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German Pages 432 Year 2007
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Band 45
Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa? Ein Vergleich der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Straßburger Gerichtshofs mit dem Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft und dem Luxemburger Gerichtshof
Von Katharina Gebauer
Duncker & Humblot · Berlin
KATHARINA GEBAUER
Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen y, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter
Band 45
Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa? Ein Vergleich der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Straßburger Gerichtshofs mit dem Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft und dem Luxemburger Gerichtshof
Von
Katharina Gebauer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft – Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0945-2435 ISBN 978-3-428-12562-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Arbeit wurde im Sommertrimester 2006 von der Bucerius Law School, Hochschule für Rechtswissenschaft in Hamburg, als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis Juni 2007 berücksichtigt. Die mündliche Doktorprüfung fand am 25. April 2007 statt. Ich möchte mich herzlich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Meinhard Hilf von der Universität Hamburg und der Bucerius Law School, für die kompetente und freundliche Betreuung der Arbeit und die Erstellung des Erstgutachtens, aber auch für die verfassungs- und europarechtliche Begleitung meines Studiums und die Zeit an seinem Lehrstuhl bedanken. Bei Frau Prof. Dr. Doris König von der Bucerius Law School möchte ich mich nicht nur für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens, sondern insbesondere für die spannenden und lehrreichen Jahre bedanken, die ich in fachlich und menschlich sehr angenehmer Atmosphäre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an ihrem Lehrstuhl verbringen konnte. Die Arbeit ist im Wesentlichen in dieser Zeit entstanden. Den Herausgebern der „Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht“ danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe. Sie haben als Professoren der Universität Hamburg alle auf ihre Weise zu meiner Ausbildung im Europa- und Völkerrecht beigetragen. Die Grundidee für die Arbeit hat Herr Prof. Denis Waelbroeck vom Europa-Kolleg in Brügge bei mir geweckt. Bei meinen Eltern bedanke ich mich sehr herzlich für die Unterstützung, die sie mir in jeglicher Hinsicht auch während meines Studiums und der Entstehung dieser Arbeit gewährt haben. Ein sehr großer Dank geht an Jochen. Berlin, Juni 2007
Katharina Gebauer
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte auf den verschiedenen Rechtsebenen und für die beiden europäischen Rechtssysteme A. Historische Herleitung und Terminologie der Grund- und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ursprung und Entwicklung der Menschen- und Grundrechtsidee . . . . . . II. Die Unterscheidung zwischen Grund- und Menschenrechten auf den verschiedenen Rechtsebenen: Terminologie und inhaltliche Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Uneinheitliche Terminologie auf nationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriff der Menschenrechte im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Menschenrechte als Teilbereich des nicht-hierarchisierten Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) ‚Menschenrechte und Grundfreiheiten‘ in der EMRK . . . . . . . . . . aa) ‚Menschenrechte‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) ‚Grundfreiheiten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Abgrenzung der Grundfreiheiten der EMRK von den Grundfreiheiten des EG-Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) ‚Menschenrechte‘ und ‚Grundrechte‘ in Art. 6 EUV . . . . . . . . . . . b) Die Gemeinschaft als supranationales Gebilde . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Begrifflichkeiten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangs- und Bezugspunkt: Grundrechte im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Menschenrechtsschutzsystem der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die einseitige Ausrichtung des EMRK-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die isolierte Stellung der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Rahmen des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Begründung von Individualrechten als völkerrechtliche Besonderheit des EMRK-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 3. Die Verzahnung von EMRK und staatlichen Rechtsordnungen . . . . . . a) Unterschiedliche Modelle der Inkorporation der EMRK in nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusatzprotokolle und Vorbehalte der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . 4. Die Menschenrechtskonvention als europäische Teilverfassung? . . . . 5. Kollisionsfälle – Bedeutung der Konvention über eine reine Funktion als „Sicherheits- und Auffangnetz“ hinaus . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der begrenzte Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaft . . . . . a) Gemeinschaftsgrundrechte als Grenzen hoheitlicher Machtausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedeutungszunahme der Grundrechte durch Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und Einführung der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die EG als Rechtsgemeinschaft und als autonome Rechtsordnung sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbare Wirkung, Vorrang und Anerkennung eigener Grundrechte als Pfeiler der Rechtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte als Ausdruck des „rechtsstaatlichen“ Fundaments der Gemeinschaft und als Identifikationsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundrechte als Integrationsfaktor im Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . 3. Neue Zielsetzung: Die EG als Grundrechtsgemeinschaft? . . . . . . . . . . a) Das Gutachten 2/94 als Ausgangspunkt der Debatte . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte als neue Zielsetzung der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . aa) Die Vorschläge von Alston und Weiler: Aktive Grundrechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritik: Einwände gegen die Etablierung des Grundrechtsschutzes als eigenständiges Gemeinschaftsziel . . . . . . . . . . . . . cc) Keine neuen Gemeinschaftsinitiativen für eine aktive Grundrechtspolitik im Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung der Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Ergebnis des ersten Teils und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Zweiter Teil Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte in der EMRK und in der Europäischen Gemeinschaft A. Die Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die von der EMRK geschützten Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufteilung in klassische Freiheitsrechte, Verfahrensrechte und Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Hierarchie der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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4. Kein abgeschlossenes System von Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . II. Berechtigte und Verpflichtete der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die aus der Konvention Berechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Weiter personaler Anwendungsbereich der Konvention . . . . . . . . . b) Natürliche und juristische Personen als Berechtigte der Konventionsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsstaaten als Verpflichtete der Konventionsgarantien – keine unmittelbare Drittwirkung der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Funktionen der Konventionsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Konventionsgarantien als klassische Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . 2. Objektiv-rechtliche Dimensionen der Konventionsrechte . . . . . . . . . . a) „Obligations positives“ – staatliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . b) Weitere objektiv-rechtliche Aspekte: Verpflichtung zu organisatorischer und verfahrensrechtlicher Sicherung der EMRK-Rechte und Teilhaberechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bedeutung der objektiven Verpflichtungen aus den EMRK-Rechten für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit: Systematik und Struktur der Konventionsrechte . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte I. Dogmatische Grundlagen des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts auf der Grundlage des Art. 220 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Differenzierung zwischen Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die verschiedenen Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis der beiden in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Weitere Rechtserkenntnisquellen – Primärrecht, „soft law“, Grundrechte-Charta, internationale Menschenrechtsverträge? . . . . 4. Keine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die EMRK über das Völkerrecht oder über Art. 6 Abs. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechte . . . . . 1. Die Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . 2. Kategorien von Gemeinschaftsgrundrechten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs: Freiheitsrechte, Verfahrensgrundrechte und Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
III. IV.
V.
VI.
3. Grundrechtskategorien in der Grundrechte-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die in der Charta verbürgten Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Problem: Mehr Rechte als Kompetenzen auf Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte – Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung der Gemeinschaftsgrundrechte von nicht-grundrechtlichen Rechtskategorien, insbesondere von den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . Rang der Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung und Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rangordnung und Konkurrenzen der Grundrechte untereinander . . . . 2. Konkurrenzen zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten . . . . . . . . Berechtigte und Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Personaler Anwendungsbereich: Differenzierung zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Natürliche und juristische Personen als Berechtigte der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte: Gemeinschaft und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Gemeinschaftsorgane als eigentliche Grundrechtsadressaten b) Die Mitgliedstaaten als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anerkannte Fallgruppen mitgliedstaatlicher Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte: Durchführung von Gemeinschaftsrecht und Berufung auf Ausnahmeklauseln von Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Tendenzen zur weiteren Ausdehnung der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unionsbürgerschaft in Verbindung mit Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Weitere Ansatzpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Bindung der Mitgliedstaaten nach der GrundrechteCharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bewertung der Judikatur zur Reichweite der mitgliedstaatlichen Bindung an Gemeinschaftsgrundrechte im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung . . . . . . c) Verpflichtung von Privatpersonen – Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte: Abwehrrechte, Schutzpflichten und Teilhaberechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzpflichtfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinschaftsgrundrechte als mögliche Teilhaberechte . . . . . . . . . . . . 3. Funktionen der in der Grundrechte-Charta verbürgten Rechte . . . . . .
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C. Ergebnis des zweiten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Inhaltsverzeichnis
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Dritter Teil Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund- und Menschenrechtsschutz und der Umgang mit der jeweils anderen Rechtsordnung in der Straßburger und Luxemburger Rechtsprechung A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe – Aufbau, Arbeitsweise, grundlegende Prinzipien und Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliche Ausrichtung des EGMR: Spezialisiertes „Verfassungsgericht“ mit eng begrenztem Zuständigkeitsbereich im Spannungsfeld zwischen Freiheit von internen Bindungen und Notwendigkeit der Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organisation, Verfahren und Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Urteilstechnik des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übersichtliche Urteilsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausführliche, einzelfallbezogene Begründung der Urteile . . . . . . . c) Sprachenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Berücksichtigung der Wirkungen des Urteils in der Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auslegungsmethoden und grundlegende Prinzipien in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Spezifische Methoden der Auslegung des Straßburger Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Auslegung der EMRK unter Berücksichtigung ihres besonderen Charakters als Menschenrechtsschutzvertrag . . . bb) Autonome Auslegung der Konventionsbegriffe . . . . . . . . . . . . cc) Dynamische oder evolutive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Effektive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitprinzipien der Straßburger Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Leitbild der „demokratischen Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die „margin of appreciation“ als Korrektiv zur Berücksichtigung der Souveränität der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis: Funktionsweise, Stil und Methodik des Straßburger Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg . . . . . 1. Grundsätzliche Ausrichtung des EuGH: Gericht mit umfassender Zuständigkeit auf supranationaler Ebene, das sich in eine eigene, umfassende Rechtsordnung einfügt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organisation und Arbeitsweise des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterschiedliche Verfahrenswege für Grundrechtsstreitigkeiten beim EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 4. Urteilstechnik des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urteilsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Schlussanträge der Generalanwälte für die Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Auswirkungen der Sprachenregelungen auf die Urteile . . . . . . . . . e) Berücksichtigung der Urteilswirkungen in der Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Auslegungsmethoden und grundlegende Prinzipien in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Spezifische Auslegungsmethoden des Luxemburger Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts als Leitmotiv der Rechtsprechung – Integration als übergeordnetes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Herausragende Bedeutung der teleologischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht – „effet utile“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitprinzipien der Grundrechtsrechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Wesensgehaltsgarantie als „unechtes“ Element der Grundrechtsprüfung, das in der Verhältnismäßigkeit aufgeht cc) Übertragung der Rechtsfigur der „margin of appreciation“ auf den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz bei Überprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen in den neueren Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis: Struktur, Funktionsweise und Methodik des Straßburger und des Luxemburger Gerichtshofs im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Die Berücksichtigung der parallelen Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung der beiden europäischen Gerichtshöfe . . . . . . . . . I. Divergenzen, Parallelen und gegenseitige Bezugnahmen in der Judikatur der beiden Gerichtshöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fälle „echter“ materieller Divergenzen zwischen EuGH und EGMR a) Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Unverletzlichkeit der Wohnung – Anwendbarkeit auf juristische Personen . . . . . . . . b) Umfang der Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis zu den Fällen „echter“ materieller Divergenzen . . . . . . . 2. Vermeidung von Konflikten seitens des EuGH durch Wahl eines „nicht-grundrechtlichen“ Lösungswegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rundfunkfreiheit, Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Konflikt zwischen Informationsfreiheit und Recht auf Leben – irische Schwangerschaftsabbruchfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis zu den Konfliktvermeidungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269 269 271 275 276 277 278 279
279 281 284 285 291
293 298 299 300 300 301 309 313 317 319 320 324 327
Inhaltsverzeichnis 3. Parallele Rechtsprechung von EuGH und EGMR in Kernfragen des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes („complementarities“) . . . . a) Parallele Rechtsprechung beider Gerichtshöfe zur Transsexuellenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zurückhaltender Umgang beider Gerichtshöfe mit Fallkonstellationen zur Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bezugnahmen des EGMR auf die Luxemburger Rechtsprechung und Berücksichtigung der Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Verhältnis zwischen Luxemburger und Straßburger Rechtsprechung nach der Grundrechte-Charta: Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Über- und Unterordnungsverhältnisse: Kontrolle von Gemeinschaftsrechtsakten durch den Straßburger Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zurückhaltung der Menschenrechtskommission bei der Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Entscheidungen der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) C. F. D. T. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Dufay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidung „Melchers“ der EKMR – Solange II im Verhältnis von Luxemburg und Straßburg? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offensiveres Vorgehen des Menschenrechtsgerichtshofs: Die Rechtsprechung zur Überprüfung von Gemeinschaftsrecht in den letzten Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zwischenetappe: Die „Randbemerkung“ des EGMR im CantoniUrteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Matthews-Urteil als Wendepunkt im Verhältnis EGMR – EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Senator Lines – zugespitztes Szenario ohne Auflösung . . . . . . . . . d) Das Bosphorus-Urteil als weiterer Baustein des EGMR zur Kontrolle des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit: Straßburger Kontrolle von Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . .
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328 329 332 339
340
343 349 351 352 352 354 355
360 360 363 368 373 379
C. Ergebnis des dritten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. Abs. a. F. AJIL Anm. AöR Art. AVR BayVBl. Bd. BGBl. BVerfG BVerfGE bzw. CDE. CMLRev. ders./dies. d. h. DÖV DR DVBl. EAG EEA EG EGKS EGMR EGV EHRLR EJIL EKMR ELJ ELRev. EMRK endg. EU
anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz alte Fassung American Journal of International Law Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Archiv des Völkerrechts Bayerische Verwaltungsblätter Band Bundesgesetzblatt Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Cahiers de Droit Européen Common Market Law Review derselbe/dieselbe das heißt Die öffentliche Verwaltung Decisions and Reports Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Human Rights Law Review European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Journal European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention endgültig Europäische Union
Abkürzungsverzeichnis EuG EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EWG EWGV EWS f./ff. Fn. FS GA GG GLJ GRCh GS GYIL Habil. HRLJ Hrsg. IPBPR i. S. v. i. V. m. JA JMP JöR JR JRP Jura JuS JZ LIEI MJ m. w. N. n. F. NJ NJW Nr. NVwZ o. ä. ÖJT
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Europäisches Gericht erster Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechtszeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Fußnote Festschrift Generalanwalt Grundgesetz German Law Journal Grundrechte-Charta der EU Gedächtnisschrift German Yearbook of International Law Habilitationsschrift Human Rights Law Journal Herausgeber Internationaler Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jean Monnet Working Paper Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Journal für Rechtspolitik Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Legal Issues of European Integration Maastricht Journal of European and Comparative Law mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oder ähnliche Verhandlungen des österreichischen Juristentages
16 RIW RJD RL RMC RMUE Rn. Rs. Rspr. RTDE RTDH RUDH Rz. S. Slg. u. a. Unterabs. u. U. u. v. m. verb. Rs. VerwArch vgl. VO VVDStRL WVK YEL ZaöRV z. B. ZEuS Ziff. ZRP
Abkürzungsverzeichnis Recht der Internationalen Wirtschaft Reports of Judgments and Decisions Richtlinie Revue du Marché Commun Revue du Marché Unique Européen Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Revue trimestrielle de droit européen Revue trimestrielle de Droits de l’Homme Revue universelle de Droits de l’Homme Randziffer Seite Amtliche Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und andere Unterabsatz unter Umständen und viele mehr verbundene Rechtssachen Verwaltungsarchiv vergleiche Verordnung Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Yearbook of European Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Europarechtliche Studien Ziffer Zeitschrift für Rechtspolitik
Einleitung „Venant de Strasbourg à Luxembourg, il ne se sentait jamais tout à fait à son aise dans la dernière institution, mais conserva une nostalgie évidente pour la première, où, disait-il, on est directement confronté à l’aspect humain et à ses problèmes.“ (A. M. Donner, Transition, in: Mélanges Wiarda, S. 145, über den ehemaligen dänischen Richter am EGMR und am EuGH Sørensen)
Grund- und Menschenrechte werden in Europa sowohl von der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt. Die Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte nach den beiden Rechtsordnungen beruht dabei auf grundsätzlich unterschiedlichen Ausgangspunkten und Konzeptionen. Die Menschenrechtskonvention wurde nach dem zweiten Weltkrieg als menschenrechtliches „Sicherheitsnetz“ konzipiert, das den innerstaatlichen Grundrechtsschutz um eine völkerrechtliche Ebene ergänzt. Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften ging es dagegen um die Integration der nationalen Wirtschaften mit dem Ziel, einen Gemeinsamen Markt zu errichten. Grundrechte spielten in der Gemeinschaft zunächst keine Rolle. Bedeutung erlangten sie erst nach einiger Zeit als freiheitssicherndes Korrelat zu den von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragenenen Hoheitsrechten, d. h. in ihrer Funktion als Grenzen hoheitlicher Machtausübung. Während vom Ausgangspunkt her also keine Berührungspunkte existierten, gibt es inzwischen zahlreiche Überschneidungen und Interdependenzen zwischen den beiden europäischen Rechtsordnungen. Die Bedeutung der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft ist mit der Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und der stärkeren Fokussierung auf den auch nicht-wirtschaftlich handelnden Unionsbürger gestiegen. Die Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg sind mit vergleichbaren Sachverhaltskonstellationen befasst. Teilweise sind sie in verschiedenen Verfahrensstadien zur Entscheidung über dieselben Fälle aufgerufen. Durch die Ausdehnung des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“, in dem die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, hat der EuGH den Überschneidungsbereich mit der Menschenrechtskonvention nochmals vergrößert. Schließlich findet in der Gemeinschaft generell eine Rückbesin-
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Einleitung
nung auf die Grundrechte als fundamentale Werte und auf ihre integrierende Funktion im transnationalen Bereich statt. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist es herauszufinden, wie sich die nebeneinander existierenden europäischen Grundrechtsschutzsysteme zueinander verhalten. Lassen sich die Systeme als parallel, konkurrierend, komplementär oder hierarchisch beschreiben? Welche Veränderungen und Tendenzen können ausgemacht werden? Um dieses Verhältnis bestimmen zu können, ist im Wege einer Gegenüberstellung zunächst festzustellen, in welchen Bereichen die Rechtsordnungen, die gewährleisteten Rechte und die Judikatur der Gerichtshöfe übereinstimmen und in welchen Bereichen sie divergieren. Diese Feststellung stellt aber nur einen ersten Schritt dar. Eigentlich entscheidend ist die dahinter stehende Frage, warum es bestimmte Übereinstimmungen und Divergenzen gibt. Denn erst bei Offenlegung der Gründe für eine bestimmte Ausrichtung der Rechtsordnungen können belastbare Aussagen über grundlegende Wertentscheidungen getroffen werden. Diese gleichen oder abweichenden Wertentscheidungen sind es letztlich, die das Verhältnis der Grundrechtsschutzsysteme zueinander bestimmen. Zu zahlreichen Teilaspekten der beiden Rechtsordnungen liegen bereits detaillierte Untersuchungen vor, auch zu einzelnen Schnittstellen. In Abgrenzung dazu wird in der vorliegenden Arbeit bewusst der Ansatz einer Gesamtschau der Systeme und ihrer verschiedenen Facetten gewählt. So ist gewährleistet, dass festgestellte Übereinstimmungen oder Differenzen durchgehend in den Kontext der Rechtsordnungen als Ganze eingeordnet und in diesem Zusammenhang auch bewertet werden können. Erst im Rahmen einer solchen Gesamtschau lassen sich die verschiedenen Einzelaspekte zutreffend gewichten. Als praktischer Nutzen einer solchen Gesamtschau soll sich Folgendes ergeben: Zunächst kann durch das Aufdecken von Abweichungen und Übereinstimmungen im Verhältnis der beiden Rechtsordnungen eine Sensibilisierung der Rechtssuchenden und der Rechtsanwender für die unterschiedliche Perspektive in Straßburg und Luxemburg in Grundrechtsfragen erreicht werden. Entscheidungen können leichter im Kontext verortet werden, was die Vorhersehbarkeit im Einzelfall erhöht. Darüber hinaus ist ein solcher systematischer Vergleich eine notwendige Voraussetzung dafür, einen Maßstab für den materiellen Grundrechtsschutz zu erarbeiten. Nur so kann bewertet werden, ob der EuGH – wie ihm teilweise vorgeworfen wird – tatsächlich unzureichenden Grundrechtsschutz gewährt oder ob es sich dabei nur um eine Frage der Perspektive der jeweiligen Rechtsordnung handelt. Außerdem ermöglicht die Gegenüberstellung der Grundrechtsschutzsysteme Aussagen zu zukünftigen Diskrepanzen und kann so dabei helfen, die Ent-
Einleitung
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wicklung der europäischen „Grundrechtslandschaft“ insgesamt in den nächsten Jahren zu prognostizieren. Grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Rechtsordnungen ist, dass die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag Menschenrechtsschutz „zweckfrei“, d. h. unbeeinflusst von anderen – unter Umständen grundrechtsfremden – Zielen, zur Verfügung stellt, während die Gemeinschaftsgrundrechte in einer Wechselwirkung zu den anderen, vor allem wirtschaftlichen Zielvorgaben der integrierten Gemeinschaftsrechtsordnung stehen. Dies ist der zentrale Punkt für die Bestimmung des Verhältnisses der beiden Grundrechtsschutzsysteme zueinander. Über diesen grundlegenden Ansatz hinaus ist eine Vielzahl verschiedener Faktoren in die vergleichende Wertung einzubeziehen. Dazu gehören die Bewertung der Rolle der Grundund Menschenrechte in den jeweiligen Rechtsordnungen, der Umfang der gewährleisteten Rechte, ihr personaler Anwendungsbereich, die Reichweite ihrer Verpflichtungswirkung und ihre Funktionen. Entscheidender Vergleichsfaktor ist aber vor allem auch die Rolle der Gerichte, die dazu berufen sind, die Rechte auszulegen, und ihre jeweilige Rechtsprechung in parallelen oder konkurrierenden Grundrechtsfällen. Aus dem dargelegten Ansatz ergibt sich der folgende Aufbau der Arbeit: In einem ersten Teil werden die Besonderheiten der beiden europäischen Grundrechtsschutzsysteme als solche im Vergleich herausgearbeitet und damit auf einer übergeordneten Ebene die Grundlagen und Hintergründe für den Grundrechtsschutz in concreto ermittelt. Zu diesem Zweck wird zunächst die unterschiedliche Terminologie untersucht. Die Auswirkungen der Rechte auf die jeweilige Rechtsordnung und ihre Prägung durch das gegebene rechtliche Umfeld werden dargelegt. Dies beinhaltet die charakterisierenden Aspekte des Konventionssystems sowie die heutige Bedeutung der EMRK auf der einen Seite und die Spezifika der Gemeinschaftsrechtsordnung mit den in ihr verbürgten Grundrechten auf der anderen Seite. Mit der rechtspolitischen Frage nach den Grundrechten als möglicher neuer Zielvorgabe des Europäischen Integrationsprozesses wird ein Bereich angesprochen, in dem sich die beiden Rechtsordnungen noch weiter aufeinander zu bewegen könnten. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit der Struktur der auf den beiden Ebenen jeweils gewährleisteten Rechte. Dazu werden die Rechtskataloge – geschrieben oder ungeschrieben – verglichen und Gewährleistungslücken aufgezeigt. Rechtsberechtigung und -verpflichtung sowie die Funktionen der Rechte werden analysiert. Ein Schwerpunkt ist dabei die Rolle der Rechtsberechtigten in den beiden Rechtsordnungen. In diesem Bereich sind entscheidende Unterschiede zwischen Menschenrechtskonvention und Gemeinschaftsrechtsordnung zu verzeichnen. Verstärktes Augenmerk wird
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Einleitung
aber auch auf die Frage nach der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gelegt, da sich hier zunehmende Überschneidungen zwischen den beiden Grundrechtsschutzsystemen zeigen. Für Aussagen über die Gemeinschaftsgrundrechte sind darüber hinaus Fragen zur Normenhierarchie und zur Abgrenzung von anderen nicht-grundrechtlichen Rechtskategorien entscheidend. Im dritten Teil steht die Praxis des Grundrechtsschutzes in Europa im Mittelpunkt, und damit die europäischen Richter und die Prozessparteien, die bei ihrem Gang nach Luxemburg oder Straßburg hohe Erwartungen an die Richter herantragen. Die beiden Gerichtshöfe und ihre Grundrechtsrechtsprechung werden vergleichend untersucht. Dabei geht es zunächst um den Aufbau und die Arbeitsweise von EGMR und EuGH sowie um Auslegungsmethoden und generelle Leitprinzipien in der Rechtsprechung der beiden Gerichte. Diese Faktoren haben entscheidenden Einfluss auf die jeweilige Grundrechtsjudikatur. Mit einer Analyse ausgewählter Entscheidungen der Gerichtshöfe soll im Anschluss gezeigt werden, wie die beiden Rechtsordnungen sich zueinander verhalten und wie sie interagieren. Dabei werden verschiedene Konstellationen untersucht: Fälle, in denen echte Divergenzen zwischen EGMR und EuGH aufgetreten sind; Fälle, in denen der EuGH einem Konflikt mit Straßburg durch die Wahl eines „nicht-grundrechtlichen“ Lösungswegs ausgewichen ist; Fälle, in denen beide Gerichtshöfe aufgerufen waren, Entscheidungen zu Kernfragen des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes zu treffen. Darüber hinaus wird thematisiert, wie die Richter auf den beiden Ebenen damit umgehen, dass ein paralleles Grundrechtsschutzsystem auf einer anderen Ebene existiert, d. h. inwieweit sie sich auf die „fremde“ Rechtsprechung beziehen, aber auch inwieweit sie die „fremde“ Rechtsordnung ihrer eigenen anzupassen oder auch unterzuordnen suchen. In diesem Zusammenhang geht es insbesondere um die Bedeutung und die Auswirkungen der Straßburger Entscheidungen zur Kontrolle von Gemeinschaftsrecht für das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen und der beiden Gerichtshöfe.
Erster Teil
Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte auf den verschiedenen Rechtsebenen und für die beiden europäischen Rechtssysteme Im ersten Teil der Arbeit wird der grundsätzlichen Bedeutung und Funktion von Grund- und Menschenrechten in den beiden unterschiedlichen Systemen EMRK als regionalem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzsystem und Europäischer Gemeinschaft als supranationaler Rechtsordnung sui generis nachgegangen. Zu diesem Zweck werden zunächst Ursprung und Entwicklung der Menschen- und Grundrechtsidee aufgezeigt und die unterschiedlichen Terminologien auf der jeweiligen Ebene untersucht. Anschließend werden die Rechte in den Kontext des jeweiligen Systems eingeordnet. Ihre Auswirkungen auf die jeweilige Rechtsordnung, aber auch ihre Prägung durch das gegebene rechtliche Umfeld werden dargelegt. Mit einem kurzen Blick auf die Ebene des dogmatisch ausgefeilteren staatlichen Grundrechtsschutzes werden bestimmte Grundkomponenten im Verhältnis von Rechtsordnung und geschützten Rechten zueinander aufgezeigt, die auch für die europäischen Schutzsysteme relevant sind. Zudem wird so ein externer Bezugspunkt geschaffen, von dem dogmatische Parallelen zu den untersuchten Rechtsordnungen gezogen werden können. Mit diesem Ansatz soll der Blickwinkel geweitet werden: Grund- und Menschenrechte sind zwar als fundamentale Normen für eine Rechtsordnung prägend. Gleichzeitig stehen sie jedoch stets in Abhängigkeit von dem System, in das sie eingebettet sind, und können daher niemals isoliert betrachtet werden. Diese Interaktion zwischen den Rechten und dem System, dem sie zugehören, soll herausgearbeitet werden. So wird verhindert, dass sich die Perspektive zu sehr verengt und nur auf die Rechte als solche richtet mit der Folge, dass die Basis für einen objektiven Vergleich der Grund- und Menschenrechte auf den verschiedenen Rechtsebenen verzerrt würde.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
A. Historische Herleitung und Terminologie der Grund- und Menschenrechte Eine Untersuchung der Bedeutung der Grund- und Menschenrechte für verschiedene Systeme auf unterschiedlichen Rechtsebenen – hier der staatlichen, der gemeinschaftlich-supranationalen und der intergouvernementalvölkerrechtlichen Rechtsebene – erfordert zunächst einen kurzen Blick auf die gemeinsamen historischen Wurzeln dieser Rechte, bevor begrifflich und inhaltlich zwischen Menschenrechten und Grundrechten unterschieden werden soll.
I. Ursprung und Entwicklung der Menschen- und Grundrechtsidee Unabhängig von der Geltung innerhalb eines bestimmten Systems bildet die auf unterschiedlichen Denkansätzen beruhende Idee der Menschenrechte den historischen Ausgangspunkt. Zur Begründung der Menschenrechtsidee wird neben dem Vernunftrecht, dem Gesellschaftsvertrag und dem utilitaristischen Prinzip der Wohlfahrtsmaximierung insbesondere das Naturrecht herangezogen. Als Begründungselement der leges fundamentales, des Herrschaftsvertrages, des Widerstandsrechtes und der Grenzen des Absolutismus durchzieht das Naturrecht die Staatstheorie seit der Antike. Das menschliche Dasein, Wesen und „Natur“ des Menschen als eines vernunftbegabten Lebewesens, als Person, sind die Richtpunkte für dieses Recht1. Hieraus entstanden ist die Idee von der Gleichheit aller Menschen und der Unverzichtbarkeit der natürlichen Rechte des Menschen. Jeder Souverän soll diese Rechte achten, weil sie mit der vernünftigen Natur des Menschen verbunden sind2. Weiterentwickelt wurde der Gedanke derartiger an das menschliche Wesen geknüpfter, natürlicher Rechte insbesondere von den englischen Staatsphilosophen, die die entscheidenden geistigen und wissenschaftlichen Grundlagen für die Verwirklichung der Menschen- bzw. Grundrechtsidee legten3. Aus England stammt die Forderung nach der Gewährleistung bestimmter feststehender fundamentaler Rechte, so der grundrecht1
K. Stern in: Isensee/Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, § 108 Rn. 9. So z. B. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, zitiert nach G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 38. Gegen eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte siehe K. Doehring, Völkerrecht, S. 6 ff., insbes. S. 13 f. 3 Zur englischen Magna Carta Libertatum von 1215, den Menschenrechten in der Aufklärung und der Konzeption Lockes siehe J. Schapp, Die Menschenrechte als Grundlage der nationalen und europäischen Verfassungen, JZ 2003, S. 217, 218 ff. 2
A. Herleitung und Terminologie der Grund- und Menschenrechte
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lichen Trias von Leben, Freiheit und Eigentum4. Locke erklärte als erster diese natürlichen Rechte auch nach dem Herrschaftsvertrag und gegen die Staatsgewalt für wirksam5. Die Aufklärung beschäftigte sich mit den Rechten der menschlichen Person als den „angeborenen, zur Menschheit gehörenden und unveräußerlichen Rechten“6, deren Wahrung entscheidendes Charakteristikum eines Rechtsstaats sein sollte7. Diese Denkansätze als ungeschriebene Vorformen von Grund- und Menschenrechten in der Form der Beschränkung bestimmter Machtprivilegien und einzelner Freiheiten legten das Fundament für eine spätere Kodifizierung8. Der geschichtliche Ursprung aller Menschenrechtsforderungen ist indes nicht allein auf der Ebene der genannten Denkansätze zu suchen, sondern daneben auch in den konkreten Unrechtserfahrungen, die das Kernanliegen der Menschenrechte deutlich machen, nämlich die Begrenzung und Steuerung politischer und sozialer Macht in einer Art und Weise, die Unrechtsfälle möglichst vermeidet oder zu einer gerechten Lösung bringt9. Eine Verrechtlichung der zunächst nur politischen Forderungen nahm ihren Ausgang in der Positivierung der Menschenrechte im Zuge der Revolutionen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Daran anschließend kam es zur Aufnahme von Grundrechtskatalogen in staatliche Verfassungen und noch später zu internationalen Menschenrechtsverträgen. Inhaltlich lässt sich die historische Entwicklung positivierter Menschenrechte von zunächst negativen Abwehrrechten und demokratischen Mitwirkungsrechten zu später auch wirtschaftlichen und sozialen Rechten zur Befriedigung materieller Grundbedürfnisse bis hin zu Solidarrechten im Rahmen einer Universalisierung 4
Erhoben von Edward Coke (1552–1634), s. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 77 f. 5 Zum historischen Stellenwert John Lockes (1632–1704) für den Durchbruch der Menschenrechtsidee s. L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, S. 62 ff. 6 Zitat von Kant, zitiert nach K. Stern in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, § 108 Rn. 11. 7 Als Vertreter der Aufklärung, die sich besonders mit den Menschenrechten befasst haben, seien hier Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte genannt; dazu K. Stern in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, § 108 Rn. 11; siehe auch L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, S. 78 ff. 8 Als ausnahmsweise geschriebene frühe „Grundrechtskodifikation“ kann der englische Habeas-Corpus-Act von 1679 genannt werden. 9 Vgl. W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537, 569. Siehe auch J. Weiler, The Constitution of Europe, S. 102 f.: „. . . the appeal of rights has to do with two roots. The first of these two roots regards fundamental rights (and liberties) as an expression of a vision of humanity which vests the deepest values in the individual which, hence, may not be compromised by anyone. . . . The other root for the great appeal of rights, and part of the justification even if counter-majoritarian, looks to them as an instrument for the promotion of the per se value of putting constraints on power.“
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
des Menschenrechtsgedankens10 und damit einer Erweiterung der Träger der Menschenrechte nachzeichnen11. Aus der aufgezeigten Ideengeschichte lassen sich gemeinsame Grundlinien und -aspekte der Menschenrechte ableiten, die für alle Systeme, egal ob national oder international, Gültigkeit entfalten. Ausgangspunkt und Fundament aller Grund- und Menschenrechte ist danach das „Mensch-Sein“ und die Menschenwürde. In der Menschenwürde als Grundwert kommt die Wesensbestimmtheit und Personalität des Menschen zum Ausdruck12. Als Rechte jedes Menschen charakterisieren sich die Menschenrechte durch ihren universalen Geltungsanspruch – ohne dass ihnen allerdings damit tatsächlich universelle Geltung zukäme, denn die Geltung bzw. der Umfang der Geltung steht in Abhängigkeit von dem System, in dem die Rechte zur Anwendung kommen. Kennzeichnend ist weiterhin, dass Menschenrechte auf gesellschaftlichen und staatlichen Konsens abzielen, d. h. es werden Konsensfelder abgesteckt, die ungeachtet unterschiedlicher religiöser oder sittlicher Grundwertverortung allgemein akzeptiert werden können13. Hierin kommt die klassische Funktion als Minderheitenrechte zum Ausdruck: Minderheiten sollen durch die Menschenrechte vor der Unterdrückung durch Mehrheiten bewahrt werden14. In ihrer historischen Dimension sind die Menschenrechte elementaren erlittenen Unrechtserfahrungen entsprungen15. Gleichzeitig werden sie aber auch als Ansprüche angesehen, die in die Zukunft weisen. 10 Vgl. E. Klein, Universeller Menschenrechtsschutz – Realität oder Utopie?, EuGRZ 1999, S. 109 ff. 11 Dies entspricht der Einteilung der Menschenrechte in solche der ersten, zweiten und dritten Generation bzw. Dimension, die sich vom ausgehenden 18. Jahrhundert über das 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hin entwickelt haben. Hierzu W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537, 539 ff.; E. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, S. 9, 11. K. Stern, Das Staatsrecht der BRD, S. 217 f.: „Die Geschichte der Menschenrechte zeigt die unaufhaltsame Entwicklung von naturrechtlichen, philosophischen oder politischen Forderungen hin zu positiven im Verfassungsrang stehenden Grundrechtskatalogen.“ 12 Ausführlich zur Menschenwürde als Fundament der Grundrechte K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 6 ff., m. w. N. 13 Diese sehr allgemeine Aussage verschleiert allerdings das Problem, dass Menschenrechte je nach dem Gesamtkontext, aus dem sie hervorkommen, sehr wohl unterschiedliche Ausrichtungen haben können; dies tritt beispielsweise in der Diskussion über Divergenzen zwischen „christlichen“ und „islamischen“ Menschenrechten zutage. 14 Siehe dazu L. Osterloh in: Sachs, Grundgesetz-Kommentar, Art. 3 Rn. 229 i. V. m. 238; U. Mager in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 4 Rn. 3 i. V. m. 20. Vgl. auch R. Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 185, 191 f. 15 Vgl. H. Dreier in: Dreier, GG-Kommentar, Bd. I, vor Art. 1 Rn. 6: Grundrechte als „Antworten auf bestimmte typische Gefährdungslagen menschlicher Freiheit“.
A. Herleitung und Terminologie der Grund- und Menschenrechte
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II. Die Unterscheidung zwischen Grund- und Menschenrechten auf den verschiedenen Rechtsebenen: Terminologie und inhaltliche Differenzierungen Aus historischer Perspektive ist der Begriff der Menschenrechte (droits de l’homme; human rights) unbestritten der Ausgangspunkt. Erst nach der Entwicklung der Menschenrechtsidee und aus ihr heraus ist der Begriff der Grundrechte (droits fondamentaux; fundamental rights) entstanden. Die heutige Terminologie in der Verwendung der Begrifflichkeiten für die fundamentalen Rechte des Einzelnen ist uneinheitlich16. In dieser Untersuchung soll von den Bezeichnungen Grundrechte sowie Menschenrechte und – damit zusammenhängend – Grundfreiheiten gesprochen werden. Dies sind die geläufigen und auch im Gemeinschaftsrecht und in der EMRK verwendeten Termini. Für die heute verwendeten Begriffe auf den verschiedenen Rechtsebenen spielen historische Bedingtheiten und traditionelle Überlieferungen eine bedeutsame Rolle. Über diese Faktoren hinaus und trotz der nicht ganz einheitlich verwendeten Terminologie spiegeln sich jedoch in der Differenzierung zwischen dem Begriff der Grundrechte und dem Begriff der Menschenrechte auch bestimmte inhaltliche und systembedingte Unterschiede wider, die für die vorliegende Untersuchung eine Rolle spielen und im Folgenden erläutert werden sollen. 1. Uneinheitliche Terminologie auf nationaler Ebene Klassisch wird auf nationaler Ebene unterschieden zwischen den Menschenrechten als überpositiven Rechten und den Grundrechten als verfassungsmäßig garantierten Rechten, wobei letztere als Bestandteil der Staatsgrundgesetze und Verfassungsurkunden unter wechselnden Namen erscheinen17. Menschenrechte folgen hiernach aus der Natur des Menschen, 16 K. Stern, Das Staatsrecht der BRD, Bd. III/1, S. 219, nennt als mögliche Bezeichnungen für diese Rechte die Begriffe Menschen- und Bürgerrechte, verfassungsmäßige Rechte, Individualrechte, Grundfreiheiten, Grund- und Freiheitsrechte, Grundrechte und Rechte. 17 G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, S. 12. Die Grundrechte des deutschen Sprachraums umschließen auch die englischamerikanischen „civil liberties“. Gelegentlich wird – in Anlehnung an diesen englischen Ausdruck – auch im deutschen Sprachraum der Begriff „Grundfreiheiten“ für Rechte verwendet, die inhaltlich Grundrechte darstellen. Diese Terminologie liegt auch der zur völkerrechtlichen Ebene gehörenden EMRK, der „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ zugrunde. Hierzu W. Pfeil, Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 20 ff., insbes. S. 33 ff.
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gründen in seiner unverwechselbaren Würde und bestehen unabhängig von der Anerkennung durch eine von Menschen geschaffene Rechtsordnung18. Ihre Existenz beruht auf vorstaatlichen Gegebenheiten. Grundrechte hingegen werden definiert als die der Einzelperson zustehenden Rechte, die für sie durch die Verfassung als Elementarrechte verbürgt sind19. Es wird auch von den fundamentalen Rechten gesprochen, die in der politischen Gemeinschaft eine angemessene Ausbalancierung der gegensätzlichen Gewalten und Interessen gewährleisten sollen20. Verfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz wird dergestalt umschrieben, dass die Verfassung bestimmte Erscheinungsformen menschlichen Daseins und Verhaltens als körperliche, seelische und räumliche Integrität, als Handlungs- und Unterlassungsfreiheiten gewährleiste und zu diesem Zweck Grundrechte formuliere, in denen der jeweilige Schutzbereich definiert sei21. Diese Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Grundrechten – die einen überpositiv und vorstaatlich, die anderen im Rahmen einer Staatsordnung in der Regel durch die Verfassung gewährleistet – findet sich auch in Art. 1 GG wieder: Gemäß Art. 1 Abs. 2 GG sind die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte . . . Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“, während nach Art. 1 Abs. 3 GG die „nachfolgenden Grundrechte . . . Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ binden. Aus diesen beiden Absätzen geht deutlich die vom Grundgesetz getroffene Differenzierung zwischen den beiden Rechtskategorien hervor, die der dargestellten Unterscheidung entspricht. Es handelt sich nicht um eine Frage der Wertigkeit, sondern des jeweils unterschiedlichen Geltungsgrundes, überpositives oder positives Recht. Im Ergebnis sind Menschenrechte und Grundrechte hiernach zwei mindestens teilweise deckungsgleiche Kreise22. 18 Dementsprechend sind Menschenrechte zunächst moralische Rechte, vgl. M. Cranston, What are human rights?, S. 17: „Human rights are a form of moral rights, and they differ from other moral rights in being the rights of all people at all times and in all situations.“. Siehe auch oben unter A. I. die historische Herleitung der Menschenrechte. 19 Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 603; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 220. 20 So W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537, 561. In der Bezeichnung fundamentale Rechte wird die Anlehnung an den englischen Begriff ‚fundamental rights‘ bzw. den französischen ‚droits fondamentaux‘ deutlich. Die von Brugger gewählte Umschreibung der Grundrechte ist allerdings relativ weit; sie kann mehr umfassen als die klassischen ‚Grundrechte‘ des deutschen Sprachraums. 21 C. Starck in: v. Mangoldt/Klein, Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Rn. 228. 22 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 44. Stern verweist auch darauf, dass es oft nur eine „Frage des Aspekts“ sei, denn recht-
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In der deutschen Terminologie werden die Begriffe Menschenrechte und Grundrechte auch verwendet, um innerhalb der Grundrechte zwischen den sog. Jedermann-Rechten, den Rechten, auf die sich innerstaatlich auch Ausländer berufen können, und den sog. Deutschen-Rechten, die nur den Schutz der Staatsbürger bezwecken, zu differenzieren23. Diese Unterscheidung spielt allerdings für die vorliegende Untersuchung keine Rolle und soll daher nicht weiter vertieft werden, zumal die Verwendung der Begriffe in diesem Zusammenhang umstritten ist24. 2. Begriff der Menschenrechte im Völkerrecht Mit der Bezeichnung der von ihr gewährleisteten Rechte als Menschenrechte entspricht die EMRK ihrer Einordnung als regionales Völkerrecht. Der Begriff kennzeichnet auf dieser Ebene die fundamentalen Rechte des Einzelnen in einem nicht-hierarchisierten Kontext, d. h. in einer noch nicht vertikal durchgegliederten Rechtsordnung. a) Menschenrechte als Teilbereich des nicht-hierarchisierten Völkerrechts Im Völkerrecht umschreibt der Begriff ‚Menschenrechte‘ die dem Individuum als eigenständigem Völkerrechtssubjekt auf internationaler Ebene zugestandenen grundlegenden Rechte. Ein völkerrechtlicher Menschenrechtsbegriff wurde – im Vergleich zu den frühen Ursprüngen der Menschenrechtsidee – erst relativ spät herausgebildet. Erst mit dem Entstehen internationaler Organisationen und vor allem mit der Bildung universeller und regionaler Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer echten Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes25. Die politische und rechtliche Umsetzung des Gedankens der Menschenrechte, dem begrifflich und nach Sinn und Zweck universelle Gültigkeit innewohnt, blieb bis in das 20. Jahrhundert hinein in den Rahmen nationalstaatlicher Souveränität eingebunden. Lediglich in den Bereichen des völkerrechtlichen Fremdenrechts, das den Schutz der Staatsangehörigen eines fremden Staates relich gesehen handele es sich um Grundrechte, philosophisch um Menschenrechte (a. a. O., S. 45). 23 E. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, S. 9; W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537, 555, der von einer Zweiteilung in Staatsbürgerrechte und Menschenrechte spricht; ebenso Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Bd. I, Vorbemerkung vor Art. 1 Rn. 35 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 1016 ff. 24 K. Stern, a. a. O. (vorherige Fußnote), S. 1016 ff. 25 Hierzu S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, S. 216 ff.; L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, S. 86 ff.
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gelt, und des humanitären Völkerrechts, welches den Schutz des Einzelnen im Krieg bezweckt, ist schon vorher ein erster Ansatzpunkt für übergreifende internationale Menschenrechte zu sehen26. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Gründung der Vereinten Nationen wurde die Rolle des Individuums im Völkerrecht gestärkt und der internationale Menschenrechtsschutz, aufbauend auf der UN-Charta27 und vor allem auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, umfassend ausgebaut. Dem lag in erster Linie der Gedanke zugrunde, dass die Aufnahme von Grundrechtskatalogen und Sicherungsmechanismen in nationale Verfassungen allein noch nichts über die tatsächliche Respektierung dieser Rechte aussage und staatlicherseits begangene Menschenrechtsverletzungen dadurch nicht automatisch verhindert würden. Ein zusätzliches „Sicherheitsnetz“ an Rechten auf internationaler Ebene sollte daher betroffenen Einzelnen die Möglichkeit geben, sich auch auf dieser Ebene gegen die nationale Staatsgewalt zur Wehr zu setzen. Die Vielzahl der seitdem ergangenen Verträge im Menschenrechtsbereich auf universeller und regionaler Ebene hat dabei dazu geführt, dass der Begriff der Menschenrechte im Völkerrecht sehr weit gefasst wird und derartige Rechte breiter und umfassender angelegt sind als nationale Grundrechte28. Damit einhergehend wohnt diesen Rechten allerdings gleichzeitig eine Tendenz zur Verwässerung inne; es besteht die Gefahr, dass ihr Fundamentalitätscharakter verloren geht, wenn es sich um beliebig ausdehnbare und gewährbare Rechte mit unterschiedlichstem Inhalt handeln kann29. Dies erschwert ihre Durchsetzung, insbesondere weil die Mechanismen zur Überwachung und Einhaltung internationaler Menschenrechte oft schwach oder gar nicht vorhanden sind. 26 Zu diesen Bereichen K. Ipsen, Völkerrecht, § 50 Rn. 2 ff., § 2 Rn. 60 f. und § 65 Rn. 20; K. Hailbronner in: W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, S. 249 ff. 27 Die Menschenrechte tauchen in der Präambel („. . . Glauben an die Grundrechte des Menschen . . .“) und in Art. 1 Nr. 3 UN-Charta („. . . die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle . . .“) auf. 28 L. Henkin gibt den Menschenrechten folgende, sehr weite, völkerrechtliche Definition: „Human rights are those liberties, immunities and benefits which, by accepted contemporary values, all human beings should be able to claim ‚as of right‘ of the society in which they live.“ (in: R. Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, Bd. 8 (1985), S. 268). K. Stern spricht in diesem Zusammenhang von der „ungeheuren Ausweitung“ des Begriffs der Menschenrechte auf internationaler Ebene, in: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 259. Dass internationale Menschenrechte umfassender angelegt sind als nationale Grundrechte zeigt sich nicht nur daran, dass sie ein breiteres Spektrum an Rechten abdecken, sondern auch daran, dass zu ihnen auch Solidar- und Gruppenrechte zählen, während nationale Grundrechte ganz vorrangig auf den Schutz des Einzelnen als Individuum ausgerichtet sind. Vgl. oben A. I. 1. a. E. 29 K. Stern, a. a. O. (vorherige Fußnote), S. 259 f.
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Der Begriff der Grundrechte wird im Völkerrecht nicht verwendet. Auch sprachlich zeigt sich hier der Unterschied zu den Gewährleistungen fundamentaler Rechte in nationalen Verfassungen. So umfasst der Begriff der internationalen Menschenrechte zwar ein breiteres Spektrum von Rechten, diesen kommt aber nicht der gleiche Wirkungs- und Durchsetzungsgrad wie den Grundrechten auf nationaler Ebene zu, gegen deren Verletzung in der Regel vor nationalen Instanzen gerichtlich vorgegangen werden kann. In den Staaten sind die Grundrechte umfassend in das nationale Rechtssystem eingebunden. Auf allen Rechtsebenen dieses national begrenzten Systems findet eine – direkte oder indirekte – Rückkoppelung mit den Grundrechten statt. Als Teil der Verfassung oder im Rang von Verfassungs- oder zumindest übergeordnetem Recht30 stehen sie an der Spitze der Normenpyramide und beeinflussen das einfache Recht. Rein begrifflich impliziert der Ausdruck Grundrechte bereits, dass die Rechte fundamental und daher gegenüber anderen Rechten vorrangig sein müssen. Auf internationaler Ebene hingegen interagieren die vertraglich kodifizierten oder gewohnheitsrechtlich geltenden Menschenrechte nicht in vergleichbarer Weise mit dem Gesamtsystem ‚Völkerrecht‘. Sie stellen einen Teilbereich dieses Rechtssystems dar, der sich mit anderen völkerrechtlichen Teilbereichen auf gleicher Ebene befindet und parallel dazu verläuft. Anders als die nationalen Grundrechte für die jeweilige staatliche Rechtsordnung dienen die Menschenrechte im Völkerrecht – zumindest derzeit noch – nicht als Messlatte und generelles Wertesystem für alle anderen Bereiche31. Von seinem Ansatz und 30 Ausgegangen wird hier vom Grundrechtsverständnis und -status in einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie europäischer Prägung. Zwar gibt es in der Grundrechtssicherung, insbesondere bei bestimmten Aspekten der gerichtlichen Durchsetzung, Unterschiede auch zwischen den europäischen Staaten; grundsätzlich ist jedoch von einem Grundrechtsverständnis auszugehen, das mit dem des GG im Wesentlichen homogen ist, vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der BRD, S. 224, der von einem „gefestigten europäischen Grundrechtsbewusstsein“ spricht. Nicht in allen in diesem Zusammenhang interessierenden europäischen Verfassungen finden sich explizite Grundrechtskataloge, in der Regel kommt den Grundrechten aber verfassungsrechtlicher Rang zu. Zu verschiedenen Ausprägungen europäischer Grundrechtsschutzsysteme siehe D. Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen, S. 87 ff. Zu den verschiedenen Ausgestaltungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in den europäischen Staaten und zur Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzen siehe J. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung, Rn. 12. Zum ‚bloc de constitutionnalité‘ und der Ausgestaltung des französischen Grundrechtsschutzes vgl. C. Grewe, Die Grundrechte und ihre richterliche Kontrolle in Frankreich, EuGRZ 2002, S. 209 ff. 31 Vgl. P. Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, CMLRev. 39 (2002), S. 945, 990: „. . . an international human rights instrument is an agreement on some level of common standards, to be reflected in a national context, but which is not applied to any substantive policies at international level . . .“.
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seiner Ausrichtung her ist das Völkerrecht in erster Linie zwischenstaatliches Recht, das vorrangig die Beziehungen zwischen den vertragsschließenden Staaten regelt und den Einzelnen in vielen Bereichen nur indirekt – über den Staat als Mittler – betrifft32. Bereits auf der Terminologieebene lässt sich hier folglich eine Trennlinie ziehen. Zunehmend findet zwar ein Strukturwandel statt, der mit dem Übergang vom klassischen Völkerrecht als ‚Koordinationsrecht‘ zum modernen ‚Kooperationsrecht‘ umschrieben wird und sich durch eine gestiegene Interdependenz zwischen den Staaten sowie eine verstärkte institutionalisierte Zusammenarbeit mit daraus resultierenden Beschränkungen der Souveränität auszeichnet33. Für die internationale Rechtsgemeinschaft34 in diesem Sinne soll kennzeichnend sein, dass alle ihre Mitglieder, d. h. die Staaten sowie die übrigen Völkerrechtssubjekte wie internationale Organisationen und Individuen, miteinander durch Rechte und Pflichten verbunden sind. Auch wird, ausgehend von der Anerkennung bestimmter fundamentaler Grundwerte, die für das Funktionieren des internationalen Systems unabdingbar sind, von der ‚Konstitutionalisierung der Völkerrechtsordnung‘35 und einem Prozess der Hierarchisierung im Völkerrecht36 gesprochen. Hierbei geht es darum, wie sich die Existenz bestimmter allgemeingültiger, d. h. alle Völkerrechtssubjekte bindender Völkerrechtsnormen auf die internationale Rechtsordnung auswirkt. Zu diesen Normen, die – anders als das klassische internationale Vertrags- oder Gewohnheitsrecht – nicht nur auf einer subjektiv-relativen, sondern auch auf einer objektiven Ebene gelten, ge32
Phänomen der Mediatisierung des Menschen durch den Staat im Völkerrecht. Der Begriff des ‚Kooperationsrechts‘ wurde 1964 von W. Friedmann geprägt, ders., The changing structure of international law, S. 64. Siehe auch C. Schreuer, The Waning Sovereign State: Towards a New Paradigm of International Law?, EJIL 4 (1993), S. 447 ff., sowie die Untersuchung von S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz. 34 Diese Bezeichnung stammt von H. Mosler, Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 36 (1976), S. 6, 9. Alternativ wird auch von der ‚internationalen Staatengemeinschaft‘ gesprochen, vgl. Art. 53 S. 2 WVK bei der Definition des ius cogens. 35 J. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 39 (2000), S. 427 ff.; C. Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance – Possibilities for and Limits to the Development of an International Constitutional Law, GYIL 44 (2001), S. 170 ff.; R. Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 565 ff. Kritisch U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 511 ff., der auf nicht zu überbrückende Unterschiede zwischen nationalem und internationalem Verfassungsrecht hinweist. 36 Z. B. J. A. Carrillo Salcedo, Reflections on the Hierarchy of Norms in International Law, EJIL 8 (1997), S. 583 ff.; J. Weiler/A. Paulus, The Structure of Change in International Law or Is There a Hierarchy of Norms in International Law?, EJIL 8 (1997), 545 ff. Als Beispiel für eine ausnahmsweise vertraglich normierte Hierarchie im Völkerrecht kann Art. 103 UN-Charta genannt werden, demzufolge die Charta anderen völkerrechtlichen Verträgen vorgeht. 33
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hören in erster Linie das ius cogens und die erga-omnes-Verpflichtungen im Völkerrecht37. Obgleich der Bestand derjenigen Normen, die als völkerrechtliches ius cogens anzusehen sind, auch auf der Grundlage der Definition des Art. 53 S. 2 WVK nicht klar bestimmbar ist, gehört das Gebot der Achtung elementarer Menschenrechte wie des Rechts auf Leben und Freiheit sowie des Verbots von Folter und Sklaverei anerkanntermaßen zu diesen zwingenden und unabdingbaren Vorschriften38. Andererseits fallen aber nicht alle völkervertraglich gewährleisteten Menschenrechte in diesen Bereich. Allein die Tatsache jedoch, dass bestimmte Menschenrechte als zwingend und unabdingbar gelten und sich daher – zusammen mit dem anderen Bestand des ius cogens und eventueller weiterer erga-omnes-Normen – auf einer für alle Völkerrechtssubjekte nicht nur subjektiv-relativen, sondern objektiv-verbindlichen Rechtsebene befinden, bedeutet noch nicht, dass diese Normen damit Einfluss auf das gesamte Völkerrecht nähmen und dieses sich daran ausrichtete39. Die Hierarchisierung ist noch nicht in einer 37 Zum ius cogens sind gemäß Art. 53 S. 2 WVK die zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts zu zählen, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt werden als Normen, von denen nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden können. Eine – in engem Zusammenhang mit dem Konzept des ius cogens stehende – erga-omnesWirkung für völkerrechtliche Bestimmungen wird angenommen, sofern es im öffentlichen Interesse der gesamten Staatengemeinschaft liegt, in einem bestimmten Bereich, wie beispielsweise dem Umweltschutz, ein sog. ‚objective régime‘ zu errichten, das nicht von einzelnen Staaten unterlaufen werden soll. Eine solche objektive Wirkung völkerrechtlicher Bestimmungen in der Staatengemeinschaft ist allerdings umstritten; hierzu C. Tomuschat, Obligations Arising for States without or against their Will, RdC 241, (1993/IV), S. 195 ff.; K. Doehring, Völkerrecht, S. 22. Siehe auch die Beiträge in J. Delbrück (Hrsg.), New Trends in International Lawmaking – International „Legislation“ in the Public Interest. Zu den Konzepten von ius cogens und erga-omnes-Verpflichtungen im Völkerrecht siehe z. B. B. Fassbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, EuGRZ 2003, S. 1, 5 ff. 38 M. Herdegen, Völkerrecht, § 16 Rn. 14; J. Frowein, Das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: Festschrift für Zeidler, S. 1763, 1769; T. Koji, Emerging Hierarchies in International Human Rights and beyond: From the Perspective of Non-derogable Rights, EJIL 12 (2001), S. 917, 927. 39 Der mögliche, aber umstrittene Einfluss der Menschenrechte auf den Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts zeigt sich beispielsweise in der unter dem Obertitel „Integrating Human Rights into International Economic Law and into the Law of Worldwide Organizations“ geführten Debatte zwischen Petersmann, Alston und einigen anderen Autoren. Siehe hierzu E.-U. Petersmannn, Time for Integrating Human Rights into the Law of Worldwide Organizations. Lessons from European Integration Law for Global Integration Law, Jean Monnet Working Paper 7/01;
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Weise ausgeprägt, dass sich für die internationale Rechtsordnung eine der staatlichen Rechtsordnung vergleichbare Normenpyramide mit bestimmten Menschenrechten an der Spitze ergäbe. Hierarchie im Völkerrecht bedeutet auf der jetzigen Entwicklungsstufe lediglich, dass es einen bestimmten objektiven Bestand an Normen gibt, der für alle Völkerrechtssubjekte verbindlich ist und von dem nicht abgewichen werden darf. Die Folge ist eine Verfestigung des Rechtsordnungscharakters. Mit der Anerkennung der Unabdingbarkeit erhält eine Norm zwar eine besondere Qualität, hieraus ergibt sich aber kein besonderer Rang dieser Norm im Verhältnis zu den sonstigen dispositiven Normen des Völkerrechts, sondern lediglich eine verfestigte Geltungskraft. Eine dem innerstaatlichen Recht vergleichbare Normenhierarchie ist dem Völkerrecht, welches nur die gleichberechtigten Völkerrechtssubjekte als Beteiligte am Rechtsetzungsprozess anerkennt, fremd40. Dies hängt auch damit zusammen, dass dem Gesamtsystem ‚Völkerrecht‘ einige wichtige Charakteristika fehlen, die in staatlichen Rechtsordnungen dem Gedanken der Normenhierarchie notwendig zugeordnet sind, so eine gewisse Homogenität des Regelungsgegenstandes und der zugeordneten Regelungssubjekte, eine umfassende, obligatorische Gerichtsbarkeit, der alle Rechtssubjekte unterworfen sind, und die hiermit verbundene Möglichkeit der Durchsetzung des Rechts mit Hilfe effektiver Sanktionen41. ders., Time for a United Nations ‚Global Compact‘ for Integrating Human Rights into the Law of Worldwide Organizations: Lessons from European Integration, EJIL 13 (2002), S. 621 ff.; P. Alston, Resisting the Merger and Acquisition of Human Rights by Trade Law: A Reply to Petersmann, EJIL 13 (2002), S. 815 ff.; R. Howse, Human Rights in the WTO: Whose Rights, what Humanity? Comment on Petersmann, EJIL 13 (2002), S. 651 ff.; E.-U. Petersmann, Taking Human Dignity, Poverty and Empowerment of Individuals More Seriously: Rejoinder to Alston, EJIL 13 (2002), S. 845 ff.; ders., Welthandelsrecht als Freiheits- und Verfassungsordnung, ZaöRV 65 (2005), S. 543 ff.; F. Schorkopf/C. Walter, Elements of Constitutionalization: Multilevel Structures of Human Rights Protection in General International and WTO-Law, GLJ 4 (2003), Nr. 12; M. Hilf/S. Hörmann, Die WTO: Eine Gefahr für die Verwirklichung von Menschenrechten?, AVR 43 (2005), S. 397 ff. Die Debatte wird hier besonders kontrovers geführt, da das internationale Wirtschaftsrecht von seinem Ausgangspunkt und seiner bisherigen Entwicklung her bisher weit entfernt von dem Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes liegt. So spiegeln sich in den divergierenden Positionen auch Herkunft und Zuordnung der Autoren als „Menschenrechtler“ oder als „Wirtschaftsrechtler“ wider. 40 K. Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn. 45; C. Maierhöfer, Der EGMR als „Modernisierer“ des Völkerrechts? – Staatenimmunität und ius cogens auf dem Prüfstand, EuGRZ 2002, S. 391, 396. 41 M. Koskenniemi, Hierarchy in International Law: A Sketch, EJIL 8 (1997), S. 566, 575: „. . . the rules/standards dilemma seems particularly problematic in the international world where rules enjoy no hierarchical priority to the reasons for which they were enacted“.
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b) ‚Menschenrechte und Grundfreiheiten‘ in der EMRK Die EMRK trifft nach ihrem Titel „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ bei den gewährleisteten Rechten eine Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Grundfreiheiten. aa) ‚Menschenrechte‘ Aus den vorstehenden Erläuterungen wird verständlich, wieso die EMRK die Bezeichnung Menschenrechte (human rights; droits de l’homme) verwendet und nicht auf den im staatsrechtlichen Kontext gebrauchten Ausdruck der Grundrechte ( fundamental rights; droits fondamentaux) rekurriert. Die Menschenrechtskonvention ist ein rein völkerrechtlicher Vertrag im Rahmen des Europarats, mit dem die unterzeichnenden Staaten übereinkommen, die auf zwischenstaatlicher Ebene vertraglich fixierten Menschenrechte anzuerkennen und zu wahren. Mit dem Menschenrechtsgerichtshof verfügt die Konvention über ein Organ zur Durchsetzung dieser Rechte. Dessen Urteile binden die Vertragsparteien (Art. 46 EMRK), ihnen kommt aber lediglich feststellende Wirkung zu42. Urteile des EGMR können innerstaatliche Hoheitsakte nicht aufheben; eine Derogationswirkung gibt es nicht43. Es handelt sich bei den Urteilen dieses Gerichtshofs vielmehr um „Verurteilungen“ (condemnations) in dem Sinne, dass der Vertragsstaat die noch andauernde Verletzung eines Konventionsrechts beenden und für die Zukunft sicherstellen muss, dass sich vergleichbare Verletzungen nicht wiederholen44. Für den völkerrechtlichen Teilbereich des regionalen Menschen42 Gemäß Art. 41 EMRK kann der Gerichtshof außerdem im Fall einer Konventionsverletzung der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zusprechen, sofern sich eine Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht als unvollkommen erweist. 43 G. Ress, The Effects of Judgments and Decisions in Domestic Law in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 801, 802; W. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 53 Rn. 3; C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 318; J. Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 223 ff. Etwas anderes ist die Pflicht zur Änderung oder Aufhebung eines Hoheitsakts, die sich für einen Vertragsstaat aus einem Urteil des EGMR ergeben kann, vgl. W. Peukert in: Frowein/ Peukert, Art. 53 Rn. 6. Siehe auch E. Klein, Should the binding effect of the judgments of the European Court of Human Rights be extended?, in: GS Ryssdal, S. 705 ff. 44 G. Ress, a. a. O. (vorherige Fußnote); W. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRKKommentar, Art. 53 Rn. 6 ff.; J. Polakiewicz, Die Verpflichtung der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 223 ff.; W. Okresek, Die Umsetzung der EGMR-Urteile und ihre Überwachung, EuGRZ 2003, S. 168 ff.
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rechtsschutzes hat die Menschenrechtskonvention damit zwar ein im internationalen Kontext sehr weitgehendes System der gerichtlichen Durchsetzung aufgebaut. Sie bleibt aber weiterhin der zwischenstaatlichen Ebene verhaftet, von der sie sich – ohne den Willen der Vertragsstaaten, eigene Hoheitsrechte zu übertragen und damit dem Vertrag eine neue Rechtsqualität zu geben – nicht loskoppeln lässt45. Die EMRK bildet sozusagen ihr eigenes, sich – zumindest vom Ausgangspunkt her – selbst genügendes, regionales System; sie ist nicht Bestandteil eines größeren Systems, in dem sie den Teilbereich der fundamentalen Rechte des Individuums abdeckt. Es handelt sich um einen Spezialbereich, der, wenn überhaupt, in der internationalen Rechtsordnung nur begrenzte Wirkungen außerhalb seines eigentlichen Anwendungsgebiets zu entfalten vermag46. Damit entspricht die Konvention der klassischen Systematik des Völkerrechts auf regionaler Ebene, in der die verschiedenen Teilbereiche des Rechtsgebiets ohne Hierarchisierung nebeneinander stehen und nicht miteinander vernetzt sind. Es ist insofern folgerichtig, dass für die von ihr gewährleisteten Rechte der Begriff der Menschenrechte gewählt wurde. Die Rolle, die der EMRK im Zusammenspiel mit den nationalen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten zukommt, ist unabhängig von ihrer Einordnung auf der internationalen Ebene zu betrachten. Dem nationalen Recht ist die EMRK sozusagen „übergestülpt“; sie befindet sich – unabhängig von dem Rang, den ihr das jeweilige nationale Recht innerstaatlich einräumt – auf einer anderen Rechtsebene. Durch diesen Effekt des „Überstülpens“ wirkt sie allerdings notwendigerweise auch in das nationale Recht hinein. Der Straßburger Gerichtshof als Durchsetzungsorgan der Konvention kann feststellen, dass ein Vertragsstaat Konventionsrechte verletzt hat mit der Folge, dass dieser hieraus Konsequenzen ziehen muss. Dies zeitigt jedoch zunächst keine Auswirkungen für die Einordnung der EMRK in den völkerrechtlichen Kontext. bb) ‚Grundfreiheiten‘ Die Bedeutung des neben den Menschenrechten verwendeten Begriffs der Grundfreiheiten, der ebenfalls für die Konvention titelgebend ist, ergibt 45 Eine Übertragung von Hoheitsrechten ist im Rahmen der EMRK nicht vorgesehen. Zu dem Versuch, der EMRK Organisationscharakter zuzusprechen und sie so als zwischenstaatliche Einrichtung i. S. d. Art. 24 Abs. 1 GG, auf die souveräne Rechte übertragen werden können, einzuordnen s. G. Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: FS Zeidler, Bd. 2, S. 1775, 1791 ff. 46 Vgl. oben in diesem Abschnitt. Auf die spezielle Rolle, die die EMRK im Gesamtkontext des europäischen Grund- und Menschenrechtsschutzes spielt, wird unten vertieft eingegangen, vgl. unten 1. Teil, B. II. 4.
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sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Präambel der EMRK. Hiernach leiten sich die Grundfreiheiten von den Menschenrechten her, d. h. die Menschenrechte werden als Basis für die Entwicklung der Grundfreiheiten angesehen. Die Grundfreiheiten sind damit gewissermaßen die Konsequenz der Menschenrechte47. Die Menschenrechte als Grundlage des Systems zu nehmen, stimmt mit der oben vorgenommenen Einordnung der Menschenrechte als überpositiver Grundordnung überein48. Die Bezeichnung Grundfreiheiten (fundamental freedoms; libertés fondamentales) wurde dabei in Anlehnung an die „civil liberties“ des anglo-amerikanischen Sprachraums gewählt, die eine erste Ausprägung der modernen Grundrechte darstellten49. Gemeint sind damit diejenigen fundamentalen Rechte, die den Freiheitsstatus des Einzelnen näher bestimmen und insofern abzugrenzen sind von Gleichheitsrechten, von grundrechtlich ausgestalteten Garantien wie dem Eigentumsrecht und von auf Leistung oder Teilhabe gerichteten sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Rechten50. In der Konvention findet sich allerdings keine weitergehende Trennung zwischen Menschenrechten und Grundfreiheiten. Vielmehr werden beide Kategorien im ersten Abschnitt unter der Überschrift „Rechte und Freiheiten“ zusammengefasst51. Für die vorliegende Untersuchung spielt die Differenzierung zwischen den beiden Kategorien keine Rolle. Es wird im Folgenden regelmäßig – wie allgemein üblich – für die in der EMRK gewährleisteten Rechte die Bezeichnung Menschenrechte verwendet werden, um den völkerrechtlichen Kontext zu kennzeichnen. cc) Abgrenzung der Grundfreiheiten der EMRK von den Grundfreiheiten des EG-Vertrags Von Bedeutung für die Untersuchung ist allerdings die Unterscheidung zwischen den Grundfreiheiten der EMRK und den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts. Auf das Verhältnis der Grundfreiheiten des EG-Vertrags zu den Gemeinschaftsgrundrechten wird im zweiten Teil der Untersuchung eingegangen52. An dieser Stelle ist aber bereits darauf hinzuweisen, dass 47
J. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK, Präambel Rn. 3. Vgl. oben 1. Teil, A. I. 1. und 2. a). 49 Hierzu W. Pfeil, Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 20 ff., 36 f., 39 f. 50 W. Pfeil, a. a. O. (vorherige Fußnote), S. 36. 51 Nach F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 92, ist die historisch begründete Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Grundfreiheiten in der Gegenwart inhaltlich nicht mehr gerechtfertigt, weil alle als Grundrechte ausgestalteten schützenswerten Rechtsgüter dem Individuum aufgrund seines Menschseins zugeordnet seien und eine weitere Differenzierung auf dieser Ebene nicht mehr möglich sei. Dieser Schluss erscheint allerdings nicht zwingend. 52 Siehe unten 2. Teil, B. III. 48
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
die Wahl des Ausdrucks ‚Grundfreiheiten‘ als Rechtsbegriff zur Bezeichnung der vier Freiheiten des Gemeinsamen Marktes in der Gemeinschaft ohne Bezugnahme auf bereits bekannte verfassungs- und völkerrechtliche Begrifflichkeiten erfolgte53. Der Begriff ‚Grundfreiheiten‘ ist somit heutzutage mehrdeutig: Neben der ursprünglichen Bedeutung als Bezeichnung der fundamentalen Freiheitsrechte, die den Freiheitsstatus des Einzelnen näher bestimmen, ist er zum Oberbegriff für die grundlegenden Elemente des Gemeinsamen Marktes der Europäischen Gemeinschaft geworden. Daher auch die Bezeichnung „Marktbürgerrechte“ für die Grundfreiheiten des EGVertrags54. 3. Grundrechte im Gemeinschaftsrecht Im Gemeinschaftsrecht wird in aller Regel zur Umschreibung der jedem Unionsbürger zukommenden fundamentalen Rechte die Bezeichnung Menschenrechte nicht verwendet, sondern auf den aus dem nationalen Kontext geläufigen Terminus der Grundrechte ( fundamental rights; droits fondamentaux) zurückgegriffen. a) ‚Menschenrechte‘ und ‚Grundrechte‘ in Art. 6 EUV Die einzige Norm des Gemeinschaftsrechts, in der die Grundrechte auf Unions- und Gemeinschaftsebene explizit erwähnt werden, ist Art. 6 EUV55. Dieser befasst sich allerdings sowohl mit den Menschenrechten und Grundfreiheiten als auch mit den Grundrechten. In Absatz 1 der Vorschrift heißt es zunächst, die Union beruhe auf der „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, während gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV die Union die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der 53 W. Pfeil, Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 279, merkt an, dass die Verwendung des Begriffs ‚Grundfreiheiten‘ in der Rechtsprechung des EuGH als Ergebnis einer Begriffsentwicklungsphase zu sehen sei, in der der Gerichtshof einen bereits bekannten Ausdruck mit neuem Bedeutungsinhalt ausfüllte. Siehe auch C. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rn. 35. 54 So als Erster H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 187, 251. 55 Die Vorschrift entspricht dem 1992 durch den Maastrichter Vertrag eingeführten Art. F EUV, ist allerdings durch den Vertrag von Amsterdam 1997 inhaltlich verändert worden. Insbesondere ist Abs. 1 der Vorschrift stark erweitert und ergänzt worden; er enthält nunmehr die grundlegenden Elemente, auf denen die Union beruht, während in der Maastrichter Fassung nur von auf demokratischen Grundsätzen beruhenden Regierungssystemen die Rede war. Auch die Formulierung in Abs. 2 der Vorschrift sowie die folgenden Absätze sind durch den Amsterdamer Vertrag geändert worden.
A. Herleitung und Terminologie der Grund- und Menschenrechte
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Mitgliedstaaten ergebenden „Grundrechte“ achtet. Die „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ ordnet sich in Art. 6 Abs. 1 EUV in eine Reihe von als „Grundsätze“ bezeichneter Verfassungsprinzipien ein, zu denen auch Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören. Von der Funktion her handelt es sich hierbei um eine materiell-rechtliche Struktursicherungsnorm, welche die Grundlagen für die Ausübung von Hoheitsgewalt auf unions- und gemeinschaftsrechtlicher Ebene festlegt56. Die Formulierung scheint daher in Anlehnung an die EMRK zur Kennzeichnung der generellen Gewährleistung eines Grundstandards fundamentaler Rechte auf europäischer Ebene gewählt zu sein57. In Abgrenzung zu den „Grundrechten“ des Art. 6 Abs. 2 EUV sollen die „Menschenrechte und Grundfreiheiten“ des ersten Absatzes hier in einem allgemeinen Sinne, unabhängig von einer konkreten Kodifizierung, zu verstehen sein58. Mit der zusätzlichen Betonung dieser Rechte als abstrakter Werte soll die Norm die Ausrichtung der Union auf die Person gegenüber einer rein funktional-instrumentellen Regelungsphilosophie deutlich machen59. Art. 6 Abs. 2 EUV konkretisiert demgegenüber die im ersten Absatz niedergelegten Verfassungsgrundsätze für den Bereich der Grundrechte durch normative Verankerung ihrer Erkenntnisquellen. Die Formulierung ist hierbei nahezu wortgleich der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechtsquellen entnommen60. Entscheidend für den unions- und gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz in concreto ist Art. 6 Abs. 2 EUV, der den Begriff Grundrechte verwendet. Auf die genaue Bedeutung der Vorschrift und ihre normative Wirkung soll erst im zweiten Teil der Untersuchung vertieft eingegangen werden61. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass grundsätzlich im Gemeinschaftsrecht die fundamentalen Rechte des Einzelnen in Anlehnung an die staatsrechtliche Terminologie als ‚Grundrechte‘ und nicht gemäß der völ56
T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 Rn. 1; A. v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, S. 14; P.-C. Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta: Die Europäische Union als transnationales Gemeinwesen, Integration 2000, S. 34, 35, spricht von der „Wertesicherungsklausel“; M. Hilf/F. Schorkopf in: Grabitz/Hilf, Art. 6 Rn. 6, bezeichnen die Vorschrift als „Homogenitätsklausel“. 57 So T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 5; C. Stumpf in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 13, F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 92 f. 58 C. Stumpf in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 13. 59 C. Stumpf in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 13. 60 Vgl. EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4; EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13. W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473, nennt Art. 6 Abs. 2 EUV eine „Transferklausel“. 61 Siehe unten 2. Teil, B. I. 2.–4.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
kerrechtlichen Begrifflichkeiten als ‚Menschenrechte‘ bezeichnet werden62. Dies entspricht dem generellen Usus, zur Charakterisierung der Grundlagen der Gemeinschaftsrechtsordnung die Begrifflichkeiten des Staatsrechts heranzuziehen63. Auf diese Weise wird im Bereich der fundamentalen Rechte des Einzelnen bereits auf sprachlicher Ebene der Unterschied zwischen Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht deutlich gemacht. b) Die Gemeinschaft als supranationales Gebilde Inhaltlich ist dieser Unterschied zurückzuführen auf die Supranationalität der Europäischen Gemeinschaft, die bei Organisationen der rein völkerrechtlichen, intergouvernementalen Ebene nicht vorzufinden ist. Mit dem Begriff der Supranationalität, für den es keine allgemein anerkannte juristische Definition gibt64 und der mit ‚Überstaatlichkeit‘ nur sehr unzureichend und ungenau umschrieben ist, werden Wesenszüge der Europäischen Ge62 B. de Witte führt hierzu aus, dass sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang des Art. 6 Abs. 2 EUV ergebe, dass der Begriff ‚Grundrechte‘ nicht als eine Unterkategorie des Begriffs ‚Menschenrechte‘ zu verstehen sei, sondern vielmehr als eine darüber hinausgehende Kategorie, die neben den internationalen Menschenrechten auch die Grundrechte der Mitgliedstaaten umfasse, diese verschiedenen Rechte allerdings in ihrer Ausprägung als ‚allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts‘, ders., Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: P. Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 860. Zu den Begrifflichkeiten im Gemeinschaftsrecht und einer Kategorisierung verschiedener fundamentaler Rechte in diesem Zusammenhang siehe M. Mendelson, The European Court of Justice and Human Rights, YEL 1 (1981), S. 125, 126 ff. 63 M. Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 8. Hierbei handelt es sich nicht um ein lediglich mit der deutschen Sprache zusammenhängendes Phänomen, sondern um ein generelles Charakteristikum des Gemeinschaftsrechts, das sich auch in anderen Amtssprachen widerspiegelt, vgl. beispielsweise in der französischen und englischen Sprachfassung. Allerdings wurde die Bezeichnung der supranationalen europäischen Organisationen als Gemeinschaft in bewusster Abgrenzung zum Staatsbegriff gewählt, vgl. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 196. Zu der Problematik der Anwendung traditioneller ‚staatlicher‘ Begrifflichkeiten auf die EG/EU siehe F. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 38 ff. 64 Vgl. z. B. Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 1292, der auch nur eine Umschreibung und Annäherung an den Begriff liefert. Siehe auch J. Weiler, The Community System: the Dual Character of Supranationalism, YEL 1 (1981), S. 267, 268 ff., der auf die Gefahr eines Zirkelschlusses bei der Definition des Begriffes der Supranationalität der EG hinweist: „For one had to employ the distinguishing features of the Community to give meaning to the term supranationalism which in turn was the concept used to express the distinctions between the Community and other international organizations.“ (S. 269). Zu dem – im EG-Kontext verwandten – Begriff des Föderalismus in der EU siehe J. A. Kämmerer, Föderale Kompetenzkonflikte und Grundrechtsjudikatur in Europa, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 37 ff.
A. Herleitung und Terminologie der Grund- und Menschenrechte
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meinschaft gekennzeichnet, die sie in ihrer rechtlichen Struktur von anderen völkerrechtlichen, internationalen Organisationen abgrenzen65. Hierzu gehören insbesondere die Übertragung von Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten, d. h. die Substituierung von staatlicher Hoheitsgewalt durch Gemeinschaftsgewalt, und der hohe Grad verselbständigter Willensbildung in der Gemeinschaft. Dies umschreibt insbesondere die Möglichkeit, verbindliche Beschlüsse zu fassen, welche die Mitgliedstaaten auch gegen ihren Willen zu einem bestimmten Verhalten verpflichten können66. Als weitere Kennzeichen des supranationalen Charakters der EG können die Eigenständigkeit, der Vorrang und die unmittelbare Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts67 sowie die finanzielle Selbständigkeit durch Eigenmittel gewertet werden. Während der Begriff der Supranationalität so die Wesensverwandtschaft der Europäischen Gemeinschaft mit staatlichen Gebilden umschreibt und sie von rein intergouvernementalen internationalen Organisationen abgrenzt, macht er zugleich deutlich, dass die Gemeinschaft nicht mit einem Staat oder staatsähnlichen Gebilde gleichgesetzt werden kann, sondern auch in diese Richtung hin noch bedeutende Unterschiede bestehen. So verfügt die Europäische Gemeinschaft als supranationale Organisation nicht über eine sog. Kompetenz-Kompetenz. Eine solche Kompetenz, selber Kompetenzen zu begründen, ist ein typisches Merkmal eines Staates, das einem überstaatlichen Zusammenschluss grundsätzlich nicht zukommt. Die Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung für die Gemeinschaft war von Anfang an anerkannt68. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde es explizit in Art. 5 Abs. 1 EGV verankert69. In dieser Hinsicht macht die Kennzeichnung als supranationale Gemeinschaft ein Minus gegenüber der Staatlichkeit deutlich. Der Rückgriff auf staatsrechtliche Kategorien liegt also einerseits nahe angesichts des steten Kompetenzzuwachses der Gemeinschaft verbunden mit der Herausbildung bestimmter Strukturprinzipien, die denen eines Staates vergleichbar sind. Auf der anderen Seite bleibt es jedoch bei dem deut65 Ausführlich zum Konzept der Supranationalität in der EG mit seinen verschiedenen Ausprägungen G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 69 ff., sowie W. Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip. Siehe auch M. Zuleeg, Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, Integration 1988, S. 103 ff. 66 M. Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 8. 67 Hierzu ausführlich G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 71 ff. 68 Für den Bereich der EGKS hat der EuGH die Geltung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung ausdrücklich anerkannt, EuGH, verb. Rs. 7/56 und 3 bis /757, Algera, Slg. 1957, S. 87, 167. 69 Gemäß Art. 5 Abs. 1 EGV wird „die Gemeinschaft innerhalb der Grenzen, der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig“.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
lichen Unterschied zwischen der supranational organisierten Gemeinschaft, die vom Bundesverfassungsgericht als „Staatenverbund“ bezeichnet wird70, und einem Staat oder auch nur staatsähnlichen Gebilde. Insofern handelt es sich bei der Verwendung der staatsrechtlichen Begriffe nur um Anleihen, die nicht irreführen sollten. In Anbetracht des fortgeschrittenen Integrationsstandes der EG als Rechtsgemeinschaft im Vergleich zu völkerrechtlichen Staatenzusammenschlüssen erscheint die Bezeichnung der fundamentalen Rechte des Unionsbürgers bzw. aller der Gemeinschaftsgewalt unterworfenen Personen als Gemeinschaftsgrundrechte jedoch weitaus passender als der Terminus der Menschenrechte, der auf internationaler Ebene auch die weniger starke Verfestigung des Völkerrechts als zusammenhängende Rechtsordnung kennzeichnet. c) Begrifflichkeiten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Auch die noch unverbindliche Charta, in der die fundamentalen Rechte auf Gemeinschaftsebene erstmals in einem eigenen Dokument schriftlich niedergelegt sind, verwendet den Begriff „Grundrechte“ und ist nicht etwa mit „Charta der Menschenrechte der Europäischen Union“ überschrieben. Damit bleibt sie – obwohl sie Geltung auf der zwischenstaatlichen Unionsebene entfalten soll – in der Tradition der in der Gemeinschaft verwendeten Begrifflichkeiten. Aus völkerrechtlicher Perspektive ist indes teilweise kritisiert worden, dass in der Überschrift und der Präambel der Charta nicht die Bezeichnung „Menschenrechte“ gewählt wurde. Aufgabe der Charta hätte es gerade sein sollen, die Verbindung zu den internationalen Menschenrechtsverträgen zu stärken und sich in deren Tradition zu stellen, d. h. die fundamentalen Rechte insbesondere im externen Kontext der Gemeinschaft mehr zu betonen. Durch die Verwendung des Terminus „Grundrechte“ bliebe die Gemeinschaft weiter vorrangig nach innen auf diese Rechte verpflichtet71. Dieser Kritik kann an dieser Stelle bereits entgegengehalten werden, dass mit der Charta vom Ausgangspunkt her keine komplette Umwälzung und Neuordnung des grundrechtlichen Systems der Gemeinschaft geschaffen, sondern vielmehr in erster Linie bestehende Rechte „sichtbarer gemacht“ werden sollten72. Der zusammengesetzte Terminus ‚Gemeinschaftsgrundrechte‘ wird in der Untersuchung als geläufige Kurzfassung des Begriffs ‚Grundrechte auf 70
BVerfGE 89, 155, 188 f. und Leitsatz 8. S. Parmar, International Human Rights and the EU Charter, MJ 8 (2001), S. 351, 355 ff., A. Williams, EU human rights policy and the Convention on the Future of Europe: a failure of design?, ELRev. 28 (2003), S. 794, 806. 72 5. Erwägungsgrund der Präambel der Grundrechte-Charta. Siehe hierzu unten 2. Teil, B. II. 3. 71
A. Herleitung und Terminologie der Grund- und Menschenrechte
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Ebene des Gemeinschaftsrechts‘ wertfrei verwendet. Es soll auf diese Weise keine Wertung im Hinblick auf die Entstehung, die Herkunft und den Geltungsgrund der fundamentalen Rechte in der Gemeinschaft vorweggenommen werden, insbesondere soll damit nicht ausgedrückt werden, dass die Rechte vom EuGH neu geschaffen wurden73. In der gemeinschaftsrechtlichen Literatur werden die Bezeichnungen „Gemeinschaftsgrundrechte“ und „Grundrechte“ synonym verwendet74.
III. Ergebnis Bereits auf terminologischer Ebene zeigen sich Differenzen beim Schutz fundamentaler Rechte innerhalb der verschiedenen Rechtsordnungen. Handelt es sich zunächst nur um die sprachliche Unterscheidung zwischen Menschenrechten einerseits und Grundrechten andererseits, so spiegeln diese unterschiedlichen Bezeichnungen – trotz teilweise uneinheitlicher Verwendung der Begriffe – doch auch bereits inhaltliche Divergenzen wider. Diese Divergenzen beruhen auf dem unterschiedlichen „Integrationsgrad“ der jeweiligen Rechtsordnung und Rechtsebene. Das Maß der Integration einer Rechtsordnung ist abhängig von der Rolle, die den fundamentalen Individualrechten darin zukommt: Je größer der Einfluss dieser Rechte, desto stärker ist auch die rechtliche Durchstrukturierung der Rechtsordnung ausgeprägt. Auf Gemeinschaftsebene wird der Begriff der Grundrechte verwendet, da es sich um eine rechtlich vergleichsweise stark durchstrukturierte Rechtsordnung mit einer einem staatlichen Rechtssystem vergleichbaren Normenpyramide handelt. Auf Konventionsebene kennzeichnet der Begriff der Menschenrechte die fehlende Hierarchisierung des Völkerrechts als Rechtsordnung, in der es noch keine echte Interdependenz im Sinne einer vertikalen Strukturierung zwischen einzelnen Teilrechtsbereichen gibt. Diese auf sprachlicher Ebene erkennbare Unterscheidung zwischen den Rechten in den beiden untersuchten Rechtsordnungen mit den dahinter stehenden unterschiedlichen Konzeptionen ist bei den folgenden Überlegungen zu beachten. Gleichzeitig erweisen sich die Bezeichnungen in gewisser 73 S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 24 f., führt an, dass es problematisch sei, von den „Gemeinschaftsgrundrechten“ zu sprechen. Der Begriff suggeriere, dass es sich um Grundrechte handele, die den Einzelnen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehen seien, während diese Rechte tatsächlich im Kern vorgemeinschaftlich seien, d. h. vom EuGH nicht neu geschaffen, sondern lediglich konkretisiert würden. Zu dieser Frage vertieft unten 2. Teil, B. I. 1. 74 J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 335.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
Weise aber auch als relativ. Denn der Luxemburger Gerichtshof gewinnt die „Grundrechte“ der Europäischen Gemeinschaft unter anderem aus den als „Menschenrechte“ bezeichneten Konventionsrechten. Dies zeigt, dass die Konzepte zwischen Völkerrecht und supranationalem Gemeinschaftsrecht auch auf sprachlicher Ebene nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt werden können.
B. Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene Die terminologischen Unterschiede zwischen Konventions- und Gemeinschaftssystem geben – trotz einer gewissen Relativität der Bezeichnungen – bereits erste Hinweise auf Divergenzen. Im folgenden Abschnitt soll nun die Rolle der Grund- und Menschenrechte in den beiden Systemen untersucht und die Ergebnisse verglichen werden. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, wie die Rechte das jeweilige System prägen und wie umgekehrt das System die Rechte prägt. Hintergrund für diesen Vergleichsansatz ist, dass Grund- und Menschenrechtskataloge niemals abstrakt betrachtet werden können. Sie sind stets eingebettet in Rechtsordnungen mit unterschiedlichen politischen, sozialen, kulturellen und institutionellen Strukturen. Ohne diese Einbettung in ein bestimmtes, im weiteren Sinne „verfassungsrechtliches“ Umfeld blieben sie wirkungs- und beziehungslose Programmsätze. Ein Vergleich von Grundrechtskatalogen per se ohne Berücksichtigung ihres Umfelds wäre daher nur von sehr eingeschränkter Aussagekraft und könnte zu falschen Schlussfolgerungen führen75. Dies gilt schon für den Vergleich staatlicher Grundrechtskataloge. Umso wichtiger ist die Hervorhebung des Umfelds bei der Gegenüberstellung völkerrechtlicher und supranationaler Grund- und Menschenrechte. Die Funktionsunterschiede zwischen der als menschenrechtliches „Sicherheitsnetz“ konzipierten EMRK und der umfassenderen, eine höhere Integrationsdichte anstrebenden Europäischen Gemeinschaft sind zentraler Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Gerade die Herausarbeitung dieser Unterschiede erlaubt Rückschlüsse auf bestimmte dogmatische Fragen des europäischen Grundrechtsschutzes auf den verschiedenen Ebenen. An dieser Stelle sollen zunächst nur die Besonderheiten der beiden europäischen Grundrechtsordnungen als solche untersucht werden. Die Einzel75 Zur vergleichenden Analyse von Grundrechtskatalogen im verfassungsrechtlichen Zusammenhang siehe M. Darrow/P. Alston, Bills of Rights in Comparative Perspective, in: P. Alston, Promoting Human Rights through Bills of Rights, S. 465, 470 f.; S. Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 64 (2004), S. 735 ff.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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heiten zu den gewährleisteten Rechten, ihre Systematisierung, Struktur, Funktionen und die Abgrenzung von anderen Kategorien werden im zweiten Teil der Arbeit thematisiert. Der Analyse der beiden europäischen Grundrechtsschutzsysteme wird ein kurzer Abschnitt über die Bedeutung von Grundrechten im Staat vorangestellt. Der staatliche Grundrechtsschutz bildet ein wichtiges Scharnier für Grundrechtsgewährleistungen auf europäischer Ebene. Darüber hinaus stellt er einen aus Sicht der Gemeinschaft und der Konvention unabdingbaren externen Bezugspunkt dar. Das EMRK-System basiert auf staatlichem Grundrechtsschutz, dem die Konvention als völkerrechtliches Instrument „übergestülpt“ ist. Der durch die Konvention vermittelte Menschenrechtsschutz steht nicht für sich, sondern ist eine Ergänzung des Schutzes auf nationaler Ebene. Der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz ist zwar im Vergleich zur EMRK in gewisser Weise unabhängiger, kann jedoch aufgrund der Verschränkungen zwischen gemeinschaftlichem Rechtssystem und mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ebenfalls nicht losgelöst von den nationalen Grundrechtsgewährleistungen betrachtet werden. Das fortgeschrittene Entwicklungsstadium der Gemeinschaftsrechtsordnung erlaubt es zudem, Parallelen zwischen der Gemeinschaftsrechtsordnung und staatlichen Rechtsordnungen zu ziehen. Der nationale Grundrechtsschutz stellt somit einen wichtigen externen Vergleichsmaßstab im Verhältnis zu den europäischen Grundund Menschenrechtsordnungen dar76. Die beiden europäischen Systeme lassen sich über die staatliche Ebene zueinander in Beziehung setzen.
I. Ausgangs- und Bezugspunkt: Grundrechte im Staat Kennzeichen des Verfassungsstaates ist die Bündelung der verschiedenen Verfassungsfunktionen: Schon begrifflich sind Staat und Verfassung in einer Weise verklammert, dass politisches Entscheidungszentrum und umsetzende Hoheitsgewalt zu einer Handlungs- und Entscheidungseinheit verbunden sind. Eine strukturelle Kopplung von Politik und Recht gewährleistet, dass politische Entscheidungen in rechtlich geformten Verfahren getroffen werden und in rechtlich bindender Form ergehen. Der Verfassungsstaat organisiert und legitimiert die Ausübung von Hoheitsgewalt und begrenzt sie gleichzeitig durch verfassungsrechtlich verbürgte Grundrechte, deren Durchsetzung einer unabhängigen Justiz anvertraut ist77. Diese Bündelung von 76 Zudem ist vor allem aus historischen Gründen das Zusammenspiel von Grundrechten und zugehöriger Rechtsordnung auf nationaler Ebene bislang sehr viel eingehender untersucht als die Bedeutung fundamentaler Rechte des Einzelnen in internationalen Rechtsordnungen. Auch dies rechtfertigt einen Rekurs auf die Grundrechte im Verfassungsstaat.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
Funktionen ist der Grund für den prägenden Einfluss, der den Grundrechten in einem Verfassungsstaat zukommt. Trotz verschiedener Ausgestaltungen des modernen staatlichen Grundrechtsschutzes in Europa und trotz Unterschieden bei der hierarchischen Einordnung der Grundrechte in die nationalen Rechtsordnungen78 lassen sich bestimmte übergreifende Merkmale der Rolle der Grundrechte im Verfassungsstaat feststellen. Grundrechte sind prägende Merkmale und grundlegende Bestandteile moderner Verfassungsordnungen von Staaten79. Wurden die Grundrechte nach überwiegendem Verständnis zunächst auf der Basis der vorstaatlichen Menschenrechte als subjektive Abwehrrechte zur Sicherung von Freiheit und Eigentum gegen staatliche Eingriffe ab Ende des 18. Jahrhunderts durchgesetzt, gehen sie heute über diese grundlegende Funktion hinaus, indem sie allgemein das Verhältnis zwischen dem Staat und den Bürgern bestimmen und zudem Richtlinien für die Regelung der Rechtsverhältnisse zwischen den Bürgern enthalten. Sie begründen nicht nur subjektive Rechte, sondern auch objektive Rechtsnormen und allgemeine Auslegungsgrundsätze. Die spezifische Bedeutung der Grundrechte im Staat und für den Staat liegt allerdings vor allem darin, dass sie von der Sicht der Bürger ausgehen und dementsprechend als subjektive Rechte formuliert und festgelegt werden. Der Bürger wird auf diese Weise als Rechtssubjekt im Verfassungsgefüge anerkannt. Nur durch seine Einbindung in die staatliche Gemeinschaft, die ihm ihrerseits Sicherheit und Entfaltungsmöglichkeiten bietet, nimmt er bestimmte Bindungen auf sich. Er ist damit nicht mehr nur der Staatsgewalt als bloßer Untertan unterworfen80. Herrschafts- und Freiheitsordnung bzw. Organisation des Staates und Rechtsstellung des Bürgers sind in der modernen Verfassung gerade keine Gegensätze mehr, sondern stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Die Grundrechte als materiale Grundprinzipien der staatlichen Ord77
Zur Ausgestaltung der Verfassungsfunktionen im Verfassungsstaat siehe etwa C. Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsfunktion, DVBl. 2000, S. 1, 4 ff.; ders., Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961, 968. 78 Hierzu D. Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen, S. 87 ff. Vgl. auch oben 1. Teil, A. I. 2. b). 79 Unter Staaten sind durch die drei Elemente von Volk, Gebiet und eigener Gewalt gekennzeichnete Personenverbände zu verstehen, denen bestimmte elementare Aufgaben zukommen, wie die Gewährleistung einer Rechts- und Friedensordnung nach innen, die Herstellung und Erhaltung einer sozial gerechten Ordnung und die Abwehr von Bedrohungen von außen. Ausführlich zum Staatsbegriff H. Maurer, Staatsrecht I, § 1 Rn. 5 ff. Zur Drei-Elementen-Lehre siehe G. Jellinek, Staatslehre, S. 174 ff., 394 ff. 80 Vgl. zu diesem Aspekt der Grundrechte im Staat H. Maurer, Staatsrecht I, § 9 Rn. 1.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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nung81 und die Staatsstrukturprinzipien durchdringen sich wechselseitig. Das wird beim Rechtsstaatsprinzip besonders deutlich. Die Grundrechte bilden die wichtigste Ausprägung dieses Grundsatzes, sie konkretisieren es und machen es durch ihre subjektive Ausrichtung wehrfähig82. Gleiches gilt jedoch auch für die anderen Staatsstrukturgrundsätze wie das Demokratie- oder das Sozialstaatsprinzip. Über ihre klassische Abwehrfunktion hinaus bringen die auf Verfassungsebene verankerten staatlichen Grundrechte ein System von Werten und Prinzipien umfassenderer Art zum Ausdruck. Sie verkörpern eine objektive Werteordnung, die in alle Bereiche des Rechts ausstrahlt und eine materielle Konstitutionalisierung der Rechtsordnung bewirkt83. Im Rahmen dieser Werteordnung kommen den Grundrechten – neben ihrer Funktion als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat – weitere Funktionen zu. Sie sind negative Kompetenznormen für den Staat, indem sie dessen Handlungsund Entscheidungsspielraum begrenzen84. Aus ihnen können sich Schutzpflichten des Staates mit entsprechenden Schutzgewährrechten des Bürgers ergeben. Durch die Verknüpfung mit dem Sozialstaatsprinzip können Grundrechte außerdem Leistungs- und Teilhaberechte begründen. Insgesamt ergibt sich ein umfassendes System von Wechselwirkungen zwischen dem Staat, seiner Struktur und Rechtsordnung, seinen Bürgern und den Grundrechten. Das Gesicht des modernen Verfassungsstaates wird entscheidend durch eine Ausrichtung auf die Grundrechte und anhand der Grundrechte geprägt und determiniert; die Verwirklichung der Grundrechte ist einer der Zwecke des Staates85.
81 So K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, S. 200. Stern spricht auch vom „grundrechtsdeterminierten Verfassungsstaat“, a. a. O., S. 183. Das BVerfG spricht vom Grundrechtsteil des Grundgesetzes als einem „unaufgebbaren, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörenden Essentiale der geltenden Verfassung der BRD“, BVerfGE 37, 271, 280. 82 H. Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 11. 83 U. di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, JZ 2004, S. 1 ff.; R. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 7, 9 f. 84 B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 73 ff. Zu den Grundrechtsfunktionen und ihren Ausgestaltungen siehe auch P. Schiffauer, Überlegungen zur Kodifizierung der Grundrechte der Europäischen Gemeinschaften aus der Sicht der Grundrechtstheorie, EuGRZ 1981, S. 193, 200 ff. 85 Mit der Verwirklichung der Grundrechte als Zweck des Staates hat der Parlamentarische Rat die Stellung der Grundrechte am Anfang des Grundgesetzes begründet, vgl. v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd. 1, Vorb. Art. 1–19, Rn. 4.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
II. Das Menschenrechtsschutzsystem der EMRK Die EMRK enthält einen Katalog fundamentaler Rechte, der inhaltlich einem nationalen Grundrechtskatalog, wie beispielsweise dem des Grundgesetzes, sehr ähnlich ist. Die Strukturen des Konventionssystems unterscheiden sich allerdings grundlegend von denen eines Grundrechte sichernden und gewährenden Verfassungsstaates. Die Gewährleistung der normierten Menschenrechte ist das einzige Ziel, das mit der Konvention verfolgt wird. Auch die Einordnung in den Kontext des Europarats ändert formal nichts an dieser einseitigen Ausrichtung der Konvention. Im Rahmen einer genaueren Untersuchung, die über eine bloß „oberflächliche“ Qualifizierung der Konvention als klassischer völkerrechtlicher Staatsvertrag hinausgeht, ist diese Sichtweise allerdings wiederum zu relativieren. Dies hängt damit zusammen, dass eine rein formale völkerrechtliche Sichtweise den Besonderheiten der Konvention nicht gerecht wird. Bei der Analyse des Systems sind vielmehr zahlreiche weitere Aspekte mit einzubeziehen, so die unmittelbare Gewährung von Individualrechten durch die EMRK, ihre Verzahnung mit den nationalen Rechtsordnungen und die Diskussion um einen möglichen Verfassungscharakter der Konvention. 1. Die einseitige Ausrichtung des EMRK-Systems Die einseitige Ausrichtung („Einseitigkeit“ oder „Einspurigkeit“) des Systems der EMRK steht außer Frage. Die Konvention beschränkt sich auf die Regelung eines Gegenstandes, nämlich des Menschenrechtsschutzes in den Vertragsstaaten, die gleichzeitig alle Mitglieder des Europarats sind86. Dies ist das von ihr konkret verfolgte Nahziel. Aus der Präambel der EMRK ergibt sich allerdings darüber hinaus auch ein mit der Konvention angestrebtes Fernziel. Gemäß dem dritten Erwägungsgrund der Präambel ist es „das Ziel des Europarats, . . . eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen“, und „die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ wird als „eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles“ bezeichnet. Hier zeigt sich die Finalität, die der EMRK als im Rahmen des Europarats geschaffenem internationalen Abkommen zukommt. Vermittels des „Werkzeugs“ des Menschenrechtsschutzes soll eine größere Einigkeit und Einheitlichkeit der europäischen Staaten geschaffen werden. Bei dieser angestrebten „engeren Verbindung“ geht es – vom Ursprungsgedanken her – allerdings nicht um eine konkret angestrebte Integration, 86 J. Liisberg, Does the EU Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, JMP 04/2001, S. 47, spricht von „the limited and ‚monofocal‘ nature of the ECHR control mechanism“.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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welche die rechtliche Ebene der Zwischenstaatlichkeit überschreiten soll; es handelt sich vielmehr um die Festlegung gemeinsamer Grundwerte, nach denen sich die souveränen Vertragsstaaten ausrichten und die nicht unterschritten werden sollen87. Die Festlegung dieses übergeordneten Fernziels in der Präambel ändert insofern nichts an dem einseitigen Charakter der EMRK. a) Die isolierte Stellung der Konventionsrechte Aus der einseitigen Ausrichtung des Konventionssystems folgt die isolierte Stellung der durch die EMRK gewährleisteten Rechte. Während die Grundrechte sich auf nationaler Ebene in das Gerüst der staatlichen Verfassung einordnen, diese prägen und sich gleichzeitig in einer Wechselwirkung mit den übrigen Verfassungsprinzipien befinden, stehen die Menschenrechte der EMRK zunächst isoliert da. Die Menschenrechtskonvention stellt – formal betrachtet – nichts anderes als einen kündbaren völkerrechtlichen Staatsvertrag dar. Sie deckt für die Vertragsstaaten den völkerrechtlichen Teilbereich ‚Menschenrechte‘ in einem regional begrenzten Gebiet ab und stellt zu diesem Zweck ihr eigenes System auf88. Den Konventionsrechten fehlt eine dem staatlichen Grundrechtsschutz vergleichbare Einbettung in eine Gesamtverfassung, die wiederum für die gewährleisteten Menschenrechte eine integrierende und stabilisierende Funktion wahrnehmen könnte. Die einseitige Ausrichtung der Konvention auf das einzige Ziel des Menschenrechtsschutzes auf europäischer Ebene hat damit auch eine gewisse „Zerbrechlichkeit“ dieses Systems zur Folge89. Denn wie eine Staatsverfassung ist auch das Menschenrechtssystem der EMRK darauf angewiesen, dass in einem gesellschaftlichen Grundkonsens die Unentbehrlichkeit der fundamentalen Rechte und ihre Relevanz für das demokratische Zusammenleben verwurzelt sind und so das Ziel des Menschenrechtsschutzes auf europäischer Ebene nicht abstrakt bleibt, sondern einen konkreten Inhalt erhält. Für eine derartige Konkretisierung bedarf es nicht nur im Bereich der rechtlichen Organisation, sondern auch innerhalb der angesprochenen Zivilgesellschaft hinreichender Strukturen, die einen kommunikativen Prozess zwischen Institutionen und Öffentlichkeit ermöglichen und lebendig erhalten90. Eine solche Interaktion zwischen Bürgern und ihrem Staat und zwischen 87 T. van Boven in: Pettiti/Decaux/Imbert, Commentaire CEDH, Préambule, III., S. 128 ff.; J. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Präambel Rn. 2. 88 Die Einordnung der EMRK in den völkerrechtlichen Kontext wurde oben im Abschnitt über die unterschiedliche Terminologie auf staats-, völker- und gemeinschaftsrechtlicher Ebene behandelt, siehe 1. Teil A. II. 2. b). 89 So J. P. Müller, Rechtsphilosophische Reflexionen zur EMRK als Teilverfassung des werdenden Europas, in: GS Ryssdal, S. 957, 961. 90 J. P. Müller, a. a. O. (vorherige Fußnote), S. 961.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
den durch die Konvention geschaffenen Institutionen und der europäischen Öffentlichkeit ist bisher aber wohl nur in Ansätzen erkennbar91. b) Der Rahmen des Europarats Zwar lässt sich die EMRK als im Rahmen des Europarats geschaffenes internationales Abkommen in einen über den bloßen Menschenrechtsschutz hinausgehenden Kontext einordnen92. Das relativiert jedoch die „isolierte Stellung“ der verbürgten Menschenrechte nur. Denn die Zugehörigkeit der Konvention zum Europarat ist nicht mit der Einordnung eines Grundrechtskatalogs in eine nationale Verfassung vergleichbar. Der Europarat ist als zwischenstaatliche Organisation europäischer Staaten auf die Herstellung einer engeren Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zwecks Wahrung des gemeinsamen europäischen Erbes und auf die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts ausgerichtet93. Diese Zielsetzung soll insbesondere durch den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen, durch gemeinschaftliches Vorgehen in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Kultur, Wissenschaft, Verwaltung und Recht sowie durch Menschenrechtsschutz und Fortentwicklung der Menschenrechte erreicht werden94. Die EMRK ist dabei einer der zur Umsetzung dieser Vorgaben geschlossenen völkerrechtlichen Verträge. Innerhalb der Zielsetzung des Europarats liegt es aber nicht, ein einer umfassenden staatlichen Rechtsordnung vergleichbares integriertes System zu errichten, das die EMRK als zentralen Bezugspunkt für alle geregelten Bereiche hätte95. Daran ändert auch die Tatsache nichts, 91 In Deutschland ist allerdings zuletzt durch einige spektakuläre Urteile des EGMR eine die rein juristischen Fachkreise überspannende Diskussion über die Rolle des Konventionssystems in Gang gebracht worden, vgl. die Urteile des EGMR zur Bodenreform und zur Pressefreiheit (Caroline von Monaco). 92 Dies ist bereits oben bei der Erwähnung des dritten Erwägungsgrundes der Präambel und dem im Rahmen des Europarats übergeordnetem Ziel der engeren Verbindung zwischen den Mitgliedern erfolgt. In dem Urteil vom 21.2.1975, Golder/ Vereinigtes Königsreich, Serie A Nr. 18, Ziff. 34, ordnet der EGMR die EMRK in den Kontext des Europarats ein und verweist zur Verdeutlichung der Geltung des Rechtsstaatsprinzips innerhalb des EMRK-Systems auf die Präambel und Art. 3 der Satzung des Europarats, die diesen Grundsatz ausdrücklich festschreiben. 93 Vgl. Art. 1 lit. a) der Satzung des Europarats. Zu Zielen und Struktur des Europarats siehe T. Oppermann, Europarecht, Rn. 49 ff.; M. Herdegen, Europarecht, § 2 Rn. 1 ff. 94 Vgl. Art. 1 lit. b) der Satzung des Europarats. 95 M. Herdegen, Europarecht, § 1 Rn. 12, verweist im Zusammenhang mit der Finalität des Europarates auf dessen „paneuropäische Tradition“, welche auf der Grundlage einer geistesgeschichtlichen Einheit die Staaten Europas zu ihrer Kooperation zusammenführen lässt. Der Gedanke einer Wertgemeinschaft als Grundlage rechts- und sozialstaatlicher Prinzipien überbrücke dabei die beachtliche Heterogeni-
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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dass der Menschenrechtsschutz für den Europarat eine zentrale Stellung einnimmt96. Die Menschenrechte sind eines der Hauptbetätigungsfelder des Europarats, sie sind aber, insbesondere aufgrund des rein zwischenstaatlichen Charakters der in diesem Rahmen geschlossenen Abkommen, thematisch neben den anderen Tätigkeitsbereichen der Organisation und nicht diesen übergeordnet anzusiedeln. Dieses Nebeneinander spiegelt sich auch im Verhältnis der Organe der Menschenrechtskonvention zum Europarat wider: Wenn auch die genaue Ausgestaltung des Verhältnisses der EMRK und ihrer Organe zum Europarat nicht vollständig geklärt und insbesondere weder in der Satzung des Europarates noch in der EMRK und den Zusatzprotokollen genauer geregelt ist, so wurden doch von Beginn an die Menschenrechtskommission und der Menschenrechtsgerichtshof als „eigene“ Organe der Konvention und nicht als Organe des Europarates angesehen97. Bei dem neuen, durch das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK eingesetzten ständigen Gerichtshof, dem nach Abschaffung der Menschenrechtskommission eine obligatorische Gerichtsbarkeit zukommt, hat sich die Rechtslage zwar etwas verkompliziert, aber auch hier wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass es sich um ein eigenständiges Organ der EMRK und nicht um ein solches des Europarats handelt98. Lediglich im Bereich der Durchführung der Urteile des Gerichtshofs tät, welche unter den Mitgliedern des Europarats auf politischem und wirtschaftlichem Sektor bestehe. 96 Vgl. C. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: D. Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rn. 5: „Von den über 170 im Rahmen des Europarats erarbeiteten Verträgen ist ein wichtiger Teil dem Schutz der Menschenrechte gewidmet . . .“. 97 K. Carstens, Das Recht des Europarats, S. 196 ff.; H. Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung, S. 10 ff.; R. Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, S. 179. 98 Hierzu G. Ress, Die Organisationsstruktur internationaler Gerichte, insbesondere des neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Liber Amicorum Seidl-Hohenveldern, S. 541 ff., insbes. S. 564, der auf die Problematik der Resolution (97) 9 des Ministerkomitees vom 10.9.1997 zur Regelung des Status und der Dienstbedingungen der Richter des EGMR auf der Grundlage von Art. 16 der Satzung des Europarates verweist und feststellt, dass es eine Verkennung der rechtlichen Struktur des Gerichtshofs sei, wenn dieser im Rahmen des Art. 16 der Europaratssatzung als Teil der Organisation des Europarats oder des inneren Dienstes des Europarats angesehen werde. Kontrovers zum Status des EGMR N. Engel, Status, Ausstattung und Personalhoheit des Inter-Amerikanischen und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EuGRZ 2003, S. 122, 127 ff., und dagegen M. de Boer-Buquicchio, Klarstellung zum Status des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seiner Beziehung zum Europarat, EuGRZ 2003, S. 561 ff. Ress, a. a. O., S. 546 f., denkt in diesem Kontext auch die Möglichkeit an, die EMRK als eine neben dem Europarat stehende selbständige, durch Vertrag errichtete
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
gibt es eine klare Verzahnung von Konvention und Europarat, da das Ministerkomitee des Europarats nach Art. 46 Abs. 2 EMRK für die Überwachung zuständig ist99. 2. Die Begründung von Individualrechten als völkerrechtliche Besonderheit des EMRK-Systems Stellt die Europäische Menschenrechtskonvention vom Grundsatz her zwischenstaatliches Völkerrecht dar, so kommt ihr innerhalb dieses Rechtsgebiets doch eine besondere Rolle zu. Über den Rahmen eines „klassischen“ Staatsvertrags, der Rechte und Pflichten nur für die Unterzeichnerstaaten begründet, hinausgehend gewährt sie unmittelbar Individualrechte für die im Hoheitsbereich der Vertragsstaaten lebenden Personen. Eine solche individuelle Rechtsbegründung ist dem Völkerrecht zwar nicht grundsätzlich fremd, jedoch ist die direkte Begünstigung des Einzelnen durch einen zwischen Staaten geschlossenen Vertrag in der Ausgestaltung, die sie durch die EMRK erfährt, ungewöhnlich und einzigartig. So wird die Konvention als „objektives Vertragsregime“ bezeichnet, weil ihre individualschützenden Bestimmungen – anders als im klassischen zwischenstaatlichen Völkerrecht – unabhängig von den Beziehungen der Vertragsparteien untereinander bestünden100. Diese Besonderheit der Begründung individueller Rechte für den Einzelnen ist dabei zunächst unabhängig von dem Rang zu betrachten, welcher der Konvention in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen eingeräumt wird. Je nach Rangzuordnung in der staatlichen Normenpyramide kann die Bedeutung der EMRK sogar noch zusätzlich verstärkt werden101. Art. 1 EMRK legt unmissverständlich die direkte individuelle Rechtsbegründung durch die Konvention fest, indem er bestimmt, dass die Vertragsparteien „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ die nachfolgenden Rechte und Freiheiten zuzusichern haben. Durch diese Formulierung ist klargestellt, dass nicht nur die Staaten die völkerrechtliche Verpflichtung haben, den Individuen die Rechte zu verschaffen, sondern internationale Organisation anzusehen, deren einziges Organ der Gerichtshof wäre, dem dann Völkerrechtssubjektivität zukäme. Hierzu ausführlicher G. Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: FS Zeidler, Bd. 2, S. 1775, 1789 ff. 99 Die Regelungen über das Ministerkomitee finden sich in den Art. 13 ff. der Satzung des Europarats. 100 M. Villiger, Handbuch der EMRK, Rn. 109. Eingeschränkt werden kann diese objektive Wirkung der Konventionsrechte nur durch Vorbehalte seitens der Vertragsstaaten. Dazu sogleich unter 3. b). 101 Hierzu sogleich unter 3.
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dass die Konvention diesen selber die Rechte zuspricht, d. h. sie aus der EMRK unmittelbar berechtigt sind102. Dieser deutlichen Formulierung des Art. 1 EMRK, der den personellen und räumlichen Geltungsbereich sowie die unmittelbare Wirkung der garantierten Rechte festlegt, ist zur Durchsetzbarkeit der Rechte das Rechtsschutzsystem der Konvention an die Seite gestellt. Das System zur Sicherung der gewährleisteten Menschenrechte wurde im Laufe der Zeit zugunsten eines stärkeren Individualrechtsschutzes ausgebaut103. Ursprünglich war die Individualbeschwerde, die ein Einzelner gegen ein möglicherweise Konventionsrechte verletzendes Verhalten eines Vertragsstaates erheben kann, nur vor der Menschenrechtskommission zugelassen. Dieser blieb die Entscheidung über die Anrufung des Gerichtshofs überlassen. Zudem bedurfte es für die Anerkennung des Individualbeschwerdeverfahrens vor der Kommission und für die Unterwerfung unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs jeweils einer gesonderten Erklärung der Vertragsstaaten. Dies hatte eine nur eingeschränkte Wirkung der Konvention für den einzelnen Rechtsunterworfenen zur Folge, da – je nach Vertragsstaat – die Möglichkeit, eine Individualbeschwerde zu erheben, gar nicht eröffnet war104. Erst mit dem 9. Zusatzprotokoll zur EMRK105 erhielt der Beschwerdeführer, der das Verfahren vor der Kommission eingeleitet hatte, selbst das Recht, den Gerichtshof anzurufen. Das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK106 reformierte das gesamte Rechtsschutzverfahren, schaffte die Menschenrechtskommission ab, erkor den Gerichtshof zu einem ständigen Konventionsorgan und führte eine obli102 Dies geht besonders deutlich aus der Änderung des bei Vertragsentwurf zunächst für Art. 1 EMRK vorgesehenen Wortlauts hervor. Hier hieß es zunächst „s’engagent à reconnaître“ bzw. „undertake to secure“; dies wurde auf „reconnaissent“ bzw. „shall secure“ umgestellt, um die direkte Wirkung deutlich zu machen, vgl. EGMR, Irland/Großbritannien, Série A 25, S. 91, sowie J. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 1 Rn. 3; C. Tomuschat, Individueller Rechtsschutz: das Herzstück des „ordre public européen“ nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 2003, S. 95, 96. Zum Geltungsbereich der EMRK siehe auch F. Jacobs/R. White/C. Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 14 ff. 103 Ausführlich zur Entwicklung des Rechtsschutzsystems der EMRK D. Ehlers, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Jura 2000, S. 372 ff., und C. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rn. 6 ff. 104 So akzeptierte z. B. Frankreich Individualbeschwerden erst 1981. 105 BGBl. II 1994, S. 491; 9. Zusatzprotokoll vom 6.11.1990, in Kraft getreten am 1.1.1994, aufgehoben mit Wirkung vom 1.11.1998. 106 BGBl. II 1995, S. 579; 11. Zusatzprotokoll vom 11.5.1994, in Kraft getreten am 1.11.1998. Hierzu V. Schlette, Das neue Rechtsschutzsystem der europäischen Menschenrechtskonvention – Zur Reform des Kontrollmechanismus durch das 11. Protokoll, ZaöRV 56 (1996), S. 905 ff.
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gatorische Gerichtsbarkeit ein. Nunmehr zieht die Mitgliedschaft in der Konvention automatisch die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über Individualbeschwerden nach sich. Die Urteile des EGMR sind gemäß Art. 46 EMRK für die Vertragsparteien verbindlich, auch wenn ihnen nur feststellende Wirkung zukommt und sie keine innerstaatlichen Hoheitsakte aufheben können107. Jedem Einzelnen ist es so im Rahmen des Konventionssystems möglich, ein verbindliches, endgültiges Gerichtsurteil zu erlangen, in dem die Verletzung eines Konventionsrechts festgestellt wird. Die Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, die gegen sie ergangenen Urteile zu befolgen, d. h. eine noch andauernde Verletzung zu beenden und für die Zukunft sicherzustellen, dass sich vergleichbare Verletzungen nicht wiederholen. Das System der EMRK, insbesondere in seiner heutigen Form mit umfassender Individualbeschwerdemöglichkeit und obligatorischer Gerichtsbarkeit, hebt folglich die Rolle des Individuums und seiner durchsetzbaren Rechte in einer Weise hervor, die im Völkerrecht bislang eine Ausnahme darstellt. Dem innerstaatlichen Grundrechtsschutz wird dadurch eine neue Ebene hinzugefügt; die EMRK fungiert sozusagen als ein zusätzliches „Sicherheitsnetz“. Dies führt dazu, dass der Staat seine Ausschließlichkeit als Garant des Grundrechtsschutzes verliert. Auf diese Weise ändert sich, bezogen auf die Menschenrechte, auch die Perspektive des Staates108. Gleichzeitig bleibt es aber dabei, dass die EMRK keine eigene Hoheitsgewalt errichtet, sondern lediglich – gewissermaßen von außen – andere Hoheitsgewalten, nämlich die der Vertragsstaaten begrenzt109. Sie bleibt also vom Grundsatz her dem klassischen Völkerrecht verhaftet: Souveräne Staaten entschließen sich freiwillig, im Wege eines völkerrechtlichen Vertrages ihre Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass das vertraglich geschaffene Gericht nur auf völkerrechtlicher Ebe107
Vgl. oben 1. Teil, A. I. 2. b). Vgl. S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, S. 219. 109 G. Ress schlägt zwar vor, die EMRK nicht nur als völkerrechtlichen Vertrag ohne Organisationscharakter anzusehen, sondern sie als eigenständige internationale Organisation mit Rechtspersönlichkeit und konsequenterweise somit auch als zwischenstaatliche Einrichtung i. S. d. Art. 24 Abs. 1 GG einzuordnen, ders., Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: FS Zeidler, Bd. 2, S. 1775, 1790 ff. Siehe auch G. Ress, Die Organisationsstruktur internationaler Gerichte, insbesondere des neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Liber Amicorum Seidl-Hohenveldern, S. 541, 546. Dass bereits eine Übertragung von Hoheitsrechten der Vertragsstaaten auf die EMRK stattgefunden hat, behauptet Ress jedoch nicht. Für einen zukünftigen supranationalen Status des EMRK-Systems spricht sich aus E. Klein, Should the binding effect of the judgments of the European Court of Human Rights be extended?, in: GS Ryssdal, S. 705, 710. 108
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ne einen Rechtsverstoß feststellen kann; es besitzt nicht die Autorität eines nationalen Verfassungsgerichts, Gesetze für nichtig zu erklären110. Eine derartige Betrachtung aus der bloß völkerrechtlichen Perspektive verkennt allerdings einen wichtigen Aspekt: Die Europäische Menschenrechtskonvention lässt sich – trotz der Vermittlung unmittelbarer Individualrechte und der Etablierung eines eigenen Rechtsschutzsystems mit obligatorischer Gerichtsbarkeit – nicht losgelöst von den staatlichen Rechtsordnungen betrachten. Notwendigerweise trifft sie auf ihrer internationalen Ebene auch Regelungen, die direkt die staatlichen Systeme betreffen; ihre Wirkung kann sie nur im Zusammenspiel mit diesen entfalten. Dieses Zusammenspiel und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sollen in einem weiteren Schritt untersucht werden. 3. Die Verzahnung von EMRK und staatlichen Rechtsordnungen Eine isolierte Betrachtung des Schutzsystems der EMRK nur aus der Perspektive des Völkerrechts ergibt kein vollständiges Bild. Aus der Natur der Konvention als internationaler (Teil-)Rechtsordnung folgt, dass sie in wesentlichem Maß auf die Vermittlung durch die Vertragsstaaten angewiesen ist. Die Konvention wird von den Staaten in ihr jeweiliges nationales Rechtssystem einbezogen; damit fällt ihnen auch die Aufgabe zu, den Gehalt des Vertragswerks in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, als Teil einer umfassenden Rechtsordnung ins Bewusstsein des Einzelnen zu rücken und als Faktor der politischen Kultur wirksam werden zu lassen111. Dies führt allerdings auch dazu, dass der Grad der Integration der EMRK im öffentlichen Bewusstsein in den verschiedenen Mitgliedstaaten je nach Art der Umsetzung und je nach Umfang der Bindung unterschiedlich ist. Um dies zu erläutern, soll kurz auf die verschiedenen Arten der Inkorporation der Konvention in nationales Recht sowie auf Ratifikationsunterschiede bei Zusatzprotokollen und die Möglichkeit einseitiger Vorbehalte eingegangen werden. Bei der Darstellung der Diskussion um eine mögliche Einordnung der Konvention als Teilverfassung wird die EMRK anschließend in einen „gesamteuropäischen“ Kontext gesetzt.
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Vgl. C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961, 965. 111 Vgl. J. P. Müller, Rechtsphilosophische Reflexionen zur EMRK als Teilverfassung des werdenden Europas, in: GS Ryssdal, S. 957, 961.
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a) Unterschiedliche Modelle der Inkorporation der EMRK in nationales Recht Der Straßburger Gerichtshof hat in seinen Urteilen wiederholt betont, dass die Konvention den Vertragsstaaten keinen bestimmten Weg für die Sicherung der effektiven Anwendung der gewährleisteten Menschenrechte innerhalb ihres nationalen Rechts gebiete112. Die EMRK wird daher von den Staaten auf unterschiedliche Weise inkorporiert. Im Wesentlichen gibt es drei verschiedene Modelle, die der Konvention jeweils einen unterschiedlichen Rang im internen Recht einräumen113. Die stärkste Stellung genießt die EMRK im nationalen Recht, wenn ihr Verfassungsrang zuerkannt wird. Auf diese Weise können alle gewährleisteten Rechte wie genuin innerstaatliche Grundrechte vor dem nationalen Verfassungsgericht geltend gemacht werden. Dies ist allerdings ausdrücklich lediglich in Österreich der Fall114. Ein vergleichbar hoher Rang kommt der Konvention daneben nur noch in den Niederlanden zu, wo sie Vorrang vor dem gesamten nationalen Recht einschließlich des Verfassungsrechts genießt. In den meisten Vertragsstaaten steht die EMRK im Rang zwischen Verfassungsrecht und einfachen Gesetzen115. In der Regel ist in diesen Staaten die Rangfrage für völkerrechtliche Verträge nicht eindeutig geklärt, die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte geht dort aber von einem grundsätzlichen Vorrang der EMRK bzw. generell von menschen- und völkerrechtlichen Verträgen aus116. Einige nationale Verfassungsgerichte ziehen in diesem Fall die Konvention gleichwertig neben innerstaatlichen Grundrechten als Prüfungsmaßstab heran; dies ist jedoch nicht zwingend und wird nicht generell so gehandhabt117. In einer dritten Gruppe von Staaten, zu denen auch Deutschland gehört, 112 Z. B. EGMR, Urteil vom 6.2.1976, Swedish Engine Drives Union/Schweden, Serie A Nr. 20, Ziff. 50. 113 Ausführlich hierzu C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 299 ff.; ders., Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 1 ff. Zur Stellung der EMRK in verschiedenen Vertragsstaaten siehe auch D. Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen, S. 130 ff. und J. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Einführung Rn. 6. Zur Inkorporationspflicht der Vertragsstaaten nach Art. 1 und 13 EMRK siehe K. Chryssogonos, Zur Inkorporation der Europäischen Menschenrechtskonvention in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, EuR 2001, S. 49, 51 ff. 114 Zu Österreich siehe L. Adamovich, Bemerkungen zum Einfluss der Rechtsprechung des EGMR auf die Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, in: GS Ryssdal, S. 31 ff. 115 C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 300, spricht von der Stellung der EMRK „im Mezzanin zwischen Gesetz und Verfassung“. 116 So z. B. in der Schweiz, in Frankreich und in Spanien, vgl. C. Grabenwarter, a. a. O. (vorherige Fußnote), S. 300 f.
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kommt der EMRK der Rang eines einfachen Gesetzes zu. Formell hat die Konvention damit keinerlei Vorrangstellung; sie befindet sich mit den einfachen Gesetzen auf einer Ebene. Dennoch kann sie über den formellen Gesetzesrang hinausgehende Wirkungen entfalten, was am Beispiel der in Deutschland geführten Diskussion um eine mögliche Verfassungsqualität der EMRK gezeigt werden soll118. Außerhalb dieser drei Rangmodelle befindet sich Großbritannien. Mit dem Human Rights Act 1998119 sind die Menschenrechte der EMRK in das britische Recht inkorporiert worden, was mangels Hierarchisierung der britischen Rechtsordnung zwar keinen Vorrang gegenüber Parlamentsgesetzen bedeutet, jedoch eine weitgehende Berücksichtigung der EMRK gewährleistet120. Dieser Überblick zeigt, dass unter den Vertragsstaaten noch kein Grundkonsens im Hinblick auf den innerstaatlichen Rang der EMRK und damit auch auf die ihr generell zugemessene Bedeutung besteht. Die öffentliche Wahrnehmung der Menschenrechtskonvention in den Vertragsstaaten wird maßgeblich durch die Umsetzung in das nationale Recht und durch den ihr eingeräumten Rang bestimmt. Je höher ihr Rang, desto größer auch ihre Bedeutung. Damit ergeben sich zum Teil erhebliche Divergenzen zwischen den einzelnen Staaten. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass die EMRK in Staaten mit nur lückenhaftem innerstaatlichen Grundrechtsschutz automatisch weitaus mehr in den Mittelpunkt des Interesses rückt und ihr dementsprechend mehr Bedeutung zugemessen wird, als in Staaten mit eigenem Grundrechtskatalog und umfassender Verfassungsgerichtsbarkeit wie Deutschland121. b) Zusatzprotokolle und Vorbehalte der Vertragsstaaten Nicht nur aufgrund der aufgezeigten Rangunterschiede der EMRK in den staatlichen Rechtsordnungen divergiert der Umfang der völkerrechtlichen Bindung zwischen den Vertragsstaaten. Ein weiterer Grund für Disparitäten und für eine uneinheitliche Geltung der Konvention innerhalb der Vertragsstaaten liegt in dem unterschiedlichen Ratifikationsstand der Zusatzproto117 So zeigt beispielsweise die französische Rechtsprechung nach wie vor Zurückhaltung bei der Einbeziehung der EMRK in den „bloc de constitutionnalité“; dazu J.-F. Flauss, Länderbericht Frankreich, in: Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, S. 25, 72 f. 118 Siehe sogleich unter 4. 119 In Kraft getreten am 2.10.2000. 120 C. Grabenwarter, a. a. O., S. 303 ff. Ausführlich zum Human Rights Act R. Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998), S. 309 ff. 121 Vgl. J. P. Müller, Rechtsphilosophische Reflexionen zur EMRK als Teilverfassung des werdenden Europas, in: GS Ryssdal, S. 957, 961 f.
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kolle zur Konvention sowie in der von den Vertragsstaaten genutzten Möglichkeit, gemäß Art. 57 EMRK einseitige Vorbehalte zu bestimmten Rechten anzubringen122. Die Voraussetzungen für die Herausbildung eines die Konvention stützenden, alle Vertragsstaaten umfassenden, europaweiten Grundkonsenses sind somit aus formaler Sicht nur teilweise vorhanden. Über den Rang und die formale Bindungswirkung hinaus kommt jedoch auch den normativen und faktischen Einwirkungen der EMRK auf das nationale Recht der Vertragsstaaten Bedeutung zu123. Auf dieser nicht formalen Ebene verstärkt sich der Einfluss der EMRK auf die nationalen Rechtsordnungen zunehmend. So werden mögliche Diskrepanzen in der Anwendung in den Vertragsstaaten zumindest teilweise kompensiert. 4. Die Menschenrechtskonvention als europäische Teilverfassung? Der Umfang der völkerrechtlichen Bindung der Staaten und der innerstaatliche Rang der EMRK sind, wie gezeigt, mangels einheitlicher Vorgabe unterschiedlich. Gleichwohl lassen sich staatenübergreifend für die Konvention rechtlich induzierte Tendenzen der Vereinheitlichung feststellen, die weder konventionsrechtlich noch staatsrechtlich vorgegeben sind. Diese Tendenzen können als Anzeichen dafür gewertet werden, dass die Konvention sich auf dem Weg befindet, ein gleichmäßig anerkanntes europäisches Rechtssystem zu werden. Die Bedeutung der vertragsstaatlichen Vorbehalte nimmt aus rechtlichen Gründen und aufgrund politischer Einflussnahme zunehmend ab124; die Zahl der ratifizierten Zusatzprotokolle steigt an125. Gleichzeitig nimmt die Berücksichtigung der EMRK in der Rechtsprechung der nationalen Gerichte auch in jenen Staaten zu, in denen die gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht verändert wurden. Zu diesen Staaten gehört Deutschland, wo die Konvention formell weiterhin im Rang von einfachem Gesetzesrecht steht. Unabhängig von dieser formellen Stellung innerhalb der innerstaatlichen Normenhierarchie wird hier darüber diskutiert, ob der EMRK nicht materiell eine Stellung als europäische Teilverfassung eingeräumt werden soll. Auch der Straßburger Gerichtshof selber hat die 122
Ausführlich zu Zusatzprotokollen und Vorbehalten S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 91 ff. 123 Hierzu C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 10 ff. 124 C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 297 f., der auf die Durchsetzung des „Bestimmtheitsgebots“ des Art. 57 EMRK durch den EGMR seit den achtziger Jahren und auf den politischen Druck gegen Vorbehalte zur EMRK auf die in den neunziger Jahren beigetretenen mittel- und osteuropäischen Staaten verweist. 125 C. Grabenwarter, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 307.
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Konvention als „constitutional instrument of European public order“ bezeichnet126. Dass dabei der Begriff der Verfassung im Zusammenhang mit der EMRK nicht im formellen Sinne, als geschriebene Urkunde einer sich zu einem Staat zusammenschließenden oder bereits staatlich konstituierten Gemeinschaft, gebraucht wird, liegt auf der Hand. Aber auch bei Verwendung des materiellen Verfassungsbegriffs ist offensichtlich, dass die EMRK keine „vollwertige“ Verfassung darstellt, die derjenigen eines Staates vergleichbar wäre. Der materielle Verfassungsbegriff stellt auf die Inhalte der Normen ab, die den Rahmen für die Erfüllung derjenigen Aufgaben der staatlichen Gemeinschaft bereitstellen, welche für den Gemeinschaftszweck unerlässlich sind. Entscheidend kommt es darauf an, ob die Normen in einer bestimmten Weise jene Bereiche regeln, die in einem Verfassungsstaat typischerweise als grundlegend für das politische Leben der Gemeinschaft erachtet werden127. Demgemäß werden einer Verfassung drei zentrale Funktionen zugeschrieben: Sie legitimiert staatliche Machtausübung (Legitimationsfunktion), sie führt Organisations- und Verfahrensregeln für die Ausübung von Hoheitsgewalt ein (Organisationsfunktion) und sie begrenzt diese Hoheitsgewalt durch die Grundrechte (Begrenzungsfunktion)128. Die Europäische Menschenrechtskonvention kommt hiernach höchstens als Teilverfassung, als sog. „Menschenrechtsverfassung“, in Frage. Denn während der nationale Verfassungsstaat alle drei Funktionen in einer politischen Einheit erfüllt, kann die EMRK nur die Begrenzungsfunktion erfüllen. Dies hängt mit der oben dargelegten isolierten Stellung der Konvention, die sich nicht in ein größeres System oder in einen über den Bereich der Menschenrechte hinausgehenden Gesamtkontext einordnet, zusammen129. Mangels ihr übertragener Hoheitsgewalt kann die EMRK weder eine bestimmte Art von 126
EGMR, Urteil vom 23.3.1995, Loizidou/Türkei, Serie A Nr. 310, Ziff. 75, 93. Allerdings hat der EGMR in diesem Urteil nicht näher erläutert, worin die charakteristischen Elemente eines solchen ‚Verfassungsinstrumentes‘ bestehen. Zu den verschiedenen Aspekten in der EMRK, die auf ihren Verfassungscharakter hindeuten, siehe E. Alkema, The European Convention as a constitution and its Court as a constitutional court, in: GS Ryssdal, S. 41 ff. Umfassend zum Rang menschenrechtlicher Verträge in der deutschen Rechtsordnung siehe N. Sternberg, Der Rang von Menschenrechtsverträgen im deutschen Recht unter besonderer Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 2 GG. 127 F. Hoffmeister, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat 40 (2001), S. 349, 351. 128 C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961, 966 f., der außerdem noch die Integrations- und die Entlastungsfunktion der Verfassung nennt; ders., Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVBl. 2000, S. 1, 5; F. Hoffmeister, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 351. 129 Vgl. oben, 1. Teil, A. II. 2. a).
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Machtausübung legitimieren noch Organisationsregeln für eine solche aufstellen. Sie errichtet keine Organe mit exekutiven oder legislativen Kompetenzen zur Durchführung bestimmter Regierungsziele. Ohne eine solche Organisation eigenständiger hoheitlicher Macht entfällt aber auch das Bedürfnis, eine demokratische Legitimation für die Ausübung von Regelungsund Eingriffsbefugnissen nachzuweisen130. Die Menschenrechtskonvention befindet sich auf einer anderen Ebene als die staatlichen Rechtsordnungen und kann daher nur eine „übergeordnete“, internationale Legitimation liefern, ohne selbst integrativer Bestandteil eines über ihren Regelungsbereich hinausgehenden Systems zu sein131. Machtbegrenzung hingegen ist die zentrale Aufgabe der EMRK, so dass die dritte Verfassungsfunktion, die Begrenzungsfunktion, von ihr umfassend erfüllt wird. Das Verhältnis der Vertragsstaaten zu den Bürgern als Rechtsunterworfenen wird in grundrechtstypischer Weise geregelt: Die Konvention begrenzt effektiv die Ausübung hoheitlicher Macht, indem sie Freiheitsräume gewährt und die Vertragsstaaten verpflichtet, diese zugunsten des Einzelnen materiell und durch Bereitstellung rechtsstaatlicher Verfahren auch formell zu schützen. Zur Effektivierung der Begrenzungsfunktion errichtet sie eine eigenständige Gerichtsbarkeit, welche die materiellen Garantien prozessual absichert und funktional die Rolle eines Verfassungsgerichts für den Bereich der Menschenrechte ausübt. Fehlt ihr – wenn sie, wie in Deutschland, den Rang eines einfachen Gesetzes einnimmt – formell der für eine Verfassung erforderliche Geltungsvorrang vor den Gesetzen, so wird in der deutschsprachigen Literatur doch zunehmend vertreten, dass ihre tatsächliche Wirkung eine Einordnung als Verfassungsrecht im materiellen Sinne oder als übergeordnetes Recht rechtfertige, das bei der Auslegung der Gesetze und nationalen Grundrechte zu berücksichtigen sei132. Zwecks theoretischer Abstützung dieser Meinung sind verschiedene Ansätze angedacht worden. So ist vorgeschlagen worden, die EMRK insgesamt als Völkergewohnheitsrecht zu klassifizieren und ihr auf diese Weise nach Art. 25 GG einen übergeordneten Rang zukommen zu lassen133. Auch wird 130 E. Alkema, The European Convention as a constitution and its Court as a constitutional court, in: GS Ryssdal, S. 41, 45; R. Hofmann, Wieviel Flexibilität für welches Europa?, EuR 1999, S. 713, 715. 131 Selbst wenn man die EMRK mit Ress als „Konventionsgemeinschaft“ i. S. d. Art. 24 Abs. 1 GG, auf die Hoheitsrechte übertragen werden können, ansieht (siehe sogleich), lässt sie sich nicht als integrativer Bestandteil eines über ihre eigenen Regelungen hinausgehenden Systems, in dem der Menschenrechtsschutz nur einen Teilbereich darstellt, einordnen. 132 Strikt gegen einen der EMRK zuzuerkennenden Verfassungsrang spricht sich allerdings – unter Verweis auf den fehlenden materiellen Wertschutzgehalt der gewährleisteten Rechte – G. Dürig aus, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG-Kommentar, Art. 1 Rn. 60.
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angeregt, die Konvention über Art. 2 Abs. 1 GG in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu verankern134 oder sie über Art. 1 Abs. 2 und Abs. 3 GG direkt anzuwenden135. Von einer anderen Perspektive geht die Idee aus, eine Bindung über den im deutschen Zustimmungsgesetz zur Menschenrechtskonvention enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl zu begründen136. Am weitreichendsten sind die Vorschläge, nach denen Art. 24 Abs. 1 GG auf die EMRK angewandt werden soll. So wird vertreten, die Konvention sei aufgrund der institutionellen Verdichtung ihres Rechtsschutzsystems als umfassende zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren. Dies könne zu einem Anwendungsvorrang der EMRK vor innerstaatlichem Recht führen137. Etwas einschränkender wird die Wahrnehmung der verfassungsgerichtlichen Begrenzungsfunktion durch den EGMR als Ausübung von Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG qualifiziert. In dem schöpferischen Charakter der Rechtsprechung liege ein regelndes Element, das die Subsumtion der EMRK als Konventionsgemeinschaft unter Art. 24 Abs. 1 GG erlaube138. Bei allen genannten Denkansätzen handelt es sich indes um verfassungsrechtliche Hilfskonstruktionen, die in Anbetracht des formal eindeutigen Rangs der EMRK als einfaches Gesetz in der deutschen Rechtsordnung 133 A. Bleckmann, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuGRZ 1994, S. 149 ff. Diese Auffassung wird unter Verweis darauf abgelehnt, dass nicht für alle in der EMRK garantierten Rechte eine allgemeine Rechtsüberzeugung, wie sie für das Entstehen von Völkergewohnheitsrecht notwendig ist, festzustellen ist, siehe C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961, 972; C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 306 (Fn. 64). 134 J. Frowein, Das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS Zeidler, Bd. 2, S. 1763, 1768 ff., der anregt, den von der Konvention umfassten Grundrechtsstandard zum Wesensgehalt der Grundrechtsgarantie des Art. 2 Abs. 1 GG zu zählen. 135 F. Hoffmeister, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat 40 (2001), S. 349, 367 ff. Nach Hoffmeister soll Art. 1 Abs. 3 GG eine Klammer zwischen den in Art. 1 Abs. 2 GG in Bezug genommenen Menschenrechten und den „nachfolgenden“ Grundrechten des Grundgesetzes bilden. So entstehe eine „Grundrechtsverfassung“, in der sich die Garantien der EMRK mit den nationalen Grundrechten verbänden. 136 H. Sauer, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur, ZaöRV 65 (2005), S. 35, 43 f., erläutert diese Idee, gelangt jedoch zu dem Ergebnis, dass sich eine Bindungswirkung auf diese Weise nicht überzeugend begründen lässt. 137 G. Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: FS Zeidler, Bd. 2, S. 1775, 1789 ff. Siehe auch T. Oppermann, Europarecht, Rn. 80, der eine Konstruktion über Art. 24 Abs. 1 GG andenkt. 138 C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961, 976.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
nicht zu überzeugen vermögen. Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner Rechtsprechung auf derartige Vorschläge zur materiellen Statuserhöhung der Konvention bislang nicht eingegangen und berücksichtigt die EMRK nur als Auslegungshilfe139 oder lässt sich von der EMRK inspirieren140. Die EMRK-Rechte sind in Deutschland nicht verfassungsbeschwerdefähig. Doch auch bei Festhalten an den formal-hierarchischen Vorgaben ist die tatsächliche Beeinflussung des nationalen Rechts durch das EMRK-System nicht zu übersehen. Dies hängt insbesondere mit der faktischen Wirkung der Urteile des Straßburger Gerichtshofs zusammen. Der EGMR kann zwar nur auf völkerrechtlicher Ebene einen Rechtsverstoß feststellen; ihm fehlt im Gegensatz zu nationalen Verfassungsgerichten die „Durchgriffsbefugnis“, d. h. die Möglichkeit, Gesetze für nichtig zu erklären. Die völkerrechtliche Pflicht zur Umsetzung der Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofs wirkt sich aber in fast allen Fällen innerstaatlich in einer konventionskonformen Reaktion des Gesetzgebers aus. Damit liegt faktisch eine Situation vor, die mit der innerstaatlichen Durchsetzung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen vergleichbar ist. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Verfassungsrecht verschwimmt in diesem Bereich141. Hiermit rechtfertigt sich auch die Bezeichnung des EGMR als „quasi-Verfassungsgericht sui generis“142. Die Bezeichnung der EMRK als europäische Teilverfassung oder „Grundrechtsverfassung“ erwiese sich bei einer rein formalen Betrachtungsweise der Konvention als völkerrechtlicher Staatsvertrag als nicht zutreffend. Gleichwohl bietet das EMRK-System eine Anzahl von materiellen Elementen, die es rechtfertigen, auf den Verfassungsbegriff zurückzugreifen. Hierbei ist allerdings die Einschränkung des Begriffs auf die Teilverfassung notwendig, da die EMRK mangels Einbettung in ein weitergehendes Organisationsgefüge nicht mehr als die Funktion der Begrenzung von – nationaler – 139 Vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 115; zuletzt Urteil des BVerfG vom 14.10.2004, 2 BvR 1481/04; dazu H. Sauer, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur, ZaöRV 65 (2005), S. 35, 44 ff. 140 So P. Kirchhof, Verfassungsrechtlicher Schutz und internationaler Schutz der Menschenrechte: Konkurrenz oder Ergänzung?, EuGRZ 1994, S. 16, 31. E. Pache, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung, EuR 2004, S. 393, 400 f., spricht sich für eine konventionskonforme Auslegung späterer Gesetze bzw. die Anwendung der lex specialis-Regelung (EMRK als speziellere Regelung für Menschenrechtsfragen) aus. Siehe auch R. Bernhardt, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung, EuGRZ 1996, S. 339 ff. 141 Vgl. C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961, 965 f. Siehe auch C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 10 ff. zur Typologie der Einwirkungen der EMRK auf das Recht der Mitgliedstaaten. 142 So L. Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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Hoheitsgewalt erfüllen kann. Diese Funktion reicht aber aus, um materiell die Teilverfassungsqualität zu begründen. Sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch mit Blick auf die Wechselwirkungen und die Verflechtungen mit nationalem Verfassungsrecht zeigt sich, dass kein entscheidender qualitativer Unterschied zwischen den Gewährleistungen der EMRK und den Grundrechten nationaler Verfassungen mehr besteht. Art und Weise des Wirkens der Konvention sind zwar weiterhin von Verfassungsordnung zu Verfassungsordnung unterschiedlich, bei den Ergebnissen ist aber ein zunehmender Gleichklang auf der Basis der EMRK-Vorgaben festzustellen. Bei einem solchen Befund ist naheliegend, dass Inhalt, Wirkungsweise und Verflechtung der EMRK im europäischen Verfassungsgefüge Interpretationsansätze erfordern, die jenen für nationale Verfassungen angenähert sind143. Der Begriff der Teilverfassung darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, es sei ein Teil einer europäischen Verfassungsordnung im herkömmlichen Sinn gemeint. Es handelt sich hierbei vielmehr um ein Geflecht von Teilverfassungen internationalen und nationalen Charakters, denen gemeinsam – annäherungsweise – eine einer Gesamtverfassung analoge Funktion zugeschrieben werden kann. Eine „europäische Verfassung“ in diesem Sinne stellt sich als ein Netzwerk sich teilweise überschneidender Teilverfassungen dar144. Diese nehmen in spezifischen Sektoren je eigene Funktionen und Aufgaben wahr. Ein solcher neuer Verfassungstyp hebt sich deutlich ab von der Vorstellung einer einheitsstiftenden, in ihrer räumlichen und personellen Dimension klar definierten Gesamtrechtsordnung, die auf sich selbst begrenzt ist und alles Fremde ausgrenzt. Im Netzwerk dieser Teilverfassungen erscheint die EMRK als normativ-ideeller, legitimitätsstiftender Kerngehalt145. 5. Kollisionsfälle – Bedeutung der Konvention über eine reine Funktion als „Sicherheits- und Auffangnetz“ hinaus Ergänzend und klarstellend ist auf einen Aspekt hinzuweisen, der die Bedeutung der Konvention als europäisches Menschenrechtsschutzsystem un143 C. Grabenwarter, Europäisches und internationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 345. 144 J. P. Müller, Rechtsphilosophische Reflexionen zur EMRK als Teilverfassung des werdenden Europas, in: GS Ryssdal, S. 957, 963. Nach C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 3, haben die Staaten einen Teil ihres materiellen Verfassungsrechts in die „Komplementärverfassung“ EMRK ausgelagert. 145 J. P. Müller, a. a. O. (vorherige Fußnote), S. 963 f. Ebenso M. Hilf, Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1194, der von der EMRK als „konsentiertem Kern einer gesamteuropäischen Verfassungsordnung“ spricht.
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terstreicht. Die EMRK wird oft charakterisiert als zusätzliches „Sicherheitsnetz“, das mögliche Grund- und Menschenrechtsverletzungen, die auf staatlicher Ebene nicht geheilt werden, auf übergeordneter Ebene doch noch auffängt. Die Rolle der Konvention würde damit reduziert auf ein subsidiäres Rückgriffsmittel im grundrechtlichen Bereich, das dem Einzelnen zusätzlichen Schutz bietet und gleichzeitig auf objektiver Ebene gewährleistet, dass ein bestimmter Grund- und Menschenrechtsstandard im europäischen Raum nicht unterschritten wird146. Eine solche Charakterisierung verkennt jedoch, dass die Konvention in bestimmten Fällen zwangsläufig über die Ebene des Mindest- oder Minimalstandards hinausgehen muss. Der Menschenrechtsgerichtshof ist immer wieder mit Kollisionsfällen befasst, in denen über das zweipolige Verhältnis Staat – Bürger hinaus ein Dritter sich auf eigene, kollidierende Rechte beruft. Sobald eine solche Kollision zwischen zwei konträren menschenrechtlichen Positionen auftaucht, funktioniert die Einordnung der EMRK als europäischer Minimalstandard nicht mehr147. Der EGMR muss dann die Rechte im Wege einer Abwägung gewichten; mit einem Verweis auf den jeweiligen durch ein Recht gewährleisteten Mindeststandard kann er in solchen Fällen nicht zu einer Lösung gelangen. Unter Umständen können die Standards, die er dabei ansetzt, für eines der beiden kollidierenden Rechte besonders hoch sein. Dies bedeutet, dass das Schutzniveau auf Ebene der Menschenrechtskonvention in bestimmten Fällen durchaus auch höher sein kann als in einzelnen Vertragsstaaten, selbst wenn sie, wie beispielsweise Deutschland, über einen gut ausgeprägten und funktionierenden Grundrechtsschutzmechanismus verfügen. Von der EMRK können folglich auch Impulse ausgehen, die eine Entwicklung zu einem höheren Schutzniveau in den Vertragsstaaten und in der Europäischen Gemeinschaft erst anstoßen.
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Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang zwischen formeller Subsidiarität, die in der Regel der Rechtswegerschöpfung in Art. 35 Abs. 1 EMRK zum Ausdruck kommt und die nicht in Frage gestellt werden soll, und materieller Subsidiarität, um die es hier geht. 147 Vgl. zu Kollisionssituationen bei der EMRK C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 298 f., der als Beispiel das Urteil des EGMR vom 29.10.1992, Open Door Dublin Well Woman/Irland, Serie A Nr. 246-A anführt. Zum grundrechtlichen Schutzniveau und Kollisionssituationen im Gemeinschaftsrecht siehe L. Besselink, Entrapped by the Maximum Standard: On Fundamental Rights, Pluralism and Subsidiarity in the European Union, CMLRev 35 (1998), S. 629 ff., und J. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: ders., The Constitution of Europe, S. 102 ff.
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6. Fazit Die genannten, das Konventionssystem charakterisierenden Aspekte zeigen, dass der EMRK trotz ihres rein völkerrechtlichen Ursprungs inzwischen eine herausragende Rolle in der europäischen „Grundrechtslandschaft“ zukommt. Ihre Bedeutung übertrifft die eines bloßen zusätzlichen menschenrechtlichen Sicherheitsnetzes. Die Konvention setzt eigene Standards, die auf gesamteuropäischer Ebene immer wichtiger werden. Das Konventionssystem entfaltet über seinen völkerrechtlichen Rahmen hinaus eine Eigendynamik, die sich unter anderem in der Diskussion um den Status der EMRK als europäische Teilverfassung widerspiegelt. Es handelt sich um ein eigenständiges, sich fortentwickelndes Menschenrechtsschutzsystem148. Dessen Wirkungen entfalten sich aufgrund des isolierten Charakters der Rechtsordnung indes nicht im Binnenbereich des Europarats, sondern nach außen im Bereich der Vertragsstaaten. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu dem auf verfassungs- oder gemeinschaftsrechtlicher Ebene gewährten Grundrechtsschutz. Gerade wegen dieser isolierten Stellung eignet sich die EMRK aber auch besonders gut als Vorbild und Inspirationsquelle für andere, in eine übergreifende Rechtsordnung integrierte Grundrechtsschutzsysteme.
III. Die Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung Das Grundrechtssystem der Europäischen Gemeinschaft lässt sich zwischen den beiden Polen ‚staatlicher Grundrechtsschutz‘ und ‚europäischer Menschenrechtsschutz‘ einordnen. Vom Grundkonzept her steht es dem staatlichen Grundrechtsschutz näher. Anders als die EMRK-Rechte, die keine hoheitliche Macht in ihrem eigenen Bereich organisieren, sind die Gemeinschaftsgrundrechte in ein eigenständiges System eingefügt. Die Mitgliedstaaten übertragen Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft, und die EG hat dementsprechend ihre eigenen, mit exekutiven und legislativen Kompetenzen ausgestatteten Organe, deren Aufgabe es ist, die im EG-Vertrag festgelegten Politiken umzusetzen und die Gemeinschaftsziele zu verwirklichen. Hierin besteht der entscheidende Unterschied zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und einem internationalen Menschenrechtsschutzsystem wie der EMRK: Während die Menschenrechte auf völkerrechtlicher Ebene Ausdruck der humanitären Aufgabe internationaler Organisationen sind und diese Zielsetzung ausschließlich durch Einwirkung auf die Mitgliedstaaten zu erreichen suchen, sind die Gemeinschaftsgrundrechte Bestandteil der 148 Vgl. P. Alston/J. Weiler, An ‚Ever Closer Union‘ in Need of a Human Rights Policy: The European Union and Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 30: „The European Convention system has become more than a legal safety net. It is now a part of the cultural self-definition of European civilization.“
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
innergemeinschaftlichen Rechtsordnung und damit auch gegen mögliche Rechtsverletzungen durch deren Organe selbst gerichtet149. Die jeweiligen Rechte sind also in ihrer – auf beiden Ebenen grundlegenden – Funktion als Abwehrrechte regelmäßig gegen unterschiedliche Hoheitsgewalten gerichtet: Auf der völkerrechtlichen Konventionsebene gegen die jeweilige Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten, auf der gemeinschaftsrechtlichen Ebene gegen die von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragene Hoheitsgewalt. Darüber hinausgehend können Gemeinschaftsgrundrechte aufgrund der Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht in bestimmten Konstellationen auch gegen die mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt angeführt werden150. Die Verwendung des Begriffs der Teilverfassung für die EMRK geht in eine andere Richtung als die Einordnung der Gemeinschaftsgrundrechte in die teilweise integrierte Rechtsordnung der EG: Sie zeigt die Bedeutung des Konventionssystems im Zusammenspiel mit den in ihren Vertragsstaaten bereits existierenden Rechtsordnungen und mit der Gemeinschaftsrechtsordnung. In diesem Bereich erfüllt die Konvention die verfassungsrelevante Begrenzungsfunktion. Dies ist im Rahmen des EMRK-Systems erörtert worden, da es insofern für die Untersuchung von Bedeutung ist, als dadurch auch die Wechselwirkung zwischen der Menschenrechtskonvention und den Gemeinschaftsgrundrechten bestimmt wird. Bei der Beziehung zwischen EMRK und nationalen Rechtsordnungen handelt es sich jedoch um eine andere, als der zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht. Sie liegt auf der völkerrechtlichen Ebene und kann daher – bei einer generellen Betrachtung – als weniger „stark“ oder durchschlagskräftig als die supranationale Verzahnung von EG und Mitgliedstaaten bezeichnet werden. Das Verhältnis der Vertragsstaaten zur EMRK ist einfacher gestaltet als die teilweise komplizierte „Verstrickung“ zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten151. 149 G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 118. P. Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, CMLRev. 39 (2002), S. 945, 989 f. beschreibt die Unterschiede zwischen den EMRK-Rechten und den Gemeinschaftsgrundrechten wie folgt: „. . . it [the EU system of fundamental rights] is different from an international human rights treaty setting, such as the ECHR, which is in fact the opposite of that of the EU: an international human rights instrument is an agreement on some level of common standards, to be reflected in a national context, but which is not applied to any substantive policies at international level which come anywhere near the EU’s policies, in terms of scope, depth and impact.“ Siehe auch J. Liisberg, Does the EU-Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, JMP 04/2001, S. 37. 150 Die Mitgliedstaaten sind an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, soweit sie für die Gemeinschaft tätig werden und soweit sie Ausnahmen von den Grundfreiheiten zulassen wollen. Hierzu unten im 2. Teil, B. V. b).
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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1. Der begrenzte Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaft Stehen die Gemeinschaftsgrundrechte aufgrund ihrer Einbettung in eine eigenständige Rechtsordnung152 somit den staatlichen Grundrechten näher als den „isolierten“ internationalen Menschenrechtsverbürgungen, so sind sie von ihrer Konzeption her und in ihren Funktionen doch gleichzeitig auch gegenüber dem staatlichen Bereich abzugrenzen. Die Europäische Gemeinschaft stellt bislang kein dem Verfassungsstaat gleichzusetzendes Gesamtsystem dar. Insofern kann auch die Rolle, welche die Grundrechte in der Gemeinschaft spielen, nicht vollständig mit derjenigen staatlicher Grundrechte gleichgesetzt werden153. Die Gemeinschaft ist nicht, wie die modernen Verfassungsstaaten, auf den Grundrechten als materiellen Grundprinzipien der gemeinschaftlichen Rechtsordnung mit einer direkten Verbindung zwischen der Organisation von Hoheitsgewalt und der Rechtsstellung der dieser Hoheitsgewalt unterfallenden Bürger aufgebaut worden154. Vielmehr spielte die Frage nach der generellen Relevanz und der Notwendigkeit eigener Grundrechte zum Zeitpunkt der Entstehung der EG überhaupt keine Rolle. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass die Rolle des einzelnen Bürgers ursprünglich im EWG-Vertrag nur sehr marginal ausgestaltet war. Der grundrechtsferne Ansatz spiegelt sich in den frühen Urteilen des Luxemburger Gerichtshofs zu Konflikten zwischen Gemeinschaftsgewalt und Individualrechtspositionen wider, in denen gegenüber Akten der Gemeinschaft kein Grundrechtsschutz gewährt wurde155. Der Gerichtshof lehnte es zunächst ab, zu behaupteten Grundrechtsverletzungen Stellung zu nehmen, da die Grundrechte Teil 151 Dazu J. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: ders., The Constitution of Europe, S. 102, 120: „All of us often fall into the trap of thinking of the Community as an entity wholly distinct from the Member States. But . . . like some well-known theological concepts, the Community is, in some senses, its Member States; in other senses separate from them.“ 152 P. Pescatore bezeichnet das Gemeinschaftsrecht als „autonomes, d. h. selbstgenügsames, in sich geschlossenes und vollständiges Rechtssystem“; ders., Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, 2. Referat, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 64, 65. 153 Zur Wesensnatur der Europäischen Gemeinschaft und Europäischen Union in Abgrenzung zu herkömmlichen internationalen Organisationen und zu Staaten siehe P.-C. Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta, Integration 2000, S. 34, 36. 154 Vgl. P. Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, CMLRev. 39 (2002), S. 945, 989 f.: „The EU develops policies and makes law. . . . Yet it adopted this policy without having its own constitutional document setting out fundamental rights. This is different from a national setting, where constitutions would typically embody the applicable standard, and where . . . there is likely to be more agreement on the underlying fundamental values.“
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
des nationalen Verfassungsrechts seien und damit außerhalb seiner Zuständigkeit lägen. Erst in der Entscheidung Stauder aus dem Jahr 1969 stellte der EuGH – in einem obiter dictum und ohne normative Ableitung – fest, dass die Grundrechte der Person zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung gehören und legte damit den Grundstein für seine Grundrechtsjudikatur156. Von ihrem Ausgangspunkt her stellen sich die Gemeinschaftsgrundrechte demnach als reine Abwehrrechte dar, deren einzige Funktion es ist, die gemeinschaftliche Hoheitsgewalt zu bändigen. Ein Gestaltungsauftrag kommt ihnen nicht zu. Ihre Bedeutung für die Gemeinschaftsrechtsordnung ist dadurch zwangsläufig geringer als die der gestaltend wirkenden Grundrechte im Verfassungsstaat. Die klare Fokussierung auf die Abwehrkomponente hat dazu geführt, dass die Grundrechte nicht prägend auf die Gemeinschaftsrechtsordnung einwirken konnten. Es ist vielmehr zu beobachten, dass sie sich, in ihrer Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des EuGH, in die schon bestehende Rechtsordnung eingefügt haben, dass sie also weniger selber prägend wirkten, als eher durch das System geprägt wurden157. a) Gemeinschaftsgrundrechte als Grenzen hoheitlicher Machtausübung Der Grund für diese Funktionsbeschränkung der Gemeinschaftsgrundrechte ist in erster Linie in der beschränkten Zuständigkeit der Gemeinschaft zu sehen. Die EG verfügt nicht über eine Allzuständigkeit und eine damit korrespondierende generelle Handlungsermächtigung, sondern basiert auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Sie wird gemäß Art. 5 Abs. 1 EGV „innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig“, besitzt also nicht die einem Staat typischerweise zukommende Kompetenz-Kompetenz158. Anders als die Legislativorgane eines Staates, die aufgrund dessen umfassender Verbandskompetenz und ihrer Organkompetenz grundsätzlich jede Materie gesetzlich regeln und auch die Form wählen können, bedürfen die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaft einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung in den 155 EuGH, Rs. 1/58, Stork, Slg. 1958/59, S. 43, 63 f.; EuGH, verb. Rs. 36–38 und 40/59, Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft, Slg. 1960, S. 885, 920 f. Vgl. auch EuGH, Rs. 40/64, Sgarlata, Slg. 1965, S. 215, 227, wo der Gerichtshof Individualrechtsschutz nach Art. 173 Abs. 2 EWGV unter Hinweis darauf verweigert, dass auch in allen Mitgliedstaaten geltende Grundrechte nicht den restriktiven Wortlaut der Vorschrift ändern könnten. Hierzu M. H. Mendelson, The European Court of Justice and Human Rights, YEL 1 (1983), S. 125, 129 f. 156 EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7. 157 Vgl. hierzu unten 1. Teil, II. 2. c). 158 Vgl. oben 1. Teil, A. II. 3. b).
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Gründungsverträgen. Ohne eine solche generelle Handlungsermächtigung wurde anfangs aber auch die Möglichkeit der Gemeinschaft, in die Individualsphäre des Einzelnen einzugreifen, nicht in den Blick genommen. Die Europäischen Gemeinschaften waren sektoriell ausgerichtet; die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war vom Ausgangspunkt her rein wirtschaftlich auf nicht mehr als die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und auf die begleitenden Politiken bezogen159. Die Frage nach der Notwendigkeit „eigener“ Grundrechte für den Geltungsbereich des EWG-Vertrags wurde daher – anders als bei den Verhandlungen über die letztlich gescheiterte Europäische Politische Gemeinschaft, die neben den auf bestimmte Sektoren beschränkten Verträgen eine Integration im politischen Bereich ermöglichen sollte160 – erst gar nicht gestellt. In den Römischen Verträgen wurde auf Grundrechte im Sinne fundamentaler, auf der Menschenwürde basierender und verbürgter Rechte des Individuums kein Bezug genommen161. Bei den Beratungen und Verhandlungen der sechs Gründerstaaten über die Verträge spielte der Grundrechtsschutz keine Rolle; es war nicht vorgesehen, den Bürgern Rechte einzuräumen oder ihnen Pflichten aufzuerlegen. Dass sich 159 Dies gilt bezogen auf die konkreten Ziele der Gemeinschaft. Auch in der Präambel des EWG-Vertrags von 1957 ist bereits das abstrakte, den konkreten wirtschaftlichen Rahmen überschreitende Ziel der Schaffung eines „immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker“ (1. Erwägungsgrund) und der Wahrung von Frieden und Freiheit (8. Erwägungsgrund) enthalten. 160 Im Vertragsentwurf zur Europäischen Politischen Gemeinschaft wurde ausdrücklich auf den Schutz der Grundrechte und die EMRK Bezug genommen. Das Projekt scheiterte daran, dass die französische Nationalversammlung mit Votum vom 30.8.1954 die Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ablehnte und hiermit gleichzeitig der Europäischen Politischen Gemeinschaft die Grundlage entzog; hierzu BBPS, Die Europäische Union, Rn. 9. 161 Selbst Art. 141 EGV (vormals Art. 119 EGV), der den Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche Arbeit für Männer und Frauen normiert, beruhte von seinem Ursprung her nicht auf dem grundrechtlichen Anliegen der sozialen Gerechtigkeit durch Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern wurde auf Betreiben Frankreichs zur Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen durch Lohndumping in den Vertrag aufgenommen; vgl. T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 270; S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur EMRK, S. 23. Auch das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV (vormals Art. 6 EGV) war ursprünglich nicht als Grundrecht gedacht, sondern sollte – als Auffangtatbestand – dem Abbau von Disparitäten im Binnenmarkt dienen; vgl. T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3, 5 f.; J. Wolf, Vom Grundrechtsschutz „in Europa“ zu allgemeinverbindlich geltenden europäischen Grundrechten, in: Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 13. In der Rs. 149/77, Defrenne III, Slg. 1978, S. 1365, Rn. 25 und 26/29, hat der Gerichtshof das allgemeine Diskriminierungsverbot dann ausdrücklich als Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes qualifiziert, der aus dem ungeschriebenen Gemeinschaftsrecht folgt.
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in dem auf den wirtschaftlich-sozialen Rahmen begrenzten Bereich ein ernstzunehmendes Problem in Bezug auf die Grundrechte stellen könnte, wurde gar nicht erst angedacht162. Zugleich stellten die Gründer der EWG auf diese Weise klar, dass die Gemeinschaft nicht als eine einem staatlichen Gemeinwesen vergleichbare Organisation konzipiert sein sollte163. Auch in dem begrenzten wirtschaftlichen Bereich des EWGV ergaben sich jedoch nach kürzester Zeit grundrechtliche Fragestellungen. Eine Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft konnte nicht stattfinden, ohne dass gleichzeitig dem Einzelnen – sozusagen als freiheitssicherndes Korrelat – Rechte an die Hand gegeben wurden, die dieser der Gemeinschaftsgewalt entgegenhalten können musste. Als Mittel zur Freiheitssicherung standen ihm zunächst nur die nationalen Grundrechte der Mitgliedstaaten zur Verfügung. Ein Rückgriff auf internationale Menschenrechtsverträge wie die Europäische Menschenrechtskonvention stand ausgangs nicht zur Debatte, da es sich hierbei um andere, gänzlich außerhalb der Gemeinschaft liegende Rechtskreise handelte. Der Verwendung nationaler Grundrechte als Abwehrrechte gegen Gemeinschaftshandlungen stand jedoch der schon frühzeitig erhobene Anspruch des Gemeinschaftsrechts entgegen, für die ihm übertragenen Kompetenzbereiche eine eigene Rechtsordnung begründen zu wollen164. Eigene Grundrechte auf Gemein162 P. Pescatore, Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, 2. Referat, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 64. Trotz der zeitlich engen Aufeinanderfolge von Unterzeichnung der EMRK und Gründung der ersten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl innerhalb eines Jahres (1951/52) wurden – abgesehen von Art. 303 EGV, der sich allerdings lediglich mit der Zusammenarbeit von Gemeinschaft und Europarat befasst – keine Beziehungen zwischen den beiden neu geschaffenen Organisationen vorgesehen. Hierbei spielte der unterschiedliche Kreis der Vertragsstaaten eine Rolle; zudem wurden für die Bereiche Menschenrechte einerseits und Kohle- und Stahl-Gemeinschaft andererseits ausgangs keine Überschneidungen gesehen. Hierzu R. Lecourt, Cour européenne des Droits de l’Homme et Cour de justice des Communautés européennes, in: FS Wiarda, S. 335. N. Theurer, Das Verhältnis der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 11, verweist auf den wirtschaftlichen Funktionalismus in der Nachkriegszeit und das geringe Interesse an sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten. Die EWG sei auf eine möglichst effektive Funktionswahrnehmung ausgerichtet gewesen, und die einzelnen Funktionen der Verbandsgewalt hätten gerade nicht „zum Wohle der Marktbürger“ durch Grundrechte gehemmt werden sollen. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 723, bezeichnete noch 1972 die Gemeinschaftsgewalt als weitgehend grundrechtsindifferent. 163 P.-C. Müller-Graff, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, in: FS Steinberger, S. 1281, 1287 f., unter Verweis auf H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 196 ff., der die Gemeinschaften als „Zweckverbände funktioneller Integration“ qualifiziert. 164 Hierzu sogleich bei der Qualifizierung der EG als Rechtsgemeinschaft.
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schaftsebene erwiesen sich damit als notwendige und unerlässliche Begleiterscheinungen der verfassungsrechtlichen Supranationalisierung165. Mangels Verbürgung fundamentaler Rechte des Einzelnen im Primärrecht erkannte der Luxemburger Gerichtshof sie daher in seiner Rechtsprechung – beginnend mit dem Urteil Stauder166 – auf der Grundlage des Art. 220 EGV als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts an. Zum Zeitpunkt des Stauder-Urteils im Jahr 1969 war bereits offensichtlich, dass für eine so intensiv in die nationalen Rechtsordnungen hineinreichende supranationale Rechtsordnung wie die des Gemeinschaftsrechts ein eigener Grundrechtsschutz unumgänglich war, der „intern“ auf Gemeinschaftsebene anzusiedeln und nicht „extern“ den staatlichen Rechtsordnungen oder einem anderen internationalen Vertrag entnommen sein müsste. Damit hatte der Gerichtshof die Basis für eine eigene Grundrechtsjudikatur geschaffen und sich auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet, in allen relevanten Fällen Grundrechte zugunsten der Bürger gegen die Gemeinschaft zu berücksichtigen. Der Katalog möglicher Gemeinschaftsgrundrechte ist durch die pauschale Formulierung in der Rechtssache Stauder – „die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte“167 – nicht auf bestimmte Rechte begrenzt, sondern bewusst offen gehalten worden. Damit hat sich der Gerichtshof maximale inhaltliche Flexibilität bei der Bestimmung der einzelnen Rechte und deren Umfang gesichert. Er ist frei, je nach Fallkonstellation und betroffenen Interessen Grundrechte verschiedenster Art zur Anwendung kommen zu lassen und ihre jeweilige Reichweite zu bestimmen168. Aus der Perspektive des durch eine Maßnahme betroffenen Bürgers bedeutet dies, dass er sich auf alle in seinem Fall in Betracht kommenden Grundrechte berufen kann, ohne diesbezüglich einer inhaltlichen Beschränkung zu unterliegen, sofern es sich um einen Fall handelt, der in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Diese Freiheit und Flexibilität des Gerichtshofs beim „Herausarbeiten“ von Grundrechtsgehalten im Gemeinschaftsrecht ist ein Punkt, der sich im Falle des Verbindlichwerdens der Grundrechte-Charta ändern würde. Die Charta enthält einen festen Katalog geschriebener Rechte, an die der Gerichtshof gebunden sein würde. Gleichwohl würden sich die Beschränkungen, die dem EuGH damit bei sei165
T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 18. EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419 ff. 167 EuGH, a. a. O., Rn. 7. 168 Kritisch dazu wegen der Unberechenbarkeit eines derartigen Grundrechtsschutzes U. Fink, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Amsterdamer Vertrag, in: Kluth, Die Europäische Union nach dem Amsterdamer Vertrag, S. 57, 69. 166
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
ner Grundrechtsjudikatur auferlegt werden, in Grenzen halten. Die Charta gäbe einen Rahmen vor, in den sich die Rechtsprechung einzufügen hätte. Die in ihr enthaltenen Grundrechte als fundamentale Rechte des Individuums wären notwendigerweise aber nur allgemein formuliert und müssten durch die Rechtsprechung konkretisiert werden. Zudem enthält die Grundrechte-Charta keine spezifischen Schrankenbestimmungen für die jeweiligen Grundrechte, sondern mit Art. 52 Abs. 1 GRCh nur eine allgemeine, für alle Rechte geltende Schranke. Damit würden dem Gerichtshof trotz der Bindung an die Chartavorgaben weitgehende Auslegungskompetenzen verbleiben169. Es stellt sich darüber hinausgehend die Frage, ob der EuGH durch die festen Vorgaben verstärkt eine Dogmatik im Grundrechtsbereich herausarbeiten würde, die sich bislang aufgrund der stark kasuistischen Natur der Grundrechtsrechtsprechung kaum erkennen lässt170. Die grundrechtlichen Fragestellungen, mit denen der Gerichtshof in den Folgejahren nach 1969 befasst war, beschränkten sich zunächst, entsprechend der Zielrichtung und den begrenzten Kompetenzen der Gemeinschaft, vorrangig auf den klassisch wirtschaftlichen Bereich. So ging es um Fragen der Eigentumsfreiheit171, der freien wirtschaftlichen Betätigung172 und der Berufsfreiheit173. Daneben erfasste die Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten aber auch schon früh nicht-wirtschaftliche Bereiche174. 169 In Deutschland hat das BVerfG mit seiner Rechtsprechung die Grundrechte des Grundgesetzes erst mit Leben erfüllt und maßgeblich eine Grundrechtsdogmatik entwickelt, die sich aus den Rechten selber nicht ergibt. 170 Vgl. S. Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Der Staat 36 (1997), S. 547, 554 ff., 572. M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 432 ff., sieht Anhaltspunkte, dass sich zumindest die Kontrolldichte des EuGH sowohl durch die Charta als solche als auch durch deren materielle Inhalte erhöhen wird. 171 EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Rn. 17 ff. 172 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 2. 173 EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, 491, Rn. 14; Rs. 230/78, Eridiana, Slg. 1979, S. 2749, Rn. 22. 174 Der EuGH befasste sich beispielsweise bereits im Jahr 1976 in der Rs. 130/75, Prais/Rat, Slg. 1976, S. 1589 ff., mit der Religionsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht. Siehe hierzu M. Hilf, Kommentar in der Aussprache zu den Referaten ‚Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken‘, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 83. Der Fall Prais betraf eine beamtenrechtliche Streitigkeit. Konflikte in diesem Bereich liegen zwangsläufig außerhalb des wirtschaftlichen Betätigungsfeldes der Gemeinschaft. Das Beamtenrecht als spezieller Rechtsbereich ist allerdings gesondert zu betrachten, da das Verhältnis der Gemeinschaft zu ihren Beamten, wie das Beamtenverhältnis auf nationaler Ebene, durch besondere Regeln geprägt ist; die Gemeinschaft steht zu ihren Bediensteten in einer anderen Beziehung als zu den Unionsbürgern allgemein. Dazu A. Kallmayer in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 283 EGV Rn. 1 ff. So erklärt
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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Derartige Fälle widerlegten die gerade zu Anfang der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH vertretene These, dass ausschließlich die Wirtschaftsgrundrechte von Relevanz für die Gemeinschaftsrechtsordnung seien, da Fälle von Verletzungen klassischer Freiheits- und politischer Grundrechte, vergleichbar denen auf nationaler oder auf EMRK-Ebene, kaum auftreten könnten175. Verallgemeinernd kann an dieser Stelle indes bereits festgestellt werden, dass den wirtschaftlich geprägten Grundrechten in der Judikatur des EuGH von Anfang an eine bedeutendere Stellung zukam als den anderen, in Abgrenzung dazu freiheitlich oder politisch zu nennenden Grundrechten, die sich als Menschenrechte in der EMRK wiederfinden. Nicht nur lagen die Eingriffskompetenzen der Gemeinschaft vom Ausgangspunkt her vornehmlich im Schutzbereich wirtschaftlicher Grundrechte. Der Luxemburger Gerichtshof hat auch in seiner Rechtsprechung den Grundrechten mit wirtschaftlichen Implikationen eine gewisse Vorzugsbehandlung zukommen lassen176. b) Bedeutungszunahme der Grundrechte durch Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und Einführung der Unionsbürgerschaft Unabhängig von der hier im Vorgriff angedeuteten „wirtschaftlichen Prägung“ der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH ist zunächst auf die erfolgte Ausweitung der Eingriffsmöglichkeiten der EG einzugehen. Im Zuge der verschiedenen Vertragsreformen, von der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 über den Unionsvertrag von Maastricht 1992, den Amsterdamer Vertrag von 1997 bis hin zum Vertrag von Nizza 2001, wurde der Kompetenzbereich der Gemeinschaft durch die Übertragung von Hoheitsrechten zunehmend erweitert. Neben die bereits vom EWG-Vertrag 1957 umfassten sich auch die durch den Vertrag von Nizza initiierte Schaffung eines eigenen Gerichts für den öffentlichen Dienst. 175 So z. B. im Jahr 1976 P. Pescatore, Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, 2. Referat, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 64, 65. Zu dem Gedanken der Ausarbeitung eines ausführlichen Grundrechtskatalogs für die Gemeinschaft merkt er an: „Ein solcher Katalog würde meiner Ansicht nach ein sehr eigenartiges Aussehen haben, weil es sinnlos erscheinen würde, darin gerade die wesentlichen Dinge zu behandeln, so wie sie etwa in der MRK stehen, da man von vorneherein weiß, dass nur eine minimale Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich derartige Probleme jemals im Rahmen der Gemeinschaften stellen könnten.“ (a. a. O., S. 70). Siehe auch G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 124 (im Zusammenhang mit einem möglichen Beitritt der EG zur EMRK): „Ob ein Beitritt der Gemeinschaften zur Konvention sinnvoll ist, erscheint angesichts des speziell ausgerichteten und überwiegend wirtschaftsbezogenen Grundrechtsbedarfs der Gemeinschaften als fraglich.“ 176 Hierzu ausführlicher unten 1. Teil, B. III. 2. c) und 2. Teil, B. II. 2.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
klassischen wirtschaftlichen Bereiche wie Grundfreiheiten, Wettbewerbsregeln und gemeinsame Handelspolitik traten neue, nicht nur wirtschaftlich geprägte Politikbereiche wie Umwelt, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, Forschung und technologische Entwicklung oder Beschäftigung. Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde primärrechtlich in den Art. 98 ff. EGV verankert. Mit Art. 95 EGV (vormals Art. 100a EGV) wurde der Gemeinschaft außerdem eine weitreichende Rechtsangleichungskompetenz zur Verwirklichung des Binnenmarktes erteilt177. Mit dieser Ausdehnung der gemeinschaftlichen Kompetenzbereiche ging zwangsläufig eine Ausweitung der Fälle mit Grundrechtsrelevanz und damit auch der diesbezüglichen Rechtsprechung des Gerichtshofs einher. Dem den Gemeinschaftsgrundrechten zugrunde liegenden Abwehrgedanken folgend musste der EuGH für jeden Fall, in dem es um die Beeinträchtigung von Grundrechten durch die Gemeinschaftsgewalt bzw. durch mitgliedstaatliche Gewalt im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ging, entsprechenden Schutz zur Verfügung stellen178. Aus dieser unumgänglichen Notwendigkeit, dem Bürger auf irgendeine Weise Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene zur Verfügung zu stellen, rührt die Bezeichnung der Grundrechtsrechtsprechung als „solution de dépannage“ her179. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind demnach zunächst als Antwort des Gerichtshofs auf eine drohende Rechtsschutzlücke, die sich mit dem immer größer werdenden Einfluss der Gemeinschaft auf alle Lebensbereiche der Bürger im Binnenmarkt auftat, anzusehen. Die Lücke droht mit jeder neuen Übertragung von Hoheitsrechten wieder aufzureißen und wird, sobald ein diese neuen Kompetenzen betreffender Fall vor dem EuGH landet, von diesem mittels des für den konkreten Konfliktfall einschlägigen Grundrechts geschlossen. Demgemäß hat sich mit der Erweiterung der Kompetenzen der Gemeinschaft zwangsläufig auch die Spannbreite der vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung anerkannten Grundrechte sowie die Grundrechtsjudikatur insgesamt vergrößert. In jedem der von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragenen 177 Zu Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen, Binnenmarkt und Grundrechtsschutz siehe H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, S. 7 ff. 178 Vgl. zu dieser Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte G. C. Rodriguez Iglesias, The protection of fundamental rights in the case law of the Court of Justice of the European Communities, The Columbia Journal of European Law 1995, S. 169, 171 ff.; C. O. Lenz, Der europäische Grundrechtsstandard in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, EuGRZ 1993, S. 585 ff. Ausführlich zu Ausgangspunkt und Entwicklung der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH N. Neuwahl, The Treaty on European Union: A Step Forward in the Protection of Human Rights, in: Neuwahl/Rosas, The European Union and Human Rights, S. 1 ff. 179 R. Lecourt, Cour européenne des Droits de l’Homme et Cour de justice des Communautés européennes, in: Mélanges Wiarda, S. 335, 336: „Certes, ce n’est là qu’une solution de secours où, si l’on préfère, de ‚dépannage‘.“
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Bereiche wird – als Korrelat der Ausübung der Hoheitsrechte – automatisch auch der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz aktiviert. In diesem Konzept offenbart sich der fundamentale Unterschied zu dem Menschenrechtsschutzsystem der EMRK: Für das Konventionssystem spielen Kompetenzfragen keine Rolle. Die EMRK-Garantien können als „fremde Rechte“ auf jeden Sachverhalt angewendet werden, ohne dass ihre Anwendbarkeit in Frage gestellt würde180. Allerdings ist ihre Durchschlagskraft entsprechend geringer; als völkerrechtliche Gewährleistungen können sie leichter missachtet werden. Neben der weiteren Übertragung von Hoheitsrechten kamen der Gemeinschaft im Laufe der Jahre auch insofern immer größere Kompetenzfelder zu, als der EuGH als oberster Wächter über die Kompetenzverteilung und „ ‚einziger Meister‘ im Kompetenzkonflikt“181 zwischen EG und Mitgliedstaaten eine aktive Rolle bei der Förderung der Integration eingenommen und den Gemeinschaftsorganen große Spielräume bei der Erweiterung ihrer Regelungsaktivitäten gelassen hat. Als „moteur de l’intégration“ hat er das Prinzip der begrenzten Ermächtigung durch eine weite Interpretation von Kompetenznormen relativiert und der Ausübung mitgliedstaatlicher Legislativbefugnisse Grenzen gesetzt182. Insbesondere die weitgehende Auslegung des Art. 308 EGV als Ermächtigungsvorschrift zur Vertragslückenschließung183 und die implied-powers-Lehre des EuGH184 haben zu einer Verstärkung der gemeinschaftlichen gegenüber den mitgliedstaatlichen Kompetenzen beigetragen185. Die Gemeinschaft befindet sich also nicht in einem 180 Diese unterschiedlichen Konstellationen umschreibt J. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: The Constitution of Europe, S. 102, 103 f. J. Liisberg, Does the EU Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, JMP 04/2001, S. 37, benennt die Unterschiede zwischen Gemeinschafts- und EMRK-System und die Rolle der beiden Gerichtshöfe wie folgt: „One could say that the ECtHR operates on a ‚floor‘ of protection, on the basis of one single instrument, whereas the ECJ has to operate both on a ‚floor‘ of protection and under a ‚ceiling‘ of dictates from a multitude of different rules which must be uniformly applied throughout the Community to serve their purposes.“ 181 So M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 26. 182 Zu der Rolle des Gerichtshofs in Kompetenzstreitigkeiten zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten und zum Wandel seiner Rechtsprechung in den neunziger Jahren ausführlich M. Simm, a. a. O., S. 23 ff. 183 Dazu G. Isaac, Droit communautaire général, S. 37 f. 184 Grundlegend dazu EuGH, Rs. 8/55, Fédéchar, Slg. 1956, S. 297 ff.; G. Nicolaysen, Zur Theorie von den implied powers in der EG, EuR 1966, S. 129 ff. 185 BBPS, Die Europäische Union, Rn. 123 ff. F. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 68 ff.; I. Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, S. 88 ff.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
gänzlich starren Korsett zugeteilter Kompetenzen, das keinerlei Flexibilität zuließe. Mit dem Maastrichter Vertrag wurde außerdem das Institut der Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag aufgenommen. Damit wurde nicht nur der Übergang der Stellung des Einzelnen im Gemeinschaftsgefüge vom „Marktbürger“186 zum nicht mehr allein wirtschaftlich, sondern auch in weiteren Politikbereichen betroffenen Unionsbürger gekennzeichnet und der Bürger ausdrücklich in den Mittelpunkt des Integrationsprozesses gerückt. Mit dem Freizügigkeitsrecht in Art. 18 EGV wurde zudem ein unmittelbar wirksames allgemeines Recht auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger in den Vertrag eingefügt187. Zwar besteht historisch zwischen den auf prätorischem Wege entwickelten Gemeinschaftsgrundrechten und dem Institut der Unionsbürgerschaft kein Zusammenhang; Berührungspunkte waren hier nicht angedacht188. Der Gerichtshof hat jedoch in verschiedenen Urteilen aus den letzten Jahren über das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger im Zusammenspiel mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und damit auch der Grundrechte erheblich erweitert189. 2. Die EG als Rechtsgemeinschaft und als autonome Rechtsordnung sui generis Mit der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte aus der Notwendigkeit, Durchgriffsakten der EG ein freiheitssicherndes Korrelat entgegensetzen zu müssen, ist ein erster, grundlegender Aspekt des Geltungsgrundes dieser Rechte genannt. Für die gemeinschaftliche Rechtsordnung kommt den Grundrechten jedoch seit langem eine über diesen Aspekt hinausreichende Bedeutung zu.
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Vgl. zu diesem Begriff H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 250 ff. 187 Die unmittelbare Geltung des Art. 18 EGV ist umstritten, wird aber von der Mehrzahl der Kommentatoren bejaht. Vgl. dazu A. Hatje in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 EGV Rn. 5; W. Kluth in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 18 EGV Rn. 15 m. w. N. 188 S. Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 539, 567. 189 Hierzu unten 2. Teil, B. V. 2. b) bb) (1).
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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a) Unmittelbare Wirkung, Vorrang und Anerkennung eigener Grundrechte als Pfeiler der Rechtseinheit Die Grundrechte sind essentielle und unverzichtbare Bestandteile der Gemeinschaftsrechtsordnung als neuer internationaler Rechtsordnung sui generis190, die in weitaus stärkerem Maße als eine klassische internationale Organisation auf dem Recht basiert und sich – wie aus ihrer Bezeichnung als „Rechtsgemeinschaft“ hervorgeht – aus dem Recht heraus definiert191. Unter dem Blickwinkel des Bestands der Gemeinschaft ist die Herrschaft des Rechts für sie unter Umständen sogar wichtiger als für einen Nationalstaat. Während im Staat Regelungs- und Zwangsgewalt gleichen Ursprungs sind und in der Regel nicht in Frage gestellt werden, ist die Frage der Durchsetzbarkeit in der Gemeinschaft aufgrund ihrer völkerrechtlichen Genese problematisch. Dem Aspekt der Rechtsgemeinschaft als Element des Zusammenhalts kommt daher herausragende Bedeutung zu192. Der Gerichtshof hat in seinen grundlegenden Urteilen die Pfeiler der neuen Rechtsordnung verankert und die Rechtlichkeit der Gemeinschaft als zentrale Strukturdeterminante betont. Dabei verbinden sich unmittelbare Wirkung, Vorrang und Rechtseinheit als Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts mit der Anerkennung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze zu einem in sich verknüpften, aufeinander bezogenen rechtlichen Gesamtgefüge. 190 In seinen beiden für die Gemeinschaftsrechtsordnung fundamentalen Urteilen in den Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1, Rn. 10, und Rs. 6/64, Costa/ ENEL, Slg. 1964, S. 1251, Rn. 8 ff., hat der EuGH die Gemeinschaft als Rechtsordnung neuer, eigener Art bezeichnet und die spezifischen Charakteristika des Gemeinschaftsrechts im Unterschied zum Völkerrecht herausgearbeitet. 191 Grundlegend zum Gedanken der EG als Rechtsgemeinschaft W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 31 ff.; ders., Die EWG – eine Rechtsgemeinschaft, in: ders., Europäische Reden, S. 341 ff. Siehe auch D. Simon, La Communauté de droit, in: Sudre/Labayle, Réalité et perspectives du Droit communautaire des droits fondamentaux, S. 85 ff.; M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 ff.; A. v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, S. 53 f. Auch der EuGH kennzeichnet die Gemeinschaft auf diese Weise, Rs. 294/83, Les Verts, Slg. 1986, S. 1339, Rn. 23: „Dazu ist zunächst hervorzuheben, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag stehen.“; Gutachten 1/91, EWR, Slg. 1991, S. I-6079, Rn. 21: „Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar.“ 192 A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders., Europäisches Verfassungsrecht, S. 149, 166 f.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
Mit der Rs. Van Gend & Loos legte der Gerichtshof 1963 als ersten Grundstein der neuen Rechtsordnung die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts in dem Sinne fest, dass dessen Rechtsnormen ohne weiteren Vollzugsakt durch die Mitgliedstaaten in die nationale Rechtssphäre hineinwirken und unmittelbar Rechte und Pflichten für die Einzelnen begründen193. Bereits hiermit war ein erheblicher qualitativer Sprung gegenüber sonstigen völkerrechtlichen Verträgen, die als Gründungsverträge internationaler Organisationen grundsätzlich allein die Vertragsstaaten als Berechtigte und Verpflichtete kennen, markiert194. Ein Jahr später begründete der EuGH mit seinem Urteil in der Rs. Costa/ENEL den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor entgegenstehendem nationalen Recht mit der Eigenständigkeit der gemeinschaftlichen Rechtsordnung195. In dem Urteil Internationale Handelsgesellschaft von 1970196 – ein Jahr nach dem obiter dictum in Stauder, mit dem der Gerichtshof generell die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeiner Rechtsgrundsätze anerkannt hatte197 – verknüpfte er das Vorrangprinzip mit dem Gedanken der Rechtseinheit und der notwendigen Geltung eigener Grundrechte im Gemeinschaftsrecht: Zwecks Gewährleistung der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts und aufgrund der Autonomie der Rechtsordnung dürften Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht nach nationalem Recht, sondern nur am Maßstab des Gemeinschaftsrechts beurteilt werden. Auch das Geltendmachen der Verletzung nationaler Grundrechte könne daher die Gültig193
EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1, Rn. 9 ff. Siehe auch EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, S. 629, Rn. 14/16. 194 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 28. 195 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251, Rn. 8 ff. Ausführlich zu der Bedeutung von Vorrang und unmittelbarer Wirkung für die Gemeinschaftsrechtsordnung siehe B. de Witte, Direct Effect, Supremacy and the Nature of the Legal Order, in: Craig/de Burca, The Evolution of EU Law, S. 177 ff.; E. Stein, Lawyers, Judges, and the Making of a Transnational Constitution, AJIL 75 (1981), S. 1, 3 ff. Kritisch dazu aus der Sicht des Völkerrechts O. Spiermann, The Other Side of the Story: An Unpopular Essay on the Making of the European Community Legal Order, EJIL 10 (1999), S. 763 ff.: „. . . that the judges of the European Court have acted as national lawyers when making the Community legal order. Thus, they have had a simplistic idea of international law, identifying it with the international law of coexistence. This easily made the only bits of the international law of cooperation which the judges could not neglect, namely the Community treaties, look fundamentally new.“ (a. a. O., S. 786 f.). Ebenfalls kritisch zum Ansatz des EuGH in Bezug auf die „Neuheit“ der Gemeinschaftsrechtsordnung T. Schilling, The Autonomy of the Community Legal Order: An Analysis of Possible Foundations, Harvard International Law Journal 1996, S. 389 ff.; dagegen J. Weiler, The Autonomy of the Community Legal Order: Through the Looking Glass, in: ders., The Constitution of Europe, S. 286 ff. 196 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125 ff. 197 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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keit einer Gemeinschaftshandlung nicht beeinträchtigen. Aus dieser Konstellation heraus ergebe sich jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit, derartige Maßnahmen auf einen Verstoß gegen die Grundrechte auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts hin zu prüfen198. Die Gemeinschaftsgrundrechte liefern folglich gleichsam die Legitimationsbasis für das Rechtskonstrukt dieser supranationalen Rechtsordnung. Ohne die Möglichkeit, die gemeinschaftlichen Maßnahmen an grundrechtlichen Maßstäben zu überprüfen, bräche das Konstrukt zusammen199. Durch die von den Mitgliedstaaten übertragenen Hoheitsrechte erhält die Gemeinschaft ihren eigenen Rechtsbereich, in dem sie Kompetenzen ausüben kann. Damit kommt ihr im Vergleich zu internationalen Organisationen herkömmlicher Art eine größere „Machtstellung“ zu, die durch die Instrumente der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts noch ausgebaut wurde. Gleichzeitig ist sie damit aber auch für die Begrenzung dieser Macht verantwortlich. Die Gemeinschaftsgrundrechte stellen hierbei die entscheidende und wichtigste Grenze dar. Mit der Konzeption der EG als „Rechtsgemeinschaft“ wird also letztlich dem gemeineuropäischen Erfordernis grundrechtsgebundener Herrschaftsgewalt Rechnung getragen. Mit den skizzierten Entscheidungen hatte der Gerichtshof die wesentlichen Grundpfeiler der gemeinschaftlichen Rechtsordnung verankert, darunter auch das Erfordernis eines adäquaten Grundrechtsschutzes. Im Folgenden lag seine Aufgabe darin, dem auf dieser Basis anerkannten Grundrechtsschutz Konturen zu geben und ihn auszubauen. So befasste sich der EuGH in seiner Folgerechtsprechung mit den Erkenntnisquellen, aus denen er die Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze schöpft, und – in Abhängigkeit von den bei ihm anhängigen Fällen – mit der Konkretisierung der einzelnen Grundrechte. Durch Zahl und Diversität der Fälle entstand so durch Richterrecht ein umfassender, wenn auch ungeschriebener „Grundrechtskatalog“200. 198 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 3 f. 199 Dies war auch die Begründung für einige mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte, die damit drohten, zum Schutze ihrer Rechtsunterworfenen ihre eigenen nationalen Grundrechte wieder über die gemeinschaftsrechtlichen Maßnahmen zu stellen und so den Vorrang des Gemeinschaftsrechts außer Kraft zu setzen, vgl. BVerfGE 37, S. 271 ff. (Solange I); italienische Corte Costituzionale, EuR 1974, S. 255 ff. Allerdings basierten diese Urteile nicht auf der Annahme, dass auf Gemeinschaftsebene gar kein Grundrechtsschutz, sondern darauf, dass kein hinreichender Grundrechtsschutz gewährt würde, da der EuGH zu diesem Zeitpunkt die Grundrechte bereits als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anerkannt hatte. Vgl. zu dem Aspekt der Wahrung der Rechtseinheit durch eigenen, gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz auch B. Beutler in: GTE, Art. F Rn. 24. 200 Näher zu den Inhalten dieses Grundrechtskatalogs unten, 2. Teil, B. II. 2.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
b) Grundrechte als Ausdruck des „rechtsstaatlichen“ Fundaments der Gemeinschaft und als Identifikationsfaktor Der Begriff der „Rechtsgemeinschaft“ ist auch als Parallelbildung zum „Rechtsstaat“ zu verstehen201. Durch die begriffliche Anlehnung wird indiziert, dass die Rechtsgemeinschaft, auch wenn sie kein Staat ist, doch über wesentliche Attribute verfügt, die in der Staatslehre als konstituierende Elemente der Rechtsstaatlichkeit gelten. Betrachtet man die Funktion des Rechts in dem Ausschnitt, der das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und dem Bürger darstellt und der maßgeblich den Begriff der Rechtsgemeinschaft prägt, so ist die Geltung individueller Grundrechte neben rechtsstaatlichen Verfassungsprinzipien, dem Gesetzesvorbehalt, den Rechtsschutzgarantien und der Gewaltenteilung eines der grundlegenden Elemente202. Die Europäische Gemeinschaft besteht aus Mitgliedstaaten gleichartiger politisch-ethischer Überzeugung, denen – trotz verschiedenartiger Organisationsformen der Rechtsstaatlichkeit – eine von Freiheit und Menschenrechten geprägte Ordnung gemeinsam ist. Dies kommt in der Präambel des EG-Vertrags, in der die Wahrung von Frieden und Freiheit als übergeordnetes Ziel des wirtschaftlichen Zusammenschlusses genannt wird203, ebenso zum Ausdruck wie in der Präambel des Unionsvertrags204 und in Art. 6 Abs. 1 EUV, in denen die Union sich zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit bekennt. Die Grundrechte sind wesentliche und notwendige Begleiterscheinungen der Relativierung des Nationalstaats und des damit einhergehenden Prozesses der verfassungsrechtlichen Supranationalisierung205. Sie weisen die Gemeinschaft als ein ebenso wie alle ihre Mitgliedstaaten rechtlich verfasstes Gemeinwesen aus. Im Zusammenhang mit der rechtsstaatlich-demokratischen Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte steht der Aspekt der Identifikation. So werden die Grundrechte auch als aus der Perspektive des Bürgers wichtigste vertrauensbildende Maßnahme im Prozess der Supranationalisierung bezeich201 Vgl. M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545, 546; J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 45 f. 202 Vgl. G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 107; K. Strasser, Grundrechtsschutz in Europa und der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur EMRK, S. 46. 203 8. Erwägungsgrund der Präambel. 204 3. Erwägungsgrund. 205 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 18; BBPS, Die Europäische Union, Rn. 638. Siehe auch M. Hilf, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, EuR 1991, S. 19, 24 ff., zu Konstitutions-, Demokratie-, Legitimations- und Konsensfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte.
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net206 und als Identifikationsmöglichkeit für den Einzelnen in der Weite und „Gemengelage“ sich überlagernder Regelungsbereiche einer europäischen Wirtschaftsgesellschaft gesehen207. Hierbei handelt es sich allerdings um einen nicht maßgeblich prägenden und rechtlich ohnehin nicht greifbaren Aspekt der Gemeinschaftsrechtsordnung. Die Grundrechte auf EGEbene bilden zumindest noch nicht das Pendant zu dem „Stück nationaler Identifikation“208, das die nationalen Grundrechte im Verfassungsstaat, vielfach auch als Abbild der Erfahrungen bei der Überwindung eines autoritären Herrschaftssystems, darstellen können209. Charakteristischer und stärker prägend ist die Rolle der Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen der wirtschaftlichen Integration, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. c) Grundrechte als Integrationsfaktor im Binnenmarkt Mit dem Schlagwort „Grundrechte als Integrationsfaktor im Binnenmarkt“ soll hier ein weiterer Aspekt der Gemeinschaftsgrundrechte umschrieben werden, der in der Literatur vielfach kritisch gesehen wird. Gemeint ist die Tendenz, den Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene „instrumental“ als integrationspolitisches Mittel zur Förderung des Binnenmarktes einzusetzen210. Ein derartiger Ansatz kommt in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs zum Ausdruck, wenn er die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen prüft. In diesem Zusammenhang verwendet er die Formel, die Gewährleistung der Gemeinschaftsgrundrechte müsse sich 206
T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 18. B. Beutler in: GTE, Art. F EUV, Rn. 24; N. Neuwahl, The Treaty on EU: A Step Forward in the Protection of Human Rights, in: Neuwahl/Rosas, The European Union and Human Rights, S. 1, 2; G. Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 9, 23. 208 So K. Stern, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, § 108, Rn. 2. 209 Siehe hierzu M. Hilf, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, EuR 1991, S. 19, 23 f.; E. Pache, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, DVBl 2002, S. 1154 ff. Nach U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 511, 548, eignet sich die EU nicht als „Projektionsfläche für emotionale Identifikation“ (unter Verweis auf den ehemaligen Kommissionspräsidenten Delors, der anmerkte, dass „man sich nicht in einen Binnenmarkt ohne Grenzen verliebt“). Inwieweit der Europäische Verfassungsvertrag mit inkorporierter Grundrechte-Charta dies ändern könnte, ist fraglich; hierzu z. B. T. Schmitz, Die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union, EuR 2004, S. 691, 692 f. 210 Mit der hier so benannten „Integrationsfunktion“ ist nicht die einheitsstiftende Funktion der Grundrechte gemeint, die Hilf, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 27, mit „Integrationsfunktion“ betitelt. Vielmehr wird hier unter „Integrationsfunktion“ in etwa das verstanden, was Hilf die „Funktion der Kompetenzverstärkung“ nennt (a. a. O., S. 27). 207
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„in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“211. Sieht man die wichtigste Aufgabe der Gemeinschaft gemäß Art. 2 und 14 EGV in der Errichtung eines Binnenmarktes, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist, und in der Durchführung der damit zusammenhängenden Politiken212, so ist das Programm, in das sich die Grundrechte einzupassen haben, vorgegeben. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind demnach zumindest im Lichte des übergeordneten Ziels des Binnenmarkts zu interpretieren; weitergehend könnten sie hiernach sogar fördernd zugunsten des Binnenmarkts eingesetzt werden. Eine solche instrumentale Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte wird in der Literatur vielfach als Ansatzpunkt für Kritik gesehen: Dem Gerichtshof wird vorgeworfen, die Gemeinschaftsgrundrechte nicht „zweckfrei“ zur Anwendung kommen zu lassen, sondern sie zu benutzen, um die Gemeinschaftsrechtsordnung gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durchzusetzen und auf diese Weise die wirtschaftliche Integration der EG voranzutreiben. Darin liege eine Instrumentalisierung des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene zum Zweck der Förderung des Binnenmarktes213. Der Einzelne sei „Funktionär der Integration“ und werde nicht primär um seiner selbst willen geschützt214. Die Kritik knüpft insbesondere an der – verallgemeinernden – Feststellung an, dass der EuGH in Fällen, in denen er einen gemeinschaftlichen Rechtsakt wegen eines möglichen Grundrechtsverstoßes überprüfe, in der Regel der Aufrechthaltung des 211 So zuerst formuliert in EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4. Teilweise spricht der EuGH auch von „Begrenzungen . . ., die durch die dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt sind“, so z. B. in Rs. C-4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, Rn. 14. 212 Ausführlich zur Umschreibung der Zielbestimmungen des EGV und des EUV F. Reimer, Ziele und Zuständigkeiten. Die Funktionen der Unionszielbestimmungen, EuR 2003, S. 992, 994 ff. 213 Am pointiertesten wird diese Kritik von J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, CMLRev. 29 (1992), S. 669 ff., geäußert. Siehe auch R. Churchill/N. Foster, Double Standards in Human Rights? The Treatment of Spanish Fishermen by the European Community, ELRev. 12 (1987), S. 430 ff.; K. Frahm/J. Gebauer, Patent auf Leben? – Der Luxemburger Gerichtshof und die Biopatent-Richtlinie, EuR 2002, S. 78 ff. J. Wolf, Vom Grundrechtsschutz „in Europa“ zu allgemeinverbindlich geltenden europäischen Grundrechten, in: J. Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 32 ff., spricht von „funktionalen Grundrechten“ und bemerkt im Zusammenhang mit dem Urteil des EuGH in der Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859 ff., die „ ‚funktionale Schere‘ im Kopf des EuGH [habe] zu Lasten eines personalen grundrechtlichen Freiheitsbereichs“ funktioniert, a. a. O., S. 33. 214 T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 289, die allerdings feststellen, dass die subjektiv-öffentlichen Rechte inzwischen auch „um der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen willen gewährleistet“ seien.
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Rechtsakts Vorrang vor dem Schutz des Individuums einräume. Die Fälle, in denen Kläger mit einem Grundrechtsanliegen vor dem EuGH erfolgreich waren, hätten sich vor allem gegen nationale Maßnahmen gerichtet und damit zugleich der Bestätigung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht gedient215. Der Gerichtshof betätige sich auf diese Weise auf Kosten des Individualschutzes der Unionsbürger als „moteur de l’intégration“ zugunsten der EG und ihrer wirtschaftlichen Zielsetzung. Der Schwerpunkt seiner Grundrechtsjudikatur sei weniger in der Wahrung der Grundrechte als Schutzrechte des Einzelnen als vielmehr in der allmählichen Ausdehnung der Gemeinschaftskompetenzen zu sehen216. Diese inhaltliche Kritik an der Grundrechtsrechtsprechung steht in engem Zusammenhang mit der autonomen Auslegung des Gemeinschaftsrechts – inklusive der Grundrechte auf dieser Rechtsebene – durch den EuGH. Auch wenn der Vorwurf einer einseitigen Bevorzugung des Binnenmarktes in der Rechtsprechung zu stark verallgemeinernd erscheint, so ist es doch zutreffend, dass der Gerichtshof die Grundrechte nicht als das Fundament betrachtet, auf dem die Rechtsordnung aufbaut. Dies ergibt sich bereits aus der aufgezeigten Genese der Gemeinschaftsgrundrechte. Gerade in der Aufbauphase des Binnenmarktes wurden die Grundrechte stärker durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geprägt als dass sie umgekehrt diese prägten. Eine solche Prägung durch die gemeinschaftliche Rechtsordnung kommt in dem „Einfügungsgebot“ des EuGH zum Ausdruck217. Die Anwendung die215 Vgl. S. Winkler, Der Beitritt der EG zur EMRK, S. 26 f., unter Verweis auf die Rs. 36/75, Rutili, Slg. 1975, S. 1219 ff., Rs. 63/83, Kent Kirk, Slg. 1984, S. 2689 ff. und Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609 ff., in denen nationale Maßnahmen wegen eines Grundrechtsverstoßes aufgehoben wurden. 216 J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, CMLRev. 29 (1992), S. 669, 692. Dagegen J. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously“ Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence, CMLRev. 32 (1995), S. 51 ff. (Part I), S. 579 ff. (Part II). T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 18, spricht von den „mitunter problematisch unitarisierenden Wirkungen der Grundrechte“ durch Übergriffe in Bereiche, die an sich den Mitgliedstaaten kompetenziell zugeordnet seien. Zu Grundrechten und Kompetenzen siehe auch U. Mager, Anmerkungen zum Urteil Carpenter, JZ 2003, S. 204: „Angesichts der unitarisierenden Wirkung von Grundrechten besteht bei Verflüchtigung des Gemeinschaftsbezugs die Gefahr, dass eine von der Rechtsprechung dominierte Vergemeinschaftung eintritt, die die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen überspielt.“ 217 R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the ECHR in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermer, Bd. 3, S. 219, 227: „Ulysses may have tied himself to the mast, but this time he has made sure that the knots remain within his own reach. . . . The advantage of this manner of proceeding is that the ECJ can fit human rights requirements to the Community legal order, which of course has its special characteristics.“ E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH,
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ser Formel wirft die berechtigte Frage auf, inwieweit sich dies mit der Rolle der Grundrechte als fundamentaler Rechte, die sich von ihrem Grundverständnis her an der Spitze einer Normenhierarchie befinden und so auf den gesamten darunter befindlichen Rechtskörper einwirken sollen, vereinbaren lässt218. Die Kritik abschwächend kann die Formel aber auch lediglich als expliziter Beweis für die eingangs aufgestellte These gewertet werden, dass Grund- und Menschenrechte niemals losgelöst von ihrem „verfassungsrechtlichen“ Umfeld betrachtet werden können. Der EuGH hätte diese These dann ausdrücklich in seine Rechtsprechung integriert. Eine fundierte Kritik am Einfügungsgebot müsste bereits einen Schritt davor bei der Frage ansetzen, inwieweit Grundrechte allgemein als Mittel weitergreifender verfassungspolitischer Zielsetzungen eingesetzt werden dürfen. Es dürfte schwer sein, eine Rechtsordnung mit Grundrechtsgewährleistungen zu finden, die nicht in irgendeiner Weise als derartige politisch-gesellschaftliche Steuerungsmittel eingesetzt werden219. Rechtsvergleichend müsste dann zunächst herausgearbeitet werden, ob die „Instrumentalisierung“ der Gemeinschaftsgrundrechte durch den EuGH ein größeres Ausmaß hat als das steuernde Einsetzen von Grundrechten in nationalen Rechtsordnungen. Erst wenn dies erwiesen wäre, könnte die Kritik tatsächlich greifen220. Ohne einen solchen Vergleich kann nur verallgemeinernd und „dem Anschein nach“ argumentiert werden. Dieser Anschein lässt allerdings RückS. 133 f., ordnet das Einfügen der Grundrechte in „Struktur und Ziele der Gemeinschaft“ grundrechtsdogmatisch als eine gemeinschaftsspezifische Schranke ein. Dagegen M. Bühler, Die Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 55 ff., nach der die Formel lediglich „das wertende Element der wertenden Rechtsvergleichung“ umschreibe und begründe, warum die Grundrechtsschranken gemeinschaftsspezifisch seien. 218 Der Rang der Grundrechte in der gemeinschaftlichen Normenhierarchie und die sich ergebenden Auswirkungen auf das Verhältnis zu den EMRK-Rechten wird vertieft im zweiten Teil der Untersuchung beleuchtet, siehe unten 2. Teil, B. IV. 1. 219 R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 363 ff., spricht von der „ordnungspolitischen“ im Gegensatz zu der „individualrechtlichen“ Komponente der Grundrechte, die stets vorhanden sei. J. Masing, Die Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts, S. 155, bezeichnet die Grundrechte in diesem Zusammenhang als „funktionale Strukturelemente“. Zur demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie zusammenfassend vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529, 1535. 220 Vgl. J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 343 ff., der zwischen der Verknüpfung von Grundrechten mit bestimmten demokratieinhärenten Zielen einerseits und der Verknüpfung mit politischen Zielen wie dem Binnenmarkt, die erst aufgrund eines demokratischen Prozesses festgelegt werden, andererseits unterscheidet und so den instrumentalen Charakter der Grundfreiheiten begründet. Da sich die Untersuchung auf die Unterscheidung zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten bezieht, lässt sich diese Feststellung allerdings nicht direkt auf die hier angesprochene Problematik übertragen.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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schlüsse darauf zu, dass die wirtschaftspolitischen Zielvorgaben des gemeinschaftlichen Primärrechts in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH eine bedeutende Rolle spielen221. An dieser Stelle ist im Zusammenhang mit möglichen Funktionen der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht zunächst festzuhalten, dass das, was von der einen Seite als Zweckentfremdung oder sogar als Missbrauch der Grundrechte betrachtet wird, aus anderer Perspektive als positive Rolle der Gemeinschaftsgrundrechte als „Integrationsinstrumente“ im Binnenmarkt gesehen werden kann. Als beschleunigender Faktor im Binnenmarkt kann den Grundrechten demnach eine wirtschaftliche Integrationsfunktion oder Kompetenzverstärkungsfunktion222 zukommen, die neben ihre Schutzergänzungs-, Rechtsstaats- und Identifikationsfunktion tritt. Die erst in den letzten Jahren aufgekommene Diskussion um eine neue Zielsetzung der EG als Grundrechtsgemeinschaft ist mit der solchermaßen umschriebenen unitarisierenden Wirkung der Grundrechte223 zwar gedanklich verbunden, geht aber von der Zielrichtung her in eine andere Richtung, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen ist. 3. Neue Zielsetzung: Die EG als Grundrechtsgemeinschaft? Mit dem Schlagwort „Die EG als Grundrechtsgemeinschaft“ wird ein relativ neuer Denkansatz im Gemeinschaftsrecht angesprochen, nämlich die Frage nach einer Ausrichtung der Gemeinschaft über den Binnenmarkt hinaus. Es wird angedacht, ob in dem jetzigen fortgeschrittenen Stadium der europäischen Integration die wirtschaftsgerichtete Fokussierung ergänzt oder sogar ersetzt werden sollte durch eine Neufokussierung der Gemeinschaft auf das Thema des Grund- und Menschenrechtsschutzes. Die Grundrechte sollen hiernach von ihrer Einbindung in die wirtschaftlichen Ziele der Gemeinschaft, d. h. von ihrer Zweckgebundenheit im Rahmen des Binnenmarktes befreit und – vergleichbar dem Gemeinsamen Markt bisher – zu einem übergeordneten Ziel und Zweck an sich werden. Dieser Gedanke ist für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung, weil eine derartige Neuausrichtung der Gemeinschaft auf die Grundrechte wiederum eine Annäherung an das EMRK-System bedeuten könnte. Ein „shift“ von dem Leit221 Die Kritik an der Art der Grundrechtsurteile des EuGH (zu kurz; keine ausführlichen Begründungen; keine zugrunde liegende Dogmatik; reine Orientierung am Ergebnis etc.) wird im dritten Teil der Arbeit behandelt, siehe unten 3. Teil, A. II. 4. 222 So M. Hilf, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, EuR 1991, S. 19, 27. 223 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 18.
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bild des Gemeinsamen Marktes zu den Grund- und Menschenrechten als neuem übergeordneten Ziel würde die EG von einem Zweckverband wirtschaftlicher Integration zu einer supranationalen Menschenrechtsorganisation, einer Grundrechts- und Wertegemeinschaft machen, die den gleichen Themenschwerpunkt belegt wie die EMRK und der Europarat und damit auch spürbarer zu diesem System in Konkurrenz treten würde224. Die Grundrechte-Charta hat dieser vor allem auf rechtspolitischer Ebene geführten Debatte sicherlich Stoff geliefert; ihre Verabschiedung ist aber nicht als Ausgangs- und Kristallisationspunkt der Diskussion anzusehen. a) Das Gutachten 2/94 als Ausgangspunkt der Debatte Als Ausgangspunkt der Diskussion um eine solche neue Zielsetzung der Gemeinschaft kann vielmehr das Gutachten 2/94 des EuGH zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention225 gesehen werden. Der Luxemburger Gerichtshof verneinte in diesem Gutachten die Vereinbarkeit eines Beitritts zur EMRK mit dem EG-Vertrag unter Hinweis auf die fehlende Zuständigkeit der Gemeinschaft. Keine Bestimmung des EG-Vertrags enthalte eine ausdrückliche Befugnis für die Gemeinschaftsorgane, auf dem Gebiet der Menschenrechte tätig zu werden und völkerrechtliche Verträge in diesem Bereich zu schließen226. Auch Art. 308 EGV (vormals Art. 235 EGV) könne nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden. Ein Beitritt zur EMRK habe grundlegende institutionelle Auswirkungen auf Gemeinschaft und Mitgliedstaaten und sei daher von „verfassungsrechtlicher Dimension“, was zur Konsequenz habe, dass er nur im Wege einer Vertragsänderung vorgenommen werden könne227. Die – zumindest vordergründig228 – auf die kompetenziellen Aspekte des Beitritts beschränkten Ausführungen des EuGH in dem Gutachten sind in der Literatur teilweise kritisiert worden. So ist dem Gerichtshof insbesondere vorgeworfen worden, es sei inkonsistent, auf der einen Seite die Gemeinschaftsgrundrechte auf der Basis des Art. 220 EGV als allgemeine 224 Vgl. S. Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 539, 567 f. 225 EuGH, Gutachten 2/94 vom 28.3.1996, Slg. 1996, S. I-1759 ff. 226 EuGH, a. a. O., Rn. 27. 227 EuGH, a. a. O., Rn. 34 und 35. 228 Der Gerichtshof ist in seinem Gutachten der vom Rat gestellten Frage nach der materiellen Vereinbarkeit des Beitritts mit dem EG-Vertrag ausgewichen und hat lediglich die Zuständigkeit der Gemeinschaft geprüft. In seinen Ausführungen zur Reichweite der Gemeinschaftskompetenz nach Art. 308 EGV sind jedoch auch materielle Erwägungen zu den Auswirkungen eines EMRK-Beitritts enthalten, vgl. insbes. Rn. 34 und 35 des Gutachtens, a. a. O. Hierzu S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 78 ff.
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Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen und die Handlungen der Gemeinschaft daran zu messen, andererseits aber dem Grund- und Menschenrechtsschutz die Anerkennung als Ziel der Gemeinschaft im Sinne des Art. 308 EGV zu verweigern. Was Verpflichtung sei, müsse auch – oder erst recht – Aufgabe sein229. Nach der Rechtsprechung zur Parallelität von internen und Außenkompetenzen230 stelle die praktizierte interne Anwendung der von der Konvention garantierten Rechte durch den EuGH zudem zugleich die Grundlage der Außenkompetenz der Gemeinschaft für den Beitritt zur Konvention dar231. Auch reduziere der Gerichtshof die Frage des Grund- und Menschenrechtsschutzes zu Unrecht auf ein Kompetenzproblem. Die Achtung der Grundrechte sei Bestandteil der Ausübung sämtlicher gemeinschaftlicher Kompetenzen; ein Beitritt zur EMRK führe nicht zu einer Erweiterung der Befugnisse, sondern enge die Gemeinschaft vielmehr in der Ausübung ihrer Kompetenzen durch die direkte Unterwerfung unter einen Grundrechtskatalog ein232. Dieser Kritik kann entgegengehalten werden, dass der EuGH in seiner Begründung eine vor dem Hintergrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung zutreffende Unterscheidung zwischen den Schranken des Handelns der EG-Organe und deren Ermächtigung getroffen hat. Die Ach229 J. Wolf, Vom Grundrechtsschutz „in Europa“ zu allgemeinverbindlich geltenden europäischen Grundrechten, in: Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 25, der feststellt, dass der EuGH implizit in dem Gutachten kompetenzrechtliche Lücken in den Prämissen seiner Grundrechtsrechtsprechung, bei der Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze, einräume. Ebenso A. G. Toth, The European Union and Human Rights: The Way Forward, CMLRev. 34 (1997), S. 491, 493. Kritisch sehen diesen Aspekt des Gutachtens auch P. Wachsmann, L’avis 2/94 de la Cour de justice relatif à l’adhésion de la Communauté européenne à la CEDH, RTDE 1996, S. 479, 481; J. Kokott/F. Hoffmeister, Opinion 2/94, AJIL 90 (1996), S. 664, 668; G. Gaja, Opinion 2/94, CMLRev. 33 (1996), S. 973, 984; K. Strasser, Grundrechtsschutz in Europa und der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur EMRK, S. 105 ff. Insgesamt kritisch zu dem Gutachten auch J. Weiler/S. Fries, A Human Rights Policy for the European Community and Union: The Question of Competences, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 147 ff. 230 Grundlegend EuGH, Rs. 22/70, AETR, Slg. 1971, S. 263 ff.; verb. Rs. 3, 4 und 6/76, Kramer, Slg. 1976, S. 1279 ff.; Gutachten 1/76, Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt, Slg. 1977, S. 741 ff. 231 So die österreichische Regierung in ihren Ausführungen zur Rechtsgrundlage des Beitritts, EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, S. I-1763, 1772, Rn. 27 des Berichts zum Gutachtenantrag. Ebenso M. Ruffert, Anmerkung zum EMRK-Gutachten, JZ 1996, S. 624, 625, P. Wachsmann, L’avis 2/94 de la Cour de justice relatif à l’adhésion de la Communauté européenne à la CEDH, RTDE 1996, S. 479, 489. 232 N. Theurer, Das Verhältnis der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 53 f. In die gleiche Richtung argumentiert auch P. Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, CMLRev. 39 (2002), S. 945, 982.
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tung der Grund- und Menschenrechte ist für die Gemeinschaft eine Grenze bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Dadurch dass der Gemeinschaft auferlegt ist, diese Grenze zu beachten, wird sie aber nicht gleichzeitig zu einer Aufgabe oder einem Ziel an sich. Die Kompetenzen für einen Beitritt zu der EMRK als einem eigenen, gänzlich außerhalb des Gemeinschaftsrechts liegenden Menschenrechtsschutzsystem können auf diese Weise nicht begründet werden, da eine solche Grundrechtsbindung ja gerade über die im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bestehende Grundrechtsverpflichtung hinausgehen soll233. Allein aus der judikativen Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte kann ein derartiger Wandel nicht abgeleitet werden. Solange der EuGH Akte der Gemeinschaftsorgane und Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten anhand ungeschriebener Gemeinschaftsgrundrechte überprüft, ist deutlich, dass der Grundrechtsschutz nicht selbst prioritäres konzeptionelles Ziel des EGV, sondern Beschränkung und Modalität der Art und Weise der Zielverwirklichung der Gemeinschaft ist234. Auch durch die Grundrechte-Charta wird sich an diesem Befund zunächst nichts ändern, solange sie ausdrücklich statuiert, dass sie für die Organe und Einrichtungen der Union und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts gilt (Art. 51 Abs. 1 GRCh) und keine neuen Zuständigkeiten und Aufgaben für die Gemeinschaft und Union begründet (Art. 51 Abs. 2 GRCh)235. 233
So auch M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 135; S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 49 f.; S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 184; G. Nicolaysen, Die gemeinschaftsrechtliche Begründung von Grundrechten, EuR 2003, S. 719, 724. C. Vedder, Die „verfassungsrechtliche Dimension“ – die bisher unbekannte Grenze für Gemeinschaftshandeln?, EuR 1996, S. 309, 312 f., weist darauf hin, dass die Argumentation des EuGH zwar logisch sei, gleichzeitig aber die paradoxe Konsequenz habe, dass der Gerichtshof ungeschriebene Grundrechte aus dem System des EGV „herausdestillieren und ausformen“ könne, während es der Gemeinschaft als solcher entzogen sei, diesen allgemein anerkannten Bestand zu kodifizieren. 234 Vgl. P.-C. Müller-Graff, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, in: FS Steinberger, S. 1281, 1288. 235 P.-C. Müller-Graff, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, in: FS Steinberger, S. 1281, 1290 (im Zusammenhang mit dem möglichen Verbindlichwerden der Grundrechte-Charta): „. . . ist vor allem nicht zu erkennen, dass die Gemeinschaft allein durch eine Rangerhöhung der Charta zu einem Gemeinwesen erwächst, dessen vertragsnormatives prioritäres Ziel- und Sinnkonzept von der Verwirklichung der binnenmarktlichen Grundfreiheiten zur Verwirklichung der Grundrechte der Charta mutiert. Unverändert würde sich die Sachlegitimation der Gemeinschaft und des Gemeinschaftsrechts zuallererst aus den in Art. 2 EGV genannten, aufeinander aufbauenden drei Formen der Gemeinsamkeit (Gemeinsamer Markt, Währungsunion, gemeinsame Politiken) speisen . . . Erst im Falle des Übergangs der Gemeinschaft entweder zu einer klassischen Staatlichkeit oder wenigstens zu einer prioritären Grundrechtsgemeinschaft wäre ein normativer Konzeptionswandel im primären Gemeinschaftsrecht zu thematisieren.“ Anders P. Eeckhout, The EU Charter of Fun-
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Eine eindeutige und endgültige Antwort auf die hinter den Kompetenzerwägungen stehende Frage, ob der Grund- und Menschenrechtsschutz an sich eine Aufgabe der Gemeinschaft ist oder sein kann, ist der Gerichtshof im Gutachten 2/94 schuldig geblieben. Dies zeigen auch die divergierenden Interpretationen des Gutachtens in der Literatur. Dabei scheint es, als habe der Gerichtshof diesen Punkt bewusst offengelassen236. So hat er es vermieden, einen neuen „Verfassungskonflikt“ zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten durch weitere Ausdehnung der gemeinschaftlichen Kompetenzen hervorzurufen, sich aber gleichzeitig die Option offengehalten, eines Tages den Grundrechtsschutz in seiner Rechtsprechung doch noch zu einem Vertragsziel oder einer Aufgabe der Gemeinschaft aufzuwerten. Die in der Folge des Gutachtens aufgekommene Diskussion beschäftigt sich dementsprechend auch weniger mit der kompetenzrechtlichen Frage, ob der Grundrechtsschutz tatsächlich ein Ziel der Gemeinschaft ist, als vielmehr damit, ob man ihm eine solche Stellung als Aufgabe und Ziel zuerkennen sollte, also mit der rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Ebene der Fragestellung. Sinn und Zweck einer derartigen neuen Aufgabenzuweisung werden hinterfragt237. b) Grundrechte als neue Zielsetzung der Gemeinschaft Die Europäische Gemeinschaft ist als funktionaler Zweckverband238 gegründet worden. Mit der Schaffung dieses Verbandes war bezweckt, die Integration der europäischen Staaten über den Zusammenschluss ihrer nationalen Märkte zu erreichen. Damit war die Errichtung des Gemeinsamen Marktes als entscheidender Dreh- und Angelpunkt und wichtigste Zielsetzung der Gemeinschaft festgelegt. Grundrechte waren im Rahmen dieser Konzeption – wie aufgezeigt – zunächst gar nicht berücksichtigt; später wurden sie in die Gemeinschaftsrechtsordnung einbezogen, allerdings nicht aus purer Überzeugung von ihrer Bedeutung, sondern aufgrund der äußeren Notwendigkeit, die gemeinschaftliche Hoheitsgewalt zu begrenzen. Hat ihre damental Rights and the Federal Question, CMLRev. 39 (2002), S. 945, 979 ff., der Möglichkeiten aufzeigt, wie sich die Kompetenzen der Gemeinschaft durch die Grundrechte-Charta doch erweitern können. 236 Hierauf deutet insbesondere die Formulierung in Rn. 30 des Gutachtens hin, wonach Art. 308 EGV „jedenfalls“ nicht als Rechtsgrundlage für den Erlass von Bestimmungen dienen könne, die auf eine Vertragsänderung hinausliefen, EuGH, Slg. 1996, S. I–1759, Rn. 30. 237 Ausführlich mit der Frage, ob der Grundrechtsschutz ein Gemeinschaftsziel ist, beschäftigt sich S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 36 ff. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der EG keine Befugnis zukommt, Grundrechte als solche „zu erlassen“ oder Regelungen zum Schutz der Grundrechte zu treffen. 238 H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 196 ff.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
Bedeutung im Laufe des Integrationsprozesses stetig zugenommen, so ist dies bislang vor allem auf die erweiterten Befugnisse der Gemeinschaft und nicht auf eine veränderte Beurteilung der Wertigkeit der Grundrechte innerhalb der und für die Rechtsordnung zurückzuführen. Grundrechte determinieren weiterhin nicht Ziele, Aufgaben und Aktivitäten der Gemeinschaft; sie werden nicht in Art. 2 EGV genannt. Aus rechtspolitischer Sicht wird in Anbetracht des inzwischen weit fortgeschrittenen Stadiums der europäischen Integration und der über die bloß wirtschaftlichen Aspekte weit hinausgehenden Implikationen allerdings die Frage gestellt, ob der Gemeinsame Markt noch eine überzeugende Vision für den weiteren Integrationsprozess bieten kann oder ob nicht eine neue Zielsetzung als Antriebsfeder erforderlich ist239. Hierfür wird teilweise ein „shift“ von der Binnenmarktgemeinschaft zur Grundrechtsgemeinschaft als neuer „Integrationsvision“ in Betracht gezogen. aa) Die Vorschläge von Alston und Weiler: Aktive Grundrechtspolitik Angestoßen wurde die Debatte um den Grundrechtsschutz als neue Zielsetzung der Gemeinschaft noch vor der Diskussion über die Verabschiedung der Grundrechte-Charta von Alston und Weiler. Sie fordern eine komplette Neuausrichtung zu einer echten, bislang nicht bzw. nur in Rudimenten vorhandenen Grund- und Menschenrechtspolitik der Gemeinschaft hin240. Ihr Ansatz ist dabei umfassend; er bezieht sich gleichermaßen auf eine gemeinschaftsinterne „Grundrechtsinnenpolitik“ wie auf eine „Grundrechtsaußenpolitik“. Um EG und EU als internationales Vorbild für eine kohärente und zukunftsorientierte Politik in diesem Bereich zu etablieren, müsse ein Übergang von der bislang praktizierten lediglich negativen zu einer positiven Integration bei den Grund- und Menschenrechten stattfinden. Der bisher vornehmlich durch die Judikative gewährleistete gemeinschaftliche Grundrechtsschutz solle auf die Ebene der Exekutive und Legislative verlagert werden; er müsse über die „negative“ Ebene rechtlicher Verbote und deren gerichtlicher Geltendmachung hinausgehen241. Es sei paradox, dass die Gemeinschaft an ihre Mitgliedstaaten242 und auch an Drittstaaten bestimmte 239 So formuliert es A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157, 170. 240 P. Alston/J. Weiler, An ‚Ever Closer Union‘ in Need of a Human Rights Policy: The European Union and Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 3 ff. Ebenfalls in diese Richtung J. Weiler/S. Fries, A Human Rights Policy for the European Community and Union: The Question of Competences, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 147, 154 ff. 241 P. Alston/J. Weiler, a. a. O., S. 10 f. 242 Vgl. beispielsweise Art. 7 EUV und Art. 309 EGV, die ein Verfahren für den Fall der Verletzung fundamentaler Grundsätze durch einen Mitgliedstaat festlegen.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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Grundanforderungen hinsichtlich einer aktiven Menschenrechtspolitik stelle, ohne eine solche selber intern zu verwirklichen243. Mit dieser Forderung nach positiver Integration in Form einer aktiven Grundrechtspolitik gehen Alston und Weiler weiter als diejenigen Autoren, deren in der Regel eher allgemein formuliertes Anliegen es ist, die Grundrechte stärker ins Zentrum der supranationalen Rechtsordnung zu rücken244. Diese fordern, die Gemeinschaft solle sich generell stärker an den Grundrechten als Grundwerten der Rechtsordnung ausrichten, ohne dabei aber eine konkrete Funktionsänderung in den Blick zu nehmen. Alston und Weiler zielen mit ihren Vorschlägen dagegen auf eine echte Um- und Neuordnung. Zur Umsetzung ihrer Forderungen schlagen sie zahlreiche institutionelle Reformen inklusive der Schaffung eigener politischer und administrativer Organe für den Grundrechtsschutz vor, so die Gründung einer eigenen Generaldirektion für Grundrechte in der Kommission mit einem dafür zuständigen Kommissar sowie einer Beobachtungsstelle für Menschenrechte als neuer Einrichtung der EU und eine Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments bei der Überwachung der Menschenrechtsaktivitäten von Rat und Kommission245. Die geforderten Umstrukturierungen können nach Meinung der Autoren trotz ihres relativ weitreichenden Umfangs innerhalb des bestehenden Kompetenzrahmens durchgeführt werden. Hierbei berufen sie sich auf das oben dargelegte Gutachten 2/94, in dem der Gerichtshof ihrer Ansicht zufolge dem Grund- und Menschenrechtsschutz nicht explizit die Rolle als Vertragsziel der Gemeinschaft aberkannt habe, sondern ihn im Gegenteil innerhalb der im Gutachten aufgezeigten Grenzen zu einem solchen erklärt habe. Die von ihnen skizzierte Grund- und Menschenrechtspolitik der Gemeinschaft verletze weder das grundlegende institutionelle Gleichgewicht, noch überschreite sie den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und könne daher auf Art. 308 EGV gestützt werden246. 243 P. Alston/J. Weiler, a. a. O., S. 6 ff. Die fehlende Kohärenz zwischen dem gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz „nach innen“ und „nach außen“ – auch in der Arbeit des Verfassungskonvents – hebt ebenso A. Williams hervor, EU human rights policy and the Convention on the Future of Europe: a failure of design?, ELRev. 28 (2003), S. 794, 806 f. 244 In diese Richtung I. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl. 2000, S. 847, 854, 856; E. Denninger, Menschenrechte und Staatsaufgaben – ein „europäisches“ Thema, JZ 1996, S. 585, 587; S. Baer, Grundrechtecharta ante portas, ZRP 2000, S. 361. 245 P. Alston/J. Weiler, a. a. O., S. 34 ff. Siehe auch die Vorschläge von A. Clapham, Where is the EU’s Human Rights Common Foreign Policy, and How is it Manifested in Multilateral Fora?, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 627, 665 ff. 246 P. Alston/J. Weiler, a. a. O., S. 22 ff. Hierbei verweisen sie darauf, dass Menschenrechte „cross-cutting concerns“ seien (S. 23 f.), gestehen allerdings auch zu, dass die Grenzziehung zwischen den Materien, die in den Bereich des Gemein-
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bb) Kritik: Einwände gegen die Etablierung des Grundrechtsschutzes als eigenständiges Gemeinschaftsziel Der neue und von der Grundidee her weitreichende Ansatz von Alston und Weiler ist in der Literatur auf Kritik gestoßen. Gegen eine eigenständige Grundrechtspolitik der Gemeinschaft, die gedanklich voraussetzt, dass der Grundrechtsschutz ein gemeinschaftliches Ziel ist, wird insbesondere angeführt, dass der Grundrechtsschutz bereits strukturell kein eigenes Politikfeld vergleichbar beispielsweise dem Umweltschutz oder dem Verbraucherschutz darstelle. Bei Grundrechten handele es sich um eine klassische Querschnittsmaterie247, die sich in allen Politikbereichen auswirke, jedoch keinen eigenständigen Bereich bilde248. Ein umfassender kohärenter Ansatz für eine spezifische Grund- und Menschenrechtspolitik ließe sich nur im Rahmen der gemeinschaftlichen Außenpolitik sinnvoll umsetzen, nicht aber nach innen249. Zwar könne die Gemeinschaft in einzelnen Bereichen auch intern aktiv zugunsten von Grundrechten eintreten, so wie sie es bei der Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 EGV) oder in Bezug auf Antidiskriminierungsmaßnahmen (Art. 13 EGV) bereits tue. Dieses punktuelle Vorgehen sei jedoch nicht auf den Grundrechtsschutz allgemein überschaftsrechts fallen, und denen, die außerhalb bleiben, schwierig sein kann (S. 25: „That boundary, like many other legal boundaries, is not always razor sharp.“). Siehe auch J. Weiler/S. Fries, A Human Rights Policy for the European Community and Union: The Question of Competences, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 147, 160, sowie P. Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, CMLRev. 39 (2002), S. 945, 983. 247 Dass es sich bei dem Grundrechtsschutz um eine Querschnittsmaterie handelt, erkennen allerdings auch Alston und Weiler an; sie ziehen daraus nur einen anderen Schluss. Siehe dies., a. a. O., S. 24 („human rights as cross-cutting concerns“): „But human rights principles, which impinge upon such a wide and vitally important array of policies at all levels, cannot simplistically and definitively be slotted into a single pigeon hole. Instead, they must be considered to cut across all levels of national and transnational governance and regulation and each level must be enabled to play its appropriate part. . . . The Community should aim to create what might be termed a ‚Common Human Rights Area‘, in which interlocking and overlapping levels of protection interact synergistically with each other.“ 248 A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157, 159; J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 592. 249 So A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 159. Innerhalb der Außenpolitik wird eine solche kohärente Grundrechtspolitik – zumindest in Ansätzen – bereits umgesetzt, vgl. dazu beispielsweise A. Clapham, Human Rights and the European Community: A Critical Overview, S. 71 ff.; ders., Where is the EU’s Human Rights Common Foreign Policy, and How is it Manifested in Multilateral Fora?, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 627 ff. Dies gestehen auch Alston und Weiler zu, a. a. O., S. 7; ihr Anliegen zielt weitergehend darauf, eine nach innen und nach außen gleichermaßen kohärente Grundrechtspolitik zu etablieren.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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tragbar250. Im Hinblick auf die institutionellen Reformvorschläge wird angemerkt, dass beispielsweise die Schaffung einer eigenen Generaldirektion für Grundrechte in der Kommission im Widerspruch nicht nur zu dem etablierten Gemeinschaftssystem, sondern auch zu den Traditionen der Mitgliedstaaten stehe251. Neben diesen teilweise berechtigten Einzeleinwänden werden grundlegende Erwägungen gegen Grund- und Menschenrechte als neue Zielvorgabe für die Gemeinschaft und damit auch gegen eine eigenständige Politik in diesem Bereich angeführt. Eine Grundrechtsperspektive, so wird angemerkt, würde die Diskursparameter der gemeinschaftlichen Sozial- und Rechtspolitik fundamental verändern; im Hinblick auf die Verwirklichung eines vorgegebenen Grundrechts wären ganze Politikfelder neu zu diskutieren252. Dies überzeugt allerdings nicht: Die bloße Tatsache, dass eine Reform grundlegende Systemänderungen mit sich bringt, spricht noch nicht per se gegen sie; die Veränderungen, auch grundlegender Art, mögen von den Reformbefürwortern gerade gewollt sein. Gewichtiger erscheint dagegen die inhaltliche Warnung vor einer „Überhöhung der Grundrechte“ im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung und vor den „kontraproduktiven Desintegrationspotenzialen“ dieses Ansatzes253. Es wird befürchtet, dass eine progressive Grundrechtspolitik zu einem Übergewicht der Gemeinschaftsrechtsordnung im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen führen könne. Die Einführung einer umfassenden Grundrechtspolitik der Gemeinschaft könne zu einer Verschiebung des konstitutionellen Gleichgewichts führen. Es bestünde die Gefahr einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips sowie der Garantie der konstitutionellen Autonomie als Teil der nationalen Identität (Art. 6 Abs. 3 EUV)254. Zudem drohe die etablierte komplementäre Aufgabenwahrnehmung beim Grundrechtsschutz zwischen mitgliedstaatlichen, internationalen und supranationalen Organen überspielt zu werden255. Hiergegen lässt sich jedoch umgekehrt argumentieren, dass gerade durch die derzeit praktizierte Aufgabenwahrnehmung auf drei Rechtsebenen Probleme entstehen, die unter Umständen durch eine stär250
A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 159. J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 592, der anmerkt, dass den Mitgliedstaaten „Grundrechtsministerien“ fremd seien. Allerdings kommt beispielsweise in Deutschland Innen- und Justizministerium als klassischen „Verfassungsressorts“ doch gerade eine solche Rolle zu, auch wenn ihre Zuständigkeiten insgesamt umfassender sind. 252 A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 160. 253 So J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 592. 254 A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 162. Zu Art. 6 Abs. 3 EUV siehe A. Puttler in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 42 ff. 255 J. Kühling, a. a. O., S. 592. 251
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
kere Bündelung des Grundrechtsschutzes auf einer Ebene vermieden werden könnten. Ein gewisser Bedeutungsverlust des nationalen Grundrechtsschutzes und damit auch ein weiterer Verlust an Unabhängigkeit der nationalen Rechtsordnungen wären dann allerdings wohl unvermeidlich. Dem Ansatz von Alston und Weiler wird weiterhin vorgeworfen, dass er nicht hinreichend zwischen den verschiedenen Funktionen der Grundrechte differenziere. Abwehrrechte einerseits und Leistungsrechte andererseits seien von ihrer Grundausrichtung her zu unterschiedlich, als dass man aus ihnen einen eigenständigen und kohärenten Bereich der Grundrechte formen könne256. Da der Schwerpunkt der Grundrechte immer noch im Bereich ihrer Funktion als Abwehrrechte gegen Eingriffe durch die öffentliche Gewalt zu sehen sei, müsse der Grundrechtsschutz auch weiterhin vorrangig durch die Judikative erfolgen; in ihren über die Abwehr hinausgehenden Funktionen sei der grundrechtliche Anwendungsbereich prinzipiell begrenzt257. cc) Keine neuen Gemeinschaftsinitiativen für eine aktive Grundrechtspolitik im Verfassungsvertrag Mit der Gründung einer Grundrechtsagentur258 ist die Europäische Union inzwischen einen ersten Schritt in die von Alston und Weiler geforderte Richtung gegangen. Es handelt sich hier allerdings in erster Linie um eine Stelle, der Beobachtungs- und Beratungsfunktionen zukommen sollen. Sie kann nicht selber politikgestaltend tätig werden. Weitere Initiativen in Richtung einer aktiven Grundrechtspolitik der Gemeinschaft sind auch durch den Verfassungskonvent nicht angestoßen worden. Vielmehr kreiste der Verfassungskonvent um die altbekannten Fragen von Kompetenzen und Anwendungsbereich der Grundrechte auf Gemeinschafts- und Unionsebene, ohne neue politische Impulse zu geben259. Daran ändert – zumindest formal – auch die Inkorporierung der Grundrechte-Charta in Teil II des Verfassungsvertrags nichts, da hierdurch nicht die Zielsetzungen verändert und in die herkömmliche Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten eingegriffen, sondern die Grundrechte nur durch Sicht256
A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 161. A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 161; J. Kühling, a. a. O., S. 592 f. 258 Nach einem Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom Dezember 2003 wurde das Europäische Beobachtungszentrum für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien in eine Grundrechtsagentur mit umfassenderen Zuständigkeiten umgewandelt. Siehe dazu die Beiträge in P. Alston/O. de Schutter, Monoring Fundamental Rights in the EU – The Contribution of the Fundamental Rights Agency und die VO 168/2007/EG des Rates vom 15.2.2007 zur Errichtung einer EU-Agentur für Grundrechte. 259 Kritisch hierzu A. Williams, EU human rights policy and the Convention on the Future of Europe: a failure of design?, ELRev. 28 (2003), S. 794, 803, 806 ff. 257
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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barmachung gestärkt werden sollen260. Selbst Art. I-9 Abs. 2 des Verfassungsvertrags, der erstmals ausdrücklich im Primärrecht festlegt, dass die Union der EMRK beitreten wird261, und insofern eine echte Neuerung im Grundrechtsbereich darstellt, wird durch die Hinzufügung relativiert, dass der Beitritt nichts an den in der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten der Union ändert. Ob das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags, mit dem gleichzeitig auch die Grundrechte-Charta zu verbindlichem Recht werden würde, materiell eine Art „Mutation des Integrationskonzeptes“262 bewirken könnte, liegt im Bereich des Spekulativen. Teilweise wird angeführt, dass eine Konstitutionalisierung der Grundrechte automatisch das Individuum in den Mittelpunkt des Gemeinschaftshandelns rücken und damit zu einer deutlichen Akzentverschiebung der Finalität der Gemeinschaft führen würde. Die kodifizierten Grundrechte im Rang von Primärrecht könnten zum zentralen Bezugspunkt einer europäischen Werteordnung werden und auf diese Weise prägenden Einfluss ausüben263. Anders als in ihrer bisherigen Funktion als reine Abwehrrechte, derer sich die Rechtsprechung ausschließlich zur Wahrung des Rechts bedient, könnten Grundrechte damit zu gestaltenden Elementen der Gemeinschaftsrechtsordnung werden. Es ist allerdings zumindest zu bezweifeln, dass der Verfassungsvertrag eine derartige Akzentverschiebung hervorrufen würde. Art. I-3 des Verfassungsvertrags definiert die Ziele der Union in Anlehnung an Art. 2 EGV. Auch wenn die Union als bürgerbezogener Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Erwäh260 Vgl. die seltsamerweise auch in Teil II des Verfassungsvertrags übernommene Präambel der Grundrechte-Charta, 4. und 5. Absatz. 261 Die Klausel ist nicht als Soll-Vorschrift im Sinne einer Zielvorgabe formuliert, sondern im Indikativ als Tatsachenfeststellung. Damit soll vermutlich die Wirkung der Aussage verstärkt und die Verbindlichkeit unterstrichen werden. 262 M. Schröder, Wirkungen der Grundrechtecharta in der europäischen Rechtsordnung, JZ 2002, S. 849, 851. Siehe zu diesem Fragenkomplex auch A. Wiener, The Constitutional Significance of the Charter of Fundamental Rights, GLJ 2 (2001), Nº 18; G. de Bfflrca/J. B. Aschenbrenner, The Development of European Constitutionalism and the Role of the EU Charter of Fundamental Rights, Columbia Journal of European Law 2003, S. 355 ff.; G. Sacerdoti, The European Charter of Fundamental Rights: From a Nation-State Europe to a Citizens’ Europe, Columbia Journal of European Law 2002, S. 37, 51 f.; S. Magiera, Die Bedeutung der Grundrechtecharta für die Europäische Verfassungsordnung, in: Scheuing, Europäische Verfassungsordnung, S. 117, 121 f.; I. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl. 2000, S. 847, 848 f.; B. de Witte, The Legal Status of the Charter: Vital Question or Non-Issue?, MJ 8 (2001), S. 81, 87 ff.; S. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 901 ff.; H. Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 2 f.; M. Strunz, Strukturen des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union in ihrer Entwicklung, S. 187 ff.; H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der EU, S. 15 ff. 263 So M. Schröder, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 851 f.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
nung findet, kommt die weiterhin vorrangig wirtschaftliche Orientierung der Union in der Vorschrift durch die Hervorhebung von Binnenmarkt, Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit deutlich zum Ausdruck. Die Tatsache allein, dass die Grundrechte kodifiziert und als Primärrecht in den Verfassungsvertrag inkorporiert werden, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass auch ihre Wertigkeit innerhalb der Rechtsordnung steigt. Zentraler Bezugspunkt mit höherer Geltungs- und Durchschlagskraft würden die Grundrechte vor allem werden, wenn sie durch den Verfassungsvertrag mit einem den formulierten Zielen übergeordneten Rang ausgestattet worden wären. Genau dies ist aber nicht erfolgt. Die Formulierung in Art. I-9 des Verfassungsvertrags, dass die Union die in der Charta enthaltenen Rechte anerkennt, entspricht dem seit langem geltenden status quo. c) Bewertung der Debatte Der Gedanke, Grundrechte als neue Zielvorgabe der Gemeinschaft zu positionieren, bleibt ein zwiespältiges Konzept. Die Worte v. Bogdandys, wonach der Gemeinsame Markt „keine überzeugende Vision für die weitere Integration“ böte, die Union als Grundrechtsgemeinschaft hingegen für eine derartige Vision geeignet wäre264, offenbaren ein Dilemma der immer stärker integrierten supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung. Berechtigterweise wird der „Visions“-Aussage entgegengehalten, sie beinhalte eine künstliche Trennung zwischen Binnenmarkt und Grundrechten, die so nicht haltbar sei265. Sieht man den Binnenmarkt und die seiner Verwirklichung dienenden Grundfreiheiten, auf deren Grundlage sich die Gemeinschaftsrechtsordnung entwickelt hat, gerade als die Basis des transnationalen Gemeinwesens „Europäische Gemeinschaft“ an, so entzöge man diesem Gemeinwesen den Boden, wenn man plötzlich auf die neue Zielvorgabe „Grundrechte“ umschwenkte und den Binnenmarkt fallen ließe266. Tatsächlich wird im Rahmen der Diskussion nicht immer sorgfältig differenziert zwischen dem Gedanken, den Grundrechtsschutz als neues, ausschließliches Ziel der Gemeinschaft, das den Binnenmarkt ersetzen soll, zu etablieren, und der Idee, den Grundrechtsschutz neu, jedoch nicht verdrängend, sondern ergänzend neben den Binnenmarkt und die Gemeinschaftspolitiken als weiteres Gemeinschaftsziel zu stellen267. Trotz der von ihnen vorgeschla264 A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157, 170. 265 P.-C. Müller-Graff, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, in: FS Steinberger, S. 1281, 1291. 266 Vgl. P.-C. Müller-Graff, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 1291. 267 Erläuternd ist zwischen zwei „Arten“ des Grundrechtsschutzes zu differenzieren: Es ist etwas anderes, ob Grundrechte sozusagen im weiten Sinne als Fundament
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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genen umfassenden Reformen stellt der Ansatz von Alston und Weiler nicht darauf ab, die Grundrechte als ausschließliches Ziel der Gemeinschaft zu etablieren. Es geht ihnen darum, den Grundrechtsschutz ins Zentrum der Gemeinschaftsrechtsordnung zu rücken; er soll jedoch keinen Ausschließlichkeitsstatus erhalten mit der Folge, dass alle anderen Zielsetzungen verdrängt würden. Eine solche Ausschließlichkeit suggeriert jedoch v. Bogdandy mit seiner „Visions“-Aussage, auch wenn er sich im Ergebnis dagegen ausspricht. Hiergegen spricht entscheidend das Argument der künstlichen Trennung von Binnenmarkt und Grundrechten. Die Entstehung und Entwicklung als Wirtschafts- und später auch politischer Gemeinschaft mit den in Art. 2 EGV genannten Integrationszielen ermöglicht der Gemeinschaft gerade die Vielschichtigkeit und damit auch eine gesellschaftliche Weiterentwicklung. Bisher kann die Gemeinschaftsrechtsordnung mit ihren auf die Funktion als Grenzen hoheitlicher Machtausübung beschränkten Grundrechten nicht als eine „Grundrechtsordnung“ angesehen werden, auch wenn sie vereinzelt schon früh als eine solche bezeichnet wurde268. Im Grundsatz spricht inzwieiner demokratischen Rechtsordnung angesehen werden oder ob sie erklärtes Ziel einer Rechtsordnung sind. Als Fundament sind sie selbstverständlich zu wahren und durchdringen bestenfalls alle Regelungsbereiche; als Ziel werden sie über dieses Fundament hinaus erhöht und zu einem eigenen Politikbereich gemacht. 268 I. Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 211, der allerdings lediglich auf theoretischer Ebene ohne praktischen Bezug die Funktion der Grundrechte des Grundgesetzes als objektiver Leitprinzipien auf das Gemeinschaftsrecht überträgt: „Insofern, als Grundrechte objektive Leitprinzipien des gesamten Handelns öffentlicher Gewalt darstellen und dabei den Kompetenzträgern Gesetzgebung, Rechtsprechung, Regierung und Verwaltung die Ausgestaltung, ‚Organisation‘ und Effektivierung der Grundrechte für alle aufgegeben ist, ist jede Rechtsordnung Grundrechtsordnung. Die Ziel- und Kompetenzordnung der Gemeinschaft erscheint damit als gemeinsame Grundrechtsordnung der Mitgliedstaaten, als Umsetzung ihrer übereinstimmenden Grundrechtsidee in das Handlungsprogramm einer in besonderen Organen konzentrierten kooperativen Grundrechtsverwirklichung.“ Zu Funktionen der Grundrechte im Rahmen einer objektiven Wertordnung im Gemeinschaftsrecht siehe auch H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, S. 217 ff. Nach P.-C. Müller-Graff, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, in: FS Steinberger, S. 1281, 1290, soll ein derartiger normativer Konzeptionswandel erst im Falle des Übergangs der Gemeinschaft zu einer klassischen Staatlichkeit oder zumindest zu einer prioritären Grundrechtsgemeinschaft thematisiert werden. Gersdorf sieht in der Rechtsprechung des EuGH Ansätze dafür, dass die Gemeinschaftsgrundrechte die Grundlage einer objektiven Wertordnung bilden und verweist hierbei insbesondere auf das Urteil Gouda, EuGH, Rs. C-288/89, Slg. 1991, S. I-4007 ff., in dem es um die Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK geht; ders., Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte im Lichte des Solange II-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, AöR 119 (1994), S. 400, 402 ff., insbes. 411 ff. Überzeugend dagegen E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 169 ff.
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
schen vieles dafür, den Grundrechten in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung einen höheren Stellenwert zukommen zu lassen. Die EG hat sich vielfach weiterentwickelt und kann in ihrer Ziel- und Grundausrichtung nicht mehr auf den Binnenmarkt reduziert werden. Durch die Erweiterung ihrer Befugnisse und vor allem durch die Stärkung der Position des einzelnen Bürgers, besonders manifest durch die Einführung der Unionsbürgerschaft im Maastricht-Vertrag und die dazugehörige Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs, ist sie zu mehr geworden als ein supranationaler Zusammenschluss, der sich lediglich über die wirtschaftlichen Aspekte und den Binnenmarkt definiert – auch wenn Binnenmarkt und Grundfreiheiten die Grundlage für jegliche weitere Entwicklung gelegt haben. Insofern liegt es nahe zu sagen, die Gemeinschaft müsse sich an etwas ausrichten, das über den Binnenmarkt hinausgeht. Gleichzeitig bilden die Grundrechte aber bisher nicht das Herzstück der Gemeinschaftsrechtsordnung269. Um ihre Rolle zu stärken, müssten die Grundrechte über ihren Abwehrcharakter hinaus die Funktion einer übergreifenden normativen Orientierung erhalten und als Grundlage der Gemeinschaftsrechtsordnung mit umfassender Einwirkungsund Beeinflussungsmöglichkeit anerkannt werden270. Erst dann gäbe es eine echte Wechselwirkung zwischen Grundrechten und Gemeinschaft als demokratisch verfasstem Gemeinwesen, wie sie in staatlichen Rechtsordnungen zu finden ist271. Eine solche Prägung der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung und ihrer Politik durch die Grundrechte erforderte allerdings keine umfassende Reform, sondern einen neuen rechtsdogmatischen Ansatz bei Aufrechterhaltung der bestehenden Rechtsordnung. Die Aufgabe, die Gemeinschaft auf diese Weise stärker an den Grundrechten auszurichten, fiele wie269 A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157, 169; L. Besselink, Entrapped by the Maximum Standard: On Fundamental Rights, Pluralism and Subsidiarity in the European Union, CMLRev. 35 (1998), S. 629, 669; T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3, 33. J. Weiler umschreibt die Problematik des fehlenden grundrechtsdogmatischen Unterbaus im Zusammenhang mit der Konstitutionalisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung folgendermaßen: „. . . the result is not . . . a European legal order of constitutionalism without a formal constitution, but the opposite: it is a constitutional legal order the constitutional theory of which has not been worked out, its long-term, transcendent values not sufficiently elaborated, its ontological elements misunderstood, its social rootedness and legitimacy highly contingent.“ (in: ders., Introduction: „We will do, and hearken“, in: The Constitution of Europe, S. 3, 8). 270 Diese Sichtweise der Grundrechtsfunktionen beruht auf der Erkenntnis, dass das wesentliche Ziel der Grundrechte, Freiheit und Menschenwürde zu garantieren, nicht allein auf einer individuellen Grundlage erreicht werden könne, sondern die Freiheit der gesamten Gemeinschaft voraussetze; vgl. A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 169. 271 Vgl. oben 1. Teil, B. I.
B. Grund- und Menschenrechte innerhalb der jeweiligen Rechtsebene
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derum der Rechtsprechung zu. Genauso wie der EuGH die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anerkannt und herausgearbeitet hat, käme es ihm auch zu, sie dogmatisch zu unterfüttern und stärker zu gestalterischen Elementen der Gemeinschaftsrechtsordnung zu machen272. Die hierbei aufkommende Frage danach, inwieweit es dem Gerichtshof überantwortet werden kann und soll, den Grundrechtsdiskurs in der Gemeinschaft zu prägen und zu bestimmen, mündet in die weitere Frage nach einem gesellschaftlichen Wertekonsens in der Gemeinschaft273. Der Umgang des EuGH mit Bereichen, in denen sich die Frage nach einem solchen Wertekonsens stellt, wird im dritten Teil der Untersuchung im Zusammenhang mit dem Vergleich der Rechtsprechung von EuGH und EGMR thematisiert274. Unbestritten bedeutete es eine erhebliche Veränderung des Gesamtkonzepts, wenn sich das Gemeinschaftsrecht von einer Rechtsordnung mit dem Zweck ökonomischer Integration in eine Rechtsordnung wandelte, in der die Grundrechte und der Bürger im Mittelpunkt stehen. Es wäre der Übergang vom Gemeinschaftsrecht als einem politisch dominierten Instrument zur Herbeiführung stabiler wirtschaftlicher Verhältnisse und sozialen Wandels zu einer Rechtsordnung, die vorrangig darauf abzielt, den Einzelnen zu schützen275. Dabei wäre auch zu bedenken, dass eine solche Neuausrichtung auf das Individuum unter Umständen eine Verlangsamung des weiteren 272 In Deutschland war es das Bundesverfassungsgericht, das auf der Basis des knappen Grundrechtskatalogs der Art. 1–19 GG eine umfassende Grundrechtsdogmatik entwickelt hat, welche die gesamte nationale Rechtsordnung prägt. 273 A. v. Bogdandy, a. a. O., S. 167, spricht sich dagegen aus, dem EuGH, vergleichbar einigen nationalen Verfassungsgerichten, über die Grundrechtsrechtsprechung eine zentrale Rolle im politischen Prozess zu verschaffen. Er verweist darauf, dass die EU weit mehr auf politische Verfahren zur Behebung von Interessenkonflikten angewiesen sei als viele der nationalen Systeme mit anerkannten Verfassungsgerichten. Hierbei gelangt man zu der Frage, ob Verfassungsgerichte generell die Funktion übernehmen sollen, den gesellschaftlichen Grundkonsens zu fördern und gemeinsame gesellschaftliche Wertvorstellungen zu Rechtsnormen zu verdichten, die das Ermessen politischer Organe steuern. Dieser Problematik, die bisher in erster Linie im Hinblick auf nationale Verfassungsgerichte diskutiert wurde, muss sich ebenso der EuGH als Verfassungsgericht einer supranationalen Organisation stellen. Auch der EGMR ist von dieser Frage betroffen; er hat für seinen Bereich eine Lösung mit der margin of appreciation gefunden, siehe unten 3. Teil, A. I. 4. b) bb). Hierzu v. Bogdandy, a. a. O., S. 166, insbes. Fn. 102; für das BVerfG siehe die Beiträge in Schuppert/Bumke, Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens. Siehe auch B. Speer, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, DÖV 2001, S. 980 ff. 274 Siehe unten, 3. Teil, B. I. 3. 275 Ein solcher neuer Ansatz kommt in der Präambel der Grundrechte-Charta zum Ausdruck, wo es in Absatz 2 heißt, dass der Mensch in den Mittelpunkt des Handelns der Union gestellt wird.
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wirtschaftlichen Integrationsprozesses bedeuten könnte276. Je mehr Rechte der Einzelne erhält, desto größer auch seine Möglichkeiten, politische Entwicklungen beschleunigend oder verlangsamend zu beeinflussen. Dies wäre der „Preis“, den die Gemeinschaft für eine solche Akzentverschiebung in der gemeinschaftlichen Politik bezahlen müsste. Ob die Tatsache, dass auf diese Weise eventuell bestimmte Wirtschaftsziele langsamer erreicht werden, als integrativer Rückschritt anzusehen ist, ist eine Frage der Perspektive. Die Aufwertung des Grundrechtsschutzes zu einem zentralen Bezugspunkt gemeinschaftlicher Politik kann sicherlich nicht per se als etwas Negatives bezeichnet werden.
C. Ergebnis des ersten Teils und Ausblick Ziel des ersten Teils der Untersuchung war es, die Umfeldbedingungen für den Grund- und Menschenrechtsschutz auf EMRK- und Gemeinschaftsebene herauszuarbeiten. Als Ergebnis ist zunächst festzuhalten, dass sich die beiden Systeme in ihrer ursprünglichen Ausrichtung grundlegend unterscheiden. Dies hängt mit dem jeweils eigenständigen Rechtscharakter auf den beiden Ebenen zusammen – Völkerrecht einerseits, supranationales Gemeinschaftsrecht andererseits –, der sich bereits in der jeweils gewählten Terminologie widerspiegelt (Menschenrechte – Grundrechte). Weiterhin ist die Zielsetzung unterschiedlich: Die EMRK bezweckt allein den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte, während die Ziele der EG vorrangig im wirtschaftlichen Bereich liegen. Mit der Spannbreite der von ihr wahrgenommenen Aufgaben nähert sich die gemeinschaftliche einer staatlichen Rechtsordnung an, mit dem Unterschied allerdings, dass sie gerade nicht auf eine umfassende Zuständigkeit gegründet ist, sondern auf zugewiesenen Kompetenzen beruht. Im Konventionssystem spielen dagegen Kompetenzfragen keine Rolle; die EMRK-Rechte können grundsätzlich auf jeden Sachverhalt angewendet werden. Die EMRK ist, anders als die Gemeinschaft, nicht mit der Herstellung von Rechtseinheit in ihren Vertragsstaaten befasst. Ihr Zweck ist es sicherzustellen, dass keine wie auch immer geartete Maßnahme der Vertragsstaaten unter den von ihr gewährleisteten Menschenrechtsschutzstandard fällt. Als völkerrechtlichen Gewährleistungen kommt den Konventionsrechten dabei allerdings auch eine geringere Durchschlagskraft zu. In Anbetracht dieser Umfeldunterschiede könnte die Diskussion um die EG als Grundrechtsgemeinschaft in gewisser Weise paradox erscheinen: 276 A. Clapham, Human Rights and the European Community, S. 15, spricht die mögliche teilende Wirkung („divisive force“) von individuellen Rechten an, die den Fortschritt auf Gemeinschaftsebene behindern könnten.
C. Ergebnis des ersten Teils und Ausblick
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Die Europäische Gemeinschaft wird seit ihrer Gründung im Vergleich zu dem einige Jahre früher gegründeten Europarat mit der Menschenrechtskonvention als die aus rechtlicher Sicht höher entwickelte Organisation angesehen. Die Gemeinschaft ist supranational organisiert und damit durch einen „höheren Verdichtungsgrad“277 gekennzeichnet als eine herkömmliche internationale Organisation wie der Europarat. Aus historischer Perspektive war es die Absicht der EG-Gründungsstaaten, der Wirtschaft im Nachkriegseuropa wieder eine solide Basis zu geben und auf diese Weise möglichst schnell ein bestimmtes Wohlstandsniveau wieder herzustellen. Der Zuerkennung größerer rechtlicher Durchschlagskraft für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft lag auch die Erkenntnis zugrunde, dass eine Einigung und Einheit Europas allein auf der Basis gemeinsamer Menschenrechtsstandards nicht gelingen würde, sondern dass zunächst eine tragfähige ökonomische Grundlage notwendig sei278. Aus historischem Blickwinkel betrachtet erscheint die EG insofern eher als ein Gegenpunkt oder zumindest als ein aliud zu einer Grund- und Menschenrechtsschutzorganisation. Nun wird, in einem Stadium fortgeschrittener wirtschaftlicher und auch politischer Integration, vorgeschlagen, dass sich die Gemeinschaft in ihrer Ausrichtung der Grundidee des Europarats und der EMRK annähern soll; es soll eine Rückbesinnung auf die Grund- und Menschenrechte als fundamentale Werte und patrimoine commun im transnationalen Bereich stattfinden. Dahinter verbirgt sich auch der Gedanke, dass eine weitere Vertiefung der europäischen Einigung offenbar nur auf der Basis eines durchschlagenden und nachhaltigen Grund- und Menschenrechtsschutzes möglich sein kann. Gleichzeitig zeigen sich im EMRK-System Konstitutionalisierungstendenzen. Die Entwicklung in Richtung einer europäischen Teilverfassung verleiht der Menschenrechtskonvention mehr Durchschlagskraft als sie ursprünglich besaß. Teilweise wird das EMRK-Recht inzwischen bereits in die Nähe von supranationalem Recht gerückt. Die beiden Rechtsordnungen nähern sich also sowohl in Bezug auf die zu regelnde Thematik als auch in Bezug auf die Wirkungskraft einander an, ohne dass vom Ausgangspunkt her eine irgendwie geartete Deckungsgleichheit nahegelegen hätte. Mit ihrem Schutzsystem, insbesondere mit der ausgefeilten Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs, könnte die EMRK zu einer Art Leitbild einer stärker auf den Grundrechtsschutz ausgerichteten Europäischen Gemeinschaft werden. Dies bedeutet nicht, dass die EG sich aus den bisher von ihr wahrgenommenen Regelungsbereichen zurückziehen müsste. Grund277
J. C. Wichard in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 1 EGV Rn. 2. Vgl. M. de Salvia, L’élaboration d’un „ius commune“ des droits de l’homme et des libertés fondamentales dans la perspective de l’unité européenne, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 555 f. 278
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1. Teil: Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte
und Menschenrechte würden dann diese Regelungsbereiche lediglich stärker prägen als bisher. Hier deutet sich ein Trend an, der allgemein im internationalen Kontext zu beobachten ist: Im Zuge der Globalisierung kommt es zu einer immer stärkeren Internationalisierung des Rechts, der Wirtschaft und der Gesellschaften. Durch die Verlagerung ganzer Kompetenzbereiche von der nationalen auf die internationale Ebene rücken zwangsläufig auch Grund- und Menschenrechtsfragen, für die früher allein die Nationalstaaten zuständig waren, immer mehr in den internationalen Blickpunkt. Mittelund langfristig wird die Diskussion um die Einbeziehung von Menschenrechten in die Rechtsordnungen internationaler Organisationen nicht auf den regionalen europäischen Kontext beschränkt bleiben279.
279 Vgl. nur die erwähnte Kontroverse um die Einbeziehung von Menschenrechten in das internationale Wirtschaftsrecht, siehe oben 1. Teil, A. II. 2. a).
Zweiter Teil
Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte in der EMRK und in der Europäischen Gemeinschaft Die Gegenüberstellung der beiden Menschen- und Grundrechtsschutzsysteme im ersten Teil diente dem Zweck, die Besonderheiten der beiden europäischen Rechtsordnungen im Vergleich herauszuarbeiten und damit auf einer übergeordneten Ebene die Grundlagen und Hintergründe für den Grundrechtsschutz in concreto zu ermitteln. Im zweiten Teil wird nun auf dieser Basis die Systematik und Struktur der auf den beiden Rechtsebenen gewährleisteten fundamentalen Rechte untersucht und verglichen. Es wird ein Überblick über die Rechte und ihre Rangstellung gegeben sowie Gewährleistungslücken in den Schutzsystemen aufgezeigt. Die Rechtsberechtigten und -verpflichteten werden einander gegenüber gestellt und die verschiedenen Funktionen der gewährleisteten Rechte untersucht. Im Rahmen des in der Untersuchung gewählten rechtsvergleichenden Ansatzes ist ein derartiger Vergleich der Systematiken der Rechte unabdingbar. So prägen Faktoren wie die Spannbreite der Rechte, die Rechtsadressaten und die Dimensionen der Rechte nicht nur das jeweilige System, sondern geben auch Aufschluss darüber, inwieweit verschiedene Systeme überhaupt vergleichbar sind. Eine Systematisierung der in der EMRK gewährleisteten Rechte erweist sich als vergleichsweise unkompliziert. Die Rechte finden sich katalogartig in der EMRK und den Zusatzprotokollen. Die Konkretisierung der Rechte, die – wie in den meisten Grundrechtskatalogen – oftmals weit formuliert und auslegungsbedürftig sind, erfolgt durch den Straßburger Gerichtshof, der die Konvention als „living instrument“ ansieht, das im Lichte der jeweils aktuellen Zeit- und sonstigen Umstände zu interpretieren sei1. Dies erlaubt ihm, die Rechte weiterzuentwickeln und ihnen zeitgemäße Inhalte zu geben, ohne dabei die vertragliche Grundlage zu verlassen und Rechte völlig neu zu schöpfen. Im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte ist es schwieriger, eine Systematik zu erstellen. Die Gründungsverträge enthalten keinen geschriebenen 1
EGMR, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, Ziff. 31.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Grundrechtskatalog, die Gemeinschaftsgrundrechte sind daher bislang vom Gerichtshof im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt worden. Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen für diese Rechtsprechung sind herauszuarbeiten. Die auf verschiedenen Rechtserkenntnisquellen beruhenden grundrechtlichen Gewährleistungen sind selbständig zusammenzustellen, zu systematisieren und von anderen, nicht mit den Grundrechten gleichzusetzenden Rechtskategorien abzugrenzen. Dabei ist nach Herleitung, Verankerung, Funktion und Wirkweise der Rechte zu unterscheiden. Daneben ist auch die Reichweite des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes zu bestimmen. Aufgrund der supranationalen Verzahnung der gemeinschaftlichen mit den nationalen Rechtsordnungen stellt sich die Frage nach der Reichweite einer möglichen Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte. Schließlich ist auf Gemeinschaftsebene auch die Rolle der in der Grundrechte-Charta verbürgten Rechte zu analysieren.
A. Die Konventionsrechte Im Rahmen eines kurzen systematischen Überblicks über die Konventionsrechte soll neben ihrer inhaltlichen Ausrichtung (sachlicher Schutzbereich) auf die Berechtigten und Verpflichteten (personaler Schutzbereich), den Geltungsbereich sowie die möglichen Funktionen der EMRK-Rechte eingegangen werden.
I. Die von der EMRK geschützten Rechte 1. Aufteilung in klassische Freiheitsrechte, Verfahrensrechte und Diskriminierungsverbot Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention sollen entsprechend ihrer Entstehung in Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Terrorregime in Europa vorrangig die Menschenrechte des Einzelnen gesichert und vor staatlichen Übergriffen geschützt werden. Angelehnt an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung von 1948 umfasst der Abschnitt I der EMRK ganz unterschiedliche Individualrechte. Die verbürgten Rechte können grob unterteilt werden in klassische Freiheitsrechte abwehrrechtlichen Charakters und in Verfahrensgarantien. Mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 enthält die Konvention daneben einen Gleichheitssatz, der allerdings akzessorisch an die in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten anknüpft und insofern nur von eingeschränkter Geltung ist. Spezielle Gleichheitsaspekte finden sich außerdem punktuell auch außerhalb von Art. 14 EMRK in anderen Rechten2. Die Konventions-
A. Die Konventionsrechte
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garantien werden ergänzt durch mehrere Zusatzprotokolle, in denen sich weitere Gewährleistungen finden, die allerdings nicht durchgehend von allen Vertragsstaaten ratifiziert worden sind. Zu den klassischen Freiheitsrechten zählen die Fundamentalgarantien des Rechts auf Leben (Art. 2) und des Verbots von Folter, unmenschlicher Behandlung, Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 3 und 4), die Garantien von persönlicher Freiheit (Art. 5) und Freizügigkeit (Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls), die Rechte der Person, die den Schutz der Privatsphäre (Art. 8), die Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9), das Recht auf Eheschließung (Art. 12) und das Recht auf Bildung (Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls) umfassen, die politischen und gemeinschaftsbezogenen Menschenrechte mit den Kommunikationsfreiheiten des Art. 10, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11) und dem Recht auf freie Wahlen (Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls), daneben aber auch die Eigentumsgarantie in Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls als wirtschaftlich ausgerichtetes Menschenrecht. Die Verfahrensgarantien der EMRK umfassen die prozessualen Rechte in Zivil- und Strafsachen, die in Art. 6 unter der Überschrift des Rechts auf ein faires Verfahren aufgeführt sind, die besonderen Rechte im Zusammenhang mit Freiheitsentziehungen in Art. 5 Abs. 2 bis 5, den Grundsatz „nulla poena sine lege“ (Art. 7), das Recht auf wirksame Beschwerde in Art. 13 und das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls). Gemeinsamer Bezugspunkt aller Verfahrensgarantien ist der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes, in dem das europäische Verfassungsprinzip der Rechtsstaatlichkeit zum Ausdruck kommt3. Die Bedeutung der prozessualen Rechte in der Konvention ist größer als in den meisten nationalen europäischen Verfassungen. Die EMRK weist im Vergleich nicht nur eine höhere Zahl an Verfahrensrechten auf, sondern fasst sie auch konkreter und detaillierter4. So wird von einer „procedural orientation“ des gesamten Konventionssystems gesprochen5. Korrespondie2 So z. B. in Art. 5 des 7. ZP (Gleichberechtigung der Ehegatten) und in Art. 6 Abs. 3 lit. e) EMRK (Recht auf einen Dolmetscher im Strafverfahren), vgl. dazu R. Uerpmann, Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 73 ff. 3 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 1. 4 Die Konvention ist in dieser Hinsicht vom anglo-amerikanischen Recht beeinflusst, dass über wesentlich detailliertere und ausdifferenzierte Verfahrensrechte verfügt als die kontinentalen Rechtsordnungen, vgl. hierzu C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 1. 5 W. Strasser, The relationship between substantive rights and procedural rights guaranteed by the European Convention on Human Rights, in: FS Wiarda, S. 595, 596.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
rend mit diesen Vorgaben in der Konvention überwiegen die Verfahrensgarantien auch in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs quantitativ gegenüber den klassischen Freiheitsrechten, ungeachtet der Tatsache, dass die Beschwerdeführer insgesamt häufiger Verletzungen materieller Rechte geltend machen6. Dementsprechend ist der Einfluss der EMRK auf die Rechts- und Verfassungsordnungen der Vertragsstaaten in diesem Bereich stärker als im Bereich der materiellen Gewährleistungen7. Dies hängt auch damit zusammen, dass der EGMR die Verfahrensgarantien weit auslegt und teilweise ihre akzessorische Anknüpfung an die materiellen Rechte gelockert hat8. Darüber hinaus entnimmt er den materiellen EMRK-Rechten weitere implizite prozessuale Garantien und erweitert sie auf diese Weise zu doppelfunktionalen Gewährleistungen9. 2. Struktur der Rechte Die Zweiteilung der Garantien in materielle Menschenrechte mit abwehrrechtlichem Charakter und Verfahrensrechte spiegelt sich in der unterschiedlichen Struktur der Rechtsprüfung wider. Während die Prüfung bei den abwehrrechtlichen Freiheitsrechten dem dreistufigen Schema von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung des Eingriffs folgt, geht es bei den Verfahrensgarantien nach der Prüfung der Eröffnung des Schutzbereichs um die Einhaltung der zum Teil sehr detaillierten verfahrensrechtlichen Vor6
W. Strasser, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 597. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 1. 8 So steht das Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK vom Wortlaut her jeder Person zu, die in einem Konventionsrecht verletzt worden ist. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR erfordert die Anwendbarkeit der Vorschrift jedoch nicht, dass eine Verletzung eines materiellen Konventionsrechts tatsächlich feststeht. Ausreichend ist vielmehr, dass eine Verletzung mit einer gewissen Plausibilität dargelegt wird. So erstmals EGMR, Urteil vom 6.9.1978, Klass/Deutschland, Serie A Nr. 28, Ziff. 64. Ausführlich hierzu J. Frowein, Article 13 as a growing pillar of Convention law, in: GS Ryssdal, S. 545 ff.; W. Strasser, The relationship between substantive rights and procedural rights guaranteed by the European Convention on Human Rights, in: FS Wiarda, S. 595, 597 ff. 9 J. Adriantsimbazovina, La Cour Européenne des Droits de l’Homme à la croisée des chemins, CDE 2002, S. 735, 756 ff., spricht von „droits à double visage“ (S. 757). Nach L. Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569, „liegt praktisch allen Konventionsgarantien eine positive Verpflichtung zugrunde, Verfahren einzuführen und anzuwenden, die es ermöglichen, auf nationaler Ebene das fragliche Recht durchzusetzen“. Für ein prozessuales Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 8 EMRK im Zusammenhang mit elterlicher Sorgepflicht und Pflege siehe EGMR, Urteil vom 24.2.1995, McMichael/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 307-B, Ziff. 95. Dazu F. Jacobs/R. White/C. Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 228. 7
A. Die Konventionsrechte
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gaben in der Konvention10. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der seinen Ausgang in der Judikatur zu den Freiheitsrechten hat, ist inzwischen auch Prüfungsmaßstab für das Diskriminierungsverbot und für die prozessualen Rechte11. 3. Keine Hierarchie der Rechte In Anknüpfung an die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zum Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten, der „margin of appreciation“, wird eine mögliche Hierarchisierung der Konventionsrechte diskutiert. Je geringer die „margin of appreciation“ sei, die der Gerichtshof den Staaten bezüglich eines bestimmten Rechts zuspräche, desto höher solle der Rang des Rechts innerhalb des EMRK-Systems sein. Das Recht auf Leben sowie das Folter- und Sklavereiverbot in den Art. 2, 3 und 4 EMRK stünden hiernach an der Spitze einer Normenhierarchie, während andere Garantien wie die prozessualen Rechte der Art. 5 und 6 EMRK und die persönlichen Freiheiten der Art. 8 bis 11 EMRK, bei denen der Gerichtshof den Staaten einen weiteren Beurteilungsspielraum einräume, sich hierarchisch diesen unterzuordnen hätten12. Der Rechtsprechung des EGMR lässt sich eine derartige allgemeine Hierarchie der Konventionsrechte jedoch nicht entnehmen. Der Gerichtshof misst in vielen Fällen nicht einem Recht insgesamt, sondern nur bestimmten Aspekten eines Rechts besondere Bedeutung zu, so dass sich daraus keine generellen Aussagen für den Rang des Rechts insgesamt ableiten lassen13. Zudem erscheint auch aus grundrechtstheoretischen Erwägungen eine solche Hierarchiebildung nicht überzeugend. Sie widerspräche mit ihrem demokratisch-funktionalen Ansatz dem liberalen Menschenrechtsverständnis der EMRK, nach dem die Menschenrechte als 10
Ausführlich zur Struktur der Grundrechtsprüfung im Rahmen der EMRK C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18. 11 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 28. Ausführlich zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Rechtsprechung des EGMR siehe 3. Teil, A. I. 4. b) aa). 12 Die Hierarchisierungstheorie knüpft insbesondere an das McCann-Urteil des EGMR vom 27.9.1995 an, McCann/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, Ziff. 147, 150, 194. Der EGMR stellte hier fest, dass das Recht auf Leben eine der grundlegenden Bestimmungen der Konvention sei und zusammen mit Art. 3 EMRK einen der wesentlichen Werte der demokratischen Staaten gewährleiste und Eingriffe in dieses Recht deshalb genau überprüft werden müssten. Siehe dazu C. H. Yourow, The Margin of Appreciation Doctrine in the Dynamics of the European Human Rights Jurisprudence, S. 188 f.; A. Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 143 f. 13 E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 27 f.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Freiheitsrechte dem Einzelnen ohne Rücksicht auf ihre Funktion für den Staat oder ein anderes Ordnungssystem zustehen sollen14. Grundsätzlich ist folglich davon auszugehen, dass die verschiedenen Konventionsgarantien innerhalb des EMRK-Systems gleichrangig nebeneinander stehen. 4. Kein abgeschlossenes System von Menschenrechten Die Palette der von der Menschenrechtskonvention geschützten Rechte wurde im Laufe der Jahre durch verschiedene Zusatzprotokolle erweitert. Enthielt die Konvention zunächst keine Garantie im Wirtschaftsbereich, so kam bereits mit dem 1. Zusatzprotokoll das Eigentumsrecht als Menschenrecht wirtschaftlicher Prägung hinzu15. Weitere Rechte wurden sowohl im materiellen als auch im prozessualen Bereich ergänzt. Gleichwohl ist die EMRK weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie kein abschließendes System von Menschenrechten darstellt wie etwa der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes16. Die Berufsfreiheit wird nicht von der Konvention gewährleistet. Das 12. Zusatzprotokoll, das einen allgemeinen, nicht akzessorischen Gleichheitssatz enthält, ist inzwischen in Kraft getreten, bisher jedoch nur von 14 Vertragsstaaten ratifiziert17. Aufgrund der Ausweitung des sachlichen Schutzbereichs der EMRK durch ein allgemeines Gleichheitsrecht ist mit Zurückhaltung seitens der Vertragsstaaten zu rechnen18. Daneben enthält die Konvention auch kein „Auffang“-Menschenrecht vergleichbar etwa der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, so dass Gewährleistungslücken der speziellen Rechte nicht auf diesem Wege geschlossen werden können. Neben dieser inhaltlichen Unvollständigkeit ist zu berücksichtigen, dass die Konvention, anders als die Grundrechtskataloge nationaler Verfassun14 E. Stieglitz, a. a. O., S. 29 f. Zum liberalen und demokratisch-funktionalen Grundrechtsverständnis siehe E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529, 1530 ff. Zur Anwendung der Grundrechtstheorien auf die EMRK siehe J. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 105 ff. 15 Zu der Grundentscheidung, wirtschaftliche und soziale Rechte prinzipiell aus der EMRK auszuklammern siehe P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 293 ff. 16 C. Flinterman, The Protection of Economic, Social and Cultural Rights and the European Convention on Human Rights, in: Liber Amicorum Schermers, Bd. III, S. 165, 171, merkt an, dass „the ‚Founding Fathers‘ of the European Convention on Human Rights and Fundamental Freedoms have been very selective in the rights which they incorporated in the Convention.“ 17 Das 12. Zusatzprotokoll ist am 1. April 2005 in Kraft getreten. Deutschland hat es unterzeichnet, jedoch noch nicht ratifiziert. 18 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 4.
A. Die Konventionsrechte
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gen, nur in einem Kernbestand von Rechten für alle Vertragsstaaten verbindlich ist. Die in den Zusatzprotokollen garantierten Rechte verpflichten nur die Staaten, die diese auch ratifiziert haben. Der Ratifikationsstand ist dabei je nach Protokoll unterschiedlich19. Außerdem haben die Vertragsstaaten nach Art. 57 EMRK die Möglichkeit, Vorbehalte zu bestimmten Rechten zu erklären20. Daher ergibt sich auch für die inhaltlich von der Konvention erfassten Rechte kein einheitliches Bild. Es lässt sich aber eine zunehmende Tendenz zu einer einheitlichen Rechtsgeltung auf einem hohen Schutzniveau ausmachen. Die Bedeutung der Vorbehalte geht zurück: Art. 57 EMRK in seiner jetzigen Fassung stellt strenge Bedingungen an die Gültigkeit von Vorbehalten. Zudem haben die mittel- und osteuropäischen Staaten aufgrund politischen Drucks bei der Ratifikation der EMRK in den neunziger Jahren kaum Vorbehalte erklärt21. Insgesamt verbleiben Lücken in der Gewährleistung durch die EMRK. Gleichwohl stellen die Konventionsgarantien in ihrer Ausdifferenzierung durch die Rechtsprechung des EGMR inzwischen mehr als eine bloße Rahmenordnung von Menschenrechten dar22. Der Gerichtshof hat aus den zum Teil sehr vage formulierten Rechtsgarantien mit ihren unbestimmten Rechtsbegriffen eine kohärente Menschenrechtsordnung geschaffen23. Durch die weite Auslegung der akzessorischen Rechte aus Art. 13 und 14 EMRK wurde der Anwendungsbereich der Konvention erweitert. Auch hat der Gerichtshof klargestellt, dass er bei der Auslegung der größtenteils als „civil and political rights“ konzipierten Konventionsgarantien den Bereich der sozialen und wirtschaftlichen Rechte nicht vollständig ausklammert, sondern mitberücksichtigen kann24. 19 Das 1. und das 6. Zusatzprotokoll wurden von fast alle Vertragsstaaten ratifiziert, während das 4. und das 7. Zusatzprotokoll von einer größeren Zahl von Staaten nicht ratifiziert wurden, vgl. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 4. 20 Vgl. oben 1. Teil, B. II. 3. b). 21 C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 297 f. 22 Als Rahmenordnung oder Basisrechte hat z. B. K. Weidmann die EMRK bezeichnet, ders., Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgericht, S. 85. 23 Siehe dazu M. Melchior, Notions „vagues“ ou „indéterminées“ et „lacunes“ dans la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: FS Wiarda, S. 411 ff.; ders., Rights not Covered by the Convention, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 593 ff. Vgl. auch oben 1. Teil, B. II. 4. (Die Menschenrechtskonvention als europäische Teilverfassung). 24 EGMR, Urteil vom 9.12.1979, Airey/Irland, Serie A Nr. 32, Ziff. 26. Siehe dazu C. Flinterman, The Protection of Economic, Social and Cultural Rights and the European Convention on Human Rights, in: Liber Amicorum Schermers, Bd. III, S. 165, 171 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
II. Berechtigte und Verpflichtete der Konventionsrechte Ausgangspunkt für die Bestimmung der aus der Menschenrechtskonvention Berechtigten und Verpflichteten ist Art. 1 EMRK. Danach sichern die Vertragsstaaten allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der EMRK und in den Zusatzprotokollen25 bestimmten Rechte zu. 1. Die aus der Konvention Berechtigten Der Anwendungsbereich der Konvention unterliegt keiner allgemeinen Einschränkung im Hinblick auf die aus den Rechten Berechtigten. Der Begriff „Personen“ in Art. 1 EMRK umfasst natürliche und juristische Personen. a) Weiter personaler Anwendungsbereich der Konvention Die Träger der in der Konvention garantierten Rechte werden in Art. 1 EMRK lediglich als die der „Hoheitsgewalt (der Vertragsstaaten) unterstehenden Personen“ umschrieben. Aus dieser denkbar weiten Formulierung ergibt sich, dass die Menschenrechtskonvention prinzipiell keine Beschränkung des Kreises der Rechtsberechtigten dahingehend vornimmt, dass ein „genuine link“, d. h. eine besondere Beziehung zu der eingreifenden Hoheitsgewalt, vorhanden sein muss. Wird jede Person geschützt, die der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates untersteht, so spielen Kriterien wie Staatsangehörigkeit, Wohnsitz oder Aufenthalt keine Rolle. Auch Ausländer (inklusive Staatsangehöriger von Nicht-Vertragsstaaten) und Staatenlose sind demnach grundsätzlich Berechtigte der Konventionsgarantien, sofern sie sich in der Herrschaftsgewalt eines Vertragsstaates befinden und von ihr betroffen werden26. In diesem weiten personalen Anwendungsbereich kommt die völkerrechtliche Besonderheit der EMRK zum Ausdruck, die den Einzelnen unmittelbar Individualrechte gewährt und nicht nur Rechte 25
Die Zusatzprotokolle sind nicht in Art. 1 EMRK erwähnt. Die dort gewährleisteten Rechte sind aber gleichwohl dazu zu zählen, sofern sie von dem betreffenden Vertragsstaat ratifiziert sind, vgl. J. Meyer-Ladewig, EMRK-Handkommentar, Art. 1 Rn. 1. 26 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 23; J.-A. Carrillo-Salcedo, in: Pettiti/Decaux/Imbert, Commentaire CEDH, Art. 1, S. 135. Beschränkungen auf Personen mit Aufenthalt oder Wohnsitz in einem Vertragsstaat wurden bei den Beratungen zur EMRK verworfen, vgl. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 17 Rn. 2, Fn. 1, der auf den Expertenbericht an das Ministerkomitee des Europarats, collected Edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, Vol. 4, 1977, S. 20, verweist.
A. Die Konventionsrechte
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und Pflichten für die Unterzeichnerstaaten begründet27. Die Konventionsgarantien erweisen sich damit als echte Menschenrechte28. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den Grundrechtskatalogen nationaler Verfassungen, die in der Regel zumindest bei bestimmten Grundrechten den Berechtigtenkreis in Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit einschränken29. In der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung wiederum ist das Anknüpfungskriterium der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats in die Unionsbürgerschaft übergeleitet worden. Da Art. 17 EGV jedoch bestimmt, dass Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, besteht hier Deckungsgleichheit30. Ausnahmsweise spielt die Staatsangehörigkeit für den Menschenrechtsschutz nach der EMRK doch eine Rolle. Art. 16 EMRK enthält eine Sonderregelung zur Beschränkung der politischen Tätigkeit ausländischer Personen im Hinblick auf Art. 10, 11 und 14 EMRK. Die Vorschrift soll über die bereits in Art. 10 und 11 EMRK berücksichtigten Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinausgehende Interessen schützen, wie die Vermeidung außenpolitischer Verwicklungen31. Daneben enthalten die Art. 3 und 4 des 4. Zusatzprotokolls mit dem Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger und dem Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern Rechte, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen. Für das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK in Verbindung mit dem Eigentumsrecht aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls hält der Straßburger Gerichtshof außerdem in bestimmten Fällen eine unterschiedliche Behandlung von In- und Ausländern bei Entschädigungen aufgrund von Eigentumsentziehungen für gerechtfertigt32. Eine Differenzierung bei der Rechtsberechtigung in Anknüpfung an das Kriterium der Staatsangehörigkeit bleibt aber eine Ausnahme innerhalb des EMRK-Systems, das seinem liberalen Grundgedanken entsprechend einen denkbar weiten personalen Anwendungsbereich hat33. 27
Vgl. oben 1. Teil, B. II. 2. Zu den Begriffsbestimmungen vgl. oben 1. Teil, A. II. 29 So wird beispielsweise im Grundgesetz zwischen sog. Jedermanns- und Deutschenrechten unterschieden, siehe dazu oben 1. Teil, A. II. 1. 30 Siehe hierzu ausführlich unten 2. Teil, B. V. 1. a). 31 J. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 16 Rn. 2. Die Einschränkung des Art. 16 EMRK wird überwiegend kritisiert, siehe dazu E. Decaux in: Pettiti/Decaux/Imbert, Commentaire CEDH, Art. 16, S. 505 ff.; C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 22 ff. 32 EGMR, Urteil vom 8.7.1986, Lithgow u. a./Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 102, Ziff. 116 f. 33 Bei der Bestimmung des Begriffs des Ausländers stellt der EGMR zudem nicht formal auf die Staatsangehörigkeit des Vertragsstaats ab. So dürfen die Rechte von EU-Ausländern in einem EU-Mitgliedstaat nicht nach Art. 16 EMRK beschränkt 28
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
b) Natürliche und juristische Personen als Berechtigte der Konventionsgarantien Art. 1 EMRK spricht lediglich von „Personen“, denen die Konventionsrechte zugesichert werden. Die prozessuale Vorschrift des Art. 34 EMRK spezifiziert diesen Begriff, indem sie festlegt, dass der Gerichtshof im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen angerufen werden kann. Natürliche Personen können sich prinzipiell ohne Einschränkungen hinsichtlich des Alters oder der Geschäftsfähigkeit auf die gewährleisteten Rechte berufen34. Nur wenn ein Konventionsrecht es ausdrücklich vorsieht, ist der personale Anwendungsbereich begrenzt. So kann – neben den bereits erwähnten, an die Staatsangehörigkeit anknüpfenden Rechten – das Recht auf Eheschließung aus Art. 12 EMRK nur von Frauen und Männern im heiratsfähigen Alter geltend gemacht werden. Mit den neben den natürlichen Personen in Art. 34 EMRK genannten nichtstaatlichen Organisationen und Personengruppen wird die Kategorie der juristischen Personen umschrieben35. In erster Linie sind hiermit juristische Personen des Privatrechts gemeint, wie das Kriterium der Nichtstaatlichkeit verdeutlicht. Juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich grundsätzlich nicht auf die Konventionsrechte berufen, da der Staat Verpflichteter, nicht aber Berechtigter der Konventionsrechte sein soll. Bei der erforderlichen Abgrenzung zwischen dem privatrechtlich und dem öffentlich-rechtlich organisierten Bereich werden jedoch keine formalen, sondern materielle Kriterien zugrunde gelegt36. So können sich bestimmte juristische Personen des öffentlichen Rechts, wie Kirchen und Religionsgemeinschaften37, Universitäten und Rundfunkanstalten auf EMRK-Rechte berufen, sofern sie etwa im Bereich der Selbstverwaltung hinreichende Distanz zur Staatsgewalt haben. werden, vgl. EGMR, Urteil vom 27.4.1995, Piermont/Frankreich, Serie A 314, Ziff. 64. 34 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 24. Die Menschenrechtsberechtigung des Nasciturus im Hinblick auf das Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK ist umstritten, vgl. hierzu W. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 25 Rn. 12. 35 Umfassend zum Grundrechtsschutz juristischer Personen in der EMRK siehe L. Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 93 ff. 36 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 17 Rn. 5. 37 EGMR, Urteil vom 16.12.1997, Kanea Katholische Kirche/Griechenland, RJD 1997-VIII, Ziff. 31; EGMR, Urteil vom 27.6.2000, Cha’are Shalom ve Tsedek/ Frankreich, RJD 2000-VII, Ziff. 72. Vgl. hierzu die gleichgelagerte Rechtsprechung des BVerfG, aufgeführt in B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 154 ff.
A. Die Konventionsrechte
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Die juristischen Personen sind allerdings nur beschränkt konventionsrechtsfähig, da bestimmte Garantien ihrer Natur nach natürlichen Personen vorbehalten sind. Ausdrücklich genannt werden juristische Personen nur beim Eigentumsrecht des Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK. Art. 10 Abs. 1 S. 2 EMRK spricht von „Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen“ und stellt damit klar, dass sich auch juristische Personen auf dieses Recht berufen können. Bei allen anderen Rechten ist zu prüfen, ob sie ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar sind38. Knüpfen Garantien in ihrem Tatbestand an Eigenschaften an, die nur natürliche Personen aufweisen, ist die wesensmäßige Anwendbarkeit ausgeschlossen, so beim Recht auf Leben und Verbot der Folter (Art. 2 und 3 EMRK), beim Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), beim Verbot der Todesstrafe (Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls) und bei den Rechten auf Familienleben (Art. 8 EMRK) und auf Eheschließung (Art. 12 EMRK). Für einige der von Art. 8 EMRK abgedeckten Rechte hat der Straßburger Gerichtshof in Fortentwicklung seiner Rechtsprechung inzwischen festgestellt, dass sie auch auf juristische Personen anwendbar sind39. Rechte ihrer Mitglieder können die nichtstaatlichen Organisationen und Personengruppen nicht geltend machen40. Dass die Europäische Menschenrechtskonvention ihren personalen Schutzbereich auch auf juristische Personen erstreckt, ist in Anbetracht ihres Charakters als völkerrechtlicher Menschenrechtsvertrag, der unmittelbar Individualrechte gewährt, nicht selbstverständlich. So beschränkt beispielsweise der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dessen Gewährleistungen inhaltlich mit denen der EMRK weitgehend übereinstimmen, seinen Menschenrechtsschutz auf natürliche Personen. Die EMRK geht in ihrem Ansatz darüber hinaus und bezieht auch die juristischen Personen mit ein. Gleichwohl stellen die natürlichen Personen – ausgehend vom liberalen Ansatz des Menschenrechtsschutzsystems der EMRK, welcher das Individuum im Mittelpunkt sieht – die „klassischen“ Träger der 38 Die EMRK verfügt nicht über eine dem Art. 19 Abs. 3 GG vergleichbare Regelung. Inhaltlich wird die Frage der Konventionsrechtsberechtigung juristischer Personen jedoch im Wesentlichen gleich behandelt. Vgl. zur Rechtsprechung des BVerfG zur wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes auf juristische Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 150 ff. 39 Vgl. EGMR, Urteil vom 16.4.2002, Sté Colas Est u. a./Frankreich, RJD 2002-III, Ziff. 42, für das Recht einer Gesellschaft auf Schutz ihres „siège social“, ihrer Agenturen und ihrer Geschäftsräume (unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 16.12.1992, Niemietz/Deutschland, Serie A Nr. 251-B, Ziff. 30). Vgl. zu diesen Urteilen unten 3. Teil, B. I. 1. a). 40 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 25.
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Konventionsrechte dar. Auch in der Rechtsprechung der Konventionsorgane liegt der Schwerpunkt bei dem Schutz der natürlichen Personen41. Diese können sich auf die ganze Bandbreite der gewährleisteten Rechte berufen. Zudem enthält die Konvention außer dem Eigentumsrecht keine explizit wirtschaftlich geprägten Menschenrechte. In jüngerer Zeit haben allerdings vermehrt auch Unternehmen EMRK-Rechte für sich geltend gemacht42, wenngleich die insgesamt stark gestiegene Zahl der Fälle beim Menschenrechtsgerichtshof vorrangig auf Beschwerden natürlicher Personen zurückzuführen ist. Ob es im Sinne der „Väter“ der EMRK ist, die Konvention als juristische Waffe zugunsten der Interessen der Wirtschaft einzusetzen, ist zumindest fraglich und wird teilweise kritisch gesehen43. Die Konventionsberechtigung juristischer Personen im EMRK-System ist wichtig für einen Vergleich mit dem Grundrechtsschutzsystem der stark wirtschaftlich geprägten Gemeinschaftsrechtsordnung, in der juristische Personen, insbesondere Wirtschaftsunternehmen, entscheidende Akteure sind. In der Grundrechtsjudikatur des EuGH kommt den Unternehmen als Initiatoren von Klagen, mit denen Grundrechtsverletzungen geltend gemacht werden, eine wichtige Rolle zu44. In diesem Bereich gibt es inhaltliche Überschneidungen zwischen der Rechtsprechung des Straßburger und des Luxemburger Gerichtshofs, und es soll bereits an dieser Stelle festgehalten werden, dass gerade im Bereich des Grundrechtsschutzes juristischer Personen die Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe nicht immer übereinstimmt. Zu verschiedenen Rechten gibt es divergierende Entscheidungen, die als Anzeichen für eine unterschiedliche Grundkonzeption des 41 Siehe dazu beispielsweise die Auswertung von M. Hilf/S. Hörmann, Der Grundrechtsschutz von Unternehmen im europäischen Verfassungsverbund, NJW 2003, S. 1, 4: Im Jahr 2001 waren an insgesamt 888 entschiedenen Verfahren in Individualbeschwerdefällen lediglich in 21 Fällen Unternehmen beteiligt. 42 In EG-Kartellrechtsverfahren werden beispielsweise regelmäßig die Verfahrensrechte der EMRK von durch Kommissionsentscheidungen betroffenen Unternehmen geltend gemacht. Unterliegen die Unternehmen vor dem Gericht erster Instanz und dem EuGH, versuchen sie inzwischen teilweise, ihre Rechte durch Beschwerde vor dem EGMR durchzusetzen, vgl. nur den unten ausführlich besprochenen Fall der Reederei Senator Lines gegen die 15 EG-Mitgliedstaaten, siehe 3. Teil, B. II. 2. c). 43 Vgl. z. B. die negative Konnotation bei F. Jacobs/R. White/C. Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 301 (zum Eigentumsrecht des Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK): „The article has, consequently, taken on a commercial character and been used extensively by business in the advancement of its interests.“ F. Zampini, La Cour de justice des Communautés européennes, gardienne des droits fondamentaux „dans le cadre du droit communautaire“, RTDE 1999, S. 659, 684, spricht von einer „mercantilisation latente“ der EMRK-Rechte. 44 Der EuGH ist von Beginn an von einer grundsätzlichen Grundrechtsberechtigung juristischer Personen ausgegangen. Dazu unten 2. Teil, B. V. 1. b).
A. Die Konventionsrechte
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Grund- und Menschenrechtsschutzes in den beiden Systemen gewertet werden können45. 2. Vertragsstaaten als Verpflichtete der Konventionsgarantien – keine unmittelbare Drittwirkung der Rechte Gemäß Art. 1 EMRK verpflichten die Konventionsrechte die Vertragsstaaten. Die Vorschrift beantwortet die Frage nach den Adressaten der gewährleisteten Rechte im Grundsatz eindeutig. Die Staatsgewalt ist in allen Formen, als Legislative, Exekutive und Judikative, an die Rechte gebunden. Entsprechend den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ist jeder Vertragsstaat für seine Organe verantwortlich46. Die Verantwortlichkeit trifft den Staat auch dann, wenn ein Staatsorgan rechts- oder instruktionswidrig handelt47. Ebenso wenig kann sich ein Staat seiner Verantwortlichkeit aus der EMRK dadurch entziehen, dass er die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben auf Private überträgt48. Die staatliche Verletzungshandlung kann in einem positiven Tun, einem Dulden oder einem Unterlassen liegen49. Aus dem Wortlaut des Art. 1 EMRK, der lediglich die Vertragsstaaten als Verpflichtete nennt, geht hervor, dass Private prinzipiell nicht Adressaten der Konventionsgarantien sind. Dies wird bestätigt durch Art. 33 und 34 EMRK, die Beschwerden nur gegen die Vertragsstaaten vorsehen. Auch daraus, dass bestimmte Konventionsrechte, wie beispielsweise das Recht auf Eheschließung aus Art. 12 EMRK, direkt auf das Privatrecht einwirken, lässt sich keine unmittelbare Verpflichtung Privater konstruieren; Adressaten der Rechte sind stets ausschließlich die Vertragsstaaten. Eine unmittelbare Drittwirkung der EMRK-Rechte ist insofern abzulehnen50. Es wird aber 45
Siehe hierzu unten 3. Teil, B. I. 1. J. Frowein in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 1 Rn. 9; W. Peukert, a. a. O., Art. 25 Rn. 49. 47 Vgl. EGMR, Irland/GB, Serie A 25, Ziff. 64. 48 EGMR, Urteil vom 25.3.1995, Costello-Roberts/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 247-C, Ziff. 27. 49 W. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 25 Rn. 40 f. 50 Ebenso L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 119, unter Verweis auf Aufbau und Struktur der Konventionsrechte und auf die Tatsache, dass die EMRK prozessualen Rechtsschutz nur gegenüber Staaten vorsieht. A. A. A. Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 97, unter Verweis auf Art. 13 EMRK sowie auf den Wortlaut des Art. 1 EMRK, der – anders als Art. 1 Abs. 3 GG – gerade nicht ausschließlich eine Bindung der Herrschaftsgewalt der Vertragsstaaten verlange, in Verbindung mit dem Wortlaut der einzelnen Gewährleistungen. Siehe auch E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 162 (Drittwirkung abhängig vom materiellen Schutzgehalt des jeweiligen EMRK-Rechts). 46
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
vertreten, dass den Konventionsrechten ebenso wie den deutschen Grundrechten eine mittelbare Drittwirkung in dem Sinne zukommt, dass sie die Beziehungen zwischen Privaten vermittelt über die Akte von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung prägen51. Dies setzt die Vermittlung einer objektiven Werteordnung durch die EMRK voraus. Die Konventionsorgane haben eine Auseinandersetzung mit der Frage nach einer möglichen Drittwirkung bislang vermieden und stattdessen den Weg über die Konstruktion staatlicher Schutzpflichten gewählt. Hiernach verpflichten bestimmte EMRK-Garantien die Staaten, Private vor Verletzungen ihnen gewährter Rechtspositionen durch andere Private zu schützen52. Die Drittwirkungsproblematik geht auf diese Weise in der Schutzpflichtenlehre auf53. Der Wortlaut des Art. 1 EMRK schließt es aus, dass internationale Organisationen unmittelbar durch die Menschenrechtskonvention verpflichtet werden. Ausschließlich Staaten sind Adressaten der Rechte. Die Mitgliedschaft der Vertragsstaaten in anderen internationalen Organisationen wirft jedoch Probleme im Hinblick auf die Verantwortlichkeit nach der EMRK auf, insbesondere wenn die Staaten auf die internationale Organisation Hoheitsrechte übertragen, wie es im Falle der Europäischen Gemeinschaft geschieht. Bereits aus prozessualen Gründen – Beschwerden wegen Verletzungen von Konventionsrechten sind nur gegen Staaten möglich, Art. 33 und 34 EMRK – ist diese Problematik bisher nur in Anknüpfung an die Grundsätze der Vertragsstaatenverantwortlichkeit zu lösen. Es handelt sich hierbei um eine der zentralen Fragestellungen im Verhältnis der beiden europäischen Grundrechtsschutzsysteme zueinander, die im dritten Teil unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs aufgearbeitet werden soll54. 51 Dazu P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 900 ff.; C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 14; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 33. Zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes siehe B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 181 ff. 52 Leitentscheidung des EGMR zu den staatlichen Schutzpflichten ist das Urteil vom 13.8.1981, Young, James and Webster/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 44, Ziff. 49. Zur Rechtsprechung der Konventionsorgane zu den Schutzpflichten siehe K. Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, S. 102 ff.; F. Sudre, Les „obligations positives“ dans la jurisprudence européenne des droits de l’homme, in: GS Ryssdal, S. 1359 ff. Ausführlicher zu dieser Funktion der Konventionsgarantien siehe im folgenden Abschnitt bei den Funktionen der EMRK-Rechte. 53 A. Clapham, The ‚Drittwirkung‘ of the Convention, in: Macdonald/Matscher/ Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 163 ff., befasst sich beispielsweise unter diesem Titel in erster Linie mit der Rechtsprechung des EGMR zu den Schutzpflichten der Staaten aus den einzelnen Konventionsrechten. 54 Siehe unten 3. Teil, B. II.
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III. Funktionen der Konventionsgarantien Der Menschenrechtskonvention liegt in erster Linie der Gedanke zugrunde, auf internationaler Ebene subjektive Rechte im Sinne individueller Abwehrrechte gegen staatliche Willkür zur Verfügung zu stellen. Neben der Entstehungsgeschichte und dem Kontext, in den sich das regionale Abkommen einfügt, macht auch der Titel „Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ diese Grundidee deutlich. Sind die gewährleisteten Rechte damit prinzipiell als Freiheitsrechte im Sinne eines liberalen Grund- und Menschenrechtsverständnisses55 einzuordnen, so beschränkt sich ihr Wirkungsbereich dennoch nicht auf dieses Konzept. Der Straßburger Gerichtshof misst den Konventionsrechten in seiner Rechtsprechung auch eine objektiv-rechtliche Bedeutung bei, aus der sich über die Abwehrkomponente hinaus positive Pflichten der Staaten ergeben können. Die objektiv-rechtlichen Wirkungen werden vom EGMR allerdings im Grundsatz als Verstärkungen der subjektiv-rechtlichen Abwehr- und Freiheitskomponente der Rechte behandelt56. 1. Die Konventionsgarantien als klassische Abwehrrechte Gemäß der normativen Grundintention ihrer Schöpfer garantiert die Konvention dem Einzelnen eine bestimmte Freiheitssphäre und gewährt ihm einen Abwehranspruch bei rechtswidrigen Eingriffen in diese Sphäre. Dieser Schutz der Autonomie des Einzelnen gegen staatliche Willkür ist Ausgangsund stets beibehaltener Fixpunkt der Rechtsprechung des EGMR57. Beginnend mit dem Urteil Lawless aus dem Jahr 196158 und dem Schutz vor Freiheitsentziehungen im physischen Sinne zieht sich die Gewährleistung des status negativus59 durch die gesamte Judikatur des EGMR. Die Abwehrkomponente wohnt nahezu allen Gewährleistungen der Konvention inne60. 55 Vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529, 1530 ff. zur liberalen (bürgerlich-rechtsstaatlichen) Grundrechtstheorie, die sich auf die Menschenrechte der EMRK übertragen lässt. Zur Anwendung der verschiedenen von Böckenförde dargelegten Grundrechtstheorien auf die EMRK siehe J. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 105 ff. 56 Vgl. J. Wolf, Vom Grundrechtsschutz „in Europa“ zu allgemeinverbindlich geltenden europäischen Grundrechten, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 36. 57 K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 134. 58 EGMR, Urteil vom 1.7.1961, Lawless/Irland, Serie A Nr. 3, Ziff. 14. 59 Begrifflichkeit in Anlehnung an die Statuslehre von G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
2. Objektiv-rechtliche Dimensionen der Konventionsrechte Über die rein abwehrrechtliche Dimension hinausgehend weisen die EMRK-Rechte weitere Schutzgehalte auf. Bei einigen Rechten erschließt sich dies bereits aus dem Wortlaut: Bei den Justizrechten aus Art. 5 Abs. 2 bis 5 und Art. 6 EMRK ist der Staat gefordert, durch positive Maßnahmen wie die Einrichtung von Gerichten und den Erlass von Verfahrensvorschriften die Rechtsausübung erst zu ermöglichen und sicherzustellen. Darüber hinaus können aber auch die klassischen Freiheitsrechte positive Pflichten für die Vertragsstaaten begründen. a) „Obligations positives“ – staatliche Schutzpflichten Nach der Rechtsprechung des EGMR umfassen die EMRK-Garantien neben der Abwehrkomponente auch die Pflicht der Staaten, die Rechte vor Eingriffen privater Dritter zu schützen. Ausgangspunkt für eine solche staatliche Schutzpflicht („obligation positive“ im französischen Wortlaut der EGMR-Rechtsprechung) ist Art. 1 EMRK, der nach seinem Wortlaut – „die Hohen Vertragsparteien sichern . . . die Rechte und Freiheiten zu“ – eine umfassende Gewährleistungspflicht statuiert61. Die Vorschrift sagt allerdings nichts zum materiellen Umfang der Schutzpflicht. Dieser ergibt sich aus den einzelnen Konventionsrechten selbst62. Grundsätzlich unterfallen der staatlichen Schutzpflicht alle in Betracht kommenden in der EMRK erwähnten Rechtsgüter, die ihrem Wesen nach durch Private beeinträchtigt werden können. Bereits in der Garantie selbst angelegt ist die Schutzpflichtdimension beim Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK („Das Recht jedes 60 Vgl. beispielsweise zu Art. 8 EGMR das Urteil vom 23.7.1968, Belgischer Sprachenstreit, Serie A Nr. 6, Ziff. 7, 13, wo der Gerichtshof bemerkt, dass Art. 8 „a essentiellement pour but de protéger l’individu contre des ingérences arbitraires des pouvoirs publics dans sa vie privée ou familiale“. 61 Im Fall Young, James & Webster/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 13.8.1981, Serie A Nr. 4, Ziff. 49, stellte der Gerichtshof fest, dass ein Staat, der unter Verletzung seiner Schutzpflicht die Rechte und Freiheiten der Konvention in seiner Gesetzgebung nicht absichere, für die daraus resultierenden Verletzungen dieser Rechte und Freiheiten verantwortlich sei. Die umfassende Gewährleistungspflicht aus Art. 1 EMRK komme auch bei Rechtsverletzungen durch private Dritte zum Tragen. 62 J. Suerbaum, Die Schutzpflichtdimension der Gemeinschaftsgrundrechte, EuR 2003, S. 390, 404, merkt an, dass der EGMR die Schutzpflichten nicht „über ein gemeinsames Vehikel“ ableitet, sondern die positiven Pflichten aus den jeweiligen Einzelgewährleistungen der EMRK entwickelt. Ausführlich zu den Schutzpflichten nach der EMRK G. Ress, The Duty to Protect and to Ensure Human Rights Under the European Convention on Human Rights, in: Klein, The Duty to Protect and to Ensure Human Rights, S. 165 ff.; L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 103 ff.
A. Die Konventionsrechte
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Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt.“). Daneben ist sie am stärksten entwickelt beim Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK. Schon der Konventionstext, der in Art. 8 Abs. 1 EMRK anders als in Art. 9 bis 12 EMRK nicht nur vom Recht auf die Schutzgüter, sondern vom „Recht auf Achtung“ der Schutzgüter spricht, bringt die Schutzpflichtkomponente besonders deutlich zum Ausdruck. In zahlreichen Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs ist diese Dimension des Rechts zum Tragen gekommen63. Da es nach der EMRK – anders als nach der Verfassung eines gewaltengegliederten Rechtsstaates – keine strikte Zuweisung der Verantwortung an eine bestimmte Staatsgewalt gibt, kommt den Staaten ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Wahl der Mittel zur Gewährleistung der Schutzpflichten zu. Die Menschenrechte können durch Gesetze, Vollzugsmaßnahmen oder Gerichtsverfahren aktiv vor Angriffen Dritter geschützt werden64. Dadurch dass der EGMR aus den Konventionsgarantien staatliche Schutzpflichten ableitet, erübrigt sich prinzipiell die Frage nach der Drittwirkung der Rechte. Die Probleme der Drittwirkung gehen in der Schutzpflichtendogmatik auf. Der oben erwähnten mittelbaren Drittwirkung der Menschenrechte wird durch die Erfüllung von Schutzpflichten Rechnung getragen65.
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Siehe beispielsweise EGMR, Urteil vom 2.10.2001, Beschw.-Nr. 36022/97, Hatton/Vereinigtes Königreich, Ziff. 95; anders das Urteil der Großen Kammer in derselben Sache vom 8.7.2003, RJD 2003-VIII, Ziff. 96 ff. Siehe auch EGMR, Urteil vom 9.12.1994, López Ostra/Spanien, Serie A Nr. 303-C, Ziff. 50 ff. J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 602, weist darauf hin, dass es für die Schutzpflichtendimension der Freiheitsrechte zwei unterschiedliche dogmatische Konstruktionsmöglichkeiten gibt: Der Eingriffsbegriff kann ausgedehnt und die staatliche Billigung privater Grundrechtsbeeinträchtigung als staatlicher Eingriff qualifiziert werden (Abwehrkonstruktion). Alternativ können objektive Schutzpflichten aus den Rechten abgeleitet werden, die sich in spezifischen Fällen zu konkreten Handlungspflichten verdichten und dann mit entsprechenden Rechten des Individuums auf hoheitliches Tätigwerden korrespondieren (positive Schutzgewährdimension). Der EGMR wählt in der Regel die Konstruktion über die positiven Schutzpflichten. 64 Nach der Konvention liegt es allerdings nahe, dass zur Erfüllung bestimmter Schutzpflichten der Gesetzgeber berufen ist, so bei der strafrechtlichen Sanktionierung von Tötungen, die gegen das Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK verstoßen, vgl. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 8. 65 F. Jacobs/R. White/C. Ovey, European Convention on Human Rights, S. 39. Vgl. oben 2. Teil, A. II. 2.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
b) Weitere objektiv-rechtliche Aspekte: Verpflichtung zu organisatorischer und verfahrensrechtlicher Sicherung der EMRK-Rechte und Teilhaberechte Der EGMR leitet weiterhin aus einigen materiellen Freiheitsrechten der Konvention Verfahrensanforderungen ab, wenn ihm dies für einen wirksamen Rechtsschutz unentbehrlich erscheint. Anders als bei den prozessualen Garantien der EMRK, bei denen die entsprechenden Organisations- und Verfahrensrechte Selbstzweck sind, geht es dabei inhaltlich um den Schutz der materiellen Freiheitsrechte, den die verfahrensrechtlichen Menschenrechtsgehalte als Annex sicherstellen sollen66. In Bezug auf die Ausgestaltung der Verfahren kann der EGMR allerdings nur begrenzt auf die Vertragsstaaten einwirken. In erster Linie formuliert er Standards, die nicht unterschritten werden dürfen, und appelliert zugleich an die nationalen Gesetzgeber, mit eigenen Mitteln das nach der EMRK gebotene Ergebnis zu erreichen67. Originäre Leistungsrechte werden dem Einzelnen von der EMRK nicht eingeräumt und sind auch in der Rechtsprechung des EGMR nicht anerkannt68. Im Bereich der Teilhaberechte als derivativer Leistungsrechte unterscheidet sich die EMRK von den nationalen Rechtsordnungen. Während im nationalen Recht Teilhaberechte derivative Leistungsrechte sind, die in der Regel in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vor dem Hintergrund einer konkreten Rechtsordnung gewährt werden69, werden nach der EMRK derartige Rechte unabhängig von einer bestimmten organisatorischen Gestaltung der Einrichtungen, also abstrakt, gewährt. Damit verbleibt den Staaten als Rechtsverpflichteten ein wesentlich größerer Spielraum als im nationalen Recht70. Die Konstruktion über den allgemeinen Gleichheitssatz ist auf EMRK-Ebene nur eingeschränkt möglich, da dieses Recht bislang nur für einige Vertragsstaaten gilt.71. Eine Anknüpfung an das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK ist weniger weitrei66 EGMR, Urteil vom 6.9.1978, Klass/Deutschland, Serie A Nr. 28; Urteil vom 23.9.1982, Sporrong & Lönnroth/Schweden, Serie A Nr. 52; Urteil vom 26.5.1994, Keegan/Irland, Serie A Nr. 290, Ziff. 49 f. Ausführlich dazu K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 188 ff. 67 Vgl. E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 164. 68 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 15. 69 Zur Konstruktion der grundrechtlichen Teilhaberechte im deutschen Recht vgl. B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 95 ff. 70 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 4. 71 Zum 12. Zusatzprotokoll vgl. oben 2. Teil, A. I. 4.
A. Die Konventionsrechte
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chend72. Werden im EMRK-System weite Bereiche der Verfahrensgarantien sowie Garantien wie das Recht auf Bildung und das Recht auf freie Wahlen als Teilhaberechte bezeichnet, so sind sie von der dogmatischen Konstruktion her folglich nicht mit den grundrechtlichen Teilhaberechten im nationalen Recht gleichzusetzen. c) Bedeutung der objektiven Verpflichtungen aus den EMRK-Rechten für die Untersuchung Indem der EGMR den Konventionsrechten verschiedene objektiv-rechtliche Dimensionen zuspricht und daraus Pflichten der Vertragsstaaten ableitet, stärkt er die Bedeutung des EMRK-Systems insgesamt. Während völkerrechtliche Menschenrechtsverträge im Bereich der bürgerlichen und politischen Rechte in der Regel auf die Abwehrkomponente beschränkt sind73, erweitert der Gerichtshof durch die Rechtsprechung zu den „obligations positives“ der Staaten den Anwendungsbereich der Rechte. Die Konventionsrechte binden die Staaten damit weitgehend und erhalten auf diese Weise Funktionen, die ihnen sonst nur in staatlichen Rechtsordnungen zukommen. Dies wiederum unterstreicht den Anspruch der Menschenrechtskonvention, eine europäische Teilverfassung darzustellen. Gleichwohl kommt es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung vorrangig auf die Abwehrfunktion der Grund- und Menschenrechte an. Dies liegt daran, dass im Gemeinschaftsrecht die Frage nach objektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte in der Judikatur des EuGH bislang kaum eine Rolle gespielt hat. Der dritte Teil der Arbeit, in dem die Grundrechtsrechtsprechung der beiden Gerichtshöfe vergleichend untersucht wird, konzentriert sich daher auf die Abwehrrechte.
IV. Fazit: Systematik und Struktur der Konventionsrechte Die Systematik der Konventionsrechte erweist sich als klar strukturiert, kohärent und – auf der Basis der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs – als recht elaboriert: Gewährleistungslücken bei Rechten, die nicht im Katalog der EMRK enthalten sind, werden zumindest teilweise durch die Rechtsprechung des EGMR geschlossen. Die Berechtigten und 72 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 14. 73 Dies ist auch ein Problem der in der Regel fehlenden Durchsetzungsmöglichkeit: Mehr als Schutz vor staatlichen Eingriffen in Menschenrechte kann auf internationaler Ebene grundsätzlich nicht erreicht werden, da die Staaten sich unter Verweis auf ihre Souveränität gegen die Auferlegung zusätzlicher Verpflichtungen verwahren.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Verpflichteten der Konventionsrechte sind eindeutig zuzuordnen. Lediglich die Mitgliedschaft von EMRK-Vertragsstaaten in internationalen Organisationen wirft umfassendere Fragestellungen auf. Über die subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion hinaus erkennt der EGMR den Konventionsgarantien auch eine objektiv-rechtliche Dimension zu. Insbesondere die Rechtsprechung zu den staatlichen Schutzpflichten ergänzt den Gewährleistungsumfang der Konvention zugunsten der Rechtsberechtigten.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte Eine Analyse von Umfang, Kategorisierung und Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte ist schwieriger als bei den EMRK-Garantien. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass es bislang keinen verbindlichen geschriebenen Rechtskatalog gibt. Das verbindliche Inkrafttreten der GrundrechteCharta ist an den Verfassungsvertrag geknüpft, dessen Zukunft ungewiss ist. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind bislang ausschließlich vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelt worden. Bevor die gemeinschaftlichen Grundrechte systematisiert werden, ist daher im folgenden Abschnitt zunächst herauszuarbeiten, auf welche Rechtsquellen sie sich stützen und aus welchen Rechtserkenntnisquellen sie abgeleitet werden. Ein Überblick über die Grundrechte erfordert auch eine Abgrenzung von anderen, nicht grundrechtlichen, jedoch zum Teil grundrechtsähnlichen Rechtskategorien. Die Grundrechte-Charta nimmt nunmehr eine neue Einteilung der Gemeinschaftsgrundrechte vor, wobei zu berücksichtigen ist, dass sie verschiedene Rechte gewährleistet, denen keine korrespondierende Gemeinschaftskompetenz entspricht, so dass sie gewissermaßen „leer laufen“. Durch die enge Verflechtung von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der supranationalen Rechtsordnung stellen sich zudem im Hinblick auf die Rechtsverpflichteten kompliziertere Fragen als im EMRK-System.
I. Dogmatische Grundlagen des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung Der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz ist dadurch gekennzeichnet, dass er mangels schriftlicher Vorgaben in Form eines Grundrechtskatalogs richterrechtlich entwickelt wurde. Die Rahmenbedingungen, unter denen er herausgearbeitet und fortentwickelt wurde – Vorrang und unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts als Säulen der supranationalen, auf Rechtseinheit gerichteten Rechtsordnung sui generis –, sind bereits im ersten Teil der Arbeit aufgezeigt worden74. Mit der Anerkennung eigener
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Grundrechte gab der Luxemburger Gerichtshof dem Konstrukt der Gemeinschaftsrechtsordnung eine rechtsstaatliche Legitimationsbasis und schuf ein wichtiges Fundament der Rechtsgemeinschaft. Die der Gemeinschaft übertragene Hoheitsgewalt, die durch Vorrang und unmittelbare Wirkung zusätzlich gegenüber den Mitgliedstaaten gestärkt wird, ist durch die Gemeinschaftsgrundrechte rechtsordnungsimmanent begrenzt. Die Methodik des Gerichtshofs, die Grundrechte prätorisch ohne Rückgriff auf geschriebenes Gemeinschaftsrecht zu erarbeiten, macht es erforderlich, zunächst seine Kompetenz für eine derartige „Rechtsfortbildung“ und die Quellen, aus denen sich die Grundrechtsrechtsprechung speist, festzustellen. Nur vor diesem Hintergrund können Spannbreite, Adressaten und Verpflichtete, Anwendungsbereich sowie Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte untersucht werden. Das kasuistische Vorgehen des EuGH erschwert dabei eine Systematisierung. 1. Die Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts auf der Grundlage des Art. 220 EGV Der EWG-Vertrag von 1957 enthielt nicht nur keinen Grundrechtskatalog, sondern auch keinerlei ausdrücklichen Hinweis auf Grundrechte im Gemeinschaftsrecht oder auf eine Kompetenz der Gemeinschaftsorgane in diesem Bereich. Unter diesen Umständen wäre eine ausführliche dogmatische Herleitung durch den Gerichtshof zu erwarten gewesen, als dieser die Aufgabe übernahm, die Grundrechte in seiner Rechtsprechung zu entwickeln. Er hat jedoch darauf verzichtet und in seinen grundlegenden Entscheidungen die Grundrechte lediglich in sehr knappen Worten zu Bestandteilen der Gemeinschaftsrechtsordnung erklärt. Zum ersten Mal fanden die Gemeinschaftsgrundrechte Erwähnung im Urteil Stauder, in dem der EuGH von den „in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte(n) . . .“ sprach75. In den Folgeurteilen, beginnend mit der Entscheidung Nold, variierte er die Formulierung dahingehend, „dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat“76. Damit gibt der Gerichtshof zwar an, wie er die von ihm angewandten Grundrechte einordnet, nämlich als Bestandteile der – ungeschriebenen – 74
Siehe oben 1. Teil, B. III. 2. a). EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7. 76 EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13. Zur Bedeutung der terminologischen Unterschiede siehe sogleich in diesem Abschnitt. 75
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts. Er bezieht jedoch keine Stellung dazu, woher er die Befugnis herleitet, die Grundrechte vermittels der Rechtsprechung zu entwickeln. Nach allgemeiner Ansicht in der Literatur gründet sich eine solche Befugnis auf Art. 220 EGV, demzufolge der Gerichtshof „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des EG-Vertrags sichert77. Der Wortlaut der Vorschrift wird vom EuGH in seinen Formulierungen zur Herleitung der Grundrechte aufgegriffen. Art. 220 EGV ist zwar keine Kompetenznorm in dem Sinne, dass dem EuGH eine verfahrensrechtliche Zuständigkeit zugewiesen würde, vergleichbar dem Katalog der Verfahrensarten der Art. 226 ff. EGV. Die Vorschrift legt aber mit der allgemeinen Aufgabenzuweisung an den Gerichtshof den materiellen Rahmen seiner Rechtsprechungsbefugnisse fest78. Dieser materielle Rahmen ist – anders als der verfahrensrechtliche – weit gezogen; der Ausdruck „Recht“ in Art. 220 EGV ist umfassend, d. h. auch im Sinne von Rechtsstaatlichkeit, zu verstehen und reicht über die Normen des geschriebenen Gemeinschaftsrechts hinaus79. Indem er dieses Begriffsverständnis stillschweigend zugrunde legt, stützt sich der EuGH auf Art. 220 EGV, um Regelungslücken des geschriebenen Rechts durch ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze zu ergänzen. Eine explizite Kompetenz des EuGH für Grundrechte wurde erstmals durch den Vertrag von Amsterdam begründet. Art. 46 EUV regelt die Rechtsprechungszuständigkeit des Gerichtshofs für den Bereich des Unionsvertrags und bezieht dabei in lit. d) den Art. 6 Abs. 2 EUV mit ein. Art. 6 Abs. 2 EUV wiederum übernimmt fast wortgleich und sachlich übereinstimmend die standardmäßige Bezugsformel des EuGH zur Begründung der Gemeinschaftsgrundrechte, indem er festlegt, dass die Union die Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu achten habe. Gleichwohl handelt es sich bei Art. 46 lit. d) EUV nicht um eine echte, umfassende Befugnisnorm. Der EuGH wird zwar ausdrücklich zur Wahrung der 77 H. Krück in: GTE, Art. 164 EGV Rn. 26; J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91 ff.; J. Schwarze in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 14. Siehe auch G. Nicolaysen, Die gemeinschaftsrechtliche Begründung von Grundrechten, EuR 2003, S. 719, 722, der die materielle Legitimation des EuGH aus der Verwurzelung der Grundrechte in der rechtsstaatlichen Struktur der EG-Mitgliedstaaten ableitet. 78 R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 381. 79 R. Streinz, a. a. O., S. 382 f., weist darauf hin, dass dem vom EuGH gewählten, auf Art. 220 EGV basierenden Konstrukt der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeiner Rechtsgrundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung letztlich der Gedanke der Rechtsstaatlichkeit und damit die Konzeption der EG als Rechtsgemeinschaft zugrunde liegt. Ebenso J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 45 f.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Grundrechte verpflichtet, die Umsetzung der Vorschrift setzt aber eine ihm andernorts im Gemeinschaftsrecht oder im Unionsvertrag zugewiesene Kompetenz voraus („sofern der Gerichtshof . . . zuständig ist“)80. Zudem beschränkt Art. 46 lit. d) EUV die Rechtsprechungskompetenz auf die Überprüfung der Grundrechtskonformität von Handlungen der Gemeinschaftsbzw. Unionsorgane; Handlungen der Mitgliedstaaten werden nicht erwähnt. Folglich hat die Norm für den hier untersuchten Bereich der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht keine konstitutive Wirkung. Sie vollzieht über die Verweisungsnorm des Art. 6 Abs. 2 EUV lediglich die judizielle Einwirkung der Rechtsprechung nach81. Auch nach ihrer Einfügung in den Unionsvertrag folgt die Befugnis des Gerichtshofs zur Grundrechtsrechtsprechung daher weiterhin aus der ihm in Art. 220 EGV eingeräumten Zuständigkeit zur Wahrung des Rechts bei der Anwendung der Verträge82. Indem der Gerichtshof die Grundrechte den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts zuordnet, stellt er klar, dass sie die grundlegenden Eigenschaften dieser Normkategorie teilen. Bei den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen handelt es sich vom Prinzip her um Regelungen, die Lücken des geschriebenen Rechts ausfüllen und der Auslegung und Kontrolle des Gemeinschaftsrechts dienen sollen83. Ausdrück80 O. Dörr/U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 125 (2000), S. 386, 423; T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 32; H.-J. Cremer in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 46 EUV Rn. 1, 7. 81 So O. Dörr/U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 125 (2000), S. 386, S. 424. 82 Soweit der EuGH außerhalb des Gemeinschaftsrechts zur Überprüfung der Handlungen der Organe (= Unionsorgane) befugt ist, entfaltet Art. 46 lit. d) EUV hingegen konstitutive Wirkung, indem er Art. 6 Abs. 2 als richterlichen Prüfungsmaßstab aktiviert und Verstöße gegen die dort definierten Grundrechte gerichtlich überprüfbar macht. Dies betrifft vermittels der lit. b) und c) des Art. 46 EUV insbesondere Art. 35 und 40 EUV, vgl. H.-J. Cremer in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 46 EUV Rn. 8. 83 H. Krück in: GTE, Art. 164 EGV Rn. 22, differenziert unter Verweis auf die Terminologie des EuGH zwischen den „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ und den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ (vgl. die unterschiedlichen Formulierungen in den oben zitierten Urteilen Stauder und Nold). Die allgemeinen Grundsätze seien zur Interpretation des Gemeinschaftsrechts aus Geist und System des EGV entwickelt worden, während die allgemeinen Rechtsgrundsätze insbesondere der Lückenfüllung im geschriebenen Recht dienten und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sowie internationalen Regelungen zu entnehmen seien. Ebenso J. Schwarze in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 14 ff. W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 18 ff., zeigt allerdings, dass die Begriffe in der Rechtsprechung des EuGH keine Bedeutungsunterschiede bezeichnen. Art. 6 Abs. 2 EUV spricht von den Grundrechten als „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“, ohne dass auf diese Weise eine Abgrenzung gegenüber den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vorgenommen werden sollte; vielmehr wird eine der
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
liche Erwähnung im gemeinschaftlichen Primärrecht finden sie nur in Art. 288 Abs. 2 EGV, der für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft auf die „allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, verweist84. Die Tatsache, dass sie nicht schriftlich fixiert sind, bedeutet nicht, dass die Rechtsgrundsätze vom Gerichtshof erst „geschaffen“ werden müssen. Sie sind rechtsordnungsimmanent, d. h. den Richtern kommt keine rechtsschöpferische, sondern lediglich die rechtsanwendende Aufgabe zu, sie durch Bestimmung von Inhalt und Grenzen herauszuarbeiten und zu konkretisieren, auch wenn diese inhaltlichen Befugnisse sehr weitreichend sind85. Die Zugehörigkeit der Gemeinschaftsgrundrechte zu der Kategorie der allgemeinen Rechtsgrundsätze stellt daher auch klar, dass der EuGH diese in seiner Rechtsprechung nicht „geschaffen“ oder „erfunden“, sondern vielmehr „gesucht und gefunden“ hat86. Die Rechte werden dem Einzelnen nicht durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehen, sondern sind in ihrem Kern „vorgemeinschaftlich“ oder „vorkonstitutionell“87. Sie existieren unabhängig davon, dass der Gerichtshof sie in einer Entscheidung einer Person zuerkennt, also bereits vor dem richterlichen Ausspruch88. Formulierungen des EuGH übernommen. Im Folgenden wird in der Regel von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ gesprochen. 84 J. Schwarze in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 14, spricht von Art. 288 Abs. 2 EGV als einer „über den Bereich der gemeinschaftsrechtlichen Amtshaftung hinausreichenden ‚Modellnorm‘“. 85 G. Isaac, Droit communautaire général, S. 145: „. . . les principes généraux du droit sont des règles non écrites que le juge est réputé appliquer et non créer, même si la nécessaire constatation préalable qu’il doit en faire est, en réalité, largement créatrice.“. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts sind angelehnt an das Konzept der „principes généraux du droit“ des französischen Verwaltungs- und Verfassungsrechts, vgl. B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 865 f. De Witte spricht auch von „the esoteric nature of the ‚general principles‘ doctrine“ unter Hinweis darauf, dass dem Gerichtshof ein sehr weiter Spielraum bei der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte zukommt (a. a. O., S. 891). 86 U. Fink, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Amsterdamer Vertrag, in: Kluth, Die Europäische Union nach dem Amsterdamer Vertrag, S. 57, 63. 87 So S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 24 f., der anmerkt, dass es insofern problematisch sei, den Terminus „Gemeinschaftsgrundrechte“ zu verwenden. Dieser suggeriere, dass diese Rechte dem Einzelnen erst vermittels der Rechtsordnung verliehen würden, während dies auf die Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung gerade nicht zutreffe. 88 J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 168 ff.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Mit der Einordnung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze wird zugleich auch eine Abgrenzung gegenüber anderen Rechtskategorien vorgenommen. Greift der Gerichtshof zur Entwicklung von Grundrechten auf die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze zurück, so ist dies als Hinweis darauf zu werten, dass das sonstige Gemeinschaftsrecht, einschließlich der Verträge als gemeinschaftliches Primärrecht, vom Grundsatz her keine grundrechtlichen Gewährleistungen enthält. Anderenfalls ergäbe sich nicht die Notwendigkeit, auf ungeschriebene Rechtsgrundsätze als „Lückenfüller“ zurückzugreifen. 2. Die Differenzierung zwischen Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte Materiell-rechtliche Kompetenzgrundlage für die Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofs ist Art. 220 EGV. Rechtsquelle für die Entwicklung der Grundrechte sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Daneben wird inzwischen auch Art. 6 Abs. 2 EUV als Rechtsquelle herangezogen. Teilweise wird sogar vertreten, dass es nur noch auf diese Vorschrift ankomme, da sie durch Übernahme der Rechtsprechung in den Unionsvertrag den Rückgriff auf die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze überflüssig mache89. Hiergegen spricht jedoch, dass Art. 6 Abs. 2 EUV durch seine Verortung im Unionsvertrag kein „Gemeinschafts“-Recht im engen Sinne darstellt und insofern einen begrenzteren Wirkungsbereich als die allgemeinen Rechtsgrundsätze entfaltet90. Auch der EuGH geht nicht von einer Ablösung der allgemeinen Rechtsgrundsätze durch Art. 6 Abs. 2 EUV als jetzt alleiniger Rechtsquelle aus. In seiner jüngeren Rechtsprechung verweist er in der Regel auf beide Rechtsquellen91. Von den unmittelbar bindenden Rechtsquellen zu unterscheiden sind die sog. Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte. Mit diesem außerhalb des Gemeinschaftsrechts kaum verwendeten Terminus werden die für die Auslegung und Konkretisierung des Begriffs „Grundrechte“ maß89 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 33; ders., Die Gemeinschaftsgrundrechte, JuS 2000, S. 857, 859. 90 J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 588 f.; O. Dörr/U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 125 (2000), S. 386, 424 f. H. Lecheler, Der Beitrag der allgemeinen Rechtsgrundsätze zur Europäischen Integration – Rückblick und Ausblick, ZEuS 2003, S. 337, 343, merkt zu Art. 6 Abs. 2 EUV an, dass die Bestimmung die Probleme nicht ausräume, sondern sie eher sichtbar mache. 91 Z. B. EuGH, Rs. 415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921, Rn. 79; EuGH, Rs. C-7/98, Krombach, Slg. 2000, S. I-1935, Rn. 27; EuGH, Rs. 274/99 P, Connolly, Slg. 2001, S. I-1611, Rn. 37 f.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
gebenden normativen Vorgaben umschrieben92. Bereits aus dem Wortsinn und in Abgrenzung vom Begriff der Rechtsquellen ergibt sich, dass mit Rechtserkenntnisquellen Quellen gemeint sind, die der Inspiration bei der Grundrechtsentwicklung dienen, denen aber keine unmittelbare Verbindlichkeit zukommt. Eine Rechtsquelle zur Ableitung der Gemeinschaftsgrundrechte ist zwingend erforderlich, um den rechtsstaatlichen Charakter der Gemeinschaft zu wahren; Grundrechte können in einem auf dem Recht basierenden, mit Hoheitsrechten ausgestatteten Staatenzusammenschluss nicht frei durch die Judikative erschaffen werden. Rechtserkenntnisquellen hingegen sind Hilfestellungen, auf die zweckmäßiger Weise bei der Herausarbeitung der Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgegriffen wird. Anders als die Rechtsquellen binden sie nicht direkt, sondern erzielen normähnliche Wirkung im Wege einer Orientierungsfunktion für die Auslegung der Rechtsquelle93. Ausgangspunkt für die Entwicklung der Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte ist wiederum die Rechtsprechung des Gerichtshofs. In dem obiter dictum in der Stauder-Entscheidung erwähnte der EuGH zunächst nur die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle der Grundrechte, ohne auf mögliche Rechtserkenntnisquellen einzugehen94. In dem Urteil Internationale Handelsgesellschaft zog er mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten eine erste Erkenntnisquelle zur materiellen Stützung der Grundrechtsprüfung heran95. Als zweite Erkenntnisquelle etablierte er in der Rechtssache Nold die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an denen die Mitgliedstaaten beteiligt sind96. In der anschließenden Rechtsprechung, beginnend mit dem Urteil Hauer, nahm der Gerichtshof sodann direkt auf die Europäische Menschenrechtskonvention Bezug und betonte immer wieder die ihr zukommende besondere Bedeutung97. Andere internationale Menschenrechtsverträge wie 92
So T. Kingreen, Die Gemeinschaftsgrundrechte, JuS 2000, S. 857, 859. Vgl. J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 589, mit weiterführenden Hinweisen zur Herleitung des Begriffs der „Rechtserkenntnisquellen“. 94 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7. 95 EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4. 96 EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13. Das Urteil Nold erging wenige Tage, nachdem Frankreich als letzter EG-Mitgliedstaat der EMRK beigetreten war, was darauf hindeutet, dass der EuGH bis zu diesem Zeitpunkt gewartet hat, um die internationalen Menschenrechtsverträge in den Kanon der Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte aufzunehmen, vgl. B. Beutler in: GTE, Art. F EUV Rn. 69. 97 EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 15. Die besondere Bedeutung der EMRK betont der EuGH beispielsweise in den Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 13, 18; Rs. 97 bis 99/87, Dow Chemical Iberia, 93
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte tauchen in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH nur ganz vereinzelt und als pauschale Verweise auf98, genauso wie weitere mögliche Inspirationsquellen, deren Eigenschaft als Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte diskutiert wird. 3. Die verschiedenen Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte Die Rechtsprechung des EuGH zu den Rechtserkenntnisquellen hat Niederschlag gefunden in Art. 6 Abs. 2 EUV, demzufolge die Union die Grundrechte „achtet . . . wie sie in der . . . Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“99. EMRK und Verfassungsüberlieferungen erweisen sich damit als wichtigste Rechtserkenntnisquellen, deren Verhältnis zueinander zu erläutern ist. Über diese beiden in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Anknüpfungspunkte hinaus werden weitere mögliche Erkenntnisquellen für die Gemeinschaftsgrundrechte diskutiert. a) Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten Bei den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten handelt es sich um die erste vom EuGH herangezogene Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte. Der Begriff „Verfassungsüberlieferungen“ ist unter Berücksichtigung der englischen und französischen Sprachfassungen im Sinne von „Verfassungstraditionen“ zu verstehen100. Dieser Slg. 1989, S. 3165, Rn. 14 ff.; Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I-2925, Rn. 41; Gutachten 2/94, Beitritt der EG zur EMRK, Slg. 1996, S. I-1759, Rn. 33; Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 71. 98 Siehe z. B. EuGH, Rs. 374/87, Orkem, Slg. 1989, S. 3283, Rn. 31. 99 Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EUV ist in der deutschen Fassung missverständlich formuliert, da der Zusatz „als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ sich vom Sprachsinn nur auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen bezieht. Aus den anderen Sprachfassungen geht klar hervor, dass sich der Zusatz auf die Grundrechte allgemein beziehen soll. So steht in der französischen und englischen Fassung ein Komma vor „en tant que principes généraux du droit communautaire“ bzw. „as general principles of Community law“. Vgl. W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 110 f. 100 In der englischen und französischen Sprachfassung ist die Rede von den Rechten, die sich ergeben „from the constitutional traditions common to the Member States“ bzw. „des traditions constitutionelles communes aux Etats membres“.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Ausdruck umschreibt zutreffender, dass es nicht um die Bezugnahme auf einzelne Normen, sondern auf eine Verfassungsordnung insgesamt geht101. In seinen Urteilen verweist der Gerichtshof beispielsweise darauf, dass „die Verfassungsordnung aller Mitgliedstaaten“ ein bestimmtes Grundrecht schützt102, dass zur Herleitung eines Gemeinschaftsgrundrechts Hinweise zu beachten seien, die den Verfassungsnormen und der Verfassungspraxis der Mitgliedstaaten zu entnehmen seien103, auf die „gemeinsamen Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten“104 oder allgemein auf die „Rechtsordnungen“ oder „Rechtssysteme“ der Mitgliedstaaten105. Er bezieht sich somit – wie vor allem auch aus den rechtsvergleichenden Vorarbeiten in den Schlussanträgen der Generalanwälte hervorgeht – nicht nur auf Verfassungsnormen, sondern auch auf die Verfassungspraxis oder -wirklichkeit, wie sie insbesondere in gesetzlichen Regelungen ihren Ausdruck gefunden hat und aus der nationalen Verfassungsrechtsprechung abzuleiten ist106. Verfassungsrechtlichen Regelungen wird allerdings ein besonderer Stellenwert eingeräumt107. Einzelne nationale Grundrechte werden grundsätzlich nicht als Maßstab zitiert108. Das Vorgehen des Gerichtshofs bei der Herausarbeitung der gemeinsamen Verfassungstraditionen wird allgemein als wertende Rechtsvergleichung umschrieben109. Ohne nationale Grundrechtsgehalte unmittelbar in die Ge101 E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 110. 102 EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13 f. 103 EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 20. 104 EuGH, Rs. 44/79, Hauer, a. a. O., Rn. 22. 105 EuGH, Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 17; Rs. 347/87, Orkem, Slg. 1989, S. 3283, Rn. 29. Vgl. auch die bei W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 32, aufgeführten Zitate aus der EuGHRechtsprechung zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. 106 Siehe z. B. die Schlussanträge von Generalanwalt Warner in der Rs. 130/75, Prais, Slg. 1976, S. 1589, 1604; Schlussanträge von Generalanwalt Reischl, Rs. 41, 121 und 796/79, Testa, Slg. 1980, S. 1979, 2010; Schlussanträge von Generalanwalt Mischo, Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2875, Ziff. 49 ff. 107 Vgl. die Ausführungen von Generalanwalt Darmon in den Schlussanträgen in der Rs. 347/87, Orkem, Slg. 1989, S. 3283, Ziff. 117, der zur Begründung dafür, dass der Grundsatz, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht hinreichend ausgeprägt sei, anführt, dass teilweise nur gesetzliche Regelungen bestünden. 108 Der Verweis auf die deutsche, italienische und irische Eigentumsgarantie in der Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 20, ist eine Ausnahme; zudem zieht der EuGH hier aus den genannten Normen keine direkten Schlüsse. 109 So erstmals Generalanwalt K. Roemer in den Schlussanträgen in der Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Ziff. 7. Siehe dazu auch B. Beutler in: GTE, Art. F EUV Rn. 68; T. Oppermann, Europarecht, Rn. 405; A. Bleckmann, Die wertende Rechtsvergleichung bei der Entwicklung europäischer Grundrechte, in: FS Börner, S. 29 ff.; I. Pernice/F. Mayer in: Grabitz/Hilf, nach Art. 6 EUV
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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meinschaftsrechtsordnung zu übernehmen, werden gemeinsame Wertvorstellungen ausgehend von den nationalen Verfassungen ermittelt und durch die Rechtsprechung zu einem Gemeinschaftsgrundrecht konkretisiert. Bei diesem Ermittlungsvorgang geht es nicht darum, einem eventuell durch eines der nationalen Grundrechte vorgegebenen Maximalstandard gerecht zu werden oder – als anderes Extrem – lediglich einen Minimalstandard zu wahren. Vielmehr erarbeitet der Gerichtshof eine eigene gemeinschaftsrechtliche Lösung, die den rechtsstaatlichen Anspruch, die Grundrechte auf dieser Rechtsebene zu wahren, erfüllt110. Die grundrechtseinschränkende Hoheitsgewalt in der Gemeinschaftsrechtsordnung ist an spezifisch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben gebunden und findet ebenso spezifische Gefährdungs- und Kollisionslagen vor, denen sie gerecht werden muss. Trotz der Umschreibung der Vorgehensweise als wertende Rechtsvergleichung sind allerdings klassische rechtsvergleichende Ausführungen in den EuGH-Urteilen in der Regel nicht zu finden. Der Gerichtshof legt nicht die verschiedenen nationalen Grundrechtsbestimmungen und deren Anwendungspraxis dar und analysiert und bewertet ihre Vorzüge und Nachteile, um dann in einem zweiten Schritt nach einer gemeinschaftsrechtlichen Lösung zu suchen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass zwangsläufig keine Rechtsvergleichung stattfindet, es ist ebenso möglich, dass die den Urteilen zugrunde liegende Rechtsvergleichung nur nicht offen gelegt wird111. Ausführliche rechtsvergleichende Erwägungen finden sich teilweise in den Schlussanträgen der Generalanwälte112. Rn. 13 ff. Zur Herausarbeitung ungeschriebener Grundrechte siehe auch D. Crump, How do the Courts really discover unenumerated Fundamental Rights? Cataloguing Methods of Judicial Alchemy, Harvard Journal of Law & Public Policy 1996, S. 795 ff. 110 Siehe zur Problematik eines Minimal- oder Maximalstandards in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH die Zusammenstellung bei W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 48 ff. Vgl. auch H. Krück in: GTE, Art. 164 EGV Rn. 29, R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 400 ff. 111 Vgl. T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 41: „Der Rechtsprechungsinterpret bekommt das fertige Produkt vorgesetzt, erfährt aber fast nichts über dessen Entstehungsprozess. Der EuGH nennt nämlich zwar durchweg eine oder beide Rechtserkenntnisquellen, widmet sich aber nach der Feststellung, dass diese ein relevantes Grundrecht kennen, unmittelbar dem konkreten Sachverhalt.“ Siehe auch C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 61, der neben der Herkunft der Richter auf die rechtsvergleichende Arbeit des Dokumentationsdienstes des Gerichtshofs und die mit Büchern zum innerstaatlichen Recht ausgestattete Bibliothek des EuGH verweist. Ausführlich zu Aufbau und Begründung der EuGH-Urteile siehe unten im 3. Teil, II. 4. 112 Siehe beispielsweise EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, 2884 ff. (Rn. 49 ff. der Schlussanträge des Generalanwalts Mischo) zum
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Neben dem Herausfiltern des Grundrechts aus den Verfassungstraditionen stellt das Einpassen in die Besonderheiten der supranationalen Rechtsordnung einen wichtigen Teil des richterlichen Konkretisierungsprozesses dar. Der Gerichtshof bezeichnet diesen Vorgang als Einfügen der grundrechtlichen Gewährleistung „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft“113. Der normative Erkenntnisprozess bei der Herausarbeitung der Grundrechte wird bestimmt durch vergleichende Rückkoppelung und Wechselwirkung zwischen nach den Verfassungstraditionen zu achtenden Grundrechten als Basismaterial einerseits und gemeinschaftsrechtsimmanenten Erwägungen als Maßstab für Auswahl und Inhalt andererseits114. Auch hieran zeigt sich, dass sich der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz nicht in ein allein am Standard der Rechtserkenntnisquellen orientiertes Schema des Minimaloder Maximalstandards einfügen lässt. Die mögliche Spannung zwischen Zielen und Struktur der Gemeinschaft auf der einen Seite und den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes auf der anderen Seite kann eine andere – engere oder weitere – Begrenzung von Individualrechten gegenüber den Gemeinschaftsinteressen bedingen115. b) Die Europäische Menschenrechtskonvention Als zweite Inspirationsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte nennt Art. 6 Abs. 2 EUV die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Wortlaut der Vorschrift verengt den Ansatz des Gerichtshofs, der in seiner Grundrechtsrechtsprechung regelmäßig davon spricht, dass die „internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind“, Hinweise zur Herausarbeitung geben könnten, und daran anschließend die „besondere Bedeutung“ der EMRK betont116. In seiner neueren Rechtsprechung verweist der Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung und seiner Anwendbarkeit auf Geschäftsräume. Vgl. auch J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 61, der hinweist auf rechtsvergleichende Darstellungen in den Schlussanträgen bei der Erörterung der Frage, ob ein Grundrecht überhaupt auf Gemeinschaftsebene gilt. Zudem führt er den rechtsvergleichenden Sachverstand der Richter an; hierzu auch H.-W. Daig, Zur Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Zweigert, S. 413. 113 So erstmals EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4. Siehe zu dem Einfügungsgebot oben 1. Teil, B. III. 2. c). 114 G. Ress/J. Ukrow, Neue Aspekte des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft, EuZW 1990, S. 499, 500. Vgl. auch J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 591, der das Einfügen in die Gemeinschaftsrechtsordnung als „Interpretationsmaxime für den gesamten Konkretisierungsprozess“ bezeichnet. 115 Vgl. H. Krück in: GTE, Art. 164 EGV Rn. 29.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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EuGH im Anschluss an diese Formel zusätzlich auf die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte und auf Art. F Abs. 2 EUV und zitiert den Wortlaut des jetzigen Art. 6 Abs. 2 EUV117. Die Kodifikation in Art. 6 Abs. 2 EUV setzt sozusagen die in der Rechtsprechung betonte besondere Bedeutung um, indem sie unter den internationalen Menschenrechtsverträgen nur die EMRK nennt. Die besondere Bedeutung, die der EuGH der EMRK als Rechtserkenntnisquelle zumisst, kommt in zahlreichen Entscheidungen zum Ausdruck. So betont er, dass „die leitenden Grundsätze dieser Konvention im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen“ sind118 und „in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die mit der Bedeutung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind“119. Über diese insbesondere in früheren Urteilen benannten „leitenden Grundsätze“ hinaus nimmt er inzwischen unmittelbar Bezug auf einzelne EMRK-Rechte und integriert sie in seine Grundrechtsprüfung, was er mit nationalen Grundrechten gerade nicht macht120. Teilweise sind seine Formulierungen bei der Bezugnahme auf die Menschenrechtskonvention so gestaltet, dass der Eindruck erweckt wird, die EMRK-Rechte seien unmittelbarer Bestandteil des Gemeinschaftsrechts121. Trotz direkterer Bezugsformeln und der teilweisen Konkretisierung von Gemeinschaftsgrundrechten unmittelbar anhand einzelner Konventionsrechte hat der EuGH bislang jedoch durchgängig daran festgehalten, dass diese Rechte über das Gemeinschaftsrecht und dessen allgemeine Rechtsgrundsätze vermittelt wer116
Ständige Rechtsprechung des EuGH, z. B. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 13; Gutachten 2/94, Beitritt der EG zur EMRK, Slg. 1996, S. I-1759, Rn. 33. 117 So beispielsweise EuGH, Rs. C-94/00, Roquette Frères, Slg. 2002, S. I-9011, Rn. 23 f.; EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 71 f. (hier nur Erwähnung des Art. F Abs. 2, nicht des neuen Art. 6 Abs. 2 EUV); EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00, Booker Aquaculture, Slg. 2003, S. I-7411, Rn. 65 f. 118 EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 18. 119 EuGH, Rs. C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, S. I-2629, Rn. 15; EuGH, Rs. C-309/96, Annibaldi, Slg. 1997, S. I-7493, Rn. 12. 120 Siehe beispielsweise EuGH, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I-3689, Rn. 26; EuGH, Rs. C-404/92 P, X/Kommission, Slg. 1994, S. I-4737, Rn. 17; EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 77. 121 Verwirrend z. B. EuGH, Rs. C-404/92 P, X/Kommission, Slg. 1994, S. I-4737, Rn. 17: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes stellt das in Artikel 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens, das sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten herleitet, ein von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschütztes Grundrecht dar.“ Siehe auch M. Hilf, Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1199 ff. Vgl. zur direkten Bindung an die EMRK im Folgenden unter 4.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
den, also rechtsordnungsimmanent sind und nicht von außen übernommen werden122. Vor allem bei der Konturierung der sachlichen Schutzbereiche der Gemeinschaftsgrundrechte, die mangels eines verbindlichen geschriebenen Katalogs schwierig ist, zeigt sich die besondere Bedeutung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle. Der Gerichtshof greift hier inzwischen nicht nur auf die Konventionsgarantien, sondern zur Begründung seiner Ergebnisse auch auf die „etablierte und differenzierte Rechtsprechung“ des EGMR123 zurück124. Allerdings erfolgt auch dies im Wege einer Orientierung, ohne dass er sich unmittelbar an einen bestimmten, durch die EMRK und den Straßburger Gerichtshof vorgegebenen Standard gebunden fühlt. Für die Rechte, die auf Vorgaben aus der EMRK und der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs basieren, gilt ebenso, dass sie sich in „Struktur und Ziele der Gemeinschaftsrechtsordnung“ einfügen müssen. Der Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht ist also nicht akzessorisch zu den Rechtserkenntnisquellen. Eine vertieftere Analyse der Rezeption der EMRK in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs und der Frage des anwendbaren Standards erfolgt im dritten Teil der Arbeit125. c) Verhältnis der beiden in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen zueinander Art. 6 Abs. 2 EUV nennt die Menschenrechtskonvention als Rechtserkenntnisquelle vor den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der EMRK grundsätzlich eine höhere Bedeutung als den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen zuzumessen ist. Die beiden Rechtserkenntnisquellen ergänzen sich vielmehr. Mit der EMRK liegt ein Katalog von Rechten vor, der bei der Herausarbeitung der Gemeinschaftsgrundrechte auf einfachere Weise nutzbar gemacht werden kann als die gemeinsamen Verfassungstraditionen. Den verschiedenen Verfassungen der Mitgliedstaaten und den zu ihrer Auslegung berufenen Gerichten steht ein einheitlicher, für alle Mitgliedstaaten gültiger Normtext mit einem Quasi-Verfassungsgericht, das zur verbindlichen Entscheidung und Auslegung berufen ist, gegenüber. Zweckmäßigkeitserwägungen legen unter diesen Umständen den Rückgriff auf die EMRK nahe, denn damit erübrigt 122
B. Beutler in: GTE, Art. F Rn. 70. So T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 66. 124 Beispielsweise EuGH, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I-3689, Rn. 26; EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 79; EuGH, Rs. C-94/00, Roquette Frères, Slg. 2002, S. I-9011, Rn. 29. 125 Siehe die Gegenüberstellung der EuGH- und EGMR-Urteile im 3. Teil unter B. 123
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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sich der Vorgang der wertenden Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen126. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Verfassungstraditionen dadurch gänzlich an Bedeutung verlören. Die EMRK ist ihrerseits aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen entstanden127, und diese beeinflussen ihre Auslegung maßgeblich, so dass eine indirekte Rückkoppelung stattfindet. Direkt kommen die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen in Bereichen zum Tragen, die mangels einer entsprechenden Gewährleistung nicht von der EMRK abgedeckt sind128. Folglich lässt sich nicht festlegen, dass eine der beiden in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen der anderen vorgeht. Sie sind aufeinander bezogen und ergänzen sich, ohne dass einer grundsätzlich der Vorzug eingeräumt würde129. Zu verzeichnen ist allerdings, dass die Bedeutung der EMRK und auch der Judikatur des EGMR in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs im Laufe der Jahre angestiegen ist. Hierin spiegeln sich die zunehmenden Interdependenzen der beiden Rechtsordnungen wider. d) Weitere Rechtserkenntnisquellen – Primärrecht, „soft law“, Grundrechte-Charta, internationale Menschenrechtsverträge? Keine Einigkeit besteht darüber, ob über die in Art. 6 Abs. 2 EUV festgelegten Rechtserkenntnisquellen hinaus weiteren Rechtstexten der Status einer Erkenntnisquelle für die Gemeinschaftsgrundrechte zuzusprechen ist. 126 C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 327. 127 Vgl. den 5. Erwägungsgrund der Präambel der EMRK. S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 33, bezeichnet die EMRK als das „Kondensat der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen“ der Mitgliedstaaten. 128 Zu den Gewährleistungslücken der EMRK siehe oben 2. Teil, A. I. 4. Als Beispiel für eine solche Gewährleistungslücke kann auf die Berufsfreiheit verwiesen werden, dazu EuGH, Rs. C-200/96, Metronome Musik GmbH, Slg. 1998, S. I-1971, Rn. 21; umfassend J. Günter, Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union. 129 G. Ress/J. Ukrow, Neue Aspekte des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft, EuZW 1990, S. 499, 501 („Gleichrangigkeit der beiden Rechtsermittlungsquellen“ im Zusammenhang mit dem Hoechst-Urteil des EuGH); W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 39 f.; I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofs, S. 71 ff. – C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290, 327 f., und T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 40, 41 ff., betonen beide die herausgehobene Stellung der EMRK gegenüber den Verfassungsüberlieferungen. S. Gerstner/S. Goebel, Grundrechtsschutz in Europa, Jura 1993, S. 626, 629, vertreten demgegenüber die Auffassung, die nationalen Verfassungsüberlieferungen seien von größerer Bedeutung als die EMRK.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
In Betracht kommen hierfür vor allem die Grundsätze des geschriebenen Gemeinschaftsrechts sowie das „soft law“, unter das auch die noch nicht verbindliche Grundrechte-Charta fällt. Hinsichtlich des gemeinschaftlichen Primärrechts wird insbesondere auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verwiesen. Der EuGH erkennt die Geltung dieses Grundrechts in der Gemeinschaftsrechtsordnung an, konnte bisher als Erkenntnisquelle aber nicht die EMRK heranziehen, da diese keine allgemeine Gleichheitsgarantie, sondern nur ein akzessorisches Diskriminierungsverbot enthielt130. Zur Begründung stützt er sich auch nicht auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, sondern verweist vielmehr auf die besonderen Diskriminierungsverbote des Primärrechts, die er als „spezifischen Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört“, bezeichnet131. Aus dieser Rechtsprechung werden Rückschlüsse im Hinblick auf den Status des Primärrechts als genereller Erkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte gezogen132. Die spezifische Rechtsprechung zum Gleichheitsgrundsatz, der ein von der Struktur her anderes Grundrecht als die Freiheitsrechte abwehrrechtlichen Charakters darstellt, erscheint jedoch im Hinblick auf eine derartige Generalisierung nicht geeignet, zumal aus den Formulierungen des EuGH zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nicht hervorgeht, wie er die angeführten primärrechtlichen Vorschriften methodisch einordnet133. Auch sprechen generelle Einwände dagegen, das geschriebene Gemeinschaftsrecht als Rechtserkenntnisquelle heranzuziehen. Sollen die Gemeinschaftsgrundrechte die Lücke schließen, die durch die Nichtanwendbarkeit innerstaatlicher Grundrechte verursacht ist und die durch das Gemeinschaftsrecht selbst nicht ausgefüllt wird, so wird damit implizit davon ausgegangen, dass ihr „wesentliches Normprogramm“ gerade nicht im Primärrecht enthalten oder angelegt ist. Denn soweit das geschrie130
Zum inzwischen in Kraft getretenen 12. Zusatzprotokoll, das den allgemeinen Gleichheitssatz enthält, siehe oben 2. Teil, A. I. 4. 131 So der EuGH in ständiger Rechtsprechung seit verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, S. 1753, Rn. 7 (ausgehend von dem speziellen Diskriminierungsverbot in Art. 34 Abs. 3 EGV); siehe auch EuGH, verb. Rs. C- 267/88 bis 285/88, Wuidart, Slg. 1990, S. 435, Rn. 13; EuGH, Rs. C- 280/93, Deutschland/ Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 67. 132 So z. B. W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 27 ff., der über das Primärrecht hinaus auch auf das Sekundärrecht als Inspirationsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte verweist. I. Pernice, Gemeinschaftsverfassung und Grundrechtsschutz, NJW 1990, S. 2409, 2413, verweist auf das Grundrecht der Handelsfreiheit, das sich aus den Grundfreiheiten des EG-Vertrags ableiten lasse. 133 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 36, sagt, es sei methodisch unklar, ob die primärrechtlichen Vorschriften im Wege der Analogie oder als Rechtserkenntnisquellen herangezogen würden.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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bene Recht selbst den Maßstab darstellt oder vorgibt, erübrigt sich die Rechtsfortbildung durch Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze134. Demnach können die Vertragsvorschriften grundsätzlich keine Aussagen über Inhalt und Reichweite der Gemeinschaftsgrundrechte treffen. Zu dem gemeinschaftlichen „soft law“ im Grundrechtsbereich werden insbesondere die Gemeinsame Erklärung der Gemeinschaftsorgane vom 5.4.1977135, die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte, die auf die Grundrechte in der Gemeinschaft Bezug nimmt, und die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlamentes vom 12.4.1989136 gezählt. Trotz gelegentlichen Verweises auf diese Rechtstexte in der Rechtsprechung des EuGH137 handelt es sich hierbei nicht um eigenständige Rechtserkenntnisquellen zur inhaltlichen Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte. Die Erklärungen setzen die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte voraus. Daher kann ihnen nur insofern rechtliche Relevanz beigemessen werden, als sie die Rechtsfortbildung des Gerichtshofs im Nachhinein bestätigen und die Bindung der Gemeinschaftsorgane bekräftigen138. Dem Bürger werden hierdurch keine Rechte gewährt, die er nicht schon vorher hatte. Zudem gehen die Verweise in der Rechtsprechung über bloße Bezugnahmen nicht hinaus; der Gerichtshof leitet keine konkreten Rechte aus den Erklärungen ab139. Die Grundrechte-Charta ist als gemeinschaftliches „soft law“ im weiteren Sinne einzuordnen140. Sie ist bislang noch nicht rechtsverbindlich und wird auch in der überarbeiteten Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV nach dem Vertrag von Nizza nicht neben der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen aufgeführt. Die Generalanwälte haben in ihren Schluss134 T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 273. 135 ABl. C 103/1977, S. 1. 136 Abgedruckt in EuGRZ 1989, 204 ff. 137 EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 15; EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 18. 138 So T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 273. Siehe auch M. Hilf, Die gemeinsame Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. April 1977, EuGRZ 1977, S. 158, 160. Einige Autoren zählen hingegen das „soft law“ zu den Rechtserkenntnisquellen der Grundrechte, vgl. z. B. I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofs, S. 69 f., I. Pernice, Gemeinschaftsverfassung und Grundrechtsschutz, NJW 1990, S. 2409, 2414 f. 139 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 18, wo der Gerichtshof auf die Gemeinsame Erklärung von 1977 nur verweist, um die Bedeutung der EMRK hervorzuheben. 140 Vgl. C. Calliess, Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 34.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
anträgen ebenso wie das Gericht erster Instanz in seinen Urteilen bereits vielfach zur Herleitung bestimmter Grundrechte auf die Charta Bezug genommen141. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs fand sie hingegen keine Erwähnung142. Lediglich in einem Urteil aus dem Jahr 2006 hat der EuGH die Charta erwähnt, dabei aber ausdrücklich klargestellt, dass es sich um ein nicht bindendes Rechtsinstrument handelt143. Insofern kommt die Grundrechte-Charta, wie das übrige gemeinschaftliche „soft law“, als eigenständige Rechtserkenntnisquelle nicht in Betracht144. Gleichwohl geht sie in ihrer Bedeutung bereits jetzt über die übrigen Grundrechtserklärungen weit hinaus. Als „das auf die Strukturen des Gemeinschaftsrechts zugeschnittene Konzentrat der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“, das sich zugleich eng an die Menschenrechtskonvention anlehnt145, lässt sie sich wiederum auf die beiden in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen zurückführen und fließt so, wenn auch indirekt und in differenzierter Form, bereits in die Rechtsprechung des EuGH ein146. 141 Z. B. Generalanwalt Alber in der Rs. C-340/99, TNT Traco, Slg. 2001, S. I-4109, Ziff. 94 der Schlussanträge; Generalanwalt Tizzano in der Rs. C-173/99, BECTU, Slg. 2001, S. I-4881, Ziff. 26 ff. der Schlussanträge; Generalanwalt Geelhoed in der Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, S. I-7091, Ziff. 59 der Schlussanträge; Generalanwalt Léger in der Rs. C-353/99 P, Rat/Heidi Hautala, Slg. 2001, S. I-9565, Ziff. 80 ff. der Schlussanträge; Generalanwalt Poiares Maduro in der Rs. C-160/03, Spanien/Eurojust, Slg. 2005, S. I-2077. Gericht erster Instanz: Rs. T-54/99, max mobil, Slg. 2002, S. II-313, Rn. 48; Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke, Slg. 2001, S. II-729, Rn. 15 und 76; Rs. T-177/01, Jégo-Quéré, Slg. 2002, S. II-2365, Rn. 42. 142 Damit widerlegt der EuGH die Kommission, die in einer Mitteilung davon ausgegangen war, dass der Gerichtshof die Charta als Teil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts auslegen und diese dadurch rechtsverbindlich werde, vgl. Mitteilung der Kommission vom 11.10.2000, Zum Status der GrundrechteCharta der Europäischen Union, KOM (2000) 644 endg., S. 6. 143 EuGH, Rs. C-540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, S. I-5769, Rn. 38. Die Charta wurde in diesem Urteil auch nur deswegen vom EuGH erwähnt, weil er eine Klage gegen eine Richtlinie zum Recht auf Familienzusammenführung prüfte, in deren Begründungserwägung die Charta in Bezug genommen wird. J. F. Lindner, Grundrechtsschutz gegen gemeinschaftsrechtliche Öffnungsklauseln, EuZW 2007, S. 71, spricht von einer „mittelbaren Rechtserheblichkeit“, die der EuGH mit diesem Urteil erstmals der Charta zuweise. 144 So auch T. Schmitz, Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 833, 835. 145 So T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 40b. Vgl. auch den 6. Erwägungsgrund der Präambel der Grundrechte-Charta, in dem auf die Gemeinsamen Verfassungstraditionen, die EMRK und auch auf die Rechtsprechung des EGMR verwiesen wird. 146 J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 593, bezeichnet die Charta als „Kondensat eines rechtsvergleichenden Status quo“.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Sofern der Gerichtshof vereinzelt auf andere internationale Menschenrechtsverträge als die EMRK verweist, geschieht dies, ähnlich wie bei den oben genannten Grundrechtserklärungen, nur in Form eines pauschalen Verweises, ohne dass diese, wie die EMRK, mit den Verfassungsüberlieferungen als Erkenntnisquellen gleichgestellt würden147. Trotz der ursprünglichen Formulierung von den „internationalen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind“148, nutzt der Gerichtshof unter diesen nur die Europäische Menschenrechtskonvention als eigenständige Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte149. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Luxemburger Gerichtshof bei der Wahl der Rechtserkenntnisquellen für die Herausarbeitung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeiner Rechtsgrundsätze grundsätzlich frei ist und keinen Einschränkungen unterliegt. Dies ergibt sich bereits aus dem Begriff „Rechtserkenntnisquelle“, der deutlich macht, dass es um Inspiration und Orientierung an bestimmten, außerhalb des Gemeinschaftsrechts liegenden Vorgaben geht, mit denen aber gerade keine bindende Wirkung verbunden ist. Als eigenständige Rechtserkenntnisquellen hat der EuGH allerdings tatsächlich nur die gemeinsamen Verfassungstraditionen und die EMRK herangezogen, während er auf andere Rechtstexte in der Regel nur allgemein verweist. Damit steht seine Rechtsprechung in Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 2 EUV, auf den der Gerichtshof seit dessen Einführung in den Unionsvertrag auch verweist. Von der Diskussion um die Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte zu unterscheiden ist die Frage, ob sich über die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts hinaus weitere Rechtsquellen für die Grundrechte erschließen lassen, insbesondere ob auch im gemeinschaftlichen Primärrecht grundrechtliche Gewährleistungen verankert sind. Hierauf wird nachfolgend im Rahmen des Überblicks über die Gemeinschaftsgrundrechte und der Abgrenzung zu anderen nicht-grundrechtlichen Gewährleistungen im Gemeinschaftsrecht eingegangen. 147 EuGH, Rs. 374/87, Orkem, Slg. 1989, S. 3283, Rn. 31, sowie EuGH, Rs. C-60/92, Otto BV, Slg. 1993, S. I-5683, Rn. 11, in denen auf Art. 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte verwiesen wird. Siehe dazu H. Krück in: GTE, Art. 164 EGV Rn. 35. 148 EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13. 149 W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 38, führt an, dass die gleichwertige Berücksichtigung weltweiter völkerrechtlicher Verträge bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze die Gefahr einer Fremdbestimmung über den Gemeinschaftsrechtsraum mit sich brächte, da dann die Vertragspartner weltweit die Fortentwicklung mitbestimmten.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
4. Keine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die EMRK über das Völkerrecht oder über Art. 6 Abs. 2 EUV Entgegen der klaren Linie des Gerichtshofs, der die Menschenrechtskonvention, ebenso wie die gemeinsamen Verfassungstraditionen, als Rechtserkenntnisquelle heranzieht und ihre Garantien in die Gemeinschaftsrechtsordnung einpasst, wird in der Literatur teilweise vertreten, dass die Gemeinschaft unmittelbar an die EMRK gebunden sei. Nach der insbesondere von Pescatore vertretenen Sukzessions- oder Hypothekentheorie unterliegt die Gemeinschaft einer unmittelbaren Bindung an die EMRK aufgrund einer partiellen Pflichtennachfolge: Nach dem Prinzip nemo potest plus iuris transferre quam ipse habet hätten die an die EMRK gebundenen Gründungsstaaten der Gemeinschaft ihre Hoheitsgewalt nur „belastet“ durch die Bindung an die unter der EMRK eingegangenen vorgemeinschaftlichen Verpflichtungen übertragen können. Auf diese Weise habe die Gemeinschaft die konventionsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Wege einer partiellen Pflichtennachfolge übernommen150. Der Luxemburger Gerichtshof sei somit bezüglich des Konventionssystems den innerstaatlichen Gerichten der Mitgliedstaaten gleichzustellen151. Zur Bestätigung dieser Auffassung wird auf Art. 307 EGV und die Rechtsprechung des EuGH zum GATT verwiesen, mit der anerkannt werde, dass eine faktische Funktionsnachfolge der Gemeinschaft in die mitgliedstaatlichen Verpflichtungen aus diesem Abkommen stattgefunden habe152. Gegen eine derartige, völkerrechtlich konstruierte unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die 150 P. Pescatore, Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, 2. Referat, in: Mosler/Bernhard/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 64, 70 f.; ders., La Cour de justice des Communautés européennes et la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: FS Wiarda, S. 441, 450 f. Ähnlich, ebenfalls von der völkerrechtlichen Perspektive ausgehend, argumentiert auch A. Bultrini, L’interaction entre le système de la Convention européenne des Droits de l’homme et le système communautaire, ZEuS 1998, S. 493, 494, 499. Für eine unmittelbare Bindung sprechen sich auch aus H. Schermers, The European Communities bound by Fundamental Human Rights, CMLRev. 27 (1990), 249, 251; ders., The Communities under the European Convention on Human Rights, LIEI 1978, S. 1 ff., und M. Waelbroeck, La Convention européenne des Droits de l’Homme liet-elle les Communautés européennes?, in: Semaine de Bruges 1965, S. 305, 310 ff. Zu einer möglichen Bindung der EG über die völkerrechtliche Staatennachfolge siehe P. Warnken, Das Verhältnis der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 87 ff. 151 P. Pescatore, La Cour de justice des Communautés européennes et la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: FS Wiarda, S. 441, 450. 152 Grundlegend EuGH, verb. Rs. 21–24/72, International Fruit Company, Slg. 1972, S. 1219, Rn. 10/13 und 14/18; siehe auch EuGH, Rs. 9/73, Schlüter, Slg. 1973, S. 1135 ff.; Rs. 38/75, Nederlandse Spoorwegen, Slg. 1975, S. 1439 ff. Zur Bedeutung von Art. 307 für das Verhältnis von EG und EMRK siehe S. Winkler,
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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EMRK gibt es indes verschiedene berechtigte Einwände153. So hindert zunächst das Völkerrecht die Staaten nicht, einander widersprechende Verträge zu schließen, die jeweils wirksam sein können154. Auch über die ultra vires-Lehre lässt sich keine strikte Bindung einer Internationalen Organisation an alle Einschränkungen der Gründungs- oder Mitgliedstaaten ableiten155. Weiterhin war – anders als im Falle des GATT – bei Gründung der Gemeinschaft ein Gründungsstaat, Frankreich, mangels Ratifikation noch nicht an die EMRK gebunden, so dass es in diesem Fall keine vollständige Pflichtennachfolge gegeben haben kann. Zudem spricht der unterschiedliche Umfang der konventionsrechtlichen Verpflichtungen der einzelnen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Ratifikation von Zusatzprotokollen und auf Vorbehalte gegen die Möglichkeit einer Sukzession als eines einheitlichen Eintritts der Gemeinschaft in die mitgliedstaatlichen Verpflichtungen156. Neben der Sukzessionstheorie wurde vertreten, dass sich eine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft aus der EMRK selbst ergebe, da diese europäisches ius cogens darstelle157. Dem steht jedoch grundsätzlich entgegen, dass der Gedanke eines völkerrechtlich zwingenden MenschenrechtsMindeststandards im Sinne von ius cogens inzwischen zwar zunehmend anerkannt wird, dass ein solcher Standard jedoch nicht mit der EMRK gleichzusetzen ist, sondern lediglich in wenigen fundamentalen Garantien mit ihr übereinstimmt158. Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 137 ff. 153 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Theorien zur unmittelbaren Bindung der EG an die EMRK findet sich bei W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 79 ff. Siehe auch O. de Schutter/O. L’Hoest, La Cour Européenne des Droits de l’Homme Juge du Droit Communautaire, CDE 2000, S. 141, 167 ff. 154 W. Weiß, a. a. O., S. 80 ff.; S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 31, die beide anführen, dass das Bestehen völkerrechtlicher Kollisionsregeln in Art. 30 WVK gerade belege, dass beide Verträge nebeneinander wirksam sein könnten. 155 W. Weiß, a. a. O., S. 81 f. 156 J. L. Duvigneau, From Advisory Opinion 2/94 to the Amsterdam Treaty: Human Rights Protection in the European Union, LIEI 1998/2, S. 61, 80; S. Winkler, a. a. O., S. 31. 157 So A. Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 87 ff., 113 ff. Vgl. auch ders., Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuGRZ 1994, S. 149 ff.; W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 98 ff. 158 Vgl. F. D. Quadros, La Convention européenne des Droits de l’Homme: un cas de ius cogens régional?, in: FS Bernhardt, S. 555 ff. Vgl. zu Menschenrechten und völkerrechtlichem ius cogens auch oben 1. Teil, A. II. 2. a).
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Unabhängig von diesen dogmatischen Einwänden ist auf faktischer Ebene festzustellen, dass weder der Luxemburger noch der Straßburger Gerichtshof eine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die Menschenrechtskonvention in ihrer Rechtsprechung anerkannt und damit den verschiedenen akademischen Begründungsversuchen keinerlei praktische Relevanz verliehen haben. Die Gemeinschaftsgerichte ziehen die EMRK – wie aufgezeigt – als unverbindliche Rechtserkenntnisquelle heran159, und auch aus Sicht der Konventionsorgane besteht keine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft als internationaler Organisation an die Konvention160. Mangels Anwendung in der Rechtsprechung lassen sich daher aus den dargelegten Theorien keine weitergehenden Schlüsse ziehen161. Es bleibt dabei, dass der EuGH die Bestimmungen der Menschenrechtskonvention unabhängig von der theoretischen Erklärung ihrer rechtlichen Bedeutung als Element für die Ermittlung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen anwendet. Eine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die EMRK ergibt sich schließlich auch nicht aus Art. 6 Abs. 2 EUV. Die Vorschrift übernimmt die ständige Rechtsprechung des EuGH und legt die vermittelnde Figur der allgemeinen Rechtsgrundsätze zugrunde. Diese stellen hiernach – trotz der missverständlichen Formulierung in der deutschen Fassung der Norm162 – die Basis und damit die Rechtsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte dar. Wird aber von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Rechtsquelle ausgegangen, so ist damit gleichzeitig klar gestellt, dass die EMRK wie auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen nur als Rechtserkenntnisquellen in Betracht gezogen werden können, wie es in der EuGH-Rechtsprechung bereits vorher der Fall war163. Eine unmittelbare materielle Bindung an die EMRK kann also nicht über diese Bestimmung hergeleitet wer159 Vgl. die eindeutigen Aussagen des EuG in der Rs. T-112/98, Mannesmannröhrenwerke, Slg. 2001, S. II-729, Rn. 59 und 75. 160 Vgl. grundlegend EKMR, Entscheidung vom 10.7.1978, Nr. 8030/77, CFDT/ Europäische Gemeinschaften, DR Bd. 13, S. 271 ff., in der sich die Menschenrechtskommission als unzuständig ratione personae erklärt hat. Die Frage nach einer Bindung der Gemeinschaft über den Weg der Verantwortlichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten ist an dieser Stelle noch nicht zu klären, siehe hierzu unten 3. Teil, B. II. 161 Vgl. auch J. P. Jacqué, The Convention and the European Communities, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 889, 892 f.; G. C. Rodriguez Iglesias, Zur Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1274 f.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 754. 162 Hierzu W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 110 f.; siehe dazu in diesem Teil oben unter 3. 163 B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 866: „. . . this Article F definitively sealed the legitimacy of the ECJ’s doctrine“.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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den164. Auch aus der Rechtsprechungskompetenz, die dem EuGH über Art. 46 lit. d) EUV für Art. 6 Abs. 2 EUV verliehen wird, ergibt sich insoweit nichts anderes. Zum einen ist die Reichweite der Vorschrift begrenzt, da sie nur Handlungen der Gemeinschaftsorgane, nicht aber der Mitgliedstaaten betrifft, so dass nicht alle grundrechtsrelevanten Akte von ihr erfasst werden165. Darüber hinaus kann die Norm nicht dadurch, dass sie dem Gerichtshof eine Rechtsprechungskompetenz für einen Teilbereich des Art. 6 Abs. 2 EUV überträgt, das Gefüge des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes ändern. Die Grundrechte bleiben weiterhin in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen verankert, während die EMRK als eine der Rechtserkenntnisquellen dient.
II. Die in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechte Die aufgezeigten dogmatischen Grundlagen machen deutlich, dass der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz auf einer völlig anderen Ausgangslage beruht als der Menschenrechtsschutz nach der EMRK. Dem EMRK-System liegt ein ausformulierter Rechtskatalog zugrunde, auf dessen Basis der Straßburger Gerichtshof seine Rechtsprechung entfaltet. Im Gemeinschaftsrecht hingegen setzt die Grundrechtsprüfung bislang bereits eine Stufe früher an: Die Grundrechte müssen zunächst – basierend auf den allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Rechtsquelle – anhand der Rechtserkenntnisquellen herausgearbeitet und in die Gemeinschaftsrechtsordnung eingefügt werden, bevor ihre mögliche Verletzung geprüft werden kann. Die Aufgabe, zunächst festzustellen, welches Grundrecht im Gemeinschaftsrecht gilt und es sodann inhaltlich zu konkretisieren, fällt dem EuGH zu, sobald ihm ein Fall unterbreitet wird, der Grundrechtsbezug aufweist. Anders als der EGMR kann er 164 Ebenso J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 56; R. Uerpmann, Völkerrechtliche Nebenverfassungen, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 339, 365 f., 367 f.; W. Pauly, Strukturfragen des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes, EuR 1998, S. 242, 249 ff., der Art. 6 Abs. 2 EUV zwar eine konstitutive und konstitutionelle Bedeutung zuspricht, die Gemeinschaftsgrundrechte aber weiterhin auf dem Konzept der allgemeinen Rechtsgrundsätze und Art. 220 EGV basiert sieht; B. Beutler in: GTE, Art. F EUV Rn. 69 f.; W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 109 ff.; P. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union, S. 93 f. Von einer zumindest innergemeinschaftlichen Bindungswirkung geht hingegen M. Hilf aus, Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1206 f. 165 Zu Art. 46 lit. d) EUV vgl. in diesem Teil oben unter 1. Siehe dazu auch J. Wolf, Vom Grundrechtsschutz „in Europa“ zu allgemeinverbindlich geltenden europäischen Grundrechten, in: Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 54 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
nicht auf einen Text mit Vorgaben zurückgreifen, sondern muss sich seine Prüfungsbasis selbst erarbeiten. Innerhalb des Rahmens der allgemeinen Rechtsgrundsätze ergibt sich somit eine denkbar große Entwicklungsoffenheit. Aus der Perspektive des Rechtssuchenden hat dieses unsystematische, fallweise Vorgehen ohne geschriebene Rechtsgrundlagen indes zwangsläufig eine niedrige Vorhersehbarkeit der Entscheidungen und eine damit einhergehende Rechtsunsicherheit zur Folge. Trotz dieser für die Entwicklung eines kohärenten Grundrechtsschutzsystems ungünstigen Ausgangslage hat der Luxemburger Gerichtshof im Laufe der Jahre einen relativ umfassenden ungeschriebenen „Grundrechtskatalog“ erarbeitet. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Rechte nach der Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten zu zählen und wie sie zu unterteilen sind. Besonderes Gewicht soll dabei auf der Abgrenzung der Gemeinschaftsgrundrechte von anderen nicht grundrechtlichen Rechtskategorien liegen. Im Wege einer solchen Abgrenzung können die spezifischen Charakteristika der Gemeinschaftsgrundrechte besonders anschaulich herausgearbeitet werden. Mit der Grundrechte-Charta liegt nun erstmals ein ausformulierter Grundrechtskatalog vor, der zwar noch nicht verbindlich ist, der jedoch so erarbeitet wurde, dass er in unveränderter Form rechtsverbindlich werden kann. Die Charta gliedert die Grundrechtsgewährleistungen in sechs thematische Bereiche, die ebenfalls überblicksartig dargestellt werden. 1. Die Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive Rechte Der Unterteilung der Grundrechte in verschiedene inhaltliche Gruppen ist voranzustellen, dass alle Rechte, die im Folgenden innerhalb der Kategorie „Gemeinschaftsgrundrechte“ aufgeführt werden, in dieser Untersuchung vom Grundsatz her als subjektive Rechte eingeordnet werden166. Mit dem Begriff des subjektiven Rechts wird ganz allgemein eine Norm bezeichnet, die die Mindestanforderung erfüllt, dass sie von Einzelnen vor Gericht oder vergleichbaren Instanzen geltend gemacht werden kann, d. h. es muss sich um eine im weiten Sinne einklagbare Rechtsvorschrift handeln167. Speziell für den Bereich des Gemeinschaftsrechts wird das subjektive Recht umschrieben als die dem einzelnen Bürger verliehene „Rechtsmacht . . ., sich 166
Mit dieser Einordnung soll nicht ausgeschlossen werden, dass den Gemeinschaftsgrundrechten über die Eigenschaft als subjektives Recht hinaus noch andere Funktionen zukommen können. Es soll auf diese Weise nur zwischen subjektiven Rechten und objektiven Rechtsgrundsätzen abgegrenzt werden. 167 H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rn. 2, definiert das subjektive öffentliche Recht als „die dem einzelnen Bürger kraft öffentlichen Rechts verliehene Rechtsmacht, vom Staat zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können“.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
143
gegenüber den verpflichteten Rechtssubjekten auf diese normative Anordnung zu berufen“168, als „personalisierte Rechtsmacht, die Rechtsordnung zur Verfolgung eigener Interessen in Bewegung setzen zu können“169 oder noch offener als „individuell appellable Gewährleistung“170. Vollständige Übereinstimmung hinsichtlich der Begriffsbestimmung besteht nicht; die Gemeinschaftsgrundrechte werden aber unproblematisch unter alle diese Definitionsansätze subsumiert171. Nur vereinzelt wird – unter Zugrundelegung eines grundsätzlich anderen Verständnisses von der Natur der Rechte – den Gemeinschaftsgrundrechten von vornherein ihre subjektive Ausrichtung abgesprochen und unter Verweis auf ihre Einordnung als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts vertreten, sie seien rein objektiv-rechtlich konzipiert172. Zur Begründung dieser Ansicht wird auf das französische Recht, das die Konstruktion des subjektiv-öffentlichen Rechts generell nicht kennt173, und dessen prägenden Einfluss auf das Ge168 So T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263. Ähnlich N. Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, S. 48: „Rechte . . ., die aus sich selbst heraus vor den Gerichten oder sonstigen Organen in den Mitgliedstaaten bzw. der Union/Gemeinschaft durchgesetzt werden können“; J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 45: Anreicherung des „‚juristischen Besitzstands‘ des Einzelnen um die Möglichkeit, eine Regel des Gemeinschaftsrechts vor Gericht geltend zu machen“. 169 C.-D. Classen, Der einzelne als Instrument zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts?, VerwArchiv 88 (1997), S. 645, 668. 170 So J. Masing, Die Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts, S. 153, 176, 178. Aus den Definitionsansätzen geht hervor, dass mit subjektivem Recht hier die subjektiv-öffentlichen Rechte (in Abgrenzung von privatrechtlich ausgestalteten Rechten, also in der Regel Ansprüchen) gemeint sind, d. h. die Rechte, die der Verteidigung individueller Schutzräume gegenüber der Exekutive dienen, vgl. T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 264. Der Begriff des subjektiven Rechts im Gemeinschaftsrecht ist eng verknüpft mit dem Konzept der unmittelbaren Wirkung gemeinschaftlicher Rechtsnormen, vgl. grundlegend EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1, Rn. 10. 171 T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 264, 271 ff. u. v. a. m. 172 So insbesondere T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3, 25 ff. Unter Verweis auf Schilling so auch J. Wolf, Vom Grundrechtsschutz „in Europa“ zu allgemeinverbindlich geltenden europäischen Grundrechten, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 34 ff., der anführt, dass die grundrechtliche Geltungskraft der Gemeinschaftsgrundrechte dadurch, dass sie nur als objektive Rechtssätze gelten, entschärft würde und dass der EuGH in seiner Rechtsprechung auch die subjektiven Konventionsrechte der EMRK objektiviere. 173 In der französischen Rechtsordnung gibt es das Institut des subjektiv-öffentlichen Rechts als Voraussetzung zur Beschreitung des Rechtswegs nicht. Klagerechte werden immer gewährt, wenn die Verwaltung unter Verletzung objektiven
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
meinschaftsrecht verwiesen174. Die Formulierungen, die der EuGH in seiner Rechtsprechung verwendet, sind offen gestaltet. Es lässt sich ihnen nicht entnehmen, ob er die Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive Rechte oder als objektive Rechtssätze ansieht175. Die für die objektiv-rechtliche Sicht der Gemeinschaftsgrundrechte angeführte Prämisse, nach der unterstellt wird, dass die Idee des subjektiven Rechts dem Gemeinschaftsrecht ebenso wie dem französischen Recht grundsätzlich fremd bleibe, kann jedoch nicht überzeugen. Sieht man den Kern der Grundrechte in der Achtung vor dem jeweiligen individuellen Lebensentwurf des einzelnen Menschen und betrachtet sie somit als Garantie für Vielfalt im Sinne der Selbstbestimmung als Element der Individualität und Menschenwürde176, so sind Grundrechte gerade als Muster oder Prototypen subjektiver Rechte zu betrachten177. Auch wenn ihnen stets eine objektiv-institutionelle Komponente innewohnt, verkörpern sie doch gleichzeitig gerade die Idee eines zweckfreien Rechtsschutzes und damit des subjektiven Rechts. Hiervon machen die ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte, auch wenn sie in Anlehnung an die französische Terminologie der „principes généraux du droit“ als allgemeine Rechtsgrundsätze eingeordnet werden, keine Ausnahme. Die Zielrichtung dieser Rechte bleibt ebenso subjektiv-individualschützend. Mit der Einordnung der Gemeinschaftsgrundrechte als subjektive Rechte wird in dieser Untersuchung insoweit ein Gleichlauf mit den Menschenrechten der EMRK gewährleistet. Die EMRK-Garantien stellen in erster Linie klassische subjektive Rechte im Sinne der oben genannten Definition dar. Sie sind dafür geschaffen worden, dem Einzelnen ein Werkzeug an die Hand zu geben, mit dem er sich erforderlichenfalls gegen die staatliche Hoheitsgewalt zur Wehr setzen kann. Dies kommt besonders deutlich zum Rechts qualifizierte Interessen des Bürgers beeinträchtigt. Die Geltendmachung objektiver Rechte reicht hiernach also aus, sofern bestimmte weitere Voraussetzungen erfüllt sind; vgl. T. Schilling, a. a. O., S. 25. Zum Grundrechtsschutz in der französischen Rechtsordnung siehe B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 864 ff. 174 T. Schilling, a. a. O., S. 25 ff. 175 In der Regel führt der EuGH in seinen Urteilen zu den Grundrechten lediglich aus, dass sie zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehören und auf welchen Rechtserkenntnisquellen sie beruhen, um sodann ohne weitere Herleitung oder dogmatische Begründung auf die Anwendung im konkreten Fall einzugehen, vgl. z. B. EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 15 ff.; Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 13 ff. 176 So I. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl. 2000, 847, 850 f. 177 J. Masing, Die Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts, S. 149 f.; J. T. Füller, Grundlagen und inhaltliche Reichweite der Warenverkehrsfreiheiten nach dem EG-Vertrag, S. 31.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Ausdruck in dem Rechtsschutzsystem der Konvention, das dafür Sorge trägt, dass die gewährleisteten Rechte auch tatsächlich durchsetzbar sind. Indem die Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung ebenfalls der Kategorie „subjektive Rechte“ zugeordnet werden, ist klargestellt, dass dem Vergleich der beiden Grundrechtsschutzsysteme, der durch sie gewährleisteten Rechte und der Rechtsprechung der zuständigen Gerichte eine gemeinsame Basis zugrunde liegt. Die Zuordnung der Gemeinschaftsgrundrechte zu den subjektiven Rechten bedeutet – in Anbetracht der weit gefassten Definition subjektiver Rechte – noch keine besonders enge Eingrenzung. Im Gemeinschaftsrecht finden sich andere Rechtssätze ohne Grundrechtscharakter, die ebenfalls subjektive Rechte darstellen. Diesen gegenüber sind die Grundrechte auf andere Weise abzugrenzen178. Zumindest aber ermöglicht die Einordnung als subjektive Rechte eine Unterscheidung der Grundrechte von den objektiv-rechtlichen Rechtsnormen des Gemeinschaftsrechts, die sich zum Teil ebenfalls unter dem Dach der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts finden. 2. Kategorien von Gemeinschaftsgrundrechten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs: Freiheitsrechte, Verfahrensgrundrechte und Gleichheitsrechte Eine erste Schwierigkeit mit dem kasuistischen Vorgehen des EuGH zeigt sich bereits bei dem Versuch zu bestimmen, welche Rechte zu den Gemeinschaftsgrundrechten zählen. Die Gemeinschaftsgrundrechte beruhen auf einer ungeschriebenen Quelle und werden völlig unsystematisch in Abhängigkeit von den dem Gerichtshof unterbreiteten Fällen herausgearbeitet. Auch wenn Grundrechte, wie oben festgestellt, der Gemeinschaftsrechtsordnung immanent, also als Basis vorhanden sind, kann zwangsläufig keine Klarheit darüber bestehen, um welche Rechte es sich genau handelt und in welchem Umfang sie gewährleistet werden. Die inhaltlichen Befugnisse der Rechtsprechung sind bei der Herausarbeitung der Grundrechte so weitreichend, dass sie von einer rechtsschöpferischen Aufgabe zumindest nicht weit entfernt sind179. Ein Überblick über die Rechte kann daher – anders als bei den kodifizierten EMRK-Rechten – nur im Wege eines „Entlanghangelns“ an der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH erfolgen. Diese ist indes inzwischen so ausdifferenziert, dass sich ihr bestimmte Rechte gesichert 178
Dazu unten im 2. Teil unter B. III. Vgl. G. Isaac, Droit communautaire général, S. 145. T. Stein, „Gut gemeint . . .“ – Bemerkungen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: FS Steinberger, S. 1425, 1430: „Im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung ist die Freiheit fast grenzenlos.“ 179
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
entnehmen und übergeordneten Gruppen zuordnen lassen. Nur sehr selten hat der Gerichtshof ein in einem Verfahren geltend gemachtes Grundrecht nicht anerkannt, weil er es als in der Gemeinschaftsrechtsordnung grundsätzlich nicht geschützt ansah – anders als bei der konkreten Feststellung von Grundrechtsverletzungen, bei der er wesentlich zurückhaltender vorgeht180. Die nachfolgend genannten Grundrechte können dabei generell sowohl gegen die Gemeinschafts- als auch gegen die mitgliedstaatliche Gewalt, die mit Gemeinschaftsrecht befasst ist, zur Anwendung kommen. Im Einzelnen können sich je nach Grundrechtsadressatem Unterschiede ergeben, auf die an dieser Stelle allerdings noch nicht eingegangen wird181. Die in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Gemeinschaftsgrundrechte können grob in drei, der Aufteilung der EMRK-Rechte entsprechende, Gruppen unterteilt werden. Hierbei handelt es sich um Freiheitsrechte mit primär abwehrrechtlichem Charakter, Verfahrensgrundrechte und Gleichheitsrechte182. Die Gewichtung dieser drei Gruppen innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung ist allerdings eine andere als bei den Garantien der EMRK. Außerdem ist vom grundsätzlichen Ansatz her zu beachten, dass der Gerichtshof zwar bei der generellen Anerkennung von Grundrechten großzügig verfährt, häufig aber keine genaue Bestimmung des Schutzbereichs vornimmt, so dass die Konturen der Rechte nicht immer klar zu Tage treten. a) Freiheitsrechte Innerhalb der Gruppe der Freiheitsrechte liegt ein Schwerpunkt immer noch auf den wirtschaftlich ausgerichteten Grundrechten. Zwar entschied 180 B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 869: „. . . the Court has seldom refused to include an alleged right into its capacious bag of general principles; but it has been more cautious in finding an actual violation of those rights.“ Siehe die ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie oft der EuGH tatsächlich Grundrechtsklagen stattgegeben hat und welcher Maßstab hierbei anzusetzen ist, bei M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 25 ff. 181 Einzelne Aspekte einer Differenzierung werden unten im Abschnitt über die Grundrechtsverpflichteten (2. Teil, B. V. 2. b)) sowie im 3. Teil im Zusammenhang mit dem Rechtsprechungsvergleich (3. Teil unter B.) behandelt. 182 Vgl. zu anderen möglichen Einteilungen der Gemeinschaftsgrundrechte z. B. G. de Bfflrca, The Language of Rights and European Integration, in: Shaw/More, New Legal Dynamics of European Union, S. 29, 31 ff. (unter Einbeziehung der Rechte, die bislang noch nicht in den Bereich des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes fallen); B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 860 ff.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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der EuGH schon früh über Fälle mit Bezug zu höchstpersönlichen und auch politischen Rechten, und der mögliche Anwendungsbereich dieser Rechte wurde mit der Übernahme weiterer, nicht nur wirtschaftlicher Kompetenzen durch die EG zunehmend ausgeweitet. Noch immer dominiert aber die wirtschaftspolitische und -rechtliche Ausrichtung der Gemeinschaft mit der Konsequenz, dass die wirtschaftlich geprägten Grundrechte in der Rechtsprechung quantitativ weiterhin überwiegen183. Hierzu zählen insbesondere das Eigentumsrecht und die Berufsfreiheit, die Gegenstand zahlreicher Entscheidungen des EuGH waren184. Teilweise prüft der Gerichtshof auch, ohne den Schutzbereich genauer einzugrenzen, die Verletzung einer allgemeinen Wirtschafts- oder Handelsfreiheit185. Unter den höchstpersönlichen Grundrechten spielt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in der Judikatur des EuGH aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten, die insbesondere die Kriminalstrafgewalt bei den Mitgliedstaaten belässt, naheliegender Weise eine eher untergeordnete Rolle. Gleichwohl hat sich der Gerichtshof mit diesen Rechten schon befasst186. In Zukunft könnten sie insbesondere auf dem Gebiet der Biomedizin, das einer Harmonisierung auf 183
Vgl. T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 129. Grundlegend zum Recht auf Eigentum EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, Rn. 12 ff.; Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 17 ff.; Rs. C- 280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 79 ff. Zur Berufsfreiheit siehe EuGH, Rs. 4/73, Nold, a. a. O.; Rs. 230/78, Eridiana, Slg. 1979, S. 2749, Rn. 22 ff.; Rs. C-306/93, SMW Winzersekt, Slg. 1994, S. I-5555, Rn. 20 ff. Ausführlich zu diesen Rechten J. Günter, Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union; N. Wunderlich, Das Grundrecht der Berufsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht. Siehe auch U. Penski/B. Roland, Eigentumsgewährleistung und Berufsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrechte in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, DÖV 2001, S. 266 ff. 185 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 2. Zur Wettbewerbsfreiheit siehe EuGH, verb. Rs. 133–136/85, Rau, Slg. 1987, S. 2289, Rn. 18, wobei nicht deutlich wird, ob der EuGH hier ein Grundrecht oder einen objektiven Grundsatz des unverfälschten Wettbewerbs meint; vgl. C. Stumpf in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 29. Siehe auch B. Beutler in: GTE, Art. F Rn. 57. 186 So z. B. in Verfahren von Bediensteten der Gemeinschaft wegen Ersatzes von Schäden aus Dienstunfällen, vgl. EuGH, Rs. C-257/98 P, Lucaccioni, Slg. 1999, S. I-5251 ff.; Royale Belge SA, Slg. 1996, S. I-5501 ff. In der Rs. C-186/87, Cowan, Slg. 1989, S. 195 ff., war das Recht auf körperliche Unversehrtheit indirekt betroffen, vermittelt über das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV, a. a. O., Rn. 10 ff. In dem Urteil in der Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, S. I-4685 ff., hat der Gerichtshof eine Grundrechtsabwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Recht auf Leben von Ungeborenen vermieden, indem er den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts für nicht eröffnet erklärte, a. a. O., Rn. 31. 184
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Gemeinschaftsebene zugänglich ist, eine Rolle spielen187. In diesen Bereich spielt auch die Menschenwürde hinein. Zu einer Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Kern dieses Rechts, das in der EMRK keine Erwähnung findet, war der EuGH erst in zwei Entscheidungen aufgerufen188. Verschiedene Ausflüsse der Menschenwürde sind aber bereits in der Rechtsprechung konkretisiert worden, so das allgemeine Persönlichkeitsrecht189 und das Recht auf Achtung der Privatsphäre in verschiedenen Ausprägungen, das in der Menschenrechtskonvention in Art. 8 festgeschrieben ist190. Die Religionsfreiheit hat im Rahmen einer beamtenrechtlichen Streitigkeit Eingang in die Rechtsprechung des Gerichtshofs gefunden191. Die Kunstfreiheit wurde zumindest indirekt angesprochen192. Die Freizügigkeit nimmt im Gemeinschaftsrecht eine Sonderstellung ein. Sie ist nicht auf der Basis der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Gemeinschaftsgrundrecht in der Rechtsprechung herausgearbeitet worden. Als Grundfreiheit war sie in Form der Arbeitnehmerfreizügigkeit von Anfang an 187 In der Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 78 ff., hat der EuGH eine Verletzung des Rechts auf Unversehrtheit der Person durch bestimmte Vorschriften der Biopatentrichtlinie (Richtlinie 98/44/EG, ABl. L 213, S. 13 ff.) mit der Begründung abgelehnt, dass sich die Richtlinie nur mit der Erteilung von Patenten befasse. 188 Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, S. I-7079 ff. (Biopatentrichtlinie). Der Gerichtshof ist hier allerdings auf die Menschenwürde an sich und ihre Konkretisierung im Gemeinschaftsrecht nicht eingegangen und hat den gegen eine Verletzung dieses Rechts vorgebrachten Klagegrund im Wege eines Zirkelschlusses zurückgewiesen, a. a. O., Rn. 69 ff. Außerdem Rs. C-36/02, Omega Spielhallen, Slg. 2004, S. I-9609 ff. Auch in diesem Urteil ist der EuGH – trotz ausführlicher Erläuterungen in den Schlussanträgen der Generalanwältin Stix-Hackl – einem direkten Eingehen auf die Menschenwürde aus dem Weg gegangen. Dazu im 3. Teil, B. I. 3. b). 189 EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Rn. 1 ff. (allerdings ohne den Inhalt dieses Rechts näher zu spezifizieren); EuGH, Rs. 145/83, Adams, Slg. 1985, S. 3539, Rn. 34 (Schutz personenbezogener Daten). Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht siehe J. Schwarze, Grundrechte der Person im Europäischen Gemeinschaftsrecht, NJ 1994, S. 53, 54. 190 EuGH, Rs. 404/92, X/Kommission, Slg. 1994, S. I-4737, Rn. 17 ff. (Recht einer Person, ihren Gesundheitszustand geheim zu halten); EuGH, Rs. 136/79, National Panasonic, Slg. 1980, S. 2033, Rn. 17 (Unverletzlichkeit der Wohnung); EuGH, Rs. 155/79, AM & S, Slg. 1982, S. 1575, Rn. 18 (Schutz der Vertraulichkeit des anwaltlichen Schriftverkehrs); EuGH, Rs. 249/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, S. 1263, Rn. 10 (Recht auf Achtung des Familienlebens im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV); zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft vgl. EuGH, Rs. C-249/96, Grant, Slg. 1998, S. I-621, Rn. 35. 191 EuGH, Rs. 130/75, Prais, Slg. 1976, S. 1589 ff. 192 EuGH, Rs. 197/84, Steinhauser, Slg. 1985, S. 1819, Rn. 16 (diskriminierungsfreie Behandlung eines Kunstmalers bei der Vergabe von Atelierräumen im Ausland).
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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in Art. 39 EGV enthalten. Als Unionsbürgerrecht, das nicht mehr unmittelbar an eine wirtschaftliche Betätigung gebunden ist, ist sie mit dem Vertrag von Maastricht in Art. 18 EGV festgeschrieben worden. Allerdings steht das Freizügigkeitsrecht den Unionsbürgern ausweislich der Formulierung in Art. 18 Abs. 1 EGV nur vorbehaltlich der im Primär- und Sekundärrecht vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen zu. Damit wird das Recht „im selben Atemzug“, in dem es zugestanden wird, weitgehend eingeschränkt. Aus grundrechtsdogmatischer Sicht bedeutet dies eine seltsame Verzerrung des Verhältnisses von gewährtem Recht zu seinen möglichen Beschränkungen193. Ungeachtet dieser weitreichenden Einschränkung handelt es sich bei dem Freizügigkeitsrecht jedoch um ein gemeinschaftliches Grundrecht, das atypischerweise im EG-Vertrag verankert ist. Hierfür spricht insbesondere die Zuordnung der in Art. 18 Abs. 1 EGV gewährleisteten Freizügigkeit zu den Freiheitsrechten. Anders als die Grundfreiheiten des EGVertrags, die als Gleichheitsrechte der Überwindung von Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten dienen, ist das Freizügigkeitsrecht als Recht jedes einzelnen Unionsbürgers einem nationalen Grundrecht vergleichbar194. Unter den politischen Grundrechten spielt insbesondere die Meinungsfreiheit, die im Sinne eines umfassenden Kommunikationsgrundrechts verstanden wird, das neben der Meinungsfreiheit im engeren Sinne auch Presse-, Rundfunk-, Film- und Informationsfreiheit umfasst, eine wichtige Rolle in der Rechtsprechung195. Auch die Vereinigungsfreiheit und nunmehr auch die Versammlungsfreiheit waren bereits Gegenstand von EuGH-Urteilen196. 193
Die weitreichende Einschränkung des Freizügigkeitsrechts hat zur Folge, dass das nach Art. 18 Abs. 1 EGV gewährte Recht im Ergebnis nicht über das Maß an Freizügigkeit hinausgehen kann, das nach Art. 39 EGV mit seinen Schrankenregelungen und den drei Freizügigkeitsrichtlinien der EG gewährt wird. J. Weiler, Les droits des citoyens européens, RMUE 1996, S. 35, 36, spricht daher im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV von einer „zynischen PRAktion der Mitgliedstaaten“. 194 So T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrecht, EuR 1998, S. 263, 271; N. Reich, Bürgerliche Rechte in der Europäischen Union, S. 180; A. Hatje in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 EGV Rn. 1; W. Kluth in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 18 EGV Rn. 15; S. Griller, Grundrechtsschutz in der EU und in Österreich, 12. ÖJT (1994), Bd. I/2, S. 7, 10. A. A. J. Weiler, Les droits des citoyens européens, RMUE 1996, S. 35 ff.; J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 214 f., der auf die Zweckgebundenheit und die „Binnenmarktnützlichkeit“ des Art. 18 Abs. 1 EGV durch den eingebauten Vorbehalt hinweist und der Vorschrift daher keine größere Grundrechtsnähe als der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV zuspricht. 195 Zu den grundlegenden Urteilen zu den Kommunikationsrechten gehören EuGH, verb. Rs. 60 und 61/84, Cinéthèque, Slg. 1985, S. 2605, Rn. 26 ff.; Rs. 352/85, Bond van Adverteerders, Slg. 1988, S. 2085, Rn. 40 ff.; Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I-2925, Rn. 44 ff.; Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I-3689,
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Anders als im System der EMRK, das keinen lückenlosen „RundumSchutz“ bietet, zählt der Luxemburger Gerichtshof auch die allgemeine Handlungsfreiheit zu den Gemeinschaftsgrundrechten197. Ähnlich wie im deutschen Recht kommt ihr die Funktion eines „Auffanggrundrechts“ zu, das Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe bildet, die nicht in den Bereich eines speziellen Grundrechts fallen198. Die Bedeutung dieses Rechts innerhalb des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzsystems ist allerdings bisher nicht mit der des Art. 2 Abs. 1 GG in der Rechtsprechung des BVerfG vergleichbar199. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass der Gerichtshof bei der Schutzbereichsbestimmung der Grundrechte im Allgemeinen recht großzügig verfährt. Im Bereich der Freiheitsrechte bietet die Gemeinschaftsrechtsordnung damit auf den ersten Blick einen umfassenderen Grundrechtsschutz als die Menschenrechtskonvention, da sie auch die Berufsfreiheit schützt und mit der allgemeinen Handlungsfreiheit über ein Auffanggrundrecht verfügt. Bei einem solchen direkten Vergleich darf allerdings nicht die unterschiedliche Art der Gewährleistung außer Acht gelassen werden: Einerseits ein geschriebener Katalog von Rechten, andererseits die flexibel handhabbare Entwicklung ungeschriebener Grundrechte in der Rechtsprechung von Fall zu Fall je nach Sachverhalt und Umständen. Zudem ist zu beachten, dass Rn. 25 ff. Aus der neueren Rechtsprechung siehe z. B. EuGH, Rs. C-479/04, Laserdisken/Kulturministeriet, Slg. 2006, S. I-8089, Rn. 60 ff. Umfassend zur Kommunikationsfreiheit J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht. 196 Zur Vereinigungsfreiheit siehe EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1996, S. I-4921, Rn. 79; dazu L. Gramlich, Grundfreiheiten contra Grundrechte im Gemeinschaftsrecht?, DÖV 1996, S. 801, 807 ff. Zur Versammlungsfreiheit siehe EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 77 ff.; dazu S. Kadelbach,/N. Petersen, Europäische Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten, EuGRZ 2003, S. 693 ff.; F. Schorkopf, Nationale Grundrechte in der Dogmatik der Grundfreiheiten, ZaöRV 64 (2004), S. 125 ff. 197 Explizit unter diesem Namen erwähnt, ohne dass allerdings der Inhalt des Grundrechts näher konkretisiert wird, in EuGH, verb. Rs. 133–136/85, Rau, Slg. 1987, S. 2289, Rn. 15. 198 Dies geht aus den Urteilen in den verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 19, und in den verb. Rs. 97–99/87, Dow Chemical, Slg. 1989, S. 3165, Rn. 16, hervor, in denen der EuGH den Terminus „allgemeine Handlungsfreiheit“ zwar nicht explizit erwähnt, jedoch für den Schutz von Geschäftsräumen vor Durchsuchungen inhaltlich auf das Auffanggrundrecht rekurriert: Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung bedürften einer Rechtsgrundlage und müssten aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt sein. Vgl. H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, S. 429 ff.; C. Stumpf in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 22. 199 Zu Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht siehe B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 368 ff.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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der Luxemburger Gerichtshof, wie bereits erwähnt, bei der generellen Anerkennung von Grundrechten großzügig verfährt, dass dies jedoch noch nichts über die tatsächliche Gewährleistung der Rechte und das Ergebnis seiner Grundrechtsprüfungen aussagt. b) Verfahrensgrundrechte Die prozessualen Grundrechte200 der Gemeinschaftsrechtsordnung sind vom EuGH in weiten Bereichen, vor allem in jüngerer Zeit, in Anlehnung an die EMRK-Garantien und die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs herausgearbeitet worden. Es handelt sich dabei insbesondere um das Recht auf effektiven Rechtsschutz201, das Recht auf ein faires Verfahren im weiten Sinne, das verschiedene prozessuale Einzelgewährleistungen umfasst202, den Anspruch auf rechtliches Gehör203 und das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem)204. Diese Rechte, die gegenüber der Gemeinschafts- und der mitgliedstaatlichen Gewalt geltend gemacht werden kön200 Die Begriffe „Verfahrensgrundrechte“ und „prozessuale Grundrechte“ werden hier synonym verwendet; beide umfassen Grundrechte sowohl in Verwaltungs- als auch in Gerichtsverfahren. Zu den Begrifflichkeiten L. Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 131; M.-C. Abetz, Justizgrundrechte in der Europäischen Union, S. 35 ff. 201 Grundlegend EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 17 ff. Aufgrund der Bedeutung, die den nationalen Gerichten bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zukommt (vgl. das Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV) beziehen sich die meisten Entscheidungen des EuGH in diesem Bereich auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch nationale Gerichte. Nur vereinzelt wurde dieses Verfahrensrecht bisher gegenüber Gemeinschaftsorganen geltend gemacht, vgl. T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 199. 202 EuGH, Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe, Slg. 1998, S. I-8417, Rn. 20 ff. (Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Frist), dazu V. Schlette, Der Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Frist, EuGRZ 1999, S. 369 ff.; Rs. C-7/98, Krombach, Slg. 2000, S. I-1935, Rn. 25 ff., 39 ff. (Recht auf einen fairen Prozess, Verteidigungsrechte), dazu J. Gundel, Der einheitliche Grundrechtsraum Europa und seine Grenzen, EWS 2000, S. 442 ff.; EuG, Rs. T-112/98, Mannesmannröhrenwerke, Slg. 2001, S. II-729, Rn. 60 ff. (Recht zur Aussageverweigerung), dazu Anmerkung von E. Pache, EuZW 2001, S. 351 f.; EuGH, Rs. 98/79, Pecastaing, Slg. 1980, S. 691, Rn. 21 (Recht auf einen fairen Prozess); EuG, Rs. T-54/99, max.mobil, Slg. 2002, S. II-313, Rn. 57 (Recht auf gerichtliche Kontrolle; das Gericht erster Instanz verweist hier auf Art. 47 GRCh), dazu Anmerkung von C. Nowak, EuZW 2002, S. 191 f.; EuGH, Rs. C-283/05, ASML Netherlands BV/SEMIS, Urteil vom 14.12.2006, Rn. 26 ff. (Verteidigungsrechte). 203 EuGH, verb. Rs. 42 und 49/59, SNUPAT, Slg. 1961, S. 111, 154 ff.; Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, S. 461 ff.; verb. Rs. 100–103/80, Musique Diffusion, Slg. 1983, S. 1825 ff.; Rs. 234/84, Meura, Slg. 1986, S. 2263, Rn. 27 ff. 204 EuGH, Rs. 14/68, Walt Wilhelm, Slg. 1969, S. 1, Rn. 11; Rs. 7/72, Boehringer, Slg. 1972, S. 1281, Rn. 3 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
nen, sind ebenso wie die Freiheitsrechte als subjektiv-öffentliche Rechte einzuordnen. Entsprechend den vorherigen Ausführungen stehen Grundrechte für zweckfreien Rechtsschutz und verkörpern damit idealtypisch subjektive Rechte. Die genannten, vom EuGH anerkannten Verfahrensgrundrechte machen hiervon keine Ausnahme; ebenso wie die prozessualen Gewährleistungen der Menschenrechtskonvention gehören sie vom Grundsatz her zum Bereich der subjektiven Rechte205. Diese Einordnung erfordert eine Abgrenzung gegenüber den rein objektiv-rechtlichen Rechtsstaatsprinzipien. Die Rechtsstaatsprinzipien zählen wie die Gemeinschaftsgrundrechte zu den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts, ihnen kommt aber mangels subjektiv-rechtlichen Charakters keine Grundrechtsqualität zu und sie sind daher nicht unmittelbarer Gegenstand dieser Untersuchung. Eine Rolle spielen sie allerdings im Rahmen des Vergleichs der beiden Gerichtshöfe im dritten Teil der Arbeit206. Zu diesen Prinzipien, die von den subjektiven Verfahrensgrundrechten inhaltlich nicht weit entfernt sind und die in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, zählen die Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Rechtssicherheit, der Bestimmtheitsgrundsatz und das Rückwirkungsverbot207. Als objektiv-rechtliche Prinzipien sind sie historisch den erst später entwickelten prozessualen Grundrechten als subjektiven Rechten vorausgegangen208. Eine hybride Stellung zwischen den subjektiv-rechtlich ausgerichteten Verfahrensgrundrechten und den objektiven Rechtsstaatsprinzipien nimmt 205 Differenzierend P. Grzybek, Prozessuale Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 213 ff., der die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit, des gesetzlichen Richters und den Anspruch auf rechtliches Gehör untersucht und im Ergebnis nur dem Letztgenannten aufgrund des hohen subjektiv-rechtlichen Anteils Grundrechtsqualität zuspricht. 206 Siehe unten 3. Teil, A. I. 4. b) und A. II. 5. b). 207 EuGH, Rs. 117/83, Könecke, Slg. 1984, S. 3291, Rn. 11 (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung); Rs. 14/81, Alpha Steel, Slg. 1982, S. 749 ff. (Vertrauensschutz); Rs. 63/83, Kirk, Slg. 1984, S. 2689, Rn. 21 f. (Rückwirkungsverbot). 208 Vgl. T. Jürgensen/I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 200, 205, die anführen, dass der EuGH den rechtsstaatlichen Grundsätzen zunächst keine grundrechtliche Relevanz beigemessen habe, dann aber verschiedene Grundsätze unter Bezugnahme auf die EMRK als Grundrechte formuliert habe. Zu der Differenzierung zwischen den rechtsstaatlichen Grundsätzen und den Grundrechten innerhalb der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts siehe auch B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 860 f.; P. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte der Europäischen Union, S. 102 ff.
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der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht ein. Als allgemeine Leitlinie gemeinschaftsrechtlichen Handelns, die inzwischen – wenn auch nicht ausdifferenziert – in Art. 5 Abs. 3 EGV kodifiziert ist, wird er vom EuGH unabhängig von einer Anknüpfung an subjektive Rechte als allgemeine Handlungsschranke zur objektiven Überprüfung der Sachgerechtigkeit und Ausgewogenheit einer Maßnahme herangezogen209. Dementsprechend wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz teilweise zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen gezählt, die Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts sind210. Gleichzeitig kommt ihm aber in der Judikatur des Gerichtshofs – in Anlehnung insbesondere an das deutsche Verfassungsrecht – auch zentrale Bedeutung als Maßstab für die Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen zu, d. h. er wird in Verbindung mit subjektiven Rechten angewendet211. Er geht in dieser zweifachen Bedeutung also über die oben genannten objektiven Rechtsstaatsprinzipien hinaus, so dass eine Gleichordnung mit diesen seinem hybriden Charakter nicht gerecht würde. Im Hinblick auf den zweitgenannten Aspekt als Maßstab für Rechtfertigungen von Grundrechtsbeschränkungen spielt er die gleiche Rolle wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs. Eine vertiefte Analyse dieses Prinzips erfolgt daher im Rahmen des Vergleichs der Methodik der beiden Gerichtshöfe212. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich nicht um einen klassischen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt, da dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz innerhalb der Grundrechtsprüfung als Determinante für den Gewährleistungsumfang eines Rechts eine besondere Bedeutung zukommt. Dies unterscheidet ihn von den anderen genannten Rechtsstaatsprinzipien, 209 Siehe z. B. EuGH, Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 64 ff. 210 So beispielsweise B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 220 EGV Rn. 40. T. v. Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 2003, S. 393, bezeichnet das Verhältnismäßigkeitsprinzip als „Metarechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts“. G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 141, spricht von „einem der wichtigsten Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts“. 211 So insbesondere in den neueren, stärker ausdifferenzierten Grundrechtsurteilen des EuGH, siehe z. B. EuGH, Rs. C-404/92 P, X/Kommission, Slg. 1994, S. I-4737, Rn. 18 ff.; Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 80 ff. (sehr ausführliche Abwägung im Rahmen der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes). Vgl. T. v. Danwitz, a. a. O., S. 394; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 138 ff. Zu der zweifachen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der EuGH-Judikatur siehe auch B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 861, der das Prinzip als einen „borderline case“ bezeichnet. 212 Siehe unten 3. Teil, A. II. 5. b) aa).
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
die sozusagen für sich stehen und keine weiteren Implikationen für die Gemeinschaftsgrundrechte haben. In der Grundrechte-Charta lässt sich die vorliegend gezogene Trennlinie zwischen subjektiven Verfahrensrechten als „echten“ Grundrechten und objektiven Rechtsstaats- und Verfahrensprinzipien nicht wiederfinden. Die Charta vermischt in den Art. 47 bis 50 vielmehr beide Bereiche213. Dies ist problematisch, weil es die Gefahr birgt, dass die „echten“ subjektiv-rechtlich ausgestalteten Grundrechte dadurch geschwächt werden. Hat sich der Luxemburger Gerichtshof bei der Herausarbeitung und Konkretisierung der subjektiv-rechtlichen Verfahrensgrundrechte im Gemeinschaftsrecht stark an die EMRK-Garantien und die Straßburger Rechtsprechung angelehnt, so erfahren die Rechte doch eine eigene Gemeinschaftsprägung214. Diese resultiert vor allem daraus, dass die Gruppe derjenigen Personen, die sich in der Gemeinschaft auf Verfahrensgrundrechte berufen, eine grundsätzlich andere ist als im EMRK-System. Unter der EMRK berufen sich in erster Linie Individuen auf die prozessualen Gewährleistungen, die neben dem allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren in seinen verschiedenen Spielarten auch verschiedene detaillierte Garantien für das Strafverfahren enthalten215. In der vorrangig wirtschaftlich ausgerichteten Gemeinschaft hingegen, der keine umfassende Strafgewalt zukommt mit der Konsequenz, dass der Bereich des Kriminalstrafverfahrens nur eine marginale Rolle spielt216, werden die Verfahrensrechte vielfach von Unternehmen als juristischen Personen, insbesondere im Kartellverfahren gegenüber der Gemeinschaftsgewalt, geltend gemacht217. Pointiert gesagt, sind es unter der EMRK vorrangig die „Armen“ und „Benachteiligten“ oder diejenigen, 213
Hierzu sogleich bei dem Überblick über die Aufteilung der Chartarechte. Hierzu F. Zampini, La Cour de justice des Communautés européennes, gardienne des droits fondamentaux „dans le cadre du droit communautaire“, RTDE 1999, S. 659, 681 ff., insbes. 684 ff. 215 Siehe die Auswertung von M. Hilf/S. Hörmann, Der Grundrechtsschutz von Unternehmen im europäischen Verfassungsverbund, NJW 2003, S. 1, 4 (2001 waren an insgesamt 888 entschiedenen Verfahren in Individualbeschwerdefällen nur in 21 Fällen Unternehmen beteiligt). Vgl. auch oben im 2. Teil, A. II. 1. b) zum personalen Anwendungsbereich der EMRK. 216 Vgl. J. Gundel, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 19 Rn. 1, der darauf verweist, dass die Rechte aus Art. 5, 6 Abs. 2 und Abs. 3 sowie Art. 7 EMRK eine geringere Rolle spielen, weil der Strafbezug des Gemeinschaftsrechts noch wenig ausgeprägt sei, gleichwohl aber mögliche Anwendungsfälle für diese Rechte aufzeigt. Siehe auch P. Grzybek, Prozessuale Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 203 ff. 217 Vgl. L. Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 131; J. Gundel, a. a. O. (vorherige Fußnote), § 19 Rn. 14; F. Zampini, Convention européenne des droits de l’homme et droit communautaire de la concurrence, RMC 1999, S. 628 ff. Ausführlich zu den prozessualen 214
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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die „am Rande der Gesellschaft“ stehen (z. B. Häftlinge, Drogenabhängige, Zugehörige religiöser und weltanschaulicher Splittergruppen, aber auch enteignete adlige Grundbesitzer), die die Verfahrensgarantien in Anspruch nehmen, um sich ein Minimum an Rechten zu sichern218. In der Gemeinschaft sind es dagegen die Wirtschaftsunternehmen, die sich auf Verfahrensrechte berufen, wenn ihnen vorgeworfen wird, unerlaubte Absprachen getätigt oder eine marktbeherrschende Stellung inne zu haben219. In diesem unterschiedlichen Kreis der Grundrechtsträger, die sich auf ihre in beiden Systemen sehr ähnlich gewährleisteten prozessualen Rechte berufen, zeigt sich ein fundamentaler, den Systemen inhärenter Unterschied. Dies macht deutlich, dass eine direkte Vergleichbarkeit der Grundrechtsschutzsysteme an gewisse, sich aus den Grundgegebenheiten und der Anwendung in der Praxis ergebende Grenzen stößt. Hieraus lassen sich noch nicht zwingend Rückschlüsse auf grundlegend unterschiedliche Grund- bzw. Menschenrechtskonzeptionen in den beiden Systemen ziehen. Es zeigt sich aber zumindest, dass teilweise wesentliche Divergenzen in der Anwendung dieser Rechte bestehen220. Auch wenn es hierbei nicht um die Rechte selber geht, sondern nur um die Personen, die diese geltend machen, sind doch Auswirkungen auf die Rechtsinhalte nicht auszuschließen. Ein völliger Gleichlauf der Rechte in beiden Grundrechtsordnungen erscheint unter diesen Umständen nahezu ausgeschlossen.
Rechten im Kartellverfahren W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 189 ff. 218 Vgl. J. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously“ Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence – Part II, CMLRev. 32 (1995), S. 579, 625, die die ursprüngliche Zielrichtung von Grund- und Menschenrechten als fundamentalen Rechten des Individuums im Sinne der EMRK hervorheben: „. . . human rights often have a subversive element: they frequently concern the protection of unsavoury persons and unpopular causes which public opinion in general deplores: pornographers, Scientologists, abortionists in a Catholic country, minorities and the like – the Others.“ 219 B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 883: „In the EC, more than in other legal contexts such as the ECHR or national constitutional litigation, one can say that ‚those invoking the language of rights are often not the oppressed minorities or individuals as might be expected‘.“ (unter Verweis auf G. de Bfflrca, The Language of Rights and European Integration, in: Shaw/More, New Legal Dynamics of European Union, S. 29, 51). Siehe zu diesen grundlegenden Unterschieden zwischen Gemeinschaftsrechtsordnung und EMRK auch A. M. Donner, Transition, in: FS Wiarda, S. 145 ff. 220 Vertiefend zu dem der Menschenrechtskonzeption der EMRK zugrunde liegenden Menschenbild siehe J. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, der auf S. 41 f. auch kurz auf das Menschenbild des Gemeinschaftsrechts und den „homo oeconomicus“ eingeht.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
c) Gleichheitsrechte Der Gruppe der Gleichheitsrechte kommt innerhalb der Gemeinschaft ungleich höhere Bedeutung zu als dem akzessorischen Diskriminierungsverbot und den wenigen anderen gleichheitsrechtlichen Verbürgungen in der EMRK. Hier zeigen sich die Auswirkungen der unterschiedlichen Rahmenbedingungen, in die die beiden Grundrechtsschutzsysteme eingebettet sind. Bedingt durch die Anlage, Zielsetzung und Ausgestaltung der supranationalen Rechtsordnung, die wesentlich stärker integriert ist als die völkerrechtliche Menschenrechtskonvention, spielen Gleichheitsrechte eine große Rolle in der Gemeinschaft: In einem auf die Errichtung eines Binnenmarktes ausgerichteten Zusammenschluss sind Gleichheitsrechte gerade die entscheidenden rechtlichen Instrumente zur Beseitigung von Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten. Sie ermöglichen eine Angleichung der unterschiedlichen Verhältnisse und sind Grundvoraussetzung für fairen Wettbewerb innerhalb des errichteten Gemeinsamen Marktes. Der EG-Vertrag weist daher eine ganze Reihe von Gleichheitsrechten auf, so das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EGV, die Grundfreiheiten der Art. 28, 39, 43, 49, 56 EGV, die in ihrem Kern spezielle Ausprägungen des Diskriminierungsverbots in Art. 12 EGV sind, das Verbot der Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Verbrauchern im Rahmen der Gemeinsamen Landwirtschaftspolitik in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 EGV, Art. 75 Abs. 1 EGV als Diskriminierungsverbot im Rahmen der Verkehrspolitik, Art. 90 Abs. 1 EGV für die Steuerpolitik, den Grundsatz gleichen Entgelts für Männer und Frauen in Art. 141 EGV und die durch den Maastrichter Vertrag eingeführten Gleichheitsbestimmungen beim Wahlrecht der Unionsbürger in Art. 19 EGV. Bei allen diesen Gleichheitsrechten handelt es sich – unter Bezugnahme auf die oben gewählte weite Definition des subjektiven Rechts als vom Einzelnen einklagbarer Rechtsvorschrift – zweifellos um subjektive öffentliche Rechte der Gemeinschaftsrechtsordnung221. Damit ist allerdings noch keine Aussage über die Grundrechtsqualität dieser Rechte getroffen, denn nicht jedes subjektive Recht hat gleichzeitig Grundrechtscharakter. Die Verankerung der genannten Gleichheitsrechte im Primärrecht spricht gerade gegen ihren grundrechtlichen Charakter, denn der Luxemburger Gerichtshof hat die Gemeinschaftsgrundrechte vom Ansatz her, wie oben ausgeführt, als 221 Vgl. T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 269. Zur Struktur der Gleichheitsrechte im deutschen Verfassungsrecht als subjektiver Rechte siehe R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 389 ff. Alexy ordnet dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz „ein Bündel subjektiver Rechte höchst unterschiedlicher Struktur“ zu, das das Grundrecht als Ganzes definiere, a. a. O., S. 392 f.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelt, deren Zweck es sein soll, lückenfüllend der Gemeinschaft ihre supranationale Legitimation zu liefern222. Die Grundrechte richten sich nach dieser Konzeption in erster Linie gegen die Gemeinschaft, auf die Hoheitsrechte übertragen wurden, die weiterhin einer rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegen sollen. Eine solche „supranationale Legitimationsfunktion“223 kommt aber den aufgezählten primärrechtlich verankerten Gleichheitsrechten, die sich als Diskriminierungsverbote vom Prinzip her an die Mitgliedstaaten richten, nicht zu. Sie sollen nicht die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Gemeinschaft legitimieren, sondern zielen auf Gleichbehandlung aller Unionsbürger durch „Überwindung des Fremdenstatus“224. Ihnen kann somit eine „transnationale Integrationsfunktion“ zugeschrieben werden225; diese charakterisiert sie aber nicht als grundrechtliche Verbürgungen. Vielmehr können sie auf diese Weise von den Grundrechten abgegrenzt werden. Als echtes Gemeinschaftsgrundrecht kommt daher grundsätzlich nur der allgemeine Gleichheitsgrundsatz in Betracht, demzufolge Gleiches gleich und Ungleiches nicht gleich zu behandeln ist. Dieser Grundsatz wurde wiederum vom EuGH als ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung herausgearbeitet und fügt sich damit in die dargelegte Systematik der Gemeinschaftsgrundrechte ein226. Als Ausnahme innerhalb dieser Systematik kann darüber hinaus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 141 EGV die Qualität eines Grundrechts zugewiesen werden. Die Vorschrift, die sich vom Wortlaut her auf die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen beschränkte227, wurde zwar ursprünglich auf Drängen Frankreichs mit der Intention in den Vertrag eingefügt, Wettbewerbsnachteile zu vermeiden, und 222
Vgl. oben 2. Teil, B. I. 1. T. Kingreen, Gleichheitsgrundrechte und soziale Rechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 1. 224 So A. v. Bogdandy in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EUV Rn. 1. 225 T. Kingreen, Gleichheitsgrundrechte und soziale Rechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 1. 226 Grundlegend EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, S. 1753, Rn. 7. Der Gerichtshof entwickelt hier den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus dem speziellen vertraglichen Diskriminierungsverbot des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 EGV, sieht seine Grundlage aber wohl in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und nicht im Primärrecht. Vgl. oben im 2. Teil, B. I. 3. d). Aus der neueren Rechtsprechung siehe z. B. EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld/Leden van de Ministerraad, Urteil vom 3.5.2007, Rn. 55 ff. Dazu auch T. Kingreen, Gleichheitsgrundrechte und soziale Rechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 11 ff.; ders. in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 174 ff.; U. Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, S. 1 ff. G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 131 ff. 223
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
hat damit von ihrer ursprünglichen Ausrichtung her einen direkten Bezug zur transnationalen Integration228. Dementsprechend ist sie auch ausdrücklich an die Mitgliedstaaten adressiert. Sie ist indes das einzige der vertraglich normierten Gleichheitsrechte, das nicht an die klassischen Binnenmarkt-Differenzierungskriterien der Staatsangehörigkeit bzw. des Grenzübertritts anknüpft, sondern an ein Kriterium, das keinen spezifischen Bezug zum Binnenmarkt aufweist, nämlich das Geschlecht. In der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs ist die Norm daher zu einem echten Grundrecht erweitert worden229. Damit sind aus der vergleichsweise großen Zahl der gemeinschaftlichen Gleichheitsrechte für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung lediglich zwei als echte Gemeinschaftsgrundrechte ausgesondert worden. Festzuhalten ist also, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung – anders als die Menschenrechtskonvention – über einen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verfügt, der unabhängig von der Anknüpfung an Freiheitsrechte zur Anwendung kommt. Diesem Grundrecht kommt in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs eine große Bedeutung zu. Der Straßburger Gerichtshof ist dagegen bislang darauf beschränkt, mögliche Verstöße gegen gleichheitsrechtliche Grundsätze anhand des akzessorischen Diskriminierungsverbots des Art. 14 EMRK zu prüfen, und hat damit einen sehr viel begrenzteren Radius zur Entfaltung seiner Rechtsprechung. 3. Grundrechtskategorien in der Grundrechte-Charta Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist bislang noch nicht rechtsverbindlich. Sie wurde allerdings vom Grundrechte-Konvent so erarbeitet, als ob sie anschließend in die Verträge inkorporiert werden und damit primärrechtliche Verbindlichkeit erlangen würde230. Im Entwurf des Vertrags 227
Art. 141 Abs. 4, der die allgemeine Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben gewährleisten soll, wurde erst durch den Amsterdamer Vertrag in den EGV eingefügt. 228 Vgl. Curall in: GTE, Art. 119 Rn. 11. 229 Grundlegend die Urteile EuGH, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, S. 455 ff., und Rs. 149/77, Defrenne III, Slg. 1978, S. 1365 ff. Ausdrücklich als „Grundrecht“ wird Art. 141 EGV qualifiziert in EuGH, verb. Rs.C-270 und 271/97, Deutsche Post, Slg. 2000, S. I-929, Rn. 56. Zur Grundrechtsqualität des Art. 141 EGV siehe D. Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen, S. 63 ff. B. Beutler in: GTE, Art. F EUV Rn. 34, verwendet den Begriff „Vertragsgrundrecht“ für die Vorschrift des Art. 141 EGV. 230 J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 594, unterstreicht die Bedeutung dieses „Als-ob-Ansatzes“ im Hinblick auf die Rechtswirkungen, die die Charta bereits vor ihrem verbindlichen Inkrafttreten entfalten kann.
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über eine Verfassung für Europa wird die Charta in nahezu unveränderter Form als Teil II aufgenommen. Die Bezugnahme erfolgt über Art. I-9 Abs. 1 des Verfassungsvertragsentwurfs, demzufolge die Union die Rechte der Charta anerkennt. Allerdings stellt Art. I-9 Abs. 3 des Verfassungsvertragsentwurfs klar, dass die „herkömmlichen“ Gemeinschafts- bzw. Unionsgrundrechte, die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze auch in Zukunft Teil des Unionsrechts sein sollen231. Den neu eingefügten Chartarechten soll folglich keine Ausschließlichkeit zukommen, sie sollen vielmehr die bereits bestehenden ungeschriebenen Grundrechte ergänzen. Hinter dieser Konstruktion steht erkennbar der Gedanke, in jedem Fall Lücken im Grundrechtsschutz vermeiden zu wollen232. Hätten sich die Mitglieder des Verfassungskonvents dafür entschieden, den Grundrechtsschutz der Union fortan nur noch auf die neu eingeführte Charta zu stützen, so hätten sie damit einen recht radikalen Wechsel beschlossen, dessen Auswirkungen ungewiss gewesen wären. Durch die Weitergeltung der Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze stellen sie einen vorsichtigen, fließenden Übergang sicher. Dass die geschriebenen Chartarechte bei Inkrafttreten des Verfassungsvertrags zunehmend die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze überlagern würden, war dabei sicherlich von ihnen einkalkuliert. Die Aufgabe, diesen Übergang zu gestalten, sollte aus ihrer Sicht indes offensichtlich beim EuGH liegen, dem so alle Optionen zur Fortführung oder auch Neugestaltung seiner Grundrechtsrechtsprechung offen gehalten wurden. Aufgrund des „Als-ob-Ansatzes“ des Grundrechte-Konvents ist zu erwarten, dass ein künftiger rechtsverbindlicher Grundrechtskatalog keinen von der jetzigen Grundrechte-Charta wesentlich abweichenden Inhalt aufweisen wird. Dies gilt insbesondere, weil sich die Rechte der Charta ausweislich des 6. Erwägungsgrundes der Präambel aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, dem gemeinschaftlichen und Unionsprimärrecht, der EMRK, den Sozialcharten von Gemeinschaft und Europarat sowie aus der Rechtsprechung des Luxemburger und des Straßburger Gerichtshofs speisen. Es besteht also eine enge inhaltliche Verknüpfung der Charta-Rechte mit den bislang verbindlichen Gemeinschaftsgrundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemein231 Art. I-9 Abs. 3 des Verfassungvertragsentwurfs übernimmt in leicht abgewandelter Form die durch den Maastrichter Vertrag eingeführte Formulierung des Art. 6 Abs. 2 EUV. 232 Kritisch zu der Konstruktion des Art. I-9 des Verfassungsvertragsentwurfs beispielsweise W. Cremer, Der programmierte Verfassungskonflikt: Zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach dem Konventsentwurf für eine Europäische Verfassung, NVwZ 2003, S. 1452 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
schaftsrechts. Die Grundrechte-Charta ist in dieser Hinsicht sozusagen eine „Sichtbarmachung“ dieser Rechte durch schriftliche Niederlegung233. Sie beschränkt sich allerdings nicht auf eine solche „Sichtbarmachung“ bereits bestehender Rechte, sondern geht in ihrem Umfang darüber hinaus234. a) Die in der Charta verbürgten Rechte Die Charta enthält einen umfassenden Katalog von Grundrechten, der in sechs inhaltliche Kapitel gegliedert ist. Die einzelnen Artikel der Charta umschreiben dabei die Schutzbereiche der Rechte, ohne ihnen spezifische Schranken zuzuweisen. Stattdessen findet sich eine allgemein gefasste, für alle Rechte gültige Schrankenregelung innerhalb der abschließenden Bestimmungen des Kapitels VII in Art. 52 GRCh. In dem ersten Kapitel „Würde des Menschen“ sind die fundamentalen Menschenrechte – Recht auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit, Folter-, Sklaverei- und Zwangsarbeitsverbot – niedergelegt. Als „modernes“ Grundrecht umfasst das Recht auf Unversehrtheit in Art. 3 Abs. 2 GRCh verschiedene Garantien im Bereich der Medizin und Biologie, so das Verbot eugenischer Praktiken, der Gewinnerzielung mit dem menschlichen Körper und des reproduktiven Klonens von Menschen. Die Stellung dieser grundlegenden Rechte an der Spitze der Charta entspricht der Systematik verschiedener nationaler Grundrechtskataloge und der EMRK. Es handelt sich hierbei allerdings um Rechte, die bislang in der Gemeinschaftsrechtsordnung eine nur untergeordnete Rolle gespielt haben235. Der Gemeinschaft kommen bislang nur geringe Zuständigkeiten in Bereichen zu, in denen sie das Recht auf Leben oder Unversehrtheit des Einzelnen betreffen könnte. Kapitel II ist mit „Freiheiten“ überschrieben und enthält im Wesentlichen alle aus der EMRK bekannten Freiheitsrechte (Freiheit und Sicherheit, Achtung des Privat- und Familienlebens, Recht auf Ehe und Familie, Gewissens- und Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrecht, Abschiebungs-, Ausweisungs- und Auslieferungsschutz). Darüber hinausgehend werden weitere Freiheitsrechte gewährt. 233 Im 5. Erwägungsgrund der Präambel wird der Zweck der Charta dahingehend umschrieben, dass der Schutz der Grundrechte zu stärken sei, „indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden“. Zu dieser Funktion der Grundrechte-Charta siehe E. Pache, Die Europäische Grundrechtscharta – ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, EuR 2001, S. 475, 477 f. 234 C. Busse, Eine kritische Würdigung der Präambel der Europäischen Grundrechtecharta, EuGRZ 2002, S. 559, 571, kritisiert, dass in der Präambel nicht klargestellt wird, dass über die Sichtbarmachung von bereits anerkannten Gemeinschaftsgrundrechten hinaus auch neue Grundrechte eingeführt werden. 235 Vgl. oben 2. Teil, B. II. 2. a).
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Einige davon sind – wenn auch in der EMRK nicht ausdrücklich erwähnt – in der Judikatur des Straßburger Gerichtshofs anerkannt und einem weiter gefassten Menschenrecht zugeordnet, so das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten in Art. 8 GRCh, das der EGMR als von Art. 8 EMRK geschützt ansieht. Bei anderen, im EMRK-System nicht gewährleisteten Rechten handelt es sich um in der Gemeinschaftsrechtsordnung bereits anerkannte Grundrechte, die nunmehr geschrieben sichtbar gemacht werden, so im Bereich der Wirtschaftsrechte die Berufs- und die unternehmerische Freiheit der Art. 15 Abs. 1 und 16 GRCh. Eine Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit vergleichbar Art. 2 Abs. 1 GG gibt es in der Charta genauso wenig wie in der EMRK. Atypisch mutet Art. 15 Abs. 2 GRCh an, der die personenbezogenen Grundfreiheiten des EG-Vertrags für die Unionsbürger in der Charta verankert. Dagegen, dass mit der Vorschrift intendiert sein soll, das den Grundfreiheiten immanente grenzüberschreitende Element abzuschaffen236 bzw. sie auf diesem Wege allgemein zu Beschränkungsverboten zu befördern, spricht der Wortlaut des Art. 52 Abs. 2 GRCh, demzufolge die Ausübung der Charta-Rechte im Rahmen der primärrechtlich festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt237. Es scheint sich hierbei eher um eine Ausgestaltung der in Art. 15 Abs. 1 GRCh gewährleisteten Berufsfreiheit im Hinblick auf die Besonderheiten der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zu handeln, die nicht die bestehenden Regelungen des Primärrechts verdrängen soll238. Unter der Überschrift „Gleichheit“ normiert Kapitel III der GrundrechteCharta neben dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz spezifische Diskriminierungsverbote unter besonderer Hervorhebung des Grundsatzes der Gleichheit von Frauen und Männern. Daneben finden sich in diesem Kapitel Rechte des Kindes, älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung sowie eine Zielbestimmung, nach der die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet. Art. 23 GRCh, der die Gleichstellung von Frauen und Männern gewährleistet, deckt sich für den besonders hervorgehobenen Bereich des Arbeitsplatzes mit Art. 141 EGV. Art. 21 Abs. 2 GRCh entspricht mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Art. 12 EGV. Die gewährten Gleichheitsrechte sind damit recht umfassend. Das Diskriminierungsverbot erfasst neben den klassischen Kriterien des Art. 14 EMRK auch das moderne Kriterium der genetischen Merkmale. 236 So C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, S. 1, 5. 237 So auch C. Calliess, Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 9. 238 Zum Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Gemeinschaftsgrundrechten vgl. unten 2. Teil, B. IV. 2.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Kapitel IV, „Solidarität“, umfasst eine Mischung aus arbeits- und sozialrechtlichen sowie wirtschaftlichen Rechten mit unterschiedlichen Schutzfunktionen. Die sozialrechtlichen Schutzansprüche im Hinblick auf den Arbeitsplatz (Arbeitsbedingungen, Schutz vor Entlassungen, Verbot der Kinderarbeit und Jugendschutz) sind teilweise im gemeinschaftlichen Primärund Sekundärrecht geregelt. Neben diesen abwehrrechtlich gestalteten Gewährleistungen finden sich in Art. 29 (Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst), Art. 34 (soziale Sicherheit und Unterstützung) und Art. 35 GRCh (Zugang zu Gesundheitsvorsorge und ärztlicher Versorgung) Leistungs- bzw. Teilhaberechte, deren Reichweite allerdings dadurch eingeschränkt wird, dass sie nur „nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts“ bzw. „der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ gelten sollen239. Art. 37 (Umweltschutz) und Art. 38 GRCh (Verbraucherschutz) sind staatszielartige Bestimmungen240. Die Charta führt hier folglich Rechte ein, die nicht mehr in das klassische Schema der Gemeinschaftsgrundrechte als in erster Linie abwehrrechtlich gestalteter Garantien passen, welche – korrespondierend mit den übertragenen Kompetenzen – gegen die gemeinschaftliche Hoheitsgewalt ins Feld geführt werden. Damit geht sie auch über das EMRK-System hinaus, das, als völkerrechtlicher Vertrag ohne eigene Hoheitsrechte ausgestaltet, derartige Rechte vom Grundsatz her nicht gewähren kann241. Der in Art. 36 GRCh geregelte Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erscheint in einem Grundrechtskatalog wesensfremd242. Die „Bürgerrechte“ in Kapitel V umfassen vorwiegend Rechte, die bereits als Unionsbürgerrechte ausdrücklich im EG-Vertrag geregelt sind. Dazu gehören das Wahlrecht auf kommunaler und europäischer Ebene, das Recht zur Anrufung des Bürgerbeauftragten und das Petitionsrecht, das Freizügigkeitsrecht, das Recht auf diplomatischen und konsularischen 239 Zu der Kompromissstruktur dieser Leistungsrechte siehe B. Rudolf, European Union – Developments, Int. Journal of Constitutional Law 1 (2003), S. 135, 136 f. Siehe auch S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 50 ff. 240 T. Schmitz, Die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union, EuR 2004, S. 691, 703, spricht von „Unionszielbestimmungen im Grundrechtsgewand“. Zur Unterscheidung zwischen Grundrechten im eigentlichen Sinne und sog. Grundsätzen in der Grundrechte-Charta siehe die Untersuchung von G. Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta. 241 Vgl. E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 167, der anmerkt, dass neue Grundrechte nicht vom EGMR „erfunden“ werden könnten, da seinen Urteilen keine Legislativwirkung zukomme, und eine Umdeutung klassischer EMRK-Rechte in soziale Teilhaberechte ausgeschlossen sei. 242 Vgl. Art. 16 EGV. Dazu C. Calliess, Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 13.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Schutz sowie das Dokumentenzugangsrecht. Neu ist das in Art. 41 GRCh normierte Recht auf eine gute Verwaltung, das wiederum in verschiedene Einzelgewährleistungen unterteilt ist. Das letzte inhaltliche Kapitel VI enthält mit den „justiziellen Rechten“ einige der Verfahrensgrundrechte, die in der EMRK ausdrücklich gewährleistet oder in der Rechtsprechung des EGMR entwickelt und auf dieser Basis auch vom Luxemburger Gerichtshof anerkannt worden sind (Recht auf fairen Prozess in Gestalt verschiedener Einzelgewährleistungen, Verbot der Doppelbestrafung). Art. 47 Abs. 2 GRCh erweitert die Garantie des Art. 6 EMRK insofern, als er allgemein den Zugang zu Gericht festschreibt, ohne den Anspruch auf Zivil- und Strafverfahren zu beschränken. Daneben finden sich in Art. 49 GRCh in Form der Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Verhältnismäßigkeit im strafrechtlichen Bereich aber auch objektiv-rechtliche Prinzipien, die oben mangels Eigenschaft als subjektive Rechte zum Bereich der nicht-grundrechtlichen Rechtsstaatsgrundsätze gezählt wurden. Der so normierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nur ein kleiner Ausschnitt des in der Rechtsprechung herausgearbeiteten grundlegenden Prinzips, das in allgemeiner Form für Gemeinschaftshandlungen in Art. 5 Abs. 3 EGV kodifiziert worden ist. In Anbetracht der bisher geringen Berührungsflächen zwischen Gemeinschaftsrecht und Strafrecht im eigentlichen Sinn kann diesem Grundsatz nur ein sehr kleiner Anwendungsbereich zukommen. b) Problem: Mehr Rechte als Kompetenzen auf Gemeinschaftsebene Insgesamt liegt damit ein umfassender Grundrechtskatalog vor, dessen Basis in den vom Luxemburger Gerichtshof entwickelten Gemeinschaftsgrundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu sehen ist, der aber auch darüber hinaus geht und zeitgemäß moderne Grundrechte zur Verfügung stellt. Genau hierin, in dem Überhang von bisher in der Gemeinschaftsrechtsordnung noch nicht anerkannten Rechten, liegt allerdings auch die grundlegende Problematik der Grundrechte-Charta: Sie wahrt nicht den Grundsatz der Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz243 und läuft damit sozusagen systemwidrig den geltenden Grundsätzen der Rechtsordnung entgegen. Sind Grundrechte in erster Linie negative Kompetenznormen hoheitlichen Handelns244, so kann ihr Wirkungsbereich nicht über den Zuständigkeitsbereich hinausreichen. In einer staatlichen Rechtsordnung stellt sich die Frage nach der Deckungsgleichheit bzw. Parallelität von Zu243
So formuliert von I. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl 2000, 847, 852. 244 H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53, 89 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
ständigkeit und Grundrechten nicht, da der Staat über eine KompetenzKompetenz verfügt. Anders ist es in der Gemeinschaft, der nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur die Kompetenzen zukommen, die von den Mitgliedstaaten auf sie übertragen worden sind. Sie repräsentiert nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex aller Zuständigkeiten245. Die Charta-Rechte, die Bereiche betreffen, in denen die Gemeinschaft keine Kompetenzen hat, so z. B. Art. 35 GRCh zum Gesundheitsschutz, aber auch verschiedene Leistungsrechte, stellen folglich leere Hülsen dar: Sie können keinen Zuwachs an Rechten des Einzelnen bewirken, solange der betroffene Bereich unter mitgliedstaatlicher Hoheit verbleibt. Teilweise wird als positiv vermerkt, dass die Charta Rechte „auf Vorrat“ für etwaige zukünftige Kompetenzen angelegt habe246. Auch wird angeführt, dass vielfach abstrakt kaum zu beurteilen sei, welche Grundrechte durch die Ausübung einer bestimmten Kompetenz berührt sein könnten, und ein exaktes Parallellaufen daher nur schwer zu erreichen sei247. Überwiegend stößt dieser Rechtsvorschuss bzw. -überschuss jedoch auf Kritik. Es hätten zunächst diejenigen Grundrechte, die bereits in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt sind oder die effektiv auf von der Gemeinschaft ausgehende Grundrechtsgefährdungen abstellen, Aufnahme in die Charta finden sollen; dem dynamischen Zuwachs der europäischen Kompetenzen entsprechend könne der Katalog dann später erweitert werden248. Nur so könne die Offenheit des Katalogs für künftige Entwicklungen gesichert werden249. Der Konvent scheint die Problematik beim Verfassen der Rechte zwar gesehen zu haben: Art. 52 Abs. 2 GRCh legt fest, dass die Charta weder neue Zuständigkeiten begründet noch bestehende ändert. Außerdem ist den betreffenden „überschießenden“ Rechten in der Regel die Klausel beigefügt, dass sie nur „nach 245 Zur Wechselwirkung zwischen Grundrechtsbindung und Kompetenzverteilung am Beispiel des Art. 16 GRCh siehe A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 101 ff. 246 So z. B. T. Schmitz, Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 833, 834, der u. a. darauf verweist, dass ein vollständiger Grundrechtskatalog ein wichtiger Orientierungspunkt für Beitrittskandidaten sei. 247 S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 53 f. 248 I. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl. 2000, S. 847, 852 f.; C. Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, S. 261, 264 f.; A. Zimmermann, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zwischen Gemeinschaftsrecht, Grundgesetz und EMRK, S. 25 ff.; T. Stein, „Gut gemeint . . .“ – Bemerkungen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: FS Steinberger, S. 1425, 1432, 1435 ff. 249 I. Pernice, a. a. O., S. 853.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
165
Maßgabe des Gemeinschaftsrechts“ bzw. „der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ gelten sollen250. Die vielfach geäußerte Befürchtung, die Charta könne zu einer schleichenden Kompetenzausweitung der Gemeinschaft zu Lasten der Mitgliedstaaten führen, scheint insofern nicht berechtigt. Gleichwohl liegt hier ein Abweichen von dem bestehenden, gewachsenen System vor251. Der in der Präambel angeführte Zweck des Sichtbarmachens der Grundrechte ist überschritten worden. Dies war bei einem Projekt, das die Inhalte verschiedener Quellen mit teils gleichem Regelungsanliegen in einem einheitlichen Dokument zusammenfassen soll, sicherlich kaum vermeidbar252. Die Konsequenz hieraus ist allerdings, dass sich im Falle des verbindlichen Inkrafttretens der Grundrechte-Charta Veränderungen der konzeptionellen Ausrichtung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzsystems ergeben können. Die Charta entspricht von ihrer Anlage her eher einem staatlichen Grundrechtskatalog als einem Dokument, dessen Zielsetzung sich darauf beschränkt, die auf Ebene der supranationalen Gemeinschaft anerkannten Grundrechte sichtbar zu machen. Zwar gilt für die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze, dass sie der Gemeinschaftsrechtsordnung immanent sind, vom EuGH also nicht erfunden, sondern lediglich gefunden und konkretisiert werden. Ein systemangepasster Katalog wäre also nicht zwangsläufig auf die bereits in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Rechte zu begrenzen. Indem aber mit den Kompetenzen nicht korrespondierende Rechte und insbesondere auch Leistungsrechte zur Verfügung gestellt werden, wird – ein Verbindlichwerden der Charta vorausgesetzt – ein qualitativer Sprung in einen neuen Bereich des Grundrechtsschutzes hinein vollzogen. 4. Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte – Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung Die Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte orientiert sich grundsätzlich an dem dreistufigen Schema von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung, das auch die EMRK-Rechte charakterisiert. Der Schutzbereichsprüfung kommt in der Regel keine große Bedeutung zu, da die Reichweite der Rechte auf Schutzbereichsebene mangels geschriebenen Katalogs nicht anhand konkreter textlicher Vorgaben bestimmt werden kann. Der Schwer250 Dazu I. Pernice, Europäische Grundrechte-Charta und Abgrenzung der Kompetenzen, EuZW 2001, S. 673. 251 C. Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, S. 261, 265, spricht davon, dass sich der Konvent „im Kompetenzgestrüpp verheddert“ habe. 252 So C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, DVBl. 2001, S. 1, 10.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
punkt liegt auf der Ebene der Schranken, auf der die denkbare Rechtfertigung des Eingriffs überprüft wird, in der Praxis also regelmäßig beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz253. Die Grundrechte-Charta enthält in Art. 52 Abs. 1 eine allgemeine, für alle gewährleisteten Rechte gültige Schrankenregelung, die an die Rechtsprechung des EuGH angelehnt ist. Danach gelten Gesetzesvorbehalt und Wesensgehaltsgarantie. Nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind Einschränkungen der Rechte zulässig, sofern sie den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
III. Abgrenzung der Gemeinschaftsgrundrechte von nicht-grundrechtlichen Rechtskategorien, insbesondere von den Grundfreiheiten Die Notwendigkeit, die Gemeinschaftsgrundrechte von grundrechtsähnlichen Kategorien innerhalb derselben Rechtsordnung abzugrenzen, unterscheidet die gemeinschaftliche Rechtsebene von der EMRK-Ebene. Die EMRK-Garantien stehen als durch Staatsvertrag gewährleistete Menschenrechte auf der Ebene des Völkerrechts isoliert da. Anders als die Gemeinschaftsgrundrechte, die Bestandteil der supranationalen Rechtsordnung sind, fügen sie sich nicht in einen übergeordneten, hierarchisch gegliederten Rahmen ein, sondern stehen für sich und bilden die äußerste Grenze der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt. Folglich entstehen im Kontext der Konventionsrechte weder Probleme der Abgrenzung gegenüber anderen, nicht menschenrechtlichen Rechtskategorien noch müssen damit zusammenhängende Rangfragen innerhalb des EMRK-Systems selber geklärt werden254. Für die Bewertung der Rolle der Grundrechte innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung ist hingegen eine Abgrenzung gegenüber anderen Rechtskategorien und die Klärung der Rangfrage unabdingbar. Die Abgrenzung der Gemeinschaftsgrundrechte von nicht-grundrechtlichen Normen des Gemeinschaftsrechts bedingt dabei die Einordnung der Grundrechte in die gemeinschaftliche Normenhierarchie; daher ist sie vorzuschalten. 253
Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Rechtsprechung des EuGH siehe unten 3. Teil, A. II. 5. b) aa). 254 Dies ist zu unterscheiden von der Frage nach einer Hierarchie der Konventionsrechte untereinander (siehe oben 2. Teil, A. I. 3.) und nach dem Rang der EMRK in den innerstaatlichen Rechtsordnungen (siehe oben 1. Teil, B. II. 3. a)). Zum Verhältnis der Konventionsrechte zu anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Bereich des Menschenrechtsschutzes – auch im Zusammenhang mit der Vorschrift des Art. 53 EMRK – siehe E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 194 f.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Einige wesentliche Abgrenzungen sind bereits innerhalb des Überblicks über die Gemeinschaftsgrundrechte und im Rahmen ihrer Zuordnung zu den drei Kategorien Freiheitsrechte, Verfahrensgrundrechte und Gleichheitsrechte erfolgt. So ist zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten als subjektiven Rechten und anderen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, denen nur eine objektiv-rechtliche Funktion zukommt, differenziert worden. Die in Art. 18 EGV gewährleistete Freizügigkeit der Unionsbürger ist trotz Verankerung im Primärrecht als echtes Grundrecht freiheitsrechtlichen Gehalts eingeordnet worden. Im Bereich der Gleichheitsrechte wurde unterschieden zwischen dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz als Gemeinschaftsgrundrecht, das seine Quelle in den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen hat, und den primärrechtlich verankerten Gleichheitsrechten, denen prinzipiell keine Grundrechtsqualität zukommt. Als einzige Ausnahme wurde hierbei Art. 141 EGV hervorgehoben, der nicht an Staatsangehörigkeit oder Grenzübertritt als Binnenmarkt-Differenzierungskriterien, sondern an das Geschlecht anknüpft und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Charakter eines echten Grundrechts angenommen hat. Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags sind dagegen dem Bereich der nicht-grundrechtlichen Diskriminierungsverbote zugeordnet worden. Dies bedarf im Hinblick auf die fundamentale Rolle, die sie für die gesamte Gemeinschaftsrechtsordnung spielen, einer Erläuterung. Die Grundfreiheiten zielen von ihrer prinzipiellen Ausrichtung her nicht auf Legitimation der vorrangig von den Gemeinschaftsorganen ausgeübten supranationalen Hoheitsgewalt, sondern auf transnationale Integration durch Herstellung gleicher Bedingungen für alle im Binnenmarkt. Dementsprechend sind sie vorrangig an die Mitgliedstaaten adressiert. Gleichwohl sind sie vielfach in die Nähe von Grundrechten gerückt oder sogar als solche eingeordnet worden255. Dies hängt mit der Entwicklung zusammen, die die Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs vollzogen haben. Im 255
So u. a. G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 125: „spezifische gemeinschaftseigene Grundrechte“; A. Bleckmann, Die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes als Grundrechte, in: GS Sasse, S. 665, 676; M. Notthoff, Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, RIW 1995, S. 541, 545; I. Pernice, Gemeinschaftsverfassung und Grundrechtsschutz – Grundlage, Bestand und Perspektiven, NJW 1990, S. 2409, 2413; ders., Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 52, 65 ff.; J. Schwarze, Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft – Grundlagen und heutiger Entwicklungsstand, EuGRZ 1986, S. 293, 296. Der EuGH hat in mehreren Urteilen Grundfreiheiten als „Grundrechte“ bezeichnet, ohne allerdings näher auf die Gründe für die Verwendung des Begriffs einzugehen, vgl. Rs. 222/86, Heylens, Slg. 1987, S. 4097, Rn. 15; Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921, Rn. 129 (bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit) sowie Rs. C-340/89, Vlassopoulou, Slg. 1991, S. I-2357, Rn. 22 (Niederlassungsfreiheit). Die Formulierung ließe sich damit erklären, dass der Gerichtshof lediglich die besondere Bedeutung der Grundfreiheiten für die Gemeinschaftsrechtsordnung hervorheben wollte, vgl.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Vertrag formuliert als rein objektiv-rechtliche Vorschriften, die an die Mitgliedstaaten adressierte Aufträge bzw. Verbote enthalten, sind sie zunächst zu subjektiven Rechten des Einzelnen in der Rolle des „Marktbürgers“ weiterentwickelt worden, denen unbestritten auch eine individualschützende Wirkung zukommt. Unter Zugrundelegung der oben genannten weiten Definition des subjektiven Rechts als einklagbare Rechtsvorschrift256 wurden sie in dem Moment zu subjektiven Rechten, in dem der EuGH ihnen – auf der Basis der Leitentscheidung Van Gend & Loos aus dem Jahr 1963257 – unmittelbare Wirkung zuerkannt hat258. Die subjektive Schutzdimension eines Rechts allein reicht aber, wie bereits im Rahmen der Gleichheitsrechte ausgeführt, noch nicht aus, um ihm auch grundrechtlichen Charakter zuzuerkennen. Trotz Einklagbarkeit durch unmittelbare Wirkung bleiben die Grundfreiheiten immer noch in ihrer „klassischen“ Rolle als binnenmarktfördernde Gleichheitsrechte, die an die Kriterien von Staatsangehörigkeit und Grenzüberschreitung anknüpfen, verhaftet. Eine grundlegende inhaltliche Diskussion um den möglichen Grundrechtscharakter der Art. 28, 39, 43 und 49 EGV ist daher erst in den neunziger Jahren entfacht worden, als in Folge einer Reihe von Urteilen des Gerichtshofs die Frage aufkam, ob sich die Grundfreiheiten von bloßen Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten weiterentwickelt haben, ob ihnen also nunmehr über die binnenmarktbezogene Gleichheitsfunktion hinaus auch die Funktion von vergleichsunabhängigen Freiheitsrechten zukommen könnte259. Insbesondere dem Bosman-Urteil des EuGH260 kommt in diesem Zusammenhang eine Art Katalysatorfunktion zu. Der Gerichtshof hat hier aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EGV ein sogenanntes „Grundrecht auf freien Zugang zur Beschäftigung“ abgeleitet261. Hierin wird teilweise die Manifestation eines „qualitativen Sprungs“ J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 105. 256 Siehe oben 2. Teil, B. II. 1. 257 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 1 ff. 258 Für die Warenverkehrsfreiheit EuGH, Rs. 74/76, Iannelli, Slg. 1977, S. 557, Rn. 90; Niederlassungsfreiheit: EuGH, Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, S. 631, Rn. 7 ff.; Dienstleistungsfreiheit: Rs. 33/74, Van Binsbergen, Slg. 1974, S. 1299, Rn. 27; Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Rs. 41/74, Van Duyn, Slg. 1974, S. 1337, Rn. 5/7. 259 Ausführlich zu dieser Fragestellung in Bezug auf alle Grundfreiheiten unter Verweis auf die relevante EuGH-Rechtsprechung T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 38 ff., und M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 46 ff. 260 EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, S. I-4921 ff. 261 EuGH, a. a. O., Rn. 129.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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der Grundfreiheit vom Diskriminierungs- zum allgemeinen Beschränkungsverbot und damit zu einem grundrechtlichen Freiheitsrecht gesehen. Dieser Sprung sei vom EuGH für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der BosmanEntscheidung besonders offensichtlich vollzogen worden, habe aber auch bei den anderen Grundfreiheiten stattgefunden262. Dagegen wird auf der anderen Seite vertreten, dass sich ein solcher Schritt hin zum Beschränkungsverbot in der Rechtsprechung des EuGH nicht generell erkennen lasse. Durch die Einbeziehung materiell diskriminierender, also unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen in den Bereich der Grundfreiheiten sei eine Grauzone entstanden, in der die Konturen des Diskriminierungsverbots zwar verschwömmen. Gleichwohl blieben die Grundfreiheiten von ihrer Anlage her aber Gleichheitsrechte263. Einzelne atypische Fälle, die sich in keiner Weise mehr unter die gleichheitsrechtliche Konstruktion dieser Rechtskategorie subsumieren ließen, so beispielsweise auch der Fall Bosman, sollten nicht dem Bereich der Grundfreiheiten zugeordnet, sondern müssten stattdessen von den Gemeinschaftsgrundrechten als einschlägigen Rechten „aufgefangen“ und dann folgerichtig auch als Grundrechtsfälle bezeichnet werden264. Eine endgültige Klärung der Frage, ob Grundfreiheiten letztlich Diskriminierungs- oder darüber hinausgehend auch Beschränkungsverbote sind bzw. sein sollen, muss im Kontext der vorliegenden Untersuchung nicht erfolgen. Festzuhalten ist, dass, auch wenn die Erweiterung der Grundfreiheiten zum Beschränkungsverbot teilweise bestritten wird, doch unzweifelhaft die Tendenz zu verzeichnen ist, dass sie sich durch die Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs zumindest stärker in die Richtung grundrechtlicher Gewähr262 M. Nettesheim, Die europarechtlichen Grundrechte auf wirtschaftliche Mobilität (Art. 48, 52 EGV), NVwZ 1996, S. 342, 343; M. Hilf/E. Pache, Das BosmanUrteil des EuGH, NJW 1996, S. 1169, 1172; N. Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, S. 174; J. Wolf, Vom Grundrechtsschutz „in Europa“ zu allgemeinverbindlich geltenden europäischen Grundrechten, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 13; C.-P. Bienert, Die Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns anhand der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 37 ff.; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 24; P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 462 ff. 263 H. Jarras, Die Grundfreiheiten als Grundgleichheiten, in: FS Everling, S. 593, 599 ff., 606 f.; ders., Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, S. 202, 214; T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 85, 118 ff.,127, 133, 190 ff.; T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 288 f.; M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 57 ff., 68 ff., 157 ff. 264 T. Kingreen/R. Störmer, a. a. O., S. 288 f.; L. Gramlich, Grundfreiheiten contra Grundrechte im Gemeinschaftsrecht, DÖV 1996, S. 801, 804, 805 ff.; J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 371 ff., demzufolge der EuGH in den einschlägigen Fällen letztlich Gemeinschaftsgrundrechte unter dem Deckmantel der Grundfreiheiten zur Anwendung gebracht habe.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
leistungen bewegt haben. Gleichwohl bleiben aber grundlegende Aspekte, die dagegen sprechen, ihnen den Charakter von Gemeinschaftsgrundrechten zuzuerkennen. Über die bereits erwähnten grundsätzlich unterschiedlichen Adressaten von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten – Mitgliedstaaten einerseits, Gemeinschaft andererseits – hinaus ist es vor allem die unterschiedliche Perspektive, die gegen eine Gleichsetzung spricht: Allgemein gesprochen stehen die Grundfreiheiten in einer wirtschaftlichen Perspektive, während die Grundrechte in erster Linie auf die menschliche Würde und Autonomie bezogen sind265. Die Grundrechte stellen dem Einzelnen zweckfrei Schutz zur Verfügung, während sich die Grundfreiheiten, auch wenn sie subjektiven Schutz gewähren, nicht von ihrer Zweckgebundenheit im Rahmen des Binnenmarktes lösen können. Sie sind ihrer Herkunft entsprechend immer wirtschaftsbezogen. Ihre Anwendbarkeit hängt vom Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements ab. Wesensmäßig stellen die Grundfreiheiten damit vorrangig am europäischen Allgemeininteresse ausgerichtete institutionelle Gewährleistungen dar, während die Grundrechte in erster Linie individuelle Garantien sind, die in sich selbst den fundamentalen Wert enthalten, den sie gewährleisten sollen266. Als subjektive Rechte können die Grundfreiheiten entsprechend ihrem Ansatz ausschließlich von Gemeinschaftsbürgern geltend gemacht werden, während die Gemeinschaftsgrundrechte prinzipiell unabhängig von der Nationalität des Individuums, also auch für Drittstaatler, gelten267. Gegen eine Gleichstellung spricht weiterhin auch der unterschiedliche Ansatz von Grundfreiheiten und Grundrechten bei der Frage der umgekehrten Diskriminierung, d. h. der Benachteiligung von Inländern gegenüber Bürgern aus anderen Mitgliedstaaten268. Die genannten Aspekte zeigen, dass es weiterhin, wenn auch stärker relativiert, bei der bereits zu Beginn der neunziger Jahre getroffenen Dif265 J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 103. Vgl. auch A. Clapham, Human Rights and the EC: A Critical Overview, S. 69: „. . . question whether the main aim of Community fundamental rights is merely to facilitate the better operation of an unregulated single market, or whether they will be adopted taking full cognisance of the need to protect the dignity of Community citizens“. 266 W. Kluth, Die Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, AöR 122 (1997), S. 557, 574; D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 148 f. Zur „inhaltlichen Fundamentalität“ der Grundrechte vgl. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 475. 267 Zu den Berechtigten der Gemeinschaftsgrundrechte in dieser Hinsicht siehe unten 2. Teil B. V. 1. a). 268 J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 299 ff.; J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 104; C.-P. Bienert, Die Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns anhand der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 38.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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ferenzierung zwischen „weapons in the hands of Community citizens“ (Grundrechte) auf der einen Seite und „useful tools for integration“ (Grundfreiheiten) bleibt269. Zwischen den Gemeinschaftsgrundrechten und den Grundfreiheiten lässt sich dementsprechend eine – wenn auch nicht immer scharfe – Trennlinie ziehen, die sich am besten auf die bereits mehrfach angeführte unterschiedliche Ausrichtung der Rechtskategorien – transnationale Integration einerseits, supranationale Legitimation dessen, was die Grundfreiheiten mitgeschaffen haben, andererseits – zurückführen lässt270. Die sachspezifische Unterschiedlichkeit beider Kategorien ließe sich normdogmatisch nur „um den Preis höchster und letztlich anwendungsferner Abstraktheit als individuelle Schutzposition . . . überwölben“271. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass die Grundfreiheiten aus dem für den Vergleich relevanten Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte herausgehalten werden. Sie fügen sich nicht in das hier entwickelte Konzept der Gemeinschaftsgrundrechte ein. Der Grad der Übereinstimmung zwischen EMRK-Rechten und Grundrechten in der Gemeinschaftsrechtsordnung steigt auf diese Weise. Die EMRK kennt nur „echte“ Menschenrechte; andere Kategorien sind ihr fremd. Das Gemeinschaftsrecht als „integrierte“ Rechtsordnung kennt andere Kategorien; diese sind trotz einiger ähnlicher Züge aber nicht zu den Grundrechten zu zählen, da sie deren spezifische Funktionen nicht erfüllen. Mit dieser Einordnung darf allerdings keinesfalls die fundamentale Rolle der Grundfreiheiten auch für das Grundrechtsschutzsystem der Gemeinschaft verkannt werden. Die Grundfreiheiten als konstituierende Normen der gesamten Gemeinschaftsrechtsordnung272 zeitigen maßgebliche Auswirkungen auf Reichweite und Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Grundrechte. Sie stellen somit einen wichtigen Faktor der Beeinflussung dar, zu dem es im EMRK-System kein Pendant gibt. Die Bedeutung dieses Faktors 269
So A. Clapham, Human Rights and the EC: A Critical Overview, S. 10. Clapham arbeitet diese verschiedenen Funktionen heraus, ohne allerdings selber genau zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten zu differenzieren. Siehe auch J. Gebauer, a. a. O., S. 117, der vom „instrumentalen Charakter“ der Grundfreiheiten spricht. 270 T. Kingreen, Buchbesprechung, DVBl. 2003, S. 386 f.: „Das eine kann das andere nicht ersetzen.“ Auch B. Beutler in: GTE, Art. F EUV Rn. 91, stellt auf den sachlichen Unterschied in der Zielrichtung von Grundfreiheiten und Grundrechten ab. 271 P.-C. Müller-Graff, Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte, in: FS Steinberger, S. 1281, 1285. 272 Vgl. P.-C. Müller-Graff, a. a. O., S. 1286: „. . . die Marktgrundfreiheiten . . . (sind) inhaltlich schlechthin konstituierend für das Konzept der Gemeinschaftsrechtsordnung des EG-Vertrages und deren substantielle Ausgestaltung sowie in diesem Rahmen Teil der raison d’être der Gemeinschaft“.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
für die Grundrechte in der Gemeinschaft ergibt sich bereits bei der Einordnung der Grundrechte in die gemeinschaftliche Normenhierarchie.
IV. Rang der Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung und Konkurrenzen Anders als im völkerrechtlichen System der Menschenrechtskonvention lässt sich für die supranationale Gemeinschaftsrechtsordnung eine Normenhierarchie erstellen, die allerdings nicht den Grad der Ausdifferenzierung einer staatlichen Rechtsordnung, wie beispielsweise in Deutschland, erreicht273. Wird zwischen gemeinschaftlichem Primärrecht in Form der Gründungsverträge und daraus abgeleitetem Sekundärrecht, d. h. den in Art. 249 EGV genannten Rechtsakten der Organe, unterschieden, so bedeutet dies zugleich, dass Ersteres den Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit des Letzteren darstellt, das Primärrecht also hierarchisch vorrangig ist. Damit ist allerdings noch nichts über den Rang der Gemeinschaftsgrundrechte ausgesagt, da diese – abgesehen von den ausnahmsweise im EG-Vertrag verankerten Grundrechtsgewährleistungen des Art. 141 EGV und im Rahmen der Unionsbürgerschaft – zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die gerade nicht schriftlich verankert sind. 1. Rangordnung und Konkurrenzen der Grundrechte untereinander Aus der EuGH-Rechtsprechung geht hervor, dass die Gemeinschaftsgrundrechte jedenfalls im Rang über dem Sekundärrecht stehen, da sie eine Bezugsgröße für dessen Gültigkeit und Auslegung darstellen. Weitere eindeutige Aussagen zur Einordnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze und damit auch der Grundrechte in die gemeinschaftliche Normenhierarchie lassen sich den Urteilen nicht entnehmen. Das genaue Verhältnis zwischen Primärrecht und Gemeinschaftsgrundrechten bleibt hiernach ungeklärt. Vereinzelt hat der Gerichtshof eine grundrechtskonforme Auslegung des Vertragsrechts vorgenommen, was als Argument für eine Einordnung der Grundrechte an der Spitze der Normenhierarchie, noch über dem Primärrecht, ausgelegt werden kann274. Dies entspräche rechtsordnungsübergreifend dem Gedanken der Grundrechte als Normen, die zweckfrei die fundamentalen Werte eines Gemeinwesens verkörpern und aus dieser Stellung heraus Einfluss auf das gesamte Recht nehmen275. Andere Urteile, in denen 273 Umfassend zu Hierarchien im Gemeinschaftsrecht H. Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht. 274 Vgl. EuGH, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, S. I-2601, Rn. 23. Dazu I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofs, S. 98; P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 541, 549.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
173
es inhaltlich um Kollisionssituationen zwischen den primärrechtlichen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten ging, legen den Schluss nahe, dass der Gerichtshof die Grundrechte als dem Primärrecht gleichrangig erachtet276. In der Literatur wird eine solche Gleichrangigkeit pauschalisierend unter Verweis auf Funktion und Ableitung der Gemeinschaftsgrundrechte277 und auf den Charakter dieser Rechte als elementare rechts275 Vgl. hierzu zuletzt Ziff. 50 ff. der Schlussanträge von Generalanwältin StixHackl vom 18.3.2004 in der Rs. C-36/02, OMEGA, Slg. 2004, S. I-9609 ff.: Die Generalanwältin hält es für „diskussionswürdig“, den Grund- und Menschenrechten aufgrund ihrer Fundamentalität „prinzipiell einen gewissen Wertvorrang vor ‚allgemeinem‘ Primärrecht“ einzuräumen. Auch wenn sich das Kollisionsproblem zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten in der Praxis „kaum in dieser Schärfe [stellte], da sowohl die Grundfreiheiten als auch die (meisten) Grundrechte Beschränkungen“ zuließen, müsse eine „notwendige Interessenabwägung letztlich im Rahmen des Beschränkungstatbestands der einschlägigen Grundrechte“ stattfinden. Ziff. 53 der Schlussanträge: „Mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes ‚in Einklang bringen‘, kann nämlich nicht bedeuten, Grundfreiheiten gegen Grundrechte als solche abzuwägen, was implizieren würde, dass der Grundrechtsschutz zur Disposition stünde.“ 276 EuGH, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I-3689 ff. (Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EGV und Grundrecht auf Medienfreiheit. Zwar hat der Gerichtshof hier keine konkrete Entscheidung getroffen, aus den Ausführungen ergibt sich aber dass Grundfreiheit und Grundrecht jeweils ein Maximum an möglicher Geltung zu verschaffen ist, was auf eine Gleichrangigkeit hindeutet); EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I-2925 ff. (Grundrechte als Schrankenbestimmungen der Grundfreiheit des Art. 49 EGV. Die Gleichrangigkeit der beiden Gruppen ergibt sich hier daraus, dass Schrankenbestimmungen notwendigerweise den Rang des zu beschränkenden Rechts teilen.) Dazu D. Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen, S. 153 ff. Ausführlich zu dieser Problematik jetzt auch EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 71 ff.; zur in diesem Urteil postulierten Gleichrangigkeit von Grundfreiheiten und Grundrechten siehe S. Kadelbach/N. Petersen, Europäische Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten, EuGRZ 2003, S. 693, 695, 696. L. Scheeck, The Relationship between the European Courts and Integration through Human Rights, ZaöRV 65 (2005), S. 837, 851, verweist auf ein Interview mit einem EuGH-Mitarbeiter vom Juni 2005, in dem dieser feststellte, dass seit der Entscheidung im Fall Schmidberger eine „de facto-Hierarchie“ zugunsten von Grundrechten im Gemeinschaftsrecht existiere. Nach Ansicht des Präsidenten des EuGH, Skouris, zeigt das Schmidberger-Urteil, dass zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten kein Hierarchieverhältnis (mehr) bestehe, siehe V. Skouris, Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten im europäischen Gemeinschaftsrecht, DÖV 2006, S. 89, 95. 277 B. Beutler in: GTE, Art. F EUV Rn. 73; R. Streinz, Europarecht, Rn. 412, ordnet die allgemeinen Rechtsgrundsätze inklusive der Grundrechte dem Bereich des Primärrechts zu; L. Gramlich, Grundfreiheiten contra Grundrechte im Gemeinschaftsrecht?, DÖV 1996, S. 801, 805. Siehe auch T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3, 30, der den Rang der allgemeinen Rechtsgrundsätze nach ihrer derogatorischen Kraft beurteilt.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
staatliche Regeln278 vertreten. Der Verfassungscharakter der Gemeinschaftsverträge lasse zugleich eine normhierarchische Überordnung der Grundrechte über das Primärrecht nicht zu279. Zum Teil wird hier noch zwischen den „obersten Grundsätzen“ oder „Verfassungsprinzipien“ des Primärrechts und dem „einfachen Vertragsrecht“ differenziert280. Gegen eine faktische Verankerung der Gemeinschaftsgrundrechte an höchster Stelle in der Normenhierarchie und auch gegen eine völlige Gleichrangigkeit mit dem Primärrecht spricht indes, dass der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung betont, dass sich die Gemeinschaftsgrundrechte „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“ müssen281. Mit dieser Formel werden gerade die primärrechtlichen Vorgaben – Binnenmarkt, gemeinsame Politiken und Maßnahmen – umschrieben, denen sich die Grundrechte sozusagen unterwerfen oder zumindest anpassen sollen282. Dies wirkt sich insbesondere auf das Rangverhältnis zwischen den zu unterscheidenden Rechtskategorien Grundfreiheiten und Grundrechte aus: Sind die Grundfreiheiten, wie oben dargelegt, in erster Linie institutionelle Gewährleistungen, während die Grundrechte klassische individuelle Garantien darstellen, so stellt das „Einfügungsgebot“ klar, dass das in den Grundfreiheiten zum Ausdruck kommende wirtschaftspolitische Allgemeininteresse im Kollisionsfall stärker ins Gewicht fällt, als die durch die Grundrechte verkörperten Individualinteressen283. Selbst in Fällen, in denen die Grundrechte nicht mit den Grundfrei278
D. Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen, S. 158. B. Beutler in: GTE, Art. F EUV Rn. 73. 280 I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofs, S. 98, und D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsrechten, S. 147, die beide für einen Vorrang der Gemeinschaftsgrundrechte gegenüber dem „einfachen Vertragsrecht“ sind. Siehe hierzu auch A. v. Arnauld, Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 2003, S. 191 ff., insbes. S. 205 ff. Im deutschen Verfassungsrecht ist die Problematik vom Ansatz her vergleichbar: Durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG werden die Art. 1 und 20 GG mit den in ihnen verkörperten Werten (die wiederum über Art. 1 GG auch die grundlegenden grundrechtlichen Werte umfassen) in einen höheren Rang als das restliche Verfassungsrecht gehoben. 281 So zuerst EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4. 282 Vgl. hierzu oben 1. Teil, B. III. 2. c). 283 D. Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen, S. 159 f. Als konkrete Allgemeinwohlziele hat der Gerichtshof u. a. die Durchsetzung des Binnenmarktprinzips, die ökonomische Stabilisierung in den Agrarmarktordnungen, den Umweltschutz oder die Durchsetzung von Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt anerkannt. Hierzu mit Verweisen auf die Rechtsprechung E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 134; W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 61 ff. Siehe auch R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Scher279
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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heiten zusammentreffen, sind die wirtschaftspolitischen Zielvorgaben des Primärrechts hiernach immer mitzudenken, was zu einer generellen Aufwertung des Allgemeinwohls zu Lasten der Interessen des Einzelnen führt. Dies bedeutet zwar nicht für alle Fälle, dass der Grundrechtsschutz auf eine Wesensgehaltsgarantie reduziert wird284. Es ist hieraus jedoch der Schluss zu ziehen, dass die Grundrechte in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur in ihrem unantastbaren Kernbereich den Grundfreiheiten vom Rang her gleichgestellt sind. Für die Zwecke der Untersuchung ergibt sich damit eine wichtige Feststellung: Die Gemeinschaftsgrundrechte stehen nicht, vergleichbar den deutschen Grundrechten, an der Spitze der Normenhierarchie und prägen auch nicht maßgeblich die gesamte Rechtsordnung. Vielmehr unterliegen sie umgekehrt dem Einfluss des gemeinschaftlichen Primärrechts und werden von den wirtschaftlichen Zielvorgaben des EG-Vertrags geprägt. Damit kann die Fundamentalität der in ihnen verkörperten Werte auch nur eine eingeschränkte sein; es fehlt gerade an der für die uneingeschränkte Fundamentalität notwendigen Zweckfreiheit in dem Sinne, dass Grundrechte prinzipiell nichts anderes als pure Individualgarantien sein sollen. Hierin liegt ein grundlegender Unterschied zu den Menschenrechten der EMRK. Diese sind zwar als Völkerrechtsnormen nicht unmittelbar Teil einer integrierten Normenhierarchie, sondern stehen gewissermaßen „für sich“. Ihre Zielrichtung ist aber eindeutig: Sie sollen als oberste Werte über allem anderen nationalen Recht stehen und gewährleisten, dass eine von jeglichen anderen Einflüssen unabhängige menschenrechtliche Letztentscheidung ausschließlich anhand der in ihnen verbürgten Werte, welche die Individualinteressen zum Ausdruck bringen, getroffen wird. Einen anderen Maßstab in Form paralleler, gleichrangiger Werte kann es im System der Menschenrechtskonvention nicht geben. Ansatzpunkte für die Etablierung einer Hierarchie der Gemeinschaftsgrundrechte untereinander, wie sie für die EMRK-Rechte im Zusammenhang mit der „margin of appreciation“-Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs diskutiert wird285, sind im Gemeinschaftsrecht bislang nicht zu mers, Bd. 3, S. 219, 227: „The advantage of this manner of proceeding is that the ECJ can fit human rights requirements to the Community legal order, which of course has its special characteristics. This may seem strange since human rights are usually seen as the highest values of human civilization, which cannot be adapted ad libidum to the demands of convenience. However, the actual judicial application of human rights shows that far from representing absolute and static notions, human rights are always interrelated to the societies where they are applied.“ 284 So aber D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 146. 285 Vgl. oben 2. Teil, A. I. 2.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
erkennen. Eine solche Hierarchisierung erforderte ein zusammenhängendes grundrechtliches Gesamtkonzept, welches aufgrund der bislang rein kasuistischen Herausarbeitung einzelner Gemeinschaftsgrundrechte in der Rechtsprechung des EuGH noch nicht vorhanden ist. Auch in dieser Hinsicht könnten sich durch eine verbindliche Grundrechte-Charta, welche die Würde und die fundamentalen Rechte des Menschen an die erste Stelle setzt, Änderungen ergeben. Derartige Änderungen könnten indes wiederum nur im Laufe der Zeit durch die Rechtsprechung herausgearbeitet werden. 2. Konkurrenzen zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten Zu unterscheiden ist die Frage nach dem Rang der Gemeinschaftsgrundrechte und der Auflösung von Kollisionen mit den Grundfreiheiten von der anders gelagerten Problematik der (Anwendungs-)Konkurrenzen zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten. Bestimmte Sachverhalte lassen sich unter beide Rechtskategorien subsumieren. Je weiter die Grundfreiheiten von ihrer gleichheitsrechtlichen Funktion in den Bereich von Beschränkungsverboten und damit in Richtung von Freiheitsrechten ausgedehnt werden, desto größer werden die Überschneidungen mit den Grundrechten. Teilweise wird in diesen Fällen unter Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs286 mit dem „Vorrang des geschriebenen Rechts“ argumentiert: Die Grundfreiheiten als spezielle und ausdrücklich in die Verträge aufgenommene Gewährleistungen sollen den ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechten vorgehen287. Um die unterschiedlichen Schutzrichtungen und Schutzwirkungen von Grundrechten und Grundfreiheiten zur Geltung zu bringen und rechtsordnungsimmanente Konflikte vollständig offen zu legen, erscheint es indes angemessener, in den betroffenen Fällen Idealkonkurrenz zwischen den unterschiedlichen Rechten anzunehmen288. Für die vorliegende Untersuchung spielt diese Problematik insofern eine Rolle, als zu vermerken ist, dass die Gemeinschaftsgrundrechte in manchen Fällen trotz Eröffnung ihres Anwendungsbereichs und Einschlägigkeit zurückgedrängt werden können289. Beschränkt man die Grundfreiheiten allerdings auf ihre ursprüng286
Vgl. z. B. EuGH, Rs. 15/83, Denkavit, Slg. 1984, S. 2171, Rn. 24 ff. So beispielsweise D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 15 und § 14 Rn. 13. 288 T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 286; T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 81 (mit Fußnote 222). Siehe auch W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473, 480, der eine Spezialität der Grundfreiheiten gegenüber den Gemeinschaftsgrundrechten für problematisch hält, da dies der Dominanz der wirtschaftlichen Sichtweise Vorschub leiste und die Entwicklung der EU auch zur Sozial- und Kulturgemeinschaft behindere. Die EU als „Grundrechtsgemeinschaft“ erwähnt er allerdings nicht. 287
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liche Funktion als Diskriminierungsverbote, so stärkt man damit gleichzeitig die Grundrechte, da sie dann als alleinige Kontrollmaßstäbe in den Vordergrund treten können290. Auch hieran zeigt sich wieder der primärrechtliche Einfluss, dem die Gemeinschaftsgrundrechte unterliegen und zu dem es kein Pendant auf EMRK-Ebene gibt.
V. Berechtigte und Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte Auf Ebene der Menschenrechtskonvention gibt Art. 1 EMRK hinsichtlich der Berechtigten und Verpflichteten aus den Konventionsrechten einen weit gefassten, aber dennoch unkompliziert bestimmbaren Rahmen vor. In der Gemeinschaft erweist sich hingegen die Bestimmung von Grundrechtsberechtigten und -verpflichteten aufgrund der Verflechtung der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung mit den nationalen Rechtsordnungen als schwieriger. Insbesondere muss sich der Luxemburger Gerichtshof in bestimmten Konstellationen, anders als der Menschenrechtsgerichtshof, ausführlich mit der Reichweite der Verpflichtungswirkung der Gemeinschaftsgrundrechte auseinandersetzen. 1. Grundrechtsberechtigte Träger der Gemeinschaftsgrundrechte können prinzipiell natürliche und juristische Personen sein. Beim personalen Anwendungsbereich ist allerdings, anders als im Rahmen der Menschenrechtskonvention, teilweise nach der Herkunft der Personen zu differenzieren. a) Personaler Anwendungsbereich: Differenzierung zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen Während die EMRK von einem denkbar weiten personalen Anwendungsbereich der Konventionsrechte ausgeht und grundsätzlich keinerlei besonderen Anknüpfungspunkt der Betroffenen zu der eingreifenden Hoheitsgewalt fordert, wird im Gemeinschaftsrecht vom Ansatz her zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen als Grundrechtsberechtigten unterschieden. 289
Hieraus muss sich materiell kein geringerer Rechtsschutz des Einzelnen ergeben, sofern davon ausgegangen werden kann, dass die Grundfreiheiten die freiheitsrechtliche Funktion übernehmen und die Problematik auffangen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die einer Entscheidung zugrunde liegenden Wertungen anders ausfallen können. 290 Vgl. J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 628. J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 386 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Hierin zeigt sich wiederum – in Abgrenzung vom Völkerrecht – eine Parallele der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung zu staatlichen Rechtsordnungen, die die Gewährleistung bestimmter Grundrechte regelmäßig an die Staatsangehörigkeit des Hoheitsgewalt ausübenden Staats knüpfen291. Die Unionsbürgerschaft ist zwar ausweislich des Art. 17 EGV nicht mit der nationalen Staatsbürgerschaft gleichzusetzen, sondern basiert auf dieser und ergänzt sie. In diesem Kontext bildet sie aber ein der Staatsangehörigkeit vergleichbares Differenzierungskriterium. Demnach können sich Staatsangehörige der Mitgliedstaaten als Unionsbürger auf sämtliche der oben genannten Gemeinschaftsgrundrechte aller Kategorien berufen. Der grundrechtliche Status von Angehörigen dritter Staaten, die durch die gemeinschaftliche Hoheitsgewalt betroffen werden, ist dagegen zumindest noch nicht explizit in der Rechtsprechung geklärt worden292. Implizit, ohne die Problematik zu thematisieren, hat der Luxemburger Gerichtshof eine solche Grundrechtsberechtigung Drittstaatsangehöriger indes für bestimmte Rechte in verschiedenen Urteilen anerkannt293. In der Literatur stößt dies prinzipiell für alle die Fälle auf Zustimmung, in denen Drittstaatsangehörige in gleicher Weise durch das Gemeinschaftsrecht betroffen werden wie Unionsbürger294. Die Etablierung einer neuen, zwischenstaatlichen Hoheitsgewalt dürfe auch für dieser unterliegende Drittstaatler nicht zu einer grundrechtsfreien Zone führen295. Richtigerweise 291 In Deutschland wird zwischen den sog. Jedermann-Rechten und den sog. Deutschen-Rechten unterschieden, hierzu B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 107 ff. 292 Ausführlich zum Status Drittstaatsangehöriger im Gemeinschaftsrecht, nicht nur im Grundrechtskontext, B. Vilá Costa, The Quest for a Consistent Set of Rules Governing the Status of non-Community Nationals, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 411 ff. 293 Siehe EuGH, Rs. C-100/88, Oyowe und Traore, Slg. 1989, S. I-4285, Rn. 13 ff. (Kommunikationsfreiheit für natürliche Personen aus Drittstaaten); EuGH, Rs. C-49/88, Al-Jubail Fertilizer, Slg. 1991, S. I-3187, Rn. 15 ff.; EuG, Rs. T-102/96, Gencor, Slg. 1999, S. II-753, Rn. 145 (Verteidigungsrechte juristischer Personen aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten); Rs. C-84/95, Bosphorus Airways, Slg. 1996, S. I-3953, Rn. 20 ff. (Berufsfreiheit und Eigentumsrecht einer juristischen Person aus einem Drittstaat). 294 J. Weiler, Thou shalt not oppress a Stranger: On the Judicial Protection of the Human Rights of Non-EC-Nationals – A Critique, EJIL 3 (1992), S. 65 ff.; D. Kugelmann, Grundrechte in Europa, S. 22 f.; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 125 f.; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 29; I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofs, S. 80 f.; differenzierend H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, S. 186 f. 295 T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 276.
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wird hier jedoch vielfach – in Parallele zu einigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – über den bloßen Bezug eines Sachverhalts zum Gemeinschaftsrecht hinaus noch zusätzlich eine Differenzierung nach dem jeweils betroffenen Grundrecht gefordert. Gemeinschaftsgrundrechte, die klassische Menschenrechte darstellen und auch als nationale Grundrechte in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen jedermann unabhängig von der Staatsangehörigkeit gewährt werden, sollen danach von Angehörigen dritter Staaten uneingeschränkt geltend gemacht werden können. Typische Bürgerrechte, die auch auf nationaler Ebene den eigenen Staatsbürgern vorbehalten sind, sollen hingegen nur den Unionsbürgern zur Verfügung stehen296. Letztlich stimmt diese Zweiteilung der Rechte in Jedermanns- und Unionsbürgerrechte im Grundsatz mit der Differenzierung zwischen Gemeinschaftsgrundrechten, die als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze gelten, und solchen, die sich direkt aus dem Primärrecht ergeben, überein. Zu den im EG-Vertrag verankerten Rechten, denen in dieser Untersuchung grundrechtliche Qualität zugesprochen wird, zählen die im Rahmen der Unionsbürgerschaft gewährleisteten Rechte der Art. 18 ff. EGV auf Freizügigkeit und diplomatischen Schutz sowie das Wahl- und das Petitionsrecht. Diese Rechte der „zweiten Generation“297 sind alle ausdrücklich nur für Unionsbürger konzipiert und können daher nicht von Drittstaatsangehörigen geltend gemacht werden. Die Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte des Primärrechts, denen oben allerdings gerade kein Grundrechtscharakter zugesprochen wurde, berechtigen dieser Logik entsprechend als klassische Rechte der Marktbürger ebenfalls nur Staatsangehörige der Mitgliedstaaten. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 141 EGV nimmt als Unions- wie Drittstaatsbürger gleichermaßen berechtigendes Jedermannsrecht eine Sonderstellung unter den primärrechtlichen Vorschriften ein298. 296 B. Beutler in: von der Groeben/Schwarze, Art. 6 EUV Rn. 71; J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 611; T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 52, differenziert noch weitergehend zwischen Rechten, die in der EMRK gewährleistet sind und allen zustehen sollen, und nicht von der EMRK abgedeckten Rechten, die dementsprechend nur den Unionsbürgern zustehen sollen. Danach wäre auch die Berufsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht zu den Unionsbürgerrechten zu zählen, auf die sich Drittstaatler nicht berufen können. Vgl. auch T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, S. 276 f. Dagegen E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 126. 297 So T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 271. 298 T. Kingreen/R. Störmer, a. a. O., S. 275, bezeichnen Art. 141 EGV als „das einzige in den Verträgen kodifizierte Menschenrecht“.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Die Grundrechte-Charta entspricht in der Gestaltung des personalen Anwendungsbereichs der gewährleisteten Rechte dieser Aufteilung in Jedermannsrechte und Unionsbürgerrechte: Die Rechte der Kapitel I, II, III, IV und VI berechtigen ausdrücklich „jede Person“, d. h. Unionsbürger und Drittstaatsangehörige gleichermaßen. Auch die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten sind in Art. 15 Abs. 1 GRCh für jedermann gewährleistet. Die Differenzierung zwischen Unionsbürgern und Staatsangehörigen dritter Staaten in Art. 15 Abs. 2 und Abs. 3 GRCh betrifft gerade nicht das Grundrecht der Berufsfreiheit, sondern nimmt Bezug auf die Grundfreiheiten des EG-Vertrags299. Das mit „Bürgerrechte“ überschriebene Kapitel V der Charta enthält demgegenüber in erster Linie diejenigen Rechte, die nur die Unionsbürger berechtigen, nämlich die Rechte der Art. 18 ff. EGV und das in Art. 255 EGV gewährleistete Recht auf Zugang zu Dokumenten. Die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit Drittstaatsangehöriger werden in Art. 45 Abs. 2 GRCh an die Regelungen im EG-Vertrag angeknüpft. Das Recht auf gute Verwaltung des Art. 41 GRCh berechtigt wiederum umfassend alle unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Durch die Aufteilung der Grundrechtsberechtigten nach der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Gemeinschaft, also nach „eigenen“ oder „fremden“ Bürgern, unterscheidet sich die Gemeinschaftsrechtsordnung von der Menschenrechtskonvention mit ihren grundsätzlich für alle geltenden Rechten. Hierin manifestiert sich wiederum die Nähe des supranationalen Gemeinschaftsgebildes zu einem Staat. Wenn auch die Unionsbürgerschaft nicht mit der nationalen Staatsbürgerschaft gleichzusetzen ist, so wird sie hier gleichwohl als Kriterium für eine teilweise bevorzugte Behandlung der der Gemeinschaft zugehörigen Bürger angewandt. Faktisch kommt zwar der größere Teil der Gemeinschaftsgrundrechte allen von der Gemeinschaftsgewalt betroffenen Personen zu. Dem Schutzsystem liegt jedoch vom Ansatz her eine andere Konzeption als der EMRK zugrunde, die nicht auf die umfassende menschenrechtliche Berechtigung aller Personen angelegt ist, sondern vom Grundsatz her auf ein „genuine link“ im Sinne eines besonderen Bezugs zu der eingreifenden Hoheitsgewalt abstellt300. 299 Insofern greift die Charta nicht den von Kingreen/Störmer, a. a. O., ausgeführten Gedanken auf, dass die Berufsfreiheit als nicht durch die EMRK gewährleistetes Recht nur den Unionsbürgern zur Verfügung stehen solle. Hier liegt auch ein Unterschied zum Grundgesetz, das die Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG nur für alle Deutschen gewährleistet. 300 L. Scheeck, The Relationship between the European Courts and Integration through Human Rights, ZaöRV 65 (2005), S. 837, 846, äußert die Befürchtung, dass die Gewährung von immer mehr Grundrechten für Unionsbürger zu einer zunehmenden Benachteiligung Drittstaatsangehöriger durch die Gemeinschaft führen könnte: „Whereas European integration has transformed the perception of otherness in Europe, the EU now tends to apply the opposite standards to most foreigners, so
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b) Natürliche und juristische Personen als Berechtigte der Gemeinschaftsgrundrechte Von ihrer ursprünglichen Ausrichtung her sind Grund- und Menschenrechte klassische Individualrechte, die auf natürliche Personen zugeschnitten sind. Ihr vorrangiger Zweck ist es, dem einzelnen Bürger eine Schutzmöglichkeit gegen die seine Freiheiten beeinträchtigende Hoheitsgewalt an die Hand zu geben. Dieser Konzeption entsprechen die Grundrechtskataloge nationaler Rechtsordnungen sowie die internationalen Menschenrechtsverträge. Gleichwohl sieht beispielsweise das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 3 vor, dass die Grundrechte auch von juristischen Personen geltend gemacht werden können, sofern sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar, d. h. ihrer Natur nach nicht ausschließlich natürlichen Personen vorbehalten sind. Das Gleiche gilt für die Menschenrechtskonvention, die dadurch, dass sie auch juristischen Personen unter bestimmten Voraussetzungen die Konventionsrechtsfähigkeit zuerkennt, bereits weiter geht als andere internationale Menschenrechtsverträge, die nur natürliche Personen berechtigen301. Den Systemen liegt somit eine Einteilung in „geborene“ und „gekorene“ Grundrechtsträger302 zugrunde: Die einen können sich jederzeit auf die Grundrechte berufen, für die anderen müssen bestimmte Voraussetzungen vorliegen, die bei einer gerichtlichen Überprüfung zunächst festzustellen sind. Diese Einteilung in „geborene“ und „gekorene“ Grundrechtssubjekte verschwimmt in der Gemeinschaftsrechtsordnung. Unzweifelhaft sind natürliche Personen Berechtigte der Gemeinschaftsgrundrechte. Bezeichnenderweise hat sich der Luxemburger Gerichtshof aber in seiner Rechtsprechung – anders als das Bundesverfassungsgericht oder der EGMR – nie explizit mit der Frage der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen auseinandergesetzt, sondern diese vielmehr von Anfang an grundsätzlich unterstellt303. Damit rückt er die juristischen Personen zumindest in die Nähe that most human rights actors now call attention to the fact that the ‚remaining others‘, whether they live in Europe or not, are paying the price of the success of the new Europeans’ freedoms“. 301 So z. B. der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte. 302 So J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 612. 303 Dazu L. Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 108. Punktuell und nur implizit hat sich der Gerichtshof zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen geäußert, indem er festgestellt hat, dass das Grundrecht der Unverletztlichkeit der Wohnung nur „für die Privatwohnung natürlicher Personen“ gelte (EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 17) oder das Aussageverweigerungsrecht bei Gefahr der Strafverfolgung nicht auf juristische Personen anwendbar sei (EuGH, Rs. C-60/92, Otto BV, Slg. 1993, S. I-5683, Rn. 11).
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
der „geborenen“ Grundrechtsträger. Hierin spiegelt sich die ursprüngliche Ausrichtung der EG als reine Wirtschaftsgemeinschaft wider: Die Rechtsstellung des Einzelnen in der Gemeinschaftsrechtsordnung wurde bis zur Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Maastrichter Vertrag als die eines „Marktbürgers“ umschrieben304. Der EuGH erkannte zwar schon früh an, dass Einzelnen in der Gemeinschaftsrechtsordnung subjektive Rechte und damit auch Grundrechte zustünden. Diese Freiheit und Gleichheit vermittelnden subjektiven Rechte waren jedoch untrennbar an die ökonomischen Zielsetzungen des EG-Vertrags gekoppelt und wurden nur um dieser willen garantiert305. In der Bezeichnung der Rechtssubjekte als „Marktbürger“ kommt diese Kopplung von Rechten und wirtschaftlichen Zielsetzungen zum Ausdruck. Anders als dem Staats- oder Unionsbürger fehlen dem „Marktbürger“ die Attribute einer staatlichen Aktivbürgerschaft, insbesondere die politischen Teilhaberechte, die keinerlei ökonomische Aspekte aufweisen306. Gerade diese politischen Grundrechte sind es aber wiederum, die ihrer Natur nach nur natürlichen Personen zustehen und nicht von juristischen Personen geltend gemacht werden können. Hier zeigt sich somit, was bei der Verwendung des Begriffs des „Marktbürgers“ gleichzeitig mitgedacht wurde und in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs implizit seinen Niederschlag gefunden hat: Werden Grundrechte immer nur in einem ökonomischen Kontext gewährt, so sind auch die Rechtsberechtigten dementsprechend zu bestimmen. Neben natürlichen Personen sind es die Unternehmen als juristische Personen, die im Markt aktiv sind und denen eine bedeutende Rolle bei der wirtschaftlichen Integration zukommt. Dann aber müssen diese sich genauso auf die in diesem Rahmen gewährten Rechte berufen können wie Individuen. In diesem Kontext erklärt sich auch die oben bereits erwähnte spezielle Gemeinschaftsprägung der Verfahrensgrundrechte. Anders als im System der Menschenrechtskonvention, in dem die Verfahrensgrundrechte ganz vorrangig dem Schutz natürlicher Personen dienen, werden diese Rechte in der Gemeinschaft vielfach von Unternehmen, insbesondere in Kartellverfahren, geltend gemacht. Die Unterschiede bei der personalen Berechtigung wirken wiederum auf die Ausrichtung der Grundrechte zurück307. 304
Der Begriff wurde geprägt von H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 187, 251. 305 A. Hatje in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 17 EGV Rn. 1. 306 A. Randelzhofer, Marktbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Staatsbürgerschaft, in: GS Grabitz, S. 581, 583; G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 83. M. Everson, The Legacy of the Market Citizen, in: Shaw/More, New Legal Dynamics of European Union, S. 73 ff., insbes. S. 76 ff., 84 f., zeichnet den Unterschied zwischen homo economicus und homo politicus in der EU nach. 307 Vgl. oben 2. Teil, B. II. 2. b).
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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Letztlich geht es hierbei um die dem gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzsystem zugrunde liegende Konzeption, um das „Wesen“ der Gemeinschaftsgrundrechte308, das bereits oben angesprochen wurde: Stellt der Schutz natürlicher Personen den ideengeschichtlichen Ausgangspunkt und die Sinnmitte der Grundrechte dar, wie es in der EMRK und in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen der Fall ist, so ist juristischen Personen, die diese Zielsetzung nicht fördern, die also nicht zum Schutz der Würde und Freiheit natürlicher Personen beitragen, die Berufung auf Grundrechte versagt. In der Gemeinschaftsrechtsordnung kommt den Grundrechten von ihrer „Entstehung“ und Konzeption her aber gerade nicht die vorrangige Funktion der Absicherung der Würde und Freiheit natürlicher Personen zu. Ihnen liegt vielmehr die wesentlich allgemeinere Zielsetzung zugrunde, generell individuelle Rechtssphären vor hoheitlichen Übergriffen zu schützen309. Der Schutz juristischer Personen in der Gemeinschaft ergibt sich unter diesen Bedingungen somit bereits aus deren Existenz als eigenständige Rechtssubjekte. Sie nehmen Tätigkeiten wahr, bei denen sie mit der Gemeinschaftsgewalt konfrontiert werden, und müssen sich bereits deswegen auf Grundrechte berufen können. Einer Rückwirkung dieser Tätigkeit auf die Freiheitsentfaltung dahinter stehender natürlicher Personen bedarf es unter diesem Aspekt nicht310. Für den Bereich der Grundrechtsberechtigten lässt sich folglich in der Gemeinschaftsrechtsordnung eine gegenläufige Entwicklung zu der Menschenrechtskonvention und zu den mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen aufzeigen. Mit dem Übergang vom „Marktbürger“ zum Unionsbürger ist die Abhängigkeit individueller Rechte von den wirtschaftlichen Grundfreiheiten immer weiter gelockert worden; Grundrechte tauchen jetzt auch in einem nicht-wirtschaftlichen Kontext auf. Sofern sich juristische Personen außerhalb wirtschaftlicher Zusammenhänge auf Grundrechte berufen, wird nunmehr für eine Anwendung des Kriteriums der wesensgemäßen Anwendbarkeit plädiert311. Die anfänglich vergleichsweise wenig herausra308
L. Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 165, verwendet den Ausdruck des „Wesens“ in diesem Zusammenhang. 309 Vgl. oben 1. Teil, B. III. 1. a). Siehe auch L. Crones, a. a. O., S. 165 ff. 310 L. Crones, a. a. O., S. 168, spricht in Anlehnung an die deutsche Terminologie von der „grundrechtstypischen Gefährdungslage“ juristischer Personen, wenn sie sich in einer mit der Interessenlage natürlicher Personen vergleichbaren Situation befinden. So markiert sie die Abgrenzung von der Herleitung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen über das „personale Substrat“. Vgl. hierzu für die deutsche Rechtsordnung, B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 150 ff. 311 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 53; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 126.
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gende Rolle der natürlichen Personen unter den Berechtigten der Gemeinschaftsgrundrechte hat somit im Laufe der Zeit an Gewicht dazu gewonnen. Demgegenüber ist die Bedeutung juristischer Personen und ihres grundrechtlichen Schutzes nach der EMRK und auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erst nach und nach ins Blickfeld gerückt. Die Menschenrechtskonvention mit ihrem liberalen Ansatz stellte von Anfang an den Schutz natürlicher Personen eindeutig in den Mittelpunkt ihres Wirkungsfeldes, auch wenn juristischen Personen unter den genannten Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet war, sich auf die Konventionsrechte zu berufen. Eine zunehmende Nutzbarmachung der EMRK-Rechte durch juristische Personen, vor allem in wirtschaftlichen Zusammenhängen, ist erst in jüngerer Zeit zu verzeichnen312. Die im Rahmen der Grundrechtsberechtigung zu treffende Unterscheidung zwischen juristischen Personen des Privatrechts und solchen des öffentlichen Rechts ist prinzipiell im Gemeinschaftsrecht die gleiche wie nach der EMRK. Hat eine juristische Person des öffentlichen Rechts hinreichende Distanz zur Staatsgewalt, so kann sie unter Umständen Träger von Grundrechten sein313. Auf Verfahrensgrundrechte kann sie sich regelmäßig berufen314. Auch die Grundrechte-Charta enthält keine dem Art. 19 Abs. 3 GG vergleichbare Bestimmung, die die Geltung der verbürgten Rechte für juristische Personen allgemein regelt315. Ausdrückliche Erwähnung finden die juristischen Personen in den Bürgerrechten der Art. 42 bis 44 GRCh, die den Zugang zu Dokumenten der EU-Organe, die Möglichkeit der Anrufung des Bürgerbeauftragen und das Petitionsrecht gewährleisten. Ein Umkehrschluss dahingehend, dass sie nicht in den persönlichen Anwendungsbereich der sonstigen Charta-Rechte fielen, lässt sich daraus nicht ziehen316. Sieht man eine der Hauptfunktionen der Charta in der Sichtbarmachung der vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundrechte317, so lassen sich die Gewährleistungen nur im Lichte dieser 312
Siehe hierzu oben 2. Teil, A. II. 1. b). J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 612 f. 314 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-48/90 und C-66/90, Niederlande/Kommission, Slg. 1992, S. I-565, Rn. 40 ff. T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 54. 315 H.-W. Rengeling, Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl. 2004, S. 453, 455, verweist darauf, dass während der Konventsberatungen wiederholt gefordert wurde, in die Charta eine dem Art. 19 Abs. 3 GG entsprechende Regelung für juristische Personen aufzunehmen. 316 L. Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 154. 317 Vgl. den 5. Erwägungsgrund der Präambel der Grundrechte-Charta. 313
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Rechtsprechung interpretieren. Damit gilt in diesem Zusammenhang das bereits für die EuGH-Rechtsprechung zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen Gesagte318. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass hinsichtlich der Grundrechtsberechtigten und vor allem hinsichtlich der Personen, die sich tatsächlich in der Praxis auf die ihnen zur Verfügung stehenden Rechte berufen, zwischen Gemeinschaft und EMRK offensichtliche Unterschiede bestehen. Handelt es sich in beiden Rechtsordnungen von der Einordnung her um die gleichen Rechte, nämlich um Grundrechte als fundamentale Verbürgungen bestimmter Werte, so wird doch, je nach System, ein unterschiedlicher Gebrauch von ihnen gemacht. Für die Gemeinschaft gilt in wesentlich stärkerem Maße als für andere Rechtsordnungen, dass diejenigen, die Grundrechte geltend machen, oftmals nicht die unterdrückten Minderheiten oder Individuen sind319. Rechtsstreitigkeiten vor Gemeinschaftsgerichten sind teuer und langwierig. Daher werden grundrechtliche Problemstellungen vielfach nicht von dem im Grundrechtskontext eigentlich typischen hoheitlich bedrängten Individuum, sondern von Wirtschaftsunternehmen, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen und sich langwierige Prozesse leisten können, aufgeworfen. Der Kontrast zu der Menschenrechtskonvention ist hier besonders offensichtlich. Diese Situation ändert sich in dem Maße, in dem der Gemeinschaft Kompetenzen in klassischen grundrechtsrelevanten Bereichen übertragen werden, durch die außerhalb des wirtschaftlichen Kontextes direkt auf die Situation natürlicher Personen Einfluss genommen wird, wie beispielsweise die Asyl- und Einwanderungspolitik320. Noch sind jedoch die Mitgliedstaaten mit der Übertragung von Kompetenzen in derartigen Bereichen zurückhaltend. So verbleibt zum Beispiel der sehr grundrechtsrelevante Kernbereich des Strafrechts weiterhin unter nationaler Hoheitsgewalt. Auch in der Grundrechtsjudikatur des Luxemburger Gerichtshofs überwiegt bislang weiterhin der Bereich der Rechte, die in einem größeren ökonomischen Zusammenhang geltend gemacht werden. Die Grundrechte-Charta stellt zwar ausweislich des dritten Erwägungsgrundes der Präambel „die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns“ und bezieht sich dabei wohl auf natürliche Personen, wie die nachstehend angeführte 318 Zu den Berechtigten aus der Grundrechte-Charta siehe auch D. Curtin/R. van Ooik, The Sting is Always in the Tail. The Personal Scope of Application of the EU Charter of Fundamental Rights, MJ 8 (2001), S. 102, 103 f. 319 G. de Bfflrca, The Language of Rights and European Integration, in: Shaw/ More, New Legal Dynamics of European Union, S. 29, 51. Vgl. auch B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 883. 320 Vgl. Art. 61 ff. EGV zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, mit denen eine vormalige Materie des intergouvernementalen Unionsrechts vergemeinschaftet und damit der supranationalen Hoheitsgewalt unterstellt wurde.
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Verknüpfung mit der Unionsbürgerschaft und dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nahe legt321. Gleichzeitig zeigen aber die Formulierungen in anderen Erwägungsgründen der Präambel, dass die grundlegenden ökonomischen Zielsetzungen weiterhin als Fundament von Gemeinschaft und Union angesehen werden322. So werden die vier Grundfreiheiten des EG-Vertrags ausdrücklich hervorgehoben und auf die Bedeutung des sozialen Fortschritts sowie wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen verwiesen323. Daher ist auch im Falle eines Verbindlichwerdens der Charta in dieser Hinsicht kein plötzlicher, radikaler Schwenk in der Judikatur des Gerichtshofs zu erwarten. 2. Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte: Gemeinschaft und Mitgliedstaaten Im Bereich der Grundrechtsverpflichteten bestehen grundlegende Unterschiede zwischen gemeinschaftlicher Rechtsordnung und EMRK-System. Die EMRK als klassisches völkerrechtliches Schutzsystem überspannt die staatlichen Rechtsordnungen als zusätzliches Sicherheitsnetz. Sie gewährt subsidiären Grundrechtsschutz in dem Sinne, dass der EMRK-Rechtsschutzmechanismus nachrangig zum nationalen Grundrechtsschutz als zusätzliches Korrektiv eingreifen kann324. Adressaten der EMRK-Rechte können nach dieser Konzeption nur die Vertragsstaaten sein. Das gemeinschaftliche Grundrechtsschutzsystem dagegen beruht auf völlig anderen Vorgaben, die auf dem Grundgedanken des durch Übertragung von Hoheitsrechten entstandenen „Schutzvakuums“ beruhen. Hieraus ergibt sich, dass sie gerade nicht an die Mitgliedstaaten mit ihren eigenen nationalen Grundrechtsschutzsystemen adressiert sein sollen, sondern sich an die Gemeinschaftsorgane richten als diejenigen, die von den übertragenen Hoheitsrechten Gebrauch machen und dadurch in individuelle Rechtssphären eingreifen. Es soll nicht ein zusätzliches Sicherheitsnetz für den Bereich des staatlichen Grundrechtsschutzes gespannt, sondern eine durch die neue Rechtskonstruktion entstandene Lücke geschlossen werden. Inzwischen geht das gemeinschaftliche Grundrechtskonzept in seiner Reichweite über diesen Ansatz hinaus und erhebt einen umfassenderen Geltungsanspruch. Es bleibt aber 321 Siehe in diesem Zusammenhang L. Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 2002, S. 69 ff. 322 Vgl. hierzu S. Parmar, International Human Rights and the EU Charter, MJ 8 (2001), S. 351, 355 ff. 323 4. und 5. Erwägungsgrund der Präambel der Grundrechte-Charta. 324 Zum subsidiären Charakter der EMRK A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 10 f.
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in seiner grundlegenden Logik weiterhin dem Gedanken der Lückenfüllung und der Eingriffsabwehr verhaftet. a) Die Gemeinschaftsorgane als eigentliche Grundrechtsadressaten Dem aufgezeigten Ursprung und Konzept zufolge sind die Organe der EG die eigentlichen Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte. Für den Bereich der als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden Grundrechte ergibt sich dies logisch aus der Lückenfüllungsfunktion bei Ausübung gemeinschaftlicher Hoheitsgewalt. Die Bindung der Union und damit auch der Gemeinschaft an die Grundrechte in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze ist nunmehr auch in Art. 6 Abs. 2 EUV festgelegt. Die Gemeinschaftsorgane unterliegen darüber hinaus aber auch einer Bindung an die Vorschriften des EG-Vertrags, die im Rahmen dieser Untersuchung als Grundrechte eingeordnet werden und die in erster Linie an die Mitgliedstaaten adressiert sind, d. h. das Freizügigkeitsrecht und den Grundsatz der Lohngleichheit325. Hierfür spricht insbesondere der Gedanke, dass es widersprüchlich wäre, wenn die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten Pflichten auferlegen dürfte, die für sie selbst nicht gelten326. Die volle Wirksamkeit dieser Vorschriften kann nur gewährleistet werden, wenn umfassend alles hoheitliche Handeln in der EG an ihnen gemessen wird. b) Die Mitgliedstaaten als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte Der Grundrechtsschutz in der Gemeinschaftsrechtsordnung ist seinen Ursprüngen und seiner grundlegenden Ausrichtung nach gerade nicht auf Unitarisierung ausgerichtet. Nach dem aufgezeigten Konzept reicht es aber 325 Für das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV siehe W. Kluth in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 18 EGV Rn. 14 (Bindung der Gemeinschaftsorgane, soweit diese berufen sind, Beschränkungen oder Durchführungsvorschriften zu erlassen). Selbst der Grundsatz der Lohngleichheit des Art. 141 EGV, der ausdrücklich nur an die Mitgliedstaaten adressiert ist, muss nach Sinn und Zweck auch die Gemeinschaft binden; hierzu T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 278, die dies – über eine Bindung an den ungeschriebenen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz hinaus – bejahen. Dies ist auch insofern konsequent als eine Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten inzwischen anerkannt ist, vgl. EuGH, Rs. 15/83, Denkavit, Slg. 1984, S. 2171, Rn. 15; Rs. C-51/93, Meyhui, Slg. 1994, S. I-3879, Rn. 11; Rs. C-114/96, Kieffer und Thill, Slg. 1997, S. I-3629, Rn. 27 ff.; U. Becker in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 28 EGV Rn. 101 f. A. A. allerdings T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 28–30 EGV Rn. 110 (keine Bindung der Gemeinschaft, da die Grundfreiheiten als transnationale Integrationsnormen nur an die Mitgliedstaaten gerichtet seien). 326 So D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 32.
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gleichwohl nicht aus, ausschließlich die Gemeinschaftsorgane in die Pflicht zu nehmen und deren Handeln am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu messen. Denn dann unterfielen zahlreiche Maßnahmen, deren Herkunft eindeutig gemeinschaftsrechtlich ist, die aber auf mitgliedstaatlicher Ebene von nationalen Organen durchgeführt werden, nicht diesem Prüfungsmaßstab, was wiederum dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts widerspräche. Die supranationale Verflechtung der gemeinschaftlichen mit den nationalen Rechtsordnungen bringt es mit sich, dass sich in einem bestimmten Rahmen auch mitgliedstaatliches Handeln an den Gemeinschaftsgrundrechten messen lassen muss327. Dies ergibt sich schon allein daraus, dass der Bereich unmittelbaren grundrechtsrelevanten Handelns der Gemeinschaftsorgane selbst nach dem EG-Vertrag relativ begrenzt ist. In erster Linie üben die Gemeinschaftsorgane die ihnen übertragene Hoheitsgewalt gegenüber ihren Beamten sowie im wettbewerbsrechtlichen und handelspolitischen Bereich aus, in zahlreichen anderen der Gemeinschaftskompetenz unterfallenden Bereichen sind es dagegen mitgliedstaatliche Organe, die mit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind. Dass grundsätzlich auch die Mitgliedstaaten in bestimmten gemeinschaftsrechtlich geprägten Situationen an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sein müssen, unterliegt folglich keinem Zweifel. Als schwierig erweist sich jedoch die Bestimmung der Reichweite einer solchen Bindung. Der Luxemburger Gerichtshof verwendet in diesem Zusammenhang in ständiger Rechtsprechung die Formel vom „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“: Sofern eine nationale Regelung dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts unterfällt, hat eine Kontrolle am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu erfolgen, sind also auch die Mitgliedstaaten hierdurch verpflichtet328. Von dieser Formel ausgehend haben sich in der Rechtsprechung 327 Vgl. zu dieser Verflechtung J. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: ders., The Constitution of Europe, S. 102, 120: „All of us often fall into the trap of thinking of the Community as an entity wholly distinct from the Member States. But of course, like some well-known theological concepts, the Community is, in some senses, its Member States; in other senses separate from them. . . . In the EC system of governance, to an extent far greater than any federal state, the Member States often act as, indeed are, the executive branch of the Community.“ 328 So EuGH, Rs. C-260/89, Elliniki Radiophonia Tileorassi (ERT), Slg. 1991, S. I-2925, Rn. 42; EuGH, Rs. C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children (SPUC), Slg. 1991, S. I-4685, Rn. 31; Rs. C-144/95, Maurin, Slg. 1996, S. I-2909, Rn. 12; Rs. C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, S. I-2629, Rn. 15. Siehe auch die Urteile des EuGH, verb. Rs. 60 und 61/84, Cinéthèque, Slg. 1985, 2605, Rn. 26, und Rs. 12/86, Demirel, Slg. 1987, S. 3719, Rn. 28, in denen der Gerichtshof die anders lautenden, aber inhaltlich gleichbedeutenden Formulierungen „Einhaltung der Grundrechte auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts“ bzw. „Beachtung der Grundrechte im Bereich des Gemeinschaftsrechts“ verwendet, eine Bindung der
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des EuGH zunächst zwei Fallgruppen herausgebildet, in denen eine Bindung der Mitgliedstaaten bejaht wird. Darüber hinaus ist in jüngerer Zeit eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs zu verzeichnen, die eine weitreichendere Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns anhand der Gemeinschaftsgrundrechte zur Folge hat. In der Literatur wird die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten teilweise kritisiert. Für die vorliegende Untersuchung ist die Verpflichtungswirkung der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten insofern von zentraler Bedeutung, als sich in diesem Bereich die beiden europäischen Grundrechtsschutzsysteme überlagern können: Dieselben nationalen Rechtsakte unterliegen dann nicht nur einer subsidiären Kontrolle durch den Straßburger Gerichtshof, sondern können auch vom EuGH auf ihre Grundrechtskonformität überprüft werden. aa) Anerkannte Fallgruppen mitgliedstaatlicher Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte: Durchführung von Gemeinschaftsrecht und Berufung auf Ausnahmeklauseln von Grundfreiheiten Mit der Überprüfung mitgliedstaatlichen Handelns anhand der Gemeinschaftsgrundrechte „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ beschreitet der Luxemburger Gerichtshof einen Mittelweg zwischen umfassender Grundrechtskontrolle, wie sie beispielsweise für bundesstaatliche Maßnahmen in den USA stattfindet329, und völliger Zurückweisung einer derartigen Prüftätigkeit aus Rücksicht auf die Souveränität der Mitgliedstaaten. Anhand des konkreten Sachverhalts entscheidet er von Fall zu Fall, ob er eine Prüfung vornimmt oder die Sache den jeweiligen nationalen Instanzen überlässt. Damit sichert er sich eine hohe Flexibilität bei der Bestimmung des Rahmens, in dem die Gemeinschaftsgrundrechte zur Anwendung kommen330. Gleichzeitig ist dieses Vorgehen aber auch mit einem nicht zu Mitgliedstaaten im konkreten Fall aber jeweils verneint. Ausführlich zur Bedeutung des Kriteriums des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“ F. Zampini, La Cour de justice des Communautés européennes, gardienne des droits fondamentaux „dans le cadre du droit communautaire“, RTDE 1999, S. 659 ff., und J. Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 104 ff. Siehe auch die Untersuchung von F. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte. 329 In den USA erfolgt eine umfassende, zentrale Überprüfung bundesstaatlicher Maßnahmen anhand der föderalen Bill of Rights. Hierzu sowie zu einer möglichen Parallele zum Gemeinschaftsrecht siehe T. Jürgensen/I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 200, 218 ff. 330 J. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously“ Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence – Part I, CMLRev. 32 (1995), S. 51,
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vernachlässigenden Unsicherheitsfaktor für Rechtssuchende und -anwendende behaftet, welcher der Rechtssicherheit abträglich ist. Die Herausbildung von Fallgruppen dient insofern dem Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit der Entscheidungen und damit nach gesteigerter Rechtssicherheit. Weitgehend anerkannt ist eine Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns anhand der Gemeinschaftsgrundrechte im Falle der Durchführung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten, in der sog. „agency situation“331. So sind die Behörden eines Mitgliedstaats verpflichtet, ihr Ermessen bei der Durchführung einer EG-Verordnung unter Berücksichtigung der Erfordernisse des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes auszuüben332. Sind EG-Richtlinien ausnahmsweise unmittelbar anwendbar, sollen die nationalen Instanzen auch beim Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsrecht entsprechend gebunden sein333. Ob darüber hinaus der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber bei der Umsetzung von Richtlinien auch insoweit als an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden anzusehen ist, als der nationale Umsetzungsakt durch Vorgaben der Richtlinie nicht ohnehin determiniert ist, ist umstritten. Während in den zunächst genannten Fällen offensichtlich die Lückenfüllungsfunktion der gemeinschaftlichen Grundrechte zum Tragen kommt, da eine Prüfung von Sekundärrechtsakten am Maßstab nationaler Grundrechte ausgeschlossen ist334, greift dieses Argument bei der Umsetzung von Richtlinien zumindest nicht unmittelbar: Nach der Konzeption der Richtlinie in Art. 249 Abs. 3 EGV ist den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht ein Spielraum belassen, innerhalb dessen 66, sprechen in diesem Zusammenhang von einem „ ‚shifting target‘ . . . entirely in the hands of the Court“. 331 Die Bezeichnung dieser Fallgruppe als „agency situation“ geht zurück auf J. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: ders., The Constitution of Europe, S. 102, 120. 332 EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609, Rn. 19; Rs. C-2/92, Bostock, Slg. 1994, S. I-955, Rn. 16; Rs. C-63/93, Duff, Slg. 1996, S. I-569, Rn. 29; Rs. C-15/95, Earl de Kerlast, Slg. 1997, S. I-1961, Rn. 36. 333 T. Jürgensen/I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 200, 208 ff.; M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518, 527 f.; T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 280 f.; S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 88 ff.; J. Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 84 ff. 334 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 11, spricht in dieser Konstellation von den Mitgliedstaaten als dem „verlängerten Arm des Unionsrechts“, M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 80, von der „ ‚Miturheberschaft‘ der Gemeinschaft am endgültigen Akt“.
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nationale – auch grundrechtsrelevante – Eigenheiten berücksichtigt werden können. Eine mitgliedstaatliche Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte ließe sich für diesen Bereich nur über den Gedanken der Rechtseinheit in Verbindung mit der mittelbaren gemeinschaftsrechtlichen Determinierung begründen, d. h. über die Tatsache, dass das nationale Handeln auf gemeinschaftliche Ursprünge zurückzuführen ist335. Damit wird allerdings ein mögliches Parallellaufen nationaler und gemeinschaftlicher Grundrechte in Kauf genommen. Abgesehen davon, dass dies aus Gründen der Rechtsklarheit nicht wünschenswert ist, spricht hiergegen auch, dass in dieser Konstellation nach dem Lückenfüllungsgedanken kein Bedarf für eine Überprüfung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte besteht. Neben der „agency situation“ hat sich in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs noch eine zweite Fallgruppe herausgebildet, in der die Mitgliedstaaten der Bindung an Gemeinschaftsgrundrechte unterliegen sollen. Dies ist die nach dem hierzu grundlegenden Urteil benannte „ERT-Fallgruppe“336. Betroffen sind davon die sog. Schranken-Schranken der Grundfreiheiten: Berufen sich die Mitgliedstaaten auf Ausnahmeklauseln oder immanente Schranken der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, so soll die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen sein337. Für diese Fallgruppe ist der Bezug zum Gemeinschaftsrecht wesentlich weniger ersichtlich als in der „agency situation“, in der die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht durchführen. Es handelt sich um einen Bereich, der genau die Grenze zwischen Gemeinschaftsrecht (Grundfreiheiten des EG-Vertrags) 335
So J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 608 f.; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 38 ff.; etwas differenzierend M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518, 527 f. Mit überzeugenden Argumenten dagegen T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 281; T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 12 (kein Bedarf für eine Überprüfung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte). Kritisch auch T. Jürgensen/I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 200, 212. Generell ablehnend J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, CMLRev. 29 (1992), S. 669, 673 ff. („offensive use of human rights“). 336 So wiederum J. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: ders., The Constitution of Europe, S. 102, 121. 337 EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I-2925, Rn. 42 f.; Rs. C-159/90, SPUC, Slg. 1991, S. I-4685, Rn. 30 f. Zu den immanenten Rechtfertigungsgründen vgl. EuGH, Rs. C-23/93, TV 10, Slg. 1994, S. I-4795, Rn. 22 ff.; Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I-3689, Rn. 24 ff. Der Gedanke für diese Konstruktion wurde vom EuGH bereits in der Rs. 36/75, Rutili, Slg. 1975, S. 1219, Rn. 32 entwickelt.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
und mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (Ausnahmen von den Grundfreiheiten aus nationalen Gründen wie öffentlicher Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit) betrifft. Der Gerichtshof hat sich in seiner Rechtsprechung dafür entschieden, diesen Grenzbereich der gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle zu unterstellen. In der Literatur ist dies teilweise auf Kritik gestoßen. Tatsächlich lässt sich diese Rechtsprechungslinie – genauso wie die Kontrolle nationaler Umsetzungsakte von Richtlinien am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte – nicht mit dem Gedanken der Lückenfüllung begründen338. Vielmehr müssen hierfür andere Argumente herangezogen werden, die jedoch nur auf einer allgemeinen Ebene zu finden sind: Das Bedürfnis nach effektivem Rechtsschutz, in dem eine am Schutzinteresse des Einzelnen orientierte Sichtweise zum Ausdruck kommt, sowie die Grundsätze des Vorrangs und der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts339. Lässt sich die rechtspolitische Überzeugungskraft dieser Argumente nicht leugnen, so ist doch zu bedenken, dass auf diese Weise jegliches Vordringen der Gemeinschaftsrechtsordnung in den mitgliedstaatlichen Bereich gerechtfertigt werden kann. Insbesondere das Interesse an einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts kann immer argumentativ verwendet werden, um eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts und damit einhergehend eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten zu begründen. Dementsprechend wird daran gezweifelt, ob eine Entscheidung am Maßstab dieser allgemeinen Argumente tatsächlich der speziellen Situation, in der sich Mitgliedstaaten auf grundfreiheitliche Ausnahmeklauseln berufen, gerecht wird. So wird dem Luxemburger Gerichtshof von Teilen der Literatur vorgeworfen, in der ERT-Fallgruppe die Gemeinschaftsgrundrechte ins Spiel zu bringen, ohne dass überhaupt der „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ eröffnet sei. Anders als bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht handelten die Mitgliedstaaten bei der Geltendmachung der Ausnahmeklauseln gerade nicht in der Verfolgung von Gemeinschaftszielen, sondern im eigenen Interesse. Innerhalb des weiten Rahmens der Grundfreiheiten würden ihnen – sozusagen als Kompensation – Freiräume zur Berücksichtigung nationaler Besonderheiten und Interessen belassen. Wenn aber ein solches „nationales Residuum“ im Vertrag anerkannt sei, könne für 338
Der EuGH begründet die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte in dieser Konstellation in seinen diesbezüglichen Urteilen gar nicht weiter, sondern zieht sich auf eine allgemeine feststellende Floskel zurück („die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung ist im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen“; so beispielsweise in ERT, a. a. O., Rn. 43). 339 Zu diesen Argumenten im einzelnen M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518, 523.
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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diesen Bereich eine „verdeckte Unitarisierung“ über die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte nicht zulässig sein340. Den Grundfreiheiten würde so eine Funktion als „ ‚Transmissionsriemen‘ für das Hineinwirken der Gemeinschaftsgrundrechte in die nationale Sphäre“341 zugesprochen, die die vertraglich vorgesehene Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten verkenne342. Die mitgliedstaatlichen Regelungen zur Einschränkung der Grundfreiheiten aus Erwägungen im nationalen Allgemeininteresse fielen gerade nicht in den von den Gemeinschaftsorganen zu verantwortenden und von der Gemeinschaft gesteuerten Bereich343. Demgegenüber verweisen die Befürworter dieser EuGH-Rechtsprechung darauf, dass die betreffenden Sachverhalte letztlich doch gemeinschaftsrechtlich determiniert seien. Die Grundfreiheiten verliehen Rechte, die Bestandteil des Gemeinschaftsrechts seien, und damit wie das übrige Gemeinschaftsrecht einer gemeinschaftsgrundrechtskonformen Auslegung auch im Hinblick auf ihre Beschränkungsmöglichkeiten unterliegen müssten344. Eine solche Auslegung sei im Hinblick auf das Binnenmarktziel unerlässlich345. 340 Vgl. T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 282 f. 341 So T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 60. 342 Besonders heftig ist die Kritik von J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, CMLRev. 29 (1992), S. 669, 673 ff., die eine Instrumentalisierung der Gemeinschaftsgrundrechte zugunsten der Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen der Gemeinschaft im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt rügen. Dagegen J. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously“ Seriously.: The ECJ and its Fundamental Rights Jurisprudence, CMLRev. 32 (1995), S. 51 f. (Part I), S. 579 ff. (Part II). Vgl. auch oben 1. Teil, B. III. 2. c). 343 M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518, 528; T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 168; ders. in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 17; M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, S. 81: „Es fehlt . . . an der Nähe zum den Grundrechtsschutz erfordernden Tätigwerden der EG-Organe.“; R. Störmer, Gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote versus nationale Grundrechte?, AöR 123 (1998), S. 541, 567. 344 J. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: ders., The Constitution of Europe, S. 102, 122: „creatures of Community law“; T. Jürgensen/ I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 200, 216 ff.; J. Kühling, Grundrechtskontrolle durch den EuGH: Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1997, S. 296, 299 f. J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 609, spricht hinsichtlich des Arguments vom „gemeinschaftsgrundrechtsfreien Raum“ von einem Zirkelschluss, bei dem das zu Begründende vorausgesetzt werde. Siehe auch W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 50 f.; A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 59 ff.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Der „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ und damit die mitgliedstaatliche Bindung an die Grundrechte auf dieser Ebene hängt in der ERT-Fallgruppe also letztlich davon ab, wie das Verhältnis von Regel und Ausnahme bei den Grundfreiheiten interpretiert wird. Selbst unter den Befürwortern der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird allerdings zum Teil angemahnt, dass eine Kontrolle mitgliedstaatlicher Akte nicht flächendeckend und undifferenziert, sondern nur bei schwerwiegenden Verstößen durchgeführt werden sollte, um einem zu starken Vordringen des vorrangigen Gemeinschaftsrechts in den nationalen Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten entgegenzuwirken346. Für die vorliegende Untersuchung bleibt festzuhalten, dass der Gerichtshof mit der ERT-Fallgruppe die Mitgliedstaaten als grundrechtliche Verpflichtungsadressaten ins Visier nimmt, ohne dass es einer Auslegung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte dem Lückenfüllungsgedanken nach bedürfte. Auf diese Weise entsteht ein Bereich, in dem nationale Grundrechte und Gemeinschaftsgrundrechte parallel anwendbar sein können. Dies wiederum kann in der Praxis zu einer konkurrierenden Zuständigkeit von Luxemburger und Straßburger Gerichtshof führen. Je größer der Bereich ist, in dem beide Gerichtshöfe parallel für Grundrechtsfragen zuständig sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit divergierender Entscheidungen. Anders betrachtet ergeben sich hierdurch aber auch Potenziale für eine Angleichung der Grundrechtsrechtsprechung auf beiden Ebenen. Aus praktischer Sicht ist einer möglichen Entwicklung zu verstärkten Divergenzen hin in der Tat entgegenzuhalten, dass sich in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH gerade bei der Überprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen eine zunehmend stärkere Anlehnung nicht nur an die Konventionsrechte, sondern auch an die Rechtsprechung des EGMR verzeichnen lässt347. bb) Tendenzen zur weiteren Ausdehnung der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte in der Rechtsprechung Die Kritik an der Rechtsprechung zur ERT-Fallgruppe hat den Luxemburger Gerichtshof nicht daran gehindert, in jüngerer Zeit in verschiedenen Urteilen teilweise noch über diese Fallgruppe hinaus den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ zu erweitern und damit zunehmend mitglied345
J. Weiler, a. a. O., S. 122. J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 609, schlägt hierfür eine Orientierung am Konzept der margin of appreciation des EGMR vor. Siehe auch M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 518, 529. Noch weitergehend und gegen eine Differenzierung allerdings J. Weiler, a. a. O., S. 123. 347 Vgl. hierzu unten 3. Teil, A. II. 5. b) cc). 346
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staatliche Maßnahmen an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen. Dass zumindest potenziell insgesamt mehr mitgliedstaatliche Maßnahmen unter Aspekten der Gemeinschaftsgrundrechtskonformität ins Visier der Luxemburger Richter geraten, hängt indes nicht allein mit der Linie der Rechtsprechung, sondern auch mit der zunehmenden Regelungsbreite des Gemeinschaftsrechts zusammen. 1993 hatte der Gerichtshof es noch abgelehnt, dem Plädoyer des Generalanwalts Jacobs für den „civis europaeus“ in den Schlussanträgen zur Rechtssache Konstantinides348 zu folgen. Jacobs hatte im Hinblick auf eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte vorgeschlagen, jeden zu Erwerbszwecken im Gebiet der EG migrierenden Gemeinschaftsbürger „stets im Einklang mit einer gemeinsamen Ordnung von Grundwerten“ zu behandeln, ihn also zu berechtigen, „zu sagen ‚civis europaeus sum‘ und sich auf diesen Status zu berufen, um sich jeder Verletzung seiner Grundrechte zu widersetzen“349. Damit forderte er zwar keine umfassende Prüfung allen mitgliedstaatlichen Handelns am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte, da ein gemeinschaftsrechtlicher Bezug in Form des zu Erwerbszwecken migrierenden Gemeinschaftsbürgers bestehen sollte. Er ging aber mit seinem generalisierenden Ansatz weit über die Einzelfallrechtsprechung des EuGH hinaus. Wenn auch der Luxemburger Gerichtshof in seinem Urteil zu Konstantinides mit keinem Wort auf den weiten Ansatz des Generalanwalts einging und in seiner Folgerechtsprechung zunächst nur die beiden oben angesprochenen Fallgruppen etablierte, lässt sich doch inzwischen eine Entwicklung in diese Richtung nachzeichnen. Allerdings verschließt sich der Gerichtshof weiterhin einer generalisierenden Sichtweise und entscheidet von Fall zu Fall über den Bezug zum Gemeinschaftsrecht und eine darüber vermittelte mitgliedstaatliche Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte. (1) Unionsbürgerschaft in Verbindung mit Diskriminierungsverbot Zum einen hat der EuGH das in Art. 18 EGV normierte Freizügigkeitsund Aufenthaltsrecht der Unionsbürger in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV genutzt, um den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu erweitern. So hat er die sozialen Rechte der Unions348
EuGH, Rs. C-169/91, Slg. 1993, S. 1191 ff. EuGH, Rs. C-169/91, a. a. O., Schlussanträge des Generalanwalts, Ziff. 46 (mit Begründung in Ziff. 47 ff.). Ausführlich dazu D. Binder, The European Court of Justice and the Protection of Fundamental Rights in the European Community, JMP 4/95. Einen Gegenpol zu Jacobs in der Rs. Konstandinides stellen die Schlussanträge des Generalanwalts Gulmann in der Rs. C-2/92, Bostock, Slg. 1994, S. I-955 ff. dar, siehe insbes. Ziff. 33 ff. der Schlussanträge. 349
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
bürger im Wege der Verknüpfung von Diskriminierungsverbot und Unionsbürgerschaft von den bislang nur im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten gültigen Aufenthaltstiteln losgelöst. Nach seiner Rechtsprechung soll es für die Geltendmachung von sozialen Rechten durch Unionsbürger nunmehr nur noch auf den rechtmäßigen Aufenthalt ankommen, ohne dass ein ökonomischer Bezug zu den Grundfreiheiten vorhanden sein muss350. Damit werden zwar die den Schutzbereich eingrenzenden Vorbehalte, denen Art. 18 EGV seiner Formulierung nach unterliegt, nicht gegenstandslos; die betreffenden Unionsbürger müssen insbesondere über hinreichende Existenzmittel und einen bestehenden Krankenversicherungsschutz verfügen351. Innerhalb dieses Rahmens haben sie aber einen umfassenden Anspruch auf Nichtdiskriminierung, d. h. sie dürfen nicht schlechter gestellt werden als Inländer352. Auch über den Bereich des Sozialrechts hinaus ergeben sich aus der Kombination von Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot Konsequenzen für den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. In dem Urteil Bickel und Franz sah der EuGH den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet, obwohl es sich um ein Strafverfahren handelte und das Strafrecht sachlich nicht dem Kompetenzbereich der Gemeinschaft zuzuordnen ist. Als Anknüpfungspunkt für die Prüfung einer Diskriminierung stützte er sich dabei auch auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 18 EGV in Verbindung mit Art. 12 EGV353. 350 EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, S. I-2708, Rn. 62 ff. In Rn. 63 des Urteils stellt der EuGH fest, dass sich Unionsbürger, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Mitgliedstaates aufhalten, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des EG-Rechts erfassten Fällen auf Art. 12 EGV berufen können. Ebenso EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, S. I-6193, Rn. 34 ff.; Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, S. I-6191, Rn. 23 ff. 351 Diese Voraussetzungen sind in den einschlägigen Richtlinien für das Aufenthaltsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten vorgesehen. 352 K.-D. Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, NJW 2000, S. 2057, 2058. T. Kingreen, Gleichheitsgrundrechte und soziale Rechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 10, spricht von einem „sozialen Teilhaberecht“, zu dem der EuGH Art. 12 i. V. m. Art. 18 EGV fortentwickelt habe. Siehe auch S. Bode, Von der Freizügigkeit zur sozialen Gleichstellung aller Unionsbürger?, EuZW 2003, S. 552 ff., R. Kanitz/P. Steinberg, Grenzenloses Gemeinschaftsrecht?, EuR 2003, S. 1013, 1014 ff., F. Sander, Die Unionsbürgerschaft als Türöffner zu mitgliedstaatlichen Sozialversicherungssystemen?, DVBl. 2005, S. 1014 ff., P. Eeckhout, The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question, CMLRev. 39 (2002), S. 945, 960 ff., sowie C. Hilson, What’s in a right? The relationship between Community, fundamental rights and citizenship in EU law, ELRev. 29 (2004), S. 636 ff. 353 EuGH, Rs. C-274/96, Slg. 1998, S. I-7637, Rn. 16 ff., 23 ff. Der Gerichtshof bezog sich in seinem Urteil allerdings nicht auf das Urteil Martínez Sala aus demselben Jahr, sondern auf das wesentlich früher erlassene Urteil Cowan, Rs. 186/87, Slg. 1989, S. 195 ff., in dem es um die Entschädigung des Opfers einer Straftat we-
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Der Luxemburger Gerichtshof setzt folglich das Institut der Unionsbürgerschaft ein, um den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu vergrößern. Er folgt in seinen Urteilen allerdings nicht uneingeschränkt der von Generalanwalt Jacobs vorgeschlagenen, sehr weiten Linie des „civis europaeus“, sondern lässt die Unionsbürgerschaft und das Freizügigkeitsund Aufenthaltsrecht nur in Verbindung mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot Wirkung entfalten. Es muss demnach weiterhin ein über den bloßen Status des Unionsbürgers hinausgehender Bezugspunkt zum Gemeinschaftsrecht vorhanden sein354. Die rein ökonomische Zweckrichtung der gemeinschaftsrechtlich gewährten Individualrechte kann aber im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft zunehmend als überwunden angesehen werden355. Indirekt, einen Schritt weiter gedacht, kann der Gerichtshof auf diesem Wege auch zu einer Ausweitung des Bereichs kommen, in dem gemeinschaftlicher Grundrechtsschutz gegenüber mitgliedstaatlichen Akten – über Art. 18 EGV hinaus – zum Tragen kommt. Denn ein Unionsbürger, der Anspruch darauf hat, nicht aus Gründen seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden, unterfällt im Hinblick auf mitgliedstaatliche Maßnahmen, die dieses Recht beeinträchtigen, dem Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte356. Dass diese Ausweitung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts nicht allein über die Unionsbürgerschaft erfolgt, sondern eines weiteren Anknüpfungspunktes bedarf, und sich demzufolge nur indirekt auf die Reichweite des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes auswirkt, geht auch aus dem Urteil Kremzow aus dem Jahr 1997 hervor: Der Rechtsanwalt Kremzow, der wegen Mordes an einem Richter zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, berief sich nach Durchführung eines teilweise erfolgreichen Verfahrens vor dem Straßburger Gerichtshof in dem darauf folgenden nationalen Schadensersatzprozess in Österreich wegen widerrechtlichen gen Verstoßes gegen Art. 12 EGV gegangen war. Siehe auch die wiederum sehr weitgehende Passage zur Wirkung der Unionsbürgerschaft in den Schlussanträgen von Generalanwalt Jacobs in der Rs. Bickel und Franz, a. a. O., Ziff. 23. 354 Vgl. zu dieser weiterhin eingeschränkten Rechtsprechungslinie des EuGH J. Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 112 ff., sowie W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 52 f. S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 70, sagt, die Forderung von Jacobs sei „fast erfüllt“, es bliebe allerdings „ein nicht unbeachtlicher Schönheitsfehler“. 355 Sehr kritisch zu der Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft K. Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, S. 2185 ff. Hailbronner kritisiert, dass der EuGH in den genannten Urteilen ohne Rückgriff auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht allein mittels Unionsbürgerschaft und allgemeiner Rechtsgrundsätze entscheide. 356 Vgl. S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 71.
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Haftvollzugs auf einen Verstoß gegen das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV. Dem EuGH wurden von dem österreichischen Gericht verschiedene Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts vorgelegt. Der Gerichtshof erklärte sich jedoch im Vorlageverfahren für nicht zuständig, da keine Maßnahme betroffen sei, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle357. Die rein hypothetische Aussicht eines Unionsbürgers auf Ausübung seines Freizügigkeitsrechts stelle keinen hinreichend engen Bezug zum Gemeinschaftsrecht her358. Damit zog er sich auf seine Zuständigkeitsrechtsprechung in Vorabentscheidungsverfahren zurück359, ohne weiter auf die eigentliche Problematik einzugehen. Offenbar fehlte ihm hier das den Bezug zum Gemeinschaftsrecht herstellende Bindeglied360. Dabei wird der EuGH sicherlich auch bedacht haben, dass eine Entscheidung in der Sache ihn aufgrund der atypischen Fallkonstellation in eine recht prekäre Situation gebracht hätte: Er war aufgerufen, ein Urteil in einer Rechtssache zu fällen, über die bereits die Straßburger Richter entschieden hatten. Die Rolle des EGMR als menschenrechtlicher Letztinstanz sollte ausgehebelt und über den Weg des Art. 18 EGV auf den Luxemburger Gerichtshof übertragen werden361. Hätten die Luxemburger Richter den Fall in der Sache entschieden, wäre dies möglicherweise nicht auf Gegenliebe in Straßburg gestoßen.
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EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, S. I-2629, Rn. 13 ff. EuGH, Rs. C-299/95, a. a. O., Rn. 16. In Rn. 17 des Urteils verweist der EuGH zudem darauf, dass hier der strafrechtliche Bereich betroffen sei, in dem es nicht darum ginge, die Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Normen sicherzustellen. Diese Äußerung erstaunt im Hinblick auf das kurze Zeit später ergangene Urteil Bickel und Franz, in dem er ausdrücklich feststellte, dass das Gemeinschaftsrecht der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit im Straf- und Strafverfahrensrecht Schranken setzen könne, EuGH, Rs. C-274/96, Slg. 1998, S. I-7637, Rn. 17 (unter Verweis auf das Urteil Cowan, Rs. 186/87, Slg. 1989, S. 195, Rn. 19). 359 Vgl. beispielsweise die vom EuGH in Kremzow zitierte Entscheidung EuGH, Rs. 180/83, Moser, Slg. 1984, S. 2539, Rn. 18. 360 Vgl. zu diesem fehlenden Bindeglied die Überlegung von J. Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 371 f., dazu, was geschehen wäre, wenn der Österreicher Kremzow die Einladung einer deutschen Talkshow vorgelegt hätte, in der er gegen Entgelt seine Lebensgeschichte hätte erzählen sollen. Wenn ihn diese grenzüberschreitende Tätigkeit in den Geltungsbereich der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EGV gebracht hätte, wäre der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet und damit für Herrn Kremzow die Möglichkeit gegeben gewesen, sich vor dem EuGH auf Gemeinschaftsgrundrechte zu berufen. Der EuGH hätte den Fall dann erneut aufrollen müssen. 361 Ausführlich zu dem Urteil und seinem Kontext F. Zampini, La Cour de justice des Communautés européennes, gardienne des droits fondamentaux „dans le cadre du droit communautaire“, RTDE 1999, S. 659 ff. 358
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(2) Weitere Ansatzpunkte Der EuGH geht in seiner jüngeren Rechtsprechung aber auch noch andere Wege als den über die Unionsbürgerschaft, um die Mitgliedstaaten verstärkt als Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte in die Pflicht zu nehmen. Seine Argumentation erscheint dabei teilweise gewunden, weil er versucht, die neuen Ansätze in die gewohnten Begründungsbahnen einzupassen. Die Zielrichtung der einzelnen Urteile geht allerdings relativ klar in Richtung eines umfassenderen Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene. Anschauliches Beispiel für einen solchen umfassenderen Ansatz bei gleichzeitigem Verbleiben in den alten Bahnen ist das Urteil Carpenter362. Frau Carpenter machte als Drittstaatsangehörige in einem Rechtsstreit in Großbritannien um eine gegen sie ergangene Ausweisungsverfügung geltend, dass sie über ihren britischen Ehemann einen abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltstitel innehabe, weil sie dessen Dienstleistungstätigkeit durch Versorgung von Haushalt und Kindern unterstütze. Im Vorabentscheidungsverfahren gab der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht eine eindeutige Antwort dahingehend, dass Frau Carpenter in Großbritannien verbleiben könne, da eine Ausweisung nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Offensichtlich wollte er zu diesem grundrechtsfreundlichen Ergebnis kommen und die Ausweisung von Frau Carpenter verhindern. Der Weg hin zu diesem Ergebnis hat indes berechtigterweise Verwunderung und Kritik hervorgerufen363. Der EuGH stellt in seinem Urteil nicht auf die Grundrechte der von der Ausweisungsverfügung betroffenen Frau Carpenter ab, sondern sieht als letztlich ausschlaggebend das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens des Ehemanns an. Dieser erbringe grenzüberschreitende Dienstleistungen und unterfalle daher der Grundfreiheit des Art. 49 EGV364, die durch die Trennung von seiner Ehefrau beschränkt werde365. Eine solche Beschränkung müsse im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte ausgelegt werden. Hier ergebe sich, dass eine Ausweisung das Recht auf Achtung des Familienlebens des Ehemanns als Dienstleistungserbringer unverhältnismäßig beeinträchtige366. 362
EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, S. I-6279 ff. Vgl. S. Acierno, The Carpenter judgment: fundamental rights and the limits of the Community legal order, ELRev. 28 (2003), S. 398 ff.; U. Mager, Anmerkung, JZ 2003, S. 204 ff.; S. Puth, Die unendliche Weite der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, EuR 2002, S. 860 ff.; G. Britz, Bedeutung der EMRK für nationale Verwaltungsgerichte und Behörden, NVwZ 2004, S. 173 ff.; D. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162, 165 f.; K. v. Papp, Die Integrationswirkung von Grundrechten in der Europäischen Gemeinschaft, S. 132 ff., S. 146 ff. und S. 191 ff. 364 EuGH, Rs. C-60/00, a. a. O., Rn. 29 f. 365 EuGH, Rs. C-60/00, a. a. O., Rn. 37 ff. 363
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Auf dem Umweg über ihren Ehemann erhält Frau Carpenter somit genau den Schutz, den der EuGH ihr als Drittstaatsangehöriger ohne direkten Bezug zum Gemeinschaftsrecht wegen der Anwendungsbeschränkung der Gemeinschaftsgrundrechte nicht zusprechen konnte. Dabei wird in dem Urteil versucht, den Eindruck zu erwecken, als handele es sich um eine mitgliedstaatliche Maßnahme, die der ERT-Fallgruppe (Ausnahmen von den Grundfreiheiten) zuzurechnen und daher am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu prüfen sei367. Dies erscheint jedoch sehr fraglich. Denn um die Dienstleistungsfreiheit des Ehemannes, die Anknüpfungspunkt für eine Eröffnung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts ist, als von der Ausweisung der Ehefrau beeinträchtigt anzusehen, bedarf es einer extrem weiten Auslegung des Art. 49 EGV, die nur schwerlich mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten in Einklang zu bringen ist. Eine Ausweisung ist keine protektionistische Maßnahme mit Binnenmarktbezug, d. h. im grenzüberschreitenden Verkehr368. Liegt aber keine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit vor, so fehlt es an der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts als Voraussetzung für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte. Dies überspielt der Gerichtshof einfach. Er hält den Schein des Gemeinschaftsbezugs über die Grundfreiheit aufrecht, während es in Wirklichkeit das betroffene Gemeinschaftsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens selbst ist, durch das der Bezug erst hergestellt wird369. Das Ergebnis der Entscheidung stand von vornherein fest: Der Luxemburger Gerichtshof wollte Grundrechtsschutz gewähren370. Er war hierfür jedoch nicht bereit, sich aus dem ökonomischen Korsett seiner Rechtsprechung zu lösen. Zudem wollte er die Grundrechte nicht offensichtlich unitarisierend einsetzen, da dies sicherlich einen Aufschrei von Seiten der Mitgliedstaaten zur Folge gehabt hätte. Genauso wie er die Unionsbürgerschaft nicht als Anknüpfungspunkt 366
EuGH, Rs. C-60/00, a. a. O., Rn. 40 ff. Dieser Eindruck wird insbesondere dadurch vermittelt, dass der EuGH ausdrücklich auf die Urteile ERT und Familiapress verweist, vgl. Rs. C-60/00, Rn. 40. 368 Ausführlich dazu S. Puth, Die unendliche Weite der Grundfreiheiten des EGVertrags, EuR 2002, S. 860, 868 ff. Siehe auch U. Mager, Anmerkung, JZ 2003, S. 204, 206; S. Acierno, The Carpenter judgment: fundamental rights and the limits of the Community legal order, ELRev. 28 (2003), S. 398, 406. Es ist auffällig, dass der EuGH in seinem Urteil keinerlei Begründung für die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit liefert, sondern lapidar eine nachteilige Auswirkung auf die Grundfreiheit „feststellt“, Rs. C-60/00, a. a. O., Rn. 39. 369 Vgl. U. Mager, a. a. O., S. 206. 370 U. Mager, a. a. O., S. 207, deutet das Urteil dahingehend, „dass der EuGH sich nunmehr als Motor der Integration zu einer Grundrechtsgemeinschaft betätigen“ wolle, sieht es aber auch als „Versuchsballon“. D. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162, 166, spricht von einer „Einzelfallentscheidung“ und einer „Art grundrechtlichen ‚Aushilfe‘ durch den EuGH“. 367
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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ausreichen lässt, sondern zusätzlich das Diskriminierungsverbot heranzieht, benutzt er auch hier ein „wegebnendes“ Werkzeug, in diesem Fall die Dienstleistungsfreiheit. Interessanterweise wird in dieser Konstellation die Grundfreiheit sozusagen zugunsten des Grundrechts instrumentalisiert, während dem EuGH teilweise – wie im ersten Teil der Untersuchung ausgeführt – genau das Gegenteil, nämlich die Instrumentalisierung der Grundrechte zugunsten der wirtschaftlichen Integration, vorgeworfen wird371. Mit der Entscheidung hat der Luxemburger Gerichtshof ein weiteres Mal den Überschneidungsbereich der beiden europäischen Grundrechtsschutzsysteme vergrößert. Eigentlich wäre der Fall Carpenter – nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs – ein klassischer Fall für den Straßburger Gerichtshof gewesen. Der EuGH hat im Vorabentscheidungsverfahren die Straßburger Entscheidung gewissermaßen vorweggenommen. Dabei leitet er in seinem Urteil das Grundrecht des Ehemanns aus Art. 8 EMRK her und verweist ausführlich auf ein Urteil des EGMR in einem Ausweisungsfall372, wendet es aber im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit des EG-Vertrags an. Hätte Frau Carpenter nicht bereits mit Hilfe des EuGH vor dem nationalen Gericht Recht bekommen, so hätte sie ihr Glück sicherlich noch in Straßburg versucht. Die Entscheidung Carpenter ist in ihrer Ratio – umfassendere Kontrolle nationaler Maßnahmen anhand der Gemeinschaftsgrundrechte – nicht isoliert geblieben. Einen weiteren Vorstoß hat der EuGH in dem Urteil Steffensen unternommen, in dem es um die rechtliche Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Gerichtsverfahrens ging373. Bislang war in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Verfahrensausgestaltung auch bei Klagen, in denen es um durch das Gemeinschaftsrecht garantierte Rechte geht, zum Bereich des innerstaatlichen Rechts gehörte. Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wurde hier lediglich durch die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt374. In Steffensen ergänzt der Gerichtshof diese Rechtsprechung. Sofern gemeinschaftsrechtlich garantierte Rechte betroffen seien, unterliege das nationale Gerichtsverfahren darüber hinaus einer Kontrolle am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte375. Den beiden anerkannten Fallgruppen mitgliedstaatlicher Grund371
Vgl. oben 1. Teil, B. III. 2. c). EuGH, Rs. C-60/00, a. a. O., Rn. 42 (Verweis auf EGMR, Urteil vom 2.8.2001, Boultif/Schweiz, RJD 2001-IX, Ziff. 39, 41, 46). Siehe auch das Urteil des EuGH in der Rs. C-109/01, Akrich, Slg. 2003, S. I-9607 Rn. 58 ff. 373 EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, S. I-3735 ff. 374 EuGH, Rs. C-453/99, Courage, Slg. 2001, S. I-6297, Rn. 29; Rs. C-255/00, Grundig Italiana, Slg. 2002, S. I-8003, Rn. 33. 375 EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, S. I-3735, Rn. 69 ff. Zu beachten ist, dass der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte hier nicht auf der Grundlage der mitglied372
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
rechtsbindung ließ sich die betroffene Verfahrensmaßnahme nicht zuordnen; weder diente sie der Durchführung von Gemeinschaftsrecht noch wirkte sie sich als eine zu rechtfertigende Beschränkung der Grundfreiheiten aus. Verallgemeinert man diese Rechtsprechung, lässt das Urteil vielmehr auf die Anerkennung einer neuen Fallgruppe hinsichtlich der Verpflichtungswirkung der Gemeinschaftsgrundrechte schließen: Bei Klagen vor mitgliedstaatlichen Gerichten, durch die der Schutz der subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts gewährleistet werden soll, befindet sich das mitgliedstaatliche Gerichtsverfahrensrecht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und unterliegt folglich einer Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte376. Dies lässt sich mit der dualistischen Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystems, in dem die nationalen Gerichte auch als Gemeinschaftsgerichte fungieren, rechtfertigen. Eine verstärkte gemeinschaftsrechtliche Koordinierung führt zu erhöhter Einheitlichkeit. Allerdings wird so nicht unerheblich in die verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten eingegriffen377. Auch in dieser Hinsicht erweitert der Luxemburger Gerichtshof das gemeinschaftsgrundrechtliche Kontrollspektrum in einen Bereich hinein, der vormals nur der subsidiären Kontrolle des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs unterlag. cc) Die Bindung der Mitgliedstaaten nach der Grundrechte-Charta Die Bindung der Mitgliedstaaten nach der Grundrechte-Charta ist in Art. 51 Abs. 1 GRCh erstaunlich eng gefasst. Die Charta soll für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gelten. Unter Unionsrecht ist hiernach auch das Gemeinschaftsrecht als Teilbereich zu verstehen378. Dem Wortlaut zufolge fiele indes im Falle des Verbindlichwerdens der Charta von den beiden anerkannten Fallgruppen mitgliedstaatlicher Bindung nur die „agency situation“ unter die Vorschrift. Die „ERT-Fallgruppe“, in der es um zu rechtfertigende Beschränkungen von Grundfreiheiten geht, lässt sich nicht unter die Formulierung „Durchführung des Rechts der Union“ subsumieren379. Dies bedeutete einen deutstaatlichen Pflicht nach Art. 10 EGV heranzieht, wie er es in den bisherigen Entscheidungen zum mitgliedstaatlichen Gerichtsverfahrensrecht getan hat, vgl. EuGH, Rs. 213/89, Factortame, Slg. 1990, S. I-2433, Rn. 21, und Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 19. 376 Vgl. W. Schaller, Anmerkung zum Urteil Steffensen, EuZW 2003, S. 671, 672; D. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162, 169 f. 377 W. Schaller, a. a. O., S. 672. 378 M. Borowsky in: Meyer, Kommentar zur Grundrechtecharta, Art. 51 Rn. 17. 379 Siehe auch C. Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, EuZW 2001, S. 261, 266; P. Szczekalla, Grundrechte für Europa – Die europäische
B. Umfang, Systematisierung und Struktur der Gemeinschaftsgrundrechte
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lichen Rückschritt gegenüber dem hinsichtlich der Adressaten bereits erreichten Schutzumfang der Gemeinschaftsgrundrechte. Betrachtet man allerdings die Entstehungsgeschichte des Art. 51 Abs. 1 GRCh, so zeigt sich, dass der Wortlaut der entscheidenden Passage im Verlauf der Konventsarbeiten mehrfach geändert wurde380. So wurde in einem früheren Stadium vorgeschlagen, die Bindung „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ festzuschreiben381, bevor die wesentlich engere Endfassung übernommen wurde. Dass die Konventsmitglieder mit den divergierenden Formulierungen auch unterschiedliche Regelungszwecke verfolgten, ist jedoch nicht ersichtlich; vielmehr wurde durchgehend auf die relevante EuGHRechtsprechung verwiesen382. Ein Verweis auf die Rechtsprechung findet sich auch in den Erläuterungen des Konventspräsidiums zum endgültigen Entwurf der Charta383, die zwar nicht bindend sind, aber als Auslegungshilfen herangezogen werden können. Hier wird bezüglich der mitgliedstaatlichen Bindung in Art. 51 Abs. 1 auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hingewiesen und dabei neben dem Wachauf-Urteil zur „agency situation“ auch das ERT-Urteil zu der zweiten Fallgruppe zitiert. Dies deutet darauf hin, dass der Konvent die Rechtsprechung des EuGH zur mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte nicht einschränken und trotz der engen Formulierung des Art. 51 Abs. 1 GRCh auch die ERT-Fallgruppe erfassen wollte384. Ein Zurückfallen hinter den bereits erreichten Standard – und damit hinter den acquis communautaire – wäre erstaunlich, denn Ziel der Charta ist erklärtermaßen eine Stärkung des Grundrechtsschutzes385. Es wäre sicherlich geschickter gewesen, wenn die Verfasser der Union nach Nizza, DVBl. 2001, S. 345, 349; zweifelnd auch D. Curtin/R. van Ooik, The Sting is Always in the Tail: The Personal Scope of Application of the EU Charter of Fundamental Rights, MJ 8 (2001), S. 102, 108. 380 Dazu G. de Bfflrca, The drafting of the European Union Charter of fundamental rights, ELRev. 26 (2001), S. 126, 136 f. 381 CHARTE 4111/00 vom 20.1.2000. 382 W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 214. 383 CHARTE 4235/00 – Convent 27 – vom 18.4.2000. 384 So auch W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 214. G. de Bfflrca, The drafting of the European Union Charter of fundamental rights, ELRev. 26 (2001), S. 126, 137, merkt allerdings an, dass der Verhandlungsverlauf mit der engen Formulierung des Art. 51 Abs. 1 GRCh am Ende auch ein Zeichen für die zunehmende Zurückhaltung seitens der Mitgliedstaaten, sich zu stark an die Gemeinschaftsrechtsordnung zu binden, sein könnte. 385 5. Erwägungsgrund der Präambel der Grundrechte-Charta. B. Beutler in: von der Groeben/Schwarze, Art. 6 EUV Rn. 116, spricht von einem „verfassungsrechtlichen Skandalon europäischen Ausmaßes, wenn eine Charta zum Schutz der Grundrechte hinter das bisher erreichte Schutzniveau der Grundrechte zurückfiele“.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Charta die Mitgliedstaaten „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ an die Chartarechte gebunden hätten. Damit hätten sie zwar die vage Rechtsprechungsformel übernommen, die Gefahr, hinter den acquis communautaire zurückzufallen, hätte aber nicht bestanden386. dd) Bewertung der Judikatur zur Reichweite der mitgliedstaatlichen Bindung an Gemeinschaftsgrundrechte im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung Der Gerichtshof geht inzwischen bei der Bestimmung der Reichweite der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte recht weit. Der von ihm sicherlich in seine Kalkulation einbezogene Vorteil dieses Vorgehens ist, dass auf diese Weise Lücken im Grundrechtsschutz vermieden werden können. Der EuGH setzt sich damit nicht dem Vorwurf aus, im jetzigen, fortgeschrittenen Stadium der Integration keinen hinreichenden Grundrechtsschutz zu gewähren. Dafür muss er sich in diesem Zusammenhang einen anderen Vorwurf entgegenhalten lassen: Seine weit in mitgliedstaatliche Bereiche vordringenden Urteile bergen die Gefahr, dass eine von der Rechtsprechung dominierte Vergemeinschaftung eintritt, die die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen überspielt387. Da es im Mehrebenensystem der Gemeinschaft keine vollständige Integration der Rechtsordnungen der verschiedenen Ebenen, sondern nur eine partielle Vergemeinschaftung gibt, könnte ein solches Vordringen das komplizierte Kompetenz- und Rechtsgeflecht zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten durcheinander bringen. Mit dem Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte sind für den Luxemburger Gerichtshof insofern schwierige verfassungsrechtliche Fragen verbunden. Trotz seiner zunehmend großzügigen Auslegung ist daher nicht zu erwarten, dass er auf die Grenzziehung anhand dieses Kriteriums in nächster Zeit vollständig verzichten wird. Für die vorliegende Untersuchung ist festzuhalten, dass die dargestellte Rechtsprechung des EuGH zur mitgliedstaatlichen Bindung an Gemeinschaftsgrundrechte die Überschneidungen zwischen den beiden europäischen Grundrechtsschutzsystemen verstärkt. Es ergeben sich in Grundrechtsfällen vermehrt Konstellationen, in denen beide Gerichtshöfe, EuGH 386
Ausführlich zu den durch die enge Formulierung des Art. 51 Abs. 1 GRCh potenziell entstehenden Problemen W. Cremer, Der programmierte Verfassungskonflikt: Zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach dem Konventsentwurf für eine Europäische Verfassung, NVwZ 2003, S. 1452, 1454 ff. 387 So z. B. U. Mager, Anmerkung zum Urteil Carpenter, JZ 2003, S. 204; T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263, 265.
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und EGMR, eine inhaltliche Entscheidungszuständigkeit beanspruchen. Dies erfordert zum einen von den Gerichtshöfen ein erhöhtes Maß an Sensibilität gegenüber der jeweils „fremden“ Grundrechtsordnung und unter Umständen auch eine verstärkte Inbezugnahme der jeweils anderen Rechtsordnung und Rechtsprechung. Ohne dass es Festlegungen oder irgendwie geartete Vorgaben gibt, kann unterstellt werden, dass die Luxemburger Richter bei ihrer Urteilsfindung bestimmte Aspekte zumindest mitdenken, wenn sie wissen, dass der Kläger seinen Fall auch noch beim Menschenrechtsgerichtshof anhängig machen kann. Genauso werden die Straßburger Richter in einem Fall, der seinen Ursprung in einer gemeinschaftsrechtlichen Fragestellung hat, sicher nicht die Besonderheiten der supranationalen Rechtsordnung ausblenden und nur in ihren gewohnten „nationalen“ Bahnen verbleiben388. Zum anderen eröffnet die Überschneidung der beiden Grundrechtsschutzsysteme aber auch aus der Klägerperspektive erweiterte Möglichkeiten: Neben einer weiteren Instanz, die den Klägern für ihre Beschwerden zur Verfügung stehen kann, können sie sich unter Umständen auch bereits vorab überlegen, wie und wo sie ihren Fall erfolgversprechender durchsetzen werden389. Dabei könnten Fragen nach der effektiveren Durchsetzung des Rechts, aber zum Beispiel auch nach einer für den Kläger „günstigeren“ Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Abwägung divergierender Interessen eine Rolle spielen. Allerdings hängt sehr viel von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, so dass es schwierig sein dürfte, für diese Fragen allgemeingültige Pauschallösungen zu finden390. 388 Siehe hierzu im Einzelnen die Analyse der Judikatur von EuGH und EGMR im 3. Teil unter B. 389 Dabei ist natürlich zu beachten, dass auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene die Möglichkeit, dem EuGH nach Art. 234 EGV Auslegungsfragen im Hinblick auf mögliche Grundrechtsverletzungen vorzulegen, in Abhängigkeit von dem nationalen Verfahren steht und sich nicht immer bietet. 390 Dies zeigen die unterschiedlichen Einschätzungen in der Literatur zu diesen Fragen: S. Acierno, The Carpenter judgment: fundamental rights and the limits of the Community legal order, ELRev. 28 (2003), S. 398, 402, zieht in Betracht, dass unter Umständen die Gemeinschaftsrechtsordnung für einen durch eine mitgliedstaatliche Maßnahme in seinen Grundrechten Betroffenen wegen einer „schärferen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung größere Erfolgschancen bergen kann als die EMRKRechtsordnung, in der der EGMR den Staaten im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßig einen weiten Beurteilungsspielraum lässt. Ähnlich W. Schaller, Anmerkung zum Urteil Steffensen, EuZW 2003, S. 671, 672: „. . . verfügt das Gemeinschaftsrecht im Vergleich zum Konventionsrecht über effektivere Möglichkeiten, um die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in den Mitgliedstaaten durchzusetzen.“ Genau in die andere Richtung folgert hingegen G. Ress, Menschenrechte, europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht, in: FS Winkler, S. 897, 917: „Die Staaten sind im Grundrechtsbereich trotz der ‚margin of appreciation‘ im Rahmen der EMRK einer relativ intensiven Kontrolle unterworfen, wäh-
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
c) Verpflichtung von Privatpersonen – Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte? Die Drittwirkung subjektiver Rechte des Gemeinschaftsrechts ist in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs bisher nur im Zusammenhang mit primärrechtlich verankerten Vorschriften thematisiert worden. So hat sich der Gerichtshof in verschiedenen Entscheidungen mit einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrags beschäftigt und diese teilweise bejaht391. Für die Vorschrift des Art. 141 EGV zur Lohngleichheit, die in dieser Untersuchung – anders als die Grundfreiheiten – den gemeinschaftlichen Grundrechten zugeordnet wird, gilt seit dem Urteil Defrenne II, dass sie auch eine horizontale Wirkung zwischen Privaten entfaltet392. Eine mögliche Verpflichtung Privater durch die als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden Gemeinschaftsgrundrechte ist hingegen bislang noch nicht Gegenstand der EuGH-Rechtsprechung gewesen. In der Literatur wird eine solche Wirkung der Gemeinschaftsgrundrechte gelegentlich insbesondere unter Hinweis auf die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten als möglich diskutiert393. Dies erscheint jedoch im Hinblick auf die aufgezeigten strukturellen Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten zweifelhaft. Stattdessen kann auch hier, ebenso wie bei den EMRK-Rechten, auf die Schutzpflichtenkonstruktion rend andererseits zu beobachten ist, dass sich die EG einer vergleichbar intensiven Kontrolle zu entziehen trachtet. In allen bisherigen Interpretationsdivergenzen hat der EuGH zuungunsten einer weiten Interpretation der Freiheitsrechte entschieden. . . .“ 391 EuGH, Rs. 58/80, Danks Supermarked, Slg. 1981, S. 81 ff. (zur Warenverkehrsfreiheit). EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 ff.; Rs. 13/76, Donà/ Mantero, Slg. 1976, S. 1333 ff.; Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 ff.; Rs. C-191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549 ff.; Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681 ff.; Rs. C-28198, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 ff. (zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit). Siehe hierzu ausführlich M. Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten; W.-H. Roth, Drittwirkung der Grundfreiheiten?, in: FS Everling, S. 1231 ff.; E. Steindorff, Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Lerche, S. 575 ff. 392 EuGH, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, S. 455, Rn. 30/34 ff. B. Beutler in: von der Groeben/Schwarze, Art. 6 EUV Rn. 66, schließt von der unmittelbaren Drittwirkung des Art. 141 EGV auf die horizontale Wirkung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes als ungeschriebenes Gemeinschaftsgrundrecht. 393 H.-M. Wolffgang in: Lenz/Borchardt, Anhang zu Art. 6 EUV Rn. 23, hält eine Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte für möglich, wenn sich das Rechtsverhältnis zwischen den Privaten nach Gemeinschaftsrecht richtet. In diese Richtung auch I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofs, S. 100, 102. Zu einer möglichen mittelbaren Drittwirkung siehe H. Gersdorf, Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte im Lichte des Solange II-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, AöR 119 (1994), S. 400, 419 ff.
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verwiesen werden, die den Weg über die Drittwirkung von Grundrechten verzichtbar macht. Es wird von verschiedenen Seiten angeregt, dass der EuGH derartige Konflikte in Anlehnung an die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs zu den „obligations positives“ lösen sollte394. Die Grundrechte-Charta bindet gemäß Art. 51 Abs. 1 nur die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts. Eine Bindung Privater erscheint hiernach ausgeschlossen. Gleichzeitig enthält die Charta jedoch einige Rechte, deren Formulierung auf eine Wirkung im horizontalen Verhältnis hindeutet395. Eine mögliche Drittwirkung der ChartaRechte hängt daher von der Auslegung des Verhältnisses der allgemeinen Vorschrift des Art. 51 Abs. 1 GRCh, die den Anwendungsbereich der Charta festlegt, zu den speziellen Grundrechtsgewährleistungen ab396.
VI. Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte: Abwehrrechte, Schutzpflichten und Teilhaberechte Nach der aufgezeigten Entstehung und Konzeption als subjektive Rechte steht bei den Gemeinschaftsgrundrechten eindeutig die abwehrrechtliche Funktion im Vordergrund. Der EuGH hat die Grundrechte in seiner Rechtsprechung zwecks Begrenzung der auf die Gemeinschaft übertragenen Kompetenzen herausgearbeitet. Dementsprechend betreffen seine Judikate ganz vorrangig hoheitliche Eingriffe in die Freiheitssphäre Einzelner. Grundsätzlich können den Grundrechten im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung, genauso wie nationalen Grundrechten oder den EMRKRechten, jedoch auch über die Abwehrfunktion hinaus weitere Funktionen zukommen. Überlegungen hierzu haben indes bislang in erster Linie auf theoretischer Ebene stattgefunden. In der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs gibt es nur vereinzelte Anhaltspunkte für die Begründung von weiteren Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte über die Abwehrkonstellation hinaus. 394 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 18 und 23 ff.; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 174; H. Gersdorf, a. a. O., S. 420 f. (Frage nach der Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte als „Scheinproblem“, das vollständig in der grundrechtlichen Schutzpflichtenproblematik aufgeht); L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 209 f. (Ablehnung der unmittelbaren Drittwirkung), S. 216 ff. (Bedürfnis für Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht). Ausführlichst P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht. 395 So beispielsweise Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 GRCh. Auch die Art. 3 Abs. 2, 8 Abs. 2, 12 Abs. 2 und 27 ff. GRCh lassen Raum für eine mögliche Drittwirkung. 396 Hierzu A. Heringa/L. Verhey, The EU Charter: Text and Structure, MJ 8 (2001), S. 11, 21 ff.
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1. Schutzpflichtfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte Größere Aufmerksamkeit seitens der Literatur hat insbesondere die Schutzpflichtdimension subjektiver Rechte des Gemeinschaftsrechts, d. h. die hoheitliche Pflicht zum Schutz der Rechte vor Eingriffen privater Dritter, seit dem Urteil des Gerichtshofs zu den französischen Lkw-Blockaden erfahren397. In dieser Entscheidung ging es allerdings gerade nicht um die grundrechtliche Schutzpflichtfunktion, sondern um die der Grundfreiheiten, die der Gerichtshof über eine Kombination mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 10 EGV konstruierte. Ein vergleichbares Urteil zu den Gemeinschaftsgrundrechten ist bislang nicht ergangen. Gegen eine direkte Übertragung dieser Konstruktion auf den Bereich der Grundrechte bestehen in Anbetracht der aufgezeigten strukturellen Unterschiede zwischen den beiden Kategorien subjektiver Rechte Bedenken398. In den Ausführungen der Literatur zu den grundrechtlichen Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht wird auf verschiedene EuGH-Entscheidungen verwiesen, aus denen Hinweise auf eine solche Grundrechtsdimension herauszulesen sein sollen399. Hierbei handelt es sich aber in der Regel um Fälle, die der Gerichtshof trotz der aufgrund des Sachverhalts naheliegenden Schutzpflichtdimension über die klassische abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte gelöst hat400. Auch in den Urteilen zur Beschränkung der Grundfreiheiten durch mitgliedstaatliche Maßnahmen sind die Gemeinschaftsgrundrechte lediglich in ihrer Funktion als Abwehrrechte zum Tragen gekommen401. Zwar liegt 397 EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, S. I-6959 ff. Hierzu P. Szczekalla, Grundfreiheitliche Schutzpflichten – eine „neue“ Dimension der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, DVBl. 1998, S. 219 ff. u. v. a. Siehe auch EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659 ff. (Verkehrsblockade auf der Brenner-Autobahn). Dazu u. a. B. Koch, Anmerkung, EuZW 2003, S. 598 f. 398 J. Suerbaum, Die Schutzpflichtdimension der Gemeinschaftsgrundrechte, EuR 2003, S. 390, 396, hält die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten hingegen für auf die Gemeinschaftsgrundrechte im Wege eines Erst-Recht-Schlusses übertragbar: Wenn bereits den ursprünglich nicht als Abwehrrechten konzipierten Grundfreiheiten eine Schutzpflichtdimension zukomme, müsse dies erst recht für die Grundrechte gelten. Dieser Schluss ist indes nicht zwingend. 399 Dazu gehören EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, S. 195 ff.; Rs. C-326/86 und 66/88, Francesconi, Slg. 1989, S. 2087 ff.; Rs. C-13/94, P/S, Slg. 1996, S. I-2143 ff. Hierzu M. Hilf/E. Staebe, The Duty to Protect and to Ensure Human Rights According to the Law of the European Community/European Union, in: Klein, The Duty to Protect and to Ensure Human Rights, S. 211, 222 ff. 400 Dazu L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 212 ff.; J. Suerbaum, Die Schutzpflichtdimension der Gemeinschaftsgrundrechte, EuR 2003, S. 390, 393 f., 396 ff. 401 Dies ist die Konstellation der ERT-Fallgruppe, vgl. oben 2. Teil B. V. 2. b) aa). Siehe insbesondere EuGH, Rs. C-288/89, Gouda, Slg. 1991, I-4007, Rn. 23 ff.; Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I-3689, Rn. 25 ff. Auf die
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den Begründungen des EuGH in diesen Fällen auch der Gedanke des Schutzes grundrechtlicher Güter zugrunde. Die Frage, ob in diesem Zusammenhang positive Schutzpflichten tatsächlich bestehen, wird aber nicht entschieden402. In der Literatur wird zur Begründung der Schutzpflichtdimension der Gemeinschaftsgrundrechte neben der Notwendigkeit eines effektiven Grundrechtsschutzes in erster Linie schlicht auf die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs verwiesen, in der diese Dimension der Konventionsrechte seit langem anerkannt sei403. Zwecks gerichtlicher Einklagbarkeit sollen sich die so auf einer objektiv-rechtlichen Ebene konstruierten Schutzpflichten im Einzelfall zu subjektiv-rechtlichen Schutzgewährrechten „verdichten“404. Sofern sich das Gemeinschaftssystem in Richtung einer umfassenden Rechtsordnung weiterentwickeln und damit die Frage nach grundrechtlichen Schutzpflichten von zunehmender praktischer Relevanz werden sollte, gibt es keine grundlegenden dogmatischen Einwände gegen die Übernahme dieser Konstruktion. 2. Gemeinschaftsgrundrechte als mögliche Teilhaberechte Neben den Schutzpflichten wird den Gemeinschaftsgrundrechten in der Literatur über die objektiv-rechtliche Dimension auch eine mögliche Funktion als Teilhaberechte zuerkannt. Als Gleichheitsrechte seien die Teilhaberechte auf gleichberechtigte Beteiligung an bestehenden hoheitlichen Leistungssystemen, also ebenso wie die Schutzgewährrechte auf positives staatliches Handeln, gerichtet405. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum allgemeinen Gleichheitssatz lässt sich der Gedanke der Existenz solcher Teilhaberechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung zwar ableiten, ausdrücklich hat der EuGH diese Grundrechtsfunktion aber bisher noch nicht anerkannt. Erst recht haben die – noch weitergehenden – originären Leistungsgrundrechtliche Schutzpflichtdimension deutet auch die Formulierung des EuG in der Rs. T-76/96, National Farmers’ Union, Slg. 1996, S. II-815, Rn. 75, hin. 402 Dazu H. Gersdorf, Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte im Lichte des Solange II-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, AöR 119 (1994), S. 400, 407; T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 25; L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 214 f. 403 L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 216 ff.; H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, S. 223 f. 404 J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 602. Aus grundrechtstheoretischer Sicht zu den subjektiven Schutzgewährrechten, die sich aus den objektiven staatlichen Schutzpflichten ableiten, siehe R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 411 ff. 405 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 27.
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2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
rechte noch keinen Niederschlag in seiner Rechtsprechung gefunden406. Insgesamt lässt sich allerdings im Gemeinschaftsrecht eine zunehmende Bedeutung der sozialen Grundrechte verzeichnen407. Dies ist ein erster notwendiger Schritt in Richtung der Anerkennung möglicher teilhabe- und dann auch originär leistungsrechtlicher Dimensionen der Gemeinschaftsgrundrechte. Die Zurückhaltung des Luxemburger Gerichtshofs bei der Anerkennung grundrechtlicher Funktionen, die über den Abwehraspekt hinausgehen und positive hoheitliche Maßnahmen erfordern, lässt sich mit den Besonderheiten der gemeinschaftlichen Rechtsordnung erklären. Während die Gemeinschaftsgrundrechte als Abwehrrechte lediglich die Folge der zunehmenden Kompetenzübertragung von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft sind, sind sie als Schutzgewähr-, Teilhabe- und Leistungsrechte auf die Zuständigkeit des Grundrechtsadressaten zur Erfüllung der Handlungspflicht verwiesen. Damit verbindet sich aber mit der objektiv-rechtlichen Dimension der Gemeinschaftsgrundrechte automatisch die Befürchtung, die Rechte könnten bei einem nicht nur abwehrrechtlichen Verständnis kompetenzerweiternd als „Kompetenzbegründungsmechanismen“ wirken408. Dem kann jedoch der Grundsatz der Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz entgegengehalten werden: Die Gemeinschaftsgrundrechte können nur dann Grundlage für positive hoheitliche Maßnahmen sein, wenn sie mit einer gemeinschaftlichen Zuständigkeit korrespondieren, die grundrechtlich geforderte Leistung auch tatsächlich zu erbringen409. Die Grundrechte sind sozusagen nachrangig gegenüber den Kompetenzen; nur wenn letztere auf die Gemeinschaft übertragen sind, können die Grundrechte – in welcher Funktion auch immer – überhaupt zum Tragen kommen. Wird dies berücksichtigt, besteht kein Anlass zur Sorge einer schleichenden Kompetenzerweiterung über die Grundrechte. Gleichzeitig zeigt dies aber auch die Grenzen auf, die dem gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz zum momentanen Zeitpunkt noch gezogen sind. Solange keine Hoheitsrechte für den Bereich objektiv-rechtlicher Grundrechtsfunktionen übertragen werden, können diese Funktionen auch nicht zum Tragen kommen.
406 Dazu T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 24; J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 605. 407 E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 175. 408 P. Kirchhof, Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, in: Liber Amicorum Oppermann, S. 201, 215. 409 T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 51 GRCh Rn. 22.
C. Ergebnis des zweiten Teils
211
3. Funktionen der in der Grundrechte-Charta verbürgten Rechte Die Formulierungen in einzelnen Chartarechten deuten auf Funktionen der Grundrechte hin, die über eine bloße Abwehrdimension hinausgehen410. Jedoch stellt Art. 51 Abs. 2 GRCh ausdrücklich klar, dass die Charta keine neuen Zuständigkeiten und Aufgaben begründet und auch die bereits festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben nicht ändert. Daher laufen, solange in der Gemeinschaftsrechtsordnung keine Veränderungen stattfinden, die Rechte, denen eine Schutzpflicht-, Teilhabe- oder Leistungsfunktion zukommt, ins Leere. Dies gilt insbesondere für diejenigen Rechte des mit „Solidarität“ überschriebenen vierten Kapitels der Charta, die umfangreiche soziale Verbürgungen mit teilhabe- und leistungsrechtlichem Inhalt enthalten411.
C. Ergebnis des zweiten Teils Gemeinschaftlicher Grundrechtsschutz und Menschenrechtsschutz nach der EMRK beruhen auf unterschiedlichen Ausgangslagen. Die EMRK gibt einen festen Katalog vor, während im Gemeinschaftsrecht der EuGH die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze von Fall zu Fall erarbeitet. Der vergleichende Überblick über die jeweiligen Grund- und Menschenrechtskataloge – ob geschrieben oder ungeschrieben – zeigt indes, dass sich trotz dieser Unterschiede im Ansatz weitgehende Parallelen bei den grundsätzlich gewährleisteten Rechten feststellen lassen. Der vom EuGH im Laufe der Jahre erarbeitete ungeschriebene Grundrechtskatalog ist mit dem Auffangrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz etwas umfassender als die Menschenrechtskonvention, die kein abschließendes System darstellt. Durch die Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der Konventionsgarantien in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs ist die inhaltliche Unvollständigkeit der EMRK jedoch weitgehend aufgefangen. Der Gleichlauf der Rechte in beiden Rechtsordnungen hängt insbesondere damit zusammen, dass die Europäische Menschenrechtskonvention eine wesentliche Inspirationsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte darstellt, wie es seit dem Vertrag von Maastricht auch in Art. 6 Abs. 2 EUV festgeschrieben ist. 410
Vgl. beispielsweise Art. 24 und 25 (Recht des Kindes und Rechte älterer Menschen), Art. 29 (Recht auf Zugang zu Arbeitsvermittlungsdienst), Art. 34 (soziale Sicherung und soziale Unterstützung), Art. 35 (Gesundheitsschutz). 411 Dazu ausführlich T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 27 GRCh Rn. 1 ff. Zur fehlenden Parallelität zwischen Chartarechten und Gemeinschaftskompetenzen siehe auch oben 2. Teil, B. II. 3. b).
212
2. Teil: Systematik und Struktur der Grund- und Menschenrechte
Die äußerlich-nominalen Parallelen bei den Rechten bedeuten indes nicht, dass die Konventionsgarantien und die Gemeinschaftsgrundrechte auch inhaltlich gleich gesetzt werden können und müssen. Die inhaltliche Ausgestaltung der Rechte wird durch eine Reihe von Faktoren geprägt, die im zweiten Teil der Arbeit analysiert wurden. Dazu gehören neben dem Ursprung und dem Umfeld der Rechte ihre verschiedenen Funktionen, die Rechtsverpflichteten und diejenigen, welche die Rechte zu ihren Gunsten geltend machen können. Besonders im Hinblick auf den letzten Faktor konnten entscheidende Unterschiede zwischen EMRK und Gemeinschaft herausgearbeitet werden. Der Kreis derjenigen, die sich auf Grundrechte berufen, ist im Gemeinschaftsrecht ein grundsätzlich anderer als im Bereich der EMRK. Die Konventionsgarantien sind klassische Menschenrechte, die in erster Linie den Schutz von Würde und Freiheit bezwecken und entsprechend vorrangig von natürlichen Personen in Anspruch genommen werden. In der Gemeinschaft werden Grundrechte immer noch in der Mehrzahl der Fälle von Unternehmen oder von „Marktbürgern“ zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten geltend gemacht. Auch wenn diese Differenzierung inzwischen sicherlich keine absolute mehr ist – der EuGH entscheidet insbesondere seit Einführung der Unionsbürgerschaft vermehrt auch über „klassische“ Menschenrechtsfälle, während der Straßburger Gerichtshof in den letzten Jahren häufiger mit Beschwerden von Wirtschaftsunternehmen konfrontiert ist –, bleibt es doch dabei, dass hier ein gewichtiger Unterschied zwischen den beiden Grundrechtsordnungen besteht. Selbst das verbindliche Inkrafttreten der Grundrechte-Charta würde an diesem Befund zunächst nichts ändern, da die Charta ausweislich der Formulierungen in ihren Erwägungsgründen weiterhin von den grundlegenden ökonomischen Zielsetzungen als Fundament der Gemeinschaft ausgeht. Dieser grundsätzlich unterschiedliche Kreis der Rechtsberechtigten ist geeignet, den beiden Grundrechtsordnungen eine differenzierte Prägung zu geben, die sich auch auf die Ausgestaltung der gewährleisteten Rechte in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe auswirken muss. Der unterschiedliche Ansatz der beiden Rechtsordnungen bedingt auch die Unterschiede, die sich hinsichtlich der Rechtsverpflichteten ergeben: Während die Menschenrechtskonvention sich eindeutig an die Vertragsstaaten wendet, binden die Gemeinschaftsgrundrechte Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane, bieten also Schutz gegen zwei Arten von Hoheitsgewalt. Mit der Ausdehnung des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“, in dem die Mitgliedstaaten die Gemeinschaftsgrundrechte beachten müssen, hat der Luxemburger Gerichtshof zugleich den Bereich vergrößert, in dem sich seine inhaltliche Zuständigkeit mit der des Straßburger Gerichtshofs direkt überschneidet. Dies bietet die Möglichkeit, auch in der Praxis einen weitgehenden Gleichlauf zwischen den beiden Grundrechtsordnungen zu er-
C. Ergebnis des zweiten Teils
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zielen. Davon, dass die auf diese Weise bewirkte Verdopplung der grundrechtlichen Kontrolle eine echte Konfliktpotenzierung bewirken könnte, wenn die beiden Gerichtshöfe in verschiedenen Verfahrensstadien mit denselben Sachverhalten befasst werden und die jeweiligen Grund- und Menschenrechte unterschiedlich auslegen, ist nicht auszugehen. Je größer der Überschneidungsbereich, desto höher aber die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Divergenzen auftreten. Für den rechtssuchenden Bürger erweist sich die Überschneidung der beiden Grundrechtsschutzsysteme als positiv, da ihm eine zusätzliche Instanz für Beschwerden zur Verfügung steht. Wesentlich für die Ausgestaltung eines Grundrechtsschutzsystems ist das, was die zu seiner Auslegung berufene Instanz daraus macht. Die im zweiten Teil dieser Arbeit herausgearbeiteten Grund- und Menschenrechtskataloge und die Faktoren, welche die in den Katalogen gewährleisteten Rechte beeinflussen, sind zunächst, da im Wesentlichen von außen vorgegeben, statisch. Eine Grund- und Menschenrechtsordnung, die auf mehr abzielt, als Rechte nur als bloße Programmsätze in die Welt zu setzen, wird durch die Richter und deren Spruchpraxis ausgestaltet, weiterentwickelt und wesentlich geprägt. Daher setzt sich der dritte Teil dieser Untersuchung mit den beiden Gerichtshöfen in Straßburg und Luxemburg und ihrer Grund- und Menschenrechtsrechtsprechung auseinander und greift dabei insbesondere die im zweiten Teil aufgedeckten Divergenzpunkte auf.
Dritter Teil
Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund- und Menschenrechtsschutz und der Umgang mit der jeweils anderen Rechtsordnung in der Straßburger und Luxemburger Rechtsprechung Grund- und Menschenrechtsschutz ist unabhängig von der Rechtsebene, auf der er gewährleistet wird, ein stark richterrechtlich geprägter Bereich. Auf nationaler Ebene kommt den Grundrechten in einer Normenhierarchie in der Regel der formell höchste Rang und damit materiell entscheidender Einfluss auf die gesamte Rechtsordnung zu. Mit dieser Stellung geht einher, dass ihnen ein hoher Allgemeinheits- und Abstraktionsgrad zu eigen ist1. Anders ließe sich die Ausstrahlung der grundrechtlich verbürgten Werte auf die gesamte Rechtsordnung nicht umsetzen. Dies wiederum bedingt die herausgehobene Rolle des Richters, insbesondere des Verfassungsrichters, bei der Anwendung und Auslegung der Grundrechte: Er hat die knappen Formulierungen, mit denen die fundamentalen Grundsätze und Werte eines Gemeinwesens umschrieben werden, mit Inhalt zu füllen2. Dabei kann er nicht, wie bei einfachen Gesetzen, auf festgeschriebene Vorgaben zurückgreifen, sondern muss das dogmatische Gerüst, auf dem diese Normen beruhen, selber aufbauen. Die auf diese Weise richterrechtlich herausgearbeitete Dogmatik dient dem einzelnen Grundrechtsanwender und -unterworfenen in allen Bereichen als Leitschnur. Die Entwicklung des Grund- und Menschenrechtsschutzes in den beiden untersuchten europäischen Rechtssystemen basiert ebenfalls maßgeblich auf der Rechtsprechung der zuständigen Gerichtshöfe. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass sich diese internationalen Systeme, wie im ersten und zweiten Teil dieser Arbeit aufgezeigt, in ihren Rahmenbedingungen, ihrem An1
Vgl. M. de Blois, The Fundamental Freedom of the European Court of Human Rights, in: FS Schermers, Bd. III, S. 35, 50; M. Shapiro, The European Court of Justice, in: Craig/de Bfflrca, The Evolution of EU Law, S. 321, 323. Zur inhaltlichen Fundamentalität der Grundrechte siehe R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 475. 2 U. Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, in: FS Maurer, S. 1005, 1014, umschreibt dies plastisch mit den Worten „Wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten“. Vgl. auch J. Meyer, in: ders., Kommentar zur Grundrechte-Charta, Präambel Rn. 28.
3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
215
satz und ihrer Ausrichtung von nationalen Grundrechtsschutzsystemen und auch untereinander grundlegend unterscheiden. Für die Gemeinschaftsrechtsordnung ergibt sich die richterrechtliche Prägung des Grundrechtsschutzes schon daraus, dass der Judikative mangels verbindlichen geschriebenen Grundrechtskatalogs bislang die Aufgabe zukommt, die Grundrechte in ihren Entscheidungen zunächst zu entwickeln, bevor sie im konkreten Fall zur Anwendung kommen können. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg muss im Rahmen der Herausarbeitung allgemeiner Rechtsgrundsätze nicht nur das dogmatische Gerüst der Grundrechte aufbauen, sondern auch die einzelnen abstrakten Inhalte festlegen. Aber auch im System der EMRK mit den katalogartig niedergelegten Menschenrechten spielt der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof eine herausragende Rolle, indem er die Konventionsrechte konkretisiert, konturiert und im Lichte des von ihm erarbeiteten Gesamtsystems auslegt. Die Bedeutung der Rechtsprechung für die Erarbeitung und Ausformung der beiden unterschiedlichen europäischen Grundrechtsschutzsysteme ist bereits im ersten und zweiten Teil der Arbeit erkennbar geworden. In dem folgenden dritten Teil werden zunächst die Gerichtshöfe in ihrem Aufbau und ihrer Arbeitsweise im Grundrechtsbereich vergleichend untersucht. Auslegungsmethoden und generelle Leitprinzipien ihrer Grundrechtsrechtsprechung werden aufgezeigt und gegenübergestellt. Es kann gezeigt werden, dass aufgrund der starken Prägung der beiden Grundrechtsschutzsysteme durch die Rechtsprechung die Unterschiede zwischen den Gerichtshöfen zugleich auch die bereits im ersten und zweiten Teil der Arbeit untersuchten Unterschiede zwischen den Systemen widerspiegeln. Im Anschluss wird anhand einer Analyse ausgewählter Entscheidungen der Gerichtshöfe untersucht, wie die beiden Systeme sich zueinander verhalten und wie sie interagieren. Dabei werden zum einen die unterschiedliche Herangehensweise an gleichartige Fragestellungen und die auf beiden Ebenen erzielten, teils übereinstimmenden, teils divergierenden Ergebnisse untersucht. Zum anderen wird analysiert, wie die internationalen Richter auf beiden Ebenen damit umgehen, dass ein anderes, auf dem gleichen Gebiet „konkurrierendes“ System mit einem eigenen Gerichtshof existiert, d. h. inwieweit sie auf die „fremde“ Rechtsprechung Bezug nehmen und diese rezipieren, aber auch inwieweit sie die „fremde“ Rechtsordnung ihrer eigenen anpassen oder auch unterordnen, indem sie sie einer Prüfung am Maßstab ihres eigenen Systems unterwerfen. Hierbei sind auch mögliche Auswirkungen der Grundrechte-Charta auf das Verhältnis der beiden Gerichtshöfe und der Systeme zueinander zu berücksichtigen.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe – Aufbau, Arbeitsweise, grundlegende Prinzipien und Auslegungsmethoden In dem folgenden Abschnitt werden grundlegende Strukturen der beiden Gerichtshöfe und ihrer Rechtsprechung untersucht. Eine solche Analyse ist die notwendige Vorarbeit für die dann folgende Urteilsauswertung, weil die Entscheidungen der Gerichte maßgeblich durch bestimmte systemimmanente Grundgegebenheiten determiniert sind. Beiden Gerichtshöfen ist gemeinsam, dass sie auf international-europäischer Ebene agieren und entsprechend zusammengesetzt sind und dass ihnen Rechtsprechungskompetenzen im Grundrechtsbereich zukommen. Gleichwohl bestehen bereits vom Ansatz her fundamentale Unterschiede. Hierzu gehört insbesondere der unterschiedliche Umfang der Zuständigkeiten. Während der Straßburger Gerichtshof auf die Überprüfung von Menschenrechtsverletzungen spezialisiert ist, kommt dem EuGH eine umfassende Zuständigkeit in verschiedenen Rechtsbereichen zu, aus denen sich seine Funktion als Zivil-, Verwaltungsund gleichzeitig auch Verfassungsgericht ergibt. Diese verschiedenen Rollen, die die Gerichtshöfe in dem jeweiligen System spielen, wirken sich wiederum auf ihre Arbeitsweise und ihre Auslegungsmethoden aus.
I. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Der Straßburger Gerichtshof ist das ältere der beiden europäischen Gerichte. Durch die grundlegende Neuregelung des Rechtsschutzsystems im Zuge des Inkrafttretens des 11. Zusatzprotokolls im Jahr 1998 haben sich für den Gerichtshof zahlreiche Änderungen ergeben. Insbesondere ist er zu einem ständigen Gericht mit hauptamtlichen Richtern geworden, dem nicht mehr die Menschenrechtskommission als Filter vorgeschaltet ist. Die äußerlichen Veränderungen lassen sich auch inhaltlich in der Rechtsprechung des EGMR nachvollziehen3. Gleichwohl ist er dabei aber seinen grundsätzlichen Ansätzen und Rechtsprechungslinien treu geblieben. Er wahrt die Menschenrechte weiterhin im Wege der einzelfallbezogenen Argumentation und entwickelt auf diese Weise die Konventionsrechtsordnung insgesamt weiter.
3 Vgl. J. Andriantsimbazovina, La Cour Européenne des Droits de l’Homme à la croisée des chemins, CDE 2002, S. 735, 747 ff., 755 ff.
A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe
217
1. Grundsätzliche Ausrichtung des EGMR: Spezialisiertes „Verfassungsgericht“ mit eng begrenztem Zuständigkeitsbereich im Spannungsfeld zwischen Freiheit von internen Bindungen und Notwendigkeit der Akzeptanz Bei 46 Vertragsstaaten der Menschenrechtskonvention ist der territoriale Jurisdiktionsbereich des EGMR der weltweit größte eines permanenten Gerichtshofs, der verbindliche Urteile fällt und dem sich die Staaten ohne Einschränkungen hinsichtlich seiner Zuständigkeit unterworfen haben4. Während in den Jahren nach dem Inkrafttreten der EMRK die Urteile des Gerichtshofs aufgrund der kleineren Zahl der Vertragsstaaten zunächst noch in einem relativ homogenen Rechtsraum ergingen, treffen inzwischen in diesem Rahmen sehr unterschiedliche Rechtstraditionen und -kulturen aufeinander5. Diese Vielfältigkeit bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Rechtsprechung. Nach Art. 19 EMRK ist dem Gerichtshof die generelle Aufgabe zugewiesen, „die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben“. In Art. 32 EMRK wird die Zuständigkeit des Gerichtshofs als „alle die Auslegung und Anwendung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffenden Angelegenheiten“ umfassend umschrieben. So allgemein diese Aufgabenzuweisungen sind, zeigen die genannten Vorschriften doch den engen Zuschnitt des inhaltlichen Jurisdiktionsbereichs, in dem die internationalen Richter agieren. Der Menschenrechtsgerichtshof ist ein spezia4 Die Bevölkerungszahl aller Vertragsstaaten der EMRK beträgt insgesamt über 800 Millionen, vgl. F. Jacobs/R. White/C. Ovey, European Convention on Human Rights, S. 396. Der „Einzugsbereich“ des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag ist größer, da er nicht auf Europa beschränkt ist, jedoch ist er nicht uneingeschränkt, sondern nur in den Fällen des Art. 36 IGH-Statut zuständig. Zu Unterscheidungsmerkmalen zwischen der Jurisdiktion des EGMR und des IGH siehe EGMR, Urteil vom 23.3.1995, Loizidou/Türkei, Serie A 310, Ziff. 83 ff. (Unterschiede insbesondere im Hinblick auf Kontext, Rolle und Zweck). 5 Das in dem 5. Erwägungsgrund der Präambel der EMRK hervorgehobene „gemeinsame Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit“ umschreibt nur eine gleiche Grundorientierung aller Vertragsstaaten, nicht aber eine Homogenität der Rechtsordnungen und -traditionen. J. P. Müller, Rechtsphilosophische Reflexionen zur EMRK als Teilverfassung des werdenden Europas, in: GS Ryssdal, S. 957, 967, spricht von „minimaler Homogenität in einer menschenrechtlichen Kultur“. In Anbetracht der großen Zahl der Mitgliedstaaten des Europarats sind zwar inzwischen sehr unterschiedliche Rechtstraditionen umfasst. Da aber insbesondere die zahlreichen in den neunziger Jahren neu beigetretenen Staaten einem gewissen Zwang unterlagen, sich an das bereits bestehende Recht anzupassen, haben sich die Probleme des Aufeinandertreffens verschiedener Traditionen bisher nicht in der möglicherweise zu erwartenden Schärfe realisiert.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
lisiertes Gericht, das ausschließlich über die Vereinbarkeit hoheitlicher Akte der Vertragsstaaten mit den EMRK-Rechten entscheidet. Nur die Konventionsrechte sind sein Entscheidungsmaßstab6. Aus dieser Spezialisierung und der ihm im Konventionssystem zugewiesenen Rolle ergeben sich wichtige Folgen für seine Rechtsprechung. Die Materie, die die Entscheidungsbasis für den Straßburger Gerichtshof bildet, ist dieselbe, mit der sich klassischerweise auch nationale Verfassungsgerichte auseinandersetzen, nämlich die Vereinbarkeit hoheitlicher Akte mit Menschenrechten oder Grundrechten. Ebenso wie einem nationalen Verfassungsgericht, das mit einem Grundrechtsfall befasst ist, kommt dem EGMR die Aufgabe zu, die Reichweite des von einem Einzelnen als verletzt gerügten Menschenrechts zu bestimmen und dabei im Wege einer Abwägung zwischen dem Einzelinteresse und dem Allgemeinwohl zu einem gerechten Ergebnis zu kommen7. Für die Richter auf internationaler und nationaler Ebene ergeben sich hierbei vergleichbare Problemstellungen insbesondere hinsichtlich der Reichweite ihrer Rechtsprechungskompetenzen8. Gleichwohl befindet sich der Straßburger Gerichtshof in einer anderen Situation als ein nationales Verfassungsgericht und ebenfalls als der EuGH in Luxemburg. Er steht innerhalb des konventionsrechtlichen Organisationsgefüges isoliert da und fügt sich nicht in eine wie auch immer geartete verfassungsrechtliche Struktur ein9. Die Einordnung in den Kontext des Europarats vermag die isolierte Stellung der Menschenrechtskonvention und damit auch des EGMR nur zu relativieren, bewirkt aber – wie oben dargelegt – keine grundlegende Änderung dahingehend, dass auf diese Weise ein als Verfassungsgefüge im weiteren Sinne zu bezeichnender Strukturrahmen anzunehmen wäre10. Die Bezeichnung der EMRK als „Teilverfassung“ 6 Wäre der inhaltliche Jurisdiktionsbereich des Gerichtshofs umfassender, hätte er aufgrund der Vielzahl der Rechtssysteme, über die er urteilt, wahrscheinlich wesentlich größere Schwierigkeiten, eine konsistente Rechtsprechung zu etablieren. 7 Dementsprechend wird der Straßburger Gerichtshof auch verschiedentlich als Verfassungsgericht bezeichnet, vgl. nur E. Alkema, The European Convention as a constitution and its Court as a constitutional court, in: GS Ryssdal, S. 41 ff.; L. Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569 ff. 8 Hierzu P. Mahoney/S. Prebensen, The European Court of Human Rights, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 621, 638 f. 9 M. de Blois, The Fundamental Freedom of the European Court of Human Rights, in: FS Schermers, Bd. III, S. 35, 44, umschreibt die Position des Gerichtshofs als „splendid isolation“. Seine Aussage, der EGMR funktioniere in einer Art von „Vakuum“ (a. a. O., S. 43) erscheint allerdings zu weitgehend, da der Gerichtshof sich sehr wohl in die regionale Völkerrechtsordnung der EMRK einfügt, die wiederum eng mit den nationalen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten verzahnt ist. 10 Hierzu oben, 1. Teil, B. II. 1. b).
A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe
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bezieht sich lediglich auf die von ihr wahrgenommene Begrenzungsfunktion; ein in sich abgeschlossenes Gesamtsystem ist sie gerade nicht11. Sofern in dieser Untersuchung die Rede von dem „System“ der EMRK ist, handelt es sich um das durch die Konventionsrechte und die ihrer prozessualen Durchsetzung dienenden Vorschriften in Ansätzen vorgegebene, in erster Linie aber vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung selber herausgearbeitete „Menschenrechtssystem“, nicht aber um ein von außen vorgegebenes. Dem Gerichtshof als Organ der Judikative ist weder eine auf gleicher Ebene befindliche Exekutive noch eine Legislative beigeordnet. Die im nationalen Rahmen verfassungsrechtlich relevante Materie des Staatsorganisationsrechts entfällt für ihn12. Hierin zeigt sich ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zwischen Straßburger und Luxemburger Gerichtshof: Der EuGH ist eine Institution innerhalb einer vielschichtigen Organisationsstruktur, in der allen drei Gewalten Bereiche zugewiesen sind13. Seine Zuständigkeit geht weit über den Grundrechtsbereich und auch über den gewöhnlichen Zuständigkeitsbereich eines nationalen Verfassungsgerichts hinaus. Die Rolle des EGMR als isoliertes und spezialisiertes Gericht bedeutet auf der einen Seite, dass er weniger starken internen Bindungen unterliegt als ein nationales Verfassungsgericht, das sich in einen ausgefeilten organisationsrechtlichen Rahmen einfügt. Er ist in seinen Entscheidungen insofern freier, als er keine Rücksicht auf andere, den Konventionsrechten im Rang möglicherweise gleichkommende Werte auf derselben Ebene nehmen muss14. Es geht ihm allein um die Wahrung der Menschenrechte; organisations- oder kompetenzrechtliche Fragestellungen spielen in seinen Urteilen keine Rolle und können daher die menschenrechtlichen Wertungen nicht beeinflussen oder zurückdrängen15. Die so umschriebene „Freiheit“ des Straßburger Gerichtshofs hat gleichzeitig zur Folge, dass er sich noch stärker als 11
Vgl. oben, 1. Teil, B. II. 4. Siehe hierzu oben 1. Teil, B. II. 4. A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 10: „[Der Gerichtshof] ist kein Superverfassungsgericht.“ K.-G. Zierlein, Functions and tasks of constitutional courts, in: GS Ryssdal, S. 1553, 1554, nennt bezeichnenderweise als erste der Funktionen, die einem nationalen Verfassungsgericht zukommen, den staatsorganisationsrechtlichen Bereich der Kompetenzabgrenzung zwischen den verschiedenen Staatsgewalten. 13 Vgl. zum EuGH A. M. Donner, Transition, in: FS Wiarda, S. 145, 146: „(La Cour de Luxembourg) n’est que l’une des institutions d’un ‚corps politique‘ . . . Elle est chargée d’assurer le respect du droit dans l’interprétation et l’application des traités. Et ces traités ont des objectifs . . . Ainsi ils fournissent une mesure essentielle de ce qui ‚se doit et ne se doit pas‘ pour les institutions, pour les Etats membres et pour les citoyens du marché . . .“. 14 Diese Freiheit kommt in dem Aufsatztitel von M. de Blois, in: FS Schermers, Bd. III, S. 35 ff., zum Ausdruck: „The fundamental freedom of the European Court of Human Rights“. 12
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
ein nationales Verfassungsgericht spezialisieren und einem begrenzten Bereich ausführlich und „ablenkungsfrei“ widmen kann. Mit dieser „Freiheit“ kontrastiert auf der anderen Seite aber die Funktion, die dem Menschenrechtsgerichtshof als Teil eines völkerrechtlichen Überwachungsmechanismus zukommt. Er hat die Befugnis, Entscheidungen höchster innerstaatlicher Gerichte einschließlich der Verfassungsgerichte für konventionsrechtswidrig zu erklären. Die in seine Zuständigkeit fallende Materie kann stark politisch geprägt sein. Für die Akzeptanz seiner Urteile und die daraus resultierende Durchschlagskraft der Konventionsrechte ist somit auch entscheidend, dass er das richtige Maß an Zurückhaltung und Respekt vor der Souveränität der Vertragsstaaten und den Eigenheiten ihrer politischen Systeme wahrt16. Gerade weil seinen Urteilen formal nur feststellende Wirkung zukommt und es aufgrund der nur auf völkerrechtlicher Ebene liegenden Bindung für den Einzelnen keine innerstaatliche Möglichkeit der Vollstreckung gibt17, muss der Gerichtshof besonders vorsichtig vorgehen und darf nicht die ihm zuerkannten Befugnisse überdehnen. Er muss vielmehr, um einen effektiven Menschenrechtsschutz in der Praxis zu erreichen, die Durchsetzungsschwäche des Völkerrechts durch eine Rechtsprechung kompensieren, die auf Akzeptanz bei den Vertragsstaaten und 15
Vgl. A. M. Donner, Transition, in: FS Wiarda, S. 145, 146, der für den EGMR in Abgrenzung zum EuGH feststellt, dass die EMRK über die Rechte hinaus keine weiteren Ziele festlegt („cet élément d’ordre et de cohérence est moins évident dans l’activité judiciaire à Strasbourg“). 16 M. de Blois, a. a. O., S. 38, verweist auf die in den Anfangsjahren geäußerten Befürchtungen, dass dem EGMR eine zu starke politische Rolle zugewiesen würde. N. Valticos, Des parallèles qui devraient se rejoindre: les méthodes de contrôle international concernant les conventions sur les droits de l’homme, in: FS Bernhardt, S. 647, 649 f., nennt als die zwei wichtigsten Elemente bei der internationalen Kontrolle der Menschenrechte „le souci d’efficacité“ einerseits und „le désir . . . de ne pas heurter les sensibilités des Etats“ andererseits. Siehe auch F. Matscher, Idéalisme et réalisme dans la jurisprudence de la Cour européenne des Droits de l’Homme, in: GS Ryssdal, S. 881 ff. 17 Gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK überwacht das Ministerkomitee die Durchführung der Urteile des EGMR. Damit gibt es zwar eine kollektive Sicherung im Rahmen des Konventionssystems, diese reicht in ihrer Effizienz aber nicht an eine innerstaatliche Urteilsvollstreckung heran. Zu der Überwachungsfunktion des Ministerkomitees siehe Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 54 Rn. 1 f. Der Gerichtshof selbst hat stets darauf verwiesen, dass er nicht ermächtigt ist, Vollstreckungsmaßnahmen anzuordnen, siehe EGMR, Urteil vom 18.1.1979, Irland/ Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, Ziff. 186 f.; Urteil vom 24.2.1983, Dudgeon/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 59, Ziff. 15; Urteil vom 14.9.1987, Gillow/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 124-C, Ziff. 9. Zu den Konsequenzen der fehlenden Vollstreckungsmöglichkeit siehe auch L. Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569, 570 f.
A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe
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eine daraus folgende „freiwillige“ Bereitschaft zur Umsetzung stößt18. Seine „Freiheit“ ist insofern nur eine eingeschränkte. Mit diesen Erwägungen hängt auch die Einordnung der EMRK als subsidiäres Rechtsschutzinstrument zusammen. Die Tatsache, dass die EMRK inzwischen als „instrument constitutionnel de l’ordre public européen“19 objektive verfassungsrechtliche Wirkungen entfaltet, ändert nichts daran, dass der Rechtsschutzmechanismus der Konvention nur nachrangig gegenüber dem nationalen Grundrechtsschutz eingreift. Dies kommt nicht nur prozessual in dem Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs nach Art. 35 Abs. 1 EMRK zum Ausdruck, sondern spiegelt sich auch materiell in der Judikatur des Straßburger Gerichtshofs in Form der margin of appreciation und der richterlichen Zurückhaltung wider20. Der EGMR sieht es nicht als seine Aufgabe an, systematisch an die Stelle des demokratischen Gesetzgebers zu treten21. Die Etablierung dieser Prinzipien ist für den Gerichtshof umso wichtiger, als es sonst in Anbetracht der Vielzahl der divergierenden Rechtssysteme, Rechtstraditionen und Rechtskulturen, über die er zu urteilen hat, schwierig für ihn würde, seiner Rechtsprechung eine einheitliche Linie zu geben. Der Gerichtshof muss folglich in seiner Rechtsprechung einen Spannungsbogen schlagen zwischen der ihm eingeräumten relativ großen Entscheidungsfreiheit, dem Streben nach möglichst effektivem und durchsetzbarem Menschenrechtsschutz und der Rücksichtnahme auf nationale Interessen. Die Mittel, derer er sich bedient, um diese verschiedenen Pole in ein richtiges Verhältnis zueinander zu bringen, werden im Abschnitt über die Auslegungsmethoden und Prinzipien aufgezeigt. 18 Vgl. auch C. Grewe, Vergleich zwischen den Interpretationsmethoden europäischer Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, ZaöRV 61 (2001), S. 459, 465, die auf eine Reduzierung der richterlichen Kontrolle durch den EGMR im Zusammenhang mit sozial oder politisch stark umstrittenen Fragen (Beispiel Schwangerschaftsabbruch) verweist und dies mit seiner Sorge um Autorität und Legitimität begründet. 19 EGMR, Urteil vom 23.3.1995, Loizidou/Türkei, Serie A Nr. 310, Ziff. 75. 20 Zum Grundsatz der Subsidiarität im EMRK-System und dessen Ausflüssen siehe A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 10 f.; M. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 171 ff. Nach L. Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569, ist die Kontrolle durch den EGMR zumindest in der Theorie „nur eine Sicherheitsmaßnahme, um diejenigen Versehen zu korrigieren, die den nationalen Verfassungsgerichten trotz gründlicher Kontrolle unterlaufen sind“. Ausführlich zur margin of appreciation in der EGMRRechtsprechung siehe unten 3. Teil, A. I. 4. b) bb). 21 Vgl. L. Wildhaber, a. a. O., S. 570, der als ergänzendes Argument für den Ermessensspielraum in der EGMR-Judikatur anführt, dass die nationalen Behörden am besten in der Lage seien, zwischen aufeinanderprallenden Interessen abzuwägen.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
2. Organisation, Verfahren und Arbeitsweise An dieser Stelle soll nur auf einige grundsätzliche Eigenschaften von Organisation, Verfahren und Arbeitsweise des Menschenrechtsgerichtshofs eingegangen werden, die das Straßburger Gerichtssystem besonders auszeichnen und die gleichzeitig für eine Abgrenzung gegenüber dem Gerichtssystem des EuGH herangezogen werden können. Der Straßburger Gerichtshof ist seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls ein ständiges Gericht mit hauptamtlichen Richtern, die auf Vorschlag des jeweiligen Vertragsstaats von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählt werden22. Gemäß Art. 20 EMRK entspricht die Zahl der Richter der Zahl der Vertragsstaaten. Hierdurch wird bereits ein Charakteristikum des EGMR deutlich: Auch wenn die Richter nicht als Vertreter ihrer Heimatländer zu sehen sind, sondern unabhängige Mitglieder des rechtsprechenden Gremiums sind, repräsentieren sie bei 46 Vertragsstaaten der Menschenrechtskonvention sehr viele unterschiedliche Rechtstraditionen, Herangehensweisen an Rechtsfälle und „Rechtsprechungsstile“. Diese Vielfalt kommt in den Entscheidungen inzwischen allerdings nicht mehr vollständig zum Ausdruck, da der Straßburger Gerichtshof – anders als der EuGH – seit 1993 keine Urteile mehr im Plenum fällt23. Die Rechtssachen werden in Ausschüssen mit drei Richtern oder in Kammern mit sieben Richtern entschieden; das größtmögliche Entscheidungsgremium ist jetzt die Große Kammer mit siebzehn Richtern24. Eine verfahrensrechtliche Besonderheit ist, dass der jeweiligen Kammer oder der Großen Kammer nach Art. 27 Abs. 2 EMRK von Amts wegen immer der Richter angehört, der für den als Verfahrenspartei beteiligten Staat gewählt ist oder, sofern dieser verhindert ist, eine von dem betroffenen Staat benannte Vertretungsperson, die „in der Eigenschaft eines Richters an den Sitzungen teilnimmt“. Hierin kommt das Bestreben zum Ausdruck, den nationalen Rechtsordnungen so weit wie möglich gerecht zu werden. Die Beteiligung eines Richters, wel22 Art. 22 EMRK. Siehe dazu H. Schermers, Elections of Judges to the European Court of Human Rights, ELRev. 23 (1998), S. 568 ff.; A. Coomber, Judicial Independence: Law and Practice of appointments to the European Court of Human Rights, EHRLR 2003, S. 486 ff. 23 Gemäß Art. 26 EMRK ist das Plenum des Gerichtshofs nur für die organisatorischen Tätigkeiten der Bildung von Kammern, der Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten des EGMR, des Präsidenten der Kammern und des Kanzlers sowie des Beschließens der Verfahrensordnung zuständig, hat aber keine Rechtsprechungskompetenzen. Bis 1993 hatte das Plenum des Gerichtshofs die Rolle inne, die jetzt der Großen Kammer zukommt. Viele grundsätzliche Urteile sind bis zu diesem Zeitpunkt im Plenum gefällt worden, vgl. W. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRKKommentar, Art. 43 (mit Fußnote 2). 24 Art. 27 Abs. 1 EMRK.
A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe
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cher der dem angegriffenen Hoheitsakt zugrunde liegenden Rechtsordnung zugehört, soll verhindern, dass auf EMRK-Ebene Entscheidungen gefällt werden, die das Wesen einer nationalen Rechtsordnung verkennen oder deren Besonderheiten nicht angemessen berücksichtigen25. Gleichzeitig spiegelt die Verankerung dieser Verfahrensmodalität für den Gerichtshof in der Konvention aber auch wider, dass die EMRK schon vom Ansatz her keine autonome Rechtsordnung ist, sondern in bewusster Anbindung an die Rechtsordnungen der Vertragsstaaten existiert. Diese bewusste Anbindung an die Rechtsordnungen der Vertragsstaaten bedeutet allerdings nicht, dass der EGMR als Organ der Konvention kein eigenständiges und unabhängiges Gericht wäre. Er erfüllt alle Kriterien, die ein solches Gericht kennzeichnen26. Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist justizförmig ausgestaltet und hält dem Vergleich mit einem innerstaatlichen Gerichtsverfahren stand. Dies gilt insbesondere, seitdem dem Gerichtshof die obligatorische Zuständigkeit für Individualbeschwerden zukommt. Unter der Voraussetzung der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs hat jeder Einzelne direkten Zugang zum Gerichtshof. Das ursprüngliche, als völkerrechtlicher Kompromiss gedachte Verfahren, in dem der Einzelne darauf angewiesen war, dass die Menschenrechtskommission seinen Fall vor den Gerichtshof brachte, gehört der Vergangenheit an27. Damit kommen dem EGMR als internationalem Gericht, das Organ eines rein völkerrechtlichen Systems ohne übertragene Hoheitsrechte ist, weitgehende Kompetenzen zu. Er ist, ohne Mediatisierung durch die Staaten, direkt für in ihren Rechten betroffene Einzelne zuständig und erreichbar28. Die Staatenbeschwerde als zweite Verfahrensart, bei der ein Vertragsstaat den EGMR wegen einer Konventionsverletzung durch einen anderen Vertragsstaat anrufen kann, ist 25 Vgl. J. Callewaert in: Pettiti/Decaux/Imbert, Commentaire CEDH, Art. 43, S. 755, 756. Kritisch zu der Vorschrift des Art. 27 Abs. 2 EMRK R. Schweizer/ P. Sutter, Das Institut der abweichenden oder zustimmenden Richtermeinung im System der EMRK, in: FS Trechsel, S. 107, 113, die die Gefahr eines Missbrauchs der Vorschrift durch die jeweiligen Richter zugunsten ihres Landes sehen. 26 D. Harris/M. O’Boyle/C. Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 649 ff.; J. Callewaert, The Judgments of the Court: Background and Content, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 713, 718 ff. 27 Zur Entwicklung des Individualbeschwerdeverfahrens und seiner Ausgestaltung siehe C. Tomuschat, Individueller Rechtsschutz: das Herzstück des „ordre public européen“ nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 2003, S. 95, 97 f.; P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 235 ff. 28 J. A. Carrillo Salcedo, The Place of the European Convention in International Law, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 15, 17, bezeichnet die Individualbeschwerde als „remarkable innovation in international law“.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
hingegen Ausdruck eines klassischen völkerrechtlichen Verständnisses der internationalen Rechtsordnung. Staatenbeschwerden spielen allerdings quantitativ in der Rechtsprechung des EGMR nur eine sehr untergeordnete Rolle im Vergleich zu Individualbeschwerden, deren Zahl nach Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK so explosionsartig angestiegen ist, dass mit dem Zusatzprotokoll Nr. 14 bereits eine weitere Reform des Rechtsschutzsystems geplant ist29. Der Großen Kammer kommen im Rechtsschutzsystem der EMRK zwei Funktionen zu: Zum einen ist sie zuständig, sofern eine Kammer eine Rechtsfrage an sie abgibt, die eine „schwerwiegende“ Auslegungsfrage der Konvention aufwirft, oder deren Entscheidung eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zur Folge haben könnte30. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass grundlegende Urteile immer im größten Gremium des Gerichtshofs gefällt werden und damit auf hohe Akzeptanz seitens der Vertragsstaaten treffen. Darüber hinaus fungiert die Große Kammer gemäß Art. 43 EMRK auch als Rechtsmittelinstanz, wenn Kammerurteile schwerwiegende Auslegungs- oder Anwendungsfragen oder schwerwiegende Fragen von allgemeiner Bedeutung aufwerfen. Dies gilt jedoch ausdrücklich nur „in Ausnahmefällen“. Es sollte mit dieser Verweisungszuständigkeit also keine durchgängige „zweite Instanz“ geschaffen werden, sondern vielmehr zwecks Sicherstellung der Einheitlichkeit und Qualität der Rechtsprechung des Gerichtshofs und wiederum auch im Interesse größtmöglicher Akzeptanz den Verfahrensparteien die Möglichkeit gegeben werden, grundlegende Fragestellungen nochmals überprüfen zu lassen31. 29 Die Zahl der Individualbeschwerden vor dem EGMR betrug 1998 noch 18.164, im Jahr 2002 aber bereits 34.546 (Denkschrift zum Protokoll Nr. 14, S. 13). Mit dem Protokoll Nr. 14 soll zwecks Entlastung des EGMR und Sicherung seiner langfristigen Funktionsfähigkeit insbesondere ein Einzelrichterverfahren als „Filtermechanismus“ zur Aussonderung unzulässiger Beschwerden eingeführt werden. Als zusätzliche Zulässigkeitsvoraussetzung soll gelten, dass eine Beschwerde für unzulässig erklärt werden kann, wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, sofern nicht die Achtung der Menschenrechte eine Prüfung der Begründetheit voraussetzt. Zur Reform des EMRK-Rechtsschutzsystems siehe M.-B. Dembour, „Finishing Off“ Cases: The Radical Solution to the Problem of the Expanding ECtHR Caseload, EHRLR 2002, S. 604 ff.; P. Egli, Zur Reform des Rechtsschutzsystems der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZaöRV 64 (2004), S. 759 ff.; J. Andriantsimbazovina, La Cour Européenne des Droits de l’Homme à la croisée des chemins, CDE 2002, S. 735, 738 ff.; L. Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569, 571 ff. 30 Art. 30 EMRK. 31 Vgl. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 13 Rn. 66; M. Ruud, One Court – Two Instances, in: GS Ryssdal, S. 1253 ff.; K. Pabel, Die Rolle der Großen Kammer des EGMR bei Überprüfung von Kammer-Urteilen im Lichte der bisherigen Praxis, EuGRZ 2006, S. 3, 9 f.
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Die Arbeit des Gerichtshofs wird dadurch erleichtert, dass es mit Englisch und Französisch nur zwei offizielle Sprachen gibt, in denen grundsätzlich das gesamte Gerichtsverfahren abläuft und die den Richtern auch als Arbeitssprachen dienen32. Auf diese Weise werden die im Gerichtssystem der Konvention zusammenlaufenden unterschiedlichen nationalen Rechtskulturen zumindest in sprachlicher Hinsicht kanalisiert. Verfahrensnachteile, die durch die Sprachregelung insbesondere für individuelle Beschwerdeführer entstehen können, welche die beiden Amtssprachen nicht beherrschen, werden durch Ausnahmevorschriften zugunsten anderer Sprachen ausgeglichen33. Es entsteht somit kein dem EG-System mit seinen zahlreichen Amtssprachen vergleichbarer Übersetzungsaufwand. Das Gerichtsverfahren wird so erheblich vereinfacht. Die Überlegung, ob durch die sprachliche Angleichung auch bestimmte rechtliche Feinheiten nivelliert werden, spielt weniger für das Verfahren als vielmehr für die Urteile des EGMR, die ebenfalls nur in den beiden offiziellen Sprachen abgefasst werden, eine Rolle34. Insgesamt ist der Straßburger Gerichtshof effizient organisiert. Dies bildet die Voraussetzung dafür, dass bei der Vielzahl an Vertragsstaaten und entsprechenden Rechtstraditionen eine relativ einheitliche und konsistente Rechtsprechung gewährleistet werden kann. 3. Urteilstechnik des EGMR Der Straßburger Gerichtshof erlässt Entscheidungen (décisions/decisions) über Fragen der Zulässigkeit einer Beschwerde. Über die Begründetheit einer Beschwerde wird durch Urteil ( jugement/judgment) entschieden. Gesonderte Entscheidungen über eine gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK ergehen ebenfalls in Urteilsform35. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand, der den durch zwei unterschiedliche europäische Gerich32 Art. 34 Ziff. 1. VerfO EGMR. Englisch und Französisch sind die beiden Amtssprachen des Europarats, vgl. Art. 12 der Satzung des Europarats. 33 Vgl. Art. 34 Ziff. 2–6 VerfO EGMR: Unter Umständen können von der Regel des Art. 34 Ziff. 1 VerfO Ausnahmen insbesondere zugunsten eines individuellen Beschwerdeführers gemacht werden, der die Sprache eines anderen Vertragsstaats für seine Kommunikation wählen kann. 34 Art. 76 VerfO EGMR. Zur Bedeutung der Sprachen für die Urteile des EGMR siehe sogleich unter 3. c). 35 Gemäß Art. 75 VerfO EGMR ist die Entscheidung über die Entschädigung grundsätzlich zusammen mit dem Urteil über die Begründetheit zu treffen, sofern die Entschädigungsfrage entscheidungsreif ist. Bei fehlender Entscheidungsreife gibt es ein gesondertes Urteil zu Art. 41 EMRK, was in der Praxis häufiger vorkommt. Dazu M. E. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 239.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
te gewährleisteten materiellen Grundrechtsschutz behandelt, sollen hier ausschließlich Aufbau und Begründungsstil der Urteile des EGMR analysiert werden, d. h. der Entscheidungen, in denen im Rahmen der Begründetheit einer Beschwerde eine materielle Rechtsverletzung geprüft wird. a) Übersichtliche Urteilsstruktur Charakteristisch für den Aufbau der Urteile des Gerichtshofs ist die rigide Struktur, die allen Entscheidungen gleichbleibend zugrunde liegt. Ein einheitlicher, nicht variierender Urteilsaufbau bietet sich für den Straßburger Gerichtshof an in Anbetracht des eng zugeschnittenen inhaltlichen Jurisdiktionsbereichs und damit der Gleichartigkeit der Materie, über die er jeweils zu entscheiden hat. Entsprechend dieser Struktur folgt einem kurzen Überblick über den Ablauf des Verfahrens seit Einlegung der Beschwerde und der Nennung der Verfahrensbeteiligten der ausführliche tatsächliche Teil des Urteils („as to the facts“), der mit einer Schilderung des Sachverhalts beginnt. Im Anschluss werden die den Sachverhalt betreffende relevante innerstaatliche Rechtslage und -praxis und, sofern einschlägig, internationale Rechtstexte und Entscheidungen internationaler Gerichte relativ breit dargestellt. Die rechtlichen Ausführungen („as to the law“) bilden den zweiten großen Teil des Urteils. Nacheinander wird auf die verschiedenen geltend gemachten Konventionsverletzungen eingegangen. Hierbei folgt der Gerichtshof in der Gliederung dem von den einzelnen EMRK-Rechten vorgegebenen Aufbau nach Anwendbarkeit und Einhaltung der Garantie oder bei Abwehrrechten, die ausdrücklichen Schranken unterliegen, der allgemeinen grundrechtsdogmatischen Struktur aus Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung des Eingriffs. Innerhalb der einzelnen Prüfungsschritte der Begründetheit hat das Urteil einen „diskursiven Stil“36: Zunächst wird das Vorbringen der Parteien mit den verschiedenen Argumenten ausführlich referiert; daran schließen sich die regelmäßig ebenfalls recht umfangreichen Rechtsausführungen des Gerichtshofs an. Durch diese Vorgehensweise ist die materielle Rechtsprüfung insgesamt für den Leser übersichtlich gestaltet und die Argumentation des Gerichtshofs gut nachvollziehbar. Die einzelnen Prüfungspunkte und Inhaltsabschnitte sind zudem durch Überschriften gekennzeichnet. In der Ausführlichkeit der Begründungen sind die Urteile mit denen des deutschen Bundesverfassungsgerichts vergleichbar. Im abschließenden Urteilstenor wird nicht nur festgestellt, welche Rechte verletzt oder nicht verletzt sind, sondern auch angegeben, mit welcher Stimmenzahl jeweils entschieden wurde37. Abweichende Meinungen eines oder mehrerer Richter sind dem Urteil angehängt. 36
So C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 14 Rn. 6.
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b) Ausführliche, einzelfallbezogene Begründung der Urteile Die Art und Weise der nach Art. 45 Abs. 1 EMRK erforderlichen Urteilsbegründung resultiert wiederum aus den Besonderheiten, die den EGMR als internationales Gericht und als spezialisierten Menschenrechtsgerichtshof kennzeichnen. Sein Begründungsstil in Individualbeschwerdeverfahren ist von dem Bemühen geprägt, sich einerseits auf die Entscheidung von Einzelfällen zu beschränken, andererseits aber bei Bedarf auch allgemeine Aussagen zu treffen, die den Vertragsstaaten als Richtlinien für eine konventionskonforme Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts dienen können38. Eine vom Ausgangspunkt her notwendige Einzelfallorientierung und damit Beschränkung der Reichweite der Urteile ergibt sich dabei nicht nur aus der oben beschriebenen politischen Rolle des Gerichtshofs als internationaler Instanz, sondern auch aus den Vorgaben der Konvention: Nach Art. 34 EMRK ist prozessuale Voraussetzung des Individualbeschwerdeverfahrens, dass der Beschwerdeführer behauptet, Opfer einer Konventionsrechtsverletzung zu sein39. Es geht also um eine konkrete subjektive Rechtsverletzung, nicht um die objektive Überprüfung der Rechtslage. Art. 46 Abs. 1 EMRK stellt außerdem klar, dass die Urteile sich nur auf die Parteien des Rechtsstreits beziehen und in ihren Wirkungen vom Grundsatz her nicht darüber hinaus gehen („Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.“). Nach diesen Vorgaben muss sich der EGMR in seinem Urteilsspruch stets auf die Feststellung einer Rechtsverletzung im konkreten Fall beschränken. Dies bedeutet aber nicht, dass die Urteilsbegründung nicht darüber hinausgehen und verallgemeinerbare Aussagen enthalten kann, auch wenn ihr Ausgangspunkt zunächst der konkrete Fall ist. Insbesondere wenn der EGMR eine Konventionsverletzung prüft, die sich unmittelbar aus 37 Zu den sog. „operative provisions“ der EGMR-Urteile siehe J. Callewaert, The Judgments of the Court: Background and Content, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 713, 729 f. 38 Anders ist die Situation bei Staatenbeschwerden nach Art. 33 EMRK, die ohne Geltendmachung eines eigenen rechtlichen Interesses „wegen jeder behaupteten Verletzung dieser Konvention“ von einem Vertragsstaat eingelegt werden können. Dazu F. Matscher, Die Begründung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Bernhardt, S. 503, 506 f. Staatenbeschwerden spielen allerdings in der Praxis des EGMR nur eine untergeordnete Rolle; bis 2003 wurden 13 Staatenbeschwerden in Straßburg eingereicht. Vgl. zu den einzelnen Fällen die Übersicht bei M. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 183 (Stand 1999). 39 Dazu C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 13 Rn. 13 ff.; K. Rogge, The „victim“ requirement in Article 25 of the European Convention on Human Rights, in: FS Wiarda, S. 539 ff.; EGMR, Urteil vom 6.9.1972, Klass u. a./ Deutschland, Serie A Nr. 28, Ziff. 33.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
einem Gesetz oder einem vergleichbaren abstrakt-generellen Rechtsakt ergibt und nicht erst durch einen konkret-individuellen Vollzugsakt erfolgt ist, liegen seine Ausführungen notwendigerweise auf einer abstrakteren Ebene und sind dementsprechend verallgemeinerbar und übertragbar40. Einem zu starken Einzelfallbezug wirkt er zudem dadurch entgegen, dass er in der Regel zu Beginn seiner Rechtsausführungen auf bereits ergangene Entscheidungen zu dem einschlägigen Recht und dem betroffenen Problemkomplex verweist. Auf diese Weise ermöglicht er die Einordnung seiner Entscheidungen in Fallgruppen und bringt eine durchgängige Rechtsprechungslinie zum Vorschein, die über den Einzelfall hinaus Rückschlüsse auf einer abstrakten Ebene zulässt41. Generalisierungsfähige Ansätze können sich hieraus jedoch nur im Falle einer zahlenmäßig reichhaltigeren Judikatur ergeben. Das fallweise Vorgehen in Anlehnung an die Methode des common law lässt sich wiederum mit der Verschiedenartigkeit der europäischen „Rechtsschulen“ erklären, denen die Richter entstammen. In der Judikatur eines Gerichtshofs, der sich mit vielen unterschiedlichen Rechtssystemen auseinander zu setzen hat, spielen rechtsdogmatische Erwägungen zwangsläufig eine geringere Rolle als in einem einheitlichen Rechtssystem42. Die Einzelfallbezogenheit der Urteile hängt aber auch mit dem Selbstverständnis des Straßburger Gerichtshofs zusammen. Häufig enthalten die Urteile Formulierungen, welche die Grenzen der Kompetenzen des Gerichtshofs aufzeigen und seine Zurückhaltung zum Ausdruck bringen sollen. So betont er beispielsweise immer wieder, dass er keine allgemeine Theorie darüber aufzustellen habe, wie gewisse Erfordernisse der Konvention zu verstehen seien, oder dass es nicht seine Aufgabe sei, den Staaten Lösungsmodelle aufzuzeigen43. Diese Art der expliziten Auseinandersetzung mit der Reich40 Vgl. ausführlich zu den verschiedenen Fallkonstellationen und ihren Auswirkungen auf die Begründungen des EGMR F. Matscher, Die Begründung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Bernhardt, S. 503, 510 ff. Siehe auch J. Callewaert, The Judgments of the Court: Background and Content, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 713, 727 ff. 41 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 14 Rn. 6. K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem Verfassungsgerichtshof, S. 131, Fn. 1, weist allerdings darauf hin, dass der EGMR der mit dem Rechtsprechungsverweis verbundenen „Gefahr der Selbstbindung“ zu entgehen versucht, indem er so weit wie möglich auf die jeweiligen Umstände des Falles abstellt. Hierdurch wird die Herausbildung bestimmter „europäischer Standards“ wiederum eingeschränkt. 42 Vgl. F. Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, in: Macdonald/ Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 63 f. 43 Vgl. dazu mit Verweisen auf die Rechtsprechung F. Matscher, Die Begründung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS
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weite seiner Rechtsprechungsbefugnisse verdeutlicht, dass der EGMR sich mit seiner speziellen, auch politisch geprägten Rolle als internationales, den Staaten übergeordnetes Menschenrechtsgericht aktiv auseinandersetzt und ihr in jedem einzelnen Fall gerecht zu werden versucht44. Gleichwohl gerät in dem Zielkonflikt zwischen konkreter Einzelfallentscheidung einerseits und der Formulierung allgemein gültiger europäischer Standards andererseits das zweitgenannte Ziel insbesondere dank der kontinuierlichen Weiterentwicklung der EGMR-Rechtsprechung nicht aus dem Blick. c) Sprachenregelung Die Urteile werden auf Englisch oder Französisch verfasst; die Veröffentlichung ist in beiden offiziellen Sprachen des Europarats vorgesehen45. Damit unterliegen die Straßburger Richter – anders als die Richter in Luxemburg – nicht dem Zwang, ihre Ausführungen möglichst „einfach“ im Hinblick auf eine Übersetzung in zahlreiche andere Sprachen zu formulieren oder sich besonders kurz zu fassen, um den Übersetzungsaufwand zu reduzieren. Die Beschränkung auf die beiden offiziellen Sprachen birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass bestimmte Eigen- und Feinheiten einer nationalen Rechtsordnung dadurch nivelliert werden, dass sie nicht in der Sprache des betroffenen Vertragsstaats dargestellt werden können46. Mit der Übertragung von Rechtsbegriffen in eine andere Sprache wird immer auch eine gewisse juristische Unschärfe in Kauf genommen, die sich im Extremfall zu Ungunsten eines Verfahrensbeteiligten auswirken kann. Als Schwachpunkt des nur zweisprachigen Systems ist zu werten, dass die Kenntnisse der EGMR-Judikatur je nach Vertragsstaat sehr unterschiedlich sein können. Ob die Urteile in die jeweiligen Landessprachen übersetzt werden, liegt außerhalb des Konventionssystems bei den Vertragsstaaten. Beim EuGH dagegen wird die Verfahrenssprache grundsätzlich vom Kläger gewählt. Bei Klagen gegen einen Mitgliedstaat oder einen StaatsanBernhardt, S. 503, 519. Matscher kritisiert die Urteilsbegründungen des EGMR als teilweise „zu eng“ und zu wenig „mutig“, a. a. O., S. 519 f. Ausführlich dazu auch G. Ress, Die ‚Einzelfallbezogenheit‘ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Mosler, S. 719 ff. 44 Vgl. F. Matscher, Idéalisme et réalisme dans la jurisprudence de la Cour européenne des Droits de l’Homme, in: GS Ryssdal, S. 881 ff. Derartige Selbsteinschätzungen und Selbstbeschränkungen in den Urteilen können als typische Erwägungen eines Verfassungsgerichts gewertet werden, das sich mit der Reichweite seiner Kompetenzen auseinandersetzt. 45 Art. 76 VerfO EGMR; Art. 44 Abs. 3 EMRK i. V. m. Art. 78 VerfO EGMR. 46 Zu der Problematik der Übersetzung rechtsordnungs- und kulturspezifischer Termini im Zusammenhang mit der EMRK siehe M. Weston, The role of translation at the European Court of Human Rights, in: FS Wiarda, S. 679, 683 ff.
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gehörigen eines Mitgliedstaats ist die Amtssprache dieses Staates Verfahrenssprache47. Auf diese Weise ist – mithilfe eines umfangreichen Verwaltungsapparates zur Übersetzung – sichergestellt, dass Besonderheiten einer nationalen Rechtsordnung im Verfahren angemessen sprachlich berücksichtigt werden. Da die Urteile aber in allen Amtssprachen verbindlich sind, können sich auch hier juristische Probleme mit den verschiedenen Sprachen ergeben. Diese entstehen allerdings erst, nachdem das Verfahren in der „Originalsprache“ des Rechtsstreits abgeschlossen ist, d. h. wenn es um die weiteren Auswirkungen des Urteils geht. d) Sondervoten Nach Art. 45 Abs. 2 EMRK können die Straßburger Richter den Urteilen Sondervoten (separate opinions/opinions séparées) beifügen. Art. 76 Abs. 2 VerfO EGMR konkretisiert diese Sondervoten dahingehend, dass es sich um abweichende (dissenting/dissidentes) oder zustimmende (concurring/concordantes), d. h. in der Argumentation unterschiedliche, aber im Ergebnis übereinstimmende Richtermeinungen handeln kann48. Die Möglichkeit, Sondervoten zu veröffentlichen, ist im nationalen Recht ein Spezifikum der Verfassungsrechtsprechung. So können beispielsweise in Deutschland die Richter des Bundesverfassungsgerichts abweichende Meinungen im Anschluss an ein Urteil niederlegen49. Auf nationaler Ebene werden der Veröffentlichung von Sondervoten zu verfassungsgerichtlichen Urteilen verschiedene Funktionen zugemessen50. Die umfassende, auch kontroverse Darstellung aller rechtlichen Gesichtspunkte soll insgesamt eine Stärkung des Ansehens des Gerichts bewirken. Durch transparentere Entscheidungsstrukturen und Entscheidungswege und eine Stärkung der Richterpersönlichkeiten soll letztlich das Recht fortentwickelt und gleichzeitig das demokratische Element betont werden. Diese Funktionen sind nicht unumstritten. Gegen die Veröffentlichung von Sondervoten wird vorgebracht, dass sie zu einer Schwächung des Gerichts durch „Rücksicht auf öffentlichen Beifall“ führen könnte und geeignet sei, das Gewicht der gerichtlichen Entscheidung in der Öffentlichkeit zu mindern51. Gerade im politisch 47
Art. 29 § 2 VerfO EuGH. Zur Sprachregelung beim EuGH siehe unten 3. Teil, A. II. 4. d). 48 Die deutsche Übersetzung des Art. 45 Abs. 2 EMRK ist irreführend, da sie nur von „abweichenden Meinungen“ spricht und nicht zum Ausdruck bringt, dass auch zustimmende Sondervoten möglich sind. 49 § 30 Abs. 2 BVerfGG; im Einzelnen § 56 GeschO BVerfG. 50 Siehe dazu im Einzelnen Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Bd. 1, § 30 Rn. 6; K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 48 ff.
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geprägten Verfassungsrecht, das nicht immer konsensfähig ist, erscheint es jedoch sinnvoll, alle vertretenen Meinungen umfassend darzulegen, auch wenn sie die getroffene Entscheidung nicht mittragen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den Gedanken der Rechtsfortentwicklung. Mehrheiten sind wandelbar, so dass sorgfältig begründete Sondervoten sich auf lange Sicht auszahlen und zur Mehrheitsmeinung werden können52. Das Vertrauen der Bürger gerade in eine auch politisch geprägte Institution wird gestärkt, wenn erkennbar ist, dass interne Meinungsverschiedenheiten ausgetragen und nicht unterdrückt werden, und wenn diese in sachlicher Argumentation offen gelegt und damit nachvollziehbar werden. Zudem können Sondervoten auch argumentativ Einfluss auf die Gestaltung und Formulierung der Begründung von Mehrheitsmeinungen nehmen53. Diese Erwägungen gelten für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ebenso wie für nationale Verfassungsgerichte. Die Materie, mit der er sich befasst, ist dem verfassungsrechtlichen Bereich zuzurechnen und die Problemstellungen sind vergleichbar. Den Sondervoten der EGMR-Richter kommen aber zusätzlich zu den oben genannten Funktionen noch weitere Aufgaben zu, die mit der Stellung des EGMR als internationales Gericht mit Jurisdiktionsgewalt über 45 Vertragsstaaten zusammenhängen. Im internationalen Kontext dienen die Sondervoten auch dazu, das Rechtssystem, das Gegenstand des Konventionsverfahrens ist, näher zu erläutern54. Außerdem sind sie als Ausdruck des „Bewusstseins um die Vielfalt in der Einheit“55 im System der EMRK zu werten. Juristische Meinungsverschiedenheiten sind aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und juristischen Herkunft der Richter am EGMR unvermeidlich. Mit der Idee eines gesamteuropäischen Mindeststandards im Menschenrechtsschutz ist nicht die Unterdrückung des Pluralismus von Rechtsüberzeugungen zugunsten einer generellen Angleichung gemeint. In Anbetracht des vergleichbar geringen Integrationsgrades des EMRK-Systems und mit Rücksicht auf die nationalen Besonderheiten der Vertragsstaaten soll ein solcher Pluralismus vielmehr 51
Vgl. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, a. a. O., § 30 Rn. 6. Vgl. insbesondere das Zitat von Pestalozza bei Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Bethge, a. a. O., § 30 Rn. 6. 53 Vgl. F. Matscher, Die Begründung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Bernhardt, S. 503, 521 f., der darauf hinweist, dass Sondervoten beim EGMR vor der Schlussberatung abgegeben werden, so dass die darin enthaltenen Argumente mit in das Urteil einfließen können. Ebenso ist es beim BVerfG, vgl. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, a. a. O., § 30 Rn. 6.4. 54 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 14 Rn. 7. 55 So R. Schweizer/P. Sutter, Das Institut der abweichenden oder zustimmenden Richtermeinung im System der EMRK, in: FS Trechsel, S. 107, 112. Die Umschreibung Europas als „Einheit in der Vielfalt – discordia concors“ (also genau umgekehrt) stammt von Jacob Burckhardt, vgl. R. Streinz, Europarecht, Rn. 10. 52
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bewusst zugelassen werden. Die Möglichkeit der Richter, Sondervoten zu Urteilen abzugeben, ist ein wichtiges Mittel zu diesem Zweck56. Für den EGMR erweisen sich somit die Sondervoten als sinnvolle Einrichtung innerhalb des Rechtsschutzsystems. Bei einem Vergleich des EGMR mit dem EuGH, dessen Urteilen keine Sondervoten angefügt werden können, sind allerdings die Unterschiede zwischen den beiden Gerichtshöfen zu beachten. Zwar ist der EuGH ebenfalls ein international zusammengesetztes Gericht, das sich – wenn auch aufgrund der geringeren Zahl der EG-Mitgliedstaaten in kleinerem Maßstab – mit unterschiedlichen Rechtsordnungen befasst. Der inhaltliche Jurisdiktionsbereich des Menschenrechtsgerichtshofs ist aber im Gegensatz zu dem des EuGH sehr eng zugeschnitten. Je höher der Grad der Spezialisierung, desto naheliegender und sinnvoller, aber vor allem auch praktikabler erscheint die Option der Sondervoten. Bei einem Gericht wie dem EuGH mit einer sehr weiten Zuständigkeit für verschiedene Rechtsbereiche ist die Gefahr der „Zerfaserung“ der internationalen Rechtsordnung zumindest zu bedenken, wenn zu allen Arten von Urteilen abweichende Richtermeinungen niedergelegt werden können. Neben dieser praktischen Erwägung steht aber auch der Gedanke, dass die Entscheidung gegen Sondervoten beim EuGH eine bewusste war und die Idee des Pluralismus der Rechtsüberzeugungen aus verschiedenen Ländern im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung weniger schwer wiegt als im EMRK-System oder gerade unterdrückt werden sollte. e) Berücksichtigung der Wirkungen des Urteils in der Entscheidungsbegründung Ein Gericht wird seine Urteile immer auch vor dem Hintergrund der rechtlichen Wirkungen, die diese nach Erlass zeitigen, formulieren und ausgestalten. Das Miteinbeziehen der Rechtsfolgen ist ein notwendiger Bestandteil der Argumentation und der Entscheidungsstruktur. Der Straßburger Gerichtshof erlässt reine Feststellungsurteile ohne Gestaltungswirkung, d. h. er kann innerstaatliche Urteile oder Rechtsakte nicht aufheben. Die Verpflichtung zur Befolgung der Entscheidungen trifft gemäß Art. 46 EMRK nur die an dem konkreten Rechtsstreit beteiligten Staaten57. Die Reichweite 56
Aus vergleichbaren Erwägungen können richterliche Sondervoten gemäß Art. 57 IGH-Statut auch Urteilen des Internationalen Gerichtshofs angefügt werden. 57 E. Klein, Should the binding effect of the judgments of the European Court of Human Rights be extended?, in: GS Ryssdal, S. 705, 710 ff., schlägt zur Stärkung des EMRK-Systems eine Ausdehnung der Bindungswirkung der EGMR-Urteile auf alle Vertragsstaaten in Anlehnung an Art. 31 BVerfGG vor, verweist aber auch darauf, dass ein solches System auf völkerrechtlicher Ebene nur schwerlich durchsetzbar wäre.
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dieser Verpflichtung geht aus der EMRK nicht hervor. Nach Sinn und Zweck zieht der Richterspruch bei noch andauernder Konventionsverletzung auf jeden Fall eine Pflicht zur Beendigung dieses Zustands nach sich58. Wie und insbesondere von welcher staatlichen Stelle ein Urteil aber konkret umzusetzen ist, lässt die Konvention bewusst offen. Den Staaten soll hierbei ein möglichst weiter Spielraum belassen werden, was wiederum mit der Akzeptanz des Konventionsregimes zusammenhängt. Die Urteile des EGMR zeigen, dass die Straßburger Richter diese aufgrund des völkerrechtlichen Charakters recht „weichen“ Urteilswirkungen in ihre Entscheidung miteinbeziehen und die Begründung entsprechend formulieren. Ihre Argumentation ist – wie oben dargelegt – in der Regel einzelfallbezogen und vollzieht auf diese Weise die einseitige Bindung nur des an dem Verfahren beteiligten Staates nach. Auch machen die Richter den Staaten grundsätzlich keine konkreten Vorgaben, wie sie im Einzelnen mit einer festgestellten Konventionsverletzung umzugehen haben, sondern überlassen die Umsetzung der Entscheidung dem Ermessen der betroffenen Partei59. Neben den rechtlichen Folgen spielen aber auch die faktischen Auswirkungen der EGMR-Urteile eine Rolle für die Entscheidungsbegründung. Hierzu gehört insbesondere die Orientierungswirkung der Urteile gegenüber den anderen, nicht an dem konkreten Verfahren beteiligten Vertragsstaaten. Die Straßburger Judikatur entfaltet eine präjudizielle Wirkung, wenn die innerstaatlichen Stellen im Bereich aller drei Gewalten sie bei ihren Rechtsakten berücksichtigen, ohne dass überhaupt ein Urteil gegen den betreffenden Staat ergangen ist60. Eine solche faktische Wirkung seiner Urteile ist für den Gerichtshof besonders erstrebenswert, weil sie automatisch das Rechtsschutzsystem der Konvention entlastet und die Wahrung und Sicherung der Konventionsgarantien in den innerstaatlichen Bereich verlagert. Der Gerichtshof unterstützt die faktische Wirkung vor allem dadurch, dass 58 J. Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 63 ff., 251, 355. Zu möglichen weitergehenden Pflichten der Vertragsstaaten, insbesondere zur restitutio in integrum siehe W. Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 53 Rn. 4 ff. 59 G. Ress, The Effects of Judgments and Decisions in Domestic Law, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 801, 803 f. Anders beispielsweise das BVerfG, das teilweise sehr konkrete Rechtsfolgenanordnungen in seinen Urteilen gibt. Siehe zu der damit verbundenen Problematik K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 440 ff. 60 Dazu C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 16 Rn. 9. J. Callewaert in: Pettiti/Decaux/Imbert, Commentaire CEDH, Art. 53, S. 856, spricht in diesem Zusammenhang von „l’autorité de la chose interprétée“. Nach G. Ress, Supranationaler Menschenrechtsschutz und der Wandel der Staatlichkeit, ZaöRV 64 (2004), S. 621, 630 f., entfalten die EGMR-Urteile einen „quasi erga-omnes Effekt“, der sich aus der allgemeinen, durch den EGMR konkretisierten Konventionswirkung ergebe.
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er in den Entscheidungsbegründungen immer wieder auf seine Vorjudikatur verweist und so eine an alle Vertragsstaaten adressierte klare Rechtsprechungslinie deutlich macht. Auch können strategisch klug gesetzte allgemeine Aussagen, die über den Einzelfall hinaus Gültigkeit entfalten, als Leitlinie für sämtliche Staaten die faktische Wirkung der Urteile und damit das EMRK-System insgesamt stärken61. 4. Auslegungsmethoden und grundlegende Prinzipien in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs Bei einer Analyse der Methodik der Straßburger Rechtsprechung ist zu differenzieren zwischen den eigentlichen Auslegungsmethoden, mit Hilfe derer der Gerichtshof Inhalt und Reichweite der anzuwendenden Rechtsnormen bestimmt, und den Prinzipien, die er heranzieht, um die konkreten Fälle zu einer abgewogenen Lösung unter Berücksichtigung des Spannungsfeldes von Einzelfallgerechtigkeit, vertragsstaatlicher Souveränität und gemeinsamem europäischen Grundrechtsstandard zu bringen. Zu den zweitgenannten „Anwendungsprinzipien“, die sich leitmotivisch durch die Rechtsprechung ziehen, zählen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Lehre vom Beurteilungsspielraum (marge d’appréciation/margin of appreciation). Auslegungsmethoden und Prinzipien zur konkreten Lösung der Fälle sind aufeinander bezogen und stehen in engem Zusammenhang, da sie oftmals mit der gleichen Zwecksetzung und Zielrichtung zur Anwendung kommen. Gleichwohl sind sie methodisch zu trennen: Die einen dienen der abstrakten Herangehensweise an die für den Fall relevanten Rechtsnormen, während die anderen Werkzeuge zur Lösung konkreter Fragen sind62. 61 In EGMR, Urteil vom 18.1.1978, Irland/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, Ziff. 154, hat der Gerichtshof seine Sicht der notwendigen faktischen Wirkung der Urteile für alle Vertragsstaaten ausdrücklich niedergelegt, allerdings im Rahmen einer Staatenbeschwerde: „The Court’s judgments in fact serve not only to decide those cases brought before the Court but, more generally, to elucidate, safeguard and develop the rules instituted by the Convention, thereby contributing to the observance by the states of the engagements undertaken by them as Contracting Parties“. 62 P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 71, differenzieren zwischen „interpretation and application of the Convention“. Vielfach werden der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die margin of appreciation aber auch bei den Auslegungsmethoden des EGMR genannt, vgl. nur D. Harris/M. O’Boyle/C. Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 11 ff. (unter 4. ‚The Interpretation of the Convention‘); F. Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 63, 75 ff. Differenzierend zwischen Auslegungsmethoden und Anwendungsprinzipien z. B. C. Grabenwarter,
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a) Spezifische Methoden der Auslegung des Straßburger Gerichtshofs An dieser Stelle sollen nicht alle dem Menschenrechtsgerichtshof zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden eingehend erläutert, sondern vor allem die Spezifika der Auslegung der EMRK in seiner Rechtsprechung aufgezeigt werden. Damit wird die Basis für einen Vergleich mit und eine Abgrenzung von den spezifischen Auslegungsmethoden gelegt, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften insbesondere in seiner Grundrechtsrechtsprechung heranzieht. Die Menschenrechtskonvention ist ein zwischen Staaten geschlossener völkerrechtlicher Vertrag und unterfällt als solcher den Auslegungsregeln der Art. 31 bis 33 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge63. Danach sind Ausgangspunkte für die Vertragsinterpretation der Wortlaut sowie Ziel und Zweck. Verträge sind im völkerrechtlichen Zusammenhang und im Lichte späterer Übereinkünfte und späterer Übung auszulegen. Ergänzend können zur Auslegung die vorbereitenden Arbeiten (travaux préparatoires) und die Umstände des Vertragsschlusses herangezogen werden. Bei Verträgen mit mehreren authentischen Sprachen wie der EMRK sind die Texte in jeder Sprache gleichermaßen verbindlich64. Der Straßburger Gerichtshof hat sich von Anfang an auf diese Auslegungsprinzipien gestützt, zunächst in ihrer Geltung als allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze des Völkerrechts65 und seit dem Urteil Golder, das als Leitentscheidung für die Auslegung der EMRK nach den völkerrechtlichen Regeln gilt, explizit auf die Art. 30 bis 33 der Wiener Vertragsrechtskonvention66.
Europäische Menschenrechtskonvention (Auslegung in § 5, Verhältnismäßigkeit und Beurteilungsspielraum in § 18 unter ‚Struktur der Grundrechtsprüfung‘); E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 74 ff. und S. 178 ff. 63 Zwar ist die EMRK zeitlich vor der WVK in Kraft getreten, und gemäß Art. 4 WVK gilt diese nicht rückwirkend. Da die WVK aber allgemein akzeptierte Rechtsgrundsätze des Völkerrechts kodifiziert, die bereits vorher Gültigkeit entfalteten, sieht sich der EGMR durch ihre Vorschriften gebunden, vgl. EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Golder/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, Ziff. 29. 64 Zur Anwendung des Art. 33 WVK über die Auslegung von Verträgen mit mehreren authentischen Sprachen auf die EMRK siehe C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 2 ff. 65 EGMR, Urteil vom 1.7.1961, Lawless/Irland, Serie A Nr. 3, Ziff. 14. 66 EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Golder/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 18, Ziff. 29 ff. Aus neuerer Zeit siehe beispielsweise EGMR, Beschwerde-Nr. 52207/99, Urteil vom 12.12.2001, Bankovich u. a./17 Vertragsstaaten, Ziff. 55 ff.
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aa) Auslegung der EMRK unter Berücksichtigung ihres besonderen Charakters als Menschenrechtsschutzvertrag Die Anerkennung der Geltung der klassischen völkerrechtlichen Auslegungsregeln hat den EGMR allerdings nicht daran gehindert, die Vorschriften der Konvention darüber hinausgehend im Lichte bestimmter Prinzipien und Charakteristika auszulegen. Mit diesen spezifischen Auslegungsmethoden trägt er den Besonderheiten Rechnung, die der EMRK als Vertrag zum Schutz und zur Durchsetzung der Menschenrechte zukommen. Der Straßburger Gerichtshof hat die EMRK von Anfang an in seiner Rechtsprechung von Staatsverträgen klassischer Art abgegrenzt. Als normativer Vertrag – traité-loi im Gegensatz zu einem traité-contrat – schaffe sie nicht nur wechselseitige Pflichten für die Vertragsstaaten, sondern auch objektive Verpflichtungen und sei als kollektive Garantie der Menschenrechte und ihrer Durchsetzung zu verstehen67. Dementsprechend müsse die Konvention auch interpretiert werden: Nicht der völkerrechtliche Ansatzpunkt für klassische Staatsverträge, dass die staatlichen Verpflichtungen möglichst einschränkend auszulegen sind68, sei maßgebend, sondern in erster Linie Ziel und Zweck des Vertrags69. Im Lichte des Vertragstelos müssten die garantierten Rechte „praktisch wirksam und effektiv gestaltet, verstanden und angewandt werden“ und die Auslegung mit dem „allgemeinen Geist der Konvention als Instrument zur Aufrechterhaltung und Förderung der Ideale und Werte für eine demokratische Gesellschaft“ übereinstimmen70. Damit verneint der EGMR nicht die Geltung der völkerrechtlichen Auslegungsregeln für die EMRK, sondern er entwickelt sie für den Spezialbereich eines regionalen Menschenrechtsschutzvertrages fort71. Oft dienen die Grundsätze der Wie67 EGMR, Urteil vom 27.6.1968, Wemhoff/Deutschland, Serie A Nr. 7, Ziff. 8; Urteil vom 18.1.1978, Irland/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, Ziff. 239, unter Verweis auf die Präambel und auf Art. 24 a. F. EMRK zur Staatenbeschwerde. 68 Grundsatz „in dubio mitius“. 69 EGMR, Urteil vom 27.6.1968, Wemhoff/Deutschland, Serie A Nr. 7, Ziff. 8. Vgl. auch R. Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, in: FS Wiarda, S. 65, 70. 70 EGMR, Urteil vom 7.7.1989, Soering/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, Ziff. 87. 71 F. Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 63, 65 ff. Zu den speziellen Methoden bei der Auslegung von Menschenrechtsverträgen, insbesondere der EMRK, siehe R. Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, in: FS Wiarda, S. 65 ff. Kritisch dazu H. Golsong, Interpreting the European Convention on Human Rights Beyond the Confines of the Vienna Convention on the Law of Treaties?, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 147 ff., der die von der WVK für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge vorgegebenen Grenzen in einigen Fäl-
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ner Vertragsrechtskonvention allerdings nur noch als rhetorischer Ausgangspunkt für eine ansonsten eigenständige Interpretation. In der Sache kommt die Art der Auslegung durch den EGMR – korrespondierend mit dem Inhalt der Konvention – damit einer verfassungsrechtlichen Interpretation näher als einer völkervertragsrechtlichen72. Als spezifische Charakteristika werden nachfolgend die Grundsätze der autonomen, dynamischen und effektiven Auslegung untersucht. bb) Autonome Auslegung der Konventionsbegriffe Der Menschenrechtsgerichtshof legt die Rechtsbegriffe der EMRK vom Grundsatz her autonom aus. Er betrachtet das Konventionssystem als eigenständige Rechtsordnung, die von den Rechtsordnungen einzelner Vertragsstaaten unabhängig ist und deren Begrifflichkeiten sich daher nicht über Verweise auf nationales Recht definieren lassen. So hat er beispielsweise die „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ (civil rights and obligations/droits et obligations de caractère civil) in Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht in Anlehnung an die Begrifflichkeiten des jeweils in den einzelnen Fällen betroffenen nationalen Rechts definiert, sondern den Begriffen eine eigenständige Bedeutung für die Konventionsrechtsebene gegeben73. Ebenso hat er den Terminus der „strafrechtlichen Anklage“ (criminal charge/ accusation en matière pénale) in Art. 6 Abs. 1 EMRK über den engen Wortlaut hinaus und damit unabhängig vom innerstaatlichen Recht der Vertragsstaaten interpretiert74. Aber auch dort, wo die Konvention ausdrücklich auf das nationale Recht verweist, wie beispielsweise in Art. 5 Abs. 1 EMRK len als vom EGMR überschritten ansieht und dessen Urteile als zu politisch kritisiert. 72 K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 70. 73 EGMR, Urteil vom 16.7.1971, Ringeisen/Österreich, Serie A Nr. 13, Ziff. 94; Urteil vom 28.6.1978, König/Deutschland, Serie A Nr. 27, Ziff. 90. Hiernach kommt es für den Gerichtshof lediglich auf den Charakter des betroffenen Rechts an, nicht aber darauf, ob es sich um einen Rechtsstreit zwischen zwei Privaten oder zwischen einem Privaten und dem Staat handelt. Hinzu kommt, dass dem Begriff nach den Fassungen der EMRK in den beiden authentischen Sprachen unterschiedliche Bedeutungen zukommen können; schon daher war hier eine autonome Auslegung erforderlich. 74 EGMR, Urteil vom 8.6.1976, Engel u. a./Niederlande, Serie A Nr. 22, Ziff. 80 ff.: Der Begriff kann auch auf ein nationales Disziplinarverfahren angewendet werden, wenn die zu erwartende Strafe den Wirkungen einer strafrechtlichen Verurteilung entspricht. Siehe auch EGMR, Urteil vom 21.2.1984, Öztürk/Deutschland, Serie A Nr. 73, Ziff. 49 ff., zu den Sanktionen des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts, die der EGMR aufgrund ihres Abschreckungs- und Strafcharakters trotz der geringen Höhe des zu zahlenden Geldbetrags ebenfalls unter den Begriff der criminal charge in Art. 6 Abs. 1 EMRK subsumiert.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
(Freiheitsentziehung „nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“), sieht der Gerichtshof dies nicht als ausschließliche und abschließende Verweisung auf nationale Standards. Unter Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip interpretiert er bestimmte europäische Qualitätsanforderungen in das nationale Recht hinein und ermöglicht so eine inhaltliche Kontrolle des betreffenden nationalen Rechts anhand eines von ihm eigenständig bestimmten Konventionsstandards75. Die autonome Auslegung der Rechtsbegriffe der Konvention hängt mit der Zweistufigkeit des Konventionssystems zusammen. Die Einhaltung und Anwendung der EMRK-Garantien in allen Vertragsstaaten wird anhand europäischer Standards überwacht. Diese europäischen Standards erweisen sich nur dann als sinnvoll, wenn sie einheitlich sind, und eine solche Einheitlichkeit lässt sich nur über eine eigenständige Interpretation der Begrifflichkeiten der Konvention unabhängig von den verschiedenen Auffassungen in den einzelnen Staaten erreichen. Die autonome Auslegung kann dabei indes nur eine relative sein. Im Interesse innerstaatlicher Akzeptanz und sachgerechter Ergebnisse muss sie die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten in den Vertragsstaaten zumindest mitberücksichtigen76. Zudem erweist sich ein Rückgriff auf nationale Begrifflichkeiten teilweise als unerlässlich, da den in der Konvention gewährleisteten Rechten ein den innerstaatlichen Grundrechten vergleichbares Regelungsumfeld fehlt. Innerstaatliche Grundrechte sind regelmäßig in eine Verfassungsordnung eingebunden und beziehen ihre Begrifflichkeiten aus diesem Gesamtkontext. Der Inhalt der Konvention beschränkt sich hingegen auf die Menschenrechte sowie auf Organisation und Verfahren des Rechtsschutzsystems77. Daher muss beispielsweise zur Auslegung des Gesetzesbegriffs der EMRK notwendigerweise auf die Gesetzes- und Verfassungsrechtslage und die Rechtstraditionen der Vertragsstaaten zurückgegriffen werden78. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Rechtsordnungen in Bezug auf einen bestimmten Rechtsbegriff zu ermitteln und auf dieser Basis den europäischen Standard, d. h. die Anforderungen nach der Konven75
EGMR, Urteil vom 25.6.1996, Amuur/Frankreich, RJD 1996-III, Ziff. 50; Urteil vom 24.11.1994, Kemmache/Frankreich, Serie A Nr. 296-C, Ziff. 37. Siehe dazu P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 348 f.; O. Jacot-Guillarmod, Règles, méthodes et principes d’interprétation dans la jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme, in: Pettiti/Decaux/Imbert, Commentaire CEDH, S. 41, 49 f. 76 Vgl. K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 70. 77 Zur Einseitigkeit des EMRK-Systems und der fehlenden Einbindung in ein verfassungsrechtliches Regelungsumfeld vgl. oben 1. Teil, B. II. 1. 78 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 8 ff.
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tion herauszuarbeiten, bedient sich der EGMR der Rechtsvergleichung als Hilfsmittel bei der autonomen Auslegung79. Eine eingehende rechtsvergleichende Analyse der Begriffe in den verschiedenen Rechtsordnungen wird dabei zwar nur selten durchgeführt80. Der rechtsvergleichende Aspekt ergibt sich aber vom Ansatz her bereits aus der internationalen Zusammensetzung des Gerichtshofs, dessen Richter die unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen aus ihrer jeweiligen Rechtsordnung und -tradition in die Entscheidung einbringen81. Trotz dieser Relativierung durch Rückgriffe auf nationale Bedingungen sichert sich der EGMR mit der autonomen Auslegung der Konventionsbegriffe ein großes Maß an eigenständiger und von den innerstaatlichen Rechtsordnungen unabhängiger Entscheidungsfreiheit. Gegenstück bzw. Korrelat dieser Freiheit ist das Zugeständnis eines Beurteilungsspielraums, der margin of appreciation, an die Vertragsstaaten, die nicht übermäßig in ihrer Souveränität eingeschränkt werden sollen. Hier zeigt sich die Verschränkung von Auslegungsmethoden und Anwendungsprinzipien zur jeweils konkreten Lösung des Falls. cc) Dynamische oder evolutive Auslegung Als Besonderheit im Rahmen der teleologischen Konventionsauslegung durch den Gerichtshof wird die Methode der dynamischen oder evolutiven Interpretation82 hervorgehoben. Hierbei wird regelmäßig auf die vom EGMR erstmals im Fall Tyrer gebrauchte Formulierung verwiesen, die Konvention sei ein „living instrument . . . which must be interpreted in the light of present day conditions“83. Es ist das Bestreben des Straßburger Gerichtshofs, die EMRK nicht historisch-statisch im Lichte der travaux préparatoires und der Situation zur Zeit ihrer Unterzeichnung auszulegen, sondern vielmehr den jeweils aktuellen, unter Umständen im Laufe der Zeit gewandelten Sinn und Zweck einer Vorschrift zu berücksichtigen. Im Fall Marckx hat der EGMR ausdrücklich klargestellt, dass eine staatliche Maßnahme, die bei Unterzeichnung der Konvention noch als zulässig anzusehen war, zu 79 EGMR, Urteil vom 8.6.1976, Engel u. a./Niederlande, Serie A Nr. 22, Ziff. 82; Urteil vom 28.6.1978, König/Deutschland, Serie A Nr. 27, Ziff. 89. 80 Für Beispiele siehe F. Jacobs/R. White/C. Ovey, European Convention on Human Rights, S. 37 f. 81 R. Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, in: FS Wiarda, S. 65, 67; D. Harris/M. O’Boyle/C. Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 11. 82 Die beiden Begriffe werden synonym für die gleiche Auslegungsmethode verwendet. 83 EGMR, Urteil vom 25.4.1978, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 26, Ziff. 31.
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einem späteren Zeitpunkt den allgemein anerkannten Menschenrechtsstandards nicht mehr entsprechen kann84. Der Gedanke des living instrument zieht sich als Leitfaden durch seine gesamte Rechtsprechung85. Das Erfordernis einer Interpretation im Lichte gegenwärtiger Bedingungen ergibt sich aus der Rechtsnatur der EMRK als Vertrag zur kollektiven Durchsetzung der Menschenrechte. Recht und Gesellschaft entwickeln sich permanent fort, und folglich müssen auch die EMRK-Rechte als Spiegel rechtlicher und gesellschaftlicher Werte diesen Entwicklungen angepasst werden86. Diese Dynamik ist bereits im Wortlaut der Präambel zur EMRK angelegt, die von der „Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ spricht. Auch ist die in den zweiten Absätzen der Art. 8 bis 11 EMRK enthaltene Schranken-Schranke, nach der Einschränkungen der Rechte „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein müssen, ein indirekter Hinweis auf den dynamischen Charakter der Rechte. Eine demokratische Gesellschaft ist niemals als statisch anzusehen, sondern muss auf die sich weiterentwickelnden Bedürfnisse ständig reagieren können87. Die Reichweite der dynamischen Auslegung der Konventionsgarantien durch den EGMR ist teilweise kritisiert worden. So wird dem Gerichtshof vorgeworfen, er habe die Grenze der zulässigen Auslegung überschritten und unter dem Deckmantel evolutiver Interpretation Rechtsfortbildung betrieben88. Soweit es allerdings um die Auslegung der EMRK in the light of 84 EGMR, Urteil vom 13.6.1979, Marckx/Belgien, Serie A Nr. 31, Ziff. 41. P. Mahoney, Judicial Activism and Judicial Self-Restraint in the European Court of Human Rights, HRLJ 11 (1990), S. 57, 61, spricht in diesem Zusammenhang von der „power to update“ des Gerichtshofs. 85 Insbesondere beim Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) spielt die dynamische Auslegung eine wichtige Rolle, vgl. beispielsweise zum Bereich der sexuellen Selbstbestimmung EGMR, Urteil vom 22.10.1981, Dudgeon/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 45, Ziff. 60. Siehe auch EGMR, Urteil vom 28.7.1999, Selmouni/Frankreich, RJD 1999-V, Ziff. 101. 86 Vgl. S. Prebensen, Evolutive interpretation of the European Convention on Human Rights, in: GS Ryssdal, S. 1123, 1124 ff. 87 Vgl. E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 188. 88 So insbesondere H. Golsong, Interpreting the European Convention on Human Rights Beyond the Confines of the Vienna Convention on the Law of the Treaties?, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 147 ff., der in seiner Kritik daran anknüpft, dass der EGMR neben den materiellen Rechten der EMRK auch die prozessualen Bestimmungen dynamisch auslegt. Siehe auch F. Matscher, Methods of Interpretation of the Convention, a. a. O., S. 63, 69 f. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 14 mit Fußnote 32, weist darauf hin, dass Missverständnisse oft nicht durch unterschiedliche Vorstellungen über gerichtliche Befugnisse, sondern vielmehr da-
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present day conditions in der Rechtsprechung geht, handelt es sich häufig um Bereiche, in denen die Konvention auf außerrechtliche Elemente verweist, insbesondere im Bereich der Eingriffsschranken. Der Gerichtshof berücksichtigt hierbei also Entwicklungen, die im Tatsächlichen, auf der Ebene des zu subsumierenden Sachverhalts, und nicht im Normenbestand anzusiedeln sind89. Damit überschreitet er noch nicht seine Rechtsprechungskompetenzen. Darauf, dass er die dynamische Auslegung nicht heranziehen kann, um neue, nicht in der EMRK und den Zusatzprotokollen enthaltene Rechte zu schaffen, hat er selbst in seiner Rechtsprechung hingewiesen90. Zudem gibt ihm die gebotene Rücksichtnahme auf die Souveränität der Konventionsstaaten eine „politische“ Grenze für die dynamische Auslegung der EMRK-Garantien vor. dd) Effektive Auslegung Die an Sinn und Zweck orientierte Auslegung der Konventionsgarantien durch den EGMR ist außerdem gekennzeichnet durch den Effektivitätsgedanken. Der Gerichtshof umschreibt diesen Ansatz in ständiger Rechtsprechung mit den Worten „the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective“91. Mit dieser Begründung interpretiert er beispielsweise in Art. 6 EMRK ein dort nicht ausdrücklich erwähntes durchsetzbares Recht auf Zugang zu nationalen Gerichten hinein92 oder hält einen Vertragsstaat auch dann nach der EMRK für verantwortlich, wenn die Verletzungshandlung außerhalb dessen Jurisdiktion stattfand93. Art. 2 EMRK ergänzt er um das verfahrensrechtliche Erfordernis einer effektiven offiziellen Untersuchung von Vorfällen, bei denen Personen durch Amtsträger getötet wurden, da das Verbot staatlicher Tötung andernfalls in der Praxis ineffektiv und nicht auf durch entstünden, dass unter „Rechtsfortbildung“ und „Interpretation“ Unterschiedliches verstanden würde. 89 C. Grabenwarter, a. a. O., § 5 Rn. 14. 90 EGMR, Urteil vom 18.12.1986, Johnston/Irland, Serie A Nr. 112, Ziff. 53 (zum Recht auf Scheidung): „However, the Court cannot, by means of an evolutive interpretation, derive from these instruments a right that was not included therein at the outset.“. Siehe auch das Sondervotum von sieben Richtern im Urteil vom 29.5.1986, Feldbrugge/Niederlande, Serie A Nr. 99, Ziff. 24. 91 Leitentscheidung hierzu ist das Urteil des EGMR vom 9.10.1979, Airey/Irland, Serie A Nr. 32, Ziff. 24. Siehe auch Urteil vom 13.5.1980, Artico/Italien, Serie A Nr. 37, Ziff. 33; Beschwerde-Nr. 46827/99 und 46951/99, Urteil vom 6.2.2003, Mamatkulov und Abdurasulovic/Türkei, Ziff. 95 f., 104 ff. 92 EGMR, Urteil vom 9.10.1979, Airey/Irland, Serie A Nr. 32, Ziff. 24 ff. 93 EGMR, Urteil vom 7.7.1989, Soering/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, Ziff. 87 ff.
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befriedigende Weise durchsetzbar sei94. Auch die Anerkennung staatlicher Schutzpflichten aus EMRK-Rechten beruht auf einer effektivitätssichernden Auslegung der betreffenden Rechte95. Über den Bereich materieller Rechte hinaus legt der Gerichtshof auch die prozessualen Vorschriften der Konvention im Lichte des Effektivitätsgedankens erweiternd aus96. Die Durchsetzbarkeit der gewährleisteten Rechte ist für den EGMR eines der wichtigsten Ziele der Konvention. Daher spielt die effektive Auslegung eine große Rolle in seiner Judikatur. Oft widerlegt er mit dieser Methode formale Argumente betroffener Regierungen97. Mit dem Zusammenspiel von effektiver und dynamischer Interpretation hat sich der Straßburger Gerichtshof ein besonders wirksames Instrumentarium geschaffen, um die Entwicklung der Konventionsgarantien und damit den kollektiven Menschenrechtsschutz auf europäischer Ebene im Sinne der Präambel zur EMRK voranzutreiben. Teilweise überschreitet er mit dieser progressiven teleologischen Auslegung den Interpretationsrahmen, in dem gewöhnlich nationale Verfassungsgerichte agieren. Die Betonung der Effektivität, des effet utile, ist kein typisches Element verfassungsrechtlicher Interpretation. Diese Auslegungsmethode wird vielmehr häufig von internationalen Gerichtshöfen angewendet98. In der nationalen Verfassungsrechtsprechung ist die Bedeutung des effet utile wohl auch deswegen sehr viel geringer, weil im Kontext einer Staatsverfassung vielfältige, zum Teil auch divergierende Ziele verfolgt werden. Eine Festlegung auf eine bestimmte nützliche Wirkung ist daher oft nicht möglich. Die Menschenrechtskonvention hingegen ist durch ihre Einseitigkeit gekennzeichnet; sie zielt auf nichts anderes als auf die individuelle und kollektive Wahrung und Durchsetzung der in ihr verbürgten Rechte ab. Eine effektivitätssichernde Auslegung im Lichte dieses Ziels kann nicht mit anderen Werten kollidieren und lässt sich folglich „gefahrlos“ durchführen. Sie kollidiert nur mit den Souveränitätsansprüchen der Vertragsstaaten, die somit auch in dieser Hinsicht eine implizite Auslegungsgrenze für den EGMR markieren. 94 EGMR, Urteil vom 27.9.1995, Mc Cann/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 324, Ziff. 161. 95 P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 74. Zu den staatlichen Schutzpflichten, die sich aus EMRK-Rechten ergeben können, siehe oben 2. Teil, A. III. 2. a). 96 Im Urteil vom 6.9.1978, Klass u. a./Deutschland, Serie A Nr. 28, Ziff. 33 f., hat der EGMR beispielsweise die nach Art. 25 a. F. EMRK notwendige Opfereigenschaft eines Individualbeschwerdeführers unter Effektivitätsgesichtspunkten erweiternd ausgelegt. 97 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 14. 98 Vgl. K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 75 (mit Fußnote 60 für Beispiele zum IGH).
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Für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften spielt der effet utile als Leitlinie der Rechtsauslegung ebenfalls eine herausragende Rolle99. Dies kann auch als Zeichen dafür gewertet werden, dass das durch Internationalität und Supranationalität gekennzeichnete Gemeinschaftsrecht spezielles Recht ist, das anders als nationales Recht zu behandeln ist. Die Gemeinschaft ist nicht, wie die EMRK, einseitig ausgerichtet. Ihre Zielsetzungen sind aber auch nicht so vielfältig wie die eines Staates. Die Auslegung anhand der nützlichen Wirkung wird eingesetzt, um die Gemeinschaftsrechtsordnung voranzutreiben und ihr Aktionsfeld zu vergrößern. Insofern unterscheidet sich der Ansatzpunkt des EuGH beim effet utile inhaltlich von dem des Straßburger Gerichtshofs, wenn er die Menschenrechtskonvention effektiv auslegt. b) Leitprinzipien der Straßburger Rechtsprechung Die Struktur der Konventionsrechtsprüfung durch den Straßburger Gerichtshof orientiert sich an dem Dreiklang von Schutzbereichsbestimmung, Eingriff und Rechtfertigung des Eingriffs100. An dieser Stelle sollen die beiden Leitprinzipien, mit deren Hilfe der Gerichtshof innerhalb dieser Struktur seine Fälle zu einer konkreten Entscheidung bringt, aufgezeigt werden. Zur konkreten Feststellung, ob eine EMRK-Garantie verletzt ist oder nicht, rekurriert der EGMR regelmäßig auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In Anwendung dieses Grundsatzes gewichtet er die widerstreitenden Interessen, wägt sie gegeneinander ab und gelangt so zu einer Lösung des Rechtsstreits. Das zweite Leitprinzip, die Doktrin von der margin of appreciation, dient als eine Art Korrektiv des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, indem sie den Staaten – je nach betroffenem Konventionsrecht und Lebensbereich, dem der Fall zuzuordnen ist – einen Rückzugsraum gewährt, in dem sich der Straßburger Gerichtshof bei der Anwendung des EMRKRechts zugunsten der nationalen Souveränität der Vertragsstaaten zurücknimmt101. Als „Anwendungsprinzipien“ kommen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Lehre von der margin of appreciation – anders als die 99
Siehe hierzu ausführlich unten 3. Teil, A. II. 5. a) bb). Hierzu oben 2. Teil, A. I. 2. 101 Teilweise wird das Verhältnis von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und margin of appreciation auch umgekehrt gesehen, d. h. die Verhältnismäßigkeitsprüfung wird als Korrektiv des gewährten Beurteilungsspielraums angesehen, vgl. F. Matscher, Methods of Interpretation, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 63, 79; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 83 f. Letztlich laufen beide Sichtweisen auf dasselbe hinaus. Aus der Perspektive der deutschen Grundrechtsdogmatik ist es naheliegender, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Ausgangspunkt zu nehmen. 100
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abstrakten Auslegungsmethoden – immer im Kontext konkreter Fallkonstellationen zum Tragen und sind daher in ihrer Ausprägung stark von den Umständen des einzelnen Falles abhängig. Ohne auf die einzelnen Verästelungen der Prinzipien je nach betroffenem Menschenrecht und Umständen des Falles einzugehen, sollen an dieser Stelle die Prinzipien in ihren grundlegenden Ansätzen skizziert und ihre Auswirkungen in der Judikatur des EGMR dargelegt werden. Dies dient als Grundlage für einen Vergleich mit der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH. aa) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Leitbild der „demokratischen Gesellschaft“ Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Abwägungsmaxime zieht sich leitmotivisch durch die gesamte Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs. Er ist nicht ausdrücklich in der Konvention niedergelegt, verschiedene Vorschriften deuten aber implizit auf seine Geltung als übergeordnetes Rechtsprinzip des EMRK-Systems hin102. Wird seine Geltung als ungeschriebener Grundsatz im nationalen Verfassungsrecht in der Regel aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet103, so zeigt bereits der Verweis auf die Rechtsstaatlichkeit im fünften Erwägungsgrund der Präambel der EMRK, dass er ebenso auch auf dieser überstaatlichen Ebene zur Anwendung kommen soll. Aber auch den Formulierungen einzelner Konventionsgarantien lässt sich entnehmen, dass zwecks Feststellung einer Rechtsverletzung eine Güterabwägung und damit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung für notwendig erachtet wird. Der EGMR hat in dem Soering-Urteil umfassend für die gesamte Konventionsrechtsordnung festgestellt, „inherent in the whole of the Convention is a search for a fair balance between the demands of the general interest of the community and the requirements of the protection of the individual’s fundamental rights“104. Besonders deutlich wird das Erfordernis der Güterabwägung bei den Rechten der Art. 8 bis 11 EMRK, nach deren ausdrücklich normierten Schranken Eingriffe „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein müssen. In dieser Formulierung kommt die Verhältnismäßigkeit in Gestalt der Notwendigkeit als Voraussetzung eines zulässigen Eingriffs zum Ausdruck. In jüngeren Entscheidungen bezeichnet der EGMR die Prüfung dieses Kriteriums auch explizit als Verhältnismäßigkeitsprüfung (proportionality)105. Das Erfordernis einer Güterabwägung 102 Vgl. J. Cremona, The Proportionality Principle in the Jurisprudence of the European Court of Justice, in: FS Bernhardt, S. 323: „. . . there being a sort of inbuilt balancing mechanism in the whole structure of the Convention“. 103 So für Deutschland BVerfGE 19, 342, 348 f.; 35, 382, 400 f.; 61, 126, 134. 104 EGMR, Urteil vom 7.7.1989, Soering/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 161, Ziff. 89.
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ergibt sich auch aus der Notstandsklausel des Art. 15 EMRK, nach der Maßnahmen getroffen werden können, „soweit es die Lage unbedingt erfordert“106 oder beim Eigentumsrecht des Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls, in dem auf das „öffentliche Interesse“ und das „Allgemeininteresse“ verwiesen wird. Daneben wendet der Gerichtshof das Verhältnismäßigkeitsprinzip aber auch bei Eingriffen in Rechte an, aus deren Wortlaut sich keine Anhaltspunkte für eine Güterabwägung ergeben. Er prüft die Verhältnismäßigkeit sorgfältig beim Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK, im Rahmen der sog. immanenten Schranken der Konventionsrechte107 und wendet den Grundsatz auch in seiner Rechtsprechung zu den staatlichen Schutzpflichten (positive obligations) an108. Bei der Einbindung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Prüfungsstruktur folgt der EGMR nicht dem in der deutschen Grundrechtsdogmatik üblichen dreigliedrigen Aufbau nach Geeignetheit einschließlich Feststellung des Zwecks der Maßnahme, Erforderlichkeit mit Suche nach einem gleich geeigneten, milderen Mittel und Zumutbarkeit im Sinne einer umfassenden Abwägung. Er arbeitet vielmehr zunächst isoliert den Zweck der die Konventionsgarantie einschränkenden Maßnahme heraus, um festzustellen, ob es sich um ein nach EMRK-Standards „legitimes Ziel“ handelt. Die Art. 8 bis 11 EMRK sowie die Freizügigkeit in Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls enthalten abschließende Aufzählungen derartiger legitimer Ziele in ihren Schrankenbestimmungen. Insbesondere gehören dazu die nationale öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Gesundheit und die Moral, aber auch das wirtschaftliche Wohl des Landes109. Außerdem können Einschränkungen „zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ erfolgen, vergleichbar mit den verfassungsimmanenten Schranken in der deutschen Grundrechtsdogmatik110. Die genannten zulässigen Eingriffsziele überschneiden sich teilweise. Der Gerichtshof hat die einzelnen Begriffe in seiner Rechtsprechung nicht abstrakt definiert. Mit zunehmender Dichte seiner 105
EGMR, Urteil vom 25.2.1993, Funke/Frankreich, Serie A Nr. 256-A, Ziff. 55 ff.; Urteil vom 25.2.1997, Z./Finnland, RJD 1997-I, Ziff. 94. 106 Dazu EGMR, Urteil vom 18.1.1978, Irland/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 25, Ziff. 206 ff. 107 Siehe z. B. EGMR, Urteil vom 28.5.1985, Ashingdane/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 93, Ziff. 47 ff. Dazu A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 26 f.; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 91 ff. 108 Beispielsweise in EGMR, Urteil vom 17.10.1986, Rees/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 106, Ziff. 42 ff. 109 Zu den verschiedenen legitimen Zielen, die in Art. 8 bis 11 EMRK genannt sind, siehe P. Kempees, „Legitimate aims“ in the case-law of the European Court of Human Rights, in: GS Ryssdal, S. 659 ff. 110 Dazu B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 325 ff.
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Rechtsprechung hat er vielmehr verschiedene Ziele als grundsätzlich legitim zur Einschränkung aller Arten von EMRK-Rechten anerkannt und entscheidet auf dieser Basis einzelfallbezogen. Generell verfährt er bei der Überprüfung des Zwecks einer nationalen Maßnahme großzügig. Nur in Ausnahmefällen lässt er die Zulässigkeit eines Eingriffs in ein EMRKRecht – egal ob durch ein Gesetz, einen Exekutivakt oder ein Gerichtsurteil – am Mangel eines legitimen Ziels scheitern111. Gelegentlich stellt er allerdings fest, dass sich ein Vertragsstaat zur Rechtfertigung auf bestimmte Ziele nicht berufen darf112. Unmittelbar im Anschluss an die Feststellung des legitimen Ziels prüft der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Nach deutscher Grundrechtsdogmatik geht er also unmittelbar zur dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung über, ohne die Geeignetheit und Erforderlichkeit der betreffenden Maßnahme explizit einer eigenen Prüfung zu unterziehen. Dabei wertet und gewichtet er zunächst die betroffenen gegenläufigen Interessen und wägt diese dann umfassend gegeneinander ab. Eine „ fair balance“ bejaht er, wenn ein Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten legitimen Ziel steht und die zur Rechtfertigung angeführten Gründe „relevant und ausreichend“ sind113. Teilweise prüft er dabei inzident auch die Erforderlichkeit einer Maßnahme, indem er nach milderen, gleich geeigneten Mitteln fragt114. Das Element der Notwendigkeit „in einer demokratischen Gesellschaft“, das in den Schrankenbestimmungen der Art. 8 bis 11 EMRK enthalten ist, verwendet der EGMR regelmäßig als Anknüpfungspunkt für den von ihm eingeforderten Standard eines demokratischen Rechtsstaats europäischer Prägung. Hieran müssen sich die zu überprüfenden nationalen Maßnahmen messen lassen. Als charakteristische Merkmale dieses Leitbilds, die insbesondere bei der Beurteilung der Schwere eines Eingriffs in ein Konventionsrecht eine Rolle spielen, bezeichnet er Werte wie Pluralismus, Toleranz und Weltoffenheit („broadmindedness“/„esprit d’ouverture“)115. Daneben hat das Kriterium der Notwendigkeit „in einer 111 Vgl. z. B. EGMR, Urteil vom 22.2.1994, Burghartz/Schweiz, Serie A 280-B, Ziff. 28 f. 112 Vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, Dudgeon/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 45, Ziff. 61; Urteil vom 26.10.1988, Norris/Irland, Serie A Nr. 142, Ziff. 44 ff. (keine Rechtfertigung von Eingriffen in die Grundrechte von Homosexuellen durch Berufung auf den Schutz der öffentlichen Moral). 113 Vgl. z. B. EGMR, Urteil vom 26.11.1991, Sunday Times/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 217, Ziff. 50; Urteil vom 26.9.1995, Vogt/Deutschland, Serie A Nr. 323, Ziff. 52. 114 Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 7.12.1976, Handyside/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, Ziff. 58. 115 EGMR, Urteil 7.12.1976, Handyside/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, Ziff. 49; Urteil vom 13.8.1981, Young, James u. Webster/Vereinigtes Königreich,
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demokratischen Gesellschaft“ in der EGMR-Rechtsprechung auch die Funktion, die gewährleisteten Menschenrechte in einen systematischen Zusammenhang zu stellen, der auf Konventionsebene mangels umfassender Verfassungsordnung und mangels organisationsrechtlicher Vorschriften nicht existiert116. Nationale Grundrechte werden im Zusammenhang mit dem sie umgebenden Staatsorganisationsrecht interpretiert. Anders als im nationalen Verfassungsrecht gibt es aber auf EMRK-Ebene kein konkretes parlamentarisches System, das der Gerichtshof bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen hat. Vielmehr geht es hier um einen bestimmten Standard europäischer parlamentarischer Demokratien insgesamt, den der EGMR zunächst selber etablieren muss. Notwendigerweise ist dieser Standard weniger greifbar, als er es in einem System mit festgeschriebenen Verfassungsprinzipien und -regeln ist. Ganz ohne Festlegung eines solchen Standards in seinen Entscheidungen kommt aber der Menschengerichtshof nicht aus, da Grundund Menschenrechte nicht frei schwebend sind, sondern ihre Wertungen aus dem Zusammenspiel mit bestimmten gesellschaftlich-politisch-rechtlichen Grundprinzipien beziehen. Dies gilt vor allem für den Bereich sogenannter politischer Rechte. Aber auch die sonstigen Konventionsgarantien werden auf diese Weise extern zumindest mitdeterminiert. Je unterschiedlicher allerdings die vertragsstaatlichen Rechtsordnungen sind, desto schwieriger ist es auch für den EGMR, einen gemeinsamen europäischen Standard zu etablieren, an dem er seine Wertungen ausrichten kann. Dies ist einer der Anknüpfungspunkte für die im nächsten Abschnitt zu erläuternde Doktrin der margin of appreciation. Ein unantastbarer Kernbereich der Konventionsrechte, vergleichbar mit der Wesensgehaltsgarantie deutscher Grundrechte nach Art. 19 Abs. 2 GG, ist in der Konvention nicht ausdrücklich gewährleistet und findet sich auch nicht abstrakt definiert in der Rechtsprechung des EGMR. Nur vereinzelt verweist er auf Kerngehalte von Rechten, die keinem ausdrücklichen Schrankenvorbehalt unterliegen, um die äußerste Grenze einer möglichen Beschränkung aufzuzeigen117. Diese Zurückhaltung des Gerichtshofs lässt sich damit erklären, dass er in dem Element der Notwendigkeit in der „demokratischen Gesellschaft“ bereits die Gewährleistung einer SubSerie A Nr. 44, Ziff. 63; Urteil vom 25.5.1993, Kokkinakis/Griechenland, Serie A 260-A, Ziff. 33. 116 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 19. 117 EGMR, Urteil vom 17.10.1987, Rees/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 106, Ziff. 50 (Recht auf Eheschließung); Urteil vom 25.2.1982, Campbell u. Cosans/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 48, Ziff. 41 (Recht auf Bildung); Urteil vom 2.3.1987, Mathieu-Mohin u. Clerfayt/Belgien, Serie A Nr. 113, Ziff. 52 (Recht auf freie Wahlen); Urteil vom 11.7.2002, Goodwin/Vereinigtes Königreich, RJD 2002-VI, Ziff. 101 (Recht auf Eheschließung).
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stanzgarantie der Konventionsrechte sieht und diesen Bereich somit implizit abdeckt118. Das methodische Vorgehen des Straßburger Gerichtshofs bei der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zeichnet sich, ebenso wie seine sonstige Argumentation, durch ein großes Bemühen um Differenzierung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus. Häufig nimmt er in einer generellen Passage (general principles) zunächst auf frühere Entscheidungen Bezug und wendet dies dann – unter Herausstellung von Gemeinsamkeiten oder Unterschieden – auf den konkreten Fall an (application of the principles to the present case). Die Abwägung der gegenläufigen Interessen ist in der Regel umfassend; der EGMR setzt sich ausführlich mit den Umständen des Einzelfalls auseinander und kommt auf dieser Basis zu einem argumentativ nachvollziehbaren und begründeten Ergebnis. Seine Urteile sind somit gerade in den Passagen, in denen es um die Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Maßnahme geht, bewusst ausdifferenziert und dementsprechend umfangreich. bb) Die „margin of appreciation“ als Korrektiv zur Berücksichtigung der Souveränität der Vertragsstaaten Die Lehre von der margin of appreciation kommt in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs in erster Linie dann ins Spiel, wenn eine Güterabwägung vorzunehmen ist. Sie wird daher auch als Korrektiv des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bezeichnet. In ihrer Bedeutung geht sie aber über eine bloß korrigierende Ergänzungsfunktion hinaus und ist als eigenständiges Leitprinzip anerkannt, das der EGMR in seinen Urteilen zwecks Entscheidung im konkreten Fall anwendet. Die Konvention selber enthält keine expliziten Anhaltspunkte dafür, dass der Gerichtshof den Vertragsstaaten bei der Überprüfung ihrer Entscheidungen unter bestimmten Umständen einen Beurteilungsspielraum zuerkennen muss119. Auch eine Herleitung aus den – ohnehin divergierenden – innerstaatlichen Regeln über Ermessen oder Beurteilungsspielräume wird der margin of appreciation, wie sie in 118 So E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 86 f. Ausführlich zum Leitbild der demokratischen Gesellschaft ders., a. a. O., S. 70 ff.; K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 267 ff. 119 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 21, verweist auf den Wortlaut verschiedener Konventionsgarantien, aus dem sich Anhaltspunkte für einen mehr oder weniger großen Beurteilungsspielraum der Staaten ableiten ließen („deems necessary“ in Art. 1 Abs. 2 EMRK im Gegensatz zu „strictly necessary“ in Art. 6, 10 und 15 EMRK), sieht jedoch in der Urteilspraxis zur margin of appreciation keine Anknüpfung an den Wortlaut.
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der Straßburger Rechtsprechung zur Anwendung kommt, nicht oder höchstens in Ansätzen gerecht120. Es handelt sich vielmehr um ein Konzept, das der EGMR genuin für die Konventionsrechte und die Besonderheiten des EMRK-Systems insgesamt entwickelt hat und das vor allem das Zusammenspiel von völkerrechtlicher und innerstaatlicher Ebene berücksichtigt. Als Anwendungsprinzip lässt sich die margin of appreciation nicht abstrakt definieren, sondern steht immer in Abhängigkeit zu den konkreten Umständen eines Falles, genauso wie auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung stets nur einzelfallbezogen durchgeführt werden kann121. Das Konzept basiert grundlegend auf dem Gedanken der Subsidiarität des Rechtsschutzmechanismus der Konvention. Dies hat der Gerichtshof in der HandysideEntscheidung zum Ausdruck gebracht, in der er sich erstmals ausführlich mit der margin of appreciation und den hinter dem Prinzip stehenden Gründen befasst hat. In erster Linie sei es die Aufgabe der Vertragsstaaten, die Einhaltung der EMRK-Rechte sicherzustellen, und nur nachrangig käme der Gerichtshof ins Spiel. Die innerstaatlichen Behörden und Gerichte seien aufgrund ihres direkten und durchgängigen Kontaktes „with the vital forces of their countries“ grundsätzlich besser als die internationalen Richter in der Lage, Inhalt und Ausmaß bestimmter Rechtfertigungsgründe, wie beispielsweise des Schutzes der Moral in Art. 10 Abs. 2 EMRK, zu bestimmen und eine den Umständen angepasste Abwägung vorzunehmen. Daher sei in derartigen Fällen den Staaten ein Beurteilungsspielraum belassen122. Gleichzeitig stellt der Gerichtshof aber klar, dass die Zuerkennung eines solchen Beurteilungsspielraums für die Vertragsstaaten kein „domaine réservé“ bedeute, welcher sich seiner Überwachung entziehe123. Der innerstaatliche Beurteilungsspielraum gehe „Hand in Hand“ mit einer Kontrolle auf europäischer Ebene, die sowohl das legitime Ziel einer nationalen Maßnahme als auch eine auf innerstaatlicher Ebene getroffene behördliche oder gerichtliche Abwägung überprüfen könne124. Der EGMR selber bestimmt 120 K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 262, leitet die margin of appreciation von der französischen Lehre vom pouvoir discrétionnaire ab. Deutsche Autoren verweisen auf die Ermessenslehre oder die Lehre vom Beurteilungsspielraum, so z. B. A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 26. 121 R. Macdonald, The Margin of Appreciation, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 83, 85, spricht von „context dependent“. 122 EGMR, Urteil vom 7.12.1976, Handyside/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, Ziff. 48. 123 So allerdings – entgegen der EGMR-Judikatur – A. Bleckmann, Der Beurteilungsspielraum im Völker- und Europarecht, EuGRZ 1978, S. 485, 493 ff. 124 EGMR, Urteil vom 7.12.1976, Handyside/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, Ziff. 49.
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die Reichweite und behält sich somit die menschenrechtliche Letztentscheidung vor. Ein unüberprüfbares staatliches Ermessen gibt es folglich im Bereich der Konventionsgarantien nicht. Er weist nicht die Prüfung eines bestimmten Bereichs als außerhalb seiner Kompetenz liegend komplett von sich, sondern lässt nur „die Zügel etwas lockerer“ und setzt einen großzügigeren Maßstab an oder fährt die Intensität seiner Überprüfung zurück. Die margin of appreciation wird in Anlehnung an diese Herleitung in der Literatur auch umschrieben als „review doctrine“125 oder „more a principle of justification than interpretation“126. Mit der Lehre von der margin of appreciation reagiert der Gerichtshof auf das bereits beschriebene Dilemma, in dem er sich als übergeordnete völkerrechtliche Instanz mit Rechtsprechungsgewalt über souveräne Staaten befindet. Er kommt den Staaten aus politischer Klugheit entgegen und nimmt im Sinne eines judicial self-restraint Rücksicht auf nationale Besonderheiten und Empfindlichkeiten, damit seine Rechtsprechung auf Akzeptanz stößt127. Darüber hinaus ist die Gewährung eines Beurteilungsspielraums aber auch ein Zeichen dafür, dass der Straßburger Gerichtshof die unterschiedlichen Gesellschaften der inzwischen 46 Vertragsstaaten in ihrer politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Vielfältigkeit anerkennt und nicht versucht, sie in ein bestimmtes Raster zu pressen. Es geht ihm nicht um Vereinheitlichung um jeden Preis: Solange das Ziel der Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte nicht beeinträchtigt wird, können durchaus Diskrepanzen zwischen den einzelnen Staaten fortbestehen, ohne dem Konventionssystem Schaden zuzufügen. Dies kommt auch in der Umschreibung der EMRK als menschenrechtlicher „Mindeststandard“ zum Ausdruck. Das Konzept der margin of appreciation erweist sich unter diesen Umständen als besonders hilfreich, da der EGMR hiermit einen von Fall zu Fall variablen Maßstab ansetzen und die jeweiligen besonderen Umstände flexibel in seine Erwägungen miteinbeziehen kann128. In dieser 125 P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 92. 126 R. Macdonald, The Margin of Appreciation, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 83, 122. 127 Vgl. O. Jacot-Guillarmod, Règles, méthodes et principes d’interprétation dans la jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme, in: Pettiti/Decaux/ Imbert, Commentaire CEDH, S. 41, 50. K. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, S. 261, führt außerdem den Gedanken der „Arbeitsteilung“ zwischen EGMR und nationalen Behörden und Gerichten an. 128 R. Macdonald, The Margin of Appreciation, in: Macdonald/Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 83, spricht von einem „element of relativity“, das der EGMR auf diese Weise in die ansonsten einheitliche Auslegung der Konventionsrechte einführt. Ders., a. a. O., S. 122: „Above all, the
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Hinsicht relativiert die Lehre von der margin of appreciation auch die autonome Auslegung der Konventionsbegriffe, deren Ziel es ist, die Konvention anhand europäischer Standards einheitlich auszulegen. Der Gerichtshof beschränkt die Anwendung des Konzepts der margin of appreciation inzwischen nicht mehr auf die in den Schrankenbestimmungen der Art. 8 bis 11 EMRK geregelten Rechtfertigungsgründe, sondern rekurriert darauf auch bei anderen Konventionsgarantien. Ein nationaler Beurteilungsspielraum kann theoretisch immer dann zugestanden werden, wenn es um eine wie auch immer geartete Güterabwägung geht oder ein unbestimmter Rechtsbegriff auszulegen ist129. Dies trifft auf zahlreiche der vom EGMR zu entscheidenden Fälle zu, so dass ihm weite Bereiche zur Anwendung des Konzepts offen stehen. In der Urteilspraxis haben sich hierzu bestimmte Fallgruppen herausgebildet. Lässt sich die margin of appreciation als Anwendungsprinzip nicht abstrakt festlegen, so können anhand dieser Fallgruppen zumindest Bereiche umschrieben werden, in denen den Vertragsstaaten ein weiterer oder ein enger gefasster Beurteilungsspielraum zukommt130. Die Fallgruppen lassen sich aus Sinn und Zweck der Lehre vom Beurteilungsspielraum herleiten. Insbesondere dort, wo sich die staatlichen Einrichtungen allgemein „in einer besseren Position als der internationale Richter“ befinden, um eine Bewertung durchzuführen131, wird ihnen ein entsprechender Spielraum belassen. Dies ist immer dann der Fall, wenn im betreffenden Regelungsbereich ein gemeinsamer Standard der Konventionsstaaten fehlt. Lässt sich ein solcher gemeineuropäischer Standard nicht feststellen, nimmt sich der EGMR bei der Kontrolle zurück und überlässt die Wertungen im Wesentlichen den innerstaatlichen Instanzen132. Bei der Feststellung, ob ein gemeinsamer Standard vorhanden ist oder nicht, führt er – allerdings in der Regel nur in beschränktem Maße133 – eine rechtsvermargin of appreciation has given the Court great flexibility in dealing with the myriad problems of everyday life within the Contracting States that have come before it.“ 129 P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 85 f. Nach J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 621, gibt es in der Rechtsprechung des EGMR einen weit verstandenen „Ermessensspielraum“ bei der Wahl einer angemessenen Maßnahme, bei der Beurteilung von Gefährdungspotenzialen, die die Eingriffsintensität beeinflussen, und bei der Zuordnung geschützter Werte. 130 Zur Kritik an der nur punktuellen und quantitativ, nicht qualitativ orientierten Analyse der Rechtsprechung zur margin of appreciation vgl. J. Callewaert, Quel avenir pour la marge d’appréciation?, in: GS Ryssdal, S. 147, 158. 131 So die Begründung des EGMR für eine nationale margin of appreciation im Urteil vom 7.12.1976, Handyside/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 24, Ziff. 48. 132 Vgl. beispielsweise das Urteil vom 28.11.1984, Rasmussen/Dänemark, Serie A Nr. 87, Ziff. 40 f. (Frage der Vaterschaftsanerkennung im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK).
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gleichende Analyse der nationalen Rechtsordnungen durch, greift auf andere internationale Konventionen zurück oder verweist auf bereits von ihm entschiedene Fälle134. Ebenso haben die Vertragsstaaten in Bereichen, die starken gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen, wie Moralvorstellungen oder Kultur, einen weiten Beurteilungsspielraum135. Die zugestandene Reichweite des Beurteilungsspielraums wird außerdem maßgeblich auch von der Natur des in Frage stehenden Rechts und den betroffenen Aktivitäten beeinflusst. So ist die Marge beim Eigentumsrecht, insbesondere wenn es um Steuern als zentrales Element der Staatlichkeit geht, größer als beispielsweise bei der Meinungsfreiheit136. Stehen in einem Fall neben dem Anliegen des einzelnen Beschwerdeführers auch allgemeine Interessen auf dem Spiel, wird eine nationale margin of appreciation regelmäßig eng gefasst, und der Gerichtshof nimmt die entscheidenden Wertungen selber vor137. Kritik wird weniger an der Existenz des Konzepts eines nationalen Beurteilungsspielraums per se geübt als vielmehr an seiner konkreten Anwendung. Dass der Gerichtshof als internationale Instanz auf rein zwischenstaatlicher Ebene schon aus einem gewissen Pragmatismus heraus den Konventionsstaaten auch entgegenkommen muss, wird allgemein anerkannt138. Der Zugewinn an Flexibilität und Einzelfallgerechtigkeit wird positiv bewertet. Teilweise wird dem EGMR aber entgegengehalten, dass seine Rechtsprechung wegen der Anwendung des Konzepts im einzelnen Fall unter mangelnder Vorhersehbarkeit leide. Zu oft verweise der Gerichtshof lediglich auf das generelle Vorhandensein einer margin of appreciation, ohne die Gründe dafür darzulegen, warum er im konkreten Fall eine Maßnahme nicht strikt überprüfe139. Dies wirke sich auf die Nachvollziehbarkeit seiner 133
Die Rechtsordnungen aller Vertragsstaaten in jedem einschlägigen Fall auf einen gemeinsamen europäischen Standard hin zu analysieren, würde den EGMR vom Arbeitsaufwand her überfordern. 134 Dazu P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 87 f. 135 So z. B. in der Handyside-Entscheidung vom 7.12.1976, Serie A Nr. 24, Ziff. 48 ff. 136 Im Bereich der Abgaben überprüft der EGMR lediglich, ob die widerstreitenden Interessen fair gewichtet wurden, vgl. EGMR, Urteil vom 23.10.1997, National and Provincial Building Society/Vereinigtes Königreich, RJD 1997-VII, Ziff. 80. 137 Vgl. EGMR, Urteil vom 25.8.1998, Hertel/Schweiz, RJD 1998-VI, Ziff. 47. 138 Zur Pragmatik bei der Anwendung der Lehre von der margin of appreciation vgl. L. Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569, 570. Siehe auch die Anmerkungen der deutschen EGMR-Richterin Jaeger zu einem von ihr gewünschten verstärkten Rekurs auf die margin of appreciation in der EGMR-Rechtsprechung, R. Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, EuGRZ 2005, S. 193, 203 f.
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Entscheidungen und damit auf die Rechtssicherheit aus. Hier wird eine bessere Begründung in den Urteilsausführungen angemahnt140. 5. Zwischenergebnis: Funktionsweise, Stil und Methodik des Straßburger Gerichtshofs Die Funktionsweise des Menschenrechtsgerichtshofs ist durch die Spezialisierung auf den Menschenrechtsschutz und durch einen einzelfallorientierten und pragmatischen Ansatz gekennzeichnet. Mit Englisch und Französisch gibt es nur zwei offizielle Sprachen. Jedem Fall wird der jeweils für den betroffenen Staat gewählte Richter zugeordnet, um die Anbindung an die Rechtsordnung zu gewährleisten. Die Urteile sind übersichtlich und gleichförmig strukturiert. Diese dem internationalen System zugrunde liegende Pragmatik hat den EGMR gleichwohl nicht daran gehindert, anhand seines Stils und der von ihm erarbeiteten Methodik eine europäische Menschenrechtsordnung eigener Prägung aufzubauen. Seine Rechtsprechung weist eine erkennbare Kohärenz auf. Er trifft seine Entscheidungen nicht nur im Bemühen um Einzelfallgerechtigkeit von Fall zu Fall, sondern nutzt jede Entscheidung, die geeignete Anknüpfungspunkte bietet, zur Weiterentwicklung des Konventionssystems als Ganzem. Die Auslegungsmethoden sind davon geprägt, dass der Gerichtshof sich sein eigenes System zunächst erarbeiten musste. Ohne organisationsrechtliche Vorschriften, die – wie in einem Staat – bestimmte maßgebliche Standards vorgeben konnten, lag es bei dem Gerichtshof, sich Methoden zu überlegen, um solche europäischen Standards in seiner Rechtsprechung zu etablieren. Die Kombination aus autonomer, dynamischer und effektiver Interpretation der Konventionsgarantien ist zu diesem Zweck besonders gut geeignet, da sie die Etablierung bestimmter eigener Werte ermöglicht und zugleich für eine Anpassung und Weiterentwicklung an neue Gegebenheiten offen ist. Als Leitlinie dient dem EGMR die in der Konvention mehrfach erwähnte „demokratische Gesellschaft“. Der Straßburger Gerichtshof erlässt Feststellungsurteile, die nicht unmittelbar in das innerstaatliche Recht einwirken können. Für die Akzeptanz der Urteile ist es entscheidend, dass der EGMR das richtige Maß an Zurückhaltung vor der Souveränität der Vertragsstaaten wahrt. Zugleich bedeutet 139 So insbesondere R. Macdonald, The Margin of Appreciation, in: Macdonald/ Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 83, 85, nach dem der Unterschied zwischen „reviewability“ und „justifiability“ einer staatlichen Maßnahme aufgrund der mangelnden Begründung nicht klar zu Tage tritt. 140 R. Macdonald, a. a. O., S. 85 und S. 124; P. van Dijk/G. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 93.
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die nur völkerrechtliche Bindungswirkung der Urteile aber auch, dass dem EGMR eine gewisse „Narrenfreiheit“ zukommt. Er wird weniger misstrauisch beäugt als ein Gericht, dessen Urteile unmittelbare Auswirkungen in den nationalen Rechtsordnungen zeitigen können. Kritik wurde bisher vorrangig am Urteilsstil geübt, während inhaltlich die EGMR-Urteile im Wesentlichen akzeptiert wurden. Inzwischen spielt allerdings auch die faktische Wirkung der Urteile eine wichtige Rolle. Die Urteile geben bestimmte politisch-rechtliche Leitlinien vor, die künftig zu beachten sind. Zunehmend findet daher auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten der EGMR-Rechtsprechung statt.
II. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg Der Luxemburger Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften141 ist – anders als der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof – kein spezialisiertes Gericht. Sein inhaltlicher Jurisdiktionsbereich ist im Gegenteil denkbar weit zugeschnitten142. Dies ist bei der Analyse seiner Funktionsweise und der seinen Urteilen zugrunde liegenden Maximen zu berücksichtigen. Der EuGH repräsentiert – in Zusammenarbeit mit den mitgliedstaatlichen Gerichten – die rechtsprechende Gewalt im Gesamtgefüge der Gemeinschaftsrechtsordnung und ordnet sich damit horizontal neben Legislative und Exekutive auf dieser Rechtsebene ein. Gleichzeitig ist er als Gemeinschaftsinstitution vertikal verschränkt mit den Mitgliedstaaten und ihren Rechtsordnungen. In seiner Funktion als dritte Gewalt in der Gemeinschaftsrechtsordnung nimmt er umfassende Kontrollaufgaben wahr, die sich auf alle Rechtsbereiche innerhalb der Zuständigkeit der Gemeinschaft erstrecken. Innerhalb dieser umfassenden gerichtlichen Zuständigkeit finden sich unter den sehr zahlreichen Urteilen des EuGH aus den letzten fünf Jahrzehnten nur vergleichsweise wenige Fälle, in denen es um grundrechtliche Fragestellungen geht143. Weder der Urteilsstil des EuGH noch die von ihm ver141 Mit Gerichtshof bzw. EuGH ist hier zunächst allgemein die Gerichtsbarkeit der EG gemeint. Im Folgenden bezieht sich die Untersuchung allerdings in erster Linie auf den EuGH in Abgrenzung zum Gericht erster Instanz (EuG). Zum Begriff des Gerichtshofs vgl. J. Schwarze in: ders., EU-Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 7. 142 Vgl. C. Kakouris, La Cour de Justice des Communautés européennes comme Cour Constitutionnelle: Trois Observations, in: FS Everling, S. 629, 631: „la Cour . . . s’est vue conférer un pouvoir comparable à celui des Cours Constitutionnelles, mais extrêmement large“. 143 Die genaue Zahl hängt davon ab, wie weit oder eng man den Begriff der grundrechtlichen Fragestellungen definiert, ob man beispielsweise auch alle Beamtenstreitigkeiten, in denen Grundrechte eine Rolle spielen und die in erster Instanz vom EuG entschieden werden, dazu zählt oder nicht. Vgl. B. de Witte, The Past and
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wendeten Auslegungsmethoden sind spezifisch auf die Lösung von Grundrechtsproblemen ausgerichtet. In seiner Grundrechtsjudikatur bedient er sich vielmehr im Wesentlichen der gleichen allgemeinen Methodik wie in seinen Urteilen zu anderen Rechtsbereichen, wobei für die Gemeinschaftsgrundrechte die Besonderheit gilt, dass sie als ungeschriebene Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts vor ihrer Anwendung auf einen konkreten Fall zunächst herauszuarbeiten sind. Daher eignet sich eine Analyse von Form, Stil und Methoden in der Gesamtheit der Urteile des Luxemburger Gerichtshofs nur bedingt für aussagekräftige positive Schlüsse in Bezug auf den speziellen Bereich der Grundrechte. Dies ist anders als beim Straßburger Gerichtshof, der sich ausschließlich mit den menschenrechtlichen Konventionsgarantien befasst. Hingegen lassen sich negativ aus dem Urteilsstil und der allgemeinen Methodik des EuGH auch spezifische Folgerungen für den Grundrechtsbereich ableiten. So lässt bereits die Tatsache, dass der EuGH in seinen Urteilen nicht grundlegend danach differenziert, ob er in verfassungsgerichtlicher oder in fachgerichtlicher Funktion tätig wird, bestimmte Schlüsse zu, auch im Hinblick auf den Stellenwert und die Bedeutung der Gemeinschaftsgrundrechte. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sollen nachfolgend auch für den EuGH allgemeine, organisationsrechtliche und methodische Aspekte der Urteilsfindung im Grundrechtsbereich untersucht und mit den Befunden für den EGMR verglichen werden. Der „breitere“ Hintergrund des Luxemburger Gerichtshofs, das System, in das er sich einfügt, und die geringere Fokussierung auf grundrechtliche Aspekte in der Rechtsprechung sind dabei immer mitzudenken. Die Existenz des Gerichts erster Instanz wird nachfolgend bei der Organisation des gemeinschaftlichen Gerichtssystems berücksichtigt, seine Urteile aber nicht in die Untersuchung einbezogen. Zwar kommen die Gemeinschaftsgrundrechte auch in der Rechtsprechung dieses Gerichts zum Tragen, in ihren entscheidenden Linien entwickelt und geprägt wurden sie jedoch durch den EuGH. Dem erst 1989 ins Leben gerufenen Gericht ersFuture Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 869 f., der mögliche Erklärungen für die geringe Zahl der Grundrechtsfälle beim EuGH liefert (mitgliedstaatliche Akte müssen in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, um vom EuGH überhaupt auf Grundrechtskonformität geprüft zu werden; EU-Institutionen verabschieden weniger Rechtsakte mit Grundrechtsrelevanz als nationale Institutionen bzw. sie agieren „grundrechtsbewusster“ und vermeiden dadurch potenzielle Konflikte; eingeschränkte Rechtsschutzmöglichkeiten vor den Gemeinschaftsgerichten; Grundrechtsbeschwerden werden von den Betroffenen auf Gemeinschaftsebene häufiger nicht gerichtlich geltend gemacht; die zurückhaltende Rechtsprechung von EuGH und EuG im Grundrechtsbereich übt eine abschreckende Wirkung auf mögliche künftige Beschwerdeführer aus).
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
ter Instanz kam bis zum Vertrag von Nizza in dem für die Entwicklung und den Ausbau des Grundrechtsdiskurses auf Gemeinschaftsebene sehr wichtigen Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV keine Zuständigkeit zu144. 1. Grundsätzliche Ausrichtung des EuGH: Gericht mit umfassender Zuständigkeit auf supranationaler Ebene, das sich in eine eigene, umfassende Rechtsordnung einfügt Die Rolle des Luxemburger Gerichtshofs geht weit über die eines „Grundrechtsgerichts“ und auch eines Verfassungsgerichts im weiteren Sinne hinaus. In den Kategorien deutscher Gerichtsbarkeit gedacht nimmt er neben verfassungsgerichtlichen Aufgaben solche der Verwaltungs-, Zivil-, Arbeits-, Finanz-, Sozial- und unter Umständen auch Strafgerichtsbarkeit wahr und wird somit treffend als „polyvalente Gerichtsbarkeit“ charakterisiert145. Die umfassende inhaltliche Zuständigkeit hängt mit der Aufgabenzuweisung in Art. 220 EGV zusammen, nach welcher der Gerichtshof „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags“ sichert. Diese Formel deckt einen denkbar weiten inhaltlichen Jurisdiktionsbereich ab, auch wenn die nachfolgenden Vorschriften zu den einzelnen Verfahrensarten die Aufgabe des EuGH zu präzisieren helfen. Art. 220 EGV garantiert die materielle Bindung der Gemeinschaft an das Recht in einem umfassenden Sinn und ist damit die vertraglich verankerte Basis für das Verständnis von der Gemeinschaft als „Rechtsgemeinschaft“146. Unter „Recht“ im Sinne der Vorschrift sind alle verbindlichen Normen der Gemeinschaftsrechtsordnung zu verstehen, d. h. neben dem geschriebenen Primär- und Sekundärrecht und den die Gemeinschaft bindenden völkerrechtlichen Verträgen und Vereinbarungen auch die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, zu denen die Gemeinschaftsgrundrechte gehören147. 144 Gemäß Art. 225 Abs. 3 EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza ist das Gericht erster Instanz nunmehr in besonderen, in der Satzung festgelegten Sachgebieten auch für Vorabentscheidungen zuständig. 145 So G. C. Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, EuR 1992, S. 225, 226. H. Schepel/E. Blankenburg, Mobilizing the European Court of Justice, in: de Bfflrca/Weiler, The European Court of Justice, S. 9, 14 ff., umschreiben die verschiedenen Funktionen des EuGH in Anlehnung an die Verfahrensarten als „kangaroo court“ (Art. 226 EGV), „forum for inter-institutional debate“ (Art. 230 Abs. 1–3 EGV), „regulatory complaint board“ (Art. 230 Abs. 4 EGV), „constitutional review court“ (Art. 234 EGV). 146 EuGH, Rs. 294/83, Les Verts, Slg. 1986, S. 1339, Rn. 23; Gutachten 1/91, EWR, Slg. 1991, S. I-6079, Rn. 21. Siehe auch W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 31 ff.; M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 ff.
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In seiner Funktion als Verfassungsgericht handelt der EuGH, wenn er das abgeleitete Gemeinschaftsrecht am Maßstab der Verträge misst, wenn er zwecks Wahrung des institutionellen Gleichgewichts über Streitigkeiten zwischen Organen der Gemeinschaft entscheidet, wenn er in Kompetenzkonflikten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten urteilt, wenn er präventiv die Vereinbarkeit völkerrechtlicher Übereinkommen mit dem EGV kontrolliert sowie in den Fällen, in denen er Grundrechtsschutz gewährt148. Diese Fülle allein der verfassungsgerichtlichen Aufgaben zeigt, dass sich der EuGH, anders als der einseitig ausgerichtete Straßburger Gerichtshof, in einem Geflecht von Rechtsbeziehungen verschiedener Akteure behaupten und bewähren muss und dass der Grundrechtsschutz dabei nur eine Komponente darstellt. Darin steht er einem nationalen Verfassungsgericht näher als dem EGMR. Durch die Eigenheiten der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung grenzt er sich allerdings auch dem nationalen Gericht gegenüber entscheidend ab. So ist gerade die verfassungsgerichtliche Tätigkeit des EuGH durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass der Gerichtshof entscheidende Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts erst entwickeln und erarbeiten musste, bevor er sie zur Anwendung bringen konnte. Die Verträge enthielten nur wenige allgemeine Grundsätze und fügten sich nicht in eine auf Tradition beruhende, gefestigte Rechtsordnung mit gesicherten Rechtsauffassungen ein, wie es in staatlichen Ordnungen regelmäßig der Fall ist149. Der Rahmen für die Rechtsprechung des Gerichtshofs war nur in Ansätzen vorgegeben und musste teilweise von ihm selber geformt werden. Dies betraf den Bereich des Grundrechtsschutzes in besonderer Weise, da er in den Verträgen überhaupt nicht berücksichtigt worden war150. Der EuGH musste diese Lücke selbständig im Wege der Rechtsfortbildung schließen. Er konnte weder auf historisch gewachsene Traditionen noch auf ein Gerüst vertraglich festgeschriebener fundamentaler Rechte zurückgreifen, das er durch seine Rechtsprechung mit Leben füllen und zu einem kohärenten System ausbauen konnte, sondern musste sich ein solches Gerüst zunächst erarbeiten. Da er selbst die Gemeinschaftsrechtsordnung zu einer neuen Rechtsordnung sui generis deklariert hatte151, war ihm dabei der di147 B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 220 EGV Rn. 3 und 8, leitet aus der Unterscheidung zwischen „Recht“ und „Vertrag“ im Wortlaut der Norm her, dass auch das ungeschriebene Gemeinschaftsrecht umfasst ist. 148 Vgl. im Einzelnen G. C. Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, EuR 1992, S. 225 ff. 149 Vgl. dazu U. Everling, 50 Jahre Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, DVBl. 2002, S. 1293, 1295. 150 Vgl. hierzu mit Gründen für die fehlende Berücksichtigung von Grundrechten in den Verträgen und die Herleitung oben 1. Teil, B. III. 1. a). 151 EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1, Rn. 10; Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251, Rn. 8 ff.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
rekte Rückgriff auf Vorgaben aus dem Völkerrecht oder aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auch im Grundrechtsbereich versperrt. Nicht nur in dieser – einer Rechtsschöpfung zumindest nahekommenden – Aufgabe, den abstrakten Inhalt der Gemeinschaftsgrundrechte vor ihrer Anwendung zunächst festzulegen, unterscheidet sich die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH von der des Straßburger Gerichtshofs. Der Menschenrechtsgerichtshof, der auf der Basis des Katalogs der Konventionsrechte urteilt, befindet sich, wie oben festgestellt, in einer Situation der „Freiheit von internen Bindungen“. Er muss in seiner Rechtsprechung keine Ziele neben dem Menschenrechtsschutz berücksichtigen. Ganz anders die Ausgangssituation des Luxemburger EuGH: Er bezieht, wie die anderen EGInstitutionen, seine Legitimation aus den Gründungsverträgen der Gemeinschaft und ordnet sich als eine von drei Gewalten in das Gesamtgefüge der Gemeinschaftsrechtsordnung ein152. Die Verträge bilden in einem materiellen Sinn die Verfassung der Gemeinschaft153; ihnen sind die wesentlichen Zielvorgaben für die Rechtsordnung zu entnehmen. Danach ist die Gemeinschaft von ihrem Ausgangspunkt her auf die Errichtung des Binnenmarktes mit den ihn begleitenden Politiken und auf die Wirtschafts- und Währungsunion sowie auf alle Maßnahmen ausgerichtet, die diese übergeordneten Ziele unterstützen. Auch im jetzigen fortgeschrittenen Stadium der europäischen Integration ist diese Ausrichtung bei einer vereinfachenden Betrachtung im Grunde weiterhin zutreffend. Das gilt in gleicher Weise für die Zielsetzungen des Europäischen Verfassungsvertrags154. Der EuGH ist Verfassungsgericht innerhalb des durch diese Zielvorgaben abgesteckten Rahmens und muss seine Rechtsprechung daran ausrichten155. 152 Vgl. J. Liisberg, Does the EU Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, JMP 04/2001, S. 37: „One could say that the ECtHR operates on a ‚floor‘ of protection, on the basis of one single instrument, whereas the ECJ has to operate both on a ‚floor‘ of protection and under a ‚ceiling‘ of dictates from a multitude of different rules which must be uniformly applied throughout Community to serve their purposes.“ 153 Vgl. EuGH, Rs. 294/83, Les Verts, Slg. 1986, S. 1339, Rn. 23. 154 Vgl. zur wirtschaftlichen Orientierung der Unionsziele nach dem Verfassungsvertrag oben 1. Teil, B. III. 3. b) cc). 155 Vgl. hierzu A. Donner, Transition, in: FS Wiarda, S. 145, 146, der diese Rolle des EuGH treffend umschreibt: „La Cour de justice de Luxembourg . . . n’est que l’une des institutions d’un ‚corps politique‘ qui est en train de s’établir. Elle est chargée d’assurer le respect du droit dans l’interprétation et l’application des traités. Et ces traités ont des objectifs, en premier lieu l’établissement d’un marché commun, mais ce but en comporte nécessairement d’autres, qui ensemble constituent les guides directeurs de toute l’activité judiciaire. Ainsi ils fournissent une mesure essentielle de ce qui ‚se doit et ne se doit pas‘ pour les institutions, pour les Etats membres et pour les citoyens du marché . . . Les traités forment . . . la constitution de la Communauté européenne, et la Cour de justice, en tant que juridiction consti-
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Er hat den Rahmen um den Aspekt des Grundrechtsschutzes ergänzt, er hat dadurch aber nicht den Grundrechtsschutz zu einer neuen, eigenständigen Zielvorgabe der Gemeinschaftsrechtsordnung gemacht156. Wie gezeigt wurde, ist der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz aus der Notwendigkeit entstanden, den Bürgern als freiheitssicherndes Korrelat der Übertragung von Hoheitsrechten die Grundrechte auf Gemeinschaftsrechtsebene an die Hand zu geben. Gleichzeitig dienen die Gemeinschaftsgrundrechte der Legitimierung und Absicherung des Gemeinschaftsrechts, das mitgliedstaatlichem Recht vorgeht und direkte Wirkung entfaltet. Der Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs ist also eine unabdingbare Ergänzung der Rechtsordnung, er ist aber nicht Ziel per se157. Für den Stellenwert der Gemeinschaftsgrundrechte in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet dies, dass sie ihre Wirkung innerhalb des vertraglich vorgegebenen Rahmens entfalten und dementsprechend mit anderen Werten konkurrieren, die genauso vom EuGH zu berücksichtigen und beispielsweise in Abwägungen mit einzubeziehen sind. Zu diesen anderen Werten zählen maßgeblich die Grundfreiheiten als Pfeiler der Wirtschaftsintegration158. Der Gerichtshof denkt aufgrund seiner Eingliederung in die Gemeinschaftsrechtsordnung bei seinen Entscheidungen den Gedanken der europäischen Integration in Gestalt der Vertragsvorgaben immer mit. Diese integrationspolitische und daher auch wirtschaftliche Orientierung findet ausdrücklichen Niederschlag in seiner Rechtsprechung, wenn er sagt, dass sich die Gewährleistung der Gemeinschaftsgrundrechte „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“ müsse159. Urteilt der EuGH als Grundrechts- und Verfassungsgericht, so ist die Materie, über die er zu entscheiden hat, zwangsläufig politisch geprägt, genauso wie dies beim Menschenrechtsgerichtshof der Fall ist. Aufgrund der Vielschichtigkeit des Gemeinschaftssystems und aufgrund der starken Verrechtlichung der supranationalen Rechtsordnung stellt sich seine Rolle aber doch grundlegend anders dar als die des EGMR. Seine Richtersprüche greitutionnelle, est tenue de contribuer à son fonctionnement, dans le droit, pour la réalisation des objectifs adoptés et tout ce que ceux-ci impliquent.“ 156 Vgl. hierzu oben 1. Teil, B. III. 3. 157 B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 869: „. . . the Court’s case law in this field has other important functions than the protection of rights per se, such as the promotion of European integration and, more specifically, the safeguarding of the supremacy of EC law before domestic courts.“ Vgl. oben 1. Teil, B. III. 1. und 2. 158 Zur Abgrenzung und zu Konkurrenzen zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten siehe oben 2. Teil, B. III. 159 Erstmals EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4. Vgl. dazu oben 1. Teil, B. III. 2. c).
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
fen tiefer in die mitgliedstaatliche Souveränität ein. Dazu tragen maßgeblich auch die von ihm selbst entwickelten Institute des Vorrangs und der direkten Wirkung des Gemeinschaftsrechts bei. Dies kann gerade im sensiblen Grundrechtsbereich prekär sein. Auf der anderen Seite sind es aber gerade der Vorrang und die direkte Wirkung, die dem Luxemburger Gerichtshof bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts helfen und die seinen Urteilen größere Durchschlagskraft verleihen, als sie den Straßburger Urteilen zukommt. Dazu kommt die qua EG-Vertrag festgelegte Wirkung der EuGHUrteile, die über eine bloße Feststellung hinausgeht und, je nach Urteilsart, auch gestaltend sein kann. Im Falle einer Verletzung von Gemeinschaftsgrundrechten kann der EuGH – anders als der EGMR – einen gemeinschaftlichen Rechtsakt für nichtig und einen mitgliedstaatlichen Rechtsakt wegen Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht für unanwendbar erklären. Er ist demnach weniger darauf angewiesen, in politischer Hinsicht Rücksicht auf die Mitgliedstaaten zu nehmen und seine Urteile im Sinne größtmöglicher Akzeptanz zu formulieren. Seine Entscheidungen gründen vielmehr auf einer ihnen von vornherein zugestandenen Akzeptanz, die sich in der besseren Durchsetzbarkeit manifestiert. Dies ist einer der Gründe dafür, dass sich das Konzept der margin of appreciation nicht in vergleichbarer Weise in der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs findet. Hinzu kommt, dass die EuGH-Rechtsprechung von der Sorge um die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts beherrscht ist160. Dem würde das Zugestehen eines mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraums vom Ansatz her zuwider laufen. Nur bei der grundrechtlichen Kontrolle mitgliedstaatlicher Akte, d. h. in dem Bereich, in dem es parallele Zuständigkeiten von Luxemburger und Straßburger Gerichtshof gibt, hat der EuGH in den letzten Jahren teilweise auf einen „Entscheidungsspielraum“ der Mitgliedstaaten verwiesen und sich dabei direkt auf die EGMR-Rechtsprechung bezogen161. Hinter dieser Anpassung an Straßburger Vorgaben steht sicherlich auch das Bemühen um eine größere Akzeptanz der Grundrechtsrechtsprechung und um Vermeidung offener Divergenzen zwischen Straßburg und Luxemburg. Aus diesen Erwägungen folgt indes nicht, dass der EuGH den politischen Implikationen, die mit seinen Urteilen verbunden sind, keine Beachtung schenken müsste. Es ist auffällig, dass die Urteile des Luxemburger Gerichtshofs, gerade im Grundrechtsbereich, in der Literatur wesentlich härterer inhaltlicher Kritik ausgesetzt sind als die Straßburger Urteile162. Dies hängt vermutlich mit der angesprochenen höheren Durchsetzungskraft und ihrem auf diese Weise großen direkten Einfluss auf die mitgliedstaatlichen 160
Vgl. dazu B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 220 EGV Rn. 33, und sogleich unter 5. a) aa). 161 Siehe beispielsweise EuGH, Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, S. I-3025, Rn. 51 f. Dazu unten 3. Teil, A. II. 5. b) cc).
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Rechtsordnungen zusammen. Die Urteile werden ernster genommen, und man setzt sich intensiver mit ihnen auseinander. In letzter Konsequenz greifen aber auch für den EuGH die völkerrechtlichen Wurzeln der Gemeinschaften: Die Mitgliedstaaten sind „Herren der Verträge“163 und bestimmen damit auch über das Schicksal des Gerichtshofs. Folglich muss auch er in seiner Urteilspraxis einen gewissen Pragmatismus an den Tag legen, soll die autonome Gemeinschaftsrechtsordnung fortentwickelt und nicht von mitgliedstaatlicher Seite blockiert werden164. Die Erwägungen, die diesem notwendigen Pragmatismus zugrunde liegen, sind allerdings vielschichtiger als beim EGMR. Die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsrechtsebene findet in einem von verschiedenen Polen geprägten Spannungsfeld statt. 2. Organisation und Arbeitsweise des EuGH Der EuGH setzt sich – ebenso wie der Straßburger Gerichtshof – aus einem Richter pro Mitgliedstaat zusammen und repräsentiert damit alle in der Gemeinschaft vorhandenen Rechtsordnungen und -traditionen165. Seit der Erweiterung um zehn Mitgliedstaaten zum 1. Mai 2004 und um weitere zwei zum 1. Januar 2007 auf insgesamt 27 Mitgliedstaaten sieht sich auch der EuGH mit einer Vielfalt unterschiedlicher Rechtsordnungen konfrontiert. Von einer „relativen Homogenität“ kann nur noch schwerlich gesprochen werden166. Neben den Richtern sind die acht Generalanwälte167, wel162 Siehe beispielsweise die bei U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 128 f., aufgeführte harsche Kritik von deutscher Seite. 163 Dazu H.-J. Cremer in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 48 EUV Rn. 4 ff.; J. Herbst, Observations on the Right to Withdraw from the European Union: Who are the „Masters of the Treaties“?, GLJ 6 (2005), S. 1755 ff.; R. Bieber, Les limites matérielles et formelles à la révision des traités établissant la Communauté européenne, RMC 1993, S. 343 ff. 164 Vgl. auch C. Kakouris, La Cour de Justice des Communautés européennes comme Cour Constitutionnelle: Trois Observations, in: FS Everling, S. 629, 637 ff.; C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 71 f. 165 Art. 221 Unterabs. 1 EGV n. F. Vor Inkrafttreten des Vertrags von Nizza war die Zahl der Richter in Art. 221 EGV ausdrücklich festgelegt. Um Stimmengleichheit bei Entscheidungen zu vermeiden, war es immer eine ungerade Zahl. Bei einer geraden Zahl von Mitgliedstaaten durften die großen Mitgliedstaaten abwechselnd zwei Richter stellen. Siehe dazu im Einzelnen J. Schwarze in: ders., EU-Kommentar, Art. 221 EGV Rn. 1; H. Krück in: GTE, Art. 165 EGV Rn. 4 f. 166 B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 221 EGV Rn. 1, verweist darauf, dass durch die Repräsentation aller nationalen Rechtsordnungen im Richterkollegium die relative Unterrepräsentation der Rechtsordnungen der großen Mitgliedstaaten verschärft wird.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
che nach Art. 222 EGV die Schlussanträge zu den Rechtssachen stellen, protokollarisch gleichrangige Mitglieder des Gerichtshofs. Richter und Generalanwälte werden gemäß Art. 223 Unterabs. 1 EGV von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen auf sechs Jahre ernannt. Das Auswahlverfahren ist somit dem der EGMR-Richter vergleichbar: Die endgültige Ernennung beruht auf einem innergemeinschaftlichen Verfahren168, die entscheidende eigentliche Auswahl erfolgt aber auf nationaler Ebene durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Bislang wurde noch kein vorgeschlagener Kandidat von den anderen Mitgliedstaaten auf Gemeinschaftsebene verhindert169. Mit der Steuerung des Ernennungsverfahrens „ihres“ Richters und Generalanwalts erschöpft sich der Einfluss der Mitgliedstaaten auf den Gerichtshof. Die Richter sind unabhängig gegenüber der Regierung ihres Heimatstaats und dessen nationalen Interessen170. Teil dieser Unabhängigkeit ist ihre Unabsetzbarkeit; nur auf einstimmigen Beschluss des Gerichtshofs, nicht aber durch einen Mitgliedstaat, kann ein Richter während seiner Amtszeit seines Amtes enthoben werden171. Für den EuGH gibt es keine dem Art. 27 Abs. 2 EMRK vergleichbare Klausel, wonach an den Verfahren 167
Gemäß Art. 222 Unterabs. 1 S. 2 EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza kann der Rat beschließen, die Zahl der Generalanwälte zu erhöhen, womit der gestiegenen Zahl von Mitgliedstaaten Rechnung getragen wird. 168 Die Entscheidung der Gesamtheit der Regierungen der Mitgliedstaaten wird als sog. uneigentlicher Ratsbeschluss qualifiziert, vgl. B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 223 EGV Rn. 1. 169 B. Wegener, a. a. O., Rn. 1. Wegener qualifiziert das nationale Auswahlverfahren, das keinen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben unterliegt, in den meisten Mitgliedstaaten als „formell, exekutivisch und wenig transparent“. Ausführlich dazu V. Epping, Die demokratische Legitimation der Dritten Gewalt der Europäischen Gemeinschaften, Der Staat 1997, S. 349, 361 ff. 170 Wie beim EGMR ist die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats nicht Voraussetzung für die richterliche Tätigkeit am Gerichtshof, wodurch die Unabhängigkeit unterstrichen wird, vgl. H. Krück in: GTE, Bd. 4, 5. Auflage, Art. 167 Rn. 3. 171 Art. 6 Abs. 1 Satzung EuGH. Die Begrenzung der Amtszeit auf sechs Jahre mit möglicher Wiederwahl wird im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Richter beim EuGH kritisiert, vgl. beispielsweise J. Weiler, Epilogue: The Judicial Après Nice, in: de Bfflrca/Weiler, The European Court of Justice, S. 215, 225, der vorschlägt, diese Regelung im Interesse der Integrität der Gemeinschaftsrechtsordnung abzuschaffen; J. Schwarze in: ders., EU-Kommentar, Art. 223 EGV Rn. 2 mit weiteren Verweisen; R. Streinz, Europarecht, Rn. 376; O. Due, Pourquoi cette solution?, in: FS Everling, S. 273, 275. Die Regelung für die Amtszeit der EGMR-Richter ist bisher gleich (sechs Jahre, mögliche Wiederwahl). Nach dem Protokoll Nr. 14 zur EMRK soll die Amtszeit der EGMR-Richter künftig auf neun Jahre verlängert, eine Wiederwahl aber ausgeschlossen werden (Neufassung des Art. 23 EMRK). Hinter dieser Änderung steht ebenfalls der Gedanke, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter zu stärken, vgl. die Denkschrift zu Protokoll Nr. 14, S. 16.
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immer ein Richter beteiligt sein muss, der einen Mitgliedstaat, die betroffene Rechtsordnung oder einen klagenden oder beklagten Einzelnen repräsentiert. Im Gegenteil bestimmt Art. 18 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs, dass eine Partei weder eine Änderung der jeweiligen Zusammensetzung des Gerichtshofs verlangen kann, weil ihm kein Richter ihrer Staatsangehörigkeit angehört, noch einen Antrag auf Ausschluss eines Richters aufgrund seiner Staatsangehörigkeit stellen kann. Hierdurch wird nicht nur die Unabhängigkeit der Richter von mitgliedstaatlichen Interessen deutlich gemacht, sondern auch die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung unterstrichen. Die bewusste Anbindung an die Vertragsstaaten und ihre Rechtsordnungen durch Beteiligung eines „passenden“ Richters ist Teil des völkerrechtlichen Konstrukts der Menschenrechtskonvention mit ihrem subsidiären Rechtsschutzmechanismus. In der Gemeinschaftsrechtsordnung als autonomer Rechtsordnung sui generis hat ein solches Element der Anbindung an die Mitgliedstaaten hingegen keinen Platz und soll gerade vermieden werden172. Der EuGH urteilt über eigenständiges, im Falle des Sekundärrechts auch selbst gesetztes Recht, das zwar mit dem mitgliedstaatlichen Recht vernetzt ist, diesem aber im Rang vorgeht und ein eigenes System bildet. Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Nizza sah Art. 221 EGV vor, dass der Gerichtshof grundsätzlich im Plenum tagte und nur für bestimmte Rechtssachen Kammern bilden konnte. Damit sollte gewährleistet sein, dass die Urteile als Entscheidungen der Repräsentanten aller Rechtsordnungen angesehen werden und so auf größtmögliche Akzeptanz stoßen. In der Praxis war diese Regel aus Kapazitätsgründen schon seit längerem umgekehrt und die größere Zahl der Rechtssachen auf die Kammern verlagert worden173. Mit der Neufassung des Art. 221 EGV wurde diese Praxis zur rechtlichen Regel erhoben. Der EuGH tagt nunmehr grundsätzlich in Kammern mit drei oder fünf Richtern. Die mit elf Richtern besetzte Große Kammer ist zuständig, wenn ein am Verfahren beteiligter Mitgliedstaat oder ein beteiligtes Gemeinschaftsorgan dies beantragt174. Entscheidungen im Plenum sind nicht vollständig abgeschafft, aber stark begrenzt worden. Der Gerichtshof tagt mit allen Richtern, wenn es um Amtsenthebungsverfahren innerhalb der EG-Institutionen geht und, gemäß Art. 16 Abs. 4 seiner Satzung, wenn er selbst zu der Auffassung gelangt, dass eine Rechtssache „von außergewöhnlicher Bedeutung ist“. Der Entscheidung über die Befassung des Plenums muss eine Anhörung des Generalanwalts vorausgehen, 172 Vgl. aber O. Due, Pourquoi cette solution?, in: FS Everling, S. 273, 275 f., der es für wünschenswert hielte, wenn ein mit den jeweiligen Problemen vertrauter Richter aus dem betroffenen Mitgliedstaat an den Verhandlungen teilnähme. 173 B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 221 EGV Rn. 3. 174 Art. 16 Abs. 3 Satzung EuGH.
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sie liegt aber allein in der Hand des Gerichtshofs und kann nicht von den Verfahrensparteien beantragt werden. Die im Plenum gefällten Urteile werden damit zur Ausnahme. Der EuGH trägt auf diese Weise den geänderten Umständen in einer wesentlich größeren Gemeinschaft Rechnung. Dies bedeutet aber auch den endgültigen Abschied von dem Grundsatz, dass Repräsentanten aller Rechtsordnungen zur Rechtsentwicklung in allen Rechtsgebieten der Gemeinschaft beitragen und die einheitliche Entwicklung des Gemeinschaftsrechts von allen initiiert und mitgetragen wird175. Ähnlich wie beim EGMR, der bis 1993 viele grundlegende Urteile im Plenum fällte, ist auch beim Luxemburger Gerichtshof ein großer Teil der Leitentscheidungen, welche die Gemeinschaftsrechtsordnung und auch die Grundrechtsentwicklung geprägt haben, von allen Richtern getroffen worden176. Seit zur Entlastung des Gerichtshofs im Jahr 1989 das Gericht erster Instanz geschaffen wurde, ist das gemeinschaftliche Gerichtssystem in einigen Bereichen zweistufig. Dem Instanzgericht, das dem Gerichtshof zunächst nur beigeordnet war, ist die Zuständigkeit für Klagen von Privatpersonen und Unternehmen gegen sie betreffende Handlungen der Gemeinschaftsorgane sowie für den umfangreichen Bereich der Beamtenstreitigkeiten übertragen. Insbesondere in Wettbewerbsverfahren muss sich das EuG auch mit Rügen wegen Grundrechtsverletzungen auseinander setzen. Der EuGH ist allerdings in allen Fällen der Erstzuständigkeit des Gerichts erster Instanz Rechtsmittelgericht177, so dass eine endgültige Entscheidung stets bei ihm liegt und er der oberste Wächter über die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts bleibt. Daran ändert auch die Erweiterung der Zuständigkeiten des Instanzgerichts durch den Vertrag von Nizza nichts178. Art. 225a EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza sieht erstmals vor, dass für bestimmte Kategorien von Klagen Fachgerichte gebildet werden können, die dem Gericht erster Instanz als gerichtliche Kammern beigeordnet werden. Ende 2004 wurde auf dieser Rechtsgrundlage die Errichtung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union beschlossen179. Der mit sieben Richtern besetzte Spruchkörper übernimmt 175 Vgl. R. Streinz/S. Leible, Die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaft – Reflexionen über Reflexionspapiere, EWS 2001, S. 1, 7. 176 Aus pragmatischen Gründen hatte der Gerichtshof allerdings schon seit langem eine Unterteilung in ein „kleines Plenum“ und ein „großes Plenum“ vorgenommen, vgl. hierzu H. Krück in: GTE, Art. 165 Rn. 12 ff. 177 Art. 56 Satzung EuGH. 178 Das Gericht erster Instanz wird nunmehr als eigenständiges Gericht neben dem EuGH in Art. 220 EGV aufgeführt. Zu den Zuständigkeiten des EuG im Einzelnen siehe die Aufzählung in Art. 225 EGV n. F. 179 Ratsbeschluss vom 2.11.2004, ABl. L 333 vom 9.11.2004, S. 7 ff.
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in erster Instanz alle dienstrechtlichen Streitigkeiten. Außerdem wurde beschlossen, ein Fachgericht für Rechtsstreitigkeiten im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes zu errichten. Gegen die Entscheidungen der Fachgerichte können Rechtsmittel vor dem Gericht erster Instanz eingelegt werden. Damit verschiebt sich die Rolle von EuG und EuGH insgesamt. Für den EuGH könnte die Verlagerung der Zuständigkeit für spezielle Rechtsgebiete auf Fachgerichte insbesondere bedeuten, dass er mehr Muße haben wird, sich grundlegenden Verfassungsfragen zu widmen180. Das Konzept, Fachgerichte für bestimmte Rechtsgebiete einzurichten, findet sich auch in Art. III-359 des Verfassungsvertrags. Beim Gebrauch der Sprachen ist für den Luxemburger Gerichtshof zu differenzieren: Als Gemeinschaftsinstitution arbeitet er in allen Amtssprachen und verfügt über einen umfangreichen Übersetzungsapparat. Die Sprache des jeweiligen Verfahrens wird grundsätzlich vom Kläger gewählt. Bei Klagen gegen einen Mitgliedstaat oder einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats ist die Amtssprache dieses Staates Verfahrenssprache, in Vorlageverfahren ist es die Sprache des vorlegenden Gerichts181. Die Verfahrenssprache gilt für mündliche Ausführungen und Schriftsätze der Parteien und ist in den Urteilen ausdrücklich vermerkt182. So wird sichergestellt, dass Besonderheiten einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung im Verfahren angemessen sprachlich berücksichtigt werden. Für beitretende Streithelfer und andere Verfahrensbeteiligte sind Ausnahmen vorgesehen183. Die Schlussanträge werden von den Generalanwälten grundsätzlich in ihrer Muttersprache verfasst und anschließend, ebenso wie die Urteile, in alle Amtssprachen übersetzt. Insgesamt sind die Verfahren beim EuGH aufgrund der Sprachenvielfalt und der damit verbundenen Übersetzungen schwerfälliger als beim EGMR, der das gesamte Verfahren in den beiden offiziellen Sprachen und gleichzeitig auch Arbeitssprachen Französisch und Englisch durchführt184. 180 Siehe zu den neu errichteten Fachgerichten und ihrer Rolle im Gefüge der EG-Gerichte N. Lavranos, The new specialised courts within the European judicial system, ELRev. 30 (2005), S. 47 ff. 181 Art. 29 § 1 und 2 VerfO EuGH. 182 Gemäß Art. 31 VerfO EuGH ist die Fassung in der Verfahrenssprache verbindlich. 183 Art. 29 § 3–5 VerfO EuGH. 184 Zu den Auswirkungen der EU-Erweiterung auf die Sprachenproblematik beim EuGH und zu möglichen Lösungsansätzen vgl. I. Pernice/F. Mayer in: Grabitz/Hilf, Art. 220 EGV Rn. 92. Festzustellen ist, dass der EuGH im April 2004, unmittelbar vor dem Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten zur EU zum 1. Mai 2004, insgesamt 66 Urteile veröffentlicht hat. Davon stammen 48 aus der letzten Aprilwoche. Es ist anzunehmen, dass durch Veröffentlichung möglichst vieler Urteile vor dem 1. Mai 2004 zusätzlicher Übersetzungsaufwand vermieden werden sollte. Es wäre interessant zu untersuchen, ob sich hier Rückwirkungen auf Stil, Duktus und Quali-
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Eine vertraglich nicht festgelegte Besonderheit beim EuGH ist die sog. Beratungssprache („langue de délibérer“). In ihren Beratungen über ein Urteil sprechen die Richter weiterhin ausschließlich Französisch, und auch die Urfassung der Urteile wird auf Französisch verfasst. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass über die der endgültigen Entscheidung zugrunde liegenden rechtlichen Erwägungen in nur einer Sprache diskutiert wird und keine aus Übersetzungen resultierenden Missverständnisse aufkommen können. Die Beratungssprache spielt allerdings weniger für die allgemeine Arbeitsweise des EuGH als vielmehr speziell für das Zustandekommen und die Begründung der Urteile eine Rolle. 3. Unterschiedliche Verfahrenswege für Grundrechtsstreitigkeiten beim EuGH In Anbetracht der umfassenden gerichtlichen Zuständigkeiten befasst sich der Luxemburger Gerichtshof mit Grundrechtsfragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Darin unterscheidet sich seine Grundrechtsrechtsprechung fundamental von der Rechtsprechung des EGMR, der die Fälle immer aus der gleichen Perspektive – subsidiäre Kontrolle nationalen Rechts anhand der Konventionsgarantien – betrachtet. Beim EuGH sind es nicht nur unterschiedliche Verfahrensarten, in denen Grundrechtsfragen aufgeworfen werden können, sondern auch Rechtsakte verschiedener Ebenen, die überprüft werden. Der EuGH misst nicht nur das Handeln der EG-Organe am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte, sondern auch mitgliedstaatliches Handeln, sofern es im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts liegt und damit seinem Rechtssystem zugehörig ist185. Theoretisch können grundrechtliche Fragestellungen in allen Verfahrensarten und Konstellationen auftauchen. Seine Funktion als Verfassungs- und Grundrechtsgericht übt der Gerichtshof aber insbesondere bei Nichtigkeitsklagen nach Art. 230 EGV und im Rahmen des Vorlageverfahrens nach Art. 234 EGV aus. Die wichtigsten grundrechtlichen Leiturteile sind innerhalb dieser beiden Verfahrensarten ergangen186. tät der Urteile, die offenbar unter hohem Zeitdruck in kurzer Zeit verfasst wurden, nachweisen lassen. 185 Dazu oben 2. Teil, B. V. 2. b). 186 Daneben können Grundrechtsfragen auch in Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV aufgeworfen werden, beispielsweise wenn es um die Umsetzung von Richtlinien mit grundrechtsrelevanten Bestimmungen geht. Das Vertragsverletzungsverfahren gilt aber nur im Verhältnis Gemeinschaft – Mitgliedstaaten und betrifft nicht direkt den Einzelnen, der eine Grundrechtsverletzung geltend machen will. Daher wird in diesem Zusammenhang darauf nicht weiter eingegangen.
A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe
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Im Verfahren der Nichtigkeitsklage überprüft der EuGH die Rechtmäßigkeit von Rechtsakten der EG-Organe und damit auch ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsgrundrechten. Die Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen ist dabei gemäß Art. 230 Abs. 4 EGV auf Rechtsakte beschränkt, die direkt an sie gerichtet sind oder sie unmittelbar und individuell betreffen. Die Anforderungen, die der Gerichtshof an die Erfüllung dieser Kriterien, insbesondere an die individuelle Betroffenheit, stellt, sind hoch187. Im Vergleich mit der „Opfereigenschaft“, die Art. 34 EMRK als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Individualbeschwerde beim Menschenrechtsgerichtshof fordert188, ist die Hürde bei direkten Klagen Einzelner im Gemeinschaftsrecht sehr viel schwieriger zu nehmen189. Diese restriktive Praxis ist in der Literatur gerade für den Grundrechtsbereich auf Kritik gestoßen. So wird die Vermutung geäußert, dass die Zahl der Fälle, in denen Grundrechtsverletzungen geprüft werden, beim EuGH unter anderem deswegen so niedrig sei, weil einige Fälle aufgrund der hohen Anforderungen im Rahmen der Klagebefugnis niemals materiell-rechtlich untersucht oder wegen der Abschreckungswirkung erst gar nicht klagweise vor den Gerichtshof gebracht würden190. Nach Ansicht des EuGH entsteht indes trotz restriktiver Handhabung der Klagebefugnis von nicht privilegierten Klägern nach Art. 230 Abs. 4 EGV keine Lücke im gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem: Gemeinschaftsrechtsakte, die für Einzelne mangels individueller Betroffenheit nicht direkt angreifbar seien, könnten im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV vor den Gerichtshof gebracht werden. In Verbindung mit den mitgliedstaatlichen Gerichtsverfahren ergebe sich so ein umfassendes, lückenloses System von Rechtsschutzmöglichkeiten191. Tatsächlich können sich aber doch Lücken auftun, da die Einzelnen nicht 187 Grundlegend EuGH, Rs. 25/62, Plaumann, Slg. 1963, S. 213 ff. Zu der neueren Rechtsprechung des EuG und des EuGH zur Klagebefugnis nach Art. 230 Abs. 4 EGV vgl. R. Streinz, Europarecht, Rn. 601 ff. mit weiteren Nachweisen. 188 Dazu C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 13 Rn. 13 ff. 189 Vgl. O. de Schutter/Y. Lejeune, L’adhésion de la Communauté à la Convention européenne des droits de l’homme – A propos de l’Avis 2/94 de la Cour de Justice des Communautés, CDE 1996, S. 567, 582. 190 B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 875 ff., 882 f. De Witte führt neben der restriktiven Klagebefugnis noch weitere Gründe für die begrenzte Zahl der Grundrechtsfälle beim EuGH an: Mangelnde Transparenz der Gemeinschaftsgrundrechte wegen ihres Status als ungeschriebene Rechtsgrundsätze, weites Ermessen nationaler Gerichte bei Vorlagefragen, Abschreckungswirkung insbesondere auf natürliche Personen wegen kostspieligen und zeitraubenden Gerichtsverfahrens (a. a. O., S. 883). 191 EuGH, Rs. 294/83, Les Verts, Slg. 1986, S. 1339, Rn. 23; zuletzt EuGH, Rs. C-50/00 P, Unión de Pequenos Agricultores, Slg. 2002, S. I-6677, Rn. 34 f., und Rs. C-263/02 P, Jégo-Quéré, Slg. 2004, S. I-1258, Rn. 30. Anders das EuG in
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
stets die Möglichkeit haben, in einem nationalen Verfahren eine Vorlage an den EuGH zu erzwingen192. In diesem Kontext ist – neben der Forderung nach Aufweichung der Kriterien für die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV – die Idee entstanden, eine Grundrechtsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene einzuführen, vergleichbar der deutschen Verfassungsbeschwerde oder dem spanischen recurso de amparo193. Ein solches Verfahren ließe sich unmittelbar mit der Individualbeschwerde nach der EMRK vergleichen194. Es gibt hierzu allerdings bislang weder im Zusammenhang mit der Grundrechts-Charta noch mit der Europäischen Verfassung konkrete rechtspolitische Ansätze. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens entscheidet der Luxemburger Gerichtshof auf Vorlagefragen mitgliedstaatlicher Gerichte hin über die Gültigkeit und die Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Über den Weg der Auslegung gelangen auch Fragen nach der Vereinbarkeit mitgliedstaatlichen Handelns „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ mit den Gemeinschaftsgrundrechten zum EuGH. Dies ist der Bereich, in dem der EuGH in seiner Grundrechtszuständigkeit direkt mit dem Menschenrechtsgerichtshof „konkurriert“, d. h. in dem er über Fälle entscheidet, die auch in Straßburg anhängig gemacht werden können. Während im Vorder letztgenannten Rechtssache in erster Instanz: EuG, Rs. T-177/01, Jégo-Quéré, Slg. 2002, S. II-2365, Rn. 51. 192 So auch B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 876, mit einem guten Beispiel für eine Rechtsschutzlücke; R. Streinz, Europarecht, Rn. 608. Der EuGH hat in seinen jüngsten Urteilen eingeräumt, dass „ein anderes System der Rechtmäßigkeitskontrolle der Gemeinschaftshandlungen allgemeiner Geltung . . . sicherlich vorstellbar“ sei, verweist hierfür aber auf das Erfordernis einer Vertragsänderung nach Art. 48 EUV, siehe Rs. C-50/00 P, Unión de Pequenos Agricultores, Slg. 2002, S. I-6677. Siehe auch D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 778, nach dessen Ansicht eine erweiterte Klagebefugnis nach Art. 230 Abs. 4 EGV das Risiko divergierender Entscheidungen der beiden europäischen Gerichtshöfe steigern würde. 193 Vgl. dazu B. de Witte, a. a. O., S. 893 ff., der hierfür zwischen Grundrechtsschutz gegen Gemeinschaftsrechtsakte und gegen mitgliedstaatliche Akte differenziert; H.-W. Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS Everling, S. 1187 ff.; N. Reich, Zur Notwendigkeit einer europäischen Grundrechtsbeschwerde, ZRP 2000, S. 375 ff.; A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 170 ff.; N. Böcker, Wirksame Rechtsbehelfe zum Schutz der Grundrechte der Europäischen Union, insbes. S. 219 ff. 194 B. de Witte, a. a. O., S. 896, kommt aufgrund der vermuteten Gleichartigkeit beider Verfahren zu dem Ergebnis, die Einführung der Beschwerde auf Gemeinschaftsebene als überflüssig abzulehnen.
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abentscheidungsverfahren eine solche grundrechtliche Frage aber bereits vom erstinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gericht vor den EuGH gebracht werden kann, ist die Individualbeschwerde nach der EMRK erst nach vollständiger Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zulässig. Der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz greift in solchen Fällen also zeitlich vor dem Schutz durch die Menschenrechtskonvention ein, die bewusst als subsidiäres „Sicherheitsnetz“ konzipiert wurde. Als Beispiel für eine solche Konstellation können die im zweiten Teil analysierten Fälle Carpenter und Steffensen genannt werden. Beide Fälle hätten in Straßburg verhandelt werden können, wäre der begehrte Grundrechtsschutz nicht bereits vom EuGH gewährt worden195. 4. Urteilstechnik des EuGH Vergleicht man die Vorschriften der Verfahrensordnungen zum Inhalt der Urteile der beiden Gerichtshöfe, so finden sich hier im Wesentlichen die gleichen Angaben196. Gleichwohl unterscheiden sich die Urteile des EuGH in Aufbau, Ausgestaltung und Stil deutlich von denen des Straßburger Gerichtshofs197. a) Urteilsstruktur Der Aufbau der EuGH-Urteile war nicht durchgehend einheitlich, sondern ist im Laufe der Zeit etwas abgewandelt worden. Im Folgenden wird der aktuelle Aufbau, dem der Gerichtshof seit 1994 folgt, zugrunde gelegt198. In der amtlichen Sammlung sind den Urteilen des Gerichtshofs die Leitsätze sowie die Schlussanträge des Generalanwalts vorangestellt. In den Schlussanträgen werden der Sachverhalt und die aufgeworfenen Rechtsfragen in ausführlicherer Form als in den Urteilen dargestellt und analysiert. 195
Vgl. oben 2. Teil B. V. 2. b) bb) (2). Nach Art. 63 VerfO EuGH werden inhaltlich eine kurze Darstellung des Sachverhalts, die Entscheidungsgründe sowie die Urteilsformel verlangt; Art. 74 VerfO EGMR nennt den Sachverhalt, eine Zusammenfassung des Parteivorbringens, die rechtliche Begründung und die operativen Bestimmungen, darüber hinaus allerdings auch das Abstimmungsergebnis sowie, falls vorhanden, richterliche Sondervoten. 197 Der EuGH erlässt neben den Urteilen auch – in der Regel kürzere – Beschlüsse. Da es bei den Grundrechten um materiellrechtliche Fragestellungen geht, die in der Regel in Urteilen behandelt werden, wird im Folgenden auch nur auf diese Entscheidungsform eingegangen. 198 Zu den unterschiedlichen Aufbauvarianten seit Beginn der Rechtsprechung des EuGH vgl. U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 136 ff. Seit 1994 werden insbesondere aus Effizienzgründen die ausführlichen Sitzungsberichte nicht mehr in alle Amtssprachen übersetzt und in der amtlichen Sammlung veröffentlicht. 196
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Der vorgeschlagene Lösungsweg wird unter Heranziehung der Judikatur des EuGH und auch einschlägiger Literatur umfassend begründet. Zum Teil werden auch alternative Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt und diskutiert. Die Schlussanträge enden mit einem Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts. Die Struktur der nach den Schlussanträgen abgedruckten eigentlichen Urteile ist weniger strikt als die der EGMR-Urteile, allerdings folgt auch der Luxemburger Gerichtshof einem gleichbleibenden Grobschema. Strukturvarianten ergeben sich insbesondere in Abhängigkeit von der Klageart. In Vorabentscheidungsverfahren werden regelmäßig zunächst die für die Vorlagefrage relevanten Rechtsvorschriften des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Rechts inhaltlich wiedergegeben. Daran schließt sich die Darstellung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits und des nationalen Verfahrensgangs bis zum Vorlagebeschluss an. Die Sachverhaltsschilderung ist grundsätzlich kurz gehalten, enthält aber die für die rechtliche Würdigung wesentlichen Punkte. Der Wiedergabe der Vorlagefrage folgten früher unmittelbar die rechtlichen Ausführungen des Gerichtshofs. Inzwischen ist der Gerichtshof dazu übergegangen, teilweise zunächst in knapper Form die Erklärungen der Verfahrensbeteiligten zu den aufgeworfenen Rechtsfragen zu referieren. Danach folgen seine eigenen rechtlichen Erwägungen, auf denen der abschließende Urteilstenor in Form der Antwort auf die Vorlagefrage basiert. Im Verfahren der Nichtigkeitsklage orientiert sich der Urteilsaufbau an den einzelnen vom Kläger vorgebrachten Klagegründen. Der Gerichtshof erläutert kurz den Inhalt des umstrittenen Rechtsakts und würdigt dann nacheinander die verschiedenen Klagegründe, wobei er in der Regel auch hier eingangs kurz das Parteivorbringen zusammenfasst. Das Abstimmungsergebnis wird am Ende der Urteile nicht offen gelegt, und auch richterliche Sondervoten sind den Urteilen nicht angehängt. Der entscheidende Teil der Urteile mit der rechtlichen Würdigung ist bei allen Verfahrensarten in der Regel weiterhin knapp gehalten, auch wenn die Begründungen inzwischen ausführlicher formuliert sind als früher. Ein der Praxis des Straßburger Gerichtshofs vergleichbares diskursives Vorgehen gibt es in den EuGH-Urteilen nicht. Zwar werden inzwischen häufiger die Standpunkte der Verfahrensparteien wiedergegeben, es wird aber in den meisten Fällen nicht wirklich rechtlich argumentiert. Daher sind die rechtlichen Ausführungen wesentlich kürzer als die des EGMR. Dies gilt auch für Urteile, in denen es um grundrechtliche Fragestellungen geht. Während sich die Urteile früher nur nach Absätzen gliederten, ist der Gerichtshof seit einiger Zeit dazu übergegangen, in komplexeren Fällen die Urteilsstruktur mittels Überschriften übersichtlicher zu gestalten. Allerdings markieren die
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Überschriften lediglich die formale Struktur des Urteils, nicht aber inhaltliche Prüfungspunkte, wie bei den EGMR-Entscheidungen. Die rechtlichen Ausführungen erfolgen regelmäßig weiterhin en bloc ohne inhaltliche Differenzierungen199, was in Kombination mit der Kürze dazu beiträgt, dass die Gründe, auf denen der Entscheidungstenor beruht, für den Leser teilweise wenig eingängig und nicht immer leicht nachvollziehbar sind. b) Begründung der Urteile In Verfahrens- und Formfragen war die Praxis des Luxemburger Gerichtshofs von Anfang an erkennbar an die französische Rechtsordnung, insbesondere an das französische Verwaltungsrecht, angelehnt. Diese Prägung ist bei den Urteilsbegründungen besonders deutlich. Dies hängt neben der generellen Orientierung am französischen System insbesondere auch damit zusammen, dass der Gerichtshof – unabhängig von der Verfahrenssprache – die Urfassung der Urteile in französischer Sprache berät und verabschiedet, bevor sie in alle Amtssprachen übersetzt werden200. Bis 1979 waren die Urteile in der ursprünglichen Fassung, wie in der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit üblich, unter Verwendung der einleitenden Floskeln „vu que“ und „considérant que“ in einem durchgängigen Satz formuliert201. Seit 1979 ist der Gerichtshof zu Formulierungen in einzelnen Sätzen auch im französischen Text übergegangen. Seine Urteilsbegründungen zeichnen sich aber weiterhin durch ihre typisch französische Kürze aus. Zwar ist – pauschalisierend betrachtet – schon seit einiger Zeit eine Tendenz zu ausführlicherer Begründung zu beobachten202. Die eigentliche Rechtfertigung des abschließenden Urteilstenors als Kern der rechtlichen Begründung ist aber immer noch vergleichsweise knapp gehalten. In der Regel argumentiert der EuGH in seinen rechtlichen Ausführungen nicht, sondern behauptet oder stellt fest203. Auffällig und charakteristisch für seine Urteilsbegründungen 199 Bei Nichtigkeitsklagen wird nach Klagegründen, aber nicht weitergehend differenziert. 200 Vgl. U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 140, zum Zusammenhang von Sprache, Stil und Denkformen. 201 Bei der Übersetzung in die anderen Amtssprachen wurde dies allerdings nicht grundsätzlich übernommen. In der deutschen Fassung waren es beispielsweise von Anfang an vollständige Sätze, vgl. U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 137. 202 So auch M. Shapiro, The European Court of Justice, in: Craig/de Bfflrca, The Evolution of EU Law, S. 321, 326, der auch darauf hinweist, dass die Begründungen des Gerichtshofs ausführlicher sind, wenn er sich nicht den Schlussanträgen des Generalanwalts anschließt. 203 U. Everling, a. a. O., S. 139 f.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
sind die zahlreichen Rückverweise auf seine eigene Rechtsprechung. Damit bringt er bewusst ein Element der Beständigkeit in seine Rechtsprechung. Anders als der Straßburger Gerichtshof bindet der EuGH diese Präjudizien jedoch nicht argumentativ in seine Rechtsausführungen ein, sondern verwendet wortgleiche Versatzstücke aus alten Urteilen und Verweise auf seine „ständige Rechtsprechung“, ohne dabei immer den Bezug zu dem konkret zu entscheidenden Fall klarzustellen und die wiedergegebenen Grundsätze unmittelbar darauf anzuwenden. Oft sind es nur einzelne eingeschobene Sätze, in denen eine knappe Subsumtion stattfindet. Gerade die Verwendung dieser „Zitatblöcke“ und der oft nur schwache Bezug zum Einzelfall verstärken den Eindruck, dass ein Ergebnis nicht argumentativ begründet, sondern lediglich mit rechtlichen Erwägungen unterlegt wird. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Pro und Contra eines Rechtsproblems findet regelmäßig nicht statt. Abwägungen, die gerade in Grundrechtsfällen entscheidend sein können, finden sich in den schriftlichen Urteilsbegründungen nur selten. Allerdings sind im Zuge der Gesamttendenz zu ausführlicherer Begründung auch hier inzwischen Ausnahmen zu verzeichnen204. Die Tatsache, dass Abwägungen und rechtliche Argumentationen in den Urteilsbegründungen des EuGH kaum Niederschlag finden, bedeutet indes nicht, dass derartige Vorgänge unter den Richtern bei der Urteilsberatung nicht stattfinden. Sie werden nur nicht offengelegt. Genau hierin liegt ein grundlegender Unterschied zwischen der Art der Urteilsbegründung von EuGH und Menschenrechtsgerichtshof: Den ausführlichen Urteilen des EGMR, die im diskursiven Stil gehalten sind, die das Abstimmungsergebnis offen legen und denen Sondervoten der Richter angehängt werden können, lässt sich der Prozess ihres Zustandekommens entnehmen. Nach der Lektüre eines EGMR-Urteils einschließlich eventueller Sondervoten lässt sich in etwa nachvollziehen, wie die Beratung der Richter vor sich gegangen ist, über welche rechtlichen Argumente und Begründungen gestritten wurde, in welchen Punkten Einigkeit bestand und worüber keine einvernehmliche Meinung erzielt werden konnte. Die Straßburger Urteile zeichnen sich damit durch große Transparenz aus. Das Gegenteil lässt sich über die EuGH-Urteile sagen. Auch wenn der anfangs von „Kargheit und apodiktischer Kürze“ gekennzeichnete Urteilsstil205 204
In der Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 81 ff., nimmt der EuGH eine relativ ausführliche Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Bezugnahme auf die konkreten Umstände des Einzelfalls vor. Dies mag unter anderem damit zusammenhängen, dass es sich um ein Urteil in einem Vorabentscheidungsverfahren gehandelt und das vorlegende Gericht dem Gerichtshof zahlreiche Anhaltspunkte für eine solche Abwägung geliefert hat. 205 So U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 129.
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inzwischen vom Umfang her etwas zugenommen hat, bleibt es dabei, dass ein EuGH-Urteil den Leser mangels Argumentation über die grundlegende Motivation der getroffenen Entscheidung im Dunkeln lassen kann. Das veröffentlichte Urteil gibt nicht den Entscheidungsprozess wieder, sondern lediglich in knappen Worten die Gründe dafür, warum die getroffene Entscheidung die juristisch richtige ist206. Die Urteilsbegründung rechtfertigt das Ergebnis, sie gibt aber keinerlei Aufschluss darüber, wie dieses Ergebnis zustande gekommen ist207. Hierzu trägt neben der Kürze der rechtlichen Ausführungen auch bei, dass Abstimmungsergebnisse nicht offengelegt und abweichende Meinungen nicht angefügt werden. Die Urteile sind nichts anderes als das knapp gefasste Ergebnis des Einigungsprozesses zwischen den Richtern, die hinter verschlossenen Türen beraten. In Anbetracht der internationalen Zusammensetzung des Gerichtshofs mit Richtern aus unterschiedlichen Rechtskreisen wird in Luxemburg, ebenso wie in Straßburg, oft kein Einvernehmen über Rechtsfragen bestehen. Gerade in dem sensiblen Bereich der Gewichtung von Grundrechten werden unterschiedliche Auffassungen vorherrschen. Die Urteilsbegründungen des EuGH sind daher Kompromisse, die so formuliert sind, dass sie für alle an der Entscheidung beteiligten Richter vertretbar sind oder zumindest auf die Akzeptanz der größtmöglichen Mehrheit stoßen. Diese Sichtweise macht deutlich, warum gerade die argumentative Untermauerung der Lösung von Rechtsproblemen in den Begründungen als erstes wegfällt: Eine Einigung über das Ergebnis ist oftmals leichter zu erzielen, als eine Einigung über den Weg, der zu diesem Ergebnis führt. Daher werden Argumente, über die in der Beratung gestritten wurde und keine Einigkeit erzielt werden konnte, nicht in die Urteilsbegründung aufgenommen; sie gehen als „arguments diparus“ unter208. 206 J. Bengoetxea/N. MacCormick/L. Moral Soriano, Integration and Integrity in the Legal Reasoning of the European Court of Justice, in: de Bfflrca/Weiler, The European Court of Justice, S. 43, 44: „. . . the published judgments . . . give us . . . something quite other than an account of the process of coming to a view individually or collectively. Instead, they give an account of what makes a decision the right legal decision upon the legal case or question remitted to the Court for decision or answer. That is, they state justifying reasons for what is opined or decided or answered.“ Siehe auch P.-C. Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechte-Charta: Die Europäische Integration als transnationales Gemeinwesen, Integration 2000, S. 34, 42. 207 Nach J. Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, S. 123, hängt die mangelnde Transparenz der Urteile auch damit zusammen, dass der Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht als autonomes Recht versteht und sich seine Auslegungsautorität sichern möchte. Siehe auch den eher ungewöhnlichen Ansatz zur Analyse der Methodik von EuGH-Urteilen bei M. Dederich, Die Methodik des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 2004, S. 345 ff. 208 Der Ausdruck stammt von O. Due, Pourquoi cette solution?, in: FS Everling, S. 273, 274. Nach U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der
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Auf diese Weise entstehen fragmentarische Urteilsbegründungen, in denen Rechtsprobleme vor ihrer Lösung nicht schriftlich ausdiskutiert werden, sondern der Urteilstenor lediglich mit juristischen Feststellungen „unterfüttert“ wird. Die knappe Begründung der EuGH-Urteile und die daraus resultierende Intransparenz des Entscheidungsprozesses sind vielfach auf Kritik gestoßen. Neben einer Weiterentwicklung des Urteilsstils von der französisch-autoritativen Form zu einer argumentativen Form209 werden insbesondere die Einführung von Sondervoten und die Offenlegung der Abstimmungsergebnisse gefordert, um die Urteile verständlicher und nachvollziehbarer zu machen210. Die Grundrechtsrechtsprechung ist von dieser Kritik in besonderer Weise betroffen. Den Entscheidungen zu sensiblen Bereichen gehen oftmals umfassende Abwägungen widerstreitender Interessen Einzelner und der Allgemeinheit voraus, die in den Urteilen keinen Niederschlag mehr finden. Ohne argumentativen Unterbau und die Darstellung der unterschiedlichen Positionen können auch die hinter der Entscheidung stehenden Werte nicht offen gelegt werden, so dass die knappen Begründungen der EuGH-Urteile hier besonders unbefriedigend sind. Der EuGH entscheidet, genauso wie der EGMR, lediglich über den ihm unterbreiteten Fall. In Anbetracht ihrer Kürze und ihres weniger argumentativen als feststellenden Stils liegen die rechtlichen Ausführungen des EuGH allerdings auf einer abstrakteren, weniger einzelfallbezogenen Ebene Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 141, wird in den Beratungen des Gerichtshofs über Einzelheiten der Begründung öfter abgestimmt als über den Tenor und wird über Begründungsteile, die nicht in die Endfassung aufgenommen werden, oft länger gestritten als über die schließlich verabschiedeten Sätze. 209 Vgl. beispielsweise J. Weiler, Epilogue: The Judicial Après Nice, in: de Bfflrca/Weiler, The European Court of Justice, S. 215, 225; B. de Witte, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 882; U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 127, 143. J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371 ff., fordern eine Verstärkung der dogmatischen Ansätze in der Rechtsprechung des EuGH. 210 O. Due, Pourquoi cette solution?, in: FS Everling, S. 273, 275 f., C. McCrudden, The Future of the EU Charter of Fundamental Rights, JMP Nr. 10/01, S. 13, und J. Weiler, a. a. O., S. 225 f., verknüpfen die Forderung nach der Einführung von Sondervoten mit der Forderung nach einer Änderung der richterlichen Amtszeit, die länger als sechs Jahre, dafür aber ohne Wiederwahlmöglichkeit ausgestaltet sein sollte. Auch L. Gormley, Assent and Respect for Judgments: Uncommunautaire Reasoning in the European Court of Justice, in: Liber Amicorum Reich, S. 11, 13, führt an, dass das einheitliche kollektive Urteil eine Garantie für die Unabhängigkeit der Richter von nationaler Einflussnahme und damit für die Autorität des Gerichtshofs sei.
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als die des Menschenrechtsgerichtshofs211. Dazu tragen insbesondere die extensive Praxis der Verweisungen auf vorhergehende Urteile und die gleichzeitig nur sehr kurzen Subsumtionspassagen bei. Darüber hinaus entspricht es dem politischen Selbstverständnis des Gerichtshofs als Hüter der Gemeinschaftsrechtsordnung und – in gewissem Maße – Motor der Integration, seine Urteile auch dazu zu nutzen, allgemeine Regeln aufzustellen. Anders als der EGMR ist er nicht nur subsidiär zuständig, sondern ihm kommt die Aufgabe zu, mit seiner Rechtsprechung die Gemeinschaftsrechtsordnung „zusammen zu halten“. Daher finden sich in seinen Urteilen allgemeine Rechtsprinzipien wie beispielsweise die Grundsätze der direkten Wirkung und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, die über den konkreten Fall hinaus die Rechtsgemeinschaft sichern und die Rechtsordnung weiterentwickeln. c) Die Bedeutung der Schlussanträge der Generalanwälte für die Urteile Die als Rechtsgutachten konzipierten Schlussanträge sind wesentlich ausführlicher als die Urteile. Die Generalanwälte setzen sich argumentativ mit den aufgeworfenen Rechtsfragen eines Falles auseinander, verweisen auf einschlägige Literatur und begründen ihre Positionen auch mit rechtsvergleichenden Ansätzen, die sich in den EuGH-Urteilen nur selten finden. Sofern Gemeinschaftsgrundrechte betroffen sind, finden sich in den Schlussanträgen in der Regel umfassende Abwägungen der kollidierenden Interessen212. Damit kommt den Schlussanträgen eine hohe Bedeutung als Erkenntnisquelle zur Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts zu213. Ihre Bedeutung für die Urteile des Gerichtshofs, insbesondere für die rechtliche Begründung, darf gleichwohl nicht überschätzt werden. Zwar schließt sich der EuGH in der Mehrzahl der Fälle dem generalanwaltlichen Entscheidungsvorschlag an. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass er auch der rechtlichen Begründung des Generalanwalts zustimmt. Die seinem Urteil zugrunde liegende, regelmäßig nicht offen gelegte Argumentation kann trotz gleichen Ergebnisses eine andere sein; die Schlussanträge geben 211 Zu abstrakten und konkreten Begründungsansätzen in den Urteilen des EuGH siehe O. Due, a. a. O., S. 276 ff. 212 Vgl. beispielsweise die umfassende Abwägung zwischen dem Recht auf Leben und der Meinungsfreiheit in den Schlussanträgen von Generalanwalt Van Gerven in der Rs. C-159/90, SPUC, Slg. 1991, S. I-4685, 4723 ff. (Rn. 32 ff. der Schlussanträge). 213 J. Schwarze in: ders., EU-Kommentar, Art. 222 EGV Rn. 4; U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 138. Siehe auch H. Krück in: GTE, Bd. 4, 5. Auflage, Art. 167 EGV Rn. 14: „Da die Schlussanträge mit der Autorität des Amtes ausgestattet sind, können sie Vorrang selbst vor den angesehensten Werken der Literatur beanspruchen.“
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nicht zwangsläufig Aufschluss über die Motive der gerichtlichen Entscheidung214. Zudem nehmen gemäß Art. 27 § 2 der Verfahrensordnung des EuGH an den nicht öffentlichen Beratungen des Gerichtshofs nur die Richter teil, die Generalanwälte hingegen nicht. Ihr Einfluss geht nicht über die Vorlage des Rechtsgutachtens im Vorfeld des Urteils hinaus. Daher ist auch der Vergleich von Schlussanträgen, denen der Gerichtshof nicht folgt, mit abweichenden Richtervoten anderer Gerichtsbarkeiten nicht ganz zutreffend215. Denn die Generalanwälte argumentieren nicht gegen eine Rechtsmeinung, über die im Richterkollegium abgestimmt wurde, sondern fertigen ihr Gutachten alleine und ohne Konterpart an216. Die Bedeutung der Schlussanträge ist eher darin zu sehen, dass sie neben dem Urteil eine zusätzliche Ebene zur Beleuchtung der Sach- und Rechtslage bilden. In der Regel gehören der Generalanwalt und der Berichterstatter im Verfahren verschiedenen Rechtsordnungen an und können unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Auf diese Weise wird eine mehrfache Prüfung der Rechtssache garantiert, auch wenn der Gerichtshof die einzige Instanz ist217. d) Auswirkungen der Sprachenregelungen auf die Urteile Das Problem der Vielzahl der offiziellen Sprachen am EuGH wird für die Luxemburger Richter, die über den Urteilstext entscheiden, durch die inoffizielle Regelung kanalisiert, dass sie über die Urfassung der Urteile in französischer Sprache beraten. Auf diese Weise können innerhalb der Richterschaft keine sprachlichen Missverständnisse aufkommen. Allerdings wird so das Französische gegenüber den anderen Amtssprachen privilegiert, und frankophone Richter sind automatisch im Vorteil218. Auch löst diese Regelung nicht das Übersetzungsproblem. Die Tatsache, dass die Urteile in allen 214 So auch J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371, 379; U. Everling, a. a. O., S. 138. 215 Diesen Vergleich zieht H. Krück in: GTE, Art. 167 EGV Rn. 14. Anders C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 62, der die Richtervoten und die Schlussanträge als „Bestandteile eines arbeitsteiligen Systems“ ansieht. 216 So bleibt auch die vom Berichterstatter vertretene Rechtsauffassung dem Generalanwalt unbekannt. 217 So H. Krück in: GTE, Bd. 4, 5. Auflage, Art. 167 EGV Rn. 13. C. O. Lenz, Das Amt des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof, in: FS Everling, S. 719, 725, sieht das System als „Wettbewerb um die ‚beste‘ Lösung“, da der Generalanwalt keine Vorinstanz, sondern ein dem Spruchkörper gleichrangiges Organ sei. 218 Siehe dazu U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 140, der darauf hinweist, dass die Sprache auch Stil und Denkformen prägt und daher der französische Urteilsstil Eingang in die Praxis des Gerichtshofs gefunden habe.
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Amtssprachen verbindlich sind und in diese übertragen werden müssen, ist von den Richtern bei der Abfassung des Urtextes mit zu berücksichtigen. Die Kürze der Urteile wird unter anderem auch mit dem notwendigen Übersetzungsaufwand zusammenhängen219. Gerade bei komplizierteren Rechtsfragen erweist es sich außerdem als schwierig, die Urteile in „einfacher“ Sprache zu formulieren. Im Widerstreit zwischen einer wortgetreuen Wiedergabe des Urtextes und gut lesbaren Formulierungen in allen Sprachen überwiegt in der Regel das erstgenannte Interesse. Daher sind die Übersetzungen oftmals durch lange, komplizierte Sätze gekennzeichnet220. e) Berücksichtigung der Urteilswirkungen in der Entscheidungsbegründung Die EuGH-Urteile sind in ihren rechtlichen Wirkungen weitreichender als die Feststellungsurteile des EGMR. Der Luxemburger Gerichtshof kann Gemeinschaftsrechtsakte gemäß Art. 230, 231 EGV mit Wirkung erga omnes für nichtig erklären. Stellt er im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV die Ungültigkeit von Gemeinschaftsrecht fest, so kommt seinen Urteilen ebenfalls Bindungswirkung über das Ausgangsverfahren hinaus zu, d. h. die entsprechenden Bestimmungen sind von mitgliedstaatlichen Gerichten und Behörden sowie von Gemeinschaftsorganen nicht mehr anzuwenden221. Die Regelungen über die Zwangsvollstreckung in Art. 244 in Verbindung mit Art. 256 EGV, die auf die mitgliedstaatlichen Vollstreckungsverfahren verweisen, betreffen nur Urteile, die Zahlungsverpflichtungen auferlegen oder sonstige Leistungsverpflichtungen enthalten. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde dem EuGH erstmalig in Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 228 Abs. 2 Unterabs. 3 EGV die Möglichkeit eingeräumt, selber Zwangsgelder zu verhängen, sofern ein Mitgliedstaat seinem Urteil nicht nachkommt222. 219 C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 59 f. 220 Vgl. U. Everling, a. a. O., S. 137 mit Fn. 45. Nach Aussage des lettischen EuGH-Richters Levits würde „jeder lettische Student . . . durchfallen, wenn er in der Prüfung einen Urteilsentwurf so schreiben würde wie der EuGH“, zitiert nach FAZ vom 25.4.2006, S. 41, „Vorverpackt“ von A. Kemmerer. 221 Vgl. zur rechtlichen Bindung von Urteilen in Vorabentscheidungsverfahren B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 234 EGV Rn. 36 ff. Zu den Durchsetzungsmechanismen des Gemeinschaftsrechts siehe auch W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 146. 222 Dazu P. Karpenstein/U. Karpenstein in: Grabitz/Hilf, Art. 228 EGV Rn. 18 ff. Nach C. Kakouris, La Cour de Justice des Communautés européennes comme Cour Constitutionnelle: Trois Observations, in: FS Everling, S. 629, 639, ist die Einfügung dieser Sanktionsvorschrift in den EG-Vertrag Zeichen der Autorität und des Respekts, den die Mitgliedstaaten dem EuGH entgegenbringen. G. C. Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht,
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Den Urteilen des EuGH wohnt somit von vornherein eine größere Wahrscheinlichkeit inne, dass sie befolgt werden. Dies hängt wiederum mit der Eigenschaft der EG als Rechtsgemeinschaft zusammen. Anders als nach dem völkerrechtlichen System der Menschenrechtskonvention können die EuGH-Urteile gestaltend wirken. Dort, wo den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Richterspruchs ein Spielraum belassen ist – vor allem im Vertragsverletzungsverfahren –, hat der Gerichtshof inzwischen die Möglichkeit, Sanktionen bei Nichtbefolgung zu verhängen. Folglich ist er weniger als der Menschenrechtsgerichtshof darauf angewiesen, seine Urteilsbegründungen so zu formulieren, dass sie – sozusagen nachträglich – auf Akzeptanz seitens der Mitgliedstaaten stoßen223. Auch auf diese Weise erklären sich möglicherweise die Kürze der Begründungen und die geringe Auseinandersetzung mit juristischen Argumenten. Gleichwohl wird der EuGH bei der Formulierung seiner Urteile auch einen gewissen politisch motivierten Pragmatismus walten lassen, um auf diese Weise die Durchschlagskraft des Gemeinschaftsrechts zu erhöhen224. 5. Auslegungsmethoden und grundlegende Prinzipien in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH Auch für den Luxemburger Gerichtshof soll differenziert werden zwischen den Auslegungsmethoden, die generell der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der anzuwendenden Rechtsnormen dienen, und den Anwendungsprinzipien, mit Hilfe derer er die konkreten Fälle entscheidet. Auf die abstrakten Auslegungsmethoden ist dabei nur kurz einzugehen. Zwar bedient sich der EuGH in seiner Rechtsprechung bestimmter gemeinschaftsspezifischer Auslegungsmethoden. Diese sind aber nicht speziell auf grundrechtliche Fragestellungen zugeschnitten, sondern gelten für das gesamte Spektrum des Gemeinschaftsrechts. Für den Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte haben sie daher nur mittelbare Aussagekraft, insbesondere aufEuR 1992, S. 225, 243, bezweifelt, dass die Vorschrift die verfassungsgerichtliche Rolle des Gerichtshofs tatsächlich verstärken kann. 223 C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 71 f., merkt allerdings an, dass die Befolgung der Rechtsprechung durch die Mitgliedstaaten entscheidend von deren Einsicht in die Transparenz der juristischen Methodik abhänge. Der Gerichtshof befände sich im Spannungsfeld zwischen Integrationsunterstützung und -vorantreiben einerseits und Rücksicht auf die Mitgliedstaaten und ihre Folgebereitschaft andererseits. 224 Vgl. C. Kakouris, La Cour de Justice des Communautés européennes comme Cour Constitutionnelle: Trois Observations, in: FS Everling, S. 629, 638: „La facon dont les arrêts sont recus par les Etats Membres, les juridictions nationales et la doctrine dépend de la sagesse et du pragmatisme de la Cour lorsqu’elle rend ses arrêts.“
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grund der Tatsache, dass die verbindlich geltenden Gemeinschaftsgrundrechte bisher ungeschriebenes Recht sind, das den klassischen Auslegungsmethoden nur eingeschränkt zugänglich ist225. Die Anwendungsprinzipien beziehen sich dagegen direkt auf die Lösung konkreter Grundrechtsfragen. Hierzu gehören in der Rechtsprechung des EuGH insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Wesensgehaltsgarantie. Ein der Lehre vom Beurteilungsspielraum des EGMR vergleichbares Prinzip spielte lange Zeit keine Rolle in der Grundrechtsjudikatur des EuGH, wird inzwischen aber auch hier in einigen Fällen zur Anwendung gebracht. a) Spezifische Auslegungsmethoden des Luxemburger Gerichtshofs Die Europäische Gemeinschaft findet als zwischen Staaten geschlossener Vertrag ihren Ursprung im Völkerrecht. Der EuGH hat das Gemeinschaftsrecht gleichwohl mit der grundlegenden Entscheidung Costa/ENEL vom Völkerrecht losgekoppelt und seither als eigenständige Rechtsordnung angesehen226. Folglich nimmt er in seinen Urteilen auch nicht auf die klassischen völkerrechtlichen Auslegungsmethoden Bezug, wie sie in der Wiener Vertragsrechtskonvention niedergelegt sind. Seine Interpretationsmethoden gleichen vielmehr grundsätzlich denen der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten227. Die Schwerpunkte der Auslegung stimmen allerdings nicht mit der Methodik im nationalen Recht überein. Hier setzt der Gerichtshof im Hinblick auf die Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung eigene Akzente. aa) Einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts als Leitmotiv der Rechtsprechung – Integration als übergeordnetes Ziel Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zieht sich als Leitmotiv die Sorge um die materielle Einheit des Gemeinschaftsrechts und die Einheitlichkeit seiner Anwendung in den Mitgliedstaaten228. Dieser Gedanke liegt 225 Zu den methodischen Besonderheiten, die sich daraus ergeben, dass der Gerichtshof die Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze auf der Basis des Art. 220 EGV herausgearbeitet hat, siehe oben 2. Teil, B. I. 1. 226 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1251, Rn. 8 ff. Zum Streit zwischen „Traditionalisten“ und „Autonomisten“ um die Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts siehe R. Streinz, Europarecht, Rn. 118 ff. 227 I. Pernice/F. Mayer in: Grabitz/Hilf, Art. 220 EGV Rn. 42. Anders A. Bleckmann, Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, S. 1177, 1181, nach dem der EuGH „weitgehend den ‚herkömmlichen‘ Auslegungsmethoden des Völkerrechts“ folge.
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den vom Gerichtshof selbst entwickelten Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts, insbesondere Vorrang und unmittelbarer Wirkung, zugrunde und war auch ausschlaggebend für die Herausarbeitung eigener Grundrechte auf Gemeinschaftsebene als allgemeine Rechtsgrundsätze. Das Prinzip der Rechtseinheit prägt den Charakter der EG als Rechtsgemeinschaft insgesamt und findet daher auch Niederschlag in den Auslegungsmethoden des EuGH. So legt der EuGH um der einheitlichen Anwendung willen die Begriffe des Gemeinschaftsrechts autonom aus und bestimmt sie nicht unter Rückgriff auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten229. Hierin gleicht seine Rechtsprechung der des Straßburger Gerichtshofs, der die Konventionsbegriffe ebenfalls autonom auslegt. Während der Menschenrechtsgerichtshof mangels Regelungsumfelds auf EMRK-Ebene die betreffenden Bestimmungen aber nur in einem relativen Sinne eigenständig auslegen kann und teilweise auf den Rückgriff auf nationale Begrifflichkeiten angewiesen ist, spielt die autonome Auslegung für den Luxemburger Gerichtshof eine noch bedeutendere Rolle. Ihm geht es nicht nur darum, einen Mindeststandard in einem bestimmten Bereich zu gewährleisten. Er sieht seine Aufgabe vielmehr wesentlich weitergehend darin, die Gemeinschaftsrechtsordnung als umfassende und integrierte Rechtsordnung zu etablieren. Eine eigenständige Auslegung der Rechtsbegriffe ist unumgängliches Mittel zu diesem Zweck. Auf nationale Vorschriften und Begrifflichkeiten greift er nur zurück, sofern das Gemeinschaftsrecht ausdrücklich oder implizit darauf verweist230. In allen anderen Fällen legt er den Begriffen eine originär gemeinschaftsrechtliche Bedeutung zugrunde, was ihm mit fortschreitendem Stadium der Integration aufgrund des inzwischen breiten Zuständigkeitsspektrums der Gemeinschaft erleichtert wird. Einer solchen eigenständigen Auslegung im weiteren Sinne bedient er sich auch im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte: Inhalt, Reichweite und Schranken der Grundrechte werden eigenständig festgelegt und weder aus einer bestimmten mitgliedstaatlichen Rechtsordnung noch aus der EMRK direkt übernommen231. Dementsprechend findet auch ein am Standard der Rechtserkenntnisquellen orientiertes Schema 228
Vgl. I. Pernice/F. Mayer in: Grabitz/Hilf, Art. 220 EGV Rn. 27. Aus der Rechtsprechung siehe beispielsweise EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 14; Gutachten 1/91, Slg. 1991, S. I-6079, Rn. 21 ff.; Rs. C-228/92, Roquette Frères, Slg. 1994, S. I-1445, Rn. 20. 229 Siehe beispielsweise EuGH, Rs. 66/85, Lawrie Blum, Slg. 1986, S. I-2121, Rn. 16 (Begriff der öffentlichen Verwaltung in Art. 39 Abs. 4 EGV); verb. Rs. 115 und 116/81, Adoui, Slg. 1982, S. 1665, Rn. 5 ff.; Rs. 64/81, Cormann, Slg. 1982, S. 13, Rn. 8. 230 So EuGH, Rs. 327/82, Ekro, Slg. 1984, S. 107, Rn. 11. 231 Zu Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte siehe oben 2. Teil, B. I. 2. und 3.
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eines Minimal- oder Maximalstandards keine Anwendung. Dies schließt allerdings nicht aus, dass Grundrechte auf Gemeinschaftsebene und mitgliedstaatlicher Ebene nicht übereinstimmen können. Eine enge innere Verbindung besteht zwischen dem Streben nach Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts und dem Integrationsgedanken. Die einheitliche Rechtsanwendung ist notwendige Voraussetzung für eine vertiefte Integration. Je strikter diese Einheitlichkeit durchgesetzt wird, desto schneller und intensiver kann auch die Integration voranschreiten. Der Gedanke der Integration lässt sich insofern ebenfalls als leitender Parameter der EuGH-Rechtsprechung einordnen232. Er liegt jedoch auf einer anderen Ebene als das Prinzip der Rechtseinheitlichkeit: Letzteres ist ein „Nahziel“, das der Gerichtshof unmittelbar mit seiner Rechtsprechung verfolgt, die Integration hingegen ist ein übergeordnetes „Fernziel“, das nur indirekt, auf dem Umweg über verschiedene Nahziele, insbesondere vermittels der Rechtseinheitlichkeit, erreicht werden kann. Daher wirkt sich der Integrationsgedanke auch nicht direkt auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof aus, sondern spiegelt sich nur mittelbar darin wider. Er bestimmt in der Regel weniger den eigentlichen Inhalt eines Urteils als dass er bei der Interpretation der einschlägigen Normen im Hinblick auf die Auswirkungen im Umfeld des Urteils mitgedacht wird. Es handelt sich um ein stark kontextbezogenes Motiv, das auf einer rechtspolitischen Ebene anzusiedeln ist. bb) Herausragende Bedeutung der teleologischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht – „effet utile“ Unter den klassischen Auslegungsmethoden kommen im Gemeinschaftsrecht der grammatikalischen und der historischen Auslegung eine im Vergleich zum nationalen Recht geringere Bedeutung zu. Der Wortlaut kann bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts wegen der Existenz und prinzipiellen Gleichrangigkeit der verschiedenen Sprachfassungen der Normen nur eingeschränkt berücksichtigt werden. Schlüsse können hieraus nur gezogen werden, sofern der Wortlaut der Vorschriften zunächst sprachver232 Ausführlich hierzu, insbes. zu den Auswirkungen auf Argumentations- und Auslegungsmethoden des EuGH J. Bentoetxea/N. MacCormick/L. Moral Soriano, Integration and Integrity in the Legal Reasoning of the European Court of Justice, in: de Bfflrca/Weiler, The European Court of Justice, S. 43 ff., insbes. S. 48: „Integrity in the Community context . . . ties closely in to integration. For the integration of Member States together in an ever closer union of peoples, and the integration of Member States’ law with Community law, are omnipresent driving values ascribed by the Court, but not only the Court, to the whole Treaty scheme, and thus to the interpretation of Community law.“ Siehe auch J. Schwarze, Das Recht als Integrationsinstrument, in: Liber Amicorum Pescatore, S. 637 ff.
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gleichend betrachtet und auf die gemeinschaftsrechtlichen Besonderheiten der Begriffe Rücksicht genommen wird233. Dass der Luxemburger Gerichtshof der historischen Auslegung keine große Bedeutung zumisst, hängt in Bezug auf das Primärrecht mit der Unzugänglichkeit der Materialien zu den Gründungsverträgen, aber auch mit der dynamischen Natur des Gemeinschaftsrechts zusammen234. Ebenso wie der Straßburger Gerichtshof im Hinblick auf die EMRK-Rechte berücksichtigt der EuGH bei der Auslegung von Rechtsvorschriften den evolutiven, nicht-statischen Charakter des Gemeinschaftsrechts235. Die Auslegung unter Rückgriff auf den systematischen Zusammenhang einer Vorschrift spielt in der Rechtsprechung des EuGH eine der Methodik im nationalen Recht vergleichbare Rolle, wobei auch hier gilt, dass sich die Systematik mangels durchgängiger und vollständiger Regelungen einzelner Bereiche als unzureichend zur Sinnermittlung erweisen kann. In Anbetracht der begrenzten Einsatzmöglichkeit insbesondere der grammatikalischen und historischen Auslegung spielt die teleologische Interpretation eine herausragende Rolle in der Rechtsprechung des EuGH236. Durchgängig dienen dem Gerichtshof die allgemeinen Vertragsziele der Gründungsverträge als Auslegungsmaßstab, wenn er den Sinngehalt gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften zu ermitteln hat237. Nach Art. 2 und 3 EGV sind es vor allem die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes, die als übergeordnete Zielvorgaben bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind. Auch bei der Ermittlung des konkreten Ziels einer Einzelbestimmung bezieht der Gerichtshof in der Regel diese allgemeinen Ziele in seine Überlegungen mit ein238. Wichtigste Ausprägung der teleologischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht ist die Orientierung am effet utile der auszulegenden Vorschrift. Mit dieser Argumentationsfigur, die in der deutschen Fassung der EuGH-Urteile entweder mit dem französischen Begriff bezeichnet oder mit „nützlicher 233
Vgl. B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 220 EGV Rn. 12; I. Pernice/F. Mayer in: Grabitz/Hilf, Art. 220 EGV Rn. 42. Ausführlich zur Wortlautauslegung des EuGH J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 145 ff. 234 J. Schwarze in: ders., EU-Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 28. 235 Dazu A. Bleckmann, Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, S. 1177, 1180. 236 Kritisch hinsichtlich der starken Fokussierung des EuGH auf die teleologische Auslegung im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft K. Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, S. 2185, 2189. 237 Vgl. dazu die Verweise bei J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 208 ff. (mit Fn.). 238 Vgl. J. Anweiler, a. a. O., S. 214 f.
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Wirkung“ oder „praktischer Wirksamkeit“ übersetzt wird239, greift der EuGH auf ein aus der Völkerrechtslehre entliehenes Auslegungskriterium zurück. Der Normcharakter der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts soll ernst genommen und die mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziele sollen möglichst effektiv zur Geltung gebracht werden240. Dies impliziert, dass die in der Vorschrift getroffene Grundentscheidung zu beachten ist, während die mit Rücksicht auf andere Interessen vorgesehenen Ausnahmen grundsätzlich eng auszulegen sind241. Hinter dieser Argumentationsfigur steht wiederum der Gedanke der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass der EuGH das Argument des effet utile hauptsächlich in Fällen einsetzt, in denen es um die Sicherung bestehenden Gemeinschaftsrechts gegen Gefährdungen durch nachlässigen Vollzug seitens der Mitgliedstaaten geht242. Bei der Verwendung der Argumentationsfigur des effet utile durch den Luxemburger Gerichtshof ist eine grundlegende Unterscheidung zu der oben aufgezeigten effektiven Auslegung durch den Menschenrechtsgerichtshof zu treffen, auch wenn die Auslegungsmethode in beiden Fällen auf den völkerrechtlichen Effektivitätsgrundsatz243 zurückzuführen ist: Der EGMR legt effektivitätssichernd aus, um den Konventionsgarantien zu größtmöglicher Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit zu verhelfen. Die Effektivität ist allein gerichtet auf die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte. Der EuGH hingegen setzt den effet utile ein, um die Gemeinschaftsrechtsordnung als Ganzes zu sichern und fortzuentwickeln. Das Ergebnis dieser Auslegungsmethode im Hinblick auf den Grundrechtsschutz ist daher differenziert zu betrachten: Der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz wurde ins239 Zur Kontroverse um das Maastricht-Urteil des BVerfG, in dem der effet utile unter Verweis auf ein falsches Zitat von Zuleeg mit „Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse“ übersetzt und als übertrieben integrationistisch verurteilt wurde (BVerfGE 89, 155, 210), siehe U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127, 128 (mit Fn. 12). Zur Anwendung des effet utile in der EuGH-Rechtsprechung im Einzelnen siehe R. Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: FS Everling, S. 1491 ff. 240 B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 220 EGV Rn. 15. 241 Siehe z. B. EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 36; verb. Rs. 2 und 3/62, Lebkuchenabgabe, Slg. 1962, S. 867, 881. 242 R. Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: FS Everling, S. 1491, 1506, der den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbare Geltung von Normen sowie die unmittelbare Richtlinienwirkung und den gemeinschaftlichen Staatshaftungsanspruch nennt. Siehe im Einzelnen zur EuGH-Rechtsprechung auch J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 219 ff. 243 Dazu J. Anweiler, a. a. O., S. 121 f.
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besondere zur Sicherung von Vorrang und direkter Wirkung des Gemeinschaftsrechts etabliert und hat insoweit zunächst vom Prinzip der Rechtseinheitlichkeit und damit auch vom effet utile profitiert. Die teleologische Argumentation kann sich allerdings im Einzelfall auch gegen den grundrechtlichen Individualschutz richten, wenn die Vertragsziele – d. h. in erster Linie die Binnenmarktausrichtung – die Reichweite eines Grundrechts und möglicher Eingriffe maßgeblich determinieren. Die Gemeinschaftsgrundrechte werden geprägt durch den Kontext der Rechtsordnung, was der Gerichtshof mit den Worten zum Ausdruck bringt, ihre Gewährleistung müsse sich „in Struktur und Ziele der Gemeinschaft einfügen“244 oder sie seien „im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion“ und den „dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft“ zu sehen245. Diese Prägung durch eine betont zweck- und zielorientierte Auslegung kann unter Umständen zu einer Freiheitsverkürzung des Einzelnen führen246. Damit kann die Verwendung der gleichen Auslegungsmethode aufgrund des unterschiedlichen Kontextes bei beiden Gerichtshöfen zu gegenläufigen Ergebnissen führen. b) Leitprinzipien der Grundrechtsrechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs In der Grundrechtsjudikatur des EuGH spielt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Leitprinzip der Entscheidungsfindung eine sehr wichtige Rolle. Mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verschränkt prüft der Gerichtshof regelmäßig die Wesensgehaltsgarantie als äußerste Grenze eines möglichen Grundrechtseingriffs. Die Art und Weise der Verhältnismäßigkeitsprüfung weist deutliche Unterschiede zu der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs auf. Ermessen bzw. Beurteilungsspielräume des jeweils hoheitlich Handelnden – der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten – werden vom EuGH im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf unterschiedliche Weise berücksichtigt. In einigen Urteilen aus jüngster Zeit überträgt er die Lehre von der margin of appreciation auf den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz. 244 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4. 245 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00, Booker Aquaculture, Slg. 2003, S. I-7411, Rn. 68. 246 Vgl. zur Integrationsfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte im Binnenmarkt oben 1. Teil, B. III. 2. c). Siehe auch J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 63 f., nach dessen Ansicht der EuGH bei dieser „gemeinschaftseigenen Wertung“ sehr weitreichende Formulierungen herangezogen hat, ohne dabei zwingend auf den gleichen „Verfassungs“-Rang der die Grundrechte formenden Ziele zu achten.
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aa) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt im Gemeinschaftsrecht als objektives Rechtsprinzip, das bei jedem Handeln der Gemeinschaftsorgane bzw. der mit der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts betrauten oder in seinem Anwendungsbereich handelnden Mitgliedstaaten zu beachten ist247. In dieser Funktion findet er unabhängig vom Bestehen oder Betroffensein individueller Rechtspositionen Anwendung. Für die Gemeinschaftsgrundrechte ergibt sich die besondere subjektive Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes daraus, dass er die Grenze möglicher Eingriffe in die Rechte markiert248. Mangels kodifizierter Schrankenregelungen, an denen sich der EuGH bei der Überprüfung eines Grundrechtseingriffs orientieren könnte, sind die entscheidenden Vorgaben für eine Abwägung zwecks Ausgleichs kollidierender Rechtsgüter dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu entnehmen. Auch die Grundrechte-Charta enthält keine ausdifferenzierten Schrankenregelungen für die einzelnen Rechte, sondern regelt in Art. 52 allgemein und übergreifend die Tragweite der garantierten Rechte und verweist für den Bereich der Eingriffsrechtfertigung im Wesentlichen auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz249. Während der Menschenrechtsgerichtshof den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Abwägungsmaxime originär aus dem System der Konvention selbst und insbesondere aus verschiedenen Formulierungen in den Konventionsgarantien herleitet, hat der EuGH den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für seine Grundrechtsrechtsprechung zunächst vorgeformt aus dem mitgliedstaatlichen Bereich übernommen250. Eine Anpassung des Grundsatzes 247 Die mit dem Vertrag von Maastricht durchgeführte Kodifizierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 5 Abs. 3 EGV erfasst daher nur einen Teilausschnitt dessen, was das als ungeschriebener Rechtsgrundsatz geltende Verhältnismäßigkeitsprinzip beinhaltet. Art. 5 Abs. 3 EGV ist lediglich an die Gemeinschaft, nicht aber an die Mitgliedstaaten, die Gemeinschaftsrecht umsetzen, adressiert. Zudem enthält die Vorschrift nur die nach deutscher Systematik „zweite Stufe“ der Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form der Erforderlichkeit, ist also auch in inhaltlicher Hinsicht nur ein Teilausschnitt. Umfassend zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht die Untersuchung von O. Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. 248 Zur hybriden Natur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als objektives und subjektives Prinzip des Gemeinschaftsrechts siehe oben 2. Teil, B. II. 2. b). 249 Gemäß Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh dürfen Einschränkungen der Rechte „unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit . . . nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“. Der Verweis auf die Zielsetzungen der Gemeinschaft ist in seiner Allgemeinheit wiederum konkretisierungsbedürftig, was letztlich eine Aufgabe der Rechtsprechung ist.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
an die Besonderheiten des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes hat er erst nach und nach vorgenommen, und es sind auch weiterhin Entwicklungsschritte zu verzeichnen. Das fallweise Vorgehen und die nicht immer konsistente Rechtsprechung auf diesem Gebiet erschweren es, allgemeine Aussagen über die Ausformung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Grundrechtsjudikatur des Luxemburger Gerichtshofs zu treffen. Hinzu kommt, dass sich Unterschiede in der Anwendung des Grundsatzes ergeben je nachdem, welcher inhaltliche Bereich betroffen ist, und je nachdem, ob der Gerichtshof eine gemeinschaftliche oder eine mitgliedstaatliche Maßnahme auf ihre Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten überprüft. Die materiellen Anforderungen, die der EuGH zunächst abstrakt im Rahmen der Grundrechtsprüfung aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ableitet, lassen sich weitgehend auf die im deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht entwickelten Vorgaben zurückführen251. Sie sind im Laufe der Rechtsprechung des EuGH umfangreicher geworden und schärfer konturiert worden252. Während der Gerichtshof sich zunächst nur auf Teilaspekte des Prinzips bezog, stellte er in dem Urteil Schräder fest, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf Ebene des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes ebenfalls grundsätzlich in drei Schritten nach Geeignetheit einschließlich der Feststellung des legitimen Zwecks, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu prüfen ist253. Zwischen dieser theoretischen Anerkennung und abstrakten Ausformung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf Gemeinschaftsrechtsebene und seiner praktischen Umsetzung in Grundrechtsfällen besteht indes eine Diskrepanz. 250 Dies gilt für den ausdifferenzierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Grundrechtsbereich. Als objektiven Maßstab für die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten hat der EuGH das Verhältnismäßigkeitsprinzip bereits 1956, also dreizehn Jahre vor dem ersten Urteil zu den Gemeinschaftsgrundrechten, im Urteil Fédéchar herangezogen, vgl. EuGH, Slg. 1955/1956, S. 297, 311. 251 Zur dogmatischen und terminologischen Herleitung aus der deutschen Rechtsordnung vgl. U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000. S. 380, 383 f.; T. v. Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 2003, S. 393, 395. 252 Diese Entwicklung wird nachgezeichnet von E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033, 1035 f. 253 EuGH, Rs. 265/87, Slg. 1989, S. I-2237, Rn. 21: „Nach diesem Grundsatz sind Maßnahmen, durch die den Wirtschaftsteilnehmern finanzielle Belastungen auferlegt werden, nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.“
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Trotz der dem deutschen Recht gleichartigen Ausformung wendet der EuGH, anders als das Bundesverfassungsgericht, den Grundsatz in seiner Grundrechtsjudikatur nicht regelmäßig in der ausdifferenzierten Form mit einer Prüfung aller drei Stufen, gipfelnd in einer umfassenden Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter, an. Andererseits geht er auch nicht wie der Menschenrechtsgerichtshof vor, der nach Feststellung des legitimen Zwecks einer grundrechtsbeschränkenden Maßnahme unmittelbar die Rechtsgüterabwägung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung vornimmt. Der EuGH folgt auch keinem sonstigen gleichbleibenden Schema, sondern variiert die Art seiner Verhältnismäßigkeitskontrolle von Fall zu Fall. Dies führt zwangsläufig dazu, dass auch die Intensität der Kontrolle ganz unterschiedlich sein kann. Eine einheitliche Dogmatik ist trotz der abstrakten Festlegung des Gerichtshofs auf die dreistufige Prüfung bisher kaum zu erkennen. Dies lässt sich auch auf den Status der Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze zurückführen. Ein feststehender, geschriebener Katalog von Rechten mit bestimmten festgelegten Merkmalen erleichtert es einem Gericht, das Rechtsgebiet auch dogmatisch einheitlich zu unterlegen und durchzustrukturieren. Die Gemeinschaftsgrundrechte haben bislang keine fest umschriebenen Schutzbereiche, und der EuGH hat ihnen auch in seiner Rechtsprechung keine präzisen Konturen verliehen. Dies zeitigt auch Auswirkungen auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung und führt dazu, dass die diesbezügliche Prüfung oft nicht in direkter Anknüpfung an ein konkretes Grundrecht, sondern losgelöst durchgeführt wird254. Die Verhältnismäßigkeit wird generell für alle erfolgten Eingriffe geprüft, ohne dass eine spezifische Anpassung je nach betroffenem Grundrecht erfolgt255. Auch wenn eine einheitliche dogmatische Linie nicht ersichtlich ist, sind der EuGH-Rechtsprechung doch bestimmte Differenzierungen im Hinblick auf die jeweils zu entscheidenden Fallkonstellationen zu entnehmen, die zumindest grobe Leitlinien bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erkennen lassen. So ist bei der Prüfung der Vereinbarkeit gemeinschaftlicher Maßnahmen mit wirtschaftsbezogenen Grundrechten – also im eigentlichen Kernbereich der auf den Binnenmarkt ausgerichteten Euro254
Vgl. E. Stieglitz, Allgemeine Lehre im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 143: „Werden die Schutzbereiche der Grundrechte nicht klar abgegrenzt, büßen die Schranken und SchrankenSchranken erheblich von ihrer Wirkungskraft ein.“ 255 Vgl. als Beispiel nur das Urteil zur Bananenmarktordnung, EuGH, Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 88 ff., wo der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit erst im Anschluss an die Grundrechte prüft. Siehe dazu E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 142; T. v. Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 2003, S. 393, 395.
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päischen Gemeinschaft – eine starke Zurückhaltung des Gerichtshofs zu verzeichnen. Der Gerichtshof betont in seinen Entscheidungen immer wieder die funktionell-rechtlichen Grenzen seiner Rechtsprechung insbesondere im Verhältnis zum Gemeinschaftsgesetzgeber256. Die Rechtfertigungsprüfung endet in diesem Bereich oft bei der Bestimmung des den Eingriff legitimierenden Ziels und der Feststellung, dass die dazu ergriffenen Maßnahmen nicht offensichtlich ungeeignet waren. Eine Erforderlichkeitsprüfung wird nur teilweise, eine Angemessenheitsprüfung in der Regel nicht mehr vorgenommen257. Als Beispiel für eine derartige Zurücknahme der grundrechtlichen Kontrolldichte wird immer wieder das Urteil zur Bananenmarktordnung angeführt. Der Gerichtshof begründet hier seine Zurückhaltung damit, dass er „nicht die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung ersetzen“ könne258. Dies hat zur Konsequenz, dass den wirtschaftsbezogenen Grundrechten der Berufsund Eigentumsfreiheit gegenüber Maßnahmen der Gemeinschaft nur geringe Durchschlagskraft zukommen kann259. Diese Rechtsprechung ist in der Literatur auf harsche Kritik gestoßen. Negativ im Hinblick auf die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene wird insbesondere bewertet, dass der EuGH die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme lediglich im Wege einer Globalabwägung zwischen Vor- und Nachteilen überprüfe. Es fehle eine einzelfallbezogene Gewichtung der grundrechtlich geschützten Rechtsposition und des entgegenstehenden Allgemeininteresses sowie eine Feststellung der Eingriffsintensität, so dass eine differenzierte Abwägung zwischen den betroffenen Interessen nicht möglich sei. Dies könne sich letztlich zu Lasten des individuellen Grundrechtsschutzes auswirken260. Auch wird kritisiert, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf diese Weise auf eine reine Evidenzkontrolle reduziert werde, so dass der 256
So T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 74. Nach T. v. Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 2003, S. 393, 395 f., reduzieren EuGH und EuG vor allem in jüngerer Zeit das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf die Prüfung von Geeignetheit und Erforderlichkeit, ohne eine Abwägung vorzunehmen. Siehe aber auch U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380, 396, 402, der anführt, dass sich der EuGH in seinen Urteilen oft an den von den Parteien vorgegebenen Problemschwerpunkten orientiere und deswegen die Verhältnismäßigkeit nicht immer komplett auf allen drei Stufen durchprüfe. 258 EuGH, Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 94. 259 Tatsächlich gibt es bislang, soweit ersichtlich, keinen Fall, in dem eine Berufung auf diese beiden Grundrechte gegenüber Gemeinschaftsmaßnahmen erfolgreich gewesen wäre, vgl. T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 74. 260 So insbesondere M. Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106 f., der durch das Bananenmarkturteil die Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards in der EG in Frage gestellt sieht. Siehe außer257
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Gemeinschaftsgesetzgeber über eine nahezu „gerichtsfreie“ Einschätzungsprärogative verfüge261. Die Kritik erscheint insofern berechtigt, als eine gerichtliche Kontrolle am Maßstab der Verhältnismäßigkeit tatsächlich nur sinnvoll ist, wenn das Prinzip in Bezug zu den konkret betroffenen Rechtspositionen gesetzt wird. Beschränkt sich der Gerichtshof auf abstrakte Wertungen, kann er den Besonderheiten jedes einzelnen Falls nicht gerecht werden. Eine Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle unter Berücksichtigung individueller Besonderheiten eines Grundrechtseingriffs ist daher wünschenswert. Andererseits ist aber auch ein gewisses Maß an richterlicher Zurückhaltung gegenüber der Legislative angebracht262, zumal es sich dabei um eine bewusste Entscheidung des Luxemburger Gerichtshofs zu handeln scheint, denn in anderen Bereichen weisen seine Grundrechtsurteile – insbesondere in den letzten Jahren – eine höhere Kontrolldichte auf. Im Bereich komplexer wirtschaftlicher Maßnahmen, die hinsichtlich ihrer Wirkungen häufig einen Unsicherheitsfaktor aufweisen, wie beispielsweise bei gemeinsamen Marktordnungen, hält sich der Gerichtshof bei Grundrechtsfragen mit der Verhältnismäßigkeitskontrolle zurück263, während er bei Entscheidungen außerhalb der wirtschaftsbezogenen Grundrechte einen schärferen Maßstab zugrunde legt264. Ebenfalls vermindert der EuGH bewusst die Kontrolldem die umfangreichen Verweise bei T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 74, Fn. 212. 261 T. v. Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 1993, S. 393, 397; ähnlich G. Berrisch, Zum „Bananen“-Urteil des EuGH vom 5.10.1994, EuR 1994, S. 461, 467. 262 So auch E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033, 1040; T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 75, der den Rahmencharakter der Grundrechte und die notwendige Konturierung im einfachen Recht betont. 263 Vgl. dazu nur das Urteil zur Bananenmarktordnung, EuGH, Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 91: „Diese Einschränkung der Kontrolle des Gerichtshofes ist insbesondere dann geboten, wenn sich der Rat veranlasst sieht, bei der Verwirklichung einer gemeinsamen Marktorganisation einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen und auf diese Weise im Rahmen der in seine eigene Verantwortung fallenden politischen Entscheidungen eine Auswahl zu treffen.“ U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 ff., vertritt die Meinung, dass zwischen der Prüfdichte des EuGH und des BVerfG in Bezug auf wirtschaftspolitische Maßnahmen beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine grundlegenden Unterschiede bestünden. Ähnlich auch M. Hilf/S. Hörmann, Der Grundrechtsschutz von Unternehmen im europäischen Verfassungsverbund, NJW 2003, S. 1, 6. Siehe zur Ermessenskontrolle des EuGH und den unterschiedlichen Spielräumen auch E. Pache, Die Kontrolldichte in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, DVBl. 1998, S. 380, 384 ff.
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dichte, wenn er mitgliedstaatliche Maßnahmen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, die nicht nur rein vollziehender Natur sind, auf ihre Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten überprüft. Sofern es sich dagegen nur um den Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben handelt, wird detaillierter überprüft und ein dementsprechend härterer Maßstab angelegt265. Die grundrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung des Gerichtshofs ist also je nach Inhalt und Herkunft der Maßnahme differenziert zu betrachten. Insgesamt ist die Luxemburger Rechtsprechung in dieser Hinsicht weniger konsistent und damit auch weniger nachvollziehbar als die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs. Die Straßburger Richter arbeiten in ihren Urteilen die jeweiligen Umstände des Einzelfalls stärker heraus, um sie ihrer Abwägung zugrunde zu legen. Dies tritt beim EuGH jedenfalls in den schriftlich ausformulierten Urteilsgründen weniger zutage. Die Kritik aus dem Schrifttum an der EuGH-Judikatur erscheint allerdings zum Teil zu stark verallgemeinernd. Von einigen Urteilen, die tatsächlich eine zu geringe Kontrolldichte aufweisen, wird auf eine generell mangelhafte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips geschlossen. Auch wird der typische knappe Urteilsstil des EuGH zu wenig in Betracht gezogen266. Zudem zeigt sich in der neueren Grundrechtsrechtsprechung eine Tendenz hin zu einer detaillierteren Begründung und damit auch zu einer umfangreicheren Verhältnismäßigkeitsprüfung mit einer echten einzelfallbezogenen Abwägung der betroffenen Rechtspositionen267. Im Bereich der Überprüfung mitglied264 Dazu T. Kingreen in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rn. 75, 106, unter Verweis auf EuGH, Rs. C-404/92 P, X/Kommission, Slg. 1994, S. I-4737, Rn. 18 ff. U. Kischel, a. a. O., S. 391 f., verweist auf die Parallele zur deutschen Rechtsordnung, in der dem Gesetzgeber ebenfalls auf dem Gebiet der Wirtschaftsordnung weitgehende Gestaltungsfreiheit und ein vom BVerfG zu beachtender Einschätzungs- und Prognosevorrang eingeräumt seien. Zu den Differenzierungen des EuGH bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung innerhalb der wirtschaftsbezogenen Maßnahmen siehe U. Schildknecht, Grundrechtsschranken in der Europäischen Gemeinschaft, S. 51 ff. 265 Vgl. E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033, 1039, Fn. 109, sowie die Differenzierungen bei J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 622. 266 Vgl. beispielsweise U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380, 396 f. 267 So z. B. in den Entscheidungen EuGH, Rs. C-274/99 P, Conolly, Slg. 2001, S. I-1611, Rn. 44 ff., Rs. C-94/00, Roquette Frères, Slg. 2002, S. I-9011, Rn. 71 ff., und insbesondere in der Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 80 ff., wo der EuGH umfassend die betroffenen Interessen gegeneinander abwägt. In der letzten Entscheidung des EuGH zum Tabakwerbeverbot fällt die Verhältnismäßigkeitsprüfung hingegen wieder recht pauschal aus, EuGH, Rs. C-380/03,
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staatlicher Maßnahmen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ist besonders interessant, dass der Gerichtshof inzwischen nicht nur verstärkt auf die EGMR-Rechtsprechung verweist, sondern in einigen Urteilen auch das Konzept der margin of appreciation auf die Gemeinschaftsgrundrechte übertragen hat268. bb) Die Wesensgehaltsgarantie als „unechtes“ Element der Grundrechtsprüfung, das in der Verhältnismäßigkeit aufgeht Der Luxemburger Gerichtshof betont in seinen Grundrechtsurteilen regelmäßig, dass die Grundrechte nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen269. An diese nach deutscher Grundrechtsdogmatik sog. SchrankenSchranke knüpft auch Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh an, der die Einschränkung der Chartarechte unter den Vorbehalt der Achtung des „wesentlichen Gehalts dieser Rechte und Freiheiten“ stellt. Weder der Rechtsprechung des EuGH noch der Grundrechte-Charta sind allerdings Anhaltspunkte zur Bestimmung dieses grundrechtlichen Wesensgehalts zu entnehmen. Der EuGH beschränkt sich in der Regel darauf festzustellen, dass eine angegriffene Maßnahme ein Grundrecht nicht in seinem Wesensgehalt antaste. Eine konkrete Bestimmung des Wesensgehalts des betroffenen Rechts nimmt er in der Regel nicht vor. In der Literatur wird aus den in den Urteilen gewählten Formulierungen und der regelmäßigen Verknüpfung von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Wesensgehaltsgarantie abgeleitet, dass der EuGH den grundrechtlichen Wesensgehalt relativ bestimme, d. h. in Abhängigkeit von den Umständen des konkreten Falles, und nicht absolut über eine feste, vom Einzelfall unabhängige Größe270. Die durchweg äußerst kargen AusDeutschland/Parlament und Rat, Urteil vom 12.12.2006, Rn. 144 ff. (Verweis auf weites Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers in Rn. 145 und Rn. 155 im Zusammenhang mit der Freiheit der Meinungsäußerung). 268 Dazu sogleich unter cc). 269 EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, Rn. 14; Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 23; Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609, Rn. 17; Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, S. 2237, Rn. 15; Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 78. Zur Übernahme der Formulierung des EuGH zur Wesensgehaltsgarantie in Art. II-112 des Verfassungsvertrags siehe S. Alber/U. Widmaier, Mögliche Konfliktbereiche und Divergenzen im europäischen Grundrechtsschutz, EuGRZ 2006, S. 113, 114 f. 270 Die Differenzierung zwischen relativer und absoluter Wesensgehaltsbestimmung lehnt sich an die deutsche Grundrechtsdogmatik an, vgl. dazu B. Pieroth/ B. Schlink, Grundrechte, Rn. 298 ff. Eine relative Wesensgehaltsbestimmung leiten aus der Grundrechtsjudikatur des EuGH beispielsweise ab S. Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Der Staat 36 (1997), S. 547, 564 ff.; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK
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führungen des Gerichtshofs zum Wesensgehalt geben für eine solche Differenzierung nur wenige Anhaltspunkte271. Die Art der Verbindung von Verhältnismäßigkeits- und Wesensgehaltskontrolle zeigt aber, dass dem Verbot der Antastung des Wesensgehalts keine eigenständige, über das Verhältnismäßigkeitsprinzip hinausreichende Funktion zukommt. Führt der EuGH in ständiger Rechtsprechung aus, Beschränkungen der Grundrechte seien zulässig, „sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet“272, so setzt er Verhältnismäßigkeit und Wesensgehaltsgarantie gleich. Für den von einer grundrechtsbeschränkenden Maßnahme Betroffenen ergibt sich bei dieser Sichtweise kein zusätzlicher Schutz aus der Wesensgehaltsprüfung273. Erst wenn der EuGH die Wesensgehaltsgarantie inhaltlich ausfüllt, kann sie eine weitergehende Kontrollwirkung entfalten274. Das Element der Wesensgehaltsgarantie, das vom Straßburger Gerichtshof in der Regel nicht geprüft wird, erlaubt folglich nur eine äußerliche Differenzierung zwischen der Grundrechtsjudikatur der beiden europäischen Gerichtshöfe. Inhaltlich wirkt es sich trotz der durchgängigen Erwähnung nicht auf die Art und Weise der Grundrechtsprüfung durch den Luxemburger Gerichtshof aus. Ihm kommt keine schutzverstärkende Komponente zu.
und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 136; C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 63; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 114 ff. 271 Vgl. E. Stieglitz, a. a. O., S. 135 f., und U. Schildknecht, Grundrechtsschranken in der Europäischen Gemeinschaft, S. 93 f., die vereinzelte Anhaltspunkte für eine absolute Betrachtungsweise der Wesensgehaltsgarantie in der EuGH-Rechtsprechung anführen. 272 EuGH, Rs. 280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, S. I-4973, Rn. 78; Rs. C-177/90, Kühn, Slg. 1992, S. I-35, Rn. 16; Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, S. 2237, Rn. 15; Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609, Rn. 18; Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 80; sinngemäß auch Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 23. 273 Tatsächlich hat der EuGH in seiner Rechtsprechung bisher offenbar noch nie auf einen unzulässigen Eingriff in den Wesensgehalt eines Grundrechts erkannt, vgl. E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 137. 274 J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 625, spricht sich für eine absolute, objektive Wesensgehaltskontrolle durch den EuGH aus, die eine Warnfunktion gegenüber den in die Grundrechte eingreifenden Organen erfüllen soll.
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cc) Übertragung der Rechtsfigur der „margin of appreciation“ auf den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz bei Überprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen in den neueren Urteilen Die Untersuchung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der EuGH-Rechtsprechung hat gezeigt, dass der Luxemburger Gerichtshof die grundrechtliche Kontrolldichte je nach Inhalt und Ursprung der Maßnahmen variiert. In bestimmten Bereichen billigt er den gemeinschaftlichen und mitgliedstaatlichen Hoheitsträgern eine Einschätzungsprärogative und damit einen weiten Ermessensspielraum zu, während er in anderen Bereichen strikt kontrolliert. Bei den von ihm durchgeführten Differenzierungen – wirtschaftsbezogene oder sonstige Maßnahmen, mitgliedstaatlicher Vollzug oder andere mitgliedstaatliche Maßnahmen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts – handelt es sich allerdings lediglich um ein Grobraster. Eine „Feinsteuerung“ erlaubt eine solche allgemeine Unterscheidung nach Herkunft und inhaltlichen Kategorien von Maßnahmen nicht. Der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof geht bereits vom Ansatz her anders vor: Er arbeitet in seinen Urteilen detailliert die Umstände des Einzelfalls heraus, wägt die betroffenen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung umfassend ab und zieht die Lehre von der margin of appreciation als Steuerungselement heran, um die Kontrolldichte seiner Entscheidungen anzupassen275. Auf diese Weise stellt er sicher, dass Ermessens- bzw. Beurteilungsspielräume bei grundrechtseinschränkenden Maßnahmen nicht nur in groben Kategorien, sondern einzelfallbezogen berücksichtigt werden. Das vom EGMR entwickelte Konzept der margin of appreciation beruht, wie oben gezeigt, wesentlich auf dem Gedanken der Subsidiarität des Rechtsschutzmechanismus der Konvention und lässt sich insofern nicht unmittelbar auf die supranationale Gemeinschaftsrechtsordnung mit ihrer hohen Integrationsdichte übertragen. Zudem passt das Konzept nicht genau auf das System des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes, da es im einschichtigen EMRK-System notwendigerweise nur auf Beurteilungsspielräume der Mitgliedstaaten abzielt, in der EG aber grundrechtseinschränkende Maßnahmen sowohl von Gemeinschaftsseite als auch von den Mitgliedstaaten ausgehen können. Von seinem Ursprung und seiner Konzeption her war der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz zunächst lediglich auf Abwehr von Beeinträchtigungen durch Gemeinschaftsrechtsakte angelegt. Mit der Übernahme der Prüfungskompetenz für mitgliedstaatliche Rechtsakte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts hat der Luxemburger Gerichtshof zunehmend ausdrücklich auf EMRK-Rechte verwiesen. Seit dem 275
Vgl. oben 3. Teil, A. I. 3. und 4.
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Gutachten 2/94 des EuGH zum Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK276 bezieht er sich außerdem immer häufiger auch auf die Straßburger Rechtsprechung277. Bis vor kurzem hat jedoch das Konzept der margin of appreciation trotz der parallelen Zuständigkeit in Luxemburg und Straßburg für den Bereich des Grundrechtsschutzes gegenüber mitgliedstaatlichen Maßnahmen keinen Niederschlag in der EuGH-Rechtsprechung gefunden. Generalanwalt van Gerven schlug dem Gerichtshof bereits im Jahr 1991 in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache SPUC/Grogan vor, die Lehre von der margin of appreciation in das Gemeinschaftsrecht zu übertragen und auf diese Weise den im Zusammenhang mit der Verbreitung von Informationen über Schwangerschaftsabbrüche aufgetretenen Konflikt zwischen dem Recht auf Leben einerseits und der freien Meinungsäußerung andererseits in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR zu lösen278. In Anbetracht der dieser Entscheidung unabdingbar zugrunde liegenden ethischmoralischen Werturteile sprach er sich unter Berufung auf die Straßburger Rechtsprechung für einen weiten Beurteilungsspielraum des betroffenen Mitgliedstaats Irland aus und kam zu dem Ergebnis, dass das Verbot der Verbreitung von Informationen nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße279. Der Gerichtshof folgte diesem Vorschlag nicht, sondern wich der schwierigen Grundrechtsfrage aus. Er ordnete das Verbot der Informationsverbreitung nicht als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit ein und musste dann folgerichtig den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts für nicht eröffnet erklären. Damit entfiel für ihn die Voraussetzung für die Prüfung der mitgliedstaatlichen Maßnahme am Maßstab der Gemeinschafts276 EuGH, Gutachten 2/94 vom 28.3.1996, Slg. 1996, S. I-1759 ff. Dazu oben 1. Teil, B. III. 3. a). 277 Darauf, dass der EuGH sich erst seit dem Gutachten 2/94 auf die EGMRRechtsprechung bezieht, macht B. de Witte aufmerksam, The Past and Future Role of the European Court of Justice in the Protection of Human Rights, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 859, 878, Fn. 80: „All . . . judgments [with references to the Strasbourg case law] were delivered after the Court Opinion 2/94 . . ., as if the Court wanted to console the many commentators that deplore its refusal to recognize an EC competence to accede to the ECHR.“ Bereits 1989 hatte der EuGH allerdings in zwei Fällen das Fehlen einschlägiger Straßburger Rechtsprechung betont und damit indirekt seine Bereitschaft bekundet, sich an der Straßburger Judikatur zu orientieren, vgl. EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 18, sowie Rs. 347/87, Orkem, Slg. 1989, S. 3283, Rn. 30. 278 Schlussanträge vom 11.6.1991, Rs. C-159/90, Slg. 1991, S. I-4685, 4703 ff., Rn. 34 ff. In Rn. 35 der Schlussanträge erklärt van Gerven die von ihm gezogenen Parallelen zu der EGMR-Rechtsprechung damit, dass „die Hauptkomponenten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, so wie er in der EMRK und im Gemeinschaftsrecht angewendet wird [einschließlich der Frage nach dem Umfang des Ermessens der Mitgliedstaaten bei der Abwägung], von Nuancierungen abgesehen wohl die gleichen“ seien. 279 Schlussanträge des Generalanwalts, a. a. O., Rn. 37 ff.
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grundrechte280. Das Urteil ist vor allem aufgrund dieses grundrechtlichen „Ausweichmanövers“ auf vielfache Kritik im Schrifttum gestoßen281. Diese Kritik ist insofern berechtigt, als die Entscheidung tatsächlich nicht konsistent mit der sonstigen Rechtsprechung zur Reichweite der Grundfreiheiten ist282. Es wird der Eindruck erweckt, der EuGH habe sich auf gewundenem Wege der schwierigen Entscheidung entziehen wollen. Im Ergebnis mag er auf diese Weise zwar seine richterliche Zurückhaltung sowie seine Wertschätzung der nationalen Souveränität und bestimmter grundlegender Werte, über die ein Mitgliedstaat selber befinden sollte, zum Ausdruck gebracht haben283. Die Art und Weise seines argumentativen Vorgehens kann aber nicht überzeugen, weil sie nicht in Einklang mit den von ihm selber herausgearbeiteten Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts steht, zu denen zentral der weite Wirkungsbereich der Grundfreiheiten gehört. Es wäre in diesem Fall überzeugender gewesen, wenn der Gerichtshof den Schlussanträgen seines Generalanwalts gefolgt wäre und die margin of appreciation als Anwendungsprinzip in den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz eingeführt hätte. 280
EuGH, Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, S. I-4685, Rn. 24 ff. Vgl. dazu J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, CMLRev. 29 (1992), S. 669, 685 ff.; C. Langenfeld/A. Zimmermann, Interdependenzen zwischen nationalem Verfassungsrecht, Europäischer Menschenrechtskonvention und Europäischem Gemeinschaftsrecht, ZaöRV 52 (1992), S. 259, 286 f.; N. Philippi, Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, S. 97, 119; S. O’Leary, The Court of Justice as a Reluctant Constitutional Adjudicator: An Examination of the Abortion Information Case, ELRev. 17 (1992), S. 138 ff. Weniger kritisch allerdings wiederum S. O’Leary, Aspects of the Relationship between Community Law and National Law, in: Neuwahl/Rosas, The European Union and Human Rights, S. 23, 29 f. 282 Siehe insbesondere die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-362/88, GB-Inno-BM, Slg. 1990, S. I-667, Rn. 8, in der er ausgeführt hatte, dass der freie Warenverkehr auch die Freiheit des Verbrauchers umfassen müsse, sich über Waren in seinem Heimatstaat zu informieren. Dieses Urteil führt auch Generalanwalt van Gerven in seinen Schlussanträgen zu SPUC, Rs. C-159/90, Slg. 1991, S. I-4685, Rz. 18 der Schlussanträge, als Argument dafür an, dass in dem Informationsverbot eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit liegt. Die Unterscheidung, die der EuGH in SPUC zu der Situation in GB-Inno-BM zieht, ist nicht nachvollziehbar, vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 25. C. Langenfeld/A. Zimmermann, a. a. O., S. 286, bezeichnen die vom EuGH vorgenommene Differenzierung im Hinblick auf den Ursprung der Abtreibungsinformationen als „gekünstelt“. 283 So F. Zampini, La Cour de justice des Communautés européennes, gardienne des droits fondamentaux „dans le cadre du droit communautaire“, RTDE 1999, S. 659, 677: „. . . ceci peut aussi donner la preuve d’une attitude de self judicial restraint raisonnée . . . Un autre choix aurait comporté un choc frontal inutile et risqué, bien peu diplomatique et sans doute peu légitime. L’échappatoire a permis d’éviter la contradiction possible avec la Cour de Strasbourg.“ Siehe auch N. Theurer, Das Verhältnis der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 26. 281
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
In den letzten Jahren hat der EuGH – wie im zweiten Teil der Arbeit aufgezeigt – seine Grundrechtskontrolle mitgliedstaatlicher Akte über das Scharnier des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“ zunehmend ausgedehnt. Inzwischen umfasst dieser „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ mehr als die ursprünglichen zwei Fallgruppen, und bisher ist keine restriktivere Tendenz in der Rechtsprechung erkennbar. Im Zuge dieser Ausweitung der Kontrolle ist der Gerichtshof nunmehr in einigen Fällen doch dazu übergegangen, die Lehre von der margin of appreciation auf das Gemeinschaftsrecht zu übertragen. Bisher handelte es sich hierbei vor allem um Entscheidungen, welche die in Art. 10 EMRK verbürgte Meinungsfreiheit betrafen284. Für dieses Recht existiert eine ausdifferenzierte Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs zu Verhältnismäßigkeit und Beurteilungsspielräumen bei hoheitlichen Eingriffen. Der EuGH hat sich in seinen neuen Urteilen eng an diese EGMR-Rechtsprechung angelehnt und das Konzept des Beurteilungsspielraums nahezu deckungsgleich übernommen285. Gleichzeitig ist er dabei aber seinem eigenen Urteilsstil treu geblieben, so dass seine einzelfallbezogenen Ausführungen weiterhin sehr knapp ausfallen286. Diese Kürze erscheint gerade bei einem Anwendungsprinzip, das einer Ausdifferenzierung unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände eines Falles dienen soll, unbefriedigend. Der verzeichnete Wechsel in der neueren Grundrechtsjudikatur des EuGH mag zum einen damit zusammenhängen, dass der Gerichtshof sich insgesamt verstärkt auf die Straßburger Rechtsprechung bezieht und versucht, soweit wie möglich einen Gleichlauf im Bereich der Kontrolle mitgliedstaatlicher Maßnahmen zu erzielen. Konfliktsituationen für die Mitgliedstaaten im Spannungsfeld zwischen EMRK und Gemeinschaftsrecht sollen 284 EuGH, Rs. C-274/99 P, Conolly, Slg. 2001, S. I-1611, Rn. 49 ff.; Rs. C-245/01, RTL Television, Slg. 2003, S. I-2489, Rn. 73; Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, S. I-3025, Rn. 51 f. 285 Vgl. zu Art. 10 EMRK in der Rechtsprechung des EuGH G. Ress, Media law in the context of the European Union and the European Convention on Human Rights, in: GS Ryssdal, S. 1173, 1193 f., der (vor Erlass der jüngeren EuGH-Urteile) noch bedauert, dass der Luxemburger Gerichtshof sich im Bereich von Meinungs- und Informationsfreiheit zurückhaltend hinsichtlich eines Rekurses auf Art. 10 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR verhalte. 286 Vgl. nur EuGH, Rs. C- 71/02, Karner, Slg. 2004, S. I-3025, Rn. 51 f., wo der Gerichtshof nach dem Verweis auf die EGMR-Rechtsprechung und den Beurteilungsspielraum im Bereich der Werbung nur noch in einem Satz anfügt, dass die rechtlichen und tatsächlichen Umstände des vorliegenden Falles und der Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten nicht darauf hindeuteten, dass die angegriffene Werbebeschränkung außer Verhältnis zu den mit ihr verfolgten legitimen Zwecken stünde, und damit die Vorlagefrage beantwortet. Zur Grundrechtsprüfung des EuGH in diesem Urteil siehe auch K. v. Papp, Die Integrationswirkung von Grundrechten in der Europäischen Gemeinschaft, S. 197 f.
A. Die beiden europäischen Gerichtshöfe
297
möglichst minimiert werden287. Damit einher geht das Bemühen um größere Differenzierung in den Urteilen, wobei, wie gesagt, die Übertragung des Konzepts der margin of appreciation auf das Gemeinschaftsrecht allein nicht ausreichen kann, sondern auch ein sorgfältiges Eingehen auf die Umstände des Einzelfalls notwendig wäre. Darüber hinaus zeigt die neue Rechtsprechung aber auch, dass der EuGH inzwischen mitgliedstaatliche Beurteilungsspielräume anerkennt, ohne dadurch die Rechtseinheit in der Gemeinschaft gefährdet zu sehen. Im EMRK-System ist dieser Gedanke der Rechtseinheit zwar nicht in vergleichbarer Weise leitend, aber auch hier beansprucht der Straßburger Gerichtshof – trotz der Subsidiarität des Rechtsschutzmechanismus der EMRK – die menschenrechtliche Letztentscheidungskompetenz mit der Folge, dass nationale Alleingänge außerhalb des von der Konvention gesteckten Rahmens nicht zulässig sind. Auch der EuGH kann also inzwischen den Mitgliedstaaten bestimmte Beurteilungsspielräume zuerkennen, die seiner Kontrolle unterfallen, ohne dass dadurch die Rechtsgemeinschaft auseinander bricht. Mitentscheidend für diese neue Rechtsprechung mag sein, dass die EG nach der Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten nicht mehr ein so homogener und überschaubarer Rechtsraum ist, wie sie es – im Vergleich zum Europarat – lange Zeit war. Auch wenn mit dem acquis communautaire weiterhin der gemeinsame Rechtsbestand für alle Mitgliedstaaten festgelegt ist, wird der Grad an gemeinsamen Standards in der Gemeinschaft, gerade in Bereichen wie Moral- und Wertvorstellungen oder Kultur, in Zukunft doch weniger hoch sein. Auch von der Rechtsprechung sind Konzepte gefordert, um sich diesen Herausforderungen zu stellen. Indem der Luxemburger Gerichtshof die Lehre vom Beurteilungsspielraum in seine Rechtsprechung einbezieht, zeigt er einen möglichen Weg auf, um Problemen in diesem Bereich zu begegnen. Die Gefahr, die das Zugeständnis größerer „Freiheiten“ an die Mitgliedstaaten für die Rechtsgemeinschaft birgt, lässt sich allerdings nicht leugnen. Kühling spricht sich dafür aus, das Konzept der margin of appreciation über den Bereich der Kontrolle mitgliedstaatlicher Maßnahmen hinaus umfassend auf den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz zu übertragen288. Die margin of appreciation könne als „Konzeption des variablen Ermessensspielraums“ sowohl auf der vertikalen Ebene zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten als auch im Rahmen der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive sinnvoll eingesetzt werden und das bisher vom Gerichtshof angewandte Differenzierungs-Grobschema ersetzen289. 287 So auch W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 175. 288 J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583, 622 ff. 289 A. a. O., S. 622 f.
298
3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Auch könne mit ihrer Hilfe eine Ausdifferenzierung innerhalb der einzelnen Grundrechte durchgeführt werden290. Diese Vorschläge gehen in Richtung eines eigenständigen, vom EMRK-System abgekoppelten Konzepts von Beurteilungsspielräumen im Gemeinschaftsrecht. Sofern man über den Bereich mitgliedstaatlicher Maßnahmen hinaus auch Akte der Gemeinschaftsorgane in den Blick fasst, erscheint eine solche eigenständige Konzeption sinnvoll. Sie birgt allerdings wiederum die Gefahr verstärkter Divergenzen in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe.
III. Ergebnis: Struktur, Funktionsweise und Methodik des Straßburger und des Luxemburger Gerichtshofs im Vergleich EuGH und EGMR weisen als international zusammengesetzte Gerichtshöfe bestimmte ähnliche Strukturen auf. Sie stehen im Hinblick auf Punkte wie die Urteilsfindung in einem internationalen Richterkollegium oder die Sprachenfrage vor vergleichbaren organisatorischen Problemen. Beide sind in gewissem Maße auf pragmatische Lösungen angewiesen, die die Funktionsfähigkeit des Gerichts gewährleisten und gleichzeitig der Anerkennung und Durchsetzbarkeit der erlassenen Urteile dienen. In einigen wichtigen Punkten sind strukturelle und methodische Unterschiede zwischen den beiden Gerichtshöfen zu verzeichnen. Bestimmte unterschiedliche Herangehensweisen beruhen auf von außen durch die jeweiligen Systeme vorgegebenen Bedingungen, so beispielsweise die Wirkungen der Urteile für die Staaten und die beteiligten Parteien oder das Herangehen an die Sprachenproblematik. In anderen Punkten sind Unterschiede von innen, aus den Systemen heraus, entstanden. Die vorgenommene Analyse zeigt, dass Differenzen in der Methodik in erster Linie durch die unterschiedlichen Systeme bedingt sind, denen die Gerichte zugeordnet sind. Der EGMR konzentriert sich allein auf den Menschenrechtsschutz und kann in seiner Rechtsprechung diesen Bereich in voller Breite, aber auch in entsprechender, von Erwägungen aus anderen Rechtsgebieten „ungestörter“ Tiefe bearbeiten. Dies zeigt sich in seinen ausführlich begründeten, diskursiven Urteilen, in denen ein besonderer Schwerpunkt auf der Abwägung der gegenläufigen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt. Der EuGH dagegen deckt zwar, sofern er sich für zuständig befindet, ebenfalls die gesamte Spannbreite des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft ab. Er ist jedoch gleichzeitig auch zuständiges Gericht für alle anderen gemeinschaftsrechtlich relevanten Rechtsgebiete. Von ihm zu lösende Interessenkonflikte können vielschichti290
A. a. O., S. 623 f.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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ger sein und die Beachtung einer größeren Zahl von relevanten Faktoren erfordern. Die Kürze seiner Urteile und die oft nicht vorhandene argumentative Untermauerung von Ergebnissen erklärt sich auch aus dieser Vielschichtigkeit. Als Gegengewicht zu den kurzen Urteilen können allenfalls die ausführlichen Schlussanträge der Generalanwälte gewertet werden, die aber nicht Teil der Kasuistik werden. Hierzu gibt es kein Pendant in Straßburg. Allerdings wird beim EGMR von der Möglichkeit, den Urteilen abweichende oder im Ergebnis zustimmende Richtermeinungen anzufügen, reger Gebrauch gemacht. Auch bei den Auslegungsmethoden erweist sich die Aufgabenbreite des Luxemburger Gerichtshofs als ein entscheidendes Abgrenzungskriterium gegenüber dem Menschenrechtsgerichtshof. Die effektive Auslegung spielt in beiden Rechtsordnungen eine herausragende Rolle. Vor dem Hintergrund der beiden unterschiedlichen Systeme kann diese Interpretationsmethode aber unter Umständen zu gegenläufigen Ergebnissen für den Grund- und Menschenrechtsschutz führen. In der jeweils avisierten Zielrichtung liegt ein markanter Unterschied zwischen den beiden Gerichtshöfen. Im Hinblick auf Verhältnismäßigkeitsprüfung und mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraum ist in der Luxemburger Rechtsprechung der letzten Jahre eine gewisse Annäherung an die EGMR-Judikatur zu verzeichnen.
B. Die Berücksichtigung der parallelen Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung der beiden europäischen Gerichtshöfe Im Anschluss an die Gegenüberstellung von Aufbau, Arbeitsweise, Auslegungsmethoden und Leitprinzipien der beiden europäischen Gerichtshöfe sollen die auf abstrakter Ebene erarbeiteten Ergebnisse in einem abschließenden Teil anhand von konkreten Rechtsprechungsbeispielen veranschaulicht und vertieft werden. Dabei geht es zum einen um die unterschiedliche Herangehensweise von EuGH und EGMR an gleichartige Fragestellungen und die hiermit verbundenen Konsequenzen für den Grundrechtsschutz auf der jeweiligen Ebene. Dies impliziert auch die Frage danach, wie die Gerichtshöfe damit umgehen, dass ein anderes, auf dem gleichen Gebiet „konkurrierendes“ System mit eigenem Rechtsprechungsorgan existiert, wie weit also inzwischen die gegenseitigen Bezugnahmen reichen. Auch die einschlägigen Querschnittsklauseln der Grundrechte-Charta zum Verhältnis der beiden Grundrechtsordnungen mit ihren Gerichtshöfen werden an dieser Stelle kurz angesprochen. Zum anderen wird der Frage nach einem möglichen Über-Unterordnungsverhältnis zwischen Menschenrechtsgerichtshof und EuGH nachgegangen. Zu diesem Zweck wird die Straßburger Judikatur
300
3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
zu einer möglichen Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten am Maßstab der Menschenrechtskonvention untersucht. Die Ergebnisse dieser Rechtsprechungsanalyse lassen im Zusammenspiel mit der vorangegangenen Untersuchung der Gerichtshöfe Rückschlüsse im Hinblick auf die Frage zu, ob sich die beiden europäischen Grundrechtsschutzsysteme einander annähern oder ob die Gefahr von Divergenzen mit zunehmenden Kompetenzübertragungen auf die Gemeinschaft ansteigt. Im Ergebnis ist eine zunehmende Annäherung der beiden Systeme zu verzeichnen. Dies schließt allerdings nicht aus, dass es in einzelnen Fällen zu Abweichungen oder „Ausbrüchen“ kommen kann.
I. Divergenzen, Parallelen und gegenseitige Bezugnahmen in der Judikatur der beiden Gerichtshöfe Es sollen zunächst Fälle analysiert werden, in denen „echte“ materielle Divergenzen zwischen Luxemburger und Straßburger Gerichtshof aufgetreten sind. Im Anschluss daran werden Bereiche beleuchtet, in denen die Gerichtshöfe bei gleichartigen Fragestellungen unterschiedliche Ansatzpunkte und Lösungswege gewählt haben. Der EuGH ist der Beantwortung von Grundrechtsfragen in einigen Fällen ausgewichen. Teilweise ist er aber auch auf verschlungenem Wege zu EMRK-konformen Lösungen gekommen. Die Art der richterlichen Herangehensweise an gleichartige Fragestellungen gibt Aufschluss über die Unterschiede und Übereinstimmungen im praktischen Umgang mit Grund- und Menschenrechtsfällen in den beiden Systemen. 1. Fälle „echter“ materieller Divergenzen zwischen EuGH und EGMR Mit Fällen sogenannter „echter“ materieller Divergenzen zwischen EuGH und EGMR werden Konstellationen umschrieben, in denen die beiden Gerichtshöfe mit gleichartigen Fragestellungen befasst waren und diese unter Heranziehung des „gleichen“ Grund- bzw. Menschenrechts auf der jeweiligen Ebene unterschiedlich gelöst haben. Die Gerichtshöfe hatten in diesen Fällen nicht zu unterschiedlichen Zeitpunkten über denselben Sachverhalt und damit denselben Rechtsfall zu entscheiden (dann gäbe es die Möglichkeit einer Divergenz im formellen Sinne), sondern waren mit ähnlich gelagerten Sachverhalten in unterschiedlichen Rechtssachen befasst und gelangten dabei zu unterschiedlichen Auslegungen des Inhalts und der Tragweite eines Grundrechts291. Bei einem Vergleich der Urteile auf den beiden Ebe291 Zur Unterscheidung zwischen Divergenzen im formellen und im materiellen Sinn auf EMRK- und Gemeinschaftsrechtsebene siehe T. Stein, Das Verhältnis zwi-
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
301
nen ist daher in dieser Konstellation stets zu berücksichtigen, dass für die divergierenden Ergebnisse der Entscheidungen neben einer unterschiedlichen Auslegung durch die Gerichtshöfe auch die nicht exakt deckungsgleichen Sachverhalte mitursächlich sein können. Unter Umständen erweisen sich daher aufgetretene Divergenzen als weniger frappierend, als ein oberflächlicher Blick auf die rechtlichen Formulierungen in den Entscheidungsgründen der Urteile zunächst vermuten lässt. Wird, wie im Folgenden, zwischen den Fällen „echter“ materieller Divergenzen und den Fällen, in denen ohne offene Differenz die Gerichtshöfe unterschiedliche Lösungswege gewählt haben, getrennt, zeigt sich, dass die Zahl der Fälle mit „echten“ Divergenzen tatsächlich gering ist. Von den materiellen Rechten ist die Unverletzlichkeit der Wohnung betroffen; unter den prozessualen Rechten gibt es divergierende Auslegungen im Hinblick auf die Verteidigungsrechte und den Anspruch auf rechtliches Gehör. a) Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Unverletzlichkeit der Wohnung – Anwendbarkeit auf juristische Personen Als klassisches Beispiel einer materiellen Divergenz in der Rechtsprechung von Straßburger und Luxemburger Gerichtshof wird vielfach die Frage nach der Reichweite des von Art. 8 EMRK abgedeckten Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung genannt. Dabei geht es um die grundsätzliche Anwendbarkeit der Rechte aus Art. 8 EMRK auf juristische Personen sowie um die Frage, ob der Begriff der Wohnung neben Privaträumen auch Geschäftsräume umfasst. Während der EuGH 1980 in der Rechtssache National Panasonic noch offen ließ, ob sich juristische Personen auf die in Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte berufen können292, bezog er im Hoechst-Urteil aus dem Jahr 1989 zu dieser Frage in einem restriktiven Sinne Stellung. In dem Verfahren wehrte sich die Firma Hoechst gegen die von der EG-Kommission angeordnete Verhängung eines Zwangsgelds sowie gegen eine Durchsuchung ihrer Geschäftsräume wegen des Verdachts wettbewerbswidriger Vereinbarungen und aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen mit anderen Kunststoffproduzenten. Der Gerichtshof stellte bei der Überprüfung der Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten fest, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung „als ein dem Recht der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz zwar für die Privatwohnung natürschen dem Grundrechtsschutz durch die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Gemeinschaften, 1. Referat: Das geltende Recht, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 150 ff. 292 EuGH, Rs. 136/79, National Panasonic, Slg. 1980, S. 2033, Rn. 17 ff.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
licher Personen anzuerkennen“ sei, „nicht aber für Unternehmen“293. Zur Begründung dieser restriktiven Auslegung verwies er – ohne weitere rechtsvergleichende Erläuterungen – darauf, dass „die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf Art und Umfang des Schutzes von Geschäftsräumen gegen behördliche Eingriffe nicht unerhebliche Unterschiede“ aufwiesen294. Auch aus Art. 8 EMRK ergebe sich nichts anderes, da dessen Schutzbereich die freie Entfaltung der Persönlichkeit betreffe und sich daher nicht auf Geschäftsräume ausdehnen lasse295. Sozusagen zur Absicherung und Rechtfertigung dieser eigenständig-restriktiven Auslegung eines der Menschenrechtskonvention entnommenen Rechts führte der EuGH sodann an, dass zu dieser Frage keine Rechtsprechung des EGMR vorliege296. Damit brachte er implizit zum Ausdruck, dass ihm an einer Übereinstimmung seiner Grundrechtsrechtsprechung mit dem Straßburger System gelegen ist297. Der EuGH beschränkte seine Grundrechtsprüfung allerdings nicht auf die Feststellung, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nicht einschlägig sei, was zum Ergebnis gehabt hätte, dass das betroffene Unternehmen in dieser Hinsicht schutzlos gestellt gewesen wäre. Vielmehr überprüfte er im Folgenden – ohne Anknüpfung an ein bestimmtes Grundrecht –, ob die von der Kommission durchgeführte Nachprüfung auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte und verhältnismäßig war298. Im Ergebnis gelangte er zu der Auffassung, dass die Kommission die Grenzen ihrer Nachprüfungsbefugnisse nicht überschritten habe. Das Hoechst-Urteil wurde bereits unmittelbar nach seinem Erlass aufgrund der restriktiven Auslegung des Art. 8 EMRK kritisiert299. Vor allem wurde aber die Feststellung des EuGH angezweifelt, dass zur Anwendbarkeit des Wohnungsgrundrechts auf Geschäftsräume keine einschlägige 293
EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 17. EuGH, a. a. O., Rn. 17. Generalanwalt Mischo setzt sich in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache ausführlich rechtsvergleichend mit der Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten auseinander, siehe EuGH, a. a. O., S. 2884 ff., Rn. 49 ff. der Schlussanträge. 295 EuGH, a. a. O., Rn. 18. 296 EuGH, a. a. O., Rn. 18. 297 G. Ress/J. Ukrow, Neue Aspekte des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft, EuZW 1990, S. 499, 504, interpretieren diesen Hinweis des EuGH auf die fehlende EGMR-Judikatur dahingehend, dass er bereit zu sein scheine, seinen eigenen Beurteilungsspielraum in die Zukunft hinein zu beschränken, nicht jedoch dann, wenn keine vorherige Klarstellung durch den EGMR erfolgt sei. Dabei verweisen sie auch auf die Aufgabe des EuGH, die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung zu wahren. 298 EuGH, a. a. O., Rn. 19 ff. 299 Siehe beispielsweise G. Ress/J. Ukrow, Neue Aspekte des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft, EuZW 1990, S. 499, 502 ff., die insbesondere die Orientierung des EuGH am grundrechtlichen Minimalstandard anprangern. 294
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
303
Rechtsprechung aus Straßburg vorliege. Tatsächlich hatte sich der Menschenrechtsgerichtshof wenige Monate vor der Hoechst-Entscheidung in der Rechtssache Chappell mit der Rechtmäßigkeit einer Hausdurchsuchung nach der EMRK befasst, die sich sowohl auf Geschäftsräume als auch auf Privaträume erstreckte300. Der Beschwerdeführer Herr Chappell betrieb Geschäfte mit einer von ihm gegründeten Firma zum Austausch illegal kopierter Videofilme. Die Geschäftsräume seines Unternehmens befanden sich im selben Haus wie die von ihm genutzten Privaträume. Bei der Durchsuchung wurden neben Beweismaterial für die Videofilmkopien auch private Dokumente sichergestellt. Der EGMR prüfte die Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK, befasste sich aber nicht inhaltlich mit der Frage, ob auch Geschäftsräume in den Schutzbereich dieses Konventionsrechts fielen. Vielmehr stellte er eingangs der rechtlichen Prüfung kurz fest, er folge der übereinstimmenden Ansicht von Beschwerdeführer und britischer Regierung, nach welcher zweifelsfrei ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung vorliege301, um dann ausführlich die Vereinbarkeit des Eingriffs mit der Schrankenregelung in Art. 8 Abs. 2 EMRK zu erörtern302. Im Ergebnis stellte er fest, dass der Beschwerdeführer nicht in seinem Recht aus Art. 8 EMRK verletzt war. Mit seiner kurzen Feststellung zur Betroffenheit des Schutzbereichs des Art. 8 EMRK hat sich der Straßburger Gerichtshof nicht festgelegt, sondern die Frage der Anwendbarkeit auf Geschäftsräume offen gelassen. Seine Formulierung lässt Deutungen in verschiedene Richtungen zu303. Es ist möglich, dass er einen Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung nur im Hinblick darauf bejahte, dass auch die Privaträume des Beschwerdeführers betroffen waren. Zumindest expressis verbis hat er aber gewerblich genutzte Räume nicht vom Schutz des Art. 8 EMRK ausgenommen. Die Anmerkung des EuGH im Hoechst-Urteil, dass einschlägige EGMR-Rechtsprechung fehle, mutet folglich auf den ersten Blick nicht ganz zutreffend an. Wenn es ihm indes darauf ankam, für seine Entscheidung auf ein eindeutiges Votum aus Straßburg zurückgreifen zu können, war ihm mit dem Urteil Chappell tatsächlich nicht gedient. Entgegen der nicht ganz fern liegenden Vermutung, die Luxemburger Richter hätten das kurz vorher ergangene Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs schlicht übersehen oder seien – je nach Interpretation – bewusst davon abgewichen, erscheint es wahrscheinlicher, dass sie die Entscheidung mangels Vergleichbarkeit der Sachverhalte und 300 EGMR, Urteil vom 30.3.1989, Chappell/Vereinigtes Königreich, Serie A Nr. 152-A. 301 EGMR, a. a. O., Ziff. 51. 302 EGMR, a. a. O., Ziff. 52 ff. 303 Zu unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten siehe N. Philippi, Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, S. 97, 109 f.
304
3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
der hierdurch aufgeworfenen Rechtsfragen für nicht einschlägig hielten und daher nicht als relevant heranzogen. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass bereits auf der Sachverhaltsebene die Unterschiede zwischen den beiden Fällen so groß waren, dass der Straßburger Chappell-Fall schwerlich als Präzedenz für das gemeinschaftsrechtliche Judikat in der Rechtssache Hoechst hätte herangezogen werden können. Entgegen verschiedener Analysen im Schrifttum reduziert sich die Problematik nicht auf die pauschale Frage, ob das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung auch Geschäftsräume umfasst. Es geht vielmehr um die Grundrechtsberechtigung. Im Hoechst-Urteil hatten die Luxemburger Richter zu klären, ob sich der Schutz aus den in Art. 8 EMRK genannten Rechten grundsätzlich auch auf Unternehmen als juristische Personen erstreckt oder ob diese Rechte als typische Ausprägungen der freien Entfaltung der Persönlichkeit nur natürlichen Personen zustehen können304. Diese Frage hatte aber keinerlei Bezug zum Chappell-Urteil, da der EGMR hier über die Beschwerde einer Privatperson befunden hatte, die in dieser Eigenschaft eine Durchsuchung ihrer Privat- und daneben auch ihrer Geschäftsräume rügte. Mit der Anwendbarkeit des Art. 8 EMRK auf juristische Personen hatte er sich in diesem Zusammenhang nicht zu befassen. Die Rechtsprechung zu natürlichen Personen kann allenfalls als mögliche, aber nicht zwingende Vorstufe einer Entscheidung im Hinblick auf juristische Personen angesehen werden. Insofern traf die Aussage des EuGH zu, es gebe keine einschlägigen Urteile aus Straßburg, auf die er seine Auslegung des Art. 8 EMRK hätte stützen können. Eine Divergenz zwischen der Luxemburger und Straßburger Judikatur ergibt sich – abgesehen davon, dass der EGMR die Frage offen ließ und eine Festlegung vermied – daher aus diesen beiden Urteilen nicht. Eine genauere Betrachtung der Sachverhalte und der hierdurch aufgeworfenen Rechtsfragen zeigt, dass von einer solchen „echten“ materiellen Divergenz hinsichtlich der Auslegung des Wohnungsgrundrechts aus Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe auch nicht nach Erlass des Niemietz-Urteils des Menschenrechtsgerichtshofs im Jahr 1992305 gesprochen werden kann. Der EGMR hatte hier über den Fall eines Rechtsanwalts zu befinden, dessen Kanzleiräumlichkeiten im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen eine dritte Person polizeilich durchsucht wurden. Bei der Frage, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK vorliege, stellte er erstmals ausdrücklich fest, dass auch Geschäftsräume dem Schutz dieses Konventionsrechts unterfielen. In seiner Urteilsbegründung verknüpfte er die geschützten Bereiche „Privatleben“ und „Wohnung“ und 304 Vgl. die eindeutigen Formulierungen des EuGH dazu in den verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 18. 305 EGMR, Urteil vom 16.12.1992, Niemietz/Deutschland, Serie A Nr. 251-B.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
305
führte aus, dass diese Begriffe nicht auf den inneren Kreis der persönlichen Lebensführung unter dem völligen Ausschluss der Außenwelt beschränkt werden dürften. Insbesondere bei Angehörigen freier Berufe sei oft die Arbeit eng mit der Lebensführung verwoben, so dass eine klare Trennung nicht immer möglich sei306. Um eine Schlechterstellung gegenüber Personen zu vermeiden, bei denen klar zwischen Privat- und Berufsbereich getrennt werden könne, müsse Art. 8 EMRK auch aus Gründen der Gleichbehandlung den beruflichen Bereich mit umfassen. Eine solche Auslegung decke sich mit dem in der französischen Originalfassung verwendeten Begriff „domicile“, der seiner Bedeutung nach auch Büroräume von Berufstätigen erfasse307. Aus dieser Argumentation des EGMR ergibt sich, dass es hier ebenfalls um einen anders gelagerten Fall als in der Rechtssache Hoechst vor dem EuGH ging. Zwar stellte der Straßburger Gerichtshof ausdrücklich fest, dass die Durchsuchung der Kanzlei als Geschäftsraum in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK fiel. Bei dem Beschwerdeführer handelte es sich aber wiederum um eine Privatperson, nicht um ein Unternehmen. Die Tatsache, dass sich Herr Niemietz „als Rechtsanwalt“, also in beruflicher Funktion, gegen die Durchsuchung wehrte, ändert nichts an dieser Sichtweise. Der EGMR argumentiert gerade ausgehend von dem Recht des Beschwerdeführers auf Privatleben und auf eine private Wohnung und gelangt von dort aus zu einer Ausdehnung des Schutzbereichs auch auf Geschäftsräume. Diese Argumentationslinie lässt sich aber nicht auf ein großes Wirtschaftsunternehmen übertragen, das kein Privatleben und genauso wenig eine Privatwohnung hat. Folglich trifft es nicht zu bzw. erscheint es zu stark vereinfachend, wenn die Fälle Niemietz und Hoechst deswegen als materiell divergierende Urteile dargestellt werden, weil in dem einen Fall Geschäftsräume unter den Begriff der Wohnung subsumiert werden, in dem anderen aber nicht308. Die vorstehenden Differenzierungen auf Sachverhaltsebene und daraus folgend nach dem jeweils Grundrechtsberechtigten werden durch ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2002 bestätigt. In der Rechtssache Stés Colas Est/ Frankreich befasste sich der Menschenrechtsgerichtshof – wie er selber 306
EGMR, a. a. O., Ziff. 29. EGMR, a. a. O., Ziff. 30. 308 Auf die Unterschiede in den Sachverhalten, die die Widersprüche zwischen EuGH und EGMR gering erscheinen ließen, weist auch G. C. Rodriguez Iglesias, Zur Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1276 mit Fn. 35, hin. Siehe aber andererseits R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermers, Bd. III, S. 219, 243: „Nevertheless, the observation that Article 8 includes ‚certain‘ professional or business activities or premises comes close to the de facto recognition of a right to privacy for legal entities.“ 307
306
3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
feststellt – erstmals genau mit der Frage, um die es dem EuGH bereits 13 Jahre zuvor in der Hoechst-Entscheidung gegangen war, nämlich mit der Anwendbarkeit des von Art. 8 EMRK umfassten Wohnungsgrundrechts auf juristische Personen309. In dem Fall ging es um die behördliche Durchsuchung der Geschäftsräume des beschwerdeführenden Unternehmens. Der EGMR verwies bei der Prüfung des Eingriffs in den Schutzbereich zunächst auf die Fälle Niemietz und Chappell, betonte aber, dass es sich jeweils um die Durchsuchung der Geschäftsräume natürlicher Personen gehandelt habe310. Danach stellte er unter Rückgriff auf die dynamische Auslegungsmethode fest, dass es im Lichte der aktuellen Lebensbedingungen an der Zeit sei, die Rechte aus Art. 8 EMRK unter bestimmten Umständen so zu interpretieren, dass sie auch Unternehmen mit ihrem Sitz und ihren Geschäftsräumen umfassen könnten311. Erst mit Erlass dieses Urteils lässt sich also zutreffend sagen, dass EuGH und EGMR Art. 8 EMRK divergierend auslegen312. Letztlich entscheidend bei der Frage nach materiellen Divergenzen in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe ist allerdings weniger, wie ein bestimmtes Recht – hier Art. 8 EMRK – ausgelegt wird, sondern vielmehr, ob auf beiden Rechtsebenen in vergleichbaren Situationen der gleiche materielle Schutzstandard gewährt wird. Hierfür ist die Subsumtion eines Sachverhalts unter ein spezifisches Grund- oder Menschenrecht nur einer von mehreren Anhaltspunkten, der nicht ausschlaggebend sein muss. Der EuGH hat es, wie oben dargestellt, in der Hoechst-Entscheidung nicht dabei belassen, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung für das Unternehmen für nicht einschlägig zu erklären. Seine anschließende, sozusagen frei schwebende Prüfung der gesetzlichen Grundlage sowie der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme entspricht einer klassischen Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs. Diese Prüfung hätte er ebenso unter dem Dach des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung vornehmen können, ohne dass sich dadurch zwingend der angewandte Maßstab geändert hätte313. Fraglich ist allerdings, ob dieser Maßstab – unabhängig von der Überschrift, unter der er angewandt wird – materiell dem des EGMR entspricht. 309
EGMR, Urteil vom 16.4.2002, Stés Colas Est u. a./Frankreich, RJD 2002-III. EGMR, a. a. O., Ziff. 40. 311 EGMR, a. a. O., Ziff. 41. 312 Siehe dazu M. Hilf/S. Hörmann, Der Grundrechtsschutz von Unternehmen im europäischen Verfassungsverbund, NJW 2003, S. 1, 8 f. 313 Eine losgelöste Prüfung von Gesetzesvorbehalt und Verhältnismäßigkeit ist beim EuGH nicht ungewöhnlich. Da die Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gelten, spielt die Bestimmung der grundrechtlichen Schutzbereiche in der EuGH-Rechtsprechung ohnehin nur eine sehr untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt liegt auf der Rechtfertigungsprüfung, vgl. oben 2. Teil, B. II. 4. 310
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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Insbesondere dem ausführlich begründeten Niemietz-Urteil lassen sich einige Grundsätze für Durchsuchungsbefehle und Geschäftsraumdurchsuchungen entnehmen, die unabhängig von der Art des jeweiligen Grundrechtsberechtigten gelten und auf gemeinschaftsrechtliche Unternehmensdurchsuchungen im Rahmen eines Kartellverfahrens übertragen werden können. Lawson hat auf dieser materiellen Basis einen Vergleich zwischen dem Niemietz-Urteil und dem Hoechst-Urteil vorgenommen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der vom EuGH angesetzte Grundrechtsstandard in einigen Punkten niedriger ist als der, den der Menschenrechtsgerichtshof gewährt314. Während er, wie andere Autoren, diese materielle Divergenz noch darauf zurückführte, dass das Diktum des EuGH zeitlich vor dem des EGMR ergangen war315, hat der Luxemburger Gerichtshof inzwischen in einem jüngeren Urteil seine Linie aus dem Hoechst-Urteil bestätigt und sich damit nicht inhaltlich vollständig dem EGMR angepasst. In dem Vorlageverfahren Roquette Frères aus dem Jahr 2002, in dem es wiederum um die Rechtmäßigkeit einer von der Kommission in einem Wettbewerbsverfahren angeordneten Untersuchungsmaßnahme ging, verweist der EuGH zwar in seinen der eigentlichen Rechtsprüfung vorangestellten Ausführungen zu den Auswirkungen der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts auf die Urteile Stés Colas Est und Niemietz des EGMR316. In der nachfolgenden rechtlichen Prüfung der Maßnahme wendet er aber die von ihm in der Hoechst-Entscheidung entwickelten Grundsätze an, ohne auf die 314 R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermers, Bd. III, 219, 244 ff. Insbesondere weist er auf das vom EGMR aufgestellte Erfordernis eines vorherigen richterlichen Beschlusses, das auch die Firma Hoechst in ihrem Verfahren vor dem EuGH angemahnt hatte, hin. Der EuGH ist in dieser Hinsicht weniger strikt. Siehe zu einem Vergleich der Schutzstandards bezüglich Art. 8 EMRK auch M. Hilf/S. Hörmann, Der Grundrechtsschutz von Unternehmen im europäischen Verfassungsverbund, NJW 2003, S. 1, 6 ff. 315 R. Lawson, a. a. O., S. 246. Darauf verweisen auch N. Philippi, Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, S. 97, 122; dies., Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 68; D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 770; G. Ress, Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 206; S. Alber/U. Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497, 504; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 148; E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 222. Differenzierend A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 140. 316 EuGH, Rs. C-94/00, Roquette Frères, Slg. 2002, S. I-9011, Rn. 29.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
neueren Entwicklungen in den von ihm vorher angeführten EGMR-Urteilen einzugehen317. Der von ihm in diesem Fall zugestandene Grundrechtsschutz scheint somit im Ergebnis vom Umfang her geringer auszufallen als der, den das Unternehmen bei einer Beschwerde vor dem Straßburger Gerichtshof erhalten hätte318. Ein Vergleich des materiellen Schutzstandards unabhängig von dem einschlägigen Grundrecht führt folglich zu dem Ergebnis, dass in diesem Bereich tatsächlich materielle Divergenzen zwischen EGMR und EuGH vorliegen. Spätestens im Fall Roquette Frères hätte der EuGH bei seiner inhaltlichen Prüfung auf die vorhandenen, vom Straßburger Gerichtshof herausgearbeiteten Grundsätze zu Untersuchungen von Geschäftsräumen juristischer Personen zurückgreifen können. Dass er dies nicht getan hat, sondern offensichtlich bewusst eine Divergenz zu der Straßburger Judikatur in Kauf genommen hat, lässt sich damit erklären, dass es sich bei dem betroffenen Bereich des Wettbewerbsrechts um einen Kernbereich gemeinschaftlicher Kompetenzen handelt. Vor dem Hintergrund des Binnenmarktes mit seinem wirtschaftlichen Integrationsgedanken und der weiteren in Art. 2 und 3 EGV formulierten Ziele wird der EuGH bei Maßnahmen, die diese Gebiete betreffen, regelmäßig in besonderem Maße eigene, gemeinschaftsspezifische Wertungen in seine Urteile einbringen319. Seine Bereitschaft, hier auf außergemeinschaftlich aufgestellte Standards zurückzugreifen, wird aufgrund seiner gerichtlichen „Spezialistenrolle“ für dieses Rechtsgebiet geringer sein als in Bereichen, die nicht zur originären Kernkompetenz der Gemeinschaft zu rechnen sind, wie beispielsweise bei Maßnahmen, die in die klassischen Freiheitsrechte des Individuums eingreifen, auf die wiederum der EGMR spezialisiert ist. Wirklich einsichtig ist das Abweichen von dem Schutzniveau des Straßburger Gerichtshofs aber trotz der Gemeinschaftsspezifizität der Materie auch in den Durchsuchungsfällen nicht: Wenn im Wettbewerbsrecht die Grundrechte genauso gelten und zum Tra317
EuGH, a. a. O., Rn. 33 ff. Dazu C. Feddersen, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-94/00, Roquette Frères, EuZW 2003, S. 22, 23, der einen „Systemfehler“ im Gemeinschaftsrecht ausmacht, weil effektiver Rechtsschutz in den Durchsuchungsfällen in der Regel nur nachträglich zu erreichen sei. 319 So auch D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 770. Hinzu kommt, dass es sich in Wettbewerbsfragen in der Regel um gemeinschaftsrechtlich „durchdeterminierte“ Akte handelt, bei denen den mitgliedstaatlichen Behörden keinerlei Ermessens- oder Umsetzungsspielraum bleibt. Auch insofern liegt es nahe, dass der EuGH in diesen Fällen größeren Wert auf Festlegung seiner eigenen Standards legt, als wenn er mitgliedstaatliche Maßnahmen prüft, die nur über das Bindeglied des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“ unter seine Jurisdiktion fallen. 318
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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gen kommen, wie in jedem anderen Bereich, in dem die Gemeinschaft Hoheitsgewalt ausübt, sollte sie auch hier die EMRK-Standards anerkennen und sich ihnen anpassen320. Es ist nicht ersichtlich, dass sich dies negativ auf die wirtschaftliche Integration in der Gemeinschaft auswirken würde. b) Umfang der Verteidigungsrechte Unterschiedliche Auslegungen von EuGH und EGMR sind auch im Bereich der Verteidigungsrechte des Art. 6 EMRK aufgetreten. Der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden soll, gegen sich selbst auszusagen (nemo tenetur se ipsum accusare), wird nicht ausdrücklich in Art. 6 EMRK gewährleistet. Beiden Gerichtshöfen stellte sich in verschiedenen Verfahren die Frage, ob sich ein solches Recht implizit aus der generellen Garantie des fairen Verfahrens ergeben und damit Geltung auf der jeweiligen Rechtsebene entfalten könnte. Der EuGH musste sich mit der Frage nach der Geltung des Selbstbezichtigungsverbots wiederum in einem wettbewerbsrechtlichen Verfahren auseinandersetzen. In der Rechtssache Orkem aus dem Jahr 1989 ging es um eine Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Kommission, die das klagende Unternehmen verpflichtete, bestimmte Auskünfte zu erteilen, von denen sich die Kommission Informationen über einen möglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht erhoffte321. In seiner Urteilsbegründung beleuchtete der Luxemburger Gerichtshof zunächst ausführlich Sinn und Zweck der wettbewerbsrechtlichen Untersuchungsbefugnisse der Kommission322. Zum Selbstbelastungsverbot führte er aus, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ein solches Recht nur natürlichen Personen in Strafverfahren zuerkennten, nicht aber juristischen Personen in Bezug auf Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art323. Art. 6 EMRK könne zwar auch von Unternehmen in Wettbewerbsverfahren geltend gemacht werden. Weder aus dem Wortlaut der Vorschrift noch aus der Rechtsprechung des EGMR ergebe sich aber das Recht, nicht gegen sich selbst als Zeuge aussagen zu müssen324. Nach dieser Feststellung prüfte der EuGH indes ausführlich, ob sich „aus dem Erfordernis der Wahrung der Rechte der Verteidigung, die 320 R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermers, Bd. III, S. 219, 245, merkt an, dass eine „strict compliance“ mit den EMRK-Standards im Wettbewerbsrecht besonders wichtig sei, gerade weil der Kommission in diesem Bereich weitreichende Befugnisse zukämen. 321 EuGH, Rs. 374/87, Orkem, Slg. 1989, S. 3283 ff. 322 EuGH, a. a. O., Rn. 18–27. 323 EuGH, a. a. O., Rn. 29. 324 EuGH, a. a. O., Rn. 30.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
der Gerichtshof als fundamentalen Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung angesehen hat . . ., Beschränkungen der Untersuchungsbefugnisse der Kommission“ ergeben könnten. Er unterschied folglich zwischen der Auslegung von Art. 6 EMRK einerseits und den „Rechten der Verteidigung“ als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts andererseits. Dabei gelangte er zu einem differenzierten Ergebnis: Eine indirekte Selbstbelastung durch die Bereitstellung belastenden Beweismaterials hielt er nicht für einen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte. Eine direkte Selbstbelastung durch das Eingeständnis eines Rechtsverstoßes sah er hingegen als nicht mehr mit den Verteidigungsrechten vereinbar an325. Vier Jahre nach dieser Entscheidung war der Straßburger Gerichtshof im Verfahren Funke gegen Frankreich ebenfalls mit der Frage befasst, ob sich aus Art. 6 EMRK ein Verbot der Selbstbezichtigung ableiten lasse326. Herr Funke, ein in Frankreich wohnhafter Deutscher, wurde wegen Verstoßes gegen Steuervorschriften von den französischen Behörden verfolgt. Aufgrund seiner Weigerung, den Behörden Bankunterlagen herauszugeben, die mögliche Hinweise auf von ihm begangene strafbare Handlungen hätten liefern können, wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet. Der EGMR sah hierin einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, da dieser auch das Recht eines Angeklagten beinhalte, zu schweigen und nicht dazu beizutragen, sich selbst zu belasten327. Anders als der EuGH erachtete er also auch eine nur indirekte Selbstbezichtigung durch die Bereitstellung belastenden Beweismaterials als einen Verstoß gegen EMRK-Rechte. Die beiden Fälle unterscheiden sich auf der Sachverhaltsebene erneut nach den betroffenen Personen, die sich auf das Selbstbelastungsverbot als das vor beiden Gerichtshöfen geltend gemachte Grundrecht berufen: Vor dem EuGH war es eine juristische Person, während der EGMR wieder mit der Individualbeschwerde einer natürlichen Person befasst war. Der EuGH differenzierte in seiner Argumentation, wie aufgezeigt, ausdrücklich zwischen natürlichen und juristischen Personen. Gleichwohl ist hier eine größere Vergleichbarkeit als bei den vorher untersuchten Fällen zum Schutz von Geschäftsräumen gewährleistet. Die Rechte des Art. 6 EMRK einschließlich der Verteidigungsrechte knüpfen, anders als Art. 8 EMRK, nicht unmittelbar an Umstände an, die spezifisch in natürlichen Personen begründet sind und sich nicht direkt auf juristische Personen übertragen lassen. Die materiellen Rechtsverbürgungen in Art. 8 EMRK sind Ausdruck des Gedankens freier persönlicher Lebensgestaltung des Einzelnen. Wie auf325 EuGH, a. a. O., Rn. 32 ff. Dazu N. Philippi, Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, S. 97, 112 f. 326 EGMR, Urteil vom 25.2.1993, Funke/Deutschland, Serie A Nr. 256-A. 327 EGMR, a. a. O., Ziff. 44.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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gezeigt, hat der Straßburger Gerichtshof erst in jüngerer Zeit auch juristische Personen in den Schutzbereich des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung, das mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens eng zusammenhängt, einbezogen. Die prozessualen Rechte des Art. 6 EMRK hingegen können unproblematisch sowohl von Individuen als auch von Personenmehrheiten geltend gemacht werden. Wenn also EuGH und EGMR die Reichweite des Selbstbelastungsverbots als Teil der Verteidigungsrechte – egal, ob diese Art. 6 EMRK zugeordnet werden oder unabhängig davon als allgemeine Rechtsgrundsätze gelten – unterschiedlich beurteilen, wie in den geschilderten Fällen Orkem und Funke, so lässt sich sagen, dass in Bezug auf dieses Recht eine materielle Divergenz zwischen den beiden Gerichtshöfen vorliegt. Das materielle Schutzniveau, das den durch die Hoheitsgewalt in ihren Grundrechten betroffenen Personen gewährt wird, divergiert, wenn der eine Gerichtshof sowohl direkte als auch indirekte Selbstbelastungen als Rechtsverstoß ansieht, während der andere Gerichtshof nur direkte Selbstbelastungen als rechtswidrig bewertet. Als Grund für diese divergierende Auslegung lässt sich erneut anführen, dass der Luxemburger Gerichtshof in einem wettbewerbsrechtlichen Verfahren geurteilt und daher eigene gemeinschaftsspezifische Standards angewendet hat. Er hat in der Urteilsbegründung die Besonderheiten des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts als spezieller Materie des Wirtschaftsrechts, die sich vorrangig mit juristischen Personen befasst, betont und von anderen Bereichen abgegrenzt. Zwar ging auch in diesem Fall sein Urteil dem divergierenden Urteil des EGMR zeitlich voraus. Die Orkem-Rechtsprechung des EuGH ist jedoch im Jahr 2001 vom Gericht erster Instanz in vollem Umfang bestätigt worden, was zeigt, dass auch nach Vorliegen möglicher Leitlinien in Form eines EGMR-Urteils keine Anpassung seitens der Gemeinschaftsgerichte erfolgt ist. Im Fall Mannesmannröhren-Werke befand sich das klagende Unternehmen in der gleichen Situation wie Orkem und berief sich im gerichtlichen Verfahren unter Verweis auf das Straßburger Funke-Urteil ebenfalls auf das Verbot der Selbstbezichtigung328. Das Gericht erster Instanz leitete seine Grundrechtsprüfung mit der Feststellung ein, es könne eine wettbewerbsrechtliche Untersuchung nicht anhand der EMRK-Bestimmungen beurteilen, da diese als solche nicht Bestandteil des Gemeinschaftsrechts seien329. An späterer Stelle wies es nochmals darauf hin, dass sich das klagende Unternehmen vor dem Gemeinschaftsrichter 328
EuG, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke, Slg. 2001, S. II-729 ff. Siehe auch das vorher ergangene Urteil des EuGH in der Rs. C-60/92, Otto BV, Slg. 1993, S. I-5683, Rn. 11 ff., in dem der EuGH sich ebenfalls nur auf seine eigene OrkemRechtsprechung bezieht und nicht auf das inzwischen ergangene Straßburger FunkeUrteil verweist. 329 EuG, a. a. O., Rn. 59.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
nicht unmittelbar auf die EMRK berufen könne330. Inhaltlich stimmt die grundrechtliche Prüfung mit den im Orkem-Urteil herausgearbeiteten Grundsätzen überein, d. h. eine indirekte Selbstbelastung im Kartellverfahren wird nicht als Verstoß gegen die Verteidigungsrechte gesehen331. Interessanterweise beschließt das Gericht erster Instanz seine Grundrechtsprüfung mit der Feststellung, dass die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze für den Bereich des Wettbewerbsrechts einen Schutz böten, der dem durch Art. 6 EMRK vermittelten Schutz gleichwertig sei332. Hiermit scheint das Gericht klarstellen zu wollen, dass es sich der Problematik um die parallel laufenden europäischen Grundrechtsschutzsysteme bewusst ist und sich grundsätzlich bemüht, inhaltliche Differenzen zu vermeiden333. Die Aussage mutet allerdings gerade in dieser Entscheidung absurd an, da das Gericht erster Instanz sich hier sozusagen sehenden Auges dafür entschied, keinen grundrechtlichen Schutz vor direkter Selbstbelastung zu gewähren, obwohl der EGMR dieses Recht in einem vorhergehenden Verfahren als von der EMRK umfasst angesehen und der Kläger sich im Verfahren auf diese Straßburger Rechtsprechung berufen hatte334. Zwar ist zu bedenken, dass sich das EuG als erstinstanzliches Gericht in erster Linie an der Rechtsprechung des EuGH als dem ihm übergeordneten Rechtsmittelgericht orientieren wird. Mit seiner Aussage zu den gleichwertigen Standards im gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz und nach der EMRK unter gleichzeitiger Festschreibung einer inhaltlichen Divergenz bei der Auslegung eines Grundrechts widerspricht sich das EuG jedoch selbst. Für den Bereich der Verteidigungsrechte gilt das Gleiche wie das oben zum Schutz von Geschäftsräumen im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK 330 331 332 333
EuG, a. a. O., Rn. 75. EuG, a. a. O., Rn. 61 ff. EuG, a. a. O., Rn. 77. So auch E. Pache, Anmerkung zu EuG, Rs. T-112/98, EuZW 2001, S. 351,
352. 334 Kritisch zu dem Urteil des EuG auch G. Schohe, Muss die Berufung auf Grundrechte zweckmäßig sein? Zur Aussageverweigerung im europäischen Kartellrecht, NJW 2002, S. 492, 493, der anmerkt, der EGMR schütze das Recht um seiner selbst willen, während die Rechtsauslegung des EuG sich allein vom Grundsatz des effet utile habe leiten lassen, was dazu führe, dass das Recht dem Gemeinschaftsinteresse am Wettbewerb untergeordnet würde. Schohe wirft die Frage auf, ob die „letzte Finalität des Gemeinschaftsrechts“ beim „Menschen und seinen Unternehmungen“ läge oder „bei der konsequenten Vermehrung einer hoheitlichen Macht, die dem Menschen wegen ihres geschichtlichen Glanzes vorgegeben wäre und vor welcher dieser, wenn es zum Konflikt mit seinem Recht kommt, im Zweifel das Knie zu beugen hätte“. Aus dem Kontext des Falls ergibt sich allerdings, dass es Schohe dabei nicht gerade um die klassischen Freiheitsrechte des Individuums im Gemeinschaftsrecht als Pendant zu den individuellen Menschenrechten der EMRK, sondern allein um die wirtschaftlichen Rechte von Unternehmen geht.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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Festgestellte: Es gibt keinen Grund dafür, die EMRK-Standards nicht auch auf das gemeinschaftliche Wettbewerbsrecht zu übertragen und den betroffenen Unternehmen so einen Schutz entsprechend der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs zukommen zu lassen. c) Anspruch auf rechtliches Gehör Die prozessualen Garantien des Art. 6 EMRK bilden auch in anderer Hinsicht den Gegenstand unterschiedlicher Auslegungen von EuGH und EGMR. Im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör, der aus dem allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgt, sind divergierende Entscheidungen der beiden Gerichtshöfe ergangen. Der Straßburger Gerichtshof war in mehreren Verfahren mit der Frage befasst, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK auch das Recht der Parteien in nationalen Gerichtsverfahren umfasst, auf die Schlussanträge von Generalanwälten zu erwidern. In einigen römisch-rechtlich geprägten nationalen Rechtsordnungen, wie der französischen, belgischen oder portugiesischen, beziehen Generalanwälte als unabhängige Organe der Rechtspflege in Verfahren der Straf-, Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit Stellung. Diese Stellungnahmen werden in der Regel bei der gerichtlichen Urteilsfindung berücksichtigt, ohne dass ihnen Bindungswirkung zukommt. Die Institution des Generalanwalts beim EuGH ist durch diese nationalen Vorbilder, insbesondere durch den französischen Commissaire du Gouvernement, inspiriert335. Im Fall Vermeulen hatte ein belgischer Staatsangehöriger den Menschenrechtsgerichtshof angerufen, nachdem über sein Unternehmen Konkurs eröffnet worden war und er sich hiergegen auf dem nationalen Rechtsweg erfolglos gewehrt hatte. Die Verhandlung vor der in letzter Instanz zuständigen Cour de Cassation endete mit einer Stellungnahme des belgischen Generalanwalts als Vertreter der Prokuratur. Dieser war auch bei den anschließenden Beratungen der Richter über das Urteil anwesend. Der Beschwerdeführer rügte in diesem Zusammenhang vor dem EGMR die Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren, da er keine Möglichkeit gehabt habe, auf die das Verfahren abschließende Stellungnahme des Generalanwalts zu erwidern336. Der Gerichtshof stellte in seiner Urteilsbegründung zunächst fest, dass die Unterscheidung zwischen Straf- und Zivilverfahren sich nicht auf die Beurteilung der Funktion des Generalanwalts auswirke. Dem Generalanwalt komme bei allen Verfahrensarten die gleiche Aufgabe zu, nämlich in strikt objektiver Weise das Gericht zu unterstützen und auf 335 336
B. Wegener in: Calliess/Ruffert, 3. Auflage, Art. 222 EGV Rn. 1. EGMR, Urteil vom 20.2.1996, Vermeulen/Belgien, RJD 1996-I.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
eine einheitliche Entscheidungspraxis hinzuwirken337. Angesichts der Bedeutung der generalanwaltlichen Stellungnahme für den Verfahrensausgang bedeute die Unmöglichkeit, auf eine solche Stellungnahme replizieren zu können, eine Verletzung des Rechts auf ein kontradiktorisches Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dieses Recht umfasse die Möglichkeit einer Partei, von sämtlichen ins Verfahren eingebrachten Beweisen und Stellungnahmen Kenntnis zu nehmen und sie zu kommentieren, auch wenn es sich dabei um Vorbringen von objektiv handelnden Organen der staatlichen Rechtspflege handele338. Obwohl er damit einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK bereits festgestellt hatte, betonte der EGMR im Anschluss noch, dass die Verletzung dadurch erschwert würde, dass der Generalanwalt bei der richterlichen Urteilsberatung, wenn auch nur in beratender Funktion, anwesend war339. In einem ähnlich gelagerten, am selben Tag entschiedenen Verfahren gegen Portugal, in dem es um einen sozialgerichtlichen Streit und die Rolle des Generalanwalts im diesbezüglichen Gerichtsverfahren ging, kam der EGMR mit der gleichen Begründung ebenfalls zu einer Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren340. Der Luxemburger Gerichtshof wurde einige Jahre später auf ungewöhnlichem Wege mit einer vergleichbaren, allerdings gemeinschaftsinternen Problematik konfrontiert. Das Unternehmen Emesa Sugar beantragte beim EuGH, ihm die Einreichung einer schriftlichen Stellungnahme zu den im Rahmen eines sie betreffenden Vorabentscheidungsverfahrens ergangenen Schlussanträgen des Generalanwalts zu gestatten. Weder die Satzung noch die Verfahrensordnung des EuGH sehen eine solche Möglichkeit vor. Das Unternehmen berief sich jedoch ausdrücklich auf die Vermeulen-Rechtsprechung des EGMR und führte an, dass die fehlende Möglichkeit, auf die Schlussanträge zu erwidern, sein Recht auf ein faires Verfahren, wie es sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebe, verletze. Der EuGH wies den Antrag mit einem Beschluss aus dem Jahr 2000 zurück341. Dabei befasste er sich relativ ausführlich mit der Stellung und der Rolle der Generalanwälte in der gemeinschaftlichen Gerichtsverfassung. Die Generalanwälte seien unparteilich und unabhängig und somit in keiner Weise mit Interessenvertre337 EGMR, a. a. O., Ziff. 29 f. Auf die Unterscheidung zwischen Strafrecht und anderen Rechtsgebieten stellten hingegen die Richter Gölcüklü, Matscher und Pettiti in ihrer abweichenden Meinung zu dem Urteil ab. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK in diesem Fall nicht verletzt war, weil es sich um ein zivilrechtliches Verfahren handelte. 338 EGMR, a. a. O., Ziff. 33. 339 EGMR, a. a. O., Ziff. 34. 340 EGMR, Urteil vom 20.2.1996, Lobo Machado/Portugal, RJD 1996-I, Ziff. 28 ff. 341 EuGH, Rs. C-17/98, Emesa Sugar, Slg. 2000, S. I-665 ff.
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tung befasst342. Ihre in objektiver Funktion verfassten Schlussanträge seien nicht Bestandteil des Verfahrens zwischen den Parteien, sondern eröffneten die Phase der Urteilsfindung des Gerichtshofs. Sie nähmen damit an der Wahrnehmung der dem Gerichtshof zugewiesenen Rechtsprechungsaufgabe teil343. Aufgrund dieser institutionellen und funktionellen Verbindung zwischen den Generalanwälten und dem Gerichtshof könne die angeführte Rechtsprechung des EGMR nicht auf die Schlussanträge der Generalanwälte beim EuGH übertragen werden. Zur Bekräftigung seiner Auffassung, dass keine Verfahrensrechte verletzt seien, fügte der EuGH abschließend noch zwei weitere Argumente an: Zum einen merkte er an, dass die Möglichkeit für die Verfahrensparteien, auf die generalanwaltlichen Schlussanträge zu erwidern, zu einer erheblichen Verlängerung der Verfahrensdauer führen würde344. Hierbei handelt es sich allerdings um ein rein tatsächliches, nicht um ein rechtlich zwingendes Argument. Zum anderen verwies er auf Art. 61 seiner Verfahrensordnung, der vorsieht, dass die mündliche Verhandlung nach Anhörung des Generalanwalts wiedereröffnet werden kann, sofern der Gerichtshof sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen für entscheidungserheblich erachtet. Auf diese Weise werde dem Anspruch auf rechtliches Gehör im gemeinschaftlichen Gerichtsverfahren hinreichend Rechnung getragen345. Der EuGH hat folglich in diesem Fall bewusst anders entschieden als der Menschenrechtsgerichtshof, auf dessen bereits ergangene Judikatur sich das antragstellende Unternehmen Emesa Sugar gestützt hatte. Dass es sich hierbei um eine echte materielle Divergenz zwischen EuGH und EGMR in Bezug auf das betroffene Recht, den Anspruch auf rechtliches Gehör, handelt, ist allerdings nicht offensichtlich. Der EuGH begründet seine Entscheidung mit den Besonderheiten des gemeinschaftlichen Gerichtsverfahrens und der im Vergleich zu nationalen Rechtsordnungen anders gearteten Rolle und Stellung des Generalanwalts und grenzt den von ihm zu entscheidenden Fall auf diese Weise inhaltlich von der Straßburger Rechtsprechung ab. In der Literatur ist der Emesa Sugar-Beschluss trotz dieser inhaltlichen Abgrenzung auf Kritik gestoßen. So wird angeführt, dass der EGMR in seinen Urteilen zur Begründung der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gerade nicht auf die Stellung und Funktion der Generalanwälte im jeweiligen nationalen Gerichtsverfahren abgestellt habe, sondern darauf, dass 342
EuGH, EuGH, 344 EuGH, gerichtlichen falt. 345 EuGH, 343
a. a. O., Rn. 11–13. a. a. O., Rn. 14 f. a. a. O., Rn. 17. Der EuGH verwies hierbei auf die dem gemeinschaftsVerfahren immanenten Besonderheiten, insbesondere die Sprachenviela. a. O., Rn. 18.
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eine Prozesspartei nicht mehr auf eine die Urteilsfindung beeinflussende Stellungnahme habe antworten können. Dies gelte aber für das gemeinschaftliche Gerichtsverfahren genauso wie für die Verfahren vor nationalen Gerichten346. Diese Kritik am EuGH wird indes durch ein zeitlich nach dem Emesa Sugar-Beschluss ergangenes Urteil des EGMR widerlegt. In dem Fall Kress gegen Frankreich ging es um die gleiche Problematik wie in den bereits besprochenen Fällen, allerdings in einem Verfahren vor dem französischen obersten Verwaltungsgericht, dem Conseil d’Etat. Der Beschwerdeführer rügte, dass er keine Möglichkeit gehabt habe, von der Stellungnahme des Commissaire du Gouvernement vorab Kenntnis zu nehmen und darauf zu erwidern, und dass außerdem der Generalanwalt an der richterlichen Beratung teilgenommen habe. Der EGMR analysierte in seinem Urteil sorgfältig das verwaltungsgerichtliche Verfahren vor dem Conseil d’Etat und kam zunächst zu dem Schluss, dass in der fehlenden Erwiderungsmöglichkeit keine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu sehen sei. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör werde durch verschiedene Besonderheiten in der Verfahrensausgestaltung hinreichend Rechnung getragen347. Die Tatsache, dass der Commissaire du Gouvernement bei den Beratungen der Richter anwesend war, sah er hingegen als einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren an. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass durch diese Anwesenheit maßgeblicher Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens genommen werde, ohne dass die Prozesspartei die Möglichkeit gehabt hätte gegenzusteuern348. Durch dieses Urteil hat der Menschenrechtsgerichtshof dem gemeinschaftlichen Gerichtsverfahren mit der Institution des Generalanwalts im Hinblick auf das Recht auf rechtliches Gehör „grünes Licht gegeben“ und den Emesa Sugar-Beschluss des EuGH abgesegnet. Denn im Verfahren vor dem EuGH nimmt der in seiner Funktion durch die französische Rechtsordnung inspirierte Generalanwalt gemäß Art. 27 der Verfahrensordnung gerade nicht an den Beratungen der Richter teil349. Hierauf so346
T. Schilling, Zum Recht der Parteien, zu den Schlussanträgen der Generalanwälte beim EuGH Stellung zu nehmen, ZaöRV 60 (2000), S. 395, 400 ff., insbes. S. 411; R. Lawson, Case Comment Emesa Sugar, CMLRev. 37 (2000), S. 983, 987; F. Benoît-Rohmer, L’affaire Emesa Sugar: l’institution de l’avocat général de la Cour de justice des Communautés européennes à l’épreuve de la jurisprudence Vermeulen de la Cour européenne des droits de l’homme, CDE 2001, S. 403, 413 ff. 347 EGMR, Urteil vom 7.6.2001, Kress/Frankreich, RJD 2001-VI, Ziff. 66 ff., 72 ff. 348 EGMR, a. a. O., Ziff. 77 ff. 349 Siehe oben 3. Teil, A. II. 4. c). Auf diese Unterscheidung weist auch G. Ress hin, Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 206.
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wie auf die Parallelen zwischen der Institution des Generalanwalts beim EuGH und dem Commissaire du Gouvernement du Conseil d’Etat verweist der EGMR in seinem Kress-Urteil nicht nur ausdrücklich, sondern zieht dies darüber hinaus als weitere Begründung für die Rechtswidrigkeit der französischen Praxis heran350. Er nimmt in diesem Fall folglich das gemeinschaftliche Modell als Vorbild für ein EMRK-konformes Gerichtsverfahren. Somit kann dem EuGH in diesem Bereich nicht vorgeworfen werden, Grundrechtsschutz unterhalb der Standards der Menschenrechtskonvention zu gewährleisten. Die besprochenen Fälle zum Anspruch auf rechtliches Gehör lassen sich folglich bei genauer Analyse als ein Bereich nur vermeintlicher materieller Divergenzen zwischen Luxemburger und Straßburger Gerichtshof enttarnen. Der Versuch des Unternehmens Emesa Sugar, nach der ablehnenden EuGH-Entscheidung mit einer Beschwerde vor dem EGMR doch noch zu seinem Recht zu kommen, scheiterte. Die Straßburger Richter wiesen die Beschwerde als unzulässig zurück351. Dabei zogen sie sich allerdings darauf zurück, dass der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet sei, da es sich bei dem zugrunde liegenden Verfahren nicht um eine zivilrechtliche Streitigkeit oder ein strafrechtliches Verfahren im Sinne der Vorschrift gehandelt hätte352. Die Frage einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör wurde überhaupt nicht erwähnt, so dass die Entscheidung im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielt. Sie ist indes aus rechtspolitischer Sicht insofern interessant, als sie eine Facette des Umgangs des Straßburger Gerichtshofs mit gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalten in jüngerer Zeit zeigt353. d) Ergebnis zu den Fällen „echter“ materieller Divergenzen Die Gegenüberstellung der Fälle zeigt, dass materielle Divergenzen in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe durchaus auftreten können und auch bereits aufgetreten sind. Solche Divergenzen können unabhängig davon vorkommen, ob der EuGH mitgliedstaatliche Rechtsakte oder Gemein350 EGMR, a. a. O., Ziff. 86: „The Court is confirmed in this approach by the fact that at the Court of Justice of the European Communities the Advocate General, whose role is closely modelled on that of the Government Commissioner, does not attend the deliberations . . .“. 351 EGMR, Unzulässigkeitsentscheidung vom 13.1.2005, Beschwerde-Nr. 62023/00, Emesa Sugar/Niederlande. 352 EGMR, a. a. O., am Ende seiner Entscheidungsbegründung. 353 Siehe zu dem Urteil M. Breuer, Offene Fragen im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuGRZ 2005, S. 229 ff., sowie J. Kokott, Die Institution des Generalanwalts im Wandel, in: FS Ress, S. 577 ff.
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schaftsrechtsakte überprüft354. Bei einem genaueren Blick auf die den Urteilen zugrunde liegenden Sachverhalte und die besonderen Umstände jedes einzelnen Falles erweist sich aber, dass ein unterschiedlicher Urteilsausspruch zum Umfang eines bestimmten Grundrechts nicht zwingend eine inhaltliche Rechtsprechungsdivergenz bedeutet. Bei einigen der vielfach als „klassische“ Divergenzbeispiele zitierten Fälle sind – wie aufgezeigt – die Unterschiede auf Sachverhaltsebene so groß, dass die unterschiedlichen Urteilsergebnisse darauf und nicht auf divergierende Rechtsauslegungen der Gerichtshöfe zurückzuführen sind. Daher kann auf der Basis des untersuchten Materials auch kein genereller Trend der Gemeinschaftsgerichte nachgewiesen werden, die Freiheitsrechte im Vergleich zum EGMR enger auszulegen355. Über das Aufzeigen materieller Rechtsprechungsdivergenzen hinaus ist die Gegenüberstellung der Urteile auch insofern interessant, als sie die unterschiedliche Art der Begründung in gleichartigen Fällen anschaulich macht. Entsprechend der durchgeführten allgemeinen Analyse der Urteilsstruktur und -begründung beider Gerichtshöfe findet sich in den besprochenen EGMR-Urteilen eine ausführliche rechtliche Argumentation, die stärker auf den Einzelfall abstellt. Die grundrechtlichen Ausführungen des EuGH in den einschlägigen Fällen sind kürzer und allgemeiner gehalten. Mit den Besonderheiten, die sich für den Grundrechtsbereich aus dem gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht ergeben, befasst sich der EuGH allerdings relativ detailliert. Auch in dem einzigen materiellen Divergenzfall unter den besprochenen Fällen, in dem er seinem Judikat auf Gemeinschaftsebene ein vorher ergangenes Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs zugrunde legen konnte, dem Emesa Sugar-Beschluss, geht er auf die Besonderheiten des gemeinschaftlichen Gerichtsverfahrens ein und grenzt seine Entscheidung so von der Straßburger Rechtsprechung ab. Dieses Eingehen auf die Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung und Abgrenzen von Fällen anderer Art lässt sich in zwei Richtungen deuten: Einerseits kann der EuGH 354 Dies betont auch R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermers, Bd. III, S. 219, 250 f. 355 Dies ist ein Vorwurf, der dem EuGH in diesem Zusammenhang seitens der Literatur gemacht wird, vgl. beispielsweise A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 140; G. Ress, Menschenrechte, europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht, in: FS Winkler, S. 897, 917. Siehe auch S. Alber/ U. Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkung auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497, 505: „Im Übrigen handelt es sich bei etwaigen Differenzen in der Rechtsprechung nicht um wesentliche, sondern um geringe Widersprüche, ein Umstand, der . . . Anlass sein muss, eine gewisse Erleichterung zu verspüren.“
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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damit seine letztinstanzliche Entscheidungshoheit, die keiner weiteren Gerichtsbarkeit untergeordnet sein soll, markieren wollen. Andererseits kann dies aber auch bedeuten, dass er zwar nach eigenen, selbst gesetzten Maßstäben urteilt, sofern die besonderen Umstände eines Falles dies gebieten, dass er aber andererseits gewillt ist, sich an vorhandene Straßburger Vorgaben zu halten, sofern solche besonderen Umstände nicht vorliegen. Aus der Analyse der materiellen Divergenzfälle kann jedenfalls nicht der Schluss gezogen werden, dass bislang besonders eklatante Diskrepanzen in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe aufgetreten sind. Auch für die Zukunft besteht keine ersichtliche Gefahr, dass derartige Diskrepanzen auftreten werden. Sowohl auf Luxemburger als auch auf Straßburger Seite sind die Richter erkennbar bemüht, die Grundrechtsrechtsprechung des jeweils anderen Gerichtshofs zu berücksichtigen. Wie das Kress-Urteil zeigt, bezieht sich nicht nur der EuGH auf Straßburger Urteile, sondern auch der EGMR nutzt die parallele Gemeinschaftsrechtsordnung, um daraus Argumente für seine Urteilsbegründungen zu ziehen. Dies kann als Anzeichen einer echten Interdependenz – im Gegensatz zu einer nur einseitigen Einwirkung der EMRK auf das Gemeinschaftsrecht und die EuGH-Judikatur – verstanden werden. 2. Vermeidung von Konflikten seitens des EuGH durch Wahl eines „nicht-grundrechtlichen“ Lösungswegs Neben den Fällen, in denen die beiden Gerichtshöfe gleiche Grundrechte unterschiedlich ausgelegt haben, gibt es Fälle, in denen ein möglicher offener Rechtsprechungskonflikt vermieden wurde. Der EuGH hat in einigen Entscheidungen die aufgeworfene Grundrechtsfrage bewusst offen gelassen und ist auf diese Weise einer Festlegung auf eine bestimmte Position mit der möglichen Konsequenz einer Abweichung von der Straßburger Linie ausgewichen356. Der Menschenrechtsgerichtshof hat hingegen bei vergleichbaren Problemstellungen die grundrechtliche Frage entschieden, ist also inhaltlich auf die jeweilige Problematik eingegangen. In den grundlegenden Fällen dieser Konstellation ging es jeweils um grundrechtlich sensible Bereiche, die eng mit dem Kern staatlicher Souveränität verwoben sind. Der 356 Vgl. zur Bedeutung dieser Konstellationen im Hinblick auf Divergenzen zwischen den beiden Gerichtshöfen J.-P. Puissochet, La Cour européenne des droits de l’homme, la Cour de justice des Communautés européennes et la protection des droits de l’homme, in: GS Ryssdal, S. 1139, 1147: „Le danger ne se mesure d’ailleurs pas simplement à l’aune des rares précédents. Il doit en effet prendre également en compte les cas où la Cour a pu éviter de se prononcer sur la violation de la CEDH alors que ses avocats généraux lui suggéraient une interprétation que la Cour de Strasbourg a ensuite contredite.“
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
EuGH legte sich – anders als der EGMR – weder bei der Frage nach der Vereinbarkeit eines Rundfunkmonopols mit der in Art. 10 EMRK verbürgten Rundfunkfreiheit fest noch äußerte er sich inhaltlich zu einem Konflikt zwischen dem Recht des Ungeborenen auf Leben einerseits und der Informationsfreiheit andererseits. a) Rundfunkfreiheit, Art. 10 EMRK Der Luxemburger Gerichtshof war im Jahr 1991 mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit des der Fernsehgesellschaft ERT erteilten Fernsehmonopols in Griechenland befasst. In Thessaloniki war ungeachtet des Monopols der ERT eine neue Fernsehanstalt gegründet worden, die mit der Ausstrahlung von Fernsehsendungen begonnen hatte. ERT beantragte, die Ausstrahlung der Sendungen durch die neue Fernsehanstalt gerichtlich verbieten zu lassen und begründete dies mit dem Rundfunkmonopol. Die neu gegründete Fernsehanstalt berief sich zu ihrer Verteidigung auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts und auf die Menschenrechtskonvention. Das griechische Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH mehrere Fragen nach der Vereinbarkeit der Monopolregelung mit dem Gemeinschaftsrecht und mit Art. 10 EMRK vor. Der EuGH ging in seinem Urteil ausführlich auf die Beurteilung des Rundfunkmonopols anhand der Grundfreiheiten des EG-Vertrags und der Wettbewerbsregeln ein357. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, dass die Dienstleistungsfreiheit und die Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrags der griechischen Monopolregelung unter bestimmten Umständen entgegenstehen könnten358. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit des Monopols mit Art. 10 EMRK verwies er zunächst auf die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze359 und setzte sich daran anschließend, in Fortsetzung seiner Rechtsprechung in den Rechtssachen Cinéthèque360 und Demirel 361, mit der Frage auseinander, ob der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der nationalen Monopolregelung überhaupt eröffnet sei. Dies bejahte er unter Verweis auf die notwendige Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte bei Inanspruchnahme der grundfreiheitlichen Ausnahmeklauseln durch die Mitgliedstaaten362. Als Konsequenz dieser Feststellung wäre zu erwarten gewesen, dass sich der Gerichtshof im Folgenden inhaltlich mit der Vereinbarkeit der Monopolregelung mit Art. 10 EMRK befassen würde. Stattdessen beließ er es jedoch 357 358 359 360 361 362
EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,
Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I-2925, Rn. 13 ff., 27 ff. a. a. O., Rn. 26 und 37. a. a. O., Rn. 41. verb. Rs. 60/84 und 61/84, Slg. 1985, S. 2605, Rn. 26. Rs. 12/86, Slg. 1987, S. 3719, Rn. 28. a. a. O., Rn. 43. Hierzu ausführlich oben 2. Teil, B. V. 2. b) aa).
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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bei dem allgemeinen Hinweis, dass das vorlegende Gericht und gegebenenfalls er selbst bei der Anwendung der Regelung der in Art. 10 EMRK verbürgten Meinungsfreiheit Rechnung zu tragen hätten, ohne in irgendeiner Weise inhaltlich auf die Problematik einzugehen363. Die Frage des vorlegenden Gerichts blieb damit in der Substanz unbeantwortet. Dies mutet umso erstaunlicher an, als der Gerichtshof zuvor noch angemerkt hatte, dass er „dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben [habe], die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat und die sich insbesondere aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben“364. Derartige Auslegungsleitlinien für das nationale Gericht fehlen vollständig. Teilweise wird vermutet, dass der EuGH mit seinem diesbezüglichen Schweigen implizit die Vereinbarkeit der Monopolregelung mit der EMRK zum Ausdruck gebracht habe. Anderenfalls hätte er dem vorlegenden Gericht Argumente für die Grundrechtswidrigkeit der Maßnahme an die Hand gegeben365. Da der EuGH aber überhaupt nicht inhaltlich auf die Grundrechtsfrage eingegangen ist, sprechen keine Gründe dafür, gerade diesen und nicht ebenso gut den umgekehrten Schluss zu ziehen. Naheliegender erscheint es, dass der Luxemburger Gerichtshof sich in diesem Punkt nicht vorwagen wollte und einer direkten Entscheidung aus politischen Motiven, insbesondere aus Gründen richterlicher Zurückhaltung, ausgewichen ist. Rechtsprechung des EGMR zur Vereinbarkeit eines nationalen Fernsehmonopols mit Art. 10 EMRK, auf die er sich hätte stützen können, gab es zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht. Anders als beispielsweise im Hoechst-Urteil hat der EuGH in seinem Urteil auf diesen Umstand fehlender Judikatur aus Straßburg aber nicht ausdrücklich hingewiesen und anschließend eine eigene Wertung getroffen, um eine inhaltliche Antwort auf die Vorlagefrage zu geben. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass der betroffene Rechtsbereich, das Rundfunkrecht, zwar mit dem Gemeinschaftsrecht verknüpft ist, die Materie aber weniger gemeinschaftsspezifisch ist als das Kartellverfahren, um das es in den Verfahren Hoechst und Orkem ging366. 363
EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I-2925, Rn. 44. EuGH, a. a. O., Rn. 42. Auf die Besonderheit des ERT-Urteils wegen Fehlens der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Grundrechtsfrage weist auch G. Ress hin, Media law in the context of the European Union and the European Convention on Human Rights, in: GS Ryssdal, S. 1173, 1187 („somewhat curious“). 365 So N. Philippi, Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, S. 97, 115; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 133 f. 366 Ähnlich D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 766. 364
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Der Menschenrechtsgerichtshof war zwei Jahre später mit einer Rechtssache befasst, die eine vergleichbare Fragestellung für ein anderes Land aufwarf. In dem Fall Informationsverein Lentia hatte er sich mit der Vereinbarkeit des österreichischen Rundfunkmonopols mit Art. 10 EMRK auseinander zu setzen367. In Österreich bestand ein de facto-Monopol des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zugunsten des ORF. Die Beschwerdeführer, private Organisationen und natürliche Personen, wehrten sich dagegen, dass ihnen der Betrieb eigener Radio- bzw. Fernsehsender versagt worden war. Der EGMR stellte in seinem Urteil zunächst fest, dass ein Eingriff in Art. 10 EMRK vorlag, und prüfte danach ausführlich eine mögliche Rechtfertigung der österreichischen Regelung am Maßstab des Art. 10 Abs. 2 EMRK. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die Maßnahme unverhältnismäßig sei und daher gegen die Meinungsfreiheit verstoße. Zwar sei der von Österreich verfolgte Zweck, die Qualität und Ausgewogenheit der Programme sowie die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung zu sichern, legitim368. Das öffentlich-rechtliche Monopol als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks sei jedoch nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK, da mildere Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Angesichts des technischen Fortschritts sei das Argument der Knappheit an Sendefrequenzen und Kanälen nicht zur Rechtfertigung der Regelung geeignet. Auch hätten Beschränkungen der Meinungsfreiheit ihre Berechtigung schon deshalb weitgehend verloren, weil die österreichischen Zuschauer und Zuhörer über Kabel bereits zahlreiche ausländische Programme empfangen könnten369. Damit hat der Straßburger Gerichtshof in durchaus verallgemeinerbarer Weise die Frage der Vereinbarkeit von Rundfunkmonopolen mit der Meinungsfreiheit geklärt und Leitlinien für spätere Entscheidungen vorgegeben. Bezeichnenderweise hat der EuGH diese Leitlinien in einem späteren Urteil aufgegriffen und so die Bereitschaft gezeigt, seine Rechtsprechung an der Judikatur aus Straßburg auszurichten, um keine Divergenzen entstehen zu lassen. In der Rechtssache Familiapress, in der es um das Verbot des Vertriebs einer deutschen Zeitschrift mit einem Gewinnspiel in Österreich ging, musste der EuGH die nationale Maßnahme auch im Lichte des Rechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK auslegen370. Diesmal nahm 367 EGMR, Urteil vom 24.11.199, Informationsverein Lentia u. a./Österreich, Serie A Nr. 276. 368 EGMR, a. a. O., Ziff. 33, 36. 369 EGMR, a. a. O., Ziff. 39. 370 EuGH, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I-3689, Rn. 24 ff. In diesem Fall handelte es sich wiederum, wie bei ERT, um die Überprüfung einer mitgliedstaatlichen Maßnahme, die sich als Ausnahmeregelung von den Grundfreiheiten des EGV (hier: zwingende Erfordernisse beim freien Warenverkehr) im Anwendungs-
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er eine inhaltliche Prüfung insbesondere der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme vor und berief sich dafür auf das Informationsverein Lentia-Urteil des EGMR371. Die Urteile des EuGH zur Meinungs- und Rundfunkfreiheit des Art. 10 EMRK lassen sich folglich so auslegen, dass sie von größerem Respekt gegenüber der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs zeugen als die vorher besprochenen Luxemburger Urteile zu den Art. 6 oder 8 EMRK. Der EuGH geht hier nicht mit einer eigenen Auslegung des Rechts voran, sondern hält sich zunächst zurück und passt seine Auslegung dann der in der Zwischenzeit ergangenen Straßburger Judikatur an. Dies muss allerdings nicht zwangsläufig nur mit dem Inhalt des betroffenen Menschenrechts zusammenhängen. Vielmehr kann die im Bereich des Art. 10 EMRK zurückhaltendere Grundrechtsrechtsprechung des EuGH auch darauf zurückzuführen sein, dass in den beiden besprochenen Fällen ERT und Familiapress, – wie oftmals bei Sachverhalten zur Meinungsfreiheit vor dem EuGH – jeweils mitgliedstaatliche Maßnahmen betroffen waren, die sozusagen „gerade noch“ als Ausnahmeregelungen zu den Grundfreiheiten in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und damit auch in den Bereich der richterlichen Entscheidungsgewalt des EuGH fielen. Anders als in den Fällen Hoechst und Orkem ging es nicht um Gemeinschaftsrechtsakte oder um mitgliedstaatliche Maßnahmen, die Gemeinschaftsrecht nur vollzogen, bei denen also kein mitgliedstaatlicher Entscheidungsspielraum mehr vorhanden war. Die Urteile zu Art. 10 EMRK können folglich als ein weiterer Beweis dafür herangezogen werden, dass der EuGH in diesem Bereich nationaler Maßnahmen, der sich – wie oben bereits dargestellt – direkt mit dem Zuständigkeitsbereich des EGMR überschneidet, dazu neigt, seine Grundrechtsjudikatur direkt an die Straßburger Vorgaben anzulehnen372. In diesen Fällen schwebt das Schwert einer möglichen zweiten Überprüfung derselben Rechtssache in Straßburg über dem EuGH, und ihm scheint daran gelegen zu sein, Konflikte von vornherein zu vermeiden.
bereich des Gemeinschaftsrechts befand, am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte. 371 Ausführlich zu den grundrechtlichen Aspekten dieses Urteils J. Kühling, Grundrechtskontrolle durch den EuGH. Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1997, S. 296 ff. 372 Vgl. dazu auch die Ausführungen oben 3. Teil, A. II. 5. b) cc) sowie 2. Teil, B. V. 2. b) dd). So auch R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermers, Bd. III, S. 219, 251.
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b) Der Konflikt zwischen Informationsfreiheit und Recht auf Leben – irische Schwangerschaftsabbruchfälle In dem im Zusammenhang mit der Übertragung der Lehre von der margin of appreciation auf die EuGH-Judikatur erwähnten Urteil in der Rechtssache SPUC/Grogan von 1991 ist der EuGH ebenfalls der Entscheidung einer wichtigen Grundrechtsfrage auf Gemeinschaftsebene ausgewichen373. Herr Grogan hatte mit anderen Mitgliedern einer Studentenvereinigung Broschüren veröffentlicht, die über Adressen von Abtreibungskliniken im Vereinigten Königreich informierten, ohne dass weitere Verbindungen der Vereinigung zu diesen Kliniken bestanden. Die Society for the Protection of Unborn Children (SPUC) klagte gegen die Mitglieder der Studentenvereinigung, um die weitere Verbreitung der Broschüren zu verhindern und die Rechtswidrigkeit der bereits erfolgten Verbreitung feststellen zu lassen. Das zuständige irische Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob ein Verbot der Informationsverbreitung in Irland über Abtreibungsmöglichkeiten in anderen EG-Mitgliedstaaten gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Bereits aus der Formulierung der Vorlagefragen ging hervor, dass es dem irischen High Court neben der Frage nach der Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten auch darum ging, den der Konstellation zugrunde liegenden Grundrechtskonflikt zwischen der Informationsfreiheit und dem Recht des Ungeborenen auf Leben vom EuGH bewerten zu lassen374. Der EuGH ist einer solchen Bewertung jedoch, wie oben bereits aufgezeigt, ausgewichen. Zwar ordnete er die Schwangerschaftsabbrüche als Dienstleistungen im Sinne des Art. 50 EGV ein375. Das Verbot der Informationsverbreitung sei aber keine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, da der Zusammenhang zwischen der Tätigkeit der Studentenvereinigung und den in den Kliniken durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen zu lose sei. Die Studenten handelten nicht im Auftrag der Kliniken, sondern nähmen unabhängig von deren wirtschaftlicher Tätigkeit die Meinungs- und Informationsfreiheit in Anspruch376. Mit diesem „Schachzug“ konnte der Luxemburger Gerichtshof eine inhaltliche Antwort auf die Grundrechtsfrage vermeiden: Mangels Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Verbot der Informationsweitergabe war der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nicht eröffnet, so dass er die nationale Regelung nicht am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte prüfen konnte377. Im Ergebnis gab 373 EuGH, Rs. 159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, S. I-4685 ff. Siehe hierzu bereits oben 3. Teil, A. II. 5. b) cc). 374 Vgl. die in Rn. 9 des Urteils SPUC/Grogan, a. a. O., aufgeführten Vorlagefragen: Die Fragen 2) und 3) zielen auf die grundrechtliche Konfliktsituation ab. 375 EuGH, a. a. O., Rn. 16 ff. 376 EuGH, a. a. O., Rn. 24–27.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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er dem irischen Gericht die Antwort, dass das Informationsverbreitungsverbot nicht dem Gemeinschaftsrecht widerspreche. Offensichtlich wollte der EuGH in diesem Fall zu der schwierigen grundrechtlichen Konfliktlage eine Entscheidung, die zwangsläufig eine ethischmoralische Wertung beinhaltet hätte, nicht treffen. Anders als im ERT-Urteil, wo er auf den Grundrechtsaspekt des Falls inhaltlich schlicht nicht eingegangen ist, hat er hier einen anderen, rechtlich gewundenen Weg gewählt, indem er eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit verneinte. Das Urteil ist, wie oben vermerkt, nicht konsistent mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Reichweite der Grundfreiheiten und deren Einordnung als Beschränkungsverbote und daher zu Recht kritisiert worden378. Es stellt sich die Frage, ob es unter den gegebenen Umständen nicht nur juristisch sauberer, sondern auch ehrlicher gewesen wäre, wenn der EuGH sein grundrechtliches „Dilemma“ in dieser Sache offen gelegt hätte. Dann hätte er zwei Möglichkeiten gehabt: Zum einen hätte er den Schlussanträgen des Generalanwalts van Gerven folgen und inhaltlich auf die Grundrechtsfrage eingehen, dem betroffenen Mitgliedstaat Irland aber in Anlehnung an die EGMR-Rechtsprechung einen weiten Beurteilungsspielraum zuerkennen können379. Alternativ hätte er die grundrechtlichen Aspekte des Falls unter Verweis darauf offen lassen können, dass zum Zeitpunkt seines Urteils die gleiche Problematik in Straßburg anhängig und eine Individualbeschwerde von der Menschenrechtskommission bereits für zulässig erklärt worden war380. Auf dieses Parallelverfahren hatte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen verwiesen381, es fand jedoch im Urteil keine Erwähnung. Die Gründe dafür, dass der EuGH die zweite Option nicht gewählt hat, sind naheliegend: Damit hätte er implizit die letztinstanzliche Entscheidungshoheit des Straßburger Gerichtshofs in Grundrechtsfragen auch für die Europäische Gemeinschaft anerkannt und sich selber dem EGMR untergeordnet. Die von ihm gewählte Lösung, die eine solche Unterordnung vermeidet und mit der er gleichzeitig relativ offensichtlich einer möglichen Divergenz zwischen seiner und der Straßburger Rechtsprechung 377
EuGH, a. a. O., Rn. 31. Vgl. oben 3. Teil, A. II. 5. b) cc). 379 Hierzu oben 3. Teil, A. II. 5. b) cc). 380 EKMR, Beschwerde-Nr. 14234/88 und 14235/88, Open Door Counselling und Dublin Well Woman Centre u. a./Irland, Zulässigkeitsentscheidung vom 15.5.1990. Zur Vergleichbarkeit der Fälle vor dem EuGH und dem EGMR R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermers, Bd. III, S. 219, 234: „The issues at stake in the two cases were so similar that they cannot be distinguished from a normative point of view.“ 381 Rz. 36 der Schlussanträge in der Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, S. I-4685 ff. 378
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entgegenzuwirken sucht, erscheint als rein pragmatisch-politisch und gerade unter Aspekten der Transparenz der Rechtsprechung und der Rechtssicherheit als nicht erstrebenswert. Der Menschenrechtsgerichtshof musste sich in seinem ein Jahr später ergangenen Urteil im Fall Open Door und Dublin Well Woman gegen Irland nicht mit Erwägungen zum Anwendungsbereich der EMRK-Rechte befassen und konnte die Sache daher menschenrechtlich „durchentscheiden“. Den Beschwerdeführern, Beratungszentren für schwangere Frauen, war ein den Studentenvereinigungen bei SPUC/Grogan vergleichbares Verbot der Verbreitung von Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten außerhalb Irlands auferlegt worden. Der EGMR wertete das Verbot der Informationsverbreitung als Eingriff in die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK382. Zur Prüfung der Rechtfertigung des Eingriffs führte er aus, dass das Verbot zwar nicht als der Verhütung von Straftaten dienend angesehen werden könne, dass es aber den legitimen Zweck verfolge, die Moral zu schützen, die den Schutz des ungeborenen Lebens als Teilaspekt umfasse383. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nahm er auf die Absolutheit des Informationsverbreitungsverbots Bezug: Da sich das Verbot umfassend auswirke und keine Ausnahmen und Differenzierungen nach Alter, Gesundheitszustand der Frauen und den Gründen für einen möglichen Schwangerschaftsabbruch enthalte, sei es unverhältnismäßig weit gefasst384. Darüber hinaus gebe es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer Beratung und einem tatsächlich vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch, und es erscheine daher fraglich, ob das Verbot überhaupt geeignet sei, ungeborenes Leben zu schützen. Die betreffenden Informationen seien auch auf anderem Wege erhältlich385. Schließlich könne das Informationsverbot auch insofern nachteilige Folgen haben, als es das Gesundheitsrisiko derjenigen Frauen erhöhe, die mangels ausreichender Informationen einen Schwangerschaftsabbruch erst zu einem späteren Zeitpunkt in Erwägung zögen386. Mit dieser Begründung kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass das irische Informationsverbreitungsverbot gegen Art. 10 EMRK verstieß, allerdings ohne dass er in seinem Urteil eine direkte Abwägung des Rechts auf Informationsfreiheit gegen das Recht auf Leben des Ungeborenen durchgeführt hätte. Diese Art der Auflösung der zugrunde liegenden Grundrechtskollision wird ihm die Entscheidung in der Sache erleichtert haben und gleichzeitig der Grund dafür sein, dass er sich nicht auf einen weiten Beur382
EGMR, Urteil vom 29.10.1992, Open Door and Dublin Well Woman/Irland, Serie A Nr. 246-A, Ziff. 55. 383 EGMR, a. a. O., Ziff. 63. 384 EGMR, a. a. O., Ziff. 73 f. 385 EGMR, a. a. O., Ziff. 75 f. 386 EGMR, a. a. O., Ziff. 77.
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teilungsspielraum Irlands in dieser Sache zurückgezogen hat. Er entschied damit anders als Generalanwalt van Gerven in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache SPUC/Grogan, der unter Verweis auf einen in dieser Frage weiten mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraum die Ansicht vertreten hatte, dass der Eingriff in Art. 10 EMRK zum Schutze des ungeborenen Lebens gerechtfertigt sei387. Hätte sich der EuGH inhaltlich an die Grundrechtsfrage herangewagt und wäre er dabei seinem Generalanwalt gefolgt, so hätte es durchaus zu einer Divergenz zwischen den beiden Gerichtshöfen kommen können388. c) Ergebnis zu den Konfliktvermeidungsfällen Die Urteile ERT und SPUC/Grogan sind anschauliche Beispiele dafür, dass der EuGH einen offenen Konflikt mit dem Menschenrechtsgerichtshof unter bestimmten Umständen zu vermeiden und so die Kohärenz im europäischen Grund- und Menschenrechtsschutz zu erhalten sucht389. Ein die 387 Rz. 37 f. der Schlussanträge in der Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, S. I-4685 ff. N. Theurer, Das Verhältnis der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 26, bezeichnet die Entscheidung des EuGH, der Beantwortung der Grundrechtsfrage auszuweichen, in Anbetracht des mit dem EGMR divergierenden Votums des Generalanwalts, dem sich der EuGH hätte anschließen können, als „Glück“. 388 Vgl. zu möglichen Szenarien S. O’Leary, Aspects of the Relationship between Community Law and National Law, in: Neuwahl/Rosas, The European Union and Human Rights, S. 23, 35 ff. 389 Es gibt weitere Fälle, in denen der EuGH eine Grundrechtsfrage unbeantwortet gelassen hat, ohne dass allerdings ein korrespondierendes EGMR-Urteil in naher Zukunft ergangen ist. So ist er beispielsweise in der Rs. C-169/91, Konstantinidis, Slg. 1993, S. I-1191 ff., nicht auf das von Art. 8 EMRK umfasste Recht auf den Namen und die persönliche Identität eingegangen, obwohl Generalanwalt Jacobs ihm dies in Rn. 31 ff. seiner Schlussanträge nahegelegt hatte. Dazu R. Lawson, Confusion and Conflict? Diverging Interpretations of the European Convention on Human Rights in Strasbourg and Luxembourg, in: FS Schermers, Bd. III, S. 219, 247 ff., demzufolge Herr Konstantinidis, wäre sein Fall beim EGMR anhängig gewesen, vollumfänglich Recht zugesprochen bekommen hätte, während der EuGH sein Urteil auf die beruflichen Aspekte beschränkt hat. Vgl. auch die sog. spanischen Fischerfälle, verb. Rs. 13–28/82, Arantzamendi-Osa, Slg. 1982, S. 3927 ff., sowie verb. Rs. 50–58/82, Dorca Marina, Slg. 1982, S. 3949 ff., in denen der EuGH nicht auf das Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK eingegangen ist, dazu R. Churchill/ N. Foster, Double Standards in Human Rights? The Treatment of Spanish Fishermen by the European Community, ELRev. 12 (1987), S. 430 ff. In seiner Entscheidung zur Tabakwerbeverbotsrichtlinie, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, S. I-8419 ff., musste der Gerichtshof auf die Grundrechtsfragen nicht mehr eingehen, da er die Richtlinie bereits wegen falscher Rechtsgrundlage für nichtig erklärt hatte. Es hätte ihm aber offengestanden, die aufgeworfenen Grundrechtsprobleme trotzdem zu erörtern, vgl. M. Hilf/K. Frahm, Nichtigerklärung der Richtlinie zum Tabakwerbeverbot: Das letzte Wort?, RIW 2001, S. 128, 133.
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Zurückhaltung des Gerichtshofs bei ERT und SPUC/Grogan zumindest mitbestimmender Faktor könnte gewesen sein, dass es sich in beiden Fällen um mitgliedstaatliche Akte handelte, bei denen den nationalen Behörden eigene Entscheidungsspielräume zukamen, ihre Maßnahmen also nicht vollständig gemeinschaftsrechtlich determiniert waren390. Während der Straßburger Gerichtshof seine richterliche Zurückhaltung gegebenenfalls mit der Anwendung der Doktrin von der margin of appreciation dokumentiert, greift der EuGH in derartigen Fällen in Ermangelung bereits ergangener EGMR-Rechtsprechung auf die aufgezeigte Ausweichtaktik zurück. Diese Taktik hat indes einen entscheidenden Nachteil: Die an den Tag gelegte Zurückhaltung des EuGH geht auf Kosten einer an den Grundrechten als fundamentalen Werten ausgerichteten Rechtsprechung. Ohne Offenlegen von und inhaltliches Eingehen auf grundrechtliche Konfliktlagen haben die Rechtssuchenden sowie die Rechtssetzenden und -anwendenden in der Gemeinschaft keine Vorgaben, an denen sie sich orientieren könnten391. Die Rolle der Grundrechte wird zugunsten anderer Orientierungsgrößen, in der Gemeinschaft vorrangig wirtschaftsrechtlicher Vorgaben der binnenmarktorientierten Grundfreiheiten, zurückgedrängt. Wenn der EuGH sich für zuständig erachtet, Grundrechtsfragen zu entscheiden, muss er diese Rolle auch inhaltlich ausfüllen. Ansonsten wird die Gemeinschaft ihrer Einordnung als Rechtsgemeinschaft nicht mehr gerecht. Die Problematik sollte indes zumindest im Hinblick auf die Grundrechtskontrolle mitgliedstaatlicher Maßnahmen nicht überbewertet werden: Sofern es nur darum geht, dass der EuGH eine Entscheidung scheut, solange es keine Vorgaben aus Straßburg gibt, kann darauf verwiesen werden, dass dieser Bereich mit fortschreitender Zeit und einem immer größeren Fundus an EGMR-Rechtsprechung zunehmend kleiner wird. 3. Parallele Rechtsprechung von EuGH und EGMR in Kernfragen des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes („complementarities“) Die analysierten Fälle, in denen der EuGH einer inhaltlichen Entscheidung ausgewichen ist, während der EGMR in gleichgelagerten Sachverhalten ein Urteil getroffen hat, betrafen politisch und grundrechtlich besonders 390 Ähnlich sieht dies auch D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 766. 391 Vgl. auch G. Ress, Media law in the context of the European Union and the European Convention on Human Rights, in: GS Ryssdal, S. 1173, 1195: „Thus the ECJ avoids possible conflicts, albeit at the expense of a clearly rights-oriented jurisprudence within the EC.“
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sensible Bereiche. Vor allem bei SPUC/Grogan liegt es nahe, das Ausweichmanöver des EuGH damit zu erklären, dass er die schwierige Grundrechtsabwägung zwischen der Informationsfreiheit und dem Recht auf Leben des Ungeborenen aus politischen Gründen nicht auf europäischer Ebene treffen wollte. Auch in anderen Fällen waren die beiden europäischen Gerichtshöfe mit Fragestellungen zu Kernbereichen des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes befasst. An dieser Stelle soll kurz erläutert werden, wie EuGH und EGMR mit dem Problembereich der Rechte von Transsexuellen sowie mit Fragen umgegangen sind, welche die Menschenwürde betrafen. Diese Urteile zu grundlegenden Problemen, deren Lösung moralisch-ethische Werturteile voraussetzt, lassen Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Gerichtshöfe und die selbst gezogenen Grenzen der Jurisdiktionsgewalt zu.
a) Parallele Rechtsprechung beider Gerichtshöfe zur Transsexuellenproblematik Der Menschenrechtsgerichtshof hat sich seit 1986 in mehreren Urteilen mit der Rechtsstellung Transsexueller in den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten auseinander gesetzt. In den Fällen ging es jeweils um eine mögliche Verletzung der Menschenrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, auf Eheschließung und auf Nichtdiskriminierung gemäß Art. 8, 12 und 14 EMRK durch nationale Maßnahmen, also um klassisch menschenrechtliche Fragestellungen. Die Straßburger Rechtsprechung hat dabei im Laufe der Jahre einen dem Sachstand wissenschaftlicher Erkenntnisse und den rechtlichen Entwicklungen in den Vertragsstaaten entsprechenden Wandel vollzogen. In verschiedenen Verfahren war der EGMR wegen der Weigerung des Vereinigten Königsreichs angerufen worden, das Geschlecht postoperativer transsexueller Personen im Geburtsregister zu ändern und neue Geburtsurkunden für sie auszustellen. Die Änderung dieser Dokumente war insofern entscheidend, als daran die umfassende rechtliche Anerkennung der Betroffenen als Personen des jeweils anderen Geschlechts geknüpft war. Dies betraf insbesondere die Möglichkeit transsexueller Personen, eine neue Ehe mit einem Partner des nunmehr anderen Geschlechts zu schließen, sorgerechtliche Fragen sowie die Geltendmachung von Rentenansprüchen in bestimmten Konstellationen. In den Urteilen Rees, Cossey und Sheffield und Horsham, die zwischen 1986 und 1998 ergingen, befasste sich der EGMR ausführlich mit der Problematik der Transsexuellen und kam in allen drei Fällen zu dem Schluss, dass die Haltung des Vereinigten Königreichs nicht als Verletzung von EMRK-Rechten anzusehen sei392. Dabei stellte er vor allem auf die divergierenden Rechtsauffassungen in den
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Vertragsstaaten sowie auf den nicht eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ab und leitete hieraus einen weiten nationalen Beurteilungsspielraum ab. Gleichzeitig betonte er aber, dass in Anbetracht der Schwere des Grundrechtseingriffs zukünftige wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen unter Umständen eine Änderung der Rechtslage in den Vertragsstaaten erforderlich machen könnten393. Tatsächlich revidierte er seine Rechtsprechung im Jahr 2002 und erkannte in Goodwin gegen Vereinigtes Königreich auf eine Verletzung sowohl von Art. 8 als auch von Art. 12 EMRK durch die britische Rechtslage, die Transsexuellen eine Personenstandsänderung unmöglich machte394. Angesichts der zunehmenden rechtlichen Angleichung auf nationaler und internationaler Ebene sowie neuer medizinischer Erkenntnisse könne bei einer Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen dem Vertragsstaat kein Beurteilungsspielraum mehr zuerkannt werden, so dass die Bedeutung der betroffenen Menschenrechte und die Schwere des Eingriffs ausschlaggebend sei395. Der EuGH war in zwei Vorabentscheidungsverfahren ebenfalls mit der Rechtsstellung Transsexueller befasst und hat sich trotz der grundrechtlichen Sensibilität der Materie nicht gescheut, die ihm gestellten Vorlagefragen zu beantworten. In der Rechtssache P./S. war er im Jahr 1996 aufgerufen, in einem arbeitsrechtlichen Verfahren in Großbritannien die Entlassung eines Transsexuellen aus dem Arbeitsverhältnis aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht zu bewerten396. Im Jahr 2004 hatte er in der Rechtssache K. B. darüber zu befinden, ob die Weigerung, einem transsexuellen Partner einer in die britische Rentenkasse einzahlenden Person eine Witwenrente zu gewähren, gegen Gemeinschaftsrecht verstoße397. In beiden Urteilen bezog der Luxemburger Gerichtshof inhaltlich Stellung und kam zu dem Ergebnis, dass eine unzulässige Diskriminierung und damit ein Verstoß gegen den gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz vorliege. Dabei lehnte er sich eng an die jeweils zeitlich vorher ergangene Straßburger Rechtsprechung 392
EGMR, Urteil vom 17.10.1986, Rees/Vereinigtes Königreich, Serie A 106; Urteil vom 27.9.1990, Cossey/Vereinigtes Königreich, Serie A 184; Urteil vom 30.7.1998, Sheffield und Horsham/Vereinigtes Königreich, RJD 1998-V. 393 EGMR, Rees/Vereinigtes Königreich, a. a. O., Ziff. 47; Cossey/Vereingtes Königreich, a. a. O., Ziff. 42. 394 EGMR, Urteil vom 11.7.2002, Goodwin/Vereinigtes Königreich, RJD 2002-VI. Siehe auch das Parallelverfahren mit Urteil vom selben Tag, I./Vereinigtes Königreich, RJD 2002-VI, sowie das Urteil vom 12.6.2003, Van Kück/Deutschland, RJD 2003-VII (zu Art. 6 und 8 EMRK). 395 EGMR, Goodwin/Vereinigtes Königreich, a. a. O., Ziff. 76 ff. Inzwischen ist die Rechtslage im Vereinigten Königreich geändert worden und steht nicht mehr im Widerspruch zur EMRK. 396 EuGH, Rs. C-13/94, P./S., Slg. 1996, S. I-2143 ff. 397 EuGH, Rs. C-117/01, K. B., Slg. 2004, S. I-541 ff.
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an. In seiner ersten Entscheidung übernahm er die Definition des EGMR zum Transsexuellen-Begriff aus dem Rees-Urteil398. In der zweiten Entscheidung stützte er seine Urteilsbegründung auf das Goodwin-Urteil des EGMR und den darin festgestellten Verstoß der britischen Rechtslage gegen Art. 12 EMRK399. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Herangehensweise des EuGH an die Grundrechtsproblematik: Obwohl es hier um die Prüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen am Maßstab eines Gemeinschaftsgrundrechts, nämlich des Gleichheitsgrundsatzes, ging, befasste sich der Gerichtshof nicht mit der Frage nach dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Die Selbstverständlichkeit, mit der er die Grundrechtsprüfung trotz der prekären Problemstellung durchführte, hängt damit zusammen, dass es sich um Sachverhalte handelte, die in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 141 EGV und der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG fielen400. In diesem gemeinschaftsrechtlich durchgeregelten Bereich bewegt sich der EuGH sozusagen auf „sicherem Terrain“ und muss daher seine Befugnis zur Grundrechtsprüfung nicht über den Umweg des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts herleiten. Daher versucht er in diesem Bereich auch nicht, einer Entscheidung in der Sache auszuweichen. Die Konstellation ist die gleiche wie im Fall Tanja Kreil, in dem es um das in Deutschland grundgesetzlich geregelte Verbot für Frauen ging, Dienst mit der Waffe zu leisten401. In Anbetracht des gesicherten gemeinschaftsrechtlichen Anknüpfungspunktes reichte dem EuGH in der Rechtssache K. B. sogar eine nur mittelbar herzuleitende Ungleichbehandlung für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 141 EGV aus402. 398
EuGH, Rs. C-13/94, P./S., Slg. 1996, S. I-2143, Rn. 16. EuGH, Rs. C-117/01, K. B., Slg. 2004, S. I-541, Rn. 33 ff. 400 In der Rs. C-13/94, P./S., Slg. 1996, S. I-2143, Rn. 18, bezeichnete der EuGH die Richtlinie 76/207/EWG als Ausprägung des ungeschriebenen Gleichheitsgrundsatzes. Vgl. zu der Herangehensweise des EuGH in diesen Fällen auch D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 772 f. 401 EuGH, Rs. C-285/95, Tanja Kreil, Slg. 2000, S. I-69 ff. Das Urteil Kreil war allerdings umstritten; teilweise wurde dem EuGH vorgeworfen, hier den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts überdehnt zu haben, da es sich um einen rein nationalen Sachverhalt ohne gemeinschaftsrechtlichen Bezug gehandelt habe. Hierzu A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 88 f., die diesen Vorwurf überzeugend zurückweist, da mit dem gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot ein anderer Anknüpfungspunkt als die Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts vorliege. Daher spielt es in diesem Kontext keine Rolle, ob ein Sachverhalt grenzüberschreitend ist oder nicht. 402 Vgl. Rs. C-117/01, K. B., Slg. 2004, S. I-541, Rn. 30: Die Ungleichbehandlung bezog sich „nicht auf die Zuerkennung der Witwerrente, sondern auf eine für deren Gewährung notwendige Voraussetzung, nämlich die Fähigkeit, miteinander die Ehe einzugehen“. 399
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Die Urteile zur Transsexuellenproblematik sind folglich ein gutes Beispiel dafür, dass EGMR und EuGH über parallele Sachverhalte mit gleichem Ergebnis entscheiden können und der EuGH dabei sogar die Straßburger Vorgaben übernimmt, aber trotzdem jeder Gerichtshof in seiner Diktion und seinen gewohnten Entscheidungsbahnen verbleiben kann. Während der EGMR den gewohnten und ihm einzig möglichen Menschenrechtsblickwinkel einnahm, konnte der EuGH bei dem wirtschafts- und sozialrechtlich motivierten Diskriminierungsverbot des Art. 141 EGV ansetzen, ohne im Ergebnis dem Straßburger Gerichtshof zu widersprechen403. Die Herangehensweise des EuGH unterscheidet sich je nachdem, ob er Gleichheitsoder Freiheitsrechte prüft. Er zeigt sich in diesem klassisch menschenrechtlichen Bereich als aufmerksamer Beobachter der Straßburger Entwicklungen, auf die er in seinen Urteilen einzugehen bereit ist. b) Zurückhaltender Umgang beider Gerichtshöfe mit Fallkonstellationen zur Menschenwürde Es gibt bisher keine „parallele“ Rechtsprechung von EuGH und EGMR zu der Menschenwürde als eigenständigem Grundrecht, d. h. die Gerichtshöfe haben noch nicht über gleichartige Sachverhalte befunden. Insgesamt gab es bislang nur sehr wenige Verfahren vor beiden Gerichtshöfen, in denen die Menschenwürde „für sich“ als fundamentaler Kern sowie Ausgangs- und Fluchtpunkt aller Grund- und Menschenrechte eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die EMRK, anders als das deutsche Grundgesetz, die Menschenwürde nicht explizit als eigenes Recht aufführt, und dass der EuGH sich in seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten als ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts in erster Linie auf spezifische Einzelausprägungen der Freiheits- und Gleichheitsrechte stützt und in diesem Rahmen eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführt. Gleichwohl hat der EGMR in verschiedenen Urteilen festgestellt, dass die Achtung der menschlichen Würde und Freiheit Grundlage und durchgehen403 Vgl. zu der Überwindung des möglicherweise aufklaffenden Spalts zwischen Grundrechten und Wirtschaftsregelungen das etwas pathetische Zitat von Generalanwalt D. Ruiz-Jarabo Colomber in Rn. 80 der Schlussanträge in der Rs. C-117/01, K. B., Slg. 2004, S. I-541, das auf Rn. 6 der Schlussanträge von Generalanwalt Tesauro in der Rs. 7/75, Eheleute F./Belgischer Staat, Slg. 1975, S. 679, zurückgeht: „Wenn es unser Wunsch ist, dass das Gemeinschaftsrecht nicht nur eine starre Wirtschaftsregelung sei, sondern eine Rechtsordnung, die der Gesellschaft angepasst ist, die sie lenken soll, und wenn wir möchten, dass ein Recht existiere, das mit dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit und den Erfordernissen der europäischen Integration nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Völker in Einklang steht, dürfen wir die in uns gesetzten Erwartungen nicht enttäuschen.“
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des Motiv der Konvention sei und daher allen ihren Garantien zugrunde liege404. Auch der EuGH hat die Menschenwürde als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze und als Maßstab der Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten anerkannt405. In ihrer konkreten Herangehensweise an Fragestellungen, die unmittelbar die Menschenwürde betrafen, haben sich jedoch beide Gerichtshöfe bisher als sehr zurückhaltend erwiesen. Beispielhaft soll dies hier anhand verschiedener Fälle gezeigt werden. Der Luxemburger Gerichtshof musste sich mit der Menschenwürde als Gemeinschaftsgrundrecht erstmals explizit im Zusammenhang mit der Nichtigkeitsklage gegen die Biopatent-Richtlinie im Jahr 2001 befassen406. Die Niederlande hatten vorgebracht, die Richtlinie verletze die Menschenwürde, da sie die Patentierbarkeit isolierter Bestandteile des menschlichen Körpers und damit eine Instrumentalisierung lebender menschlicher Materie ermögliche. Der EuGH erkannte in seinem Urteil die Menschenwürde ausdrücklich als Gemeinschaftsgrundrecht an407. Bei der von ihm durchgeführten Grundrechtsprüfung zog er sich jedoch auf eine rein formale Position zurück. Anstatt zunächst das Konzept der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht inhaltlich zu umreißen und anschließend den Rechtsakt an diesem Maßstab zu messen, reduzierte er seine Prüfung darauf festzustellen, dass nach der Richtlinie Bestandteile des menschlichen Körpers in ihrer natür404 EGMR, Urteil vom 29.4.2002, Pretty/Vereinigtes Königreich, RJD 2002-III, Ziff. 65; Urteil vom 11.7.2002, Goodwin/Vereinigtes Königreich, RJD 2002-VI, Ziff. 90. Dazu J. Meyer-Ladewig, Menschenwürde und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 2004, S. 981 ff. 405 Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht als Ausprägung der Menschenwürde bereits EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7. Siehe auch die Formulierung in dem oben genannten Urteil in der Rs. C-13/94, P./S., Slg. 1996, S. I-2143, Rn. 22: „. . . dass gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstoßen würde, auf die sie Anspruch hat und die der Gerichtshof schützen muss“. Außerdem Rs. C-404/92 P, X/Kommission, Slg. 1994, S. I-4737 ff. (Recht auf Achtung des Privatlebens), und explizit zur Menschenwürde nunmehr Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 69 ff. (Biopatent-Richtlinie). Zur Menschenwürde als Ausgangspunkt und entscheidender Ansatz der Grundrechte-Charta vgl. S. Alber/U. Widmaier, Die EUCharta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497, 500; L. Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 2002, S. 269 ff. 406 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, S. I-7079 ff. 407 EuGH, a. a. O., Rn. 70. Die Differenzierung zwischen allgemeinem Wertungsprinzip und selbständigem Grundrecht, die M. Rau/F. Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, S. 2448, 2449, auf der Basis der deutschen Urteilsfassung vornehmen, findet in den anderen Sprachfassungen des Urteils keine Grundlage, da hier ohne Unterscheidung vom „Grundrecht“ auf Achtung der Menschenwürde die Rede ist.
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lichen Umgebung nicht Gegenstand einer Aneignung sein könnten408 und Verfahren wie das Klonen menschlicher Lebewesen durch die Richtlinie von der Patentierbarkeit ausdrücklich ausgenommen seien409. Daher bliebe der menschliche Körper unverfügbar und unveräußerlich und die Menschenwürde sei gewahrt410. Die eigentliche Frage, nämlich die Vereinbarkeit einer Patenterteilung auf menschliches Leben und auf menschliche Materie überhaupt mit der Menschenwürde, ließ der EuGH auf diese Weise offen. Er gewährte formal Grundrechtsschutz auch im Hinblick auf die Menschenwürde, nahm inhaltlich aber keine echte Prüfung des Rechtsakts am Maßstab dieses Grundrechts vor411. Die Motive für das inhaltliche Ausweichen des Gerichtshofs liegen auf der Hand: Der Gerichtshof hätte über einen Bereich entscheiden müssen, der tief in die Sphären nationaler Verfassungen und gesellschaftspolitischer Belange hineinreicht und über den selbst auf der Ebene der einzelnen Staaten keine Einigkeit herrscht. Die Akzeptanz seines Urteils zumindest seitens einiger Mitgliedstaaten wäre fraglich gewesen. Die richterliche Zurückhaltung mag daher nachvollziehbar sein. Im Hinblick auf die Bedeutung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes ist das Urteil jedoch zu kritisieren. Wenn der EuGH dem Gemeinschaftsgesetzgeber die Kompetenz zum Erlass eines solchen Rechtsaktes auf der Grundlage des Art. 95 EGV zuerkennt412, dann steht er auch in der Pflicht, den mit dieser Kompetenz korrespondierenden Grundrechtsschutz in vollem Umfang zur Verfügung zu stellen. Zieht er sich auf rein formale Positionen zurück, ohne in der Substanz auf die aufgeworfenen Fragen einzugehen, entstehen Rechtsschutzdefizite auf Gemeinschaftsebene, und die Rechtsgemeinschaft gerät in Gefahr413. Das Urteil zur Biopatent-Richtlinie zeigt zudem anschaulich, dass sich die Intensität der Grundrechtskontrolle des EuGH weiterhin je nach Art des zu prüfenden Rechtsakts unterscheidet: Anders als bei Urteilen jüngeren Datums zur Vereinbarkeit nationaler Maßnahmen mit den Gemeinschaftsgrundrechten differenziert der EuGH in der Urteilsbegründung nicht aus, sondern führt lediglich eine sehr oberflächliche Prüfung am Maßstab der Menschenwürde und des Rechts auf Unversehrtheit der Person ohne jede 408
EuGH, a. a. O., Rn. 73. EuGH, a. a. O., Rn. 76. 410 EuGH, a. a. O., Rn. 77. 411 Dazu K. Frahm/J. Gebauer, Patent auf Leben? – Der Luxemburger Gerichtshof und die Biopatent-Richtlinie, EuR 2002, S. 78, 86 ff. 412 Dazu ausführlich EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, S. I-7079, Rn. 13 ff. 413 Zur Kritik an dem Urteil, insbesondere zur Verknüpfung von Kompetenz und Grundrechtsschutz siehe K. Frahm/J. Gebauer, Patent auf Leben? – Der Luxemburger Gerichtshof und die Biopatent-Richtlinie, EuR 2002, S. 78, 92 ff. 409
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Abwägung durch. Damit lässt er dem Gemeinschaftsgesetzgeber de facto einen weiten Spielraum zugunsten des Binnenmarktes. Dies scheint aufgrund der tiefgreifenden Implikationen des Rechtsaktes für die Grundrechte der Person und insbesondere in Anbetracht der Tatsache bedenklich, dass in diesem Fall, da es sich um eine Gemeinschaftsmaßnahme handelt, keine weitere menschenrechtliche Überprüfung durch den Straßburger Gerichtshof möglich ist. Eine Erhöhung der Kontrolldichte bei der Überprüfung eines Gemeinschaftsrechtsakts durch den EuGH wäre in diesem Fall erstrebenswert gewesen. Wäre der EGMR mit einem vergleichbaren, notwendigerweise nationalen Rechtsakt konfrontiert gewesen, ist anzunehmen, dass er eine eingehendere Prüfung mit einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vorgenommen hätte. Ausführlich mit dem Grundrecht der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht hat sich inzwischen Generalanwältin Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen vom März 2004 in dem Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache OMEGA auseinander gesetzt, in der es um das behördliche Verbot eines aus Großbritannien stammenden Laserspiels mit simulierten Tötungshandlungen in einer deutschen Spielhalle wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung ging414. Im Zusammenhang mit einer möglichen Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Verbot erarbeitete sie Konturen der Menschenwürde als Rechtsbegriff und als gemeinschaftlicher Rechtsnorm und prüfte die nationale Maßnahme an diesem Maßstab415. Im Ergebnis legte sie dem Begriff im Gemeinschaftsrecht ein weitgehendes Verständnis zugrunde416. Der Gerichtshof sah in seinem ein halbes Jahr später ergangenen Urteil die öffentliche Ordnung ebenfalls als zulässigen Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit der Omega Spielhallen GmbH an und erklärte im Ergebnis das nationale Verbot des Laserspiels für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar417. Zur Begründung der Rechtfertigung des Verbots nannte er die Menschenwürde als allgemeinen Rechtsgrundsatz, der „unbestreitbar“ vom Schutz der Gemeinschaftsrechtsordnung umfasst sei. Anstatt aber, wie die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen, 414
Rs. C-36/02, OMEGA, Schlussanträge vom 18.3.2004, Slg. 2004, S. I-9609 ff. Rn. 74 ff. der Schlussanträge. 416 Rn. 91 der Schlussanträge unter Verweis auf Art. 1 GRCh. Dazu M. Borowsky in: J. Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der EU, Art. 1 Rn. 26 ff. 417 EuGH, Rs. C-36/02, OMEGA, Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 30 ff. Zu dem Urteil, auch im Kontext des deutschen Ordnungsrechts, siehe W. Frenz, Menschenwürde und Dienstleistungsfreiheit, NVwZ 2005, S. 48 ff.; G. Beaucamp, Das ordnungsbehördliche Verbot von Laserdromen – europarechtliche, gewerberechtliche und verfassungsrechtliche Probleme, DVBl. 2005, S. 1174 ff.; J. Lindner, Urteilsanmerkung, BayVBl. 2005, S. 206 ff. 415
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auf die Inhalte der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht einzugehen, um dann eine Subsumtion im konkreten Fall vorzunehmen, stellte er pauschal fest, dass der Schutz der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht ein berechtigtes Interesse und als solches grundsätzlich geeignet sei, die Beschränkung einer Grundfreiheit des EG-Vertrags zu rechtfertigen418. Die Tatsache, dass in einem Mitgliedstaat (Deutschland) andere Schutzregelungen gälten als in einem anderen Mitgliedstaat (Großbritannien), schließe eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit nicht grundsätzlich aus419. Da die Untersagung des Laserspiels im konkreten Fall dem Grad des Schutzes der Menschenwürde entspräche, den das Grundgesetz im deutschen Hoheitsgebiet sicherzustellen beabsichtige, und das Verbot insgesamt die Grenzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit nicht überschreite, sei die Maßnahme auch aus gemeinschaftsrechtlichem Blickwinkel gerechtfertigt420. Diese Aussagen reichten dem Gerichtshof aus, um die ihm vorgelegte Frage zu beantworten. Er hat sich nicht, wie im bereits mehrfach erwähnten Urteil SPUC/Grogan421, der Grundrechtsprüfung vollständig entzogen, obwohl ihm diese Variante im konkreten Fall durchaus offen gestanden hätte: In dem Verfahren war vorgebracht worden, dass die Vorlagefrage unzulässig sei, da die Untersagungsverfügung mangels grenzüberschreitenden Bezugs die Grundfreiheiten nicht einschränken könne. Der EuGH hat diese Argumentation mit knapper Begründung zurückgewiesen422. Einer echten inhaltlichen Prüfung des Falls am Maßstab der Menschenwürde ist er gleichwohl ausgewichen, diesmal indem er auf die Reichweite des nationalen Menschenwürdeschutzes in Deutschland verwies. Indirekt hat er mit diesem Verweis anerkannt, dass es einen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten in Grundrechtsfragen geben kann. Er hat sich jedoch nicht, wie in anderen Urteilen der letzten Jahre, unmittelbar auf das Konzept der margin of appreciation des Menschenrechtsgerichtshofs bezogen423. Eine solche Bezugnahme hätte 418 Rn. 34 f. des Urteils, a. a. O. Der EuGH verweist allerdings in Rn. 34 seines Urteils ausdrücklich auf die Ausführungen der Generalanwältin zur Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht. 419 Rn. 37 f. des Urteils, a. a. O. 420 Rn. 39 f. des Urteils, a. a. O. 421 EuGH, Rs. C-159/90, Slg. 1991, S. I-4685 ff. 422 EuGH, Rs. C-36/02, OMEGA, Slg. 2004, S. I-9609, Rn. 18 ff. Tatsächlich gab es zum Zeitpunkt der Klage in Deutschland noch keine Verträge zwischen der Spielhallen GmbH und dem britischen Unternehmen, das die Ausrüstung für das Tötungsspiel liefern sollte. Dem EuGH genügte es, dass die Verfügung „jedenfalls in Anbetracht ihrer Wirkung auch für die Zukunft und unter Berücksichtigung der mit ihr ergangenen Untersagung geeignet ist, die künftige Entwicklung von Vertragsbeziehungen zwischen den beiden Geschäftspartnern einzuschränken“ (Rn. 21). Diese Begründung erscheint nicht zwingend; der Gerichtshof hätte die Vorlagefrage tatsächlich auch wegen Fehlens des grenzüberschreitenden Elements zurückweisen können.
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sich insbesondere deswegen angeboten, weil es sich um eine mitgliedstaatliche Maßnahme handelte, die nach Erschöpfung des Rechtswegs auch Beschwerdegegenstand eines EGMR-Urteils hätte werden können. Mit der anders gewählten, eigenständigen Begründung unterstreicht der EuGH seine Autonomie gegenüber dem Straßburger Gerichtshof auch in Grundrechtsfragen. Gleichzeitig stellt er aber das von ihm sonst sorgsam gehütete Prinzip der Rechtseinheit in der Gemeinschaft in Frage, wenn er sich mit einem Verweis auf den grundrechtlichen Schutzstandard in einem einzigen Mitgliedstaat begnügt424. Die Anwendung des Konzepts der margin of appreciation wäre in diesem Fall überzeugender und in der Linie konsistenter gewesen. Zum Umgang mit der Menschenwürde bleibt auch nach diesem Urteil festzuhalten, dass der Luxemburger Gerichtshof sich sehr zurückhält und die mit diesem Grundrecht verbundenen Wertungen moralisch-ethischer Art auf Gemeinschaftsebene offensichtlich vermeidet. Die Überlegung, Entscheidungen in diesem sensiblen, den Kern staatlicher Souveränität betreffenden Bereich lieber in der Hand der Mitgliedstaaten zu belassen, überwiegt hier gegenüber der Sorge um die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Zur Handhabung der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht können bei neuen Fragestellungen zukünftig immerhin die verallgemeinerungsfähigen Ausführungen der Generalanwältin herangezogen werden. Der Straßburger Gerichtshof dagegen prüft die Menschenwürde niemals als losgelöstes, eigenes Recht, da Individual- und Staatenbeschwerden nach der Konvention immer an die Verletzung einer bestimmten EMRK-Garantie geknüpft sind. Er war jedoch in verschiedenen Fällen, vor allem im Zusammenhang mit Art. 2 und Art. 8 EMRK, mit Bereichen befasst, die inhaltlich eng mit Erwägungen zur Menschenwürde verbunden waren oder in denen der Menschenwürdekern dieser Rechte betroffen war. Ein Fall aus dem Jahr 2004 soll hier als Beispiel für seine vorsichtige Herangehensweise an derartige Fragestellungen dienen. In der Sache Vo/Frankreich hatte der Menschenrechtsgerichtshof über den Fall einer aufgrund einer Personenverwechslung irrtümlich durchgeführten Abtreibung eines gesunden ungeborenen Kindes zu urteilen425. Die Beschwerdeführerin, die aufgrund des Eingriffs ihr Kind verloren hatte, rügte eine Verletzung des Rechts auf Leben des ungeborenen Kindes insbesondere insofern, als der sie behandelnde 423 Zur Übertragung des Konzepts der margin of appreciation in das Gemeinschaftsrecht vgl. oben 3. Teil, A. II. 5. b) cc). 424 Zur Rechtseinheit in der Gemeinschaft siehe oben 3. Teil, A. II. 5. a) aa). Vgl. außerdem die Ausführungen im 2. Teil, B. II. V. 2. b) aa) zu den Mitgliedstaaten als Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte in der sog. ERT-Fallgruppe. 425 EGMR, Urteil vom 8.7.2004, Beschwerde-Nr. 53924/00, Vo/Frankreich, RJD 2004-VIII.
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Arzt von den französischen Gerichten nicht wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden war. Der EGMR musste sich folglich mit der Frage befassen, ob der Begriff „Mensch“ („everybody“/„toute personne“) in Art. 2 EMRK auch ungeborenes Leben erfasst. Diese Frage ist so eng mit dem Menschenwürdekern des Rechts verknüpft, dass die Ausführungen des EGMR zu diesem Punkt über Art. 2 EMRK hinaus Aufschluss über seine Sicht auf den Umgang mit der Menschenwürde auf EMRK-Ebene geben. Der Gerichtshof hielt es nicht für ratsam, über die Frage des Beginns grundrechtlich geschützten Lebens mit ihren rechtlichen, medizinischen, philosophischen, ethischen und religiösen Implikationen auf europäischer Ebene zu entscheiden. Bereits auf nationaler Ebene sei die Problematik in der Mehrzahl der Vertragsstaaten bisher nicht geklärt, und es gäbe eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsvorschriften, die in diesem Bereich zur Anwendung kämen. Auch wissenschaftlich gäbe es keine einheitliche Bewertung. Daher sei es nicht an ihm, eine Entscheidung hierüber zu treffen; vielmehr fiele die Frage in den Bereich der margin of appreciation jedes einzelnen Staates426. Im Ergebnis wurde Frankreich nicht verurteilt. Die abweichenden Voten einiger Richter zeigen allerdings, dass diese die Antwort offen lassende Urteilsbegründung nicht auf uneingeschränktes Einverständnis gestoßen ist, sondern teilweise eine Entscheidung – in die eine oder andere Richtung – auf rechtlicher Ebene erwünscht gewesen wäre427. Der EGMR hält sich somit bei der rechtlichen Bewertung des Falls im Hinblick auf die Menschenwürde zurück428. Der Rückgriff auf die Lehre vom Beurteilungsspielraum erlaubt ihm, die Entscheidung den nationalen Instanzen zu überlassen. Eine direkt vergleichbare argumentative Rückzugsmöglichkeit hatte der EuGH bei seiner Entscheidung über die BiopatentRichtlinie nicht, da es sich um einen supranationalen Hoheitsakt handelte. Ähnlich einem nationalem Verfassungsgericht, das zur Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes befragt und von dem eine Antwort erwartet wird, musste der EuGH Stellung beziehen, um über die Nichtigkeit oder Gültigkeit des Rechtsakts entscheiden zu können. Um diese Frage aber überhaupt angehen zu können, hätte er die betroffenen Rechtsgüter gegenüberstellen und gegeneinander abwägen müssen. Nach Offenlegung des Konflikts hätte 426
EGMR, a. a. O., Ziff. 81 ff. Drei der mit siebzehn Richtern besetzten Großen Kammer, die über den Rechtsstreit entschieden hat, votierten für eine Verletzung von Art. 2 EMRK, darunter der deutsche Richter Ress. 428 Kritisch zu dem Urteil des EGMR, insbesondere wegen fehlender argumentativer Begründungen und im Hinblick auf eine Schutzpflichtverletzung Frankreichs, J. Pichon, Does the Unborn Child Have a Right to Life? The Insufficient Answer of the European Court of Human Rights in the Judgment of Vo v. France, GLJ 7 (2006), S. 434 ff. 427
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er dann im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Umständen auf einen weiten Ermessensspielraum des Gemeinschaftsgesetzgebers erkennen und auf diese Weise seine richterliche Zurückhaltung wahren können. Durch die Art seiner Prüfung hat er jedoch den echten Grundrechtskonflikt von vornherein überspielt. Auch in der OMEGA-Entscheidung hat der Gerichtshof es vermieden, sich inhaltlich mit der eigentlichen Grundrechtsfrage zu befassen. Obwohl es nahe gelegen hätte, hat er seine Begründung auch nicht an die Rechtsprechung des EGMR zum Beurteilungsspielraum angelehnt. Indirekt, allerdings mit einer gewundenen Begründung, hat er dieses Konzept jedoch aufgegriffen. c) Ergebnis Mit zunehmender Übertragung von Kompetenzen auf die Gemeinschaft ist der Luxemburger Gerichtshof verstärkt aufgerufen, auch zu nichtwirtschaftlichen Sachverhalten, die den Kern der Freiheitsrechte betreffen, Stellung zu beziehen. Die Urteile zur Biopatent-Richtlinie und zum Laserspiel mit simulierten Tötungshandlungen zeigen anschaulich die möglichen Verflechtungen von Binnenmarkt und moralisch-ethischen Wertfragen. In einigen Fällen, wie beispielsweise in den Transsexuellenfällen, kann der EuGH auf Vorgaben des Menschenrechtsgerichtshofs zurückgreifen. In anderen Fällen, insbesondere wenn es um die Beurteilung von Gemeinschaftsrechtsakten geht und keine Straßburger Rechtsprechung vorhanden ist, muss er jedoch „auf sich gestellt“ eigenständig werten. Eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung sind dabei sicherlich angebracht, als Verfassungsgericht der Gemeinschaft darf der EuGH indes derartigen fundamentalen Fragestellungen nicht vollständig ausweichen. Insofern unterscheidet sich seine Rolle von der des EGMR, der seiner „Sicherheitsnetzfunktion“ auch dann gerecht wird, wenn er nach der Überprüfung eines Sachverhalts zu dem Ergebnis gelangt, keine Bewertung auf EMRK-Ebene vorzunehmen. Die Aufgabe des EuGH ist wegen der vielschichtigeren Interessenlage in der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung als schwieriger einzustufen und ähnelt stärker der eines nationalen Verfassungsgerichts429. Die Komplexität der Probleme sollte ihn allerdings nicht von der Verpflichtung entheben, sich den aufgeworfenen Fragen zu stellen, gerade weil ihm im Kompetenz429 Zur Rolle des EuGH in Fragen moralisch-ethischer Wertentscheidungen siehe auch S. O’Leary, Aspects of the Relationship between Community Law and National Law, in: Neuwahl/Rosas, The European Union and Human Rights, S. 23: „. . . it is not possible to find in the legal and social orders of the Contracting States a uniform European conception of morals. . . . This partial stage of Community integration involves the ECJ in a delicate balancing of the objectives and values of the supranational and national orders. Its legitimacy may depend on getting the balance right.“
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
bereich der Gemeinschaft eine verfassungsgerichtliche Funktion zukommt. Von seinem Umgang mit derartigen Fragen im Grenzbereich von Wirtschaft, Recht und Moral, die den Kern mitgliedstaatlicher Souveränität betreffen können, wird im Hinblick auf die nächsten Integrationsschritte viel abhängen. 4. Bezugnahmen des EGMR auf die Luxemburger Rechtsprechung und Berücksichtigung der Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung Die Art der Rezeption der Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR durch den Luxemburger Gerichtshof ist in dieser Arbeit an zahlreichen Stellen thematisiert worden. Inzwischen geht die Bezugnahme aber nicht mehr, wie zunächst, nur in eine Richtung. Mit zunehmend breiterem Spektrum der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH und damit auch vielfältigeren Überschneidungen mit den von der EMRK belegten Bereichen bietet sich auch für den Menschenrechtsgerichtshof die Möglichkeit, in geeigneten Fällen auf die Luxemburger Judikatur zurückzugreifen. Der EGMR macht von dieser Möglichkeit bereits seit mehreren Jahren Gebrauch und führt einschlägige EuGH-Fälle an, sofern Überschneidungen mit inhaltlichen Parallelen auf Sachverhaltsebene auftreten oder sofern der EuGH zu einer bestimmten Rechtsfrage ebenfalls Stellung bezogen hat430. Hierbei handelt es sich allerdings bisher regelmäßig um nicht mehr als bloße Verweise. Die Luxemburger Rechtsprechung wird in dem tatsächlichen Teil des EGMR-Urteils genannt und teilweise auch wörtlich zitiert431. Damit zeigt der Menschenrechtsgerichtshof, dass er einen Fall nicht nur im Kontext der nationalen Rechtsordnungen verortet, sondern auch die Entwicklungen auf Ebene der Gemeinschaftsrechtsordnung beobachtet und mit berücksichtigt. Nur sehr selten hat er aber bisher EuGH-Rechtsprechung 430 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 4 Rn. 10, spricht in diesem Zusammenhang von der faktischen „Bekräftigungswirkung des Gemeinschaftsrechts für die Auslegung der EMRK“. 431 Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 12.6.2003, Van Kück/Deutschland, RJD 2003-VII, Ziff. 36 f. (Verweis auf EuGH-Urteile P./S. und Grant). Sehr früh bereits EGMR, Urteil vom 13.6.1979, Marckx/Belgien, Serie A Nr. 31, Ziff. 58 (Verweis auf das Defrenne II-Urteil des EuGH von 1976). Siehe auch schon in den oben erwähnten Urteilen des EGMR vom 29.10.1992, Open Door und Dublin Well Woman/Irland, Serie A 246-A, Ziff. 24 (Verweis auf das SPUC/Grogan-Urteil des EuGH), und vom 16.12.1992, Niemietz/Deutschland, Serie A Nr. 251-B, Ziff. 22 (Verweis auf die EuGH-Urteile Hoechst und Dow Benelux). In dem EGMR-Urteil vom 2.10.2001, Beschwerde-Nr. 36022/97, Hatton/Vereinigtes Königreich, verweist Richter Costa in seiner abweichenden Meinung im Zusammenhang mit einer möglichen Beeinträchtigung des Art. 8 EMRK durch nächtlichen Fluglärm auf Art. 37 GRCh, der ein hohes Umweltschutzniveau garantiert.
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direkt zur Untermauerung seiner rechtlichen Urteilsgründe herangezogen. In der Regel schöpft er seine Argumente aus dem Fundus seiner eigenen Rechtsprechung, die auf einer autonomen Auslegung der EMRK auf der Basis der nationalen Rechtsordnungen beruht432, und entwickelt diese selbständig fort. Dies mag insbesondere mit der Vorreiterrolle des EGMR auf dem Gebiet des europäischen Menschenrechtsschutzes zusammenhängen. Solange der EuGH die Grundrechte nur als unabdingbares Mittel zur Begrenzung hoheitlicher Machtausübung im rein wirtschaftlichen Bereich einsetzte, ließen sich seinen Urteilen nur wenige über die Gemeinschaftsrechtsordnung hinaus verallgemeinerbare Aussagen entnehmen. Seit der Anerkennung der Grund- und Menschenrechte als wesentliches Fundament der Europäischen Union in Art. 6 Abs. 1 EUV und der Ausdehnung des Spektrums der Grundrechtsrechtsprechung bietet jedoch auch die EuGH-Judikatur verstärkt Bezugspunkte und Rückgriffsmöglichkeiten433. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass auch inhaltliche Bezugnahmen auf EuGH-Urteile bei der rechtlichen Argumentation des Straßburger Gerichtshofs vermehrt auftreten werden434. Insbesondere im Falle des Verbindlichwerdens der Grundrechte-Charta, die auf der Basis der EMRK erarbeitet wurde, in verschiedenen Bereichen aber „modernere“ Rechte enthält, könnte der EGMR aus der künftigen Luxemburger Rechtsprechung schöpfen. In seinem Goodwin-Urteil hat er bereits das Recht auf Eheschließung in Art. 12 EMRK mit der Gewährleistung des Art. 9 GRCh verglichen und den Fall im Sinne des weiter gefassten Rechts aus der Grundrechte-Charta, das nicht die Einschränkung auf eine Ehe zwischen Mann und Frau enthält, entschieden435. Sobald der EuGH eine auf den Chartarechten basierende Grundrechtsdogmatik entwickeln wird, ist vorhersehbar, dass sich immer mehr mögliche Bezugspunkte bieten werden. Die Verschränkung der beiden europäischen Grundrechtssysteme würde dann gleichmäßiger als bisher in der Rechtsprechung beider Gerichtshöfe zum Ausdruck kommen, d. h. ein Austausch würde von 432
Dazu oben 3. Teil A. I. 4. a) bb). Das Spektrum seiner Grundrechtsrechtsprechung hat der EuGH auch dadurch entscheidend erweitert, dass er – wie aufgezeigt – verstärkt mitgliedstaatliche Rechtsakte, die der direkten Kontrolle des EGMR unterliegen können, in seine Prüfung einbezieht. Denn auf diese Weise kommt es häufiger vor, dass ein Fall vom EuGH zeitlich vor dem EGMR geprüft wird. 434 O. Guillarmod, Autonomie procédurale des Etats (articles 6, 13, 35 et 46 CEDH): de l’apport possible de la jurisprudence de Luxembourg à celle de Strasbourg, in: GS Ryssdal, S. 617, 632, spricht bereits jetzt von einer „osmose discrète entre les jurisprudences de Luxembourg et de Strasbourg“ und bezeichnet diese „osmose jurisprudentielle, sur des aspects de droit matériel souvent délicats“ als „signe encourageant de la confiance réciproque et du respect mutuel que se vouent les deux juridictions européennes“. 435 EGMR, Urteil vom 11.7.2002, Goodwin/Vereinigtes Königreich, RJD 2002-VI, Ziff. 100. Siehe hierzu oben 3. Teil, B. I. 3. a). 433
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Straßburg nach Luxemburg genauso stattfinden wie in die umgekehrte Richtung. Auf diese Weise würden sich die beiden europäischen Grundrechtsordnungen gegenseitig bereichern. Hält sich eine rechtliche Inspiration der Straßburger Richter durch die Luxemburger Rechtsprechung bislang noch in Grenzen, so haben die EMRKInstitutionen bei Fällen mit Bezug zum Gemeinschaftsrecht doch von Anfang an die Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung in ihren Entscheidungen berücksichtigt. Gegebenenfalls legen sie die Konventionsbegriffe nicht nur im Lichte der nationalen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten aus, sondern beziehen die gemeinschaftliche Perspektive in ihre Auslegung ein436. So haben Menschenrechtskommission und -gerichtshof den Begriff des „Ausländers“ in Art. 16 EMRK im Fall einer Beschwerde einer deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments auf Drittstaatsangehörige reduziert, so dass EU-Ausländer nationalen Staatsbürgern bei der Ausübung verschiedener Konventionsrechte gleichgestellt werden437. Der Begriff „gesetzgebende Körperschaft“ in Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls umfasst nach der Auffassung des EGMR im Matthews-Urteil aus dem Jahr 1999 inzwischen auch das Europäische Parlament, obwohl die Vorschrift ursprünglich für Wahlen zu nationalen Parlamenten konzipiert worden war438. In dieser Entscheidung ist der Straßburger Gerichtshof umfassend auf die Rechtsstellung des Europäischen Parlaments im Institutionengefüge der EG und die Reichweite seiner Befugnisse unter Berücksichtigung der sui generis Natur der Gemeinschaft eingegangen439. 436 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 4 Rn. 9, nennt dies „normative Wirkungen des Unionsrechts auf die EMRK“. 437 EKMR, Beschwerde-Nr. 15773 und 15774/89, Entscheidung vom 3.12.1992, Piermont/Frankreich. Der EGMR hat sein Urteil in dieser Sache allerdings etwas anders begründet und das von der Kommission akzeptierte, auf der Unionsbürgerschaft fußende Argument unter Hinweis darauf verworfen, dass ein solches Institut zum maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht im EG-Vertrag verankert war. Die Nichtanwendbarkeit der Schrankenbestimmung des Art. 16 EMRK mangels „Ausländerstatus“ der Beschwerdeführerin im Sinne der Norm stützte er auf ihre Zugehörigkeit zu einem EG-Mitgliedstaat sowie auf ihre Mitgliedschaft im Europäischen Parlament, vgl. Urteil vom 27.4.1995, Piermont/Frankreich, Serie A Nr. 314, Ziff. 64. 438 EGMR, Urteil vom 18.2.1999, Matthews/Vereinigtes Königreich, RJD 1999-I, Ziff. 36 ff. Anders noch die EKMR in früheren Entscheidungen, vgl. Entscheidung vom 8.3.1979, Beschwerde-Nr. 8364/78, Lindsay/Vereinigtes Königreich; Entscheidung vom 9.12.1987, Beschwerde-Nr. 11123/84, Tête/Frankreich (allerdings jeweils unter Hinweis auf mögliche zukünftige Änderungen, die zu einer anderen Beurteilung führen können). Ausführlich zum Begriff der gesetzgebenden Körperschaft EGMR, Urteil vom 2.3.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt/Belgien, Serie A Nr. 113, Ziff. 46 ff. 439 Unter Rückgriff auf die dynamische Auslegung stellte der EGMR fest, dass die bloße Tatsache, dass ein Organ von den Verfassern der Konvention noch nicht bedacht wurde, nicht bedeute, dass dieses Organ dem Anwendungsbereich der Kon-
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5. Das Verhältnis zwischen Luxemburger und Straßburger Rechtsprechung nach der Grundrechte-Charta: Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GRCh Die Anerkennung der Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH bot von Anfang an den Vorteil, dass die Richter sehr flexibel mit den Rechten umgehen und daher unkompliziert auf Änderungen des verfassungs- und grundrechtlichen Umfelds, zu dem auch die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zählen, reagieren konnten. Dies lässt sich beispielsweise an der verstärkten Bezugnahme auf die Straßburger Rechtsprechung bei Überprüfung mitgliedstaatlicher Rechtsakte durch den EuGH in den letzten Jahren zeigen. Bei verbindlichem Inkrafttreten der Grundrechte-Charta würde der EuGH erstmals seine Rechtsprechung auf einen festen Katalog vorgegebener Rechte stützen. Dieser Katalog ist ausfüllungsbedürftig, so dass die Richter auch zukünftig nicht in starren Bahnen über Grundrechte urteilen würden. Es bedarf einer Dogmatik, die die einzelnen Rechte mit Leben füllt und gleichzeitig eine innere Kohärenz des gesamten Grundrechtsschutzsystems sichert. Die Erarbeitung einer solchen Dogmatik in Anknüpfung an den bestehenden acquis communautaire im Grundrechtsbereich wird die neue Aufgabe des Gerichtshofs sein, sofern die Grundrechte-Charta in Kraft tritt. Durch die Kodifizierung würde allerdings ein Teil der über die allgemeinen Rechtsgrundsätze vermittelten Flexibilität und damit auch der Anpassungsfähigkeit verloren gehen440. Ein eigener geschriebener Grundrechtskatalog könnte somit auch zur Folge haben, dass die Gemeinschaft in diesem Bereich autonomer wird, d. h. eine geringere Anpassung an Straßburger Vorgaben erfolgt, und dass die beiden europäischen Grundrechtsschutzsysteme vention entzogen wäre. Strukturänderungen durch internationale Verträge seien mit zu berücksichtigen (Ziff. 39 des Urteils). Anschließend prüfte er sorgfältig, ob das Europäische Parlament die Voraussetzungen der Konvention für eine gesetzgebende Körperschaft erfüllte und kam zu einem positiven Ergebnis (Ziff. 45 ff. des Urteils). Ausführlich zum Europäischen Parlament als gesetzgebender Körperschaft nach Art. 3 des 1. ZP und zustimmend zu dem Urteil G. Ress, Das Europäische Parlament als Gesetzgeber. Der Blickpunkt der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZEuS 1999, S. 219 ff.; J. Bröhmer, Das Europäische Parlament: Echtes Legislativorgan oder bloßes Hilfsorgan im legislativen Prozess?, ZEuS 1999, S. 197 ff.; M. Doherty/A. Reid, Voting Rights for the European Parliament: Whose Responsibility, EHRLR 1999, S. 420 ff. Kritisch zu der Entscheidung I. Canor, Primus inter pares. Who is the ultimate guardian of fundamental rights in Europe?, ELRev. 25 (2000), S. 3, 13 ff., nach deren Meinung der EGMR größere Zurückhaltung hätte wahren sollen. Zum Matthews-Urteil siehe auch unten 3. Teil, B. II. 2. b). 440 Vgl. E. Eriksen/J. Fossum/A. Menéndez, The Charter of Fundamental Rights in Context. A Constitutional Moment?, in: dies., The Chartering of Europe, S. 17, 27: „Charters tighten the framework within which Courts argue and decide cases . . . Charters, as bills of rights, offer constraints on how judges operate.“
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
zukünftig wieder etwas auseinanderdriften. Dies ist allerdings nur ein mögliches, keinesfalls zwingendes Szenario441. Im Bewusstsein möglicher Auswirkungen der Charta auf das Verhältnis von EMRK und Gemeinschaftsgrundrechten sowie der beiden für die Auslegung zuständigen Gerichtshöfe hat der Grundrechte-Konvent daher Bestimmungen in die Charta aufgenommen, die ein solches Auseinanderdriften verhindern und einen größtmöglichen Gleichlauf des Luxemburger und des Straßburger Systems gewährleisten sollen. Die Tatsache allein, dass die Menschenrechtskonvention bei der Erarbeitung der Grundrechte-Charta als wesentliches Basisdokument zugrunde gelegt wurde442, reichte den Mitgliedern des Konvents zur Sicherung eines solchen Gleichlaufs aus naheliegenden Gründen nicht aus. Nicht alle Chartarechte korrespondieren mit EMRKRechten, und bei den korrespondierenden Rechten stimmt größtenteils der Wortlaut nicht vollständig überein. Vor allem aber sind mit EuGH und EGMR zwei unterschiedliche Gerichtshöfe zur Auslegung der Rechte berufen443. Es ergeben sich somit weiterhin Möglichkeiten für Divergenzen. In der Absicht, gegenläufige Entwicklungen zu verhindern, bestimmt daher Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh innerhalb der abschließenden allgemeinen Bestimmungen, dass Rechte der Charta, die den durch die EMRK garantierten Rechten „entsprechen“, die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie die betreffenden EMRK-Rechte haben sollen. Nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh wird gleichzeitig gewährleistet, dass der Schutzumfang von Rechten der Grundrechte-Charta weitergehen kann als nach der EMRK. Diese Klauseln sind denkbar abstrakt formuliert. Bei ihrer Anwendung auf den konkreten Einzelfall stellt sich insbesondere die Frage, wann Rechte der Charta im Sinne der Vorschrift EMRK-Garantien „entsprechen“ und was unter „gleicher Bedeutung und Tragweite“ der Rechte zu verstehen ist. Vom Wortlaut 441 In diese Richtung argumentiert beispielsweise W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473, 478; ebenso E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 222 f. Andere Autoren argumentieren genau umgekehrt und gehen davon aus, dass durch die Charta ein größerer Gleichlauf der Systeme von Gemeinschaft und EMRK gewährleistet werden wird, so z. B. R. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, JMP 04/2002, S. 24; S. Alber/U. Widmaier, Die EUCharta der Grundrechte und ihre Auswirkung auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497, 505. 442 Nach J. Callewaert, Die EMRK und die EU-Grundrechtecharta, EuGRZ 2003, S. 198, finden ungefähr die Hälfte der materiell-rechtlichen Bestimmungen der Charta ihren Ursprung in der EMRK oder in der Rechtsprechung des EGMR. 443 Zur Rolle der Gerichtshöfe im Zusammenhang mit der Charta siehe K. Lenaerts/E. de Smijter, The Charter and the Role of the European Courts, MJ 8 (2001), S. 90 ff.
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und Sinnzusammenhang her könnte mit „entsprechen“ gemeint sein, dass der gleiche Lebenssachverhalt von den jeweiligen Garantien erfasst sein muss444. Der Begriff „Bedeutung“ könnte den Schutzbereich und der Begriff „Tragweite“ die Schranken eines Grundrechts umschreiben445. Die – allerdings auch bei verbindlichem Inkrafttreten der Charta weiterhin rechtlich unverbindlichen – Erläuterungen des Konventspräsidiums446 zu Art. 52 GRCh beantworten die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Auslegungsfragen nur teilweise. Eine Kohärenz zwischen Charta und EMRK soll hiernach insbesondere im Bereich der Schranken hergestellt werden447. Dies könnte bedeuten, dass die speziellen Schranken der einzelnen EMRK-Rechte bei „Entsprechung“ auf die Chartarechte zu übertragen wären. Angesichts der Entscheidung des Konvents, für die Chartarechte zwecks Übersichtlichkeit und besserer Verständlichkeit keine speziellen Einschränkungsmöglichkeiten einzelner Rechte vorzusehen, sondern mit Art. 52 Abs. 1 GRCh nur eine allgemeine Schrankenbestimmung zu schaffen, erscheint eine solche Einführung spezifischer Schranken „um die Ecke“ jedoch widersprüchlich448. Wenn das Präsidium selbst in den Erläuterungen zu Art. 52 GRCh die „Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts und des 444 Dies entspräche in der deutschen Grundrechtsdogmatik dem „Regelungsbereich“, der weiter gefasst wird als der Schutzbereich eines Grundrechts. Dazu B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Rn. 197. 445 Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129, 1137. 446 Dokument Charte 4473/00-Convent 49 vom 11.10.2000. Darin heißt es: „Die vorliegenden Erläuterungen sind vom Präsidium in eigener Verantwortung formuliert worden. Sie haben keine Rechtswirkung, sondern dienen lediglich dazu, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.“ Gemäß Art. II-112 Abs. 7 des Verfassungsvertrags sind „die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta der Grundrechte verfasst wurden, . . . von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen“. Diese Ergänzung ist mit dem Verfassungsvertrag nachträglich eingefügt worden (Art. II-112 des Verfassungsvertrags entspricht in seinen Absätzen 1 bis 3 dem Art. 52 GRCh und ist zur Klarstellung um die Absätze 4 bis 7 erweitert worden). 447 Dies soll nach den Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 GRCh allerdings geschehen, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts und des EuGH berührt wird“. In welcher Weise diese Eigenständigkeit in der Praxis aufrecht erhalten werden soll, ohne dass der Gleichlauf von Charta und EMRK gefährdet ist, wird jedoch nicht erläutert. 448 Kritisch dazu E. Pache, Die Europäische Grundrechtscharta – ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, EuR 2001, S. 475, 488 ff.; T. Schmitz, Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 833, 839; S. Magiera, Die Bedeutung der Grundrechtecharta für die Europäische Verfassungsordnung, in: Scheuing, Europäische Verfassungsordnung, S. 117, 125 f. Siehe auch M. Kenntner, Die Schrankenbestimmungen der EUGrundrechtecharta – Grundrechte ohne Schutzwirkung?, ZRP 2000, S. 423 ff. Ausführlich zum Schrankenkonzept der Charta D. Triantafyllou, The European Charter
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EuGH“ betont, liegt es näher, die Begriffe „Bedeutung und Tragweite“ in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh nicht im technischen Sinne allgemeiner Grundrechtslehren zu verstehen. Vielmehr sollte die Vorschrift so ausgelegt werden, dass eine generelle Kohärenz des Schutzumfangs bei korrespondierenden Rechten von Charta und EMRK gegeben sein muss in dem Sinne, dass die Reichweite der Rechte insgesamt nach Schutzbereich und Schranken in etwa übereinstimmen muss bzw. nicht divergieren darf449. Über diesen Ansatz hinausgehende Lösungen, die auf einen noch stärkeren Abgleich hinausliefen, sind in Anbetracht der Tatsache, dass zwei verschiedene, eigenständige Gerichtshöfe zur Auslegung der Grund- und Menschenrechte berufen sind und mit sehr unterschiedlichen Sachverhalten konfrontiert sein können, praktisch kaum durchführbar. Einige Unklarheiten der Formulierung in Art. 52 Abs. 3 GRCh werden durch die Erläuterungen des Präsidiums allerdings tatsächlich ausgeräumt: Die Bezugnahme auf die EMRK soll sich nicht nur auf die Konvention, sondern auch auf die Zusatzprotokolle erstrecken. Außerdem wird klargestellt, dass sich die Umschreibung „Bedeutung und Tragweite“ nicht nur auf den Wortlaut der Rechte bezieht, sondern darüber hinaus ihre Auslegung in der Rechtsprechung der Gerichtshöfe impliziert. Dies geht aus der Formulierung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh selber nicht hervor; die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs findet hier – anders als in der Präambel der Charta – keine Erwähnung450. Angesichts der wesentlichen Prägung und Weiterentwicklung der Rechte durch die Rechtsprechung der Gerichtshöfe wäre eine reine Bezugnahme auf den Wortlaut der Rechte allerdings wenig sinnvoll gewesen. Zwecks Konkretisierung der Entsprechungsklausel in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh listen die Präsidiumserläuterungen zudem Kategorien korrespondierender Rechte von Charta und EMRK auf. Genannt werden zum einen Artikel der Charta, die dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die entsprechenden Artikel der EMRK haben, und zum anderen Artikel, die dieselbe Bedeutung haben wie die entsprechenden Artikel der EMRK, deren Tragweite aber umfassender ist. Die of Fundamental Rights and the „Rule of Law“: Restricting Fundamental Rights by Reference, CMLRev. 39 (2002), S. 53 ff. 449 Ähnlich auch C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129, 1137 f. Kritisch zu der Regelung des Art. 52 Abs. 3 GRCh insgesamt M. Pechstein in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 15, und J. Dutheil de la Rochère, Droits de l’homme – La Charte des droits fondamentaux et au delà, JMP 10/2001, S. 17 ff. 450 Im Konvent konnte über die Aufnahme der EGMR-Judikatur in Art. 52 Abs. 3 GRCh wegen fehlenden Beitritts der EU zur EMRK keine Einigung erzielt werden, vgl. J. Callewaert, Die EMRK und die EU-Grundrechtecharta, EuGRZ 2003, S. 198, 199.
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dritte Kategorie derjenigen Chartarechte, für die es keinerlei Entsprechung in der EMRK gibt, bilden die nicht aufgeführten Rechte. Anhand dieser Listen können direkte Vergleich gezogen werden451. Abschließend gelöst wird die Problematik indes hiermit nicht. So bleibt ungeklärt, was für die Garantien der Charta gilt, deren Inhalte zwar vom Schutzbereich eines EMRK-Rechts erfasst sind, die aber überhaupt nicht im Text der EMRK enthalten sind, sondern erst nach der Rechtsprechung des EGMR als geschützt angesehen werden können452. Fragen wirft auch das Verhältnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh zu der Bestimmung des Art. 53 GRCh auf. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh bildet eine Ausnahmeklausel zu der Entsprechungsklausel des ersten Satzes der Vorschrift dahingehend, dass Unionsgrundrechte einen weitergehenden Schutz als EMRK-Garantien vermitteln können. Nach Art. 53 GRCh darf wiederum keine Bestimmung der Charta als Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechtskonvention oder der mitgliedstaatlichen Verfassungen ausgelegt werden453. Der Sinn dieser Regelungen erscheint auf den ersten Blick klar: Es soll bewirkt werden, dass lückenlos der jeweils höchste Grundrechtsstandard im Vergleich der drei Rechtskreise Gemeinschaft, EMRK und Mitgliedstaaten zur Anwendung kommt. Dies funktioniert jedoch nur im zweipoligen Verhältnis des Einzelnen gegenüber der in seine Rechte eingreifenden jeweiligen Hoheitsgewalt. Sobald sich in einem mehrpoligen Verhältnis zwei oder mehr Personen gegenüberstehen und auf gegenläufige Grundrechtspositionen berufen, es also zu einer Grundrechtskollision kommt, ist das Schema des Minimal-Maximal-Standards ausgehebelt454. Es entsteht ein unauflöslicher Widerspruch zwischen den beiden 451 Siehe dazu den Vergleich zwischen den einzelnen Charta- und EMRK-Rechten bei P. Lemmens, The Relation between the Charter of Fundamental Rights of the European Union and the European Convention on Human Rights – Substantive Aspects, MJ 8 (2001), S. 49, 55 ff., sowie M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, S. 25 ff. 452 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129, 1136 f., führt als Beispiel für diese nicht erfasste Kategorie die Wissenschaftsfreiheit, die Kunstfreiheit und das Grundrecht auf Datenschutz an, die alle – ohne in der Konvention Erwähnung zu finden – von der Judikatur des Straßburger Gerichtshofs abgedeckt sind (vgl. die Verweise in den Fußnoten bei Grabenwarter, a. a. O.). 453 Vgl. die vergleichbare Bestimmung in Art. 53 EMRK. 454 Ausführlich zur Problematik eines Minimal- bzw. Maximalstandards im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsgrundrechten L. Besselink, Entrapped by the Maximum Standard: On Fundamental Rights, Pluralism and Subsidiarity in the European Union, CMLRev. 35 (1998), S. 629 ff. mit Lösungsvorschlägen auf S. 665 ff.
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Günstigkeitsregeln der Grundrechte-Charta, da für diesen Fall keine Vorranglösung vorgesehen ist455. Zur Auflösung des Konflikts im Verhältnis Grundrechte-Charta – Menschenrechtskonvention wird in der Literatur vorgeschlagen, im Kollisionsfall zugunsten der EMRK zu entscheiden456. Der Vorrang der EMRK gegenüber der Charta in diesen Fällen wird mit der selbständigen Stellung des Art. 53 GRCh am Ende der horizontalen Klauseln und der Hervorhebung der Menschenrechtskonvention unter den völkerrechtlichen Übereinkommen begründet457. Außerdem wird darauf abgestellt, dass Art. 53 GRCh weiterreichend formuliert sei und mit den Worten „keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung . . . auszulegen“ auch die potenziell konfligierende Norm des Art. 52 Abs. 3 GRCh erfasse458. Für diese Auslegung spricht, dass die EMRK so als der unantastbare Mindeststandard gewahrt bleibt, den sie auch im Verhältnis zu den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten darstellt459. Unausweichlich auftauchende Probleme im Spannungsverhältnis einer verbindlichen EU-Grundrechte-Charta zur EMRK können so gelöst und die beiden Grundrechtssysteme sinnvoll verknüpft werden.
455 Vgl. das Beispiel bei C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129, 1140 f., der allerdings auf Gemeinschaftsebene nicht zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten differenziert. Ähnlich EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659 ff. 456 Zu dem möglichen Konflikt zwischen Grundrechte-Charta und nationalen Verfassungen und den Auswirkungen des Art. 53 GRCh auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts siehe insbesondere J. Liisberg, Does the EU Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, CMLRev. 38 (2001), S. 1171 ff.; L. Besselink, The Member States, the National Constitutions and the Scope of the Charter, MJ 8 (2001), S. 68 ff.; M. Borowsky, in: Meyer, Kommentar zur Grundrechte-Charta, Art. 53 Rn. 7 ff. 457 So C. Grabenwarter, a. a. O. (in FS Steinberger), S. 1142 f. Auch nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums zu Art. 53 GRCh ist der EMRK-Standard ausschlaggebend. 458 C. Grabenwarter, a. a. O. (in FS Steinberger), S. 1143 f.; ders., Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, S. 1, 11; M. Borowsky in: Meyer, Kommentar zur Grundrechte-Charta, Art. 53 Rn. 20; K. Lenaerts/E. de Smijter, The Charter and the Role of the European Courts, MJ 8 (2001), S. 90, 98. 459 So auch J. Callewaert, Die EMRK und die EU-Grundrechtecharta, EuGRZ 2003, S. 198, 200, der die EMRK im Ergebnis durch die Regelungen der Grundrechte-Charta als von einer Rechtserkenntnisquelle zur indirekten Rechtsquelle aufgewertet ansieht. Ähnlich M. Fischbach, Le Conseil de l’Europe et la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, RUDH 2000, S. 7, 8. Nach P. Lemmens, The Relation between the Charter of Fundamental Rights of the European Union and the European Convention on Human Rights – Substantive Aspects, MJ 8 (2001), S. 49, 55, hätte die EMRK in Art. 53 GRCh gar keine besondere Erwähnung finden sollen, um Mißverständnissen vorzubeugen.
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Die aufgezeigten Punkte zeigen allerdings, dass mit dem verbindlichen Inkrafttreten der Grundrechte-Charta die Problemfelder im Verhältnis zwischen gemeinschaftlichem Grundrechtsschutz und Menschenrechtskonvention keineswegs beseitigt sein würden. Solange es noch keine Rechtsprechung zu einer verbindlichen Charta gibt, bleibt es zwar reine Spekulation, ob die Kodifikation der Gemeinschaftsgrundrechte und gerade die enge Anbindung der Grundrechte-Charta an die EMRK die Kohärenz zwischen den beiden europäischen Grundrechtsschutzsystemen verstärken wird oder ob der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz eigenständiger werden und damit eventuell auch eine andere Richtung als die Menschenrechtskonvention nehmen wird460. Bis zu dem Zeitpunkt aber, zu dem ein Beitritt der Gemeinschaft bzw. der Union zur EMRK erfolgt und damit dem Straßburger Gerichtshof auch für den Bereich der supranationalen Hoheitsgewalt formal die menschenrechtliche Letztentscheidung zukommt, werden Ambivalenzen im Verhältnis der beiden Grundrechtsschutzsysteme bestehen bleiben461. Und selbst nach erfolgtem Beitritt können materielle Divergenzen nicht ausgeschlossen werden.
II. Über- und Unterordnungsverhältnisse: Kontrolle von Gemeinschaftsrechtsakten durch den Straßburger Gerichtshof Überprüft der EuGH – in der Regel im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren – mitgliedstaatliche Maßnahmen am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte, besteht die Möglichkeit, dass nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs der EGMR mit der Überprüfung derselben Rechtsakte befasst wird. In diesem zunehmend größer werdenden Bereich kann daher indirekt die Kompatibilität der EuGH-Urteile mit dem Straßburger System „gegengeprüft“ werden. Rechtsprechungsdivergenzen zwischen EuGH und EGMR können – wie aufgezeigt – auftreten. In der möglichen zweiten Überprüfung durch den EGMR ist jedoch auch einer der Gründe dafür zu sehen, dass der Luxemburger Gerichtshof bei der Kontrolle mitgliedstaat460 Für die zweite Variante spräche die unterschiedliche Schrankensystematik von EMRK und Grundrechte-Charta, die in der Praxis zu unterschiedlichen Grundrechtsschutzergebnissen führen kann. So auch A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 141. 461 In Art. I-9 Abs. 2 des Verfassungsvertrags ist festgelegt, dass die Union der EMRK beitritt. Verfahrensrechtliche und institutionelle Fragen des Beitritts werden allerdings nicht behandelt. Satz 2 der Vorschrift betont, dass der Beitritt nichts an den in der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten der Union ändere und beugt damit Befürchtungen vor, dass hierdurch eine Kompetenzverschiebung zu Ungunsten der EU erfolge. Vgl. hierzu auch oben 1. Teil, B. III. 3. b) cc).
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
licher Rechtsakte seine Grundrechtsrechtsprechung in der Regel eng an die Vorgaben aus Straßburg anlehnt und auf diese Weise Konflikte zu vermeiden versucht. Die Gefahr divergierender Entscheidungen wird so in pragmatischer Weise minimiert, auch wenn dies noch keine dogmatisch saubere Auflösung des Konkurrenzverhältnisses der beiden Gerichtshöfe für diesen Bereich bedeutet. Bei Gemeinschaftsrechtsakten stellt sich die Situation anders dar. Die Gemeinschaft ist nicht Vertragspartei der Menschenrechtskonvention und daher ratione personae nicht der Kontrolle durch den EGMR unterworfen. Dies ist in der Judikatur von Menschenrechtskommission und Menschenrechtsgerichtshof bis heute immer wieder bestätigt worden. Es bedeutet jedoch nicht automatisch, dass es aus Sicht des Straßburger Systems keinerlei Kontrollmöglichkeit für Gemeinschaftsrechtsakte gäbe. Vielmehr lässt sich in der Rechtsprechung des EGMR insbesondere in den letzten zehn Jahren eine Entwicklung dahingehend verzeichnen, dass zunehmend Gemeinschaftsrecht direkt anhand der EMRK überprüft wird. Die rechtliche Konstruktion unterscheidet sich dabei je nach Art des zu prüfenden Rechtsakts. So ist zu differenzieren zwischen gemeinschaftlichem Primärrecht, Sekundärrechtsakten der Gemeinschaftsinstitutionen und mitgliedstaatlichen Vollzugsakten, die zwar nationales Recht darstellen, jedoch unmittelbar gemeinschaftsrechtlich determiniert sind und keinen nationalen Spielraum bei der Umsetzung belassen462. Unabhängig von der Einordnung des Rechtsakts kann der EGMR indes bei einer Kontrolle von Gemeinschaftsrecht nie den direkten Weg über die Gemeinschaft, sondern immer nur den Weg über die EG-Mitgliedstaaten als Vertragsstaaten und damit alleinig Verantwortliche nach der EMRK einschlagen. In diesem letzten Abschnitt der Arbeit werden die Straßburger Entscheidungen zu diesem Bereich dargestellt und in ihren Auswirkungen auf das 462
Diese nationalen Vollzugsakte ohne Umsetzungsspielraum sind vollständig gemeinschaftsrechtlich determiniert, sozusagen Geschöpfe des Gemeinschaftsrechts. Die mitgliedstaatlichen Behörden handeln in diesem Fall lediglich als Werkzeuge der Gemeinschaftsinstitutionen, welche die Maßnahmen erschaffen haben. Daher sind die Vollzugsakte in diesem Kontext dem Gemeinschaftsrecht im weiteren Sinne zuzuordnen. Vgl. hierzu I. Canor, Primus inter pares. Who is the ultimate guardian of fundamental rights in Europe?, ELRev. 25 (2000), S. 3, 21. Die darüber hinausgehenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ (hierzu oben 2. Teil, B. V. 2. b)) gehören hingegen nicht zu diesem Bereich. Hierbei handelt es sich um nationale Akte, die zwar einen Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen, die aber national initiiert sind, deren Inhalt also nicht gemeinschaftlich bestimmt ist. Für diese Akte nimmt der EuGH die Kontrolle des EGMR vorweg und übernimmt – unbeschadet einer möglichen zweiten Überprüfung in Straßburg – dessen Aufgabe der grund- bzw. menschenrechtlichen Prüfung des nationalen Rechts.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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Verhältnis der beiden Grundrechtsschutzsysteme zueinander analysiert463. Die Herangehensweise insbesondere des neuen ständigen Menschenrechtsgerichtshofs an die Gemeinschaftsrechtsordnung zeigt seine Position im Spannungsverhältnis zwischen gemeinschaftlichem Grundrechtsschutz und EMRK. Gleichzeitig lassen sich hieraus Schlüsse im Hinblick auf eine zukünftige Ausgestaltung der europäischen Grundrechtsinfrastruktur und auf die Machtbalance zwischen den beiden Gerichtshöfen ziehen. Der EGMR erkennt die Eigenständigkeit der Gemeinschaft als supranationaler Organisation mit eigener Hoheitsgewalt an, hat sich aber gleichwohl in einzelnen Fällen materiell die menschenrechtliche Letztentscheidung vorbehalten. Auf diese Weise verhindert er, dass sich die Vertragsstaaten durch Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Gemeinschaft ihrer Verantwortung nach der EMRK entziehen. Entsprechend seiner subsidiären „Fangnetzfunktion“ sichert er die Wahrung des menschenrechtlichen Mindeststandards in Europa. Ohne dass die Gemeinschaft Vertragspartei der EMRK ist, wird der EuGH so zumindest in die Nähe eines nationalen Verfassungsgerichts gerückt, dessen Entscheidungen noch einer Überprüfung am Maßstab der EMRK-Garantien unterliegen können. Nicht nur mitgliedstaatliche Akte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, sondern unter Umständen auch Gemeinschaftsrechtsakte einschließlich EuGH-Urteilen können wegen Verletzung der Konvention angeprangert werden. Der EGMR kann so auf „sanfte“ Weise Druck auf die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsinstitutionen ausüben, die Straßburger Vorgaben im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung von vornherein zu berücksichtigen. 1. Zurückhaltung der Menschenrechtskommission bei der Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten Die Straßburger Menschenrechtskommission hat seit Mitte der siebziger Jahre eine Reihe von Individualbeschwerden gegen die Europäischen Gemeinschaften bzw. gegen das Kollektiv der EG-Mitgliedstaaten und auch gegen gemeinschaftsrechtlich determinierte mitgliedstaatliche Vollzugsakte als unzulässig abgewiesen, so dass die Beschwerdeführer in diesen Fällen gar nicht erst zum Menschenrechtsgerichtshof vorgedrungen sind. In den 463 T. Stein, Das Verhältnis zwischen dem Grundrechtsschutz durch die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Gemeinschaften. 1. Referat: Das geltende Recht, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 151 ff., bezeichnet die Konstellation, dass der EGMR Gemeinschaftsrechtsakte überprüft, als mögliche „formelle Divergenzen“ in Abgrenzung zu den oben aufgeführten „materiellen Divergenzen“, bei denen es nicht um den selben, sondern lediglich um einen gleichgelagerten Fall vor beiden Gerichtshöfen geht.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Entscheidungen der EKMR zeigen sich allerdings inhaltliche Abstufungen bei der Herangehensweise an Gemeinschaftsrechtsakte. a) Erste Entscheidungen der EKMR aa) C. F. D. T. Im ersten Fall dieser Art, C. F. D. T. von 1978, hatte die EKMR über die Individualbeschwerde einer französischen Gewerkschaft zu befinden, die eine Verletzung verschiedener Konventionsrechte durch eine Entscheidung des Rats der EG, nämlich die Weigerung, ihr eine Mitgliedschaft im Beratenden Ausschuss der EGKS einzuräumen, geltend machte. Die Gewerkschaft richtete ihre Beschwerde gegen die Europäischen Gemeinschaften, hilfsweise gegen die Gesamtheit der EG-Mitgliedstaaten und gegen die einzelnen Mitgliedstaaten. Die Menschenrechtskommission wies die Beschwerde als unzulässig ratione personae ab464. Soweit die Beschwerde sich gegen die Gemeinschaften richtete, verwies die Kommission schlicht darauf, dass die Gemeinschaften nicht Vertragsparteien der Konvention seien465. Auch im Hinblick auf die Gesamtheit der EG-Mitgliedstaaten erkannte sie auf eine Unzulässigkeit ratione personae, da die Beschwerde tatsächlich den Rat der EG betreffe466. Für die Beschwerde gegen jeden einzelnen EG-Mitgliedstaat erklärte sich die EKMR schließlich unzuständig, weil diese Staaten durch ihre Mitwirkung an den Entscheidungen des Rates der EG keine „Herrschaftsgewalt“ im Sinne des Art. 1 EMRK ausgeübt hätten467. Mit dieser Entscheidung hat die Menschenrechtskommission zunächst eine restriktive Haltung gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten eingenommen. Indem sie die konventionsrechtliche Kontrolle dieser Akte ablehnte, vermied sie auf formaler Ebene Konflikte im Spannungsfeld von EMRK, Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Auf eine Diskussion zur Kollektivverantwortlichkeit der EG-Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsakte ließ sie sich nicht ein468. Diese Zurückhaltung der EKMR lässt sich 464 EKMR, Entscheidung vom 10.7.1978, Beschwerde-Nr. 8030/77, Confédération Française Démocratique du Travail/Europäische Gemeinschaften, hilfsweise Gesamtheit der EG-Mitgliedstaaten und einzelne EG-Mitgliedstaaten, DR Bd. 13, S. 271 ff., deutsche Übersetzung in EuGRZ 1979, 431. 465 EKMR, a. a. O., Rn. 3 der Entscheidung. 466 EKMR, a. a. O., Rn. 4 der Entscheidung. 467 EKMR, a. a. O., Rn. 7 der Entscheidung. 468 Dies entspricht der Haltung der EKMR im Fall Hess/Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 28.5.1975, Beschwerde-Nr. 6231/73, deutsche Übersetzung in EuGRZ 1975, S. 482 ff. Hier hatte die Kommission entschieden, dass das Vereinigte Königreich nicht für die fortgesetzte Inhaftierung von Rudolf Hess im Spandauer
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rechtspolitisch zum einen damit erklären, dass die konventionsrechtliche Bedeutung von Gemeinschaftsrechtsakten, d. h. die Schnittstelle, an der die EMRK für das Gemeinschaftsrecht relevant werden konnte, damals noch gering war. Das Problem, dass sich Konventionsstaaten durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine supranationale Organisation ihrer Verpflichtungen aus der EMRK entziehen könnten, stellte sich noch nicht in dem heutigen Ausmaß. Zum anderen wird der Kommission die schwer aufzulösende Pflichtenkollision derjenigen Konventionsstaaten, die gleichzeitig EG-Mitgliedstaaten waren, bewusst gewesen sein. Dem von ihr eingeschlagenen Lösungsweg werden daher auch taktische Überlegungen zugrunde gelegen haben: Indem die EKMR es vermied, die Staaten in eine offene Pflichtenkollision zwischen EMRK und Gemeinschaft zu bringen, sicherte sie auch die Akzeptanz der Konvention und ihres Durchsetzungsmechanismus seitens der Vertragsstaaten469. Die Entscheidung C. F. D. T. ist jedoch nicht als Freibrief für die EG-Institutionen zu verstehen. Das eigentliche Problem – die Kollektiv- oder Einzelverantwortlichkeit der EG-Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsakte – blieb offen; die generelle Möglichkeit einer derartigen Kontrolle wurde nicht explizit ausgeschlossen. Auch in diesem Fall dürfen die besonderen Umstände auf tatsächlicher Ebene, die zu der Entscheidung geführt haben, nicht aus den Augen verloren werden: Der für die von der Gewerkschaft gerügte Ratsentscheidung letztlich verantwortliche Mitgliedstaat Frankreich hatte zum Zeitpunkt der Beschwerde das Individualbeschwerderecht nach Art. 25 EMRK a. F. noch nicht anerkannt. Anderenfalls hätte die Gewerkschaft nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs gegen die nationale Auswahlentscheidung in Straßburg vorgehen können. Unter diesen Umständen wäre es aber absurd gewesen, über den Umweg des Gemeinschaftsbezuges ersatzweise alle anderen EG-Mitgliedstaaten zur konventionsrechtlichen Verantwortung zu ziehen470. Die C. F. D. T.-Entscheidung ist folglich kein Präzedenzfall, nach dem alle zukünftigen Beschwerden gegen Akte auf EG-Ebene zurückzuweisen gewesen wären. Die Zitierung der Entscheidung in nachfolgenden Fällen bezog sich entsprechend immer nur auf die erste Feststellung der EKMR, dass Beschwerden gegen die Gemeinschaft selber ratione personae unzulässig seien, da diese nicht Vertragspartei der Konvention sei. Gefängnis verantwortlich gemacht werden könne, da die Gefängnisverwaltung der gemeinsamen Kontrolle der vier Siegermächte unterstand. Dazu D. Blumenwitz, Die Hess-Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission, EuGRZ 1975, S. 497 ff. 469 So W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 153. 470 So S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 172, der von „völkerrechtlicher ‚Sippenhaft‘“ spricht.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
bb) Dufay In der Entscheidung Dufay/Europäische Gemeinschaften, hilfsweise gegen die Gesamtheit der EG-Mitgliedstaaten und gegen die einzelnen EG-Mitgliedstaaten aus dem Jahr 1989 war die EKMR wiederum mit Akten der Gemeinschaftsinstitutionen befasst. Frau Dufay hatte für eine Streitigkeit aus ihrem Arbeitsverhältnis mit dem Europäischen Parlament die Klagefrist zum EuGH von drei Monaten nicht eingehalten. In ihrer Beschwerde an die EKMR machte sie geltend, der Beginn der Klagefrist sei vom EuGH falsch bestimmt und sie daher in ihrem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK verletzt worden. Die Menschenrechtskommission verwies zunächst auf die C. F. D. T.-Entscheidung, um ihre Unzuständigkeit ratione personae für die gegen die Gemeinschaft selbst gerichtete Beschwerde zu begründen471. Die Möglichkeit einer Beschwerde gegen das Kollektiv der EG-Mitgliedstaaten und gegen die einzelnen Staaten schloss sie hingegen gerade nicht aus. Vielmehr stellte sie ausdrücklich die hierfür entscheidende Frage in den Raum, ob die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Mitgliedstaates durch den Akt eines Gemeinschaftsorgans begründet werden könne. Ohne sich inhaltlich festzulegen, aber die Möglichkeit einer positiven Antwort nicht ausschließend472, wies sie jedoch im Anschluss darauf hin, dass sie die Frage nur beantworten und den Fall daher auch nur entscheiden könne, sofern entsprechend den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Konvention der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft sei. In dieser Konstellation sei der Rechtsweg innerhalb des Gemeinschaftssystems als innerstaatlicher Rechtsweg zu betrachten. Dieser sei aber von der Beschwerdeführerin wegen Fristversäumung vor dem EuGH gerade nicht ausgeschöpft worden. Die Beschwerde wurde daher aus formalen Gründen als unzulässig abgewiesen473. Die EKMR ist in der Dufay-Entscheidung folglich einen Schritt weiter gegangen als in C. F. D. T. Sie hat sich ausdrücklich die Option, die Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsakte zur Verantwortung zu ziehen, vorbehalten und damit ein Zeichen gesetzt474. Ohne weiteres hätte sie auf den „Schlenker“ über die Frage nach der gemeinsamen Verantwortung verzichten und die Beschwerde auf direktem Wege mangels Rechtswegerschöpfung für unzulässig erklären können. Dass sie dies nicht getan hat und sich die Möglichkeit einer konventionsrechtlichen Kontrolle offen hielt, lässt sich zumindest als warnender Hinweis an die betroffenen Vertragsstaaten verste471
EKMR, Entscheidung vom 19.1.1989, Beschwerde-Nr. 13539/88, Rn. 1. EKMR, a. a. O., Rn. 2: „A supposer même que l’on puisse admettre une telle éventualité . . .“. 473 EKMR, a. a. O., Rn. 2. 474 In diesem Sinne auch R. Lawson, Het EVRM en de Europese Gemeenschappen, S. 379. 472
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hen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung im Jahr 1989 war die EG in ihrer Entwicklung gegenüber dem Ende der siebziger Jahre, als der Fall C. F. D. T. entschieden wurde, bereits erheblich fortgeschritten. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 waren zahlreiche weitere Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen worden. Daher stellte sich aus Straßburger Sicht das Problem einer Marginalisierung des Menschenrechtsschutzes über die Konvention durch Übertragung von Hoheitsrechten in größerem Maße als noch einige Jahre zuvor. Hierin könnte ein möglicher Grund für die offensiver formulierte Entscheidungsbegründung liegen. Bemerkenswert an der Entscheidung ist insbesondere, dass die EKMR die Konstruktion über die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten in Betracht zog, obwohl es sich bei der angegriffenen Maßnahme um einen Akt des EuGH als Gemeinschaftsinstitution handelte, auf welchen die Staaten tatsächlich keinerlei Einfluss mehr nehmen konnten475. Da die Kommission jedoch die von ihr aufgeworfene, grundlegende Frage nicht beantworten musste, blieb die Entscheidung zunächst ohne Konsequenzen für die betroffenen Staaten. b) Die Entscheidung „Melchers“ der EKMR – Solange II im Verhältnis von Luxemburg und Straßburg? Ein Jahr nach der Entscheidung Dufay musste sich die Menschenrechtskommission in dem Fall Melchers & Co./Deutschland erneut mit Gemeinschaftsrecht befassen, diesmal allerdings auf indirektem Wege über einen mitgliedstaatlichen Vollzugsakt, der gemeinschaftsrechtlich determiniert war. Der Beschwerdeführerin, einer Firma aus Bremen, war von der EG-Kommission wegen eines Verstoßes gegen Art. 81 EGV ein Bußgeld auferlegt worden. Einer gegen die Kommissionsentscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage gab der EuGH nur teilweise statt; er setzte den Bußgeldbetrag herab, ging aber nicht auf die Rüge einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ein476. Die Bußgeldentscheidung wurde anschließend vom deutschen Justizministerium gemäß Art. 256 EGV für vollstreckbar erklärt477. Die hiergegen eingelegten nationalen Rechtsmittel der Beschwerde475 Zu diesem Problemkreis siehe vertieft unten unter 2. c) im Zusammenhang mit dem Senator Lines-Fall. 476 EuGH, Rs. 101/80, Melchers & Co./Kommission, Slg. 1983, S. 1825 ff. 477 Nach dem EGV haben die Gemeinschaftsorgane zur Durchsetzung vollstreckbarer Titel keine eigenen Zwangsbefugnisse. Die Zwangsvollstreckung erfolgt gemäß Art. 256 EGV nach den Vorschriften des Zivilprozessrechts des Staates, in dessen Hoheitsgebiet sie stattfindet. Die Prüfungskompetenz des vollstreckenden Mitgliedstaats bei der Erteilung der Vollstreckungsklausel erstreckt sich lediglich auf die formelle Prüfung der Echtheit des Titels, während die materielle Prüfung des Titels, auch im Hinblick auf vorläufige Rechtsschutzmaßnahmen gegen die
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führerin wurden von den deutschen Gerichten in allen Instanzen abgewiesen478. Das letztinstanzlich mit dem Fall befasste Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Grundrechte aus Art. 14 und Art. 103 Abs. 1 GG mangels Erfolgsaussichten nicht an479. Dabei stützte es sich vor allem auf seinen kurz zuvor ergangenen Solange IIBeschluss480. Daraufhin erhob die Firma Melchers Individualbeschwerde vor der Europäischen Menschenrechtskommission. Sie machte geltend, durch die Erteilung der Vollstreckungsklausel seitens der Bundesrepublik in ihren Rechten aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 und aus Art. 7 EMRK verletzt worden zu sein. Die EKMR betonte in ihrer Entscheidung unter Verweis auf die Fälle C. F. D. T. und Dufay zunächst erneut, dass ihr keine Kompetenz zukomme, Rechtsakte von EG-Institutionen zu überprüfen, da die Gemeinschaft nicht Vertragspartei der EMRK sei481. Den konkreten Fall grenzte sie jedoch von dieser Konstellation ab. Mit der Vollstreckung von EuGH-Urteilen betraute Behörden der Mitgliedstaaten würden nicht zu „Quasi-Gemeinschaftsorganen“, die sich außerhalb des Kontrollbereichs der EMRK befänden. Die Vertragsstaaten seien nach Art. 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen ihrer Organe unabhängig davon verantwortlich, ob diese in Ausführung nationaler oder internationaler Verpflichtungen vorgenommen würden482. Mit dieser formalen Betrachtungsweise begründete die Menschenrechtskommission ihre Zuständigkeit ratione personae. Das Argument der Bundesrepublik, sie sei nicht im Sinne von Art. 1 EMRK konventionsrechtlich verantwortlich, weil sie aufgrund ihrer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen und mangels materieller Prüfungsbefugnis keine Handlungsalternative zur Erteilung der Vollstreckungsklausel hatte, wurde somit verworfen483. Zwangsvollstreckung, ausschließlich den Gemeinschaftsgerichten vorbehalten ist. Vgl. dazu im Einzelnen G. Schmidt in: von der Groeben/Schwarze, Art. 256 EGV Rn. 12 ff. 478 Zu den Verfahren vor den deutschen Gerichten im Einzelnen T. Giegerich, Luxemburg, Karlsruhe, Straßburg – Dreistufiger Grundrechtsschutz in Europa?, ZaöRV 50 (1990), S. 836, 839 ff. 479 BVerfG, Beschluss vom 10.4.1987, 2 BvR 1236/86 (Melchers-Beschluss), EuGRZ 1987, S. 386. 480 BVerfGE 73, S. 375 ff. 481 EKMR, Entscheidung vom 9.2.1990, Beschwerde-Nr. 13258/87, Melchers & Co./Deutschland, DR 64, S. 138; deutsche Übersetzung in ZaöRV 50 (1990), S. 865 ff. 482 EKMR, Melchers & Co./Deutschland, ZaöRV 50 (1990), S. 865, 866. 483 Zu der Problematik der Zurechnung aus nationaler Sicht siehe T. Giegerich, Luxemburg, Karlsruhe, Straßburg – Dreistufiger Grundrechtsschutz in Europa?, ZaöRV 50 (1990), S. 836, 848 f.
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Bei der folgenden Prüfung der Zuständigkeit ratione materiae befasste sich die EKMR – über ihren zunächst nur formalen Standpunkt hinausgehend – auch inhaltlich mit der Frage, ob Deutschland als EG-Mitgliedstaat für die Vollstreckung aus einem möglicherweise menschenrechtswidrigen EuGH-Urteil zur Verantwortung gezogen werden könne, weil es das Urteil durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft erst ermöglicht habe. Erstmals thematisierte sie damit materiell die Möglichkeit einer konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit der EG-Mitgliedstaaten für Gemeinschaftshandeln. In ihrer zur Herleitung einer solchen Verantwortlichkeit gewählten Argumentationskette stellte sie zunächst fest, dass die Menschenrechtskonvention es den Vertragsstaaten nicht verbiete, Hoheitsrechte auf internationale Organisationen zu übertragen. Es sei jedoch mit der effektiven und praktischen Wirksamkeit der Konventionsrechte nicht vereinbar, wenn die Vertragsstaaten sich durch eine solche Übertragung von Hoheitsrechten ihrer Pflichten aus der EMRK entledigen könnten484. Diese Überlegungen ließ die Kommission ohne weiteren Übergang in die Feststellung münden, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen dann nicht im Widerspruch zu den Vorgaben der Konvention stehe, wenn sichergestellt sei, dass im Rahmen der Organisation der Schutz der Menschenrechte auf einem der EMRK vergleichbaren Niveau gewährleistet werde485. Der so formulierte Vorbehalt des äquivalenten Schutzes erinnert an die Solange II-Rechtsprechung des BVerfG486. Passend dazu ging die Kommission im Folgenden auf das generelle Niveau des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft ein und verwies zur Begründung eines hinreichenden Schutzstandards auf die Gemeinsame Erklärung von Rat, Kommission und Parlament von 1977 zum gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz sowie auf die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH487. Ergänzend merkte sie an, dass es grundsätzlich der Idee einer Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen widerspräche, in jedem Einzelfall die Vollstreckung von EuGH-Urteilen durch die Mitgliedstaaten konventionsrechtlich zu überprüfen488. Im Ergebnis wies sie die 484 EKMR, Melchers & Co./Deutschland, ZaöRV 50 (1990), S. 865, 866 f. unter Verweis auf das Soering-Urteil des EGMR, das grundlegend für die effektive Auslegung der Konventionsrechte ist; vgl. dazu oben 3. Teil, A. I. 4. a) dd). 485 EKMR, Melchers & Co./Deutschland, a. a. O., S. 867. 486 BVerfGE 73, S. 375 ff. Auf die Parallele zur Karlsruher Rechtsprechung verweisen u. a. T. Giegerich, Luxemburg, Karlsruhe, Straßburg – Dreistufiger Grundrechtsschutz in Europa?, ZaöRV 50 (1990), S. 836, 860 ff., N. Philippi, Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, S. 97, 103, und A. Bultrini, L’interaction entre le système de la Convention européenne des Droits de l’Homme et le système communautaire, ZEuS 1998, S. 493, 501. 487 EKMR, Melchers & Co./Deutschland, a. a. O., S. 867. 488 A. a. O., S. 868.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Beschwerde des betroffenen Unternehmens wegen Unzuständigkeit ratione materiae zurück. Das Votum mag auf den ersten Blick schlüssig erscheinen. Die EKMR hatte aber vorher sehr wohl – wenn auch mit nur drei Sätzen recht kurz – die im konkreten Fall streitige EuGH-Entscheidung auf ihre Konventionskonformität überprüft. An dieser Stelle zeigt sich ein Bruch in der Argumentation: Wegen dieser inhaltlichen Prüfung hätte die EKMR hier korrekterweise die Beschwerde nicht wegen Unzuständigkeit ratione materiae, sondern als offensichtlich unbegründet (manifestly ill-founded) zurückweisen müssen. Die Unzuständigkeitserklärung ergäbe nur dann Sinn, wenn die inhaltliche Überprüfung der EuGH-Entscheidung durch die Menschenrechtskommission lediglich als obiter dictum und damit als nicht notwendiger Entscheidungszusatz anzusehen wäre. Dies lässt sich jedoch dem Gesamtkontext nicht entnehmen und passt auch nicht zu den von der EKMR gewählten Formulierungen489. Die Entscheidung Melchers ist vielfach kritisiert worden. Dabei ging es in der Regel nicht um die Entscheidung im konkreten Fall, sondern um die generelle Begründung, mit der eine Beschwerde gegen den Vollzug von Gemeinschaftsrecht ratione materiae zurückgewiesen wurde. Anstatt den EG-Mitgliedstaaten einen Anreiz aus Straßburg zur Verstärkung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes zu geben, werde der Gemeinschaft ein „blank cheque“ im Grundrechtsbereich ausgestellt490. Dies sei insbesondere im Hinblick auf die Ausweitung der gemeinschaftlichen Kompetenzen durch weitere Übertragung nationaler Hoheitsrechte bedenklich. Es sei nicht einzusehen, warum der EuGH hier nicht am gleichen Maßstab wie die nationalen Verfassungsgerichte, deren Entscheidungen im Einzelfall von den Straßburger Organen überprüft würden, gemessen werde491. 489 T. Giegerich, Luxemburg, Karlsruhe, Straßburg – Dreistufiger Grundrechtsschutz in Europa?, ZaöRV 50 (1990), S. 836, 862, differenziert ebenfalls zwischen den beiden Begründungselementen und wirft die Frage auf, ob der Hinweis auf den konkreten Fall lediglich bekräftigendes obiter dictum oder Teil der ratio decidendi sei. Er spricht sich allerdings i. E. für die erste Variante aus. 490 J. P. Jacqué, The Convention and the European Communities, in: Macdonald/ Matscher/Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 889, 900; F. Rigaux, L’article 192 du Traité CEE devant la Commission européenne des droits de l’homme, RTDH 1990, S. 398, 401 f. 491 J. P. Jacqué, a. a. O., S. 900; R. Lawson, Het EVRM en de Europese Gemeenschappen, S. 390 (nicht ersichtlich, warum die Vertragsstaaten, deren Gerichtsbarkeiten wohl kaum im Verdacht der systematischen Grundrechtsuntreue stehen dürften, weniger Vertrauen genießen als die EG); A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 51 f., der zudem anführt, dass das allgemeine Äquivalenzerfordernis zu einer effektiven Senkung des grundrechtlichen Schutzniveaus führen könne.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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Die Kritik erscheint im Hinblick auf die in sich nicht schlüssige rechtliche Argumentation berechtigt. Ob die EKMR in Melchers indes tatsächlich eine der Solange II-Rechtsprechung des BVerfG vergleichbare generelle „Freistellung“ der Europäischen Gemeinschaft für den Bereich des Grundrechtsschutzes postulieren wollte, ist nicht klar. Die gewundene Begründung und das dazu nicht ganz passende Ergebnis der Zurückweisung der Beschwerde wegen Unzuständigkeit ratione materiae lassen sich wohl am besten mit der rechtspolitischen Motivation erklären, die der Entscheidung zugrunde lag. Die Menschenrechtskommission war sich der Problematik einer möglichen Pflichtenkollision der Staaten zwischen Europäischer Gemeinschaft und EMRK bewusst: Die Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Pflichten konnte zur Verletzung der Konvention führen und umgekehrt. Das Dilemma der betroffenen Staaten war zum Zeitpunkt der Melchers-Entscheidung im Jahr 1990 wesentlich größer als 1978, als die C. F. D. T.-Entscheidung anstand. Die EG-Mitgliedstaaten hatten in der Zwischenzeit in zahlreichen Bereichen weitere Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft übertragen und damit den grundrechtsrelevanten Bereich, in dem diese agierte, stark ausgeweitet. Die EKMR sah es nicht als ihre Aufgabe an, dieses Dilemma aufgrund eines zufällig bei ihr anhängigen Einzelfalls endgültig zugunsten der einen oder der anderen Position zu entscheiden. Mit einer konventionsfreundlichen Lösung, d. h. einer vollständigen Einzelfallprüfung bei nationalem Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, hätte sie die EGMitgliedstaaten vor den Kopf gestoßen und dadurch riskiert, die Akzeptanz der Konvention und ihres Durchsetzungsmechanismus zu schwächen. Indem sie trotz des Solange-Vorbehalts noch eine zusätzliche Prüfung des konkret gerügten Rechtshandelns durchführte, stellte sie klar, dass sie der Gemeinschaft keine uneingeschränkte Letztentscheidungsbefugnis im Grundrechtsbereich zugestehen wollte. Die Erwägungen in Melchers sind daher als Vermittlungsversuch der Straßburger Kommission zu werten, nicht aber als Versuch einer Lösung des strukturellen Problems492. Der Preis für diesen vermittelnden Weg war die juristisch unsaubere Argumentation und das in der allgemeinen Solange-Formulierung zum Ausdruck kommende relativ große Zugeständnis an die Gemeinschaft, das auf einhellige Kritik gestoßen ist. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass sich die Entscheidung Melchers in zwei Richtungen interpretieren lässt: Zum einen als Zugeständnis an die 492 Nach A. Busch, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 50, orientiert sich die EKMR in Melchers mehr an den Realitäten der Europäischen Einigung als am Schutz der Menschenrechte. Nicht zutreffend ist m. E. das Fazit von Giegerich zu der Entscheidung der EKMR, der nunmehr den Grundrechtsschutz der drei Ebenen (national, EG und EMRK) beim EuGH konzentriert sieht, ders., Luxemburg, Karlsruhe, Straßburg – Dreistufiger Grundrechtsschutz in Europa?, ZaöRV 50 (1990), S. 836, 863.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
EG, zum anderen aber auch als erster Ansatz einer Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten durch die Straßburger Organe493. Die Entwicklung der EGMR-Rechtsprechung nach der Melchers-Entscheidung hat gezeigt, dass hiervon kein genereller Vorbehalt ausgegangen ist, nach dem eine Prüfung wie auch immer gearteten Gemeinschaftsrechts am Maßstab der EMRK nicht stattfinden könne. 2. Offensiveres Vorgehen des Menschenrechtsgerichtshofs: Die Rechtsprechung zur Überprüfung von Gemeinschaftsrecht in den letzten Jahren Die Vorgaben zum Gemeinschaftsrecht in Melchers wurden nicht als status quo in der Straßburger Rechtsprechung zum Gemeinschaftsrecht zementiert. Die Entscheidung ist vielmehr als vorläufiger Abschluss einer ersten und zugleich Auftakt einer neuen Entwicklungsphase in diesem Bereich zu betrachten. Ab Mitte der neunziger Jahre fand eine deutliche Weiterentwicklung in der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs zum Gemeinschaftsrecht statt. Diese Entwicklung ist bislang noch nicht an einem Endpunkt angekommen. Ein solcher Endpunkt wäre erst mit dem Inkrafttreten des Europäischen Verfassungsvertrags und dem dort in Art. I-9 Abs. 2 vorgesehenen Beitritt der Union zur EMRK in Sicht. Selbst dann gilt es aber weiterhin, das Verhältnis der beiden Grundrechtsschutzsysteme zueinander zu bestimmen und in Einklang zu bringen. a) Zwischenetappe: Die „Randbemerkung“ des EGMR im Cantoni-Urteil Das Urteil des EGMR aus dem Jahr 1996 in der Rechtssache Cantoni/ Frankreich markiert einen Zwischenschritt in der Straßburger Rechtsprechung zur Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten. Herr Cantoni, Leiter eines Supermarktes, hatte apothekenpflichtige Produkte in seinem Geschäft verkauft und war deshalb in Frankreich zu einer Geldstrafe verurteilt worden. In seiner Straßburger Beschwerde rügte er eine Verletzung von Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege), da das seiner Verurteilung zugrunde liegende französische Gesetz keine hinreichend bestimmte Definition des Arzneimittelbegriffs enthalte und er daher die Strafbarkeit seines Verhaltens 493 Liest man die Entscheidung im Lichte der zweiten Variante, so scheint es, als habe die EKMR am Ende Angst vor ihrem eigenen Mut und nähme daher im vorletzten Absatz („. . . it would be contrary to the very idea of transferring powers to an international organisation to hold the Member States responsible . . . in each individual case . . .“) sozusagen wieder zurück, was sie vorher bereits getan hatte, nämlich den gemeinschaftsrechtlich determinierten nationalen Rechtsakt am Maßstab der Konvention zu überprüfen.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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aufgrund der Norm nicht habe voraussehen können. Der gemeinschaftsrechtliche Bezug des auf den ersten Blick rein nationalen Sachverhalts lag darin, dass die Arzneimitteldefinition in dem französischen Gesetz nahezu wörtlich der Definition des Arzneimittelbegriffs in einer Richtlinie der EG entsprach494. Die Menschenrechtskommission ging in ihrer dem EGMR-Urteil vorgeschalteten Entscheidung auf diesen Aspekt kurz ein. Sie stellte fest, dass die sehr weite Vorgabe für eine Definition des Arzneimittelbegriffs in der EG-Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belasse495. Damit grenzte sie diesen Fall von der Konstellation in der Melchers-Entscheidung ab, in der die bindenden Vorgaben des Gemeinschaftsrechts und der fehlende nationale Entscheidungsspielraum die Problematik erst hervorgerufen hatten. Im Ergebnis konnte sie so ohne weiteren argumentativen Aufwand in dieser Hinsicht eine Verletzung des Art. 7 EMRK durch das französische Strafurteil feststellen. Auch das Urteil des anschließend mit der Sache befassten Straßburger Gerichtshofs scheint auf den ersten Blick keinerlei Besonderheiten aufzuweisen: Er prüfte die Vereinbarkeit der Verurteilung nach französischem Strafrecht mit Art. 7 EMRK. Beachtenswert ist eine eher lapidar formulierte Passage der Urteilsbegründung, in der er auf das Verteidigungsargument der französischen Regierung einging, sie sei beim Erlass der betreffenden Strafnorm durch die Vorgaben der EG-Richtlinie gebunden gewesen. Der EGMR merkte hierzu an, der von der Regierung betonte Umstand, dass die französische Vorschrift nahezu wortgleich der EG-Richtlinie entspreche, entziehe diese Bestimmung nicht dem Anwendungsbereich des Art. 7 EMRK496. Ohne ein weiteres Wort zu den gemeinschaftsrechtlichen Implikationen des Falls, insbesondere zu dem mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum bei der Umsetzung der Richtlinie zu verlieren, fuhr er sodann mit seiner Prüfung am Maßstab des Konventionsrechts fort. Anders als die EKMR kam er zu dem Ergebnis, dass keine Verletzung des Art. 7 EMRK vorlag. Der Ausgang des Verfahrens, das nicht zu einer Verurteilung Frankreichs führte, hat möglicherweise die Brisanz der genannten Feststellung zu der 494 Zu den Einzelheiten bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie 65/65/ EWG in französisches Recht durch Art. L. 511 Code de la santé publique siehe C. Busse, Die Geltung der EMRK für Rechtsakte der EU, NJW 2000, S. 1074, 1076. 495 EKMR, Entscheidung vom 12.4.1995, Cantoni/Frankreich, EuGRZ 1999, S. 198 f., Ziff. 49, 56. 496 EGMR, Urteil vom 15.11.1996, Cantoni/Frankreich, RJD 1996-V, Ziff. 30. S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 158, erläutert die Absurdität des französischen Einwands, da die Richtlinie wiederum eine französische Regelung zum Vorbild hatte.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe durch die Richtlinie in den Hintergrund treten lassen497. Der EGMR wich hier deutlich von der Linie der MelchersEntscheidung ab. Bisher spielte die Frage nach dem den Mitgliedstaaten verbliebenen Handlungsspielraum eine Rolle dafür, ob ein gemeinschaftlich vorgeprägter mitgliedstaatlicher Akt der Straßburger Kontrolle unterlag. Mit dem Verzicht auf eine solche Differenzierung in Cantoni setzte der Gerichtshof ein deutliches Zeichen: Er zeigte sich gewillt, mitgliedstaatliche Durchführungsakte unabhängig davon zu überprüfen, ob eine mögliche Menschenrechtsverletzung dem innerstaatlichen Recht oder dem Gemeinschaftsrecht entspringt498. Damit bezog der EGMR eine ähnliche Position wie die Menschenrechtskommission in der bereits 1993 ergangenen Procola-Entscheidung, in der es um die Vereinbarkeit einer nationalen luxemburgischen Durchführungsregelung zu einer EG-Verordnung im Agrarbereich mit dem Eigentumsrecht des Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK ging. Die EKMR beschränkte sich in ihren Ausführungen nicht allein auf die Prüfung der luxemburgischen Regelung, sondern bezog ausdrücklich die EG-Verordnung in ihre Überlegungen mit ein499. Nach den Vorgaben von Melchers hätte sie in diesem Fall nur in eine Prüfung einsteigen dürfen, wenn sie hinreichende Anhaltspunkte für die Gefahr dargelegt hätte, dass der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene hinter das gebotene Schutzniveau der EMRK absinkt. Indem sie dies nicht tat, sondern eine inhaltliche Prüfung durchführte, ordnete sie im Ergebnis gemeinschaftliches Sekundärrecht der nationalen Jurisdiktion Luxemburgs zu. Damit war die Möglichkeit einer konventionsrechtlichen Überprüfung in Straßburg eröffnet. Der Fall erregte kein weiteres Aufsehen, weil der EGMR in seinem Urteil in der Rechtssache Procola die gemeinschaftsrechtliche Thematik nicht erwähnte, sondern allein auf die nationale Durchführungsregelung abstellte500. 497 S. Winkler, Der EGMR zum innerstaatlich und gemeinschaftsrechtlich (RL 65/65/EWG) definierten Arzneimittelbegriff beim Apothekenmonopol, EuGRZ 1999, S. 181, 182 f., vermutet, dass der EGMR bewusst einen offenen Eklat dadurch vermieden habe, dass er nicht auf eine Verletzung der Konvention erkannt habe. Diese Vermutung lässt sich allerdings nicht weiter belegen. Dass der EGMR anders entschied als die vor ihm mit den Fällen befasste Menschenrechtskommission, kam häufiger vor und war nicht ungewöhnlich. 498 Zu den Aussagen und möglichen Folgen des Cantoni-Urteils siehe D. Spielmann, Principe de légalité et mise en œuvre du droit communautaire, RTDH 1997, S. 689 ff.; S. Winkler, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 181 ff.; ders., Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 157 ff.; N. Philippi, Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, S. 97, 104 f.; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 157 ff. 499 EKMR, Procola/Luxemburg, Entscheidung vom 1.7.1993, DR 75, S. 5 ff. 500 EGMR, Procola/Luxemburg, Urteil vom 28.9.1995, Serie A Nr. 326.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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Mit seiner Randbemerkung im Cantoni-Urteil machte der EGMR also deutlich, dass er die von der EKMR in Procola angenommene Haltung teilte. Damit erteilte er der auf der Melchers-Entscheidung basierenden Annahme in der Literatur, es gebe in Straßburg einen generellen Vorbehalt gegen die Prüfung von Gemeinschaftshandeln am Maßstab der EMRK, eine Absage. Da es sich bei seiner Stellungnahme nur um eine kurze Randbemerkung handelte, lassen sich die Hintergründe für die Position des EGMR nicht aus dem Urteil selbst ableiten. Das Cantoni-Urteil erging indes nur wenige Monate nach dem ablehnenden Votum des EuGH im Gutachten 2/94 zu einem Beitritt der EG zur EMRK501. Wenn auch im Bereich der Spekulation, erscheint es nicht abwegig, hierin eine Reaktion aus Straßburg auf die Luxemburger Haltung zu sehen, dass ein Beitritt zur EMRK mangels Zuständigkeit der Gemeinschaft nicht möglich sei502. Die Kette wechselseitiger Reaktionen lässt sich weiter fortsetzen: Ein Blick auf die EuGHRechtsprechung zeigt, dass die Luxemburger Richter wiederum in ihrem nur einen Monat nach Cantoni ergangenen Urteil Strafverfahren gegen X eine ausführliche Prüfung einer nationalen Maßnahme im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts am Maßstab des Art. 7 EMRK durchführten und sich dabei ausdrücklich auf die Straßburger Rechtsprechung bezogen503. Dies könnte das direkte Echo aus Luxemburg auf die Cantoni-Entscheidung504 und damit die Botschaft sein, dass die EuGH-Richter die Entwicklungen in der Straßburger Rechtsprechung genau beobachten und bereit sind, deren Vorgaben im Sinne eines Kooperationsverhältnisses grundsätzlich zu beachten. b) Das Matthews-Urteil als Wendepunkt im Verhältnis EGMR – EuGH? Während der Fall Cantoni zunächst kaum beachtet wurde, hat die Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs im Fall Matthews/Vereinigtes Königreich aus dem Jahr 1999 wegen ihrer Bedeutung für die Frage nach 501
EuGH, Gutachten 2/94 vom 28.3.1996 zum Beitritt der EG zur EMRK, Slg. 1996, S. I-1759 ff. Dazu oben 1. Teil, B. III. 3. a). 502 So D. Spielmann, Principe de légalité et mise en œuvre du droit communautaire, RTDH 1997, S. 689, 703; S. Winkler, Der EGMR zum innerstaatlich und gemeinschaftsrechtlich (RL 65/65/EWG) definierten Arzneimittelbegriff beim Apothekenmonopol, EuGRZ 1999, S. 181, 182. D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 764, bezeichnet das Cantoni-Urteil als „warning shot“, den der EGMR abgefeuert habe. 503 EuGH, Rs. C-129/95, Strafverfahren gegen X, Slg. 1996, S. I-6609, Rn. 25 f. 504 So D. Spielmann, Human Rights Case Law in the Strasbourg and Luxembourg Courts: Conflicts, Inconsistencies, and Complementarities, in: Alston, The EU and Human Rights, S. 757, 773.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
der konventionsrechtlichen Überprüfbarkeit von Gemeinschaftsrecht große Aufmerksamkeit erregt. Frau Matthews, britische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Gibraltar, rügte im Wege der Individualbeschwerde die Verletzung ihres Rechts auf freie Wahlen aus Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, weil sie von den Behörden Gibraltars nicht zu den Wahlen zum Europäischen Parlament zugelassen worden war. Rechtlicher Hintergrund ihrer Nichtzulassung war Anhang II des Akts zur Einführung von Direktwahlen zum Europäischen Parlament von 1976, der das Wahlrecht auf das Gebiet des Vereinigten Königreichs beschränkt. Gibraltar gehört als abhängiges Gebiet zur britischen Krone, ist aber nicht Bestandteil des Vereinigten Königreichs. Seine Bürger können daher nicht an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen505. Der EGMR befasste sich in seinem Urteil ausführlich mit der Anwendbarkeit des Rechts aus Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls auf das Europäische Parlament als Organ einer Internationalen Organisation506 und der Frage, ob dieses Parlament als gesetzgebende Körperschaft in Gibraltar im Sinne der Vorschrift anzusehen war507. Zuvor oblag es ihm allerdings zu klären, ob das Vereinigte Königreich überhaupt für die Nichtzulassung einer Bewohnerin Gibraltars zur Europawahl verantwortlich gemacht werden konnte. Diese Urteilspassage enthält die entscheidenden Feststellungen zur Überprüfbarkeit von Gemeinschaftsrechtsakten am Maßstab der EMRK. Die britische Regierung hatte im Verfahren vorgetragen, sie könne nicht zur Verantwortung gezogen werden, da sie keine effektive Kontrollmöglichkeit über den der Entscheidung zugrunde liegenden Rechtsakt, den Direktwahlakt von 1976, habe. Der Akt habe die Qualität eines im Gemeinschaftsrahmen zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen Vertrags und könne daher vom Vereinigten Königreich nicht einseitig zurückgenommen oder geändert werden508. Der Gerichtshof leitete seine Urteilsbegründung zu diesem Punkt mit einem ausdrücklichen Hinweis auf Art. 1 EMRK ein. Dieser differenziere für die Anwendbarkeit der Konvention nicht nach der Art der angegriffenen Maßnahme und schließe keinen Teil der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt von der Überprüfung anhand der Konventionsbestimmungen aus509. Anschließend wiederholte er seine Position aus den vorangegangenen Urteilen, Rechtsakte der EG als solche könne er nicht 505 Ausführlich zum Status Gibraltars im internationalen und Gemeinschaftsrecht O. de Schutter/O. L’Hoest, La Cour Européenne des Droits de l’Homme Juge du Droit Communautaire, CDE 2000, S. 141, 146 ff. 506 EGMR, Urteil vom 18.2.1999, Matthews/Vereinigtes Königreich, RJD 1999-I, Ziff. 36–44. Deutsche Übersetzung des Urteils in EuGRZ 1999, S. 200 ff. 507 EGMR, a. a. O., Ziff. 45–54. 508 Zum Vorbringen der britischen Regierung siehe EGMR, a. a. O., Ziff. 26. 509 EGMR, a. a. O., Ziff. 29.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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überprüfen, weil die EG ihrerseits keine Vertragspartei der Konvention sei. Die Konvention verbiete nicht die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen, sofern die Konventionsrechte weiterhin gewahrt würden510. Bis zu diesem Punkt bestätigte der EGMR somit allgemein den von der EKMR in Melchers vertretenen Ansatz. Dies hinderte ihn jedoch nicht, in seinen folgenden Ausführungen den Direktwahlakt Großbritannien im Sinne von Art. 1 EMRK als „eigene Handlung“ zuzurechnen und damit im Ergebnis zu einer uneingeschränkten Verantwortung des Landes nach der Konvention zu gelangen. Zunächst verwies er darauf, dass es sich bei dem Direktwahlakt ebenso wie bei dem Vertrag von Maastricht, dessen Vorschriften die Befugnisse des Europäischen Parlaments ausweiteten, nicht um „normale“ Gemeinschaftsrechtsakte, sondern um im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung abgeschlossene völkerrechtliche Verträge handele. Daher könnten sie nicht vor dem EuGH angegriffen werden. Das Vereinigte Königreich sei aber, zusammen mit den anderen EG-Mitgliedstaaten, gemäß Art. 1 EMRK ratione materiae für den Inhalt dieser Völkerrechtsakte verantwortlich511. Zum Umfang der Verantwortung stellte der Gerichtshof anschließend fest, dass die legislativen Tätigkeiten der Gemeinschaft sich auf die Bevölkerung Gibraltars in gleicher Weise auswirkten, wie Tätigkeiten des nationalen Gesetzgebers in Gibraltar, des House of Assembly. Hieraus folgerte er unter Zuhilfenahme der effektiven Auslegung der Konventionsrechte, dass das Vereinigte Königreich das Recht auf freie Wahlen nach Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK auch gegenüber der gemeinschaftlichen Gesetzgebung zu sichern habe. Die Tatsache, dass Großbritannien als EG-Mitgliedstaat keine effektive Kontrolle über die Situation ausübe, könne hieran nichts ändern. Die gemeinschaftsrechtlichen Bindungen seien zeitlich nach dem Inkrafttreten des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK entstanden. Folglich sei das Vereinigte Königreich gemäß Art. 1 EMRK für die Gewährleistung des Rechts auf freie Wahlen in Gibraltar verantwortlich, unabhängig davon, ob es sich um Wahlen auf innerstaatlicher oder europäischer Ebene handele512. Mit diesem Ergebnis war der Weg frei für die Begründetheitsprüfung der Beschwerde, in deren Rahmen der EGMR auf eine Verletzung von Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls entschied513. 510
EGMR, a. a. O., Ziff. 32. EGMR, a. a. O., Ziff. 33. 512 EGMR, a. a. O., Ziff. 34. 513 Auf die Ausführungen des EGMR zum Europäischen Parlament im Kontext des Art. 3 des 1. ZP zur EMRK soll hier nicht weiter eingegangen werden, da dies für die Untersuchung keine Rolle spielt. Siehe hierzu EGMR, a. a. O., Ziff. 36 ff. sowie die Anmerkungen von J. Bröhmer, Das Europäische Parlament: Echtes Legislativorgan oder bloßes Hilfsorgan im legislativen Prozess?, ZEuS 1999, S. 197 ff.; 511
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Mit Matthews hat der Menschenrechtsgerichtshof zum ersten Mal einen EG-Mitgliedstaat wegen Verstoßes eines Gemeinschaftsrechtsakts gegen die Konvention tatsächlich verurteilt. Die Tatsache, dass es – anders als bei Cantoni und Melchers – zu einer Verurteilung kam, hat sicherlich das Interesse an dem Fall noch verstärkt. In der Literatur wurde die Entscheidung teilweise sehr weitgehend in dem Sinne ausgelegt, der EGMR habe nunmehr klargestellt, dass er grundsätzlich gewillt sei, Gemeinschaftsrechtsakte egal welcher Art zu überprüfen514. Die Reichweite der in dem Urteil getroffenen Aussagen zur konventionsrechtlichen Überprüfbarkeit von Gemeinschaftsrecht darf allerdings nicht überschätzt werden. Es ging hier um eine spezielle Fallkonstellation, die Verallgemeinerungen und damit die Übertragung auf andere Fälle nicht unbedingt zulässt. Die Besonderheit der Konstellation hat der Straßburger Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich betont, indem er feststellte, dass es sich bei dem Direktwahlakt von 1976 nicht um einen „normalen“ Gemeinschaftsrechtsakt handele und dass dem EuGH keine Prüfungskompetenz zukomme. Dieser Hinweis deutet darauf hin, dass es dem EGMR in erster Linie darauf ankam, in einer menschenrechtlichen „Notsituation“ einzuspringen und eine echte Lücke im System des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes zu schließen515. Bei zurückhaltender Bewertung könnte das Urteil daher lediglich als konsequente Fortführung der „Solange“-Rechtsprechung der EKMR im Fall Melchers eingeordnet werden: Nur wenn es keine Möglichkeit gibt, einen G. Ress, Das Europäische Parlament als Gesetzgeber. Der Blickpunkt der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZEuS 1999, S. 219 ff.; O. de Schutter/O. L’Hoest, La Cour Européenne des Droits de l’Homme Juge du Droit Communautaire, CDE 2000, S. 141, 209 ff.; S. Winkler, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das Europäische Parlament und der Schutz der Konventionsgrundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 2001, S. 18, 19 ff.; A. Potteau, Observations: L’article 3 du premier Protocole additionnel à la Convention et l’obligation des Etats membres de l’union européenne de reconnaître le droit de participer aux élections au Parlement européen, RTDH 1999, S. 873 ff. 514 Nach C. Lenz, Anmerkung zu Matthews, EuZW 1999, S. 311, hat „der frisch reformierte EGMR [mit der Entscheidung] die Führungsrolle im europäischen Grundrechtsschutz“ übernommen. Ebenso J. Bröhmer, a. a. O. (vorherige Fn.), S. 216. I. Canor, Primus inter pares. Who is the ultimate guardian of fundamental rights in Europe?, ELRev. 25 (2000), S. 3 ff., sieht durch das Urteil eine neue hierarchische Ordnung im Verhältnis EuGH-EGMR verankert und bezeichnet den Straßburger Gerichtshof als primus inter pares. Sie interpretiert das Urteil allerdings differenzierend hinsichtlich einer möglichen Überprüfung von EG-Primär- und Sekundärrecht durch den EGMR. 515 Vgl. dazu G. Cohen-Jonathan/J.-F. Flauss, A propos de l’arrêt Matthews c/Royaume Uni, RTDE 35 (1999), S. 637, 645 f.: „On se trouve ainsi en présence d’un véritable déni de justice . . . on se trouve face à un vide juridique complet, intolérable au niveau du respect des droits fondamentaux. C’est bien pourquoi la Cour estime nécessaire de combler ce vide . . .“.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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Gemeinschaftsrechtsakt durch die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit überprüfen zu lassen, lebt die Zuständigkeit des Straßburger Gerichtshofs auf, denn dann ist ein der Konvention äquivalenter und effektiver Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene nicht mehr gewährleistet516. Eine solche restriktive Interpretation würde zugleich implizieren, dass die EG-Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht für abgeleitetes Gemeinschaftsrecht im Sinne von Art. 1 EMRK verantwortlich wären, da der EuGH für diesen Bereich seine Kontrollbefugnis ausübt. Tatsächlich hat sich der EGMR mit dem Matthews-Urteil nur in einer Hinsicht definitiv festgelegt: Er ordnete den Direktwahlakt auf gleicher Stufe ein wie den ebenfalls entscheidungsrelevanten Vertrag von Maastricht, nämlich als einen im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrag. Für gemeinschaftliches Primärrecht, das der Straßburger Gerichtshof wegen seines zwischenstaatlichen Ursprungs als gewöhnliches Völkerrecht einordnet, sind die Mitgliedstaaten somit nach der Menschenrechtskonvention verantwortlich. Als nationaler Anknüpfungspunkt für die Verantwortlichkeit nach Art. 1 EMRK reichte es dem Gerichtshof aus, dass das Vereinigte Königreich völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen war. Der Tatsache, dass völkerrechtliche Verpflichtungen immer zwingend von mehreren Staaten eingegangen werden, trug er dadurch Rechnung, dass er – im Wege eines obiter dictum – darauf hinwies, dass Großbritannien „gemeinsam mit allen übrigen Parteien des Vertrags von Maastricht“ ratione materiae für die Konsequenzen der eingegangenen Verpflichtungen verantwortlich sei517. 516 So argumentieren z. B. T. King, Ensuring human rights review of intergouvernenmental acts in Europe, ELRev. 25 (2000), S. 79, 84; M. Doherty/A. Reid, Voting Rights for the European Parliament: Whose Responsibility?, EHRLR 1999, S. 420, 423; A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 62. Begründet wird diese Auslegung darüber hinaus auch mit einem Verweis auf das am gleichen Tag wie Matthews ergangene Urteil des EGMR im Fall Waite and Kennedy, Urteil vom 18.2.1999, Waite and Kennedy/Deutschland, RJD 1999-I, in dem es um die Vereinbarkeit des Übereinkommens über die European Space Agency mit der EMRK im Hinblick auf die Gewährung gerichtlichen Schutzes ging. Im Ansatz handelte es sich hierbei um eine mit der gemeinschaftsrechtlichen Problematik vergleichbare Situation, tatsächlich liegen die Sachverhalte und Urteilsbegründungen in den beiden Fällen jedoch auf unterschiedlichen Ebenen, so dass sich aus dem Waite and Kennedy-Fall keine Rückschlüsse auf die Aussagen des EGMR im Matthews-Urteil ziehen lassen. Dazu J. Bröhmer, Die völkerrechtliche Immunität von der staatlichen Gerichtsbarkeit und die Verfahrensgarantien der EMRK, in: ders., Kolloquium für Ress, S. 85 ff.; G. Cohen-Jonathan/J.-F. Flauss, A propos de l’arrêt Matthews c/Royaume-Uni, RTDE 35 (1999), S. 637, 648; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 165 f. 517 Zur Frage der gemeinsamen Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für gemeinschaftliches Primär- und auch Sekundärrecht siehe S. Winkler, Der Europäische
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
Wie weit der Straßburger Gerichtshof mit seiner Urteilsbegründung im Fall Matthews tatsächlich gehen wollte, hat er durch seine Formulierungen – wohl bewusst – offen gehalten. Es erscheint, insbesondere in Anbetracht der vorhergehenden Entscheidungen, unwahrscheinlich, dass er sich im Sinne der restriktivsten Auslegungsvariante auf eine bloße Fortführung der „Solange“-Linie der Melchers-Entscheidung beschränken wollte. Vielmehr hat er sich mit dem Urteil eine starke Position gegenüber der Gemeinschaftsrechtsordnung und dem EuGH verschafft. Er hat klargestellt, dass die Möglichkeit besteht, Gemeinschaftsrechtsakte in Straßburg zu überprüfen, und damit eine Art mildes menschenrechtliches Drohszenario für die Gemeinschaft heraufbeschworen. Gerade die Tatsache, dass er sich nicht endgültig auf die Reichweite der Überprüfung von EG-Rechtsakten festgelegt, sondern in verschiedene Richtungen zu deutende Formulierungen gewählt hat, macht dieses Drohszenario wegen der Unberechenbarkeit besonders wirksam. Eine konventionsrechtliche Verantwortlichkeit über das Primärrecht hinaus auch für Sekundärrecht kann nach dem Urteil zumindest nicht völlig ausgeschlossen werden. Das Urteil im Fall Matthews war eines der ersten, das die Große Kammer des neuen ständigen Menschenrechtsgerichtshofs nach Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls im November 1998 gefällt hat. Im rechtspolitischen Kontext lässt sich die Entscheidung somit auch dahingehend werten, dass der EGMR in seiner neuen, gestärkten Rolle bestrebt war, sich gegenüber dem im Menschenrechtsbereich konkurrierenden EuGH zu behaupten. Matthews markiert keine radikale Neuorientierung im Verhältnis Straßburg – Luxemburg, kann aber doch als Wendepunkt im Sinne eines offensiveren Ansatzes des EGMR bezeichnet werden. Die Auslegungsoffenheit der Begründung zeigt aber zugleich, dass der Gerichtshof politische Erwägungen nicht außer Acht ließ und eine direkte Konfrontation weiterhin vermied. c) Senator Lines – zugespitztes Szenario ohne Auflösung Die offenen Formulierungen im Matthews-Urteil von 1999 führten in der Folge zu vermehrten Spekulationen darüber, ob der Straßburger Gerichtshof Mitgliedstaaten der EG nun auch für Akte des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts verantwortlich machen würde. Während es sich bei diesen Spekulationen zunächst – wie auch in den Jahren vorher – nur um Gedankenspiele auf akademischer Ebene handelte, konnten sie sich kurze Zeit später an einem konkreten, in Straßburg anhängigen Fall festmachen. Die Bremer Gerichtshof für Menschenrechte, das Europäische Parlament und der Schutz der Konventionsgrundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 2001, S. 18, 25 f.
B. Parallele Grundrechtsschutzsysteme in der Rechtsprechung
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Reederei Senator Lines legte im März 2000 eine Beschwerde gegen alle (damals) 15 EG-Mitgliedstaaten wegen Verletzung von Konventionsrechten durch die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Gemeinschaftsgerichte ein518. Der Reederei war von der EG-Kommission wegen eines Kartellrechtsverstoßes eine hohe Geldbuße auferlegt worden. Gegen die Bußgeldentscheidung erhob Senator Lines Nichtigkeitsklage vor dem Gericht erster Instanz. Vor dem Hintergrund des Art. 242 EGV, nach dem Klagen vor den Gemeinschaftsgerichten keine aufschiebende Wirkung zukommt, wurde der Reederei gestattet, bis zu einem endgültigen Urteil anstatt sofortiger Zahlung der Geldbuße eine Bankbürgschaft beizubringen. Senator Lines sah sich nicht in der Lage, eine solche Bankbürgschaft zu stellen, und beantragte zunächst, von dieser Verpflichtung freigestellt zu werden. Nach gerichtlicher Ablehnung dieses Begehrens stellte sie im Eilverfahren einen Antrag auf Aussetzung der Bußgeldentscheidung der Kommission bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache. Dieser Antrag wurde in erster und zweiter Instanz von EuG und EuGH abgelehnt. Daraufhin wandte sich die Reederei an den Straßburger Gerichtshof. Sie sei in ihren Verfahrensrechten aus Art. 6 und Art. 13 EMRK insofern verletzt, als sie wegen Versagung der aufschiebenden Wirkung des Bußgeldbescheids durch die Gemeinschaftsgerichte Gefahr laufe, in Konkurs zu fallen und so aus dem Markt gedrängt zu werden, bevor ein Gericht in der Hauptsache über die Rechtmäßigkeit der verhängten Geldbuße entschieden habe519. Die beschwerdeführende Reederei griff vor dem EGMR das Vorgehen der EG-Kommission, ihre Bußgeldentscheidung trotz anhängiger Klage zu vollstrecken, und die dieses Vorgehen bestätigenden Eilbeschlüsse der Gemeinschaftsgerichte an. Sie wandte sich somit gegen Maßnahmen, die unmittelbar von EG-Institutionen im klassisch supranationalen Bereich der von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragenen Hoheitsbefugnisse ausgingen. Eine direkte Zurechnung dieser Maßnahmen als „eigene Handlung“ zu einem, mehreren oder allen EG-Mitgliedstaaten, wie in Matthews, war in dieser Konstellation nicht möglich, da es keinerlei nationalen Anknüpfungspunkt gab520. Der Straßburger Gerichtshof war in die518
Beschwerde vom 30.3.2000, Beschwerde-Nr. 56672/00. Die Beschwerdeschrift von Senator Lines in englischer Sprache ist abgedruckt in HRLJ 21 (1999), S. 112 ff.; deutsche Zusammenfassung in EuGRZ 2000, S. 334 ff. 520 A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 82 f., kritisiert, dass sich die Beschwerdeführerin nur gegen die abgeleiteten Gemeinschaftsrechtsakte, nicht aber gegen Art. 242 EGV gewehrt habe, der festlege, dass Klagen grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung zukomme. Denn dann wäre es um die Konventionskonformität gemeinschaftsrechtlichen Primärrechts gegangen mit der Folge, dass die Grundsätze des Matthews-Urteils gegriffen hätten. Diese Kritik überzeugt jedoch 519
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
sem Fall folglich mit der grundlegenden Frage konfrontiert, ob die Mitgliedstaaten der EG gemäß Art. 1 EMRK – gemeinsam oder jeder für sich – für Verstöße von Maßnahmen der Gemeinschaftsinstitutionen gegen die Konvention verantwortlich sind, weil sie die Verstöße durch die Übertragung ihrer eigenen Hoheitsrechte überhaupt erst möglich gemacht und daher auf indirektem Wege die Verantwortung dafür zu tragen haben. Hiermit ist wiederum der Kernpunkt des Verhältnisses der Menschenrechtskonvention zum Gemeinschaftsrecht berührt, nämlich die Frage nach einer echten Subordination des Gemeinschaftsrechts unter die EMRK und damit einer Überprüfbarkeit grundrechtlicher Entscheidungen des EuGH durch den Straßburger Gerichtshof. Dieses in der Theorie oft genug durchgespielte Szenario521 versprach kurze Zeit nach dem Matthews-Urteil deutlichere Aussagen aus Straßburg als die vergangenen Entscheidungen. Insofern erklärt sich das sehr große Interesse der Fachöffentlichkeit, das der Senator Lines-Fall seit seiner Anhängigkeit beim EGMR und insbesondere seit der Straßburger Entscheidung, die Beschwerde an alle EG-Mitgliedstaaten zuzustellen, hervorrief522. Sowohl aus Gemeinschafts- als auch aus EMRK-Perspektive wurde der Fall als besonders sensibel gehandhabt: So hatte die EG-Kommission zwar im März 2001 über das Bundesjustizministerium eine Vollstreckungsklausel gegen die Reederei in Deutschland erwirkt, sie vollstreckte jedoch nicht und stellte im Rahmen des Verfahrens vor dem EGMR ausdrücklich klar, dass sie bis zu einer Entscheidung in Straßburg keine weiteren Beitreibungsmaßnahmen ergreifen würde. Es lag ihr also daran zu verhindern, dass mit einer Vollstreckung der Bußgeldentscheidung und einer eventuell nicht: Zum einen sieht Art. 242 S. 2 EGV selbst die Möglichkeit vor, die Durchführung der angefochtenen Handlung auszusetzen, wenn der EuGH dies den Umständen nach für nötig hält. Auf diese Weise sollen gerade Situationen verhindert werden, in denen der gerichtliche Rechtsschutz zu spät kommen würde. Daher erscheinen Zweifel an der Vereinbarkeit der primärrechtlichen Norm mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz des Art. 6 EMRK unangebracht. Zum anderen gilt in zahlreichen EG-Mitgliedstaaten die Regel, dass Klagen keine aufschiebende Wirkung haben; Art. 242 EGV darf nicht nur aus der Perspektive der deutschen Rechtsordnung betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund scheint das Vorgehen der Reederei, die Kommissionsentscheidung und die Beschlüsse der Gemeinschaftsgerichte anzugreifen, am erfolgversprechendsten. 521 Zu den theoretischen Begründungsansätzen einer unmittelbaren Bindung der EG an die EMRK siehe oben 2. Teil, B. I. 4. 522 Siehe z. B. die Arbeit von D. Calonne, En attendant Senator Lines, . . . Réflexion sur une protection plurielle des droits de l’homme en Europe, Institut européen de l’Université de Genève, www.unige.ch/ieug/calonne.pdf, oder die ausführliche Analyse der Beschwerde und der verschiedenen Stellungnahmen im Verfahren bei A. Busch, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 73 ff.
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daraus resultierenden Insolvenz der Reederei vollendete Tatsachen geschaffen würden, bevor der EGMR nicht seine Einschätzung zur Konventionskonformität der Maßnahmen abgegeben hatte. Auf diese Weise bezeugte die Gemeinschaft grundsätzlichen Respekt vor dem Konventionssystem und vor den Entscheidungen des EGMR. Dass der Fall auch für die Straßburger Richter von besonderer Bedeutung war, zeigte die Entscheidung der zunächst zuständigen, mit sieben Richtern besetzten Kammer, die Rechtssache später an die Große Kammer abzugeben523. Letztlich wurde allen Spekulationen um eine mögliche Überprüfung von Gemeinschaftshandeln am Maßstab der Menschenrechtskonvention im Zusammenhang mit dem Fall Senator Lines der Boden entzogen, als das Gericht erster Instanz im September 2003, nur kurz vor der erwarteten Straßburger Entscheidung, im Hauptsacheverfahren die Bußgeldentscheidung der Kommission für rechtswidrig und damit nichtig erklärte524. Mit Eintritt der Rechtskraft des EuG-Urteils war die Beschwer der Reederei in Straßburg entfallen. Folgerichtig wies der Menschenrechtsgerichtshof die Beschwerde einige Monate später als unzulässig zurück525. Dabei arbeitete er, obwohl es sich nur um eine Zulässigkeitsentscheidung und nicht um ein Urteil in der Sache handelte, in der Sachverhaltsdarstellung recht sorgfältig die zahlreichen Stellungnahmen der am Verfahren Beteiligten auf, die sich alle mit der Frage einer Verantwortlichkeit der EG-Mitgliedstaaten nach der EMRK für Gemeinschaftshandeln befasst hatten526. Die Unzulässigkeit der Beschwerde begründete der EGMR mit der fehlenden Opfereigenschaft der Reederei. Art. 34 EMRK setze für die Zulässigkeit einer Beschwerde die Behauptung einer Konventionsrechtsverletzung voraus; dies könne von der Reederei aber nicht geltend gemacht werden. Die vom Gerichtshof gewählten Formulierungen sind indes weniger klar, als es das Ergebnis – Unzulässigkeit mangels Opfereigenschaft – vermuten lassen könnte: Er stellte zunächst klar, dass die Umstände des Falls „nie so (waren), dass die Beschwerdeführerin hätte behaupten können, Opfer einer Verletzung ihrer Rechte aus der Konvention zu sein“. Das Bußgeld sei nicht beigetrieben worden, die Reederei habe die Möglichkeit gehabt, einen Rechtsbehelf ge523
Gemäß Art. 30 EMRK kann eine Kammer eine Rechtssache an die Große Kammer abgeben, wenn es sich um eine schwerwiegende Auslegungsfrage handelt oder wenn die Entscheidung zu einer Abweichung von einem früheren Urteil des Gerichtshofs führen kann. Siehe dazu oben 3. Teil, A. I. 2. 524 EuG, verb. Rs. T-191/98 und T-212/98-T-214/98, Atlantic Container Line u. a./Kommission, Slg. 2003, S. II-3275 ff. 525 EGMR, Senator Lines/15 EG-Mitgliedstaaten, Entscheidung vom 10.3.2004, RJD 2004-IV; deutsche Übersetzung in Auszügen in NJW 2004, S. 3617 ff. 526 Im Verfahren hatten sich neben den Regierungen der EG-Mitgliedstaaten u. a. die EG-Kommission, der Rat der Anwaltschaften der EG, die Internationale Föderation der Menschenrechts-Ligen und die Internationale Juristenkommission geäußert.
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
gen die Kommissionsentscheidung einzulegen, und dies hätte am Ende auch zur endgültigen Aufhebung der Entscheidung geführt527. Auch wenn der Gerichtshof sich letztlich auf das rechtskräftige EuG-Urteil zurückzog, mutet doch die Wortwahl, die Umstände des Falls seien nie so gewesen, dass sich daraus eine Opfereigenschaft hätte ableiten lassen, erstaunlich an. Dies lässt sich auch so interpretieren, dass die Beschwerde unabhängig vom Ausgang des Verfahrens vor den Gemeinschaftsgerichten unzulässig war. Zum Ende der Entscheidungsbegründung stellt der EGMR dann aber fest, dass die Beschwerde zurückzuweisen sei, „ohne dass es auf die Begründetheit der sonstigen in der Sache vorgebrachten Argumente ankäme“528. Dieser Halbsatz deutet wiederum darauf hin, dass sich der Gerichtshof doch über die Formalfrage der Behauptung einer Rechtsverletzung hinaus seine Gedanken zu der eigentlich von ihm zu entscheidenden Frage nach der Verantwortlichkeit der EG-Mitgliedstaaten gemacht hat. Das Gericht erster Instanz hat sich mit seinem Urteil zur Nichtigkeit der verhängten Geldbuße als eine Art „deus ex machina“ für den EGMR erwiesen und den Straßburger Richtern ein wegen der politischen Implikationen heikles Urteil erspart. Zugleich hat es die Richter aber auch der Möglichkeit beraubt, eine deutlichere Position zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht – EMRK zu einem Zeitpunkt zu beziehen, zu dem die Beziehungen zwischen den beiden europäischen Grundrechtsschutzebenen immer komplexer und komplizierter geworden sind und daher einer Klarstellung bedürften529. Das Problem wird indes wohl lediglich aufgeschoben, nicht aber aufgehoben sein, denn es sind mehrere neue Fälle beim EGMR anhängig, in denen Maßnahmen der Gemeinschaft angegriffen werden530. Insofern erscheint es unwahrscheinlich, dass die Richter des EuG allein aus „Angst“ vor Straß527 EGMR, a. a. O., unter D., vorletzter Absatz („. . . the facts of the present case were never such as to permit the applicant company to claim to be a victim of a violation of its Convention rights. . . .“ im englischen Wortlaut). 528 EGMR, a. a. O., unter D., letzter Absatz („. . . whatever the merits of the other arguments in the case“ im englischen Wortlaut). 529 Siehe L. Scheeck, The Relationship between the European Courts and Integration through Human Rights, ZaöRV 65 (2005), S. 837, 867, der die widersprüchlichen Formulierungen in der Entscheidungsbegründung mit den Spannungen deutet, die zwischen den Straßburger Richtern im Hinblick auf den Senator Lines-Fall bestanden hätten. Interviews mit verschiedenen EGMR-Richtern hätten gezeigt, dass ein Teil der Richter froh darüber gewesen sei, dass das EuG mit seinem Urteil dem EGMR eine Entscheidung in der Sache erspart hätte. Andere Richter hätten jedoch bedauert, dass ihnen eine solche einzigartige Möglichkeit genommen worden sei, eine klare Entscheidung zur Stärkung des Konventionssystems durch Verurteilung der EG-Mitgliedstaaten zu treffen. 530 L. Scheeck, a. a. O., S. 860, Fußnote 89, zählt zahlreiche Fälle auf, darunter Lau/Deutschland und EG (Beschwerde-Nr. 62298/00), Conolly/15 EU-Mitgliedstaaten (Beschwerde-Nr. 73274/01), Biret International SA/15 EU-Mitgliedstaaten
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burg der Klage der Reederei stattgegeben und so eine direkte Konfrontation mit dem Menschenrechtsgerichtshof vermieden haben531. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass es ihnen aufgrund des rechtspolitischen Umfelds leichter gefallen sein mag, ein derartiges Urteil zu fällen, wenn die Entscheidung umstritten war und es gleich gute Argumente für eine Klageabweisung wie für eine Nichtigerklärung der Kommissionsentscheidung gab. Es bleibt festzuhalten, dass der mit so viel Aufmerksamkeit bedachte Fall Senator Lines kein klassischer Menschenrechtsfall ist, sondern vielmehr ein gutes Beispiel dafür bietet, wie Unternehmen versuchen, ihre wirtschaftlichen Interessen mit Hilfe der Straßburger Mechanismen durchzusetzen. Je mehr sich der EGMR in Zukunft mit der Kontrolle von Gemeinschaftsrecht beschäftigen wird, desto zahlreicher werden voraussichtlich auch die Fälle mit wirtschaftlichem Kontext werden. Auf diese Weise könnte sich der Fokus des Konventionssystems durch den gemeinschaftsrechtlichen Einfluss zumindest um einige Nuancen verschieben532. d) Das Bosphorus-Urteil als weiterer Baustein des EGMR zur Kontrolle des Gemeinschaftsrechts Als letztes wichtiges Urteil des EGMR in der Reihe der Fälle, in denen es um die Kontrolle von Gemeinschaftsrecht ging, ist das Urteil Bosphorus vom Juni 2005 zu nennen533. Hier ging es um die Beschwerde einer türkischen Fluggesellschaft, die von Yugoslav Airlines ein Flugzeug geleast hatte, das auf der Grundlage einer im Zusammenhang mit dem Jugoslawien-Konflikt erlassenen EG-Verordnung534 in Dublin von den irischen Behörden beschlagnahmt wurde. Im Streit um die Rechtmäßigkeit der irischen Beschlagnahme vor dem nationalen Obersten Gerichtshof wurde dem EuGH eine Frage zur Auslegung der Verordnung vorgelegt. Der EuGH be(Beschwerde-Nr. 13762/04), in denen es jeweils um Maßnahmen der Gemeinschaft geht, die vor den EGMR gebracht werden. 531 Vgl. die Zitate aus Interviews mit Richtern des EuG und des EGMR bei L. Scheeck, a. a. O., S. 867 f. In den letzten Jahren gab es indes eine Reihe von bedeutenden kartellrechtlichen Entscheidungen der Kommission, die vom EuG und vom EuGH aufgehoben wurden. Insofern stellt dieses Urteil keine Besonderheit dar. 532 Siehe zu der teilweise kritisierten „Kommerzialisierung“ der EMRK wegen vermehrter Berufung auf wirtschaftliche Rechte oben 2. Teil, A. II. 1. b) sowie 2. Teil, B. V. 1. b). 533 EGMR, Urteil vom 30.6.2005, Beschwerde-Nr. 45036/98, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland. 534 Die EG-Verordnung diente ihrerseits der Umsetzung einer Embargoresolution des UN-Sicherheitsrats, wonach alle Flugzeuge im Eigentum oder unter Kontrolle von in Jugoslawien ansässigen Personen zu beschlagnahmen waren (Resolution 820/1993).
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
antwortete die Frage im Sinne der irischen Regierung mit der Folge, dass die Beschlagnahme des Flugzeugs Bestand hatte535. Die türkische Beschwerdeführerin wandte sich daraufhin an den Menschenrechtsgerichtshof und rügte eine Verletzung ihres Eigentumsrechts aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls. Das Urteil des Straßburger Gerichtshofs in dieser Rechtssache mutet vor dem Hintergrund der Entwicklung der Rechtsprechung in den zuvor entschiedenen Fällen etwas unerwartet an. Nach Zurückweisung einiger Zulässigkeitseinwände ging der EGMR im Rahmen der Begründetheitsprüfung zunächst auf die Frage der Verantwortlichkeit Irlands gemäß Art. 1 EMRK ein. Diesen Punkt handelt er erstaunlich knapp ab. Während er im Matthews-Urteil die entscheidenden Fragen zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und EMRK genau an diese Vorschrift geknüpft hatte, stellte er im Bosphorus-Fall an dieser Stelle lediglich fest, dass die Beschwerdeführerin unbestritten den Rechtsakt der Beschlagnahme des Flugzeugs angreife. Da die Beschlagnahme von den irischen Behörden vorgenommen worden sei, sei Irland im Sinne des Art. 1 EMRK verantwortlich536. Mit Hilfe dieser formellen Betrachtungsweise umschiffte der EGMR die erste Begründungsklippe: Wäre er bereits im Kontext des Art. 1 EMRK inhaltlich in den Fall eingestiegen, hätte es nahe gelegen, sich mit der Frage zu befassen, ob die Beschwerde nicht korrekterweise gegen die Gemeinschaft selbst als Urheberin der streitigen Verordnung hätte gerichtet werden müssen und nicht gegen Irland, das mit der Beschlagnahme lediglich dem Rechtsbefehl der EG gehorcht hatte537. Für die eigentliche Problematik des Falls verwies der Gerichtshof auf seine folgenden Ausführungen zum Eigentumsgrundrecht538. Damit qualifizierte er die direkte Wirkung der EG-Verordnung nicht als eine die Ausübung irischer Hoheitsgewalt ausschließende Ursache, sondern als eine Art Regulativ, welches das Ausmaß der irischen Verantwortlichkeit für eine eventuelle Verletzung der materiellen Garantie des Eigentums beeinflussen kann. Die Frage des nicht vorhandenen irischen Ermessensspielraums bei der Beschlagnahme des Flugzeugs thematisierte der EGMR dann bei der Prüfung des Eigentumsrechts, nachdem er die Beschlagnahme des Flugzeugs als einen die Eigentumsnutzung betreffenden Eingriff im Sinne des Art. 1 Abs. 2 des ersten Zusatzprotokolls eingeordnet hatte539. Irland hätte ge535
EuGH, Rs. C-84/95, Bosphorus, Slg. 1996, S. I-3953 ff. EGMR, Urteil vom 30.6.2005, Beschwerde-Nr. 45036/98, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Ziff. 137. 537 Die irische Regierung hatte im Verfahren entsprechend argumentiert, dass nicht die Beschlagnahme als eigentliche Ursache der möglichen Rechtsverletzung anzusehen sei, sondern die EG-Verordnung, EGMR, a. a. O., Ziff. 109 f. 538 EGMR, a. a. O., Ziff. 138. 536
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meinschaftsrechtswidrig gehandelt, sofern es die Beschlagnahme nicht durchgeführt hätte. Dabei verwies der Gerichtshof auch auf die Pflicht der EG-Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 10 EGV sowie auf die bindende Wirkung des zu dem Fall ergangenen EuGH-Vorabentscheidungsurteils für den irischen Obersten Gerichtshof 540. Entscheidend sind die Ausführungen des Menschenrechtsgerichtshofs zur Rechtfertigung des Eingriffs: Die Beschlagnahme sei gerechtfertigt, sofern das Allgemeininteresse an ihrer Durchführung die Interessen der beschwerdeführenden türkischen Fluggesellschaft überwiege. Das Allgemeininteresse sei hier die Erfüllung der sich für Irland aus seiner Mitgliedschaft in der Gemeinschaft ergebenden rechtlichen Verpflichtungen. Dies sei als berechtigtes Interesse von erheblichem Gewicht zu werten. In Anbetracht der steigenden Bedeutung internationaler Zusammenarbeit sei es notwendig, die reibungslose Arbeit internationaler Organisationen sicherzustellen541. Bei der folgenden Abwägung wiederholte der EGMR zunächst die bereits in der Melchers-Entscheidung aufgestellten Grundsätze zur Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen. Die Vertragsstaaten seien nicht gehindert, Hoheitsrechte zu übertragen, könnten sich aber auf diese Weise auch nicht ihren Verpflichtungen aus der EMRK entziehen542. Zur Auflösung der Problematik wählte der Gerichtshof diesmal aber einen etwas anderen Ansatz als bisher, nämlich den einer widerlegbaren Vermutung folgenden Inhalts: Staatliches Handeln in Erfüllung von Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation sei solange gerechtfertigt, wie die internationale Organisation über einen der EMRK materiellrechtlich und verfahrensrechtlich zwar nicht unbedingt identischen („identical“), aber gleichwertigen („equivalent“), d. h. qualitativ vergleichbaren („comparable“) Grundrechtsschutz verfüge543. Sei dies gewährleistet, gelte die widerlegbare Vermutung, dass der in Erfüllung von Rechtspflichten gegenüber der internationalen Organisation handelnde Staat die Konvention nicht verletzt habe544. Bei der anschließenden Prüfung dieser Vermutung kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung diesen Anforderungen genüge545. In materiell-rechtlicher Hinsicht verwies er hierfür auf die Entwicklung des gemeinschaftlichen Grundrechts539
EGMR, a. a. O., Ziff. 143 ff. EGMR, a. a. O., Ziff. 146 und 147 ff. 541 EGMR, a. a. O., Ziff. 150. 542 EGMR, a. a. O., Ziff. 152–154. 543 EGMR, a. a. O., Ziff. 155: „By ‚equivalent‘ the Court means ‚comparable‘: any requirement that the organisation’s protection be ‚identical‘ could run counter to the interest of international co-operation pursued.“ 544 EGMR, a. a. O., Ziff. 156. 545 EGMR, a. a. O., Ziff. 159 ff. 540
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schutzes von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bis zur GrundrechteCharta und ihrer geplanten Aufnahme in den Verfassungsvertrag. Die verfahrensrechtlichen Anforderungen seien durch die Rechtsschutzmöglichkeiten vor dem EuGH und vor den nationalen Gerichten erfüllt, insbesondere durch das Vorabentscheidungsverfahren. Dies gelte, auch wenn Individualkläger nur eingeschränkten Zugang zum EuGH hätten. Die abschließende Frage, ob die Vermutung des konventionskonformen Rechtsschutzes in der Gemeinschaft im vorliegenden Fall widerlegt sein könne, handelte der EGMR pauschal in drei Sätzen ab. Offensichtlich sei es nicht zu einem Versagen der gemeinschaftlichen Kontrollmechanismen gekommen546. Die Urteilsbegründung hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Zwar hat sich der Menschenrechtsgerichtshof recht ausführlich mit der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihren materiell- und verfahrensrechtlichen Ausgestaltungen des Grundrechtsschutzes im Allgemeinen auseinandergesetzt. Der Gerichtshof verabschiedet sich aber von seiner originären Aufgabe, Individualschutz zu gewähren, wenn er keine Einzelfallprüfung mehr vornimmt. Er nennt als Kriterium für die Widerlegung der Vermutung der Konventionskonformität, dass im Einzelfall der Schutz von Konventionsrechten nicht offensichtlich unzureichend („manifestly deficient“) sein dürfe547. Was er mit diesem Begriff meint, spezifiziert er jedoch nicht. Die Prüfung im konkreten Fall, ob die Vermutung widerlegt sein könnte, ist in Anbetracht ihrer Kürze und Pauschalität unbefriedigend und gibt daher ebenfalls keinerlei Hinweise auf die mögliche Ausgestaltung des Kriteriums der offensichtlichen Unzulänglichkeit. Die zu überwindende Schwelle für eine Freizeichnung der Staaten, die einer Menschenrechtsverletzung bezichtigt werden, wird damit sehr niedrig angesetzt. Solange der EGMR sich damit zufrieden gibt, dass ein Zugang zum EuGH in Grundrechtsstreitigkeiten existiert und der EuGH diese Grundrechte auch tatsächlich prüft, wird es den Staaten im Bereich übertragener Hoheitsrechte leicht gelingen, sich ihrer Verantwortung aus der Konvention zu entziehen. Einem Beschwerdeführer wird es damit fast unmöglich gemacht, eine Verletzung seiner Rechte nachzuweisen. Die Darlegung einer offensichtlichen Unzulänglichkeit wird ihm in der Praxis insbesondere deswegen nicht gelingen, weil der EuGH in seinen Urteilen inzwischen regelmäßig auf die EMRK Bezug nimmt548. 546 EGMR, a. a. O., Ziff. 166. Richter Ress weist in seinem Sondervotum zu dem Urteil darauf hin, dass der EGMR diese Frage hätte detaillierter ausarbeiten sollen, um seinem Rechtsschutzauftrag gerecht zu werden, vgl. Ziff. 4 des Sondervotums. 547 EGMR, a. a. O., Ziff. 156, 2. Absatz. 548 So auch C. Heer-Reißmann, Straßburg oder Luxemburg? – Der EGMR zum Grundrechtsschutz bei Verordnungen der EG in der Rechtssache Bosphorus, NJW 2006, S. 192, 193 f.; W. Schaller, Das Verhältnis von EMRK und deutscher Rechtsordnung vor und nach dem Beitritt der EU zur EMRK, EuR 2006, S. 656, 672.
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Solche Bezugnahmen bedeuten aber nicht in jedem Fall, dass auch ein mit dem des EGMR qualitativ vergleichbarer Schutzstandard gewährt wird. Dies kann nur im Rahmen einer Einzelfallprüfung festgestellt werden549. Der deutsche EGMR-Richter Ress kritisiert das Urteil in seinem Sondervotum insbesondere wegen dieser fehlenden Festlegung zur Widerlegbarkeit der Vermutungsregel. Er schlägt vor, eine offensichtliche Unzulänglichkeit jedenfalls dann anzunehmen, wenn der EuGH in einem Grundrechtsurteil von der Rechtsprechung des EGMR abweiche. Im Einzelfall könne dies auch dann vorliegen, wenn zu einer bestimmten Grundrechtsfrage noch keine Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs vorliege550. Mit dem Ansatz von Ress wäre ein in der Praxis handhabbarer Ansatzpunkt zur Anwendung der Vermutungsregel und ihrer Widerlegung gegeben. Diese Lösung würde nicht bedeuten, dass der Straßburger Gerichtshof in jedem Fall, in dem der EuGH von seiner Rechtsprechung abweicht, automatisch auf eine EMRK-Verletzung erkennt. Der EGMR würde aber zumindest in jedem dieser Fälle die nach der EMRK gebotene Einzelfallprüfung vornehmen. Dies wäre gegenüber der jetzigen Pauschallösung vorzugswürdig. Es ist wichtig, dass der Straßburger Gerichtshof die Konvention als living instrument im Lichte des aktuellen politischen Umfelds auslegt und damit auch die gestiegene Bedeutung internationaler Staatenkooperationen außerhalb des Europarats anerkennt. Genauso entscheidend ist es aber, dass er sich in diesem geänderten internationalen Umfeld nicht seiner eigenen Verantwortung entledigt. Nach Sinn und Zweck des Konventionssystems ist es gerade seine Aufgabe, Schutz im Einzelfall zu gewähren, indem er Menschenrechtsverletzungen offen legt und durch Richterspruch ächtet. Gerade in Zeiten zunehmender internationaler Kooperationen ist es besonders wichtig, dass es eine unabhängige Kontrollinstanz gibt, die die Einhaltung der Menschenrechte überwacht. Wenn der Straßburger Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft eine carte blanche im Grundrechtsschutz erteilt, wird 549 So auch G. Schohe, Das Urteil Bosphorus: Zum Unbehagen gegenüber dem Grundrechtsschutz durch die Gemeinschaft, EuZW 2006, S. 33 (aus der Perspektive eines Wirtschaftsanwalts). 550 Sondervotum, Ziff. 3. Siehe auch die Vorschläge zur Anwendung des Kriteriums der offensichtlichen Unzulänglichkeit bei J. Bröhmer, Die Bosphorus-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Der Schutz der Grundund Menschenrechte in der EU und das Verhältnis zur EMRK, EuZW 2006, S. 71, 75 f.: Neben einer Abweichung des EuGH von der EGMR-Rechtsprechung nennt er die unterschiedlichen Mitgliederbestände von EG und EMRK sowie eine indirekte Anknüpfung an das Zulässigkeitskriterium des Art. 35 Abs. 2 b) EMRK – Unzulässigkeit von Beschwerden, die vorher bereits einer anderen internationalen Untersuchungsinstanz unterbreitet worden sind. Siehe außerdem dazu A. Hinarejos Parga, Bosphorus v. Ireland and the protection of fundamental rights in Europe, ELRev. 31 (2006), S. 251 ff.
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er der ihm übertragenen Verantwortung nicht mehr gerecht. Falls – was nicht auszuschließen ist – das Bosphorus-Urteil auch von der Befürchtung des bereits jetzt überlasteten EGMR geleitet gewesen sein sollte, dass er sich mit der Prüfung von Gemeinschaftsrechtsakten noch eine zusätzliche Arbeitslast auflädt551, so sollte dem entgegengehalten werden, dass dies im Rechtsschutzsinne nicht der richtige Weg für eine Entlastung ist. Zu diesem Zweck sollten Verfahrensänderungen gewählt werden, wie sie etwa mit dem 14. Zusatzprotokoll geplant sind552, nicht aber Pauschallösungen, die materielle Menschenrechtsstandards in Gefahr bringen können. Das Urteil hinterlässt den Eindruck, dass sich der EGMR vorrangig von pragmatischen Erwägungen hat leiten lassen. Um den Preis der Pauschallösung einer widerlegbaren Vermutung, die für die Konventionskonformität des Gemeinschaftsrechtssystems sprechen soll, stabilisiert er das „vertrauensvolle“ Verhältnis zum Luxemburger Gerichtshof und zur Gemeinschaftsrechtsordnung. Um des Menschenrechtsschutzes willen wäre es indes wünschenswert gewesen, wenn der EGMR sich weniger „kooperativ“ gezeigt hätte und eine solche Pauschallösung vermieden hätte. Es bleibt eine letzte Überlegung: Auch im Bosphorus-Urteil ging es wieder um ein Unternehmen, das mit Hilfe der EMRK versuchte, seine Wirtschaftsinteressen durchzusetzen, also um einen klassischen EG-Wirtschaftssachverhalt, über den der Straßburger Gerichtshof entscheiden sollte. Es kann zumindest darüber spekuliert werden, ob der EGMR nicht ein anderes Urteil gefällt hätte, wenn ihm zu diesem Zeitpunkt ein gemeinschaftsrechtlicher Sachverhalt unterbreitet worden wäre, in dem ein privater Einzelner sich auf seine Meinungsfreiheit oder seine Religionsfreiheit beruft553. Viel551 So z. B. A. Haratsch, Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZaöRV 66 (2006), S. 927, 944. 552 Nach dem 14. Zusatzprotokoll soll Art. 35 EMRK dahingehend ergänzt werden, dass eine Beschwerde auch dann unzulässig ist, wenn der Beschwerdeführer keinen „significant disadvantage“ erlitten hat, sofern gewährleistet ist, dass der Fall von einem nationalen Gericht hinreichend geprüft wurde und keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen. 553 Derartige Sachverhaltskonstellationen, in denen ein Bürger unmittelbar von einem Gemeinschaftsrechtsakt in einem klassischen, nicht wirtschaftsbezogenen Freiheitsrecht betroffen ist, sind zugegebenermaßen seltener als die gemeinschaftsrechtlichen Fälle, in denen sich juristische Personen auf ihre Wirtschafts- oder Verfahrensgrundrechte berufen. Denn dem Bereich unmittelbaren Gemeinschaftshandelns ohne die Mitgliedstaaten als „Mittler“ der EG unterfallen in erster Linie wettbewerbsrechtliche und andere unmittelbar wirtschaftsrelevante Sachverhalte. Bei mitgliedstaatlichem Handeln „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ sind zwar diverse Fälle individueller Grundrechtseinschränkungen möglich, dann handelt es sich aber nicht mehr um ausschließlich von der Gemeinschaft ausgehendes hoheitliches Handeln; zudem lehnt sich der EuGH hierfür in seiner Rechtsprechung – wie aufgezeigt – bereits eng an die EGMR-Judikatur an, um Divergenzen
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leicht hätte der Menschenrechtsgerichtshof in einem solchen Fall, in dem sein ureigener Zuständigkeitsbereich betroffen wäre, einen etwas schärferen Kontrollmaßstab an das gemeinschaftliche Handeln angelegt oder zumindest die Widerlegung der Vermutung für die Konventionskonformität sorgfältiger geprüft als er es zugunsten der Fluggesellschaft Bosphorus getan hat. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, dass eine solche Fallkonstellation vor den EGMR gebracht wird und wie die Straßburger Richter dann darüber urteilen werden. 3. Fazit: Straßburger Kontrolle von Gemeinschaftsrecht Von den ersten Entscheidungen der Menschenrechtskommission zu Gemeinschaftsrechtsakten in den siebziger Jahren bis zu den jüngsten Urteilen des Straßburger Gerichtshofs ist insgesamt eine deutliche Tendenz in Richtung einer verstärkten Kontrolle von Gemeinschaftsrecht zu verzeichnen. Gleichwohl hat sich die Rechtsprechung zu dieser Frage nicht linear entwickelt. Nicht jede Entscheidung war ein Schritt zu einer intensiveren Überprüfung gemeinschaftsrechtlichen Handelns oder EG-rechtlicher Vorgaben für die Mitgliedstaaten am Maßstab der Menschenrechtskonvention. So kennzeichnen die Melchers-Entscheidung und das Bosphorus-Urteil nach der dargelegten Auslegung eher ein Innehalten seitens der Straßburger Organe und eine gewisse Nachsicht gegenüber der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts. In anderen Fällen haben sich Menschenrechtskommission und Gerichtshof mit Andeutungen begnügt oder sind der Problematik ausgewichen. Bis heute hat der EGMR es vermieden, ein ausdrückliches „Machtwort“ zu sprechen und Gemeinschaftsrechtsakte ohne Umwege seiner Kontrolle zu unterwerfen. Teilweise spiegeln seine rechtlichen Konstruktionen diese Vermeidungstaktik wider und muten daher etwas gewunden an. Gleichwohl fehlt es in der EGMR-Rechtsprechung auch nicht an „Drohgebärden“ gegenüber der EG. Die Haltung des Straßburger Gerichtshofs gegenüber der Gemeinschaftsrechtsordnung ist von einer spürbaren Pragmatik gekennzeichnet. Der EGMR entscheidet nicht unbeeinflusst vom rechtspolitischen Umfeld. Wichtige Urteile lassen sich auch als Reaktionen auf bestimmte Entwicklungen auf EG- und EMRK-Ebene deuten, so das Cantoni-Urteil als Reaktion auf das kurz vorher veröffentlichte Gutachten 2/94 des EuGH zum Beitritt der EG zur EMRK und das Matthews-Urteil als Zeichen der Stärke des neuen ständigen Menschenrechtsgerichtshofs. Das Bosphorus-Urteil von vornherein zu vermeiden. Gleichwohl sind durchaus Sachverhalte denkbar, die den EGMR in der genannten Weise zu deutlicheren Feststellungen provozieren könnten, so beispielsweise wenn Gemeinschaftsrechtsakte datenschutzrechtlich relevante Sachverhalte regeln oder die Meinungsfreiheit Einzelner einschränken u. v. m.
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ließe sich dann als eine moderate Zwischenmeldung in einem ungewissen Umfeld werten, solange das Schicksal des europäischen Verfassungsvertrags noch offen ist. Betrachtet man die Reihe der Entscheidungen, so scheint es durchgehend in der Absicht des EGMR gelegen zu haben, eine offene Konfrontation zu vermeiden und die Europäische Gemeinschaft auf vorsichtigerem Wege in das Straßburger Kontrollsystem einzubinden. Inwiefern sich auch der unterschiedliche tatbestandliche Hintergrund der Fälle – wirtschaftsrechtliche Fragestellungen im Vergleich zu den klassischen freiheitsrechtlichen Individualbeschwerden natürlicher Personen, mit denen der EGMR sonst hauptsächlich befasst ist – auf seine Judikatur ausgewirkt hat, bleibt offen.
C. Ergebnis des dritten Teils Der Vergleich der beiden mit dem Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene befassten Gerichtshöfe hat Ähnlichkeiten, aber auch grundlegende strukturelle Unterschiede gezeigt. Bereits von ihrem Ansatzpunkt her unterscheiden sich EGMR und EuGH: Der eine agiert als spezialisiertes Menschenrechtsgericht, unterliegt nicht den internen Bindungen eines organisationsrechtlichen Rahmens und muss daher keine Rücksicht auf andere, den Konventionsgarantien im Rang gleichkommende Werte nehmen. Der andere repräsentiert die rechtsprechende Gewalt im Gesamtgefüge einer inzwischen komplexen Rechtsordnung, ordnet sich horizontal neben der Legislative und Exekutive auf dieser Rechtsebene ein und ist vertikal mit den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen eng verzahnt. In seiner Funktion als dritte Gewalt nimmt der EuGH umfassende Rechtsprechungsaufgaben wahr, unter denen die grundrechtsrelevanten Fragestellungen nur einen kleinen Teilbereich ausmachen. Seine Rechtsprechung ist geprägt von dem Leitmotiv der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten und dem dahinter stehenden Gedanken der Integration. Der EGMR ist in seinen Entscheidungen freier, weil er sich nicht mit vergleichbar vielschichtigen Interessenkonflikten auseinander setzen muss. Für beide Gerichtshöfe spielt die Methode der effektiven Auslegung eine entscheidende Rolle. In Anbetracht der genannten unterschiedlichen Ansatzpunkte der Rechtsordnungen für die Gewährleistung von Grund- und Menschenrechtsschutz kann diese Auslegungsmethode aber unter Umständen zu gegenläufigen Ergebnissen bei den beiden Gerichtshöfen führen. Sowohl EGMR als auch EuGH orientieren sich in ihrer Methodik und Arbeitsweise an Maßstäben, die in einem internationalen oder supranationalen Umfeld ihre Funktionsfähigkeit gewährleisten, zugleich aber der Anerkennung der Urteile und den Zielen der jeweiligen Rechtsordnung dienen. Die wesentlichen Unterschiede in methodischer Hinsicht resultieren im
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Kern daraus, dass die beiden Rechtsordnungen nicht die gleichen Ziele verfolgen. Daher stehen EuGH und EGMR zwar im Hinblick auf Fragen wie den Umgang mit Mehrsprachigkeit oder die Urteilsfindung in einem internationalen Richtergremium vor vergleichbaren Problemen. Gleichwohl unterscheiden sich ihre Urteile vom Begründungsstil her grundlegend. Der EGMR begründet seine Urteile ausführlich und legt den Schwerpunkt auf die Abwägung der gegenläufigen Interessen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung. EuGH-Urteile sind dagegen kurz gehalten, abstrakter und in einem eher feststellenden Stil verfasst. Aus der Analyse der aufgeführten Urteile von EuGH und EGMR ergibt sich, dass beide Gerichtshöfe in ihren Entscheidungen die jeweils andere Rechtsordnung keinesfalls ignorieren, sondern sie „mitdenken“ und berücksichtigen. Es handelt sich inzwischen nicht mehr um einseitige Bezugnahmen des EuGH auf die EMRK und die Straßburger Rechtsprechung, sondern um eine wechselseitige Berücksichtigung der Judikate des jeweils anderen Gerichtshofs im Sinne einer echten Interdependenz. Eine solche Interdependenz bedeutet nicht, dass keine Rechtsprechungsdivergenzen mehr auftreten können. Es gibt abweichende Urteile zu parallelen Sachverhalten. Auch wenn nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung für die Zukunft von einem verstärkten Gleichlauf in der Judikatur beider Gerichtshöfe auszugehen ist, sind derartige Divergenzen im Einzelfall weiterhin nicht auszuschließen. Dies gilt auch für den Fall eines verbindlichen Inkrafttretens der Grundrechte-Charta. Der Vergleich der divergierenden Urteile hat aber auch gezeigt, dass vom materiellen Schutzniveau her bislang keine eklatanten Diskrepanzen aufgetreten sind. In mehreren Fällen beruhten die unterschiedlichen Urteilsergebnisse auf Unterschieden auf der Sachverhaltsebene, nicht auf divergierenden Rechtsauslegungen. Etwas kritischer sind die Fälle zu betrachten, in denen der EuGH einem Konflikt mit dem Straßburger Gerichtshof ausgewichen ist, indem er die aufgeworfene Grundrechtsfrage offen gelassen und eine Lösung auf anderem Wege gewählt hat. Zwar konnte der EuGH so eine Festlegung auf eine bestimmte Position mit der möglichen Konsequenz einer Abweichung von der Straßburger Linie vermeiden. Mit dieser Zurückhaltungstaktik wird er jedoch seiner Rolle als Verfassungsgericht der Gemeinschaft nicht gerecht. Wenn er sich in Grundrechtsfragen für zuständig erachtet, ist es seine Aufgabe, solche grundrechtlichen Konfliklagen offen zu legen und sich inhaltlich damit zu befassen. Dies muss auch für moralisch-ethische Wertfragen gelten, über die inzwischen nicht mehr nur der EGMR, sondern auch der EuGH zu urteilen hat. Dabei bleibt es dem EuGH unbelassen, sich – vergleichbar dem EGMR – auf Ermessensspielräume der gemeinschaftlichen oder nationalen Autorität zurückzuziehen, um in geeigneten Fällen seine richterliche Zurückhaltung zu wahren. Bisher hat der EuGH die vom EGMR
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3. Teil: Die Rolle der Gerichtshöfe für den Grund-/Menschenrechtsschutz
entwickelte Lehre von der margin of appreciation jedoch nur in einzelnen Fällen zur Anwendung gebracht, in denen es um die Grundrechtskonformität mitgliedstaatlicher Maßnahmen ging. Die Straßburger Judikatur zur Kontrolle von Gemeinschaftsrecht lässt sich zunächst als Beweis dafür werten, dass Menschenrechtskommission und -gerichtshof bemüht waren und sind, Rücksicht auf die Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung zu nehmen. Es gibt keine Entscheidung, die originäre Gemeinschaftsrechtsakte ausdrücklich und ohne Umwege der Straßburger Kontrolle unterwirft. Der EGMR hat aber auch gelegentliche „Drohgebärden“ gegenüber der Gemeinschaft nicht unterlassen, um klarzustellen, dass Straßburg und nicht Luxemburg die letzte Instanz im europäischen Grund- und Menschenrechtsschutz ist. Insgesamt erscheinen seine Entscheidungen vom jeweiligen rechtspolitischen Umfeld geprägt.
Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen 1. Grund- und Menschenrechte werden in Europa sowohl von der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt. Die Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte nach den beiden Rechtsordnungen beruht auf unterschiedlichen Ausgangspunkten und Konzeptionen. Während ursprünglich keine Berührungspunkte existierten, gibt es inzwischen zahlreiche Überschneidungen und Interdependenzen zwischen den Rechtsordnungen. 2. Die konzeptionellen Unterschiede zwischen EMRK und Gemeinschaftsrechtsordnung zeigen sich bereits auf terminologischer Ebene: Die EMRK verwendet den Begriff der „Menschenrechte“ und kennzeichnet damit die fehlende Hierarchisierung des Völkerrechts. Die Menschenrechte dienen im Völkerrecht (noch) nicht als Messlatte und generelles Wertesystem für die anderen Teilrechtsbereiche. Auf Ebene des supranationalen Gemeinschaftsrechts wird dagegen der dem Staatsrecht entnommene Begriff der „Grundrechte“ verwendet, da es sich um eine rechtlich durchstrukturierte Rechtsordnung mit einer einem staatlichen Rechtssystem vergleichbaren Normenpyramide handelt. Die uneinheitliche Terminologie ist Indiz für den unterschiedlichen „Integrationsgrad“ von EMRK und Gemeinschaftsrechtsordnung. Hieraus können sich inhaltliche Divergenzen bei der Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte ergeben. 3. Die EMRK wurde als menschenrechtliches „Sicherheitsnetz“ konzipiert, das den innerstaatlichen Grundrechtsschutz um eine völkerrechtliche Ebene ergänzt. Inzwischen geht sie in ihrer Bedeutung darüber hinaus und setzt eigene Standards, die auf gesamteuropäischer Ebene für die Vertragsstaaten und die Europäische Gemeinschaft immer wichtiger werden. Sie begrenzt staatliche Hoheitsgewalt und hat sich in dieser Funktion – auch aufgrund ihrer faktischen Auswirkungen – zu einer europäischen Teilverfassung weiterentwickelt. Da sie nicht Bestandteil einer Gesamtrechtsordnung ist, eignet sie sich besonders gut als Vorbild und Inspirationsquelle für andere Grundrechtsschutzsysteme. 4. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind dagegen Bestandteil einer integrierten Rechtsordnung. Sie wurden vom EuGH aus der Notwendigkeit hergeleitet, hoheitlichen Akten der EG und ihrer Mitgliedstaaten ein freiheitssicherndes Korrelat entgegenzusetzen. Ihre Bedeutung als Abwehr-
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rechte ist durch die im Laufe der Jahre erfolgte Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und durch die stärkere Fokussierung auf den auch nicht-wirtschaftlich agierenden Unionsbürger gestiegen. Ein Gestaltungsauftrag kommt ihnen nicht zu. Staatliche Schutzpflichten, vergleichbar denen der EMRK, werden bisher vom EuGH aus den Gemeinschaftsgrundrechten nicht abgeleitet. 5. Die Anerkennung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze ist eng verknüpft mit den Grundsätzen des Vorrangs und der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts. Der EuGH hat aus diesen Grundsätzen die Legitimationsbasis für die EG als auf dem Prinzip der Rechtseinheit beruhender Rechtsgemeinschaft geformt. 6. Zugleich setzt der EuGH den Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft aber auch in einem gewissen Maße „instrumental“ als integrationspolitisches Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen Zielrichtungen des Binnenmarktes ein. Die Formel des EuGH, die Grundrechte müssten sich „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“, kann eine Abwägung in der Weise steuern, dass die durch die Grundrechte verkörperten Individualinteressen unter Umständen hinter die wirtschaftspolitischen Zielvorgaben des gemeinschaftlichen Primärrechts zurücktreten müssen. Hierin liegt ein grundsätzlicher Unterschied zu den EMRK-Garantien, die „zweckfrei“ zur Verfügung stehen und nicht von anderen „grundrechtsfremden“ Zielvorgaben beeinflusst werden können. 7. Die Frage, ob der Grund- und Menschenrechtsschutz an sich eine Aufgabe der Gemeinschaft ist, hat der EuGH in seinem Gutachten 2/94 zum Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK offen gelassen. Die Idee, der Europäischen Gemeinschaft über das Leitbild des Gemeinsamen Marktes hinaus eine neue Zielrichtung als Grundrechtsgemeinschaft zu geben, würde ihr Gesamtkonzept als Rechtsordnung mit dem Zweck ökonomisch-sozialer Integration verändern. Damit verbunden wäre die Gefahr einer Verschiebung des konstitutionellen Gleichgewichts zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zulasten der nationalen Rechtsordnungen. Unter Umständen könnte eine solche Neuausrichtung eine Verlangsamung des wirtschaftlichen Integrationsprozesses bedeuten: Je mehr Rechte der Einzelne erhält, desto größer auch seine Möglichkeiten, politische Entwicklungen beschleunigend oder verlangsamend zu beeinflussen. Aus der Grundrechte-Charta und dem Europäischen Verfassungsvertrag ergeben sich keine neuen Initiativen in Richtung einer aktiven Grundrechtspolitik der Gemeinschaft. 8. Gemeinschaftsrechtsordnung und EMRK-System nähern sich einander in Bezug auf die zu regelnde Thematik und in Bezug auf die Wirkungs-
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kraft immer weiter an. Dies hängt mit der „Rückbesinnung“ der Gemeinschaft auf die Grundrechte als „patrimoine commun“ im transnationalen Bereich sowie mit den Konstitutionalisierungstendenzen und dem damit verbundenen erhöhten Wirkungsgrad des EMRK-Systems in den Vertragsstaaten zusammen. 9. Die EMRK gibt einen festen Katalog von Menschenrechten vor, während im Gemeinschaftsrecht der EuGH die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze von Fall zu Fall herausarbeitet. Trotz dieser unterschiedlichen Ansatzpunkte zeigen sich inzwischen weitgehende Parallelen bei den Katalogen der jeweils – geschrieben oder ungeschrieben – gewährleisteten Rechten in beiden Rechtsordnungen. Dies liegt auch daran, dass die EMRK eine wesentliche Inspirationsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte darstellt. Die Grundrechte-Charta geht in ihren Gewährleistungen über den Umfang der EMRK-Garantien und der Gemeinschaftsgrundrechte hinaus. Sie durchbricht damit den bislang im Gemeinschaftsrecht gültigen Grundsatz der Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz, so dass ihr verbindliches Inkrafttreten einen qualitativen Sprung für den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz bedeuten würde. 10. Aus den äußerlich-nominalen Parallelen darf nicht der Schluss gezogen werden, dass die Konventionsgarantien und die Gemeinschaftsgrundrechte auch inhaltlich immer gleich laufen. Die Rechte werden autonom durch die jeweiligen Gerichtshöfe ausgelegt. Ihre inhaltliche Ausgestaltung wird mitbestimmt durch verschiedene Faktoren wie Ursprung und Umfeld, Funktionen, Rechtsberechtigte und Rechtsverpflichtete. 11. Die Konventionsgarantien bezwecken als klassische Menschenrechte in erster Linie den Schutz von Würde und Freiheit und werden vorrangig von natürlichen Personen in Anspruch genommen. In der Gemeinschaft werden Grundrechte in der Mehrzahl der Fälle von Unternehmen und „Marktbürgern“ zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten geltend gemacht. Diese Differenzierung ist nicht mehr absolut, da es Annäherungen von beiden Seiten gibt, sie behält aber weiterhin ihre Gültigkeit. Der grundsätzlich unterschiedliche Kreis der Rechtsberechtigten trägt dazu bei, den beiden Grundrechtsordnungen in der Praxis eine differenzierte Prägung zu geben. 12. Die Gemeinschaftsgrundrechte entfalten ihre Geltung gegenüber den Gemeinschaftsinstitutionen und gegenüber den Mitgliedstaaten. Mit der Ausweitung des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“, in dem die Mitgliedstaaten die Gemeinschaftsgrundrechte beachten müssen, hat der EuGH den Bereich vergrößert, in dem sich seine inhaltliche Zuständigkeit mit der des EGMR direkt überschneidet. Es ist damit zu
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rechnen, dass die auf diese Weise bewirkte Verdopplung der grundrechtlichen Kontrolle nicht zu einer Konfliktpotenzierung, sondern zu einem größeren Gleichlauf der Rechte führen wird. Allerdings können in Einzelfällen weiterhin Divergenzen auftreten. Aus Sicht des rechtssuchenden Bürgers erweist sich diese Überschneidung der beiden Grundrechtsschutzsysteme als positiv, da ihm eine zusätzliche Kontrollinstanz zur Verfügung steht. 13. Der EGMR agiert als spezialisiertes Menschenrechtsgericht. Er unterliegt nicht den internen Bindungen eines organisationsrechtlichen Rahmens und muss daher keine Rücksicht auf andere, den Konventionsgarantien im Rang gleichkommende Werte nehmen. Um seinen formal nur feststellend wirkenden Urteilen die notwendige Akzeptanz zu verleihen, muss der EGMR ein gewisses Maß an Respekt vor der Souveränität der Vertragsstaaten und den Eigenheiten ihrer politischen Systeme wahren. Hierfür nutzt er das Konzept staatlicher Beurteilungsspielräume (margin of appreciation), mit dem er seine richterliche Zurückhaltung zum Ausdruck bringt. 14. Der EuGH nimmt dagegen in seiner Funktion als dritte Gewalt in der komplexen Gemeinschaftsrechtsordnung umfassende Rechtsprechungsaufgaben wahr, unter denen die grundrechtsrelevanten Fragestellungen nur einen kleinen Teil ausmachen. Von ihm zu lösende Interessenkonflikte sind vielschichtiger und erfordern die Beachtung einer größeren Zahl von relevanten Faktoren und Zielsetzungen. Aufgrund des supranationalen Charakters des Gemeinschaftsrechts gründen die Urteile des EuGH, anders als die des EGMR, auf einer ihnen von vornherein zugestandenen Akzeptanz. Das Einräumen mitgliedstaatlicher Beurteilungsspielräume widerspricht dem Leitmotiv der EuGH-Rechtsprechung, der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. In den letzten Jahren hat der EuGH allerdings die vom EGMR übernommene Lehre von der margin of appreciation in einzelnen Fällen zur Anwendung gebracht, in denen es um die Grundrechtskonformität mitgliedstaatlicher Maßnahmen ging. Das verstärkt die Parallelität der beiden Grundrechtsschutzsysteme. 15. Obwohl EGMR und EuGH im Hinblick auf Fragen wie den Umgang mit Mehrsprachigkeit oder die Urteilsfindung in einem internationalen Richtergremium vor vergleichbaren Problemen stehen, unterscheiden sich ihre Urteile vom Begründungsstil her grundlegend. Die EGMR-Urteile sind ausführlich begründet, diskursiv und legen den Schwerpunkt auf eine sorgfältige Abwägung der gegenläufigen Interessen im Einzelfall. Urteile des EuGH sind hingegen durch ihren knappen, feststellenden und nicht argumentativen Stil gekennzeichnet. In den Urteilsstilen
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spiegeln sich die unterschiedlichen Ansatzpunkte und Zielsetzungen der Rechtsordnungen wider. 16. Für beide Gerichtshöfe spielt die Methode der effektiven Auslegung eine herausragende Rolle. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten unterschiedlichen Ansatzpunkte der Rechtsordnungen kann dies jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen für den Grund- und Menschenrechtsschutz führen: Der EGMR legt effektivitätssichernd aus, um den Konventionsgarantien zu größtmöglicher Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit zu verhelfen, d. h. die Effektivität ist allein auf die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte gerichtet. Der EuGH hingegen setzt den effet utile ein, um die Gemeinschaftsrechtsordnung als Ganzes zu sichern und fortzuentwickeln. Die effektive Auslegung kann sich daher im Gemeinschaftsrecht im Einzelfall auch gegen den grundrechtlichen Individualschutz richten, wenn die gemeinschaftlichen Zielvorgaben die Reichweite eines Grundrechts und möglicher Eingriffe maßgeblich beeinflussen. 17. Es gibt divergierende Urteile von EuGH und EGMR zu parallelen Sachverhalten. Ein Vergleich der Urteile zeigt jedoch, dass vom materiellen Schutzniveau her bislang keine eklatanten Diskrepanzen aufgetreten sind. Teilweise beruhen unterschiedliche Urteilsergebnisse auf Abweichungen auf der Sachverhaltsebene und nicht auf divergierenden Rechtsauffassungen. Es kann keine generelle Tendenz der Gemeinschaftsgerichte nachgewiesen werden, die Freiheitsrechte im Vergleich zum EGMR enger auszulegen. 18. Trotz wechselseitiger Berücksichtigung der Judikatur des jeweils anderen Gerichtshofs im Sinne einer echten Interdependenz können Divergenzen zwischen EuGH und EGMR in einzelnen Fällen auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. 19. In einigen Fällen ist der EuGH einem möglichen Konflikt mit dem EGMR ausgewichen, indem er die Grundrechtsfrage offen gelassen und einen anderen Lösungsweg gewählt hat. Damit vermeidet er Abweichungen von der Straßburger Linie, wird aber seiner Rolle als Verfassungsgericht der Gemeinschaft nicht gerecht. Grundrechtliche Konfliktlagen sollten von ihm offen gelegt und inhaltlich gelöst werden. Für den Grenzbereich schwieriger moralisch-ethischer Wertfragen könnte der EuGH dabei im Einzelfall auf die Lehre von der margin of appreciation zurückgreifen, um seine richterliche Zurückhaltung zum Ausdruck zu bringen und mitgliedstaatliche Eigenheiten zu berücksichtigen. 20. In der Straßburger Judikatur ist von den siebziger Jahren bis heute eine deutliche Tendenz in Richtung einer verstärkten Kontrolle von Gemein-
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schaftsrecht zu verzeichnen. Es handelt sich nicht um eine lineare Entwicklung. EKMR und EGMR waren und sind bemüht, Rücksicht auf die Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung und auf das rechtspolitische Umfeld zu nehmen. Es gibt keine Entscheidung, die originäre Gemeinschaftsrechtsakte ohne Umwege der Straßburger Kontrolle unterwirft. Der EGMR hat in einigen Entscheidungen der letzten Jahre aber vermittels „Drohgebärden“ klargestellt, dass er sich als die letzte Instanz im europäischen Grund- und Menschenrechtsschutz ansieht. Das zuletzt ergangene Bosphorus-Urteil ist in diesem Sinne als Zwischenlösung in einem verfassungspolitisch ungewissen Umfeld zu werten.
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Stichwortverzeichnis Abwehrrechte – im Gemeinschaftsrecht 66, 207 – in der EMRK 115 abweichende Meinungen siehe Sondervoten acquis communautaire 203, 297, 343 agency situation 190 f., 202 Akzeptanz – der EGMR-Urteile 220 f., 224, 238, 250 – der EuGH-Urteile 260, 263, 273, 278 allgemeine Handlungsfreiheit – als Gemeinschaftsgrundrecht 150 – in der EMRK 106 – in der Grundrechte-Charta 161 allgemeine Rechtsgrundsätze 121 ff. Als-ob-Ansatz 158 f. Anspruch auf rechtliches Gehör 313 ff. Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts 188 ff., 203 f. arguments disparus 273 Art. 6 Abs. 2 EUV 127 ff. Art. 52 Abs. 3 GRCh 344 ff. Art. 53 GRCh 347 f. Arzneimittelbegriff und Strafbarkeit in Frankreich 360 f. Ausländer, Begriff in der EMRK 109, 342 Auslegungsmethoden – des EGMR 234 ff. – des EuGH 278 ff. autonome Auslegung der Konventionsbegriffe 237 ff.
begrenzte Einzelermächtigung 39, 66, 85 f., 163 f. Begrenzungsfunktion der Verfassung 57 Beurteilungsspielraum siehe margin of appreciation Bickel und Franz 196 Bindung der EG an die EMRK 138 ff. Biopatent-Richtlinie 333 ff. Bosphorus 373 ff. Cantoni 360 ff. Carpenter 199 ff. C.F.D.T. 352 f. Chappell 303 f. civis europaeus 195, 197 Costa/ENEL 76, 279 demokratische Gesellschaft 236, 240, 244 ff. Direktwahlakt zum Europäischen Parlament 364 f. Diskriminierungsverbot(e) – im Gemeinschaftsrecht 156, 167 ff. – in der EMRK 102, 109, 118 f. – in der Grundrechte-Charta 161 – und Unionsbürgerschaft 195 ff. diskursiver Urteilsstil des EGMR 226 Drittwirkung – der EMRK-Rechte 113 f., 117 – der Gemeinschaftsgrundrechte 206 f. – der Grundfreiheiten 206 Dufay 354 f. dynamische Auslegung des EGMR 239 ff.
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Stichwortverzeichnis
effektive Auslegung – des EGMR 241 ff. – des EuGH 281 ff. effet utile 281 ff. EGMR – grundsätzliche Ausrichtung 217 ff. – Organisation 222 ff. – Sprachenregelung 225, 229 f. – Urteilstechnik 225 ff. Eigentumsrecht 103, 106, 147, 160, 252, 288 einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts 279 ff. Einseitigkeit des EMRK-Systems 46 ff. EKMR siehe Menschenrechtskommission Emesa Sugar 314 ff. EMRK – als europäische Teilverfassung 56 ff. – als Menschenrechtsverfassung 57 – als Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte 130 f. – und Verzahnung mit staatlichen Rechtsordnungen 53 ff. EMRK-Rechte – als Individualrechte 50 ff. – Berechtigte 108 ff. – isolierte Stellung 47 f. – Kategorien 102 ff. – objektiv-rechtliche Dimensionen 116 ff. – Schranken 104 f., 226, 244 ff. – Struktur 104 f. – Verpflichtete 113 f. erga-omnes-Verpflichtungen 31 ERT 320 f. ERT-Fallgruppe 191 ff., 202 EuGH – als „moteur de l’intégration“ 73, 81 – als „polyvalente Gerichtsbarkeit“ 256
– grundsätzliche Ausrichtung 256 ff. – Organisation 261 ff. – Sprachenregelung 265 f., 276 f. – Urteilstechnik 269 ff. Europäische Menschenrechtskommission siehe Menschenrechtskommission Europäische Menschenrechtskonvention siehe EMRK Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte siehe EGMR Europarat 48 ff. evolutive Auslegung des EGMR 239 ff. faktische Wirkung der EGMR-Urteile 233 f. Familiapress 322 f. Flugzeugbeschlagnahme 373 ff. Freiheitsrechte – im Gemeinschaftsrecht 146 ff. – in der EMRK 103 – in der Grundrechte-Charta 160 f. Freizügigkeit 148 f. Funke 310 f. gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 127 ff. Gemeinschaftsgrundrechte – Abgrenzung zu Grundfreiheiten 166 ff. – als Grenzen hoheitlicher Machtausübung 66 ff. – als subjektive Rechte 142 ff. – als Teilhaberechte 209 ff. – Bedeutungszunahme 71 ff. – Begriff 40 f. – Berechtigte 177 ff. – Entwicklung als allgemeine Rechtsgrundsätze 121 ff. – Kategorien 145 ff. – Rang in der Gemeinschaftsrechtsordnung 172 ff.
Stichwortverzeichnis – Schranken 165 f., 280, 285 – Struktur 165 f. – Verpflichtete 186 ff. Generalanwälte beim EuGH 261 f. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften siehe EuGH Gleichheitsrechte – im Gemeinschaftsrecht 156 ff. – in der EMRK 102, 106 – in der Grundrechte-Charta 161 Goodwin 330, 341 Große Kammer – des EGMR 224 – des EuGH 263 Grundfreiheiten – Abgrenzung zu Gemeinschaftsgrundrechten 166 ff. – Begriff in der EMRK 34 f. – Begriffsabgrenzung zwischen EMRK und EG 35 f. Grundrechte – als Abwehrrechte 44 – als Identifikationsfaktor 78 f. – als Integrationsfaktor im Binnenmarkt 79 ff. – als neue Zielsetzung der Gemeinschaft 87 ff. – in staatlichen Rechtsordnungen 43 ff. – Terminologie 25 ff., 36 ff. – Ursprung und Entwicklung 22 ff. Grundrechte-Charta – als Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte 135 f. – Bindung der Mitgliedstaaten 202 ff. – Funktionen der Chartarechte 211 – Schranken 70, 160, 285, 343 ff. – und Grundrechtsdogmatik des EuGH 69 f. – und Kompetenzen auf Gemeinschaftsebene 163 ff. – verbürgte Rechte 160 ff. Grundrechtsagentur 92 Grundrechtsgemeinschaft 83 ff.
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Gutachten 2/94 zum EMRK-Beitritt 84 ff. Hauer 126 Hierarchie – der EMRK-Rechte 105 f. – im gemeinschaftlichen Primärrecht 172 ff. – im Völkerrecht 30 ff. Hoechst 301 ff. Hypothekentheorie 138 f. Informationsverein Lentia 322 Inkorporation der EMRK in nationales Recht 54 f. Internationale Handelsgesellschaft 76, 126 internationale Rechtsgemeinschaft 30 ius cogens 31, 139 juristische Personen – als Berechtigte der Gemeinschaftsgrundrechte 181 ff. – als Berechtigte der Konventionsgarantien 110 ff. Kollisionsfälle – in der EMRK 61 f. – in der Grundrechte-Charta 347 f. – zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten 172 ff. Kompetenz-Kompetenz 39, 66, 163 f. Konkurrenzen – der Gemeinschaftsgrundrechte untereinander 175 f. – zwischen Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten 176 f. Konstantinides 195 Konstitutionalisierung der Völkerrechtsordnung 30 Konventionsrechte siehe EMRKRechte Kremzow 197 f. Kress 316 f.
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Stichwortverzeichnis
Laserspiel mit simulierter Tötungshandlung 335 ff. Legitimationsfunktion der Verfassung 57 Leistungsrechte – im Gemeinschaftsrecht 210 – in der EMRK 118 f. – in der Grundrechte-Charta 162 Leitprinzipien – in der EGMR-Rechtsprechung 243 ff. – in der EuGH-Rechtsprechung 284 ff. Mannesmannröhren-Werke 311 f. margin of appreciation – in der Rechtsprechung des EGMR 248 ff. – in der Rechtsprechung des EuGH 293 ff. Marktbürger 74, 182, 212 Matthews 363 ff. Meinungsfreiheit 149, 160, 296, 326 Melchers 355 ff. Menschenrechte – Terminologie 25 ff. – Ursprung und Entwicklung 22 ff. Menschenrechtsgerichtshof siehe EGMR Menschenrechtskommission 49, 51, 223 Menschenrechtskonvention siehe EMRK Menschenwürde 148, 160, 332 ff. Niemietz 304 f. Nold 121, 126 obligations positives siehe Schutzpflichtfunktion Omega 335 ff. Open Door and Dublin Well Woman 326 f.
Organisationsfunktion der Verfassung 57 Orkem 309 f. personaler Anwendungsbereich – der EMRK 108 f. – der Gemeinschaftsgrundrechte 177 ff. Plenum – der EGMR-Richter 222 – der EuGH-Richter 263 f. positive Integration und Gemeinschaftsgrundrechte 89 procedural orientation des Konventionssystems 103 f. Procola 362 f. Rechtseinheit 75 ff., 280 f., 297 Rechtserkenntnisquellen – Abgrenzung zu Rechtsquellen im Gemeinschaftsrecht 125 ff. – der Gemeinschaftsgrundrechte 127 ff. Rechtsgemeinschaft 75, 78, 256, 280, 297 Rechtsquellen siehe Rechtserkenntnisquellen Rechtsstaatsprinzipien im Gemeinschaftsrecht 152 Richter – am EGMR 222 f. – am EuGH 261 ff. Richtlinienumsetzung und Bindung an Gemeinschaftsgrundrechte 190 f. Roquette Frères 307 f. Rundfunkfreiheit 320 ff. Schlussanträge der Generalanwälte 275 f. Schranken – der EMRK-Rechte 104 f., 226, 244 ff. – der Gemeinschaftsgrundrechte 165 f., 280, 285 – in der Grundrechte-Charta 70, 160, 285, 343 ff. Schutzpflichtfunktion – der EMRK-Rechte 116 f.
Stichwortverzeichnis – der Gemeinschaftsgrundrechte 208 f. Schwangerschaftsabbruchfälle 324 ff. Senator Lines 368 ff. Sich-Einfügen in Struktur und Ziele der Gemeinschaft 79 ff., 174 f. Soering 244 Sondervoten 230 ff. Sprachenregelung siehe EGMR und EuGH SPUC/Grogan 294 f., 324 ff. Stauder 66, 69, 121, 126 Steffensen 201 f. Stés Colas Est 305 f. Sukzessionstheorie 138 f. Supranationalität 38 ff. Teilhaberechte – im Gemeinschaftsrecht 209 ff. – in der EMRK 118 f. Teilverfassung siehe EMRK als europäische Teilverfassung teleologische Auslegung – der EMRK 239 ff. – im Gemeinschaftsrecht 281 ff. Transsexuelle 329 ff. Unionsbürgerschaft 74, 195 ff. Unverletzlichkeit der Wohnung 301 ff. Urteilsbegründung – des EGMR 227 ff. – des EuGH 271 ff. Urteilsstruktur – des EGMR 226 – des EuGH 269 ff. Urteilswirkungen – Berücksichtigung in der Entscheidungsbegründung des EGMR 232 ff. – Berücksichtigung in der Entscheidungsbegründung des EuGH 277 f.
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Van Gend & Loos 76, 168 Verfahrensrechte – Ableitung aus materiellen EMRKRechten 118 f. – im Gemeinschaftsrecht 151 ff. – in der EMRK 103 f. – in der Grundrechte-Charta 163 Verfahrenswege für Grundrechtsstreitigkeiten am EuGH 266 ff. Verfassungsvertrag – und Grundrechte-Charta 158 f. – und Grundrechtsgemeinschaft 92 ff. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – hybrider Charakter im Gemeinschaftsrecht 152 ff. – in der EGMR-Rechtsprechung 244 ff. – in der EuGH-Rechtsprechung 285 ff. Vermeulen 313 f. Verteidigungsrechte 309 ff. Vo 337 ff. Vorbehalte der EMRK-Vertragsstaaten 55 f., 107 Vorrang des Gemeinschaftsrechts 75 ff. wertende Rechtsvergleichung 128 f. Wesensgehaltsgarantie – in der EMRK 247 f. – in der EuGH-Rechtsprechung 291 f. – in der Grundrechte-Charta 166 – und Rang der Gemeinschaftsgrundrechte 175 Wirtschaftsunternehmen als Akteure im Gemeinschaftsrecht 112, 155, 185, 373, 378 f. Zusatzprotokolle zur EMRK 55 f., 107 Zuständigkeit – des EGMR 223 f. – des EuGH 256 ff., 266 ff.