutierte These, der Kuros sei zugleich ein Lehrender. Siehe den Abschnitt 2.5.
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B 16 DK: Einübung in die rechte Krasis
6.1 Einleitung
I
m vorherigen Kapitel wurden Anleitungen zu Kompetenzstufen untersucht, die den Kuros auffordern, sich viel Wissen anzueignen, einen besseren Umgang mit Wissensmaterial einzuüben und eine außergewöhnliche Kritikfähigkeit zu entwickeln. In diesem Kapitel soll dafür argumentiert werden, dass B 16 eine weitere Lernetappe für den Kuros beschreibt. Die Hauptthese dieses Fragmentes besagt, dass der menschliche Geist in einem Verhältnis zur Mischung der vielbewegten Glieder steht. Diese Aussage kann von verschiedenen Perspektiven her gedeutet werden. Zunächst ist das Fragment aus der Sichtweise der Sterblichen (βροτοί) deskriptiv zu lesen: Es beschreibt das Entstehen des Denkens im Menschen analog zur Sinneswahrnehmung, wobei das Denken in B 16 durch die vielbewegten Glieder bestimmt ist. Sodann soll dafür argumentiert werden, dass B 16 auch eine präskriptive Funktion zukommt. Denn es bietet dem Kuros, dessen Aufgabe es ist, seine eigenständige Denkkraft zu entwickeln, auch einen Hinweis für seinen Suchweg. Diese zweite Lesart basiert auf der wortgeschichtlichen Analyse der wichtigsten Begriffe des Fragmentes. Damit enthüllt sich eine tieferliegende Bedeutung der Aussage, dass das Denken des Menschen durch seine vielbewegten Glieder mitbestimmt wird. Diese Beschreibung einer Gesetzmäßigkeit kann dem Kuros zugleich als Anleitung dienen, sein Denkvermögen zu stärken. Dieses Fragment berichtet also über die Menschen und über deren Denkfähigkeit. Letztere hängt in B 16 mit der ‘Mischung der Glieder’ zusammen, womit einer der Hauptbegriffe dieses Fragmentes gegeben ist. Denn der Begriff κρᾶσις umschreibt etwas Wesentliches in den Anleitungen in Parmenides’ Lehrgedicht und bedeutet dem Sinngehalt nach mehr als ‘Mischung’, die ‘perfekte Mischung’. Wir werden weiter unten sehen, wie der Mensch mit Hilfe von Krasis eine heterogene Vielheit zu einer harmonischen Einheit wandeln kann. In diesem Sinne soll gezeigt werden, wie der Kuros mit B 16 verstehen lernt, dass er mit dem rechten Denken auch die rechte Krasis der Glieder einüben kann, damit er der Seinserkenntnis näher kommt. Nun betrifft eine Krasis der ‘vielbewegten Glieder’ zugleich auch einen ‘bewegten Geist’: Doch die Glieder können durch Krasis zur Einheit gebracht werden, nämlich οὐλομελές werden – was einer Eigenschaft des Seienden entspricht.
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6.2 Die Stellung von B 16 im Lehrgedicht ὡς γὰρ ἑκάστοτ’ ἔχει κρᾶσις μελέων πολυπλάγκτων, τὼς νόος ἀνθρώποισι παρέστηκεν. τὸ γὰρ αὐτό ἔστιν ὅπερ φρονέει μελέων φύσις ἀνθρώποισιν καὶ πᾶσιν καὶ παντί. τὸ γὰρ πλέον ἐστὶ νόημα419 „Denn je nachdem wie ein jeder besitzt die Mischung der vielfach irrenden Glieder, so tritt (oder steht) der Geist den Menschen zur Seite. Denn dasselbe ist es, was denkt, die innere Beschaffenheit der Glieder bei den Menschen allen und jedem: nämlich das Mehr (vom Licht- oder Nachtelement) ist der Gedanke.“420 B 16 betrifft Parmenides’ Epistemologie. Dieses Fragment bildet eine der wichtigsten uns überlieferten Quellen zur vorsokratischen Erkenntnistheorie und zeigt einen Wendepunkte in der Geschichte des vorsokratischen Denkens bezüglich des Vorstellung von νοῦς auf.421 Das Fragment gilt als eines
419 Aus: O’Brien/Frère (1987) 73, die Theophr. Sens. Kap. 3 (499.18-21 Diels Dox.) zitieren, als die einzige überlieferte Quelle für παρίστημι in der Perfektform: παρέστηκεν. Dem gegenüber nennen Arist. Metaph. Γ 5, 1009b23; Alex. Aphr. in Metaph. 306.30 und Ascl. in Metaph. 277.20 (Hayduck) Aristoteles zitierend die Präsensform des Verbs: παρίσταται. Ich entscheide mich für die lectio difficilior bei O’Brien/Frère (19871) 73, und gegen DK, welche παρίσταται nennen. 420 DK I 244, hingegen schreiben ἑκάστος: „jeder“. In der Übersetzung, welche die Form ἑκάστοτ’ übernimmt wird die zeitliche Dimension hervorgehoben. Vgl. O’Brien (19871) 73: „For as at each moment is the condition of the mixture in the wandering limbs, so the mind turns out to be for men. For what the limbs think of is just the same for all men and for every ‹man›. For what there is more of is thought.“ Auch Vlastos (1946) 66, übernimmt die Form ἑκάστοτ’: „(which) is the best attested reading of Theophrastus.“ 421 Vgl. in diesem Sinne Bollak (1957) 66: „Je suis donc amené à étudier le fr. 16, le seul à porter aussi sur la connaissance (des choses sensibles).“ Bollack nennt neben B 16 auch B 4 als ein Fragment, das Parmenides’ Erkenntnistheorie betrifft. In den überlieferten Texten vorsokratischer Philosophen betreffen diese zwei Fragmente das erste Vorkommen epistemologischer Aussagen. Zum Fragment B 4 siehe das folgende Kapitel. Vgl. auch Fritz v. (1945) 236: „After Parmenides the form of the questions asked and the answers given, as well as the terms and concepts used in giving these answers, is completely changed.“ Auch Müller (1965) 20, beschreibt B 16 als eines der meistinterpretierten Fragmente der Vorsokratiker. Rappe (1995) 155, bezeichnet B 16 „ein bedeutendes Zeugnis wissenschaftlicher Erkenntnistheorie“ und betont, dass kaum eine andere Aussage des
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der schwierigsten Fragmente des Eleaten überhaupt:422 Tatsächlich ist fast jedes Wort von B 16 umstritten. Zudem ist die Zuteilung des Fragmentes zum Wahrheits- oder Doxateil im Lehrgedicht kontrovers. Zum einem wird das Fragment aufgrund seines Überlieferungskontextes bei Aristoteles zum Wahrheitsteil des Lehrgedichtes gezählt.423 In diese Richtung weist auch die physiologische Erklärung von B 16, das Fragment meine nicht eine Feststellung über die Schwäche des Geistes, sondern weise auf das Zusammengehen des Denkens mit der Wirklichkeit. Gerade weil B 16 eine Methode zur Wissenserlangung darstelle und die fundamentale Idee involviere, dass die Erkenntnis der unveränderlichen Wahrheit allen Menschen möglich ist, gehöre das Fragment zum Wahrheitsteil. Zudem ist es von derjenigen Sichtweise ausgehend, dass B 16 zum Wahrheitsteil des Lehrgedichtes gehört, durchaus möglich, B 16 in Verbindung mit B 3 zu lesen, mit derjenigen Lehre also, welche die Verbindung von Denken und Seiendem thematisiert.424
parmenideischen Denkens in der Forschung so intensiv diskutiert worden ist. Vlastos (1946) 66, diskutiert B 16 im Rahmen seiner Analyse von Parmenides’ Erkenntnistheorie und bestimmt, „knowledge of Being must represent a state of unmixed light.“ Wisniewski (1963-4) entscheidet anhand von B 16 und von Platons Höhlengleichnis: „Parménide admettait deux sources de la connaissance: les conceptions sensibles (αἰσθήσεις) et la raison (νοῦς).“ 422 Vgl. Calogero (1970) 49. 423 Vgl. die Diskussion des Überlieferungskontextes bei Aristoteles weiter unten im Abschnitt 6.3. Vgl. auch Cassin/ Narcy (1989) 291: „C’est dire que ce qu’Aristote trouve dans le fragment XVI, ce n’est pas une analyse de la doxa, une explication de l’errance des hommes hors du chemin de la vérité, ni même une théorie anthropologique de la connaissance.“ Fränkel (1960) 174, spricht in diesem Sinn von einem mehr von Licht, das die volle Einsicht in die Wahrheit gebe. 424 So in Cassin/ Narcy (1989) 291: „S’il cite ici ces quatre vers, c’est au contraire, comme une expression de la conception parménidéenne du vrai, de l’être qui implique l’unité de l’être et du penser: dans le Parménide d’Aristote, le fragment XVI ne serait pas à rejeter le catalogue des erreurs humaines, mais à rapprocher plutôt au fragment III (…).“ Die Thematik wird weiter unten diskutiert, nämlich im Abschnitt 6.4.2. Vlastos (1946) 68, behauptet hingegen, gerade weil Denken und Sein gemäß B 3 zusammenfallen, „it follows that only a being can think being, while the „much wandering“ frame is only too obviously a chunk of Becoming.“
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Zum Anderen wird die Meinung, dass B 16 zum Doxateil gehöre,425 wiederum aufgrund der Überlieferung bei Aristoteles vertreten, und dabei sind sich jene, die das Fragment zum Doxateil zählen, darüber uneins, ob es als kosmische Theorie oder als Zoogonie zu lesen sei.426 Ein Grund dafür, B 16 nicht zur Wahrheit der Göttin zu zählen, wird damit angegeben, dass in Simplikios’ Text praktisch der ganze ἀλήθεια-Teil überliefert ist. Dagegen ließe sich einwenden, dass auch B 5 nicht bei Simplicius zu finden ist, sondern nur bei Proclus.427 Wiederum ist es möglich, mit der Feststellung, dass das Fragment keine ontologische Aussage macht, dafür zu argumentieren, dass B 16 nicht zum Wahrheitsteil gehört. Doch läßt sich diese Begründung mit der Überlegung entkräften, dass nur das Fragment 8 die Wahrheit der Göttin im engeren Sinne beschreibt, während B 3, B 4, B€5 und B 7 als didaktische Fragmente für den Kuros zu verstehen sind. Entsprechend sei festgehalten: Die Stellung des Fragmentes im Lehrgedicht bleibt kontrovers und die These, dass B 16 lediglich Scheinmeinungen vertritt, überzeugt wenig. Im Lehrgedicht steht das Fragment zwischen kosmologischen und biologischen Beobachtungen, welche wissenschaftliche 425 Die Meinung, dass B 16 zum Doxateil gehöre, vertreten u.€a. Guthrie (1965) 42; Kenig Curd (1992); Meijer (1997), Tarán (1965) und Wiesner (1996). So Bestimmt. Meijer (1997) 57, Anm. 355: „Simply the occurrence of the word φύσις would be enough to assign it to the „Doxa“. Tarán (1965) 253f., liest das Fragment als „Psychologie aus dem Bereich der Doxa“. Dieses Fragment zeige die fundamentale Schwäche des Menschen, es sei die Vorführung seiner Unfähigkeit, weshalb es zum zweiten Teil des Lehrgedichtes gehöre. Vlastos (1946) bestimmt dieses Fragment als „a doctrine of sense-perception.“ 426 Demnach entsprechen die μέλεα als Tag (Licht beziehungsweise Feuer oder Wärme) und Nacht (Kälte) kosmischen Elementen. Vgl. Bollack (1957) 67, bezieht das Fragment mit dem Begriff μέλη (B 16.1) als „membres constitutifs de l’univers“ auf eine kosmische Dimension: „Et l’univers se pense dans la pensée de tous les hommes.“ (69) Begeistert beurteilt Popper (1988) den Inhalt des zweiten Teils des Lehrgedichtes als Resultat eines neugierigen, innovativen Forschergeistes. Vgl. einen Kommentar dazu in Austin (2000) 239-242. Vgl. die Aufgliederung bei O’Brien (19871) 247, der die Fragmente 9, 10, 11 und 12 als „une sorte de préambule à l’ensemble de la cosmogonie et de la zoogonie“ nennt und ders. 247, Anm. 33, wo der Autor die Fragmente 16-19 der Zoogonie des Parmenides zuteilt. Vgl. Frère (1996) 394, der die Aussagen des zweiten Teils des Lehrgedichtes unter die „réels temporels“ zählt, zur „doctrine des corps naturels“, was keineswegs mit Doxa gleichzusetzen sei. 427 Nämlich: Procl. in Parm. 708.16-17 (Cousin).
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Untersuchungen späterer Denker vorausnehmen. Diese Fragmente aus dem zweiten Teil des Lehrgedichtes können kaum bloß Meinungen von Sterblichen oder anderer Philosophen reflektieren. Es leuchtet vielmehr ein, sie als wissenschaftliche und kosmogonische Angaben zu lesen, die als Parmenides’ eigenes Gedankengut seine wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirklichkeit des Kosmos, des Menschen und allgemein, der Welt der veränderbaren Dinge wiedergeben.428 Dies gilt umso mehr als Parmenides gemäß B 8.61 in diesem Erkenntnisbereich unübertrefflich sein soll.429 Demnach kann man für den Gegenstand schließen, dass B 16 weder eine Scheinmeinung der Sterblichen vertritt, noch zum argumentativen Teil über das Seiende gezählt werden kann. Das Fragment enthält äußerst interessante epistemologische Informationen.430 Folglich hat die These, es als einleitenden Teil über die Wahrheit zu verstehen, in dem die verschiedenen Wege für den Kuros beschrieben werden, eine gewisse Plausibilität. Ich entscheide mich dafür, das Fragment einzig von der Perspektive einer Anleitung zur Seinserkenntnis ausgehend, her zu untersuchen. Anders gesagt, die Diskussion, ob B16 eine Scheinmeinung vertritt oder den epistemischen Charakter von Scheinmeinungen thematisiert, steht nicht zur Frage. Vielmehr soll anhand der Beschreibung einer Interdependenz zwischen dem Verhalten der Glieder und dem Zustand des Geistes aufgezeigt werden, wie der Kuros sein Denkvermögen optimieren kann, um der Seinserkenntnis näher zu kommen. Nun scheint B 16 bei einer ersten Lektüre eine deskriptive Aussage zu machen. Als Mitteilung für den Kuros gelesen, erklärt B 16, anders als die im fünften Kapitel diskutierten Lernaufträge, Zusammenhänge zwischen der physischen Verfassung des Menschen und seinen unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen. In didaktischer Lektüre entwickelt es die Anweisungen der Göttin weiter, die am Ende des Prooimions beginnen und die das Maß
428 Diese Meinung wird von Popper (1988) bes. 68-222, vertreten. So auch Fritz v. (1945) 237, welcher bemerkt: „…it is fundamentally an attempt to show there can be a world of belief side by side with truth and how it originates.“ 429 B 8.61: Simpl. in Ph. 38.39 (Diels): „(…) so ist es unmöglich, dass die irgendeine Ansicht der Sterblichen jemals den Rang ablaufe“ [DK I 240]. Zu Besprechung von diesem Vers vgl. den Abschnitt 4.6. 430 Keinesfalls können die auf B 8.51-2 folgenden Fragmente unter diejenige Sorte von Scheinmeinungen gereiht werden, wie sie mit dem Ausdruck βροτῶν δόξας in B 1.30 und mit der Beschreibung der Seinsweise der Sterblichen (vgl. B 6.4-9) genannt sind.
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an Wissen steigern sowie die Denkkraft des Kuros schärfen sollen. Es bietet einen Hinweis, der über die bloße Information hinweg, für den Kuros zur besseren Gestaltung seiner Erkenntnisfähigkeit von Nutzen sein kann. Lehrreich wird B 16 allerdings nur, wenn der Kuros die Beobachtung über die Beziehung zwischen νόος und der ‘Mischung der vielschweifenden Glieder’ als didaktischen Hinweis verstehen und entsprechend in seiner Erkenntnissuche anwenden kann. Bevor ich die Argumentation der Hauptthese des Fragmentes untersuche, möchte ich mit der Besprechung des Überlieferungskontextes beginnen und einige Grundbegriffe von B 16 analysieren.
6.3 Zum Überlieferungskontext von B 16 Weil die Stellung von B 16 im Lehrgedicht sehr kontrovers ist, ist es problematisch, über einen Überlieferungskontext zu reden. Mit strengen Mitteln – einzig unter Berücksichtigung von Parmenides – scheint es dennoch möglich zu sein, das Fragment zu interpretieren. B 16 handelt von der Entstehung des Denkens beim Menschen. Es folgt im zweiten Teil des Lehrgedichtes auf die Darstellung der Genese der Himmelskörper und der alles regierenden Daimon sowie auf die Beschreibung der Genese des Menschen.431 Obwohl es nun stimmt, dass der zweite Teil der Parmenidesschrift kosmogonische, kosmologische, theologische und zoogonische Beobachtungen enthält, ist es wenig plausibel, B 16 einzig vor diesem Hintergrund zu lesen, da die Verse dieses Fragmentes, mehr als die Geschichte der Entstehung des menschlichen Denkens, pädagogisch wertvolle erkenntnistheoretische Informationen enthalten.
431 Ein kurzer Überblick zeigt: Nach dem förmlichen Abschluss in B 8.50 der Rede über die Wahrheit und – mit B 8.60 – gleichsam einer Vorschau auf die folgenden Zeilen, besprechen die Fragmente des zweiten Teils des Lehrgedichtes die zwei Formen, welche die Menschen genannt haben (B 9), das Entstehen der Sonne und des Mondes, den Äther und die Sterne (B 10, 11, 14, 15) und die δαίμων, die für das reibungslose Ablaufen all dieser Phänomene zuständig ist (B 12 u.13). Vgl. zur Diskussion nochmals O’Brien (19871) 247, Anm. 33. Die Fragmente B 17 und B 18 untersuchen das Entstehen des Menschen. Die Ordnung früher Kosmologien ist in Pl. Ti. 27a5ff. angedeutet. Als Übersicht siehe die Arbeit von Naddaf (1992).
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Zunächst bietet sich an, Passagen, die in B 16 vorkommen, mit Textstellen von Philosophen, die vor und bis Parmenides lebten, zu vergleichen. Doch führt diese Untersuchung zu keinen erhellenden Ergebnissen.432 Und die ganze Originalität des Eleaten sollte nicht einzig aufgrund von vorparmenideischen Texten und Textvergleichen in Parmenides’ Schrift zu sichern sein. Ich werde im Folgenden die antiken Texte, die B 16 überliefern, diskutieren. Das Fragment wird von Aristoteles in der Metaphysik nach zwei Empedokleszitaten angeführt,433 und sein Schüler Theophrastos hat es im Bezugsrahmen, den Aristoteles ihm gab, übernommen.434 Aristoteles’ und 432 Die Untersuchungen mit TLG ergaben keine für diese Arbeit relevanten Resultate. Die Wortuntersuchungen in diesem Kapitel werden zeigen, dass Begriffe im Lehrgedicht vorkommen, die vor Parmenides entweder nicht überliefert sind oder nicht dem homerischen Bedeutungsgehalt entsprechen, noch demjenigen anderer vorsokratischer Denker. Vgl. in diesem Sinne die Diskussion zu κρᾶσις im Abschnitt 6.6.1. 433 Arist. Metaph. Γ 5, 1009 b 21-25. Aristoteles hatte vor der Zitierung von B 16 die protagoreische These diskutiert, dass alle Meinungen gleichwohl richtig wie falsch seien, was er aufgrund der Annahme erstens, dass sinnliches Wahrnehmen geistiges Verstehen bedeute, und zweitens, dass geistiges Begreifen veränderlich sei und sich als Prozess der jeweiligen körperlichen Zustände verstehen lässt, ausführt. Die Empedokleszitate sind: 31 B 106: Ar. de An. Γ 4.427a21: „Denn auf den anwesenden Stoff hin wächst der Verstand den Menschen.“ [DK I 350] In der Übersetzung Schwarz (1970) 101: „Je nach der gegenwärtigen Lage erwächst nämlich Menschen die Klugheit.“ 31 B 108: Ar. Mph. Γ 5 1009b18: „Nach dem Maße, wie sich die Menschen (am Tage) in ihrer Natur änderten, so fällt es ihnen auch stets bei ihre Gedanken zu ändern (in der Nacht).“ [DK I 351] In der Übersetzung von Schwarz (1970): „Wie sie selber sich ihrer Natur nach wandeln, so erfolgt stets bei ihnen gewandeltes Denken.“ Die Übersetzungen von Schwarz sind denjenigen von DK vorzuziehen, da sie das hier zu diskutierende Thema klarer hervorheben. 434 Theophr. Sens. 1-3. Ich beziehe mich im folgenden auf die Übersetzung in der Ausgabe von Stratton (1917). O’Brien/Frère (1987) 73, geben zwei weitere Quelle für B 16 an, nämlich Alex. Mph. 306.29-30 (Hayduck) und Ascl. Mph. 277.19-20 (Hayduck), die Aristoteles zitieren und die ersten zwei Zeilen von B 16 nennen, und Alex. Mph. 306.35 (Hayduck), wo der Autor, Aristoteles zitierend B€4.1 nennt und schließlich Alex. Mph. 306.36-307.1 (Hayduck), der B€16.3-4 zitiert. Ich werde Aristoteles’ Text als Hauptquelle benutzen und Theophrastos als Ergänzung herbeiziehen. Zum Überlieferungskontext vgl. die Diskussion bei Cassin/Narcy (1989) 277-95; Coxon (1986) 247-8; Wiesner (1996) 37-9.
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Theophrastus’ Texte sind zuverlässige Quellen für die Diskussion vorsokratischer Texte, solange festgehalten wird, dass die Möglichkeit besteht, dass die Interpretation des überlieferten philosophischen Systems beeinflusst ist, weil Aristoteles die ursprünglichen Begriffe, Ideen und Vorstellungen in seine eigene Terminologie übersetzte.435 Trotzdem ist die Bedeutung dieses Fragmentes nur im Zusammenhang mit dem Kontext, den Aristoteles ihm zuweist, erklärbar.436 Theophrastos fasst nebst B 16 auch Parmenides’ Erkenntnistheorie zusammen, nach der Wissen analog zur Sinneswahrnehmung entsteht.437 Mit anderen Worten meint Theophrastos, Parmenides habe gesagt, dass Erkenntnis und Sinneswahrnehmung übereinstimmen. Diese Behauptung ist bedeutsam und soll hier kurz besprochen werden. Die Aussage des Theophrastus, dass für Parmenides Vernunft und Sinneswahrnehmung dasselbe seien, bedeutet kaum, dass Parmenides intentional keinen Unterschied zwischen beiden Wahrnehmungsarten (Verstehen und mit den Sinnesorganen erkennen) feststellte.438 Vielmehr ist mit Ross anzunehmen, dass sich zu Parmenides’ Zeit die beiden Vorstellungen nicht
435 Vgl. die Diskussion bei Fritz v. (1945) 227. 436 So Cassin/Narcy (1989) 280f. 437 Diels, Doxographi Graeci 499-500. Theophrastos geht genauer auf die verschiedenen Ausprägungen des geistigen Begreifens ein und erklärt, je nachdem, ob das eine oder das andere der zwei Elemente – Warm und Kalt – dominiere, dieses für die Veränderung im Verstehen verantwortlich sei. 28A46: Theophr. Sens. 1ff.: τὸ γὰρ αἰσθάνεσθαι καὶ τὸ φρονεῖν ὡς ταὐτὸ λέγει: „Er sagt, dass Sinneswahrnehmung und Denken dasselbe seien“ [DK I 226.1011]. Diese Aussage ist bereits bei Aristoteles genannt. Vgl. Arist. Metaph. Γ 5. 1009b12-13: διὰ τὸ ὑπολαμβάνειν φρόνησιν μὲν τὴν αἴσθησιν. Inhaltlich kommt dieser Passage einem weiteren Aristotelestext nahe, nämlich Arist. de An. Γ 4.427a21: οἵ γε ἀρχαῖοι τὸ φρονεῖν καὶ τὸ αἰσθάνεσθαι ταὐτὸν εἶναί φασιν (…): „Die alten (Philosophen) sagen, dass Denken und Sinneswahrnehmung identisch sind“. Vgl. zur Diskussion Wiesner (1996) 63. Parmenides hat, anders als Empedokles, nicht die verschiedenen Sinnesorgane und -wahrnehmungen beschrieben. Für unsere Diskussion übernehme ich Laks’ Übersetzung und Interpretation von Theophr. Sens. 3-4: (1990) 10-17. 438 Diese Meinung vertritt Zeller (1919) 721, Anm.1.
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klar gegeneinander abgrenzten.439 Ich werde weiter unten das Thema erneut aufgreifen.440 Aristoteles kommentiert nicht spezifisch B 16.441 Der Überlieferungskontext für das Fragment ist jedoch hinreichend mit den Empedoklesfragmenten und mit Aristoteles’ Umschreibung derselben gegeben. Das Fragment B 106 des Empedokles lautet: „Denn auf den anwesenden Stoff hin wächst der Verstand den Menschen.“442 Das zweite von Aristoteles zitierte Fragment des Empedokles enthält die Behauptung: „Nach dem Maße, wie sich die Menschen (am Tage) in ihrer Natur änderten, so fällt es ihnen auch stets bei ihren Gedanken zu ändern (in der Nacht).“443 Es ist offenbar, dass sich die Empedoklesverse und Parmenides’ B 16 mehr als nur inhaltlich nahestehen. Die Tatsache erstens, dass der Stagirit den Parmenidestext unmittelbar hinter die Empedoklesverse angefügt hat und zweitens, dass zwischen den Begriffen von B 16 und den Empedokleszitaten eine gewisse Übereinstimmung besteht, und schließlich dadurch, dass Aristoteles selber anfügt, Parmeni-
439 So Ross (195 ) 275. Fritz v. (1945) 228-9, macht in der Besprechung von Xenophanes’ Beschreibung des Gottes deutlich, wie das Verständnis von Wissen (durch Denken) und Wissen (aufgrund von Sinneswahrnehmung) nicht klar voneinander geschieden wurde. Der Autor weist anhand von diesem Beispiel und von der Unsicherheit der Doxographen nach, wie sich die Verwendung des Wortes νοεῖν in der Zeit zwischen vorsokratischen Texten und deren Überlieferung konzeptuell verändert hat. 440 Siehe die Besprechung des Denkens bei den Menschen im Abschnitt 6.4.2. 441 Aristoteles hatte Empedokles, die vier Zeilen von B 16, einen Satz von Anaxagoras, und Zeilen Homers genannt, um zu erklären, dass die alten Philosophen –€dadurch, dass sie den widersprüchlichen Sinnesdaten zuviel Wert beimaßen – das Prinzip der Nicht-Kontradiktion vernachlässigten. Da ich die Zeilen Homers, die Aristoteles zitiert, nicht weiter besprechen werde, füge ich sie hier an: Hom. Od. XVIII 136, zitiert in Arist. Metaph. Γ 5.1009b2833: φασὶ δὲ καὶ τὸν Ὅμηρον (…) ὡς φρονοῦντας μὲν καἱ τοὺς παραφρονοῦντας ἀλλ’ οὐ ταὐτά: „Man sagt, dass auch Homer diese Meinung zu vertreten scheine (…) als hätten auch die Verrückten Einsicht, nur eben nicht dieselbe [wie die Normalen].“ Endlich in Arist. de An. Γ 427a27-7: τοῖος γὰρ νόος ἐστίν: „Solcherart ist die Natur des menschlichen Geistes.“ 442 31 B 106: Arist. Metaph. Γ 5. 1009b17: πρὸς παρεὸν γὰρ μῆτις ἀέξεται ἀνθρώποισιν: [DK I 350]. 443 31 B 108: 108 Arist. Metaph. Γ 5. 1009b18: ὅσσον {γ’} ἀλλοῖοι μετέφυν, τόσον ἄρ σφισιν αἰεί / καὶ τὸ φρονεῖν ἀλλοῖα παρίσταται (…) [DK I 351]. Vgl. meine Überlegungen zu DK Übersetzung dieser Fragmente in Anm. 433.
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des habe dasselbe (wie Empedokles) gesagt,444 lässt deutlich werden, dass B 16 und die Empedoklesverse eine gleiche Lehrmeinung enthalten. Was aber beinhaltet diese Lehre? Aristoteles hatte berichtet, dass laut Empedokles ein veränderter (körperlicher) Zustand (ἕξις) einen veränderten Geist (φρόνησις) hervorruft und dass sich die Intelligenz der Menschen je nach dem, was da ist, verändert.445 Nun birgt diese Aristoteleslektüre eine wichtige Konsequenz für unsere Parmenidesinterpretation: Obwohl laut genannter Überlieferung Parmenides gesagt hat, dass Denken mit αἴσθησις identisch ist, und obwohl Aristoteles bei Parmenides und Empedokles über das Bestehen einer Wechselwirkung zwischen dem körperlichen Zustand und dem Denken beim Menschen feststellt, folgt hieraus nicht bloß, dass jeder Mensch gemäß Parmenides in seinem Erkennen durch die in der Wahrnehmung gegebenen Objekte (φαινόμενα) determiniert ist. Diese Aussage lässt sich folgenderweise begründen: Gerade die Tatsache, dass Parmenides besagte Korrelation in einem Lehrgedicht festhält, das als Instruktion für den Kuros gedacht ist, macht deutlich, warum B 16 mehr als nur die Beschreibung einer Erkenntnistheorie sein kann, welche den Men444 Aristoteles bestätigt den inhaltlichen Zusammenhang der empedokleischen und parmenideischen Aussagen, indem er zuerst in eigenen Worten die Empedoklesfragmente erläutert: Vgl. Arist. Metaph. Γ 5.1009b17-18: καὶ γὰρ Ἐμπεδοκλῆς μεταβάλλοντας τὴν ἕξιν μεταβάλλειν φησὶ τὴν φρόνησιν: „Denn so sagt auch Empedokles, dass sich mit der Veränderung unseres Zustandes auch die Einsicht ändere“ [Übers. Schwarz]. Dann fügt der Stagirit an, dasselbe habe auch Parmenides gesagt: Vgl. Arist. Metaph. Γ 5.1009b21-22: καὶ Παρμενίδης δὲ ἀποφαίνεται τὸν αὐτον τρόπον (…): „Und Parmenides spricht auf dieselbe Art“ [Übers. Schwarz]. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, genauer auf die Bedeutung dieser Aristotelesaussage zu Empedokles einzugehen [31 B 108: DK I 351] oder die Bestimmung der Korrelation körperlicher Zustände mit Geistigem bei Parmenides auf dem Hintergrund der neuentdeckten Empedoklesfragmente zu untersuchen (Vgl. Martin/ Primavesi 1999). Ich begnüge mich an dieser Stelle mit Osborne (2000) 355-6, die kommentiert, die neuentdeckten Empedoklesfragmente untergraben die alten Studien nicht, ganz im Gegenteil: „it gives us not just a few lines but a new security in the value of an extensive body of evidence that we already had (…).“ 445 Arist. Metaph. Γ 5. 1009b17: „Denn so sagt auch Empedokles, dass sich mit der Veränderung unseres Zustandes auch die Einsicht verändere“ [Übers. Schwarz]. Diese physiologische Beschreibung erklärt verschiedene Arten zu denken für verschiedene Menschen und sukzessive, individuell wahrnehmbare, geistige Zustände.
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schen als passiven Rezipienten von Sinneseindrücken bestimmt. Eindeutig würde solch eine Interpretation die vorausgehenden Forschungsergebnisse dieser Untersuchung, wonach der Kuros mit eigener Kraft denken kann und soll, in Frage stellen. In diesem Sinne legen die Analysen der vorhergehenden Kapitel nahe, dass Parmenides unmöglich die in B 16 enthaltene Information als eine Theorie über einen unveränderbaren Zustand bestimmt hat. Gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretation beinhaltet B 16 die Vorstellung, das Denken des Menschen gehe mit der Sinneswahrnehmung einher, mehr als nur eine Beobachtung über die Sterblichen (βροτοί), die nicht anders können, als passiv ihren Sinneseindrücken ausgeliefert zu sein.446 Laut Parmenides sind die Sterblichen dem Zwang der Gewohnheit ausgeliefert, passiv und geistig stumpf. Für sie stimmt die Beobachtung, dass ihr Denken durch die Sinneswahrnehmung (αἴσθησις) bedingt ist. Was aber ist hieraus für den Kuros zu schließen? An anderer Stelle wurde behauptet, dass die Darstellung der Sterblichen diagnostisch begründet ist.447 Als Diagnose, sagt B 16 etwas über den Alltagszustand des Menschen aus. Genauso wie Parmenides einen Unterschied zwischen den βροτοί und dem Kuros festgestellt hat, muss ein Unterschied zwischen ihrem verworrenen, von Eindrücken bestimmten Denken und dem Denken des Kuros bestehen, das klar sein soll, um die Rede der Göttin beurteilen zu können. Dann wird die in B 16 enthaltene Information zur Lektion für den Lernenden. Er muss sie allerdings als präskriptive Aussage, also als Aufgabe verstehen. Er muss die in B 16 enthaltene Beschreibung als Gesetzmäßigkeit entschlüsseln und die Zusammenhänge zwischen klarem und unklarem Denken ableiten können. Zu prüfen ist im Folgenden, wie der Kuros die Information als Anleitung auf dem Weg zur Seinserkenntnis nutzen kann. Dieses Fragment richtet sich nicht als Anrede in imperativischer Form an den Kuros. B 16 spricht weder über die Sterblichen noch über den Kuros, sondern beschreibt die Menschen. Und Menschen sind die Sterblichen wie der Kuros. Um die verschiedenen Weisen, Mensch zu sein, zur Lehre des Eleaten in B 16 zu fixieren, werde ich die Bedeutung von Mensch im Lehrgedicht genauer bestimmen. 446 In diesem Sinne Cassin/ Narcy (1989) 285: „(…) et l’erreur d’Aristote est de prendre pour doctrine propre à Parménide ce qui pour celui-ci n’est qu’opinion des mortels.“ 447 Vgl. den Abschnitt 3.5.5.
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6.4 Der deskriptive Sinn von B 16 6.4.1 Die Menschen Der zweite Vers von B 16 spricht über das Denken des Menschen. In diesem Abschnitt soll erörtert werden, inwieweit die Tatsache, dass Parmenides in diesem Fragment weder über den Kuros448 noch über die Sterblichen449 mit dem Sammelbegriff ἄνθρωποι über die Menschen spricht, in didaktischer Perspektive relevant ist. Der Begriff ‘Mensch’ kommt in B 16.2 im Zusammenhang mit νόος vor.450 Dann legt die Verallgemeinerung in B 3-4 fest,451 dass allen und jedem (Menschen) eine identische Natur (der Glieder) zukommt. Soweit hat der Begriff ‘Mensch’ deskriptiven Gehalt:452 Er bestimmt eine Gattung. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, ein wissender κοῦρος zu werden. Den gewöhnlichen Zustand aber stellen die βροτοί dar, diejenigen Menschen, die ihr Potential
448 Parmenides hatte sich im Prooimion als Wissender beschrieben: vgl. B 1.3: εἰδότα φῶτα [DK I 228]. Von der Göttin wurde er dort als Jüngling angesprochen: vgl. B 1.24: ὦ κοῦρε [DK I 230]. 449 Sie sind in B 8.39 und in B 8.51; 8.61, diejenigen, deren Meinungen nirgends hinführen [DK I 239-40]; mit B 6.4: εἰδότες οὐδέν: „nichts Wissende“ [DK I 233]. Die Sterblichen wurden weiter oben charakterisiert: vgl. den Abschnitt 3.5.3. Zur Trennung zwischen Sterblichen und Menschen in Homer vgl. Meijer (1997) 225f. 450 Allerdings kommt der Begriff ‘Mensch’ bereits im Prooimion vor, als die Göttin den Jüngling begrüßt und ihren Weg fern der Menschen nennt: vgl. B 1.27: S. E. M. VII 111: „ἀπ’ ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου“ [DK I 230]. Zu B 16.2, vgl. oben. 451 B 16.4: (…) ἀνθρώποισιν / καὶ πᾶσιν καί παντί (…): siehe oben. 452 Das letzte uns überlieferte Fragment im Lehrgedichte schildert, wie Menschen Dinge benennen: vgl. B 19.3: Simp. in Cael. 558.11: (…) ὄνομ’ ἄνθρωποι κατέθεντ’ ἐπίσημον ἑκάστῳ: „Und für diese Dinge haben die Menschen einen Namen festgesetzt, einen bezeichnenden für jedes“ [DK I 245]. Vergleichsweise erwähnen Zeilen, in denen es um Zeugung geht, Junge und Mädchen (vgl. B 17: Gal. Hippocr. Libr. Epid. VI 48 (Corpus medicorum graecorum Vol. V 10, 2,2): κούρους, κούρας [DK I 244]; und Mann und Frau (vgl. B 18.1: Cael. Aur. morb. chron. V, IV 9.135): „femina virque (…)“ [DK I 245].
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nicht wahrnehmen.453 Wie gesagt, wird dem Menschen in der Beschreibung der Sterblichen sein Alltagsbewusstsein vor Augen geführt und im Kuros seine Erkenntnisfähigkeit.454 Parmenides zufolge ist jedem Menschen νόος gegeben. Was aber bedeutet der Begriff für die Sterblichen im Gegensatz zum Kuros? Die folgende Analyse von νόος, der in B 16 die viel schwankenden Glieder und das Verstehen des Menschen in Beziehung bringt, führt gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretation zur Bestimmung einer weiteren Kompetenzstufe.
6.4.2 Das Denken: νόος und νοεῖν Der zweite Vers von B 16 bestimmt, dass den Menschen νόος zukommt.455 Bevor ich den Begriff im Lehrgedicht näher bestimme, schicke ich einen wortgeschichtlichen Exkurs voraus. Ich werde zuerst den Sinngehalt von νόος und νοεῖν besprechen und daraufhin untersuchen, wem in der Geschichte des vorsokratischen Denkens νόος zukommt. Der Ausdruck ‘νόος zu haben’ hat in der epischen Dichtung456 nicht allein die Bedeutung von Verstand oder die Fähigkeit, etwas geistig zu durchdenken, sondern auch von Verstand, der ähnlich wie die Sinneserfahrung auf den 453 Dagegen verstehen Meijer (1997) 225-7, Coxon (1934) 134, sowie Owen (1960) 91, Anm. 2, die βροτοί als die Philosophen und die ἄνθρωποι als allgemein die Menschheit. 454 Vgl. die Zusammenfassung im Abschnitt 3.6. 455 B 16.2: νόος ἀνθώποισι παρέστηκεν: „so tritt zu den Menschen Vernunft“ [Übers. Schwarz]. Anders als DK, welche die Präsenzform des Verbs παράσταται aus den Manuskripten von Alexander und Asklepios übernehmen, entscheide ich mich mit O’Brien/ Frère für die von Aristoteles und Theophrastos adoptierte Perfektform παρέστηκεν. Vgl. die Übersetzung von O’Brien (19871) 73: „so the mind turns out to be for men“. Zu dem Verb παρίστημι vgl. Snell (1958) 316; Coxon (1986) 249; Fränkel (1962) 157-97, Tarán (1965) 170 Das Verb hat hier einen wissenschaftlich-deskriptiven Sinn, als ‘hat’ oder ‘(es) ist ihm eigen’. Die Auffassung allerdings, dass νόος im Lehrgedicht eine Entität sei, die außerhalb des Menschen etwa wie in traditioneller Auffassung eine Gottheit dem Menschen zur Seite steht, ist meines Erachtens wenig plausibel. In diesem Sinne jedoch Cassin/ Narcy (1989) 288: „νόος doit être compris comme une entité distincte de l’homme (…).“ 456 Wahrnehmen, bemerken, erkennen und einsehen. In seiner Analyse von νοῦς und νοεῖν macht von Fritz auf die etymologische Verbindung des Verbs νοεῖν mit Schnuppern und Riechen aufmerksam und auf die enge Beziehung mit den Wörtern ἰδεῖν und γιγώσκειν. In Zusammenhang mit diesen Verben bedeutet νοεῖν auch ein mit dem Sehvermögen verbundenes Wissen. Vgl. Fritz v. (1974) 23f.
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Menschen zukommt.457 In den homerischen Texten hat jeder Mensch in verschiedenem Maß von Natur aus νόος. Doch ist er bei einigen Menschen abgestumpft und schwerfällig.458 Νόος grenzt sich bei Homer von blinden 457 Im homerischen Kontext kommt νόος dem Menschen (in der Brust- oder Zwerchfellgegend sitzend) (1) als Fähigkeit, intuitiv etwas zu erfassen, zu durchschauen, eine Sachlage wahrzunehmen oder entfernte Objekte und Situationen zu visualisieren, einfach zu (2). - Ad (1): Z. B. in Od. Il. 18.419. Vgl. Fritz v. (1965) bes. 436; ders. (1943) 88f. und (1974) 33; Lesher (1981) 2ff.; Hussey (1990) 11-17; Schmitz (1965) 422. Ders. betont auf S. 426: „Das Denken, das nicht am eigenen Leibe gespürt wird wie Hunger oder Durst, scheint dem Dichter der Ilias noch unbekannt.“ - Ad (2): Z. B. in Hom. Il. XV 80, zur Gedankenschnelle. Vgl. Fritz v. (1943) 91; ders. (1945) 25-6; Rappe (1995) 56. Platon kritisierte später diese Dichtern und Rhapsoden nachgesagte Form von Wissen, da sie nicht ‘wahres Wissen’ sei. Vgl. Pl. Ion 536d3, wonach die Erkenntnisse der Dichter θείᾳ μοίρᾳ, aber nicht ἐπιστήμη sind. Bei Hesiod verbindet sich νοεῖν mit Willen und mit moralischen Adjektiven, etwa als κακὸς νόος, νόος ἐσθλός, κύνεος νόος. Ein klarer, nicht abgestumpfter νοῦς befähigt den Menschen, die verborgene Bedeutung einer Situation, den Charakter oder die wahren Beweggründe einer Person zu erkennen. Vgl. Hes. Op. 323 und 373 sowie Hes. Th. 573. Vgl. ausführlich Fritz v. (1974) 28-9. Zusammengefasst, kann der Mensch mit νόος die Wirklichkeit nicht ausschließlich rational, begrifflich Erfassen. Vielmehr bedingt die meist angewandte Übersetzung „Geist“ (DK), „esprit“ (Frère) oder „mind“ (O’Brien, Coxon, Guthrie, Gallop), dass der erweiterte Wortgehalt mitgedacht werden muss. Tatsächlich ist es schwierig, νόος anders als ‘geistig allein’ zu verstehen. Dabei ist zu erinnern, dass der uns geläufige platonisch-aristotelische Wortgehalt von νόος alle früheren in den Hintergrund gestellt hat. Zudem hat unser christlich-cartesisches Weltbild die Trennung in Körper und Geist perpetuiert. LSJ übersetzen νόος bei Parmenides, als den Greist (mind) betreffend, als reason und intellect, nennen jedoch auch seine ältere Bedeutung im homerisch-hesiodischen Kontext, als to have sense (z.€B. Hdt. 3.86,138), wie seine Verbindung mit Gefühlen und Entscheidungen, die vom Herz ausgehen (z.€B. in Od. 8.78: χαϊρε νόῳ). Eine einseitige Bestimmung des Wortes νόος führt zu reduktionistischen Schlussfolgerungen, wie etwa, Parmenides habe die Sinneswahrnehmung in der Erkenntnissuche verworfen. Das war eine verbreitete Meinung in der Antike [Vgl. Arist. GC. A 8,325a13-14; Philodem. rhet. fr. inc. 3.7 (DK: A 49); Aët. IV 9,1], die auch bei modernen Autoren zu lesen ist. Vgl. Meijer (1997) 58: „As Being and thinking are identical, so perception and Doxa.“ Ich werde im Folgenden νόος und νοεῖν der Einfachheit halber mit Begriffen wie ‘Gedanke’, ‘Geist’, ‘Denken’ usw. übersetzen, meine aber jeweils deren oben besprochenen, erweiterten Sinngehalt. 458 Ausführlich in Fritz v. (1945) 229-30 und 236-7. Tatsächlich wird νοεῖν in Homer mit φρήν assoziiert: vgl. z. B. Hom. Il. ix 600, worin Phönix Achilles warnt, etwas nicht mit νόος in seinen φρένες zu planen.
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Emotionen ab und von Denken im Sinne einer intentionalen, intellektuellen Aktivität; er meint vielmehr ein geistiges Vermögen, das analog zur Sinneswahrnehmung aufnehmend und empfänglich ist.459 Diese passive Konnotation des Wortes drückt sich vor allem im Verhältnis des Denkens zu seinem Objekt aus. Letzteres ist dem Denken unmittelbar gegeben, also unabhängig vom Vorgang des Denkens vorhanden.460 Xenophanes wandte den Begriff νόος auf Gott an, der alles sieht, alles weiß und auch alles hört und mühelos mit νοῦς und φρήν alles erschüttert,461 während die Menschen keine wahren Einsichten haben, sondern auf Vermutungen über die Wirklichkeit angewiesen sind.462 In einem weiteren Fragment bestimmt Xenophanes, dass der Gott weder an Gestalt noch an νόος den Menschen gleicht.463 Aus diesen Fragmenten wird ersichtlich, wie sich die Bedeutung von νόος seit Homer, welcher das Wort für eine Fähigkeit aller Menschen sah, gewandelt hat: Bei Xenophanes steht νόος für eine göttliche Qualität.464 Anders als Xenophanes schuf Heraklit einen Bezug zwischen νόος und dem menschlichen Erkennen, doch stellte er, anders als Homer fest, dass nur wenige Menschen νόος einsetzen. Heraklit zufolge, garantieren weder extensives Lernen noch Wissenansammeln noch Kenntnisse in einem besonderen Wissensgebiet, dass ein Mensch νόος hat.465 Auch kann niemand νόος durch 459 Vgl. Leszl (1988) 297-9. 460 Vgl. Leszl (1988) 299: „il rapporto fra il pensare e il suo oggetto (…) consiste in una specie di ‘contatto’ con esso, dopo il quale la mente puo conservare una sua ‘impronta’.“ 461 21 B 25: Simp. in Ph. 23.19: ἀλλ’ ἀπάνευθε πόνοιο νόου φρενὶ πάντα κραδαίνει: „Doch sonder Mühe erschüttert er alles mit des Geistes Denkkraft“ [DK I 135]. 21 B 24: S. E. M. IX 144: οὖλος ὁρᾶι, οὖλος δὲ νοεῖ, οὖλος δέ τ’ ἀκούει [DK I 135]. Die Übersetzung bei DK verwendet etwas inakkurat statt der Verben Substantive (Auge, Geist, Ohr). 462 Vgl. 21 B 34: S. E. M. VII 49110: καὶ τὸ μὲν οὗν σαφὲς οὔτις ἀνὴρ ἴδεν οὐδέ τις ἔσται / εἰδῶς ἀμφὶ θεῶν τε καὶ ἄσσα λέγω περὶ πάντων (...) δόκος δ’ἐπὶ πᾶσι τέτυκται: „Und das genaue freilich erblickte kein Mensch (…) in Bezug auf die Götter und alles Wissen (…) Schein(meinen) haftet an allem“ [DK I 137]. 463 Vgl. 21 B 23: Clem. Strom. V 109: „Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken (νόημα)“ [DK I 135]. 464 Vgl. Fritz v. (1945) 228-30. 465 Vgl. 22 B 40: Diog. Vit. philos. IX 1: „Vielwisserei (πολυμαθίη) lehrt nicht Verstand haben (νόον ἔχειν οὐ διδάσκει). Sonst hätte sie’s Hesiod gelehrt und Pythagoras, ferner auch Xenophanes und Hekataios“ [DK I 160]. Dabei stellte Heraklit πολυμαθίη in Gegensatz zu νοῦς. Laut 22 B 129 ist Pythagoras’ „eigene Weisheit“
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andere Menschen erlernen.466 Die Tatsache ist: Obwohl νόος allen Menschen gegeben ist, erkennen die Meisten ihn nicht.467 Gemäß Heraklit versteht der Mensch mit νόος den alle Wirklichkeit regierenden Logos und kann göttliches Wissen erlangen. Dadurch, dass νοεῖν mit φρονεῖν, der höchsten Tugend, einhergeht, besitzt das Wort νόος zugleich einen theoretischen und einen praktischen Aspekt.468 Laut Heraklit ist es jedem Menschen gegeben, seinen νόος zur bestmöglichen Erkenntnisfähigkeit zu entfalten, doch muss er dafür eine besondere Haltung einüben, um in sich die den Kosmos regierende Gesetzmäßigkeit zu erkennen.469 Genaugenommen spricht er nicht von unterschiedlichen Zuständen des νόος, sondern davon, dass jemand ihn hat oder nicht. Demgegenüber schlägt Empedokles wie Parmenides ein Menschenbild vor, das Veränderungen im Bereich der Erkenntnis vorsieht. Gemäß Empedokles nämlich ist νόος eine menschliche Fähigkeit, die durch die Objekte,
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bloß „Vielwisserei und Betrügerei“ (πολυμαθίη, κακοτεχνίη) [DK I 181]. Also konnten weder Pythagoras durch extensives und besonderes, z.€B. mathematisches oder sonstwie wissenschaftlich fundierte Kenntnisse, noch das spezifische geographische und geschichtliche Wissen des Hekataios, noch Hesiods geschichtliche und Mythologische Kenntnisse. Genauso wenig wie der Mensch durch Reisen νόος erlangt, kann er durch Hörensagen Wissen erlangen, denn der Mensch kann νοῦς nur durch eigene Ansicht gewinnen. Vgl. Stemich (1998) 14-6. 28 B 17: Clem. Strom. II 8: „(Denn) es verstehen solches Viele nicht, soviele auch darauf stoßen, noch erkennen sie es, wenn sie es lernen (…)“ [DK I 155]. Denn weise sein, beinhaltet für den Epheser die Assoziation nicht nur von νοῦς und σωφρονεῖν, sondern auch des Menschen mit den Sinnesorganen: Vgl. 22 B112: Stob. I 178: „Gesundes Denken (σωφρονεῖν) ist die größte Vollkommenheit, und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und zu handeln nach der Natur, auf sie hinhorchend“ [DK I 176]. Vgl. auch 22 B 114, wonach diejenigen, die mit νοῦς sprechen, ihre Rede auf dem kosmischen Gesetz gründen: Stob. I 179: „Wenn man mit Verstand reden will (ξὺν νόωι λέγοντας), muss man sich stark machen mit dem allem Gemeinsamen (d.€h. dem Verstand ξὺν νόωι€: ξυνῶι) wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch viel stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen (…)“ [DK I 176]. Vgl. 28 B 101: Plut. Adv. Col. 20: „Ich durchforschte mich selbst“ [DK I 173]. Das Thema wurde in Stemich Huber (1996) 92, ausgeführt.
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auf welche die Aufmerksamkeit des νόος gerichtet ist, determiniert wird.470 Mit anderen Worten, er stellt Denken in Beziehung zu Physiologischem.471 Auch Demokrit bezieht νοεῖν auf den Menschen.472 Aus diesen Textstellen wird deutlich, dass die vorsokratischen Philosophen nach Xenophanes νοῦς und νοεῖν nicht mehr ausschließlich dem Gott zuschreiben, sondern die Begriffe als menschliche Fähigkeit zur Erkenntnis von Wahrheit wie auch für das Alltagsdenken bestimmten. Bei Parmenides kommen Formen von νόος und νοεῖν und deren Derivate bemerkenswert häufig und in beiden Teilen des Lehrgedichtes vor.473 Ihr zahlreiches Auftreten macht deutlich, dass diese Begriffe eine Schlüsselstellung in Parmenides’ Schrift einnehmen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das Verb νοεῖν auch bei den Sterblichen angewandt wird, die einen verwirrten νόος haben und hilflos, dumpf und rastlos sind und fern von der Wahrheit des Philosophen.474 Die Wörter νόος und νόημα kom-
470 Vgl. 31 B 110.10: „Denn alles, wisse, hat Bewusstsein und am Denken Anteil“ [DK I 353]. Diesem Vers ging die Mahnung (an den Schüler) voraus, die Lehre (des Meisters) „tief in den Sinn einzufügen“ – und der Schüler werde „vieles daraus gewinnen“. Falls der Schüler aber „nach andersartigen Dingen trachten“ wolle, die „das Nachdenken abstumpfen“ – dann verliere er schnell (seine Geisteskräfte) [paraphrasiert nach 31 B 110.1-9: DK I 352-3]. Vgl. zudem 31 B 3.12: S. E. M. VII 124: „(und stelle auch nicht die Glaubwürdigkeit der übrigen Glieder zurück), soweit es nur eben einen Pfad zum Erkennen (νοῆσαι) gibt, sondern erkenne (νόει) auf dem Wege, auf dem jedes einzelne klar liegt“ [DK I 310-1]. 471 Vgl. 31 B 105: Porphyr. de Stige ap. Stob. Ecl. I 49,53p424,14: αἶμα γὰρ ἀνθρώποις περικάρδιον ἐστι νόημα: „Denn das den Menschen ums Herz wallende Blut ist ihnen die Denkkraft“ [DK I 350]. 472 Vgl. 68 B 129: „(Die Dichter oder die Denker?) mit dem Geiste Göttliches ersinnen (θεῖα νοῦνται)“ [DK II 169]; 68 B 143: „Unglück, soviel man nur erdenken könnte (ἂν νώσαιτο)“ [DK II 170]. 473 Der Begriff νόος kommt in B 4.1, B 6.6 und in B 16.2 vor, während Verbformen von νοεῖν in B 2.2; B 3; B 6.1; B 8.8; B 8.34 und B 8.36 vorkommen. Νόημα, der Gedanke, ist in B 7.2; B 8.34; B 8.50 und in der vierten Zeile des hier zu besprechenden Fragmentes genannt. Zudem kommt das Wort νοητός, denkbar, in B 8.8 vor und seine Negation ἀνόητος, undenkbar, in B 8.17. 474 B 6.6: Simp. in Ph. 117.10 (Diels): πλαγκτὸν νόον: „schwankender Sinn“ [DK I 233]. Und Parmenides warnt mit B 7.3 vor dem Bezwingenden der Gewohnheit (ἔθος), was u.€a. – in logischer Konsequenz – den Zustand des πλαγκτός νόος ausmacht. Vgl. die Diskussion oben, Abschnitt 3.5.3.
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men im Zusammenhang mit Wahrheit und mit Scheinmeinungen vor; was impliziert, dass Denken und dessen Inhalt, der Gedanke, laut Parmenides inkorrekt sein oder zur Wahrheit der Göttin führen kann. Von Fritz fasste νοεῖν als Wahrnehmen zusammen, das dem homerischen Verständnis des Begriffes ein neues Element hinzufügt. Parmenides zufolge realisiert der Mensch mit νόος nicht nur eine Situation, sondern er macht sie zugleich mit νόος bewusst, untersucht und beurteilt sie.475
6.5 Die präskriptive Anwendung Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass die Beschreibung des (sterblichen) Menschen ins Präskriptive hinaus weist und, dass Parmenides den Alltags -νόος in didaktischer Intention parodiert, um den Menschen aufzufordern, einen klaren νόος zu entwickeln, damit er das Seiende erkennen kann.476 Nicht nur die Sterblichen haben νόος, sondern auch der Kuros; allerdings handelt es sich um verschiedene Weisen νόος anzuwenden. Wie gesehen hat der Mensch als Kuros laut Parmenides die Fähigkeit, die Wahrheit der Göttin zu erkennen. Hieraus folgt, dass der hier besprochenen Wortgruppe bei Parmenides eine Tragweite zukommt, die dieser außerordentlichen Fähigkeit Rechnung tragen muss. Das Verb νοεῖν kann Gesagtem zufolge bei Parmenides keinesfalls einzig im Sinne einer passiven Fähigkeit verstanden werden. Dafür sprechen auch die folgenden Gründe: Erstens soll der Kuros nicht dem Zwang der Gewohnheit unterliegen,477 zweitens haben die bereits besprochenen Instruktionen der Göttin deutlich gemacht, dass er aktiv lernen und
Die Parodie der Sterblichen war ein philosophischer Topos: Ein allgemein schwankender νόος ist bei Homer wie bei Archilochos auf den Toren beschränkt. Vgl. Archil. Fr. 6.8 (Diels); siehe zur Diskussion Rappe (1995) 157. Genauso wie der nicht zu wählende Weg dadurch charakterisiert ist, dass er nicht zu denken (οὐδὲ νοητός: B 8.8), beziehungsweise undenkbar (ἀνόητος: B 8.17) ist. 475 Fritz v. (1945) 240: „(…) the νόος in Parmenides is on the same level with ἰδεῖν, ἀκούειν, etc., in Homer (…). Yet there is a very essential difference. The νόος in Parmenides „perceives“. “Vgl. auch Ders. in Anm. 92 und Ders. S. 242: „for he was the first to include logical reasoning in the function of the νόος.“ 476 Dieser Annahme widerspricht Voigtländer (1980), der den Topos, die Parodie des common man bei den Philosophen, deskriptiv liest. 477 Denn es ist gemäß B 7.3 eine Eigenschaft der Sterblichen, von ihrer Gewohnheit abhängig zu sein.
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mit seiner eigenen Denkkraft ihre Rede hinterfragen soll.478 Zudem wird im Lehrgedicht betont, dass der Kuros nach dem richtigen Weg forschen soll, was seine eigene Anstrengung voraussetzt.479 Viertens geht er aus eigenem Willen den Weg zur Göttin, was ihn seit dem Beginn des Lehrgedichtes von der Unterstellung befreit, die Seinserkenntnis komme ihm einfach zu.480 Als fünftes und letztes Argument dafür, dass die Lehre der Göttin einen aktiven Schüler erfordert, sei ein mit B 16 vergleichbares Fragment des Empedokles genannt, das deutlich zum Ausdruck bringt, dass der Schüler für den Zustand seines νόος verantwortlich ist.481 Aus diesen Gründen ist es wahrscheinlich, dass der Kuros νοεῖν482 und νόος dahin entwickeln soll, aktiv zu denken. 478 Dass der Kuros aktiv lernen soll, wurde im vorherigen Kapitel diskutiert, besonders anhand der zweiten Kompetenzstufe. Vgl. Abschnitt 5.3. Die dritte Kompetenzstufe wurde im Abschnitt 5.4 besprochen, wo es darum geht, dass der Kuros mit eigener Vernunft die Rede der Göttin kritisieren soll. 479 Und nach etwas Forschen bedeutet – so meine ich – eine aktive Handlung. Vgl. B 2.2: Procl. in Ti. I 345.18-19 (Diehl): „Wohlan, so will ich denn sagen (…), welche Wege der Forschung allein zu denken sind“ [DK I 231]. Mit dieser Zeile drängt die Göttin den Kuros auf eine Entscheidung zwischen Forschungswegen und bestätigt damit zugleich, dass er den einzig möglichen Weg der Forschung (ὁδοὶ διζήσιός) erkennen kann (νοῆσαι), was erklärt, dass er – unter gewissen Bedingungen (ζήτησις) – zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen kann. Parmenides antizipiert hiermit einen für die spätere Philosophie signifikanten Begriff, bildet doch die philosophische Untersuchung – ζήτησις –, das platonisch-sokratische Streit- und Forschungsgespräch, einen wichtigen Aspekt des griechischen Philosophieren. Vgl. zudem die Fragmente B 6.3. und B 7.2, die jeweils über einen Forschungsweg berichten sowie B 8.6, worin das Verb δίζημαι vorkommt, womit erneut das unbedingt aktive Suchen des Kuros hervorgehoben ist. 480 Vgl. die Diskussion zu ἐπὶ θυμός in B 1.1 und zu εἰδότα φῶτα in B 1.3 besprochen, im Abschnitt 2.4. 481 Vgl. 31 B 110: Hippol. haer. VII 29: „Wenn du nämlich sie (die Lehren des Meisters?) tief in deinem festen Sinn einfügst und wohlgesinnt mit reinem Bemühungen beschaust, so wird dir sowohl dieses alles auf Lebzeiten zu Gebote stehen, aber auch noch anderes wirst du daraus gewinnen; denn dies läßt von selbst ins Wesen des Menschen ein jedes wachsen, so wie die Natur einem jeden ist. Willst du aber nach andersartigen Dingen trachten, wie sie so bei den Menschen im Schwange sind, unzählige, armselige, die das Nachdenken abstumpfen, wahrlich dann werden sie dich schnell im Stiche lassen im Umlauf der Zeit (…)“ [DK I 352-3]. 482 Als Prinzip von Erkenntnis allgemein, muss das Verb bei Parmenides diejenigen Nuancen mit beinhalten, die bei Platon differenziert wurden; so etwa, die platonische Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis, die Opposition zwischen intuitivem, unmittelbarem Erkennen (νόος) und logischem Denken (διάνοια). Vgl. zur Diskussion Calvo (1977) 248.
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Nun stellt B 3 eine Beziehung zwischen dem Denken und dem Sein her. Mit dem Ausdruck: τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν τε καὶ εἶναι483 bestimmt Parmenides nicht nur, dass Denken und Sein sich entsprechen,484 sondern zugleich für den Kuros, dass es möglich ist, mit dem eigenen Denken die Wahrheit der Göttin zu verstehen.485 Diese Feststellung führt zu erkenntnistheoretischen Überlegungen, die im Zusammenhang mit den Attributen des Seins im achten Kapitel diskutiert werden sollen. An dieser Stelle beschränke ich mich auf den menschlichen Teil der Gleichung, nämlich auf das menschliche Vermögen, überhaupt Sein erkennen zu können. Gemäß B 3 stimmen Denken und Sein überein. Allerdings kann menschliches Denken nicht immer Wahrheit erkennen. Wenn also der Mensch seine Fähigkeit zu höherer Erkenntnis nicht aktiviert, wird er als Sterblicher dargestellt; aktualisiert er jedoch sein Potential, so wird er zum Kuros. Damit der Mensch das Seiende erkennen kann, muss er also auf außergewöhnliche Art denken.486 Wie aber ist diese besondere Erkenntnisfähigkeit zu gewinnen? Aus der Feststellung, dass der νόος im Menschen veränderlich ist, folgt, dass der νόος auch veränderbar ist. Der Kuros muss eine bestimmte Anstrengung unternehmen, um seinen νόος dahin zu bringen, dass er die Lehre der Göttin verstehen kann. Die Sterblichen charakterisieren sich durch 483 Clem. Al. Strom. VI II 23.3 (Stählin): B 8.34-36: Procl. in Prm. 1152.36 (Cousin): ταὐτὸν δ’ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ ὅυνεκεν ἔστι νόημα / οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ᾧ πεφατισμένον ἐστι, / εὑρήσεις τὸ νοεῖν: „Denn dasselbe ist Erkennen (DK: „Denken“) und Sein“ [Übers. Heitsch (1976) 144]; „denn nicht ohne das Seiende (…) kannst du das Denken antreffen“ [DK I 238]. DK hingegen übersetzen das Fragment, ohne den aktiven Part des Kuros, der Seiendes erkennt, zu würdigen. 484 Von dieser Prämisse geht Fritz v. (1945) 237, aus: „Parmenides seems to assert that νόος and νοεῖν are always connected with εἶναι and ἐόν and therefore with the truth (…).“ 485 Ähnlich führt der oben genannte Ausdruck κρῖναι in B 7.5 jenseits der hierarchischen Stufung zwischen dem Wissen der Göttin und demjenigen des Kuros. Vgl. die Diskussion oben. 486 Vgl. Leszl (1988) 294: „si deve trarre la conclusione che considerazioni di ordine epistemologico sono in gioco (…) come d’altra parte la verità (…) richiede non solo che l’oggetto sia manifesto ma che il soggetto conoscente sia in grado di coglierlo.“ Allerdings geht der Autor in seinem Artikel nicht weiter auf die Untersuchung des erkennenden Subjektes ein, sondern diskutiert die Frage aus der Perspektive des Seienden: „Quali sono i requisiti che l’essere deve possedere per soddisfare pienamente alle esigenze del pensare nel senso forte ora definito (…)?“ (302).
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einen πλαγκτὸς νόος, also durch einen Zustand des Denkens, der demjenigen des unbeweglichen Seienden entgegengesetzt ist. Deshalb ist er Opfer von Scheinmeinungen. Der Kuros aber soll seinen verwirrten νόος klären, nämlich ἀπλαγκτός machen, damit er dem Seienden, um es zu erkennen, entspreche.487
6.6 Der erste Vers: Die Mischung der vielbewegten Glieder Bis jetzt habe ich die Menschen und ihr Denken analysiert; nun soll der körperliche Aspekt des Menschen untersucht werden. Die Hauptthese in B 16 besagt, dass sich Körperliches und Geistiges entsprechen. Dabei bildet in diesem Fragment der körperliche Aspekt das erste Glied in der Verbindung. Der Ausdruck im Vers B 16.1: „wie (ὡς) die Mischung der vielfach irrenden Glieder“488 bildet die scheinbare Voraussetzung zu B 16.2: „so (τώς) tritt (oder steht) der Geist den Menschen zur Seite.“489 Weil nun der Begriff κρᾶσις aufgrund des Ausdrucks κρᾶσις μελέων (B€16.1) auch mit der Wendung μελέων φύσις (in B 16.3) verbunden ist, kann festgehalten werden, dass κρᾶσις im Rahmen physiologischer Überlegungen zu deuten ist. Um die Wechselbeziehung zwischen κρᾶσις μελέων und νόος genauer verstehen zu können, soll zuvor der Bedeutungsgehalt von κρᾶσις, Mischung, geklärt werden. Das Abstraktum κρᾶσις ist weder in der epischen Dichtung noch in vorparmenideischer Lyrik überliefert.490 Einzig die Verbform κεράννυμι, vermischen, verschmelzen, weist auf den möglichen Gehalt des Wortes bei Parmeni-
487 Gemäß B 6.6. Diese Überlegung folgt aus der Bemerkung des Theophrastos, Parmenides habe gesagt, dass sich Erkenntnis und das Objekt der Erkenntnis entsprechen. Vgl. Anm. 437. 488 DK I 244: κρᾶσις μελέων πολυπλάγτων. 489 DK I 244: νόος ἀνθρώποισι παρέστηκεν. 490 TLG. Vgl. Diels (1897) 26: „Das Wort κρᾶσις – wie die meisten Bildungen auf -σις – gehört zu den abstrakten, jungen Wörtern, die das alte Epos nicht kennt.“ Der Autor nennt Parmenides den Ersten Philosophen, der κρᾶσις verwendet. An dieser Stelle sei auf Anm. 492 verwiesen, demnach auch Heraklit das Wort angewandt hat.
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des.491 Zwar nennen einige Vorsokratiker den Begriff κρᾶσις, allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Menschen.492 Wahrscheinlich hat Parmenides als erster den Begriff κρᾶσις auf den Menschen bezogen. Wortgeschichtlich bedeutet κρᾶσις eine perfekte Durchmischung, etwa im Sinne von warmem und kaltem Wasser, durch welche ein ununterscheidbares Neues entsteht. Κρᾶσις hat einen anderen Sinngehalt als μίξις, ein Wort, das eine partielle Mischung bedeutet, etwa von Öl und Wasser. In μίξις bleiben sich beide ineinander vermischte Elemente gleich und sind leicht wieder voneinander trennbar.493 Zudem ist der Begriff μίξις im Lehrgedicht negativ konnotiert,494 was nicht im Fall von κρᾶσις bemerkbar ist. 491 Erstes Vorkommen des Wortes ist bei Hom. Od. XXIV 3.6 (Bailly). Im Sinnbild von gemischtem Wein geht es darin um eine Verbindung, in der die einzelnen Elemente nicht mehr zu unterscheiden sind. Aus dem argumentum e silentio ist zu schließen, dass es Parmenides’ originelle Leistung ist, das Abstraktum κρᾶσις auf den Menschen zu beziehen. Ein einziger weiterer Vers im Lehrgedicht des Parmenides enthält eine Form des Begriffes κρᾶσις, nämlich B 12.1: Simp. in Ph. 39.14 (Diels): (…) πυρὸς ἀκρήτοιο „ungemischtes Feuer“ [DK I 242]. Der Eintrag in dem von Horn und Rapp herausgegebenen Wörterbuch der antiken Philosophie (2002) 248, ist verbesserungsbedürftig. Zum ersten kommt der Begriff ‘krasis’ bereits vor Empedokles vor, zweitens hat er dann gerade nicht dieselbe Bedeutung wie ‘mixis’. 492 In Heraklits 22 B 10: bewirkt κρᾶσις als Mischung von Farben oder Tönen, eine einheitliche Harmonie. Aufgrund der Verbindung verschiedener Farben entsteht „Übereinstimmung“ (des Bildes mit dem Vorbild) und aufgrund der Verbindung verschiedener Tönen „eine einheitliche Harmonie“ [DK I 152-3]. Der Begriff kommt nach Parmenides als Ausdruck für die Mischung körperlicher oder kosmischer Elemente vor: Empedokles wendet den Terminus κρᾶσις zur gegenseitigen Vermischung verschiedener Elemente an (vgl. 31 B 21.14), als Durcheinanderlaufen der vier Elemente zu verschiedenartigen Dingen [DK I 320]; dann in 31 B 22.4, zur Benennung einer Mischung der Elemente ähnlich der Verbundenheit in der Liebe [DK I 321]; und schließlich in 31 B 77, zur Beschreibung der Luftmischung [DK I 339]. Philolaos nennt κρᾶσις im Zusammenhang mit Harmonie und Synthese. Vgl. 44 A 20 in DK I 404. Ähnliche Überlegungen kommen in Pl. Phd. 86c1 vor: „und die Seele ist eine Mischung und Harmonie dieser Elemente, wenn sie schön und im rechten Verhältnis gegeneinander gemischt sind“. 493 Frisk, Boisacq. Nach Bailly bedeutet μίξις im Gegensatz zu κρᾶσις „un mélange de choses qui peuvent rester distinctes comme des graines.“ 494 Ein wirres Gemenge ist im Lehrgedicht in B 12.4 wie in B 18.1 (lat.: miscent) im Zusammenhang mit Geburt und der Entstehung des Menschen genannt. Dagegen unterscheidet Kenig Curd (1992) 132, die zwei Begriffe nicht: „Two of the references to mixture are in the context of birth or genesis. It is only in B 16 that
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Κρᾶσις verändert die involvierten Elemente zu etwas einheitlichem Neuen, Harmonischen. Ich führe einen wortgeschichtlichen Exkurs an, um die Bedeutung des Wortes κρᾶσις genauer zu erfassen.
6.6.1 Κρᾶσις in medizinischem Zusammenhang Auffallend oft ist die Anwendung des Begriffes κρᾶσις im Rahmen von Texten aus der hippokratischen Tradition zu sehen, in denen das Wort in Verknüpfung mit Gesundheit genannt ist: Festzuhalten ist, dass die frühen Formulierungen nicht zwischen körperlichen und psychisch bedingten Zuständen unterscheiden. Für die Ideengeschichte sichtbar wurde die Idee erstmals durch Alkmaion von Kroton im 5. Jahrhundert v.€Chr., der das Wort im Zusammenhang mit Gesundheit nennt, als eine gleichmäßige Mischung der Elemente im Körper.495 Im hippokratischen Sinn entsteht κρᾶσις dann, wenn die Elemente im Körper ebenmäßig verteilt sind. Ohne dieses Gleichmaß aber wird der Mensch krank.496 Εὐκρασία, die gute Durchmischung, steht in hippokratischen Texten selbstredend für Gesundheit.497 Derselben we have mixing (krasis) without the specific context of birth; but even here the idea is that a particular mixture is the origin or genesis of a particular thought.“ M. E. sollten die – in ihrer Tragweite so weit auseinandergehenden – Begriffe mixis und krasis nicht auf diese Art nebeneinander gestellt werden. 495 Vgl. 24 B 4: Aët. V 30 1: „Gesundheitsbewahrend sei die Gleichberechtigung der Kräfte, (…) die Alleinherrschaft dagegen sei bei ihnen krankheitserregend (…). Und zwar ließen sich die Krankheitsfälle, was die Ursache angehe, auf das Übermaß von Hitze oder Kälte zurückführen (…). Die Gesundheit dagegen beruhe auf der gleichmäßigen Mischung der Qualitäten (τὴν δὲ ὑγείαν τὴν σύμμετρον τῶν ποιῶν κρᾶσις)“ [DK I 215-6]. Vgl. Kühn/ Fleischer (1986) Vol. 1, 456. Vgl. Littré (1861), Vol. 10, 546: „(la juste crase) des humeurs est condition de la santé (VI 41) (…); la crase du chaud et du froid est la santé (VIII 647).“ 496 Zu Texten der alten hippokratischen Tradition vgl. z.€B. VM 1, 582,5.7; 505,20; 616,18; 618,21 (als: mélange); Nat. Hom. VI 38,7; 40,3 (mélange parfait aufgrund eines rechten Verhältnisses der Kräfte und Mengen der Elemente (humeurs) im Körper. Siehe auch Du Régime 6,512.21 (De l’intelligence et de la folie, ou de la santé mentale, suivant les proportions et les qualités du feu et de l’eau): „le feu le plus humide et l’eau la plus sèche se combinent dans le corps (…)“ [Übers. Littré]. Noch in Leons Schrift Epitome (De Natura Hominum: ca. 9.€Jh. n.€Chr.) bedeutet κρᾶσις gut proportioniert und steht in Syn. 34.10, für ein gut proportioniertes Auge, das nicht nur gut funktioniert sondern auch harmonisch (well tempered) ist. 497 Im hippokratischen Traktat über die menschliche Natur (NH) III 13 und in IV 6, kommt der Begriff εὐκρασία als perfekte, harmonische Mischung vor. Es wäre wert, den Einfluss des parmenideischen Denkens – der als Heiler und Arzt durchaus als
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Wortkonnotation begegnen wir auch in der modernen griechischen Sprache im Ausdruck “γερή κράση“, der Gesundheit oder von Natur aus gegebene gesunde Konstitution bedeutet. Auch Platon benennt mit dem Wort κρᾶσις Medizinisches, wenn er das Wort in Anlehnung an die hippokratische Tradition im Sinne einer Ausgewogenheit der Elemente sowohl im Körper als auch im Geist (ψυχή) anwendet498 oder zur Beschreibung eines der Gesundheit förderlichen, ausgeglichenen Klimas.499 Es ist gut möglich, dass der Sinngehalt des Wortes, wie er in frühen medizinischen Schriften und in den platonischen Dialogen, die diese reflektieren, zu finden ist, von Parmenides übernommen wurde.500 Mit dem Unterschied, dass κρᾶσις (μελέων) in B 16 zu νόημα, der besten geistigen Fähigkeit des Menschen, führt, während κρᾶσις im hippokratischen Überlieferungskontext Gesundheit bewirkt. Nun enthält der Wortgehalt dieses Begriffes eine für den Kuros wertvolle Information, denn die Idee von κρᾶσις ist, dass sie eine Vielheit zur Einheit wandelt.501 Stringent auf B 16 angewandt bedingt κρᾶσις dass die Vielheit (hier: der vielbewegten Glieder) zu einer Einheit finden kann. ‘Einheit’ aber liegt dem Seinsbereich nahe, insofern die Wahrheit der Göttin unge-
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Vorläufer späterer medizinischer Traditionen in Frage kommt – auf die späteren medizinischen Theorien zu untersuchen. Vgl. in diesem Sinne Lloyd (1962) 60, der Parmenides’ Lehre [Vgl. 28 B 17] über die Zusammenhänge zwischen dem Geschlecht eines Kindes und seiner Lage – recht oder links – im Uterus der Mutter bei Galen und in einer Reihe hippokratischer Texte wiederfindet. Vgl. Pl. R. IV 441e9; Ti. 74d3; Phlb. 64a1; 64e1. Vgl. Phd. 86d2, wonach die Seele eine Mischung (κρᾶσις) und eine Harmonie der Elemente des Körpers ist. So auch Philip (1958) 65, nach dem κρᾶσις mit Pl. Phd. 86b, als κρᾶσις καὶ ἁρμονία ἡ ψυχή zu deuten ist: „That actuality of thought which is the universe, and the processes of intellect in the individual, are linked by the fact that both are harmonies; and we can have knowledge of the universe because we share in the common harmony.“ Vgl. Pl. Phd. 111b2. Siehe auch Pl. Smp. 188a4. Platon nennt Formen des Wortes κρᾶσις ebenfalls für die Mischung von Lust und Leid. [Vgl. Pl. Phlb. 47c5; 50d1; 64a1] und von Freude und Trauer [ Vgl. Pl. Phd. 59a5]. So ist es laut Lloyd (1962) 56f., durchaus plausibel, dass Parmenides’ Denken von der hippokratischen Tradition übernommen wurde. Diese Wortbedeutung stützt sich auf die oben besprochene Tragweite von κεράννυμι. Die zu vermischende Vielheit kann aus gegensätzlichen Elementen bestehen: vgl. Pl. Lg. 889c2: τῶν ἐναντίων κράσει.
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teilt ist.502 Hieraus wird ersichtlich, dass κρᾶσις auf das Lerngeschehen hin gedeutet impliziert, dass der Mensch durch die rechte κρᾶσις gleichsam zum νόος des Kuros finden kann, welcher der Seinserkenntnis nahekommt.503 Im Folgenden soll diese erkenntnistheoretische Implikation von κρᾶσις im Rahmen des Fragmentes weiter geklärt werden und der zweite Hauptbegriff in B 16.1, die Glieder, die in κρᾶσις begriffen sind, besprochen werden.
6.6.2 Die Glieder In B 16.1 geht es um die κρᾶσις der vielbewegten Glieder,504 anders gesagt um die Mischung einer ungeordneten Vielheit, die – dem Wortgehalt von κρᾶσις nach – zur Einheit finden soll. Das Wort μέλεα kommt zwar in der epischen Literatur vor,505 ist aber in philosophischen Texten vor Parmenides nicht tradiert.506 Außer Empedokles, der den Begriff auf Kosmisches, auf den anthropomorphischen Kosmos, auf 502 Vgl. B 8.37-38: „da es ja die Moira daran gebunden hat, ein Ganzes (οὖλον) und unbeweglich zu sein“ [DK I 238]. 503 Diese Hypothese verstärkt sich nicht zuletzt durch Theophrastus, der vertrat, dass laut Parmenides eine Symmetrie zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dessen Objekt existiert. Vgl. Theophr. Sens. I 3.6. S. auch. Laks (1990) 14f., der die Zeile des Theophrastos vor B 16: οὐ μὴν ἀλλὰ καὶ ταύτην δεῖσθαί τινος συμμετρίας, als Aussage dafür sieht, dass das Wahrnehmungsorgan dem Wahrgenommenen entspricht: „the idea that ‘an organ of perception is commensurable with its object and so arranged as to receive it adequately’.“ Vgl. Stratton (1917) 158: „the frequent use of συμμετρία by Theophrastos to indicate an appropriate relation between inner power and outer object (…).“ 504 Ich übernehme die lectio von DK und O’Brien/Frère und gehe nicht auf eine Diskussion über die verschiedenen Überlieferungen ein, warum also die auf Theophrastos’ Text gründende Tradition „πολυπλάγκτων“ (vielbewegt) oder die auf Aristoteles, Alexander und Asklepios gründende Tradition: „πολυκάμτων“ (vielgliedrig) vorzuziehen sei. Nicht zuletzt ist Theophrastos’ Lehre deshalb vorzuziehen, weil die vielbewegten Glieder (B 16.1) an den bewegten Geist der Sterblichen (B 6.6) knüpfen. 505 Die frühen Autoren wandten den Begriff nur im Plural an. Vgl. Hom. Il. VII 131: θυμὸν ἀπὸ μελέων δῦναι δόμον Ἄῖδος ἔισω, (mit dem Wunsch, dass das Gebet) von den Gliedern (Körper) zum Hause des Hades gelange. Vgl. auch Pind. Nem. 1.47, im Sinne von (Schlangen-)Körper; Hdt. I.119, über die Glieder eines menschlichen Körpers. 506 Vgl. DK III 274. Demnach zitierten in der Vorsokratik nach Parmenides einzig Empedokles und Kritias den Begriff.
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Menschen, Tiere und Bäume anwendet,507 wurde der Terminus in der auf Parmenides folgenden griechischen Philosophie bis Platon in der Bedeutung von ‘menschlichen Gliedern’ oder ‘Melodie’ angewendet.508 In der Parmenidesliteratur wurde wiederholt die Frage aufgeworfen, ob der Eleate mit dem Begriff μέλεα in B 16.1 kosmische Elemente meint509 oder ob er das Wort auf die Glieder des menschlichen Körpers bezieht.510 Für die zweite Wahl spricht vor allem die Tatsache, dass das Fragment wiederholt auf Menschliches hinweist,511 weshalb ich vorschlagen möchte, den Begriff μέλεα in B 16 in erster Linie als ‘menschliche Glieder’ zu lesen. Obwohl vorzuziehen ist, die μέλεα auf den Menschen zu beziehen, ist die Debatte, ob der Begriff μέλεα makro- oder mikrokosmisch zu lesen ist, deshalb nebensächlich, da sich der Mensch und der Kosmos in Parmenides’ philosophischem Denken begegnen.512 Schließlich macht der Begriff μέλεα 507 Empedokles spricht in B 27a und in B 30.1 von den μέλεα des Sphairos; in B 35.11 über die Glieder oder Elemente des Alls; in B 62.7 sind die μέλεα auf den anthropomorphischen Kosmos bezogen; in B 63 betreffen sie den Menschen. In B 82.2 schließlich wendet Empedokles den Begriff auf die Glieder von Tieren, Menschen und Bäumen an. 508 Vgl. Krit. B 1.1, mit dem Ausdruck ‘Frauenlieder’ (γυναικείων μελέων) [DK II 375]. Platon wendet den Begriff wahlweise im Kontext der Musik als Harmonie oder Melodie an (vgl. z. B. Pl. Ion 534d8;Lg. II 670b4 und d4, 675c4; VII 812c2 und e10) und auf die Glieder der Menschen (vgl. z. B. Pl. Smp. 190a7; Grg. 524c8, Lg. VII 815b2). 509 In Anlehnung an die Wortkonnotation von μέλεα bei Empedokles als kosmische Elemente ist es durchaus möglich die Glieder in B 16 ebenfalls als kosmische Glieder zu verstehen. So lesen Wisniewski (1963-4) 201, und Bollack (1957) 67, μέλεα in ihrer kosmischen Dimension. Fränkel (1960) 174, und Verdenius (1942) 27f., betonen, die Glieder entsprächen den zwei Formen Licht und Nacht. Coxon (1986) 247, übersetzt: „elements (warm and cold).“ 510 Untersteiner (1967) Anm. 124 cci-ii übersetzt: „la figura umana nella sua vitalià, nel suo movimento“. Gallop (1984) 87, übersetzt: „limbs“; dergleichen Meijer (1997) 62, O’Brien (19871) 73; und Tarán (1965) 253. So auch Frère (1987) 73: „membres“. 511 So in der Entsprechung in den ersten zwei Versen von B 16 der bewegten Glieder und des menschlichen Geistes und mit dem wiederholten Gebrauch des Begriffes ‘Mensch’ (in B 16.2 und in B 16.3), in der Nebeneinanderstellung von μέλεα mit φρονέω in B 16.3, und gleichsam mit dem Resultat der Gleichung aus der Hauptthese in B 16.4, νόημα, das wiederum auf den Menschen weist. 512 Diese Thematik soll im Kapitel 8 weiter besprochen werden. Schwabl (1953) 417, betont, die Schwierigkeit, μέλεα das eine Mal als menschlichen Leib und das
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auf die Eigenschaft des Seienden aufmerksam, οὐλομελές, aus einem Glied zu sein.513 Genaugenommen umfasst der Terminus μέλεα zugleich den Menschen und eine ihn überragende Wirklichkeit, mithin beide Aspekte. Weil nun aber der Mensch keinen unmittelbaren Bezug zum Kosmischen hat, sondern allenfalls auf seine eigene Art zu sein und die Wirklichkeit zu gestalten, ist es an dieser Stelle angebracht, den Begriff μέλεα in B 16 einzig auf den Menschen hin zu untersuchen.514 Es lässt sich weiterhin fragen, ob das Wort in diesem Fragment tatsächlich den körperlichen im Gegensatz zum geistigen Aspekt im Menschen meint. Diese Frage hängt mit dem homerischen Menschenbild zusammen, das Körperliches nicht von Geistigem trennt. In homerischer Konsequenz würden die μέλεα in Parmenides’ Schrift – auf den Menschen bezogen – nicht einzelne Glieder bedeuten, sondern Körperliches und Geistiges zugleich.515 Allerdings verweist die in diesem Fragment klar erkennbare Gegenüberstellung von Begriffen einerandere als «Weltglieder» Licht und Tag zu lesen, sei nur eine scheinbare und sei weder aufgrund des griechischen Sprachgebrauchs noch aufgrund von Parmenides’ Schrift gerechtfertigt. Denn der Mensch sei gleichzeitig kosmisch und menschlich, in einer mikro-makrokosmischen Entsprechung, zu verstehen. Dergleichen Cassin (1998) 142: „Je propose d’entendre que le fragment exploite cette ambiguïté entre le sens cosmologique et le sens anthropologique des «membres», que c’est même là son objet. Les membres des hommes et les membres du monde font partie d’un seul tout (…).“ 513 B 8.4: Clem. Al. Strom. V, XIV 112.2 (Stählin): μοῦνόν {τ’} οὐλομελές (…): „Ganzes, Eines, Zusammenhängendes (Kontinuierliches).“ In der Übers. von O’Brien (19871) 34: „alone, and whole of limb (…).“ Die Thematik lässt sich anhand einer weiteren inhaltlichen Nähe zwischen dem Menschen und der Wahrheit der Göttin feststellen. Genauso wie das ‘unerschütterliche Herz der Wahrheit’ im Prooimion [vgl. B 1.29: ἀληθείης ἀτρεμὲς ἦτορ. Zur Diskussion vgl. den Abschnitt 3.4.2.] zugleich an eine menschliche Eigenschaft erinnert und an das Seiende zugleich [Mit B 8.4: Clem. Al. Strom. V, XIV 112.2 (Stählin) ist das Seiende ἀτρεμὲς ἠδ’ ἀτέλεστον: „unerschütterlich sowie ohne Ziel“; in der Übers. von O’Brien (19871) 34: „unshaking and unendable“]. 514 Die Thematik, dass der Mensch im antiken Denken der gleichen Gesetzmäßigkeit wie der Kosmos untersteht, kann nicht davon ablenken, zuerst den Menschen zu betrachten, nämlich als erste und einzige dem Menschen effektiv zugängliche Wirklichkeit. Ich meine zugänglich im Sinne einer beeinflussbaren, also veränderbaren Seite der Wirklichkeit. 515 Vgl. Snell (1931) 75: „Schon das Körperliche, um von diesem Gegensatz zum Geistigen auszugehen, stellt sich Homer anders dar als uns; so wenig wie das Geistige wird es als organische Einheit begriffen.“ Homer kannte kein aus Teilen aufgebautes Körpermodell. Dies gilt für μέλεα wie auch für den verwandten Begriff γυῖα. Vgl. zur Thematik Rappe (1995) 42.
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seits, die explizit die körperliche Komponente bestimmen und andererseits, die deutlich die geistige Seite im Menschen nennen,516 ausdrücklich darauf, dass Parmenides einen Unterschied zwischen dem körperlichen und dem geistigmentalen Aspekt im Menschen machen will. Daraus können wir schließen, dass im Menschenbild des Eleaten eine Interdependenz zwischen körperlichen und geistigen Aspekten besteht, wobei dem Begriff μέλεα bei Parmenides die Bedeutung zuzuweisen ist, in erster Linie Körperliches im Menschen zu bestimmen.
6.7 Die Hauptthese von B 16 Auf ersten Blick liest sich die Beobachtung der ersten zwei Verse von B 16 als eine Erklärung über das Entstehen des Denkens, wonach das Denken des Menschen durch den Zustand der Glieder bestimmt ist.517 Dies mag für die meisten Menschen – nämlich für die Sterblichen – zutreffen. Nicht aber für den Kuros, dessen Denken gerade nicht von den Sinneseindrücken abhängen und der gerade nicht blind und stumpfsinnig durch die Gewohnheitswelt taumeln soll. Gemäß meiner Zentralthese, stehen sich weder Sterblicher und Kuros, noch Scheinmeinungen und Wahrheit gegenüber; vielmehr geht es um das Subjekt, das je δόξα oder ἀλήθεια erkennen kann. Demnach erforscht diese Arbeit nicht Trennlinien zwischen menschlichen Scheinmeinungen und absolut Wahrem, sondern sucht nach der notwendigen körperlich-seelischen Gesamtverfassung für den Kuros, damit er die Seinserkenntnis erlangen kann. Aus dieser Perspektive folgt, dass die Hauptthese von B 16 wohl nicht bloß deskriptiv zu verstehen ist, sondern auch als Anleitung für den Kuros. Insofern der Erkenntnissuchende den Hinweis über den Zusammenhang zwischen dem Zustand seines νόος und der κρᾶσις der vielbewegten Glieder versteht, stellt er sich unweigerlich die Frage, wie er das Wissen um diese Wechselwirkung sinnvoll auf seiner Erkenntnissuche anwenden kann. 516 Parmenides stellt in B 16 κρᾶσις μελέων (B 16.1) dem Ausdruck νόος ἀνθρώποισι (B 16.2) gegenüber, sowie μελέων φύσις (B 16.3) dem Ausdruck νόημα (B 16.4). 517 So auch Cassin/Narcy (1989) 282, wenn sie von einer Übereinstimmung zwischen dem Zustand des Menschen und seinem Denken sprechen. Es ist plausibel, den Ausdruck κρᾶσις μελέων πολυπλάγκτων in seiner Bedeutung zu erweitern als Ausdruck für den Zustand des Menschen, der für das Denken verantwortlich ist. Vgl. Fritz v. (1945) 239: „For the νόος appears again to be dependent on the κρᾶσις μελέων πολυπλάγκτων (…) which undoubtedly intends to give (…) the key to the problem. Men have a νόος which corresponds to the mixture of their constitution (…) and this constitution is called πολύπλαγκτος because it causes them to err.“
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Ich sagte weiter oben, dass aus der These in B 16 nicht kurzerhand folgt, dass jeder Mensch gemäß Parmenides in seinem Erkennen durch die der Wahrnehmung gegebenen Objekte determiniert ist. Schließlich ist das Denken laut Parmenides der Sinneswahrnehmung überlegen.518 Umso mehr sollte das Denken des Kuros souverän sein. Die vielbewegten Glieder entsprechen, so wie der bewegte Geist, dem Alltagszustand. Weil dem Sinngehalt nach κρᾶσις eine Durchmischung meint, die zu einer harmonischen Einheit führt, kann der Mensch mit der richtigen κρᾶσις μελέων seinen ungeordneten, verwirrten Zustand auf eine harmonische Einheit führen und somit vom Alltagszustand zu demjenigen des Kuros finden. Allenfalls entwickelt er die vielbewegten Glieder durch die rechte Krasis zu einer Verfassung, die sich als οὐλομελές519 charakterisieren läßt. Wie aber soll ihm die richtige Mischung gelingen? Der Lernauftrag läuft darauf hinaus, dass der Kuros aktiv denkt, also in diesem Fall engagiert die richtige Krasis herbeiführt. Erst das richtige Denken, dasjenige, das gemäß B 3 dem Seienden entspricht,520 kann die vielbewegten Glieder zur richtigen Krasis führen. Damit kann der Kuros in der optimalen Entsprechung der Glieder und des Denkens der Erkenntnis der Göttin näher kommen. Der Klarheit halber werde ich im folgenden Abschnitt den zweiten Teil von B 16 – der die Hauptthese im ersten Teil untermauert – kurz erläutern.
6.8 Eine Ergänzung: B 16.3-4 Die zwei weiteren Verse von B 16 ergänzen die Hauptthese und klären den Zusammenhang von νόος mit den vielbewegten Gliedern weiter. Fest steht: Die Belehrung von B 16 gilt immer521 und für jeden und für alle Menschen.522
518 Vgl. in diesem Sinne Leszl (1988) 299: „(…) il pensare (νοεῖν) è un ‘sesto senso’ nettamente superiore agli altri sensi, dotato com’è di caratteri peculiari.“ Vgl. auch den Begriff νόημα im Vers B 16.4, welcher im folgenden Abschnitt erwähnt wird. 519 Zusammenhängend, kontinuierlich, was dem Seinsmerkmal in B 8.4 entspricht. 520 Vgl. Untersteiner (1958) XCII: „Comunque s’interpreti νόος – sia intuizione sia ragione – appare certo che si collega con l’originalità della ὁδος parmenidea precedente (…) per le vie della razionalità.“ 521 Vgl. den Ausdruck in B 16.1: ἑκάστοτε. 522 Vgl. B 16.4 καὶ πᾶσιν καὶ παντί. Diese Sache erinnert an Heraklits 22 B 116: Stob. III 5.6: „ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτοὺς καὶ σωφρονεῖν“ [DK I 176]. Vgl. die Diskussion hierzu in Stemich Huber (1996) 122ff.
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Nun besagt der dritte Vers im Fragment, beginnend mit der Konjunktion γάρ, dass die Natur der Glieder φρονέει, denkt,523 womit der Eleate nochmals eine gespannte Verbindung zwischen Physiologischem und Geistigem darstellt.524 Wortwörtlich besagt der Vers, dass es die φύσις ist,525 die natürliche Verfassung der Glieder, die denkt. Man könnte auch sagen, dass es laut B 523 B 16.3: ὅπερ φρονέει μελέων φύσις: „Denn dasselbe ist es, was denkt, die innere Beschaffenheit der Glieder (…)“ [DK I 244]. Der Übersetzung von DK ziehe ich diejenige von O’Brien vor, der das neutrale Relativpronomen ὅπερ, gerade der, ganz dasselbe was, im einfachen Sinne von das, was wiedergibt: „For what the limbs think“ [Übers.O’Brien (19871) 74]. Φρονέω hat die Bedeutung von Einsicht haben, verlässlich wahrnehmen. Das Verb ist inhaltlich mit νόος und νοεῖν verwandt. Das Lehrgedicht bietet keine weiteren Stellen, worin φρονέω vorkommt. Genaugenommen kommt φρονέω ein außerordentlich positiver Sinngehalt zu, der dem Denken zugleich den Gehalt von verstehen und weise bzw. wohlüberlegt zu sein beiordnet, also gleichsam eine höhere menschliche Fähigkeit. Diese ist im heraklitschen Ausdruck πῦρ φρόνιμον nochmals potenziert: Vgl. 22 B 64: Hippol., IX 10: „(…) λέγει δὲ καὶ φρόνιμον τοῦτο εἶναι τὸ πῦρ καὶ τῆς διοικήσεως τῶν ὅλων αἴτιον“ : „(…) dieses Feuer sei vernunftbegabt und Ursache der ganzen Weltregierung“ [DK I 165]. Eindeutig hat φρονέω bei Heraklit im Zusammenhang mit dem hypostasierten Feuer auch eine göttliche Konnotation. 524 Ein weiterer Vergleich mit Heraklit mag den Gehalt des Verbs präzisieren. Vgl 22 B 113: Stob. I 178: „Ξυνόν ἐστι πᾶσι τὸ φρονεῖν“ [DK I 176] und 22 B 116: Stob. III 5.6: „ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτοὺς καὶ σωφρονεῖν [DK I 176], worin Heraklit allen Menschen die Fähigkeit φρονεῖν versichert. Gemäß Heraklit hat jeder Mensch die Fähigkeit zu φρονεῖν und zu σωφρονεῖν. Vgl. zur Diskussion Gladigow (1965) 144, sowie Stemich Huber (1996) 209f. 525 Der Begriff φύσις bezeichnet einen Bedeutungskomplex, der von Natur bis zur eigentlichen Beschaffenheit eines Dinges oder Wesens reicht. Das Wort erscheint im allbekannten Titel der Werke der antiken Philosophen, als περὶ φύσεως, als Umschreibung der Wirklichkeit schlechthin. Vgl. Heraklits B 112: Stob. I 179: „Gesundes Denken (σωφρονεῖν) ist die größte Vollkommenheit, und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und zu handeln nach der Natur, auf sie hinhörend (ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαΐοντας)“ [DK I 176]. In diesem Fragment bedeutet φύσις, der wahrsten Verfassung oder dem Wesen der Wirklichkeit entsprechend. Bei Empedokles steht das Wort für Naturanlage, Kraft und Entstehung, für Charakter, Konstitution, Ursusbstanz, regelmäßige Naturordnung und Wachstum. Vgl. Beispiele mit Empedokles B 27, B 8.1, B 10. Parmenides wendet das Wort im Lehrgedicht auch in einem wissenschaftsbezogenen Kontext an: Vgl. B 10.1: Clem. Al. Strom. V, XIV 138.1: „Du wirst aber erfahren das Äther-Wesen (δ’ αἰθερίαν τε φύσιν)“; und B 10.4-5: Clem. Al. Strom. V, XIV 138.1: „(…) und das umwandernde Wirken und Wesen des rundäugigen Mondes (περίφοιτα σελήνης / καὶ φύσιν) wirst du erkunden (…).“ In der Übersetzung von O’Brien: „You will know the nature of the aether (…) You
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16.3 den Menschen aufgrund ihrer natürlichen Verfassung zu eigen ist, dass die Glieder denken.526 Daraufhin beschließt im letzten Vers von B 16527 der Ausdruck τὸ γὰρ πλέον ἐστὶ νόημα, dass das dominierende Element (in der Wechselbeziehung)528 das νόημα, der Gedanke, sei.529
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will hear of the works of the round-eyed moon: ‹her› wandering works and ‹her› nature“ [O’Brien (19871) 63]. Vgl. Diels (1897) 113: „Die Mischungsverhältnisse von Warm und Kalt in den Organen der Wahrnehmung und des Verstandes bestimmen ebenso den Geistesglanz, wie die entsprechende Proportion im Makrokosmos die größere oder geringer Lichtstärke der Gestirne. Da das Feuer nach heraklitischer Auffassung das geistige Leben im Menschen entzündet, das Wasser (Kälte) es löscht, so hat das Überwiegen des besseren Prinzips das bessere Denken zur Folge.“ Die Zeile B 16.4 ist nochmals durch γάρ eingeleitet: An dieser Stelle funktioniert γάρ explikativ zur Entsprechung in B 16.1-2. Ich übersetze mit O’ Brien/Frère (1987) 74, τὸ πλέον als das überwiegende Element Vgl. Theophrastos in DK I 244. Vgl. zur Diskussion Coxon (1986) 250; Hölscher (1956) 396-7. Die Lesart, welche πλέον als Komparativ zu πολύς, mehr, weiter, grösser; oder als Substantiv (die Mehrzahl) im Sinne der Hauptsache, versteht, stimmt mit einer intuitiven Auslegung des Fragmentes überein. Dagegen Tarán (1965) 170, und Laks (1988) 272, die τὸ πλέον als das Ganze, das Volle übersetzen. Diese Lesart übersieht, dass die vier Zeilen des Fragmentes keinen Grund für den Schluss geben, die im Fragment B 16.1 und B 16.3 genannten μέλεα von der Gleichung auszuschließen. In Heraklits B 39: Diog. I 88: „In Priene lebte Bias, des Teutames Sohn, dessen Ruf (Geltung) größer ist als der anderen“ [DK I 160], ist πλείων dem λόγος, Heraklits Lehre und Gesetz der Welt, nebengestellt Vgl. auch 22 B 57: πλεῖστα εἰδέναι Anders wendet Melissos in 30 B 7.8-10 den Terminus πλέον an, nämlich als das Volle im Gegensatz zum Leeren: Simp. in Ph. 111 18: „(…) Denn das Dünne kann unmöglich ähnlich voll (πλέων) sein, wie das Dichte (…). Man muss aber folgende Unterscheidung machen zwischen dem Vollen und dem Nichtvollen (πλέω καὶ τοῦ μὴ πλέω) (…). Notwendigerweise muss es also voll sein, wenn es nicht leer ist (πλέων - κενὸν) (…)“ [DK I 272-3]. Das Wort νόημα wurde in der Eröterung von νοεῖν als Kraft des Menschen, die höchste Wahrheit des Philosophen zu erkennen, mitbesprochen. Der Begriff kommt in B 7.2 vor, worin die Göttin befielt, νόημα vom falschen Untersuchungsweg fernzuhalten: Vgl. Simp. in Ph. 244.2 (Diels): ἀφ’ ὁδοῦ διζήσιος εἶργε νόημα [DK I 234]. Dann kommt das Wort in B 28 B 8.34 vor: Simp. in Ph. 143.22 (Diels): ταὐτὸν δ’ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα: „Dasselbe ist Denken und der Gedanke (), dass IST ist.“ In der Übers. von O’Brien (19871) 40]: „It is the same to think and ‹our› thinking that ‘is’.“ Vgl. zudem B 8.50: Simp. in Ph. 38.30 (Diels): „πιστὶν λόγον ἠδὲ νόημα: „mein verlässliches Reden und Denken“ [DK I 239], das νόημα als Denken der Göttin bezeichnet.
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
Beide Wörter, φρονέω und νόημα, bezeichnen eine geistige menschliche Qualität, die fraglos dem Denken des Kuros und implizite dem Denken der Göttin zukommen.530 Mit dem Wortgehalt dieser Begriffe steht fest, dass das Denken des Kuros – der Sein erkennen will – nicht mit einer verwirrten Natur der Glieder einhergehen kann. Wenn gemäß dem Lehrgedicht die Natur der Glieder und das Denken des Menschen in Wechselwirkung stehen, wenn also die Glieder des Menschen in einer besonderen Verbindung mit dem klaren Denken des Kuros stehen, bedeutet dies auch, dass das klare Denken des Kuros notwendigerweise einer besonderen Verfassung oder Ordnung der Glieder entsprechen muss. Gemäß B 16 kann diese besondere Verfassung, die das klare Denken des Kuros fördert, durch die rechte Krasis erreicht werden. Wie gesehen, bezeichnet der letzte Vers im Fragment das Denken als dominierendes Element in der Wechselbeziehung. Hieraus ist kann geschlossen werden, dass der Kuros mit dem Denken Einfluss auf den Zustand der Glieder haben kann und soll, will er die Erkenntnis des Seienden erlangen.
6.9 Schlussüberlegungen Gemäß meiner Arbeitshypothese, nach der Parmenides’ Schrift nicht aus einer Reihe logischer Prädikate im Rahmen einer Seinslehre besteht,531 sondern tatsächlich ein Lehrgedicht ist, also eine Lehre über die Möglichkeit für den Menschen, die Wahrheit zu erkennen, stellt B 16 eine Korrelation zwischen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen und seiner körperlichen Verfassung dar, die nicht nur beschreibend ist, sondern auch eine Aufforderung beinhaltet. Die vorliegende Deutung basiert auf der Annahme, dass einerseits der Bezugsrahmen, den Aristoteles dem Fragment zuweist und andererseits Theophrastus’ Darstellung der parmenideischen Epistemologie, für B 16 einen hinreichenden Kontext zur Begründung meiner Arbeitshypothese geben. 530 Während für die Aussagekraft von φρονέω einzig Wortvergleiche dienen [vgl. oben, die Fussnoten 523 und 524], bezeugt der Kontext an anderen Stellen im Lehrgedicht, das sich νόημα ausdrücklich auf das besondere Denken des Kuros bezieht. 531 Denn dann würde mit Meijer (1997) 42-3, aus Parmenides ein „Linguist“ oder ein „Ontologist.“ Auch Lezl (1988) 282-8, weist auf die Einschränkungen einer nur-semantischen oder nur-logisch-linguistischen Analyse des Lehrgedichtes hin.
B 16 Dk: Einübung in die rechte Krasis
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Insofern das Fragment gemäß Parmenides auf wissenschaftliche Art eine Gesetzmäßigkeit zwischen körperlichen und geistigen Zuständen bestimmt,532 kann der Kuros diese Auskunft als Belehrung anwenden, um seine Denkfähigkeit zu optimieren. Nun besagt die Hauptthese in B 16, dass sich die Mischung der vielbewegten Glieder und das Denken im Menschen bedingen. Ich habe dargelegt, dass κρᾶσις nicht einfach ‘Mischung’ sondern eine ‘perfekte Mischung’ bedeutet, weshalb mit Krasis eine uneinheitliche Vielheit zu einer harmonischen Einheit wird. Aus der Voraussetzung, dass gemäß B 16 das Denken der dominieren Faktor im Menschen ist, folgt, dass der Kuros mit seiner Denkkraft die rechte Krasis einüben kann. Fest steht mit diesem Fragment auch, dass die Krasis der Glieder Auswirkungen auf den Geist des Menschen hat. Es ist zudem plausibel, dass die vielbewegten Glieder (πολυπλάγκτα μέλαεα: B 16.1) dem verwirrten Geist (πλαγκτὸν νόον: B 6.6) der Sterblichen entsprechen. Das Denken aber, das gemäß B 3 dem Seienden entspricht, ist als Denken des Kuros, der höchster Erkenntnis fähig. Aus der epistemologischen Gleichung folgt in didaktischer Konsequenz, dass der Kuros die vielbewegten Glieder durch die rechte Krasis zu einer ausgewogenen Einheit führen kann: Er macht, dass sie οὐλομελές werden, was einer Eigenschaft des Seienden entspricht. Wenn die Glieder harmonisch einheitlich werden, wird sich ebenfalls der Geist verändern. Gemäß der vorliegenden Interpretation impliziert das Fragment eine Information, mit deren Hilfe der Kuros lernen kann, seine körperlich-seelische Kondition dahingehend zu verändern, dass sie οὐλομελές und ἀτρεμές533 wird und den Eigenschaften des Seienden heranreichen kann. Gemäß der hier vorgeschlagenen Lektüre will Parmenides mit B 16 nicht nur auf die gegenseitige Wechselwirkung zwischen der körperlichen Verfassung und dem Denken weisen, sondern deutet auch auf den Idealzustand für νόημα. So gelesen, ist das Fragment tatsächlich präskriptiv angelegt. Es gereicht zur Anleitung für den Kuros, die das unmittelbare, nicht einzig auf 532 Die Bestimmung einer Interrelation zwischen der Erkennensfähigkeit und den körperlichen Zuständen im Menschen assoziiert an altes medizinisches Gedankengut. Der Einwand, die Verbindung von B 16 mit einer Tradition hippokratischen Gedankengutes sei anachronistisch, impliziert die Annahme, dass das medizinische Wissen zeitgleich mit dessen schriftlichen Niederlegung entstand – eine meines Erachtens nicht haltbare Position. 533 Vgl. die ‘unerschütterliche Wahrheit’ in B 1. 29, sowie die Eigenschaft des Seienden in B 8.4 ἀτρεμές zu sein.
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Reflexion beruhende Einüben in die rechte Krasis betrifft. Als Lernprozess entspricht diese Anweisung einer Kompetenzstufe auf dem Suchweg für den Kuros und es ist keine Beschreibung des Zustandes der Seinserkenntnis. Die Tatsache, dass die in B 16 genannte Gesetzmäßigkeit immer und für alle Menschen gilt, mag nicht zuletzt als Parmenides’ aufklärerische Leistung gelten, den Menschen prinzipiell das Potential zugewiesen zu haben, die Wahrheit des Seienden erkennen zu können.534 Mit diesem Fragment wurde ein weiterer Teil des pädagogischen Versprechens der Göttin eingelöst. Anders als die oben besprochenen Anleitungen an den Kuros, zu lernen, das Gelernte zu meditieren und die Lehre der Göttin zu beurteilen, impliziert B 16 eine Einübung: Die Kunst nämlich, den νόος mit Hilfe einer idealen κρᾶσις μελέων gleichsam auf den Punkt zu bringen, damit er sich auf die Seinserkenntnis ausrichte. Im Folgenden werde ich mit B 4 eine weitere Lernanweisung für den Kuros besprechen.
534 Was auch bei Heraklit zu lesen ist: Vgl. 22 B 116: Stob. V 6: „Den Menschen ist allen zuteil geworden, sich selbst zu erkennen und gesund zu denken“ [DK I 176].
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B 4 DK: Die Zusammenschau der Widersprüche
7.1 Einleitung
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as Fragment B 4 richtet sich in imperativischer Form an den Kuros.535 Die folgende Diskussion knüpft an die Analyse von B 16: Auch das hier zu besprechenden Fragment hat nicht Sachwissen oder die Festigung der Denkkraft zum Gegenstand; auch handelt es nicht von der Kritikfähigkeit des Kuros, sondern bezieht sich auf eine körperlich-geistige Haltung, die den Kuros vom Zustand der Wahrnehmung der Vielheit zur Wahrnehmung der Einheit bringen soll. Die im Folgenden vorgeschlagene Interpretation gründet auf der Feststellung, dass in der damaligen griechischen Kultur Wissen seinen Ursprung im Gesehen-Haben, εἰδέναι, hat.536 Der praktisch-intentionale Aspekt des Schauens, λεῦσσε, wird dann zur Fähigkeit, höchstes Wissen zu erreichen, wenn die Schau zu einem philosophischen Gewahrsein führt, das als λεῦσσε νόῳ, mit dem Denkvermögen schauend, die Eigenschaften der Wirklichkeit untersucht und hinter dem, den Sinnen gegebenen Gegensatz, zur Seinserkenntnis findet. Die mit λεῦσσε, schaue, beginnende Anleitung strebt die unmittelbare Fähigkeit an, schauend zu erkennen. In diesem Sinn ergänzt die Anweisung in B 4 die ersten drei Lernstufen und bestärkt Themen, die bereits bezüglich B 16 diskutiert worden sind. B 4 weist auf eine weitere Kompetenzstufe für den Kuros und knüpft an die Forderung der Göttin im Prooimion, er solle alles lernen. Ich werde zunächst nur die erste Zeile des Fragmentes untersuchen und dann erst die weiteren drei Zeilen hinzunehmen. Nach einer kurzen Kontextdarstellung werde ich die Begriffe in B 4.1 in ihrer philosophischen Bedeutung analysieren und zu klären versuchen, was der Kuros aufgrund einer von νόος getragenen Schau bezwecken soll. Sprachwissenschaftlich, bietet sich in der ersten Zeile des Fragmentes eine ἀπὸ κοινοῦ-Figur um das Wort νόος, durch welche die widersprüchliche Vielheit der ab- und anwesenden Objekte des Schauens zu einer Einheits535 Clem. Al. Strom. V, II 15.5 (Stählin): λεῦσσε δ’ ὅμως ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως (…). Diels (1897) 64, bestimmt das Fragment B 4 (aufgrund von λεῦσσε) der Form nach als Anrede. 536 Ausgeführt in Snell (1978) 40-3.
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
vision finden sollen. Damit bestimmt B 4.1, dass der Kuros im beharrlich durchgehaltenen, geistigen Schauen jenseits der gegensätzlichen Seienden zusammenhängend erkennen kann. Demzufolge bezieht sich die Anleitung ‘unverwandt und unerschütterlich mit dem νόος zu schauen’ dem Wesen nach auf die Charakterisierung des Seienden. Heißt dies, dass es einen Zusammenhang zwischen dem λεῦσσε νόῳ βεβαίως und der unerschütterlichen Wahrheit, dem ἐόν des Philosophen, gibt? Was bedeutet dann die Aussage in B 4.2-4, der νόος könne das Seiende nicht trennen? Wie überhaupt sollte der Kuros mit νόος fähig sein, Sein zu verändern, ist es doch per definitionem unveränderbar? Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass dieser scheinbare Widersinn in einer Analyse, die B 4.2-4 komplementär zu B 4.1 liest, überbrückbar wird. Die letzten Abschnitte dieses Kapitels befassen sich mit der Debatte, ob die Seinserkenntnis überhaupt möglich sei und diskutieren Aristoteles’ Lösungsvorschlag, der Mensch könne mit Logos Sein erkennen, nicht aber mit den Sinnen.
7.2 Kontext und Überlieferung von B 4 λεῦσσε δ’ ὅμως ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως οὐ γὰρ ἀποτμήξει τὸ ἐὸν τοῦ ἐόντος ἔχεσθαι, οὔτε σκιδνάμενον πάντῃ πάντως κατὰ κόσμον οὔτε συνιστάμενον.537 Schaue jedoch mit dem Geist, wie durch den Geist das Abwesende anwesend ist mit Sicherheit; denn er wird das Seiende von seinem Zusammenhang mit dem Seienden nicht abtrennen weder als solches, das sich überall gänzlich zerstreue nach der Ordnung, noch als solches, das sich also zusammenballe.538
537 Clem. Al. Strom. V, II 15.5. 538 DK I 232. Ich werde im Folgenden nachweisen, dass diese Übersetzung von DK revisionsbedürftig ist. Deshalb werde ich überwiegend die Lesart von O’Brien (19871) 21, übernehmen: „See ‹them›, though they are absent, as firmly present to the mind. For ‹the mind› will not cut off what is from holding unto what is: ‹what is will not cease to hold onto what is› either by ‹its› scattering in all directions everywhere across the world, or by ‹its› coming together.“
B 4 DK: Die Zusammenschau der Widersprüche
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Die einzig verfügbare Abschrift des ganzen Fragmentes ist bei Clemens überliefert.539 Proklos,540 Theodoret541 wie Damascius542 zitieren je eine Zeile von B 4. Keiner dieser Autoren liefert Angaben über die ursprüngliche Stelle des Fragmentes im Lehrgedicht, weshalb Tarán schloss, dass es nicht möglich ist, für dieses Fragment einen Überlieferungskontext auszumachen.543 Die Frage, ob B 4 dem Doxa- oder Wahrheitsteil im Lehrgedicht zuzuordnen sei, ist bis heute strittig geblieben. Zwar wurden B 4 bei Clemens und dessen erste Zeile bei Proklos jeweils vor B 8.50 und mithin vor der Wende zum Doxateil zitiert, und Diels hat in seiner 1897 erstmals publizierten Parmenidesausgabe das Fragment im Anschluss an das Prooimion als B 2 genannt,544 doch schlägt Bicknell, um eine Gegenmeinung zu nennen, vor, B 4 am Ende des Lehrgedichtes, anschließend an B 19 anzufügen: Der Autor deutet das Fragment insofern als Teil der Doxa, als die Begriffe ἀπεόντα und παρεόντα in B 4.1 die Idee einer Pluralität von Dingen anregen, weshalb das Fragment unmöglich zur unteilbaren Wahrheit des Philosophen zählen könne.545 539 Clem. Al. Strom. V, II 15,5 [II 335.25-28 (Stählin)]. Zum Kontext vgl. Bicknell (19792) 115. Die Stromateis bilden eine unentbehrliche Informationsquelle über Parmenides: Clemens (Strom. V, IX, 59.6), hatte große Achtung vor Parmenides und nannte ihn, wie schon Platon (Sph. 237a4), „den Großen“ (ὁ μέγας) [Ap. Viola (1987) 71]. 540 Procl. in Prm. 1152.37 (Cousin), nennt B 4.1 als Teil von B 8. 541 Theodoretus, Gr. Aff. Cur. I 72 (Raeder), zitiert die erste Zeile von B 4. 542 Dam. Pr. Kap. 34, zitiert nur die zweite Zeile von B 4. 543 Vgl. Tarán (1965) 50, welcher die Zuweisung des Fragmentes zum Wahrheitsteil bei den antiken Autoren akzeptiert, obwohl der Kontext nicht zu einem Beweis herangezogen werden könne. 544 B 4 wurde in allen der heutigen DK-Ausgabe vorhergehenden Schriften als Fragment 2 genannt. So in Diels 1987, 1901, 1903, 1906, 1912 und 1922. Die folgende Ausgabe von H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker 1934, Berlin enthält die heute akzeptierte Version unseres Fragmentes als B 4. Allerdings enthält B 1 in der ursprünglichen Ausgabe von Diels (1897) nach B 1.32 Zeilen des, in der heute verfügbaren DK-Ausgabe, als B 7 und den Anfang von B 8 bekannten Fragmente, nämlich B 7.2 - B 8.2. Diels (1897) 33, bestimmt das Fragment (aufgrund von λεῦσσε) der Form nach – wie κρῖναι λόγῳ in B 7.5 und εἶργε in B 7.1 – als Anrede (S. 64). 545 Bicknell (19792) 115, bezeichnet B 4 als Darstellung eines zyklischen kosmischen Prozesses, als Folge von Weltentstehungen und Weltauflösungen. Mit diesem Fragment antizipiere Parmenides Empedokles’ kosmischen Zyklus. Im Anschluss an B 19, das den Weg der Scheinmeinungen abschließt: „B 4 recalls the message of the Way of Truth in the light of which there can be no πίστις ἀληθής in mortal opinions.“
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Als gesicherte Erkenntnis darf mithin einzig gelten, dass das Fragment in der Parmenidesforschung als äußerst kontrovers und unklar gilt.546 Weil es wenig sinnvoll ist, die ursprüngliche Stellung von B 4 in der Parmenidesschrift festlegen zu wollen, soll an dieser Stelle die Debatte über seine Zuweisung nicht weiter verfolgt werden und einzig die philosophische Bedeutung dieser Verse bestimmt werden. Im Folgenden soll das Fragment einzig von der Perspektive einer Lernanweisung für den Kuros ausgehend diskutiert werden. In welchem thematischen Kontext aber wird B 4 überliefert? Der Kirchenvater Clemens zitiert das Fragment im Rahmen antiker Zeugnisse, welche die christliche Lehre vorwegnehmen sollen, gleichsam als philosophische Allegorien für seine eigenen Theorien.547 Er bespricht es im Zusammenhang mit der christlichen Hoffnung, nach dem Tode die Wahrheit zu sehen und behandelt in diesem Kontext den Unterschied zwischen dem sinnlichen Sehen (τοῖς ὀφθαλμοῖς) und dem geistigen Schauen (τῶι νῶι).548 Freilich kann eine Trennung der menschlichen Wahrnehmung in geistige, die nach dem Tode Wahrheit erkennen kann, und in sinnliche, die im Leben Doxa erkennt, für den Eleaten nicht stimmen. Faktisch liest Clemens’ Interpretation eine von Platon stammende Aufteilung in Parmenides hinein, die im Lehrgedicht nicht auszumachen ist.549 Schließlich trennt der Eleate nicht zwischen Welten beziehungsweise zwischen der Erkenntnis während des
546 So: Bollack (1957) 56: „De tous les passages si âprement controversés de Parménide, le fragment 4 reste peut-être le plus obscur.“ O’Brien (19871) 21, fügt an, der Sinn des Fragmentes sei, insofern der Ort nicht gesichert ist, dunkel. Tarán (1965) 48, meint, es sei nicht möglich, dem Fragment eine sichere Bedeutung zu finden „since it has obviously suffered by its disconnection from its context“. Zu einer ausführlichen Darstellung der Positionen vgl. Wiesner (1996) 243-7. 547 Vgl. hierzu die Verallgemeinerung von Cordero (1987) 5: „Le texte de Parménide n’est pourtant presque jamais cité pour lui-même, c’est-à-dire pour faire connaître les idées de son auteur, mais pour appuyer ou illustrer les sujets traités par le commentateur.“ 548 Clem. Al. Strom. V, II 16,1. 549 Sokrates hatte im Dialog Phaidon (Pl. Phd. 64a-65d) erklärt, dass sich der Philosoph nach dem Tod sehne, weil dieser ein Absterben der Lüste des Körpers bedeute. Nicht die sinnliche Wahrnehmung führe zur Erkenntnis der Wahrheit, sondern einzig eine geistige Tätigkeit, welche die Ideen verstehen kann. Vgl. die Diskussion bei Wilamowitz-Moellendorff (1919) 117.
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Lebens und nach dem Leben, sondern zwischen verschiedenen Wahrnehmungsfähigkeiten. Die Forderung von B 4.1 bezieht sich auf ein Schauen zu Lebzeiten, hier und jetzt.550 Dennoch bietet der Kontext bei Clemens wichtige Hinweise über die besondere Prägung der geforderten Schau. Diese außergewöhnliche Art mit νόος zu schauen ist hauptsächlich in B 4.1 behandelt, weshalb ich vorzugsweise diesen Vers erforschen werde. Dabei ist zuerst der Begriff ‘Schauen’ einer Analyse zu unterziehen.
7.3 B 4.1: Schaue stetig mit dem Geist 7.3.1 „Schaue!“ Der erste Vers des Fragmentes formuliert eine Instruktion an den Kuros, die für die Belange der ersten Arbeitshypothese, welche besagt, dass Parmenides’ Schrift Anweisungen zur Seinserkenntnis enthält, relevant ist. Zuvor sei der Imperativ λεῦσσε besprochen. Obwohl das Verb λεύσσειν in der epischen Dichtung geläufig war,551 ist Parmenides, soweit wir sagen können, der erste vorsokratische Philosoph, der es anwandte.552 Und wir verfügen nur über diese eine Stelle im Lehrgedicht, um den Wortgehalt von λεύσσω bei Parmenides zu bestimmen. Nur in einer weiteren Passage kommt das Verb in der Vorsokratik vor, nämlich in Empedokles’ B 129, worin λεύσσω gleichsam ein übermenschliches, übersinnliches Schauen meint.553 Weder Platon noch Aristoteles wenden das Verb λεύσσω an. Allerdings spricht Platon von einem 550 Diese Thematik soll weiter hinten diskutiert werden. Vgl. den Abschnitt 8.3.1 und Anm. 683. 551 Vgl. Hom. Il. I 120: λεύσσετε γὰρ τό γε πάντες (…): „Seht ihr doch alle (mit prophetischen Augen)“; und Il. V 770-1: „Weit wie ein Mann die neblige Ferne durchspäht mit den Augen,/ Welcher von hoher Warte hinab aufs finstere Meer blickt (ὀφθαλμοῖσιν (…) λεύσσων) (…)“[Übers. Rupé]; Hom. Od. X 29-30: „am zehnten (Tag) kam unser Heimatland in Sicht und (…) wir sahen (ἐλεύσσομεν), wie Männer Feuer hüteten (…)“; Pind. Ol. IV 143-5: „und wir, die wir jetzt das goldene Licht der Sonne schauen (λεύσσομεν) (…).“ 552 Siehe DK III 255. 553 Vgl. Emp. 31 B 129: Porph. V. Pyth 30: „(… es lebte unter ihnen ein Mann von überragendem Wissen …). Denn wenn er mit allen seinen Geisteskräften sich reckte, schaute er (λεύσσεσκεν) leicht jedes einzelne von allem Seienden in seinen zehn und zwanzig Menschenleben“ [DK I 364]. Es ist möglich, dass Empedokles mit diesem Fragment Parmenides meint und nicht, wie Porphyrios angibt, Pythagoras.
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geistigen Schauen.554 Auch bei Plotin existieren keine Textstellen, in denen λεύσσω vorkommt; dagegen wird das Verb βλέπειν, als Sicht auf den νοῦς, angewandt.555 An dieser Stelle müssen die genannten Textstellen bei Parmenides und Empedokles genügen, um die philosophische Tragweite des Verbs in B 4.1 zu bestimmen. Anders als βλέπω, das ein kurzes Blicken, Ansehen meint, beinhaltet λεύσσω (betrachten, schauen, wahrnehmen) die Idee eines anhaltenden, über einige Zeit hinweg durchgehaltenen optischen Wahrnehmens.556 Diese Wortbedeutung entspricht dem deutschen Wort Schau. Darüber hinaus ist eine etymologisch begründete inhaltliche Nähe von λεύσσω mit der Vorstellung von Hell und Leuchten gegeben,557 die auch durch homerische Texte belegt wird.558 Mit diesem Sinngehalt entsteht die Idee, dass die Aufforderung zu Schauen in B 4.1 den Gehalt von klar sehen bis sehend klar werden mit sich bringt.559 Der Kuros soll mit einem lichten Geist und einer kristallklaren Schau etwas verstehen lernen. Sinnbildlich gesagt, soll er etwas auf eine Art (an)schauen, das eine Klärung und Präzisierung zur Folge hat.560 554 Vgl. Pl. Prm. 132a6: τῇ ψυχῇ (…) ἴδῃς. Vgl. zur Diskussion Brandwood (1976); Bonitz (1955). 555 Um die Bezeichnung von νοῦς als Akt und als denkende Substanz zu erläutern, stellt Plotin (Enn. VI 7, 37, 14-5), die Augen und das aktuelle Sehen nebeneinander. Vgl. zur Diskussion Sleeman/Pollet (1980) 190-1. 556 Vgl. LSJ 1043: „gaze upon“; Bailly: voir, regarder, contempler, tenir les yeux fixés. 557 Das Verb λεύσσω ist im Altindischen mit Skr. locate, Schauen, locanam, Auge, und in der Lautentwicklung mit rócate, leuchten (vgl. λευκός weiß) wortverwandt, wie mit lat. luceo, glänzen. Vgl. Frisk (1973 II) 110. Bei den eingesehenen etymologischen Wörterbüchern hebt Boisacq (1950) 574, am meisten den Sinngehalt von ‘Leuchten’ im Verb λεύσσω hervor. Chantraine (1974) 633, betont, dass λεύσσω die Idee eines visuellen Flusses impliziert, der von den Augen und nicht von den gesehenen Objekten ausgeht. 558 Vgl. Hom. Od. VIII 170-1: ἀλλὰ θεὸς μορφὴν ἔπεσι στέφει, οἰ δέ τ’ἐς αὐτὸν / τερπόμενοι λεύσσουσιν: „der Gott aber gibt seinen Wörtern eine besondere Schönheit und die Menschen schauen zu ihm mit Freude“; Hom. Il. XVI 70: (…) οὐ γὰρ ἐμῆς κόρυθος λεύσσουσι μέτωπον / ἐγγύθι λαμπομένης: „denn sie sehen nicht die naheliegende leuchtende Vorderseite meines Helms“. Diese homerischen Texte belegen die inhaltliche Nähe von λεύσσω zu Vorstellungen wie Klarheit, Helligkeit und Leuchten. 559 Viola (1987) 100-1, spricht in diesem Sinne von einem „regard éblouissant (…) qui équivaut à l’affirmation d’une vision claire.“ 560 Religiös-philosophisch betrachtet, verweist λεύσσειν mit seiner inhaltlichen Nähe zu Vorstellungen von Helligkeit und Leuchten, auf die Erfahrung, dass eine kon-
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Dieses klarlegende Schauen ist in B 4.1 mit νόος verbunden. Da B 4 das Erkennen des Menschen betrifft,561 ist es notwendig, die Vorstellungsverknüpfung der beiden Begriffe λεύσσω und νόος genauer zu untersuchen.
7.3.2 „Schaue mit dem Geist“ Die Aufforderung: λεῦσσω νόῳ, schaue mit dem Geist,562 erinnert an die Instruktion in B 7.5: κρῖναι δὲ λόγῳ.563 So wie κρῖναι, urteile, mit λόγος564 nachdrücklich zum Auftrag, überlegt zu urteilen wird, betont der Ausdruck ‘schaue mit νόος’ in B 4.1, dass der Kuros unbedingt vernunftgemäß schauen soll.565 Einen zu λεῦσσε νόῳ ähnlichen Sinngehalt bietet Empedokles’ B 17.21, das – mit der Wortassoziation von δέρκομαι und νόος – suggeriert, dass geistiges Schauen und mit den Augen Sehen getrennte Dinge seien.566
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zentrierte, lang durchgehaltene Schau zu einer Helligkeit oder Lichtvision vor dem inneren Auge führt. Vgl. Reinhardt (1959) 49, der B 4 „rein erkenntnistheoretisch“ nennt. Eine inhaltliche Nähe von B 16 und B 4 wurde von Bollack (1957) 66, gesehen, als zwei Fragmente über das Erkennen des Menschen. Dem Begriff νόος kommt ein breiter Bedeutungsspektrum zu: faculté de penser, d’où esprit, intelligence [Bailly]. Vgl. die Diskussion oben, Abschnitt 6.4.2. D.L. IX 22: „Mit dem Denken bringe zur Entscheidung“ [DK I 235]. Diels (1897) 33, assoziiert das Fragment B 4 aufgrund von λεῦσσε der Form nach mit κρῖναι λόγῳ in B 7.5 DK und εἶργε in B 7.1 DK. Zu λόγος: raison, faculté de raisonner, intelligence, esprit [Bailly]. Ich habe die außerordentliche Bedeutung des Begriffes λόγος weiter oben, im Abschnitt 5.4, besprochen. Weiter unten, nämlich im Abschnitt 7.6, werde ich nochmals die besondere Kraft des Logos besprechen. Durch sie kann der Kuros das, was die Göttin erkennt, erkennen. Vgl. nicht zuletzt die Redewendung bei Pl. Prm. 135e4: τις ἂν λόγῳ λάβοι, über das, was man nur mit der Vernunft erfassen kann. Gemoll nennt die inhaltliche Nähe von λεύσσω mit der Vorstellung von klug sein. Selbstredend ist in diesem Fall das rechte Denken angesprochen, mit dem der Kuros die Wahrheit der Göttin erkennen kann. Vgl. Hölscher (1996) 146 Anm. 2: „Auch in dem nur schwer zu interpretierenden Fragment 4 ergeht eine Aufforderung an Parmenides, seinen Verstand zu gebrauchen.“ 31 B 17.21: Simp. in Ph. 157. 25f.: «Sie (die Liebe betrachte mit deinem Geiste (σὺ νόωι δέρκευ) (und sitze nicht da mit den Augen verwundert) (μηδ’ ὄμμασιν ᾗσο τεθηπῶς)» [DK I 317].
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Clemens zitiert das Fragment, um sein Anliegen, den Unterschied zwischen sinnlichem und geistigem Schauen – dem Sehen durch die Augen und dem Sehen durch den νόος – zu erläutern. Er suggeriert durch die Verbindung von νόος und Schauen die Vorstellung einer Vision oder inneren Schau. Wobei für den Kirchenvater einzig die geistige Schau – im Gegensatz zum sinnlichen Erfassen der Dinge – relevant ist.567 Doch die Vorstellung einer ‘klärenden Schau’ gemäß Parmenides beinhaltet gerade nicht die Teilung, welche die Darstellung der (körperlosen) geistigen Vision bei Clemens involviert. Es ist vielmehr anzunehmen, dass der Auftrag ‘λεύσσε νόῳ’ in B 4.1. sinnliche und geistige Elemente des Schauens zugleich einbezieht. So wie das vorparmenideische Denken nicht in geistige und körperliche Fähigkeiten geteilt werden kann, sollte mithin auch der Wahrnehmungsaspekt in λεῦσσε νόῳ nicht gänzlich geleugnet sein.568 Hingegen begründen einige Autoren aufgrund des Zusammenhanges von λεύσσειν und νόος sowie mit der Betonung des intuitiven Aspektes von νόος die Idee, Parmenides habe mit B 4.1 auf eine unmittelbare intellektuelle oder kontemplative Ekstase weisen wollen.569 Ich habe bereits an anderer Stelle 567 Der Anschlusstext zu Fragment 4 lautet: Clem. Al. Strom. V 16,1f.: „Wenn wir nun sagen, es gebe etwas Gerechtes, und auch, es gebe etwas Gutes, aber auch wenn wir etwas Wahrheit nennen, haben wir jedoch nichts Derartiges jemals mit den Augen gesehen, sondern nur mit dem geistigen Auge (τῷ νῷ)“ [Übers. ap. Wiesner (1996) 239-40]. Für eine instrumentelle Auffassung von νόος treten ein Barnes (1986) 213, Coxon (1986) 56, Hölscher (1986) 47, Mansfeld (1983)€317. 568 Im epischen Denken korrelieren der körperliche und der geistige Aspekt des Schauens. Vgl. in diesem Zusammenhang die zweite Bedeutung von νόος als Herz, Seele [Bailly: disposition de l’âme]. So etwa in Hom. Od. VIII 78: χαῖρε νοῳ, „er freut sich in seinem Herzen“. Vgl. zur Diskussion Viola (1987) 86, Parmenides sei ein archaischer Denker, weswegen wir nicht den reinen Verstand (im heutigen Sinn des Wortes) in seinen νόος-Begriff hineinprojizieren können. Siehe auch. Schottländer (1929) 234-5, welcher feststellt, in der Geschichte des griechischen Denkens fände mit Parmenides B 4 zum ersten Mal die Verbindung zwischen νόος und einem Sinnesorgan statt, was eine wichtige Stufe in der griechischen Ideengeschichte bedeute. Es steht dann zur Frage, inwieweit die mit B 4 genannte Art des Schauens das spätere Verständnis von theoria vorausnimmt Nicht zuletzt ist die oben besprochene These einer epistemischen Korrelation zwischen νόος und den Gliedern (B 16) in die Diskussion mit einzubeziehen. 569 Verdenius (1942) 66, versteht mit λεύσσε νόῳ ein schauendes Wissen, das von den fünf Sinnen dissoziiert ist; eine These, die er aufgrund von Empedokles B 17.21 bestätigt sieht. Vgl. zur Diskussion Stefanini (1952) 48. Weniger mystisch interpretiert Viola (1987) 85.
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darauf hingewiesen, dass Parmenides’ Weg zur Wahrheit der Göttin nicht einem Offenbarungserlebnis entspricht, sondern einer rational fundierten Erkenntnissuche.570 Das oben besprochene Bedeutungsspektrum von νόος und νοεῖν571 sowie die Tatsache, das es ein Merkmal der Sterblichen ist, einen wirren, unklaren Geist zu haben572 macht deutlich, warum ein getrübter oder klarer νόος auch eine mehr oder weniger klare Schau zur Folge haben muss. Der mutmaßliche Lernerfolg des Kuros legt nahe, dass B 4.1 einen νόος meint, der optimal alle Bedingungen erfüllt, um das Seiende erkennen zu können. Mit diesem bestmöglich entwickelten Schauen-mit-νόος transformiert der Kuros das Sehen von Dingen zu einem klärenden und wirklichkeitsvermittelnden Sehen.573 Der Ausdruck λεῦσσε νόῳ beinhaltet mithin, dass der Kuros etwas erkennen soll, das im Zusammenkommen des optischen Wahrnehmungsprozesses mit νόος die geforderte Erkenntnis zugänglich machen soll.
7.3.3 „Schaue gleichermaßen“ In der ersten Zeile von B 4 entsteht durch die Partikel ὅμως eine besondere Wortverbindung, und die philosophische Diskussion dieses Verses hängt zu einem großen Teil von der Bestimmung der Bedeutung dieses Wortes ab. Die Frage erstens, ob ὅμως hier entweder als ὁμῶς oder als ὅμως zu lesen ist, hängt damit zusammen, dass im ursprünglichen Text keine Akzente verwendet wurden, weshalb die Lesarten der Handschriften zuweilen zwischen ὁμῶς und ὅμως schwanken.574 Zudem kann das Partikel in konzessivem oder in adversativem Sinn interpretiert werden, je nachdem, welche Funktion im Satz zum Ausdruck gebracht werden soll. 570 Vgl. den Abschnitt 1.4.1. 571 Vgl. die Diskussion im Abschnitt 6.4.2. 572 Nach B 6.4 haben die Sterblichen einen πλάγκτον νόον, einen „hin und her schwankenden Sinn“ [DK I 233]. 573 Vgl. Viola (1987) 81: „le νόος serait un instrument de clarification ou d’éclaircissement.“ So auch Wiesner (1996) 249. Diese Feststellung stimmt mit Heraklits 22 B€107 überein: S. E. M. VII 126: „Schlimme Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, sofern sie Barbarenseelen haben“ [DK I 175]. Hiermit besagt der Epheser metaphorisch, sinnliche Erfahrung solle in einer „verständlichen Sprache“, nämlich rational gedeutet werden, um der Erkenntnis zugänglich zu sein. Vgl. Stemich Huber (1996) 134-6. 574 Ich fasse im Folgenden die Diskussion bei Hölscher (1956) 385-90, zusammen.
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Dem ursprünglichen Sinn nach steht ὅμως dem Adverb ὁμῶς nahe, wurde aber oft als adversatives Partikel oder in der Konzession angewandt.575 DK haben ὅμως in B 4.1 adversativ gesehen und übersetzen „Schaue jedoch mit dem Geist.“576 Gegen diese Interpretation, die ὅμως als adversative Konjunktion im Sinne von trotzdem, dennoch liest, steht das Argument, dass das Partikel so gelesen zu einem vorhergehenden Text Bezug nimmt, den wir im Lehrgedicht nicht festmachen können. Weil nun nicht klar ist, zu welchem früheren Text das Partikel stehen soll, kann es nicht in adversativer Funktion verstanden werden. Diese Überlegungen werden dadurch verstärkt, dass das Vorhandensein der Partikel δὲ zwischen λεῦσσε und ὅμως577 verbürgt, dass letzteres sich nicht auf λεῦσσε beziehen kann. B 4.1 bringt also keine adversative Funktion zum Ausdruck. Vielmehr ist plausibel, ὅμως im Sinne von genauso, gleichermaßen, also verbindend zwischen den zwei Begriffen ἀπεόντα und παρεόντα zu lesen.578 In dieser Konnotation steht der Begriff bei Parmenides einzig in B 4.1. Es konnte kein weiteres Textbeispiel von ὅμως in konjunktiver Funktion bei vorparmenideischen Philosophen gefunden werden. Die Mehrzahl der eingesehenen Textausgaben enthält eine Übersetzung von ὅμως, nach der nichtsdestotrotz und gleicherweise geschaut werden soll.579 Im Folgenden wird diese Interpretation, nach der das, was abwesend ist gleichermassen wie anwesend geschaut werden soll, angenommen. Hiermit eröff575 Vgl. Hölscher (1956) 238. Als Adverb ist ὁμῶς im Lehrgedicht in B 6.7 zu lesen: Simpl. in Ph. 117.7 (Diels): κωφοὶ ὁμῶς τυφλοί: „(Sie treiben dahin) stumm zugleich und blind“ [DK I 233]. Genauso in B 8.49: Simpl. in Ph. 146.22 (Diels): ὁμῶς ἐν πείρασι κύρει: „gleichmäßig begegnet es seinen Grenzen“ [DK I 239]. Untersteiner (1958) 132-3, übersetzt für B 4.1 das Wort in die Form ὁμῶς: „Osserva per mezzo dell’intuizione come del pari le cose lontane siano secondo verità vicine.“ 576 DK I 232. Die einzige Stelle, in der vor Parmenides ὅμως in adversativer Funktion existiert ist Xenoph. B 34.4 (DK I 137). 577 B 4.1: λεῦσσε δ’ ὅμως ἀπεόντα (…). 578 LSJ: equally, likewise, alike. 579 In diesem Sinne auch Albertelli (1939) 133. Coxon (1986) 56: „Gaze on even absent things with your mind as present (…).“ So auch O’Brien/Frère (1987) 21, welche die Konjunktion mit dem nachfolgenden Partizip verbinden: ὅμως ἀπεόντα: „…Bien que ‹de telles choses› soient absentes (…)“; „(…) though they are absent (…).“ Genauso KRS (1994) 288, und Tarán (1965) 43-4. Hölscher (1956). 389-90, betont, dass sich der Kuros mit dem Partikel ὅμως in konjunktiver Funktion alle Dinge gleichmäßig vergegenwärtigt und dadurch die Vereinzelung der Sinnlichkeit aufhebt.“
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net sich ein interessantes philosophisches Gespräch. Gemäss dem vorliegenden Verständnis soll der Kuros mit dem Geist das Abwesende als zugleich anwesendes Seiende schauen, wodurch er sie als überwindbare Widersprüche erkennen lernen soll. Dann scheinen die Dinge abwesend zu sein, sind aber zugleich anwesend.580 Vom philosophischen Standpunkt also überzeugt die Auffassung, die ὅμως konzessiv interpretiert, am meisten. Diese Lesart konzediert dem Eleaten, das Wort ὅμως dichterisch zu dem dahinterstehenden Objekt ἀπεόντα zu assoziieren. Die Bedeutung von ὅμως als ‘ebenso’ besagt zunächst, dass die Dinge dem Menschen ab- und anwesend erscheinen. Für den Kuros aber, der die Lehre der Göttin versteht, gilt es zu erkennen, dass die ἀπεόντα und παρεόντα auf paradoxe Art beides zugleich sind, dass sie also im selben Augenblick ab- und anwesend sind. Es liegt an ihm, diese Schwierigkeit zu lösen. In diesem betonten Sinngehalt begründet ὅμως die Eigentümlichkeit des geforderten Schauens in B 4.1 als eine Art Zusammenschau, die jenseits der räumlich wie zeitlich verstreuten Objekte der optischen Wahrnehmung auf die Einheit des Seienden zusammenläuft. Wie dies möglich sei, soll mit der folgenden Besprechung der Dichotomie von ἀπεόντα und παρεόντα weiter geklärt werden.
7.3.4 Ab- und anwesend zugleich Das Objekt von λεύσσειν581 ist in B 4.1 in den Begriffen ἀπεόντα und παρεόντα genannt; beides Begriffe, die sich als plurale Neutra582 prima facie auf eine Vielheit der Dinge beziehen. Es ist möglich, die Begriffe im Singular zu übersetzen, im Sinne von „Schau wie das Entfernte (für den Geist) gegenwärtig ist.“583 Doch sollte zunächst die Bedeutung des Plurals, als Vielheit 580 In diesem Sinne übersetze ich nach O’Brien (19871) 21: „Schaue stetig mit dem Geiste die abwesenden Dinge ebenso anwesend, denn der Geist wird nicht das Seiende vom für-sich Zusammenhängen mit dem Sein trennen, noch es überall, in jede Richtung, zerstreuen, gemäß der Ordnung (der Welt oder der Sterblichen), noch es zusammenfügen.“ 581 Vgl. Hölscher (1956) 389: „(…) λεύσσειν verlangt auch, anders als ὁρᾶν, zum Objekt einen Gegenstand, keinen Vorgang oder Sachverhalt (…).“ 582 Viola (1987) 90, weist auf die Tatsache, dass beide Begriffe ohne Artikel erscheinen, während im selben Fragment (B 4.2) τὸ ἐὸν und τοῦ ἐόντος Artikel aufweisen. 583 Vgl. Hölscher (1968) 389.
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der sinnlich erfahrbaren Dinge, nicht verloren gehen. Denn in einer Pluralität von Dingen erscheint die Welt dem Menschen und als solche begegnet sie auch dem Kuros als Aufgabe.584 Das Neutrum Plural verführt dazu, konkrete Dinge aus der Alltagswelt mit den Begriffen gleichzusetzen. Eine Interpretation, die dadurch unterstützt wird, dass die Formulierung τὰ ὄντα, alle existierenden Einzeldinge, in diesem Sinne in der vorsokratischen Tradition geläufig war.585 Die Forderung der Göttin, nach der abwesende Dinge wie anwesend zu schauen seien, kann auch das Erinnern an gesehene Objekte, Landschaften, Gehörtes, Gefühltes und so weiter, suggerieren.586 Handelt es sich überhaupt um sinnlich erfahrbare Dinge oder um geistige Objekte? Sind sie in zeitlichem oder räumlichem Verständnis ab- oder anwesend? Im Prooimion meint das Verb ἀπεῖναι räumliches Entferntsein von Dingen,587 wogegen das Verb παρεῖναι an keiner weiteren Stelle des Lehrgedichtes existiert. Vergleichsweise kommen bei Heraklit die Begriffe ἀπεόντα und παρεόντα nebeneinander, als Beschreibung einer menschlichen Seinsweise vor.588 Genaugenommen bedeuten die Verben ἄπειμι589 und πάρειμι590 584 Vgl. Wiesner (1996) 254, der die ἀπεόντα als μὴ ἐόντα liest, als durch die Sinnesorgane bestimmte Objekte der Wahrnehmung. 585 Bereits bei Hom. Il. I 70, ist diese Form im Konnex mit dem Seher Chalchas zu finden, der mehr als das, was gewöhnliche Menschen wissen, kennt. Der Ausdruck τὰ ὄντα kommt in mehreren vorsokratischen Fragmenten vor; so etwa in Anaximanders erstem Fragment, worin τὰ ὄντα das jeweils Vorhandene bezeichnet, das aus dem Apeiron entsteht und wieder in Apeiron vergeht. Vgl. 12 B 1: Simp. in Ph. 24.13: „Ἀναξίμανδρος ... ἀρχὴν ... εἴρηκε τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον…“ [DK I 89]. Im Sinne von: alle Dinge wendet auch Heraklit als letzter vorparmenideischer Denker den selben Ausdruck an. Vgl. 22 B 7: Arist. Sens. 5.443a23: „Würden alle Dinge (πάντα τὰ ὄντα) zu Rauch, so würde man sie mit der Nase unterscheiden“ [DK I 152]. 586 Vgl. in diesem Sinne KRS (1994) 288: „Schaue jedoch auf abwesende Dinge, wie sie dem Geist dennoch zuverlässig gegenwärtig sind (…).“ 587 Vgl. B 1. 27: S. E. M. VII 111: (…) ἀπ’ ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου ἐσίν: „außerhalb von der Menschen Pfade“ [DK I 230]. 588 Vgl. 22 B 34: Clem. Al. Strom. V 116: „Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen; so sind sie wie Taube. Das Sprichwort bezeugt’s ihnen: ‘anwesend sind sie abwesend’ (φάτις αὐτοῖσιν μαρτυεῖ παρεόντας ἀπεῖναι)“ [DK I 159]. 589 Vgl. LSJ: Weg oder weit entfernt zu sein, abwesend von Dingen, aber auch von Gott. Des weiteren beinhaltet das Verb die Konnotation von erwünschten und gleichzeitig fehlenden Dingen. 590 Gemäß LSJ: bereit, erreichbar, angekommen sein, aber auch in zeitlichem Sinn präsent zu sein.
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gleicherweise materiell wie mental, in räumlicher und zeitlicher Dimension dazusein oder nicht dazusein.591 Nun gilt in der vorparmenideischen Denktradition, dass einzig der Geist fähig ist, das dem Geiste Abwesende heranzuholen592 und, dass der Mensch bloß geistig die Dichotomie zwischen den ab- und anwesenden Seienden überwinden kann. Doch ist hiermit die philosophische Relevanz von B 4.1 nicht hinreichend geklärt. Die Sache wird erst mit der Frage nach einer möglichen inhaltlichen Nähe zwischen den ἀπ- und παρεόντα und dem Seienden bedeutsam. Es ist nicht möglich, das eine Seiende, von dem die Göttin spricht, mit einer Pluralität der Seienden gleichzusetzen. Deshalb soll die Paradoxie, die dem Seienden des Parmenides Dinge und dazu, ab- oder anwesende Dinge zuordnen will, neu angegangen werden, nämlich von der Warte des Menschen aus. Das in B 4.1 gebotenen Problem kann folglich weniger dadurch gelöst werden, das wir die wahrgenommenen Dinge untersuchen, als den Menschen, der in der alltäglichen Erfahrung eine Vielfalt von ab- und anwesenden Dingen sieht, während der Kuros die Einheit des Seienden er-schauen soll. Dann ist etwas im Bewusstsein an- oder abwesend. Wir verlegen mithin unsere Aufmerksamkeit von den Objekten der Erkenntnis auf das erkennende Subjekt. Vom Menschen aus gesehen, spiegelt die Wahrnehmung einer Pluralität von Dingen den Geisteszustand der βροτοί, der Sterblichen,593 wider. Doch ein Mensch, der (als Kuros) mit einem klaren νόος stetig schaut, kann dieses widersprüchliche Nebeneinander überwinden. Es geht demnach weniger um Entitäten außerhalb des Menschen, als um verschiedene Arten wahrzunehmen. Vom Standpunkt der Instruktion der Göttin her gesehen, ist es dann irrelevant, ob die ἀπεόντα und παρεόντα zeitlich, räumlich oder als ab- oder anwesende weltliche Dinge beobachtet werden sollen. Vielmehr ist es die Aufgabe des Kuros, die Paradoxie der ab- oder anwesenden Vielheit in seiner Wahrnehmung mit einer besonderen Art der Schau zu überwinden.594 591 Vgl. Tarán (1965) 46, der aufgrund von B 8.22-25 vorschlägt, die Begriffe seien räumlich zu interpretieren. Untersteiner (1958) 95-6, hingegen meint, ἀπεόντα und παρεόντα gelten gleichermaßen räumlich wie zeitlich. 592 Der Mensch kann gleichsam mental an einen entlegenen Ort reisen, sich etwas Entferntes mit der Imagination heranholen oder etwas Naheliegendes wegdenken. Vgl. zur Diskussion Meijer (1997) 78. 593 Als Synonym für die Vielen, welche die Lehre der Göttin nicht verstehen. 594 In diesem Sinne Hölscher (1996) 115, Anm. 21: „Die Menschen trennen die Wirklichkeit in den Benennungen in viele, entfernte und nahe Dinge, während der νοῦς nur ein zusammenhängendes, homogenes Seiendes sieht (cf. B 8.23-25).“
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Ich werde im folgenden Abschnitt erörtern, wie die Gegensatzspannung in B 4.1 dem Kuros bei seinem Lernprozess behilflich sein kann.
7.3.5 Der Ausgleich der Dinge auf das Sein Es ist sinnwidrig zu lesen, dass die Göttin im ersten Teil ihrer Lehre dem Kuros aufträgt, mit νόος eine Pluralität, die per definitionem dem Bereich der Scheinmeinungen und der schwankenden Erkenntnis angehört, zu schauen. Das Sein aber steht im Gegensatz zur Vielheit, und auf dem ersten Weg der Forschung existieren weder Seiende noch irgendeine Form von Veränderung. Die Wahrnehmung einer veränderlichen Vielheit entspricht dem Geisteszustand der βροτοί, während der Kuros die Widerspruchsspannung zwischen den sich ausschliessenden Seienden einerseits und dem Sein andererseits meistern soll. Von der Perspektive des Kuros aus betrachtet handelt B€4.1 also von der Aufgabe, die alltägliche Sichtweise zu korrigieren. B 4.1 geht vorerst von einer Vielheit von Dingen aus, die sich dem Kuros als ἀπ- und παρεόντα zeigen. Doch visiert das Fragment als Anleitung der Göttin letztendlich das Seiende an. Die Frage, wie dies im Lehrgedicht ausgedrückt wird, lässt sich durch grammatikalische Überlegungen klären. Erstens ermöglicht das Neutrum Plural die singulare wie die plurale Lesart, weshalb es durchaus angebracht ist, das Plural im Sinne einer allgemeinen Aussage wie: die ab- und anwesenden Dinge als das Ab- und Anwesende zu interpretieren.595 Doch entspricht das Schauen der ἀπεόντα und παρεόντα sei es als Plural oder als allgemeine Aussage verstanden stets dem anfänglichen Zustand des Schauens, in dem der Kuros mit der Unbeständigkeit seiner optischen Wahrnehmung konfrontiert ist. Wir benötigen eine Erklärung dafür, wie er mit dem νόος jenseits der Seienden (Dinge) Seiendes sehen kann. Nun bietet eine besondere Stilfigur in der ersten Zeile von B 4 ein Argument dafür, wie der Auftrag der Göttin genaugenommen nicht eine Vielheit von Seienden anstrebt, sondern auf ein Seinendes weist. Denn um das Wort νόος, das zwischen ἀπεόντα und παρεόντα liegt, entsteht eine ausgedehnte 595 Vgl. Smyth (1972) 270, Abs. 1003: „The neuter plural is often used even in reference to a single idea or thought in order to represent it in its details, as τὰ ἀληθῆ, the truth.“ Diels (1897) 33, übersetzt: „Betrachte wie das noch so Ferne durch des Geistes Auge Dir zuverlässig nahe gerückt ist.“ Auch Hölscher (1968) 121, übersetzt im Singular. O’Brien/Frère (1987) 21, lassen die Frage offen: „s’agit-il d’un pluriel mentionné auparavant dans des vers qui n’ont pas été conservés (c’est ainsi que nous l’avons traduit), ou s’agit-il plutôt d’un énoncé d’ordre général: «les choses absentes…», «ce qui est absent…»?
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ἀπὸ κοινοῦ-Figur. In dieser grammatischen Konstruktion bezieht sich ein Wort zugleich auf den vorhergehenden und den nachfolgenden Satzteil. Auf B 4.1 bezogen bedeutet dies, dass eine ἀπὸ κοινοῦ-Figur einerseits die Zusammengehörigkeit der betreffenden Termini (ἀπεόντα und παρεόντα) betont und andererseits, dass das gemeinsame Glied (νόος) tatsächlich ein Bedeutungszentrum bildet, das seine Wirkung auf alle involvierten Begriffe ausstrahlt.596 Anders gesagt, negieren sich die Termini ἀπεόντα und παρεόντα gegenseitig, während sie von νόος getragen sind. Die Bedeutung dieser Stilfigur liegt für B 4.1 darin, dass νόος nicht nur die ab- und anwesenden Dinge zusammenführt, sondern gleichzeitig ihre enge Verknüpfung im Schauen mit νόος hervorhebt. Die Übersetzung von B 4.1 lautet diesem Argument zufolge: „Schaue mit dem Geist dasjenige, was dem Geist abwesend ist gleichermaßen als dem Geist anwesend.“ Mit Hilfe dieser sprachwissenschaftlichen Beobachtung wird ein signifikanter Schritt in der Methodik zur Einübung in die Seinserkenntnis sichtbar. Ich werde ihn nach einem Vergleich mit Heraklits Vorgehen in der Beschreibung der Erkenntnissuche genauer diskutieren, weil auf diese Weise deutlich gemacht werden kann, dass es eine Spannungskraft zwischen Gegensätzen gibt, die dem Philosophen zur Erkenntnis der Wirklichkeit verfügber ist. Heraklits Denken geschieht in der Spannung sich gegenseitig negierender Begriffe; was nicht zuletzt auf der Annahme gründet, dass Wahrheit nie auf einen Begriff allein reduzierbar ist. Gemäß Heraklit verbirgt sich in jedem 596 Vgl. Kiefner (1964) 5-6, zum σχῆμα ἀπὸ κοινοῦ: „(…) dass irgendein Satzteil (…) nur einmal verwendet werden muss, aber mehrfach bezogen werden kann, d.€h. für zwei oder mehr Satzteile oder Sätze gültig ist. Kells (1969) erläutert Kiefner: „The ‘understanding’ can be of almost any grammatical term (preposition, verb, qualifying adjective, etc.).“ Zwar gehen Kühner/Gerth (1898-1904) nirgends auf diese grammatische Form ein, doch bedeutet dies noch nicht, dass damit alle griechische Grammatik besprochen wäre. Denn die Autoren behandeln nur eine beschränkte Anzahl Autoren – nämlich diejenigen, die im damaligen Schulunterricht vorkamen – und es sind dort weder Zeilen des Parmenides noch von Heraklit oder anderer Vorsokratiker anzutreffen. Vgl. die Kritik in Calder (1964), Praefatio: „Auctores Latini post Graecos disponuntur et loci qui perpauci ad litteras Germanicas pertinent soli omittuntur.“ Kiefner (1964) 122-4, nennt vier Stiltendenzen der rhetorisch-dichterischen Figur. Seiner Aufteilung folgend, ist in der Parmenideszeile m.E. eine Konzentrationstendenz gemeint, in dem Sinne nämlich, dass das stilistische Kunstmittel einerseits die Zusammengehörigkeit der betreffenden Termini (ἀπεόντα und παρεόντα) betont und andererseits, dass das gemeinsame Glied (νόος) tatsächlich ein Bedeutungszentrum bildet, das seine Wirkung auf alle involvierten Begriffe ausstrahlt.
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Ding, hinter jeder Wahrnehmung und in jedem Zustand, Gegenteiliges. Aus diesem Grund bestimmt der Epheser, dass eindeutige Definitionen abwegig sind. Mit Heraklits Grundhypothese, dass alle Wirklichkeit aus einer Spannung sich wechselweise beeinflussender Gegensätze besteht,597 präzisiert sich Parmenides’ Intention in B 4.1. Demnach wird die Spannkraft der sich ausschließenden Gegensätze ἀπεόντα und παρεόντα als potentielle Energie für den Kuros verstehbar, die er auf dem Weg zur Seinserkenntnis nutzen kann. Der Kuros soll also nicht das durch den Geist Geschaute wie heranziehen oder wegschieben, sondern muss lernen, durch die stete Schau mit νόος die Gegensätzlichkeit in der Vielheit als eine nicht göttliche (oder un-philosophische) Sichtweise zu verstehen. Anders formuliert, ist der Kuros mit der Anleitung λεῦσσε νόῳ βεβαίως beauftragt die inhärente Kraft der Antithese zum Wandlungsfaktor zu nutzen, mit dessen Hilfe er jenseits der Vielheit, Einheit schauen und Sein erkennen kann. Erst in diesem starken Sinn vermag der Kuros vom paradoxen Bereich der sich ausschließenden Seienden in der Transformation seiner Wahrnehmung zur Seinserkenntnis fortzuschreiten.598 Er kann in dieser besonderen Art des Schauens das Abwesende als Anwe597 Der Epheser nannte zur Umschreibung des aller Wirklichkeit zugrunde liegenden, kosmischen Gesetzes, Gegensatzpaare. Vgl. z.€B. 22 B 67: Hippol. IX 10: „Gott ist Tag, Nacht, Winter, Sommer, Krieg, Frieden, Sattheit und Hunger. Er wandelt sich aber gerade wie das Feuer (…)“ [DK I 165]. Deutlich formuliert Heraklit Gegensätzliches in 22 B 30: Clem. Al. Strom. V 105: „Diese Weltordnung (κόσμον τόνδε), dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen“ [DK I 157-8]. Wobei das Erglimmen und Erlöschen als Erklärungsmodell für den nie endenden Prozess des Entstehens und Vergehens steht, den Heraklit als das alle Wirklichkeit bedingende Gesetz betrachtete. Vgl. des weiteren Heraklits Beschreibung der Relativität moralischer Vorstellungen (etwa 22 B 102) wie die Darstellung der sich gegenseitig auflösenden und ineinander verschmelzenden Zustande im physischen Bereich (z.€B. in 22 B 36; 22 B 76). Vgl. zu diesem Thema die Schlussdiskussion bei Stemich Huber (1996) 200-4 und 220-3. 598 In diesem Sinne Wiesner (1996) 248: „Aus der Wiedergabe von B 4.1 sollte aber die Intention des Parmenides für die Aletheia deutlich hervortreten, (…) auch die Konzeption von Abwesendem zu überwinden und als unzutreffend aufzuzeigen“. Ders. S. 245: „Eine solche Aufsplitterung überwindet der Nus“; gleichermaßen S. 246: „… schaut der Nus Seiendes im Zusammenhang, ohne Vereinzelung und Aufsplitterung.“ Genauso Untersteiner (1958) XCV: „(…) non c’è in essa (la via che esiste) un prima e un poi, ma (…) ἀπεόντα si risolvono in παρεόντα. Nella via tutto è παρεόντα.“
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sendes einbeziehen und, indem er die Gegensätze als zusammengehörend erkennt, zur Kognition des Seienden vordringen. Er überwindet Begrenztheit und Zersplitterung (ein Zustand der Wirklichkeitswahrnehmung, der dem Doxabereich entspricht) und kommt der Wahrheit der Göttin näher.599 Die vorliegende Auslegung wird nicht zuletzt durch das Adverb βεβαίως, stetig, unterstützt. Tatsächlich ergänzt sich der Imperativ λεῦσσε νόος durch βεβαίως zur Aufgabe für den Kuros, nicht nur kurz hinzublicken, sondern unverwandt, unerschütterlich und beständig zu schauen.600 Dann liegt der Sinngehalt von βεβαίως601 im wesentlichen demjenigen der Wahrheit der Göttin nahe, denn das Seiende definiert sich als unbeweglich und unerschütterlich.602 599 Gesagtes lässt sich mit Heraklit B 78: Orig. Cels. VI 12, unterstreichen: „Denn menschliches Wesen hat keine Einsichten, wohl aber göttliches“ [DK I 168]. Mit diesem Fragment beschreibt der Epheser zwei mögliche Sichtweisen, die ich (1996, 165-6) als den philosophischen und den nicht-philosophischen Standpunkt bezeichnet habe. Heraklit nennt die Perspektive des erkennenden Philosophen, als Denker seiner Zeit, göttlich. Erst im Vergleich zur göttlichen beziehungsweise philosophischen Betrachtungsweise besteht die Sicht des Menschen aus Scheinmeinungen. 600 Standhaft, unverwandt, ruhig, gleichmäßig. LSJ übersetzen: firm, steady, steadfast, durable, constant. Etymologisch gesehen weist βέβαιως auf die Vorstellung von fest, solid, begehbar, wodurch eine Bedeutungsassoziation zu sicher, beständig, anhaltend entsteht (Frisk I 230), was inhaltlich deutlich auf den Lernweg des Kuros weist. 601 Das Adverb ist in der vorsokratischen Überlieferung zum ersten Mal bei Parmenides attestiert. Vgl. DK III 91. Heraklit hat zwar in 22 A 23 den Begriff βεβαιωτάς, Autorität, Garant genannt [DK I 149.38], doch führt uns dies nicht weiter. In der nachparmenideischen und vorsokratischen Überlieferung sind nur wenige Formen des Begriffes nachweisbar. Melissos bietet als Erster ein Indiz für das Wort: Vgl. 30 A 12: Epiphan. adv. haer. III 2.12 : μηδὲν δὲ βέβαιον ὑπάρχειν τῆι φύσει, ἀλλὰ πάντα εἶναι φθαρτὰ ἐν δυνάμει „Nichts ist fest (oder durchgehend) in der Natur, sondern alles ist potentiell korrumpierbar“ [DK I 267.28]; wobei Melissos βέβαιος als Gegensatz zu φθαρτός anwendet. Spätere Vergleichsmöglichkeiten bieten sich mit Kritias B 49: Pseudodionys. art. rhet. 6 II 277.10: „Fest steht (βέβαιον μὲν οὐδέν) zwar nichts als der Tod für den Geborenen (…)“ [DK II 397.22]. Vgl. auch Demokrit 68 B 176: Stob. II 5: „Zufall ist freigebig, aber unzuverlässig (ἀβέβαιος), Natur dagegen auf sich selbst ruhend; und darum trägt sie mit ihrer geringeren aber zuverlässigeren (βεβαίωι) Kraft doch den Sieg davon (…)“ [DK II 180.10-11]. 602 Vgl. den Ausdruck „das unerschütterliche Herz der Wahrheit“ in B 1.29. Als nicht zitternd und unerschütterlich erscheint das Seiende in B 8.4 und prädiziert die Seinsattribute, wie sie in B 8.26, B 8.29-30, B 8.38, B 8.40-1, in der Vorstellung, unveränderlich, unbeweglich, unerschütterlich am selben Ort zu bleiben usw., vorkommen. Vgl. hierzu die Diskussion im folgenden Kapitel, bes. den Abschnitt 8.3.2.
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Es ist durchaus denkbar, dass diese relevante inhaltliche Ähnlichkeit zwischen den Merkmalen des Seienden und der besonderen Art der philosophischen Schau nicht zufällig besteht. Falls meine Annahme richtig ist, führt die Affinität der Seinsmerkmale und der geforderten Schau nicht nur zur Feststellung, dass die Anleitung in B 4.1 den Kuros zu einem Zustand führen will, der den Seinsmerkmalen korreliert, sondern legt letztlich die Konsequenz nahe, dass der Kuros das Seiende unter gewissen Bedingungen wirklich erkennen kann. Insofern der erste Vers von B 4 geltend macht, dass der Kuros, durch stetes Schauen mit νόος über den Bereich der Seienden hinweg greifen kann, macht Parmenides noch einmal den Menschen zum Drehpunkt im Lehrgedicht. Unter dieser Perspektive ist die Wahrheit der Göttin, das Sein, nicht auf absolute Realitäten projiziert, sondern durch methodische Erkenntnissuche dem Menschen zugänglich.603
7.4 Die drei weiteren Zeilen von B 4 Nach der positiven Forderung in B 4.1, der Kuros solle seine Fähigkeit zu Schauen auf eine besondere Weise kultivieren, verbietet die Göttin ihm in den drei folgenden Versen, etwas zu verändern.604 Die erste Negation, οὐ γὰρ ἀποτμήξει: du wirst nicht, abtrennen,605 die zweite Negation: οὔτε 603 Die Wichtigkeit des menschlichen νόος in der Gestaltung der Wirklichkeit ist auch beim athenischen Staatsmann Solon (ca. 640/635 - 561 v.€Chr.) genannt. Vgl. den Vers. 4.7 (West), wonach der ἄδικος νόος des Volkes am Bürgerkrieg schuld ist. Auch Heraklits Fragmente B 45 und B 115 besagen, dass der Philosoph aufgrund einer lang anhaltenden Suche der Philosoph zur Wahrheit findet. Vgl. Stemich Huber (1996) Kap. 4. Anders Curd (1998) 52, welche weniger den Menschen, als das Objekt der Erkenntnis als Drehpunkt des Fragmentes nennt: „The fragment has both metaphysical and epistemological implications. (…) [and its] predicational unity guarantees that it can be understood.“ (68). 604 Der Vers B 4.2 steht aufgrund von γάρ explikativ zu B 4.1. Und B 4.3-4 stehen komplementär zu B 4.1. Die Verse gehören, insofern sie positiv und dann negativ formuliert, Gleiches umschreiben, zusammen. Es wäre zu erörtern, ob das Nebeneinander der positiven und negativen Vorstellung nicht als Prinzip schlechthin funktioniert, indem es das Sympathische und das Antipatische etwa der empedokleischen Gegensätze vorwegnimmt. 605 B 4.2: οὐ γὰρ ἀποτμήξει τὸ ἐὸν τοῦ ἐόντος ἔχεσθαι: „Denn der Geist wird nicht das seiende vom Seienden abschneiden.“ [Übers. Hölscher (1956) 390]. Genauso übersetzen O’Brien/Frère (1987) 21-2, ἀποτμήξει in der 3. Pers. sing. akt. und
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σκιδνάμενον: (du wirst) nicht verstreuen,606 wie das dritte Verbot: οὔτε συνιστάμενον, (du wirst) nicht zusammenbringen, verbinden,607 beziehen sich auf τὸ ἐὸν, das Seiende. Genaugenommen benennen die drei Untersagungen in negativer Formulierung Merkmale des Seienden; denn sie verwerfen, was das Seiende per definitionem nicht sein kann. Anders gesagt, bestätigen die Zeilen B 4.2-4 komplementär zu B 4.1, dass das mit λεῦσσε νόῳ βεβαίως entstandene Objekt der Schau in letzter Analyse dem Nicht-Veränderbaren und absolut Unbeweglichen, kurz, der Wahrheit des Philosophen schlechthin entsprechen muss. Mit der Formulierung πάντῃ πάντως in B 4.3 wird Gesagtes umfassend gültig. Der Sinngehalt des ersten Adverbs, πάντῃ, überall, in jeder Richtung suggeriert eine räumliche Interpretation im Sinne von auf jeder Seite, überall; während das zweite Adverb, πάντως, entweder in modaler Art übersetzbar ist: auf jeden Fall, in jeglicher Hinsicht, oder aber die Unabdingbarkeit des Gesagten verstärkt, etwa als: unbedingt, zweifellos.608 implizieren als Subjekt der Zeile den in B 4.1 genannten νόος Es ist freilich durchaus möglich, das Verb als 2. Pers. med. im Sinne von: „du wirst – für dich – nicht trennen“, zu übersetzen [Diels (1897) 32; Bollack (1957) 58]. Vom philosophischen Standpunkt aus überschneiden sich schließlich die Bedeutung von νόος und ‘du’ insofern Adressat der Anleitung jeweils der Kouros ist. Das Verb ἀποτμήγω, wegschneiden, durchtrennen, abschlagen, bedeutet ursprünglich – mit dem Wort ἀπότμημα, das etwas Abgeschnittenes, also ein Stück, eine Portion meint – die Konnotation von sinnlich wahrnehmbaren. Vgl. in diesem Sinne Pl. R. II 373d.7, worin ein Stück Land von einem Nachbarland für den Eigenbedarf abgetrennt wird (ἀποτμητέον). Vgl. Bollack (1957) 59: „Ainsi le deuxième vers marque avec force l’impossibilité d’opérer une séparation dans l’être.“ Vgl. Diels (1897) 64: „Für den Verstand, der nirgends eine Trennung des Seienden gestatten kann, (…) (ist) nicht von einem wirklichen ἀποτεμεῖν die Rede, sondern von der im Innern sich abspielenden geistigen Tätigkeit.“ 606 Das Verb σκίδνημι meint gemäß LSJ das Zerstreuen einer Menschenmenge, der Sonnenstrahlen am frühen Morgen, das Auflösen von Schaum; es steht z.€B. auch für das Auflösen eines Geruchs. 607 Im Verb συνίσταμαι ist durch das Präfix συν- der Gehalt eines Kompositums aus mindestens zwei Elementen gegeben; während ἵστημι, stehen, stellen, zum Stillstand bringen, die Vorstellung konkreter Dinge – wie etwa eine Statue, ein Tempel oder ein Mensch – suggeriert. 608 Vgl. hierzu O’Brien/Frère (1987) 22, Anm. 3: „Nous prêtons au second adverbe πάντως un sens intensif, «entièrement, absolument», en traduisant par un redoublement du sens local: «partout, de tous côtés, dans le monde».
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Schließlich wirft die Bestimmung κατὰ κόσμον in B 4.3 nochmals ein Licht auf den Kuros, der das Seiende erkennen lernen soll. Die Interpretation von κατὰ κόσμον in B 4.3 ist umstritten. Tatsächlich sind verschiedene Lesarten möglich, erstens kann man den Ausdruck als in der Welt, also räumlich, verstehen. Nach dieser Lesart wird das Negierte qua in der Welt – als in den Doxai – (so zu sein) durch κατὰ κόσμον verstärkt negiert. Mit anderen Worten wird dadurch der Ausdruck πάντῃ πάντως auf die ganze Welt ausgedehnt.609 Zweitens kann der Ausdruck als gemäß der Ordnung der Dinge interpretiert werden.610 Der oben besprochenen Gesamtbedeutung von B 4 zufolge ist es sinnvoll, κατὰ κόσμον auf die zweite Interpretationsart zu beziehen, also im Sinne einer Klärung der Anleitung. Es ist zudem möglich, κατὰ κόσμον im Kontext des Fragmentes eine normative Bestimmung zuzuweisen und den Begriff dahingehend zu lesen, dass eine Struktur oder (kosmische) Ordnung nicht verwirrt werden soll.611 Fest steht, der Ordnung nach soll und kann der Kuros das Seiende nicht verändern. Mit der Äußerung in B 4.2, das Seiende halte (für) sich am Seienden fest, und νόος solle (und könne) es nicht trennen, bestätigt sich nochmals, dass der Kuros begreifen soll, dass das Seiende in sich geschlossen und zusammenhängend ist.612
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Ähnlich apodiktisch wie B 4.3 tönt auch B 16.4 (vgl. oben). Ein naheliegender Vergleich bietet sich mit der aufklärerischen Intention in Heraklit 22 B 116: Stob. III 5.6: ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτοὺς καί σωφρονεῖν: „Den Menschen ist allen zuteil geworden, sich selbst zu erkennen und gesund zu denken“ [DK I 176]. O’Brien/Frère (1987) 21, übersetzen κατά κόσμον „across the world“, „dans le monde.“ DK, I 232, Cordero (1987) 37, Coxon (1986) 56, Gallop ((1985) 57, Kerschensteiner (1962) 122 Meijer (1997) 77, übersetzen den Begriff κόσμος als Ordnung; Beaufret (1955) 81, übersetzt: „relativement à son ordre propre“ und scheint damit die Ordnung des Seienden zu implizieren. Heraklit wendet das Wort κόσμος im Sinne von Weltordnung an: 22 B 30: Clem. Al. Strom. V 105: „Diese Weltordnung (κόσμον τόνδε) (…) schuf weder einer der Götter noch der Menschen (…)“ [DK I 157]. Vgl. Frère (1995) 143, κόσμος solle in B 4: „(ne) pas être compris seulement en tant qu’ordre du monde (mais) ordonnance du monde.“ Das Verb ἔχω – in B 4.2 in der Medialform (für sich) festhalten – meint haben, besitzen (auch im mentalen Sinn). Es kann intransitiv als sein, geschehen gemeint sein und ist durch das gegebene Medium als festhalten, zu etwas gehören, für sich behalten, bestimmbar.
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Die drei Negationen bestätigen Seinsmerkmale. Der Kuros erlangt ein Objekt des ununterbrochenen Schauens, das weder veränderbar noch bewegbar und mithin weder veränderlich noch beweglich sondern absolut unwandelbar ist. Die drei letzten Verse von B 4 stehen komplementär zu B 4.1 und bestätigen die intendierte Zielrichtung der Schau mit νόος auf das Seiende.
7.5 Die philosophische Bildung des Schauens Der Eleate hat im Lehrgedicht klar gemacht, dass der Mensch im Alltagsbewusstsein das Seiende nicht erkennen, also auch die widersprüchliche Vielheit nicht als Einheit schauen kann. Doch als Kuros vermag ein Mensch unter gewissen Umständen das Seiende zu erkennen. Insofern bietet die Anleitung in B 4 einen Hinweis, wie er die widersprüchliche Vielheit als Einheit schauen kann und damit, wie er die Lehre der Göttin meistern kann. Die Aufforderung: „du sollst (das nicht veränderbare Sein) weder trennen, noch zerstreuen, noch (ihm) etwas hinzufügen“ impliziert, dass es dem Kuros nicht möglich ist, auf das in sich geschlossene Sein einzuwirken. Von einem didaktischen Standpunkt aus gelesen, bieten ihm die Verse B 4.2-4 die Möglichkeit einer Standortbestimmung. Dabei geht es nicht um das Seiende als solches, sondern in erster Linie um das Seiende qua Sein für den Menschen, also um die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Schließlich hängt es vom Zustand seines νόος ab, ob der Mensch als Kuros das Seiende als Zusammenhängendes oder, ob er als Sterblicher Widersprüchliches, Veränderliches erkennt. Anders formuliert, impliziert die Feststellung, dass der Mensch veränderbare Seiende wahrnimmt, die Diagnose des Philosophen, dass er auf eine nicht-philosophische Art die Wirklichkeit sieht. Hat der Kuros dies eingesehen, so muss er von neuem mit Hilfe der Anweisung λεῦσσε νόῳ βεβαίως jenseits des Bereiches der Veränderbarkeit die Schau des Seienden lernen. Auf diese Art kommt den Inkongruenzen zwischen dem Plural (die Seienden) und dem Singular (das Sein) eine pädagogische Bedeutung zu. So verstanden erhält das vierte Fragment einen plausiblen Sinn: Es ist von der Perspektive desjenigen her zu lesen, dem die Aufgabe gestellt wird, in philosophischer Schau Seinserkenntnis einzuüben.
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7.6 Kann der Kuros wirklich das Seiende erkennen? Eingangs wurde die Frage gestellt, ob das Seiende in Parmenides’ Schrift nicht einem anderen Wirklichkeitsbereich zugehört und als solches für den Menschen nicht verfügbar ist. Diese Frage kann durch folgende Argumente zurückgewiesen werden. Die Tatsache erstens, dass Parmenides sein philosophisches Denken als Lehrschrift verfasste, macht die Prämisse deutlich, dass das Publikum die Seinslehre auf sich beziehen sollte. Die Tatsache zweitens, dass Parmenides seine Ideen als wahr und wichtig erachtete und sie mit göttlicher Autorität begründete, zeigt, dass den Anleitungen ein den Menschen verfügbares Objekt des Lernens korrespondieren muss. Der Eleate wollte ein realisierbares Wissen vermitteln. Und die bis jetzt diskutierten Textstellen belegen, dass Parmenides lehrte, wie aus dem nichtswissenden Sterblichen ein das Seiende erkennender Kuros werden kann. Diejenigen Anleitungen, die Lernen, das Gelernte Meditieren und das Beurteilen der kontroversen Lehre der Göttin mit dem Logos zum Inhalt haben,613 suggerieren, dass die Erkenntnis des Seienden Parmenides zufolge mit einer besonders ausgebildeten Vernunft tatsächlich erreichbar ist: Dann nämlich, wenn der Kuros, dem Elenchos der Göttin nicht nur zuhört, sondern aktiv seinen Geist schult. Die vorliegende Interpretation von B 16 und B 4 hat die Notwendigkeit für den Kuros deutlich gemacht, zum einen die vielbewegten Glieder mit einem starken νόος zur rechten Krasis und damit zu einer harmonischen Einheit zu führen und zum anderen die Wahrnehmung einer widersprüchlichen Vielheit mit νόος auf eine Einheitsvision zu bringen. Die Hauptthesen beider Fragmente bezwecken die Entwicklung des Menschen aus dem (Geistes-)Zustand des Sterblichen zu demjenigen des Kuros. Hierdurch ist der scheinbar unüberbrückbaren Trennlinie zwischen der Wirklichkeitswahrnehmung des Sterblichen und des Kuros begegnet. Unbestritten ist dabei Parmenides’ Grundannahme, dass der Mensch mit einem unruhigen, dumpfen Geist, ungeordneten Gliedern und der Wahrnehmung einer vielfältigen, sich verändernden Wirklichkeit nichts mit dem Sein gemeinsam hat. Dann ist er Parmenides zufolge nur der Scheinmeinungen fähig. In diesem Sinn zeichnet der Eleate mit den hier besprochenen Textstellen Möglichkeiten für den Menschen auf, wie er seine Erkenntnisfähigkeit optimieren kann. 613 Besprochen im 5. Kapitel.
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Eine abweichende Auffassung zur oben diskutierten Interpretation ist durch das Argument gegeben, dass Parmenides’ Denken ein zwei-WeltenModell voraussetzt. Falls Parmenides aber zwei voneinander abgegrenzte Wirklichkeiten postuliert hätte, ähnlich der platonischen Teilung zwischen der Welt der sinnlichen Dinge und der Scheinmeinungen auf der einen Seite und der Welt der transzendenten Formen auf der anderen, wäre es dem Menschen in diesem Leben nicht möglich, die Wahrheit der Göttin zu erkennen. Indes gründet diese Annahme auf zu diskutierenden Prämissen. Es existieren keine Textstellen im Lehrgedicht, die belegen könnten, das Parmenides von einem Diesseits und einem abgetrennten göttlichen Bereich gesprochen hat; wohl aber soll der Kuros einen Geisteszustand erlangen, der (in diesem Leben) den Seinsmerkmalen nahekommt. Parmenides spricht demnach von Erkenntniszuständen, wobei der Mensch durch die Vernunft im besten Fall sicher und unwandelbar die Erkenntnis des Seienden gewinnt, nicht aber von Seinsebenen. In Platons Denken gibt es indes zwei voneinander unabhängige Wirklichkeitssysteme, doch geht diese Theorie für den Eleaten fehl. Denn im Lehrgedicht macht die Göttin klar, dass das Seiende eine einheitliche, zusammenhängende, allumfassende Wirklichkeit ist.614 Ein Aristotelestext diskutiert diesen komplexen Gegenstand: In der Metaphysik bespricht der Stagirit Parmenides’ Lehre, nach der es notwendigerweise nichts Anderes als Seiendes gebe.615 Dazu gezwungen, die Welt der 614 Das Seiende ist gemäß B 6.3-4: zusammen vorhanden, als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes (Kontinuierliches) [DK I 235]. Vgl. in diesem Sinne Bicknell (1964) 111: „Parmenides (…) regarded this one world not as a diversity but as a homogeneous continuum“; Brisson (1999) 20-21: „(…) Parménide veut démontrer qu’il est un, ne peut être que l’ensemble de tous les ensembles de toutes les choses sensibles particulières (…). La question de l’unité et de la pluralité se trouvait au centre des préoccupations de ces penseurs. Dans ce contexte, tout le problème est de savoir si la réalité sensible dans son ensemble, à savoir l’univers, constitue une réalité unique (la position défendue par Parménide), la multiplicité des choses sensibles n’étant qu’apparente.“ Frère (1987) 210-111, argumentiert: „Cosmos et Diacosmos ne sont point que des phainomena comme ils le seront chez Platon: ce sont des δοκοῦντα – ἐόντα (I, IV) qui se fondent dans τὸ ὄν (…) chez Parménide l’ordonnance des choses s’enracine dans l’ontologie.“ 615 28 A 24: Arist. Metaph. A 5.986b 27f.: Παρμενίδης δὲ μᾶλλον βλέπων ἔοικέ που λέγειν παρὰ γὰρ τὸ ὂν τὸ μὴ ὂν οὐθὲν ἀξιῶν εἶναι, ἐξ ἀνάγκης ἓν οἴεται εἶναι τὸ ὄν, καὶ ἄλλο οὐθέν…[DK I 221]: „Dagegen scheint Parmenides manchmal mit mehr Einsicht zu sprechen. Da er meint, dass neben dem Seienden das Nichtseiende nicht existiere, glaubt er, dass notwendigerweise das Seiende Eines sei und nichts anderes“ [Übers. von F.F. Schwarz].
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Phänomene zu berücksichtigen, habe Parmenides dann bestimmt, dass das Seiende der Wahrnehmung mit der Vernunft entspräche (τὸ ἓν κατὰ τὸν λόγον), und der Vielheit der Sinneswahrnehmung (πλείω δὲ κατὰ τὴν αἴσθησιν).616 Die Feststellung, dass κατά τὸν λόγον, gemäß der Vernunft, Seiendes (und nur dies) sei, legt die Frage nahe, warum es nichtsdestotrotz für den Menschen schwierig ist, das Seiende zu erkennen. Aristoteles weist Parmenides’ Sein und Nichtsein zwei Prinzipien (δύο τὰς αἰτίας) zu, nämlich dem Sein Wärme, das ist Feuer,617 und dem Nichtseienden Kälte, bzw. Erde.618 Wahre Erkenntnis ist gemäß Aristoteles’ Interpretation nur aus der Perspektive des Logos möglich. Und dieser kennt nur Feuer (oder Wärme). Denn das Seiende kommt laut Aristoteles nur einem Prinzip gleich, und auf der Ebene des κατὰ τὸν λόγον existiert nichts anderes. Aristoteles versteht Parmenides demnach so, dass dieser vorgeschlagen hat, dass nur eines der Elemente ist. Wie ist diese Aussage erkenntnistheoretisch zu deuten? Sollte dies gemäß Aristoteles bedeuten, dass Parmenides der göttlichen Seinslehre nach nur Feuer oder Licht postulierte und das andere Element gleichsam als eine Privation von Licht619 betrachtete? Es ist ein Leichtes Kälte oder Dunkelheit als Fehlen von Wärme und Licht zu interpretieren. Als plausible Ergänzung zu Aristoteles’ Bericht bietet sich die Feststellung, dass das Prinzip Feuer in der Antike für Göttliches und für geistige Erkenntniskraft steht. Bereits vor Parmenides war das Feuer mit intellektueller Kraft gleichgesetzt; so etwa bei Heraklit, der bestimmt, dass die feurige Seele am 616 28 A 24: Arist. Metaph. A 5.986b31f.: (...) ἀναγκαζόμενος δ’ ἀκολουθεῖν τοῖς φαινομένοις καὶ τὸ ἓν μὲν κατὰ τὸν λόγον, πλείω δὲ κατὰ τὴν αἴσθησιν ὑπολαμβάνων εἶναι, δύο τὰς αἰτίας καὶ δύο τὰς ἀρχὰς πάλιν τίθησι, θερμὸν καὶ ψυχρόν, οἶον πῦρ καὶ γῆν λέγων τούτων δὲ κατὰ μὲν τὸ ὂν τὸ θερμὸν τάττει, θάτερον δὲ κατὰ τὸ μὴ ὄν: [DK I 221]: „(…) aber gezwungen, den Erscheinungen Rechnung zu tragen, und in der Annahme, es gebe dem Begriff nach das Eine, jedoch der Sinneswahrnehmung nach mehreres, setzt er doch wieder zwei Ursachen und zwei Prinzipien an und bezeichnet sie mit warm und kalt, das heißt Feuer und Erde. Davon rechnet er das Warme dem Seienden zu, das andere dem Nichtseienden.“ [Übers. von F.F. Schwarz]. 617 Nämlich θερμόν beziehungsweise πῦρ. 618 Nämlich ψυχρόν beziehungsweise γῆν. 619 Im Sinne von Aristoteles’ Begriff der Steresis, Privation: „als Nichtvorhandensein einer positiven Bestimmung an einem Subjekt, an dem sie auftreten kann und von Natur aus sogar soll, z. B. die Blindheit.“ (ap. Horn/Rapp 2002, 406). Vgl. Ar. Mph. X 4,1055a33-b20.
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besten denken kann, weil sie dem πῦρ φρόνιμον, dem feurigen, denkfähigen Kosmos gleichkommt.620 Insofern ist es durchaus denkbar, dass das Prinzip Feuer auch bei Parmenides mehr als bloß für ein Naturelement steht, die Verbindung mit der höchsten Erkenntniskraft des Kuros garantiert. Gemäß dieser Deutung ist die Grundidee, dass der Mensch das Seiende erkennen kann, wenn er seine Erkenntniskraft stärkt, allemal überzeugend. Nochmals sei darauf hingewiesen, dass hier nicht ontologische, sondern epistemische Trennlinien vorliegen, die als solche zu untersuchen sind. Schon Heraklit hob sie auf, indem er verkündete, dass derjenige, der das allumfassende Gesetz aller Wirklichkeit, im Kosmos wie in sich selbst, versteht, weise ist.621 Auch im Lehrgedicht liegt die Schwierigkeit, das Seiende zu erkennen, nicht auf ontologischer Ebene, sondern auf epistemischer.622
7.7 Zusammenfassende Bemerkungen Das hier besprochene Fragment löst einen weiteren Teil des Lernversprechens im Prooimion ein. B 4 enthält eine Anweisung, die einer gewissen Praxis bedarf. Anders als das Wissenansammeln, vernünftige Überlegen oder eine größtmögliche Kritikfähigkeit, erfordert die in B 4 verlangte Kompetenz, dass der Kuros eine außerordentliche Art zu schauen, genaugenommen eine Haltung, einübt. Die erste Zeile erklärt, auf welche Art der Kuros mit νόος schauen soll: Nicht die äußere Welt soll er erkunden, sondern im Zusammenspiel seiner sinnlichen und geistigen Fähigkeiten eine besondere Aufmerksamkeit entwi620 Heraklit 22 B 117: Stob. Flor. 7: „Hat sich ein Mann betrunken, so wird er von einem unerwachsenen Knaben geführt, taumelnd, ohne zu merken, wohin er geht; denn feucht ist seine Seele“ [DK I 177]. Und 22 B 118: Stob. Flor. 8: „Trockener Glast: weiseste und beste Seele oder vielmehr Trockene Seele weiseste und beste“ [DK I 177]. Kommentiert in Stemich Huber (1996) 211ff. Vgl. OCD: „Fire’s dynamic properties and its natural tendency to move upwards in space, figure in all kinds of (…) cognitive theories.“ Zur Thematik siehe auch Olivieri (1950) 22ff. 621 Vgl. Stemich Huber (1996) 181-2. 622 Diese Schlussfolgerung verknüpft gedanklich an Heraklits Aussage: 22 B 17: Clem. Al. Strom. II 8: „(Denn) es verstehen solches viele nicht, soviele auch darauf stoßen, noch erkennen sie es, wenn sie es lernen (…)“ [DK I 155], worin der Epheser bestimmt, dass die Wirklichkeit immer da sei, doch die Menschen sie nicht erkennen.
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ckeln. Er soll ununterbrochen, unverwandt und klärend mit νόος auf Widersprüchliches, nämlich gleichzeitig Ab- und Anwesendes, schauen. Indem er seine Aufmerksamkeit aufrecht erhält (βεβαίως), kann er Kraft der Gegensatzspannung (der παρεόντα und ἀπεόντα) über die Vielheit der Dinge hinweg einheitlich Sein schauen. Nun verlangt ‘beharrlich über die Dimension der abwesenden Dinge hinweg anwesend zu schauen’ einen unerschütterlichen Geist, was dem Gehalt nach der unerschütterlichen Wahrheit der Göttin nahekommt. Als philosophische Anleitung zur Seinserkenntnis gelesen, melden die Zeilen B 4.2-4 epistemologische Informationen an den Kuros zurück, indem sie bestätigen, dass das Seiende nicht trenn- oder zerstreubar noch irgendwie zusammenfügbar ist. Letztlich handeln diese Verse weniger über das Seiende an sich, als über den Kuros, der νόος richtig anwenden soll, damit er das Seiende erkennen kann.623 Es bleibt festzuhalten, dass die besprochenen Textstellen einen Lernprozess für den Kuros hin zur Seinserkenntnis betreffen, nicht aber den tatsächlichen Augenblick der Seinserkenntnis.
623 Vgl. Long (1996) 143: „learning about truth is not like learning something that exists external to mind.“
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Die Seinsmerkmale aus der Sicht des Kuros
8.1 Einleitung
I
m Lehrgedicht können zwei Hauptthemen der Untersuchung festgemacht werden. Das erste ist mit der Frage verbunden, wie kann die Erkenntnisfähigkeit des Kuros derart gestärkt werden, dass er das Seiende weiß? Im Bereich dieser Thematik bewegt sich der Kuros prozesshaft hin zur Erkenntnis. Die von der Göttin vorgeschlagene Methode wurde in den vorherigen Kapiteln anhand von drei Kompetenzetappen und von den mit B 16 und B 4 genannten Einübungen nachgezeichnet. Die zweite uns hier beschäftigende Frage lautet: Wie sieht der Zustand der Erkenntnis als Zielvorstellung, für die der Kuros arbeitet, aus? Diese Frage soll anhand der Darstellung der Seinsmerkmale in diesem Kapitel untersucht werden. Seit Parmenides wurde die Frage nach der Bedeutung von Sein vielfach diskutiert.624 Gemäß Aristoteles’ Interpretation bestimmt Parmenides, dass der Mensch das Sein mit λόγος erkennt und, dass der Zustand des Nichterkennens einer Trübung durch die Sinneswahrnehmung entspricht. Dabei hatte sich die Parmenidesüberlieferung hauptsächlich auf Ermittlungen über das Seiende als Wahrheit der Göttin gegenüber den Scheinmeinungen der sterblichen Menschen konzentriert.625 Das Seiende wurde mehr624 Das Denken des Parmenides hat seit der Antike Kommentatoren inspiriert, die Seinslehre zu untersuchen. Melissus „korrigierte“ oder „klärte“ in 29 B 9 [DK I 275] Parmenides in dem Sinne, dass er explizit festlegte, das Seiende sei unkörperlich. Vgl. Kirk/Stokes (1960) 4. Zenon entwickelte seine Paradoxien „durch eine Übertragung gewisser Momente des Parmenideischen Seins auf die Welt der Doxai (…).“ Vgl. Ferber (1995) 52. Platon geht im Dialog Parmenides ausführlich auf die Frage nach der Bedeutung des Seienden ein [vgl. Pl. Prm. 127e7-15ff.] und entwickelt daraus seine Lehre über die Ideen. Aristoteles beschäftigte sich mit der Frage, ob das Seiende körperlich oder immateriell sei. Vgl. Arist. Ph. 186a16-18 und Arist. Metaph. 986b18-21. Im 20. Jahrhundert wurde vor allem der Wahrheitsteil des Lehrgedichtes diskutiert, in der anglo-amerikanischen Diskussion oftmals mit Hilfe sprachtheoretischer Analysen. 625 Die alten Autoren, denen wir die Überlieferung der Fragmente verdanken, waren vor allem an der Wahrheit des Eleaten interessiert und wir hängen in unserem Wissen über das Denken der vorsokratischen Philosophen von den Präferenzen der Doxographen ab. Vgl. Barnes (1988) 329: „it is more often the case that the selection of fragments is governed by curious and perverse personal preoccupations on the part of the doxographers.“ So auch Osborne (1987) 10-11: „(…) Simplicius, and Plato and Aristotle before him, were most interested in the Way of Truth as the expression
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heitlich als ein Abstraktum und als Begriff, über den der Philosoph Aussagen machen kann, gedeutet oder es wurde verdinglicht verstanden, als etwas, das räumliche und zeitliche Dimensionen hat.626 In diesem Kapitel indes werden wir von den Seinsmerkmalen ausgehend den Zustand des Menschen, der das Seiende des Parmenides erkennen will, untersuchen; anders gesagt, werden wir das Gewicht von der Wahrheit der Göttin auf den Menschen, der diese Wahrheit erkennt, verlegen. Ausgangspunkt für diese Herangehensweise ist Parmenides’ Postulat in B 3, dass sich die denkende Wahrnehmung (νόημα) und das Objekt der Erkenntnis entsprechen. Vom Kuros her betrachtet kann demnach das Seiende nur dann gedacht werden, wenn der Denkende mit dem Sein übereinstimmt. Wenn sich also laut Parmenides die Erkenntnis und ihr Objekt entsprechen, berechtigt dies eine epistemologische Verbindung zwischen dem Bereich des Seienden und dem Zustand des denkenden Kuros. Die Gleichung lässt wohl auf eine besondere Form des Denkens für eine außergewöhnliche Erkenntnis schließen: Eindeutig kann es hier nicht um das unklare Denken der Sterblichen gehen. Aufgrund von B 3 rechtfertigt sich zudem eine Analyse, die von den Seinsmerkmalen ausgehend präskriptiv Rückschlüsse auf die notwendige Haltung für den Kuros, der die Wahrheit der Göttin erkennen will, ableitet. Zunächst werden wir den Weg dessen, der das Seiende sucht, besprechen und daraufhin die Seinsmerkmale in räumlicher und zeitlicher Perspektive auf den Kuros hin reflektieren.
8.2
Verschiedene Wege für verschiedenartige Menschen
Im vorigen Kapitel wurde ein Aristoteleszitat besprochen,627 nach dem Parmenides lehrte, das Seiende sei durch den Logos der Erkenntnis zugänglich und die Vielheit durch die Sinneswahrnehmung. Diese Aristotelesstelle of Parmenides’ most important doctrines. It is possible that our interpretation of Parmenides is relatively impoverished as a result. (…) We need to take into account of the interest which have governed the selection of the texts we possess, and recognise that these govern our overall interpretation even of Parmenides’ thought.“ 626 Was die ontologische These des Parmenides anbelangt, vgl. O’Brien/Frère (1987), Kap. X, S. 227ff.; Ders. „Notes complémentaires“ I-IV, 253f.; Cordero (1997), App. I, 215f.; Tarán (1965) 175f.; Curd (1998) bes. 28-51. Vgl. Anm. 39. Vgl. auch Snell (1978) 9. 627 28 A 24. Vgl. Anm. 615.
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bespricht Seiendes nicht in seiner ontologischen Qualität, sondern in Verbindung mit dem ihm entsprechenden epistemischen Zustand.628 In eine ähnliche Richtung wie der Aristotelessatz, weisen diejenigen Parmenidesaussagen, die zwischen dem Seienden und dem menschlichen Denken eine Wesensgleichheit bestimmen.629 Zunächst ist ‘Denken’ gemäß Parmenides nicht statisch bestimmt, sondern zeigt sich unterschiedlich ausgeprägt. Der Mensch kann zu verschiedenen Zeiten dumpf oder klaren Geistes sein, so wie er im Lehrgedicht je nachdem, ob er als Sterblicher oder als Kuros denkt, die Wahrheit der Göttin verstehen kann oder nicht. Parmenides’ Darstellung einer veränderbaren mentalen Fähigkeit wird anhand der wiederholt angewendeten Wegsymbolik im Lehrgedicht deutlich. Genaugenommen versinnbildlicht der Begriff „Weg“ im Lehrgedicht eine Metapher für den Werdegang des Menschen zur Vervollkommnung seiner Erkenntnisfähigkeit. Wir finden das Motiv des Weges bereits in der ersten Zeile des Prooimions,630 und die Thematik einer Reise als Suchweg oder als Wahl zwischen Lebensmöglichkeiten begleitet die Lesenden durch eine Reihe von Fragmenten.631 Ideengeschichtlich betrachtet, liegt die Bedeutung des Ausdrucks „Weg“ im Kontext der philosophischen Erkenntnissuche im Zusammenhang mit Vorstellungen wie Lebensrichtung, Suchweg oder Werdegang.632 In diesem Sinne impliziert der Begriff ὁδός das Sinnbild einer Entwicklung oder einer 628 Vgl. in diesem Sinne Kahn (1968-69) 704: „The problem which Parmenides raises from the beginning of his poem is not the problem of cosmology, but the problem of knowledge, more exactly, the problem of the search for knowledge (…).“ 629 Vgl. B 3: Clem. Al. Strom. VI II 23.3 (Stählin): „Denn dasselbe ist Erkennen (DK I 238: „Denken“) und Sein“ [Übers. Heitsch (1976) 144]. Das Fragment ist ausführlich zitiert in Anm. 483. 630 B 1.1: S.E. M. VII 111: „Die Rosse (…) zogen mich (…) auf dem Weg, dem vielberühmten (…)“ [DK I 228]. 631 Das Wort „Weg“ befindet sich bei Parmenides nur im ersten Teil des Lehrgedichtes. Vgl. die Textstellen in B 1.2: ὁδὸν δαίμονος; B 1.5: κοῦραι δ’ ὁδὸν ἡγεμόνευον; B 1.27: (χαῖρ’...) τήνδ’ ὁδὸν (…θέμις τε δίκη τε); B 2.2: ὁδοὶ μοῦναι διζήσιος; B 6.3: … ἀφ’ ὁδοῦ ταύτης διζήσιος {εἲργω}; B 7.2: … ἀφ’ ὁδοῦ διζήσιος εἶργε νόημα; B 7.3: μηδέ σ’ ἔθος πολύπειρον ὁδὸν κατὰ τήνδε βιάσθω; B 8.1: … μόνος δ’ ἔτι μῦθος ὁδοῖο (λείπεται ὡς ἔστιν) und B 8.18: (οὐ γὰρ ἀληθής) ἔστιν ὁδος. Ausführlich hat Mourelatos (1970) hierüber geschrieben. Auf S. 16-21 geht der Autor auf die geschichtlichen Hintergründe des Begriffs „Weg“ ein. Eingehend über die Thematik vgl. auch: Farandos (1982), bes. 70-83. 632 Vgl. Becker (1937) 8-12.
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Bewegung entlang einer Verhaltenslinie. Das Symbol des Weges kann auch als Allegorie für eine länger andauernde, zur Gewohnheit gewordene Bahn stehen.633 Vor allem Heraklit und Parmenides wenden als vorsokratische Philosophen den Begriff ὁδός an. Während Heraklit das Wort einerseits wortwörtlich für einen zu gehenden Weg anwendet,634 setzt er die Vorstellung andererseits als Metapher für die Haltung des Suchens nach Wahrheit ein.635 Das Thema eines Weges ist, als Bild für eine Haltung des Menschen, der Erkenntnis sucht, bei Heraklit auch im Begriff ἄπορον, unwegsam, ausgedrückt.636 Bei Parmenides weist die Wegmetaphorik weniger auf einen Lebensweg, als auf die Vorstellung von „Methode“; genauer, auf eine besondere Denkund Forschungsmethode. Dies macht der Philosoph in Ausdrücken wie „Weg der Forschung“637 deutlich. Die vorherigen Kapitel haben Parmenides’ Methode zum Wissenserwerb als Prozess im Rahmen eines geistigen Werdegangs umschrieben, durch den stufenweise Erkenntnis erarbeitet werden kann. Nun besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Parmenides’ Beschreibung einer Methode hin zur Erkenntnis des Seienden als Weg, der über das sinnlich Gegebene hinaus in einen metaphysischen Bereich führt, und
633 In diesem Sinne ist die Vorstellung eines Weges nicht weit von derjenigen eines ἔθος, einer Gewohnheit (B 7.3) entfernt, die gemäß Parmenides den Menschen zwingen kann, in einer bestimmten Grundeinstellung zu verharren. Zur Diskussion vgl. Snell (1975), bes. Kap. XXIII, 219-30. Die Bedeutung von Ethos als Charaktereigenschaft ist in Heraklits Fragmenten sichtbar: vgl. z. B. 22 B 50, worin die Unterscheidung zwischen dem Zustand göttlicher oder menschlicher Geistesverfassung beschrieben ist, die dafür verantwortlich ist, ob jemand die Wahrheit erkennen kann oder nicht. 634 Vgl. 22 B 59: Hippol. IX: „Der Walkschraube Weg, grad und krumm, ist ein und derselbe“ [DK I 164]; und 22 B 71: Marc. Aurel. IV 46: „Man soll auch des Mannes gedenken, der vergisst, wohin der Weg führt“ [DK I 167]). 635 Vgl. 22 B 45: „D.L. IX 7: „Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße (ὁδόν) abschrittest; so tiefen Sinn hat sie“ [DK€I 161]. 636 Vgl. 22 B 18: Clem. Al. Strom. II 17: „Wenn er’s nicht erhofft, das Unerhoffte wird er nicht finden, da es unaufspürbar ist und unzugänglich (ἄπορον)“ [DK I 155]. 637 In B 2.2 und B 6.3 [DK I 231 und 233], vgl. Anm. 631. Verdenius (1967) 103-4, betont, dass „der Weg der Göttin eigentlich der Weg seines eigenen Denkens ist“, nämlich ein „Weg tiefer Gedanken.“
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Platons Symposion.638 Dort beschreibt Platon in Diotimas Rede über den Stufenweg zur Vollendung in der Schau des Schönen639 das Ziel, das darin liegt, das ewig Seiende, das nicht wird und nicht vergeht und sich auch sonst nicht verändert, zu schauen.640 Zu Beginn des Prooimions beschreibt Parmenides die Route des Kuros als „Weg der Göttin“ und als denjenigen Weg, den „der wissende Mann“ geht und den schließlich der Kuros aufgrund eines guten Schicksals beschreitet.641 Zugleich umfasst der Begriff „Weg“ im Lehrgedicht auch Gegensätzliches; das heißt, er steht einerseits als Sinnbild für die rechte Denk- und Forschungsrichtung642 und erfasst andererseits diejenige Richtung, vor der die Göttin warnt.643 Relevant ist dabei die durchgehende Wortassoziation im Lehrgedicht von „Weg“ als „Weg der Untersuchung und Forschung“ und „auf dem etwas gedacht wird“.644 Der Begriff „Weg“ kann im Lehrgedicht durchaus auch lebenspraktische Assoziationen hervorrufen, wie im Prooimion, wo der 638 Vgl. Coxon (1986) 173-4, der in Parmenides’ Gehen oder Reisen einen Weg entlang, die Vorwegnahme von Platons Notion der philosophischen oder wissenschaftlichen Methode (μέθοδος, z.€B. in Pl. Phd. 79e4) ausmacht. 639 Pl. Symp. 210a-212a. 640 Pl. Symp. 211b1: ἀεὶ ὄν und: Symp. 211e. 641 B 1.2-3: S.E. M. VII 111: ὁδὸν πολύφημον (…) δαίμονος, ἣ κατὰ {...} φέρει εἰδότα φῶτα: „the many-voiced way of the daimon, ‹the way› which carries (…) the man who knows.“ [Übers. O’Brien (19871) 3]; hingegen übernehmen DK eine moderne Emendation: δαίμονες im Plural: „auf den Weg, den vielberühmten, die Dämonen (die Göttinnen) führend gebracht …“ [DK I 228]. Vgl. B 1.27, nach dem kein schlechtes Schicksal den Kuros sandte, „diesen Weg zu kommen“ [DK I 230]. 642 Vgl. B 2.2: Procl. in Ti. I 345.19-20 (Diehl): ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι / ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι: „(welche) Wege der Forschung allein zu denken sind: der eine Weg, dass IST ist und dass Nichtsein nicht ist“ [DK I 231]. Vgl. B 8.1-2: Simp. in Ph. 78.8-9 (Diels): μόνος δ’ ἔτι μῦθος ὁδοῖο / λείπεται ὡς ἔστιν: „Nur noch eine Weg-Kunde bleibt dann, dass IST ist“ [DK I 235]. Die Übersetzung: „The only tale still left is ‹that› of the way ‹which tells us› that ‘is’“ [O’Brien (19871) 33], scheint verständlicher. 643 Vgl. B 6.3: Simp. in Ph. 117.6 (Diels): πρώτης γὰρ σ’ ἀφ’ ὁδοῦ ταύτης διζήσιος {εἴργω}: „Denn das ist der erste Weg der Forschung, von dem ich dich fernhalte“ [DK I 233]. Vgl. B 7.2: S. E. M. VII 111: ἀλλὰ σὺ τῆσδ’ ἀφ’ ὁδοῦ διζήσιος εἴργε νόημα: „vielmehr halte du von diesem Wege der Forschung den Gedanken fern“ [DK I 234]. Denn dieser Weg – dass etwas Nichtseiendes sei (B 7.1) ist, gemäß B 7.3-4, derjenige des Zwangs der Gewohnheit. 644 So in B 2.2, B 6.3, B 7.2.
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Kuros zunächst von Rossen gezogen und Sonnenmädchen begleitet einen Weg entlang geführt wird.645 Doch benutzt Parmenides den Begriff mehrheitlich im Sinne seiner theoretischen Perspektive auf die Wahrheit. Der rechte Weg der Forschung besteht vor allem darin zu erkennen, dass nur das Seiende ist.646 Im Gegensatz dazu ist derjenige Weg, von dem sich der Kuros fernhalten soll, durch eine Reihe von Attributen gekennzeichnet, die den Erkennungszeichen der Wahrheit entgegenstehen. Falsch geht der Mensch, wenn er der Sinneswahrnehmung traut, denn das Seiende kann nur κατὰ τὸν λόγον erkannt werden.647 Dann denkt der Sterbliche über Entstehen und Vergehen nach,648 über Konzepte in der Vielheit und vertritt zwiespältige Meinungen.649 Wer auf dem falschen Weg geht, versteht nicht die Unvereinbarkeit zwischen ‘ist’ und ‘ist nicht’.650 Falsch geht auch, wer sich nicht klar entscheiden kann und seine Meinungen nicht mit der Vernunft überprüft.651 645 Vgl. B 1.1-5: S. E. M. VII 111 [DK I 228]. 646 B 2.3: Simpl. in Ph. 116 (Diels): „der eine Weg, das IST ist (…) [DK I 231]. Hingegen wird der Weg der Meinungen in B 2.5-6 charakterisiert: „Der andere (Weg, welcher besagt), ‘(es) ist nicht (οὐκ ἔστιν) und muss notwendig nicht sein (χρεών ἐστι μὴ εἶναι)’ [Übers. Wiesner (1996) 251-2]. Ausführlich diskutiert in O’ Brien (19881) 216-26. 647 Wie gesehen, hängt laut 28 A 24 [DK I 221-2], der Weg der Scheinmeinungen mit der Sinneswahrnehmung zusammen – und die Wahrheit mit dem Logos. Die Textstelle von 28 A 24 ist in Anm. 616 angeführt. 648 Vgl. B 19.1-2: Simp. in Cael. 558.9-10: „So also entstand dies nach dem Schein (κατὰ δόξαν) und ist noch jetzt und wird von nun an in Zukunft wachsen und sein Ende nehmen“ [DK I 245]. Ich teile nicht die Auffassung, hiermit spiele Parmenides auf Heraklits Theorien an. Vgl. eine gegenteilige Meinung: Stewart (1980) 1-14. 649 Denn nur die Sterblichen sind δίκρανοι, Doppelköpfe (B 6.5). Ihr Sinn schwankt ratlos hin und her (B 6.5-6). Vgl. auch die Ausdrücke in B 8.53: Simp. in Ph. 30.23: „(…) zwei Formen zu bennenen“ [DK I 239]. Und in B 18,5-6 spricht: Cael. Aurel. Morb. chron. V, IV 9.135 über die Entstehung des Menschen: „ (…) keine Einheit (nec faciant unam)“ und über: „(…) Doppelgeschlechtlichkeit (gemino semine)“ [DK I 244-5]. 650 B 6.8-9: Simpl. in Ph. 78.3-4 (Diels): „(…) unentschiedene Haufen, denen das Sein und das Nichtsein für dasselbe gilt und nicht für dasselbe gilt und für die es bei allem eine gegenstrebige Bahn gibt“ [DK I 233]. 651 Die Wichtigkeit einer eigenständigen rationalen Haltung betont Parmenides im Zusammenhang mit B 7.5: entscheide. Vgl. auch B 8.15: die Entscheidung; und B 8.16: es ist entschlossen, betont.
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Die Textstellen veranschaulichen, dass der Weg der Göttin vom Kuros eine außerordentliche Leistung voraussetzt: Er soll nicht nur lernen und das Gelernte meditieren, sondern vor allem verstehen, dass es nur einen möglichen, überzeugenden und zur Wahrheit führenden Forschungsweg gibt. Die richtige Forschungsrichtung bedeutet gemäß unserer Diskussion der Fragmente B 16 und B 4, dass der Kuros die Vielheit seiner Sinneswahrnehmungen mit seinem besonders geschulten νόος gezielt bündeln soll, damit er mit Logos Einheit erkennt. Er muss die rechte Krasis der Glieder herstellen und mit einer durchgehaltenen, besonderen Schau eine Haltung kultivieren, die mit den Seinsmerkmalen übereinstimmt. Die Göttin hat dem Kuros versprochen, dass der Forschungsweg erfolgversprechend ist sowie, dass der Kuros auf diesem Weg etwas lernen und verstehen wird.652 Ganz im Gegensatz zum falschen Weg, der nirgendwohin führt, von dem wir nichts wissen und nichts aussagen können.653 Die Gegenüberstellung des inhaltsleeren und des aussichtsreichen Weges ist für den Kuros richtungweisend: Die Wegbeschreibungen stecken negativ und positiv formuliert, methodisch das Ziel der Erkenntnissuche ab. Denn die Darstellung der erfolgreichen Forschungsrichtung einerseits und der zu meidenden, weil nicht zum Ziel führenden Forschungsrichtung andererseits, ergänzen sich. Ein Lehrgebäude ohne ein Objekt der Lehre wäre absurd. Denn welchen Sinn hätte Parmenides’ klare, methodische Beschreibung des Erkenntnisweges, wenn nicht, um am Vorbild des Kuros an der abschreckenden Beschreibung der Lebensweise der Sterblichen seinen Zuhörern deutlich zu machen, dass es einen Erkenntnisweg gibt, der potentiell jeden Menschen zum Ziel der Erkenntnissuche führt?654 652 Mit B 2.2 ist der Weg διζήσιός und νοῆσαι, das heißt, als Weg der Forschung führt er zu Erkenntnis. Im Gegensatz zum Weg, auf dem wir überhaupt nichts lernen können (vgl. B 2.6: παναπευθέα ἔμμεν ἀταρπόν), führt der rechte Weg zu Wissen. 653 Vgl. B 2.7-8: Simp. in Ph. 117.1: οὔτε γὰρ ἂν γνοίης, τό γε μὴ ἐόν, οὐ γὰρ ἀνυστόν€/ οὔτε φράσαις: „denn weder erkennen könntest du (das Nichtseiende) (das ist ja unausführbar) noch aussprechen“ [DK I 231]. Laut O’Brien (19871) 156, ist der zweite Weg, insofern er mit B 8.16 und B 6.1-2 undenkbar ist, auch nicht gangbar. Der nicht zu wählende Weg ist gemäß B 6.9 rückwärtsgewendet oder ein Wiederherumwendender: „παλίντροπός ἐστι κέλευθος“ [DK I 233]. Vgl. Klowski (1967) 237, der bestimmt, dass er dem, was mit sich selbst in Widerspruch steht, entspricht. 654 Verdenius (1967) 108, diskutiert, wie es möglich sei, dass Parmenides den Zustand der Vielen überwinden könne und stellt klar, dass dies durch die Begegnung des Kuros mit der Göttin geschehe, wodurch der Philosoph seinen Alltagszustand überwindet.
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Im Bild des Weges umschreibt Parmenides also eine Methode, um höchste geistige Erkenntniskraft zu erlangen. Der aufmerksame Kuros kann verstehen, in welchem Geisteszustand sein νόος sein muss, um höchste Erkenntnis zu erreichen. So kann er auch schlussfolgern, dass er im Gegensatz zum Sterblichen eine ruhige, klare Denkkraft entwickeln655 und mit offenen Augen und Ohren kritisch aufmerksam sein muss, um die Wahrheit der Göttin erkennen zu können.656 Im Folgenden soll die Bedeutung des Seienden für den Kuros untersucht werden.
8.3
Die Merkmale des Seienden und das Denken des Kuros
Die philosophische Hauptthese des Parmenides dreht sich hauptsächlich um das Seiende. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ἐόν wie er im Lehrgedicht vorkommt entweder in das Infinitiv „Sein“ oder in das Partizip „Seiendes“ übertragen.657 Die Wahl, den Begriff ἐόν unterschiedslos als „Sein“ oder „Seiendes“ anzuwenden, beruht erstens auf der Tatsache, dass diese Begriffe bedeutungsgleich sind und zweitens darauf, dass in den deutschsprachigen Parmenidesanalysen seit der Ausgabe von Diels (1897) die Übersetzung des Begriffes ἐόν in den zwei Formen „Sein“ und „Seiendes“
655 Aus der Definition, dass die Sterblichen einen verwirrten Geist, πλαγτὸς νόος (B€6.6) haben, wird klar, dass der Geist des Suchenden notwendigerweise klar fokussiert ist. 656 Dies deduziert er aus der Beschreibung der Sterblichen, die gemäß B 6.7 wie blind und taub sind, und leichtgläubig dahin leben: τυφλοί, τεθηπότες, ἄκριτα φῦλα Doch der Suchende soll mit B 7.5 ein κριτικός sein. So wie Parmenides die Vielen portraitiert (vgl. 28 B 6.4-9, besprochen in 3.5.3, S. 110f.), stellt auch Heraklit die Nichtwissenden als blinde, schlafende Menschen dar, die verwirrt durch die Welt taumeln. Vgl. 22 B 56: Hippol. IX 9: „Der Täuschung hingegeben sind die Menschen in der Erkenntnis der sichtbaren Dinge (…)“ [DK I 163]. Vgl. auch 22 B 1: S. E. M. VII 132: „Den anderen Menschen aber bleibt unbewusst, was sie nach dem Erwachen tun, so wie sie das Bewusstsein verlieren für das, was sie im Schlafe tun“ [DK I 150]. Das selbst erworbene Wissen hingegen, nennt der Epheser göttlich. Vgl. Stemich Huber (1996) 172-3. So wird auch Parmenides’ Wissen göttergleich, insofern der Kuros mit B 7.5 eingeladen ist, die Rede der Göttin zu hinterfragen. 657 Vgl. hierzu Ferber (2003) 118.
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vorzufinden ist.658 Allein in der Folge von Heidegger wurde von einigen Philosophen eine Diskrepanz zwischen dem Seienden und Sein, das die Wahrheit bedeutet, für das Lehrgedicht festgelegt.659 Die Bedeutung des Begriffes wurde von den Parmenidesinterpreten seit der Antike diskutiert.660 Dabei ging es unter anderem um die Frage nach einem möglichen Subjekt des Seienden.661 Für unsere Untersuchung indes ist einzig relevant, dass das ἐόν, unter dem Gesichtspunkt, dass es die Wahrheit der Göttin betrifft und vom Kuros mit λόγος erfahrbar ist, existiert. Insofern es vernünftig belegbar ist, ist es auch „wahr“.662 Es ist kein Ding, das durch Sinneserfahrung erfasst werden kann. 658 So z. B. B 5 (B 3 DK): Denn [das Seiende] denken und sein ist dasselbe“; B 8 (B€6.1 DK): „Das Sagen und Denken muss ein Seiendes sein. Denn das Sein existiert, das Nichts existiert nicht“; in B 8.2: „Dass es ein Sein gibt“; und in B 8.6-7: „Denn was für einen Ursprung willst du für das Seiende ausmachen?“ Auch DK übersetzen abwechselnd mit dem Infinitiv oder mit dem Partizip. Desgleichen Engelhard (1996) und Wiesner (1996). 659 Heidegger hat in seiner Studie über Parmenides (1982) 5, einen Unterschied zwischen dem Partizip und dem Infinitiv festgelegt: „Ganz anderer Art ist das wesentliche Wissen. Es geht auf das, was das Seiende in seinem Grunde ist – auf das Sein.“ Auch Gadamer (1995) übersetzt ἐόν grundsätzlich mit „Sein.“ 660 Es ging zum Beispiel um die Frage, ob sich εἶναι im Lehrgedicht (wie in B 3) als Kopula liest, ob es prädikative Bedeutung hat oder materiell zu verstehen sei. Aristoteles hatte in Ph. A2-3. 184b15 - 187a11 Parmenides’ Durcheinanderbringen zwischen der existentiellen und prädikativen Bedeutung von εἶναι kritisiert. In der Folge von Aristoteles’ Kategorien 5., 2b11-4b19, wurde die Frage diskutiert, ob Parmenides das Sein als konkrete oder abstrakte Substanz verstand. [ap. Ferber (2003) 124]. Diejenigen Autoren, die εἶναι als Kopula verstehen, legen nicht weiter fest, womit εἶναι verbunden sein könnte. Vgl. Kahn (1973) 85 f. 661 So findet zum Beispiel Bröcker (1978) 106, den Schlüssel zum Subjekt des Seienden im Herzen der Wahrheit (B 1.29), das er dem ἐόν gleichsetzt. Burnet stellt (1930) 178-9, fest: „it is just amounts to this, that the universe is a plenum.“ Loenen (1959) 6, findet, Subjekt von Sein sei τι, etwas, das als νοεῖν festgemacht werden kann. J. Owens (1959) 62, verleiht dem Verb die Konnotation, ‘sein’ entspräche einer dem gewöhnlichen Zuhörer zugängliche Welt der sinnlichen Erfahrung, der eigenen Person, den anderen und allen seh- und berührbaren Dingen der Welt und des Kosmos. Schick (1963-8) 171, verneint die Möglichkeit eines Subjektes für das Verb: „The subject is not a plenum, or the cosmos, or something particular, but something – vague and indefined; it is whatever exists“. 662 Die Auslegung, „Sein“ bedeute bei Parmenides existieren, befindet sich bei Barnes (1985); Cordero (1987); Finkelberg (1988); Gallop (1984); Guthrie (1996); O’Brien (19871); s (1965). Dagegen ist Aubenque (1987) 122f., der die existenti-
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Auch ist es kein Bewusstseinszustand, weil es gemäß Parmenides, unabhängig davon, ob der Kuros es erkennt oder nicht, vorhanden ist.663 Es wurde nicht vom Menschen geschaffen, existiert also nicht im Sinne von subjektiven Vorstellungen. Doch es existiert als epistemologische Tatsache und ist unter bestimmten Umständen von anderen Menschen nachprüfbar. Von dieser Feststellung ausgehend, sollen die Zusammenhänge zwischen dem Seienden und dem es erkennenden Kuros genauer untersucht werden. Meistens wurde Parmenides’ Schrift als ontologische Abhandlung gelesen. Dass das Seiende ein Zentralthema des parmenideischen Denkens ist, wird im Lehrgedicht offensichtlich. Doch wurde gezeigt, dass Parmenides’ Denken auch eine Lehrmethode für den Menschen enthält, der das Sein erkennen soll. Das Seiende und seine Merkmale erlauben Aussagen über den Menschen, der es als wahr erkennt. So muss der Mensch im Zustand der Erkenntnis, weil die Wahrheit der Göttin ἀτρεμὲς ist, dieser Eigenschaft entsprechend in einer geistigen Verfassung sein, die sich mit ἀτρεμὲς
elle Grundbedeutung als Ansatz des Aristoteles sieht; sie Parmenides zuzuschreiben sei anachronistisch. Im Sinne von vorhanden sein, sich befinden: Dieser Konnotation kommt die deutsche Gleichsetzung von εἶναι mit Sein insofern wenig entgegen, als dem Verb heute zwangsläufig eine Abstraktheit zukommt, die dem griechischen Korrelat vor Parmenides nicht gerecht wird. Mit Klowski (1967) 226: „(…) uns ist der abstrakte Begriff so geläufig, dass wir ihn nicht nur in die konkreten Aussagen hinein tragen, sondern ohne ausdrückliche Explikation nicht fähig sind, den abstrakten Begriff vom Boden des Konkreten her zu verstehen.“ Für die Bestimmung, dass das Seiende des Parmenides vor allem etwas mit „wahr sein“ zu tun hat vgl. Kahn (1966) 249-54; sowie (1969) 700ff., Der Autor übersetzt „it is the case“, „it is so“, „it is true“. 663 Dass Parmenides realistisch und nicht idealistisch zu deuten ist, wird auch durch B 8.35-6 deutlich: „Denn nicht ohne das Seiende (…) kannst du das Denken antreffen“ [DK I 238].In diesem Sinne Kahn (1968-9), 723: „knowing is founded in Being.“ Hierdurch zeigt sich schließlich, dass der Begriff bei Parmenides von seiner ursprünglichen Bedeutungsnähe mit ψυχή losgelöst ist. In der etymologischen Wurzel ές des Terminus liegt eine Bewandtnis mit hauchen, atmen und damit implizite diejenige von Leben und Lebenshauch. Hier kann die interessante Bedeutungsnähe zwischen der Urbedeutung von εἶναι als hauchen und atmen und ψυχή als hauchen, Lebensatem nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. Curtius (1879) 375. Eberling (1985) übernimmt Curtius’ These und führt als Beleg: Hom. Od. XXIV 63, an. Schwyzer (1950) Vol. II, 375, bezeichnet die Urbedeutung von εἶναι konkreter als es meist angenommen wird.
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umschreiben lässt.664 Es ist deutlich geworden, dass es schließlich am Menschen liegt, wie er die Wirklichkeit erkennt. Er muss als Kuros mit dem νόος eine besondere Grundhaltung einüben, in welcher Körper und Geist auf rechte Art aufeinander bezogen sind, so dass er den Merkmalen des Seienden entsprechen kann. Wie ist das zu verstehen? Wie besprochen, erkennt der Mensch laut 28 A 24 die Wirklichkeit des Seienden mit dem Logos.665 Wie aber definiert sich „Logos“ für denjenigen, der Seinserkenntnis sucht? Anders gesagt, wie muss der Logos des Menschen sein, um den Logos der Göttin zu verstehen? Im Prooimion wenden die Sonnenmädchen λόγος an, wenn sie mit sanften Worten (μαλακοῖσι λόγοισιν) Dike überzeugen, die Tore zu öffnen.666 Dann kommt λόγος der Göttin zu, als verlässliches Reden und Denken.667 Auch der Kuros hat Logos, wenn es heißt, er solle über ihre Rede urteilen.668 Doch nirgends im Lehrgedicht existiert eine Textstelle, in der den Sterblichen Logos zugeschrieben wird. Wenn nun der Kuros den streitreichen Elenchus der Göttin prüfen soll, und wenn die menschliche Erkenntniskraft unter dem Aspekt des λόγος dem Reden der Göttin gleichkommen kann, bedeutet λόγος eine göttliche Fähigkeit im Menschen. Somit kann der Kuros das Wissen der Göttin und damit die Erkenntnis des Seienden tatsächlich erlangen. Der Kuros geht einsam den Weg der wahren Überzeugung669 und denkt urteilend über die Rede der Göttin nach. Sie verspricht ihm eine Erkenntnis, die sie anhand von vielen Zeichen – σήματα πολλὰ – erläutert.670 Diese sind zugleich als Wegweiser zu erachten. Die Umschreibung des Seienden anhand 664 Der Begriff ἀτρεμές existiert in B 1.29 und in B 8.4 als Bestimmung des Seienden. 665 Vgl. oben, die Besprechung in 7.6. 666 Vgl. B 1.15: S. E. M. VII 111 [DK I 229]. 667 Vgl. B 8.50: Simp. in Ph. 38.30 (Diels): „Damit beschließe ich mein verlässliches Reden und Denken (πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημα) über die Wahrheit“ [DK I 239]. 668 Vgl. B 7.5, besprochen als dritte Lernstufe im Abschnitt 5.4. 669 Er geht als Einsamer, weil er, gemäß B 1.27 abseits des Weges der Menschen geht. Vgl. B 1.27: S.E. M. VII 111: „außerhalb von der Menschen Pfade“ [DK I 230]. Er ist, gemäß B 2.4, mit Hilfe von der Rede der Göttin über die Richtigkeit seines Forschungsweges überzeugt, während dem Weg der Sterblichen gerade diese Überzeugungskraft fehlt. Vgl. B 1.30: Clem. Al. Strom. V, IX 59.6: οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής [DK I 230]. 670 Gemäß B 8.2-3. Die Seinsmerkmale sind vor allem im achten Fragment zu lesen. Das Wort σῆμα übersetzt sich als Zeichen, Kennzeichen, Merkmal, Erkennungszeichen und Wurfmal [Gemoll].
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von negativ und positiv formulierten Sätzen soll dem Kuros helfen, die Lehre des Seienden genauer zu verstehen. Wir werden sehen, wie die Beschreibung des Seienden Vorstellungen evoziert, die im vorparmenideischen Kontext mit Göttlichem assoziierbar sind, so wie etwa seine Charakterisierung als anfangs- und endlos.671 Inzwischen wurde deutlich, dass der Kuros wirklich fähig ist, Seinserkenntnis zu erlangen. Allerdings kann er dies einzig unter bestimmen Umständen; dann nämlich, wenn sein Wissen gleichwie göttlich ist. Mit anderen Worten kann er das Sein nur dann erkennen, wenn sein Denken diesem gleichkommt, was gemäß B 3 bedeutet, dass er nur dann das Sein erkennen kann, wenn sein Denken und das Objekt seines Denkens sich entsprechen: τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν τε καὶ εἶναι.672 Diese These kommt in einem anderen Fragment artikuliert und erweitert vor.673 Es ist zu interpretieren, dass der 671 Siehe weiter unten, die Beschreibung der Seinsmerkmale aus zeitlicher Perspektive: Vgl. den Abschnitt 8.3.2. Siehe auch Sedley (1999) 120: „The conflation is not altogether surprising in a context of early Greek philosophy. Anaximander, Anaximenes, and Heraclitus had all treated their primary existent, the stuff of the universe, as divine.“ Vergleichbar etwa mit Heraklits Beschreibung des Weisen in 22 B 108, als etwas, das von allem abgesondert ist, wobei der Weise (Mensch) und das Weise bei Heraklit in Ihrer Bedeutung zusammenfallen. Anders gesagt besitzt Weisesein bei Heraklit eine persönliche und überpersönliche Konnotation zugleich. Vgl. Stemich Huber (1996) 220-1. 672 Vgl. B 3: Clem. Al. Strom. VI II 23.3 (Stählin): „denn dasselbe ist Denken und Sein [DK I 231]; Vgl. zu B 3 Anm. 483. Ich übernehme eine Übersetzung von B 3, die ἐστὶ als Kopula liest. Anders: Cherubin (2003) 288-90; Graeser (1977) 149f.; Hölscher (1956) 392. Als Identitätstheorie interpretieren B 3: Cilento (1964) 202-3 (der die These von B 3 einer „esperienza interiore opposta all’esperienza sensibile“ zuschreibt); Curd (1998) in den ersten zwei Kapiteln; Crystal (2002) 207-19; Laks (1990) 8-9; Sedley (1999) 120-1. Long (1996) 144-5 fügt bei: „… we should not restrict his usage of the term ἀλήθεια to logical „truth“, nor should we restrict his usage of the verb ἐστι and its other forms to one meaning, whether veridical, existential or copulative. Parmenides’ ἀλήθεια is truth and Being and also (…) thinking and knowing mind. (…) There can be no gap between thinker and thought since thinking is internal and bounded by Being.“ Siehe hierzu auch die Bemerkung von Sedley (1999) 120: „…it is the only natural reading of B 3 (…): „For it is the same to think and to be.“ 673 B 8.34-6: Simp. in Ph. 87.14: ταὐτὸν δ’ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα: „Dasselbe ist Denken und der Gedanke, dass IST ist; denn nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das Denken antreffen“ [DK I 238]. Anders gesagt: „The same is cognising and that on account of which there is cogni-
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Kuros wenn er Sein denkt, Eigenschaften in sich entwickelt, die den Merkmalen des Seienden entsprechen. Er kann demzufolge aus den Seinsmerkmalen ableiten, wie die Merkmale seines Denkens oder Geisteszustandes sind, wenn er Seiendes erkennt. Somit können wir aus der Korrespondenztheorie eine Anleitung für den Kuros deduzieren. Er kann nämlich die Wegzeichen – σήματα πολλὰ – mehr nur als Umschreibungen des Seienden deuten und zugleich verstehen, dass diese sein Denken angehen; nämlich dann, wenn es im Zustand der Erkenntnis ist. Er kann sich über den Zielzustand seines Suchweges im Klaren sein. Dies bedeutet zugleich, dass wir aus B 3 im Zusammenhang mit B 8.35-6 ableiten können, wie das Denken im Zustand des Erkennens beschaffen ist. Hiermit formuliert Parmenides eine Theorie, die Generationen von Philosophen diskutiert haben.674 Soweit mir bekannt ist, wurde bis anhin die Identitätsbeziehung zwischen Denken und Sein nicht vom denkenden Subjekt aus, dem Kuros, analysiert. Es wurde zwar darauf hingewiesen, dass sie eine notwendige Konsequenz sing.“ [Übers. Bicknell (1964) Anm. 12, S. 111]. Das Objekt der Wahrnehmung und das wahrnehmende Subjekt entsprechen sich. Kommentiert bei Finkelberg (1986-7) 405f.: „The Parmenidean understanding of cognition is based on the principle of ‘like by like’ according to which the knowing subject is only capable of cognizing objects similar to himself“. Vgl. P. Hadot (1989) 188, der das Thema im Rahmen des Stoizismus besprach: „On ne connaît qu’en devenant semblable à son objet.“ 674 So diskutiert Theophrast Metaph. 1. 1.2-16, ob eine Verbindung, also eine Art gegenseitige Gemeinschaft zwischen dem Denkbaren und dessen Inhalten besteht, und bestimmt, dass es irgendeine Verbindung geben muss, da ansonsten das All aus unzusammenhängenden Abschnitten bestände. Vgl. hierzu Henrich (2000) 191: „Eine erkenntnistheoretische Konsequenz der Korrespondenztheorie ist die Isomorphie von Ontologie und Epistemologie.“ Oft diskutiert wurde Plotins Übernahme dieser These in Enn. V.1.8: „Angerührt hat ja schon vorher Parmenides eine solche Auffassung, insofern er Seiendes und Geist zusammenfallen ließ und das Seiende damit nicht unter die Sinnendinge setzte: ‘denn dasselbe ist Denken und Sein’ sagte er (…)“ [Übers. von Harder]. Gelzer (1982) 112, hat Plotins Interpretation dieser Lehre des Parmenides untersucht und festgestellt, dass Parmenides für Plotin „noch nicht alles richtig zu Ende dachte“ (112). Aufgrund seiner persönlichen Erfahrung der Schau entschied Plotin, dass Parmenides zwar Autorität besaß, dass seine Lehren aber nur zum Teil richtig waren, da er die Unbeweglichkeit mit der Denktätigkeit begründete, die gemäß Plotin gerade als Bewegung zu verstehen ist (112). Ferber (1989) hat die Diskussion dieser Thematik bei Platon (72), Kant (242-5), Wittgenstein (255-6), Natorp (260-1) und Heidegger (265-8) analysiert. Siehe auch Goff (1972) bes. 63-70, in der Analyse von Parmenides B 3 und dessen Transformation in Heideggersche Sprache.
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innerhalb des Monismus des Parmenides darstellt,675 doch die Intention der hier vertretenen Position ist, eine weitere Konsequenz aus der Identitätsthese abzuleiten, nämlich deren erkenntnistheoretische Bedeutung für das denkende Subjekt. Die Erkennungszeichen des Seienden sind nicht der Alltagserfahrung, sondern einzig dem besonderen Denken des Kuros zugänglich. Denn es widerspricht dem geläufigen Menschenverstand, nach dem sich alles auf gedanklicher Ebene wie in der Welt außerhalb ständig verändert, etwas zu denken, dass gerade nicht prozesshaft ist. Deshalb sind die Seinsmerkmale nur unter suspendierter Alltagswahrnehmung für den Kuros verstehbar. Erst infolge der im Lehrgedicht vorgeschlagenen Bildung zum Kuros kann der Mensch das Seiende erkennen. Mit dem vorgeschlagenen Ansatz, die Beschreibung des Seienden auf den Erkennenden zu reflektieren, ergibt sich eine plausible Antwort auf das Rätsel, was das Seiende für den Erkennenden im Moment der Erkenntnis bedeutet. Im Folgenden sollen also die Seinsmerkmale untersucht werden, beginnend mit einer Besprechung der räumlichen Charakteristika des Seienden.
8.3.1 Das Seiende aus räumlicher Perspektive Das Seiende des Parmenides ist, wie erörtert wurde, nicht dem Alltagsdenken noch der Sinneswahrnehmung des Kuros zugänglich, doch kann der Kuros den λόγος der Göttin, ihre positiv und negativ formulierten Existenzsätze über das Seiende mit einem geschulten λόγος verstehen.
675 Vgl. Sedley (1999) 120: „but since being is all that there is, he must deny that thinking is separate from being. (…) Besides, the price of not identifying thinking with being is to undermine his monism, by separating the thinking subject from the object of thought, that-which-is.“
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Im achten Fragment ist das Seiende als ganz, zusammenhängend, unteilbar und kontinuierlich beschrieben.676 Es liegt, unveränderlich und gebunden innerhalb seiner Grenzen677 von der Mitte her gleichgewichtig, ähnlich einer soliden Sphäre;678 homogen, in sich geschlossen und ebenmäßig.679 Die Artikulierung dieser Erkennungszeichen suggeriert die Vorstellung eines kugelförmigen Objektes und damit den Eindruck, das Seiende entspräche einer konkreten, kompakten Größe. Doch geht es hier nicht um eine ontologische Theorie, sondern um den Kuros, der Sein erkennt. In der vorliegenden Arbeit sollen die Seinsmerkmale nur insofern sie Objekte der Erkenntnis des Kuros sind, untersucht werden und nicht als Entitäten.680 Es geht also nicht um die Bestimmung 676 B 8.4: Simp. in Ph. 78.9: μοῦνον {τ’} οὐλομελές (…): „es ist ganz in seinem Bau“ [DK I 235]: „entier en sa membrure“; und: „alone, and whole of limb“ [Übers.. O’Brien/Frère (1987) 34 ]. Zur Argumentation für die Wahl der Überlieferung des Begriffes οὐλομελές (anstelle von μουνογενές) gemäß Plutarchus und Proklos, vgl. O’Brien (19872) 318-22. Auch DK I 235, argumentieren dafür, dass οὐλομελές der Form μουνογενές (zit. auch bei Simpl., Clem., Eus. Mind., Phlp.) vorzuziehen sei, was zudem durch Hippokr. 22 C 2 und Emp. B 62.4 bestätigt sei. Auch Pl. Phdr. 250c suggeriere die Form οὐλομελές. B 8.22: Simp. in Ph. 143.3 (Diels): οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν, ἐπεὶ πᾶν ἐστιν ὁμοῖον: „Auch teilbar ist es nicht, weil es ganz gleichartig ist“ [DK I 237]. Vgl. B 8.5-6: Simp. in Ph. 78.14-15: (…) ὁμοῦ πᾶν, / ἕν, συνεχές: „zusammen vorhanden als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes (Kontinuierliches)“ [DK I 235]. Vgl. B 8.25: Procl. in Prm. 665.24 (Cousin): τῶι ξυνεχὲς πᾶν ἐστιν (…): „Darum ist es ganz zusammenhängend“ [DK I 237]. 677 B 8.26: Simp. in Ph. 39.27f.: αὐτὰρ ἀκίνητον μεγάλων ἐν πείρασι δεσμῶν: „unveränderlich liegt (besser: „ist“) es in den Grenzen gewaltiger Bande“ [DK I 237]. 678 Vgl. B 8.43-4: Procl. in Prm. 1084.28 (Cousin): (…) εὐκύκλου σφαίρης ἐναλίγκιον ὄγκῳ, / μεσσόθεν ἰσοπαλὲς πάντῃ: „so ist es vollendet von (und nach) allen Seiten, einer wohlgerundeten Kugel Masse vergleichbar, von der Mitte her überall gleichgewichtig“ [DK I 238]. 679 Vgl. B 44-45: Procl. in Prm. 665.28-29 (Cousin): (…) τὸ γὰρ οὔτε τι μεῖζον / οὔτε τι βαιότερον πελέναι (…): „Es darf ja nicht da oder dort etwas größer oder etwas schwächer sein“ [DK I 238-9]. 680 In diesem Sinne Brisson (1990) 687-8: „Depuis Platon et Aristote on n’a voulu retenir que la dimension ontologique du discours de la déesse, dimension bien réelle à n’en point douter. Mais rien ne s’oppose à ce que (…) la dimension ontologique ne serait plus qu’une dimension du Poème parmi d’autres.“ Die Seinslehre lässt sich nicht mit Begriffen wie Subjektivismus oder Idealismus führen, weil Parmenides’ Denken nicht eine Cartesische Polarität zwischen meiner
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einer kugelförmigen Sache namens Seiendes, sondern um den Kuros, dessen geistige Eigenschaften im Zustand der Erkenntnis diesen Seinsmerkmalen entsprechen müssen. Weil nun die anfangs genannte Maxime, nach der Gleiches durch Gleiches erkannt wird, die Interpretation begründet, dass die Erkenntnis des Seienden (als epistemischer Zustand) und das Seiende (als dessen Objekt) konvergieren, folgt, dass der Kuros im Zustand des Erkennens, den Seinsmerkmalen entsprechend, κατὰ τὸν λόγον unbeweglich, unerschütterlich, unveränderlich und ebenmäßig in sich gesammelt ist.681 Dabei entspricht die Vorstellung einer Kugel als Bild der perfektesten aller Formen, der Idee, dass die Erkenntnis des Seienden die reinste Form des Denkens ist. Die räumliche Metapher steht für die Darstellung eines anders nicht Sagbaren. Es ist somit nicht der Fall, dass das Seiende sich räumlich innerhalb der Grenzen einer Sphäre spannt, sondern dass die höchste Denkfähigkeit des Kuros, im Moment der Erkenntnis des Seienden, ganz in sich geschlossen ist: rundherum mit der Wahrheit der Göttin übereinstimmend.682 Erfahrung der Dinge und deren Existenz, noch die Kantische Aufteilung der Welt in Phänomene und Numene enthält. Vgl. hierzu die Diskussion in Mason (1990) 149-66. Auch kann eine realistische Interpretation nicht mit demjenigen übereinstimmen, was Parmenides seinen Hörern vermitteln wollte, weil erstere und letztere Denkweise erst nach Parmenides thematisiert wurden. Vgl. Cilento (1964) 198: „Intorno al frammento si è svolto (…) un vero e proprio torneo ermeneutico che ha assunto l’aspetto della pugna ineguale tra i sostenitori della interpretazione realistica e idealistica dell’identità parmenidea del pensiero e dell’essere; non sono mancati neppure coloro che hanno visto in Parmenide una specie di Fichte e hanno trovato nella sua dottrina la prima affermazione del concetto della definizione trascendentale con annessa dipendenza dell’essere dal pensiero.“ So auch Calogero (1932) 9. 681 Vgl. Bicknell (1964) 112: „(…) he appears to concentrate on his One’s πεῖρας rather as a mark of its perfection than as its physical boundary.“ Gigon (1968) 252-6, geht auf die im Lehrgedicht geschilderte Darstellung ein, wonach das Seiende vordergründig als etwas Körperliches aufgefasst werden kann. Ähnlich der physikalischen Anschauung des Empedokles (31 B 109), nach der Erkennen zusammentreten bedeutet, nämlich „gegenseitige Berührung von Gleichem mit Gleichem“ (253), ist wie das Denken bei Parmenides tatsächlich identisch mit den Seinseigenschaften. 682 Dazu Long (1996) 145: „true thinking, like a sphere, admits of no internal boundaries.“ Und fügt an: „(…) the sphericity of Being is no impediment to its including mind.“ Anders gesagt, ob metaphorisch oder wortwörtlich, ob physikalisch oder geometrisch interpretiert, es geht um die Idee, dass das Seiende überall und rundherum existiert.
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Es stellt sich nun die Frage, ob das Seiende alle Erscheinungen in sich einschließt oder ob es unabhängig vom Menschen, außerhalb aller Wirklichkeit existiert. Dieses Thema ist strittig und lässt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht hinreichend erörtern. Die Diskussion hängt mit dem Verständnis des parmenideischen Weltbildes zusammen. Hinsichtlich meiner oben dargelegten Interpretation der Seinsmerkmale vom räumlichen Standpunkt aus, wie der im Folgenden zu besprechenden Eigenschaften des Seienden aus zeitlicher Perspektive, ist es überzeugender zu interpretieren, dass Parmenides eine einzige, allumfassende Wirklichkeit annahm.683 Denn, im Unterschied zu den platonischen Ideen, die als vom Menschen abgesonderte Entitäten existieren, umschließt und durchdringt das Sein alle Wirklichkeit, und es gibt nirgendwo einen Raum, in dem Seiendes nicht existiert. Es bleibt zu zeigen, wie die Seinsmerkmale von einem zeitlichen Blickwinkel aus, den Zustand der Erkenntnis des Kuros beschreiben.
8.3.2 Das Seiende aus zeitlicher Perspektive Eine Diskussion der zeitlichen Dimension des Seienden wird nicht zuletzt deshalb subtiler, weil eine zeitlich bestimmte Ganzheit schwieriger vorstellbar ist. Die Göttin erklärt, dass das Seiende nie war und nie wird sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist.684 Diese Feststellung wird durch eine rhetorische Frage nach dem Anfang des Seienden gesichert: „Denn was für einen Ursprung willst du für dieses ausfindig machen? Wie, woher sein heranwachsen?“685 Die Göttin bestätigt die Anfangs- und Endlosigkeit des Seienden mit der Feststellung, dass es ist, ohne Entstehen und ohne Vergehen, unerschüttert und ohne Ende.686 683 Vgl. in diesem Sinne Brisson (1999) 22: „Parménide prouve que cette réalité unique existe, c’est à dire que l’univers est un (…).“ Vgl. Anm. 614. 684 Vgl. B 8.5-6: Simp. in Ph. 143.13 und 162.18 (Diels): οὐδέ ποτ’ ἦν οὐδ’ ἔσται, ἐπεὶ νῦν ἔστιν, ὁμοῦ πᾶν, ἕν, συνεχές: „und es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes (Kontinuierliches)“ [DK I 235]. 685 Vgl. B 8.6-7: Simp. in Cael. 137.3-6 (Heiberg): (…) τίνα γὰρ γένναν διζήσεαι αὐτοῦ€; / πῇ, πόθεν αὐξηθέν (…) [DK I 235]. 686 Vgl. B 8.21: Simp. in Cael. 559.17 (Heiberg): τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται καὶ ἄπυστος ὄλεθρος: „So ist Enstehen verlöscht und verschollen Vergehen“ [DK€I€237]. Vgl. zudem: B 8.3: D.L. IX 22: ἀγένητον ἐὸν καὶ ἀνώλεθρόν: „weil ungeboren ist es auch unvergänglich“ [DK I 235].
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Meint Parmenides hiermit, dass das Seiende zeitlos ewig ist, zeitlos gegenwärtig oder außerhalb jeglichen Konzeptes von Zeit liegt? Die erste Interpretationsweise ist schon bei Platon zu lesen, der Parmenides zuschreibt, die Vorstellung zeitloser Ewigkeit entdeckt zu haben.687 Doch zeitlos kann das Seiende schon deshalb nicht sein, weil in B 8.5 ein zeitliches Adverb, νῦν, das Seiende in einen zeitlichen Bezugsrahmen stellt.688 Hieraus folgt, dass das Seiende nicht außerhalb jeglichen Zeitkonzeptes liegt, sondern, dass Parmenides einem besonderen Zeitverständis Ausdruck verleiht.689 Auch die Vorstellung von Ewigkeit ist vielschichtig. In der griechischen Götterwelt waren die Götter zwar unsterblich, doch nicht ungeboren. Ewig freilich meint, was weder ein Ende noch einen Anfang hat. Schon aus diesem Grund sprengt Parmenides’ zeitliche Bestimmung des Seienden die traditionellen religiösen Konzepte:690 Seiner Beschreibung nach, ist das Seiende anfangs- und endlos 687
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B 8.4: Simp. in Ph. 78.9: (…) ἀτέλεστον: „(es ist) ohne Ziel“ [DK I 235]. Die Übersetzungen von O’Brien/Frère (1987) 34, heben den zeitlichen Aspekt besser hervor: „unendable“; „sans terme“. Vgl. Pl. Ti. 37e1-38a8, worin Timaeus „war“ und „wird sein“ als Formen der Zeit beschreibt, die nicht dem ewigen Sein zugehören. In dieser Passage steht ein existentielles „ist“ als Ausdruck für das Zeitlose. Guthrie (1962) 26-9, postuliert, Parmenides habe die Wirklichkeit ähnlich der ewigen Zeitlosigkeit der platonischen Formen konzipiert. In der heutigen Diskussion vertreten u.€a. Tarán (1979) 43-50; Owen (1966) 317f.; Reale (1970) 56-9, diese Theorie. Kneale (1961) 90-2, bestimmt, das Seiende sei als mathematische Ewigkeit zu lesen, weil damit die Verbindung des Parmenides mit der pythagoreischen Tradition bewiesen sei, insofern im pythagoreischen Denken erstmals die zeitlose Ewigkeit mathematischer Axiome postuliert wurde. Vgl. Porphyr. vit. Pyth. 19; sowie: Simp. in Ph. S. 732 (Diels). In B 8.5: Procl. in Prm. 665.26 (Cousin): ἐπεὶ νῦν στιν: „weil es im Jetzt (…) vorhanden ist“ [DK I 235]. Nach Hoy (1994) 573, steht Parmenides mit der Feststellung der kontradiktorischen Struktur der Zeit am Anfang einer philosophischen Tradition, zu der u.€a. Plato, Kant und McTaggart zählen. Im Unterschied zum mythologischen Denken konzipierten die frühen Philosophen die Vorstellung einer Ewigkeit, die ohne Anfang und ohne Ende war. So schrieb Heraklit in 22 B 30: Clem. Al. Strom. V 105: „Diese Weltordnung (…) war immerdar und ist und wird sein (ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται) (…)“ [DK I 157-8]. Melissos berichtet in 30 B 2: Simp. in Ph. 29.22: (…) ἔστι τε καὶ ἀεὶ ἦν καὶ ἀεὶ ἔσται (…): „Weil es nun also nicht entstanden ist, so ist es und war immerdar und wird immerdar sein und hat keinen Anfang und auch kein Ende, sondern ist unendlich“ [DK I 268-9]. Vgl. auch 30 B 1: Simpl. in Ph. 162.24: „Immerdar war, was da war, und immerdar wird es sein. Denn wäre es entstanden, so müsste
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ewig; fürwahr zeitloses „ist“. Die zweite Lesart, nach der das eleatische Seiende zeitlos gegenwärtig ist, beinhaltet einen komplexen Gedanken. Als zeitlos lückenloser Zusammenhang, ist es ohne Entstehen in der Vergangenheit und ohne Vergehen in der Zukunft, weil es „jetzt ist“.691 Doch ist Gegenwart bloß ein besonderes Moment innerhalb des zeitlichen Rasters. Meint Parmenides’ Negierung jeglicher Veränderung in der Zeit eine Absage tout court an zeitliche Konzepte? Von erkenntnistheoretischer Perspektive stellt sich die Frage nach den Vorstellungen, die hinter der Schilderung der Seinsmerkmale aus zeitlicher Perspektive stehen, als Erkundung nach dem Zeitbewusstsein desjenigen, notwendigerweise vor dem Entstehen nichts sein. Wenn nun nichts war, so könnte unter keinen Umständen etwas aus nichts entstehen“ [DK I 368]. 691 Ich fasse hier die Argumente von O’ Brien (19871) 138-43 und 149, zusammen. Mit O’ Brien (19871) 35, wird das Präsens zu einem ‹logischen Präsens› und jegliches Entstehen in der Zukunft wie in der Vergangenheit ist unmöglich, weil vor jedem Enstehen das Nicht-sein des Entstehenden sein müsste. Und Nichtseiendes ist undenkbar. Vgl. B 8.7-9: Simp. in Cael. 137.5-6 (Heiberg): (…) οὔτ’ ἐκ μὴ ἐόντος ἐάσω / φάσθαι σ’ οὐδὲ νοεῖν οὐ γὰρ φατὸν οὐδὲ νοητόν / ἔστιν ὅπως οὐκ ἔστι. (...): „Auch nicht sein Herauswachsen aus dem Nichtseienden werde ich dir gestatten auszusprechen und zu denken.“ [DK I 235]. Klarer übersetzt bei O’Brien (19871) 35: „I shall not let you say or think that ‹it comes› out of not-being; for it cannot be said, nor thought, that ‘is not’.“ Vgl. B 8.19-20: Simp. in Ph.: πῶς δ’ ἂν ἔπειτα πέλοι τὸ ἐόν€; πῶς δ’ ἄν κε γένοιτο€; / εἰ γὰρ ἔγεντ’, οὐκ ἔστ’, οὐδ’ εἴ ποτε μέλλει ἔσεσθαι: „How would what is, be later on? And how would it have come into being? For if it came into being, it is not, and again ‹it is not› if it is going to be at some time ‹in the future›.“ [O’ Brien (19871) 37]. DK zitieren eine moderne Emendation für B 8.19: πῶς δ’ ἂν ἔπειτ’ ἀπόλοιτο ἐόν (...): „Wie könnte aber dann Seiendes zugrunde gehen, wie könnte es entstehen? Denn entstand es, so ist es nicht und ebensowenig, wenn es erst in Zukunft sein sollte“ [DK I 236]. Vgl. nicht zuletzt O’ Brien (19871) 161: „Au terme de cette preuve, l’être s’est révélé inengendré et impérissable (cfr. v. 21); c’est en ce sens – et en ce sens seulement – qu’il est «éternel». Auch wurde – gemäß O’Brien – das Seiende nie geboren, weil es keinen tierischen oder menschlichen Körper hat und also auch nicht sterben kann. Es könne auch von keiner äußeren Kraft zerstört werden, insofern neben dem Seienden nichts anderes existieren kann. Vgl. B 8.12-13: οὐδέ ποτ’ ἐκ {τοῦ ἐ} όντος ἐφήσει πίστιος ἰσχύς / γίγνεσθαί τι παρ’ αὐτό (…): „Nor will the force of conviction permit anything ever to be born out of being ‹so as to exist› alongside of it“ [Übers. O’ Brien (19871) 36]. Wiederum bieten DK eine moderne Emendation von B 8.12: οὐδέ ποτ’ ἐκ μὴ ἐόντος ἐφήσει πίστιος ἰσχύς: „Auch wird ja die Kraft der Überzeugung niemals einräumen, (aus Nichtseiendem könnte irgend etwas anderes als eben dieses hervorgehen)“ [DK I 236].
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der im Zustand der Seinserkenntnis ist. Aus zeitlicher Perspektive bedeutet die Charakterisierung des Seienden eine weitere Beschreibung des Erkenntniszustandes des Kuros. Dieserart verstanden befindet er sich nicht mehr auf dem Suchweg und übt nicht mehr Seinserkenntnis ein, sondern ist im Jetzt der Erkenntnis angelangt. Die oben beschriebenen Kompetenzstufen sind prozessual, die Lernetappen auf dem Suchweg zur Erkenntnis des Seienden geschehen im Verlauf zur Erkenntnis. Hingegen machen die Seinsmerkmale aus der zeitlichen Perspektive den Moment der Erkenntnis deutlich. Wenn der Kuros das Seiende der Göttin erkennt, dann ist er uneingeschränkt geistig präsent, unverändert, reglos gesammelt. Sein Geisteszustand ist – im νῦν getragen€– unerschütterlich. Die zeitlichen Seinsmerkmale stehen für das Befinden vollkommener Aufmerksamkeit oder Konzentration, in der es nur das Bewusstsein von ‹ist› gibt; kein ‘vorher’ und kein ‘nachher’: Nur Seiendes. Diese Lesart ist insofern durch 28 A 24 unterstützt, als die sinnlich begründete Wirklichkeitswahrnehmung in Veränderlichkeit begreift und diskursiv zwischen Vergangenem und Zukünftigem Verbindungen herstellt. Indes erkennt der Kuros mit λόγος im Zustand des „Jetzt“ der Seinserkenntnis eine vollkommen unveränderliche, homogene Wirklichkeit.
8.4 Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung ergänzt traditionelle Parmenidesdeutungen, die das Seiende als einen ontologisch bestimmbaren Wert diskutieren – parallel etwa zur Ideenwelt Platons. Ausgehend von der Bestimmung, dass Denken und Sein übereinstimmen und, dass der Mensch laut Parmenides mit λόγος das Seiende erkennen kann, wurde in diesem Kapitel die Wahrheit der Göttin als Wahrheit für den Menschen untersucht und die Seinsmerkmale vom Blickpunkt des Menschen aus besprochen. Die Charakteristika des Seienden stehen als σήματα da, gleichsam als Wegzeichen und als Orientierungshilfe für den Kuros. So gelesen, erlauben sie auch Rückschlüsse auf die geistige Haltung des Kuros, der Seiendes erkennt. Er kann daraus ableiten, wie sein Denken sein muss, damit er das Seiende erkenne. Als Instruktionen gelesen, stehen die zeit- und raumrelevanten Seinsattribute im übertragenen Sinne für einen vollendeten Erkenntniszustand. Er sieht die Wahrheit der Göttin wie dicht, wie kompakt, umgrenzt, anfangs- und endlos: Dann erkennt er eine vollkommen unveränderliche,
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homogene Wirklichkeit, weil er mit seinem λόγος in einem Zustand absoluter Unbeweglichkeit, in sich geschlossen und unerschütterlich in sich gesammelt, im Jetzt ist. So weisen die zeitliche wie die räumliche Charakterisierung des Seienden auf die Erfahrung eines nicht anders beschreibbaren Momentes absolut klaren Erkennens mit λόγος. Ferner erlaubt die Konvergenztheorie, die Seinsmerkmale nicht nur beschreibend, sondern auch Normen setzend auf den erforderlichen Geisteszustand des Erkennenden hin zu lesen. Die anfangs dieser Arbeit genannte zweite Arbeitshypothese, die nachfragte, inwieweit zwischen den Seinsmerkmalen und dem Zustand der Seinserkenntnis eine Konvergenz ermittelbar ist und ob die ontologische These des Parmenides auch Aussagen über den Erkenntniszustand des Kuros liefert, wurde hiermit verifiziert. Zudem kann festgehalten werden, dass die geistige Verfassung des Kuros im Moment der Erkenntnis notwendigerweise mit den raum-zeitlich definierten Seinsmerkmalen übereinstimmt, wodurch deutlich wird, dass letztere Bedingungen zur Erkenntnis des Seienden umschreiben.
9
Zusammenfassung und Bewertung
9.1 Der Kuros denkt selbständig
Z
u Beginn dieses Kapitels soll erörtert werden, ob das philosophische Denken des Parmenides therapeutisch wirksam ist und ob es etwas zum Thema einer Philosophie als Lebenskunst beitragen kann. An diese Überlegungen schließt sich ein Vergleich zwischen Heraklits Weisheitssuche und Parmenides’ Weg zur Seinserkenntnis. Am Ende des Kapitels sollen dann die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst werden. Einige Textstellen von Parmenides’ Lehrgedicht könnten zur Idee verleiten, seine Lehre basiere auf religiösem Gedankengehalt oder reproduziere aus der Tradition übernommene religiöse Vorstellungsbilder.692 Doch ist, gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretationen, eine Lesart, die das Lehrgedicht als Offenbarung versteht, nicht haltbar.693 692 Vgl. hierzu Detienne (1996) 131: „(…) Parmenides’ Alétheia furthermore operates surrounded by a configuration of powers that completely resembles that in the most ancient religious thought. (…) Through its religious context and configuration, Parmenides’ Alétheia fits in with a tradition extending back beyond Epimenides and the sects as far as Hesiod and the religious thought, for which he provides the most authentic testimony.“ Vgl. auch Plotin Enn. V.1.8,15-16, wonach Parmenides Seiendes und Geist zusammenfallen ließ: (…) εἰς ταὐτὸ συνῆχεν ὂν καὶ νοῦν, καὶ τὸ ὂν οὐκ ἐν τοῖς αἰσθητοῖς ἐτίθετο. Untersteiner (1958) CIII, kritisiert mit Calogero (1932) 146, Plotins Verständnis von Parmenides’ Seinslehre und die dadurch begründete doxographische Tradition.„da cui è derivato «il mito del misticismo ontologico di Parmenide»“. 693 Im Sinn einer Offenbarung schreibt Bowra (1937) 98, über Parmenides’ „mystical experience“; Coxon (1976) 17, über Parmenides’ „state of philosophical illumination“; Kenig Curd (1991) 250, über Parmenides’ Erkenntnis als „something beyond the scope of usual experience“; und Schadewaldt (1978) 317, deutet die Wahrheit des Parmenides „stark von (…) Ekstatik durchdrungen“. Gegen die Offenbarungstheorie schreibt Fränkel (1960) 160: „Gemeint ist etwas, das auf den Menschen als Kraft wirkt, und darum göttlich ist, und Göttin heißt: die Kraft der Erkenntnis (…).“ Der Göttin kommt allemal die Rolle zu, Parmenides mit Argumenten zu überzeugen. Vgl. Engelhard (1996) 25-7: „Argumentation aber ist der göttlichen Offenbarungstheorie fremd. (…) Wenn Menschen (…) überprüfen können, ob das Gesagte wahr ist oder nicht, dann bedarf es keiner Offenbarung mehr (…). Menschliche Erkenntniskräfte reichen aus (…).“ Zwischen den Interpretationsschulen liegt: Robinson (1979) 59: „It is (..) very possibly not something sensed by Parmenides himself; but with inspired groupings does serious philosophical progress begin.“
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Die Idee eines Erleuchtungserlebnisses als Voraussetzung für das philosophische Denken des Eleaten ist aus folgenden Gründen unbefriedigend: Zum ersten bürgt die Tatsache, dass Parmenides lernend zur Erkenntnis der Wahrheit der Göttin gelangte, dafür, dass er eine theoretisch gesicherte Erkenntnissuche beschreibt. Zum zweiten erfordern die Lernaufträge, dass der Kuros kontinuierlich, eigenständig und rational Fähigkeiten einübt, was eine aktive Rolle des Kuros in der Erkenntnissuche sichert. Hingegen kommt Offenbarungswissen dem Empfänger mühelos zu. Drittens widerspricht ein Grundgedanke des Lehrgedichtes, dass nämlich der Kuros die Lehre der Göttin prüfen soll, jeglichem Offenbarungserlebnis, wäre doch eine echte Offenbarung nicht anzuzweifeln. Ein viertes Argument gegen die Offenbarungsthese ist damit gegeben, dass die Wegmetaphorik sowie die Anleitungen der Göttin die Erkenntnissuche als Prozess und als Lebensgang darstellen, wohingegen eine Offenbarung punktuell ist.694 Zudem bezeugen die Imperative im Lehrgedicht, die wie ein Geländer den Weg der Forschung säumen und fest umrissen die Situation einer Lehrer-Schüler Verbindung abbilden, eine Beziehung, in der die Göttin keine Visionen vermittelt, sondern den Kuros anleitet, selbst zu forschen. Es bestände wahrhaftig kein Grund für die Göttin, Parmenides differenzierte Erklärungen über den rechten und falschen Erkenntnisweg zu liefern, wenn die Wahrheit offenbarungsgemäß vorläge. Letztlich wäre keine vernünftige Kritik der Lehre der Göttin seitens des Kuros nötig, wenn er ihr mühelos glauben könnte. Wie im ersten Kapitel erörtert wurde, kann das Lehrgedicht, vom Prooimion aus gelesen, auch nicht im Sinne einer Form von Schamanismus interpretiert werden, denn es ist unvorstellbar, dass der philosophische Diskurs des Parmenides in seiner ganzen Schärfe und Klarheit auf einer im Zwischenbereich der Menschen- und Geisterwelt erlangten, schamanischen Reise gründet.695 Schließlich hat Parmenides als Philosoph jahrhundertelang Denker in der westlichen Philosophiegeschichte fasziniert und zum Weiterdenken angeregt; nicht als Wunderwirker oder Prophet.696 694 Dagegen schreibt Vlastos (1995) 162: „(the goal of the philosophy of Parmenides) is not the gradual and cumulative correction of empirical knowledge, but deliverance from it through the instantaneous and absolute grip of «immovable» truth.“ 695 Burkert (1962) 263, trennt das Prooimion vom Hauptteil des Parmenidestextes: „Auf anderer Ebene (ist das Prooimion) (…) äquivalent einer Schamanenreise ins Jenseits (…) und insofern gehört das Prooimion in den gleichen Zusammenhang wie der Pythagoreismus.“ Vgl. Ders. (1962a) 36f. 696 Vgl. Detienne (1996) 130: „Between Epimenides of Crete and Parmenides of Elea, between the ecstatic magus and the philosopher of Being, the gap seems
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Was die eingangs dieser Arbeit erwähnte doxographische Tradition anbelangt, nach der Parmenides’ Lehre auf pythagoreischem Gedankengut basiert, hat die vorliegende Arbeit deutlich gemacht, dass Parmenides eine eigenständige Erkenntnislehre formulierte. Es ist folglich wenig wahrscheinlich, dass der Eleate pythagoreische Elemente in seine Lehre aufgenommen hat; und so weist nichts darauf hin, dass Parmenides’ Schilderung des Aufstiegsweges zum philosophischen Denken einen pythagoreischen Grundgedanken reflektiert.697 Deshalb ist es durchaus überzeugend anzunehmen, dass Parmenides seine Lehre selbständig konzipierte, was wie gesehen dadurch bestärkt ist, dass der Eleate verschiedentlich mit einer neu geschaffenen Terminologie operiert und, dass er seine Thesen mit göttlicher Autorität sichert.698 Das Lehrgedicht enthält eine ontologische Abhandlung. Die Kapitel dieser Arbeit haben gezeigt, dass es über die ontologische These hinaus eine Lehranleitung für den Kuros gibt, wodurch auch die besondere Funktion des Philosophen in der damaligen Gesellschaft sichtbar wird; eines eigenständigen Denkers, der nicht nur forscht, sondern zugleich eine besondere Lebensart pflegt und sein Wissen an mögliche Schüler weitergibt.
9.1.1 Therapeutisches bei Parmenides Die Didaktik des Parmenides hat bestimmte lebenspraktische Implikationen zur Folge. Es besteht die Frage, inwieweit die Lehre des Eleaten, ähnlich wie die Philosophie der hellenistischen Zeit, als Lebensschule und folglich therapeutisch angelegt ist. Obwohl der überlieferte Text des Parmenides knapp
unbridgeable. (…) The two men’s vocabulary, problems and level of thought were altogether different.“ 697 Dazu Bicknell (1966) 10-11: „the Eleatics were still regarded as Pythagoreans at the time of their trip to Athens“. Gemäß Burkert (1962) 259-62, sind pythagoreische Einflüsse am ehesten bei den Eleaten zu vermuten. Doch hält der Autor fest, bei Parmenides finde sich nichts „von Zahl und Mathematik, von Grenze und Unbegrenztem im Bereich der Doxa, nichts auch von Harmonie, die über den Gegensätzen steht (…). Damit ist der Doxa-Teil des Lehrgedichtes eben doch eine eigene Leistung des Parmenides.“ 698 Vgl. die Feststellung von Owen (1960) 101: „Parmenides (…) wrote as a philosophical pioneer of the first water, and any attempt to put him back into the tradition that he aimed to demolish is a surrender to the diadoche-writers, a failure to take him at his word and ‘judge by reasoning that much-contested proof ’.“
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ist und das erwähnte Thema nicht explizit erwähnt wird, kann festgehalten werden, dass ein gewisses therapeutischen Bestreben im Lehrgedicht nicht auszuschließen ist.699 Doch kann Parmenides’ Schrift kaum „therapeutisch“ im alten Sinn des Wortes, nämlich „pflegend“ oder „hütend“,700 genannt werden. Zudem berichtet keine Zeile im Lehrgedicht über Therapeutisches im modernen Sinn des Wortes, nämlich über Psychotherapeutisches.701 Weil der Kuros nicht Heilung oder Sinnfindung, sondern Erkenntnis sucht, ist es wenig sinnvoll, Therapeutisches in Parmenides’ Schrift hineinzulesen. Allerdings stellt die Tatsache, dass Parmenides’ Schrift zum Teil in imperativischer Form verfasst ist, eine Lehrer-Schüler-Situation dar. Im Rahmen dieser besonderen Beziehung702 enthält Parmenides’ Gedicht dann therapeu699 Dieses therapeutische Bestreben im Lehrgedicht ist nicht mit den Zielsetzungen der hellenistischen Schulen gleichzusetzen, und Parmenides’ Lehre kann nicht im Sinne von I. und P. Hadot ‘therapeutisch’ genannt werden. 700 Das Wort θεράπων dient in der Antike zur Bezeichnung eines Dieners (vgl. Pherekyd. B 2); als Verb steht θεραπεύειν für das Pflegen von Gewächsen, der Nachkommenschaft oder der Götter. Vgl. Hippokr. 22 C 1 zur Betreuung der Kinder [DK I 187.22]; Hippon A 19, zur Pflege von Pflanzen [DK I 387.28f.]. Das Wort wird auch im Zusammenhang mit dem Rhetoriker Antiphon genannt, über den der Berichtet existiert, dass er mit Worten heilte: θεραπεύειν διὰ λόγων [Antiph. A 5: DK II 337.2]. 701 Damit meine ich ‘therapeutisch’ in Bezug auf psychische Emotionen. Hiermit knüpfe ich an meine Überlegungen (1998) 5-7, zur Bestimmung einer modernen Version von ‘Seelenleitung’ oder Psychotherapie. Diese hat insofern eine utilitaristische Funktion, als sie einen Menschen wieder lebenstüchtig machen will und sie wirkt teleologisch, indem sie die Potentialität eines Menschen aktualisieren hilft, damit er seine Wesensart bestmöglich verwirkliche. Psychotherapie betrifft das ‘Heilen’ und ‘Gesunden’ hauptsächlich im psychisch-emotionalen Bereich des Menschen und seine Integration im sozialen Umfeld. Parmenides’ Denken auf dem Hintergrund modernen psychoanalytischen Gedankengutes zu prüfen scheint abwegig; doch es hilft einer grundsätzlichen Präzisierung und einer Antwort auf I. Hadot, die zum Schluss ihres Artikels meinte (1986) 455: „In conclusion I would be so bold as to ask, Has modern spiritual guidance or contemporary psychology, which is so proud of its scientific researches, brought the slightest advance over the millennia-old practice of spiritual guidance?“ Hierzu sei erwidert, dass das heutige Menschenbild nicht demjenigen des Parmenides entspricht und demzufolge die Zielvorstellungen einer Therapie heute anderen Idealen verpflichtet sind. 702 So wird der Kuros zur Göttin geführt und durch sie angeleitet. Die Thematik der Lehrer-Schüler Beziehung findet sich in Empedokles’ Belehrung des Pausanias wieder. Vgl. 31 B 1: Diog. VIII 60: «Pausanias, du aber höre (σὺ δὲ κλῦθι ... υἱέ)»
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tische Ansätze, wenn der Kuros aufgefordert wird, mit seinem Logos den Logos der Göttin zu prüfen.703 Denn hiermit kündigt der Eleate an, dass der Mensch seine Erkenntnisfähigkeit über den Alltagszustand hinaus entwickeln kann und, dass er die Grenze zwischen menschlicher Unwissenheit und göttlicher Allwissenheit überwinden und göttliches Wissen erlangen kann. Derart betrachtet, kann das Bildungsgeschehen im Lehrgedicht zu Recht therapeutisch angelegt genannt werden, da es therapeutisch wirksam ist und dem Menschen eine neue Perspektive öffnet, von der ausgehend, der Kuros eine höhere Wahrheit erkennen kann. Therapeutisches geschieht im Suchweg als Lebensprozess und in der Transformation des Menschen der ihn geht, allerdings gleichsam als Nebeneffekt und nicht in expliziter Zielsetzung. Es bleibt zu fragen, ob dieserart Erkenntnissuche zudem zu einem geglückten Leben beiträgt.
9.1.2 Einüben von Seinserkenntnis als Lebenskunst In der heutigen Diskussion wird verschiedentlich gefragt, ob eine bestimmte philosophische Lehre die Bezeichnung „Lebenskunst“ verdiene.704 Hier soll ermittelt werden, inwieweit Parmenides’ Lehre eine „Philosophie der Lebenskunst“ darstellt. Die Frage nach einem geglückten Leben wird im überlieferten Text nicht diskutiert. Dennoch ist die Thematik gerechtfertigt, weil sich beim Lesen des Lehrgedichtes unweigerlich die Frage erhebt, ob Seinserkenntnis gemäß Parmenides ein weiteres Ziel verfolge, ob es zum Beispiel den Menschen glücklich machen könne.705 Parmenides thematisiert nicht „Lebenskunst“: Explizit zielt seine Philosophie auf Erkenntnis. Doch ist anzunehmen, dass die eleatische Erkenntnissuche auch zu einem geglückten Leben führen kann. [DK I 308]; vgl. auch 31 B 3.9-13: „Doch nun, wohlan, betrachte mit jedem Sinneswerkzeug, auf welchem Wege jedes Einzelne klar liegt (…) erkenne auf dem Wege, auf dem jedes Einzelne klar liegt“ [DK I 310-11]. 703 Nach B 7.5 [DK I 235]. 704 Diskutiert u.€a. in Dihle (1990), Marten (1993); Böhme (1994); Domanski (1996); Horn (1999). 705 Etwa im Sinne von der Überlegung in Pl. Grg. 507c9ff.: „Ist dies aber wahr, so muss, wie es scheint, wer glückselig (εὐδαίμονα) sein will die Besonnenheit (σωφροσύνην), suchen und üben (…). Dies dünkt mich das Ziel zu sein, auf welches man hinsehen muss bei (der) Führung des Lebens (…)“ [Übers. Schleiermacher].
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Im Lehrgedicht gibt Parmenides weder ethische noch diätetische noch irgendwelche andere lebenspraktische Anleitungen. Möglicherweise hängt ein gelungenes Leben gemäß Parmenides damit zusammen, in Abgrenzung zum Gewohnheitstreiben der Sterblichen,706 klaren Geistes zu sein. Derjenige, der die Anweisungen der Göttin nachlebt, bleibt seinen eigenen Wertmaßstäben verpflichtet und findet höchstes Glück darin, zur Seinserkenntnis zu gelangen. Allerdings zielt die eleatische Lehre nicht einzig auf Seinserkenntnis. Letztlich soll der Kuros auch nach der bestmöglichen Wissensmeisterung im Bereich der weltlichen Dinge streben.707 Im Folgenden sollen Parmenides’ Anleitungen zur Erkenntnissuche mit Heraklits Weisheitssuche verglichen werden.
9.2 Parmenides und Heraklit im Vergleich Gemeinsam ist Heraklit im Osten Griechenlands und Parmenides im Westen, dass sie in ihren Schriften einen Erkenntnisweg aufzeigen. In diesem Abschnitt werden die Ansatzpunkte ihrer Erkenntnissuche, das Objekt ihrer Forschung, und ihre Bestimmung von „Wahrheit“ kurz nebeneinandergestellt.708 Heraklits Forschungsweg beginnt gemäß 22 B 18 mit einem radikalen Abstraktionsprozess und mit der Suche nach der größtmöglichen Unvoreingenommenheit. Mit der Aussage: „Wer Unerwartbares nicht erwartet, (…) kann es nicht finden“709 bestimmt Heraklit, dass ein Erkenntnissuchender zuerst fähig sein muss, etwas zu erwarten, das im Grunde genommen gar nicht erwartbar ist, also eine paradoxe Haltung einzunehmen, die ihn aus dem Alltagsdenken löst. Parmenides beschreibt den Aufbruch zur Erkenntnissuche im Prooimion, worin sich der Kuros aus eigenem Entschluss und als bereits Wissender710 auf eine Wirklichkeit „abseits der Wege der Menschen“ einlässt.711 Der Aufbruch des Kuros geschieht entlang traditionellen Mustern und ist doch auffallend 706 707 708 709
Im Gegensatz zu B 6.5-9. Gemäß B 1.30; begründet in B 8.60-61. Diese Überlegungen gründen auf den Ergebnissen meiner Heraklitstudie (1996). Clem. Al. Strom. II 17.4: ἐὰν μὴ ἔλπηται, ἀνέλπιστον οὐκ ἐξευρήσει, ἀνεξεπεύνητον ἐὸν καὶ ἄπορον [DK I 155]: „Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht entdecken, da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt“ [Übers.: Mansfeld (1988) 253]. 710 Gemäß B 1.1. und B 1.3. 711 Nach B 1.27.
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dem Denken Heraklits ähnlich. Auch der Kuros gibt alles Vorgegebene auf und bricht zu einem völlig neuen Bereich auf. Damit beweisen die zwei Philosophen eine ähnliche Grundeinstellung. Gemeinsam gehen sie von einer radikalen Absage an die Welt des vermeintlich Gewussten aus, und ihre Erkenntnissuche betrifft eine noch nie formulierte, unbekannte Wahrheit.712 Auf seinem Suchweg bekämpft Heraklit tradierte Verhaltensweisen und Vorstellungen sowie die Forschungsresultate anderer Denker. Er kritisiert die Menschen in ihrem Alltagszustand, weil sie selbstzufrieden einer eigenen Wirklichkeitsvorstellung nach leben und die wahre Wirklichkeit, wie Heraklit sie zu erklären versucht, nicht verstehen.713 Der Epheser betont die Notwendigkeit absoluter Freiheit von allen übernommenen Wertvorstellungen, damit der Mensch frei und offen wird, Unerforschtes zu entdecken. In Parmenides’ Lehrgedicht beauftragt die Göttin den Kuros, alles zu lernen. Allerdings kritisiert auch der Eleate die Wertvorstellungen des einfachen Menschen: Der Kuros soll sich davon lossagen714, genauso wie er die 712 In diesem Sinne vgl. P. Hadot (1981) 9, der die Philosophie als „métamorphose totale de voir le monde et d’être en lui“ bezeichnet. 713 Heraklits Weg führt von den Alltagsvorstellungen zu einer Lebensdisziplin. Heraklit vergleicht den menschlichen Alltagszustand mit demjenigen der Tiere. Vgl. 22 B 4: Alb. Mag. de veget. VI 401 p. 545: „Bestände das Glück in körperlichen Genüssen, so müsste man die Ochsen glücklich nennen, wenn sie Erbsen zu fressen finden“ [DK I 151]. Vgl. auch 22 B 9: Arist. EN Κ 5. 176a7: „Esel würden Häckerlinge dem Golde vorziehen“ [DK I 152]. 22 B 29: Clem. Al., Strom., V 59.4: „(Denn) eins gibt es, was die Besten (οἱ ἄριστοι) allem anderen vorziehen: den ewigen Ruhm den vergänglichen Dingen; die Vielen (οἱ πολλοί) freilich liegen da, vollgefressen wie Vieh (κτήνεα)“ [DK I 157]. 22 B 2: S. E. VII 133: „Drum ist es Pflicht, dem Gemeinsamem (κοινῶι) zu folgen. Aber obschon der Sinn (λόγος) gemeinsam ist, leben die Vielen (οἱ πολλοί), als hätten sie eine eigenen Einsicht (ἰδίαν φρόνησιν)“ [DK I 151]. Sowie 22 B 17: Clem. Al. Strom. II 8: „(Denn) es verstehen solches viele nicht (οὐ γὰρ φρονέουσι), soviele auch darauf stoßen, noch erkennen sie es, wenn sie es lernen (οὐδὲ μαθόντες γινώσκουσιν); aber sie bilden es sich ein (δὲ δοκέουσι)“ [DK I 155]. 22 B 1: S. E., Adv. math. VII 132: „Diese Lehre hier, (λόγος), ihren Sinn, der Wirklichkeit hat, zu verstehen, werden immer die Menschen zu töricht sein, so ehe sie gehört, wie wenn sie es gehört haben. Denn geschieht auch alles nach diesem Sinn (λόγος) so sind sie doch wie Unerfahrene – trotz all ihrer Erfahrung mit derlei Worten und Werken, wie ich hier sie dringend auseinanderlege einzeln ihrem Wesen nach (φύσις) und erkläre, wie jedes sich verhält; den andern Menschen aber bleibt unbewusst, was sie im Wachen tun, wie was sie im Schlaf bewusstlos tun“ [DK I 150]. 714 28 B 6.4-9: Simpl. Phys. 117.8-13 (Diels): „(Denn das ist der erste Weg der Forschung von dem ich dich fernhalte. Aber dann auch von jenem,) auf dem da nichts
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Rede der Göttin kritisch untersuchen soll. Hiermit zeigt sich, dass beide Philosophen nach eigenständigem Denken streben, losgelöst von jeglicher Tradition. Die Suche nach der höchsten Wahrheit gilt als schwieriges Ziel; doch das Bestreben des Philosophen, wahre Erkenntnis zu erlangen, gilt grundsätzlich für beide Denker als erreichbar.715 Heraklits Forschungsobjekt liegt in der eigenen Tiefe. Mit dem Ausdruck: ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν, „Ich durchforschte mich selbst,“716 berichtet der Epheser von einer Rückwendung auf die eigene Psyche,717 in der er den unendlich tiefen λόγος ψυχής findet.718 Eine Reihe von Fragmenten zeigt auf, dass λόγος gemäß Heraklit zugleich das kosmische Gesetz bedeutet719 und λόγος der Psyche ist, und dass der Weise, dies feststellend, mit dem in sich erkannten Logos mit dem kosmischen Gesetz übereinstimmt. Damit bezeichnet der Epheser eine Wechselwirkung zwischen Mikro- und Makrokosmos.720 Das Ziel der Erkenntnissuche Heraklits
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wissende Sterbliche einherschwanken, Doppelköpfe. Denn Ratlosigkeit steuert in ihrer Brust den hin und herschwankenden Sinn (νόος). Sie aber treiben dahin stumm zugleich und blind, die verblödeten, ununterschiedene Haufen, denen das Sein und das Nichtsein für dasselbe gilt und nicht für dasselbe und für die es bei allem eine gegenstrebige Bahn gibt“ [DK I 233]. Gemäß Heraklit liegt die Wahrheit nicht eindeutig vor, sondern muss gesucht werden. Vgl. 22 B 123: Themist. Or. 5 s. 69: „Die Natur (φύσις) (das Wesen) liebt es sich zu verbergen“ [DK I 178]. 22 B 101: Plu. adv. Col. Kap. 20 1118 [DK I 173]. Vgl. Stemich Huber (1996) Kap. 4, S. 91ff. Vgl. 22 B 45: „Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Sinn (βαθύς λόγος) hat sie“ [DK€I€161]. Ausgeführt in P. Hadot (1989) 184. In diesem Sinne vgl. Voelke (1993); I. Hadot (1969). Mit der Aussage: 22 B 50: Hippol. Refut. IX 9: „Haben sie nicht mich, sondern den Sinn (λόγος) vernommen, so ist es weise, dem Sinn gemäß zu sagen (ὁμολογεῖν), alles sei Eins“ [DK I 161], bestimmt Heraklit im Wortspiel λόγος - ὁμολογεῖν, es sei weise, in Übereinstimmung mit dem Logos zu sprechen. Heraklit kann die These nachgesagt werden, dass der Mensch in sich selber (mikrokosmische Ebene) den selben Logos entdeckt, der als allumfassendes Gesetz alle Wirklichkeit regiert. Vgl. Vgl. 22 B 45: D.L. IX 7: „Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehen (…) so tiefen Sinn (βαθύς λόγον) hat sie“ [DK I 161]. Vgl. Cherniss (1983) 333f. Vgl. Diels (1909), X, Heraklit versuche, die Welt-Seele von der eigenen Seele her zu entdecken; Gladigow (1965) 109, der vom Übergang des Blickes in die eigene Tiefe zur Weite der kosmischen Ordnung spricht; Hussey (1983) 42, der eine Identität nicht von Strukturen sondern eine „identity of meaning“ zwischen
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entspricht der Erkenntnis dieser Korrelation und zugleich der Feststellung des sich ständig verändernden, aus sich selbst heraus erneuernden λόγος, der, im Menschen wie im Kosmos, das Gesetz aller Wirklichkeit ausmacht.721 Anders als Heraklit, lernt der Kuros sein Denk- und Kritikvermögen zu stärken und zugleich die Fähigkeit, seine vielbewegten Glieder und seine Aufmerksamkeit von einer widersprüchlichen Vielheit zur Einheit zu bringen. Parmenides’ Adäquationsthese autorisiert schließlich das Fazit, dass die höchste Wahrheit der Göttin dem Zustand des Kuros entspricht, wenn er mit Logos Wahrheit erkennt. In dieser Hinsicht steht das Seiende des Parmenides zugleich für eine persönliche und kosmische Wahrheit. Die größte Ähnlichkeit zwischen Heraklit und Parmenides scheint mir darin zu bestehen, dass beide Denker feststellen, dass die persönliche Wahrheit mit einer alles übergreifenden Wirklichkeit übereinstimmt. Zudem bestimmen Parmenides’ und Heraklits Fragmente Philosophie als Lebensweg und als systematische Erkenntnissuche.722 Und gemeinsam ist diesen Denkern auch ein gewisses aufklärerisches Element. Heraklit hatte bestimmt, dass es allen möglich ist, höchstes Wissen zu erlangen, denn: „Den Menschen ist allen zuteil geworden, sich selbst zu erkennen und gesund zu denken“723 und „gemeinsam ist allen das Denken.“724 Parmenides hingegen formuliert: „Denn je nachdem wie ein jeder besitzt die Mischung
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dem mikro- und dem makrokosmischen Bereich postuliert; Kahn (1979) 20, der die Identität der Strukturen zwischen der Welt der Psyche und der natürlichen Ordnung des Universums betont; Reinhard (1959) 193: „Durch die Erforschung des Mikrokosmos ermöglicht sich ein Vergleich mit dem Makrokosmos“. Vgl. zur Diskussion Senzasono (1990) 44f.; Stemich Huber (1996) 139; 166-8. Zum Beispiel ausgedrückt in 22 B 30: Clem. Al. Strom. V 105: Diese Weltordnung … war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen“ [DK I 157-8]. Vgl. ausführlicher Stemich Huber (1996) 8. Kap. Beide Philosophen distanzieren sich von kollektivem Denken und Handeln, um uneingeschränkt auf individuelle Art ihrem Suchweg nachzugehen. Dieses philosophisch begründete Lebensmuster ist auch bei späteren Philosophen zu finden. Vgl. Pl. Phd. 69b1-c3: τὸ δ’ ἀληθὲς τῷ ὄντι τῇ κάθαρσίς τις τῶν τοιούτων πάντων: „but truth is in fact a purification from all these things“ [Übers. H.N. Fowler, LoebAusg.1914]. Vgl. bedingungslos Plot. Enn. VI 9,7,17-18: (τὴν ψυχήν) πάντων τῶν ἔξω ἀφεμένην δεῖ (ἐπιστραφῆναι πρὸς τὸ εἲσω πάντη): „the soul must let go of all outward things“ [Übers. A.H. Armstrong, Loeb-Ausg. 1988]. 22 B 116: Stob. Flor., V 6: ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτούς καὶ σωφρονεῖν [DK I 176]. 22 B 113: Stob. Flor., 179: ξυνόν ἐστι πᾶσι τὸ φρονεῖν [DK I 176].
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der vielfach irrenden Glieder, so tritt (oder steht) der Geist den Menschen zur Seite. Denn dasselbe ist es, was denkt, die innere Beschaffenheit der Glieder bei den Menschen allen und jedem.“725 Grundsätzlich spricht Parmenides jedem Menschen potentiell zu, diese Wahrheit erkennen zu können. Dabei sprengt er die traditionelle Aufteilung zwischen göttlicher Allwissenheit und menschlicher Unwissenheit:726 Die Antithese zwischen dem vermeintlichen Wissen der Sterblichen und dem klaren Wissen des Kuros727 relativiert sich aus dieser Perspektive als ein didaktischer Hinweis. Anhand der Nebeneinanderstellung von Heraklit und Parmenides wurde aufgezeigt, dass vorsokratisches Denken mehr als ἱστορίη und kosmologisches Forschen ist, nämlich Wissenssuche und Erkenntnislehre zugleich. Philosophie als epistemische Anleitung und als Lebensschule entstand nicht erst nach Platon. Meine Untersuchungen zu Heraklit und die vorliegende Studie zu Parmenides belegen, dass schon vor Sokrates Denker die Modalitäten, nach denen wahre Erkenntnis möglich wird, ergründet und dargestellt haben.728 Mit Heraklits und Parmenides’ Fragmenten verfügen wir über zwei Modelle systematischer Erkenntnissuche im Rahmen des vorsokratischen Denkens, die bestätigen, dass nicht erst im Hellenismus Philosophieren als Lebensweg und als Erkenntnissuche praktiziert wurde. Im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst werden. 725 28 B 16 in DK I 244. 726 Hiermit überholt der Eleate Denkweisen, wie sie in der Aporie des Xenophanes formuliert wurden. Vgl. 21 B 34: S. E. M. VII 49.110: „Und das Genaue freilich erblickte kein Mensch (…) in Bezug auf die Götter und alle Dinge (…)“ [DK€I€137]. Vgl. dagegen Alkmaion von Kroton in 24 B 1: D.L. VIII 83: „(…) Über das Unsichtbare wie über das Irdische haben Gewissheit die Götter, uns aber als Menschen ist nur das Erschließen gestattet“ [DK I 214]. 727 Nämlich δόξα versus ἀλήθεια: Gelesen als Diagnose über den Alltagszustand im Vergleich zur potentiellen Fähigkeit des Menschen, die Wahrheit der Göttin zu erkennen. 728 Zwar wurden die Fragmente des Empedokles soweit ersichtlich keiner Untersuchung gemäß der hier vorgeschlagenen Arbeitshypothese unterzogen, doch ist mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Empedokles eine philosophische Lehre vertrat, die in erster Linie den Menschen betrifft und dass seine Kosmologie eine epistemische Verbindung mit dem Menschen autorisiert. Möglicherweise werden zukünftige Studien folgend auf Martin/Primavesi (1999), die neuentdeckten Empedoklesverse zusammen mit den bereits bekannten diskutieren und meine Vermutung bestätigen.
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9.3 Forschungsergebnisse In den vorhergehenden Kapiteln habe ich Parmenides’ Schrift nach pädagogischen Anleitungen zur Geistesbildung untersucht. Meiner Arbeitshypothese folgend, habe ich eine Reihe von Textstellen im Lehrgedicht hervorgehoben, die verschieden Lernschritte paradigmatisch veranschaulichen und die, in sinnvoller Beziehung zueinander, eine Methode sichtbar machen, nach der Parmenides die Seinserkenntnis lehrte. Meine Untersuchung hat zudem klar gemacht, dass die Seinslehre des Parmenides als Ergebnis einer langen Erkenntnissuche entstanden ist, die, graduell und prozesshaft, den Kuros vom nichtwissenden Zustand zur Erkenntnis brachte. Damit betrete ich Neuland:729 Tatsächlich ist Parmenides’ Denken in der Philosophieforschung bisher noch nicht aus der Perspektive einer philosophischen Schulung im Einzelnen dargelegt worden. Am weitesten kam Jaeger, der vor mehr als einem halben Jahrhundert in seiner Studie zur παιδεία in der griechischen Kultur Parmenides’ Leistung als Erzieher erwähnte.730 Doch erklärt Jaeger nicht, aufgrund welcher Textstellen und in welchem Sinn er Parmenides’ Schrift pädagogisch liest.
729 Die Idee, dass ein Philosoph durchaus einen besonderen Lebensweg, außerhalb der gesellschaftlich bestimmten Normalität gehen kann, hebt sich ein Jahrhundert später mit Platons Anekdoten über Sokrates auf dem Hintergrund seiner Dialoge ab. Gut bekannt ist Alkibiades’ Lob des Sokrates in Pl. Smp. 215-222b9; bes. 220c2-d5, in der Beschreibung des stehenden und sinnierenden Sokrates – von Morgengrauen zu Morgengrauen. Des weiteren bezeugen Aussagen aus spätantiken Quellen, dass im antiken griechischen Denken bewusst war, dass Philosophieren oftmals mit einer besonderen Lebensform verbunden war. Vgl. zur Diskussion Domanski (1996) 7-12. 730 Jaeger (engl. Ausg. 1939, Bd. I, 173f. Ungekürzte Ausgabe in einem Band 1973, 239-40): „Denn das ist das Schauspiel des nach Erkenntnis ringenden Menschen, der sich zum erstenmal von der sinnlichen Erscheinung der Wirklichkeit frei macht und im Geist das Organ für die Erfassung der Totalität und Einheit des Seienden entdeckt. Mochte diese Erkenntnis auch mit noch so viel Problematischem verwachsen sein, es ist durch die eine Grundkraft griechischer Weltgestaltung und Menschenbildung ans Licht getreten. Jede Zeile des Parmenides ist durchpulst vom Aufrüttelnden Erlebnis dieser Wendung des menschlichen Forschens zum reinen Gedanken.“
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Ausführlich jedoch wurde die Idee einer Philosophie als Lebensweg im Rahmen hellenistischer Studien diskutiert. Die Untersuchungen von Ilsetraut und Pierre Hadot und von Voelke731 entwickelten das Thema von Philosophie als systematische Seelenleitung und als geführter Lebensweg in den stoischen und neuplatonischen Schulen.732 Philosophie als erkenntnistheoretische Anleitung und als Lebensschule entstand nicht erst im Hellenismus. Diese Arbeit hat einen ideengeschichtlichen Beitrag geleistet und den Nachweis erbracht, dass sich Philosophieren als methodische Erkenntnissuche und als graduelles Bildungsgeschehen sukzessive in den verschiedenen Philosophieschulen entwickelte und, dass deren Ansätze bereits in der Vorsokratik erkennbar sind. In dieser Hinsicht sind Vorsokratiker Vorläufer einer Denktradition, die – für den Hellenismus – mit den Studien von Hadot und Voelke hervorgehoben worden ist.
731 Vgl. I. Hadot (1969), v.a. 1. Kap.; P. Hadot (1981, 1995, 2002); Voelke (1993). 732 Die Arbeiten heben hervor, dass Schüler ethische Grundregeln systematisch mit Hilfe philosophischer Dogmen in Form von Sentenzen und Gnomen lernten. Philosophieren involvierte im Hellenismus eine ethisch fundierte Lehre, die aus dem Schüler nicht bloß einen guten Bürger machen, sondern ihm eine gewisse Lebenskunst vermitteln wollte. In diesem Sinne entwickelte Cicero Prinzipien einer Seelenleitung, die als philosophisch begründete Güter- und Affektenlehre, seelischem Schmerz entgegenwirken sollte. Vgl. Cic. Tusc. III. Sowie Seneca, 94. und 95. Brief, mit Unterweisungsgrundlagen, die in hellenistischen und kaiserlichen Philosophenschulen weiterlebten. Der Schüler übte, nach eigenem Gewissen zu handeln und in jeder Situation ausgewogen und friedvoll zu sein. Dabei bildeten Sentenzen in Form persönlicher, memorierter Maximen den Grundstein zur Einübung von Furchtlosigkeit und zur graduellen Beseitigung von Leidenschaften, wie etwa Streben nach Macht, Ruhm und Reichtum. Die philosophische Anleitung basierte auf emotionalen und geistigen Methoden und umfasste praktische Lebensregeln sowie theoretisches Wissen auf Gebieten wie Physik und Kosmologie. Das gewonnene Wissen sollte zu einem Bestandteil der Persönlichkeit des Schülers werden, gleichsam zu seiner inneren Natur. Ein Lehrer leitete den Schüler zu Reflexion und täglicher Meditation an, zu regelmäßiger Selbstkritik und Analyse, was einen Schüler dahin führen sollte, aufmerksam und bewusst zu werden. Diese Praxis philosophischer Seelenführung wurde in die frühe christliche Tradition übernommen und bildete dort eine Grundlage für Formen klösterlicher Menschenleitung. Gemäß der genannten Forschungsarbeiten impliziert Philosophieren in den stoischen und neuplatonischen Schulen, Leben und Sterben zu lernen. Vgl. zur Diskussion I. Hadot (1986) 24-41 und 437-59.
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Was das vorsokratische Denken angeht,733 wurden zwar einige Untersuchungen über die pythagoreische Lebensweise bekannt,734 ansonsten aber ist der Gedanke verbreitet, dass Vorsokratiker vor allem Theorie betrieben, die Natur – im Sinne von φύσις und ἀρχή – erforschten.735 Genauso herrscht die Meinung vor, dass erst mit und nach Sokrates und Platon ethische und lebenspraktische Fragen – und damit philosophisch begründete Lebensmodelle und konsequente Wissenssuche – entwickelt wurden. In meiner früheren Studie zu Heraklit habe ich gezeigt, dass der Epheser mehr als ein Jahrhundert vor Platon in systematischer Rückwendung auf sich selbst, die Erkenntnis des Logos lehrte, die er als gleichermaßen psychologische wie kosmologische Gesetzmäßigkeit definierte.736 Die vorliegende Studie hat erwiesen, dass auch Parmenides eine methodische Erkenntnissuche lehrte. Seine Schrift bildet, ideengeschichtlich betrachtet, das erste für uns erhaltene philosophische Dokument, in der methodische Lernanweisungen deutlich nachweisbar sind. Der Grundzug meines Entwurfs betrifft nicht Parmenides’ Ontologie, sondern seine Lerntheorie, beziehungsweise Parmenides’ Darstellung des Aufstiegs zum philosophischen Denken. In dieser Studie habe ich Parmenides’ systematische Methode zur Seinserkenntnis rekonstruiert und aufgezeigt, dass es eine Übereinstimmung zwischen den Seinsmerkmalen im Lehrgedicht und dem Zustand der Seinserkenntnis gibt. 733 Zwar untersuchten Autoren allgemein ethisches Denken und Wertvorstellungen in der griechischen Gedankenwelt, doch spielten die Vorsokratiker darin keine wesentliche Rolle. Vgl. allgemeine Werke wie Adkins (1960); Köstlin (1975); Luther (1935); Morano (1975); Moulinier (1950); Parker (1983). 734 Vgl. u.€a. Riedweg (2002); Tjiattas (1989) 394ff.; Zhmud (1997) Teil II, 65ff. 735 Die durch Aristoteles begründete Sichtweise, nachder alle Vorsokratiker Naturforschung betrieben, wird von Seneca, Tusc. V 3.7-9 dargestellt. Mit Domanski (1996) 2: „Leur noblesse consiste justement en ce qu’ils n’ont d’autre intérêt ni d’autre tendance que de rechercher la nature des choses et de la contempler (…).“ In diesem Sinne behauptet Seneca, Tusc. V 10-11, dass Sokrates als erster Philosoph das Denken von der Erforschung der Natur auf die Analyse des Menschen und auf ethische Probleme gelegt habe. Naddaf (1992) 203-4, folgt Aristoteles’ These, dass alle Vorsokratiker Naturforschung trieben. Dass diese Theorie daneben greift, formuliert nicht zuletzt Schofield (1997) 230: „When Aristotle turns to review the work of previous philosophers he sees it through the same lens. Presocratic philosophy (…) is rewritten as a debate about ἀρχαί. The rewriting requires a tour de force on Aristotle’s part.“ 736 Vgl. Stemich Huber (1996).
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
In pädagogischer Ermittlung schildert Parmenides anhand der βροτοί und der Scheinmeinungen die Menschen im Alltag. Damit beschreibt er einen Fehlzustand, der in Parmenides’ dynamisch angelegtem Menschenbild überwindbar ist. Tatsächlich zeichnet sich im Idealbild des Kuros prognostisch die menschliche Erkenntnisfähigkeit ab. Von der ersten Arbeitshypothese ausgehend, habe ich die Fragmente im Lehrgedicht nach Anweisungen untersucht, die in sinnvoller Beziehung zueinander Parmenides’ Lehrmethode veranschaulichen. Die Anleitungen der Göttin richten sich in imperativischen Redewendungen an den Kuros, was die Annahme rechtfertigt, dass Parmenides’ Gedicht pädagogisch ausgerichtet ist; weshalb die Hypothese, dass das Lehrgedicht eine philosophische Schulung und systematische Anleitungen enthält, durchaus angebracht ist. Der Kuros muss sich gemäß der hervorgehobenen Kompetenzstufen selbst bemühen, die Wahrheit der Göttin zu erkennen. Die über weite Teile des Lehrgedichtes durchgehaltene Anredeform, die Gebote und Verbote737 machen dies klar. Ihm sind zwar Anweisungen gegeben, doch muss er selbst den Weg der πίστις ἀληθής nehmen und die Wahrheit der Göttin zu erkennen suchen. Erkenntnis entsteht etappenweise. Sie geht auf wiederholte, ineinandergreifende Kompetenzstufen zurück, die sich ergänzen und einen graduellen, kontinuierlichen Prozess ausmachen, der den Menschen verändert. Den Lernschritten folgend wird der Mensch auf seinem Suchweg zum Kuros; zu demjenigen, der die Lehre der Göttin erfassen kann. Die in der vorliegenden Untersuchung hervorgehobenen Kompetenzstufen bestimmen, dass der Kuros alles wissen soll, dass er die Fähigkeit zu überlegen stärken und sein kritisches Denken optimieren soll. Anders gesagt, besteht seine erste Aufgabe darin, sich ein breites Wissensspektrum anzueignen. Dann ist er angewiesen, das Gelernte im Geiste abzuwägen, was eine gewisse Verinnerlichung verlangt. Schließlich fordert die Göttin, ihre Rede kritisch zu hinterfragen, was voraussetzt, dass der Kuros in seinem Denken unumschränkt eigenständig ist. Nun ergänzen sich diese Lernstufen durch weitere Anleitungen. B 16 besagt, dass der Zustand der Glieder und die Denkfähigkeit des Menschen in Wechselbeziehung stehen. Mit B 16 begründet Parmenides nicht nur eine 737 So etwa B 8.6-7: Simp. in Ph. 162.18-9 (Diels): „Denn was für einen Ursprung willst du für dieses ausfindig machen (τίνα γένναν διζήσεαι)? Wie, woher sein Heranwachsen?“ [DK I 235]. Vgl. auch B 8.7-8: Simp. in Cael. 137.4-5 (Heiberg): „… nicht … werde ich dir gestatten auszusprechen (φάσθαι) und zu denken (νοεῖν)“ [DK I 235].
Zusammenfassung und Bewertung
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Erkenntnistheorie, sondern weist zugleich auf den notwendigen Zielzustand des Kuros, der das Seiende erkennen will. Parmenides hat eine Adäquationsthese formuliert, nach welcher Gleiches durch Gleiches erkennt. Aufgrund dieser These muss der Kuros, um das absolut unbewegliche, unveränderliche Seiende erkennen zu können, von der körperlichen und geistigen Verwirrtheit des Alltagszustandes weg zur Einheit finden. B 16 macht deutlich, dass der Mensch der Entsprechung von Körperlichem und Geistigem nicht unbedingt passiv ausgeliefert ist, denn ihm eröffnet sich die Möglichkeit, mit Hilfe von κρᾶσις, der perfekten Mischung, und mit einem souveränen νόος, dem geistigen Element, die „vielbewegten Glieder“ in rechter κρᾶσις zu einer gleichmäßigen Einheit zusammenführen. Dann sind sie οὐλομελές, wie aus einem Glied, wodurch ein körperlich-geistiger Zustand entsteht, der mit einem Seinsmerkmal übereinstimmt. Die darauf folgende Diskussion von B 4 knüpft an B 16, insofern auch dieses Fragment eine Möglichkeit für den Kuros entwirft, aus der verworrenen Alltagswahrnehmung zur Einheit zu finden. Die erste Zeile des Fragmentes bietet eine ἀπο κοινοῦ-Figur um das Wort νόος und verbindet damit die heterogene Vielheit der ab- und anwesenden Objekte des Schauens zu einer Einheitsvision. Der Kuros soll mit νόος klar und unerschütterlich schauen, um über die Widersprüche hinweg das Seiende erkennen zu können. In beiden Fragmenten kommt dem νόος, dem geistigen Element im Menschen, eine führende Rolle zu. Denn νόος hat die Aufgabe, aus der Vielheit zur Einheit zu führen. Mit dem rechten Denken gelangt der Mensch aus dem Zustand der communis opinio dahin, die unveränderliche Einheit des Seienden verstehen zu können. Trotz der besagten überlegenen Funktion von νόος beruhen die letztgenannten Lernschritte nicht ausschließlich auf Reflexion und sind nicht diskursiv lernbar, sondern erfordern eine Einübung, durch die eine körperlich-geistig begründete Einheitlichkeit entsteht, die es dem Kuros ermöglicht, unmittelbar mit Logos das Seiende zu erkennen. Auf dem Suchweg des Kuros stehen die Wegbeschreibungen als Sinnbild für eine besondere Lebenshaltung. Letztlich ist eine solche Wegbeschreibung auch als Einladung des Philosophen zu einer Entwicklung jenseits vom Alltagsdenken zum Denken des Seienden verstehbar. Anhand der anfangs dieser Arbeit formulierten zweiten Arbeitshypothese, die eine Kongruenz zwischen den Seinsmerkmalen und dem Zustand der Seinserkenntnis postuliert, wurde im vorherigen Kapitel erforscht, inwieweit die ontologische These des Lehrgedichtes erkenntnistheoretisch umsetzbar ist. Dazu wurden die Seinsmerkmale von einer ungewohnten Perspektive
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Martina Stemich • Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis
her untersucht, nämlich als Hinweise über den Geisteszustand des Kuros beim Erkennen des Seienden. Durch die zur Annahme der Adäquationsthese, nach welcher der Erkennende, um es zu erkennen, dem Objekt seiner Erkenntnis entsprechen muss, wird der Zustand der philosophischen Erkenntnis mit den Seinsmerkmalen verstehbar. Weil das Seiende in räumlicher und zeitlicher Dimension unveränderlich ist, entspricht der Geisteszustand des Kuros im Moment der Kognition des Seienden diesen raumzeitlichen Seinsmerkmalen: Der Kuros ist dann in sich abgeschlossen, unerschütterlich, ohne das Wissen um „Vorher“, „Nachher“, „Hier“ oder „Dort.“ Er ist im Jetzt. Was aber bedeutet die Entdeckung dessen, was im rechten Geisteszustand anhand der Anweisungen der Göttin als Seiendes erkannt werden kann? Die vorliegende Untersuchung führt die eleatische Lehre auf den Menschen zurück. Sie erklärt die Wahrheit der Göttin als Wahrheit für den Menschen, der sie erlangen kann und diskutiert nicht verschiedene Wirklichkeiten,738 sondern das Subjekt, das auf verschiedene Weise Wirklichkeit erkennt. Die Wahrheit, ἀλήθεια, ist gemäß Parmenides nicht mit Heideggers Unverborgenheit gleichzusetzen, sondern mit Wirklichkeit.739 So wie Wahrheit wirklich ist, hat sie auch etwas mit dem Menschen zu tun, für den sie wirklich ist. Und so wie das (wahre) Denken des Menschen wahres Sein erkennen kann, verwirklicht sich das Seiende im Denken des Menschen, wenn er im richtigen Geisteszustand ist.740 738 Nach Owen (1960) 86: „There can be no degrees of reality.“ In diesem Sinn kritisiert Long (1996) die traditionelle Lesart, nach der: „the early Greek philosophers took themselves to be (…) observing and describing a physical world external to themselves, a world which did not include the observer in the material studied“ (128). Dagegen sei Parmenides ein Philosoph gewesen, „whose primary concern was to explore the activity of veridical thinking, and to identify its subject and object“ (126) „Parmenides’ project is a second-order inquiry. (…) He is investigating mind, from the point that something is there – Being or Truth – for mind to think“ (127). 739 So vergleicht Bröcker (1978) 106, den Begriff ἀλήθεια mit seiner Anwendung in Hom. Il. Ι 407, worin ἀλήθεια das wirklich Geschehene, was in Wahrheit ist, meint, und nicht die Unverborgenheit. Vgl. Kahn (1968-9) 722: „The fact that ἐόν im Greek mean „truth“ as well as „Being“ makes it all the more natural for him to insist that true statement and cognition cannot be nothing.“ 740 Vgl. Kahn (1966) 258: „We have from Presocratic times the well-established axiom that whatever is, is somewhere; what is nowhere is nothing“. Diskutiert auch in Goldin (1993) 26.
Zusammenfassung und Bewertung
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Obwohl Parmenides seine Lehre, vom Ziel der Suche ausgehend, beschreibt, hat die vorliegende Studie hervorgehoben, dass das Seiende vor allem den Menschen betrifft, der es als Kuros erkennt. Nun scheint die Seinserkenntnis jegliche normale Welterfahrung zu leugnen, die besagt, dass sich alles im Leben verändert,741 doch negiert Parmenides nicht, dass es die Alltagswelt gibt, sondern weist ihr eine andere Erkenntnisart zu. Schließlich käme der Eleate mit weniger Argumenten aus, um den Bereich der Alltagserfahrungen zu verneinen. Und, dass Parmenides durchaus aufmerksam und neugierig in der Welt lebte, bezeugen letztlich die kosmologischen Fragmente im zweiten Teil des Lehrgedichtes.
741 Denn nicht nur die Natur außerhalb, sondern auch der menschliche Körper und die eigenen Gedanken und Gefühle sind bedingt und unaufhaltbar in Veränderung begriffen. So ändern sogar die griechischen Götter ihre Meinung, obschon sie in Begriffen von immer und ewig leben. Dass Parmenides’ Philosophie das Gegenteil von Heraklits Denken bildete, wird z.€B. von Owen (1950) 47, behauptet.
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Nachruf Studia Philosophica 65/2006 In Memoriam Martina Stemich (1957-2005)
M
artina Stemich wurde am 28. April 1957 in Lippstadt, Deutschland, geboren. Mit ihren Eltern zog sie 1965 in das Tessin. 1965-1969 besuchte sie die Scuola comunale in Losone und von 1969 bis 1974 das Kantonale Gymnasium in Locarno. Infolge eines Konfliktes mit ihrem Vater trat sie allerdings mit 18 Jahren aus dem Gymnasium aus und absolvierte eine Lehre als Gärtnerin und darauf als Floristin, die sie 1977 abschloss. Die Maturität holte sie 1980 am Kantonalen Gymnasium in Lugano nach. 1981-1987 studierte sie an der Universität Fribourg Geschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie, Philosophische Anthropologie und Religionswissenschaft. Die von Prof. R. Imbach angenommene Lizentiatsarbeit trägt den Titel: Hildegard von Bingen: Das Bild von Mann und Frau im «Scivias». 1994 schloss sie ebenda bei Professor D. O‘Meara mit der Dissertation ab: Heraklit: der Werdegang des Weisen (Amsterdam: Grüner, 1996). Sie beschäftigt sich darin insbesondere mit der Frage, wie der Weise zu seinem Wissen gelangt oder wie der Philosoph weise wird. Diese Thematik liess sie auch später nicht mehr los. Der Frage, wie der Philosoph zu seiner Erkenntnis gelangt, widmete sie ebenfalls ihre Habilitationsschrift mit dem Titel: Parmenides: Einübung in die Seinserkenntnis. Diese Arbeit konnte sie während eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsaufenthaltes an der Universität Cambridge fertig stellen. Sie wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Fribourg angenommen. Der Probevortrag mit anschliessendem Kolloquium trug den Titel Über die sokratische Behauptung, wonach das Opfer glücklicher als der Täter ist. Frau Martina Stemich war eine reich begabte, vielseitig interessierte, begeisterungsfähige und unkonventionelle Wissenschaftlerin. Während Jahren litt sie an einer schweren Krankheit, die zwar lange unter Kontrolle gehalten werden konnte, aber dann doch zu einem erneuten Ausbruch
kam. Nachdem sie das Ziel der Habilitation im Februar 2005 erreicht hatte, vollendete sich ihr Schicksal am 13. Juli 2005. Die Kremation fand in Riazzino (bei Locarno) statt; die Asche wurde in den Lago Maggiore verstreut. Im Locarnese hatte sie ihre Jugend verbracht; auf den BrissagoInseln hatte sie geheiratet. Dem Lago Maggiore wollte sie auch ihre Asche übergeben wissen, um so wieder in den Kreislauf der Natur einzugehen. Frau Martina Stemich lebt weiter in ihrem Sohn Niels. Rafael Ferber (Luzern)