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German Pages 169 [174] Year 2018
Friedrich Meins
Paradigmatische Geschichte Wahrheit, Theorie und Methode in den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos Klassische Philologie Franz Steiner Verlag
Palingenesia 113
Friedrich Meins Paradigmatische Geschichte
PALINGENESIA Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft Begründet von Rudolf Stark Herausgegeben von ChrIStoPh SChubErt Band 113
Friedrich Meins
Paradigmatische Geschichte Wahrheit, Theorie und Methode in den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos
Franz Steiner Verlag
Coverabbildung: Phönix in einem Mosaik aus Antiochia am Orontes, jetzt im Louvre. Fondation Eugène Piot, Monuments et Mémoires, publ. par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 36, 1938, 100. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12250-4 (Print) ISBN 978-3-515-12255-9 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort...........................................................................................................
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Einleitung........................................................................................................
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i) ii)
Rhetorik und Wahrheit in der Forschungsdiskussion zu Dionysios ................................................................................... 9 Ziele und Vorgehensweise der vorliegenden Studie ......................... 15
Teil I: Das Verhältnis von Forschungsmethode und Darstellungsabsicht ......... 19 1
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Die ἔργα: Dionysios’ zentrale Anforderungen an Historiographie ............. 1.1 Die ὑπόθεσις des Geschichtswerkes und der Nutzen der Geschichtsschreibung ................................................................ 1.2 Historiographisches ἦθος: Autor, Persona und Charakter................. 1.3 Οἰκονοµία und τάξις des Stoffes: Ordnung und Inhalt ..................... Weitere Aufgaben des Historiographen .................................................... 2.1 Die ἀκρίβεια des Dionysios ............................................................. 2.2 Τεκµήρια: Überzeugungsmittel oder Belege? .................................. 2.3 Die Ambivalenz der Mythenrationalisierung ................................... 2.4 Kritik als Argumentation: Ein Beispiel ............................................
22 23 31 39 41 43 46 48 49
Teil II: Plausibilität und Angemessenheit als Wahrheitskriterien?.................... 53 1 2
Historiographie und µίµησις ..................................................................... 1.1 Realität und Realismus: Theorien der historischen µίµησις .............. 1.2 Gibt es eine historische µίµησις bei Dionysios? ............................... Τὸ πρέπον: „Angemessenheit“ als Wahrheitskriterium?............................ 2.1 Dionysios’ Auseinandersetzung mit der Tradition ........................... 2.2 Angemessenheit als Wahrheitskriterium? Forschungsansätze .......... 2.3 Dionysios’ Theorie des πρέπον........................................................ 2.4 Die kritische Funktion des πρέπον ...................................................
54 55 57 61 63 67 70 76
Teil III: Die historischen Ideale in Dionysios’ „idealisierender Historie“ ......... 80 1
„Schönheit“ als leitendes Ideal der literarischen µίµησις ........................... 81 1.1 Ζῆλος, Eklektizismus und κάλλος im Prozess der literarischen µίµησις ........................................................................ 83 1.2 Das ästhetische Ideal als ontologisches Ideal? ................................. 87
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Inhaltsverzeichnis
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Rom als „schöner Gegenstand“................................................................. 2.1 Rom als eklektisches Gebilde .......................................................... 2.2 Ein kollektiver Tugendkanon als Ausdruck des politischmoralischen καλόν .......................................................................... 2.3 Die politische Theorie der ethischen Erziehung ............................... 2.4 Religion und Politik: Mythenrevision und Bürgererziehung............. 2.5 Ideal und Idealismus........................................................................
89 90 92 95 96 102
Teil IV: Paradigmatische Geschichte ............................................................... 106 1
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Παιδεία und Geschichtsschreibung ........................................................... 1.1 Die Adressaten der Geschichtsschreibung und die Dimensionen des Nutzens ............................................................... 1.2 ‚Wissenschaftliches‘ Weltbild und Geschichtsschreibung ................ 1.3 Die gesellschaftliche Funktion der Sprache: „Sittliche“ und praktische Bildung................................................... Der paradigmatische Nutzen einer ‚vernünftigen‘ Geschichte ................... 2.1 Φρόνησις und σοφία: Klugheit und Sachkenntnis als Leitmotive.................................................................................. 2.2 Vollständigkeit als Bedingung des Nutzens ..................................... 2.3 Die Ausschaltung der Kontingenz: Εὔνοια statt τύχη ....................... 2.4 Die µεταβολαὶ πολιτειῶν als Beispiel für den Nutzen theoretischen Wissens ........................................................................................... 2.5 Die nicht ganz perfekte Mischverfassung und die Grenzen der Vernunft ................................................................ Die Wirkung von Reden ........................................................................... 3.1 Dionysios’ didaktische Kommentierung von Reden......................... 3.2 Nicht-sprachliche πίστεις: Theatralische Inszenierung oder Mittel der psychologischen Manipulation? .................................................
108 108 112 115 118 118 122 125 131 136 139 141 145
Schlussbetrachtung: Rhetorik, Geschichte und Wahrheit in den Antiquitates Romanae ..................................................................................... 153 i) ii) iii)
Zusammenfassung ........................................................................... 153 Die Antiquitates als rhetorischer Text? ............................................ 157 Gibt es einen historischen Wahrheitsbegriff bei Dionysios? ............. 159
Literaturverzeichnis......................................................................................... 162 Abkürzungen antiker Autoren und Werke / Zitierte Editionen und Übersetzungen .......................................................................................... 168
VORWORT Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner von Prof. Dr. Charlotte Schubert und Prof. Dr. Reinhold Scholl begutachteten Dissertationsschrift, die ich im Sommersemester 2014 bei der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften an der Universität Leipzig unter dem Titel „Rhetorische Theorie, literarische Kritik und historische Methode bei Dionysios von Halikarnassos“ vorgelegt und am 15.7.2014 erfolgreich verteidigt habe. Mein Dank gilt insbesondere Frau Prof. Schubert und Herrn Prof. Scholl für die engagierte Betreuung der Arbeit und zahlreiche wichtige Anmerkungen auch im Nachgang, Herrn Prof. Dr. Christoph Schubert für die Aufnahme in die Reihe Palingenesia sowie zahlreiche Hinweise und Korrekturen, schließlich meinem Leipziger Kollegen Herrn Oliver Bräckel für die Hilfe mit dem Manuskript. Alle verbleibenden Irrtümer und Fehler sind meine. Leipzig im Juli 2018
Friedrich Meins
EINLEITUNG i) Rhetorik und Wahrheit in der Forschungsdiskussion zu Dionysios Beinahe jede jüngere Arbeit über Dionysios beginnt mit einer Bemerkung zur ungerechten Behandlung, die er vor allem durch die deutschsprachige Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfahren habe, sowie einem Hinweis auf die Neubewertung, als deren Auslöser die Studien Emilio Gabbas, insbesondere die englische Ausgabe seines Werkes „Dionysios and the History of Archaic Rome“ von 1991, mit einigem Recht gelten. Während Gabba lediglich das Ziel ausgegeben hat, Dionysios’ Historiographie zu verstehen, nicht, sie zu verteidigen,1 steht der Schmähkritik der älteren deutschen Forschung heute tatsächlich eine grundsätzlich positivere Einschätzung gegenüber. Im Zentrum der Diskussion über Dionysios steht seit jeher die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und Rhetorik. Das hängt auch damit zusammen, dass neben der Frühgeschichte Roms, der Ῥωµαικὴ Ἀρχαιολογία bzw. den Antiquitates Romanae, ein umfangreiches theoretisches Korpus überliefert ist, das literaturkritische Arbeiten, Abhandlungen über die Redner der klassischen Zeit sowie auch kritische Auseinandersetzungen mit Historiographen enthält.2 Obwohl Dionysios’ Tätigkeit auf dem Gebiet der theoretischen Rhetorik und literarischen Kritik etwas wohlwollender aufgenommen wurde,3 war es zugleich sein professionelles Interesse hieran, das seit dem Aufsatz von Hugo Liers aus dem Jahre 1886 zur Einordnung der Antiquitates in die Kategorie einer sogenannten „rhetorischen Geschichtsschreibung“ führte. Diese Kategorisierung wurde spätestens mit dem RE1
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Zur Kritik von und an E. Schwartz, dem Paradebeispiel für den Umgang mit Dionysios in der älteren deutschsprachigen Althistorie, vgl. Gabba (1991), 5-9, der ebd. 9 bemerkt: „I have no intention of defending Dionysius from the charges laid at his door by Schwartz, nor do I mean to revalue or exalt him as a model of historiography.“ Vgl. zu Schwartz auch Gabba (1979). Zitate aus den Antiquitates Romanae, im Folgenden kurz Antiquitates, folgen, sofern nicht anders angegeben, der Teubner-Ausgabe Jacobys. Zitate aus den Scripta Rhetorica beruhen, sofern nicht anders angegeben, auf der Teubner-Ausgabe von Usener und Radermacher. Zitate weiterer antiker Autoren entsprechen den im Anhang angegebenen Editionen, Ausgaben und Übersetzungen. Die Werke des Dionysios werden ohne Angabe des Autors zitiert. Inhaltliche Anmerkungen aus Textausgaben und Übersetzungen, die im Quellenverzeichnis aufgeführt sind, werden der besseren Orientierung halber mit Kurztitel zitiert. Übernommene Übersetzungen sind gekennzeichnet. So etwa Radermacher (1903), 966-7: „Dass es im Altertum scharfsinnigere und gewissenhaftere Gelehrte gegeben hat als D., ist ja einzuräumen, aber dass er das gute Mittelmass darstellt, … dafür gibt es genug Anzeichen.“ Ebd. 970: „Er selbst schreibt in grossen Perioden ein zweifellos elegantes Griechisch, freilich in völliger Unfähigkeit, sich kurz zu fassen. Dennoch ist das wegwerfende Urteil, mit dem man wohl heute über ihn weggeht, übertrieben und unbillig.“ Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Caecilius von Kale Akte sei Dionysios hinsichtlich von „Echtheitsfragen“ sogar der „κριτικώτερος“, vgl. ebd. 971. Vgl. auch Blass (1865).
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Einleitung
Artikel von Eduard Schwartz für lange Zeit zur opinio communis und kann als grundlegend für die Verrisse gelten, die Dionysios’ Werk in der Folge erfuhr.4 Die ältere Forschung fasste die Rhetorik zur Zeit des Dionysios als eine formal-ästhetische Lehre auf. Grundannahme der Kritik an der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ ist daher, dass für ihre Vertreter reale Ereignisse, eben die historische Wirklichkeit, lediglich Mittel zum Zweck gewesen seien, erzählerische Fähigkeiten anzuwenden. Das Ergebnis ähnele meist einem „Colportage-Roman“, die Erzählung sei nicht historisch, sondern im besten Falle historisierend.5 Die wahrheitsgemäße Wiedergabe historischer Ereignisse sei zudem speziell bei Dionysios schon an der Auswahl des Stoffes, einer nicht mehr rational erforschbaren, weit entfernten und in großen Teilen allein in mythologischen Überlieferungen existierenden Vergangenheit, gescheitert.6 So befasste sich die Kritik der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ vorwiegend mit dem Aufzeigen historischer Fehler und Ungenauigkeiten in den Antiquitates, die als Folgen des Einflusses der Rhetorik und, besonders im Falle der Kritik von E. Schwartz, der schieren intellektuellen Unzulänglichkeit des Dionysios dargestellt wurden.7 Auch seine Rolle als Überlieferer älterer Traditionen sah man vorwiegend kritisch. Allgemein zweifelte man offen an, dass es sich um mehr als Überlieferungen aus zweiter Hand handelte, die man zudem ebenfalls als durch seine rhetorische Arbeitsweise korrumpiert ansah.8 Zugleich stellte man der „rhetorischen“ eine idealisierte „staatsmännische Geschichtsschreibung“ gegenüber, die tatsächlich zu einer wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe der Ereignisse in der Lage gewesen sei und hieraus ihren Anspruch habe schöpfen können, nützlich zu sein. Im Sinne dieser Ablehnung der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ er4 5
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Vgl. Liers (1886), 3; Schwartz (1903). Dass auch das Geschichtswerk des Dionysios zuvor noch nicht derartig negativ gesehen wurde, hat Delcourt (2005), 11 betont. Vgl. Liers (1886), 2; Schwartz (1903), 934: Das Werk sei ein Beispiel der „rhetorischen Geschichtsschreibung“, der der historische Stoff lediglich als „Objekt, an welchem die Kunst gezeigt“ werde, diene. Halbfas (1910), 8-9: „Man ist schließlich soweit, daß der Inhalt lediglich als die zu formende Materie betrachtet wird, also dieselbe Funktion erfüllt wie der Marmorblock des Bildhauers.“ Vgl. Schwartz (1903), 936. Ders. bezeichnet Dionysios ebd. 934 etwa als „kleine Seele“, die in Rom eine „obscure Existenz“ geführt habe. Dass er nicht verstanden habe, weshalb – nämlich auf Grund mangelnder Quellen von historischem Wert – die frühe Überlieferung so knapp gehalten sei, beruhe auf seinem „Unverständnis“, vgl. ebd. 935-6. Ebd. 936: „Alles in einem ist die ‚römische Archäologie‘ … ein genauer Commentar zu seinen theoretischen Ausführungen über Historiographie, … [der] bestätigt, dass D. von dem, was die antike Historiographie wollte und konnte, auch nicht die ersten Elemente begriffen hat.“ Generell sei auch dort, wo er sich „Mühe“ gegeben habe, seine „schriftstellerische Unfähigkeit“ festzustellen. Im Umgang mit den annalistischen Quellen habe er „leider“ selbst nachgedacht. Allenthalben zeige sich seine „philisterhafte, abstracte, unplastische Allerweltsweisheit“ (958), auch für den römischen Antiquarismus habe der „pedantische Graeculus“ keinerlei Verständnis aufbringen können (ebd.). Sein Verhalten den Römern gegenüber sei von Opportunismus geprägt, er habe verstanden, dass es „vorteilhaft sei, gegenüber illoyaler Opposition das Lob der Römer als der echten Vertreter des Hellenismus zu singen.“ (959). Vgl. ebd., 940. Die Quellenforschung wurde dennoch weiter betrieben, vgl. Klotz (1938); Pabst (1969).
Einleitung
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teilten die älteren Kritiker des Dionysios auch seinem explizit formulierten Anspruch auf historische Wahrheit, auf ἀλήθεια, eine allgemeine Absage. Sie sahen hierin einen Gemeinplatz, eine „Münze, die sich sehr gut ausgab.“9 Dionysios’ moderne Verteidiger zahlen diesen Vorwurf gern mit einer heute umläufigen heim, der Kritik des „Positivismus“, recht allgemein verstanden als die Grundhaltung einer Wissenschaft, die ohne Reflexion ihrer eigenen Erkenntnismöglichkeiten und -voraussetzungen davon ausgehe, selbst eine tatsächliche Rekonstruktion historischer Wirklichkeit vornehmen zu können, und die in einem antiken Historiographen zugleich einen Historiker modernen Zuschnitts oder immerhin einen zuverlässigen Chronisten der Ereignisse erwarte.10 Generell wird in den neueren Beiträgen verstärkt der funktionale Charakter der Rhetorik betont, die eben nicht allein als eine ästhetisierende Sammlung formaler Konventionen und inhaltlicher Gemeinplätze angesehen, sondern vor dem Hintergrund ihrer klassischen Zielsetzung, der Überzeugung, und der dazu verwendeten Mittel betrachtet, aber zum Teil auch als eine allgemeingültige Theorie der sprachlichen Kommunikation aufgefasst wird. Tatsächlich finden so auch diejenigen Interpretationen, die vordergründig eine Kritik des Positivismus und das Vorhaben einer Rehabilitierung der Rhetorik teilen, unterschiedlichen Ausdruck. Zum einen sind hier die eher gemäßigten Ansätze zu nennen, die versuchen, Dionysios im Rahmen der antiken Tradition der Historiographie zu interpretieren und den starren Gegensatz zwischen der „rhetorischen“ und der „wahren“ Geschichtsschreibung aufzubrechen. Clemence Schultze etwa hat in mehreren Beiträgen die Bedeutung der klassischen Elemente historischer Methode bei Dionysios, insbesondere kritischer Verfahren, betont, und sie als grundlegend für sein historisches Wahrheitsverständnis angesehen. 11 Eine vergleichbare Position vertritt auch Anouk Delcourt.12 Grundsätzlich stimmen diese Ansätze mit der Auffassung Gabbas überein, wonach Rhetorik, verstanden durchaus als die antike Kunst, prinzipiell Bestandteil jeder antiken Historiographie sei, und sich Dionysios im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit von anderen Historiographen kaum unterscheide. So gebe es „always a presumption of prior critical work to establish the veracity of data. The expansion of the historical narrative is no rhetorical fraud“.13 Die Ansicht, dass die Rhetorik ein allgemeines Struktur- und Organisationsprinzip sei, das letztlich auf jede Textgattung anzuwenden ist – gemeint sind hier vor allem die grundlegenden Aufgaben der inventio, dispositio und elocutio –, geht dabei mitunter auch in die Auffassung über, dass eine Ausgestaltung des Materials als legitim angesehen werden müsse, solange die Rhetorik eben als Kunst der Überzeugung, nicht als Kunst der Überredung dient.14 9 10 11 12 13 14
Vgl. Halbfas (1910), 35. Vgl. etwa Delcourt (2005), 11; Wiater (2011a), 165. Vgl. Schultze (2000), passim sowie dies. (1986), 126. Vgl. Delcourt (2005), 60-1. Gabba (1991), 74. Vereinfacht ist der Gegensatz von Überreden und Überzeugen der zwischen der platonischsokratischen und der aristotelischen Auffassung der Rhetorik. Die platonische Überlieferung stellt bekanntermaßen die Kritik der Rhetorik als einen der zentralen Punkte der Auseinander-
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Einleitung
Neben diesen Interpretationen stehen Haltungen, die mit der Ablehnung des angeblichen Positivismus zugleich eine Ablehnung objektiver, d.h. an die realen historischen Ereignisse gebundener Wahrheitsvorstellungen überhaupt ins Spiel bringen. Grundlegende Beiträge zu dieser Problematik hat in der modernen Auseinandersetzung mit Dionysios Matthew Fox geleistet. Fox selbst bekennt sich zu einem „relativistischen Wahrheitsbegriff“: Wahrheit sei „relative to the time in which it appears“ und kein Ausdruck einer „objective reality“.15 Er bezieht sich auf die Diskussionen der 70er und 80er Jahre, die unter dem Label des „linguistic turn“ und sogenannter postmoderner Theorien unter anderem durch die Arbeiten Hayden Whites, vor allem durch dessen Werk „Metahistory“, angestoßen worden sind.16 Die Grundthese der „Metahistory“, dass der Gegenstand von Historie stets die „historical imagination“ sei, und dass erst die narrative Repräsentation den eigentlichen Sinn der Geschichte schaffe, lässt sich prinzipiell auf jede Form von Historiographie anwenden und hat zu entsprechend kontroversen Diskussionen geführt. Fox allerdings sieht nicht nur in Dionysios’ Geschichtswerk selbst ein Beispiel für die Richtigkeit dieser These, sondern bei Dionysios zugleich ein gewisses Bewusstsein dafür, dass Historiographie an sich derartig beschaffen sei: Dionysius supports the contention that patterns of historical explanation derive from the historian in his linguistic and social context, rather than directly from the material. His emphasis upon the effect of the historical work, and the contribution of the historians’ political aims, can be thought of as an awareness that history can never simply neutrally reflect the facts, and in this, he resembles modern historical thinking.17
Generell muss man festhalten, dass das von Fox bei Dionysios bemerkte Bewusstsein dafür, dass Geschichte die Fakten nicht neutral wiedergeben kann und dem Autor eine zentrale Rolle zukommt, als ein allgemeines Charakteristikum der antiken Historiographie anzusehen ist. Das macht sie, wie J. Marincola richtig bemerkt, ihrerseits zwar relativ immun gegen die pauschalen Attacken der „Metahistory“ und ihren zentralen Vorwurf, dass Historiker die Problematiken der Wahrnehmung und Vermittlung unzureichend berücksichtigen würden, bedeutet gleichzeitig aber nicht setzung des Sokrates mit den Lehren der Sophisten dar. Grob vereinfacht sind es die Ermangelung eines realen Gegenstandes, ob abstrakt oder konkret, und der allgemeine Relativismus der rhetorischen Argumentation, die im Zentrum der Kritik des Sokrates an Gorgias stehen und dazu führen, dass die sophistische Rhetorik hier als eine Lehre der reinen Überredung entlarvt wird, die den Glauben an Dinge bewirken könne, der das Falsche einschließe, nicht das Wissen über sie, das stets das Wahre zum Gegenstand habe, vgl. Plat. Gorg. insb. 453b-455. In der aristotelischen Schrift über die Rhetorik wird das πείθειν, das Überreden, zu einem Überzeugen, die Rhetorik als die Lehre von der Beschaffenheit der Argumentation an sich zu einer τέχνη, die der Dialektik nicht mehr entgegen-, sondern gegenübergestellt wird, vgl. Arist. Rhet. 1354a-1355b. Verbunden wird diese Umwertung der platonisch-sokratischen Terminologie mit der Forderung, dass die Rhetorik der Wahrheit dienen müsse: Erst durch die kunstgerechte Argumentation werde der Wahrheit zu ihren Recht verholfen; umgekehrt ist nichts stärker als die wahrheitsgemäße Argumentation. Der Wahrheit wohnt die Struktur ihrer kunstgerechten Vermittlung sozusagen inne, vgl. ebd. 1355a. 15 Vgl. Fox (1996), 32. 16 Vgl. dens. (1993), 34-6; dens. 2001; White (1973). 17 Fox (2001), 47.
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notwendig, dass hier eine ähnliche erkenntnistheoretische und ontologische Positionierung vorliegt wie bei den Vertretern der postmodernen Theorien, sich also eine Verschiebung des ‚Ortes der Wahrheit‘ von der Ebene der historischen Wirklichkeit auf die der Repräsentation ausmachen ließe.18 18 Vgl. Marincola (2007), 27 mit Hinweisen auf Kritiker Whites; für weitere vgl. Wiater (2011a), 123, Anm. 343. Bis heute wird – nicht zuletzt zurückzuführen auf Heideggers Diskussion des griechischen Wahrheitsbegriffs – die Annahme vertreten, für die Antike sei prinzipiell von einem Konzept „ontologischer Wahrheit“ auszugehen, das Wahrheit grundsätzlich als Eigenschaft des Seins auffasse, sei es die sinnlich wahrnehmbare Realität oder eine angenommene andere Ebene der Wirklichkeit. Diese Grundannahme steht im impliziten Widerspruch zu den Vorstellungen einer Wahrheit allein auf der Ebene der Repräsentation, also als Inhalt von Aussagen oder Wahrnehmungen, die keinerlei Bezug zur Wirklichkeit hat. Zu Heideggers Deutung des antiken Wahrheitsbegriffes, die stark von der Etymologie des Begriffes ἀλήθεια geleitet ist, vgl. Heidegger (1967), 214-226. Besonders einflussreich für die Altertumswissenschaften hat sich für eine solche ontologische Wahrheit und damit gegen eine Trennung der Bereiche des „Subjektiven“ und des „Objektiven“ als zu unterscheidender Wahrheitsorte Wilhelm Luther (1958), 84-98 gewandt. Die Sache, ihre Bezeichnung und ihre Wahrnehmung seien als spezifischer Ausdruck des griechischen λόγος-Begriffs als Einheit zu sehen, „in der die Dinge und ihre Bezeichnungen noch in einem untrennbaren Wirkenszusammenhang stehen, in der sie eine geschlossene, umfassende Wirklichkeit bilden“. Zwischen „Wahrheit“ als Eigenschaft der Aussage und „Wirklichkeit“ als Realität zu unterscheiden, sei grundsätzlich für die Griechen nicht möglich gewesen (75-8, Zitat 78). Als allgemein unfruchtbar sieht Szaif (2005), 1-2 die etymologischen Diskussionen an. Er schließt sich Luthers Ablehnung der Subjekt-Objekt-Spaltung und der Auffassung eines grundsätzlich ontologischen Wahrheitsbegriffs in der griechischen Antike dennoch an. In seiner auf Aussagenwahrheit ausgerichteten Untersuchung spricht er daher für die Antike von einer „Übereinstimmungstheorie“ der Wahrheit, die im Unterschied zu modernen Theorien propositionaler Wahrheit niemals die Aussage allein als Wahrheitsträger ansehe, sondern eben immer ein Übereinstimmungskriterium in der Realität erfordere, passim, v.a. 1-2; 9-14. Gegen die Annahme einer durch die Sprache unumstößlich festgeschriebenen Vorstellung eines ontologischen Wahrheitsbegriffes hat Snell (1978), 91-104 passim, insb. 103-4 sich in einer ebenfalls etymologischen Studie gewandt, die eine Entwicklung des griechischen Wahrheitsbegriffes von einer subjektiven in Richtung einer objektiven Auffassung beschreibt. Einen prinzipiellen Vorrang des Subjektbegriffes hat in diesem Zusammenhang bereits Jens (1951) konstatiert. Von dieser Grundproblematik ist auch die Diskussion über potenziell relativistische Positionen gekennzeichnet, die unterschiedliche, mitunter subjektive Wahrheitsbedingungen annehmen. Ein naheliegendes Beispiel dafür sind die Interpretationen des Homo-Mensura-Satzes des Protagoras, vgl. DK 80 B1 = Schirren/Zinsmaier 6 = Sext. Emp. AM 7,60; Plat. Theait. 151e; 152a. Zur Einordnung des Homo-Mensura-Satzes, den Platon verspottet – vgl. Plat. Theait. 161c –, ist viel gesagt worden. Einen Überblick über die Stoßrichtungen der antiken Kritik bei Platon, Aristoteles und Sextus Empiricus bietet Meister (2010), 46-51. Heidegger hat auch in diesem Zusammenhang gegen die Möglichkeit eines Subjektivismus im antiken Denken argumentiert, vgl. Heidegger (1963), 94-7, und die überlieferten antiken Interpretationen des Satzes bezeugen die Auffassung, dass er notwendig in die Aporie führen müsse. In der jüngeren Forschung finden sich einerseits Deutungen, die in der protagoreischen Aussage einen Relativismus bzw. Subjektivismus als Ausdruck einer allgemeinen erkenntnistheoretischen Skepsis sehen. Taureck (1995), 144 argumentiert in diesem Sinne gegen Heidegger, der Subjektivismus „als Überschreitung des Menschen hinsichtlich des Existierenden zugunsten intersubjektiv zur Deckung kommenden Annahmen über das, was bloß vorgestellt wird“ definiere und so begründe, „daß Protagoras keinen Subjektivismus vertritt, weil er sich mit dem ‚métron‘ auf das beschränkt, was für das griechische Denken als feste
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Einleitung
Ausgehend von der Beobachtung, dass Dionysios eine hochgradig formalisierte, idealisierende Darstellung der Geschichte fordert und vornimmt, stellt sich vor dem Hintergrund der hier angesprochenen Diskussionen die Frage auch nach den inhaltlichen Kriterien der Idealisierung, die über die bloßen rhetorischen Grundforderungen der Glaubwürdigkeit und Überzeugungsfähigkeit hinausgehen. Die bei Fox abstrakt bezeichneten moralischen und politischen Zielsetzungen hat Nicolas Wiater genauer untersucht. Er deutet die Antiquitates als Ausdruck einer „ideology of classicism“.19 Wiater beruft sich in seiner Interpretation des Dionysios auf den Ideologiebegriff Paul Ricœurs und betont die identitätsstiftende Funktion für verschiedene Gruppen der Gesellschaft.20 Wiater überträgt dabei das Konzept des ‚kollektiven‘ bzw. ‚kulturellen Gedächtnisses‘ auf eine elitäre Gruppe von Adressaten: Die „ideology of classicism“ sieht er als auf dem Kern zentraler klassischer Ideale beruhend, deren Vermittlung an Interessenten aus der vor allem römischen Oberschicht das Ziel des Bildungsprogramms des Dionysios, seiner παιδεία, sei.21 Die Historiographie deutet Wiater in diesem Zusammenhang als ein Mittel zur Reproduktion dieser Ideologie in vielfältiger Weise.22 Auch er sieht dabei Parallelen zu Gedanken der „Metahistory“ und einen historischen Wahrheitsbegriff,
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Größe vorgegeben ist, nämlich Sein als Wahrheit.“ Protagoras gehe es aber um den Hinweis auf die „Willkür und Instabilität leibgebundener Erkenntnisschaffung“. Röd (1998), 79‒83 sieht den erkenntnistheoretischen Relativismus bei Protagoras auch auf andere Bereiche als den der Wahrnehmung übertragen und attestiert so allgemein eine Abkehr vom geläufigen Wahrheitsbegriff, dem die „Korrespondenz von Beurteiltem und Urteil“ zu Grunde liege, und stattdessen „eine allgemein akzeptierte Meinung“ als Kriterium, vgl. ebd. 80. Im Gegensatz zu diesen Interpretationen, die eine Betonung der Rolle des Subjektes und zugleich seiner Fehlbarkeit im Prozess der Erkenntnis annehmen, stehen Deutungen, die davon ausgehen, dass der Satz gerade als Polemik gegen diejenigen Lehren zu sehen sei, die zwar eine ontologische Wahrheit angenommen, aber ihre Erkenntnis durch die sinnliche Wahrnehmung zu Gunsten rationalistischer Erkenntniskonzepte abgelehnt haben, etwa Parmenides und die Eleaten. K. v. Fritz (1971), 222 hat in diesem Sinne allgemein den Bezug des Satzes auf die „Menschenwelt“ hervorgehoben: „Dieser Satz … richtet sich primär gegen alle jene philosophischen und wissenschaftlichen Welterklärungen, nach denen die Welt ganz anders ist als ,die Menschen‘ glauben, daß sie sei, und als sie ihnen erscheint.“ So auch Meister (2010), 48. Weniger die Frage danach, ob der Mensch als Maß in seiner Fallibilität betont oder aber rehabilitiert werden soll, heben Schirren – Zinsmaier (2003), 18 hervor. Sie sehen die zentrale Aussage in der Forderung, den Menschen stets als „Situationskonstitutivum“ seiner Lebenswirklichkeit anzuerkennen. Jenseits der philosophischen Diskussion ist die starke Rolle des Subjektes des Geschichtsschreibers und seiner persönlichen Autorität wiederholt betont worden, mitunter auch im Sinne einer „subjektivistischen“ Geschichtsauffassung, vgl. Jens (1951) 243–4; Betonung der auctoritas bei Marincola (1997); für die römische Historiographie Heldmann (2011). Vgl. Wiater (2011a). Diesen Begriff hat Wiater mit seiner Monographie geprägt, allerdings findet sich ein Anklang bereits in Goudriaans und Hidbers Bezeichnung des Proöms von De oratoribus veteribus als „Manifest“, vgl. Hidber, Manifest; Goudriaan (1989), 566: „Het atticistisch manifest“. Vgl. Wiater (2011a), 21-2. Wiater bezieht sich auf Ricœur (1978). Vgl. Wiater (2011a), passim. Vgl. ebd. und dens. (2011b), wo die Appellfunktion an griechische Adressaten im Mittelpunkt steht.
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der nicht auf den historischen Tatsachen selbst beruhe, sondern eine formal anerkannte Repräsentation der Inhalte verlange.23 Einen wesentlichen Beitrag für die Bewertung der Inhalte der historischen Ideale des Klassizismus des Dionysios hat Koen Goudriaan geleistet.24 Goudriaan legt umfassend die Zusammenhänge dar, die zwischen der historischen Zielsetzung und dem kulturellen und politischen Bildungsprogramm bestehen. Er hat ebenfalls einen gewissen Relativismus des „rhetorisch-moralischen“ Wahrheitsanspruches bei Dionysios betont.25 Allerdings geben gerade die von Goudriaan herausgearbeiteten Bezüge zu verschiedenen Theorien antiker Idealstaaten und einigermaßen konkreten Vorstellungen über Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Gesellschaft zu der Frage Anlass, inwiefern Dionysios’ scheinbar äußerliche und auf einen äußerlichen Nutzen ausgerichtete Idealisierung der Geschichte einer antiken Variante ‚historischer Ideale‘ folgt, in denen sich der Bezug auf eine andere ontologische „Wirklichkeitsschicht“ ausmachen lässt,26 oder ob die Idealisierung als Ausdruck bestimmter Abstraktionen des Historischen zu sehen ist, die prinzipiell auf der Ebene des „Real-Wirkliche[n]“27 angesiedelt sind, aber im Dienste der Erkenntnis angenommener ‚tieferer‘ bzw. ‚allgemeiner Wahrheiten‘ gerade eine Entfernung der Darstellung von der konkreten Ereignisebene zur Folge haben. Diese Diskussionen führen somit beinahe zwangsläufig zu der Frage, was Geschichte zu Geschichte macht, was überhaupt als historische Wahrheit zu gelten hat, ob sie eine objektive, eindeutig feststell- und vermittelbare Größe ist oder vielmehr eine Frage gesellschaftlicher und sprachlicher bzw., ausgehend von modernen Auffassungen des Begriffs, nicht zuletzt ‚rhetorisch‘ vermittelter Konventionen. Die Auseinandersetzungen über das Werk des Dionysios, seine literarischen und historiographischen Methoden und über die Rolle der Rhetorik für seine Historiographie spiegeln also zentrale Fragen der historischen und allgemein geisteswissenschaftlichen Theorie wider – mitunter stärker, als es in manchen Beiträgen expliziert wird, während andere dazu neigen, Dionysios vielleicht eine zu große Bedeutung für die Diskussionen unserer Zeit zuzumessen. ii) Ziele und Vorgehensweise der vorliegenden Studie Grundsätzlich bieten sich zwei Wege an, das Verhältnis von rhetorischer Theorie und Geschichtsschreibung und seine Auswirkungen auf das Konzept historischer Wahrheit bei Dionysios zu untersuchen. Der erste Ansatz fasst die Antiquitates dabei als einen Text mit einem feststehenden Überzeugungsziel (der Gräzität der Römer) auf und geht implizit davon aus, dass die rhetorischen Mittel eben der Überzeugung des Publikums von dieser These dienen. Der andere gangbare Weg ist es, 23 24 25 26
Vgl. Wiater (2011a), 121-30; 154-164. Vgl. Goudriaan (1989), 263-433. Vgl. ebd. 286; 279; 290. Der Begriff findet sich bei Szaif (2005), 10-11, der in der platonischen Ontologie die Erscheinungen und die Ideen in verschiedenen „Wirklichkeitsschichten“ ausmacht. 27 Schadewaldt (1982), 99-100 bezeichnet das „Real-Wirkliche“ als den Bereich der Historie.
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in Dionysios’ Rhetorisierung des historischen Stoffes zunächst die Verfolgung auch solcher Ziele zu sehen, die nicht unmittelbar oder zumindest nicht allein den Überzeugungszielen untergeordnet sind, sondern eine spezifische Art von Nutzen entfalten sollen, der eher in der Natur der Geschichtsschreibung oder des Stoffes an sich zu finden ist. Der zweite Weg erscheint hier als der geeignete, da er nicht von vornherein ein bestimmtes Verhältnis von Rhetorik und Geschichtsschreibung annimmt, und im Rahmen einer hermeneutischen Untersuchung auch die bessere Grundlage für eine unvoreingenommene Diskussion der zahlreichen unterschiedlichen Forschungsansätze bietet. Die vorliegende Studie setzt sich mit der Frage auseinander, ob es für Dionysios so etwas wie historische (oder historiographische?) Wahrheit gegeben hat, wenn ja, worin diese besteht, mit welchen Zielsetzungen und Nutzenaspekten diese verbunden ist und welche methodischen Grundlagen Dionysios dafür annimmt – ausdrücklich nicht soll hier eine weitere begriffsanalytische Untersuchung der Wahrheitsterminologie eines antiken Historiographen oder eine Überprüfung der Faktizität einzelner historischer Tatsachenbehauptungen vorgenommen werden.28 Allgemein sollen hier solche Aussagen im Vordergrund stehen, in denen die Diskussion in ‚metanarrativen‘ Passagen vorgenommen wird, d.h. in solchen, die das Wesen der historischen Wahrheit beschreiben, und nicht in solchen, die wie prinzipiell auch in der Umgangssprache üblich, allgemein den Wahrheitsanspruch des Gesagten bzw. Geschriebenen unterstreichen sollen.29 Dionysios bietet durch die umfangreiche Überlieferung seines historiographischen und literaturkritisch-rhetorischen Werkes ein für die Antike einmaliges Bei28 Zur Verwendung des Begriffes ἀλήθεια und verwandter Formen bei Dionysios in den Antiquitates kann man grundsätzlich bemerken, dass sich unter den insgesamt mehr als 120 Belegen Hinweise auf die in dieser Studie im Hinblick auf ihren konzeptionellen Gehalt behandelten Aspekte finden lassen, die Verwendung in der Praxis im Einzelnen aber vordergründig nicht in auffälliger Weise von den Konventionen der antiken Historiographie abweicht, etwa in der grundsätzlichen Betonung des eigenen Anspruches, vgl. AR 1,1,2, oder der Unterscheidung von irrigen Auffassungen, vgl. 1,4,2 und 1,5,1 & 2. Vgl. zur Verwendung in der antiken Historiographie allgemein Marincola (2007). Konzeptionell wesentliche Bemerkungen finden sich bei Dionysios vor allem in seiner Behandlung des Neutralitätsanspruches als Wahrheitsbedingung in Verbindung mit der Aussage, dass die Historiographie die „Hohepriesterin der Wahrheit“ sein müsse (ἀληθείας … ἱέρειαν εἶναι τὴν ἱστορίαν), vgl. dazu De Thuc. 3. Dort findet sich auch die Bemerkung, dass die Erkenntnis der Wahrheit (ἡ τῆς ἀληθείας γνῶσις) höchstes Ziel der Philosophie sei, allerdings als Bestandteil der eigenen captatio benevolentiae und Rechtfertigung des kritischen Vorgehens. Wesentlich ist auch die Aussage darüber, dass für „den Historiker, der die Wahrheit nachahmen will“ (τῷ µιµεῖσθαι βουλοµένῳ συγγραφεῖ τὴν ἀλήθειαν) bestimmte Regeln zu befolgen seien (De Thuc. 45). 29 Vgl. zur Unterscheidung Marincola (2007), 27. Dass auch rein ‚narrative‘ Aspekte der Verwendung diskutiert werden müssen, wenn in ihnen konzeptionelle Auffassungen zum Ausdruck kommen, zeigt etwa die Diskussion über Abstufungen hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes bei Goudriaan (1989), die er aus der grammatikalischen Verwendung des Adjektivs ἀληθές, namentlich dessen Komparation, ableitet, vgl. 279; 286. Auch schließt er auf eine moralische Komponente u.a. aus der häufigen Verwendung im Zusammenhang mit Formen von δίκαιος, vgl. 286-7, als allgemeiner Anspruch bei Dionysios schon programmatisch formuliert in der Ablehnung ungerechter Auffassungen in AR 1,4,3.
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spiel, das es ermöglicht, zentrale Aspekte des Zusammenhanges dieser beiden Bereiche zu untersuchen. Eine erneute Untersuchung des Verhältnisses von Rhetorik und Historiographie bei Dionysios ist hierbei in der günstigen Lage, auf umfangreiche Studien aus der jüngeren Zeit zurückgreifen zu können, die Dionysios’ Rhetorik im Sinne eines umfassenden, auf der sprachlichen Bildung beruhenden, aber eben nicht auf einen rein literarischen Ästhetizismus ausgerichteten Programms interpretiert und dabei auch die umfangreichen Quellen, auf die Dionysios sich selbst gestützt hat, herausgearbeitet haben.30 Auf der anderen Seite bietet insbesondere die Studie Delcourts eine aktuelle Diskussion des explizit historischen Charakters der Antiquitates.31 Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten erscheint eine Diskussion des Wahrheitsbegriffes bei Dionysios wenn nicht als das große Desiderat, so doch zumindest als eine kleine Lücke im aktuellen Forschungsstand, den diese Arbeit zu schließen versucht.32 In ihrem Widerspruch zur älteren Forschung, die die „rhetorische Geschichtsschreibung“ als einen Ausdruck der Unfähigkeit bzw. bestenfalls einer déformation professionelle des Rhetoriklehrers Dionysios gesehen hat, bildet die aktuelle Diskussion dabei eine solide Basis für die hier vertretene Grundannahme, dass Dionysios eine durchaus bewusste und zweckmäßige Verwendung bestimmter Mittel zugestanden werden sollte. Um das Verhältnis von Dionysios’ rhetorischer Theorie zu seiner Geschichtsschreibung zu bestimmen, soll hier zunächst das Verhältnis der Disziplinen vor dem Hintergrund ihrer technischen bzw. methodischen Grundlagen abgesteckt werden, d.h., der tatsächliche Geltungs- und Wirkungsbereich formaler Anforderungen der Rhetorik im Bereich der historischen Darstellung ermittelt werden. Es soll also nicht davon ausgegangen werden, dass die Rhetorik als Formprinzip lediglich der Gestaltung diene. Umgekehrt soll nicht einfach angenommen werden, dass ein ‚Narrativ‘ so gut wie das andere sei und man problemlos auf alle dieselben Regeln anwenden könne, und dass man daher in jeder rhetorischen Anweisung prinzipiell einen passenden Interpretationsschlüssel für die Antiquitates findet. Wenn bei Cicero, dem ersten „Theoretiker und Historiker der Rhetorik“,33 Antonius darüber klagt, dass gerade für die Besonderheiten der Geschichtsschreibung die rhetorischen Lehrbücher noch zu wenig Anleitung böten,34 unterstreicht das, dass grundsätzlich durchaus Gattungsgrenzen wahrgenommen wurden, und die Geschichte eben nicht einfach ein ‚rhetorischer Text‘ im Sinne eines Ersatzes für das Reden ist. Dionysios jedenfalls formuliert mit seiner Kritik von Historiographen in der Epistula ad Pompeium und den Schriften über Thukydides explizite Aussagen dazu, wie Geschichte formal zu gestalten ist, und solche sollen, neben programmatischen Aussagen in den Antiquitates selbst, als die primären Quellen dienen, weiterführende Diskussionen aus anderen seiner Scripta rhetorica ebenso wie weitere Quellen unter dem gerade formulierten Vorbehalt herangezogen werden. Zum anderen 30 31 32 33 34
Vgl. v.a. Goudriaan (1989); De Jonge (2008); Wiater (2011a). Vgl. Delcourt (2005). Vgl. etwa Wiaters Rez. von Delcourt (2005) in Bryn Mawr Classical Review 2005.10.46. Hölkeskamp (2004a), 221. Vgl. Cic. De orat. 2,62.
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soll der besondere Charakter der dezidiert auf die Historiographie gemünzten Aussagen im Kontext der historiographischen Methodendiskussion erörtert werden, um entsprechende Eigenheiten ausmachen zu können. Hierbei sind vor allem Thukydides und Polybios als diejenigen zu nennen, an denen sich Dionysios besonders reibt und deren Beiträge zur Methode antiker Historiographie er gleichzeitig in seinem Sinne umzudeuten versucht. Neben der Untersuchung des explizit technisch-methodischen Verhältnisses der Disziplinen auf der Ebene von Anleitungen und Traditionen wird die Frage nach dem rhetorischen Charakter der Historiographie auf eine Diskussion darüber hinauslaufen müssen, inwiefern die allgemeinen Zielsetzungen der Rhetorik mit denen der Antiquitates übereinstimmen: Die modernen Erwägungen zum Verhältnis von Inhalt und Form sollen hier ebenso diskutiert werden wie die grundlegenden Ziele, die bereits in der Antike formuliert wurden, also die funktional-technischen Aspekte der Überredung und der Überzeugung, sowie die pädagogischen Zielsetzungen einer weiterreichenden politisch-moralischen Erziehung durch direkte Ansprache sowie Bildung durch die Erlangung sprachlicher Fähigkeiten ‒ sämtlich Facetten des Begriffes Rhetorik, die, wie bereits angerissen, in der Diskussion auftauchen. Die Studie gliedert sich in insgesamt vier thematische Teile, in denen diese Fragen erörtert werden sollen. Der erste Teil soll anhand der relevanten methodischen und theoretischen Darlegungen des Dionysios in den Scripta Rhetorica und den entsprechenden Passagen in den Antiquitates nachvollziehen, in welchem Verhältnis sie zur Tradition der antiken griechischen Historiographie stehen. Es soll dabei untersucht werden, ob Dionysios hier einen grundsätzlich empiristisch-methodenbasierten Wahrheitsbegriff vertritt, demgegenüber die Rhetorik die Funktion eines allgemeinen Struktur- und Organisationsprinzips einnimmt, oder aber, ob sich hier tatsächlich ein Übergewicht der auf das Überreden ausgerichteten Rhetorik zeigt. Der zweite Teil widmet sich der Frage danach, ob Dionysios in der Theorie selbst einen formalistisch-narrativistischen Wahrheitsbegriff vertritt. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Frage nach der Rolle bestimmter darstellerischer Ideale des Dionysios als Ausdruck von ihm angenommener historischer Ideale oder allgemeiner zu fassender historisch wirksamer Kräfte. Es soll untersucht werden, ob und wie Dionysios sie als begründet ansieht und auf welche Weise er die Historiographie als einen Weg der Darstellung der Wirkungsweise dieser Ideale nutzt. Der vierte und letzte Teil beschäftigt sich mit der Frage nach dem paradigmatischen Gehalt der Antiquitates. Es wird untersucht, inwiefern nicht nur der Wahrheits-, sondern, damit verbunden, auch der Nutzenanspruch ernst zu nehmen ist. Dabei wird das Verhältnis der Bildungsideale des Dionysios zu seiner Historiographie untersucht. Vor allem soll hierbei der inhaltliche und strukturelle Zusammenhang der Rhetorik und der Geschichte als explizit auf das Politische ausgerichteter Disziplinen diskutiert werden.
I DAS VERHÄLTNIS VON FORSCHUNGSMETHODE UND DARSTELLUNGSABSICHT Dieser erste Teil der Arbeit soll sich mit der Frage beschäftigen, welcher Zusammenhang bei Dionysios zwischen seinem Wahrheitsanspruch und seinen Anforderungen an das methodische Vorgehen besteht. Wesentlich ist hierbei die Klärung des Verhältnisses einer ‚historischen Methode‘ der Nachforschung zur auf die überzeugende bzw. ästhetische Darstellungsweise ausgerichteten ‚rhetorischen Theorie‘, die, wie eingangs ausgeführt, bald als notwendiger Bestandteil literarischen Arbeitens generell, bald als Wurzel allen Übels in der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ des Dionysios, oder aber auch als konstitutiv für jeden Sinn und jede Bedeutung überhaupt gesehen wird. Die oben angerissene Gegenüberstellung der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ des Dionysios und der „staatsmännischen Geschichtsschreibung“ etwa des Polybios oder Thukydides kann als Ausdruck einer Auffassung gelten, die die Entwicklung der antiken Historiographie prinzipiell im Zusammenhang mit bestimmten Epochen, die entweder als vorbildlich oder aber als Phasen der Dekadenz galten, ansah. In der jüngeren Historiographiegeschichte, namentlich der der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ergibt sich eine gewisse Dichotomisierung in der Perspektive auf die antike Historiographie vor allem durch die unterschiedliche Betonung der Bedingungen ihrer frühesten Entwicklung. Als wesentliches Charakteristikum der Geschichtsschreibung wird hier zum einen ihr kritisch-rationaler Charakter betont, der als Ausdruck einer allgemeinen Emanzipation der Vernunft gezeichnet wird, die sich auch in der Entwicklung der Philosophie und der „exakten Wissenschaften“ im 5. Jh. v.Chr. ausmachen lasse.1 Gleichzeitig finden sich aber auch diejenigen Stimmen, die das Erbe des Epos, die Bedeutung seiner Themen, Zielsetzungen, gesellschaftlichen Funktionen und darstellerischen Mittel für die Historiographie, betont haben.2 Allgemein tragen diese Untersuchungen zu einem Gesamtbild bei, in dem sich das Nebeneinander und das Zusammenwirken solcher Elemente zeigen, die die antike Historiographie eben zum einen als eine Form des Erzählens kennzeichnen, und zum anderen ihren Anspruch ausmachen, die traditionellen Überlieferungen und Erzählungen mit den Möglichkeiten des rationalen Verstandes zu kritisieren. Die antike Geschichtsschreibung sollte als eine Gattung angesehen werden, in der das Spannungsverhältnis von Mythos und Logos keinesfalls als einseitig aufgelöst gelten kann. Im Hinblick auf die Diskussion über Dionysios ist es auch bei der Frage nach der traditionellen Verortung seiner Historiographie Emilio Gabba, der darauf hingewiesen hat, dass die antike Diskussion im Verhältnis der beiden Archegeten, Herodot und Thukydides, nicht, wie es oftmals in den modernen Geschichten der 1 2
Vgl. insb. v. Fritz (1952) und dens. (1967). Vgl. Strasburger (1972).
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antiken Geschichtsschreibung der Fall ist, einen letzten, entscheidenden Schritt in der historischen Entwicklung der Gattung gesehen hat, sondern tatsächlich zwei einander gegenübergestellte Entwürfe davon, wie die Ziele und damit auch die Methoden der antiken Historiographie beschaffen zu sein haben.3 So ist der berühmte Ausspruch des Thukydides, sein Werk nicht für ein „einmaliges Hören“, sondern als „Besitz für immer“, als κτῆµὰ ἐς αἰεί, konzipiert zu haben4 – was meist als direkte Spitze gegen Herodot aufgefasst worden ist –, keinesfalls als ein Statement zu verstehen, hinter dessen methodische Implikationen von nun an kein Weg mehr zurückführte. Vielmehr berührt es den Kern einer Diskussion über Nutzen und Methode, die in der Antike stets aufs Neue – und durchaus auch weiter – geführt wurde. Dionysios selbst macht keinen Hehl daraus, dass für ihn die gattungshistorische Entwicklung der Geschichtsschreibung eben mit Herodot und Thukydides ihren Abschluss und vorläufigen Höhepunkt findet:5 Als Vertreter des klassischen Zeitalters, aus dem Dionysios selbst seine Inspiration schöpft, sind für ihn beide, wie wir im Folgenden sehen werden, schlicht aus unterschiedlichen Gründen auf unterschiedliche Weise mit den Möglichkeiten umgegangen, die die Historiographie einem Geschichtsschreiber zur Verfügung stellt. Die antike Historiographie ist also eine Gattung, die, im Ganzen betrachtet, gewisse konzeptionelle Widersprüche in sich vereint, die aus moderner Perspektive elementar erscheinen mögen, insbesondere dann, wenn man dazu neigt, Geschichte im akademischen Sinn als eine streng rationale Disziplin mit einer definierten Methode aufzufassen. Bei den antiken Autoren allerdings ist im Einzelnen durchaus ein Bewusstsein eben dafür auszumachen, wo sie sich selbst im hier beschriebenen Spannungsverhältnis verorten. Im Hinblick auf die formalen Kriterien, wie sie die antiken Vertreter formulieren, äußert sich das darin, dass es zum einen kaum möglich zu sein scheint, eine fest umrissene historiographische Methode, die für die gesamte Antike Gültigkeit besessen hätte, zu attestieren.6 Gleichzeitig aber gibt es ein relativ festes Repertoire von Selbstzuschreibungen und methodischen Behauptungen, die sich bei den meisten antiken Geschichtsschreibern finden, und die dem Anschluss an die Tradition des Genres allgemein ebenso dienen wie einer Abgrenzung von einzelnen Vorgängern. Die zentrale Wahrheitsbehauptung der Historiographie, die sie als Gattung definiert, steht so trotz aller Differenzierungen im Detail meist im Zusammenhang mit einigen wiederkehrenden Grundbehauptungen: Allgemein findet sich eine Betonung der Zielsetzung oder des Nutzens des Werkes, der nur durch eine wahrheitsgemäße Darstellung zu Stande kommen könne. In engem Zusammenhang damit steht die Betonung eines für die Erzeugung des Nutzens in besonderer Weise geeigneten Gegenstandes. Darüber hinaus findet sich meist eine Betonung der Eignung des Historiographen und seines guten Charakters (ἦθος), der ihn zu einem gewissenhaften und neutralen Schilderer der Ereignisse
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Vgl. Gabba (1991), 60-1. Vgl. Thuk. 1,22,4. Übersetzung nach Vretska – Rinner. Vgl. De Thuc. 5-6. Vgl. Marincola (1997), 286.
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mache.7 Diese Aussagen über den Gegenstand und die Person des Autors werden in unterschiedlichem Umfang um Aussagen zum im engeren Sinne methodischkritischen Umgang mit den eigenen Quellen und Zeugnissen ergänzt.8 Auch in diesen Punkten klingt also der beschriebene Doppelcharakter der Gattung an. Auch bei Dionysios bilden diese Elemente den Kern seiner methodischen Forderungen und Selbstzuschreibungen, und auch er deutet sie ganz in seinem eigenen Sinne, besonders im Proöm der Antiquitates.9 Diese Aussagen werden im Folgenden im Mittelpunkt einer einführenden Diskussion stehen, neben denjenigen, die Dionysios in seiner Epistula ad Pompeium im Vergleich der Qualitäten mehrerer Historiographen und in seiner Kritik an Thukydides (De Thucydide) tätigt. Dabei wird die Frage nach dem Verhältnis dieser Aussagen zur historiographischen Diskussion der Antike ebenso eine Rolle spielen wie die Frage nach dem Verhältnis der explizit auf die Historiographie bezogenen Anforderungen – dem Katalog der zentralen ἔργα des Historiographen und einigen nicht gesondert überschriebenen weiteren Anforderungen – zu denjenigen, die Dionysios an Literatur im Allgemeinen oder Rhetorik, verstanden hier im engeren Sinne als die antike τέχνη, im Besonderen stellt. Die Untersuchung des Verhältnisses rhetorischer Theorie und historischer Methode soll dabei vor dem Hintergrund der hier formulierten Grundannahmen erfolgen. Ziel ist es also weder, Dionysios als Historiker zu bewerten oder als Literaten (ab-) zu qualifizieren, noch die antike Historiographie vereinfacht als ein Narrativ mit ausschließlich formalen, darstellerisch-kompositorischen Regeln zu begreifen. Vielmehr soll nachvollzogen werden, in welchem Sinne Dionysios den Kanon der üblichen Selbstzuschreibungen in seinen eigenen methodischen Aussagen interpretiert und ob sich hier tatsächlich ein so eindeutiger Vorrang der funktionalen Aspekte der Überzeugung und Darstellung vor den kritisch-rationalen Aspekten der Historiographie zeigt, wie oftmals angenommen.
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Earl (1972), 852-3 weist darauf hin, dass die zentralen Elemente „the subject, its importance and its implications“ auf die einleitenden Verse der Ilias und der Odyssee zurückgehen. Umfangreiche Belege zu den Bereichen im Einzelnen für beinahe die gesamte antike Historiographie finden sich bei Marincola (1997), passim. Für die Aspekte, die i.d.R. stärker mit der kritisch-rationalen Leistung des Historiographen in Verbindung gebracht werden, vgl. auch dens. (2007), 20-1 zum Zusammenhang von Charakter und Neutralität; 24-5 mit Belegen und Literatur zur ἀκρίβεια; 19 zur Autopsie und zur ἐµπειρία; 22-3 zum Rationalismus. Zur historischen Autopsie vgl. außerdem Chávez Reino (2007); zur ἀκρίβεια vgl. Fantasia (2007). Vgl. dazu Schultze (2000), 7: „Dionysius’ preface … reveals how his authority rests at once upon his predecessors and upon himself.“ Bzw. ebd., 12: „This preface … is a remarkably complex piece of writing, intricately structured, creative in its reworkings and reorderings of the prefatory conventions of ancient historiography, ingenious in its verbal pattering and literary allusion and rich in content as Dionysius positions himself within the historiographical tradition“. Eine Betonung des freien Umgangs mit der Form des historiographischen Proöms findet sich auch bei Gabba (1991), 190.
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1 DIE ΕΡΓΑ: DIONYSIOS’ ZENTRALE ANFORDERUNGEN AN HISTORIOGRAPHIE Das historiographische Proöm (προοίµιον bzw. praefatio) hat sich im Laufe der Zeit zu einer Form mit eigenen Regeln entwickelt.10 Dementsprechend alt ist auch die Tradition antiker und moderner Literatur, die sich hiermit beschäftigt hat, die antiken Vertreter vorwiegend mit kompositorischen Anleitungen, die modernen mit Interpretationen, die häufig die stetig wiederkehrenden Elemente, dem formalen Interesse geschuldet, als „Topoi“ der historiographischen Proömien herausgearbeitet haben.11 Tatsächlich handelt es sich allerdings kaum um reine Gemeinplätze, die am Anfang eines historiographischen Werkes aufgezählt werden müssen, sondern oftmals um tatsächlich zentrale methodische Aussagen, die dem Leser ankündigen, was er zu erwarten hat. Dass bei Dionysios ein durchaus strukturiertes Konzept davon vorliegt, wie Historiographie auszusehen hat, wird schon daraus ersichtlich, dass er die Aufgaben des Historiographen nicht nur in seinem Proöm, das zu den umfangreichsten der antiken Geschichtsschreibung überhaupt gehört, sondern auch im Rahmen seiner Kritiken an anderen Schriftstellern systematisch erörtert. In seiner Epistula ad Pompeium zählt Dionysios als πραγµατικοὶ τόποι die fünf seines Erachtens zentralen Aufgaben (ἔργα) auf. Es handelt sich hierbei zunächst um die Auswahl des Gegenstandes (ὑπόθεσιν ἐκλέξασθαι καλὴν καὶ κεχαρισµένην τοῖς ἀναγνωσοµένοις), die Auswahl eines Anfangs- und Endpunktes (πόθεν τε ἄρξασθαι καὶ µέχρι τοῦ προελθεῖν δεῖ), die Entscheidung, welche Ereignisse behandelt werden sollen und welche nicht (τίνα τε δεῖ παραλαβεῖν … πράγµατα καὶ τίνα παραλιπεῖν), die Anordnung des Stoffes (διελέσθαι τε καὶ τάξαι τῶν δηλουµένων ἕκαστον ἐν ᾧ δεῖ τόπῳ) und die Haltung des Historiographen gegenüber seinen Gegenständen (διάθεσις πρὸς τὰ πράγµατα bzw. ἦθος).12 Obwohl sämtliche dieser ἔργα als mehr oder weniger allgemeingültige Aussagen über die Anforderungen an Historiographie beziehungsweise an Literatur überhaupt angesehen werden können, zeigen sich bei zweien, der ὑπόθεσις und der διάθεσις/dem ἦθος, die spezifischen Anforderungen des Dionysios besonders deutlich. Diese beiden ἔργα, denen er auch in seinen Kritiken nicht-historiographischer 10 Vgl. Earl (1972). 11 Das wohl bekannteste Beispiel ist das Kapitel Lukians in De hist. conscr. 53; eine kurze Anleitung zum Verfassen von Proömien findet sich auch in der anonymen De historia (Rhetores latini minores ed. Halm 588-9). Die moderne Sichtweise zeigt sich schon in den Titeln einiger Arbeiten, vgl. pars pro toto Herkommen (1968). Dionysios gliedert alle seine Kritiken systematisch in λεκτικοί und πραγµατικοὶ τόποι. Bei den λεκτικοὶ τόποι handelt es sich im Allgemeinen um Aspekte der Sprache und des Stils, während sich die πραγµατικοὶ τόποι mit Fragen der Stoffauswahl und Materialanordnung beschäftigen. Beide dieser Bereiche werden hinsichtlich der behandelten Redner, Dichter und Historiographen abgearbeitet. Ein Unterschied, der dabei besonders ins Auge fällt, ist, dass Dionysios im Falle der Historiographenkritiken, anders als bei den Rednern, mit der Behandlung der πραγµατικοὶ τόποι beginnt. Das hängt offensichtlich damit zusammen, dass Dionysios diesen Aspekten im Falle der Historiographie eine besondere Bedeutung beimisst, vgl. Sacks (1983), 80. 12 Vgl. Ep. ad Pomp. 3,2; 8; 11; 13; 15.
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Autoren große Aufmerksamkeit widmet, stellen eine direkte Schnittstelle zwischen seinem historiographischen und dem rhetorisch-kritischen Arbeiten dar. Sie bilden gewissermaßen die Leitmotive des Proöms, mit denen sich Dionysios im Sinne seiner eigenen Zielsetzungen von den traditionellen methodischen Aussagen über Historiographie abgrenzt. 1.1 Die ὑπόθεσις des Geschichtswerkes und der Nutzen der Geschichtsschreibung Grundsätzlich liegt auf der Hand, dass der Gegenstand eines Werkes für dessen Wirkung elementar ist. Die amplificatio des eigenen Themas ist Gemeingut auch der historiographischen Tradition. Damit ist die ὑπόθεσις grundsätzlich etwas, wovon überzeugt werden muss, und etwas, das selbst eine überzeugende Wirkung entfalten kann, sowohl durch seine tatsächliche Beschaffenheit, als auch durch die Form seiner Darstellung. Im Hinblick auf die hier leitende Frage nach dem Verhältnis von Darstellungs- und Überzeugungsabsicht zur forschenden Methode des Historikers soll zunächst erst einmal einführend erörtert werden, inwiefern der Gegenstand von Dionysios tatsächlich als beliebig zu formende Materie angesehen wird, oder er aber – als anderes Extrem – annimmt, dass der Gegenstand für sich selbst spreche. Dafür bietet sich eine kurze Betrachtung derjenigen Passagen an, in denen Dionysios explizit den Nutzen des Gegenstandes allgemein und auch bei anderen Autoren beschreibt bzw. in denen er sich bewusst von der Tradition abgrenzt, da sich hierin, zumindest wenn man seinen Anspruch denn ernst nimmt, eine gewisse Positionierung im besagten Spannungsfeld zeigen müsste. Dionysios nennt in seinem Proöm die Auswahl von „schönen und erhabenen Gegenständen, die für die Leser von großem Nutzen sind“ (ὑποθέσεις … καλὰς καὶ µεγαλοπρεπεῖς καὶ πολλὴν ὠφέλειαν τοῖς ἀναγνωσοµένοις φερούσας), als eine der zentralen Aufgaben des Historiographen.13 Dass seine eigene ὑπόθεσις diesen Anforderungen gerecht wird, müsse jedem klar sein, der sich bereits mit Universalgeschichte (κοινὴ ἱστορία) auseinandergesetzt hat.14 Auch in seiner Aufzählung der ἔργα des Historiographen in der Epistula nennt Dionysios die Auswahl einer ὑπόθεσις, die schön und für die Leser angenehm sein müsse, an erster Stelle, und bezeichnet sie darüber hinaus als das allerwichtigste ἔργον.15 Die Auswahl der ὑπόθεσις des Werkes sei einer derjenigen Punkte, in denen Herodot Thukydides überlegen sei. Die Themenwahl des Thukydides sei ungeeignet, weil er mit seiner Schilderung des innergriechischen Konfliktes einen wenig rühmlichen Gegenstand gewählt habe. Dionysios geht soweit, dass er bemerkt, es sei schlecht, dass sich dieser Krieg überhaupt ereignet habe; da es aber nun mal der Fall sei, solle man besser über ihn schweigen und ihn in Vergessenheit geraten 13 Vgl. AR 1,1,2. 14 Vgl. ebd. 1,2,1. 15 Ep. ad Pomp. 3,2: πρῶτόν τε καὶ σχεδὸν ἀναγκαιότατον ἔργον ἁπάντων ἐστὶ τοῖς γράφουσιν πᾶσιν ἱστορίας ὑπόθεσιν ἐκλέξασθαι καλὴν καὶ κεχαρισµένην τοῖς ἀναγνωσοµένοις.
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lassen. Im Gegensatz dazu seien die „bewundernswerten Taten der Griechen und Barbaren“ (θαυµαστὰ ἔργα … Ἑλλήνων τε καὶ βαρβάρων), die Herodot sich zum Gegenstand genommen habe, ein gelungeneres Thema.16 Xenophon habe in der Wahl seiner ὑποθέσεις Herodot nachgeeifert: Sie seien schön (καλαί) und erhaben (µεγαλοπρεπεῖς) sowie einem Philosophen angemessen. In der Kyropaideia beschreibe er einen König, der gut (ἀγαθός) und gesegnet bzw. glücklich (εὐδαίµων) sei. In der Anabasis lobe er die Verbündeten der Griechen, in den Hellenika den Sturz der Tyrannis der Dreißig und die Wiedererrichtung der großen Mauern. Das alles seien darstellungswürdige Themen.17 Philistos kommt in der Kritik des Dionysios schlecht weg. Seine ὑπόθεσις sei weder von vielgestaltigem Nutzen (πολυωφελής) noch universell (κοινή), worin er Thukydides ähnele.18 Schließlich folgt noch das Lob Theopomps, dessen ὑπόθεσις Dionysios ausführlich würdigt. Vor allem sei das Werk vielgestaltig (πολυµορφής): Theopomp habe über Siedlungen, Stadtgründungen (κτίσεις) und Biographien geschrieben sowie über die Sitten und Gebräuche vieler verschiedener Länder berichtet. Wegen der Vielfalt sei sein Werk für die Seele erbaulich (ψυχαγωγός) und nützlich. Er gebe dem Leser Informationen über die Bräuche, Gesetze und Verfassungen der Griechen und Barbaren und sei damit für den Studenten der „philosophischen Rhetorik“ von großer Bedeutung. Seine Ausführungen würden den Leser zu Gerechtigkeit, Frömmigkeit und den anderen Tugenden führen.19 1.1.1 Der Nutzen der κοινὴ ἱστορία Mit seiner allgemeinen Betonung des Nutzens der κοινὴ ἱστορία greift Dionysios eine verbreitete Tradition der antiken Historiographie auf. Der Begriff, landläufig als „Universalgeschichte“ übersetzt, wird in aller Regel mit Polybios in Verbindung gebracht. So bezeichnet Dionysios’ Zeitgenosse Strabon das Werk des Polybios als eine κοινὴ ἱστορία.20 Polybios selbst verwendet den Begriff im Proöm zunächst nicht, gibt aber eine Definition dessen, was er an einer späteren Stelle auch explizit als καθολικὴ καὶ κοινὴ ἱστορία bezeichnet:21 Er wolle sich als erster daran machen, 16 Vgl. ebd. 3,6. 17 Vgl. Ep. ad Pomp. 4,1. Worin die Nachahmung der ὑπόθεσις Herodots genau besteht, wird nicht ganz deutlich; Usher schlägt ad loc. Anm. 2 vor, die Aussage auf den „chronological and geographical scope“ zu beziehen. 18 Vgl. Ep. ad Pomp. 5,1. 19 Vgl. ebd. 6. 20 Pol. 34,1,1 bei Strab. 8,1,1: Ἐπεὶ δ’ ἐπιόντες ἀπὸ τῶν ἑσπερίων τῆς Εὐρώπης µερῶν, ὅσα τῇ θαλάττῃ περιέχεται τῇ ἐντὸς καὶ τῇ ἐκτός, τά τε βάρβαρα ἔθνη περιωδεύσαµεν πάντα ἐν αὐτῇ µέχρι τοῦ Τανάιδος καὶ τῆς Ἑλλάδος οὐ πολὺ µέρος, ἀποδώσοµεν νυνὶ τὰ λοιπὰ τῆς Ἑλλαδικῆς γεωγραφίας, ἅπερ Ὅµηρος µὲν πρῶτος, ἔπειτα καὶ ἄλλοι πλείους ἐπραγµατεύσαντο, οἱ µὲν ἰδίᾳ λιµένας ἢ περίπλους ἢ περιόδους γῆς ἤ τι τοιοῦτον ἄλλο ἐπιγράψαντες, ἐν οἷς καὶ τὰ Ἑλλαδικὰ περιέχεται, οἱ δ’ ἐν τῇ κοινῇ τῆς ἱστορίας γραφῇ χωρὶς ἀποδείξαντες τὴν τῶν ἠπείρων τοπογραφίαν, καθάπερ Ἔφορός τε ἐποίησε καὶ Πολύβιος· 21 Pol. 8,2,11: ταῦτα µὲν οὖν ἡµῖν εἰρήσθω πρὸς τοὺς ὑπολαµβάνοντας διὰ τῆς τῶν κατὰ µέρος συντάξεως ἐµπειρίαν ποιήσασθαι τῆς καθολικῆς καὶ κοινῆς ἱστορίας. Eine explizite Aussage
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eine umfassende (τῶν καθόλου πραγµάτων) Abhandlung (πράξις) zu verfassen. Dieses Vorhaben grenzt er von denjenigen seiner Vorgänger ab, die lediglich einzelne Kriege und damit unzusammenhängende Taten beschrieben hätten. Die Möglichkeit, ein solches Werk zu verfassen, hängt für ihn dabei mit der politisch-historischen Konstellation seiner Zeit zusammen. Erst durch die Zusammenführung der zuvor sporadischen Ereignisse der Ökumene durch die τύχη mit dem Resultat der römischen Weltherrschaft sei ein solches Unterfangen möglich. Davon hängt für Polybios auch der Nutzen dieser καθολικὴ πράξις ab: Nur durch eine solche umfassende Behandlung bestehe die Möglichkeit, die Teile des Ganzen zu vergleichen und durch die Ermittlung von Ähnlichkeiten und Unterschieden Nutzen aus der Geschichte zu ziehen.22 Dionysios übernimmt den Begriff der κοινὴ ἱστορία, grenzt sich aber zugleich hinsichtlich zweier Aspekte von Polybios ab. Zum einen kann Dionysios die Vorstellung von der Zeit der römischen Herrschaft über die Ökumene als bestem Zeitpunkt (καιρός) für eine nützliche Behandlung der Geschichte nicht übernehmen. Schließlich behandelt Dionysios gerade die von Polybios als unnütz abgelehnte älteste Epoche. Zum anderen ist Dionysios’ Geschichte in großen Teilen eine Geschichte Italiens, also zunächst geographisch relativ beschränkt. Den im Proöm implizit vorhandenen Vorwurf des Polybios, eine Behandlung der ältesten Vergangenheit erfülle nicht die Voraussetzungen einer κοινὴ ἱστορία, wendet Dionysios gegen Polybios selbst.23 In vergleichbarer Form, wie Polybios sich von seinen Vorgängern, die nur einzelne Kriege behandelt hätten, abheben will, grenzt sich auch Dionysios von denjenigen Historikern, die den Gegenstand der römischen Frühgeschichte bereits vor ihm berührt haben, ab: ἅµα δὲ τούτοις Ἀντιγόνου τε καὶ Πολυβίου καὶ Σιληνοῦ καὶ µυρίων ἄλλων τοῖς αὐτοῖς πράγµασιν οὐχ ὁµοίως ἐπιβαλόντων, ὧν ἕκαστος ὀλίγα καὶ οὐδὲ ἀκριβῶς αὐτῷ διεσπουδασµένα, ἀλλ’ ἐκ τῶν ἐπιτυχόντων ἀκουσµάτων συνθεὶς ἀνέγραψεν. Zugleich mit diesen [sind auch die Geschichten von] Antigonos, Polybios und Silenos sowie unzähliger anderer [entstanden], die dieselben Gegenstände auf unterschiedliche Weise behandelt haben, von denen sich jeder wenigen Dingen zugewandt hat, aber nicht achtsam, sondern, indem er sie aus zufällig Gehörtem zusammengestellt und aufgeschrieben hat.24
Im Folgenden geht Dionysios auch auf die Römer ein, die sich mit der Frühzeit ihrer Stadt beschäftigt hätten. Diese hätten ihre eigene Lebenszeit ausführlich behandelt, die frühe Epoche aber ebenfalls nur summarisch.25
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über den Nutzen der κοινὴ ἱστορία, die allerdings in eine andere Richtung geht als die des Polybios, findet sich auch im Proöm des Diodor, der betont, alle Menschen müssten denjenigen, die eine κοινὴ ἱστορία geschrieben hätten, dankbar sein, da man so die Möglichkeit habe, durch Lesen aus den Erfahrungen anderer zu lernen, ohne sich selbst den Gefahren des eigenen Erlebens aussetzen zu müssen, vgl. Diod. 1,1-2. Vgl. Pol. 1,4. Vgl. Delcourt (2005), 62. AR 1,6,1. Vgl. ebd. 1,6,2.
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Gerade im Hinblick auf die genannten Griechen ist die Äußerung des Dionysios durchaus als direkte Kritik aufzufassen. Die angesprochenen ἐπιτυχόντα ἀκούσµατα sind auch Grundlage der romfeindlichen Tendenz und der irrigen Annahmen über die Frühzeit Roms überhaupt.26 Dass den bisherigen Darstellungen der Frühzeit das nützliche Element fehlt bzw. sie sogar schädlich sein können, liegt für Dionysios nicht an der Beschaffenheit der historischen Ereignisse der Epoche selbst oder ihrer zeitlichen Ferne – die Schilderung der römischen ἀρχαῖα bei Timaios sieht Dionysios schließlich ausdrücklich als Bestandteil von dessen κοιναὶ ἱστορίαι.27 Polybios’ Ablehnung der Frühgeschichte erscheint vielmehr als ein bloßer Vorwand: Er war schlichtweg nicht willens oder in der Lage, sie angemessen zu behandeln. Tatsächlich ergibt sich aus dieser Verteidigung des Anspruches, eine κοινὴ ἱστορία auch den ἀρχαῖα widmen zu können, noch keine konkrete Definition des Nutzens. Allerdings lässt sich durchaus eine genauere Vorstellung davon gewinnen, was für Dionysios in der Theorie eine κοινὴ ἱστορία ausmacht bzw. den bisherigen κοιναὶ ἱστορίαι seines Erachtens gemeinsam ist. Das zeigt sich in seiner Behandlung der ὑποθέσεις der in der Epistula ad Pompeium diskutierten Historiographen. Die ὑπόθεσις des Philistos etwa sei nicht κοινή und nicht πολυωφελής, sondern behandle ein einzelnes lokalgeschichtliches Thema. Herodot dagegen habe eine κοινὴ Ἑλληνικῶν τε καὶ βαρβαρικῶν πράξεων … ἱστορία geschrieben.28 Im Proöm der Antiquitates bezeichnet Dionysios, wie wir gesehen haben, die Bücher des Timaios explizit als κοιναὶ ἱστορίαι. Die Ablehnung des Philistos und die Aufnahme von Timaios und Herodot in die Kategorie der κοινὴ ἱστορία bestätigen noch einmal die Feststellung, dass ἀρχαῖα kein Ausschlusskriterium sind, dagegen aber, ähnlich wie bei Polybios, eine monothematische ὑπόθεσις sehr wohl. Im Falle von Herodot und Timaios scheint das von Dionysios gelobte κοινόν auf den ersten Blick im Zusammenhang mit der geographischen Ausdehnung des Gegenstandes zu stehen. Tatsächlich scheint es für Dionysios aber auch eine andere Dimension des Universellen zu bezeichnen. Das wird deutlich, wenn man sich ansieht, wofür Dionysios die ὑπόθεσις Theopomps lobt.29 Auch hier findet sich die Anknüpfung an die allgemeine Definition der κοινὴ ἱστορία, wenn Dionysios bemerkt, Theopomp habe über sämtliche interessanten Ereignisse in jedem Land und auf jedem Meer berichtet. Die direkte Zuschreibung des Nutzens allerdings resultiert aus einem anderen Punkt: Das πολυµορφής des Werkes ist, was für Dionysios in dieser Hinsicht den Ausschlag gibt, weniger die räumliche Ausdehnung, als vielmehr die Vielseitigkeit und der Abwechslungsreichtum des Stoffes selbst sind für 26 Vgl. ebd. 1,4,2. 27 Vgl. AR 1,6,1. Cary, ad loc. Anm. 18 geht davon aus, dass Dionysios das Werk als „general history“ bezeichnet, weil es Ereignisse in Italien und Karthago umfasse. Wiater, Römische Frühgeschichte 1, übersetzt bei Dionysios allgemein „Weltgeschichte“. 28 Vgl. Ep. ad Pomp. 3,3. 29 Dessen Werk bezeichnet er nicht explizit als κοινὴ ἱστορία, die Tatsache aber, dass er ansonsten allen hinsichtlich ihrer ὑπόθεσις als positiv bewerteten Historiographen eine κοινὴ ἱστορία zuschreibt, macht es wahrscheinlich, dass auch das Werk Theopomps in diese Kategorie zu zählen ist.
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ihn entscheidend und ermöglichen es ihm, auch die eigene Geschichte als eine κοινὴ ἱστορία anzupreisen. 30 Diese andere Sicht auf das Wesen des κοινόν weist zugleich auf einen tatsächlich noch bedeutsameren konzeptionellen Unterschied im Hinblick auf das Wesen der Historiographie. Für Dionysios ist der Zusammenhang der Einzelteile nicht in erster Linie durch ihr historisches Zusammenkommen zu einem politischen Ganzen bedingt, sondern durch die Entscheidung des Historiographen, den Zusammenhang herzustellen. Diese Vorstellung manifestiert sich deutlich in der Aussage in De Thucydide, wonach Herodot der erste gewesen sei, der es sich zur Aufgabe gemacht habe „viele verschiedene Ereignisse aus Asien und Europa im Rahmen eines einzelnen Werkes zusammenzuführen“ (πολλὰς δὲ καὶ διαφόρους πράξεις ἔκ τε τῆς Εὐρώπης ἔκ τε τῆς Ἀσίας εἰς µιᾶς περιγραφὴν πραγµατείας συναγαγεῖν).31 Während bei Polybios κοινὴ ἱστορία gewissermaßen als unmittelbarer Ausdruck einer historischen Epoche zu sehen ist, und er damit ein Zeitzeuge des Beginns einer tatsächlich weltgeschichtlichen Ära, in der die Geschichte nun einen ganz neuen Sinn ergeben und damit einen wirklichen Nutzen haben kann, den sie vorher nicht hatte, und daher minutiös und detailliert aufgezeichnet werden muss, setzt Dionysios’ κοινὴ ἱστορία weniger eine bestimmte historische Konstellation, sondern in erster Linie einen Historiographen voraus, der in der Lage ist, das Nützliche und Schöne zu erkennen und aus einem Gegenstand, der sich dafür freilich eignen muss, herauszuarbeiten. 1.1.2 Vom pragmatischen zum paradigmatischen Nutzen der Geschichte Die Passagen, in denen Dionysios näher auf die genaue Funktions- und Wirkungsweise des intendierten Nutzens seiner Historiographie zu sprechen kommt, zeigen ebenfalls deutliche Anklänge an Polybios. Auch hier kann man eine bewusste Auseinandersetzung mit dessen Konzept des Nutzens der Geschichtsschreibung, das oftmals unter dem Begriff der „pragmatischen Geschichtsschreibung“ gefasst wurde, vermuten. Eine für diese Problematik zentrale Parallele besteht etwa in den Aussagen, die Dionysios und Polybios über die Leserschaft machen, die sie ansprechen wollen. Polybios betont im Proöm zu seinem neunten Buch den auf eine bestimmte Gruppe von Lesern zugeschnittenen Charakter seiner Geschichte. Dadurch würde er sich nach eigener Aussage von den meisten Historiographen abheben, die Folge sei allerdings, dass das Werk durch seine thematische Einseitigkeit (µονοειδές) mitunter als zu streng (αὐστηρός) erscheint. Polybios zählt drei Arten von Historiographie auf, die er direkt mit drei verschiedenen Gruppen von Lesern in Verbindung 30 Vgl. Liers (1886), 6, der auf den Unterschied in den Vorstellungen der Vielseitigkeit der „allgemeine[n] Geschichte[n]“ bei Polybios und Dionysios hinweist, Dionysios’ Ziele aber allein als „rhetorisch“ im Sinne einer rein ästhetischen Konzeption bezeichnet. 31 Vgl. De Thuc. 5.
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bringt: Derjenige Leser, der vor allem unterhalten werden wolle (φιλήκοος), sei vorwiegend an genealogischen Stoffen (γενεαλογικὸς τρόπος) interessiert, der Umtriebige (πολυπράγµων καὶ περιττός) interessiere sich für die Geschichte von Kolonien, Stadtgründungen und Verwandtschaftsbeziehungen (ἀποικίαι, κτίσεις und συγγένειαι), der politische Lesertyp (πολιτικός), der Lesertyp, den Polybios ansprechen will, interessiere sich „für die Taten der Völker, Städte und Dynasten“ (περὶ τὰς πράξεις τῶν ἐθνῶν καὶ πόλεων καὶ δυναστῶν).32 Dionysios dagegen erhebt den Anspruch, ein deutlich weiteres Feld von Themenbereichen abzudecken: Er wolle die Kriege, die inneren Auseinandersetzungen, die verschiedenen Formen von πολιτεῖαι, die Rom durchlaufen habe, die Gesetze und Sitten, kurz: das altertümliche Leben (ἀρχαῖος βίος) der Römer im Ganzen darstellen, und dadurch verschiedene Kategorien von Lesern ansprechen. Zur Begründung präsentiert er zunächst drei Kategorien von Historiographen bzw. Geschichtsschreibung, von denen er sich mit seinem Werk absetzen möchte, nämlich „die, welche nur über Kriege schreiben“ (οἱ τοὺς πολέµους ἀναγράψαντες), „die, welche sich mit den Verfassungen um ihrer selbst willen beschäftigen“ (οἱ τὰς πολιτείας αὐτὰς ἐφ’ ἑαυτῶν διηγησάµενοι) und „die Chroniken, wie sie die Atthidographen veröffentlicht haben“ (ταῖς χρονικαῖς … ἃς ἐξέδωκαν οἱ τὰς Ἀτθίδας πραγµατευσάµενοι). Es folgt die Aussage, dass sein eigenes Werk aus „sämtlichen Formen gemischt“ (ἐξ ἁπάσης ἰδέας µικτόν) und ἐναγώνιος33 sowie „theoretisch“ bzw. „kontemplativ“ (θεωρητική) sei.34 Dionysios schließt mit drei verschiedenen 32 Pol. 9,1,2-5: οὐκ ἀγνοῶ δὲ διότι συµβαίνει τὴν πραγµατείαν ἡµῶν ἔχειν αὐστηρόν τι καὶ πρὸς ἓν γένος ἀκροατῶν οἰκειοῦσθαι καὶ κρίνεσθαι διὰ τὸ µονοειδὲς τῆς συντάξεως. οἱ µὲν γὰρ ἄλλοι συγγραφεῖς σχεδὸν ἅπαντες, εἰ δὲ µή γ’, οἱ πλείους, πᾶσι τοῖς τῆς ἱστορίας µέρεσι χρώµενοι πολλοὺς ἐφέλκονται πρὸς ἔντευξιν τῶν ὑποµνηµάτων. τὸν µὲν γὰρ φιλήκοον ὁ γενεαλογικὸς τρόπος ἐπισπᾶται, τὸν δὲ πολυπράγµονα καὶ περιττὸν ὁ περὶ τὰς ἀποικίας καὶ κτίσεις καὶ συγγενείας, καθά που καὶ παρ’ Ἐφόρῳ λέγεται, τὸν δὲ πολιτικὸν ὁ περὶ τὰς πράξεις τῶν ἐθνῶν καὶ πόλεων καὶ δυναστῶν. ἐφ’ ὃν ἡµεῖς ψιλῶς κατηντηκότες καὶ περὶ τοῦτον πεποιηµένοι τὴν ὅλην τάξιν, πρὸς ἓν µέν τι γένος, ὡς προεῖπον, οἰκείως ἡρµόσµεθα, τῷ δὲ πλείονι µέρει τῶν ἀκροατῶν ἀψυχαγώγητον παρεσκευάκαµεν τὴν ἀνάγνωσιν. Vgl. hierzu auch Marincola (1997), 24. 33 Dazu Pritchett, On Thucydides, 81 Anm. 29: „The latter [i.e. ἐναγώνιος] is derived from agon, ‚contest in an assembly or court‘. The agonistike λέξις is the style used in such contests, and the ἐναγώνιος λόγος is a ‚speech in a contest of a controversial character‘.“ Den Begriff ἐναγώνιος benutzt Dionysios in seinen kritischen Schriften an verschiedenen Stellen. Als Bezeichnung der Gerichtsrede findet er sich u.a. in der Abhandlung über Isaios, wo Dionysios Lysias als herausragenden Vertreter derjenigen, die sich mit τὴν ἐναγώνιον … ῥητορικήν beschäftigt hätten, bezeichnet, und später τὸ κράτος τῶν ἐναγωνίων λόγων mit Demosthenes, Aischines und Hyperides als erreicht ansieht, vgl. De Is. 20. Im zweiten Fall zählt Dionysios die seines Erachtens kritikwürdigen Punkte der λέξις des Isokrates auf und kritisiert, dass diese mitunter zu sehr derjenigen eines Historikers ähneln würde, was für die praktizierte Rhetorik ungeeignet sei, vgl. De Dem. 18. In De Thucydide beschreibt Dionysios das πνεῦµα der frühen Historiker, das nicht ἐναγώνιος gewesen sei, und meint damit offenbar den Stil ihrer historischen Erzählung selbst, vgl. De Thuc. 23. 34 Sicher überliefert sind nur die beiden Wörter ἐναγωνίου und θεωρητικῆς. Jacoby folgt der Konjektur von Stephanus in den Anmerkungen zur Editio princeps und ergänzt als drittes καὶ ἡδείας, wohl, um die Attribute mit den Lesergruppen und den inhaltlichen Angaben zu
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Gruppen von Lesern mit bestimmten Interessen. So gebe es zum einen „diejenigen, die sich mit politischen Reden befassen“ (τοῖς περὶ τοὺς πολιτικοὺς διατρίβουσι λόγους), „die, welche sich mit philosophischer Theorie auseinandersetzen“ (τοῖς περὶ τὴν φιλόσοφον ἐσπουδακόσι θεωρίαν), und Leser, die in der Lektüre Zerstreuung suchen (τισιν ἀοχλήτου δεήσει διαγωγῆς ἐν ἱστορικοῖς ἀναγνώσµασιν).35 Darin kann man eine Nähe zu den drei nach Aristoteles möglichen guten Lebensweisen sehen, einer aktiven, einer kontemplativen und einer auf Freuden ausgerichteten.36 Valérie Fromentin hat in der Aufzählung von Stileigenschaften und Lesertypen wohl nicht zu Unrecht ein „moyen rhétorique commode de montrer que son histoire s’adresse à un public … aussi large que possible“ gesehen.37 Die Begründung, mit der Dionysios die einfachen Kriegs-, Verfassungs- und Lokalgeschichten ablehnt, und die explizite Ausrichtung des Werkes auf die Interessen der Leser sind also erneut eine direkte Umkehrung der Argumente des Polybios: Für ihn ist, wie wir gesehen haben, τὸ µονοειδές die notwendige Folge der Beschränkung auf die πράξεις τῶν ἐθνῶν καὶ πόλεων καὶ δυναστῶν, die der Gegenstand seiner pragmatischen Geschichte sind, und aus denen ihr Nutzen erwächst. Dionysios präsentiert nun gerade das µονοειδές als das ausschlaggebende Argument, keine monothematische Geschichte zu schreiben. Ob die Charakterisierung als µονοειδές, die Dionysios konkret vor allem gegen die Atthides richtet, eine bewusste Anspielung auf die Wortwahl des Polybios ist, ist schwer zu klären.38 Jedenfalls erhebt Dionysios an anderer Stelle auch gegen das Werk des Polybios den Vorwurf, es sei auf Grund des Stils beinahe unlesbar.39 Der Charakter insbesondere des an λόγοι und θεωρία interessierten Teils der Leserschaft wird von Dionysios an anderer Stelle noch deutlicher ausgeführt, nämlich zu Beginn des elften Buches, wo er eine Art zweites Proöm einschiebt. Hier betont er die Wichtigkeit davon, nicht allein Ergebnisse, sondern auch deren
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parallelisieren, Cary hat διηγηµατικῆς hinzugefügt, als Gegensatz zu ἐναγώνιος, und damit eine Ausrichtung auf genera orationis evoziert. Zur Geschichte der unterschiedlichen Konjekturen vgl. Fromentin (1993), 177-9, die sich dafür ausgesprochen hat, den Manuskripten zu folgen und lediglich die ersten beiden Attribute zu übernehmen und so eine gewisse Mehrdeutigkeit beizubehalten. Vgl. AR 1,8,3. Vgl. Arist. EN 1095b. Fromentin (1993), 180. Vgl. AR 1,8,3. Die Beschreibung der Atthides als Chroniken, ihre Charakterisierung als µονοειδεῖς sowie die Bemerkung, dass sie ihre Leser schnell langweilen würden, hat in der Forschungsdiskussion zu recht verschiedenen Einschätzungen geführt. Jacoby geht davon aus, dass Dionysios die Atthidographen mit den in De Thuc. 5 beschriebenen ἀρχαῖοι συγγραφεῖς gleichgesetzt hat und kritisiert die Beschreibung des Dionysios als unzutreffend. Dagegen Toye (1995), 299, der davon ausgeht, dass Dionysios die Atthidographen von den „alten Schriftstellern“, denen er eine einseitige Themenwahl unterstellt, deutlich unterschieden habe und dessen Kritik rechtfertigt: Die Atthidographen hätten Chroniken geschrieben, die ihre Leser schnell gelangweilt hätten. Ähnlich Harding (2008), 2: „The preserved fragments fully justify the ancient criticism of Dionysios of Halikarnassos that it was ‚monotonous and hard to read‘. That is not to say, however, it was in note form or anything of that sort.“ Ebd. 3: „But while the style and the format of the Atthis might have been dull, its contents were varied and far ranging.“ Vgl. De comp. verb. 4,108ff.
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Ursachen und Umstände darzustellen. Die Begründung ist folgende: Die Menschen ließen sich durch das Wort zur Tat bewegen. Dionysios führt das Beispiel der Athener an. Hier sei die Schilderung der Argumente, die dazu geführt hätten, die großen Mauern zu schleifen, ebenso wie zu berichten, wer diese Argumente unter welchen Umständen geäußert habe, zentrale Aufgabe des Historiographen, damit die Leserschaft einen Nutzen daraus ziehen könne.40 Es folgt eine Aussage, in der Dionysios diesen Nutzen ebenso wie seine Adressaten explizit benennt: τοῖς δὲ πολιτικοῖς ἀνδράσιν, ἐν οἷς ἔγωγε τίθεµαι καὶ τοὺς φιλοσόφους, ὅσοι µὴ λόγων, ἀλλ’ ἔργων καλῶν ἄσκησιν ἡγοῦνται τὴν φιλοσοφίαν, τὸ µὲν ἥδεσθαι τῇ παντελεῖ θεωρίᾳ τῶν παρακολουθούντων τοῖς πράγµασι κοινὸν ὥσπερ καὶ τοῖς ἄλλοις ἀνθρώποις ὑπάρχει· χωρὶς δὲ τῆς ἡδονῆς περιγίγνεται τὸ περὶ τοὺς ἀναγκαίους καιροὺς µεγάλα τὰς πόλεις ἐκ τῆς τοιαύτης ἐµπειρίας ὠφελεῖν, καὶ ἄγειν αὐτὰς ἑκούσας ἐπὶ τὰ συµφέροντα διὰ τοῦ λόγου. ῥᾷστα γὰρ οἱ ἄνθρωποι τά τε ὠφελοῦντα καὶ βλάπτοντα καταµανθάνουσιν, ὅταν ἐπὶ παραδειγµάτων ταῦτα πολλῶν ὁρῶσι, καὶ τοῖς ἐπὶ ταῦτα παρακαλοῦσιν αὐτοὺς φρόνησιν µαρτυροῦσι καὶ πολλὴν σοφίαν. Die politischen Männer, zu denen ich auch all diejenigen zähle, welche die Philosophie nicht für die Beschäftigung mit Worten, sondern mit schönen Handlungen halten, haben mit allen anderen Menschen gemeinsam, dass sie eine umfassende Schau der Begleitumstände der historischen Ereignisse erfreut. Über diese Lust hinaus aber wird ihnen der Vorzug zuteil, dass sie durch diese Erfahrung in kritischen Momenten ihren Städten äußerst nützlich sind, und diese durch ihr Wort dazu führen können, ihnen zum Nützlichen zu folgen: Leicht nämlich können die Menschen die nützlichen von den schädlichen Dingen unterscheiden, wenn sie diese anhand vieler Beispiele betrachten, und denjenigen, die sie auf diese gebracht haben, bezeugen sie Klugheit (φρόνησις ) und große Weisheit (σοφία).41
Dionysios nimmt hier offenbar eine gewisse Vereinheitlichung der zuvor noch gesondert aufgezählten philosophischen und politischen Leserinteressen vor. Dass Dionysios dieser Gruppe von „Politikern“ und „Philosophen“ tatsächlich eine entscheidende Rolle bei der Rezeption seines Werkes zuspricht, wird vor allem dadurch nahegelegt, dass er die beiden zentralen Tugenden, die man derart historisch Gebildeten zuspreche, φρόνησις und σοφία, in seinem ersten Proöm als die Vermittlungsziele einer wahrheitsgemäßen Geschichte benennt.42 Der Gegensatz dieser auf das Beraten und Überzeugen ausgerichteten Tätigkeit διὰ τοῦ λόγου zur pragmatischen Geschichte des Polybios ist dabei offensichtlich. Dementsprechend hat man in der älteren Forschung in den von Dionysios verlangten Beispielen im Wesentlichen rhetorische παραδείγµατα gesehen,43 oder man hat auf die geforderte „Vollständigkeit“ hingewiesen, die hier etwa die Erfindung von Reden verlange
40 AR 11,1,3: … τίνες οἱ πείσαντες αὐτοὺς λόγοι καὶ ὑπὸ τίνων ῥηθέντες ἀνδρῶν καὶ πάντα, ὅσα παρακολουθεῖ τοῖς πράγµασι, διδαχθῆναι. 41 AR 11,1,4-5. 42 AR 1,1,2: … ἱστορίας, ἐν αἷς καθιδρῦσθαι τὴν ἀλήθειαν [πάντες] ὑπολαµβάνοµεν ἀρχὴν φρονήσεώς τε καὶ σοφίας οὖσαν … 43 Vgl. Verdin (1974), 298-301; 298: „Le [sic!] clef de ce passage est constitué par le terme παραδείγµατα“. Ebd. 300: „Denys s’intéresse beaucoup plus à cet autre aspect … fournir des éléments pour l’argumentation.“
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und belege, dass es Dionysios nicht um einen wirklichen Nutzen, sondern um die Zurschaustellung sämtlicher Facetten seiner rhetorischen Kunst gegangen sei.44 Aber auch eine weitere Bedeutung des paradigmatischen Nutzens klingt bei Dionysios an. Das, was schon für die Wirkung der Gegenstände des Theopomp auf die ἀρεταί betont wurde, gilt auch für den spezifischen Gegenstand der Antiquitates: Wenn man den Römern vor Augen halten würde, dass sie von einem edlen Geschlecht abstammen, würden auch sie nicht das „besonders einfache und angenehme Leben wählen“ (τὸν ἥδιστόν τε καὶ ῥᾷστον αἱρεῖσθαι τῶν βίων), sondern darauf Wert legen, „sich ihrer Vorfahren würdig zu verhalten“ (µηδὲν ἀνάξιον ἐπιτηδεύειν τῶν προγόνων).45 Grundsätzlich handelt es sich hierbei um Schlüsselstellen für das Verständnis von Dionysios’ Nutzenanspruch. Die Frage nach der Funktion der historischen παραδείγµατα wird daher noch ebenso von Bedeutung sein wie die Frage nach der Einordnung der „Philosophen“, die einer ἄσκησις τῶν λόγων abgeschworen hätten. 1.2 Historiographisches ἦθος: Autor, Persona und Charakter Im folgenden Abschnitt soll nun der nach Dionysios’ Reihenfolge fünften der für den Historiographen zentralen inhaltlichen Anforderungen (πραγµατικοὶ τόποι), dem Charakter (ἦθος) bzw. der Haltung gegenüber den Gegenständen (διάθεσις), nachgegangen werden. Neben der allgemeinen Frage danach, welche Qualitäten Dionysios hervorhebt, führt insbesondere der Begriff ἦθος zu einigen Problemen der Interpretation, auf die hier eingegangen werden muss. Ein zentraler Punkt ist dabei die Frage nach dem Verhältnis der methodischen Ansprüche, die Dionysios an einen Historiographen richtet, zum ἦθος im Sinne der Persona des Historiographen, die der Konstruktion erzählerischer Autorität und Glaubwürdigkeit dient, wie John Marincola es in seiner Studie Authority and Tradition in Ancient Historiography beschrieben hat, schließlich auch zum ἦθος im Sinne eines als authentisch angenommenen moralischen Charakters. Marincola führt den erzählerischen Charakter auf die aristotelische Theorie vom ἦθος zurück. Dort handelt es sich um eines der drei zentralen Überzeugungsmittel (πίστεις). Er verweist außerdem auf die antiken Theorien zur ἠθοποιία, der Konstruktion eines glaubwürdigen Charakters. Als Bestandteile des autoritativen Charakters des Historikers nimmt Marincola auch die Selbstzuschreibungen der antiken Historiographen hinsichtlich „experience“, „effort“ und „impartiality“ an, sieht also in wesentlichen Elementen dessen, was nach antiker Auffassung die historiographische Methode ausmacht, in erster Linie Aspekte der Autoritätskonstruktion.46 Wozu eine solche Autorität dient, ist allgemein offen. Dass auch die Deutung 44 Vgl. Liers (1886), 13. 45 Vgl. AR 1,6,4. 46 Vgl. Marincola (1997), 128-74. Der Hinweis auf die ἠθοποιία und die aristotelischen πίστεις 128. Allgemein weist Marincola darauf hin, dass die „Unparteilichkeit“ zugleich ein wesentliches Kriterium antiker Vorstellungen von historischer Wahrheit an sich sei, vgl. ebd. 158-66 und dens. (2007), 20-2.
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methodischer Aussagen als Mittel der Charakterkonstruktion somit nicht notwendig bedeutet, dass man ihren Anspruch nicht ernst zu nehmen braucht, hat Schultze betont: Dionysius’ rhetorical case will be stronger the more credible he appears as a historical researcher, and, if he actually is a reliable and conscientious historical researcher, the case will be at its strongest; conversely, some of Dionysius’ literary procedures may provide real, as opposed to merely specious, support for his credentials as a reliable historical researcher.47
Die Untersuchung der Aussagen des Dionysios über das historiographische ἦθος soll hier im Folgenden daher nicht jede Selbstzuschreibung hinsichtlich des methodischen Vorgehens voraussetzungslos als einen Bestandteil der Persona des Dionysios deuten. Vielmehr wird sie zunächst auf Grundlage der Systematik seiner eigenen theoretischen Aussagen zu diesem Thema vorgenommen werden, d.h., das ἦθος, das für Dionysios ja einen gesonderten Bereich in der Kritik seiner Vorgänger ausmacht, soll hier zunächst auf seinen eigenen Gehalt als für Dionysios valides Kriterium untersucht werden, bevor der Zusammenhang zu weiteren methodischen Aussagen diskutiert wird. Von Marincolas drei Aspekten des historiographischen ἦθος wird in diesem Zusammenhang nur die Neutralitätsforderung behandelt, da sie offenkundig auch für Dionysios selbst in einem engen Kontext mit dem ἦθος steht. Um der Frage nachzugehen, inwiefern Dionysios also die Konstruktion einer glaubwürdigen Persona als einen Gegenstand des ἦθος gesehen hat, sollen zunächst die Aussagen zur ἠθοποιία in den theoretischen Schriften behandelt werden. 1.2.1 Ἠθοποιία in den theoretischen Schriften Die ausführlichsten und wohl auch ältesten Diskussionen der ἠθοποιία finden sich in der Schrift über Lysias.48 Im achten Kapitel bezeichnet Dionysios die ἠθοποιία als die erhabenste rhetorische Tugend (εὐπρεπεστάτη ἀρετή). Die ἠθοποιία zeige sich in drei Bereichen: Gedanke (διάνοια), Stil (λέξις) und sprachliche Zusammen47 Schultze (2000), 22. Wiater (2017) hat jüngst den Aspekt einer auf die Überzeugung gerichteten Zurschaustellung von Expertise, Charakter und Kompetenz als Mittel der Autoritätskonstruktion und argumentativen Leserleitung beschrieben: Scheinbar werde dem Leser die Möglichkeit einer Auswahl aus verschiedenen Versionen gegeben, die Form der Darlegung und vor allem der Erläuterung würden jedoch dem ‚guten‘ bzw. ‚gerechten‘ Leser die Entscheidung für eine bestimmte Überlieferung suggerieren. 48 Eine Übersicht über das umfangreich diskutierte Thema der Datierung der Scripta Rhetorica findet sich bei De Jonge (2008), 20-25. Allgemein kann zwar eine relative Einordnung in Entstehungsphasen, aber keine exakte Datierung gegeben werden. Als die ältesten werden De Lysia, De Isocrate und de Isaeo angesehen. Ob es sich bei der Schrift über Demosthenes um diejenige handelt, die Dionysios im Vorwort über die Alten Redner erwähnt, ist umstritten, ebenso, ob sich das Werk in zwei Teile mit unterschiedlicher Entstehungszeit gliedert. De Jonge sieht es ebenso wie den Brief an Pompeius und De compositione verborum als Werk der mittleren, De Thucydide, Ad Ammaeum und De Dinarcho verordnet er in die späte Periode. Hinsichtlich De imitatione enthält er sich einer Einschätzung. Auch das Verhältnis der Schriften zu den Antiquitates kann nicht genau bestimmt werden, vermutlich überlagerte sich die Arbeit an beiden.
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stellung (σύνθεσις). Lysias meistere alle drei dieser Kategorien. Die Gedanken der Sprecher würden stets nützlich bzw. ehrenhaft (χρηστά), angemessen (ἐπιεικῆ) und maßvoll (µέτρια) wirken, und somit das ἦθος gut zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus verstehe er es, auch die Form des sprachlichen Stils (λέξις) diesem Ziel anzupassen: Sie sei klar (σαφής), kraftvoll (κύριος) und allgemein gehalten (κοινή), und somit für jedermann vertraut (πᾶσιν ἀνθρώποις συνήθης), ohne unnötigen Ballast (ὄγκος) und fremdartige Wendungen (ξένα), die in einer Charakterisierung fehl am Platze seien. Auch in der σύνθεσις (hier: der Zusammenstellung des Satzes) manifestiere sich die Meisterschaft des Lysias hinsichtlich der ἠθοποιία: Er habe verstanden, dass eine lose Fügung (διαλελυµένη λέξις) hier angemessener sei als Rhythmen (ῥυθµοί) und abgerundete Satzstrukturen (περίοδοι). Allgemein könne die ἠθοποιία des Lysias von allen Autoren als die überzeugendste (πιθανώτατον) gelten.49 Eine weitere Behandlung der ἠθοποιία des Lysias findet sich im 19. Kapitel der Schrift. Hier behandelt Dionysios die drei zentralen aristotelischen πίστεις.50 Nach der Behandlung der Überzeugung anhand des Gegenstandes bzw. der Tatsachen (πίστις ἐκ τοῦ πράγµατος) – Lysias sei hierbei in allen Unterkategorien hervorragend – kommt Dionysios auf die Überzeugung anhand des Charakters (πίστις ἐκ τῶν ἠθῶν) zu sprechen und gibt hier nun auch inhaltliche Kriterien an. Sowohl anhand der Lebensumstände (βίος) als auch der Natur (φύσις) des Dargestellten gelinge es Lysias, ihn zu charakterisieren, ebenso durch Taten (πράξεις) und Vorhaben (προαιρέσεις). Wenn solche Informationen nicht verfügbar seien, konstruiere Lysias selbst ein ἦθος (αὐτὸς ἠθοποιεῖ). Dies geschehe, indem er die Personen (πρόσωπα) durch die ihnen in den Mund gelegten Worte als glaubwürdig (πιστά) und ehrenhaft (χρηστά) darstelle; er lasse sie ungerechte (ἄδικοι) Taten ebenso wie Worte (λόγοι καὶ ἔργα) ablehnen und stelle sie als Charaktere mit guten Absichten (τὰ δίκαια προαιρούµενοι) dar.51 Auch ein drittes Beispiel mit inhaltlichen Aussagen über die angemessene Konstruktion von ἦθος findet sich in der Schrift über Lysias. Hier behandelt Dionysios die Anleitungen ansonsten nicht überlieferter rhetorischer Handbücher für bestimmte Verwandtschaftsverhältnisse unter den am Prozess Beteiligten.52 Dionysios ist die Vorstellung der Möglichkeit der Konstruktion eines Charakters also durchaus bekannt – was auch nicht besonders überraschen kann. Im Hinblick auf die Historiographen allerdings beschreibt er diese Technik nicht bezüglich ihrer Selbstdarstellung, sondern als eine erzählerische Fähigkeit: So spricht Dionysios Herodot zu, in der ἠθῶν καὶ παθῶν µίµησις, der Darstellung der Charaktere und Gefühle der historischen Personen, insbesondere durch deren Reden, hinsichtlich der µίµησις des ἦθος Thukydides überlegen zu sein, der dafür hinsichtlich des πάθος den Vorzug kriegt.53 49 50 51 52 53
Vgl. De Lys. 8 Vgl. Arist. Rhet. 1356a. Vgl. De Lys. 19. Vgl. ebd. 24. Vgl. Ep. ad Pomp. 3,18.
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Für Dionysios ist zumindest im Bereich der ἠθοποιία keine explizite Forderung auszumachen, dass der Historiograph auch seinen eigenen literarischen Charakter nach ihren Kriterien zu formen habe. Natürlich ist für Dionysios auch die ethische Haltung des Historiographen selbst ein wesentlicher Punkt, und die von Marincola als Bestandteile der historiographischen Persona betonten Aspekte der Ablehnung von Schmeichelei und Missgunst spielen ebenfalls eine Rolle. Auch hier allerdings interpretiert Dionysios die Tradition im Sinne seiner eigenen historiographischen Konzepte. Bevor die Rolle dieser Neutralitätsforderung näher behandelt wird, soll zunächst aber ein Überblick über die einschlägigen Aussagen über das ἔργον der διάθεσις bzw. des ἦθος in den Scripta Rhetorica und dem Proöm der Antiquitates gegeben werden. 1.2.2 Die διάθεσις und das ἦθος des Historiographen In der Epistula ad Pompeium nennt Dionysios die Haltung des Historikers gegenüber den Gegenständen, über die er schreibt (τὴν αὐτοῦ τοῦ συγγραφέως διάθεσιν, ᾗ κέχρηται πρὸς τὰ πράγµατα περὶ ὧν γράφει), als den fünften πραγµατικὸς τόπος, anhand dessen er zunächst den Vergleich zwischen Herodot und Thukydides vornimmt.54 Hinsichtlich der διάθεσις attestiert Dionysios Herodot eine Überlegenheit gegenüber Thukydides. Er freue sich über Gutes und zeige im Falle von schlechten Ereignissen Mitleid (διάθεσις … τοῖς µὲν ἀγαθοῖς συνηδοµένη, τοῖς δὲ κακοῖς συναλγοῦσα). Thukydides dagegen wirke verbittert, als Grund dafür gibt Dionysios die Verbannung aus Athen an.55 Entsprechend der Liste der fünf Topoi, anhand derer Dionysios den Vergleich zwischen Herodot und Thukydides vorgenommen hat, widmet er sich im Folgenden weiteren Historiographen, statt von der διάθεσις ist nun aber vom ἦθος die Rede. Dionysios führt Philistos als Beispiel für ein schlechtes ἦθος, Xenophon als Beispiel für ein gutes ἦθος an. Dabei fällt die Parallelität der Konstruktionen ins Auge. Neben der Schmeichelei sei das schlechte ἦθος des Philistos durch Tyrannenfreundschaft gekennzeichnet,56 er zeige eine niedere Haltung und Kleinlichkeit.57 Xenophons gutes ἦθος dagegen zeige sich in seiner Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Geduld und Angemessenheit und sei somit mit allen Tugenden versehen.58 Theopomp schließlich, den Dionysios gesondert bespricht, lobt er für ähnliche Qualitäten wie Xenophon, die sich in den philosophischen Bemerkungen äußern würden, in denen Theopomp Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Frömmigkeit (εὐσέβεια) und die anderen Tugenden behandeln würde, und nimmt ihn gegen die Vorwürfe, er sei böswillig (βάσκανος) gegenüber denjenigen, die er 54 Vgl. ebd. 3,15. 55 Ebd.: ἡ δὲ Θουκυδίδου [διάθεσις] αὐθέκαστός τις καὶ πικρὰ καὶ τῇ πατρίδι τῆς φυγῆς µνησικακοῦσα. 56 Das gute Verhältnis zu den Dionysioi von Syrakus bestätigen neben Plut. Dion 36,3 noch zahlreiche weitere Quellen, vgl. dazu Meister (2000). 57 Ep. ad Pomp. 5,2: … κολακικὸν καὶ φιλοτύραννον … καὶ ταπεινὸν καὶ µικρολόγον … 58 Ebd. 4,2: … θεοσεβὲς καὶ δίκαιον καὶ καρτερικὸν καὶ εὐπρεπές, ἁπάσαις τε συλλήβδην κεκοσµηµένον ἀρεταῖς …
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kritisiere, in Schutz.59 Zwar umfasse seine Darstellung von großen Personen mitunter Unnötiges (οὐκ ἀναγκαῖα πράγµατα), im Prinzip aber gleiche seine Vorgehensweise der eines Arztes, der die kranken Teile des Körpers wegschneide oder ausbrenne, die gesunden aber nicht verletze.60 Ein Unterschied zwischen der Epistula ad Pompeium und der Epitome von De imitatione findet sich in einer Bemerkung zum ἦθος des Thukydides: In der Epitome findet sich über Philistos die explizite Bemerkung, er gleiche Thukydides ἔξω τοῦ ἤθους, bis auf das ἦθος. Das ἦθος des Thukydides sei frei (ἐλεύθερον) und voller Bedachtsamkeit (φρονήµατος µεστόν), das des Philistos dem Tyrannen gegenüber schmeichlerisch (θεραπευτικὸν τὸν τύραννον) und von sklavischem Opportunismus geprägt (δουλῶν πλεονεξίας).61 Das ist meist als Ausdruck eines tatsächlichen Unterschiedes in der Bewertung des Thukydides aufgefasst worden.62 In diesem Zusammenhang lohnt sich allerdings ein Blick auf terminologische Unterschiede. So leitet Dionysios seine Erörterung des fünften πραγµατικὸς τόπος, wie bemerkt, nicht mit dem Begriff des ἦθος, sondern der διάθεσις ein. Ebenso wichtig scheint zu sein, dass er diesen Punkt als einzigen nicht als ἔργον des Historiographen, sondern als πραγµατικὴ ἰδέα bezeichnet.63 Tatsächlich scheint ein Unter59 60 61 62
Zur Tradition der Kritik an der „Schmähsucht“ Theopomps vgl. Meister (1975), 59-61. Vgl. Ep. ad Pomp. 6,8. Vgl. De im. F. 31,427. Bei der Bemerkung zum ἦθος des Thukydides handelt es sich um eine der wenigen Stellen, in denen die Epitome eine Aussage bereithält, die in der Epistula nicht zu finden ist und die somit auf einen Unterschied der zugrunde liegenden Texte hinweisen könnte. Für Sacks (1983), 69 ist die Passage ein Argument für die Überarbeitung der Historikerkritik in der Epistula durch Dionysios: Dieser habe seine Meinung über Thukydides schlichtweg geändert. Gegen diese Auffassung hat sich Heath (1989), 373 gewandt. Seines Erachtens sei die Passage, wie sie in der Epistula überliefert ist, missverständlich; man könne die Aussage über das ἦθος des Philistos fälschlicherweise auf Thukydides, mit dem er im Eingangssatz verglichen werde, beziehen. Aus der Missverständlichkeit könne man darüber hinaus schließen, dass der Text in der Epistula sein „final polish“ noch nicht erhalten habe, was die Theorie Useners, die Historikerkritik in der Epistula sei von Dionysios aus einem unvollendeten Manuskript übernommen worden, stütze. Weaire (2002), 354-5 schließlich stimmt der Argumentation von Heath gegen Sacks im Wesentlichen zu, schreibt die Änderung allerdings dem Epitomator zu. Das sei wahrscheinlicher als eine Änderung durch Dionysios selbst, da nur „a very inattentive reader“ der Epistula den Unterschied in der Kritik des ἦθος des Thukydides und desjenigen des Philistos überlesen und seine tyrannenfreundliche und schmeichlerische Haltung fälschlicherweise auf Thukydides beziehen könne. Lediglich in der Epitome, in der die Auseinandersetzung mit dem ἦθος des Thukydides ausgelassen sei, sei eine solche Verdeutlichung notwendig. Auch die Änderung der Reihenfolge weise eher auf einen Epitomator als auf Dionysios selbst hin. Insgesamt geht Weaire im Gegensatz zu Usener und Heath davon aus, dass sowohl die Epistula als auch die Epitome von De imitatione auf den gleichen Ursprungstext zurückgehen. In einer Vorbemerkung der online veröffentlichten Version seines Hermes-Aufsatzes hat Heath sich der Argumentation Weaires angeschlossen. 63 Dionysios bezeichnet die Wahl der ὑπόθεσις, wie bereits erwähnt, als ἀναγκαιότατον ἔργον (Ep. ad Pomp. 3,2); auch die Wahl des Anfangs- und Endpunktes bezeichnet er explizit als das δεύτερον ἔργον (8). Der dritte τόπος wird als τρίτον [scil. ἔργον] angeführt (11), im Falle des vierten taucht der Begriff wieder explizit auf (13). Lediglich der fünfte τόπος wird nicht als ἔργον bezeichnet, sondern als ἰδέα (15).
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schied zwischen der διάθεσις παρὰ τῶν πραγµάτων, der Haltung des Historiographen, wie Dionysios sie im Falle von Herodot und Thukydides beschreibt, und dem ἦθος von Xenophon und Philistos bzw. Thukydides in der Epitome zu bestehen. Sowohl der Vergleich der διαθέσεις als auch derjenige der ἤθη verlaufen recht parallel. Auffällig ist allerdings, dass die Charakterisierungen beider διαθέσεις offensichtlich nur die Oberfläche der literarischen Darstellung berühren, eben die Haltung gegenüber den πράγµατα, die in deren Darstellungsweise zum Ausdruck kommt.64 Die Beschreibungen der ἤθη hingegen weisen auf wirkliche charakterliche Merkmale. Auch der direkte Vergleich der negativen Kritiken weist auf diesen Unterschied: Während im Falle des Thukydides die διάθεσις Folge seines Exils ist – der βίος wirkt auf die διάθεσις, keine wirkliche charakterliche Schlechtigkeit –, ist es im Falle des Philistos ein tatsächlich schlechtes ἦθος, das sich in seinem schmeichlerischen Geschichtswerk ebenso wie in seiner wirklichen Biographie ausdrückt. Als Punkt der Kritik muss Dionysios auf diese Aspekte eingehen, ein schlechtes ἦθος muss kritisiert werden. Ein gutes ἦθος ist zwar eine Voraussetzung, es dem Historiographen als ἔργον vorzuschreiben ist aber nicht möglich. Es wird durch andere Ursachen bedingt als die übrigen, erlern- und nachahmbaren πραγµατικοὶ τόποι. 1.2.3 Historiographisches ἦθος: Objektivität statt Unparteilichkeit Von den methodischen Selbstzuschreibungen, die Marincola als zentrale Elemente der Charakterkonstruktion des Historikers anführt, steht in Dionysios’ Theorie nur die Unparteilichkeit in einem direkten Zusammenhang mit dem historiographischen ἦθος bzw. der διάθεσις. Dionysios selbst betont seinen eigenen Objektivitätsanspruch in der Schrift über Thukydides, aber zugleich auch den Anspruch seiner Kritik, Gutes als Gutes und Schlechtes als Schlechtes bezeichnen zu dürfen, ohne deshalb als missgünstig oder voreingenommen zu gelten.65 Dionysios unterscheidet hier also Objektivität von Neutralität, bezieht sich dabei aber auf den üblichen Referenzrahmen der historiographischen Forderung nach Unparteilichkeit, nämlich
64 Wiater (2011a), 141: „διάθεσις does not refer to explicit comments of the historical narrator about the events but to the general manner in which these events are arranged and presented.“ 65 Vgl. De Thuc. 1-4. Zur Thukydidesmode in der römischen Rhetorik, die bereits von Cicero in Or. 32 und Brut. 287 beschrieben worden ist und offensichtlich noch zur Zeit des Dionysios anhielt, sowie der Konzeption von De Thucydide als Antwort auf diese Tendenz vgl. Bonner (1969), 83; Sacks (1983), 82 hat die unterschiedliche Bewertung der πραγµατικοὶ τόποι in der Ep. ad Pomp. und De Thuc. darauf zurückgeführt, dass in der Epistula die Bewertung der πραγµατικοὶ τόποι im Vordergrund gestanden habe, Thukydides also explizit als Historiograph behandelt worden sei, während in De Thuc. die Qualitäten der λέξις mit dem Ziel der rhetorischen µίµησις im Vordergrund gestanden hätten: Hier habe Dionysios die Kritik an der λέξις durch die positivere Bewertung der πραγµατικοὶ τόποι abmildern wollen, um nicht selbst als „biased“ zu erscheinen. Zur Bedeutung des Thukydides für die Geschichtskonzeption der Römer vgl. Weaire (2005), 257-261.
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den expliziten Verzicht auf deren angenommene Ursachen, Schmeichelei und Missgunst. Diese Form der Argumentation zieht sich auch durch seine Aussagen über Historiographie. So lobt Dionysios die Wahrheitsliebe des Thukydides und die Tatsache, dass er, was das Lob großer Männer angehe, sich weder zu Schmeichelei noch zu Missgunst habe hinreißen lassen und weder unberechtigterweise Dinge ausgelassen noch hinzugedichtet habe.66 Die Betonung der thukydideischen Wahrheitsliebe, die eindeutig an die gängige Formulierung im Rahmen historiographischer Proömien und Methodenanleitungen anknüpft, hat dazu geführt, dass mitunter ein zumindest oberflächlicher Unterschied auch zwischen der Epistula und De Thucydide in der Bewertung hinsichtlich des historiographischen ἦθος ausgemacht worden ist. G. Weaire hat als Erklärung die persönliche Abhängigkeit des Dionysios von der römischen Aristokratie als einen ausschlaggebenden Faktor dargestellt:67 Dionysios habe es meisterhaft verstanden, einerseits die spezifisch römischen Vorstellungen von Historiographie, der Geschichte Roms und dem damit zusammenhängenden ἦθος des Historikers zu bedienen, sich andererseits aber seine spezifisch griechischen „idiosyncrasies“ zu erhalten – ebenfalls mit dem Ziel, seinen Wert als „cultural ressource“ für die römische Aristokratie und ihr Distinktionsbedürfnis zu erhalten.68 Der unterschiedlichen Darstellung des ἦθος des Thukydides, das in der Epistula als durch den Hass auf Athen geprägt erscheine, in De Thucydide durch die Betonung der Wahrheitsliebe des Thukydides, liege kein tatsächlicher Sinneswandel zu Grunde. Das könne man an den Aussagen über den Hass des Thukydides auf seine Heimatstadt, der in der Besprechung der λεκτικοὶ τόποι auch in De Thucydide auftauche, sehen.69 Vielmehr könne man hier eine argumentative Strategie des Dionysios beobachten: Durch das Bekenntnis zur Wahrheit und die Betonung der Wahrheitsliebe des Thukydides mache er sich und die gelehrten Römer, die er implizit zu seinesgleichen erkläre, zu „better Thucydideans than Thucydides“.70 Der besondere rhetorische Kniff dabei sei allerdings gerade, dass Tubero und andere römische Adressaten mit vergleichbarer Bildung diesen Trick durchschauen und dies als eine noch größere Bauchpinselei empfinden würden als eine bloße Übernahme der römischen Haltung gegenüber Thukydides.71 Weaire hat sicherlich recht, wenn er darauf hinweist, dass Dionysios’ Wertung in den beiden Schriften sich grundsätzlich nicht unterscheidet. Allerdings kann man die positive Äußerung über das ἦθος des Thukydides, das sich etwa in der Darstellung der vorbildlichen Athener zeigt, durchaus ernst nehmen: Auch in der Epistula ist es ja explizit nicht das ἦθος des Thukydides, sondern dessen διάθεσις, die kritisiert wird, und die erklärt sich aus der Kränkung, die er durch seine Vaterstadt erfahren hat, nicht aus einem tatsächlich schlechten Charakter. Es spricht also nichts dagegen anzunehmen, dass Dionysios durchaus einige Aspekte des thukydide66 67 68 69 70 71
Vgl. De Thuc. 8. Vgl. Weaire (2005), 246-252, Zitat 252. Vgl. ebd. 263. Vgl. ebd. 253-256. Vgl. ebd. 255. Vgl. ebd. 255; 262-3.
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ischen Werkes für gut erachtet, nämlich die, in denen sich dessen eigentliches ἦθος zeigt. Daher lässt sich auch die Aussage darüber, dass Thukydides nichts hinzuerfunden und nichts weggelassen habe, vor dem Hintergrund des moralischen Imperativs, den Dionysios mit dem historiographischen ἦθος verbindet, durchaus im Sinne der maßgeblichen Unterscheidung zwischen einer wahrhaftigen Objektivität und einer lediglich scheinbar objektiven Neutralität deuten: Thukydides’ Darstellungen der großen Athener sind vollständig nicht im Hinblick auf den Umgang mit der historischen Überlieferung, nicht notwendig eine exakte Wiedergabe der Ergebnisse seiner Recherche und Quellenkritik, sondern vollständig im Hinblick auf die Anforderung einer literarisch ansprechenden und moralisch nützlichen Darstellung. Thukydides hat an dieser Stelle nichts Schlechtes hinzuerfunden oder über die Maßen hervorgehoben und nichts Gutes weggelassen, seine διάθεσις ist in diesen Fällen tatsächlich Ausdruck seines eigentlich guten ἦθος, sie ist weder schmeichlerisch noch böswillig. Diese Deutung der Aussagen über die moralische Objektivität des Thukydides gewinnt noch an Plausibilität, wenn man sich das Proöm der Antiquitates ansieht. Hier ist Dionysios in ganz ähnlicher Weise bemüht ein ἦθος zu zeigen, das die eindeutige Haltung im Sinne einer wahren moralischen Objektivität aufweist. Dionysios betont explizit die Notwendigkeit der richtigen Auswahl des Materials: Historiographen, die ὑπὲρ ἀδόξων πραγµάτων ἢ πονηρῶν ἢ µηδεµιᾶς σπουδῆς ἀξίων … πραγµατείας schreiben, hinterlassen den Eindruck, selbst derlei gutzuheißen.72 Im Übrigen entwickelt Dionysios sein Argument auch hier in vergleichbarer Form wie in De Thucydide: Gleich zu Beginn des Proöms äußert Dionysios, er wolle auf Eigenlob (ἴδιοι ἐπαινοῖ) ebenso verzichten wie auf Verleumdungen (διαβολαί) anderer Historiographen (συγγραφεῖς), wie sie sich etwa bei Theopomp und Anaximander fänden.73 Umgekehrt führt er die Auffassungen über die frühe römische Geschichte, wie sie unter den Griechen kursieren würden, explizit auf Missgunst (κακοήθεια), also eine böswillige charakterliche Haltung, zurück. Die attestiert er allen, die in der Hegemonie Roms einen ungerechten Akt des Schicksals (τύχη) sehen würden, das Barbaren diejenigen Güter (ἀγαθά) hätte zukommen lassen, die eigentlich Griechen zustünden. Unter diesen Menschen seien auch Historiographen, die sich in „sklavischer Abhängigkeit von Barbarenkönigen“ befänden und Geschichtswerke verfasst hätten, die weder „gerecht noch wahr“ seien.74 Seine eigene, positive Haltung gegenüber Rom verteidigt Dionysios gegen den offensichtlich zu erwartenden Vorwurf, es handle sich bei ihr um Schmeichelei (κολακεία).75 Dionysios ist also bemüht darum, seine offenkundige Parteinahme für Rom nicht als Parteilichkeit im Sinne der klassischen Unterstellung, im Dienste eines Herren zu handeln, verstanden zu wissen, sondern als Ausdruck eines ἦθος, das in der Lage sei, Gutes als Gutes zu benennen, und damit objektiver sei als die 72 73 74 75
Vgl. AR. 1,1,3. Vgl. ebd. 1,1,1. Vgl. ebd. 1,4,2. Vgl. ebd. 1,6,5.
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communis opinio über Rom. Das Handeln im Sinne des guten ἦθος geht dabei über die übliche Ablehnung schlechter Haltungen als Ausdruck von Missgunst hinaus: Dionysios lehnt generell schlechte und schändliche Gegenstände ab, da diese dem Ruf des Historikers schaden würden. Lässt sich der enge Zusammenhang des guten ἦθος und der diesem ἦθος entsprechenden Inhalte nun allein im Sinne einer willkürlichen normativen Zuschreibung deuten, die den konkreten Gegenstand in propagandistischer Absicht überhöht und dabei zugleich die Autorität des Historikers herausstellt? Die Art und Weise, in der Dionysios in den kritischen Schriften das ἦθος der Historiographen beschreibt und als Kriterium der Beurteilung verwendet, lassen es auch als eine aus seiner Sicht tatsächlich authentische Qualität erscheinen: Das ἦθος scheint ebenso sehr Überzeugungsinhalt wie Überzeugungsmittel zu sein. Inwiefern dem mehr zu Grunde liegt als eine wohlfeile Ethik pro bono contra malum oder eine reine Idealisierung konkreter historischer Vorbilder wird noch zu diskutieren sein. 1.3 Οἰκονοµία und τάξις des Stoffes: Ordnung und Inhalt Auch der Aspekt der Anordnung des Materials ist für Dionysios eine der zentralen Vorbereitungen des Historiographen. Zum einen liegt auf der Hand, dass allgemeine Gliederungsaspekte grundlegend für jede literarische Form sind. In der Art und Weise, in der Dionysios die Ausrichtung des Materials fordert, ist allerdings auch ein Ausdruck einer dezidiert idealisierenden und affirmierenden Historiographie gesehen worden.76 Während dieser Topos in der überlieferten Epitome von De imitatione als ein einzelnes ἔργον unter dem Begriff der οἰκονοµία zusammengefasst ist, finden sich in der Epistula ad Pompeium die drei genannten Unterkategorien des Anfangs- und Endpunktes, der Stoffauswahl und der Anordnung. In De Thucydide verwendet Dionysios erneut den Begriff der οἰκονοµία, als dessen Unterkategorien behandelt er die διαίρεσις, die τάξις und die ἐξεργασία des Thukydides und bezeichnet die οἰκονοµία als einen eher handwerklichen Teil (τεχνικώτερον µέρος).77 Auch in diesen Aspekten der technischen Umsetzung schlagen sich dennoch die grundlegende Bedeutung des Gegenstandes und des ἦθος eines Historiographen nieder. Die Auswahl des richtigen Anfangs- und Endpunktes hängt naturgemäß mit der Einordnung des Werkes in die historia perpetua zusammen. Durch die Wahl seines Darstellungszeitraumes versucht Dionysios, sich als inhaltlicher Vorgänger des Polybios zu etablieren.78 Ebenso besteht ein genereller Zusammenhang mit dem ersten ἔργον, der Auswahl der ὑπόθεσις und deren moralischer und ästhetischer Qualität. Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang in der Epistula. Hier wirft Dionysios Thukydides vor, er habe sein Werk mit dem Anfang vom Ende Griechenlands
76 Vgl. insb. Fox (1993), 37-8; Wiater (2011b), 68. 77 Vgl. De Thuc. 9. 78 Vgl. Delcourt (2005), 50-3. Zum Sieg über Pyrrhos als Telos vgl. Peirano (2010), 39; 50.
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begonnen – etwas, das ein Grieche und Athener keinesfalls hätte tun sollen.79 Eher hätte er mit den großen Errungenschaften der Athener nach dem Sieg über die Perser beginnen sollen, einem Thema, das er später an ungeeigneter Stelle aufgegriffen habe. Auch das Ende, die Seeschlacht bei Kynossema, sei ungeeignet. Vielmehr hätte Thukydides eines auswählen sollen, das bewundernswerter und für die Leser bedeutender und angenehmer sei, etwa die Rückkehr der Exilanten aus Phyle.80 In beiden Fällen betont Dionysios eindeutig den Zusammenhang der Zuschreibung der Kriegsschuld mit der Wahl des Anfangs: In der Epistula wie auch in De Thucydide besteht dieser Zusammenhang darin, dass Thukydides nicht mit dem von ihm eigentlich als Kriegsanlass angesehenen Anwachsen der Macht Athens bzw. vor allem der Furcht der Lakedaimonier davor, sondern mit der unwahren αἰτία, der Entsendung eines athenischen Heeres zur Unterstützung Korkyras gegen Korinth, begonnen habe.81 Während Dionysios Thukydides in der Epistula eindeutig den Vorwurf der Missgunst macht, werden in De Thucydide allgemein eher technische Fehler benannt, was damit zusammenhängen mag, dass die Wahl des richtigen Anfangs- und Endpunktes hier eben als Aspekte der τάξις behandelt werden. Allgemein könne man einen guten Anfang daran erkennen, dass keine vorhergehenden Ereignisse vorstellbar wären, beim Ende verhält es sich entsprechend umgekehrt. Dionysios bemerkt, dass die Natur es fordere, wahre Gründe vor falschen und frühere Ereignisse vor späteren zu schildern. Generell hätte der Anfang des Thukydides wirksamer sein können, wenn er sich hieran gehalten hätte.82 Die Kritik am mangelhaften Ende taucht in De Thucydide ebenfalls auf; hier geht Dionysios allerdings auf die moralischen Implikationen nicht ein, sondern wirft Thukydides lediglich erneut vor, seinem eigenen Anspruch, bis zum Ende des Krieges zu berichten, nicht gerecht zu werden.83 Das dritte ἔργον, die Auswahl der πράγµατα, steht in direktem Zusammenhang mit der Forderung nach einer abwechslungsreichen und vielfältigen ὑπόθεσις. Folgerichtig gibt Dionysios also auch hier Herodot gegenüber Thukydides den Vorzug: Letzterer behandle dichtgedrängt eine Schlacht nach der anderen, während Herodot, dem Vorbild Homers vergleichbar, verschiedene Stoffe abwechsle.84 In De Thucydide findet sich keine direkte Entsprechung dieses Punktes. Der Abschnitt über die ἐξεργασία kritisiert weniger die allgemeine Eintönigkeit des Stoffes als die generelle Tendenz des Thukydides, unwichtigen Dingen zu viel Raum zu geben und dagegen wichtige auszulassen.85 Das vierte ἔργον ist die Anordnung des Materials, die Dionysios in der Epistula unter dem Begriff τάξις, in De Thucydide unter dem Begriff διαίρεσις fasst. In der Epistula gibt Dionysios ebenfalls Herodot den Vorzug, der im Gegensatz zu 79 80 81 82 83 84 85
Vgl. Ep. ad Pomp. 3,2. Vgl. ebd. Vgl. ebd.; De Thuc. 10. Vgl. De Thuc. 11. Vgl. ebd. 12. Vgl. Ep. ad Pomp. 3,11. Vgl. De Thuc. 13.
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Thukydides seine Episoden nicht durch eine streng chronologische Erzählweise zergliedere. Die generelle Kritik an dieser Form der Stoffanordnung findet sich auch in De Thucydide.86 Im Proöm definiert Dionysios sowohl einen Anfangs- als auch einen Endpunkt, im Hinblick auf die Auswahl des Materials hat sich bereits im letzten Abschnitt gezeigt, wie sehr Dionysios hier eine bestimmte Darstellungsabsicht als maßgeblich betrachtet und dies auch offen vertritt. Einzig auf den Aspekt der τάξις findet sich kein direkter Hinweis in den Antiquitates. Sacks hat die naheliegende Begründung angeführt, dass Dionysios, da er selbst mit seiner annalistisch gegliederten Darstellung näher an Thukydides sei, diesen Punkt bewusst nicht hervorgehoben habe.87 In den Bereichen der Materialauswahl und -anordnung zeigen sich neben den tatsächlich eher literarischen Aspekten der Abgeschlossenheit und leserfreundlichen Aufteilung des Stoffes also Anforderungen, die von der moralisierenden Grundhaltung nicht zu trennen sind bzw. als ihr direkter Ausdruck erscheinen. Entscheidend für unsere in diesem ersten Teil leitende Frage, in welchem Verhältnis eine an den klassischen Kriterien antiker Historiographie orientierte Vorstellung von Wahrheit zu formalen, rhetorischen Anforderungen steht, ist neben den hier genannten ἔργα des Historiographen nun vor allem der Umgang mit den Quellen selbst, die im engeren Sinne ‚kritisch-rationale‘ Tätigkeit. 2 WEITERE AUFGABEN DES HISTORIOGRAPHEN Im Proöm des Dionysios finden sich auch Aussagen zu weiteren Vorbereitungen, die in der Epistula nicht unter die fünf zentralen ἔργα des Historiographen gezählt werden. Allerdings finden auch diese Punkte dort an anderer Stelle Entsprechungen. Dionysios behandelt sie im Zusammenhang mit Theopomp, dem er eine eigenständige Diskussion widmet. Für Theopomp sei die Historiographie keine Nebenbeschäftigung (πάρεργον) gewesen, sondern durch Mühe (φιλοπονία) und Fleiß (ἐπιµέλεια) gekennzeichnet.88 Beinahe im gleichen Wortlaut charakterisiert Dionysios im Antiquitates-Proöm die eigenen Vorbereitungen. So erwähnt er die lange Dauer seines Aufenthaltes in Rom, die Mühe, die er auf das Erlernen der lateinischen Sprache verwendet habe, die Heranziehung griechischer und lateinischer Quellen, ebenso wie seine Konsultation der „größten Gelehrten“.89 Diese Vorbereitungen sind für Dionysios nach eigenem Bekunden neben der Auswahl des Gegenstandes die zweite wichtige Anforderung für den generellen Erfolg eines Geschichtswerkes, der sich in der Anerkennung durch die Nachwelt zeige.90 Darüber hinaus betont Dionysios generell die Notwendigkeit eines sorgfältigen Umgangs (ἀκρίβεια) mit den schriftlichen Quellen und der mündlichen Überlieferung, den er 86 87 88 89 90
Vgl. Ep. ad Pomp. 3,13; De Thuc. 9. Vgl. Sacks (1983), 74-6. Vgl. Ep. ad Pomp. 6. Vgl. AR 1,7,2-3. Vgl. ebd. 1,1,2.
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als das wesentliche Merkmal seiner Geschichte betont, die sich von den Erzählungen auf Grundlage von zufällig Gehörtem (ἐπιτυχόντα ἀκούσµατα) unterscheide, die er an anderer Stelle als Ursache für die irrigen Auffassungen der meisten Griechen über die Ursprünge Roms bezeichnet.91 Mit dem Aspekt der ἀκρίβεια berührt Dionysios einen Punkt, der in historiographischen Proömien traditionell in einem engen argumentativen Zusammenhang mit der Forderung nach einem durch die Methode begründeten Anspruch auf historische Wahrheit steht, mitunter sogar synonym verwendet wird, und zugleich die Autorität des Historikers betonen soll.92 An der Möglichkeit eines Zuganges zu den Quellen und der grundsätzlichen Qualifikation des Dionysios zur Quellenkritik bestehen in jüngerer Zeit kaum noch Zweifel. Die Voraussetzungen dafür sowohl durch die Verschleppung zahlreicher Bibliotheken nach Rom als auch durch neue Gründungen in der frühaugusteischen Zeit sind wiederholt betont worden. Ebenso wenig sind noch begründete Zweifel an seinem Romaufenthalt,93 seinen Lateinkenntnissen oder seiner allgemeinen Belesenheit geäußert worden.94 Auch das gelehrte Umfeld, in dem sich Dionysios in Rom bewegte, ist in der neueren Forschung stets aufs Neue thematisiert und der Status, den man Dionysios innerhalb dieser Gruppen zugeschrieben hat, aufgewertet worden.95 Die Frage, die sich hier stellt, ist so vor allem, welchen Zielen der von Dionysios betonte Fleiß diente. 91 Vgl. ebd. 1,1,4 ἐπιτυχόντα ἀκούσµατα; 1,5,4 ἀκριβής; 1,6,1 & 2 ἀκριβῶς. 92 Vgl. Marincola (2007), 24-5. 93 Die belastbaren Informationen zum Leben und zur Person des Dionysios sind spärlich und erschließen sich vorwiegend aus seinem Werk. Aus dem Proöm der Antiquitates erfahren wir, dass er der Sohn eines Alexander war, aus Halikarnassos stammte (AR 1,8,4) und nach der Schlacht bei Actium nach Rom kam, wo er sich nach eigenem Bekunden seit zweiundzwanzig Jahren aufhielt, als der erste Band der Antiquitates erschien, vgl. ebd. 1,7,2. 94 Vgl. dazu Delcourt (2005), 30-2; Schultze (2000), 23-7. 95 Über Dionysios’ Umfeld sind wir durch seine kritischen Schriften unterrichtet. Einige seiner zumeist in Form von Briefen verfassten Traktate richten sich an Personen, deren Namen zum Teil mit historisch greifbaren Persönlichkeiten identifiziert werden können. Zum Stand der Diskussion vgl. De Jonge (2008), 32–3. Insbesondere der Adressat der Schrift über Thukydides, Q. Aelius Tubero, der allgemein mit dem Historiographen aus der Zeit des Dionysios identifiziert wird, ist zu einem zentralen Punkt in der Diskussion über den sozialen Rang des Dionysios und die Beschaffenheit seines Umfeldes an sich geworden. Dabei werden sowohl das soziale Prestige der Aelii Tuberones als auch das genaue Verhältnis, in dem Dionysios zu dieser Familie stand, keinesfalls einstimmig bewertet. Beck ‒ Walter (2004), 346-7 haben in den Aelii Tuberones eine „bemühte“ Familie gesehen: Trotz der Konsulate, die zwei der Söhne des Historiographen bekleideten, seien vor allem die intellektuellen Bestrebungen der Familie erfolgreich gewesen. Den sozialen Status Tuberos als „man of standing“ betont deutlicher Bonner (1939), 5, der allerdings den Historiographen mit seinem Sohn, dem Konsul des Jahres 11, identifiziert. Delcourt (2005), 34 bemerkt, Tubero sei „prédisposé … à une brillante carrrière“ gewesen, habe sich aber lieber den Studien des Rechts und der Geschichte gewidmet. Der Vater des Historiographen Quintus, L. Aelius Tubero, war wohl ein Jugendfreund Ciceros. Sowohl die Widmung des Dionysios als auch die Tatsache, dass er sich auf Quintus als Quelle bezog (AR 1,7,3; zum Plural Αἴλιοι und dessen Bedeutung „men like Aelius“, was sich wohl auf den jüngeren der beiden Historiographen, Q. Aelius, bezieht, vgl. Cary, Roman Antiquities, ad loc. Anm. 2), darüber hinaus auch eine Aussage Ciceros (Ad Quint. fr. 1,3,10), sprechen für eine gewisse Bedeutung des Q. Aelius Tubero als Historiograph. Die Ansicht, dass es sich bei den
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2.1 Die ἀκρίβεια des Dionysios Der Begriff ἀκρίβεια steht, wie so viele der bei Dionysios verwendeten, in zwei Traditionen. Auf der einen Seite steht die Sorgfalt bei der Kritik der Quellen, auf der anderen Seite stehen Forderungen nach einer sorgfältigen Ausarbeitung auch der nur bruchstückhaften Überlieferung nach bestimmten Kriterien der Vollständigkeit.96 Bei Dionysios sind Theorien der möglichst detailreichen ἐξεργασία, also der angemessenen Ausarbeitung eines Themas entsprechend der Beachtung, die es verdiene, wie wir eben gesehen haben, durchaus von Bedeutung,97 und seine Forderungen nach ἀκρίβεια sind in der modernen Forschung daher oftmals ganz in diesem Sinne aufgefasst worden.98 Allerdings steht die ἀκρίβεια im Proöm nicht nur in Opposition zu dem, was Dionysios in seiner Kritik Thukydides als ῥαθυµία in der Ausarbeitung vorwirft, sondern allgemein zum „zufällig Gehörten“, auf dem die meisten schlechten Darstellungen der römischen Geschichte basieren würden, den ἐπιτυχόντα ἀκούσµατα. Dionysios behauptet also zumindest den Anspruch, einen besseren inhaltlichen Zugang zum Gegenstand zu haben, und das lässt in diesem Zusammenhang auf einen Anspruch schließen, der zumindest nicht rein formaler Natur ist.99 Diejenigen, die die Auffassung vertreten, dass Dionysios „n’est pas si mauvais historien qu’on ne l’a dit parfois“,100 weisen vor diesem Hintergrund vorwiegend darauf hin, dass bestimmte Aussagen im Gegensatz zu den Vorwürfen der älteren Forschung durchaus
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Aelii Tuberones um die Patronen des Dionysios gehandelt haben könnte, ist zunächst von Bowersock (1965), 130 vertreten worden, der auf den allgemein als Sohn unseres Dionysios geltenden Aelius Dionysios von Halikarnassos aus hadrianischer Zeit hinweist, der unter seinem vollen Namen bei Phot. Bibl. cod. 152 = Bekker 99b, ohne das römische Gentilnomen in der Suda, s.v. Διονύσιος, erwähnt ist. Delcourt stellt das Patronageverhältnis als eine Tatsache hin. De Jonge allerdings rät in diesem Zusammenhang zur Vorsicht; tatsächlich eindeutige Belege für die Vermutung liegen nicht vor. Generell hat De Jonge (2008), 29 darauf hingewiesen, dass „conjectures about Dionysius’ aquaintances … do not help us much further“, und stattdessen auf die allgemein große Präsenz griechischer Gelehrter im Rom der frühen Kaiserzeit verwiesen und dabei den Fokus von Dionysios’ Umfeld, dem „Kreis“ seiner unmittelbaren Umgebung, auf das „Netzwerk“ von Intellektuellen gerichtet, in dem Dionysios verkehrt habe (26– 7; insb. 26 Anm. 134). Diese Konzeption, die zum einen natürlich die Problematik umgeht, die sich aus der kargen Quellenlage zu Dionysios’ sozialen Verbindungen ergibt, suggeriert zudem weniger die „obscure Existenz“ als ausländischer Sprachlehrer, der in einem „micro cosm“ (Usher, Critical Essays I, xix) von Griechen sein Dasein fristete, als die generelle Offenheit und Dynamik eines von gemeinsamen intellektuellen Interessen geleiteten Umfeldes. Vgl. mit Literaturüberblick Fantasia (2004), 62-66. Vgl. v.a. De Thuc. 13. Vgl. Wiseman (1979): „Besides, he was not afraid of prolixity, and incorporated material from all types of sources to achieve ‚precise detail‘ (akribeia)“; Goudriaan (1989), 281-3, weist 282 darauf hin, dass Dionysios’ ἀκρίβεια zwei grundlegende Bedeutungen habe: Anwendung der Kriterien der Vollständigkeit und Detailliertheit des Geschichtswerkes. Beidem liege der Gedanke zu Grunde, dass ein Stoff die ihm gebührende Aufmerksamkeit verdiene. Vgl. Gabba (1991), 82. Delcourt (2005), 60.
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in einzelnen Aspekten rekonstruierbaren Fakten entsprechen würden,101 oder betonen die Anwendung rationaler Verfahren im Umgang mit den Quellen.102 Clemence Schultze etwa hat in einer Untersuchung zur Methode des Dionysios als Gradmesser seiner historischen Qualitäten drei wesentliche Kriterien zur „Evaluation of evidence“ ausgemacht: Als erste Kategorie nennt sie „supporting evidence“, also zusätzliche, unterstützende Belege, als zweiten Punkt begründete, logische Argumentationen „reasoned argument (including consistent argumentation for genealogical 101 Gerade die Argumentation des Dionysios hinsichtlich chronologischer Fragen gehört zu den relativ wenigen Bereichen, die hinsichtlich ihrer allgemeinen Verlässlichkeit in der Forschung bereits seit längerem eine positivere Bewertung erfahren haben, allerdings im Zusammenhang mit solchen Datierungen, die sich auch nach modernem Verständnis auf einen historischen Zeitraum beziehen. Chronologie im Allgemeinen spielt für Dionysios aber vor allem hinsichtlich der ältesten Zeit eine wesentliche Rolle, die genealogischen Erwägungen beziehen sich ihrem Wesen nach vor allem auf das spatium mythicum. Dionysios selbst gibt an, in einem anderen Werk die Verlässlichkeit der Kanone des Eratosthenes nachgewiesen zu haben. Dieses Werk des Dionysios entspricht vermutlich den bei Clemens von Alexandria zitierten Chronoi, vgl. AR 1,74,2; Clem. Alex. Strom. 1,21,102. Generell hatte dieses Werk nach Angabe des Dionysios zum Zweck, zu zeigen, wie die griechische Chronologie mit der römischen zu synchronisieren sei, vgl. AR 1,74,2. In den Beispielen, die Schultze anführt, um die Funktion der Chronologie als Grundlage begründeter Argumentationen herauszustellen – der Gründung Roms und der Diskussion über die Verwandtschaftsverhältnisse der Tarquinier – scheint sich allerdings in größerem Maße als bei den anderen Kriterien des Dionysios ein Interesse an Detailfragen als Selbstzweck zu finden. Das alles darf nicht davon ablenken, dass auch hier die Herstellung einer als gesichert geltenden Chronologie allgemein dem Bedürfnis zu folgen scheint, die Ereignisse der mythologischen Zeit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Generell allerdings kann betont werden, dass Dionysios sich in eine fortlaufende Diskussion der Antike einschaltete, und das mit Argumenten, die dem heutigen Leser rationaler erscheinen mögen als etwa das inverse Horoskop, das nach der Erzählung Plutarchs Tarutius im Auftrag Varros erstellt haben soll, vgl. Plut. Romulus 12,3-5. Im Falle der Autopsie der Monumente, der zweiten Kategorie, in der Dionysios verstärkt eine glaubwürdige Darstellung zugesprochen wird, handelt es sich um eine jüngere Forschungsmeinung. Gegen die Skepsis gegenüber Dionysios hat sich A. Andrén gewandt. Er hat im Falle zahlreicher Schilderungen nachweisen können, dass Dionysios durchaus den Zustand der Bauwerke beschreibe, wie er für seine eigene Zeit – nicht die seiner literarischen Quellen – angenommen werden könne, vgl. Andrén (1960), 88-104. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion der Monumente als Argument ergeben sich naheliegende Probleme. Dass Dionysios ein Monument selbst gesehen hat, gibt noch keinerlei Auskunft über das Verhältnis zu den historischen Ereignissen, in deren Zusammenhang sie als Belege angeführt werden. Allgemein ist oftmals nur schwer zu bestimmen, was als Begründung wovon anzusehen ist, das Monument als Beleg des Ereignisses oder umgekehrt ein Ereignis als Funktions- oder Herkunftsbeschreibung eines Monumentes. Das ist nicht allein ein Problem der argumentativen Ausrichtung des Dionysios selbst, sondern ein allgemeines, dessen Auswirkungen auch auf die historische oder historisierende Traditionsbildung Gabba eindrücklich beschrieben hat. Er verweist auf den engen Zusammenhang volkstümlicher, religiös bedingter oder auch aus anderen Gründen entstandener Aitiologien von Monumenten, dem Einfluss solcher Erzählungen auf antiquarische Bemühungen, und der Tatsache, dass auch eine um historische Exaktheit bemühte Geschichtsforschung sich mit solchen Berichten als Quellen begnügen musste. Gerade hierin sieht er den Einfluss der „False History“ auf die „True History“ bedingt, der eine Trennung der Bereiche bereits in der Antike so schwer gemacht habe. Vgl. Gabba (1981), 60-61. 102 Vgl. Schultze (2000), 42.
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and chronological questions)“, als dritten allgemeine Probabilitätskriterien, „general credibility (an appeal to likelyhood and common sense versus the improbable or mythical).“ In der Praxis gehen diese Muster der Begründung natürlich oftmals ineinander über; Schultze führt mit dieser Einschränkung für die drei Kategorien Beispiele im Einzelnen an. Für die erste Kategorie weist sie etwa auf die Berufung auf als verlässlich geltende Autoren sowie auf Monumente und Rituale hin. Sie präsentiert eine beeindruckende Liste der von Dionysios namentlich erwähnten Autoren, die er selbst mit entsprechenden Zusätzen wie der Betonung ihres Alters und ihrer Gelehrsamkeit als besonders glaubwürdig heraushebt.103 Als Beispiel für Rituale dient die Beschreibung der Prozession, der Wettkämpfe und Opfer anlässlich der ludi maximi.104 Bei den „begründeten“ bzw. „logischen“ Argumentationen verweist sie etwa auf allgemeine Erwägungen chronologischer oder genealogischer Natur.105 Als Beispiel für die generellen Wahrscheinlichkeitsargumente führt sie schließlich das Beispiel des einen Fabius, der angeblich als einziger das Massaker an der Cremera überlebt hat, an. Dionysios tue diese Überlieferung außergewöhnlich scharf als Legende ab. Ähnlich rationalistisch argumentiere er auch gegen die Annahme einer Verschwörung gegen Tullus Hostilius.106 Tatsächlich findet sich bei Dionysios eine Passage, in der er so etwas wie die Grundlagen seiner Quellenkritik bzw. des Umgangs mit den alten Stoffen beschreibt. Die Passage stellt Dionysios den Beschreibungen der ludi maximi im siebten Buch voran, und sie bezieht sich explizit auf den argumentativen Anspruch, den er im ersten Buch formuliert: Ἐπεὶ δὲ κατὰ τοῦτο γέγονα τῆς ἱστορίας τὸ µέρος, οὐκ οἴοµαι δεῖν τὰ περὶ τὴν ἑορτὴν ἐπιτελούµενα ὑπ’ αὐτῶν παρελθεῖν, οὐχ ἵνα µοι χαριεστέρα γένηται προσθήκας λαβοῦσα θεατρικὰς καὶ λόγους ἀνθηροτέρους ἡ διήγησις, ἀλλ’ ἵνα τῶν ἀναγκαίων τι πιστώσηται πραγµάτων, ὅτι τὰ συνοικίσαντα ἔθνη τὴν Ῥωµαίων πόλιν Ἑλληνικὰ ἦν ἐκ τῶν ἐπιφανεστάτων ἀποικισθέντα τόπων, ἀλλ’ οὐχ ὥσπερ ἔνιοι νοµίζουσι βάρβαρα καὶ ἀνέστια· ὑπεσχόµην γὰρ ἐπὶ τῷ τέλει τῆς πρώτης γραφῆς, ἣν περὶ τοῦ γένους αὐτῶν συνταξάµενος ἐξέδωκα, µυρίοις βεβαιώσειν τεκµηρίοις τὴν πρόθεσιν, ἔθη καὶ νόµιµα καὶ ἐπιτηδεύµατα παλαιὰ παρεχόµενος αὐτῶν, ἃ µέχρι τοῦ κατ’ ἐµὲ φυλάττουσι χρόνου, οἷα παρὰ τῶν προγόνων ἐδέξαντο· οὐχ ἡγούµενος ἀποχρῆν τοῖς ἀναγράφουσι τὰς ἀρχαίας καὶ τοπικὰς ἱστορίας, ὡς παρὰ τῶν ἐπιχωρίων αὐτὰς παρέλαβον ἀξιοπίστως διελθεῖν, ἀλλὰ καὶ µαρτυριῶν οἰόµενος αὐταῖς δεῖν πολλῶν καὶ δυσαντιλέκτων, εἰ µέλλουσι πισταὶ φανήσεσθαι. Da ich zu diesem Teil des Geschichtswerkes gekommen bin, glaube ich, dass ich die von ihnen [den Römern] vorgenommenen Opferhandlungen nicht übergehen darf, nicht, damit meine Erzählung, weil sie theatralische Zusätze und blumige Worte enthält, gefälliger wird, sondern damit etwas Wichtiges überzeugend dargelegt wird: Dass die Völker, die in der Stadt der Römer zusammenleben, griechische waren, die aus den berühmtesten Orten als Kolonisten ausgesandt wurden, und nicht, wie manche glauben, barbarische und nomadische. Ich habe nämlich am Ende des ersten Buches, das ich über die Zusammenstellung ihrer Geschlechter 103 Vgl. ebd., 22-3 (Liste der Autoren nach Gattungen) und 33-5 zur Betonung der Autorität einzelner Autoren. 104 Vgl. AR 7,72: Beschreibung der Prozession und Vergleich mit Beschreibungen bei Homer; 7,73: Beschreibung der Spiele und Opfer, Vergleich mit homerischen Agonen. 105 Vgl. Schultze (2000), 43. 106 Vgl. AR 9,22,1-5; 3,35,5-6; Schultze (2000), 43-4.
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I Forschungsmethode und Darstellungsabsicht herausgegeben habe, versprochen, durch unzählige Beweise die Grundbehauptung zu festigen, indem ich ihre alterümlichen Sitten, Bräuche und Gepflogenheiten anführe, die sie bis in meine Zeit bewahrt haben, so, wie sie sie von ihren Vorfahren übernommen haben: Denn ich glaube nicht, dass es für die Verfasser archaischer und lokaler Geschichten ausreicht, sie wie sie sie bei den Einheimischen übernommen haben, auf glaubwürdige Weise wiederzugeben, sondern meine, dass es auch zahlreicher und unwiderlegbarer Zeugnisse für diese Geschichten bedarf, wenn diese überzeugend erscheinen sollen.107
Diese Stelle ist für die Beurteilung seiner Methode und seines Wahrheitsanspruches von wesentlicher Bedeutung, formuliert sie doch explizit seinen Anspruch im Umgang mit der Überlieferung. Die Forderung, die alten Geschichten glaubwürdig (ἀξιοπίστως) darzustellen, weist dabei auf eine zentrale methodische Prozedur, die allgemein eine ambivalente Angelegenheit ist, die Mythenrationalisierung. Die Begriffe τεκµήρια und µαρτύρια bezeichnen „Beweise“ und „Zeugnisse“, die eine Tradition als rhetorische Überzeugungsmittel, aber auch als historische Belege haben. Es soll sich hier zunächst letzteren zugewandt werden. 2.2 Τεκµήρια: Überzeugungsmittel oder Belege? Ein wesentlicher Punkt in Dionysios’ Aussage zum Umgang mit den alten Quellen ist die Forderung nach zahlreichen Beweisen und Zeugnissen (τεκµήρια und µαρτύρια). Wie auch beim Begriff der ἀκρίβεια gibt es hier verschiedene Traditionen, in denen diese Begriffe verwendet werden. Die τεκµήρια sind in der historiographischen Tradition seit Herodot belegt, vor allem aber im Hinblick auf seine Bedeutung bei Thukydides ist der Begriff τεκµήριον intensiv diskutiert worden. Die Thukydideskommentare sind sich zur genauen Bedeutung uneinig. Gomme sieht besonders in der Betonung der τεκµήρια bei Thukydides 1,1,3 und 1,21,1 „not so much evidence, as inference from the evidence“,108 mit der Begründung, dass es sich ja nicht um einen neuen Befund, sondern um eine neue Interpretation des Befundes handle,109 und verweist auf die klassische Verwendung bei Gericht, wo die µαρτύρια die Beweise, die τεκµήρια die daraus resultierenden Schlussfolgerungen bezeichnen würden. Er verweist darüber hinaus auch auf die aristotelische Rhetorik, die das τεκµήριοv als eine bestimmte Form der „conclusion“ behandle.110 Genaugenommen definiert die aristotelische Ars Rhetorica das τεκµήριοv als das einzige der Zeichen (σηµεία), das zu einem zwingenden Schluss führt – im Gegensatz zu Zeichen, aus denen einfache induktive Schlüsse gezogen werden können, und zu nicht-zwingenden Deduktionen. Daher kann es zugleich als eine bestimmte Form des Untersatzes eines Syllogismus gesehen werden, die durch die Art und Weise, wie aus ihr die conclusio folgt, definiert ist.111 Prägnant formuliert sind τεκµήρια
107 108 109 110 111
AR 7,70,1-2. Gomme (1998a), 92. Vgl. ebd. 40-1. Vgl. ebd. 135. Vgl. Arist. Rhet. 1357b 1,2,17-18.
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bei Aristoteles „Zeichen, die nie ohne das auftreten, wofür sie Zeichen sind.“112 Hornblower betont allgemein die Vorliebe des Thukydides für juristische Termini, die sich in den grundsätzlich synonym verwendeten Phrasen τεκµήριοv δέ, µαρτύριον δέ und σηµεῖον δέ zeige.113 Er rät, das thukydideische τεκµήριοv schlicht als „evidence“ zu übersetzen, 114 und führt aus, dass bei Thukydides eine Verwendung im technischen Sinne der aristotelischen Rhetorik nicht besteht, der Begriff dennoch „a more distant reason for making judgements“, gerade im Falle antiquarischen Materials, von der direkten, ungetrübten Wahrnehmung (αἴσθησις) abgrenze.115 Neben der Verwendung bei Thukydides ist auch bei Polybios eine explizit auf antiquarisches Material ausgerichtete Bedeutung des Begriffes ausgemacht worden. Gerade die Annahme, dass es sich eben auf eine in besonderer Weise zu interpretierende Form von Quellen richte, hat auch hier zu der Deutung geführt, dass der Begriff τεκµήριοv auch dort, wo es nicht die logische Funktion des aristotelischen erfüllt, auf mehr als das Zeichen selbst, sondern auf eine bestimmte Art des Schlusses verweise, der gerade nicht zwingend sei, sondern im Hinblick auf den unsicheren Gegenstand lediglich eine gut begründete Annahme zum Ziel habe.116 Wenn Goudriaan darauf verweist, dass im Gegensatz zu Polybios bei Dionysios „noties als tekmeria en martyriai weeder de rhetorische betekenis [krijgen] die ze vanouds hadden“ und sie von der „wettenschapelijken“ Bedeutung abgrenzt, die sie in der hellenistischen Historiographie durch den aristotelischen Einfluss erhalten hätten,117 meint er mit der „rhetorischen Bedeutung“ also offenbar ebenso wenig die ursprüngliche juristische Unterscheidung von µαρτύρια und τεκµήρια wie das zwingende Zeichen der aristotelischen Rhetorik, sondern vielmehr den unterschiedslos geforderten Überzeugungscharakter des τεκµήριοv als πίστις, das nicht die bloß relative Glaubwürdigkeit alter und daher nicht exakt zu belegender Gegebenheiten bezeichne, sondern fordere, die Geschichten sollten rein äußerlich „überzeugend erscheinen“ (πισταὶ φανήσεσθαι). Tatsächlich ist es aber nicht unbedingt geboten, hier allein den Charakter des τεκµήριοv als Überzeugungsmittel in den Vordergrund zu stellen. Es würde immerhin implizieren, dass Dionysios die verwendeten πίστεις zugleich dem Publikum offenlegt – ein Aspekt, der für die Frage nach dem intendierten Nutzen der Historiographie noch von Bedeutung sein wird. Bei Dionysios scheint sich außerdem, obwohl auch er im Hinblick auf die Historiographie prinzipiell mit antiquarischen Quellen beschäftigt ist, eine nicht näher einzugrenzende Verwendung im Sinne von „Beleg“ zu finden. Das wird auch durch eine offenbar terminologische Verwendung in einer anderen Passage gestützt, in der Dionysios den Begriff im Rahmen seiner literaturkritischen Arbeit benutzt: 112 113 114 115 116 117
Rapp (2002), 199. Vgl. Hornblower (1989), 102; dens. (1991), 25. Vgl. ebd. 7. Vgl. dens. (1989), 100-102, Zitat 102. Vgl. Goudriaan (1989), 281-2. Vgl. ebd., Zitat 282.
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I Forschungsmethode und Darstellungsabsicht Ὅτι δὲ καὶ περὶ τὰς ἐξεργασίας τῶν κεφαλαίων ἧττον ἐπιµελής ἐστιν, ἢ πλείονας τοῦ δέοντος λόγους ἀποδιδοὺς τοῖς ἐλαττόνων δεοµένοις ἢ ῥᾳθυµότερον ἐπιτρέχων τὰ δεόµενα πλείονος ἐξεργασίας, πολλοῖς τεκµηρίοις βεβαιῶσαι δυνάµενος ὀλίγοις χρήσοµαι. Ich nutze nur wenige, obwohl ich es durch viele Belege (τεκµήρια) bekräftigen könnte, dass er auch im Hinblick auf die Ausarbeitung der Gegenstände weniger sorgfältig ist, entweder denen, die weniger Worte bedürfen, zu viele widmet, oder leichtfertiger über die hinweggeht, die mehr Ausarbeitung brauchen.118
Allgemein kann man vor dem Hintergrund dieser eher neutralen Verwendung des Begriffes auch im Hinblick auf die Antiquitates-Passage ebenso gut mit Schultze die grundsätzlich legitime Forderung nach „further substantiation“, nach umfassenden Belegen, sehen, der Dionysios auch nachkommt: Immerhin finden sich in den Antiquitates beinahe 50 Passagen, in denen er explizit τεκµήρια, verstanden als indirekte Belege für historische Aussagen, anführt.119 Dabei ist festzuhalten, dass Dionysios im Hinblick auf die Suche nach solchen τεκµήρια auf eine Vielzahl vorhandener Überlieferungstraditionen zurückgreift.120 2.3 Die Ambivalenz der Mythenrationalisierung Die Mythenrationalisierung ist zum einen als eine Bedingung der Entstehung der Historiographie angesehen worden, als entscheidender Schritt von einer offenkundig fiktionalen Vergangenheitsvorstellung zu einer, die zumindest ihrer Form nach plausibel zu sein hat.121 Das prominenteste Beispiel dafür ist Hekataios, der als einer der wichtigsten Vorläufer der Historiographie oder gar als der erste Historiker angesehen wird. Das Problem dieser Rationalisierung von Mythen als Methode der historischen Quellenkritik allerdings liegt auf der Hand: Nicht der Mythos selbst wird abgelehnt, sondern lediglich seine fiktionalen Elemente: „Wo im Mythos ein wahrer Kern gesucht wird, fasst man ihn nicht als eine grundsätzlich von Geschichte differente Art von Narration auf, sondern vielmehr als entstellte Geschichte.“122 Dadurch führt die Rationalisierung zu einer prinzipiell ebenso fiktionalen Neuerzählung – weshalb bereits Platons Sokrates diese Art der Interpretation als eine sophistische Methode verspottet.123 Die antike Historiographie lehnte zwar mitunter den mythischen Zeitraum, das spatium mythicum,124 ab, meist aber weder
118 De Thuc. 13. 119 Vgl. Schultze (2000), 35. 120 Vgl. Delcourt (2005), 83-217, die im zweiten Teil ihrer Monographie umfangreich die verschiedenen Traditionen einer Gräzität der Römer sowohl in der lateinischen als auch der griechischen Überlieferung herausarbeitet. 121 Vgl. Schadewaldt (1982), 98-105; Näf (2010), 181-2. 122 Hartmann (2010), 421. 123 Vgl. Plat. Phaidr. 229b-e. 124 Die Unterscheidung des mythischen, des unsicheren und des historischen Zeitalters findet sich bei Varro, De gente populi Romani, F 3 Peter = Cens. 21,1.
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konsequent hinsichtlich der Zeiträume, noch im Sinne einer Ablehnung des Mythos im Ganzen.125 Dionysios betont in seinem Proöm, sich auch mit dem spatium mythicum, der Wiedergabe der Geschichte Roms ἀπὸ τῶν παλαιοτάτων µύθων, beschäftigen zu wollen, mit einem Bereich, den die Historiker vor ihm vernachlässigt hätten, weil seine Behandlung schwierig sei.126 Er formuliert bewusst seinen Wahrheitsanspruch in Abgrenzung zum Mythischen (µυθῶδες),127 das er in den alten Lokalgeschichten, also seinen Quellen, in geradezu lächerlichem Maße ausmacht. Den sonst oft gescholtenen Thukydides lobt er dafür, dass er, im Gegensatz zu den Lokalschriftstellern, auf eben dieses Mythische und Unglaubwürdige verzichtet habe.128 Wie ist dieser Wahrheitsanspruch nun zu bewerten, der sich ja vordergründig explizit auf den Ereignischarakter einzelner Begebenheiten bezieht? Delcourt hat darauf hingewiesen, dass Dionysios hier tatsächlich in der Tradition einer bestimmten Wahrheitsauffassung steht.129 Fox hat auch die Rationalisierung als etwas herausgestellt, das Dionysios für die moralische Idealisierung nutzt,130 und Gabba hat darauf hingewiesen, dass Dionysios’ Rationalismus dort seine Grenzen hat, wo die Mythen den Bereich der römischen Selbstlegitimation und der genealogischen Propaganda der augusteischen Zeit berühren.131 Schultze führt Beispiele dafür an, wie Dionysios die Mittel einer rationalistischen Kritik als Mittel einer scheinbar rationalen Argumentation verwendet, etwa im Falle der Herakleserzählung: Indem er einer mythischen Erzählung einen ἀληθέστερος λόγος gegenüberstellt, historisiert er letzteren und macht ihn allgemein glaubwürdiger.132 Dionysios, der sich ja zu einem großen Teil mit Quellen des mythologischen oder zumindest unsicheren Zeitraumes herumschlagen muss, kann sich somit zum einen guten Gewissens auf die klassische Auffassung berufen, die im Mythos einen wahren Kern sieht und in der Revision vor allem eine Entfernung der allzu offenkundig widernatürlichen Elemente erwartet. Gleichzeitig nutzt er ganz bewusst die dem Verfahren inhärente Ambivalenz im Sinne seiner argumentativen Zielsetzung. 2.4 Kritik als Argumentation: Ein Beispiel Dionysios’ methodische Forderungen für den Umgang mit dem Material spiegeln die grundsätzliche Doppelgesichtigkeit der antiken Historiographie ebenso wider wie die der antiken Rhetorik: Die Mittel der Kritik sind von denen der Darstellung kaum zu unterscheiden, die Mittel der Darstellung sind zugleich die Mittel der – im
125 126 127 128 129 130 131 132
Vgl. Hartmann (2010), 422-3. Vgl. AR 1,8,1. Vgl. Schultze (1986), 126. Vgl. De Thuc. 6. Vgl. Delcourt (2005), 62. Vgl. Fox (1996), 56-63. Vgl. Gabba (1991), 120. Vgl. Schultze (2000), 40 und dies. (1986), 126.
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aristotelischen Sinne – überzeugenden Beweisführung wie der – im Sinne der platonischen Kritik – überredenden Argumentation. Als ein Beispiel dieser Problematik soll hier noch kurz Dionysios’ Kritik an der gängigen Herkunftsgeschichte der Aboriginer herangezogen werden. Dionysios bedient sich dabei nicht nur eines klassischen argumentum a nomine,133 sondern greift zugleich, wenn auch eher implizit, auf eine zu seiner Zeit offenbar beliebte Dekonstruktion eines wiederkehrenden Mythems zurück, bedient sich also eines Verfahrens, das man gleichermaßen als kritisch und argumentativ auffassen kann. In der Darstellung des Livius handelte es sich bei den Aborigines um die Einwohner Italiens, die sich unter der Herrschaft des Königs Latinus mit den Ankömmlingen um Äneas zusammengetan und den Namen Latiner erst nach dem Tod ihres Königs durch Äneas erhalten hätten.134 Die gängige und anscheinend transparente Etymologie der Aboriginer, die mit denjenigen Versionen der Geschichte, welche die Aboriginer als autochthon darstellen, korrespondiert, erwähnt auch Dionysios.135 Allerdings führt er noch weitere mögliche Etymologien an, von denen die erste darauf beruht, dass es sich um ein nicht sesshaftes Volk gehandelt habe: παραλλάττουσι δὲ καὶ τὴν ὀνοµασίαν αὐτῶν ἐπὶ τὸ ταῖς τύχαις οἰκειότερον, Ἀβερριγῖνας λέγοντες, ὥστε δηλοῦσθαι αὐτοὺς πλάνητας. κινδυνεύει δὴ κατὰ τούτους µηδὲν διαφέρειν τὸ τῶν Ἀβοριγίνων φῦλον ὧν ἐκάλουν οἱ παλαιοὶ Λελέγων· τοῖς γὰρ ἀνεστίοις καὶ µιγάσι καὶ µηδεµίαν γῆν βεβαίως ὡς πατρίδα κατοικοῦσι ταύτην ἐπετίθεντο τὴν ὀνοµασίαν ὡς τὰ πολλά. Sie verändern, indem sie sie Aberriginer [sic!] nennen, auch ihre Bezeichnung in eine dem Wesen angemessenere, damit es deutlich wird, dass sie umherirren. Nach dieser Auffassung ist anzunehmen, dass den Stamm der Aboriginer nichts von denjenigen unterscheidet, welche die Alten Leleger genannt haben: Allgemein gaben sie diesen Namen den Heimatlosen und Vermischten, die kein festes Gebiet als Vaterland bewohnen.136
Offenbar liegt dieser Etymologie die lateinische Wurzel aberrare zu Grunde, eine Tatsache, die Dionysios nicht weiter erläutert. Die Identifikation mit den Lelegern hat aber einen weiterreichenden Hintergrund, der einer Erklärung bedarf. Cary weist auf ein Zitat bei Strabon hin, der eine rationalistische Erklärung des Namens anbietet.137 Er führt zu diesem Zweck einige Hesiodverse an, in der die Leleger als „aus der Erde aufgelesene“ oder aber „von der Erde zusammengelesene Völker“ 133 Vgl. Cary, Roman Antiquities, ad loc.: „hybrid etymology“. 134 Vgl. Liv. 1,1-2. 135 Vgl. Briquel (1993), 30-1, der neben den Etymologien vor allem die antiquarischen Traditionen untersucht. Zwar nenne Dionysios im Zusammenhang mit seiner Herkunftskonstruktion der Aboriginer Varro nur einmal explizit, allerdings nimmt Briquel weitere Abhängigkeiten an, vgl. ebd. 22-4. Als reine Konstruktion fasst Dupont (2013), 106 die Aboriginer auf. Der Auffassung des Centre National des Ressources Textuelles, wonach es sich bei den Ab-origines um die volksetymologische Deutung eines Ethnikons handle, widerspricht sie: „Die Autoren … dieser Artikel … ziehen … noch nicht einmal in Betracht, dass dieser Name keinesfalls eine klar zu identifizierende Bevölkerungsgruppe bezeichnet, sondern vielmehr einen Begriff darstellt, mit Hilfe dessen es möglich ist, in lateinischer Sprache und im Kontext der römischen Vorstellungswelt die Anfänge Roms zu denken.“ 136 AR 1,10,2. 137 Vgl. Strab. 7,7,2; Cary, Roman Antiquities ad loc. AR 1,10,2.
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(λεκτοὺς ἐκ γαίης λάους) bezeichnet werden. Allerdings ist in diesen Versen explizit die Rede davon, dass es sich bei den Lelegern um diejenigen Lokrer gehandelt haben soll, die Deukalion zur Wiederbevölkerung der Welt nach der großen Flut geschaffen hat, indem er, durch ein Orakel dazu angehalten, Steine über seine Schulter warf. Strabon rationalisiert diese Variante des Mythos der Erdgeborenheit nun durch seine eigene Interpretation der zweideutigen Formulierung, die allerdings auch nur noch bei ihm überliefert ist: Es habe sich bei den Lelegern um „von alters her zusammengelesene Leute verschiedener Herkunft“ gehandelt.138 Den Lelegern ist also offenbar das gleiche Schicksal wie den zu Aberriginern gewordenen Aboriginern widerfahren: Von exemplarischen Ureinwohnern sind sie zum Paradigma heimatloser Nomaden geworden. Ob Dionysios hier bewusst den Mythos der Autochthonie anzweifelt, bleibe dahingestellt. Als Erklärung der Vorstellung von Erdgeborenheit scheint diese Variante zur Zeit des Dionysios verbreitet gewesen zu sein, das zeigt nicht nur Strabon: Livius etwa schildert im Zusammenhang mit dem Asyl des Romulus, dass es üblich gewesen sei, die rasch anwachsende Zahl wehrfähiger Männer unbekannter Herkunft dadurch zu erklären, dass sie aus der Erde gewachsen seien.139 Das Autoritätsargument,140 das Dionysios anführt, um schließlich auch die dem klassischen Mythos radikal entgegengesetzte Vorstellung der Aboriginer als Nomaden ohne Herkunft zu widerlegen – selbst Cato, nicht eben als Freund der Griechen verschrien, habe neben anderen Gelehrten eine griechische Herkunft der Aboriginer behauptet –141 wird noch um eine dritte Etymologie ergänzt, der Dionysios sich nun auch anschließen kann. Er nimmt eine Abkunft der Aboriginer über die Oinotrer von den Arkadiern an. Ihren Namen hätten die Aboriginer aus folgendem Grund erhalten: … κληθῆναι δὲ Ἀβοριγῖνας ἐπὶ τῆς ἐν τοῖς ὄρεσιν οἰκήσεως (Ἀρκαδικὸν γὰρ τὸ φιλοχωρεῖν ὄρεσιν), ὡς ὑπερακρίους τινὰς καὶ παραλίους Ἀθήνησιν. Sie wurden Aboriginer genannt, weil sie in den Bergen wohnten (es ist bei den Arkadiern beliebt, in den Bergen zu leben), so wie bei den Athenern einige Hochland- oder Küstenbewohner genannt werden.142
Durch diese Auslegung kann Dionysios also ein weiteres der römischen Stammvölker als griechisch identifizieren.143 Dabei bringt die Etymologie neben ihrem prinzipiell rationalen Charakter weitere Vorteile: Sie ist, im Gegensatz zur lateinischen von aberrare, auch ohne eine Änderung des Namens möglich. Außerdem ist sie griechisch; sie mag allein daher einem griechischen Leser eher einleuchten als die hinsichtlich der Wortstämme nicht erläuterten lateinischen Etymologien. 138 139 140 141 142 143
Vgl. Strab. ebd.: … τὸ συλλέκτους γεγονέναι τινὰς ἐκ παλαιοῦ καὶ µιγάδας. Vgl. Liv. 1,8,5. Vgl. Briquel (1993), 19. Vgl. AR 1,11,1. Ebd. 1,13,3. Offenbar sieht Dionysios in den Aborigines eine Bildung aus ἀπ- und ὄρος. Delcourt (2005), 130-56 betont die Bedeutung, die Dionysios Arkadien als einem urgriechischen Volk zugesprochen habe, aus dem die ältesten griechischen Einwanderer nach Italien gekommen seien.
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Grundsätzlich muss man attestieren, dass Dionysios auf seine Darstellung tatsächlich ein großes Maß an Mühe und Fleiß verwendet und er sich durchaus auf existierende Traditionen aus der historischen und historisierenden Literatur berufen kann. Bei aller Vieldeutigkeit im Hinblick auf die Aussagen zur methodischen Sorgfalt im Umgang mit der Überlieferung lässt sich allerdings kaum übersehen, dass Dionysios’ Darstellung affirmierend im Hinblick auf bestimmte Vorstellungen von Moral und intentional hinsichtlich des argumentativen Nachweises der Gräzität der Römer ist.144 Es handelt sich bei ihm um einen Historiographen „whose material is … rigorously directed towards the validation of his historical thesis“.145 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird es nun vor allem darum gehen müssen, das Verhältnis der geforderten moralischen Ausrichtung der Geschichtsschreibung zum vordergründigen Argumentationsziel und das Verhältnis beider zum Wahrheitsanspruch des Dionysios weiter zu verfolgen. Die hier bereits angesprochenen Anrufungen der historischen ἀληθεία im Kontext der diskutierten methodischen Aussagen weisen auch auf die Ausrichtung der weiteren konzeptionellen Diskussionen von Dionysios’ Wahrheitsanspruch hin: Es wird zu erörtern sein, ob sich über den Plausibilitätsanspruch der Mythenkritik hinaus eine Wahrheitsvorstellung ausmachen lässt, die sich vor allem an formalen Kriterien orientiert. Der Anspruch, eine dem „schönen Gegenstand“ entsprechende, „gerechte und wahre“ Darstellung zu geben, wird im Hinblick darauf zu diskutieren sein, woran sich die hierin angekündigte Idealisierung der Geschichte zu orientieren hat. Die Forderung schließlich, mit den Beispielen einer „wahren Geschichte“ bestimmte Tugenden lehren zu können, wird zu einer Diskussion des paradigmatischen Charakters der Geschichte führen.
144 Zum Begriff der „intentionalen Geschichte“, die sich mit der Legitimierung politischer Ansprüche der Gegenwart durch die Konstruktion v.a. von Genealogien befasst hat, vgl. für die Antike Gehrke (1994). Dionysios’ Motive für seine Gräzisierung Roms allerdings sind komplexer. 145 Vgl. Schultze (2000), 45.
II PLAUSIBILITÄT UND ANGEMESSENHEIT ALS WAHRHEITSKRITERIEN? Emilio Gabbas Zurückweisung des Konzeptes der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ als Charakterisierung für die Antiquitates beruht nicht zuletzt auf der in den vorhergehenden Kapiteln diskutierten Ambivalenz der Aussagen und des Vorgehens des Dionysios. Die zentralen methodischen Begriffe haben einen Platz in der historiographischen oder allgemein wissenschaftlichen Tradition ebenso wie in der Rhetorik, und die antike Historiographie selbst ist ein Phänomen, auf das die Ansprüche moderner Geschichtswissenschaft nicht einfach übertragbar sind. Im Folgenden soll es nun um einige Ansätze aus der jüngeren Forschung gehen, die zwar die ihrer Auffassung nach eindeutig rhetorische Ausrichtung der Antiquitates deutlich betont haben, im Gegensatz zur älteren Forschung hierin aber eben keine grundlegende Schwäche gesehen, sondern vielmehr die Orientierung an allgemeinen Regeln der Plausibilität und Glaubwürdigkeit auch als Ausdruck von Wahrheitskonzepten aufgefasst haben, die – in unterschiedlicher Form – einen starken Zusammenhang von formalen Kriterien und Wahrheitskriterien betonen. Zum einen ist dabei angenommen worden, dass Dionysios’ Wahrheitsanspruch auf der Annahme einer Übereinstimmung der Darstellung mit gewissen Abstraktionen des Historischen beruhe. Darüber hinaus sind Dionysios’ historiographische Ziele auch vor dem Hintergrund verschiedener Theorien diskutiert worden, denen gemeinsam ist, dass sie historische Wahrheit als in hohem Maße relativ und durch die jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umstände bestimmt ansehen, in denen ein historischer Entwurf der Vergangenheit entsteht. Mitunter gehen diese Auffassungen einher mit einem generellen Skeptizismus, der die Kluft zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ebenso wie zwischen der unendlichen Menge realer Ereignisse auf der einen und der Beschränktheit menschlicher Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit auf der anderen betont, und in den radikalsten Ausformungen als vollkommen unüberbrückbar ansieht. Die Annahme der Relativität historischer Wahrheit führt dabei aber nicht zu einer generellen skeptischen Ablehnung der verschiedenen möglichen Vergangenheitsentwürfe, sondern zu einer ‒ freilich eingeschränkten ‒ Anerkennung prinzipiell jeder dieser ‚Wahrheiten‘, solange sie ein Mindestmaß an Vermittelbarkeit und Plausibilität auszeichnet. Letztlich kommt es so zu einer Verschiebung des Ortes der historischen Wahrheit von der Ebene der historischen Ereignisse auf die Ebene der Repräsentation in der historischen Erinnerung oder eben der historiographischen Darstellung. Ist diese gedankliche Trennung erst einmal vollzogen, sind es letztlich formale Kriterien, die über die Akzeptanz der Repräsentation und damit auch über ihren angenommenen Wahrheitswert entscheiden. Im Folgenden sollen einige Ansätze diskutiert werden, die bei Dionysios ein besonderes Bewusstsein für Fragen der Bedeutung des angemessenen Modus der Repräsentation in der historischen Darstellung und eine prinzipielle Gleichsetzung
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des Plausibilitäts- und des Wahrheitsanspruches gesehen haben, die über die in der geläufigen Forderung nach rationalistischer Erneuerung der mythischen Überlieferung hinausgeht. Es soll die Theorie der µίµησις bei Dionysios diskutiert werden, in der mitunter der Anspruch einer rein an formalen Kriterien orientierten, fiktionalen Reproduktion der Realität gesehen worden ist. Anschließend soll untersucht werden, inwiefern die Theorie des πρέπον, die die Frage nach der angemessenen Form einer sprachlichen Vermittlung bestimmter Inhalte betrifft, als eine Theorie der angemessenen historischen Repräsentation historischer Gegenstände gesehen werden kann. 1 HISTORIOGRAPHIE UND ΜIΜΗΣΙΣ Der Wandel in der Bewertung des Dionysios durch die Modernen lässt sich wohl anhand kaum einer Diskussion so deutlich nachvollziehen wie an derjenigen über die µίµησις, die als Leitmotiv der kritischen Schriften und zentrales didaktisches Konzept seiner literarischen und rhetorischen Anleitungen gelten kann. Mit dem allgemein anmutenden Begriff scheint im Falle der µίµησις auf den ersten Blick auch ein recht weiter Bereich von Phänomenen bezeichnet zu werden.1 Dionysios jedenfalls benennt vordergründig sehr unterschiedliche Objekte der µίµησις. Er bezeichnet die Natur als Gegenstand, aber auch den Charakter und Lebenswandel historischer Vorbilder, im Zentrum seiner kritischen Schriften stehen verschiedene Formen der literarischen µίµησις von hervorragenden Eigenschaften vorbildlicher Redner und Autoren. Während die ältere Forschung in der Aufforderung zur literarisch-stilistischen Nachahmung das Grundübel nicht nur des Dionysios, sondern einer ganzen Epoche, die nicht mehr zu kulturellen Eigenleistungen in der Lage gewesen sei, gesehen hat, ist Dionysios in der jüngeren Forschung auch eine Verbindung zur Tradition einer historischen µίµησις nachgesagt worden. In dieser historischen µίµησις hat man sowohl eine allgemeine formale Orientierung an bestimmten aristotelischen Idealen für Drama und Epos gesehen, aber auch eine Diskussion über das Verhältnis des Allgemeineßn zum Besonderen und zur Wirkung einer Darstellung.2 Gerade Dionysios’ Äußerungen zur µίµησις von Natur (φύσις) und Wahrheit (ἀλήθεια) haben zum Versuch seiner Einordnung in diese Tradition geführt, wobei ihm mitunter die Forderung nach der Darstellung einer ‚allgemeinen Wahrheit‘ als Ziel der µίµησις und als Kriterium seiner Historiographie zugesprochen worden ist.3 1
2 3
Die Hinweise darauf, dass der Begriff µίµησις wegen seines Facettenreichtums und seiner mitunter angenommenen ontologischen Implikationen nicht einfach als Nachahmung bzw. „imitation“ übersetzt werden könne, sind zahlreich, vgl. Haliwell (2002), 13-14; Wiater (2011a), 77 Anm. 225. Im Folgenden ist dort von µίµησις die Rede, wo von der Konzeption allgemein die Rede ist. Dass es allerdings in den erläuternden Passagen nötig ist, von Nachahmung, Reproduktion etc. zu sprechen, zeigen auch die Beiträge, die das kritisieren. Vgl. v. Fritz (1976), 277-82; Ullmann (1943); Strasburger (1966), 78-88; Näf (2010), 121-4; Meister (1975), 109-126. Vgl. Halliwell (2002), 292-296; Gray (1987), 467-75.
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1.1 Realität und Realismus: Theorien der historischen µίµησις Dionysios diskutiert im Rahmen der Kritik an den thukydideischen Reden, unter welchen Bedingungen Thukydides’ Darstellung der Rede des Perikles „angemessen für einen Schriftsteller, der die Wahrheit nachahmen will“ (πρέπον τῷ µιµεῖσθαι βουλοµένῳ συγγραφεῖ τὴν ἀλήθειαν), wäre.4 Insbesondere diese Aussage hat dazu geführt, bei Dionysios nach einer Konzeption spezifisch historischer µίµησις zu suchen, die das Verhältnis der historischen Darstellung zur Wahrheit bzw. Wirklichkeit zum Gegenstand hat. Spuren einer Tradition der historischen µίµησις werden in der modernen Forschung zumeist in einem Fragment bei Duris von Samos und einer Aussage bei Diodor gesehen.5 Mitunter wurden diese Passagen in den Kontext dessen gerückt, was auch als „tragische Geschichtsschreibung“ bezeichnet worden ist, eben weil man hier eine Übertragung aristotelischer Theorien für Dichtung und Theater, der klassischen mimetischen Künste, auf die Historiographie gesehen hat. Ebenso wie in ihnen habe man generell eine lebhafte, eben dramatische Darstellung der historischen Stoffe gefordert.6 Die verschiedenen Aussagen über eine historische µίµησις im Sinne einer wirklichen Tradition zusammenzufassen, ist allerdings allgemein schwierig. Dionysios hier einzuordnen wird zudem durch den locus classicus, die Aussage bei Duris, erschwert. Dort wird nämlich gerade gegen Ephoros und auch gegen Theopomp, Dionysios’ großes Vorbild, der Vorwurf erhoben, dass keinerlei µίµησις in ihren Werken zu finden sei. Umgekehrt kritisiert Dionysios Duris für dessen Desinteresse an sprachlichem Stil.7 Die Aussage des Duris ist mitunter als genereller Angriff auf die angeblich zu sehr mit dem Stil befassten Isokrateer verstanden worden –8 auf eine Gruppe also, an die Dionysios selbst Anschluss sucht. Es ist daher zumindest wahrscheinlich, dass Dionysios über etwas ganz anderes spricht als Duris oder zumindest ganz andere Kriterien hat, und daher eine Interpretation der einzelnen Aspekte bei den verschiedenen Autoren im Sinne einer kohärenten Theorie mit äußerster Vorsicht zu betrachten ist. Trotzdem muss hier ein kurzer Überblick über die grundlegende Diskussion zum Gegenstand gegeben werden, um diejenige über Dionysios besser einordnen zu können. Bereits bei Kurt v. Fritz findet sich die Interpretation, dass es sich bei der Forderung nach einer historischen µίµησις nicht allein um eine Forderung nach formaler Angleichung der Historiographie an die Dichtung im Hinblick auf die Dramaturgie und emotionale Wirkung gehandelt habe, sich hierin vielmehr auch ein 4 5 6 7 8
Vgl. De Thuc. 45. Vgl. FGrHist 76 F1 = Phot. Bibl. 176 p.121 a41; Diod. 19,8,4. Vgl. Näf (2010), 123. Vgl. De comp. verb. 4; Walbank (1972), 37. Vgl. v. Fritz (1976), 277; Meister (1975), 109-10 und insb. 113, der dort Ullmanns (1943, 30) Auffassung zurückweist, wonach es sich bei Duris’ Konzept um eine Fortentwicklung der isokrateischen Lehre gehandelt habe: „Es ist undenkbar, daß Duris … sich einerseits von Ephoros und Theopomp distanziert, andererseits aber ihre Anschauungen übernehmen oder gar steigernd fortführen solle.“
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allgemeiner methodischer Punkt äußere, und zwar eine Forderung danach, dass die Historiographie sich auch in der Beschaffenheit ihrer Gegenstände dem annähern solle, was Aristoteles eigentlich noch als die Besonderheit der Dichtung gegenüber der Historiographie betont hat: Nicht das wirklich Geschehene, Konkrete, Partielle, sondern das Allgemeine ist in seiner bekannten Definition das Merkmal der ersteren – was sie zugleich zum philosophischeren Genre mache.9 In der Forderung nach µίµησις in der Historie könne man, so die moderne Deutung, eine Forderung nach einer Abkehr vom Historisch-Konkreten hin zum Philosophisch-Allgemeinen auch in der historiographischen Darstellung sehen.10 Die Interpretation der µίµησις als Forderung nach einer ‚allgemeinen Wahrheit‘ in der Historie ist in verschiedener Weise auch als Forderung nach einem besonderen Realismus der Darstellung interpretiert worden. Strasburger hat einer mimetischen Geschichtsschreibung, die auf die Darstellung von „potentieller Lebenswahrheit“ ausgerichtet sei, eine allgemeine Berechtigung zugesprochen, auch wenn mitunter die „Faktentreue durch fiktive, beziehungsweise potentielle Wirklichkeit ersetzt wird, vorausgesetzt, daß der Schriftsteller nur echte Lebenserfahrung verarbeitet.“11 Es ist allerdings ebenfalls darauf hingewiesen worden, dass solche Ansätze Probleme auch für das Selbstverständnis der Historiographie mit sich bringen würden, da diese „seit Thukydides immer wieder die Wahrheit“, verstanden eben als Übereinstimmung mit der konkreten Wirklichkeit, „als Ziel“ gefordert habe.12 Im Zuge neuerer Deutungen ist die angebliche Forderung nach historischer µίµησις im Sinne eines umfassenden Realismus gerade bei Dionysios schließlich auch als radikal konstruktivistisch interpretiert worden, als Ziel eine als Historiographie glaubwürdige Darstellung im Sinne der Auffassung „if something looks historical, it is historical“. Als Objekte der Nachahmung würden in diesem Zusam9 Vgl. Arist. Poet. 1451a-b. 10 Vgl. v. Fritz (1976), 278. 11 Vgl. Strasburger (1966), 78-80. Er weist darauf hin, dass man diese Theorie nicht anhand ihrer „Auswüchse“ beurteilen dürfe und sieht „logische Folgen“ (85) der Theorie, die er in weiten Teilen der hellenistischen Geschichtsschreibung ausmacht (86-96). Die Bezeichnung als „dramatische Geschichtsschreibung“ verwirft er als „grobschlächtig“ (78-9). 12 Vgl. Meister (1975), 113. Hier (109–126) findet sich auch ein Überblick über die verschiedenen Interpretationen des Durisfragments und der „dramatischen Geschichtsschreibung“. Meister sieht auch die Kritik des Polybios an seinen Vorgängern im Sinne der Vorstellung der historischen µίµησις als Lebensrealität, und interpretiert diese Lebensrealität als allgemeine Plausibilität deren Ziel es gerade sei, das offenkundig Rhetorische und Unwahrscheinliche zu benennen und zu kritisieren. Näf (2010), 122-3 hat zuletzt wieder den Aspekt der dramatischen Lebhaftigkeit ins Zentrum gestellt und folgt dabei Walbank (1972), 34-7, insb. 35. Ob Aristoteles selbst die Historiographie auch im Hinblick auf die µίµησις von der Dichtung und dem Drama unterschieden hat, ist umstritten. Halliwell (2002), 289 weist darauf hin, dass die Übertragung „[was] never found in a text from the classical age, and apparently running counter to Aristotle’s distinction between poetry and history in Poetics 9.“ Ausgehend von der Tatsache, dass Aristoteles Geschichte und Dichtung konzeptionell deutlich voneinander unterschieden hat, ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Aristoteles selbst oder die Peripatetiker kaum eine historische µίµησις angeregt haben können, vgl. Ullman (1943), 25ff.; v. Fritz (1976), 274; Meister (1975), 110.
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menhang nicht mehr zuerst konkrete oder abstrakte Realitätsbestandteile dienen, sondern andere historiographische Werke.13 Prinzipiell stellt sich somit die Frage, ob Forderungen nach Realismus, die sich von den konkreten Tatsachen vordergründig abwenden, allein die formale Akzeptanz und Glaubwürdigkeit zum Ziel haben, den historischen Tatsachen also jede Bedeutung schlichtweg absprechen, oder ob die Kriterien, an denen sich die formale Plausibilität orientiert, nicht eben doch eine Darstellung bestimmter verallgemeinerbarer Aspekte der tatsächlichen (historischen) Realität, eine Übereinstimmung mit ihrer abstrakten Ebene, fordern. 1.2 Gibt es eine historische µίµησις bei Dionysios? In diesem Spannungsfeld zwischen der Plausibilitäts- und Glaubwürdigkeitsforderung als rein formalem Wahrheitskriterium auf der Ebene der Repräsentation auf der einen und der Vorstellung eines auf abstrakte Qualitäten der tatsächlichen Wirklichkeit bezogenen Realismus auf der anderen Seite sind auch die unterschiedlichen Interpretationen der einschlägigen Passagen bei Dionysios angesiedelt, etwa diejenige Vivienne Grays. Sie hat die Aussage in der Kritik der Periklesrede und eine weitere Aussage in der Epistula ad Pompeium über die ἠθῶν καὶ παθῶν µίµησις ins Zentrum ihrer Rekonstruktion der historischen µίµησις gestellt und dabei die Erläuterung des πρέπον in De compositione verborum 20 als zentrale Quelle für das Verständnis des Vorganges der µίµησις herangezogen.14 Ihrer Auffassung nach bezeichnet µίµησις für einen Historiographen eine realistische Darstellung auf Grundlage der Beobachtung des natürlichen Verhaltens, insbesondere des Sprechens, von Menschen im wirklichen Leben.15 Der Bezug der historischen Darstellung besteht hier also zu einer allgemeinen Abstraktion der Wirklichkeit. Weiter geht Stephen Halliwells Auffassung von Dionysios’ Vorstellung historischer µίµησις. Halliwell weist auf den rhetorischen Kontext der Aussage über Perikles hin und attestiert Dionysios eine Haltung, die hinsichtlich der Geschichtsschreibung ebenso auf Plausibilität und Überzeugung ausgerichtet sei wie die Rhetorik. Prinzipiell könne man sogar sagen, dass „for Dionysius historiography’s entire relationship to reality (‚the truth‘) can be thought of in terms of µίµησις“.16 Nach Halliwell ist µίµησις für Dionysios „a kind of stylized fabrication or invention, yet also … a possible means of depicting and conveying truth or nature“.17 Dabei seien Wirklichkeit und Natur „not as discrete facts but as embodiments of general, recurrent features of the (human) world“ zu verstehen.18 Halliwell schildert einen hochgradig ambivalenten Vorgang, in dem man die „recurrent features“ zum 13 14 15 16 17 18
Vgl. Fox (1996), 79, Zitat ebd. Vgl. Gray (1987), 474-5. Vgl. ebd. 469-70. Vgl. Halliwell (2002), 292-3. Ebd. 295. Ebd.
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einen als realen Übereinstimmungsgegenstand einer allgemeinen Wahrheit auffassen könnte, als abstrakte Realitätsbestandteile, wie sie auch in anderen Theorien der historischen µίµησις auftauchen. Allerdings geht für ihn die µίµησις bei Dionysios noch darüber hinaus: Ihr Ziel sei eine „recreation of reality“, die Herstellung einer umfassenden Realitätsfiktion, einer „supposed reality“.19 Halliwell scheint davon auszugehen, dass in dieser „supposed reality“ die Grenzen bestimmter Abstraktionen des Realen und der auf Glaubwürdigkeit ausgerichteten Realitätsfiktion miteinander verschwimmen, und Dionysios so der rein an letztlich formalen Kriterien orientierten Fiktion einen gewissen Wahrheitswert zuspricht. Um festzustellen, inwiefern Dionysios hier tatsächlich den Produkten der µίµησις einen Wahrheitsgehalt zuspricht und in welchem Verhältnis hierbei die Realitätsabstraktion und die Realitätsfiktion zueinander stehen, müssen wir uns die Passagen, auf die Halliwell rekurriert, näher ansehen. Er bezieht sich auf eine Handvoll Aussagen über den Stil des Lysias in verschiedenen kritischen Schriften des Dionysios, in denen es, so Halliwell, in ähnlicher Weise um die Schaffung einer literarischen „supposed reality“ gehe wie in der Historiographie, da auch in diesen Aussagen das Ziel einer µίµησις der ἀλήθεια formuliert werde. Der Begriff ἀλήθεια wird hier von mir zunächst als „Wahrheit/Wirklichkeit“ übersetzt, um den Blick auf die Implikation des Dionysios nicht von vornherein zu verstellen: τὴν ἀλήθειαν οὖν τις ἐπιτηδεύων καὶ φύσεως µιµητὴς γίνεσθαι βουλόµενος οὐκ ἂν ἁµαρτάνοι τῇ Λυσίου συνθέσει χρώµενος· ἑτέραν γὰρ οὐκ ἂν εὕροι ταύτης ἀληθεστέραν. Wer sich mit der Wahrheit/Wirklichkeit(?) beschäftigt und ein Nachahmer der Natur werden will, wird wohl keinen Fehler machen, wenn er die lysianische Kompositionsweise benutzt: Er wird kaum etwas Wahrhaftigeres/Wirklichkeitsgetreueres(?) finden als diese.20
In einer weiteren Passage findet sich tatsächlich eine dem Anschein nach synonyme Verwendung der Begriffe φύσις und ἀλήθεια: τοῦ Λυσίου µὲν δή τις ἀναγινώσκων τὰς διηγήσεις οὐδὲν ἂν ὑπολάβοι λέγεσθαι κατὰ τέχνην ἢ πονηρίαν, ἀλλ’ ὡς ἡ φύσις καὶ ἡ ἀλήθεια φέρει, αὐτὸ τοῦτο ἀγνοῶν τῆς τέχνης, ὅτι τὸ µιµήσασθαι τὴν φύσιν αὐτῆς µέγιστον ἔργον ἦν. Jemand, der die Schilderungen des Lysias liest, würde wohl nicht den Eindruck gewinnen, dass etwas nach Regeln der Kunst oder mühevoll ausgedrückt wird, sondern so, wie die Natur und die Wahrheit/Wirklichkeit(?) es hervorbringen, und nicht erkennen, dass eben das ein Verdienst der Kunst ist, weil ihr größtes Werk das Nachahmen (µιµήσασθαι) der Natur ist.21
Diese beiden Passagen dienen Halliwell, zusammengenommen mit der Aussage aus der Perikleskritik, dazu, allgemein den rhetorischen Charakter und damit Überzeugung und Plausibilität als Hauptkriterien einer µίµησις der ἀλήθεια zu unterstreichen. Sein Argument der „supposed reality“ stützt sich im Folgenden auf weitere Aussagen, in denen die besondere Wirkung des Lysias beschrieben wird. Hier geht es nun allgemein um seine Überzeugungskraft: Dionysios schreibt Lysias die Fähigkeit zu, in einer Form zu sprechen, die dermaßen glaubwürdig sei, dass man ihre 19 Vgl. ebd. 296. 20 De Lys. 8. 21 De Is. 16. Vgl. auch ebd. 4; De Lys. 8.
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Inhalte für wahr/wirklich halte, auch wenn sie es nicht sind.22 Das geht so weit, dass Dionysios die Fähigkeit des Odysseus „viele Lügen so zu erzählen, dass sie wahr erscheinen“ (εἶσκεν ψεύδεα πολλὰ λέγων ἐτύµοισιν ὁµοῖα), als Eigenschaft des Lysias hervorhebt und lobt.23 Nach Halliwells Deutung beruht die „supposed reality“ dabei offenbar auf der plausiblen Form und Selbstdarstellung, aber überträgt sich in gewisser Weise auch auf die Inhalte selbst. Der Aspekt des Verhältnisses der formalen Qualität der Aussage zu ihren Inhalten wird von Dionysios allerdings noch weiter ausgeführt. In seinem Vergleich von Isaios und Demosthenes mit Isokrates und Lysias betont Dionysios erneut die Meisterschaft des Lysias und des Isokrates, auch im Falle des faktischen Gegenteils die eigenen Positionen als die rechtmäßigen (δίκαιοι) und wahrheits- bzw. wirklichkeitsgemäßen (ἀληθεῖς) zu inszenieren, wohingegen die übertriebene und offensichtliche Künstlichkeit des Isaios und Demosthenes oftmals auch im Falle einer rechtmäßigen Position den gewünschten Erfolg vermissen lasse.24 Wir haben gesehen, dass Dionysios in den ersten beiden Beispielen explizit in der Natur den Gegenstand der Nachahmung sieht. Die ἀλήθεια im Sinne der Natürlichkeit ist das Ergebnis auf der Ebene des Stils, einmal als Gegenstand von Studien, zu denen Dionysios anregt, im anderen Fall wird das Produkt der Kunst des Lysias als etwas bezeichnet, das von der ἀλήθεια nicht zu unterscheiden sei. Ἀλήθεια als Bezeichnung der Qualität des Stils findet sich auch in einer anderen Passage, in der Dionysios die Fähigkeit des Lysias, den Stil der jeweiligen Redepassage deren spezifischem Ziel anzupassen, lobt.25 Für Dionysios bezeichnet das Attribut ἀληθεῖς als Qualifikation des Stils zunächst die Übereinstimmung einiger oder auch vieler Elemente der lysianischen λέξις mit allgemein in der Wirklichkeit anzutreffenden Merkmalen einer echten rednerischen Äußerung eines gewöhnlichen Menschen und zugleich die Fähigkeit zum celare artem:26 „We may conclude … that a natural style is a style that presents the ideas in a straightforward way; at the same time, Dionysius supposes that this is also the way in which ordinary people would express themselves.“27 Tatsächlich scheinen die Beispiele, die Dionysios anführt, gerade nicht die Übertragung der Wahrheitszuschreibung dieser besonderen stilistischen Fähigkeiten auf die Inhalte und damit die Schaffung einer umfassenden „supposed reality“ betonen zu wollen. Im Vordergrund steht allgemein zunächst die Erzeugung des Kontrastes zu denen, die nicht einmal das Gerechte gerecht aussehen lassen können. 22 De Lys. 18: καὶ γὰρ τὸ σύντοµον µάλιστα αὗται ἔχουσιν αἱ διηγήσεις καὶ τὸ σαφὲς ἡδεῖαί τέ εἰσιν ὡς οὐχ ἕτεραι καὶ πιθαναὶ καὶ τὴν πίστιν ἅµα λεληθότως συνεπιφέρουσιν, ὥστε µὴ ῥᾴδιον εἶναι µήθ’ ὅλην διήγησιν µηδεµίαν µήτε µέρος αὐτῆς ψευδὲς ἢ ἀπίθανον εὑρεθῆναι· τοσαύτην ἔχει πειθὼ καὶ ἀφροδίτην τὰ λεγόµενα καὶ οὕτως λανθάνει τοὺς ἀκούοντας εἴτ’ ἀληθῆ ὄντα εἴτε πεπλασµένα. 23 Vgl. ebd.; Hom. Od. 19,203. 24 Vgl. De Is. 4. 25 Vgl. De Lys. 9. 26 Zum celare artem des Lysias und den Bedeutungsebenen der Natürlichkeit vgl. Goudriaan (1989), 238-40. 27 Vgl. De Jonge (2008), 255-8, Zitat 258.
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Dabei zeugen die Formulierungen zugleich vom Bemühen darum, die stilistischformale ἀλήθεια hier als eine Qualität des reinen Anscheins zu beschreiben. In der Aussage, die Lügen schienen wahr zu sein, das Ungerechte gerecht, das Unwahre wahr, benennt Dionysios ja deutlich zwei Formen der Unwahrheit einer solchen Fiktion: Als veritativ unwahre Aussage stimmt sie nicht mit dem überein, was tatsächlich der Fall ist. Und das tatsächlich Ungerechte unterscheidet sich gewissermaßen in seiner Essenz vom Gerechten. Diese Trennung der Ebene des Stils von den Inhalten führt zu der Frage, inwiefern der Stil des Lysias selbst mit seiner Nachahmung der ἀλήθεια für Dionysios überhaupt als wahr gelten kann, was er also repräsentiert bzw. womit er übereinstimmt. Halliwells wesentliches Argument dafür, dass Dionysios einen tatsächlichen Wahrheitswert des Stils des Lysias annehme, ist die Auffassung, Dionysios gehe davon aus, dass der Stil als „[a] work of art … indeed … as good a model as reality itself“ sein könne.28 Generell wurde bereits darauf hingewiesen, dass der „true or natural style“ des Lysias für Dionysios ganz offenkundig in zweierlei Hinsicht definiert ist: Zunächst will Dionysios die Fähigkeit unterstreichen, so zu sprechen wie ein gewöhnlicher Mann, und damit zugleich die Fähigkeit zum celare artem, zum Verbergen der Tatsache, dass Lysias eben nur so tut, als sei er einer. Gerade darauf beruht seine scheinbare Wahrhaftigkeit, seine Überzeugungskraft, und eben diese äußere Wahrhaftigkeit ist die Grundlage dafür, dass man ihm alles glaubt, was er sagt – eben auch, wenn es tatsächlich gelogen ist. Zum anderen ist der lysianische Stil dadurch „natürlich“, dass er durchaus tatsächliche, eben natürliche Vorbilder hat. Es gibt also sicherlich Elemente dieses Stils, die nicht von einem realen Vorbild erlernt werden müssen, sondern als allgemeine Charakteristika abstrahierbar sind. Dass aber das Erlernen eines überzeugenden Stils stets grundsätzlich die Orientierung an der Natur selbst zur Bedingung hat, bemerkt Dionysios wiederholt.29 Wenn er hier fordert, Lysias als Meister der τέχνη nachzuahmen, bedeutet das nicht, dass auf die Nachahmung der Natur verzichtet werden könnte, sondern verlangt vielmehr, sich die jeweilige Art und Weise der Nachahmung der Natur durch den Meister zu eigen zu machen.30 Die Nachahmung von φύσις und ἀλήθεια im Stil des Lysias schafft eine „supposed reality“ so höchstens im Rahmen einer äußerst ambivalenten Wahrheitszuschreibung. Und sie beschränkt sich auf die Ebene der rednerischen Selbstdarstellung, auf die Schaffung eines glaubwürdigen Charakters. Dementsprechend hat auch Gray die Forderung nach µίµησις in der eingangs angeführten Passage aus der Kritik an der thukydideischen Periklesrede als auf diesen Bereich beschränkt ge28 Vgl. ebd. 295. 29 Vgl. etwa De comp. verb. 20; De Dem. 54; De Is. 16. 30 Die µίµησις jeweils gelungener technischer Merkmale als Ziel der Auseinandersetzung mit sämtlichen Künstlern wird in De Thuc. 1 als allgemeines Ziel explizit betont; vgl. z.B. auch De Isoc. 4: τὴν ἐκείνου τοῦ ῥήτορος µιµεῖσθαι προαίρεσιν. In diesem Zusammenhang gibt es auch noch eine zweite Bedeutung der Natur als „schöpferisches Potential“ eines Künstlers, das ebenfalls Bestandteil seiner τέχνη ist, sich aber nur begrenzt nachahmen lässt, vgl. De im. FF 1 & 2 Usener und De Din. 7,5-6. Dazu Flashar (1979), 87; Goudriaan (1989), 240; De Jonge (2008), 255-6 Anm. 16.
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sehen.31 Die Frage, inwiefern sich die spezifische Glaubwürdigkeitsforderung an einen Redner überhaupt als eine allgemeine Forderung nach historiographischer Plausibilität interpretieren lässt, wird im Folgenden weiter zu erörtern sein. Dazu soll dem zweiten Schlüsselkonzept in der Aussage darüber, was bei der „Nachahmung der Wahrheit“ durch den Historiographen für diesen „angemessen“ sei, weiter nachgegangen werden, dem des πρέπον, das eben das Kriterium der geforderten Angemessenheit bezeichnet. 2 ΤΟ ΠΡΕΠΟΝ: „ANGEMESSENHEIT“ ALS WAHRHEITSKRITERIUM? In seiner Schrift De compositione verborum bezeichnet Dionysios die Forderung nach Angemessenheit (πρέπον)32 als etwas, das grundsätzlich auf alle Bereiche der Rede und Dichtung anwendbar, ja Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit und den Erfolg jeder sprachlichen Äußerung sei.33 Trotz dieser allgemeinen Aussage steht hinter der terminologischen Verwendung des Begriffes τὸ πρέπον ein begründetes und deutlich zu fassendes Konzept, das sich besonders im Rahmen der rhetorischen Theorie herausgebildet hat. Ziel dieses Konzeptes ist die Bestimmung der Angemessenheit einer Rede bzw. bestimmter Redebestandteile anhand spezieller Kriterien. Eine theoretische Behandlung des Konzeptes in diesem Kontext ist seit der Rhetorik des Aristoteles nachweisbar.34 Allgemein sind es die Grundkategorien der Rede, also die Sache und der Redner, später auch die Zuhörer, die die Bedingungen der Angemessenheit bestimmen, und deren genaue Rolle und Funktion in der Konzeption des πρέπον hier noch näher zu bestimmen sein werden. Diese Form des πρέπον richtet sich auf das klassische Ziel der Beredsamkeit, die Überzeugung. Allerdings ist eine Ausweitung der Theorie zu beobachten, die sich im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend auch mit den Sprechenden in Kunstprosa und Dichtung 31 Vgl. Gray (1987), 470. Auch Halliwell (2002), 292 sieht im konkreten Fall die Forderung „to give Pericles utterances appropriate to his character and to the situation in which he depicts him.“ Allerdings ist aus den vorhergehenden Ausführungen deutlich geworden, dass er ähnliche Kriterien für die Historiographie insgesamt annimmt. Dass die ἠθῶν καὶ παθῶν µίµησις für Dionysios eine Frage der Darstellung von Charakteren im Zusammenhang mit ihren Reden ist, zeichnet sich in Ep. ad Pomp. 3,18 ab und wird hier im Folgenden weiter thematisiert. 32 Das substantivierte Partizip τὸ πρέπον leitet sich vom Verb πρέπω mit den Bedeutungen ‚sichtbar sein, (aus einer Menge) herausragen‘ bzw. im Hinblick auf andere Sinne ‚deutlich, klar sein‘, darüber hinaus ‚gleichen‘ bzw. ‚passen‘ und ‚deutlich angemessen sein‘, ab, vgl. LSJ s.v. πρέπω: „1. on the eye, to be clearly seen, to be conspicuous among a number … 2. on the ear, βοὰ π. the cry sounds loud and clear, … on the smell, to be strong or rank … II. to be conspicuously like, resemble … III. to be conspicuously fitting, beseem.“ Grundsätzlich bezeichnet der Begriff also die deutliche Übereinstimmung des sinnlich wahrnehmbaren äußeren Anscheins einer Sache und ihrer Beschaffenheit. 33 De comp. verb. 20: καὶ γὰρ τοῖς ἄλλοις χρήµασιν ἅπασι παρεῖναι δεῖ τὸ πρέπον, καὶ εἴ τι ἄλλο ἔργον ἀτυχεῖ τούτου τοῦ µέρους, καὶ εἰ µὴ τοῦ παντός, τοῦ κρατίστου γε ἀτυχεῖ. Vgl. auch 20,22f. wo Dionysios betont, es sei unmöglich, alle Wirkungsbereiche des πρέπον hier abzuhandeln. 34 Vgl. Arist. Rhet. 1408a.
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auseinandersetzt und hier vorwiegend auf eine angemessene Charakterisierung der dargestellten Personen durch ihre Rede ausgerichtet ist.35 Beide Formen finden sich auch bei Dionysios, und eine der entscheidenden Fragen, die hier zu klären sein werden, ist diejenige danach, welcher dieser beiden Aspekte für Dionysios der ausschlaggebende in der Epistula ad Pompeium und in De Thucydide ist, wo er das πρέπον zum Kriterium seiner Auseinandersetzung mit den historiographischen Reden seiner Vorgänger macht. Mit der antiken historiographischen Rede berühren wir ein Feld, in dem die Bereiche spezifisch historischer und rhetorischer Anforderungen notwendigerweise ineinander übergehen. Die Frage nach den Anforderungen im Hinblick auf Funktion, Wahrheitsgehalt und Nutzen, die an historiographische Reden gestellt werden, spielt daher bereits in der antiken Diskussion eine Rolle. Etwa anderthalb Jahrhunderte nach Dionysios, bei Lukian, findet sich explizit die Forderung nach einer Darstellung von historiographischen Reden, die zum Redner und den Gegenständen passen müsse, im Übrigen aber die Gelegenheit für den Historiker sei, sein rednerisches Talent frei zu entfalten.36 Bei Lukian zeigt sich also eine ambivalente Perspektive auf das Verhältnis von Rhetorik und Geschichtsschreibung, die der generellen Haltung in seiner Schrift durchaus entspricht. So freimütig, wie er die Lizenz zur individuellen Gestaltung vergibt, tut es die historiographische Tradition vor Dionysios nicht. Allerdings ist durchaus eine Diskussion darüber, ob eine historiographische Rede dem tatsächlichen Wortlaut entsprechen müsse, und falls nicht, welche Kriterien dann zu erfüllen seien, zu beobachten. Dionysios’ Vorgehen, die Reden seiner Vorgänger, insbesondere des Thukydides, mit deutlichem Verweis auf die Konzeption des πρέπον zu kritisieren, ist in der traditionellen Forschung zumeist auf Ablehnung gestoßen: Dionysios habe hier starre äußere Kategorien herangezogen, die jedweden individuellen Bezug zum historischen Gegenstand vermissen ließen, und dabei die Grundaufgabe der antiken historiographischen Rede, nämlich die individuelle Charakterisierung der historischen Redner, vor allem aber die Funktion der Rede als erklärendes und erläuterndes Element und maßgebliches Mittel der historischen Analyse, zu Gunsten eines an Gemeinplätzen orientierten Formalismus vernachlässigt.37 35 Zu Geschichte und Entwicklung des Konzeptes bis heute maßgeblich ist Pohlenz (1933). 36 Vgl. Luk. hist. conscr. 58: Ἢν δέ ποτε καὶ λόγους ἐροῦντά τινα δεήσῃ εἰσάγειν, µάλιστα µὲν ἐοικότα τῷ προσώπῳ καὶ τῷ πράγµατι οἰκεῖα λεγέσθω, ἔπειτα ὡς σαφέστατα καὶ ταῦτα. πλὴν ἐφεῖταί σοι τότε καὶ ῥητορεῦσαι καὶ ἐπιδεῖξαι τὴν τῶν λόγων δεινότητα. 37 Die moderne Forschung hat die Kritik der Reden, besonders des berühmten Melierdialoges, immer wieder zur Interpretation sowohl des Geschichtsbildes als auch der methodischen Konzeptionen des Dionysios herangezogen. Als Grundlage der Bewertung der historiographischen Kompetenz des Dionysios ist dabei seine idealisierte Vergangenheitskonzeption, die schon früh als das zentrale Element seiner Kritik an Thukydides benannt worden ist, betont worden. Das zentrale Argument, Thukydides habe die athenische Gesandtschaft unangemessen dargestellt, ist dabei als direkter Ausdruck der „rhetorischen“ Konzeption der griechischen Geschichte gewertet worden, die durch die Darstellung Athens bei den klassischen Rednern geprägt gewesen sei, etwa von Liers (1886), 10, der Dionysios vorwirft, er habe sich an „erstarrten Formen der Schulberedsamkeit“ orientiert und die individuellen Züge seiner Protagonisten nicht herauszuarbeiten verstanden. Der Melierdialog habe sich in einer Zeit der „sittlichen Entartung“
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Dem gegenüber steht eine Haltung der neueren Forschung, die in unterschiedlichem Maße eine Orientierung am Allgemeinen und Plausiblen als ein Spezifikum der historischen Konzeption des Dionysios hervorhebt. Die eher wohlwollende Bewertung hat auch in diesem Zusammenhang, wie so oft, mit Gabba eingesetzt. Er sieht hier den Ausdruck einer Geschichtskonzeption, die davon ausgehe, dass jeder in der Geschichte eine „appropriate role“ zu spielen habe, die durch ein allgemein tradiertes Ideal bestimmt werde. Sowohl in der Charakterisierung historischer Personen in den Reden als auch in der Rekonstruktion historischer Ereignisse sei die Bewahrung dieses Ideals das eigentliche Ziel der Darstellung: „We are face to face with a use and assessment of history whose end is not simply practical and political.“38 Einige jüngere Beiträge haben vor diesem Hintergrund versucht, Parallelen zu postmodernen Vorstellungen historischer Wahrheit zu ziehen, die, ausgehend davon, dass eine Übereinstimmung der Darstellung mit der historischen Realität generell nicht zu erfüllen sei, einen tendenziell relativen Wahrheitsbegriff annehmen. Nicolas Wiater hat in diesem Sinne angeregt, die Konzeption des πρέπον als Kriterium einer diskursiv vermittelten Vorstellung von Angemessenheit, die ihrerseits die Vorstellung historischer Wahrheit bestimmt, aufzufassen.39 Es soll in diesem Kapitel die Gleichsetzbarkeit des πρέπον in Dionysios’ Theorie vor allem mit derartigen Konzepten historischer Wahrheit untersucht werden. 2.1 Dionysios’ Auseinandersetzung mit der Tradition Wie bereits bemerkt, ist in der eher traditionellen modernen Forschung das πρέπον bei Dionysios als weitere zumindest in einer dogmatischen Anwendung schädliche Übertragung eines rhetorischen Konzeptes auf die Historiographie gesehen worden. Dabei findet sich eine auf den ersten Blick recht ähnliche Vorgehensweise auch bei demjenigen seiner Vorgänger, gegen den Dionysios sich in der Regel am deutlichsten abgrenzt, und der in der älteren Forschung oftmals als positives Gegenbeispiel abgespielt, in der „die Athener sehr leicht die alten Grundsätze verleugnen können“. Dionysios habe dem die Auffassung entgegengehalten, dass „[d]as athenische Volk“ stets „fromm und gottesfürchtig“ gewesen sei, wie es „für die Deklamation der Schüler“ festgestanden habe. Recht knapp in seiner Bewertung, aber mit ähnlicher Tendenz äußert sich Halbfas (1910), 35, der darauf hinweist, die Darstellung des Melierdialoges passe „nicht zu den Vorstellungen, welche dieser [Dionysios] von dem attischen Staate mitbekommen“ habe. Auch ist auf den direkten Bezug seiner Argumentation zur Konzeption des πρέπον hingewiesen worden. Bonner (1969), 82 etwa sieht die Kritik am Melierdialog v.a. durch rhetorische „preconceptions“ geleitet und verweist explizit auf die Theorie des πρέπον. Pritchett, On Thucydides, xxvi-vii weist darauf hin, dass das Kriterium des πρέπον seit der hellenistischen Zeit ein zentrales Argument in Diskussionen generell gewesen sei. „Dionysius, however, romanticized τὸ πρέπον in history as he romanticized τὸ πρέπον in style … and it leads to criticisms which are not convincing.“ Vgl. auch dens. 128. 38 Vgl. Gabba (1991), 69. 39 Vgl. neben Wiater, der unten ausführlich diskutiert wird, Fox (1996), 65-66 und dens. (1993), 37, der die Forderung nach Angemessenheit im Melierdialog ebenfalls als Forderung nach moralischer und ästhetischer Richtigkeit im Sinne der idealisierten Vorstellung ansieht.
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angeführt wird, nämlich Polybios. Der kritisiert die Reden seines Vorgängers Timaios in einer zumindest äußerlich ganz ähnlichen Form wie Dionysios die Reden des Thukydides. Polybios erwähnt, dass man bei der Auswahl der Argumente auf Knappheit achten müsse, als Richtwert dafür führt er, ähnlich wie Dionysios in der Kritik der Periklesrede, den καιρός an.40 An die Kritik des Melierdialoges erinnert der Hinweis darauf, dass es bestimmte Aussagen gebe, die sich für Lebende oder Menschen der Vergangenheit eignen würden, ebenso welche für Aitoler, Peloponnesier oder Athener.41 In der modernen Forschung ist diese Stelle so mitunter als eine Parallele der Kritik des Dionysios an Thukydides aufgefasst worden.42 Tatsächlich aber unterscheiden sich die den beiden Kritiken zu Grunde liegenden Auffassungen vom Wesen historiographischer Reden diametral. Polybios vertritt, zumindest in seinen theoretischen Ausführungen, entschieden die Auffassung, dass eine historiographische Rede die getreue Wiedergabe der tatsächlich gehaltenen Rede sein müsse. Seine oberflächlich betrachtet rhetorische Kritik an Timaios richtet sich, wie Walbank richtig bemerkt hat, gerade gegen die frei erfundenen Reden des Timaios, der seiner Schulberedsamkeit freien Lauf lasse, die Reden „entgegen der Wahrheit arrangiert“ (παρ’ ἀλήθειαν … κατατέταχε) und „nach Gutdünken erdichtet“ (πεποίηκε κατὰ πρόθεσιν) habe. Die wirklichen Reden, die von den echten Staatsmännern gehalten worden seien, hätten sich viel eher an die von Polybios angeführten Kriterien der echten, praktizierten Rhetorik gehalten. Polybios unterscheidet im Folgenden strikt zwischen dem, „wie in Wahrheit gesprochen“ (ὡς ἐρρήθη κατ’ ἀλήθειαν) wurde, und dem, wie, in der Vorstellung des Timaios, „hätte gesprochen werden müssen“ (ὡς δεῖ ῥηθῆναι).43 Polybios führt somit die Kriterien nicht etwa als Richtschnur für den Historiographen beim Komponieren von Reden an, sondern sieht in ihnen etwas, woran sich der echte Staatsmann gekonnt orientiert ‒ womit Timaios als Stubengelehrter aber keinerlei Erfahrung hat und sich so bis auf die Knochen blamiert, da seine Reden durch den laienhaften Gebrauch der rhetorischen Mittel als frei erfunden zu erkennen sind. So deutlich, wie Polybios zumindest in der Polemik gegen seinen Vorgänger die Unterscheidung zwischen echten und falschen Reden vornimmt,44 fällt sie freilich nicht immer aus, und genau hier setzt Dionysios’ eigene Begründung dafür, weshalb das πρέπον ein legitimes Mittel nicht nur der Kritik, sondern auch der Konstruktion von Reden ist, an. Dionysios beruft sich auf den berühmten Halbsatz aus dem Methodenkapitel des Thukydides:45
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Vgl. ebd. 25i, zahlreiche Nennungen 4-7. Vgl. ebd. 4. Vgl. Gomme (1998b), 522-3. Eine Übereinstimmung attestiert auch Sautel (2015), 52-3. Vgl. ebd. 5. Ob Polybios sich in der Praxis selbst daran gehalten hat, ist umstritten, vgl. schon Ziegler (1952), 1524-7. 45 Wiater (2011a), 159 weist auf die Bedeutung dieser Bemerkung des Dionysios für seine Rechtfertigung der Kritik an Thukydides hin.
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λείπεται δὴ σκοπεῖν, εἰ τοῖς τε πράγµασι προσήκοντα καὶ τοῖς συνεληλυθόσιν εἰς τὸν σύλλογον προσώποις ἁρµόττοντα πέπλακε διάλογον ἐχόµενος ‘ὡς ἔγγιστα τῆς συµπάσης γνώµης τῶν ἀληθῶς λεχθέντων’, ὡς αὐτὸς ἐν τῷ προοιµίῳ τῆς ἱστορίας προείρηκεν. Es bleibt also [da Thukydides dem Melierdialog nicht beigewohnt haben kann] zu sehen, ob er die Rede sowohl den Tatsachen angemessen als auch zu den Personen, die als Gesandte bei der Verhandlung waren, passend gestaltet hat, ‚unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten‘, wie er es im Proöm des Geschichtswerkes angekündigt hat.46
Thukydides’ Bemerkung über das Wesen der historiographischen Rede ist seit jeher Anlass für umfangreiche Diskussionen sowohl über die darin enthaltene Auskunft über den Wahrheitsgehalt der Reden als auch über die damit verbundenen Funktionen.47 Einerseits besteht die Möglichkeit, den Satz als eine allgemeingültige Aussage über all seine Reden zu lesen, die dann sämtlich als eine Mischung aus tatsächlich Gesagtem und eigener Interpretation aufzufassen sind, natürlich – von den Gegebenheiten abhängig – in unterschiedlichem Maße.48 Das erzeugt einen gewissen Widerspruch zwischen der Behauptung der eigenen Genauigkeit und einer Rekonstruktion lediglich anhand von mehr oder weniger allgemeiner Plausibilität, der Orientierung an den δέοντα, die hier nicht wie das δεῖ bei Polybios eine scheinbare Notwendigkeit nach reinem Dafürhalten bezeichnen, sondern eine als rekonstruierbar angenommene, tatsächliche Notwendigkeit. Ein Ansatz, den J.S. Rusten vorgestellt hat, versucht daher, eine deutlichere Antithese von tatsächlich gehaltenen und daher weitgehend einem dokumentarischen Anspruch folgenden auf der einen und nach dem Dafürhalten des Thukydides erdichteten Reden auf der anderen Seite auch in der Formulierung selbst aufzuzeigen.49 46 De Thuc. 41. Übersetzung des Thukydideszitats nach Vretska – Rinner. 47 Vgl. Thuk. 1,22,1: Καὶ ὅσα µὲν λόγῳ εἶπον ἕκαστοι ἢ µέλλοντες πολεµήσειν ἢ ἐν αὐτῷ ἤδη ὄντες, χαλεπὸν τὴν ἀκρίβειαν αὐτὴν τῶν λεχθέντων διαµνηµονεῦσαι ἦν ἐµοί τεὧν αὐτὸς ἤκουσα καὶ τοῖς ἄλλοθέν ποθεν ἐµοὶ ἀπαγγέλλουσιν· ὡς δ’ ἂν ἐδόκουν ἐµοὶ ἕκαστοι περὶ τῶν αἰεὶ παρόντων τὰ δέοντα µάλιστ’ εἰπεῖν, ἐχοµένῳ ὅτι ἐγγύτατα τῆς ξυµπάσης γνώµης τῶν ἀληθῶς λεχθέντων, οὕτως εἴρηται. 48 So die Übersetzung von Vretska – Rinner: „Was nun in Reden beide Gegner vorgebracht haben, teils während der Vorbereitungen zum Krieg, teils im Krieg selber, davon den genauen Wortlaut im Gedächtnis zu behalten war schwierig, sowohl für mich, was ich selber anhörte, als auch für meine Zeugen, die mir von anderswo solche berichteten. Was aber meiner Meinung nach jeder Einzelne über den jeweils vorliegenden Fall am ehesten sprechen musste, so sind die Reden wiedergegeben unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten.“ Diese Übersetzung ist weitgehend kompatibel mit der Einschätzung des Kommentars von Gomme (1998a), 140-1, wonach Thukydides’ Aussage einen Unterschied zwischen seinem Vorgehen in der Schilderung von Reden und Taten (1,22,2) betone: Thukydides habe darauf verzichtet, den Wortlaut der Reden wiederzugeben, da dies im Falle einer unzureichenden Überlieferung nicht möglich sei und er auch im Falle einer solchen Überlieferung Kürzungen hätte vornehmen müssen: „[A]nd he therefore frankly writes his own style, making no attempt to imitate the oratory of the different speakers (though he might preserve one or two sentences or phrases actually used and remembered) – that would have meant falsifying the evidence, pretending that the speeches were closer to the originals than in fact they were.“ 49 Rusten, Peloponnesian War II, 11-16 gibt folgende Übersetzung: „As for what individuals said either in anticipation of the war or during the fighting, it was difficult to recollect the exact truth – not only for me, of the speeches which I heard myself, but also for those from somewhere
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Unabhängig davon, wie man die Aussage des Thukydides bewertet – zumindest Teile der Reden beruhen offenkundig auf anderen Kriterien als unmittelbarer oder mittelbarer Überlieferung faktischer Reden. Thukydides selbst äußert sich nicht weiter dazu, welche Kriterien er in solchen Fällen konkret angewandt hat, die Diskussion darüber hält an. Vermutlich lassen sich Beispiele in seiner Praxis sowohl für vollkommen fiktionale wie dokumentarisch überlieferte Reden oder eben auch für Zwischenformen ausmachen.50 Polybios scheint hinsichtlich dieser Frage also strikter zu trennen als Thukydides, was auch mit den unterschiedlichen Konzeptionen des Nutzens der Historie zusammenhängt. Dionysios jedenfalls beruft sich hier auf Thukydides, um die Besprechung seiner Rede auf der Ebene einer an äußeren Kriterien orientierten Kritik vornehmen zu können. In vielen Beiträgen der älteren Forschung wird der Tatsache, dass ein antiker historischer Wahrheitsanspruch nicht unbedingt eine dokumentarische Überlieferung von Reden einschließt, durchaus Rechnung getragen. Gegen Dionysios’ am πρέπον orientierte Kritik wird meist auf einer anderen Ebene argumentiert, nämlich mit dem Hinweis auf die spezielle Funktion historiographischer Reden bei Thukydides, eine Vorstellung davon [zu] geben, wie das Bild der Ereignisse sich im Kopfe des Autors malt. Thukydides gibt darin die Gründe, die für die einzelnen Vorgänge maßgebend waren, die Absichten und den Charakter der handelnden Personen, kurz, genauso gut wie ein Historiker unserer Zeit durch eine Charakteristik oder ein größeres Raisonnement, erschließt er uns das Verständnis der Zusammenhänge durch seine Reden … 51
Der Rahmen, innerhalb dessen es dem Historiographen gestattet sein soll, eigene Auffassungen in die historischen Reden einzuflechten, ist aber beschränkt, wie Halbfas’ Bemerkung deutlich macht: Der fiktive Anteil der Rede vertritt die Rolle anderer, in den Augen Halbfas’ legitimer Ausdrucksformen der modernen Historiographie. Die Orientierung an den rhetorischen Schemata, die dem πρέπον zu Grunde liegen, ist also nicht problematisch, weil sie grundsätzlich einer dokumentarischen Überlieferung hinderlich ist, sondern weil die herangezogenen Kriterien nicht der Analyse der besonderen historischen Situation und der Charakterelse who gave me information; and I have written the speeches more or less as it seemed to me the individuals would have said what had to be said about the respective situations, although I have kept as closely as possible to the general content of the speeches which were actually delivered.“ So sei die Phrase ἂν … περὶ τῶν αἰεὶ παρόντων … εἰπεῖν in jedem Fall als Irrealis aufzufassen (für Parallelen vgl. ebd. 13 Anm. 46), µάλιστ’ sei mit ‚approximately‘ zu übersetzen (vgl. ebd. Anm. 44), τὰ δέοντα mit „‚what needed to be said‘ (for maximum persuasive effect)“. Vor allem aber betont Rusten, dass das Partizip ἐχοµένῳ konzessiv aufzulösen sei, vgl. ebd. 11 Anm. 40; 14. 50 Rusten, ebd., 16-7 führt etwa im Falle des Epitaphios Argumente für beide Seiten auf, und räumt auch im Falle der von ihm als authentisch eingestuften Apologie des Perikles ein, dass eine eindeutige Entscheidung für eine der in seiner Übersetzung des Satzes antithetisch dargestellten Möglichkeiten schwer zu treffen sei. Dementsprechend empfiehlt er dem Leser „[to] judge for himself.“ Weitere Literatur bei Wiater (2011a), 159 Anm. 434. 51 Halbfas (1910), 34. Ähnlich Liers (1886), 15: „Die Reden erfüllen also bei Dionys ihren Zweck nicht, sie geben uns weder eine Vorstellung von dem Character der redenden Personen, noch einen Einblick in die Motive der Handlungen.“
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darstellung dienen: Durch die Orientierung an den Kriterien des πρέπον musste „[d]er Sinn für das Individuelle … allmählich abgestumpft werden.“52 Und tatsächlich verfolgt Dionysios selbst explizit ein anderes Ziel als die Darstellung individueller Charakterzüge und verborgener Absichten der historischen Protagonisten. Er sieht zumindest für das „Raisonnement“ und wohl auch für Urteile des Historikers über den Charakter der dargestellten Personen die Rede gerade nicht als den passenden Ort an: ταῦτα Θουκυδίδῃ µὲν γράφοντι περὶ τοῦ ἀνδρὸς ἐν ἱστορικῷ σχήµατι προσήκοντα ἦν, Περικλεῖ δὲ ἀπολογουµένῳ πρὸς ἠρεθισµένον ὄχλον οὐκ ἦν ἐπιτήδεια εἰρῆσθαι. Solches [die Aussage des Perikles über seine eigentlichen Ziele und Absichten bei der Einberufung der Volksversammlung, vgl. Thuk. 2,6] wäre für Thukydides angemessen, wenn er über den Mann [Perikles] in einer historischen Form [der historischen Erzählung selbst] schreibt, für Perikles aber, der sich gegen die wütende Menge verteidigt, ist es nicht angebracht, so zu sprechen.53
Diese Auffassung bestärkt Dionysios wenig später.54 Schon in den hier angeführten Aussagen über Thukydides zeigen sich also grundsätzliche und durchaus bewusste Positionen: Zum einen stellt Dionysios die historiographische Rede als einen Bereich dar, in dem der Historiograph sich nicht in jedem Fall an eine dokumentarische Wiedergabe der Wirklichkeit halten kann. Zum anderen übt er Kritik an der Art und Weise, wie Thukydides seines Erachtens mit den nicht-dokumentarischen Reden umgeht, und behauptet, eigene, bessere Kriterien zu haben, anhand derer er die Qualität solcher Reden bewerten könne. 2.2 Angemessenheit als Wahrheitskriterium? Forschungsansätze Wir haben gesehen, dass Dionysios die Aussage über den „Gesamtsinn des wirklich Gesagten“ (γνώµη τῶν ἀληθῶς λεχθέντων) gegen Thukydides selbst wendet. Dionysios legt nahe, dass Thukydides eine Rede, die ja nicht öffentlich und zudem zur Zeit seines Exils gehalten wurde, wohl kaum gehört haben könne bzw. auch eine mittelbare Überlieferung unwahrscheinlich sei. In einem solchen Fall wäre also gänzlich mit einer Rede zu rechnen, die auf der Fähigkeit des Autors beruht, das zu tun, was im ersten Teil des Satzes bei Thukydides anklingt und von Dionysios deutlich gefordert wird: Die Rede nach bestimmten Kriterien passend zu gestalten. Dass diese Kriterien anderer Art sind, als diejenigen, die Thukydides selbst vorschwebten und in der älteren Forschung als Grundlage einer als legitim erachteten individuellen Charakterisierung oder in den Mund gelegten Analyse historischer Umstände anerkannt wurden, ist ebenfalls deutlich geworden. In der jüngeren Forschung ist die Forderung, Reden nach den Kriterien des πρέπον zu gestalten, als Ausdruck der besonderen Konzeption historischer Wahrheit des Dionysios gesehen worden. Für Grays im letzten Kapitel angesprochene 52 Vgl. Liers (1886), 9. 53 De Thuc. 44. 54 Vgl. ebd. 45.
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Interpretation einer angeblichen historischen µίµησις spielt das πρέπον als Kriterium der Natürlichkeit der Darstellung eine zentrale Rolle. Sie interpretiert die Theorie der Wortfügung in De compositione verborum, überträgt diese aber explizit auf die historiographischen Reden, insbesondere die Apologie des Perikles. Sie sieht das πρέπον als Kriterium der Verhältnismäßigkeit von Inhalt und Form allgemein als ein „law of nature, inherent in all things“.55 Dionysios fordere, auf Grundlage der Beobachtung des natürlichen Verhaltens eine angemessene Nachahmung vorzunehmen.56 Durch die Wahrung der Kriterien eines solchen natürlichen Verhältnisses sieht Gray die Möglichkeit einer „recreation of reality“, die sich konkret in einem der Situation angemessenen Verhalten, im natürlichen Auftreten des Redners bzw. der den Gegenständen entsprechenden λέξις und Argumentation, zeigen kann.57 Während diese Vorstellung von allgemeiner Natürlichkeit sich im Wesentlichen als abstraktes Übereinstimmungskriterium verstehen lässt, finden sich auch im Zusammenhang mit dem πρέπον Auffassungen, die explizit die formalen Kriterien als solche in den Vordergrund stellen bzw. in ihrer Erfüllung allein die wesentliche Wahrheitsbedingung sehen. Wiater hat Parallelen zwischen Dionysios’ Theorie des πρέπον und den Theorien Hayden Whites ausgemacht: [T]he discussion of Dionysius’ conception of historiography is a case point that ancient authors must not be excluded from contemporary debates on historical writing – ‚metahistory‘ may have been christened in 1973, but some of its main ideas were conceived more than two thousand years ago.58
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Gray (1987), 470. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 469. Wiater (2011a), 123. Seine Rezeption des Konzeptes referiert er auf den Seiten 121-30: Die neuere Methodendiskussion habe gezeigt, dass die Bedeutung der Auswahl, Anordnung und Repräsentation ebenso zentral für die Historiographie sei wie ihre emotionale Wirkung, sowohl auf den Leser als auch den Historiographen selbst. All dies seien zentrale Felder der Rhetorik. Dionysios als Historiographen nicht ernst zu nehmen, weil er ein Rhetor ist, sei daher keine haltbare Position mehr. Wiater verweist auf Hayden Whites Konzept des „emplotment“. Dieses Konzept beschreibe die Sinngebung, die das „chaos of events“ durch den Historiker erst erfahre. Der Begriff bezeichne mehr als den Vorgang der literarischen Repräsentation der Ereignisse, sondern schließe bereits die Auswahl, Interpretation, Anordnung usw. der „Daten“ durch den Historiker ein. Dies habe zu einer Neubewertung der „idea of historical truth“ geführt und White dem Vorwurf ausgesetzt, die Hauptaufgabe des Historikers, „the research for truth“, zugunsten einer narrativistischen Konzeption aufzugeben. Tatsächlich sei Whites Hauptanliegen aber die Betonung der Bedeutung der historischen Erzählung, die die Ereignisse der Vergangenheit nicht reproduzieren, sondern allenfalls eine Vorstellung dieser Ereignisse ins Gedächtnis rufen könne. White nehme verschiedene Formen der historischen Erzählung an, die sich an bestimmten kulturellen Paradigmata orientieren würden. Dass die Fakten zwar existieren, ihre Bewertung aber stets von sozialen und kulturellen Kontexten abhinge, sei nicht erst von White erkannt worden. Karl Mannheim habe bereits 1936 darauf hingewiesen. Die Beobachtung schließlich, dass es sich bei der Geschichte um eine hermeneutische und nicht um eine empirische Disziplin handle, der Erkenntnisprozess somit stets von der Dialektik zwischen dem Subjekt des Historikers und dem Objekt seines Gegenstandes bestimmt sei, finde sich bei Gadamer. Die neuere Diskussion habe im Sinne Whites die Bedeutung der kulturellen und sozialen
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Dass Dionysios die Reden des Thukydides als prinzipiell nicht-dokumentarisch erkannt habe, sieht er als Parallele zu Whites Theorie des „emplotment“, wonach der Sinn einer historischen Darstellung nicht durch die Inhalte, sondern durch ihre Repräsentation zustande komme: [W]e do not have to adopt Dionysius’ idealized vision of the past as our own paradigm. But we should acknowledge that Dionysius’ procedure is not mistaken in principle: it rests (consciously or not) upon the assumption that historians prefigure their material according to patterns in their minds and thus impose meaning upon the facts, rather than discover it in them.59
In der Theorie des πρέπον als einer Theorie der Angemessenheit sieht Wiater den Ausdruck der Annahme, dass es die Bedingungen des vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurses seien, die für bestimmte Gegenstände einen bestimmten Modus der Repräsentation fordern würden: [T]exts are re-presentations [sic!] of the image of the world in the mind of the author. The πρέπον thus marks the intersection of rhetoric and history because it is concerned with the relationship between the text and the object the text claims to represent. This process is essential since the past is present only through the mediation of the texts, as a representation, and it remains meaningful only if the appropriateness of this re-presentation [sic!] is constantly questioned and adapted to the circumstances.60
Wiater selbst betont dabei eine Grenze des Vergleichs von Dionysios’ Vorstellungen allgemeiner Kriterien einer angemessenen Rede und der Idee einer relativen, diskursiv vermittelten Wahrheit, nämlich dass sich bei Dionysios keinerlei Problematisierung der Erkenntnisvoraussetzungen seiner eigenen Vergangenheitsvorstellung finde.61 Daher bemerkt Wiater: I should like to point out … that this should not be misunderstood as an attempt to idealize Dionysius as a Hayden White of antiquity. Dionysius is far from a self-reflexive intellectual who questions his own methods.62
Das ist ein wichtiger Punkt: Wollte man in Dionysios selbst den Anhänger eines relativistischen Wahrheitsbegriffs sehen, müsste er letzten Endes auch abweichende Auffassungen anerkennen, die sich eben nach anderen Kriterien richten. Möchte man die Parallele zur Postmoderne weiterverfolgen, drängt sich der Vergleich vor allem mit dem auf, was man ihr so oft zum Vorwurf gemacht hat: Der Relativismus
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Faktoren für die Bestimmung von Konzepten wie Wahrheit und Objektivität in den Mittelpunkt gerückt. Wahrheit werde nicht länger in den Fakten oder der Methode verordnet, sondern durch einen sozialen Konsens vermittelt, der einen „Standard von Wahrscheinlichkeit“ präge. Wiater erwähnt auch die emotionale Ebene der historischen Erzählung, die in der neueren Diskussion eine größere Rolle spiele. Generell sei zu konstatieren, dass die Form der historischen Darstellung von ihrem Inhalt nicht zu trennen sei, vielmehr die Form dem Inhalt seine Bedeutung verleihe. Diese Form aber sei zentraler Gegenstand der Rhetorik: „The past exists only ‚emplotted‘ in a narrative structure, and rhetoric provides the patterns according to which the ‚emplotment‘ is carried out.“ Ebd. 161. Ebd. 160. Vgl. ebd. 123. Ebd.
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präsentiert sich als Skepsis, dient aber in der Konsequenz selbst einer revisionistischen Argumentation, die neue Dogmen schaffen will. Im Folgenden soll aber zunächst ein Überblick über die Theorie des πρέπον bei Dionysios vorgenommen werden, um im Anschluss die Frage diskutieren zu können, inwiefern seine Theorie des πρέπον überhaupt als eine Forderung nach Natürlichkeit gelten kann und sie darüber hinaus als Forderung einer angemessenen historiographischen Repräsentation im hier dargelegten Sinne taugt. 2.3 Dionysios’ Theorie des πρέπον 2.3.1 Rhetorisches und literarisches πρέπον Dionysios erwähnt das πρέπον in seinen Scripta Rhetorica mehrfach als einen wichtigen Aspekt der Ausdrucksweise (λέξις) und bezeichnet es dabei sogar als die wichtigste ihrer Tugenden (ἀρεταί).63 Als Bezugspunkte, im Hinblick auf die die Angemessenheit der λέξις bestimmt wird, werden der Redner, die Gegenstände und die Zuhörer (πράγµατα, λέγοντες und ἀκούοντες, letztere manchmal zusammengefasst als πρόσωπα), mitunter auch der καιρός, von Dionysios wiederholt genannt.64 Neben der Auskunft darüber, im Hinblick worauf die λέξις angemessen sei, findet sich auch die Forderung nach der Bewahrung des rechten Maßes.65 Grundsätzlich handelt es sich bei Dionysios’ Behandlung des πρέπον um eine Weiterentwicklung der aristotelischen Theorie. Nach Aristoteles handelt es sich bei der durch das πρέπον beschriebenen „Angemessenheit“ um eine Eigenschaft der λέξις, die genau dann gegeben sei, wenn sie „Ethos und Pathos vermitteln kann und dem zugrundeliegenden Sachverhalt analog ist.“66 Diese Aussage enthält den Kern der Theorie: Die ὑποκείµενα πράγµατα, die zu Grunde liegenden Gegenstände, müssen im Ausdruck eine mittelbare Entsprechung finden. Grundsätzlich sind die modernen Interpretationen der aristotelischen Theorie nicht ganz einig darüber, inwiefern der hier erwähnte ethische bzw. pathetische Charakter noch als von der Sache selbst geprägt zu verstehen ist, also eher der Gegenstand darüber entscheidet, wann eine Rede pathetisch oder ethisch zu sein habe, oder ob darin eine individuelle Zugabe des Redners zu sehen sei, die ihrerseits explizit als πρέπον bezeichnet wird.67 63 Vgl. De Lys. 9; Ad Pomp. 3,20. Als Eigenschaft des mittleren Stils des Demosthenes zählt Dionysios in De Dem. 34 das πρέπον unter die ἀρεταί. Zur Entwicklung der ἀρεταὶ λέξεως von Aristoteles über Theophrast bis Dionysios vgl. Bonner (1969), 15-24; De Jonge (2008), 354. 64 Vgl. De Lys. 9; Comp. verb. 20; De Dem. 13. 65 Vgl. De Isoc. 3. 66 Arist. Rhet. 1408a: Τὸ δὲ πρέπον ἕξει ἡ λέξις, ἐὰν ᾖ παθητική τε καὶ ἠθικὴ καὶ τοῖς ὑποκειµένοις πράγµασιν ἀνάλογον. Übersetzung G. Krapinger abgewandelt. Er übersetzt: „ … und das analog dem zugrundeliegenden Sachverhalt.“ Vgl. zum dahinterstehenden Problem die Diskussion zur Übersetzung Rapps in der folgenden Anmerkung. 67 Max Pohlenz, der in seinem bis heute maßgeblichen Aufsatz der Entwicklung des Begriffes von seiner frühesten Verwendung her nachgegangen ist, merkt an, dass sich in dem Begriff,
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In der nacharistotelischen Verwendung ist eine Ausweitung der Theorie zu beobachten, die im Wesentlichen der parataktischen Aufzählung der drei Bereiche einer angemessenen λέξις entspricht, wie Aristoteles sie nach Auffassung Rapps „sorglos“ formuliert hat: Die Angemessenheit bezüglich des Redners und der Zuhörer ist als fester Bestandteil hinzugekommen, in einigen Theorien auch die Angemessenheit hinsichtlich des καιρός, des richtigen Augenblicks für eine Äußerung, und sämtliche dieser Punkte können nun individuell als angemessen oder eben nicht aufgefasst werden und gehen dabei von Kriterien aus, die mit der Beschaffenheit des Gegenstandes nicht mehr unmittelbar zusammenhängen. Nach Pohlenz’ Auffassung „drängten die praktischen Rücksichten des Unterrichtes nach einer Ergänzung“,68 also nach einem verbindlichen Katalog von Maßnahmen, die für bestimmte Redesituationen, Gattungen, Publika etc. als verbindliche Leitkriterien gelten konnten. Tatsächlich begegnet uns so bei Dionysios die erste umfangreiche Aufzählung der Kriterien dieses rhetorischen πρέπον in seiner vollendeten Form. Ausführlich bespricht er in seiner Schrift über Lysias den Zusammenhang mit πράγµατα, λέγοντες und ἀκούοντες: οἴοµαι δὲ καὶ τὸ πρέπον ἔχειν τὴν Λυσίου λέξιν οὐθενὸς ἧττον τῶν ἀρχαίων ῥητόρων, κρατίστην ἁπασῶν ἀρετὴν καὶ τελειοτάτην, ὁρῶν αὐτὴν πρός τε τὸν λέγοντα καὶ πρὸς τοὺς der zunächst als ein Attribut des äußeren Anscheins einer Sache gebraucht worden sei, eine „dem griechischen Denken eigentümliche Einheit der Sache und ihrer Erscheinung“ zeige, der Begriff also nicht eigentlich das Verhältnis „zweier getrennter Subjekte“ zueinander beschreiben könne, und daher zwar den Charakter und die Stimmung des Redners, nicht aber die Wirkung auf den Zuhörer selbst beinhalten könne, vgl. dens. 58 und Zitat 61. Rapp (2002), 861 ad loc., weist, wohl auch vor dem Hintergrund, dass bei Aristoteles allgemein ein Zusammenhang zwischen den Gegenständen und dem ethischen bzw. pathetischen Charakter der Rede angenommen wird, darauf hin, dass die Formulierung bei Aristoteles „ziemlich sorglos“ sei und bietet statt „die sprachliche Form der Rede ist angemessen, wenn sie emotional und charaktervoll und dem zugrunde liegenden Gegenstand entsprechend ist“ die Variante „die sprachliche Form muß dem jeweiligen Gegenstand entsprechend emotional oder charaktervoll sein“, sieht also im ethischen oder pathetischen Charakter der Rede jeweils eine mögliche Form. Tatsächlich scheint einiges dafür zu sprechen, die drei Bedingungen des πρέπον als bewusste Parataxe (ohne die Möglichkeit eines disjunktiven Verständnisses von παθητική τε καὶ ἠθική) aufzufassen: Ethos und Pathos sind nicht allein Resultat des Gegenstandes, sondern eben auch individuelle Zugabe des Redners; umgekehrt dient auch die analoge Schilderung des Gegenstandes selbst einer lebhaften bzw. überzeugenden Darstellung. Rapp weist in der Erläuterung des Nachsatzes (861-2) auf ein Problem hin, das eben nur besteht, wenn man die später bei Aristoteles vorgenommene Unterscheidung zwischen ethischer und pathetischer Rede auf die Diskussion des πρέπον überträgt: „Störend bleibt dabei jedoch, dass die Erläuterung des Ausdrucks ‚entsprechend‘ im nächsten Abschnitt zugleich eine neue Art von Beispiel einführt, das nicht unter ‚angemessen emotional‘ oder ‚angemessen charaktervoll‘ subsumiert werden kann. […] Wie schon zum vorigen Abschnitt bemerkt, erweitert diese Erläuterung den Begriff der angemessenen sprachlichen Form, insofern demnach die Form nicht nur der Sache angemessen emotional oder charaktervoll, sondern etwa auch der Sache angemessen erhaben oder sorglos sein kann.“ (Herv. im Orig.) Tatsächlich scheint hier ein Unterschied zwischen „emotional und charaktervoll“, die den individuellen Einfluss des Redners auf die Ausdrucksweise bezeichnen auf der einen, und den beiden anderen Attributen, die hier tatsächlich den Einfluss des Gegenstandes auf die ihm analoge Ausdrucksweise schildern, auf der anderen Ebene zu bestehen. 68 Vgl. Pohlenz (1933), 61-2.
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II Plausibilität und Angemessenheit ἀκούοντας καὶ πρὸς τὸ πρᾶγµα (ἐν τούτοις γὰρ δὴ καὶ πρὸς ταῦτα τὸ πρέπον) ἀρκούντως ἡρµοσµένην. καὶ γὰρ ἡλικίᾳ καὶ γένει καὶ παιδείᾳ καὶ ἐπιτηδεύµατι καὶ βίῳ καὶ τοῖς ἄλλοις, ἐν οἷς διαφέρει τῶν προσώπων πρόσωπα, τὰς οἰκείας ἀποδίδωσι φωνὰς πρός τε τὸν ἀκροατὴν συµµετρεῖται τὰ λεγόµενα οἰκείως, οὐ τὸν αὐτὸν τρόπον δικαστῇ καὶ ἐκκλησιαστῇ καὶ πανηγυρίζοντι διαλεγόµενος ὄχλῳ. διαφοράς τε αὐτῷ λαµβάνει κατὰ τὰς ἰδέας τῶν πραγµάτων ἡ λέξις· ἀρχοµένῳ µὲν γάρ ἐστι καθεστηκυῖα καὶ ἠθική, διηγουµένῳ δὲ πιθανὴ κἀπερίεργος, ἀποδεικνύντι δὲ στρογγύλη καὶ πυκνή, αὔξοντι δὲ καὶ παθαινοµένῳ σεµνὴ καὶ ἀληθινή, ἀνακεφαλαιουµένῳ δὲ διαλελυµένη καὶ σύντοµος. Ich glaube, dass Lysias’ Stil auch Angemessenheit in nicht geringerem Maße als der irgendeines der anderen alten Redner besitzt ‒ die vornehmste und höchste von allen Tugenden ‒ da ich sehe, dass er [der Stil] zur Genüge sowohl dem Sprechenden, den Zuhörern und auch dem Gegenstand angepasst ist (in diesen und im Verhältnis zu diesen findet sich die Angemessenheit). Er [Lysias] präsentiert sowohl für das Alter, die Herkunft, die Erziehung, Beschäftigung, Lebensführung und die anderen Dinge, in denen sich Personen voneinander unterscheiden, die passende Redeweise, und auch im Hinblick auf das Publikum ist das Gesagte wohl abgewogen, er spricht nicht auf die gleiche Weise zu einer Gerichts-, einer Volks- oder einer Festversammlung. Sein Stil bedient sich auch Variationen der Redeweise entsprechend der Beschaffenheit der Gegenstände: Zu Beginn ist er gesetzt und charaktervoll, in der Erörterung überzeugend und schlicht, bei der Beweisführung ist er rund und verständig, bei der Übertreibung und der leidenschaftlichen Darstellung bewahrt er die Würde und wirkt realistisch, bei der Zusammenfassung ist er locker und prägnant.69
Dionysios handelt hier also die Grundkategorien der klassischen Rhetorik ab, in der die jeweiligen Überzeugungsmittel schematisch auf bestimmte Anlässe zugeschnitten sind. Der καιρός verweist auf die konkreten Redesituationen und damit Redegattungen und ist somit von der Frage nach dem jeweiligen Publikum nicht zu trennen. Die Punkte, die hier der angemessenen Darstellung des Charakters dienen, entsprechen im Wesentlichen denen der aristotelischen Rhetorik.70 Die „Beschaffenheit der Gegenstände“ (ἰδέαι τῶν πραγµάτων) schließlich, also das, was hier auf den ursprünglichen Kern der Theorie verweist, ist für Dionysios offenbar maßgeblich von der Rolle abhängig, die sie in der entsprechenden Redesituation spielen. Diese schematische Abhandlung begegnet uns früh im Werk des Dionysios. In seiner späteren Schrift De compositione verborum kommt er auf den Kern der aristotelischen Theorie zurück und widmet sich hier dem zentralen Verhältnis von
69 De Lys. 9. 70 Dionysios führt hier die bei Arist. Rhet. 1388b-91b angeführten Charaktermerkmale wie Alter, Geschlecht, Erziehung und Lebenswandel als Kriterien einer Darstellung der πρόσωπα an. Hinsichtlich des Punktes der Zuhörerschaft wird deutlich, dass hierbei weniger die von Aristoteles differenziert behandelte Zuhörerpsychologie im Mittelpunkt steht, sondern die jeweilige Redegattung maßgeblich über die Form, in der die Bezugskriterien aufgefasst werden, entscheidet. So unterscheide Lysias, ob er vor einem Dikasterion oder der Ekklesia rede bzw. einen Panegyrikos halte. Auch der Aspekt der πράγµατα wird angesprochen. Hier bezieht Dionysios den Begriff auf die verschiedenen Redeteile, die sich bei Lysias auf seine λέξις auswirken würden. Im Gegensatz dazu ist die Besprechung der πράγµατα in De comp. verb. 20 tatsächlich eine Besprechung der individuellen Inhalte des jeweiligen Werkes, wie aus den Beispielen zu ersehen ist, die Dionysios an seine Ausführungen über die Auswirkungen bestimmter Charaktermerkmale und Ereignisse auf die Wortfügung anschließt.
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ὑποκείµενα πράγµατα und λέξις.71 Was bei Aristoteles als allgemein gehaltene Aussage und in den ausgearbeiteten rhetorischen Versionen in Form konkreter Schemata für bestimmte Redegattungen begegnet, wird hier Gegenstand einer linguistischen Erörterung: Auf der Seite der πράγµατα schildert Dionysios konkrete Inhalte, die für ihn als Beispiele einer Theorie natürlicher Lautmalerei dienen. Die λέξις wird hier vor dem Hintergrund der richtigen Zusammenstellung (σύνθεσις) und Auswahl von Wörtern (ἐκλογή) behandelt, auch begegnet uns das πρέπον nicht mit seinen üblichen Begleitern, sondern mit drei Elementen der Musiktheorie (µουσικὴ ἐπιστήµη), nämlich µέλος, ῥυθµός und µεταβολή.72 Der Kern allerdings bleibt das von Aristoteles beschriebene Verhältnis: So schlage die Schilderung derselben Situation durch verschiedene Männer in einer unterschiedlichen Stimmung sich ebenso unterschiedlich auf die σύνθεσις nieder, wie ein- und derselbe Mann in derselben Stimmung unterschiedliche Ereignisse in einer unterschiedlichen σύνθεσις beschreibe. Diese Phänomene seien nicht das Ergebnis einer rationalen Entscheidung, sondern ein natürlicher Reflex. Diese direkten Auswirkungen der πράγµατα und der verschiedenen Emotionen auf die σύνθεσις müsse ein guter Redner oder Dichter nachahmen können. Im Folgenden veranschaulicht Dionysios noch einmal den Kern der Theorie, das Verhältnis von geschilderten Gegenständen und Ausdruck, anhand des Berichtes des Odysseus aus der Unterwelt: Hier werde geradezu bildlich erkennbar, unter welchen Anstrengungen Sisyphos den Stein auf den Gipfel wuchtet.73 Dionysios ergänzt also die aristotelische Theorie über das Verhältnis von πάθος, ἦθος und geschilderten Gegenständen durch eine Theorie natürlicher Sprachentstehung. Dass Dionysios nicht nur Beispiele aus der Dichtung verwendet,74 sondern neben seinem klassischen Publikum, das an der πολιτικῶν λόγων ἐπιστήµη interessiert ist, explizit auch Dichter anspricht, verweist in dieser entwickelten Fassung der Theorie auch auf eine mögliche konzeptionelle Variation. Während die rhetorische Theorie die Darstellung von ἦθος und πάθος vor allem im Sinne ihrer Verwendung als Überzeugungsmittel verfolgt, wird dieser Aspekt im Falle anderer literarischer Gattungen zu einer Frage der literarischen Darstellung generell, nämlich der Charakterisierung dargestellter Personen und ihrer Emotionen durch das, was sie sagen.75
71 De Jonge (2008), 54: „[B]oth the selection of words and the composition should be appropriate to the subject matter (τὸ ὑποκείµενον), ‚the matter that underlies the words‘.“ 72 Vgl. De comp. verb. 11,1f.; 25f.; 64f. In de Dem. 47 und 48, dem zweiten Teil, von dem man allgemein annimmt, dass er später entstanden ist, wird das πρέπον ebenfalls in diese Reihe gezählt. 73 Vgl. De comp. verb. 20. 74 Die Beispiele aus der Dichtung mögen sich wegen ihrer Plastizität in besonderer Weise eignen, unabhängig davon, in welcher Gattung sich der Schüler betätigen will. 75 Vgl. Pohlenz (1933), 65-6, der allgemein darauf hingewiesen hat, dass eine Form der Kritik einer unangemessenen Darstellung literarischer Personen weit verbreitet war. Sie zeichnet sich im Gegensatz zum rhetorischen πρέπον gerade dadurch aus, dass hier weniger verbindliche Kriterien im Hintergrund stehen, sondern die Kritik einer Darstellung als unangemessen eher auf reinen Zuschreibungen beruhte, vor allem vor dem Hintergrund moralischer Vorstellung idealisierter Figuren.
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Um zu diskutieren, wie Dionysios seine Redekritiken in De Thucydide, die er systematisch anhand der Kriterien des πρέπον vornimmt, verstanden wissen will, soll zunächst ein Überblick über die Verwendung des Begriffes πρέπον in den Historikerkritiken allgemein gegeben werden. 2.3.2 Πρέπον in den Historikerkritiken des Dionysios In der Epistula ad Pompeium wird das πρέπον nur knapp abgehandelt. Zweimal ist es Herodot, der den Vorzug in der Bewertung bekommt, einmal vor Thukydides, einmal vor Xenophon. In beiden Fällen führt Dionysios es als einen λεκτικὸς τόπος an, beide Male geht es um die Qualität von Reden, als deren größte Tugend (πασῶν ἐν λόγοις ἀρετῶν ἡ κυριωτάτη) er das πρέπον bezeichnet. Im Falle des Vergleichs von Herodot und Xenophon wird Herodots Darstellung der πρόσωπα als wesentlicher Aspekt des πρέπον betont.76 Ausführlicher sind die Kritiken in De Thucydide. Dort eröffnet Dionysios seine Kritik mit einer Polemik gegen die Fans des Atheners: οὓς ἐὰν διδάσκῃ τις ἐφ’ ἑκάστῳ πράγµατι παρατιθεὶς τὸν λόγον, ὅτι ταυτὶ µὲν οὐκ ἦν ἐπιτήδεια ἐν τούτῳ τῷ καιρῷ καὶ ὑπὸ τούτων τῶν προσώπων λέγεσθαι, ταυτὶ δ’ οὐκ ἐπὶ τούτοις τοῖς πράγµασιν οὐδὲ µέχρι τούτου, δυσχεραίνουσιν, ὅµοιόν τι πάσχοντες τοῖς κεκρατηµένοις ὑφ’ οἵας δή τινος ὄψεως ἔρωτι µὴ πολὺ ἀπέχοντι µανίας. Wenn ihnen jemand, indem er anhand jedes Punktes die Rede erklärt, zeigt, dass es für dieses nicht passend ist, zu diesem Zeitpunkt und von diesen Personen gesagt zu werden, für jenes nicht über diese Themen und nicht so ausführlich, ertragen sie es nicht, sie erleiden etwas Ähnliches, wie diejenigen, die durch irgendjemandes wie auch immer beschaffenen Anblick von Liebe überwältigt werden, die sich nicht viel von Wahnsinn unterscheidet.77
Dionysios kündigt also eine Kritik der Reden anhand jedes einzelnen Aspektes hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit den πρόσωπα, den πράγµατα und dem καιρός an. Interessant ist dabei, dass Dionysios hier nicht mehr explizit von der λέξις als dem Gegenstand spricht, dessen Angemessenheit nach verschiedenen Punkten untersucht werden soll, sondern von nicht näher bestimmten Dingen, diesem und jenem (ταῦτα). Das wird noch von Bedeutung sein, da Dionysios im Verlauf seiner Kritik auf eine andere Ebene wechseln wird. Er beginnt mit der Kritik der Auseinandersetzung zwischen Archidamos und den Plataiern. Diese sei ein in jeder Hinsicht gelungenes Beispiel für einen Dialog, explizite Bezüge auf das πρέπον kommen nicht vor.78 In der Kritik des Melierdialoges finden sich wiederholt Bezüge auf die Kriterien des πρέπον, namentlich πράγµατα und πρόσωπα. Dionysios beginnt mit der Kritik der einführenden 76 Vgl. Ep. ad Pomp. 4,4: καὶ τοῦ πρέποντος οὐχ ὡς Ἡρόδοτος ἐφάπτεται [Xenophon] τῶν προσώπων εὐτυχῶς, ἀλλ’ ἐν πολλοῖς ὀλίγωρός ἐστιν, ἄν τις ὀρθῶς σκοπῇ; 3,20: πασῶν ἐν λόγοις ἀρετῶν ἡ κυριωτάτη τὸ πρέπον· ταύτην ὁ Ἡρόδοτος ἀκριβοῖ µᾶλλον ἢ Θουκυδίδης· ὁµοειδὴς γὰρ οὗτος ἐν πᾶσι, κἀν ταῖς δηµηγορίαις µᾶλλον ἢ ταῖς διηγήσεσιν. 77 De Thuc. 34. 78 Vgl. Thuk. 2,71-72; De Thuc. 36.
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Aussage der Athener, sie müssten keine lange Rede anführen, in der sie etwa ihren Anspruch zu herrschen mit ihrer Rolle beim Sieg über die Perser begründen oder behaupten würden, erlittenes Unrecht zu rächen.79 Dieses Argument (ἐνθύµηµα) sei weder Athen angemessen, noch passe es zu den πράγµατα.80 Dionysios begründet das, indem er die Aussage als ein Eingeständnis wertet, dass der Grund für das Vorgehen der Athener gegen die Melier reine Willkür sei. Es folgen zahlreiche weitere Hinweise darauf, dass bestimmte Aussagen der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit der Griechen im Allgemeinen und der Athener im Besonderen nicht angemessen seien, dass hier eher skrupellose Verbrecher sprechen würden als die Befreier Griechenlands.81 Eine abschließende Aufzählung der Kriterien ‒ ohne den καιρός ‒ erfolgt in der allgemeinen Abrechnung mit dem Melierdialog am Schluss der Kritik. Dies ist die Stelle, an der Dionysios den methodischen Vorsatz des Thukydides ins Spiel bringt, um anschließend die umfangreiche Kritik der Argumente selbst vorzunehmen.82 Dionysios charakterisiert dabei zunächst die Forderungen der Melier an die Athener, sie nicht zu versklaven, als angemessen. Die Aussagen der Athener allerdings, die ihr Beharren auf dem Recht des Stärkeren und die Tatsache, dass sie sich keiner Diskussion stellen würden, zum Ausdruck bringen, seien für „Anführer aus der wohlgeordnetsten Stadt (ἐκ τῆς εὐνοµωτάτης πόλεως), die in fremde Städte abgesandt worden sind“, nicht angemessen;83 auch den Meliern, die sich niemals zuvor durch besondere Großtaten hervorgetan hätten, sei nicht zuzutrauen, dass sie der „Sicherheit die Gefahr vorziehen“ (τοῦ ἀσφαλοῦς … τὰ δεινὰ ὑποφέρειν) würden. Umgekehrt sei es kaum denkbar, dass die Athener, die Befreier Griechenlands und diejenigen, die das gemeinsame Leben (κοινὸς βίος) so sehr verbessert hätten,84 den Meliern ihre Freiheitsliebe als sinnlos vorwerfen würden: Schließlich hätten die Athener selbst, als die Perser sie bedrohten, sogar lieber ihre Stadt aufgegeben, als sich zu beugen.85 In der Kritik der Rechtfertigung des Perikles vor den kriegsmüden Athenern86 spielt insbesondere der καιρός eine zentrale Rolle, die richtige Auswahl der passenden Mittel im Kontext der jeweiligen rednerischen Situation bzw. der Lage des 79 Vgl. Thuk. 5,89. 80 De Thuc. 38: … πρῶτον µὲν εἴρηκεν ἐνθύµηµα οὔτε τῆς Ἀθηναίων πόλεως ἄξιον οὔτ’ ἐπὶ τοιούτοις πράγµασιν ἁρµόττον λέγεσθαι … 81 Ebd. 39: βασιλεῦσι γὰρ βαρβάροις ταῦτα πρὸς Ἕλληνας ἥρµοττε λέγειν· Ἀθηναίοις δὲ πρὸς τοὺς Ἕλληνας, οὓς ἠλευθέρωσαν ἀπὸ τῶν Μήδων, οὐκ ἦν προσήκοντα εἰρῆσθαι, ὅτι τὰ δίκαια τοῖς ἴσοις ἐστὶ πρὸς ἀλλήλους, τὰ δὲ βίαια τοῖς ἰσχυροῖς πρὸς τοὺς ἀσθενεῖς. 40: ταῦτ’ οὐκ οἶδα πῶς ἄν τις ἐπαινέσειεν ὡς προσήκοντα εἰρῆσθαι στρατηγοῖς Ἀθηναίων, ὅτι λυµαίνεται τοὺς ἀνθρώπους ἡ παρὰ τῶν θεῶν ἐλπὶς καὶ οὔτε χρησµῶν ὄφελος οὔτε µαντικῆς τοῖς εὐσεβῆ καὶ δίκαιον προῃρηµένοις τὸν βίον. Ebd.: ἀκόλουθα καὶ ταῦτα τοῖς πρώτοις καὶ οὔτε Ἀθηναίοις οὔτε Ἕλλησι πρέποντα εἰρῆσθαι. 82 Vgl. ebd. 41. 83 Ebd.: ἐγὼ µὲν γὰρ οὐκ οἴοµαι τοῖς ἐκ τῆς εὐνοµωτάτης πόλεως ἐπὶ τὰς ἔξω πόλεις ἀποστελλοµένοις ἡγεµόσι ταῦτα προσήκειν λέγεσθαι … 84 Vgl. ebd. Pritchett, On Thucydides, ad loc. übersetzt „everyday life“, Cary „life of all mankind“. 85 Vgl. De Thuc. 41. 86 Vgl. Thuk. 2,60-64.
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Redners. Auch dieser Aspekt steht, wie wir gesehen haben, in enger Verbindung mit dem πρέπον. Dionysios bemerkt erneut, dass der beste Gedanke (νόηµα) und das beste Argument (ἐνθύµηµα) nur dann nützlich sind, wenn sie „den Inhalten, den Personen, den rechten Augenblicken und allem anderen angemessen“ seien. (τοῖς πράγµασιν εἴη προσήκοντα καὶ τοῖς προσώποις καὶ τοῖς καιροῖς καὶ τοῖς ἄλλοις ἅπασιν).87 Die Lage des Perikles sei mit der eines Angeklagten vergleichbar. So hätte Thukydides die Rede auch komponieren müssen, denn dann sei sie „angemessen für den Schriftsteller, der die Wahrheit nachahmen will“ (πρέπον τῷ µιµεῖσθαι βουλοµένῳ συγγραφεῖ τὴν ἀλήθειαν).88 Dionysios beginnt damit, den Anfang der Rede des Perikles als ungeeignet für die konkrete Situation zu kritisieren: Die Athener hätten nach der Belagerung, den Plünderungen und der Seuche allen Grund auf den Kriegstreiber wütend zu sein. Auf diese konkrete Schilderung der Situation folgt dann eine Anweisung, wie darauf zu reagieren sei: Ein politischer Redner solle die Zuhörer eher beruhigen als aufheizen. Dionysios fährt fort, indem er die Aussage des Perikles über das Gemeinwohl, das über dem des Einzelnen stehen müsse, als prinzipiell wahr, aber als einen Verstoß gegen den καιρός qualifiziert. Dionysios begründet dies folgendermaßen: Da es dem Staat ebenso schlecht gehe wie seinen Bürgern, verlaufe das Argument im Nichts.89 Noch weniger sei die folgende Aussage des Perikles dem καιρός angemessen: Er habe erneut seine Fähigkeit betont, als Stratege die Situation zu meistern, anstatt sich auf allgemeine Regeln der Rhetorik zurückzuziehen. Perikles, der größte Stratege seiner Zeit, müsse wissen, dass das Herausstellen der eigenen Fähigkeiten besonders, wenn man ein Angeklagter sei, das Publikum gegen einen aufbringe. Perikles hätte lieber „unzählige Tränen“ vergießen und „um Gnade flehen“ sollen. Stattdessen habe er aber weiter seine Qualitäten herausgestellt und mit der Aussage, jemand, der einen Plan habe und nicht durchführe, sei ebenso unnütz wie der, der es mit der Stadt gut meine, diesen guten Willen aber durch Bestechlichkeit zunichtemache, erneut eine allgemeine Wahrheit geäußert, die aber der Situation unangemessen sei.90 2.4 Die kritische Funktion des πρέπον 2.4.1 Die Kritik der Periklesrede als Forderung nach einem natürlichen Perikles? Vivienne Gray hat, wie bereits bemerkt, in ihrer Interpretation der Kritik der Periklesrede den Begriff des πρέπον als den Ausdruck eines natürlichen Verhältnisses der Aussagen zur Person und den Umständen definiert: Die Kritik richte sich hier vorwiegend dagegen, dass Perikles sich nicht wie jemand „in danger of his life“ 87 88 89 90
Vgl. De Thuc. 45. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 44. Vgl. ebd. 45.
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verhalte.91 Bereits der Begriff der Natürlichkeit wirft eine ganze Reihe von Problemen auf. Dionysios jedenfalls fasst Natürlichkeit nicht so allgemein auf, wie Grays Aussage impliziert. Der Hinweis auf den καιρός und die ausdrückliche Schilderung, welcher psychologischen Mittel sich Perikles hätte bedienen müssen, um sein Publikum auf seine Seite zu ziehen, zeigen, dass Dionysios hier eine durchkomponierte Rede erwartet. Gleichzeitig aber sind die rhetorischen Regeln, die seine Vorstellung auffällig leiten, aus Dionysios’ Sicht eben als Ausdruck eines natürlichen Verhaltens bzw. dem, was die theoretische Tradition und er dafür halten, konzipiert. Und Perikles als großer Redner verhält sich darüber hinaus genau dann natürlich, wenn er sich sicht- und nachahmbar an rhetorischen Regeln orientiert. Es ist auffällig, dass Dionysios hier eine Rede erwartet, die gänzlich nach den Regeln gestaltet ist, die wir hier als die des rhetorischen πρέπον definiert haben. Dionysios regt an, dass Thukydides Perikles eine Rede hätte in den Mund legen sollen, deren Adressat nicht zuerst die Leserschaft des historischen Werkes ist, sondern das Redepublikum des Perikles. Das wird daran deutlich, dass Dionysios, wie oben gezeigt, explizit fordert, keine individuelle Charakterisierung der Person vorzunehmen, da diese dem Überzeugungsziel des Darzustellenden zuwiderlaufe, und dass eine solche Charakterisierung eben nicht in eine Rede gehöre, sondern in die historische Darstellung selbst. Wenn Dionysios hier also definiert, was „angemessen für einen Schriftsteller [sei], der die Wahrheit nachahmen will“ (πρέπον τῷ µιµεῖσθαι βουλοµένῳ συγγραφεῖ τὴν ἀλήθειαν),92 zeigt sich, dass für den Historiographen genau das als nachzuahmende Wahrheit bzw. Wirklichkeit gilt, was für den Redner in der jeweiligen Situation als angemessen im Hinblick auf sein Überzeugungsziel zu gelten hat. Bezieht man die theoretischen Ausführungen aus De compositione verborum ein, ist eben auch Perikles als ein Redner darzustellen, der sich genau genommen nicht natürlich verhält, sondern natürliches Verhalten in einer zielgerichteten Weise nachahmt. 2.4.2 Die Kritik des Melierdialoges als Forderung nach einem angemessenen historischen Diskurs? Wenn man in dieser Ablehnung individueller Charakterisierung und Forderung nach einer Rede, die dem unmittelbaren Überzeugungsziel dient, eine grundsätzliche methodische Forderung des Dionysios sieht, hat das gewisse Konsequenzen auch für die Einschätzung seiner Kritik anderer Reden, namentlich des Melierdialoges. Tatsächlich führt Dionysios’ Argumentation dort direkt zur Zurückweisung der Darstellung der auf dem Recht des Stärkeren beharrenden Athener. In seiner eigenen Praxis hätte Dionysios eine solche Rede vermutlich weggelassen, wie er ja nach eigenem Bekunden auch den gesamten Peloponnesischen Krieg überhaupt nicht behandelt hätte.93 Genau das führt allerdings zu einem zentralen Problem im 91 Vgl. Gray (1987), 470. 92 Vgl. De Thuc. 45. 93 Vgl. Ep. ad Pomp. 3,6.
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Hinblick auf eine Interpretation der Kritik des Melierdialoges als argumentative Strategie, also auf die Annahme, die technische Kritik sei hier mehr ein Mittel zum Zweck: Dionysios hat es nicht nötig, seine Fundamentalkritik an Thukydides auf Umwegen vorzunehmen. Schon seine Spitze gegen die Fans des Historikers macht das mehr als deutlich. Dionysios will vielmehr tatsächlich Schlechtes und Gutes trennen und bemüht sich daher auch um eine formal saubere Trennung der einzelnen technischen Anforderungen. Es scheint nichts dagegen zu sprechen, ihn beim Wort zu nehmen und grundsätzlich anzunehmen, dass die Kriterien, nach denen er die einzelnen Reden abhandelt, die sind, die er vorgibt, und auch sein Ziel das angegebene ist, nämlich auch eine prinzipiell nicht als Paradigma geeignete Rede dennoch nach den einzelnen Kriterien des πρέπον abzuarbeiten, und zu versuchen, das zu verbessern, was zu verbessern ist. Im Falle des Melierdialoges tut er es explizit deshalb, weil er das auf Grund der Berühmtheit der Rede muss. Sein methodisches Vorgehen führt er zugleich als die Folge dieser Notwendigkeit an, als eine Notlösung – und das hat Konsequenzen. Eben weil ein guter Melierdialog wegen seines bekannten Ausgangs prinzipiell nur sehr eingeschränkt vorstellbar ist, ist es notwendig, ihn isoliert von der Darstellung zu betrachten und eine Untersuchung nach Punkten vorzunehmen. Allerdings gestaltet sich das schwierig, weil der Melierdialog ein Sonderfall ist. Den καιρός durch eine bestimmte Gattung zu bestimmen, ist nicht möglich; ebenso wenig gibt es eine bestimmte Art von Publikum. Es bleibt die πίστις ἐκ τῶν ἠθῶν, und auch die kann hier nicht auf eine spezielle Kategorie von Redner hinsichtlich seiner Person oder Lage zurückgreifen, sondern kann für die hier anonym und als Vertreter des Kollektivs auftretenden Athener nur solche Beispiele aufrufen, die gleichzeitig Ausdruck ihres kollektiven Charakters in der idealisierten Vorstellung sind. Wir haben es also mit einem notwendig reduzierten rhetorischen πρέπον zu tun. Die explizite Bemerkung, dass Thukydides die Rede geradezu dazu nutze, Propaganda gegen die Athener zu machen, ist wie im Falle der Aussagen zur Apologie des Perikles über die Unangemessenheit der individuellen Charakterisierung aufzufassen: Als Aussage nämlich nicht zuerst über die zu missbilligende Beschaffenheit der individuellen Charakterisierung, sondern über deren allgemeine Unzulässigkeit. Die Kritik an der Charakterisierung der Athener ist eine Kritik daran, dass diese sich in der gegebenen Situation nicht überzeugend in der Weise verhalten, die im konkreten Fall erfolgversprechend wäre, wo es doch darum gehen müsste, den Meliern ihren Abfall auszureden, anstatt sie geradezu dazu zu treiben. Ein weiterer Punkt, der für diese Lesart spricht, ist die Aussage, mit der Dionysios die detaillierte Kritik des Dialoges selbst einleitet. Hier spricht er zunächst von einem unpassenden Enthymem der Athener, also auf der technischen Ebene vom logischen Überzeugungsmittel des deduktiven Schlusses, und von den πράγµατα, dem zunächst recht weiten Begriff der „Gegenstände“, die in De compositione verborum das modellhafte Vorbild der Lautmalerei sind, bei Lysias im Zusammenhang mit dem jeweiligen Teil der Verhandlung oder des Plädoyers stehen, im Falle der Charakterkomposition aber auch die realen Eigenschaften und Leistungen des
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Redners bezeichnen, durch die er Autorität gewinnt.94 Hier verweist nun der konkrete Inhalt auf die Funktion dieser πράγµατα: Die athenischen Gesandten äußern, dass es nicht nötig sei, ihre Herrschaft zu rechtfertigen, indem sie sich etwa auf den Sieg über die Perser berufen würden. Gerade das ist der Ansatzpunkt der Kritik, die Dionysios im Folgenden äußert, denn die Athener geben hier in der thukydideischen Darstellung die wesentliche Legitimation ihrer hegemonialen Stellung auf. So sind auch die πράγµατα, die Dionysios in der Folge empfiehlt, zu verstehen. Thukydides soll die Athener nicht bloß idealisieren, er soll berücksichtigen, dass sie vor dem Hintergrund des gegebenen Überzeugungszieles, der Überredung der Melier zur Gefolgschaft, mit der klassischen Legitimationserzählung als Befreier Griechenlands, Wahrer des κοινὸς βίος und Hegemon, der die Rechtsordnung und die religiösen Vereinbarungen achtet, mehr Erfolg gehabt hätten. Das imperialistische Gebaren, das Thukydides ihnen in den Mund legt, um das Wesen der athenischen Politik zu illustrieren, ist nicht nur der Athener unwürdig, sondern für einen Redner mit einem bestimmten Ziel ein vollkommen unsinniges Verhalten. Und auch das Recht des Stärkeren, das Dionysios ja selbst immerhin zur Legitimierung Roms anführt, ist zwar eine historische Begründung, aber eben kein gutes Argument. Deshalb lehnt er den Bezug darauf ab, nicht, weil er ein Problem mit dem Konzept an sich hätte. Ganz allgemein kann man natürlich von der Kritik an einem formal unzulässigen Diskurs sprechen, und sicher spricht aus der Kritik am Melierdialog auch eine Kritik an der Darstellung der Athener durch Thukydides allgemein. Für die Frage allerdings, inwiefern das πρέπον als ein Kriterium angemessener historischer Darstellung gelten kann, ist das Verhältnis der Ebenen wesentlich. Zum einen fordert Dionysios von Thukydides die Nachahmung des natürlichen Verhältnisses der Aussagen seiner Protagonisten zu ihren Inhalten. Zugleich aber handelt es sich auch hier um eine Rede mit einem Überzeugungsziel. Man kann, wie wir gesehen haben, davon ausgehen, dass die angemessene Darstellung für Dionysios auch hier darin besteht, die Sprechenden so auftreten zu lassen, als würden sie selbst sich nach den Regeln des rhetorischen πρέπον richten. Neben der allgemeinen Forderung nach einer moralisch förderlichen Darstellung der Athener sind für Dionysios also gerade Reden, die in paradigmatischer Weise eine vorbildliche Argumentation veranschaulichen, in der Historiographie wünschenswert. Das ist wesentlich, weil es verdeutlicht, worin der paradigmatische Nutzen der Historiographie auf einer eher technischen Ebene beruht. Zum anderen zeigt sich hier in der Tat auch eine gewisse Folgerichtigkeit der Kritik: Fasst man auch bei Thukydides die postulierte Orientierung an τὰ δέοντα, an dem, „was gesagt werden muss“, als eine Ankündigung auf, das zu schreiben, was „for maximum persuasive effect“ hätte gesagt werden müssen,95 kann man konstatieren, dass er dieses Ziel sowohl in der Periklesrede als auch im Melierdialog vernachlässigt.
94 Vgl. De Lys. 19. 95 Vgl. Rusten, Peloponnesian War II, 11.
III DIE HISTORISCHEN IDEALE IN DIONYSIOS’ „IDEALISIERENDER HISTORIE“ Es kann festgehalten werden, dass Dionysios nicht die Auffassung vertritt, dass der Wahrheitsanspruch der Geschichte sich bereits in der Erfüllung allgemeiner rhetorischer Kriterien der äußeren Form erschöpft, sich also mit der Erzeugung von Glaubwürdigkeit, Akzeptanz oder Überzeugungskraft gewissermaßen im Selbstzweck der Rhetorik schon der Charakter seiner Historie ausmachen ließe. Die Implikationen der im vorhergehenden Teil nachgezeichneten Diskussion über die angemessene Darstellung von Reden in der Historiographie für die allgemeinen Zielsetzungen der Gattung, ihren postulierten paradigmatischen Nutzen und den damit verbundenen Wahrheitsanspruch werden uns noch im letzten Teil der Arbeit beschäftigen. Im folgenden Teil soll die Frage nach dem Umgang mit der historischen Darstellung zunächst im Hinblick auf Dionysios’ zentralen programmatischen Anspruch nachverfolgt werden, nämlich die Forderung nach „schönen Gegenständen“ (καλαὶ ὑποθέσεις) der Geschichtsschreibung. Fox hat für Dionysios’ Historiographie vor dem Hintergrund der expliziten Forderung nach „schönen Gegenständen“ und der daran auch deutlich ausgerichteten historischen Darstellung den treffenden Ausdruck der „idealizing history“ verwendet. Fox betont sowohl die Orientierung an vornehmlich als erkenntnistheoretisch aufzufassenden Idealen, an bestimmten „pre-conceptions“ des Historikers, die er auf seinen Stoff anwendet, als auch das aktive Eingreifen des Historikers in die Überlieferung im Sinne einer bestimmten normativen Absicht.1 Dementsprechend beschreibt Fox die „idealizing history“ des Dionysios zum einen als unmittelbaren Ausdruck internalisierter Vorstellungen: Zumindest dort, wo die Idealisierung von festen ethischen Auffassungen geleitet sei, müsse sie Dionysios und wohl auch den Lesern seiner Zeit als „something that emerges naturally from the material“ erschienen sein.2 An anderer Stelle und auf einer allgemeinen Ebene allerdings spricht Fox Dionysios ein deutliches Bewusstsein dafür zu, dass er selbst als Historiker für die Idealisierung seiner Gegenstände verantwortlich sei.3 Die Idealisierung erscheint so einmal als das Ergebnis dessen, was aus Dionysios’ eigener Perspektive das Resultat einer methodisch validen Vorgehensweise im Rahmen seiner historischen Wahrheitssuche und -vermittlung ist, ein andermal als Synonym einer durchaus bewussten Konstruktion und Fiktionalisierung mit der feststehenden Zielsetzung der Vermittlung bestimmter Inhalte. Grundsätzlich geht Fox davon aus, dass es die
1 2 3
Vgl. Fox (1993), 31-2. Vgl. dens. (1996), 70. Vgl. dens. (2001), 47.
III Die historischen Ideale
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Bedeutung dieser Ideale in beiderlei Hinsicht ist, wegen der für Dionysios eine „idealized version of the past … synonymous with the true version of the past“ sei.4 Der unbewusste Bereich der Ideale des Dionysios in Form internalisierter ethischer Auffassungen bzw. erkenntnistheoretischer „pre-conceptions“ lässt sich für die Interpretation natürlich nur schwer von der bewussten Seite trennen. Hier soll stattdessen allgemeiner die Frage diskutiert werden, in welchem Zusammenhang für Dionysios die Ästhetisierung der Geschichte mit der Veranschaulichung ihrer Inhalte steht. Dabei soll es im weitesten Sinne um die Frage danach gehen, ob Dionysios durch die Idealisierung das Wirken bestimmter ‚historischer Ideale‘ vermitteln wollte. Dabei wird zu diskutieren sein, ob die für Dionysios Ausdruck eines wirklichen Idealismus sind,5 bzw. ob die Idealisierung auch als Veranschaulichung bestimmter Kräfte auf der Ebene des „Real-Wirklichen“ gesehen werden kann, die dann eventuell andere Formen der Begründung erfahren. Ebenso wird das Verhältnis der idealisierenden Darstellung zu Dionysios’ Auffassung des konkreten historischen Gegenstands, also der Geschichte Roms, zu diskutieren sein. Für die Diskussion darüber, was bei Dionysios die Idealisierung der Geschichte bestimmt, sollen hier seine methodischen Aussagen, die auch in diesem Falle relativ explizit sind, und ihre praktische Umsetzung untersucht werden. Zur Annäherung an die historischen Ideale des Dionysios soll hier näher untersucht werden, worin die von der Historiographie als Bedingungen ihres Nutzens geforderten „schönen Gegenstände“ (καλαὶ ὑποθέσεις) und „schönen Beispiele“ (καλὰ παραδείγµατα) bestehen. Es sollen dazu zunächst die Bedingungen der Herstellung literarischer Kunstwerke, für die Dionysios in seiner Schrift „Über die Nachahmung“ (De imitatione) eine Orientierung an einem allgemeinen ästhetischen Idealbegriff der „Schönheit“ (κάλλος) als maßgeblich beschreibt, nachvollzogen werden. Im Anschluss soll der konkrete Fall der Umsetzung in den Antiquitates untersucht werden, in denen Dionysios ein politisches Ideal der „Vortrefflichkeit“ (καλόν) als Orientierungspunkt der Handelnden darstellt, um festzustellen, ob die Idealisierung auf der inhaltlichen Ebene einen Kern hat, den man im weitesten Sinne als historisch auffassen könnte. 1 „SCHÖNHEIT“ ALS LEITENDES IDEAL DER LITERARISCHEN ΜΙΜΗΣΙΣ Der Anspruch auf „Schönheit“ (κάλλος) in der literarisch-ästhetischen Theorie und das Beharren auf einem „schönen Gegenstand“ bzw. „schönen Beispielen“ (καλὴ ὑπόθεσις und καλὰ παραδείγµατα) in der Geschichte werden in der modernen Forschung oftmals als zwei Seiten derselben zentralen Forderung nach moralischer Vortrefflichkeit gesehen. Die Orientierung an „schönen Vorbildern“ wird so nicht 4 5
Vgl. Fox (1996), 29. Zum Begriff Idealismus als erkenntnistheoretischem, ontologischem oder ethischem Idealismus, die in der Diskussion zu Dionysios, wie hier zu sehen ist, sämtlich einer Rolle spielen, vgl. allgemein Sandkühler (2010).
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nur als Ästhetisierung aufgefasst, die Geschichte oder auch andere (literarische) Kunstwerke werden zugleich als ein Mittel der Reproduktion und Vermittlung der historischen Vorbilder und deren moralischer Qualitäten verstanden ‒ ein Punkt, der in Dionysios’ Beschreibung der Wirkung „schöner Gegenstände“ im Falle der Antiquitates auf die Römer ja durchaus zum Ausdruck kommt. Die prinzipielle Gleichsetzung ästhetischer Form und moralischer Inhalte führt in der modernen Interpretation mitunter dazu, dass auch der Prozess der µίµησις, der in Dionysios’ literarischer Theorie den Kern seiner Lehre von einer Orientierung an den schönen Vorbildern der Kunst bildet, allgemein als ein Vorgang beschrieben wird, dessen Gegenstand ebenso ästhetische wie moralische Qualitäten sein können. Fox betont die Forderung nach der Orientierung an moralisch schönen Gegenständen, sieht die µίµησις aber auch im Zusammenhang mit der Historiographie als einen technischen Vorgang der Literaturproduktion, nämlich als Nachahmung von historiographischen Vorbildern durch den Geschichtsschreiber als eine Bedingung der „idealizing history“.6 Delcourt betont die andere Seite, den Anspruch der Geschichte, nicht nur als Werk nachahmenswert zu sein, sondern auch durch die Präsentation schöner Beispiele durch die Taten der großen Männer der Geschichte als das Vorbild einer µίµησις τοῦ βίου zu dienen.7 Wiater schließlich hat eine zusammenhängende Vorstellung der ästhetisch-moralischen µίµησις angenommen, bei der die Nachahmung der literarischen Vorbilder sowohl der individuellen Übernahme ethischer Qualitäten des Vorbildes wie deren Reproduktion durch Kunst diene. Dabei sieht Wiater die Übernahme der ethischen Qualitäten, des „Classical ἦθος“, als den eigentlichen Zweck an. Dieses ἦθος beschreibt er als Träger einer „Classical identity“.8 Das Verfassen und Rezipieren klassischer Texte sei somit das zentrale Element einer performativen Praxis des „self-fashioning“ der Klassizisten.9 Diese Form der Übertragung des „Classical ideal“ bezeichnet Wiater 6 7 8 9
Vgl. Fox (1993), passim, v.a. 37-9 und dens. (1996), 67-8. Vgl. Delcourt (2005), 43. Vgl. Wiater (2011a), 75-92, v.a. 81–3. Wiaters Deutung des Klassizismus knüpft an einen Aspekt an, den schon Gelzer (1979), 39 bemerkt hat: „Die Attizisten tragen das Bekenntnis zur geschmacksbildenden Kraft und zur Wiederherstellung dieser Bildung als Kennzeichen ihrer Zugehörigkeit zu den erneuerten geistigen Ideal-Athenern ostentativ vor sich her.“ „Sozialprestige“ als Ziel der griechischen παιδεία betont auch Hose (1999), 283. Wiater bezieht sich vor allem auf Too (1995), die den Aspekt der Identitätskonstruktion nicht erst als ein Ziel des Klassizismus, sondern bereits als integralen Bestandteil der πολιτικὴ φιλοσοφία des Isokrates gesehen hat. Diese Interpretation der isokrateischen Rhetorik stellt die Idee eines Panhellenismus bei Isokrates als dessen maßgebliches politisches Ziel ins Zentrum. Die Betonung des Gegensatzes von Griechen und Barbaren habe dazu gedient, durch eine Gegenüberstellung mit dem „Anderen“ eine griechische Identität zu konstruieren, vgl. Wiater (2011a), 65-77. Besonders die bei Isokrates wiederholt angesprochenen Tugenden seien hier als Bestandteil eines spezifisch griechischen ἦθος im Sinne einer „cultural identity“ zu sehen (67). Die Auseinandersetzung mit den großen rednerischen Vorbildern, die in der isokrateischen παιδεία gefordert wird, wird im Zuge dieser Interpretationslinie nicht mehr vordergründig als eine Ausbildung zum fähigen Redner und Staatsmann und charakterformende Allgemeinbildung gesehen, sondern als „self-fashioning“ des Redners, in dessen Zentrum die Teilhabe am griechischen ἦθος und an der hellenischen Identität stehe.
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als „extratextual mimesis“. Gleichermaßen finde auch eine „intratextual mimesis“ statt, die sich in der in den Antiquitates geschilderten Übertragung der „Classical identity“ durch die Zeit, von den griechischen Vorbildern über Romulus bis in die augusteische Gegenwart, zeige.10 Dionysios’ Ausführungen erscheinen als eine Station in der gedanklichen Entwicklungslinie einer recht allgemein gefassten Theorie der µίµησις, in der die platonische Vorstellung moralischer Nachahmung so wie die bei Plutarch explizit und in einer ganz ähnlichen Terminologie wie bei Dionysios ausgeführte Vorstellung der Rolle historischer Vorbilder als die jeweils frühere bzw. spätere Etappe gelten können.11 Attestiert man Dionysios nun ebenfalls eine Vorstellung von καλοκἀγαθία, des In-Eins-Fallens ästhetischer Schönheit und charakterlicher Qualitäten, so liegt eine Interpretation seiner rigorosen Forderung nach „schönen Gegenständen“ als Form eines ethischen Idealismus nahe, und auch die Nähe zu platonischen Vorstellungen in der Schilderung des ästhetischen Prozesses lässt die Frage aufkommen, ob ein solcher Idealismus auch auf tatsächlich als ontologisch zu bezeichnenden Idealvorstellungen des „Guten und Schönen“ basiert. 1.1 Ζῆλος, Eklektizismus und κάλλος im Prozess der literarischen µίµησις In der älteren Literatur findet sich mitunter die etwas verwirrende Unterscheidung zwischen einer „philosophischen µίµησις“ und einer „rhetorischen µίµησις“. Diese Unterscheidung hat Thomas Hidber aufgegriffen und festgestellt, dass bei Dionysios beide Formen zu finden seien. Die „philosophische“ verdankt ihren Namen ihrem Ursprung in der Theorie bei Platon und Aristoteles, die eine Nachahmung der Natur als den Kern der µίµησις angenommen haben. In der späteren Literatur, so auch bei Dionysios, finde sich davon allerdings lediglich noch eine Schwundstufe, deren Ziel die Charakterkonstruktion in der Tradition der rhetorischen Theorie sei. In Abgrenzung dazu könne man von einer gänzlich „rhetorischen µίµησις“ sprechen. Hier gehe es bloß noch um die Nachahmung sprachlichen Stils, Objekt sei nicht mehr die Natur, sondern allein als klassisch angesehene Literatur.12 Tatsächlich allerdings gibt Dionysios auch dort, wo er die Nachahmung der Vorbilder der τέχνη empfiehlt und wo von der Natur nicht mehr die Rede ist, ein externes Kriterium dafür an, wie die Nachahmung zu erfolgen hat, und auch hier ist der Anklang an platonische Theorien nicht zu übersehen. Bei diesem Kriterium handelt es sich um die Forderung nach Schönheit (κάλλος) als Ziel der Kunst allgemein. Im Zusammenhang damit entwickelt Dionysios in seiner Schrift über die µίµησις (De imitatione), die nur in Form von Fragmenten und einer Epitome vorliegt, eine ästhetische Theorie, die er offensichtlich seiner Lehre der literarischen µίµησις zugrunde legen möchte. 10 Vgl. ebd. 170 und 171-198 passim. 11 Vgl. Plut. Per. 1,4-2,4. 12 Vgl. Hidber, Manifest, 57-8.
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Der Begriff µίµησις taucht hier, wie auch sonst öfter, in einem engen Zusammenhang mit einem anderen Begriff auf, dem ζῆλος. Goudriaan hat bei Dionysios einen komplementären Gebrauch ausgemacht, der zwei Aspekte ein- und derselben Sache beschreibe; dort, wo nur einer der Begriffe auftauche, stehe er oftmals pars pro toto.13 Ein tatsächlich komplementäres Verhältnis lässt sich in der Epitome zu De imitatione beobachten, wo Dionysios es anhand einer Anekdote verdeutlicht. Es muss vorangestellt werden, dass die Interpretation der Epitome durchaus einige Probleme bereitet. Das liegt zunächst an der Überlieferungsform. Inwiefern das Verhältnis der Anekdoten zu den einleitenden Anmerkungen und den Schlussfolgerungen, die der Epitomator präsentiert, tatsächlich in seiner argumentativen Struktur derjenigen entspricht, die Dionysios im Sinn hatte, ist nicht zu klären. Generell ist anzumerken, dass die von Dionysios verwendeten Episoden, wie so viele Beispiele in der antiken Literatur, ursprünglich nicht zu dem Zweck erdichtet worden sind, zu dem Dionysios sie hier verwendet. Die Frage danach, was das implizierte tertium comparationis in der Gegenüberstellung von literarischem und bildnerischem Kunstwerk ist, die dort vorgenommen wird, ist so auch für die moderne Interpretation kaum eindeutig zu beantworten.14 Die Epitome von De imitatione beginnt mit der allgemeinen Aussage, neben den Stoffen (ὗλαι) der alten Schriftsteller müsse man sich auch den individuellen Eigenarten mit dem Ziel ihres ζῆλος widmen. Durch fortwährende Beschäftigung mit diesen Eigenschaften würde die Seele des Lesers eine „Gleichheit des Stils“ (ὁµοιότης τοῦ χαρακτῆρος) auf sich ziehen. Dionysios erläutert diese Aussage anhand einer Geschichte (µῦθος). Die Geschichte handelt vom Versuch eines hässlichen Bauern, zu verhindern, dass die Kinder, mit denen seine Frau schwanger ist, gleichermaßen hässlich werden. Daher fertigt er schöne Bilder und lässt seine Frau sie betrachten. Die Maßnahme erfüllt ihren Zweck, die Schönheit (κάλλος) der Bilder überträgt sich auf die Kinder.15 Die Metaphorik, die Dionysios in der Episode über den hässlichen Bauern verwendet – die Rolle der Seele, der Vorgang von Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt als Bilder für künstlerisches Schaffen – findet in der antiken Literatur 13 Das Verhältnis bestimmt Goudriaan (1989), 220-1 wie folgt: „We moeten mimêsis en zêlos dus beschouwen als twee aspecten van één en dezelfde zaak: datgene waarnaar men in bewondering opkijkt is men ook bereid na te bootsen. Wanneer één van beide termen wordt gebruikt mogen we de ander erbij denken, we hebben te maken met pars pro toto.“ In der Definition von v. Wilamowitz-Möllendorf (1900), 29 bezeichnet der ζῆλος noch einen Gegensatz zur µίµησις, nämlich die „[Anerkennung] als musterhafte Stilisten … von denen man sehr viel lernen kann“, µίµησις im Gegensatz dazu den „falsche Classicismus, der die Entwicklung hemmt und das Leben ertödtet.“ Goudriaan (1989), 230 hat darauf hingewiesen, dass diese Definition zumindest dem theoretischen Bemühen des Dionysios nicht gerecht wird. Mitunter steht der Begriff auch für einen individuellen Stil selbst, vgl. Strab. 14,1,14; Plut. Antonius 2,5; vgl. dazu auch Wilamowitz-Möllendorf (1900), 28. Vgl. auch Aujac ad loc., die in Dionysios’ ζῆλος „simplement le désir d’atteindre le beau reconnu chez les autres“ sieht. 14 Vgl. zur Bauernepisode Battisti, Sull’ imitazione, 100. Die im Anschluss geschilderte Zeuxisepisode ist recht verbreitet, etwa bei Cic. De inv. 2,1 und Plin. Nat. Hist. 35,64. 15 Vgl. De im. Epitome 1,1-2. Die Zählung und der Text orientieren sich im Folgenden, sofern nicht anders angegeben, an der Ausgabe G. Aujacs.
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zahlreiche Entsprechungen. Auf eine dieser Passagen hat Richard Hunter hingewiesen. Seines Erachtens handelt es sich bei der Rede der Diotima im platonischen Symposion um den Interpretationsschlüssel für das Verständnis der Anekdote bei Dionysios.16 Von Bedeutung sei hier die Parallele zu Diotimas Konzept der seelischen Zeugungskraft bzw. Schwangerschaft, die sie als einen Zustand von Dichtern und Künstlern beschreibt.17 Hunter hat die Frau als Äquivalent der ψυχή, Dionysios und seine Schüler als Entsprechung des Bauern gesehen. Seines Erachtens zeigt sich hierin eine gewisse „biologische Normalisierung“ der bei Platon geschilderten seelischen Schwangerschaft, die in der antiken Literatur- und Kunstproduktion vorwiegend Männern vorbehalten sei.18 Die besondere Schwierigkeit für die Interpretation liegt in der Frage nach dem exakten Verhältnis der Geschichte zum von Dionysios sowohl in seiner Einleitung als auch seinem Nachsatz geschilderten Vorgang der Beschäftigung mit schönen Beispielen und ihrer Einwirkung auf die Seele. Darauf, dass das Verhältnis der seelischen Schwangerschaft der Bäuerin – so man denn bei diesem platonischen Bild bleiben möchte – zu ihrer körperlichen Schwangerschaft für Dionysios als Hinweis auf eine doppelte, aus zwei komplementären Aspekten bestehende Bedeutung des Vorganges der µίµησις dient, weist der Nachsatz zur Geschichte hin: Οὕτω καὶ λόγων µιµήσεσιν19 ὁµοιότης τίκτεται, ἐπὰν ζηλώσῃ τις τὸ παρ’ ἑκάστῳ τῶν παλαιῶν βέλτιον εἶναι δοκοῦν καὶ καθάπερ ἐκ πολλῶν ναµάτων ἕν τι συγκοµίσας ῥεῦµα τοῦτ’ εἰς τὴν ψυχὴν µετοχετεύσῃ. So wird auch durch Nachahmungen von Sprache Ähnlichkeit geboren, immer wenn jemand dem, was bei jedem der Alten besonders gut zu sein scheint, nacheifert und es so, als ob er etwa aus vielen Quellen einen Strom zusammenführt, in die Seele leitet.20
Dionysios beschreibt ζῆλος hier als entscheidenden Aspekt des Vorganges der µίµησις. Noch deutlicher wird dieses Verhältnis in einem Fragment aus dem ersten Buch von De imitatione: Μίµησίς ἐστιν ἐνέργεια διὰ τῶν θεωρηµάτων ἐκµαττοµένη τὸ παράδειγµα. Ζῆλος δέ ἐστιν ἐνέργεια ψυχῆς πρὸς θαῦµα τοῦ δοκοῦντος εἶναι καλοῦ κινουµένη. Mimesis ist die Tätigkeit, die das Beispiel durch die Lehrsätze/die Beobachtungen nachformt. Zelos ist die seelische Tätigkeit, die sich zur Bewunderung dessen, was schön zu sein scheint, hinbewegt.21
16 17 18 19 20 21
Vgl. Hunter (2009), 110; Plat. Conv. 206e-207a. Vgl. ebd. 209a. Vgl. Hunter (2009), 113. Aujac µιµήσει: Usener, Battisti µιµήσεσιν: Wiater (2011a), 79 om. De im. Epitome 1,3. De im. F 2 Aujac = 3 Usener = 3 Battisti. Die fragmentarische Überlieferung dieser Definition macht einige Bemerkungen nötig. Syrianus führt die beiden Sätze als Kommentar zu dem Hermogenes-Zitat ἡ γάρτοι µίµησις καὶ ὁ ζῆλος mit den Worten Διονύσιος µὲν ἐν τῷ πρώτῳ περὶ µιµήσεως ὁρίζεται τὴν µίµησιν οὕτως ein. Bei Syrianus sind die beiden Sätze durch eine Aussage unterbrochen, die er als ein Diktum „Nachgeborener“ (µεταγενέστεροι) ausgibt: λόγος ὁµοίωσιν εὖ ἔχουσαν τοῦ παραδείγµατος περιέχων (Usener – Radermacher ad loc. S. 200 v. 1:
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Die inhaltlichen Parallelen zum Nachsatz der Bauernepisode aus der Epitome sind deutlich: Auch hier wird der ζῆλος als ein Vorgang beschrieben, der mit der Seele des Nachahmenden in Verbindung steht und sich auf das θαῦµα τοῦ δοκοῦντος εἶναι καλοῦ hinbewegt. Das Verb ἐκµάσσω in der Definition der µίµησις ist ein Begriff, der deutliche Assoziationen zur Arbeitsweise der Bildhauer weckt.22 Vor allem aber evoziert er den Eindruck einer rein äußerlichen Kopie, die durch das beschriebene Mittel, die θεωρήµατα, noch zusätzlich als Ergebnis eines rein technischen Vorgangs erscheint.23 Während µίµησις in F2 also allgemein als der technische Vorgang der Nachahmung beschrieben wird, ist es der ζῆλος mit seiner seelischen Ausrichtung auf das Schöne, der den Vorgang der µίµησις über den rein technischen Aspekt erhebt und ihr wirkliche Bedeutung verleiht. Analog zu dieser wichtigen Unterscheidung könnte die körperliche Schwangerschaft der Bäuerin in der Epitome von De imitatione II als das Äquivalent zur rein technischen Nachahmung, die seelische Schwangerschaft als Ausdruck des auf die Schönheit gerichteten, als eine ἐνέργεια ψυχῆς charakterisierten ζῆλος aufgefasst werden. Festzuhalten ist, dass eine Nachahmung ohne ζῆλος prinzipiell ebenso möglich wäre wie eine rein körperliche Schwangerschaft. Eine solche Nachahmung würde allerdings keine tatsächlichen Abbilder der Seele der Beispiele erzeugen, sondern vielmehr eine seelenlose, rein äußerliche Kopie, der das zentrale Element einer gelungenen µίµησις, die diese Bezeichnung tatsächlich verdient, die Schönheit, und damit die tatsächliche ὁµοιότης zu dem, was das eigentliche Objekt der Nachahmung ist, fehlt. Um bei der Anekdote zu bleiben: Ohne das Einwirken der schönen Bilder auf die Frau des Bauern hätte sie eben hässliche Kinder zur Welt gebracht. Es ist also offensichtlich keine Folge eines beliebigen Gebrauchs synonymer Ausdrücke, wenn Diony-
„philosophos nescio quos dicit“). Erst danach folgt der Satz mir der Definition von ζῆλος. Die modernen Editoren sind sich einig darin, dass die Sätze zusammengehören (ebd. 201: „ζῆλου definitionem ad eundem auctorem referendam esse res ipsa clamat.“) Ob beide Sätze bei Dionysios direkt hintereinander standen, lässt sich nicht mehr klären, allerdings macht schon der Anlass der Zitation, das Hermogeneszitat, deutlich, dass µίµησις und ζῆλος als verwandte Phänomene aufgefasst wurden. Der eingeschobene Satz, der wie gesagt nicht Dionysios zuzuschreiben ist, erzeugt durch die Erwähnung der ὁµοίωσις einen deutlichen Anklang an die ὁµοιότης, den dritten im Nachsatz zur Bauernepisode zentralen Begriff. Inwiefern Syrianus das Original oder die Epitome von De imitatione gekannt haben mag und den Satz im Bewusstsein der Ähnlichkeit beider Stellen einfügte, ob sich hier bei den µεταγενέστεροι Gedanken des Dionysios oder ihm gedanklich nahestehender Zeitgenossen bewahrt haben, oder ob die Übereinstimmung hier relativ zufällig ist, kann wohl nicht geklärt werden. 22 Besonders deutlich wird die Verbindung des Wortes mit der Sprache der Bildhauer an einer weiteren Stelle bei Dionysios, in der er die Nachahmung des Lysias durch Demosthenes beschreibt, vgl. De Dem. 13: ὅλος ἐστὶν ἀκριβὴς καὶ λεπτὸς καὶ τὸν Λυσιακὸν χαρακτῆρα ἐκµέµακται εἰς ὄνυχα … 23 Im Wort θεωρήµατα schwingt der Aspekt des kontemplativen Betrachtens durchaus mit. Allerdings ist die Anschauung der Vorbilder selbstverständlich eine Voraussetzung jeder Form der µίµησις, auch der reinen Kopie. Aujac übersetzt mit deutlicher Betonung des technischen Aspektes „règles“, Battisti ebenso „regole“.
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sios die Episode als ein Lehrstück speziell über die Bedeutung des ζῆλος für diesen besonderen Fall der µίµησις einführt.24 Der Nachsatz der Anekdote über die Bäuerin betont jedoch nicht allein die Bedeutung des ζῆλος für die höhere Form der µίµησις. Er verweist gleichzeitig auf den zweiten zentralen Aspekt, die Auswahl der besten Elemente aus verschiedenen Vorbildern. Zur Erläuterung dieses Punktes führt Dionysios eine weitere Anekdote an: Der berühmte Maler Zeuxis habe sich für sein Bild der Helena nicht etwa ein einziges Modell zum Vorbild genommen, sondern sich sämtliche jungen Frauen Krotons nackt vorführen lassen. Diese seien zwar nicht alle hübsch gewesen, aber zumindest auch nicht in jeder Hinsicht hässlich. Zeuxis habe so nach dem Vorbild der schönsten Körperteile verschiedener Frauen das Kunstbild der Helena geschaffen.25 Auch dieser Anekdote schließt Dionysios einen erläuternden Nachsatz an: Τοιγαροῦν πάρεστι καὶ σοὶ καθά περ ἐν θεάτρῳ καλῶν σωµάτων ἰδέας ἐξιστορεῖν καὶ τῆς ἐκείνων ψυχῆς ἀπανθίζεσθαι τὸ κρεῖττον, καὶ τὸν τῆς πολυµαθείας ἔρανον συλλέγοντι οὐκ ἐξίτηλον χρόνῳ γενησοµένην εἰκόνα τυποῦν ἀλλ’ ἀθάνατον τέχνης κάλλος. Nun ist es auch an dir, so wie im Theater die Erscheinungen schöner Körper zu untersuchen und das Beste der Seele von jenen auszusuchen, und, indem du ein Festmahl der Gelehrsamkeit versammelst, nicht ein Bild zu erschaffen, das mit der Zeit vergeht, sondern unsterbliche Schönheit der Kunst.26
Neben der allgemeinen Betonung der Bedeutung eines gründlichen Studiums der Vorbilder findet sich auch in der Zeuxisepisode die Unterscheidung zwischen einer rein technischen Ebene, nämlich dem zumindest implizierten normalen Vorgehen eines Malers, der sich an nur einem Modell orientiert, und einem besonderen Aspekt der µίµησις-Konzeption des Dionysios, hier der Auswahl aus verschiedenen Vorbildern, dem zentrale Merkmal dessen, was so treffend als „eklektische µίµησις“ bezeichnet worden ist.27 1.2 Das ästhetische Ideal als ontologisches Ideal? Bereits Goudriaan hat darauf hingewiesen, dass nicht nur die Idee der seelischen Schwangerschaft eine platonische Parallele findet, sondern Dionysios’ „opvattingen over mimêsis“ generell „en Platonisch cachet“ haben: „Ze zijn niet zinder meer identiek met die van Plato zelf, maar zonder Plato’s voorafgaande uiteenzettingen 24 So weist Hidber, Manifest, 70 Anm. 299 darauf hin, dass der Gebrauch der Begriffe oftmals „unterschiedslos“ sei, aber auch auf die Unterscheidung in F 3 Usener zwischen einer „inspirierten“ und einer „mechanischen“ Nachahmung. Auf den doppelten Charakter der literarischen µίµησις bei Dionysos, die „nüchterne Tätigkeit des Beobachtens und Sammelns auf der einen und die zur Bewunderung hingerissene Seele auf der anderen Seite“, hat bereits Flashar 1979, 87 hingewiesen. 25 Dionysios führt die Anekdote im Gegensatz zu der als µῦθος bezeichneten Episode über die Bäuerin als einen λόγος ἔργῳ an. Wiater (2011a), 79 übersetzt „example from practice“; Hunter (2009), 110: „actual example“; Aujac „un fait“; Battisti „un fatto reale.“ 26 De im. Epitome 1,5. 27 Vgl. Hidber, Manifest, 67-8 und ebd. Anm. 290; vgl. auch Goudriaan (1989), 230.
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zijn die van Dionysius toch niet goed denkbaar.“28 Tatsächlich stellt sich die Frage, ob aus diesen Anspielungen Implikationen für das von Dionysios als Ziel der technischen µίµησις angestrebte κάλλος abzuleiten sind, mit anderen Worten, ob man hier ein tatsächliches Ideal im engeren Sinne sehen kann, das für Dionysios das höchste Ziel des Strebens der literarischen Kunst, mithin auch der Historiographie ist, und wir es auf eine gewisse Weise doch mit einer ästhetizistischen Konzeption zu tun haben. Richard Hunter hat die Tatsache herausgehoben, dass für Platon die Erkennbarkeit des Ideals, der wahren seelischen Schönheit, allein durch die Sprache möglich sei, und hierin auch die eigentliche Möglichkeit seiner Reproduktion bestehe. Hunter verweist auf verschiedene Beispiele der antiken Literatur, die auch die Unsterblichkeit, die Dionysios als Eigenschaft des τέχνης κάλλος gegenüber dem verblassenden Bild hervorhebt, als eine Eigenschaft sehen, die oftmals sprachlichen Kunstwerken im Gegensatz zu materiellen zuzusprechen sei.29 Somit seien die Anspielungen auf Platon ebenso wie die Bildmetaphorik und das Motiv der visuellen Wahrnehmung vor allem der Illustration des technischen Vorganges geschuldet: Dionysios habe zeigen wollen, „how rhetorical µίµησις was both like and unlike the practice of painting; like in some mimetic practices, but unlike in the immortality of its products.“30 Für Wiater entspricht die Übertragung der Schönheit in die Seele der Bäuerin der Manifestation des Schönen in der sozialen Realität. Der Vorgang stehe so für eine Übertragung durch die Sprache überlieferter, klassischer Ideale auf das Selbstverständnis und die Identität der Klassizisten, für das „Classicist self-fashioning“.31 In diesem sich stetig wiederholenden Prozess von Wahrnehmung und Reproduktion und der dadurch geschehenden Übertragung der klassischen Ideale von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Gegenwart in die Zukunft liegt für Wiater 28 Vgl. Goudriaan (1989), 244. 29 Hunter (2009), 118-20 weist auf Diskussionen in der Tradition des Platonismus hin, welche die Möglichkeit eines Erkennens der Seele anhand der äußeren Erscheinung explizit verneinen, und sieht in der Verbindung der „body-language“ mit der von Dionysios geforderten Seelenschau, zu der er mit dem Ziel der Erschaffung eines ἀθάνατον τέχνης κάλλος auffordere, eine Verbindung der τέχναι allein auf der Ebene des Beispiels. Dementsprechend sieht Hunter bei Dionysios eine Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk des Malers und dem des Literaten, die an Horaz’ monumentum aere perennius erinnere; in beiden Fällen werde die Dauerhaftigkeit des sprachlichen Kunstwerks gegenüber der des bildlichen betont, das zum einen auf einer Form der Wahrnehmung beruht, die das Ideelle nicht erfassen kann, und zum anderen stärker an seine eigene Materialität gebunden ist. Hunter, ebd. 114, räumt ein, dass die ursprüngliche Implikation des Dialoges im Gastmahl sich in vielerlei Hinsicht von der Episode bei Dionysios unterscheidet: Platon „might roll in his grave at the purposes to which his texts were now being put“. Vgl. auch ebd. 111: „The path from these chapters of the Symposium to a classicising theory of literary imitation is anything but straightforward, but a few landmarks remain visible.“ Hunter bemerkt ebd. 112, dass das Original noch in viel stärkerem Sinne von platonischen Ideen und Anspielungen geprägt gewesen sein könnte, als aus der Epitome ersichtlich ist. 30 Vgl. Hunter (2009), 120. 31 Vgl. Wiater (2011a), 81.
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auch die Unsterblichkeit des τέχνης κάλλος begründet. Auch für ihn steht also die Veranschaulichung des technischen Prozesses im Vordergrund, der hier allerdings, gerade durch die deutliche Betonung der Wirkung der Sprache auf die Realität, gewisse Anklänge an postmoderne Vorstellungen von Performativität erhält.32 Für Dionysios scheint die Analogie zu den bildenden Künsten allerdings in erster Linie durch die plausible Möglichkeit zur Veranschaulichung der Bedingungen des Eklektizismus und der Möglichkeit, die Ebenen des stilistischen und des inhaltlichen Modells deutlich voneinander zu trennen, ein naheliegender und gern herangezogener Vergleich zu sein.33 Der Aspekt der durch den ζῆλος geleiteten µίµησις spielt dabei auf gewisse funktionale Grundbedingungen an, die Dionysios für den Prozess annimmt. Ein Problem besteht dabei als allgemeine Schwierigkeit eines jeden Eklektizismus: Es droht die Gefahr, dass das Produkt als disparate Zusammenstellung nicht zueinander gehöriger Einzelteile erscheint.34 Das Bild des menschlichen Körpers, das Dionysios wählt, kann man hier sicherlich analog zu seinem rigorosen System der Redekunst betrachten. Beide ermöglichen es, die notwendigen einzelnen Teile und ihr Zusammenwirken zu bestimmen. Vor allem aber ermöglicht die eklektische Synthese es, gewissermaßen ein Destillat der Schönheit zu schaffen: Das „unsterbliche“ κάλλος ist, als Ergebnis eines technischen Vorganges, die höchstmögliche Stufe der Annäherung an das evozierte Ideal wahrhaft göttlicher Schönheit. 2 ROM ALS „SCHÖNER GEGENSTAND“ In diesem Kapitel soll die Frage nach den Bedingungen und Zielen der Idealisierung des Historischen nun auf der Ebene der historiographischen Darstellung selbst weiterverfolgt werden. Zunächst soll dabei untersucht werden, inwiefern Dionysios’ Vorstellung einer eklektischen Auswahl schöner Vorbilder sich in seiner Darstellung insbesondere der römischen Frühzeit zeigt. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, worin sich der im Bereich der ästhetischen Theorie und des Proöms nur sehr allgemein formulierte Begriff der „schönen Gegenstände“ und „Beispiele“ in Dionysios’ Darstellung Roms konkret manifestiert. Es soll untersucht werden, inwiefern die Ideale hier über den Ausdruck einer trivialen Ethik pro bono contra malum mit dem Ziel individueller Erbauung oder aber reiner Zuschreibungen mit dem Ziel einer Identitätskonstruktion hinaus zu verstehen sind.
32 Vgl. ebd. 83, wo Wiater eine „almost physical immediacy“ für die Wirkung des literarischen „Ideals“ durch die Sprache betont. 33 Vgl. etwa auch De Din. 7. 34 Als „something of a footnote“ präsentiert Hunter in diesem Zusammenhang ebd. 115 die Eingangsverse aus der Ars poetica des Horaz, die er ebenfalls als „clearly related to the anecdote of Zeuxis“ sieht: (1-5): humano capiti cervicem pictor equinam | iungere si velit et varias inducere plumas | undique conlatis membris, ut turpiter atrum | desinat in piscem mulier formosa superne, | spectatum admissi risum teneatis, amici?
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2.1 Rom als eklektisches Gebilde Im Werk des Dionysios spielt die Darstellung der Entwicklung und Beschaffenheit der verschiedenen römischen πολιτείαι eine zentrale Rolle. Die gute Verfassung ist neben der Religion und der Bedeutung öffentlicher Reden zur Bewahrung des inneren Friedens eine der drei wesentlichen Begründungen für den Erfolg und die Dauerhaftigkeit Roms. Dionysios greift damit einen Gedanken auf, der auf die Diskussionen in der griechischen Philosophie über die Bedeutung der Staatsverfassung für das Gemeinwesen und das Wohlsein seiner Bürger zurückgeht und in der Tradition der griechischen Historiographie einen bedeutenden Platz einnimmt, etwa in der berühmten Verfassungsdebatte im dritten Buch des Herodot oder in der Theorie des Kreislaufes der Verfassungen, der Anakyklosis, und der Theorie der sogenannten Mischverfassung im sechsten Buch des Polybios,35 die er auf das römische Staatswesen anwendet und ebenfalls als wesentlichen Erfolgsfaktor hervorhebt. Die moderne Forschung hat die Aspekte der Verfassungsdarstellung und -entwicklung bei Dionysios aus zum Teil sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Für die ältere Forschung stand auch in diesem Zusammenhang die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Dionysios als Quelle für die römische Frühgeschichte im Vordergrund. Die Darstellung der Verfassung und legislativer Abläufe nahm dabei, neben der Kriegs- und Militärgeschichte, für die Bewertung eines antiken Historiographen eine zentrale Rolle ein: Hierin zeigte sich nach der Auffassung der Forschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts „was die antike Historiographie wollte und konnte“.36 Ein Kritikpunkt, der aus der damals vorherrschenden Perspektive sicherlich als durchaus nachvollziehbar gelten kann, ist der Hinweis auf die oftmals widersprüchliche und stark gräzisierende Darstellung legislativer Abläufe. Insbesondere Dionysios’ Beharren auf der Vorstellung eines προβούλευµα, eines Initiativrechts des Senates, die deutlich an die entsprechenden Darstellungen der Rolle der βουλή in der aristotelischen Athenaion Politeia erinnert, ist vehement als Ausdruck mangelnder Kenntnis des römischen politischen Systems abgelehnt worden.37 Die Darstellung des Dionysios ist dazu vor allem mit Livius verglichen worden, und das zumeist vor der Folie der stark legalistischen Rekonstruktionen der res publica, wie sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert üblich waren.38 In gewisser Hinsicht übertrug Dionysios aber mit seiner Gräzisierung der Verfahrensund Verfassungsabläufe der römischen Königszeit und der frühen Republik zugleich Konzepte politischer Ordnungen auf seinen Gegenstand, die wohl bereits zu seiner Lebens- und Wirkungszeit besser greifbar waren, als die tatsächlichen Ordnungen der römischen Frühzeit, deren Darstellungen in der lateinischen Historiographie zwar sicherlich in gewisser Hinsicht römischer, aber nicht unbedingt wirklich historischer waren.
35 36 37 38
Vgl. Hdt. 3,80–2; Pol. 6,7-18. Vgl. Schwartz (1903), 937. Vgl. ebd. 940-942 sowie Bux (1915). Vgl. Bleicken (2008), 263-7.
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In der jüngeren Forschung sind dagegen die Probleme der Rekonstruktionen der römischen res publica nach dem Vorbild moderner Verfassungsbegriffe betont worden.39 Allgemein sind vorwiegend die Darstellungsabsichten und argumentativen Ziele des Dionysios in den Mittelpunkt der Untersuchungen gerückt. Die Frage nach der Beschaffenheit und Entwicklung der römischen πολιτεία in den Antiquitates ist dementsprechend weniger auf ihre Historizität bei der Darstellung einzelner Ereignisse und der Schilderung konkreter Verfahrensabläufe, als vielmehr auf ihre argumentative Funktion und Spuren politischer Konzeptionen untersucht worden. Tatsächlich ist Dionysios’ frühes Rom reich an Parallelen zu verschiedensten Vorbildern, die ihrerseits sämtlich als Beispiele idealer politischer Ordnung mit zum Teil völlig widersprüchlichen Ausrichtungen gelten können. Delcourt hat ausführlich gezeigt, dass Dionysios den Ursprung der griechischen Einwanderer nach Rom und zentraler zivilisatorischer Errungenschaften der Römer sämtlich in Arkadien ausmacht, jener ur-griechischen Landschaft der zentralen Peloponnes, die sich in der Dichtung der augusteischen Zeit auch für die Römer zu einem utopischen Sehnsuchtsort entwickelte.40 Die romuleische Verfassung weist, wie Goudriaan gezeigt hat, in ihren strukturellen Details deutliche Parallelen zu verschiedenen Idealstaatsentwürfen der griechischen Antike auf.41 Delcourt hat insbesondere in der Bezeichnung und Beschreibung des Senates als γερουσία einen Anklang an das Sparta Lykurgs, damit auch an die große Rhetra und eine in der Historiographie und politischen Theorie des 5. und 4. Jahrhunderts als Eunomia betrachtete πολιτεία gesehen.42 Ein Anklang an ein anderes Schlagwort des 4. Jahrhunderts mag es sein, dass Dionysios die Verfassung, für die sich der πλῆθος entscheidet, nicht explizit als Königsherrschaft, also Monarchie bzw. βασιλεία, benennt: Der πλῆθος beruft sich auf die πολιτεία τῶν πατρῶν, auf die Verfassung der – griechischen – Vorväter. Das erinnert unweigerlich an die πάτριος πολιτεία, und möglicherweise ist Dionysios’ Bild von dieser Ordnung nicht unwesentlich durch dasjenige geprägt, das Isokrates vermittelt, der allerdings seinerseits dieses Schlagwort „sorgfältig umgeht“.43 Im Zuge der Ratifizierung der neuen Ordnung durch das Volk lässt Dionysios es explizit die Freiheit betonen, die es stets genossen habe – eine Besonderheit, die ins Auge fällt, da Livius den Wunsch nach der Königsherrschaft gerade damit, dass das Volk das Bedürfnis nach Freiheit noch nicht verspürt habe, begründet.44 39 Zu den Problematiken der legalistischen Ansätze vgl. ebd. 267-9. 40 Vgl. Delcourt (2005), 129-56. Sie betont, dass das an Geschichte arme Arkadien daher zugleich als gesamthellenisch und idealtypisch griechisch gelten könne (129). Zugleich seien die Arkadier die Erfinder des Pantheons und des Alphabets der Griechen (154). Das „alte“ Arkadien verleihe den Römern „le goût de l’éternité“. Zu Arkadien als Utopie in der lateinischen Dichtung der augusteischen Zeit vgl. Fantazzi (1974); Collin (2006); Papaioannou (2013). 41 Goudriaan (1989), 361-70 gibt eine tabellarische Übersicht zu den Parallelen zwischen der romuleischen Verfassung und Platons Leges, dem isokrateischen Areopagitus und den aristotelischen Politica. 42 Vgl. Delcourt (2005), 175-184. 43 Vgl. Lehmann (2000), 414. 44 Liv. 1,17,3: in variis voluntatibus regnari tamen omnes volebant libertatis dulcedine nondum experta. In der Diskussion über die erste Verfassung bei Dionysios scheint der Gedanke einer negativen Freiheit, einer Freiheit von äußerer Herrschaft und Sklaverei, das zentrale Element
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Auf den ersten Blick erscheint die Mischung verschiedener idealisierter Vorbilder aus der historisch-politischen Tradition in der Tat als ein einigermaßen widersprüchliches Sammelsurium. Fox hat darüber hinaus bemerkt, es sei „essential to the way Dionysios writes that a clear-cut attribution of imitated ideologies is very difficult to produce.“45 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob sich nicht dennoch ein Hinweis darauf finden lässt, was für Dionysios tatsächlich den Kern der historischen Idealisierung ausmacht. 2.2 Ein kollektiver Tugendkanon als Ausdruck des politisch-moralischen καλόν Dionysios beschreibt die erste Verfassung Roms, die des Romulus, und dessen besondere Leistung bei der Staatseinrichtung folgendermaßen: Ταῦτά τε δὴ τοῦ ἀνδρὸς ἄγαµαι καὶ ἔτι πρὸς τούτοις ἃ µέλλω λέγειν, ὅτι τοῦ καλῶς οἰκεῖσθαι τὰς πόλεις αἰτίας ὑπολαβών, ἃς θρυλοῦσι µὲν ἅπαντες οἱ πολιτικοί, κατασκευάζουσι δ’ ὀλίγοι, πρῶτον µὲν τὴν παρὰ τῶν θεῶν εὔνοιαν, ἧς παρούσης ἅπαντα τοῖς ἀνθρώποις ἐπὶ τὰ κρείττω συµφέρεται, ἔπειτα σωφροσύνην τε καὶ δικαιοσύνην, δι’ ἃς ἧττον ἀλλήλους βλάπτοντες µᾶλλον ὁµονοοῦσι καὶ τὴν εὐδαιµονίαν οὐ ταῖς αἰσχίσταις µετροῦσιν ἡδοναῖς ἀλλὰ τῷ καλῷ, τελευταίαν δὲ τὴν ἐν τοῖς πολέµοις γενναιότητα τὴν παρασκευάζουσαν εἶναι καὶ τὰς ἄλλας ἀρετὰς τοῖς ἔχουσιν ὠφελίµους, οὐκ ἀπὸ ταὐτοµάτου παραγίνεσθαι τούτων ἕκαστον τῶν ἀγαθῶν ἐνόµισεν, ἀλλ’ ἔγνω διότι νόµοι σπουδαῖοι καὶ καλῶν ζῆλος ἐπιτηδευµάτων εὐσεβῆ καὶ σώφρονα καὶ τὰ δίκαια ἀσκοῦσαν καὶ τὰ πολέµια ἀγαθὴν ἐξεργάζονται πόλιν· Für diese Dinge bewundere ich den Mann, aber auch für jene, von denen ich erzählen werde, dass er die Grundlagen, um den Staat vortrefflich einzurichten (τοῦ καλῶς οἰκεῖσθαι) verstanden hat, von denen alle Politiker schwätzen, die aber nur wenige umsetzen, zunächst nämlich das Wohlwollen der Götter, das, wenn es vorhanden ist, den Menschen in allen Belangen auf das Größte hilft, außerdem die Bedachtsamkeit und Rechtschaffenheit, durch die sie [die Menschen] einander weniger schaden und in größerer Eintracht leben, und das Glück nicht an den schändlichsten Gelüsten, sondern am Vortrefflichen (τῷ καλῷ) messen, schließlich die Stärke in Kriegen, die dafür sorgt, dass die anderen Tugenden denen, die sie besitzen, nützlich sind; dass er nicht angenommen hat, dass ein jedes dieser Güter von selbst zu Stande kommt, sondern dass durch gute Gesetze und das Nacheifern vortrefflicher Handlungen (καλῶν ζῆλος ἐπιτηδευµάτων) eine gottesfürchtige, vernünftige, das Gerechte ausübende und im Hinblick auf die kriegerischen Dinge gute Stadt erreicht wird.46
Diese optimalen Grundlagen des Gemeinwesens kulminieren hier also in „hetzelfde begrip dat we ook in Dionysius’ rhetorische theorieën als hoogste norm hebben
zu sein. Das zeigt sich auch daran, dass es bei Dionysios nicht der δῆµος, also die plebs bzw. ihre Repräsentation in den politischen Gremien, sondern der πλῆθος, das Gesamtvolk ist, das die ἐλευθερία betont, die es in der alten Verfassung stets genossen habe. Der bei Livius geschilderte Verzicht auf Beteiligung an der Macht allerdings geht von einem positiven Freiheitsbegriff aus, der sich im Verlauf der Erzählung erst noch aus der Abwehr der patrizischen Willkür (licentia), dem Kampf um negative Freiheit, entwickeln muss. 45 Vgl. Fox (1996), 87. 46 AR 2,18,1-2. Vgl. auch AR 2,3,5; 2,10,4 für die guten Auswirkungen der Tugend auf die Polis.
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lernen kennen, to kalon“.47 Die ideale Verfassung ist Ergebnis des ζῆλος, auch Romulus orientiert sich an den schönen Beispielen der Geschichte.48 Der Eklektizismus, den die literarische Theorie fordert, findet seine Entsprechung auf der Ebene der historischen Darstellung: Das Schöne ist hier das politisch Optimale. Die Vorstellung der Auswirkungen von Tugenden auf das Gemeinwesen ist, wie Dionysios ja selbst bemerkt, ein allgemein bekannter, aber wesentlicher Gedanke der antiken politischen Theorie, und wie Dionysios sich hier zu den zentralen Fragen der konkreten Wirkungsweise der Tugenden im politischen Raum äußert, muss als durchaus aufschlussreich für die Frage nach seinen Vorstellungen des genuin Historischen gelten, das eine idealisierende Geschichte vermitteln soll. Über die möglichen Vorbilder für die Verfassung des Romulus, besonders für den im Zusammenhang mit ihr geschilderten Tugendkanon, ist viel diskutiert worden.49 Die ältere Forschung hat etwa die Aussage des Dionysios darüber, dass Romulus es verstanden habe, das Staatswesen im Hinblick auf das Wohlwollen der Götter (εὔνοια), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Mäßigung (σωφροσύνη) und kriegerische Tapferkeit (γενναιότης ἐν τοῖς πολέµοις) auszurichten,50 im Zusammenhang mit den augusteischen Tugenden, wie sie auf dem clippeus virtutis aufgeführt werden (virtus, clementia, iustitia und pietas), in Verbindung gebracht.51 Allerdings hat bereits Baldson darauf hingewiesen, dass eine Übereinstimmung zwischen σωφροσύνη = temperantia und der augusteischen clementia ebenso schwierig wie zwischen virtus und γενναιότης κτλ. = ἀνδρεία = fortitudo zu attestieren ist.52 Dionysios spricht außerdem nicht von εὐσέβεια, sondern vielmehr von Maßnahmen, die sie und damit das Wohlwollen der Götter befördern und daher die erste Aufgabe des Staatsmannes seien. Delcourt hat zu dieser Diskussion bemerkt, dass sich die Kanone der Kardinaltugenden im Laufe der Antike gewandelt hätten und man eventuelle Übereinstimmungen durch eine „très large diffusion de canons répertoriant les principales qualités du citoyen idéal“ erklären könne. Sie verweist als Beispiel 47 Vgl. Goudriaan (1989), 376-7, Zitat 377. Zum rhetorischen καλόν bei Dionysios als „ethischpolitischem“ Ideal vgl. dens. 203–7. 48 Vgl. auch AR 2,3,5. 49 Die lange Zeit gehegte Auffassung, bei der Darstellung der romuleischen Verfassung handle es sich um den Niederschlag einer augusteischen „Tendenzschrift“, sind durch Baldson (1971) zurückgewiesen worden, der eine andere unbekannte Quelle vorschlägt. Goudriaan (1989), 339–59 gibt einen Überblick über das Problem und kommt zu dem Schluss, dass der besondere Charakter der Verfassung des Romulus nicht mit einer einzelnen Vorlage zu begründen sei, sondern mit der zentralen Funktion, die Dionysios ihr zumisst, vgl. ebd. 359. Sordi (1993) hat erneut die Position vertreten, es habe sich um ein verortbares politisches Pamphlet gehandelt, das im Zusammenhang mit der Propaganda Cäsars entstanden sei, und das etwa zeitgleich mit Ciceros zweitem Buch der res publica entstanden sein müsse; so auch Zecchini (1998), 153. Delcourt (2005), 273-8 zeichnet die Forschungsgeschichte des Problems erneut nach und lehnt die Pamphlettheorie, auch unter neuen Vorzeichen, ab: Die „mélange“ des Dionysios aus zahlreichen Quellen orientiere sich an seinen eigenen historiographischen Zielsetzungen, vgl. ebd. 277. 50 Vgl. AR 2,18,1. 51 Vgl. Aug. RG 34. 52 Vgl. Baldson (1971), 21-3.
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auf die Tugenden in den platonischen Leges. Hier werden φρόνησις, σωφροσύνη, δικαιοσύνη und ἀνδρεία genannt, es stimmen also drei der Tugenden mit denen überein, die als Ziele der Verfassung des Romulus genannt werden.53 Die letzten drei der Tugenden finden sich auch im vierten Buch der Politeia.54 Das könnte man als eine zufällige Übereinstimmung ansehen. Die Parallele allerdings wird deutlicher, wenn man sich die Tugenden, die Romulus in seinem Exkurs anlässlich der ersten Verfassungsdebatte als das Ziel eines geordneten Staatswesens erwähnt, τὸ διὰ τῶν ὅπλων κράτος und ὁ σώφρων καὶ δίκαιος ἑκάστου βίος, vor Augen führt. Zu ihnen tritt auch die vierte platonische Tugend hinzu, und zwar in beiden Varianten: Der πλῆθος drückt mit seiner Zustimmung zur althergebrachten Herrschaft explizit die Einsicht in die φρόνησις der Vorfahren aus; Romulus wird für die σοφία, mit der er in Wort und Tat bisher die Geschicke geleitet habe, gelobt.55 Diese Aufteilung zwischen den zwei expliziten Herrschertugenden, σοφία (der Herrschertugend der Politeia) und φρόνησις (Leges), und den Tugenden, die sich in der gesamten Bevölkerung als Ergebnis der politischen Führung zeigen sollten (δικαιοσύνη und σωφροσύνη), und schließlich der ἀνδρεία, die ebenfalls das Ergebnis der Staatseinrichtung ist, sich aber nur in einem Teil der Bevölkerung, den wehrfähigen Männern,56 zeigt, entspricht den Ausführungen, die sich bei Platon in der Politeia hinsichtlich der Frage finden, wo genau die einzelnen Tugenden zu verorten seien. Im Falle der umgesetzten Staatsverfassung, dem Gegenstand der älteren Diskussionen, wird keine der beiden Herrschertugenden erwähnt, stattdessen die Einrichtungen, die zur εὔνοια der Götter führen. Hinsichtlich der Herrschertugenden ist dies nicht weiter überraschend: Die σοφία bzw. φρόνησις des Romulus und seiner Vorfahren zeigen sich in seinen Maßnahmen, sind aber eben kein Ergebnis seiner πολιτεία, sondern deren Grundlage. Eine Erwähnung neben den anderen würde hier schlicht keinen Sinn ergeben. Schwieriger verhält es sich mit der Frage nach der Bedeutung der Einrichtungen, deren Ziel das Einwirken auf die εὔνοια der Götter ist. Platon führt die εὐσέβεια in keinem der beiden Kanone als eine politische Tugend. Für ihn handelt es sich bei der εὐσέβεια um eine Eigenschaft, die nicht das Resultat im engeren Sinne politischer Institutionen, sondern vor allem der richtigen Erziehung ist. Dass Dionysios sie hier neben den politischen Bürgertugenden betont, liegt an der allgemeinen Bedeutung, die er diesem Bereich zuweist, um den griechischen Ursprung der Römer zu betonen. Dieser zeigt sich in der Kulteinrichtung, die allerdings ihrerseits, wie zu zeigen sein wird, noch enger am platonischen Ideal der staatsdienlichen religiösen Erziehung orientiert zu sein scheint. Im Ideal des politischen καλόν sind hier also Tugenden gefasst, die man weder als beliebiges Sammelsurium idealer Bürgertugenden allein, noch sämtlich als 53 Vgl. Delcourt (2005), 297 und Anm. 259; Plat. Leg. 631c. 54 Vgl. AR 2,3,4; Plat. Rep. 427d-432b. 55 Vgl. AR 2,4,1 & 2. Bei Cicero und Polybios werden neben der sapientia regalis die virtus und die clementia genannt, also eindeutige Herrschertugenden des Romulus. Vgl. dazu Blösel (1998), 33 und Anm. 9. 56 Vgl. AR. 2,3,5. Auch in 2,18,1 wird die kriegerische Tapferkeit gesondert von den beiden allgemeinen Tugenden des Gesamtvolkes abgegrenzt und als ihre Bedingung dargestellt.
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solche, die lediglich auf individuelle moralische Erbauung ausgerichtet sind, auffassen kann, da sie in ihrem Zusammenhang ‒ wenn auch in einer sicherlich sehr schematischen Form ‒ die Vorstellung einer gesellschaftlichen Gesamtheit und Differenzierung implizieren. 2.3 Die politische Theorie der ethischen Erziehung Dem Wesen der Tugenden, die Dionysios als notwendig benennt, um das gesellschaftliche Ideal des καλόν zu erreichen, ist der Anspruch, nicht nur die Elite zu bilden, sondern auch weitere Teile der Gesellschaft zu erziehen, also gewissermaßen eingeschrieben. Und er behandelt diesen Aspekt auch explizit. Die Rolle, die die Frage der Tugenderziehung in den Antiquitates spielt, hat Goudriaan ausführlich behandelt:57 Dionysios äußert sich zum Verhältnis von natürlicher Anlage (φύσις), Gewohnheit (ἐθισµός) und sprachlicher Anleitung (λόγων διδαχή). Romulus habe erkannt, dass die Masse der Bevölkerung nicht durch Ansprache und Unterweisung allein, sondern nur durch die Gewohnheit harter Arbeit zu den Tugenden geführt werden könne. Ohne Gewöhnung falle sie in ihren natürlichen Zustand zurück. Daher habe er nur Landwirtschaft und Kriegsdienst als sinnvolle Arbeiten angesehen. 58 Die Idealisierung des rustikalen Lebens ist ein Aspekt, der auch in der römischen Selbstbetrachtung insbesondere der späten Republik keine unwesentliche Rolle spielte.59 Goudriaan allerdings weist auf die Parallelen zum Verhältnis von Anlage (φύσις), Gewöhnung (ἔθος) und Belehrung (διδαχή) bei Aristoteles und dessen Theorie der ἡδοναί hin, die er in der Nikomachischen Ethik entwirft,60 die nach Goudriaans Auffassung aber auch Spuren in der Politik und der Rhetorik hinterlassen hat, von denen Dionysios zumindest letztere mit Sicherheit kannte.61 Bei Aristoteles spielt hier das Verhältnis von ἡδοναί (Freuden, Lüste, angenehmes Empfinden) und καλόν eine Rolle. Vereinfacht steht hier die Vorstellung im Zentrum, dass man durch Gewöhnung den Menschen dazu führen müsse, das tatsächlich moralisch Schöne als angenehm zu empfinden.62 Dabei spielt auch die Anwendung von Strafe und Furcht eine Rolle, ebenfalls ein Gedanke, den auch Dionysios später aufgreift.63
57 Vgl. Goudriaan (1989), 481-503. 58 Vgl. AR 2,28,2. 59 Einen Überblick dazu bietet Diederich (2007). Zur Verklärung des Landlebens als Bestandteil des mos maiorum vgl. insb. 273-97 und 327-37. 60 Vgl. Arist. EN 1152b-54b; 1172a-76a; 1179b. 61 Vgl. Goudriaan (1989), 482-9. Arist. Pol. 1323a; Arist. Rhet. 1354b; 1366b. Erwähnungen der Rhet. bei Dionysios in Ad Am. 1 passim und De comp. verb. 25. 62 Vgl. Arist. EN 1179b. 63 Vgl. ebd. 1180a; AR 2,29,1.
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2.4 Religion und Politik: Mythenrevision und Bürgererziehung Noch vor den Tugenden der Herrscher und der Beherrschten, die sich in der ersten römischen Verfassung bereits idealtypisch zeigen, nennt Dionysios als den ersten Grund (αἰτία) für den Erfolg eines Gemeinwesens das Wohlwollen der Götter, und daher diejenigen Maßnahmen, die es fördern, als erste Aufgabe des Staatsmannes. Ein wesentlicher Aspekt dabei sind die Reformen des Romulus, die den Ablauf und die Gestaltung der Kulte betreffen. Dionysios betont unter den Tugenden, deren Bedeutung für ein gutes Staatswesen Romulus erkannt habe, die εὔνοια der Götter als wichtigstes Ziel der Gesetzgebung. Daher habe er etwa die Verehrung der Götter und genii reformiert, die Aufstellung von Statuen veranlasst, die Götterbilder und Symbole erneuert, und auch Fest- und Opfertage und dergleichen mehr festgelegt, alles nach dem Vorbild der besten griechischen Beispiele.64 Den Aspekt der religiösen Wohlordnung als Teilbereich der politischen Organisation des Staatswesens hat Gabba als einen „pensiero greco-filosofico lui [Dionysios] … bene noto“ bezeichnet.65 Schon die ältere Literatur hat auch auf Parallelen zu Polybios hingewiesen, der Gottesfurcht allgemein als einen Grund für den römischen Erfolg ansieht, und auch dem Historiographen die Erlaubnis zuspricht, im Dienste dieser Sache Mythen zum Besten zu geben.66 Tatsächlich aber weist Dionysios’ Darstellung der Maßnahmen des Romulus in eine andere Richtung. Dionysios geht es nicht um Abschreckung, sondern um den Vorbildcharakter der Götter. Er betont in diesem Sinne die Unterschiede der römischen Mythen zu den griechischen: Bei ersteren gebe es keine Schilderung der Kastration des Uranos durch seine Söhne, keinen Bericht darüber, dass Kronos seine Kinder verschlungen habe oder von Zeus in den Tartaros verbannt worden sei. Ebenso wenig sei bei den Römern von Fesselungen, Verwundungen, Kriegen oder Diensten der Götter an den Menschen die Rede.67 Das alles sei auf Romulus selbst zurückzuführen, der blasphemische Erzählungen, die mit der Natur der Götter nicht vereinbar seien, aus den römischen Mythen entfernt habe.68 An diese Charakterisierung der römischen Mythen schließt Dionysios eine Schilderung der Kulte an, bei denen die Römer auf sämtliche mystischen und ekstatischen Elemente, wie sie bei anderen Völkern zu sehen seien, verzichtet hätten: ἀλλ’ εὐλαβῶς ἅπαντα πραττόµενά τε καὶ λεγόµενα 64 Vgl. 2,18,3. 65 Gabba (1960), 192-3 sieht die Vorstellung einer „scelta romulea dei miti buoni“ als ein Lob der politischen Fähigkeiten des Romulus und betont die Vorstellung von der religiösen Gesetzgebung als Bestandteil eines wohlgeordneten Gemeinwesens, vor allem mit Bezug auf die Tugenden, vgl. ebd. 191, für Belege insb. Anm. 41. 66 Vgl. Pol. 16,12,9; Liers (1886), 18. 67 Vgl. 2,19,1. 68 Ebd. 2,18,3: τοὺς δὲ παραδεδοµένους περὶ αὐτῶν µύθους, ἐν οἷς βλασφηµίαι τινὲς ἔνεισι κατ’ αὐτῶν ἢ κακηγορίαι, πονηροὺς καὶ ἀνωφελεῖς καὶ ἀσχήµονας ὑπολαβὼν εἶναι καὶ οὐχ ὅτι θεῶν ἀλλ’ οὐδ’ ἀνθρώπων ἀγαθῶν ἀξίους, ἅπαντας ἐξέβαλε καὶ παρεσκεύασε τοὺς ἀνθρώπους κράτιστα περὶ θεῶν λέγειν τε καὶ φρονεῖν µηδὲν αὐτοῖς προσάπτοντας ἀνάξιον ἐπιτήδευµα τῆς µακαρίας φύσεως.
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τὰ περὶ τοὺς θεούς, ὡς οὔτε παρ’ Ἕλλησιν οὔτε παρὰ βαρβάροις.69 Aus ihren Kulten hätten die Römer jede τερθρεία µυθική ausgeschlossen.70 In diesem Sinne betont er hier die Eigenheit der römischen θεολογία, der er im Folgenden explizit gegenüber der griechischen den Vorzug gibt: Καὶ µηδεὶς ὑπολάβῃ µε ἀγνοεῖν ὅτι τῶν Ἑλληνικῶν µύθων εἰσί τινες ἀνθρώποις χρήσιµοι, οἱ µὲν ἐπιδεικνύµενοι τὰ τῆς φύσεως ἔργα δι’ ἀλληγορίας, οἱ δὲ παραµυθίας ἕνεκα συγκείµενοι τῶν ἀνθρωπείων συµφορῶν, οἱ δὲ ταραχὰς ἐξαιρούµενοι ψυχῆς καὶ δείµατα καὶ δόξας καθαιροῦντες οὐχ ὑγιεῖς, οἱ δ’ ἄλλης τινὸς ἕνεκα συµπλασθέντες ὠφελείας. ἀλλὰ καίπερ ἐπιστάµενος ταῦτα οὐδενὸς χεῖρον ὅµως εὐλαβῶς διάκειµαι πρὸς αὐτοὺς καὶ τὴν Ῥωµαίων µᾶλλον ἀποδέχοµαι θεολογίαν, ἐνθυµούµενος ὅτι τὰ µὲν ἐκ τῶν Ἑλληνικῶν µύθων ἀγαθὰ µικρά τέ ἐστι καὶ οὐ πολλοὺς δυνάµενα ὠφελεῖν, ἀλλὰ µόνους τοὺς ἐξητακότας ὧν ἕνεκα γίνεται, σπάνιοι δ’ εἰσὶν οἱ µετειληφότες ταύτης τῆς φιλοσοφίας. Auch soll niemand annehmen, ich wüsste nicht, dass einige der griechischen Mythen den Menschen nützlich sind, manche, indem sie die Werke der Natur durch Allegorien erklären, andere zum Trost für menschliches Missgeschick konstruiert sind, und wiederum andere Verwirrungen und Ängste der Seele aufheben und ungesunde Überzeugungen entfernen, oder einen anderen Nutzen haben. Aber obwohl ich dies genauso weiß wie jeder andere, verhalte ich mich den Mythen gegenüber vorsichtig, und ich nehme eher die römische Theologie hin, weil ich weiß, dass nur wenig Gutes aus den Mythen der Griechen zu ziehen ist und sie nicht vielen nützen können, sondern nur denen, die wissen, aus welchen Gründen sie entstanden sind, aber nur wenige Anteil an dieser Philosophie haben.71
Die von Dionysios hier vorgenommene Abwägung des Nutzens und des Schadens der alten Göttergeschichten nimmt also eine deutliche Einteilung der Rezipienten vor: Das gemeine Volk, das an den öffentlichen Kulten teilnimmt, unterscheidet er von denjenigen, die zu einer philosophischen bzw. allegorischen Deutung in der Lage seien. Diese Unterscheidung verschiedener Zielsetzungen und Rezipienten der Götterlehre ist in der Literatur mitunter mit der Theorie einer dreigeteilten θεολογία, wie sie Scaevola bei Varro formuliert, in Verbindung gebracht worden. Dort wird zwischen einer Theologie der Dichter, die die Mythen erzählen, einer Theologie der Philosophen, die versuchen würden, das Wesen der Götter zu erläutern, und einer Theologie der Poleis bzw. der Staatsmänner, die sich mit der Genealogie der Götter beschäftigt habe, unterschieden.72 Dem Motiv dieser Einteilung folgt in der antiken Tradition oftmals eine Kritik an der Theologie der Dichter und ihren als frevelhaft angesehenen Erzählungen über die Götter, wobei die angeführten Beispiele oftmals diejenigen sind, die auch Dionysios verwendet.73 Die Vermutung, es handle sich bei Varros Scaevola um das Vorbild für Dionysios, ist allerdings meist abgelehnt worden,74 und mitunter ist auch darauf 69 70 71 72 73
Ebd. 2,19,2. Vgl. ebd. 19,3. Ebd. 2,20,1-2. Vgl. Liers (1886), 18; Var. RD F 6-11 Cardauns. Eine Sammlung von Stellen zur theologia tripertita findet sich neben Cardauns auch bei Pease (1955), 280–3. 74 Schon Halbfas (1910), 65-6 äußert den Einwand, Romulus und Numa würden aus „überlieferten Vorstellungen und Einrichtungen“ schöpfen, weshalb man nicht im varronischen Sinne von einer „von Staatsmännern geschaffenen Religion“ sprechen könne. Gabba (1991), 123 weist
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hingewiesen worden, dass die Kritik an der Darstellung der alten Mythen bei den Dichtern ihren Ursprung in der platonischen Politeia hat.75 Am deutlichsten hat Goudriaan betont, dass die Elemente der varronischen theologia tripertia bereits bei Platon angelegt sind.76 Goudriaan nimmt einen umfangreichen Vergleich zwischen Varro und Dionysios vor, der sich auch auf weitere Bereiche des Götterglaubens erstreckt, etwa die Vorstellungen zur Apotheose. Goudriaan vergleicht hier sowohl allgemeine Vorstellungen über die Seele der Menschen, als auch konkrete Forderungen hinsichtlich des Umganges mit Divination im Sinne der Staatsreligion, schließlich das Verhältnis zur Vorstellung der Apotheose des Romulus, wobei prinzipiell sowohl Dionysios als auch Varro ambivalente Haltungen nachgewiesen werden.77 Grundsätzlich kommt Goudriaan zu dem Schluss, dass man eher von gemeinsamen Quellen als von einer direkten Abhängigkeit ausgehen müsse. Und auch Dionysios’ Vorstellungen zur Religion selbst seien in einem trivialen Neuplatonismus zu suchen, der im ersten Jh. v.Chr. weit verbreitet gewesen sei. Damit wendet Goudriaan sich zwar nicht explizit gegen die Vorstellung einer Staatsreligion, konzentriert sich allerdings auf das, was er als theologische Elemente einer tatsächlichen Haltung oder zumindest gedanklichen Richtung des Dionysios sieht. Daher interpretiert er auch die geschilderte Mythenkritik des Romulus nicht im Hinblick auf den historischen Kontext, in dem Dionysios sie beschreibt, sondern als Ausdruck der Vorstellung von den guten Göttern als zentraler Lehre seiner Religion, die sich auch in seiner angewandten Mythenkritik, die prinzipiell nach demselben Schema ablaufe, zeige.78
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auf den funktionalen Unterschied hin: Dionysios habe die varronische Theorie der dreigeteilten θεολογία sicherlich gekannt. In seiner Darstellung der Auswahl der Mythen durch Romulus sei dessen Ziel jedoch nicht die Indoktrination des populus; Romulus habe ja gerade die schädlichen Mythen aus den römischen Kulten entfernt. Auf den platonischen Einfluss, „que l’on peut déceler dans cette critique des mythes“ hat zuletzt Delcourt (2005), 293-4 Anm. 239 hingewiesen; vgl. auch Gabba (1991), 21, der Dionysios hier „in the footsteps of Plato“ und als „part of a critical succession that pilloried both Homer and Hesiod for their representations of the divine world“ sieht. Vgl. Goudriaan (1989), 389. Vgl. ebd., 393-7. Vgl. Goudriaan ebd. 389-90. Grundsätzlich handelt es sich bei der zweiten zentralen Aussage des Dionysios zum Wesen der Götter um eine Aussage, die er im Kontext der Schilderung der Vergewaltigung der Rhea Silvia macht und die er daher prinzipiell offen lässt, AR 1,77,3: εὐ χρὴ περὶ τῶν τοιῶνδε δόξης ἔχειν, πότερον καταφρονεῖν ὡς ἀνθρωπίνων ῥᾳδιουργηµάτων εἰς θεοὺς ἀναφεροµένων µηδὲν ἂν τοῦ θεοῦ λειτούργηµα τῆς ἀφθάρτου καὶ µακαρίας φύσεως ἀνάξιον ὑποµένοντος, ἢ καὶ ταύτας παραδέχεσθαι τὰς ἱστορίας, ὡς ἀνακεκραµένης τῆς ἁπάσης οὐσίας τοῦ κόσµου καὶ µεταξὺ τοῦ θείου καὶ θνητοῦ γένους τρίτης τινὸς ὑπαρχούσης φύσεως, ἣν τὸ δαιµόνων φῦλον ἐπέχει, τοτὲ µὲν ἀνθρώποις, τοτὲ δὲ θεοῖς ἐπιµιγνύµενον, ἐξ οὗ ὁ λόγος ἔχει τὸ µυθευόµενον ἡρώων φῦναι γένος, οὔτε καιρὸς ἐν τῷ παρόντι διασκοπεῖν ἀρκεῖ τε ὅσα φιλοσόφοις περὶ αὐτῶν ἐλέχθη. „Zu erörtern, wie man es aber mit solcherlei halten soll, ob man es entweder als auf Götter übertragene menschliche Leichtsinnigkeiten abtun soll, weil der Gott keine seiner unvergänglichen und seligen Natur unwürdige Tat duldet, oder auch diese Geschichten hinnehmen soll, glaubend, dass das ganze Wesen des Kosmos vermischt ist und zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Geschlecht noch irgendeine dritte Natur existiert, die der Stamm der Dämonen innehat, der mal mit den Menschen, mal mit den Göttern verkehrt,
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Auf die Schwierigkeit, aus der Form der Mythenkritik auf eine authentische Religiosität des Dionysios zu schließen, ist hingewiesen worden.79 Zumindest scheint kein Widerspruch zwischen einem tatsächlichen Götter- oder Dämonenglauben und der Annahme einer genuin politischen Auffassung des Religiösen zu bestehen:80 Gerade weil das Wirken der Götter auf das Leben der Menschen Einfluss hat, muss der Frieden mit ihnen gewahrt werden. Geht man also davon aus, dass sich bei Dionysios ein wirklicher Glaube an das Göttliche und eine funktionale Betrachtung seiner gesellschaftlichen Rolle nicht ausschließen, würde auch hierin tatsächlich eine größere Nähe zum von Goudriaan bemerkten Trivialplatonismus bestehen als zur varronischen Staatsreligion, die nicht zuletzt durch die Tatsache, dass sie uns bei Augustinus überliefert ist, zumindest dem modernen Betrachter zugleich als Skepsis gegenüber den alten Göttern erscheint. Eventuell allerdings kann man bei Dionysios auch von einer direkteren Rezeption ausgehen. Es ist hierzu zu bemerken, dass Dionysios eine Kenntnis des platonischen Werkes durchaus zugetraut werden kann, auf welchem Wege und in welchem Umfang auch immer. An manchen Werken jedenfalls übt Dionysios sogar Stilkritik, sie werden ihm also mit Sicherheit im Wortlaut vorgelegen haben. Es ist somit durchaus nicht unwahrscheinlich, dass ihm zentrale Passagen wie das Gespräch über die religiöse Erziehung im Original bekannt waren. Jedenfalls sind die Argumentation der Antiquitates und das Gespräch des Sokrates mit Adeimantos über die ideale literarische und religiöse παιδεία in der utopischen Polis beinahe identisch, und das über die ‒ in anderen Überlieferungen meist vereinzelt ‒ wiederkehrenden Topoi der Mythenkritik hinaus. Das beginnt mit dem Katalog der Beispiele:
woraus, wie es die Geschichte ist, das sagenhafte Geschlecht der Heroen entsteht, ist in diesem Zusammenhang nicht der richtige Anlass, es genügt, was die Philosophen zu diesem Thema gesagt haben.“ 79 Vgl. Halbfas (1910), 65: „[S]o darf die Frage, wie stellt Dionys sich zu den überlieferten Sagen, mit der anderen, wie steht es mit dem, was er als seine Lebensanschauung gibt, nicht verquickt werden.“ Hartog, Les Antiquités Romaines, 20 sieht den Widerspruch zwischen Götterglauben einerseits und rationalistischer Auffassung von Mythen andererseits als modernes Missverständnis, da sich nach der antiken Auffassung beides nicht ausgeschlossen habe: „Mais ce qui paraît contradictoire aux yeux du lecteur d’aujourd’hui ne l’était pas au 1er siècle avant J.C.: l’exigence rationaliste des historiens anciens n’excluait pas la croyance aux dieux.“ 80 Besonders deutlich sieht Liers (1886), 18 die religiösen Äußerungen des Dionysios als Ausdruck einer rein funktionalen Staatsreligion und lehnt sie daher als vorgeschoben ab. Gegen den angenommenen Widerspruch von Staatsreligion und authentischer Religiosität wendet sich Halbfas (1910), 65, der Dionysios ebd. gar „religiösen Fanatismus“ unterstellt. Cary, Roman Antiquities I, xxiv attesttiert Dionysios „no concealment of his attitude“ hinsichtlich des Glaubens an göttliche Gerechtigkeit und Vorzeichen. Hartog bezeichnet in Les Antiquités Romaines, 20 Dionysios als Anhänger einer stoischen Götterlehre, die sich mehr auf das Göttliche an sich als auf konkrete Götter beziehe: „Dans le cas de Denys, il s’agit d’une entité de type stoïcien, désignée anonymement comme le dieu, le divin, la divinité.“ Poma (1994), 594-50 attestiert Dionysios „una evidente preoccupazione religiosa“ und „un rimpianto verso un tempo in cui l’orrizonte dei miti e dei prodigi apparteneva al tessuto reale della vita e non era oggeto di speculazioni filosofiche o di critiche razionalistiche.“
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III Die historischen Ideale Πρῶτον µέν, ἦν δ’ ἐγώ, τὸ µέγιστον καὶ περὶ τῶν µεγίστων ψεῦδος ὁ εἰπὼν οὐ καλῶς ἐψεύσατο ὡς Οὐρανός τε ἠργάσατο ἅ φησι δρᾶσαι αὐτὸν Ἡσίοδος, ὅ τε αὖ Κρόνος ὡς ἐτιµωρήσατο αὐτόν. τὰ δὲ δὴ τοῦ Κρόνου ἔργα καὶ πάθη ὑπὸ τοῦ ὑέος, οὐδ’ ἂν εἰ ἦν ἀληθῆ ᾤµην δεῖν ῥᾳδίως οὕτως λέγεσθαι πρὸς ἄφρονάς τε καὶ νέους, ἀλλὰ µάλιστα µὲν σιγᾶσθαι, εἰ δὲ ἀνάγκη τις ἦν λέγειν, δι’ ἀπορρήτων ἀκούειν ὡς ὀλιγίστους, θυσαµένους οὐ χοῖρον ἀλλά τι µέγα καὶ ἄπορον θῦµα, ὅπως ὅτι ἐλαχίστοις συνέβη ἀκοῦσαι. Zuerst, sagte ich, die größte Unwahrheit und über die größten Dinge hat der gewiß gar nicht löblich gefälscht, welcher gesagt hat, Uranos solle getan haben was Hesiodos von ihm erzählt, und auch Kronos soll Rache an ihm genommen haben. Aber des Kronos Taten und was ihm wieder von seinem Sohne begegnet, soll wohl, denke ich, auch wenn es wahr wäre, unverständigen und jungen Leuten nicht so unbedacht erzählt werden, sondern am liebsten verschwiegen bleiben; wenn aber eine Notwendigkeit wäre es zu erzählen, müßten es nur so wenige als möglich auf geheimnisvolle Weise erfahren, nachdem sie nicht etwa ein Schwein geopfert, sondern irgendein gar großes und unerhörtes Opfer, damit nur recht wenige dazu kommen könnten es zu erfahren.81
Die Parallelen gehen weiter: Auch die Ablehnung von Geschichten über Kriege und Verwundungen der Götter findet sich im platonischen Gespräch.82 Wie Dionysios weist auch der platonische Sokrates darauf hin, dass den Mythen ein verborgener Sinn zu Grunde liegen könne (οὔτ’ ἐν ὑπονοίαις πεποιηµένας οὔτε ἄνευ ὑπονοιῶν), sie aber in der Erziehung der Kinder nichts zu suchen hätten.83 Sokrates verwendet hier den Begriff ὑπόνοιαι, um den Nutzen der Mythen zu umschreiben, Dionysios betont den Nutzen der Mythen, die Erklärung der Werke der Natur (τὰ τῆς φύσεως ἔργα), durch Allegorien.84 Der Begriff ἀλληγορία ist für die griechische Literatur hier bei Dionysios zum ersten Mal belegt, wurde aber in seiner allgemeinen Bedeutung als ein von zahlreichen translationes, übertragenen Wortbedeutungen, geprägtes Genus der Rede in der griechischen Rhetorik schon früher verwendet. Dies berichtet jedenfalls Cicero.85 Die spezielle Bedeutung, die sich hier bei Dionysios findet, die Erklärung der Natur, die begreifbare Darstellung einer nicht begreifbaren Sache, und vor allem der Bezug zum Bereich des Religiösen, der das Verständnis des Wortes bis in unsere Zeit hinein prägt und es in der christlichen und byzantinischen griechischen Literatur zu einem zentralen Begriff macht, geht über die Funktion, die die Rhetorik der Allegorie zuspricht, hinaus. Die Vorstellung, dass der Mythos Naturphänomene in bildlicher Form schildert, konkret, dass die Namen der Sterne und der Götter gleich seien, weil man die 81 82 83 84
Plat. Rep. 377e-378a. Übersetzung Schleiermacher. Vgl. ebd. 378c-d. Vgl. ebd. 378d. Gabba (1960), 192 vermutet, dass Dionysios mit seiner Erwähnung der allegorischen Deutung habe zeigen wollen, dass ihm die philosophischen Diskussionen seiner Zeit, besonders zwischen Epikureern und Stoikern, bekannt gewesen seien. Delcourt (2005), 293-4 sieht in der Diskussion des Dionysios über den Nutzen einen „pessimisme vis-à-vis de la nature humaine“, weil er davon ausgehe, dass nur wenige in der Lage seien, den Nutzen mit Hilfe der Philosophie zu erkennen. Poma (1994), 548 sieht in der Betonung „un commento che … ci accosta alle sue convinzioni religiose“, der allerdings gegenüber dem möglichen Schaden durch die Mythen in den Hintergrund trete. 85 Vgl. Cic. Orat. 27,94: nomine recte, genere melius ille qui ista omnia [die zuvor geschilderten Sonderfälle] translationes vocat.
III Die historischen Ideale
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Himmelskörper als Götter angesehen habe, findet sich schon bei Aristoteles.86 Die Möglichkeit, Götternamen als Personifikation astronomischer und astrologischer Konstellationen zu deuten, bezeichnet schließlich Plutarch explizit als ἀλληγορία. Allerdings sei der Begriff neu: Früher habe man von ὑπόνοιαι gesprochen – wie im obigen Beispiel Sokrates.87 Die Art, in der Plutarch paradigmatisch den Mythos vom Ehebruch der Aphrodite auf Naturphänomene zurückführt, veranschaulicht, wie der Begriff ἀλληγορία, der zunächst ja auch in diesem Beispiel noch translationes bezeichnet – die Namen der Götter werden auf die Himmelskörper übertragen, Göttergeschichten erläutern astronomische Zusammenhänge –, seine weitere Bedeutung als ein Mittel zur Veranschaulichung der τῆς φύσεως ἔργα erhalten hat.88 Plutarchs Schrift, aus der diese Bemerkung stammt, Quomodo adolescens poetas audire debeat, beschäftigt sich, wie der platonische Dialog in der Politeia, mit dem Problem der παιδεία und dem richtigen Umgang mit Dichtung: Der nach den von Plutarch vermittelten Grundsätzen unterwiesene adolescens ist in der Lage, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden, vor allem aber, moralisch fragwürdige Mythen und Fiktionen zu dekonstruieren, wozu die Deutung als Allegorie nach der Auffassung Plutarchs ein probates Mittel darstellt. Einem solchermaßen gebildeten adolescens müsste man die alten Geschichten nicht mehr vorenthalten. Plutarch sieht somit nicht allein den Nutzen des Mythos in der Allegorie, sondern die allegorische Deutung als nützliches Mittel, den Leser gegen die schädlichen Folgen eines falschen Verständnisses zu wappnen.89 Auch bei Dionysios kann man den Hinweis auf die allegorische Möglichkeit der Deutung zugleich als eine Aussage über das Verhältnis zu seinen eigenen Lesern sehen: Sie haben keine religiöse Erziehung nötig, da sie an echter Bildung Anteil haben. Zugleich wird deutlich, dass Dionysios hier zu seinen Lesern das gleiche Verhältnis einnimmt, wie der platonische Sokrates zu Adeimantos. Es handelt sich bei allen Unterschieden der Form und der Umstände dennoch um eine vergleichbare kommunikative Situation. Die Parallelität des Gespräches in der Politeia zu Dionysios’ Bemerkung zur Mythenrevision des Romulus ist offensichtlich. Dionysios beschreibt die bei Platon formulierte Theorie in Rom als in der Praxis umgesetzt.90 Beide sind sich darin einig, dass der zu erwartende Schaden durch die alten Mythen größer sei als der Nutzen, den die Kinder im Beispiel des Sokrates oder auch die mit der Philosophie unerfahrenen πολλοί in Rom daraus ziehen würden. Beide weisen auf die Gefahr einer Nachahmung des Verhaltens der Götter durch die Unverständigen hin, die ihre 86 87 88 89
Vgl. Arist. M 1074b; vgl. auch Cic. De nat. deor. 2,39ff. Vgl. Plut. Moralia 19e. Vgl. ebd. 19f. Vgl. Plut. Moralia 20a ff.; zum Unterschied der modernen Begriffe Allegorese, die einen Text ohne intendierten allegorischen Charakter allegorisch deutet, und der allegorischen Deutung, die sich mit intendiert allegorischen Texten beschäftigt, vgl. Walde (1996a), 518-23 bzw. dies. (1996b), 523-5. Für sämtliche hier aufgezählten antiken Autoren scheint der allegorische Gehalt der Mythen gegeben zu sein. Das Problem ergibt sich allein daraus, ob der Rezipient dazu in der Lage ist, diesen zu deuten. 90 Vgl. AR 2,18,1-2.
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eigene Gewalt durch diejenige der Götter rechtfertigen würden.91 Das unmittelbare schlechte Beispiel der gewalttätigen und bösartigen Götter ist für Dionysios aber nur eine der Gefahren, die von den mythischen Geschichten ausgeht. Die weitere, tatsächlich im engeren Sinne theologische, bestehe darin, die Götter überhaupt für Schlechtes verantwortlich zu machen. Dieser Punkt steht bei Platon im Zentrum der Götterlehre, die Sokrates Adeimantos als Kriterium für die Unterscheidung zwischen staatsdienlichen und zu verwerfenden Mythen vorschlägt: Ein nützlicher Mythos müsse im Kern die Aussage vertreten, dass alles Gute von den Göttern komme, alles Schlechte aber andere Ursachen habe.92 Dass Dionysios dieses Gespräch über die religiöse Erziehung und ihren Einfluss nicht, wie sonst meist üblich, in einzelnen Versatzstücken mit Fokus auf die allgemeine Kritik an der Theologie der Dichter, sondern in seinem kompletten argumentativen Zusammenhang nachzeichnet, macht es wahrscheinlich, dass er es auch im Sinne der ursprünglichen Ausrichtung aufgefasst wissen will, eben nicht als irgendeine beliebige theologische Theorie, sondern als Diskussion über die intendierte politische Rolle der Religion in einem idealen Staat. Grundsätzlich zeigt sich in den hier vorgestellten Elementen der romuleischen Verfassung, wie Dionysios’ am politischen καλόν orientierter Eklektizismus funktioniert: Sein Idealstaat beruht auf einer Synthese der verschiedenen Theorien, deren explizites Ziel die Erreichung des καλόν im Sinne eines höchsten Gutes für die Gemeinschaft ist. Dionysios’ Auswahl der verschiedenen Theorieelemente wird auf der Ebene der Erzählung von den Protagonisten auf dieselbe Weise vorgenommen, auf die auch der ästhetische Eklektizismus funktioniert: Die Auswahl der jeweils besten Teile führt zum optimalen Ganzen. 2.5 Ideal und Idealismus 2.5.1 Das politische καλόν als ontologisches Ideal? Ebenso wie im Falle des ästhetischen Schönheitsideals stellt sich die Frage, ob sich eine Aussage über eine Verbindung der Vorstellung des politischen καλόν bei Dionysios mit einem tatsächlichen ontologischen Idealismus treffen lässt, oder ob es irgendeine andere weiterreichende Begründung erfährt. Allgemein zeigt sich auch Goudriaan im Fazit seiner Studie unentschieden darüber, ob man Dionysios’ Vorstellung des καλόν in seiner Gesamtkonzeption „wel of niet transcendent“ auffassen solle.93 Vor dem Hintergrund der verschiedenen Anklänge an aristotelische und platonische Theorieelemente in Dionysios’ Vorstellung des καλόν kommt Goudriaan auf dessen Beschaffenheit in den jeweiligen angenommenen Vorbildern zu sprechen. Er verweist etwa auf die Implikationen der aristotelischen ἡδονή-Konzeption, in der die Vorstellung eines untrennbaren Zusammenhangs einer optimalen 91 Vgl. Plat. Rep. 378b; AR 2,20,2. 92 Vgl. Plat. Rep. 379a-c. 93 Vgl. Goudriaan (1989), 585.
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Aktivität, der auf das Schöne gerichteten Kontemplation, und eines höchsten Lustempfindens als höchstes Gut und Ziel ethischen Handelns definiert werden,94 ebenso auf die letzten Endes göttlich sanktionierten platonischen Gesetze mit ihrer Ausrichtung auf die Tugend.95 Wie eng der Bezug ist, den Dionysios annimmt, lässt sich auch hier schwer bestimmen. Das liegt grundsätzlich an seinem als Darstellungsideal ausgegebenen Eklektizismus, der auch hier zu einer Zusammenführung verschiedener Theorien mit unterschiedlichen und teils auch widersprüchlichen ontologischen Grundannahmen führt: Er verwendet vor allem diejenigen Argumente, die auch ohne eine umfassende theoretische Begründung ad hoc plausibel erscheinen. Dass bei Dionysios Schlüsselbegriffe der aristotelischen Theorie der Erziehung oder der platonischen Tugendlehre anklingen, bedeutet nicht, dass man daraus auf eine umfassende Übertragung im Hinblick auf die letzten Begründungen ihrer Wirkung schließen muss. Im Falle des platonischen καλόν verweist Goudriaan auf die unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung: So bestehe zwischen dem λογισµός als höherer αἴσθησις und der tatsächlich gnoseologischen, auf das Wesen der Ideen ausgerichteten Erkenntnis ein Unterschied. Das politische καλόν sei auch in Platons Nomoi eine Norm, deren Bereich die menschliche Gesellschaft ist, und deren Wahrnehmung zum Teil zwar im Bereich des Irrationalen ausgemacht werden könne, aber eben nicht notwendig im Bereich des Transzendenten.96 Aristoteles betont allgemein die Notwendigkeit einer empirischen Bestimmung der Ziele des guten Handelns.97 In der Diskussion über die römische Theologie kommt das Wesen der Götter zwar zur Sprache und langfristig ist das geregelte Kultwesen auch eine Bedingung für das Wohlwollen der Götter. Vor allem aber werden die Maßnahmen, die zur Frömmigkeit der Bürger führen, gewürdigt, und diese Maßnahmen sind politischer Natur und zeugen von der theoretischen Kenntnis und historischen Einsicht des Romulus. Für Dionysios scheinen vor allem im Bezug der unterschiedlichen Theorien des politischen καλόν auf die Bereiche der menschlichen Erfahrung und des Handelns und in der Ausrichtung auf das dem Gemeinwesen und damit dem Einzelnen Zuträgliche die Klammern zu bestehen, mit denen er für sein eigenes eklektisches Unterfangen eine hinreichende Kohärenz gegeben sieht. Zugleich haben die Theorien des politischen καλόν gemeinsam, dass ihr Inhalt weniger in dem besteht, was einem in der klassischen Historiographie sonst als Determinanten der Geschichte bzw. ihre ‚tiefere Wahrheit‘ begegnet: Weniger die widrige φύσις der Menschen, nicht der Wille der Götter oder irgend ein anderes Schicksal geben hier den Ausschlag. Sie sind als Bestandteile des „Real-Wirklichen“ zwar gegebene Regeln. Dionysios’ Geschichte allerdings vermittelt mit ihrer Ausrichtung auf das καλόν nicht allein das Wissen über sie, sondern vor allem die richtigen Handlungsweisen im Umgang mit diesen Faktoren.
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Vgl. ebd. 485-6. Vgl. ebd. 490; Plat. Leg 643a-45c. Vgl. Goudriaan (1989), 490-4; Plat. Leg 643a-45c. Vgl. Röd (1998), 238‒41.
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2.5.2 Das καλόν als Leitkriterium von Theorie und Praxis Die Frage, inwiefern Dionysios’ „idealized version of the past … synonymous with the true version of the past“ ist,98 ließe sich auch an dieser Stelle vordergründig recht einfach folgendermaßen beantworten: Man kann die Idealisierung als den Ausdruck einer im landläufigen Sinne affirmierenden Geschichtsschreibung auffassen, die durch eine bewusst vorgenommene Entstellung der historischen Wirklichkeit versucht, ihre Adressaten zu beeinflussen: Es wäre dann ‚wahr, was nützt‘, die „Schönheit“ auf der inhaltlichen Ebene eine Zuschreibung mit normativem Charakter, auf der Ebene der Ästhetik ein reines Darstellungs- bzw. Überzeugungsmittel. In einem solchen Fall könnte man zugleich davon ausgehen, dass es sich bei den Antiquitates um einen im einfachsten Sinne ‚rhetorischen Text‘ handelt, dessen vorrangiges Ziel die Überredung seines Publikums ist und der daher nach der höchsten Glaubwürdigkeit strebt. Wenn man das καλόν, das das frühe Rom in den Antiquitates verkörpert, als politisches Ideal bzw. als tatsächlich inhaltlichen Kern einer politischen Ideologie deuten will, zeigt sich das, was Fox treffend bemerkt hat: Es ist kaum möglich, wirklich eine Zuordnung des Dionysios zu einer konkreten Partei oder philosophischen Richtung vorzunehmen, weder hinsichtlich der imitierten Vorlagen, noch im Hinblick auf die römische Gegenwart, für die Dionysios sein Programm entworfen hat – sein Klassizismus ist auch in diesem Sinne eine Ideologie für sich. Daher ist der romuleische Gründungsakt ebenso wenig als Hinweis auf die Favorisierung einer konkreten historischen Verfassung zu sehen, wie es die Idealisierung Athens (aber eben auch Spartas) ist, genau, wie Dionysios der Bezug auf Isokrates nicht daran hindert, sich auch bei dessen historischen und weltanschaulichen Gegenspielern wie Platon oder Demosthenes zu bedienen. Die Tatsache, dass die Auswahl der verschiedenen Elemente der Verfassung durch Romulus und seine Ratgeber als ein Prozess erscheint, der Dionysios’ eigenes Vorgehen, das er in der Theorie der eklektischen Literaturproduktion als von ζῆλος geleitete µίµησις beschreibt, widerspiegelt, könnte man als eine erzählerische Rationalisierung der kompositorischen Methode auffassen. Tatsächlich aber scheint für Dionysios zwischen seinem literarischen Eklektizismus, der versucht, aus den besten Vorbildern das Beste zu ziehen, und dem Vorgehen der politisch Handelnden und Beratenden in der Erzählung ein Zusammenhang auch in der Sache zu bestehen. Wiater hat, wie eingangs bemerkt, auf die Beziehung von „intratextual“ und „extratextual mimesis“ hingewiesen. Der auf das Ideal des καλόν gerichtete ζῆλος und die µίµησις der besten Vorbilder sind für Dionysios dabei allerdings nicht allein Ausdruck eines reproduktiven Vorganges. Dass Romulus das Wissen der griechischen Theorie besessen, die richtigen historischen Vorbilder gekannt habe und schließlich auch fähig gewesen sei, im Sinne des Zuträglichen zu handeln, ist für Dionysios deshalb eine plausible Erklärung des historischen Erfolges der Römer, weil für ihn der Prozess von ζῆλος und µίµησις eine allgemeingültige Theorie des Zusammenhangs von Kontemplation und Handeln darstellt, in der auf allen Ebenen, 98 Vgl. Fox (1996), 29.
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der ästhetischen, der politischen und der im weitesten Sinne ‚wissenschaftlichen‘, der abstrakte Begriff des καλόν die Fähigkeit sowohl zur Wahrnehmung des Besten als auch zu seiner Umsetzung bezeichnet. Bei aller offenkundigen Idealisierung, Gräzisierung und Verfremdung des Gegenstandes bleibt zu betonen, dass es sich bei den Elementen der römischen Gesellschaft, die Dionysios mit der romuleischen Verfassung in Verbindung bringt und zu deren Erläuterung er die verschiedenen Theorien des idealen Staatswesens heranzieht, um solche Elemente handelt, die auch die moderne althistorische Forschung immer wieder für den Erfolg und die Dauerhaftigkeit des politischen Systems der Republik ausgemacht hat. Zu nennen sind hier etwa die auf den Konsens ausgerichtete „kollektive Moral“, 99 ein Tugendkanon, dem die kommunikative „Asymmetrie“ der sozialen „Beziehungen“ bereits eingeschrieben ist,100 die zentrale Funktion mündlicher Kommunikation bzw. direkter Ansprache durch Autoritätspersonen als Garant der Gefolgschaft der Beherrschten,101 schließlich die Rolle der pax deorum.102 Das zu betonen ist wichtig, denn darin, dass all diese Faktoren, zu denen Dionysios erklärende Theorien zur Hand hatte, eine tatsächliche Rolle spielten und wohl bereits von der Überlieferung, aus der er schöpfte, als wichtig angesehen wurden, besteht sicherlich ein Grund, weshalb für ihn auch das frühe Rom wirklich ein „schöner Gegenstand“ sein konnte, sofern man es nur richtig behandelte.
99 Vgl. Hölkeskamp (2004b), 49–50, insb. 50 Anm. 2 mit Hinweisen auf die Behandlung bei Meier (1966). Für den Wandel der Diskussion über diese Elemente vgl. Hölkeskamp ebd. passim. 100 Vgl. ebd., 54–5, Zitat 55, wo Hölkeskamp explizit den „Jargon“ aufgreift. 101 Vgl. dens. (1995), passim; zur grundsätzlichen Betonung der Bedeutung des Redners und seines persönlichen Gewichts zusammenfassend insb. 16–7. 102 Vgl. dazu allgemein Rüpke (2001), 80-1.
IV PARADIGMATISCHE GESCHICHTE Die bisherige Diskussion hat gezeigt, dass dem Ansatz, das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Rhetorik bei Dionysios in Form der Gegensätze von Darstellungsabsicht und Methode, Repräsentation und Gegenstand oder Idealisierung und Wirklichkeit zu beschreiben, Grenzen gesetzt sind. Wenn hier nun im Folgenden versucht werden soll, den inneren Zusammenhang von Rhetorik und Geschichte bei Dionysios im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten zu diskutieren, heißt das allerdings nicht, dass damit die eingangs betonte Unterscheidung zwischen den Gattungen aufgegeben werden soll. Ebenso wenig soll hier eine einseitige Auflösung des Gegensatzes im Sinne einer allgemeinen Unterordnung der Geschichte unter die Rhetorik behauptet werden. Vielmehr soll versucht werden, den Zusammenhang vor dem Hintergrund des gemeinsamen Gegenstandes des Politischen, den Geschichte und Rhetorik als Wissenschaften teilen, weiter herauszuarbeiten.1 Das heißt auch, dass Dionysios hier als ein durchaus politischer Autor aufgefasst werden soll. Die Art und Weise, in der er die vita contemplativa der Philosophen, die er immer wieder evoziert, dem Anspruch auf politische Praxis unterordnet, die deutliche (und eigentlich klassische) Auffassung der Ethik als einer Lehre des idealen menschlichen Zusammenlebens in der Polis, schließlich die Vorstellung des Nutzens, die ebenfalls in ihrer Gesamtkonzeption auf die gesellschaftliche Wirkung ausgerichtet ist, lassen diese Sichtweise als berechtigt erscheinen. Dionysios in erster Linie als einen Kulturhistoriker zu verstehen,2 beruht vor allem auf manchen modernen Vorstellungen der politischen Geschichte und der als analog aufgefassten Klassifizierung der Politiker bei Polybios. Umgekehrt ist dazu zu bemerken, dass Dionysios sicherlich ein Interesse an der Darstellung kultureller Eigenheiten der Römer hat. Aber auch das steht im Zusammenhang mit dem Politischen: Die umfangreichen Schilderungen religiöser Praxis, heute meist als Kernbereich der Kultur aufgefasst, stellen für Dionysios, wie er selbst betont, einen wichtigen argumentativen Beleg für die Gräzität der Römer dar.3 Zum anderen sieht er in der 1
2 3
Vgl. Fox (2005), 360-3. Er betont die seines Erachtens inhärente Widersprüchlichkeit der antiken antirhetorischen Ressentiments in der Historiographie, die sich im Verhältnis zu ihren eigenen Gegenständen offenbare. Dagegen begreife „rhetorisierende Geschichtsschreibung“ die Rhetorik selbst als ein historisches Phänomen. „Die wesentliche Schwäche dieses Versuchs lässt sich nicht verbergen. Aber die antirhetorische Tendenz … verlässt sich auf eine Definition von Rhetorik, die die Geschichtlichkeit der rhetorischen Theorie grundsätzlich übersieht. […] Politik, Rhetorik und Geschichte“ ließen sich tatsächlich nur mit „unnatürlicher Schwierigkeit voneinander trennen.“ Vgl. ebd. 370; dens. (1993), 41-2. Einflussreich auch hier Gabba (1991), 62–3. Vgl. AR 7,70,1–2. Die Funktion als zentrales Argument für die griechischen Ursprünge Roms ist oftmals betont worden. Hinweise auf ihre Bedeutung in diesem Sinne auch bei Gabba (1991), 134-7; vgl. Cancik (1999), 163.
IV Paradigmatische Geschichte
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Religion eine historische Kraft, auf die eingewirkt werden kann, und damit einen Bereich der Politik. Vor allem aber wird Dionysios mit seiner umfangreichen Schilderung politischer Tätigkeit großer Männer auch den klassischen Auffassungen politischer Geschichte gerecht. Er verlagert bloß den Schwerpunkt ihres Wirkens vom Schlachtfeld auf das Forum, von der Außen- auf die Innenpolitik. Dass hier im Folgenden die These vertreten wird, Dionysios’ Geschichtswerk sei als eine ‚paradigmatische Geschichte‘ zu verstehen, soll explizit nicht bedeuten, dass es sich für ihn dabei um einen reinen Katalog von exempla gehandelt hat. Der vorige Teil der Arbeit hat gezeigt, dass für Dionysios die Idealisierung der Geschichte in einer Idealisierung Roms besteht, die zugleich als eine Erklärung des römischen Erfolges gesehen werden kann. Diese Erklärung besteht auf der Ebene der historischen Erzählung in der Erläuterung gesellschaftlicher Zusammenhänge in den Begriffen und Theorien griechischer Idealstaatsdiskussionen. Diese Theorien und Begriffe entfalten ihre Wirksamkeit dadurch, dass sie den politischen Entscheidungsträgern bekannt sind und als Mittel der Beratung und Überzeugung zur Verfügung stehen. Die Rede, vor allem aber die ihr zu Grunde liegende umfassende politische Bildung, wird so zum zentralen Faktor der historischen Entwicklung. Wenn Dionysios seiner Leserschaft in Aussicht stellt, durch das Studium der Beispiele seiner Geschichte dieselben Tugenden zu erwerben, die er den historischen Entscheidungsträgern zuspricht, nämlich σοφία und φρόνησις, zeigt sich, dass das in den Antiquitates geschilderte Gesellschaftsmodell für Dionysios offenbar eine reale Grundlage hat bzw. er eine Wirksamkeit der geschilderten Bedingungen in der Realität annimmt. Für Dionysios ist die Idealisierung Roms so offensichtlich nicht allein, wie es das Proöm ankündigt, ein Appell an die Römer, sich ihrer idealisierten Vorfahren würdig zu verhalten. Vielmehr soll die Geschichte durch die Vermittlung letztlich praktischer Tugenden ihren Adressaten auch die Mittel an die Hand geben, den Appell umzusetzen.4 Diese Ausrichtung der Geschichte auf einen konkreten Anwendungsnutzen ist insbesondere deshalb für unsere Fragestellung relevant, weil Dionysios selbst den Wahrheitsanspruch seiner Geschichte ja mit den genannten Tugenden verknüpft: Sie sind erklärtermaßen das Ergebnis einer wahren Geschichte. Zum anderen hat der Anspruch der Geschichte, Bildung zu vermitteln, auch Implikationen für die Frage nach dem Charakter der Antiquitates als ‚rhetorischem Text‘: Wenn hier σοφία und φρόνησις im Sinne eines anwendbarem Bildungswissens vermittelt werden sollen, dann ist die kommunikative Situation vermutlich eine andere als im Falle eines Textes, der sich, wie eine Rede oder ein politisches Pamphlet, vor allem mit dem Ziel der reinen Überzeugung an sein Publikum wendet. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen soll zunächst der Zusammenhang des ‚rhetorischen‘ Bildungsprogrammes mit der Geschichtsschreibung diskutiert werden. Dabei soll es vor allem um das Verhältnis der allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundlagen beider Bereiche und um ihren ‒ aus Sicht des Dionysios ‒ wissenschaftlichen Charakter gehen. Danach soll der innere Zusammenhang von Rhetorik und Geschichte im Hinblick auf den Zusammenhang logischer Argumentation 4
Vgl. Wiater (2011a), 205.
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IV Paradigmatische Geschichte
und kausaler Struktur des Historischen diskutiert werden. Abschließend wird der Aspekt der Rhetorik in der Geschichte, die Rolle der Rede als historisch wirksame Kraft, umrissen. 1 ΠΑΙΔΕΙΑ UND GESCHICHTSSCHREIBUNG Die Frage nach dem inneren Zusammenhang von Geschichte und Rhetorik soll hier zunächst noch einmal auf der Ebene des Zusammenhanges der beiden Wirkungsfelder des Dionysios, seiner Historiographie und der rhetorisch-kritischen Tätigkeit, diskutiert werden. Auch im Falle letzterer lässt sich eine Abkehr von der Vorstellung feststellen, dass es sich bei ihr lediglich um den Ausdruck einer „verkürzte[n] Lehrmethode der griechischen Rhetoren in Rom für ihre römischen Schüler“ handelte, wie Hose sie allgemein in den klassizistischen Bildungsprogrammen ausmacht.5 Vielmehr wird hier ebenfalls das individuelle Interesse des Dionysios an seinem Gegenstand verstärkt in den Vordergrund gerückt.6 Im Folgenden soll nun die Auffassung begründet werden, dass zwischen der Tendenz, in Dionysios’ Tätigkeit als Kritiker und vermehrt auch als Historiograph zumindest ein ernsthaftes Bemühen anzuerkennen, und der Annahme, dass die παιδεία des Dionysios tatsächlich vor allem auf einen Anwendungsnutzen ausgerichtet war, kein Widerspruch besteht. Für Dionysios ist auch die Geschichte eine ‚angewandte Wissenschaft‘, und darin ist er seinem Konkurrenten Polybios näher, als es oftmals angenommen wurde. Im Folgenden soll zunächst dieser Punkt im Hinblick auf das von Dionysios adressierte Publikum diskutiert werden, bevor nachvollzogen werden soll, worin der Kern des Verständnisses von Wissenschaft besteht und worin sich dabei die Zusammenhänge von Geschichtsschreibung und Rhetorik ausmachen lassen. 1.1 Die Adressaten der Geschichtsschreibung und die Dimensionen des Nutzens Eduard Schwartz’ Polemik gegen Dionysios und die „rhetorische Geschichtsschreibung“ gipfelt bekanntermaßen in der Aussage, dass Dionysios die antike Historiographie und ihre oberste Zielsetzung, nämlich zu nützen, schlichtweg „nicht … begriffen“ habe.7 In der jüngeren Forschung wird Dionysios’ Nutzenanspruch allgemein eher anerkannt und meist als ein praktischer, politischer Nutzen charakterisiert.8 Grundsätzlich muss dabei zwischen dem Nutzen, den sich die Rezipienten 5 6 7 8
Vgl. Hose (1999), 288. Vgl. v.a. De Jonge (2008). Vgl. Schwartz (1903), 936. Auch die anderen Vertreter der älteren Forschung haben in der Betonung des praktischen Nutzens der Geschichte im Anschluss daran meist einen reinen Topos gesehen, vgl. etwa Liers (1886), 2-3; Halbfas (1910), 16. Vgl. Delcourt (2005), 46. Cary ad loc. 1,8,3. Anm. 2: „[T]he first group mentioned here were those who took an active part in public affairs“. Gabba (1991), 71: „ … useful to the politicians … “, und ebd. Anm. 13: „Probably in the sense of a practical utilization of the historical works.“
IV Paradigmatische Geschichte
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erwarteten, und dem Nutzen, den der Autor vermitteln wollte, unterschieden werden. Dazu kommt noch der grundsätzliche Unterschied zwischen dem konkreten Anwendungsnutzen und der allgemeinen gesellschaftlichen Funktion und Wirkung der Historiographie. Für die Frage nach dem Charakter des Anwendungsnutzens, den Dionysios für die Antiquitates beansprucht, ist es zunächst notwendig, hier noch einmal kurz auf die Frage nach den Adressaten dieses Nutzens einzugehen. Wie eingangs bemerkt, nimmt Dionysios, offenbar in bewusster Zurückweisung der Aussage des Polybios zum Thema, für sich in Anspruch, eine möglichst weite Gruppe von Lesern anzusprechen. Der allgemeinen Charakterisierung seiner Lesertypen analog zu den drei guten Lebensweisen stehen auf der anderen Seite die Politiker und Philosophen als diejenigen gegenüber, die durch Kontemplation und Beispiele zu den als zentralen Vermittlungszielen der Geschichte angegebenen Tugenden kommen sollen, und die darüber hinaus, wie wir gesehen haben, eigentlich als eine Gruppe „politischer Philosophen“ zusammengefasst werden. Während manche Beiträge einen weiten Leserkreis annehmen und diesen auch als Zielgruppe des grundlegenden programmatischen Ansatzes des Dionysios betonen,9 wird auch die Rolle „gebildeter Politiker“ mit einem konkreten Nutzeninteresse durchaus als relevant angesehen.10 Die Annahme einer Zweckorientierung der Antiquitates im Hinblick auf Nutzen und Wirkung hat zum Teil zu sehr spezifischen Aussagen über den konkreten Anwendungsnutzen geführt, wobei auch vermehrt die Frage danach, ob es sich bei den Adressaten primär um Römer oder Griechen gehandelt habe, aufkommt. Insbesondere die Darstellung Roms in griechischen Termini und Theorien und die Tatsache, dass es sich um ein auf Griechisch verfasstes Werk handelte, ist dabei interessanterweise mitunter als Begründung dafür herangezogen worden, dass Dionysios sich an eine vorwiegend römische Elite gewandt habe.11 Für Nicolas Wiater dient die Gräzisierung Roms dabei der Vermittlung des „Classical ethos“, dessen Zurschaustellung Römern dazu diene, die „Classical identity“ zu pflegen.12 Noch deutlicher als Wiater betont Luraghi die römischen Oberschichten als die primären Adressaten.13 Luraghi deutet den paradigmatischen Anspruch der Geschichte dabei als einen im engeren Sinne exemplarischen: Dionysios habe den Römern ihre eigenen exempla vermitteln wollen und sich dafür die erzählerische Persona des
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Marincola (1997), 30: „The primary audience envisioned by Dionysius seems to be men in positions of responsibility, since they can put the lessons of history to practical use“. Vgl. Schultze (1986); Fromentin (1993), 180; Delcourt (2005), 65–9, die bei Dionysios auch einen „demokratischen“ Anspruch annimmt, der aber angesichts des Hintergrundes auch der weiten Lesereinteilung und seiner allgemeinen Auffassungen zum Wesen des Politischen nur schwer zu attestieren ist. Vgl. Gabba (1991), 48–52. Er schildert grundlegend gebildete Politiker als Adressaten. Vgl. auch Goudriaan (1989), 271–4; 173 und Anm. 6. Eine Aufstellung der Vertreter dieser Position findet sich bei Delcourt (2005), 66 Anm. 116. Vgl. Wiater (2011a) passim und oben Kapitel III 1. An anderer Stelle betont er, dass das Werk sich aber gleichermaßen in einem Appell, die eigene Kultur zu bewahren, an eine griechische Leserschaft richte, vgl. dens. (2011b). Vgl. Luraghi (2003), 273–5.
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Griechen, der für Griechen schreibe, lediglich angeeignet, um sich seiner sozialen Rolle entsprechend zu verhalten.14 Luraghis Hinweis darauf, dass eine explizit moralische Belehrung durch die Vorzeit in Verbindung mit einer Kritik an der Gegenwart, wie er sie bei Dionysios an verschiedenen Stellen ausmacht, eher in den Kontext des mos maiorum und der Funktion der memoria passe, als zu den Zielsetzungen der klassischen und der hellenistischen Geschichtsschreibung,15 kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Dionysios’ expliziter Hinweis im Proöm auf den Nutzen für die Römer durch die Geschichtsschreibung evoziert, wie hier noch zu zeigen sein wird, aber auch die Nutzenvorstellung der isokrateischen παιδεία, und auch in der Literatur wird die Orientierung der hellenistischen Geschichtsschreibung hieran ebenso wie die des römischen Klassizismus betont.16 Wenn man Dionysios’ „schöne Beispiele“ im Sinne einzelner exemplarischer Episoden auffasst, findet sich in ihnen sicherlich auch die von Luraghi betonte Eigenschaft des exemplum, mahnender Hinweis auf eine idealisierte Vergangenheit zu sein, in dem die auctoritas eines individuellen Vorbildes den Gültigkeitsanspruch der kollektiven Moral unterstreicht.17 Dionysios selbst jedenfalls bezeichnet das bei Polybios explizit als Beispiel für die Wirkung von exempla geschilderte exemplum des Cocles deutlich als herausragendes Beispiel der ἀνδρεία.18 Allerdings handelt es sich für ihn eben nur eingeschränkt um ein exemplum virtutis, ein Vorbild an Römertugend, sondern um das Paradigma einer ἀρετή, die Dionysios, wie wir gesehen haben, an anderer Stelle in einem einigermaßen platonischen Kontext als Bestandteil und Ergebnis des gerade nach griechischen Vorbildern ideal eingerichteten Gemeinwesens beschreibt. Die Unterscheidung von griechischer und römischer Kultur bzw. Geschichtsschreibung ist für eine differenzierte Betrachtung des Werkes des Dionysios unabdingbar. Allerdings ist auch mit Recht darauf hingewiesen worden, dass Dionysios bei allen Unterschieden, die in der Realität zwischen Griechen und Römern bestanden, mit seiner historischen Gräzisierung Roms das Ziel einer Nivellierung dieser Unterschiede verfolgt hat – auch wenn es schwierig zu sein scheint, Dionysios’ 14 15 16 17
Vgl. ebd. passim, v.a. 283–4. Vgl. ebd. 271–3. Zur Dekadenz vgl. auch Peirano (2010); Wiater (2011b). Vgl. unten Kapitel 1.2. Vgl. Luraghi (2003), ebd. Zur theoretischen Unterscheidung des παράδειγµα vom exemplum vgl. Stemmler (2001), 150–168, hier von Bedeutung v.a. 153. Piepenbrink (2012) hat in ihrem Vergleich der Praxis im Athen des 4. Jahrhunderts und der der späten Republik dagegen die allgemeine Ähnlichkeit betont: So spiele das „soziale Prestige“ auch im Falle Athens eine Rolle (119). Sie bemerkt zugleich aber auch, dass in Athen eher das Kollektiv der Vorfahren tatsächlich handle, während es in Rom meist einzelne maiores seien, auf die sich bezogen werde, vgl. 102–5. Sie betont auch die Tatsache, dass die Athener eher dazu neigen würden, negative Beispiele gänzlich auszuschließen (100; 107). Grundsätzlich betont sie auch, dass es sich beim griechischen Paradeigma um kein rein rationales Überzeugungsmittel handle (119), was die Forschung bislang mit Verweis meist auf Aristoteles behauptet habe. 18 Vgl. bei Dionysios den einordnenden Nachsatz zur ausführlich ausgemalten Episode des Cocles in AR 5,25,4; Pol. 6,54-55, der im Anschluss an die Schilderung der pompa funebris die Episode über Horatius Cocles gleichsam als Paradigma für Wirkung und Beschaffenheit des exemplum anführt.
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Bemühungen einen „universalistischen“ Ansatz zuzusprechen.19 Das zeigt schon die Mühe, die Dionysios auf sein zentrales Überzeugungsziel, die Römer eben als Griechen zu erweisen, verwenden muss: Die politischen Begriffe, deren Gültigkeit Dionysios veranschaulichen will, sind eben auf die Welt der griechischen Polis ausgerichtet. Römer und Griechen haben Dionysios’ Geschichtswerk wohl unterschiedlich aufgefasst und unterschiedliche Bedürfnisse mit der Rezeption verbunden, und Dionysios war sich dessen offenkundig auch bewusst. Wenn er im Proöm Griechen und Römer anspricht, ihre spezifischen Perspektiven auf den Gegenstand charakterisiert und offenbar auch versucht, diesen Perspektiven gerecht zu werden, dann soll uns das hier als Grund dafür genügen, auch anzunehmen, dass er beide Gruppen tatsächlich als Leser in Betracht zog,20 nicht zuletzt, weil das Ziel eines Historiographen, der auf Nachruhm hofft, eine möglichst breite Rezeption ist.21 Dass Dionysios Schönheit und Vortrefflichkeit des historischen Gegenstandes als Grund nicht nur für den Nutzen des Werkes, sondern auch den Nachruhm des Literaten betont, qualifiziert auch den Nutzen als einen, der eben nicht bloß kurzfristiger Natur sein kann.22 Dass Dionysios’ Auffassungen zum Wesen der politischen Vortrefflichkeit und ihrer Rolle in der Gesellschaft seinen modernen Kritikern nicht als philosophia perennis, sondern als „Allerweltsweisheit“ gelten, ist kein Argument dafür, dass er keinen entsprechenden Anspruch damit verfolgte. Der von Dionysios angenommene Anwendungsnutzen scheint daher nicht allein aus der Perspektive dessen bestimmbar zu sein, was römische Rhetorikschüler darin gesehen haben, und ebenso wenig allein dadurch, wie er in seiner gesellschaftlichen Funktion von der modernen Forschung beschrieben worden ist. Der Nachruhm eines antiken Geschichtswerkes beruht darauf, dass sein Nutzen die Zeit überdauert. Das heißt auch, dass dieser Nutzen von Wahrheiten ausgeht und auf ihnen beruht, bei denen das ebenso der Fall ist. Dass Dionysios’ Geschichte als prinzipiell ahistorisch erscheint, liegt an genau diesem Anspruch, ewige Wahrheiten zu verkünden: Der an festen Schemata orientierte Pragmatismus und das dazugehörige Gesellschaftsmodell moralischer Erzieher und zu Erziehender ist weniger die Anbiederung an partikulare Interessengruppen, als vielmehr der Kern von Dionysios’ historischer und historiographischer Konzeption. Grundsätzlich kann man Dionysios’ Anspruch, möglichst viele verschiedene Leser anzusprechen, also durchaus ernst nehmen. Das liegt bei einem Werk mit dem entsprechenden Umfang, mit dessen Abfassung er wohl einen großen Teil seines Lebens verbrachte, eigentlich auf der Hand. Den „politischen Philosophen“ und ihrer spezifischen Vorstellung eines Nutzens allerdings kommt hier für unsere Fragestellung eine besondere Rolle zu: In der „politischen Philosophie“ liegen die er19 Als solches beschreibt es Delcourt (2005), 12. 20 Dass das Werk sich sowohl an Griechen als auch Römer richtet, kann inzwischen als Mehrheitsmeinung gelten, vgl. neben den oben in Anm. 8 genannten auch Fox 2011, 93 Anm. 3; Wiater (2011b), 82-6, der allerdings wie bemerkt in seiner Monographie (2011a) vor allem die römischen Klassizisten als Adressaten beschreibt. 21 Vgl. Delcourt (2005), 67–8, die auch bei Dionysios das Ziel eines „Besitzes für immer“ betont. 22 Vgl. ebd.
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kenntnistheoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen des Dionysios. Diesen soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. 1.2 ‚Wissenschaftliches‘ Weltbild und Geschichtsschreibung Insbesondere hinsichtlich der Vorstellungen vom Nutzen und der Wirkung der Geschichtsschreibung ist vielfach auf Dionysios’ Rezeption der sogenannten „politischen Philosophie“ des Isokrates hingewiesen worden.23 Dionysios zieht an zentralen Stellen eine Parallele zur Rolle der ὑποθέσεις in der „politischen Philosophie“ oder „philosophischen Rhetorik“. In der Theorie ist das im Lob des Theopomp der Fall.24 In den Antiquitates ist es die Passage des zweiten Proöms, in der Dionysios den Nutzen seiner vollständigen und an Beispielen reichen Geschichte beschreibt. Hier zählt er explizit Philosophen zu seinen Lesern, und zwar solche, die „die Philosophie nicht für die Beschäftigung mit Worten, sondern mit schönen Taten halten“ (ὅσοι µὴ λόγων, ἀλλ’ ἔργων καλῶν ἄσκησιν ἡγοῦνται τὴν φιλοσοφίαν).25 Dass es sich hierbei um die „politischen Philosophen“ handelt, wird nicht nur aus der weitgehenden Gleichsetzung mit den Politikern deutlich, die dort ebenfalls vorgenommen wird; Dionysios nimmt auch beinahe die gleiche unterscheidende Definition der wahren Philosophen in der Schrift über Isokrates vor. Im ersten Kapitel kritisiert er dort Gorgias, Protagoras und die Sophisten im Allgemeinen, sie hätten die ἄσκησις τῶν λόγων ad absurdum geführt.26 Isokrates aber habe sich von den Streitgesprächen und den Erörterungen über die Natur (ἀπὸ τῶν ἐριστικῶν τε καὶ φυσικῶν), die vorher Gegenstand der ἄσκησις τῶν λόγων gewesen seien, gelöst, sie auf die Politik ausgerichtet und sich der dazugehörigen Wissenschaft (ἐπιστήµη) gewidmet. Seine Schüler hätten so gelernt, zu beraten, zu sprechen und somit nützlich zu handeln (βουλεύεσθαι καὶ λέγειν καὶ πράττειν τὰ συµφέροντα).27 Diese Unterscheidung der „politischen Philosophie“ von den klassischen philosophischen Disziplinen liegt auch der Definition der Philosophen in den Antiquitates zu Grunde.28 Dionysios qualifiziert so sein eigenes Werk vermutlich als genau diejenige Form von Historiographie, die er an anderer Stelle, im Proöm seiner Schrift über die alten Redner (De oratoribus veteribus), als charakteristisch für die literarischen und philosophischen Bemühungen der anbrechenden neuen Zeit beschreibt, 23 Vgl. schon Kaibel (1885), 510; Schwartz (1903), 960; Hubbel (1914), 41-53. Aktuell Hidber, Manifest, 40-2 mit weiterer älterer Literatur; Fox (1996), 73-4; ders. (1993), 41-2 und Delcourt (2005), 45-6; Wiater (2011a), 65–76 mit der Betonung weniger der Inhalte als der transportierten „Classical identity“. 24 Vgl. Ep. ad Pomp. 6. 25 Vgl. AR 11,1,4. 26 De Isoc. 1: … πεφυρµένην τε παραλαβὼν τὴν ἄσκησιν τῶν λόγων ὑπὸ τῶν περὶ Γοργίαν καὶ Πρωταγόραν σοφιστῶν … 27 Vgl. De Isoc. 1. 28 Vgl. zur Abgrenzung von der Sokratik Hidber, Manifest, 44-56; Gelzer (1979), 19-20; Goudriaan (1989), 442-454, der auch auf andere Verwendungen des Begriffes Philosophie bei Dionysios dort hinweist, wo es um die „Wahrheitssuche“ in der literarischen Kritik geht.
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und somit als eine der „Geschichten, die einer ernsthaften Beschäftigung würdig“ (ἱστορίαι σπουδῆς ἄξιαι) seien.29 Die Schrift über Isokrates gibt auch nähere Auskunft über die Funktion schöner Gegenstände, besonders im Hinblick auf die kontemplative Vermittlung ihrer Inhalte. Dionysios beschreibt den Nutzen der Beschäftigung mit den προαιρέσεις τῶν λόγων und den ὑποθέσεις des Isokrates dort folgendermaßen: Man werde nicht nur ein guter Redner, sondern verbessere darüber hinaus auch seine moralische Qualität und bringe seinem Oikos, seiner Polis und ganz Griechenland Nutzen.30 Die ἔργα καλά dienten den Schülern des Isokrates so als moralisches Vorbild, „als Anschauungsmaterial für die eigene Gegenwart und als Maßstab für das persönliche Verhalten“.31 Diese Fähigkeit des Isokrates, durch die passenden ὑποθέσεις den Charakter seiner Leser zu beeinflussen, kann als Parallele zum Nutzen der ὑπόθεσις καλή des Geschichtswerkes, wie Dionysios sie in den Antiquitates insbesondere für die Römer behauptet, gesehen werden.32 Dionysios’ Beurteilung des Isokrates zeigt aber auch einen anderen Aspekt, die Ablehnung des nicht Greifbaren: Dionysios’ Lob dafür, dass Isokrates sich von den Streitgesprächen und den Erörterungen über die Natur abgewandt habe, erscheint als Ablehnung nicht nur der sophistischen Eristik, sondern auch weiterführender metaphysischer Spekulationen.33 In diesen beiden Punkten, der moralischen Funktion schöner Gegenstände und der Betonung des nicht Greifbaren, hat auch Goudriaan die Abhängigkeit des Dionysios von Isokrates attestiert. Zugleich hat er allerdings bemerkt, dass Dionysios in der Rhetorik, Literaturkritik und Linguistik durchaus zahlreiche andere Vorbilder hatte und auch der Kern seiner Vorstellung vom 29 Vgl. De oratt. vett. 3,2. 30 De Isoc. 4: ἐξ ὧν οὐ λέγειν δεινοὺς µόνον ἀπεργάσαιτ’ ἂν τοὺς προσέχοντας αὐτῷ τὸν νοῦν, ἀλλὰ καὶ τὰ ἤθη σπουδαίους, οἴκῳ τε καὶ πόλει καὶ ὅλῃ τῇ Ἑλλάδι χρησίµους. Vgl. auch ebd. 5‒8. 31 Vgl. Nickel (1991), 233. 32 Vgl. AR 1,6,4. Zur Passage in De Demosthene, in der Dionysios eine physische Wirkung, die die Reden des Isokrates auf ihn selbst beim Lesen hätten, beschreibt, vgl. Gill (1984), 158: „The extension of ἦθος to an effect produced in the listener … is … a marked development from Aristotelian usage.“ Dennoch verwendet Dionysios den Begriff ἦθος hier eher in einer allgemeinen Bedeutung als „ruhiger Seelenzustand“, wie ihn auch das Schulwörterbuch ‒ im Gegensatz zum LSJ ‒ kennt, vgl. Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, s.v. ἦθος. 3a. Vgl. De Dem 22: ὅταν µέν τινα τῶν Ἰσοκράτους ἀναγινώσκω λόγων, εἴτε τῶν πρὸς τὰ δικαστήρια καὶ τὰς ἐκκλησίας γεγραµµένων ἢ τῶν lacuna ἐν ἤθει σπουδαῖος γίνοµαι καὶ πολὺ τὸ εὐσταθὲς ἔχω τῆς γνώµης, ὥσπερ οἱ τῶν σπονδείων αὐληµάτων ἢ τῶν Δωρίων τε κἀναρµονίων µελῶν ἀκροώµενοι. „Wenn ich irgendeine der Reden des Isokrates höre, sei es eine der Gerichts- oder Volksreden oder von den (lacuna) erfüllt mich Seelenruhe, auch bin ich voller Ruhe des Geistes, so wie diejenigen, welche die Flötenstücke wie bei einem Umtrunk oder die Dorischen und harmonischen Lieder hören.“ Hier ist deutlich, dass es sich nicht um eine anhaltende Auswirkung auf den Charakter handelt, sondern um einen kurzfristigen Effekt. 33 Vgl. De Isoc. 1. Vermutlich meint Dionysios hier mit der „Naturphilosophie“ allgemein „Erörterungen über das Wesen der Dinge“, also die ‚ontologische Wirklichkeit‘. Das würde jedenfalls der allgemeinen isokrateischen Stoßrichtung entsprechen, die ihre Konkurrenz ja vor allem in den sokratischen Schulen sah, vgl. Böhme (2009). Zur Haltung des Isokrates zwischen sophistischem Relativismus und platonischem Dogmatismus vgl. auch Walter (1996), 437–8.
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Wesen des Politischen von verschiedenen Einflüssen geprägt ist, insbesondere von Theorien aus dem Kontext der platonischen und aristotelischen Philosophie,34 und dieser Eindruck hat sich auch im vorigen Teil bestätigt. Auch aus der isokrateischen παιδεία sind es vor allem einzelne Aspekte, die Dionysios auswählt und in sein eigenes Programm integriert. Die Ablehnung des nicht Greifbaren ist für die Frage nach dem Weltbild des Dionysios natürlich in jedem Fall zentral, und im Hinblick auf die Politik und Historiographie scheint auch die Anwendung der anderen Theorien, wie wir gesehen haben, von dieser Prämisse bestimmt zu sein. Ein Unterschied im Anspruch zeigt sich allerdings auch hier darin, dass Dionysios in seiner Charakterisierung des Bildungsprogramms des Isokrates den Begriff der ἐπιστήµη verwendet und selbst behauptet, im Sinne einer πολιτικῶν λόγων ἐπιστήµη tätig zu sein – Isokrates selbst wendet sich schließlich gerade gegen die Möglichkeit einer ἐπιστήµη, verstanden als exaktes Wissen im platonischen Sinne.35 Für die ἐπιστήµη des Dionysios scheint der äußerliche Eklektizismus das maßgebliche Prinzip zu sein. Zugleich scheint auch die Erklärung der Funktionsweise des Verfahrens selbst darauf zu beruhen. Das zeigt sich etwa darin, dass Dionysios weiterführende Begründungen für die Wirkung guter ὑποθέσεις sucht, die über die reine Orientierung an einem moralischen Vorbild hinausgehen. Der Gedanke der kontemplativen Verinnerlichung der Schönheit trägt durchaus aristotelische Züge, die Rolle von ζῆλος und µίµησις muten platonisch an. Neben dieser unmittelbaren Wirkung schöner ὑποθέσεις auf ihre Rezipienten zeigt sich in der offenbar ebenfalls bei aristotelischen Vorbildern entlehnten Tugendlehre ein Erklärungsansatz für die weitere Wirksamkeit ethisch-moralischer Vorbilder außerhalb des Schüler-LehrerVerhältnisses der παιδεία. Wir haben hier gesehen, dass der prinzipiell schlechten φύσις der Masse durch Gewöhnung Abhilfe geschaffen werden muss, und gerade die nach Isokrates angeborenen und unlehrbaren Tugenden der σωφροσύνη und δικαιοσύνη zeigen sich in der römischen Bürgerschaft und sind dort erklärtermaßen das Ergebnis politischer Maßnahmen und religiöser Erziehung.36 Dionysios ist also offenbar pessimistischer im Hinblick auf die Natur des populus als Isokrates gegenüber seinen demokratischen Mitbürgern und potentiellen Kunden, unter denen es eben solche und solche gibt, gleichzeitig optimistischer im Hinblick auf die 34 Goudriaan (1989), 442-51 und 470-80 hat den zumeist deutlich betonten Einfluss des Isokrates auf Dionysios in gewisser Hinsicht zu relativieren, aber nicht grundsätzlich in Abrede zu stellen versucht. Goudriaan stellt heraus, dass man nicht ohne weiteres davon ausgehen könne, dass es sich bei Isokrates um den Haupteinfluss gehandelt habe. Dabei geht es zum einen um die Frage nach den vielfältigen und zahlreichen Vorbildern der elaborierten Stiltheorie des Dionysios, für die Isokrates weder als Theoretiker, noch als nachahmenswertes Vorbild eine Rolle spielt. Zum anderen geht es Goudriaan darum, bei Dionysios den „onderbouw“ der Großphilosophen zu würdigen, der sich zwar in seinem auf den praktischen Nutzen der τέχνη ausgerichteten Werk nicht explizit äußere, wohl aber in den einzelnen Theorien immer wieder anklinge, vgl. zusammenfassend dazu ebd. 581. Grundsätzlich bezieht sich die Zurückweisung also weniger auf die Historiographie des Dionysios. 35 Vgl. Böhme (2009), 90-2. 36 Zur Anlage der Tugenden bei Isokrates vgl. Isoc. Soph. 21; Böhme (2009), 183.
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Möglichkeiten der Beeinflussung des Volkes. Bezüglich des im ersten Teil der Arbeit behandelten ἦθος der Historiographen allerdings scheint sich eine ähnliche Sicht wie die des Isokrates zu manifestieren: Manche sind gut, manche schlecht, und in gewissem Sinne scheint diese Qualität festzustehen, wobei ein gutes ἦθος zugleich Grundlage für einen guten Historiographen oder einen, der es werden will, ist. Die Natur der Masse ist eben nicht die Natur des Menschen allgemein, weshalb politische Bildung und politische Erziehung ja auch zweierlei sind.37 Neben dem eklektischen Verfahren und seiner angenommenen Erkenntnisgrundlage besteht ein Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und πολιτικῶν λόγων ἐπιστήµη aber auch im Gegenstand selbst. Der ist in letzterer die Sprache allgemein. In der Geschichtsschreibung werden mit dem Politischen gleichermaßen der vornehmste inhaltliche Gegenstand wie das äußere Wirkungsumfeld der Sprache behandelt. Damit ist die Historiographie kein reiner „Commentar“, aber wesentlich von den allgemeinen Annahmen, Ansprüchen und Forderungen, die auch die ἐπιστήµη leiten, bestimmt. 1.3 Die gesellschaftliche Funktion der Sprache: „Sittliche“ und praktische Bildung Mitunter wird ein Bild gezeichnet, das den Eindruck erweckt, dass man es zur Zeit des Dionysios bei der Rhetorik bereits mit einer Form von eloquentia tacens zu tun hatte,38 um eine weitgehend literaturwissenschaftlich-theoretische Ausbildung, deren Sinn in einer „sittlichen Bildung“ der Schüler bzw. der Anleitung zu einer Produktion rhetorischer Texte um ihrer selbst willen bestand. Auch bei Dionysios ist die Betonung der Kontemplation und ihrer Wirkung auf den Charakter sicherlich in dieser Weise aufzufassen. War aber das ursprüngliche Ziel der praktizierten Beredsamkeit, in Otto Seels großartiger Formulierung das „Bastel[n] von Leimruten zum Zwecke des Gimpelfangens“, 39 der Wesenskern einer nach außen gerichteten, auf das Politische konzentrierten Fähigkeit zur Zeit des Dionysios tatsächlich bereits abhandengekommen? Allgemein kann man festhalten, dass der Untergang der politischen Rhetorik mit dem Beginn der Kaiserzeit ein seit der Antike wiederkehrender Gemeinplatz ist. Von Quintilian soll es eine Schrift über den Niedergang der Redekunst gegeben haben.40 Am wirkmächtigsten ist aber sicherlich Tacitus’ Dialog De oratoribus. In der Schlussrede führt Maternus den Beginn der Kaiserzeit als den Zeitpunkt des Untergangs an.41 Und auch in der Forschung findet sich die Annahme, es sei
37 Zu den Auffassungen über die Natur der „Masse“ bei Dionysios vgl. Goudriaan (1989), 504– 21. 38 Vgl. Quint. Inst. Orat. 2,18,3-4. 39 Seel (1977), 10. 40 Vgl. ebd. 9-10. 41 Vgl. Tac. De orat. 41.
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IV Paradigmatische Geschichte von diesem Datum an das Grundprinzip der römischen Beredsamkeit, die Identität von Redner und Politiker, für alle Zeiten aufgehoben: mit der Kaiserzeit beginnen sich die historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der römischen Beredsamkeit denen anzugleichen, die für die griechische schon bestimmend waren.42
Sowohl Quintilian als auch Tacitus allerdings lebten bereits einige Generationen nach Dionysios. So fällt seine angenommene Lebenszeit etwa auf den Zeitraum zwischen Cicero, dem letzten ‚wahren Vertreter‘ der römischen Rhetorik, und den beiden späteren, die deren Untergang mit dem Beginn des Prinzipats identifizieren. Dionysios selbst legt in seiner Vorrede zu der Schrift über die alten Redner Zeugnis darüber ab, dass für ihn der Beginn des Prinzipats, und damit verbunden die pax Augusta, gerade eine Renaissance der politischen Beredsamkeit und Bildung bedeuten: αἰτία δ’ οἶµαι καὶ ἀρχὴ τῆς τοσαύτης µεταβολῆς ἐγένετο ἡ πάντων κρατοῦσα Ῥώµη πρὸς ἑαυτὴν ἀναγκάζουσα τὰς ὅλας πόλεις ἀποβλέπειν καὶ ταύτης δὲ αὐτῆς οἱ δυναστεύοντες κατ’ ἀρετὴν καὶ ἀπὸ τοῦ κρατίστου τὰ κοινὰ διοικοῦντες, εὐπαίδευτοι πάνυ καὶ γενναῖοι τὰς κρίσεις γενόµενοι, ὑφ’ ὧν κοσµούµενον τό τε φρόνιµον τῆς πόλεως µέρος ἔτι µᾶλλον ἐπιδέδωκεν καὶ τὸ ἀνόητον ἠνάγκασται νοῦν ἔχειν. τοιγάρτοι πολλαὶ µὲν ἱστορίαι σπουδῆς ἄξιαι γράφονται τοῖς νῦν, πολλοὶ δὲ λόγοι πολιτικοὶ χαρίεντες ἐκφέρονται φιλόσοφοί τε συντάξεις οὐ µὰ Δία εὐκαταφρόνητοι ἄλλαι τε πολλαὶ καὶ καλαὶ πραγµατεῖαι καὶ Ῥωµαίοις καὶ Ἕλλησιν εὖ µάλα διεσπουδασµέναι προεληλύθασί τε καὶ προελεύσονται κατὰ τὸ εἰκός. Ursache und Anfang aber dieser derart großen Veränderung war, wie ich glaube, das alles beherrschende Rom, das alle Städte zwingt, sich nach ihm zu richten, sowie die Mächtigen dieser Stadt, welche das Gemeinwohl trefflich und auf das vorzüglichste verwalten, überaus wohlgebildete und in ihrer Urteilskraft vortreffliche Leute, durch die geordnet der vernünftige Teil des Gemeinwesens sich noch mehr entfaltet hat, während der vernunftlose Teil gezwungen worden ist, Vernunft anzunehmen. Deshalb werden jetzt viele lesenswerte Geschichtswerke von den Heutigen geschrieben, werden politische Reden hervorgebracht und sind – beim Zeus – keineswegs zu verachtende philosophische Abhandlungen sowie viele andere schöne, mit Fleiß ausgearbeitete Schriften von Römern wie Griechen veröffentlicht worden und werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft veröffentlicht werden.43
Nun ist gerade diese Schrift als das „Manifest“ des rein ästhetisch-kontemplativen Klassizismus gedeutet worden, dessen Bildungsideal allenfalls noch auf eine bescheidene Karriere in der Verwaltung oder aber auf eine literarische Tätigkeit ohne wirklichen politischen Bezug vorbereiten sollte.44 Allerdings kann man hier ebenso gut einen deutlichen politischen Appell sehen, und der Aufruf an die δυναστεύοντες, Vernunft zu verbreiten, muss nicht auf eine bestimmte factio bezogen werden, sondern kann allgemein als Ausdruck der Theorie der ethischen Erziehung durch die politischen Eliten gesehen werden. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die Deutung des Klassizismus als rein sittliches Bildungsprogramm, die zum einen die historische Entwicklung ex eventu 42 Heldmann (1982), 4. 43 De oratt. vett. 3,1-2. Übersetzung Hidber angepasst: Hidber übersetzt ἐκφέρονται mit „herausgeben“. Allerdings findet sich das Verb bei Dionysios ebenso im Zusammenhang mit eindeutig sprachlichen Äußerungen. Die Art und Weise, wie die Reden „herausgebracht“ werden, ist also nicht eindeutig, vgl. LSJ, s.v. ἐκφέρω II 9. 44 Vgl. Hidber, Manifest, 47-8 und insb. 47 Anm. 206.
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zum maßgeblichen Kriterium macht, und zugleich mit der klaren Definition der typischen Inhalte und Ausrichtungen einer klassizistischen Epoche eine allgemeingültige Kulturtheorie postuliert, tatsächlich geeignet ist, um die Intentionen des Dionysios und anderer früher Vertreter dieser Bewegung angemessen nachzuvollziehen. Thomas Gelzer, der die Geschichte des Begriffes ‚Klassizismus‘, seine Anwendung auf die Antike und auch die allgemeine Theorie klassizistischer Bewegungen in bis heute grundlegender Form behandelt hat, verweist darauf, dass die wesentlichen inhaltlichen Elemente gerade des attizistischen Klassizismus noch in der Zeit der ausgehenden Republik durchaus praktische Implikationen hatten. So sei der formale Attizismus in seiner betonten Direktheit und stilistischen Einfachheit nicht allein das gewesen, was die kunstgeschichtliche Perspektive hervorhebt, also der formale Ausdruck einer Renaissanceepoche, die „auf Reinigung, Straffung, Zucht gegenüber einer vorhergehenden Verwilderung [tendiert]“, und bei der zu den „typischen Merkmalen ihrer Produkte“ eine „bewusst geschmacksbildende Tendenz auf der Grundlage einer stark verstandesmäßig geprägten Kunstauffassung“ gehöre.45 Vielmehr wurde der „attische Stil“ zunächst insbesondere als für die praktizierte Beredsamkeit nützlich angesehen. Die ursprüngliche Diskussion über den Attizismus begegnet als eine Auseinandersetzung mit seinem wohl tatsächlich bloß als Zuschreibung und Zerrbild existenten Gegenmodell, dem Asianismus, das allgemein pompöse Stile bezeichnete, die sich für die öffentlichen Aufgaben der römischen Senatsaristokratie eben gerade nicht eigneten.46 Der oftmals kritisierte Ästhetizismus der Klassizisten, dem diese praktische Perspektive verlorengegangen sei, ist für Gelzer erst eine Entwicklung der späteren Zeit, namentlich der zweiten Sophistik.47 Gerade die Kultur der memoria in Rom kann als ein Beleg dafür gesehen werden, dass öffentliche Rede oder allgemein sprachliche Kommunikation auch abseits des Forums und der großen Politik durchaus noch die großen Themen aufgreifen und – mittelbar – auch einen politischen Einfluss entfalten konnte.48 Diese allgemeine Feststellung findet eine Entsprechung in der Betonung des gesellschaftlichen Nutzens und der praktischen Anwendung der ethisch-moralischen Bildung bei Dionysios, die, wie wir gesehen haben, auf Vorstellungen politischer Tugenden beruht, die ihrem Wesen nach einer praktischen Vermittlung bedürfen, um in der Gesellschaft eine Wirkung zu entfalten, sei dies durch konkrete politische Maßnahmen, oder eben durch öffentliche Rede. Dass „bij Dionysius het accent veel exclusiever op het legein valt en … hij veel sterker uitgewerkte ideën over de vorm en aard van publieksbeïnvloeding heeft“49 als der wohl gezwungenermaßen schweig-
45 Vgl. Gelzer (1979), 12-3. 46 Vgl. ebd. 16-7. Zum Gegensatz von Asianismus und Attizismus bei Dionysios allgemein vgl. v.a. Hidber, Manifest, 25-44. 47 Vgl. Gelzer (1979), 18-27, Zitat 20. 48 Vgl. Walter (2004), 42–83 zu mündlichen Formen der Vermittlung von memoria. Pol. 6,54–5 schildert bekanntermaßen die Grabrede als einen besonderen Anlass zur öffentlichen Schilderung von exempla. Vgl. zur Bedeutung der Grabrede Walter (2004), 98–9. 49 Vgl. Goudriaan (1989), 479.
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same Redner Isokrates,50 lässt prinzipiell darauf schließen, dass wir es auch mit einer für die Anwendung bestimmten Rhetorik zu tun haben. Die Argumente für den bereits manifesten Verfall der öffentlichen Rede zu Dionysios’ Zeiten sind also keinesfalls Argumente dafür, dass er nicht zugleich auf eine Renaissance hoffen konnte oder nach neuen, ebenfalls praktischen Betätigungsfeldern suchte. Wenn er die Rolle der öffentlichen Rede oder der Sprache generell überschätzt hat, ist das etwas, was er mit den Gelehrten der verschiedenen Epochen teilen mag. Umgekehrt ist zu betonen, dass die Rede in der Antike natürlich weiterhin ein zentrales Medium der Kommunikation darstellte. Darüber hinaus wurde hier bereits darauf hingewiesen, dass Dionysios darum bemüht war, die Anschlussfähigkeit seines Bildungsprogramms an die römische Kultur unter Beweis zu stellen, und dass dabei gerade die römische Praxis des mos maiorum einen Anknüpfungspunkt für die dezidiert auf das Politische gerichtete Vorstellung des Nutzens historischer Vorbilder der Lebensführung bot, wie sie die isokrateische Geschichtsauffassung, bzw. zumindest Dionysios’ Rezeption davon, vertrat. Dionysios erhoffte sich von den neuen Verhältnissen in Rom weniger eine tatsächliche Restitution der Republik als vielmehr dessen, was er als die zentralen Elemente ihrer politischen Kultur auffasste, nämlich eine politische Ordnung, in der Erziehung, öffentliche Rede und die Autorität der Tradition eine zentrale Rolle im Leben der Oberschichten spielten. 2 DER PARADIGMATISCHE NUTZEN EINER ‚VERNÜNFTIGEN‘ GESCHICHTE 2.1 Φρόνησις und σοφία: Klugheit und Sachkenntnis als Leitmotive Ein Problem der idealisierten Darstellung historischer Staaten beruht darauf, dass sie als logisch aufgebaut und vernünftig erscheinen sollen, was das Ergebnis historischer Entwicklung selten ist. Diese Problematik war auch in der Antike schon bekannt. Dass ein entsprechendes Vorgehen zu gewissen Komplikationen führt, lässt Cicero im sogenannten Methodenkapitel seiner res publica ausführen:51 Die Schematisierung, die Darstellung des Gewordenen als Gewolltes, führt zur Tendenz, politische Maßnahmen im Nachhinein als möglichst umfassend und planvoll darzustellen. So jedenfalls geht Scipio vor, wenn er die res publica im Wesentlichen als Schöpfung des Romulus schildert: „Seht ihr nun, dass durch eines Mannes Ratschluss nicht nur ein neues Volk entstanden ist und nicht wie in der Wiege schreiend
50 Während die Forschung oftmals den Gedanken der „sittlichen Bildung“ schon durch die ursprüngliche „politische Philosophie“ des Isokrates in den Vordergrund stellt – vgl. etwa Eucken (2003), 36 –, kennt die antike Überlieferung auch zahlreiche tätige Redner und Politiker unter den Schülern des Isokrates, vgl. Engels (2003), 194. 51 Vgl. zur methodischen Abgrenzung Ciceros von Platon Nickel, De re publica, 43-47; Pöschl (1990).
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hinterlassen, sondern schon herangewachsen und fast mannbar?“52 Das steht natürlich im Widerspruch zu einer ebenfalls von Scipio zitierten Aussage des greisen Cato, der Rom als das Werk vieler bezeichnet und es dabei explizit von den griechischen Nomothesien unterscheidet.53 Die Tendenz Scipios, möglichst viel in die Frühzeit zu verlegen, bemerkt aber auch der stets kritische Laelius: Nos vero videmus, et te quidem ingressum ratione ad disputandum nova, quae nusquam est in Graecorum libris. Nam princeps ille, quo nemo in scribendo praestantior fuit, aream sibi sumpsit, in qua civitatem extrueret arbitratu suo, praeclaram ille quidem fortasse, sed a vita hominum abhorrentem et moribus, reliqui disseruerunt sine ullo certo exemplari formaque rei publicae de generibus et de rationibus civitatum; tu mihi videris utrumque facturus; es enim ita ingressus, ut, quae ipse reperias, tribuere aliis malis quam, ut facit apud Platonem Socrates, ipse fingere et illa de urbis situ revoces ad rationem, quae a Romulo casu aut necessitate facta sunt, et disputes non vaganti oratione, sed defixa in una re publica. Wir sehen es und auch, daß du auf einem neuen Wege in die Erörterungen getreten bist, der sich nirgends in den Büchern der Griechen findet. Denn jener Geistesfürst, den niemand im Schreiben übertraf, nahm sich einen Platz, um auf ihm einen Staat nach seinem Gutdünken aufzurichten, der vielleicht von einem Standpunkt aus vorzüglich ist, aber dem Leben der Menschen und ihren Sitten entrückt, die übrigen haben ohne jede feste Idee und Gestalt eines Gemeinwesens über die Arten und Grundbegriffe der Staaten Erörterungen geführt; du bist dabei, scheint mir, beides zu tun: du hast es nämlich so angelegt, daß du lieber anderen zuschreiben möchtest, was du selber findest, als es selbst auszudenken, wie es Sokrates bei Platon macht, und jenes über die Lage der Stadt, was von Romulus durch Zufall oder Notwendigkeit getan worden ist, auf die Vernunft zurückführst und daß du nicht in einer im leeren Raum schweifenden Rede die Gedanken vorträgst, sondern in einer, die fest an ein bestimmtes Gemeinwesen verhaftet ist.54
Bereits am Ende der Königszeit müsse, wenn Scipio in diesem Tempo weitermache, eine res publica quasi perfecta zu sehen sein.55 Das ist ein offenkundiger Widerspruch zur gängigen Auffassung, nach der die res publica mit der Vertreibung des Tarquinius Superbus ihren Anfang, keinesfalls ihre Vollendung erfuhr, aber eben eine Folge der Form der Darlegung. Nach Auffassung Karl Büchners handelt es sich bei der genannten ratio gleichsam um eine historisch wirksame Kraft, die „auf natürlichem Wege zur besten Form“, der Mischverfassung, dränge und sich an den entscheidenden Wendepunkten der Darstellung der Verfassungsentwicklung bei Cicero zeige.56 Die jüngere Forschung hat sich hinsichtlich der Einschätzung der ratio vorsichtiger gezeigt, insbesondere, was Büchners Anlehnung des Vernunftgedankens an die Vorstellung der platonischen Idee, die Annahme eines 52 Cic. De rep. 2,21: Videtisne igitur unius viri consilio non solum ortum novum populum, neque ut in cunabulis vagientem relictum, sed adultum iam et paene puberem? Übersetzung Büchner. Der bezeichnet das als eine „spielerische Übertreibung“, vgl. dens. (1984), 189. 53 Vgl. Cic. De rep. 2,2. 54 Cic. rep. 2,21-2. Übersetzung Büchner. 55 Vgl. Cic. De rep. 2,22. 56 Vgl. Büchner ad loc., 30-1, Zitat 31; dens. (1984), 188-90, insb. 191: „Da Laelius ja das ganze Verfahren beschreiben will, dürfte die Wahl der Stadtgründung de urbis situ beispielshalber gemeint sein für alles geschichtliche Tun, das für Laelius casu aut necessitate facta, skeptisch wie er ist.“
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„ontologische[n] Vorgerodnete[n]“, auf das sich die ratio als eine Art Weltgeist richte, angeht.57 Für Dionysios jedenfalls sind die zentralen Konzepte der φρόνησις und der σοφία nicht allein erzählerische Kniffe, wie Laelius das bei Cicero impliziert, sondern gerade das oberste Vermittlungs- und Darstellungsziel einer wahrheitsgemäßen Historie,58 denn in diesen Tugenden kommt die Fähigkeit zum Ausdruck, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden.59 Zugleich finden die Begriffe auch einen Gegenpart in der römischen rhetorischen Diskussion: Prudentia, vor allem aber sapientia, waren die Schlagwörter einer Erneuerung der rhetorischen Lehre, die eine explizit römische Beredsamkeit mit dem entsprechenden sittlichen Kern von der spätestens seit dem zweiten Jahrhundert v.Chr. als potentiell gefährliche Sophisterei beargwöhnten griechischen Rhetorik abheben sollten.60 Bei Dionysios bezeichnet der Begriff σοφία allein in zehn der 20 Belege, in denen er ohne die φρόνησις steht, die sapientia regalis (βασιλικὴ σοφία) des Romulus oder Numa.61 Die zeigt sich zwar oftmals in der Beziehung zum Göttlichen – so ist einmal von der σοφία περὶ τὰ θεῖα die Rede –,62 zugleich zeigt Dionysios sich eher skeptisch, wenn es um die Frage geht, ob sich in σοφία wirklich göttliches Wissen offenbare. Im Falle der sagenhaften Griechen Lykurg und Minos lässt er es offen,63 im Falle Numas schildert er lediglich das fragwürdige Wunder der gedeckten Tische als eine Legende, die als ein Beweis des Umgangs mit Egeria gedient habe.64 Die σοφία äußert sich eher in den religiösen Einrichtungen und ihrer politischen Bedeutung für das Gemeinwesen, und Dionysios charakterisiert die σοφία Numas explizit als ἀνθρωπίνη.65 Die königliche Weisheit zeigt sich also in konkreten politischen Maßnahmen, die die Grundlagen Roms bestimmt haben. In den restlichen Belegen bezeichnet der Begriff in fünf Fällen ein konkretes taktisches Geschick bzw. allgemeine strategische Klugheit,66 außerdem finden sich eine captatio benevolentiae des Valerius Potitus, der nicht für einen Sophos gehalten werden will,67 traditionell bekannte Sophoi,68 Athen als Paradigma der Weisheit,69 57 Vgl. Lieberg (1994), 24-26, Zitat 25 (mit kurzem Abriss der Diskussion); Zetzel (1995), 178, der die Orientierung an Platon zurückweist und auf die ratio nicht näher eingeht; Frank (1992), 205 bezieht die ratio allgemein als „Plan“ nur auf den tatsächlichen urbis situs im wörtlichen Sinne, weist aber auch auf die unterschiedlichen Geschichtskonzeptionen hin. 58 Vgl. AR 1,1,2. 59 Vgl. ebd. 11,1,5. 60 Vgl. Cic. Inv. 1,1; 1,4. Vgl. dazu insb. Jehne (1999), 127–8, für weitere Literatur 128 Anm. 77. 61 Vgl. AR. 2,4,2; 2,17,1 (die mangelnde Weisheit der griechischen Poleis in ihrer Bürgerrechtspolitik im Vergleich zu Romulus); 2,23,4; 2,58,3; 2,59,4 & 5; 2,60,2 & 4 & 5 (βασιλικὴ σοφία); 2,65,2. 62 Vgl. ebd. 2,65,2. 63 Vgl. ebd. 2,26,2. 64 Vgl. ebd. 2,60. 65 Vgl. ebd. 2,60,4. 66 Vgl. ebd. 2,55,1; 3,24,5; 4,51,2; 8,84,2; 14,10,1. 67 Vgl. ebd. 11,19,5. 68 Vgl. ebd. 2,26,2; 2,61,2. 69 Vgl. ebd. 5,65,1, vgl. auch 2,17,1.
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schließlich die Bemerkung, die römische Aristokratie habe sich mit ihren Zugeständnissen gegenüber der plebs weise und vorausschauend verhalten.70 Die φρόνησις wird in den Antiquitates als Eigenschaft politischer Entscheidungsträger immer wieder explizit erwähnt, und diese Entscheidungsträger sind nicht notwendig nur die Inhaber der obersten Gewalt, sondern öfter tatsächlich die Beratenden.71 In der umfassenden Auseinandersetzung über das Volkstribunat wird die φρόνησις von allen Parteien des Konfliktes in den programmatischen Reden als Begründung politischer Maßnahmen genannt.72 Das könnte man als Beleg dafür deuten, es auch bei der φρόνησις bzw. ihrer Anrufung mit einem Gemeinplatz zu tun zu haben. Allerdings sind gerade die in diesem Zusammenhang geschilderten Reden für Dionysios ein zentraler Aspekt seiner eigenen Konzeption von Geschichte: Die Auseinandersetzung ist das Beispiel der besonderen römischen Fähigkeit, Konflikte friedlich, wie in einem gut verwalteten Haushalt (οἰκίᾳ σώφρονι), beizulegen.73 Tatsächlich gewinnt man also den Eindruck, dass sich die Sachkenntnis der σοφία meist im konkreten Handeln, weniger im Beraten zeigt, während im Falle der φρόνησις diese beiden Ebenen verschwimmen. Wenn man die beiden Passagen vergleicht, in denen φρόνησις und σοφία in einem Verhältnis von Vorbild und Umsetzung stehen, zeigt sich allerdings noch etwas anderes: In der Rede des Valerius Potitus sind es die σοφία Solons in dessen Vorschlägen und die φρόνησις derjenigen, die sich von ihm hätten überzeugen lassen und seine Vorschläge dann umgesetzt haben.74 Bei Romulus ist das Verhältnis umgekehrt: Seine σοφία zeigt sich gerade darin, dass er sich von der φρόνησις der Vorfahren überzeugen lässt.75 Offensichtlich ist hier ausschlaggebend, wer allgemein die Rolle des Weisen spielt, und nicht, wer berät und wer handelt. Dionysios beschreibt also zwei Arten der σοφία, von der die eine eben großen Gesetzgebern oder Königen wie Romulus oder Numa, Lykurg, Solon oder Minos vorbehalten bleibt. Auf der anderen Ebene findet sich mitunter eine eher alltägliche, wenn man so will, sophistische σοφία, die sich von der reinen φρόνησις nicht wesentlich unterscheidet, sich eben gerade im tätigen Beraten bzw. der beratenden Tätigkeit zeigt, und diese ist es wohl, die man, wie die φρόνησις, auch Dionysios’ Schülern bezeugen wird, wenn sie die Geschichte fleißig studieren.
70 Vgl. ebd. 7,65,1. 71 Vgl. ebd. 3,7,1: Ein kluger Beraterkreis des Königs Tullus; 3,11,9: Klugheit und militärische Fähigkeit als notwendige Eigenschaft von Anführern; 3,67,1: Kluge und militärisch fähige Plebejer werden ins Patriziat und den Senatorenstand erhoben; 4,3,3: Klugheit als Fähigkeit des Tullius, die ihn befähigt, zu herrschen; 5,65,1: Klugheit Solons überzeugt die Athener; 6,35,1: Klugheit des T. Larcius; 8,27,2: Klugheit als Ergebnis von Erfahrung; 10,36,3 und 47,1: Klugheit des Lucius Siccius Dentatus in der politischen Rede und Beratung. 72 Vgl. ebd. 7,482; 7,53,4; 7,56,2. 73 Vgl. ebd. 74 Vgl. ebd. 5,65,1. 75 Vgl. ebd. 2,4,2.
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2.2 Vollständigkeit als Bedingung des Nutzens Dionysios betont wiederholt die Notwendigkeit, die Ursachen (αἰτίαι) von Ereignissen darzustellen. In der eben bereits angesprochenen Stelle im siebten Buch der Antiquitates, nach dem Ende seiner Darstellung der zweiten secessio plebis (στάσις), betont er, dass jeder sich die Frage nach den Ursachen (αἰτίαι) außergewöhnlicher (παράδοξοι) Ereignisse stelle. Das sei auch der Grund seiner umfangreichen Darstellung: Hätte er lediglich geschildert, dass die Patrizier den Plebejern das Volkstribunat zugestanden hätten, und zwar ohne größere Unruhen und Blutvergießen, sei dies keine glaubwürdige Darstellung. Da vor allem die Reden für die politische Entwicklung und ihren friedlichen Verlauf verantwortlich gewesen seien, habe er diese umfangreich wiedergegeben. Andere Historiker würden aufwendige Schlachtenschilderungen zum Besten geben, die Reden im Verlauf innerer Konflikte allerdings auslassen. Dies komme nicht in Frage, da gerade die Tatsache, dass die Römer ihre inneren Konflikte meist durch öffentliche Diskussionen gelöst hätten, von wesentlicher Bedeutung sei.76 Eine zweite Betonung des spezifischen Nutzens der Geschichtsschreibung durch die Schilderung von Ursachen findet sich im Anschluss an die Charakterisierung der „politischen Philosophen“, in denen er die Hauptrezipienten einer nützlichen Historiographie sieht, im zweiten Proöm am Beginn der zweiten Dekade. Auch hier betont er die Notwendigkeit, die Ursache zu schildern, in diesem Falle konkret die Hybris des decemvir Appius Claudius.77 Die Tendenz des Dionysios, historische Episoden nach bestimmten Kriterien auszuarbeiten, ist in der älteren Forschung meist als einer der schlimmsten Auswüchse der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ angesehen worden. Die Forderung nach Vollständigkeit ist als Forderung nach der Ausarbeitung eines Themas gemäß der περίστασις aufgefasst worden. Diese umfasst einen Katalog der „notwendigen Elemente … nämlich Person, Sache, Zeit, Grund, Art und Weise.“ Liers verweist als Beispiel dafür, dass in der rhetorischen Tradition „[j]eder dieser Punkte … auf das genaueste erörtert worden“ sei, auf die Progymnasmata des Theonos,78 wo die Bedeutung der Personen (πρόσωπα), des Ortes (τόπος), der Zeit (χρόνος), der Art und Weise (τρόπος) und der αἰτίαι aufgezählt werden. Dass Dionysios wiederholt fordert,79 nicht allein der Ausgang der Ereignisse, „sondern auch das Nähere über die Art und Weise, wie dieselben sich zutragen, ihre Ursachen, die Absichten der leitenden Personen und die Einwirkung der Gottheit“ sowie „d[ie] Örtlichkeiten, … d[ie] Feldherren, … d[ie] gehaltenen Reden“ müssten Bestandteil der 76 Vgl. ebd. 7,66. 77 Ebd. 11,1,5-6: διὰ ταύτας δή µοι τὰς αἰτίας ἔδοξεν ἅπαντα ἀκριβῶς διελθεῖν τὰ γενόµενα περὶ τὴν κατάλυσιν τῆς ὀλιγαρχίας, ὅσα δὴ καὶ λόγου τυχεῖν ἄξια ἡγοῦµαι. ποιήσοµαι δὲ τὸν περὶ αὐτῶν λόγον οὐκ ἀπὸ τῶν τελευταίων ἀρξάµενος, ἃ δοκεῖ τοῖς πολλοῖς αἴτια γενέσθαι µόνα τῆς ἐλευθερίας, λέγω δὲ τῶν περὶ τὴν παρθένον ἁµαρτηθέντων Ἀππίῳ διὰ τὸν ἔρωτα· προσθήκη γὰρ αὕτη γε καὶ τελευταία τῆς ὀργῆς τῶν δηµοτῶν αἰτία µυρίων ἄλλων προηγησαµένων, ἀλλ’ ἀφ’ ὧν ἤρξατο πρῶτον ἡ πόλις ὑπὸ τῆς δεκαδαρχίας ὑβρίζεσθαι. 78 Vgl. Liers (1886), 13; Rhet. Gr. II ed. v. Sengel 60-1. 79 Vgl. AR 7,66; 11,1,4-5.
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Darstellung sein, sieht Liers als Ausdruck der Befolgung einer auch hier in erster Linie ästhetisch begründeten rhetorischen Konvention. Folge dieses Vorgehens sei die freie Erfindung durch die Quellenlage nicht zu untermauernder Details. Die Aussagen des Dionysios über die Notwendigkeit einer Nennung von Ursachen sind dementsprechend als inhaltsleere Nachahmung etwa des Polybios oder Thukydides aufgefasst worden, die im Gegensatz zu Dionysios systematisch zwischen den tatsächlichen Ursachen, Anlässen und Anfängen unterschieden hätten.80 Gabba hat in diesem Zusammenhang den Anspruch der „Vollständigkeit“ und das daraus resultierende eigenmächtige Ausfüllen von historischen lacunae oder dem, was man eben dafür hielt, als eine Methode gewertet, die man schon bei den Annalisten sehen könne, die die schlecht überlieferte Vergangenheit durch politische Verfahrensmuster und dergleichen aufgefüllt hätten, wie sie es aus ihrer Zeit kannten. Innerhalb eines zyklischen Geschichtsverständnisses könne diese Methode als „upside-down application“ des thukydideischen Prinzips von der generellen Wiederholung geschichtlicher Muster angesehen werden: „It is in this light that verisimilitude and convenience could pass for the truth in an historical reconstruction.“81 Allerdings liegt bei Dionysios das Hauptaugenmerk offenbar nicht auf der Rekonstruktion des konkreten Ereignisses selbst, sondern vielmehr auf seiner Nutzbarmachung. Die Betonung der πολλὰ παραδείγµατα in der Begründung des zweiten Proöms weist dabei sicher auf die allgemeine Funktion des Beispiels als Überzeugungsmittel. Der Verweis auf die Philosophen und die ἄνδρες πολιτικοί und ihre Praxis, die darin besteht, dass sie ihrem Gemeinwesen διὰ τοῦ λόγου, durch Beratung und Rede, zuträglich sind, kann man in diesem Kontext aber eventuell auch als Hinweis auf eine konkretere Vorstellung vom Zustandekommen des Nutzens des παραδείγµα auffassen. Darauf, dass es sich beim Hinweis auf die praktisch tätigen Politiker und Philosophen grundsätzlich um eine Anspielung auf die „politische Philosophie“ des Isokrates bzw. auf Dionysios’ Interpretation davon handelt, wurde hier bereits hingewiesen, ebenso wie darauf, dass die „politische Philosophie“ grundsätzlich den Vorbildcharakter historischer Beispiele, insbesondere großer Redner, betont. Die Vorstellung von der grundsätzlichen Notwendigkeit, durch die Aufzählung sämtlicher Begründungen die verschiedenen Möglichkeiten der Verargumentierbarkeit eines Ereignisses paradigmatisch zu veranschaulichen, kann dabei zum einen als eine Erweiterung der aristotelischen Begründung der Wirkungsweise des historischen παραδείγµα gesehen werden, die auf der prinzipiellen Analogie historischer Situationen beruhe.82 Besonders im Kontext der isokrateischen Vorstellung der Fähigkeit guten Beratens lässt sich der Ansatz der möglichst umfassenden kausalen Verknüpfung eines Ereignisses auch im Zusammenhang mit der spezifisch isokrateischen Vorstellung der δόξα sehen. Für Isokrates spielt die Konzeption der 80 Vgl. Liers (1886), 13 und Anm. 29. 81 Vgl. Gabba (1991), 83. Als Methode einer bestimmten Form der Rekonstruktion beschreibt dieses Vorgehen auch Marincola (2007), 28. 82 Vgl. Arist. Rhet. 1394a.
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δόξα – verstanden als Meinung oder Auffassung, nicht als trügerischer Schein –, die es ermöglicht, Modelle von Kausalität für den Bereich des Politischen zu erstellen, deren Begründung im Bereich der reinen Evidenz liegt, eine zentrale Rolle.83 Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem guten Vermuten und dem guten Beraten. Der Nutzen, den solcherart ausgebildete Staatsmänner διὰ τοῦ λόγου ihrem Gemeinwesen erbringen können, betrifft zwei Seiten des λόγος: Die Logik der Sprache entspricht der des Denkens,84 es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Verständnis der potenziellen Entwicklungen einer Situation und der beratenden Tätigkeit. Die in besonderer Weise ausgebildete Form dieses Denkens und Redens, die sich in ihrer höchsten Form nur bei den größten und daher vorbildlichsten Staatsmännern zeigt, lässt sich in einer zentralen Tugend fassen, der φρόνησις.85 Die daraus resultierende Fähigkeit, möglichst treffende Vermutungen anzustellen, ist als „stochastisch“ bezeichnet worden: Sie ist eine Fähigkeit „of aiming, not always of hitting“.86 Dionysios selbst verwendet στοχάζοµαι als Bezeichnung eines erstrebenswerten Vorgehens vor allem im Hinblick auf die rhetorische Fähigkeit der Einschätzung der rechten argumentativen Mittel.87 Im Zusammenhang mit der Fähigkeit zur richtigen Einschätzung tatsächlicher politischer Entwicklungen stellt er – bzw. in einer Rede der Staatsmann Valerius Potitus – die ἐµπειρία durch viele παραδείγµατα dem untergeordneten Nutzen eines hier im Sinne eines bloßen Mutmaßens verwendeten στοχάζεσθαι sogar entgegen.88 Wie die isokrateische Fähigkeit des richtigen Folgerns ist aber offenbar auch bei Dionysios die auf ἐµπειρία und παραδείγµατα beruhende Fähigkeit, den Lauf der Dinge einzuschätzen, darauf ausgelegt, die Annahme von Kontingenz in politischen und historischen Prozessen zu minimieren und stattdessen das begründete Vermuten, dessen Bedingungen sich erforschen und erlernen lassen, in den Mittelpunkt zu stellen. Man kann den Sinn der Vervollständigung also tatsächlich in der Nutzbarmachung der Ereignisse sehen: Ein Geschichtswerk, in dem möglichst alle Ereignisse nach den genannten Kriterien vervollständigt, also in einen kausalen Zusammenhang möglicher Ursachen und Wirkungen gestellt wurden, ist nützlich für den, der lernen möchte, Wahrscheinlichkeiten im Rahmen des Politischen richtig einzuschätzen und selbst die Fähigkeit einer ὀρθὴ δόξα und politischer φρόνησις zu erlangen.89 Vor diesem Hintergrund könnte man auch Dionysios’ Forderung nach 83 84 85 86 87 88 89
Vgl. Isoc. Panath. 9; Soph. 8; Antid. 184; Goudriaan (1989), 475. Vgl. Böhme (2009), 25. Vgl. Isoc. Nicocles 5-9; Antid. 253; 277; Goudriaan (1989), 474-7. Vgl. Poulakos (2005), 52-3. Zitat Detienne – Vernant (1994) zitiert nach Poulakos ebd. 53. Vgl. AR 6,83,2; De Dem. 10; 15. In Fragen des Stils ebd. 18; 34; 48; 58. Vgl. AR 11,19,5; ähnlich auch 9,9,4, ebenfalls als Gemeinplatz in einer Rede. Fox (2011), 98-9 sieht in Dionysios’ quellenkritischen Erwägungen zwischen verschiedenen Überlieferungen ein ähnliches Vorgehen: „Dionysius’ comparisons of different accounts are aimed at finding out what the best way of representing archaic Rome is; but what is best is defined not in terms of any delving into the actual reality of the past, looking behind the sources, but rather, in finding its ability to demonstrate the validity of universal precepts about the way the world works.“
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ἀκρίβεια, die ja oftmals mit den Forderungen nach Vollständigkeit assoziiert worden ist, als Ausdruck der isokrateischen Vorstellung von Sorgfalt auffassen, „dass nichts von dem, was lehrbar ist, übergangen wird.“90 Die Forderungen nach Vollständigkeit sind, wie bereits Liers betont hat, grundsätzlich natürlich Allgemeingut der rhetorischen Lehre. Die Besonderheit der von Dionysios angeführten Beispiele fällt ins Auge, wenn man sie mit einer ähnlichen Stelle bei Cicero vergleicht. Der lässt Antonius in der Schrift über den Redner die Schwierigkeiten der Geschichtsschreibung aufzählen, und auch hier begegnen uns Kriterien der Vollständigkeit: Rerum ratio ordinem temporum desiderat, regionum descriptionem; volt etiam quoniam in rebus magnis memoriaque dignis consilia primum, deinde acta, postea eventus expectantur, et de consiliis significari quid scriptor probet, et in rebus gestis declarari non solum quid actum aut dictum sit, sed etiam quomodo, et cum de eventu dicatur, ut causae explicentur omnes vel casus vel sapientiae vel temeritatis … Die Art des Stoffs erfordert chronologische Anordnung und Beschreibung der Schauplätze. Doch fordert sie auch, da bei großen und denkwürdigen Vorgängen das Interesse erst den Plänen, dann den Ereignissen und schließlich den Ergebnissen gilt, bei den Plänen einen Hinweis darauf, was der Verfasser anerkennt, bei den Ereignissen eine Erklärung nicht über das Was, sondern auch über das Wie der Taten und der Reden, und wo von dem Erfolg die Rede ist, verlangt sie eine Darlegung sämtlicher Gründe, mögen sie auf Zufall, Klugheit oder blinder Unbesonnenheit beruhen … 91
Für Ciceros Antonius ist hier der Zufall (casus) einer der Faktoren, der neben der menschlichen Klug- oder Weisheit (sapientia) bzw. Unbesonnenheit (temeritas) als Ursache zu nennen ist. Es ist natürlich ein argumentum ex silentio, wenn man darauf hinweist, dass Dionysios den Zufall in seinen programmatischen Aussagen nicht zu den Ursachen zählt, von denen es sich zu berichten lohne. Die Ausschaltung der Kontingenz kann aber auch als Grundbedingung des stochastischen Vermutens gesehen werden: Die Befreiung der „doxa from the rule of tuchē“ und sie „as directly as possible under the control of paideia“ zu bringen,92 ist eines der Ziele des Isokrates. Wenn bei Dionysios also der casus nicht zu den Gründen zählt, passt das ins Konzept. Dass diese Auslassung durchaus beabsichtigt ist, zeigt sich auch im Umgang mit der Frage nach der Rolle der τύχη. Sie soll im Folgenden Gegenstand sein. 2.3 Die Ausschaltung der Kontingenz: Εὔνοια statt τύχη Im Proöm der Antiquitates wendet sich Dionysios gegen die Auffassung, eine τύχη ἄδικος bzw. ein αὐτοµατισµός habe zur unvergleichlichen Machtfülle Roms geführt. Diese Meinung vieler Griechen gehe auf ἐπιτυχόντα ἀκούσµατα zurück. Ziel seines Werkes sei es, den irrigen Auffassungen der Griechen die wahre Geschichte Roms als einer Stadt mit griechischen Ursprüngen, deren Erfolg vornehmlich auf 90 Vgl. Böhme (2009), 169; Isoc. Soph. 17. 91 Cic. De or. 2,63. Übersetzung Merklin. 92 Vgl. Poulakos (2005), 53.
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den Tugenden der Römer und ihrer Herrschaft nach dem Recht des Stärkeren, das ein Naturgesetz sei, beruhe, entgegen zu setzen.93 Eine Ablehnung des αὐτοµατισµός als treibende Kraft für den Aufstieg Roms findet sich noch an einer weiteren Stelle: Im zweiten Buch lobt er die staatsmännischen Qualitäten des Romulus, dem er die meisten grundlegenden Institutionen der Königszeit zuspricht. Erneut wird die politische Ausrichtung des Staates auf δικαιοσύνη und die εὔνοια der Götter betont. Dies führe sowohl zu einem harmonischen Gemeinwesen als auch zu Tapferkeit im Krieg.94 Generell ist festzustellen, dass der Begriff αὐτοµατισµός bei Dionysios meist ein Ereignis beschreibt, das sich einer rationalen Begründung entzieht. Im ersten Buch schildert Dionysios an zwei Stellen, wie sich den alten Berichten zufolge göttliches Wirken in spontanen Naturereignissen manifestiert habe. So hätten, als die ermüdete und durstige trojanische Flotte an der Küste von Laurentum gelandet sei, Quellen von selbst zu sprudeln begonnen (λιβάδες αὐτόµατοι νάµατος ἡδίστου ἐκ γῆς ἀνελθοῦσαι ὤφθησαν), was man als günstiges Zeichen gedeutet habe.95 Ebenso berichtet er von einer Begebenheit bei der Gründung Laviniums: Ein Feuer sei unvermittelt im Wald ausgebrochen (πυρὸς αὐτοµάτως ἀναφθέντος ἐκ τῆς νάπης), ein Wolf habe trockenes Holz herangetragen, ein Adler es mit seinen Flügeln angefacht, ein Fuchs, der versucht habe, es mit seiner nassen Rute auszuschlagen, habe schließlich aufgegeben und sei unverrichteter Dinge abgezogen. Dies sei von Aeneas als gutes Omen für die Stadt gedeutet worden.96 Mitunter tritt noch eine weitere Bedeutungsebene hinzu. So sei die Stadt Siginia nicht absichtlich, auf Geheiß des Tullius, sondern αὐτοµάτως entstanden: Ein ursprüngliches Heereslager sei von den Soldaten wie eine Stadt ausgebaut worden und habe sich schließlich zu einer entwickelt.97 In diesem Zusammenhang geht es Dionysios darum, das Ereignis der Stadtgründung von der Einrichtung der ordnungsgemäß geplanten Kolonie Circeii abzuheben. Diese Unterscheidung zwischen geplantem Handeln und αὐτοµατισµός findet sich auch in der letzten aus den vollständig erhaltenen Büchern überlieferten Stelle. Hierbei handelt es sich allerdings um die ausgedehnte Rede der bösen, jüngeren Tullia, die versucht, ihren Schwager Tarquinius zu überreden, die Absetzung des Tullius aktiv zu betreiben, anstatt auf einen günstigen Moment, der sich von selbst ergebe, zu warten.98 Bei der Aussage, die Stärke Roms sei auf einen αὐτοµατισµός zurückzuführen, habe sich also ohne eine rational nachvollziehbare Begründung entfaltet, handelte es sich offensichtlich um einen Gemeinplatz antirömischer Polemik, gegen den sich bereits Polybios ausgesprochen hat.99 93 94 95 96 97 98 99
Vgl. AR 1,4,2-3. Vgl. ebd. 2,18,1–2. Vgl. ebd. 1,55,1. Vgl. ebd. 1,59,4. Vgl. ebd. 4,63,1. Vgl. ebd. 4,29,5. Vgl. Pol. 1,63,9. Zu den antirömischen Tendenzen in der griechischen Literatur vgl. u.a. Schnayder (1927); Gabba (1974); Baumann (1930), 22-3 ist der Auffassung, im Werk des Trogus fänden sich Spuren derjenigen römerfeindlichen Quelle, gegen die Dionysios und
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Schwieriger verhält es sich mit dem Begriff der τύχη ἄδικος, die Dionysios hier als eine zweite vorgeschobene Begründung benennt: Ist die τύχη ἄδικος als bloßes Synonym des αὐτοµατισµός zu verstehen oder verbirgt sich hierin gleichermaßen eine Ablehnung der im Proöm des Polybios als Grund für den Aufstieg Roms genannten τύχη?100 Was an allgemeinen Aussagen über die Bedeutung des Begriffs τύχη getroffen worden ist, trifft auch auf Dionysios zu. Die Verwendung des Begriffes reicht von bloßen Redewendungen (Beklagen des Schicksals), metonymischen Verwendungen (Stand oder Rang eines Menschen), Eigentum (fortunae), bis hin zur expliziten Polybios sich gewandt hätten: Die Aussage Macedonas Roma fortuna vicit in Trog. 30,4,16 gehe auf dieselbe Quelle zurück, gegen deren Aussage, die Römer seien durch einen αὐτοµατισµός bzw. die τύχη ἄδικος zur Weltherrschaft gelangt, sich Dionysios wende. Vgl. auch Schwartz (1903), 959, der davon ausgeht, Dionysios habe sich bei seinem Angriff auf die Römerfeinde im Proöm 1,4,4 gegen „eine bestimmte Persönlichkeit“ gewandt, die eventuell auch unter den von Liv. 9,18,6 als levissimi ex Graecis Bezeichneten zu finden sei. 100 Vgl. Pol. 1,4,1. Auf Widersprüche im Werk des Polybios in der Verwendung des Begriffes ist in der Forschung immer wieder eingegangen worden, Versuche, eine einheitliche Konzeption der τύχη, der man so etwas wie eine immanente Begründung ihres Wirkens zumindest ansatzweise zusprechen kann, ob als religiöse Konzeption oder im Sinne der stoischen Pronoia, sind weitestgehend abgelehnt worden. Hauptproblem dieser Ansätze war stets, hinter dem Begriff der τύχη ein einheitliches Konzept zu vermuten, was aber für das Verständnis sowohl des antiken Sprachgebrauchs als auch der damit verbundenen, nach modernen Kriterien hochgradig widersprüchlichen Konzeptionen nur wenig beitragen konnte. Einen neueren Versuch, eine über das gesamte Werk einheitliche τύχη zu konstruieren, hat Hoffmann (2002) vorgenommen. Hoffmann greift die Beobachtung auf, dass Polybios oftmals Begründungen für verbürgte historische Ereignisse angibt, die nicht auf Belege, sondern auf rationalistische Erklärungsmuster zurückgreifen. Daraus schließt er, Polybios sei ein Anhänger stoischer Bewegungsgesetze gewesen, die eine unmittelbare „Telos-Arche-Beziehung“ sowohl für Naturereignisse als auch für andere „Entitäten“ etwa im politischen Raum postulieren: Polybios habe eine Untrennbarkeit der Ergebnisse und der Anfänge einer Sache gesehen. Dieses Modell eines „bipolaren Finalismus“ wendet Hoffmann auch auf die τύχη an, die seiner Auffassung nach eine „teleologisch wirksame Macht“ sei, die zwar real vorhanden, aber nicht religiös begründet sei. Anschließend an die von Walbank immer wieder betonte Feststellung, man könne Polybios weder als einen Philosophen noch als einen Geschichtstheoretiker mit geschlossenem geschichtsphilosophischen Weltbild auffassen, hat van Hooff (1977), 101-128 (mit Τύχη-Schaubild auf S. 126) dargelegt, dass dem Begriff τύχη in den verschiedensten Begründungszusammenhängen auch die verschiedensten Funktionen zukommen können, der Begriff an den unterschiedlichsten Positionen eines Kausalsystems vorkommen kann, also keineswegs immer als eine letzte Begründung oder Ursache, als causa causarum, dienen muss, sondern von Polybios prinzipiell dort verwendet wird, wo ihm die rationalen Begründungen ausgehen: Er sieht in Polybios einen „politician“, dessen Hauptziel es sei, eigene Unwissenheit zu verschleiern. Dieser Umgang mit dem Begriff der τύχη ist nicht unüblich, ebenso wie die häufig belegten Anmerkungen, man solle, wenn man ein rationales Argument zur Hand habe, nicht die τύχη verantwortlich machen. Bei aller Schwierigkeit, mit dem Begriff der τύχη ein einheitliches, über das gesamte Werk kohärentes Konzept einer historischen Macht zu verbinden, kann man zumindest der im Proöm geschilderten τύχη eine gewisse gedankliche Geschlossenheit attestieren. Nach Ansicht Walbanks bezeichne der Begriff hier eine „bewusste, zielgerichtete Macht“, deren Hauptcharakteristikum die Koinzidenz zahlreicher, zunächst scheinbar voneinander unabhängiger Ereignisse ist, vgl. Walbank (1990), 19.
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Nennung der Fortuna als Göttin im Rahmen von Kulten oder auch der Göttin als handelnder Person, der τύχη als (freilich abgelehnter) historischer Macht und schließlich der fortuna belli, die als (wechselhaftes, negatives und positives) Kriegsglück, persönliche Eigenschaft eines Feldherren etc. auftritt. Daneben sind die Verwendungen mit qualifizierendem Präfix wie δυστυχία, εὐτυχία etc. zu nennen, die allerdings hier, wo es in erster Linie um die Verwendung in den Kontexten der antirömischen Polemik bzw. historischen Kraft gehen soll, weitestgehend außen vor gelassen werden können. Ebenfalls ausgespart werden soll die Verwendung des Begriffes in den direkten und indirekten Reden, in denen die Bedeutung von Glück, Unglück und Schicksal des Menschen als beliebtes Thema der klassischen Beredsamkeit begegnet, auf das auch Dionysios offensichtlich nicht verzichten wollte.101 Wenn auch die Zurückweisung der τύχη ἄδικος und des αὐτοµατισµός im Proöm auf der gleichen Ablehnung antirömischer Polemik zu beruhen scheint wie bei Polybios, finden sich im Verlauf der Antiquitates einige Stellen, die sich offenbar auch mit dem historischen τύχη-Konzept aus dem Proöm des Polybios auseinandersetzen und dabei auf ein qualifizierendes Attribut wie ἄδικος verzichten. Die erste Passage findet sich am Ende des ersten Buches und stellt die Klimax der Darlegung seines Argumentes für die griechische Herkunft der Römer dar: … οὐ νῦν πρῶτον ἀρξάµενοι πρὸς φιλίαν ζῆν, ἡνίκα τὴν τύχην πολλὴν καὶ ἀγαθὴν ῥέουσαν διδάσκαλον ἔχουσι τῶν καλῶν οὐδ’ ἀφ’ οὗ πρῶτον ὠρέχθησαν τῆς διαποντίου τὴν Καρχηδονίων καὶ Μακεδόνων ἀρχὴν καταλύσαντες, ἀλλ’ ἐκ παντὸς οὗ συνῳκίσθησαν χρόνου βίον Ἕλληνα ζῶντες καὶ οὐδὲν ἐκπρεπέστερον ἐπιτηδεύοντες πρὸς ἀρετὴν νῦν ἢ πρότερον. Nicht erst jetzt haben sie angefangen harmonisch zusammenzuleben, seitdem sie die ganze und in reicher Fülle fließende Tyche als Lehrmeisterin der schönen Dinge besitzen, und auch nicht, seit sie zuerst danach gestrebt haben, die Herrschaft der Karthager und Makedonen jenseits des Meeres zu brechen, sie leben vielmehr seit der Zeit der gemeinsamen Gründung ein hellenisches Leben und unternehmen heutzutage nichts Herausragenderes im Hinblick auf die Tugend als früher.102
Auffällig ist, dass Dionysios hier das Wirken der τύχη auf die Geschicke der Römer offensichtlich von der Unterwerfung Karthagos, in der sich für Polybios ja gerade das Wirken der τύχη manifestiert, trennt. Die τύχη der Römer ist ein Phänomen der Gegenwart und bezeichnet zudem eher den momentanen glücklichen Zustand als eine kontinuierlich wirkende historische Macht oder überhaupt einen Erfolgsfaktor. Der wesentliche Unterschied zu Polybios besteht erneut in der Grundthese des Dionysios, Rom sei von Anfang an eine griechische Stadt auf einer hohen Entwicklungsstufe gewesen und ihre Frühgeschichte daher einer Darstellung würdig, zuvor begründet durch die angebliche Verwandtschaft zwischen der lateinischen Sprache
101 In der Tat spielt die τύχη in den Reden bei Dionysios, anders als in seinen eigenen Schilderungen, eine bedeutende Rolle, vgl. etwa AR 6,19 die indirekte Rede des T. Larcius, die im Ganzen eine Erörterung über das wechselhafte Wesen der τύχη darstellt. Auch die Größe Roms wird in den Reden in Zusammenhang mit der wechselhaften τύχη gebracht, vgl. die Rede des Coriolanus 8,1,4-6. 102 AR 1,90,1.
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und dem äolischen Griechisch.103 Vor allem aber wird so grundsätzlich die Tugend als nützlicher Gegenstand gegenüber der τύχη hervorgehoben. Eine weitere Stelle, die als direkter Bezug auf die zeitliche Konzeption des Wirkens der τύχη bei Polybios gesehen werden kann, befindet sich im zweiten Buch, wo Dionysios die εὔνοια der τύχη als Begründung für Roms Größe ablehnt und nachdrücklich auf dem rationalen Grund, der Größe des römischen Heeres, beharrt, die ein Durchhalten nach der Niederlage bei Cannae ermöglicht habe. Polybios scheint zwischen dem rationalen Argument der Größe des Heeres und dem längerfristigen Wirken der τύχη keinen Widerspruch zu sehen. Zwar setzt auch für ihn mit Cannae der Tiefpunkt der Macht Roms ein.104 Trotzdem betont er in seinem Proöm, in dem er die Bedeutung der τύχη hervorhebt, zugleich die Wichtigkeit, die Vorgeschichte des hannibalischen Krieges zu schildern, um die Verfassung und die Machtverhältnisse der Staaten, insbesondere aber die δύναµις und die χορηγίαι, die schließlich die Ursachen für den römischen Erfolg gewesen seien, den Griechen näher zu bringen.105 Dionysios hingegen verweist mit dem Beispiel von Cannae auf die Wechselhaftigkeit der τύχη, die, zumindest als ein permanent andauerndes Kriegsglück, also nicht auf Seiten der Römer gestanden habe.106 Zum einen wird so ein rationales Argument anstelle der τύχη gesetzt, zum anderen zeigt sich, wie sehr die unterschiedlichen Ebenen des Begriffes – auf der einen Seite die historisch wirksame Kraft, auf der anderen Seite die fortuna belli, die einer konkreten Situation den Ausschlag gibt – miteinander verschwimmen können,107 was Dionysios hier für sein Argument nutzt. Dionysios’ Argumentation gegen die seines Erachtens ungerechtfertigte Begründung von der Stärke Roms durch αὐτοµατισµός bzw. τύχη ἄδικος weist also erneut bei allen Ähnlichkeiten zu den Argumenten bei Polybios zugleich zentrale konzeptionelle Unterschiede auf. Wie auch Polybios in seiner Ablehnung des αὐτοµατισµός bedient Dionysios sich in seiner konkreten Argumentation gegen die kontingente τύχη oftmals situativer, rationaler Argumente, die bestimmten Ereignissen eine benennbare kausale oder strukturelle Begründung geben. Während Polybios einerseits die τύχη als Begründung für den Aufstieg Roms offensichtlich lediglich dort ablehnt, wo sie von der antirömischen Literatur seiner Vorgänger weitestgehend synonym mit dem αὐτοµατισµός als eine historische Ungerechtigkeit verwendet wurde, dient sie ihm an anderer Stelle als treibende Kraft hinter dem 103 104 105 106
Vgl. ebd. Vgl. Pol. 6,58. Vgl. ebd. 1,3,9. AR 2,17,3: τοσούτοις περιπετὴς γενοµένη κινδύνοις κατὰ τὸν αὐτὸν χρόνον οὐχ ὅπως ἐκακώθη διὰ τὰς τότε τύχας, ἀλλὰ καὶ προσέλαβεν ἰσχὺν ἐξ αὐτῶν ἔτι µείζονα τῆς προτέρας τῷ πλήθει τοῦ στρατιωτικοῦ πρὸς ἅπαντα διαρκὴς γενοµένη τὰ δεινά, οὐχ ὥσπερ ὑπολαµβάνουσί τινες εὐνοίᾳ τύχης χρησαµένη· ἐπεὶ ταύτης γε χάριν ᾤχετ’ ἂν ὑποβρύχιος ἐξ ἑνὸς τοῦ περὶ Κάννας πτώµατος, ὅτε αὐτῇ ἀπὸ µὲν ἑξακισχιλίων ἱππέων ἑβδοµήκοντα καὶ τριακόσιοι περιελείφθησαν, ἀπὸ δὲ µυριάδων ὀκτὼ τῶν εἰς τὸ κοινὸν στράτευµα καταγραφεισῶν ὀλίγῳ πλείους τρις χιλίων ἐσώθησαν. 107 Vgl. Walbank (1990), 19: „Allen kann passieren, daß sie – sogar im selben Absatz – unbemerkt von einer Bedeutung des Wortes zu einer anderen übergehen.“
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Zusammenfallen der sporadischen Ereignisse der Ökumene mit dem Telos der römischen Hegemonie. Bei Dionysios findet sich die gleiche Ablehnung der antirömischen Tendenzen, aber keine positive Konzeption der τύχη als historischer Macht, die neben den rationalen Argumenten und positiven Begründungen für den Aufstieg Roms stehen kann. Dionysios führt hierfür andere Ursachen an, die sich mit konkreten politischen Maßnahmen in Verbindung bringen lassen: In einer Passage betont Dionysios die Bedeutung der Staatseinrichtung für den Erfolg Roms. Hierbei handelt es sich allerdings um die indirekt wiedergegebene Rede des Romulus anlässlich der Einrichtung der römischen Verfassung. Romulus, der sich auch auf ältere und in der Geschichte bewanderte Männer (παρὰ τῶν πρεσβυτέρων καὶ διὰ πολλῆς ἱστορίας ἐληλυθότων) berufen habe, nennt die Grundlagen eines erfolgreichen Staatswesens: Weder die Fruchtbarkeit eines Landes, noch die Größe einer Gründung hätten Einfluss auf die Erfolge oder Misserfolge einer Stadt, allein die Form der Verfassung sei ausschlaggebend. Der kausale Zusammenhang, der hier hergestellt wird, stellt die τύχη, bzw. hier die δυστυχίαι, als letzte Folge der πολιτεία, die sich wiederum auf die ἀρεταί der Einwohner auswirke, die dann den Erfolg oder Misserfolg der Stadt zu verantworten hätten, dar.108 Dass Dionysios statt der εὔνοια der τύχη die εὔνοια der Götter an der Seite Roms sieht,109 ist in der modernen Forschung bisweilen als eine Schmälerung der Eigenleistung der Römer aufgefasst worden.110 Mit der Schilderung der Einsicht in die göttliche εὔνοια betont Dionysios aber gerade eine weitere Fähigkeit der Römer. Durch ihre εὐσέβεια, die ihr zuträglichen politischen Maßnahmen und die anderen Tugenden haben sie selbst die Grundlage dafür geschaffen, dass die Götter ihnen wohlgesonnen sind. Die göttliche εὔνοια mag im Einzelfall, bezogen auf ein konkretes Ereignis, ausschlaggebend sein und so scheinbar die Eigenleistung schmälern. Auf lange Sicht ist sie allerdings deutlich berechenbarer als die τύχη: Die εὔνοια der Götter ereignet sich nicht αὐτοµάτως oder ist Folge eines Schicksals; ebenso wenig ist sie eine undurchschaubare, auf ein erst im Nachhinein erkennbares Ziel gerichtete Macht, sie ist, besonders im Kontext des strikt reglementierten Kultwesens der Römer, einer auf die Wahrung der pax deorum ausgerichteten Gesellschaft und eines weitgehend von seinen willkürlichen Launen befreiten Pantheons, vielmehr Folge und Belohnung kluger politischer Entscheidungen und moralisch richtiger Handlungen der Vergangenheit. Die Menschen haben so gerade durch die Hilfe der Götter Einfluss auf ihre Geschichte.
108 Vgl. AR 2,3. Vgl. auch Gabba (1991), 110. 109 Vgl. neben den bereits genannten Stellen auch AR 7,12,4. 110 Zuerst m.W. bei Liers (1886), 18.
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2.4 Die µεταβολαὶ πολιτειῶν als Beispiel für den Nutzen theoretischen Wissens Oftmals findet sich die Aussage, Dionysios habe keine wirkliche Entwicklung des römischen Staatswesens beschrieben. Das ist nur zum Teil zutreffend und bedarf einer gewissen Differenzierung. Die Rahmenbedingungen in den kultischen und auf die Tugenden ausgerichteten Grundlagen der Erziehung werden tatsächlich in großen Teilen durch Romulus geschaffen,111 während Dionysios die Entwicklung der institutionellen Ebene der römischen Verfassung durchaus im Sinne der historiographischen Tradition und der in der römischen memoria seiner Zeit festgeschriebenen Abfolge der Ereignisse schildert.112 Die Erklärung der Verfassungsentwicklung bei Dionysios jedenfalls ist, wie so oft, Polybios zwar ähnlich, unterscheidet sich aber auch hier in einem wesentlichen Punkt: Die σοφία und die φρόνησις unterscheiden sich vom polybianischen λόγος, da ihre Anlage selbst im politischen Wesen der Römer durch die dafür verantwortlichen Maßnahmen des Romulus als ein geplanter Akt erscheint, während Polybios eine Entstehung der römischen Mischverfassung wie bei Lykurg auf Grund einer umfassenden theoretischen Einsicht (διὰ λόγου) ablehnt.113 Dionysios’ σοφία und φρόνησις ähneln, wie wir gesehen haben, auch der ratio bei Ciceros Laelius als Element der erzählerischen Rationalisierung, sind für Dionysios aber nicht allein ein darstellerischer Kniff, sondern explizit der wesentliche Vermittlungsinhalt der Historiographie. Bei Dionysios ist die παιδεία dafür verantwortlich, dass die Suche nach dem jeweils besten Vorbild stets durch Entscheidungsträger vorgenommen wird, die σοφία und φρόνησις besitzen. Mit anderen Worten, es sind Menschen wie er, die durch lehrreiche Geschichtswerke Bildung vermitteln, und Menschen wie seine Schüler, die dann die richtigen Entscheidungen treffen.114 Dionysios ist daher 111 Vgl. Gabba (1991) 154: „[T]he later historical phases were concentrated in or anticipated by Romulus and his independent political activity.“ Vgl. auch v. Ungern-Sternberg (1993), 93. 112 Das betont jüngst Pelling (2016), 160-1, der daher die These von der fehlenden Entwicklung ablehnt. Den Unterschied der Bereiche des Gemeinwesens treffend benannt hat Delcourt (2005), 180-5: Sie unterscheidet explizit zwischen kultisch-religiösen Grundlagen und Verfassungsentwicklung. 113 Vgl. Pol. 6,10,14. Vgl. dazu Walbank (1957), 662-3: Er hat darauf hingewiesen, dass es sich bei der Ablehnung des λόγος und der Betonung der Tatsache, dass die Römer stets im einzelnen Fall richtig entschieden hätten, um eine Unterscheidung der Methode, nicht um eine Ablehnung des λόγος generell handelt: „[T]he phrase οὐ µὴν διὰ λόγου should not be pressed, for λόγος obviously enters into the process of αἱρούµενοι τὸ βέλτιον, on which Roman success is based. […] The real contrast is between the unified plan and an empirical development, and it is not to be assumed … that P. excluded λόγος from the forces contributing to Roman development.“ Ähnlich auch K. v. Fritz (1954), 125: Für Polybios beruhe die Entwicklung der römischen Verfassung darauf, dass in den entscheidenden Situationen das Richtige erkannt und umgesetzt worden sei. 114 Zum Unterschied zu Cicero und Polybios vgl. Wiater (2011a), 180-2, der bei Polybios und Cicero allerdings m.E. hier etwas zu verkürzt eine allgemeine Ablehnung von „reasoning“ gegen die παιδεία der Römer bei Dionysios stellt.
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darum bemüht, die konkrete Entwicklung nicht allein als Folge der bekannten historischen Ereignisse, etwa der Willkür des letzten Tarquinius, der Ständekämpfe und plebejischen Selbstorganisation oder anderer Faktoren, die in der alten wie der modernen Historiographie herangezogen werden, darzustellen, sondern den konkreten Verlauf als das Ergebnis kunstgerechter und damit zugleich fachkundiger öffentlicher Reden zu beschreiben. Allgemein knüpft er auch hier an eine Tradition an, in der der Zusammenhang von Politik, Rhetorik und Geschichte nicht zu übersehen ist. H. Ryffel hat darauf hingewiesen, dass Aristoteles in seiner Rhetorik die „Kenntnis der Verfassungen insgesamt“ als einen „Topos der symbuleutischen Rede“ vorausgesetzt hat. Ryffels Interesse gilt dabei der µεταβολὴ πολιτειῶν, dem Umschlagen der Verfassungssysteme. Da Aristoteles am Ende des achten Kapitels im ersten Buch der Rhetorik explizit auf seine dahingehenden Ausführungen in der Politik verweist,115 geht Ryffel davon aus, dass die dort vorgenommenen Abhandlungen zu den Verfassungstypen, einschließlich der µεταβολή, als Bestandteile der angesprochenen „Kenntnis“ anzusehen sind.116 Grundsätzlich ist das Thema der Verfassungsumstürze ein idealtypisches Beispiel für den Einfluss rhetorischer Bildung auf die Historiographie, der sich im gemeinsamen Gegenstand, dem Politischen, begründet. Während einem in der Verfassungsdebatte bei Herodot das beinahe unglaubliche Wissen der Perser über die Vor- und Nachteile der Verfassungen und ihrer Entartungen tatsächlich im Rahmen von symbuleutischen Reden begegnet,117 überführt Polybios die klassisch sophistische Argumentation in das Modell eines natürlichen Kreislaufes. Die beiden Perspektiven auf die Sache sind zu zwei Eigenschaften der Sache selbst geworden, die ihre spezifische Dynamik bestimmen, die rhetorische Dialektik wird historisch. Bei Dionysios wird dieser Zusammenhang didaktisch erläutert: Die theoretische Kenntnis der passenden Argumentation in utramque partem erscheint als die Ursache der tatsächlichen historischen Entwicklung, weil die richtigen Argumente Einfluss auf die rationale Entscheidung nehmen können. i) Die Verfassungsdebatte anlässlich der Gründung Roms Unmittelbar nach der Errichtung der Stadtmauer und des Grabens sowie der ersten Häuser steht in der Darstellung des Dionysios die Frage nach der Beschaffenheit der zukünftigen πολιτεία an. Dionysios gibt, zunächst indirekt, eine Rede des Romulus wieder: Weder die Befestigungsanlagen noch die öffentlichen Gebäude seien für die Dauerhaftigkeit eines Gemeinwesens von ausschlaggebender Bedeutung.118 Vielmehr komme es zur Abwehr äußerer Gefahren auf die militärische Stärke (τὸ διὰ τῶν ὅπλων κράτος) und zur Wahrung des inneren Friedens auf eine bedachte und rechtmäßige Lebensführung des Einzelnen (ὁ σώφρων καὶ δίκαιος 115 116 117 118
Vgl. Arist. Rhet. 1365b-66a. Vgl. Ryffel (1949), 243-4. Vgl. Hdt. 3,80–2. Vgl. AR 2,3,1-3.
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ἑκάστου βίος) an.119 Diese und andere Tugenden jedoch seien durch die politische Einrichtung des Gemeinwesens bestimmt. Die πολιτεία sei dabei von größerer Bedeutung als die Lage der Stadt und die Zahl ihrer Einwohner. Das wisse er durch das Zeugnis älterer und erfahrenerer Männer.120 Unter den vielen Verfassungen, die es bei Griechen und Barbaren gebe, seien drei besonders empfehlenswert, von denen dennoch jede einzelne ihre Mängel habe. Daher wolle er darüber beraten lassen, ob man sich von einem Mann, wenigen oder aber vielen „Gesetze geben lassen und alles der Herrschaft der Gemeinschaft überlassen“ (νόµους καταστησάµενοι πᾶσιν ἀποδοῦναι τὴν τῶν κοινῶν προστασίαν) solle.121 Dionysios schließt an die Paraphrase der Rede die wörtlich wiedergegebene recusatio des Romulus an, er sei mit jeder Rolle, die ihm zugedacht werde, zufrieden.122 Das Gesamtvolk (πλῆθος) antwortet, eine Änderung der πολιτεία sei nicht notwendig, vielmehr sei man mit der Verfassung, die man von den Vätern übernommen habe (ὑπὸ τῶν πατέρων), zufrieden. Einerseits beruhe sie auf der größeren Weisheit der Vorfahren, andererseits habe man unter der Königsherrschaft stets die Privilegien der Freiheit und der Herrschaft über andere genossen.123 ii) Die Verfassungsdebatte anlässlich der Vertreibung der Tarquinier Noch während der Vorbereitungen für den Sturz der Tarquinier regt Brutus an, über eine Alternative zur Königsherrschaft nachzudenken. Im Anschluss daran kommt es nun zu einer tatsächlichen Debatte, die Dionysios indirekt wiedergibt. Es werden die Befürworter der Königsherrschaft genannt, ebenso die Anhänger einer Senatsherrschaft, die die Tyrannis eines Alleinherrschers fürchten und das Vorbild vieler griechischer Städte anführen. Wieder andere fürchten die Überheblichkeit (ὕβρις) und Gier (πλεονεξία) der Wenigen (ὀλίγοι), die zu Aufständen (στάσεις) führen würden, und fordern eine δηµοκρατία nach dem Vorbild der Athener, da die Rechtsgleichheit (ἰσονοµία) die sicherste der Regierungen sei.124 Nach schwieriger Beratung schlägt Brutus vor, dass man, da sich die Königsherrschaft zwar, wie die Vorbilder des Romulus und des Numa gezeigt hätten, bewährt habe, diese beibehalten solle, dabei aber ihrer inhärenten Tendenz zur Tyrannis entgegenwirken müsse. Daher solle man den Namen der Verfassung ändern und nicht mehr von einer Monarchie oder Königsherrschaft (βασιλεία) sprechen. Denn zunächst ließen die Menschen sich vom Namen einer Sache leiten. Darüber hinaus müsse man die tatsächliche Gewalt der obersten Beamten beschränken. Dazu biete sich ein Doppelkönigtum wie bei den Spartanern an. Schließlich solle man die Insignien der Macht auf Triumphe beschränken und zu guter Letzt die Annuität des Amtes als Prinzip 119 120 121 122 123 124
Vgl. ebd. 2,3,4. Vgl. ebd. 2,3,6-7. Vgl. ebd. 2,3,7. Vgl. ebd. 2,3,8. Vgl. ebd. 2,4,1. Vgl. ebd. 4,72.
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einführen, wie es auch bei den Athenern üblich sei. Den traditionellen Titel des rex (βασιλεύς) solle man auf den Oberpriester, den rex sacrorum, übertragen.125 iii) Die Rede des M. Valerius in der Auseinandersetzung über das Volkstribunat Im Verlauf der Auseinandersetzung um den Prozess des Coriolanus lässt Dionysios als Vertreter der gemäßigten Senatoren M. Valerius auftreten, der der volksfreundlichste unter ihnen sei. Dionysios beginnt mit einer indirekten Wiedergabe der Rede. Valerius betont die Bedeutung der inneren Eintracht des Gemeinwesens und rät dazu, den Prozess gegen Coriolanus stattfinden zu lassen. Die plebs würde diese Geste zu schätzen wissen und den Prozess eventuell aussetzen oder Coriolanus sogar freisprechen. Auch habe sich Valerius an Coriolan selbst gewandt: Dieser solle sich gegen die Vorwürfe verteidigen, nicht nur, um seine eigene Person zu retten, sondern auch, um die generelle Furcht der Plebejer vor einer Tyrannis durch einen Vertreter der Senatsaristokratie zu zerstreuen. Es folgt die Schilderung der drohenden Übel, auch hier werden, wie an anderer Stelle schon von Perikles gefordert, „echte Tränen“ geweint. Im Folgenden wechselt Dionysios zur direkten Wiedergabe der Rede. Valerius wendet sich nun entschlossen gegen die radikalen Vertreter seines Standes, die nicht nur den Prozess gegen Coriolan an sich für illegal halten, sondern vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung ihr eigentliches Ziel, die Abschaffung des jüngst begründeten Volkstribunats, weiterverfolgen wollen. Er stellt das Volkstribunat als ein geeignetes Mittel dar, die plebs an den Staatsgeschäften zu beteiligen und so die Eintracht der Bürgerschaft zu bewahren. Von dieser Betonung der Eintracht kommt Valerius nun zu einer theoretischen Erörterung. Es sei besser, eine aus Monarchie, Oligarchie und Demokratie gemischte Verfassung zu haben, als eine einzelne, ungemischte.126 Zunächst erwähnt Valerius, dass jede dieser Verfassungen leicht in „Überheblichkeiten und Übertretungen der Gesetze“ umschlage. Wenn allerdings alles in rechtem Maße gemischt sei, werde „der Teil, der außer sich gerät und aus der gewohnten Ordnung heraustritt“, stets durch „den mäßigenden und an seinem angestammten Ort bleibenden [Teil] zurückgehalten.“127 Die folgende Schilderung führt nun auch eine Abfolge der Verfassungen ein: µοναρχία µὲν ὠµὴ καὶ αὐθάδης γενηθεῖσα καὶ τυραννικὰ διώκειν ἀρξαµένη ζηλώµατα ὑπ’ ἀνδρῶν ὀλίγων καὶ ἀγαθῶν καταλύεται. ὀλιγαρχία δ’ ἐκ τῶν ἀρίστων ἀνδρῶν συνεστηκυῖα, ᾗ χρῆσθε καὶ ὑµεῖς νυνί, ὅταν πλούτῳ καὶ ἑταιρίαις ἐπαρθεῖσα δικαιοσύνης καὶ τῆς ἄλλης ἀρετῆς µηθένα ποιῆται λόγον, ὑπὸ δήµου φρονίµου καταλύεται. δῆµος δὲ σωφρονῶν καὶ κατὰ νόµους 125 Vgl. ebd. 4,73. 126 Ebd. 7,55,2: καὶ τὸ µὴ µίαν εἶναι τὴν διοικοῦσαν τὰ κοινὰ πολιτείαν ἄκρατον µήτ’ ὀλιγαρχίαν µήτε δηµοκρατίαν, ἀλλὰ τὴν µικτὴν ἐξ ἁπασῶν τούτων κατάστασιν, τοῦτο ὑπὲρ ἅπαντα ἡµᾶς ὠφελήσει. 127 Ebd. 7,55,3: ῥᾷστα γὰρ εἰς ὕβρεις ἀποσκήπτει καὶ παρανοµίας τούτων ἕκαστον τῶν πολιτευµάτων αὐτὸ καθ’ ἑαυτὸ γινόµενον, ὅταν δ’ ἀνακερασθῇ πάντα µετρίως, τὸ παρακινοῦν µέρος αἰεὶ καὶ ἐκβαῖνον ἐκ τοῦ συνήθους κόσµου ὑπὸ τοῦ σωφρονοῦντος καὶ µένοντος ἐν τοῖς ἰδίοις ἤθεσι κατείργεται.
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πολιτευόµενος ὅταν ἀκοσµεῖν ἄρξηται καὶ παρανοµεῖν ὑπὸ τοῦ κρατίστου ἀνδρὸς βίᾳ καταληφθεὶς δικαιοῦται. Wenn eine Monarchie grausam und anmaßend wird und beginnt, tyrannische Bestrebungen zu verfolgen, wird sie von wenigen, guten Männern gestürzt. Wann immer eine von guten Männern eingerichtete Oligarchie, so wie wir sie jetzt haben, sich durch Reichtum und Vetternwirtschaft dazu hinreißen lässt, sich von Rechtschaffenheit und den anderen Tugenden keinen Begriff zu machen, wird sie vom einsichtigen Volk gestürzt. Wenn ein besonnener und gemäß den Gesetzen herrschender Demos anfängt, ungeordnet zu werden und gegen das Gesetz zu handeln, wird er durch die Gewalt des mächtigsten Mannes wieder in die Bahnen des Rechts gezwungen.128
Es folgt ein Appell an den Senat. Die Königsherrschaft sei zum einen durch ihre Transformation in das Konsulat und die damit zusammenhängenden Maßnahmen von ihrer Tendenz befreit worden, zur Tyrannis zu entarten, zum anderen würden in Form des Senates 300 Männer darüber wachen, dass die konsularische Gewalt nicht missbraucht werde. Über den Senat aber wache niemand. Zwar wolle er an der antityrannischen Haltung der jetzigen patres nicht zweifeln, da diese ja selbst noch an der Vertreibung des Tarquinius beteiligt gewesen seien. Zukünftigen Generationen müsse man allerdings ebenfalls ein korrigierendes Element entgegenstellen, damit nicht „die Mächtigen der Senatoren heimlich das Gemeinwesen in eine tyrannische Monarchie umwandeln“. Dieses Korrektiv müsse notwendigerweise das Volk sein, das geeignete Mittel sei das Volkstribunat. Vor diesem sollten die Senatoren sich nicht fürchten. Wenn es selbst drohe, in eine Tyrannis umzuschlagen (der Umschlag in eine Tyrannis sei nämlich auch die Regel in einer Volksherrschaft), könne man das Mittel einer rechtmäßigen Diktatur anwenden, um die Ordnung wiederherzustellen.129 Dionysios’ römische Staatsmänner sind also etwas, das es nach Hegel nicht geben dürfte: Politiker, die aus der Geschichte lernen. Die Beispiele zeigen, dass sich ihr politisches Wissen offenbar aus zwei Quellen speist, nämlich aus der Kenntnis politischer Theorie und konkreter historischer Beispiele. Sie sind in der Lage, beides auf die gegebenen Verhältnisse anzuwenden, und zwar mit Erfolg. Das ist zum einen sicher eine Zurschaustellung von σοφία und φρόνησις, ein Hinweis darauf, dass eine bewusste Rezeption der idealen Vorbilder die Grundlage des römischen Gemeinwesens ist. Zugleich ist es eine paradigmatische Vorführung der Macht der politischen Rede im öffentlichen Raum. Dionysios veranschaulicht hier die Wirkung historischer Beispiele und politischer Theorie in der Praxis, also im Hinblick auf die konkrete Funktion, die er ihnen als den Vermittlern seines historisch-politischen Ideals zuspricht.
128 Ebd. 7,55,3-4. 129 Vgl. ebd. 7,55,5.
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2.5 Die nicht ganz perfekte Mischverfassung und die Grenzen der Vernunft Wir haben gesehen, dass Dionysios bereits das frühe Rom als einen Staat mit stark idealisierten Zügen darstellt und dass seine Art der Darstellung im Widerspruch zu den gängigen Darstellungen der Historiographie und politischen Theorie seiner Zeit steht. Tatsächlich lässt sich eine formal-institutionelle Entwicklung der res publica aber, wie eben zu sehen war, auch bei Dionysios ausmachen. Hier soll nun erörtert werden, wie Dionysios, in der Rolle dessen, der es im Nachhinein besser weiß, das politische Ideal, das sein Vorgänger und Konkurrent Polybios als Erklärungsmuster für den Erfolg und die Stabilität Roms etabliert hat, zum einen dieser Funktion als wichtigster Bedingung des römischen Erfolges enthebt, und zugleich einen Hinweis auf die Begrenztheit der ὀρθὴ δόξα und der φρόνησις als menschlicher Eigenschaften gibt. Polybios’ berühmte Übertragung der Idee der gemischten Verfassung auf Rom, auf die auch die Rede des Valerius, die im vorigen Abschnitt vorgestellt wurde, zurückgeht, beruht auf der Idee eines Verfalls der klassischen Verfassungen Monarchie, Aristokratie und Demokratie zu Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie, wie sie sich in ähnlicher, aber doch anders ausgerichteter Form bereits bei Platon und Aristoteles findet. Die aristotelische Idee einer Mischung der gesellschaftlichen Teile, die dort eine Mischung nach charakterlicher Qualität und der durch die Besitzverhältnisse geleiteten Interessen anstrebt, überträgt auch Polybios auf die Ebene der politischen Repräsentation. In Rom sieht er die Konsuln als das monarchische, den Senat als das aristokratische, die Volksversammlungen schließlich als das demokratische Element. Da der Verfall der Verfassungen normalerweise unaufhaltsam in einen Kreislauf mündet, ist diese Mischverfassung das ideale Mittel, diesen Kreislauf, die Anakyklosis, aufzuhalten.130 Die Frage nach der Rolle der Anakyklosis im Geschichtsdenken und der konkreten Darstellung der Entwicklung der römischen Verfassung bei Polybios ist in der modernen Forschung vor allem hinsichtlich zweier Probleme diskutiert worden. Dabei handelt es sich zum einen um die Frage nach dem Verhältnis der Theorie der Anakyklosis zur Entstehung der Mischverfassung, konkret, der Frage, wie sich aus einem als geschlossen dargestellten Kreislauf überhaupt die Mischverfassung hat entwickeln können. Zum anderen ist die Frage nach dem Verhältnis zum von Polybios ebenfalls beschriebenen Naturgesetz von der Entstehung, dem Höhepunkt und Verfall gesellschaftlicher Systeme problematisiert worden. Hier ist insbesondere diskutiert worden, ob das Naturgesetz sich im Kreislauf der Verfassungen in solcher Weise niederschlage, dass die Mischverfassung selbst als die ἀκµή zu verstehen sei – der Anakyklosis oder einer konkreten Gesellschaft –, oder sie aber, so wie die anderen, ungemischten Systeme, selbst eine ἀκµή und damit auch ein Ablaufdatum habe. Generell ist hierbei auch auf einen angeblichen Widerspruch zu
130 Vgl. Pol. 6,1-9; Arist. Pol. 1278b-79b; 1293b-94b.
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der Aussage über die Stabilität der Mischverfassung hingewiesen worden.131 Es ist bis heute schwierig, hinsichtlich dieser Problematiken von so etwas wie einer opinio communis zu sprechen. Allgemein ist oftmals darauf hingewiesen worden, dass man es nicht als Ziel des Polybios ansehen müsse, eine in jeder Hinsicht geschlossene und widerspruchsfreie „Geschichtsphilosophie“ zu entwerfen.132 Die Theorie der Reihenfolge der Verfassungen, die auch bei Dionysios – in der Rede des Valerius – sowohl den theoretischen Hintergrund für die Idee der Mischverfassung als auch eine Entwicklungsprognose darstellt, ist einerseits zwar deutlich an Polybios’ Modell der Anakyklosis orientiert, vermeidet dabei aber die beiden Probleme, die zumindest die moderne Forschung dem Modell bei Polybios attestiert hat, und die unmittelbar aus der Vorstellung letztlich unabwendbarer historischer Naturgesetze folgen. Bei Dionysios findet sich nämlich eine explizit historische Erklärung, die der Frage nach der Möglichkeit eines Ausbruchs aus dem Kreislauf begegnet, indem sie die Entwicklung der Mischverfassung vor dem Hintergrund der zuvor geschilderten theoretischen Abfolge gewissermaßen als einen römischen Sonderweg erläutert: Die vorhergehenden Stadien werden nicht vollkommen ersetzt, sondern in die nächst höhere Stufe eingegliedert, der Kreislauf wird nicht durchbrochen, sondern zum Stillstand gebracht – eine Erklärung, die ja auch für Polybios wiederholt vorgeschlagen worden ist.133 Die zweite Problematik, die Frage, ob der Mischverfassung selbst ein Untergang durch das Naturgesetz beschieden sei, erscheint komplexer. Ausgehend davon, dass Polybios mit dem Hinweis auf das Naturgesetz den Verfall auch der römischen Mischverfassung habe voraussagen wollen, hat P. Martin in der Konzeption der römischen πολιτεία bei Dionysios einen generellen Gegenentwurf zu Polybios gesehen: Dionysios wolle mit seiner starken Betonung der Gräzität Roms als 131 Hierzu grundlegend Walbank (1957), 645-8, der das Naturgesetz durch die Idee der Mischverfassung als ἀκµή mit der Theorie der Anakyklosis in Verbindung gebracht sieht. Dagegen hat sich Eisenberger (1982), 44-58 gewendet, der darauf hinweist, dass die Mischverfassung selbst nicht als ἀκµή bezeichnet werde, sondern vielmehr in sich selbst dem Naturgesetz unterworfen sei, also selbst eine ἀκµή und eine µεταβολή habe (45). Vgl. auch Blösel (1998), 31-57 mit weiterer Literatur. 132 Vgl. Alonso-Núñez (1986), 21: „The anacyclosis of Polybius is an outstanding characteristic of Greek political thinking, and though it sounds like a pure philosophical speculation it was designed by Polybius in function of the historiography. The anacyclosis, thus, has philosophical roots, but it serves historiographic aims, which explains its eclecticism and contradictions when it becomes inserted in the historical narration by Polybius.“ Ähnlich, mit dem Hinweis darauf, dass die Anakyklosis selbst ein erklärendes Element ist Petzold (1977), 278-9; Erbse (1957), 275: „[S]ie [die Kreislauflehre] hat die Aufgabe, die erstaunliche Leistungsfähigkeit der römischen Mischverfassung zu erklären.“ Vgl. auch Eisenberger (1982), 58, der betont, dass zumindest an einigen Stellen die „drei verschiedene[n] Ideen – Anakyklosis, Mischverfassung, Lebensprozess – nicht ohne unbewußte Brüche in der Logik miteinander verbunden“ seien. Auch Walbank (1957), 648, der ja ein relativ geschlossenes Modell annimmt, weist darauf hin, dass in der Unterbrechung des Naturgesetzes der Anakyklosis durch die Mischverfassung selbst ein Widerspruch bestehe, „but one which lies within P.’s rather complicated theorizing in a realm in which he was not a real master“. 133 Vgl. Blösel (1998), 56 mit Hinweisen auf Vorgänger, etwa v. Fritz und Walbank.
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Grundlage des Erfolges dem auf den Untergang hinweisenden Anakyklosismodell des Polybios eine Roma aeterna entgegenstellen, wie sie sich auch in der augusteischen Propaganda finde. Martin verweist auf die Bemerkung Carys, dass im Prinzip die gesamten Antiquitates als Darstellung der römischen πολιτεία gelten könnten, der Begriff also weniger die Verfassungen als das Gemeinwesen als Ganzes bezeichne. Martin setzt die Anakyklosis mit dem Naturgesetz weitgehend gleich bzw. sieht in der Mischverfassung den Höhepunkt der Anakyklosis, die die römische Verfassung bei Polybios in einer Sonderform durchlaufen habe, und schließt daraus, dass ein Ende der Mischverfassung gleichbedeutend mit dem folgenden Niedergang Roms im Ganzen sei – weshalb Dionysios die Idee der Anakyklosis ablehnen müsse.134 Diese Auffassung scheint erläuterungsbedürftig. Gerade die von Martin treffend bemerkte Tatsache, dass für Dionysios Roms Größe nicht in erster Linie durch die institutionelle Beschaffenheit der πολιτεία begründet ist, hat zur Folge, dass für Dionysios auf der Ebene der Verfassungsentwicklung durchaus ein Untergang auch der Mischverfassung denkbar ist, der dann aber keinesfalls den Untergang der Gesellschaft im Ganzen, des unendlichen Rom, implizieren muss. So wäre es wohl treffender, in Dionysios’ Konzeption der Dauerhaftigkeit Roms eine Ablehnung des polybianischen Naturgesetzes und weniger der Theorie der Anakyklosis zu sehen, da diese sich eben nur auf die Ebene der politischen Institutionen bezieht und nicht auf die tatsächlich ausschlaggebenden und den weiteren Verlauf der Entwicklung determinierenden idealen Grundeinrichtungen des Staatswesens, wie Dionysios sie annimmt. Für Dionysios ist also das Ende der Mischverfassung zu verschmerzen. Und noch mehr: Es ist zu seiner Zeit bereits gesellschaftliche Realität. Selbst wenn man der Propaganda der res publica restituta folgt, ist das Jahrhundert der Bürgerkriege ein Argument gegen die Vorstellung, dass diese Form der römischen Verfassung hätte ewig andauern können. Er scheint daher auch das Ende der Mischverfassung nicht durch einen allumfassenden Pessimismus zu begründen, der ja, wie das polybianische Beispiel zeigt, dazu neigt, auf sämtliche Bereiche der gesellschaftlichen Entwicklung überzugreifen und in der Tat einer Roma aeterna nicht gut zu Gesicht stünde. Dafür weist er aber auf ein allgemeines Problem der Mischverfassung hin, das ihren Untergang auf einer systemimmanenten Ebene begründet. Dabei verwirft Dionysios das Modell der Anakyklosis keinesfalls, stellt es aber als ein rein politisches Gesetz dar, das seine Dynamik eben nicht einem äußeren, natürlichen Gesetz vom Werden und Vergehen, sondern allein den jeder Gesellschaft innewohnenden Spannungen verdankt. Folgerichtig wird auch die Mischverfassung selbst nicht durch ein allgegenwärtiges Naturgesetz bedroht. Vielmehr sind es konzeptionelle Probleme der Mischverfassung, der Anakyklosis wirkungsvoll zu begegnen. So 134 Vgl. Martin (1993), 204-5, der in der von Dionysios in 1,90,2 versprochenen Schilderung der römischen Verfassung im Zusammenhang mit dem Hinweis darauf, dass Rom nicht erst nach dem Fall Karthagos seinen kulturellen Höhepunkt erreicht habe, eine direkte Entgegnung auf Polybios sieht. Martin verweist auf den Hinweis Carys ad loc., dass nicht allein die von vielen Herausgebern als Einlösung dieses Versprechens gewertete Schilderung des Festumzuges in 7,70f., sondern vielmehr sämtliche weiteren Bücher als Darstellung der kulturellen Eigenschaften des römischen Staatswesens gesehen werden müssten.
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führt Dionysios’ Valerius zumindest in der historiographischen Theorie neue, bei Polybios und Herodot unerwähnte µεταβολαί in die Diskussion ein. Die Tyrannis, die schlimmste der Verfassungen, droht nicht nur durch eine Entartung des Königtums, auch Demokratie und Oligarchie bergen die Gefahr einer Entartung zur Tyrannis.135 Damit ist die Stabilität der Mischverfassung aufgehoben. Der Hinweis auf die Gefahr, dass eine spätere factio von Mächtigen mit Einfluss auf den Senat das Staatswesen in eine tyrannische Monarchie umwandelt könnte, nimmt somit in gewisser Hinsicht die reale Entwicklung voraus, ebenso wie die explizite Erwähnung der Diktatur.136 Tatsächlich scheint sich in der Darstellung der Mischverfassung durch Valerius also abzuzeichnen, dass in ihrem Gefüge der Keim des Unterganges bereits angelegt ist. Damit zeigen sich hier die Möglichkeiten und zugleich die Grenzen der menschlichen Planung und damit auch von παιδεία und φρόνησις an einem perfekten Beispiel, dem der römischen res publica, deren Erfolg historisch ebenso bedeutend ist, wie es die Schrecken ihres Unterganges sind. Die Rede des Appius Claudius, die der des Valerius über die Mischverfassung vorausgeht und die sich gegen die Neuerung des Volkstribunats ausspricht, erscheint so als Vorahnung: πολλὰ δ’ ἐστίν, ὧν οὐ δύναται στοχάσασθαι λογισµὸς ἀνθρώπινος. Hierin besteht das Leitmotiv der Rede, in der er sich auf die aus seiner Sicht schlechten Erfahrungen mit der plebs beruft.137 Wesentlich allerdings ist, dass die Grundlagen, die zur Mischverfassung geführt haben, den Römern nach wie vor zur Verfügung stehen, wenn sie denn aus der Geschichte lernen. 3 DIE WIRKUNG VON REDEN In der Diskussion über Dionysios’ historiographische Reden ist vor allem der Frage nach den inhaltlichen und stilistischen Vorbildern Aufmerksamkeit gewidmet worden, die Bewertung ist in der älteren Literatur ebenfalls meist vernichtend ausgefallen. Sowohl der Aufbau der Reden selbst als auch ihre schiere Zahl und Länge scheinen den Vorwurf der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ bestens zu bestätigen:138 Ab dem sechsten Buch, nach der ausführlich geschilderten Niederschlagung
135 In der Philosophie ist die Idee der Entartung der Demokratie zur Tyrannis, die Dionysios als eine Regel beschreibt, altbekannt. Platon schildert in seinem Ablauf des Verfassungsverfalls explizit die Demokratie als die Vorstufe der Tyrannis, vgl. Plat. Rep. 562-566d. 136 Vgl. zur Diktatur Gabba (1991), 205 und 208. 137 Vgl. AR 7,50,2. 138 Vgl. Schwartz (1903), 938: „Die Reden sind der Teil des dionysischen Geschichtswerkes, auf den er den grössten Wert gelegt, die meiste Mühe verwandt hat, und der seine schriftstellerische Unfähigkeit in hellstem Licht zeigt.“ Eine Untersuchung der unmittelbaren stilistischen Vorbilder hat Fierle (1890) vorgenommen. Schwartz ebd., bemerkt dazu, dass eine Untersuchung der Einflüsse des Isokrates noch fehle. Auch hinsichtlich der „Dispositionsschemata“ könne eventuell noch „etwas heraus“ gebracht werden. Allerdings müsse man für eine solche Aufgabe die „nötige Entsagung“ besitzen.
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der tarquinischen Restaurationsbemühungen, nehmen Reden über die Hälfte des Textes ein.139 Dionysios begründet seine umfangreiche Schilderung von Reden und ihrer Begleitumstände im siebten Buch der Antiquitates damit, dass man in den Reden die zentrale Begründung des Erfolges der Stadt sehen müsse, da sie die Ursachen dafür seien, dass bestimmte Ereignisse sich eben auf eine bestimmte Weise zutragen.140 Die Betrachtung von Reden als Handlungen mit konkreten Auswirkungen und damit als Taten, die Wertung also von λόγοι als ἔργα, ist ein bekanntes Motiv. Auch die Betonung des Zusammenhangs der Reden mit ihren Ursachen und Wirkungen ist bekannt, besonders betont sie Polybios. Er bemerkt, Reden seien nur dann nützlich, wenn man sie, ebenso wie Taten, der Wirklichkeit entsprechend wiedergebe und zudem die Ursachen und Auswirkungen schildere.141 Dionysios variiert auch dieses Thema scheinbar nur leicht, aber mit einer wesentlichen Konsequenz. Dabei greift er auch die Forderung nach der inneren Begründung des Erfolges oder Misserfolges, wie Polybios sie ebenfalls betont, auf:142 Die Schilderung der Ereignisse sei, so Dionysios, nur nützlich, wenn man ihre Ursachen nenne – und das seien oftmals eben Reden. Durch die Qualifizierung der Reden als αἰτίαι rechtfertigt er deren Erfindung: Der paradigmatische Nutzen des Geschilderten kommt nur so zustande. Darüber hinaus aber wird deutlich, dass die Rede für Dionysios eben nicht eine Begründung unter vielen ist: Die einzelne Rede ist als spezifischer Anlass bestimmter Ereignisse zugleich Ausdruck der Bedeutung der Macht des Wortes als tieferliegender Ursache des Erfolges einer Gesellschaft.143 Im Folgenden soll diskutiert werden, wie Dionysios seiner Leserschaft diese Funktion politischer Reden in seinem historiographischen Werk paradigmatisch zu veranschaulichen versucht. Abschließend wird die Frage nach der Form zu klären 139 Vgl. dazu Sautel (2015), 53. Die grundlegende Diskussion über die Historizität von Reden in antiken Geschichtswerken, die etwa in der Diskussion über Thukydides und Polybios eine große Rolle spielt, ist im Falle des Dionysios kaum geführt worden. Eine Ausnahme ist Wiseman (1979), 51-2, der davon ausgeht, dass für Dionysios die Reden wahr gewesen seien, wenn sie die rhetorischen Kriterien erfüllt hätten und damit wahrscheinlich seien, außerdem geht er davon aus, dass Dionysios einiges tatsächlich in seinen Quellen gefunden hat, vgl. dazu auch ebd. Anm. 57. Dass auch die Quellen, aus denen die Historiographen der frühaugusteischen Zeit schöpften, zumindest für den aus antiker Perspektive als historisch angenommenen Zeitraum nach der Gründung Roms Reden enthielten oder zumindest paraphrasiert haben dürften, zeigt sich anhand einiger Beispiele, in denen Livius und Dionysios übereinstimmende Reden bzw. Paraphrasen wiedergeben. Ein prominentes Beispiel ist die Rede des Menenius Agrippa anlässlich der ersten secessio plebis, angeblich im Jahre 494 v.Chr. Dionysios berichtet, dass diese Rede in „allen alten Geschichtswerken“ überliefert sei. 140 Vgl. AR 7,66. 141 Vgl. Pol. 12,25b2. 142 Vgl. Pol. 12,25b1; i8; Liers (1886), 14–5. 143 Vgl. Gabba (1991), 47; Kefallonitis (2008), 203: „Sa démonstration est motivée par le souhait de se faire comprendre de son lecteur, mais aussi par la volonté de souligner l’importance souvent négligée des discours en tant que facteurs historiques à part entière, ce dont les événements rapportés dans le livre VII offrent justement une parfaite illustration.“ Und: „[L]e livre VII illustre … la façon dont les discours des anciens Romains ont eu une influence décisive sur le cours de l’histoire“.
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sein, in der Dionysios auch die unmittelbare Art und Weise der Wirkung gelungener politischer Reden beschreibt. 3.1 Dionysios’ didaktische Kommentierung von Reden Ein Beispiel für Dionysios’ Praxis, der Leserschaft eine mehr oder weniger unvermittelte Deutung der von ihm wiedergegebenen Reden hinsichtlich technisch-rhetorischer Aspekte zu geben, ist seine Version der berühmten Rede des Menenius Agrippa anlässlich der ersten secessio plebis. Während Livius die Geschichte von der gegenseitigen Abhängigkeit des Bauches und der übrigen Körperglieder allgemein als ein in seiner schlichten Form archaisches Gleichnis charakterisiert, das der damaligen „altertümlichen und einfachen Art zu reden“ entsprochen habe,144 verweist Dionysios explizit auf den Ursprung der Fabel und gibt eine Begründung für ihre Auswahl: ὁ δὲ τά τε ἄλλα, ὡς οἷόν τε ἦν, πιθανωτάτοις ἔδοξε χρήσασθαι λόγοις καὶ τοῦ βουλήµατος τῶν ἀκουόντων ἐστοχασµένοις, τελευτῶν δὲ τῆς δηµηγορίας λέγεται µῦθόν τινα εἰπεῖν εἰς τὸν Αἰσώπειον τρόπον συµπλάσας πολλὴν ὁµοιότητα πρὸς τὰ πράγµατα ἔχοντα, καὶ τούτῳ µάλιστ’ αὐτοὺς ἑλεῖν· ὅθεν καὶ µνήµης ἀξιοῦται ὁ λόγος καὶ φέρεται ἐν ἁπάσαις ταῖς ἀρχαίαις ἱστορίαις. Allgemein scheint es, dass er Worte benutzt hat, die so überzeugend waren, wie nur irgend möglich, und die sich auf den Plan der Zuhörer richteten (ἐστοχασµένοις). Und als er zum Ende der Volksrede kam, sagt man, habe er einen Mythos erzählt, den er in der Art und Weise Äsops gestaltet habe und der eine große Nähe zu den Umständen gehabt habe, und [das Volk] hauptsächlich dadurch gewonnen. Daher wird die Rede als erinnerungswürdig erachtet und in allen alten Geschichtswerken überliefert.145
Neben dem Hinweis auf Äsop, von dem in der Tat eine ganz ähnliche Fabel überliefert ist, sind hier die Hinweise des Dionysios interessant: Er ordnet die Rede zunächst in eine bestimmte Kategorie, die der δηµηγορία, der Volksrede, ein. Außerdem gibt er die Gründe für ihren Erfolg an, ihre Entsprechung zu den πράγµατα, vor allem die gelungene Ausrichtung des Arguments auf die Absichten der Zuhörer. Gerade dieser nach allen Regeln der rhetorischen Kunst ausgewählte Mythos sei der Grund des Erfolges der Rede und ihrer Würdigung und Überlieferung durch die Geschichtsschreibung. Die Hinweise auf die formalen Kriterien der Rede sind dabei aber nicht allein als didaktische Kommentare zu verstehen. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit Dionysios’ Konzeption der Rede als historischer αἰτία. Die Rhetorik bietet, wenn sie die Fähigkeit wirkungsvoll zu sprechen lehrt, die Möglichkeit, aktiv in den Verlauf der Geschichte einzugreifen, und die Geschichtsschreibung muss derartiges überliefern. Neben seinen expliziten Kommentaren veranschaulicht Dionysios die Funktion von Reden als αἰτίαι auch anhand der Darstellung ihrer Folgen. Gerade diejenigen Fälle, in denen Dionysios eine missratene Rede als Ursache für ein politisches oder 144 Vgl. Liv. 2,32,8: … prisco illi dicendi et horrido modo … 145 Vgl. AR 6,83,2.
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militärisches Verhängnis angibt, entfalten eine besondere Wirkung. Hier wird der Charakter der Rede als historische αἰτία besonders deutlich, vor allem aber die Notwendigkeit, den Kriterien und Anforderungen der politischen Rede gerecht zu werden, damit ihre Fähigkeit, als beeinflussbare historische Ursache den Verlauf der Geschichte günstig zu bestimmen, sich erfüllt. Ein Beispiel für dieses Vorgehen findet sich in einer Rede des Coriolanus im siebten Buch.146 Im Verlaufe der Auseinandersetzungen über die Rechtfertigung und Zulässigkeit der Anklage gegen Coriolanus – seine ärgsten Gegner aus dem plebejischen Lager beabsichtigen, ihn wegen der Aufwiegelung zum Bürgerkrieg und später sogar wegen des Strebens nach der Tyrannis zum Tode,147 mindestens aber zum Exil zu verurteilen –148 wird er von Sicinius, dem Wortführer der Tribunen, provoziert und aufgefordert, sich zu entschuldigen, damit er eine geringere Strafe erhalte.149 Coriolanus springt darauf an und betont erneut die Gesetzlosigkeit der plebejischen Anklage. Am Ende der indirekt wiedergegebenen Rede äußert Dionysios sein eigenes Urteil über ihre Beschaffenheit: προσῆν δ’ αὐτοῦ τοῖς λόγοις οὐχ ὡς πολιτευοµένου150 δῆµον ἀναδιδάσκοντος εὐλόγιστος αἰδώς, οὐδ’ ὡς ἰδιώτου πολλοῖς ἀπεχθοµένου σώφρων εὐλάβεια πρὸς τὰς τοῦ κρατοῦντος ὀργάς, ἀλλ’ ὡς ἐχθροῦ προπηλακίζοντος ἀδεῶς τοὺς ὑπὸ χεῖρας ἄκρατός τις χολὴ καὶ βαρεῖα τοῦ κακῶς πάσχοντος ὑπεροψία. In seinen Worten waren weder berechnende Ehrfurcht, wie die eines politischen Redners, der das Volk anleitet, noch die bedachte Vorsicht eines von der Menge verachteten Privatmannes im Angesicht der Wut seines Souveräns, sondern eher ein unbeherrschter Zorn, wie der eines Feindes, der die in seiner Gewalt stehenden unbekümmert beschimpft, und strenge Verachtung gegenüber dem, der Schlechtes erleidet.151
Dionysios nennt also zwei Beispiele, die seines Erachtens der Situation, der Person des Coriolanus und der Zuhörerschaft eher angemessen wären, nämlich die Rede eines politischen Führers, der den Demos anleitet bzw. des angeklagten Privatmannes, der dem Zorn der Öffentlichkeit zu entgehen versucht, und charakterisiert die Rede des Marcius Coriolanus vor diesem Hintergrund als unpassend: Damit habe er bereits durch die Anlage seiner Rede den gewünschten Erfolg, eine Aussetzung des Verfahrens, verfehlt, ja die Lage noch verschlimmert. Die erzürnten Plebejer versuchen, Coriolanus auf den Tarpejischen Felsen zu verschleppen, allein durch
146 Zur Coriolanus-Episode und ihren modernen Deutungen und Rationalisierungen vgl. Cornell (2003). 147 Vgl. AR 7,58,1. Dionysios berichtet, die Tribunen hätten sich auf die Klage wegen Anstrebens der Tyrannis geeinigt, da sie sich nicht auf konkretere Anklagepunkte hätten einigen können. Formuliert wird der Vorwurf des Strebens nach der Tyrannis zunächst in der Rede des Tribunen Decius, vgl. 7,40-6, insb. 45-6. 148 AR 7,25. 149 Vgl. 7,34,2. Auch die Provokation des Sicinius wird von Dionysios als eine solche dargestellt. Sicinius habe den Charakter (τρόπος) des Marcius richtig eingeschätzt und somit die gewünschte Reaktion hervorgerufen: ὅπερ καὶ συνέβη. 150 Cary πολιτευοµένου: Jacoby πολίτου. 151 AR 7,34,5.
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das Einschreiten der Konsuln kann das verhindert werden; es kommt zu weiteren Ausschreitungen, die Affäre um Coriolanus nimmt ihren verhängnisvollen Lauf.152 Die Besonderheit der Kommentare des Dionysios zur Beschaffenheit der Rede wird deutlich, wenn man sich die Darstellung der Coriolangeschichte bei Livius vergegenwärtigt. Schon der äußere Umfang der Schilderung unterscheidet sich, wie so oft, deutlich: Livius widmet der Geschichte vom Beginn der Auseinandersetzungen über die cura annonae bis zum Exil des Coriolanus zwei Kapitel (2,33–34), Dionysios verfolgt die Episode über gut zwei Drittel des siebten Buches (7,21– 65).153 Dass Dionysios die umfangreichen Reden, die über das, was Livius berichtet, hinausgehen, selbst komponiert hat, ist, ebenso wie die Annahme einer weitgehenden Abhängigkeit Plutarchs von der Schilderung des Dionysios, communis opinio.154 Am Anfang der Auseinandersetzung, deren eigentlicher Hintergrund das Ansinnen „vieler Senatoren“ ist, die Lebensmittelknappheit als Druckmittel gegen die Plebejer einzusetzen und so das neu eingerichtete Volkstribunat wieder abzuschaffen, steht auch bei Livius eine Rede des Coriolanus, in der dieser ein Entgegenkommen gegenüber den Plebejern hinsichtlich der Problematik der hohen Kornpreise ablehnt und ihnen selbst die Schuld zuspricht, da sie bei der secessio das Getreide geplündert hätten.155 Livius bemerkt, dass „sogar dem Senat“ die Position des Coriolanus „zu hart“ gewesen sei und die plebs sich in der Folge bewaffnet und seine Auslieferung gefordert hätte, wenn die Tribunen keinen Gerichtstermin anberaumt hätten.156 Die weitere Eskalation des Konfliktes beschreibt Livius in wenigen Zeilen. Er erwähnt, dass Coriolanus die „Drohungen des Volkes mit Verachtung“ angehört und seine Meinung, wonach sich die Kompetenzen der Volkstribunen allein auf das auxilium beschränken, geäußert habe. Zur Verhandlung schließlich sei er nicht erschienen, das Urteil der Verbannung in seiner Abwesenheit gefällt worden. Die Äußerung über die „Verachtung“ des Coriolanus gegenüber den „Drohungen“ der plebs und ihre Reaktionen werden bei Livius ohne jegliche Anspielung auf eine in technischer Hinsicht misslungene Rede geschildert. Unmittelbarer Anlass für den Aufruhr ist nicht die Form, in der Marcius sich äußert, sondern seine zu Beginn der Krise geäußerte sententia, seine selbst in den Augen des Senats extreme Position.157 Während bei Livius das Verhalten Coriolans ebenso wie die Reaktion der plebs ein direkter Ausdruck unversöhnlicher politischer Haltungen sind, stellt Dionysios 152 Vgl. ebd. 7,35–65. 153 Vgl. Kefallonitis (2008), 197-201. Sie weist darauf hin, dass Dionysios im siebten Buch die erzählte Zeit deutlich ausdehnt, und hier lediglich drei Jahre in einem Buch beschreibt, wobei etwa zwei Drittel auf das Jahr 491 entfallen, in dessen Kontext wiederum etwa 64% direkte oder indirekte Rede sind. 154 Vgl. Cornell (2003), 75, insb. Anm. 6 und 7. 155 Vgl. Liv. 2,34,10. 156 Vgl. ebd. 2,35,1. 157 Vgl. Pabst (1969), 144-9, der bei Livius die Darstellung Coriolans und seines individuellen Radikalismus betont, welcher auch die Haltung des Senates beeinflusse, der sich nur zurückhaltend und aus Standesinteresse mit ihm solidarisiert habe.
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diesen Gegensatz noch nicht als hinreichend für die Eskalation der Lage dar. Es bedarf zum einen der kalkulierten Provokation durch Sicinius, den Dionysios als einen gefährlichen Demagogen und als in der politischen und rhetorischen Kunst geschult charakterisiert, und der daher in der Lage ist, den τρόπος Coriolans richtig einzuschätzen.158 Aber selbst der gekränkte Stolz Coriolans, der es ihm nach Darstellung des Dionysios unmöglich macht, sich bei den Plebejern zu entschuldigen, hätte eventuell eine andere, angemessenere Form des Ausdrucks finden können: Hätte er eine passendere Form der Gegenrede gewählt, wäre die geforderte Entschuldigung überflüssig gewesen. Auffällig ist, dass Dionysios die entscheidende Rede des Coriolanus nicht wörtlich wiedergibt. Ein ähnliches Beispiel, ein kritischer Kommentar zu einer nicht direkt wiedergegebenen Rede, findet sich auch anlässlich eines Beitrags des jüngeren Appius Claudius anlässlich eines Gesetzesvorschlages der Volkstribunen, die plebejischen Ädilen tributim und nicht, wie üblich, in den Kurien zu wählen und das Gesetzgebungsverfahren künftig generell in diesem Modus stattfinden zu lassen.159 Diese Rede wird von Dionysios nicht einmal paraphrasiert, lediglich sein Urteil über ihre Form und Wirkung gibt er zum Besten. Appius habe gesprochen, nachdem es seinem Kollegen Quintius beinahe schon gelungen sei, den Streit zu schlichten. Appius’ Rede habe diesen Erfolg zunichtegemacht: οὐ γὰρ ὡς ἐλευθέροις τε καὶ πολίταις ὁ ἀνὴρ διαλεγόµενος, οἳ τοῦ θεῖναι τὸν νόµον ἢ λῦσαι κύριοι ἦσαν, ἀλλ’ ὡς ἐν ἀτίµοις ἢ ξένοις ἢ µὴ βεβαίως ἔχουσι τὴν ἐλευθερίαν ἐξουσιάζων. Der Mann sprach nicht wie zu Freien, die das Bürgerrecht besitzen und die Herren über die Annahme oder Ablehnung des Gesetzes waren, sondern als ob er seine Macht gegenüber Ehrlosen und Fremden, die sich der Freiheit nicht sicher sein können, behaupten würde.160
Erneut ist die Folge eine Eskalation der inneren Konflikte, erneut ist die Ursache eine Rede, die der Situation und dem Publikum nicht angemessen ist, und deren Wortlaut Dionysios der Leserschaft vorenthält. Das veranschaulicht die unterschiedlichen Ebenen der παραδείγµατα, die Dionysios geben will: Die Episoden sind Lehrstücke über den Schaden, den unangemessene Reden anrichten können. Die bieten daher in ihrer Form selbst kein nachahmenswertes Vorbild und müssen auch nicht auskomponiert werden.
158 Dass Sicinius sein Geschäft versteht, zeigt sich auch bei seiner Anklagerede im Verfahren gegen Coriolanus: διέθετο τὴν κατηγορίαν Σικίννιος ἐκ πολλῆς ἐπιµελείας καὶ παρασκευῆς (AR 7,61,3). 159 AR 9,41,2: µετάγων αὐτὰ [die Wahl der Tribunen] ἐκ τῆς φρατριακῆς ψηφοφορίας, ἣν οἱ Ῥωµαῖοι καλοῦσιν κουριᾶτιν, ἐπὶ τὴν φυλετικήν. Dionysios beschreibt den Unterschied ebd. 41,3 dadurch, dass im zweiten Falle weder ein προβούλευµα noch Auspizien notwendig seien. Der Nachtrag, dass dieses Prozedere durch die neue lex als ein genereller neuer Weg zur Gesetzgebung eingeführt und auch die plebejischen Ädilen auf diesem Wege gewählt werden sollen, folgt mit der Neuauflage des Gesetzes im Folgejahr in Kapitel 43,4. 160 Vgl. ebd. 9,44,6.
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3.2 Nicht-sprachliche πίστεις: Theatralische Inszenierung oder Mittel der psychologischen Manipulation? Bei den Appii Claudii, auch in der römischen Historiographie meist als senatorische Hardliner gezeichnet, handelt es sich hinsichtlich ihrer Veranlagung zur überzogenen Polemik bekanntermaßen um hoffnungslose Fälle. Coriolanus hingegen, dessen misslungene Rede in der Darstellung des Dionysios einen entscheidenden Beitrag zur Exilierung und zum daraus resultierenden Rachefeldzug gegen Rom leistet,161 hat ‒ scheinbar ‒ mehr Glück und bekommt eine zweite Chance: Als bereits alles zu spät zu sein scheint, er sich mit seinem Gefolge im Feldlager bei Tusculum befindet und sich nicht mehr in der Lage wähnt, seine volskischen socii zur Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen, kommt seine Mutter Veturia nach Beschluss des Senates und des Volkes zu ihm und hält eine ausufernde Rede, die sie mit einer Art Rhetorikunterricht für ihren Sohn beginnt. Um die Römer, die sie ja geschickt hätten, solle er sich keine Sorgen machen. Sofern der Vertrag keine Ungerechtigkeiten enthalte, würden die Römer zustimmen, freilich nur, wenn sie „durch Wort und Bitte überzeugt“ würden (λόγῳ καὶ παρακλήσει πειθόµενοι).162 Für die Überredung der Volsker aber gibt sie zuallererst folgenden Ratschlag: Der Erfolg sei dann sicher, ἐὰν διδάσκῃς αὐτούς, ὅτι πᾶσα µὲν εἰρήνη παντός ἐστι πολέµου κρείττων, σύµβασις δὲ φίλων κατὰ τὸν ἑκούσιον γινοµένη τρόπον τῶν ὑπ’ ἀνάγκης συγχωρηθέντων βεβαιοτέρα, καὶ ὅτι σωφρόνων ἐστὶν ἀνθρώπων, ὅταν µὲν εὖ πράττειν δοκῶσι, ταµιεύεσθαι τὰς τύχας, ὅταν δ’ εἰς ταπεινὰς καὶ φαύλας ἔλθωσι, µηθὲν ὑποµένειν ἀγεννές … [w]enn du sie darüber belehrst, dass jeder Frieden besser ist als jeder Krieg, eine Übereinkunft von Freunden, die auf freiwillige Art zu Stande gekommen ist, fester ist als erzwungene Übereinkünfte, und dass es klugen Menschen zukommt, wann immer sie meinen, dass es ihnen gut geht, ihre Güter zu hüten, wenn sie aber in schwierige und verdorbene Umstände geraten, nichts Unwürdigem zu verfallen … 163
Veturia sieht diese Gemeinplätze ‒ im Folgenden als παιδεύµατα bezeichnet und als ein Mittel beschrieben, mit dem die Politiker vertraut seien ‒ als Erfolgsgaranten für die Verhandlungen des Marcius mit seinen Verbündeten. Die weitere Rede der Veturia ist nun ein Beispiel ihrer eigenen Kunst, in sich selbst ein Paradigma für die Rede einer Mutter zu ihrem Sohn.164 Die Idee, Veturia zu ihrem Sohn zu schicken, wird ebenfalls als ein Ergebnis berechnender Planung und rednerischer Überzeugungskraft dargestellt. Der Vorschlag stammt von Valeria, einer Schwester des Publicola, die Dionysios als ἀξιώµατι προὔχουσα καὶ ἡλικίας ἐν τῷ κρατίστῳ τότ’ οὖσα καὶ φρονῆσαι τὰ δέοντα ἱκανωτάτη charakterisiert.165 Auch ihr legt Dionysios eine wörtliche Rede in den Mund, in der sie zunächst genau darlegt, wie Veturia selbst zu überzeugen sei, den 161 162 163 164 165
Vgl. ebd. 7,64; 67-8 und 8,1-37. Vgl. ebd. 8,48,3. Ebd. 8,48,4. Vgl. Valette (2012). Vgl. AR 8,39,2.
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Weg in das Feldlager ihres Sohnes anzutreten. Man müsse in schmutziger und ungeordneter Tracht erscheinen, die Kinder Veturia zu Füßen setzen, und unter Tränen ihr Mitgefühl erzeugen.166 Dann werde sie nachgeben. Auch die besondere Wirkung gerade der Mutter auf den Sohn, sofern auch diese sich an die vorgegebenen Regeln hält, hebt Valeria hervor: ὀλοφυροµένης γὰρ αὐτῆς καὶ ἀντιβολούσης οἶκτός τις εἰσελεύσεται τὸν ἄνδρα καὶ λογισµὸς ἥµερος. οὐχ οὕτω στερρὰν καὶ ἄτρωτον ἔχει καρδίαν, ὥστ’ ἀνασχέσθαι µητέρα πρὸς τοῖς ἑαυτοῦ γόνασι κυλιοµένην. Denn wenn sie jammert und bittet, werden Mitleid und eine gutmütige Vernunft den Mann überwältigen. Er hat kein derart hartes und unverwundbares Herz, dass er einer Mutter widerstehen könnte, die vor seinen Knien um Gnade fleht.167
Livius überliefert ebenfalls, dass viele Matronen, ein regelrechtes mulierum agmen, zu Veturia und Coriolans Frau Volumnia gekommen seien. Zwar wisse man nicht, ob sie auf öffentlichen Beschluss gehandelt hätten, allerdings seien daraufhin Veturia und Volumnia mit den Kindern des Marcius auf dem Arm in sein Lager aufgebrochen und hätten ihn unter Tränen angefleht.168 Livius scheint das Verhalten der Frauen für nicht weiter erläuterungsbedürftig zu halten, während bei Dionysios die Wahl der Mittel, also der Gesten, Gewänder und des Klagens, als das Ergebnis einer berechnenden Planung auf Vorschlag der Valeria dargestellt wird, die ihrerseits möglicherweise von einer göttlichen Eingebung dazu bewegt worden ist.169 Emanuelle Valette hat dieses rettende Einschreiten der Frauen, an dessen Ende die Weihung des Tempels der Fortuna muliebris steht, einer eingehenden Interpretation unterzogen.170 Allgemein betont sie die Bedeutung der als spezifisch weiblich angesehenen Überzeugungskraft und Fähigkeit zur friedlichen Konfliktlösung im Gegensatz zur kriegerischen virtus der Männer.171 Außerdem aber hat sie untersucht, welche unterschiedlichen literarischen Traditionen bei Livius auf der einen und den griechischen Überlieferern auf der anderen Seite einen Einfluss auf die Darstellung ausgeübt haben. Sie hat dabei auf den starken Einfluss von Vorstellungen der römischen Rhetorik auf die livianische Darstellung hingewiesen. Die Rede der Veturia gleiche prinzipiell einer peroratio mit dem Ziel des movere: „Veturia utilise tous les ressorts de l’action oratoire susceptibles de produire du pathétique.“ Die Gestik, der Aufzug der Mütter, die Kinder in den Armen seien „conditions d’énonciation spécifiques qui caractérisent les discours ‚matronaux‘“, die hier 166 167 168 169
Vgl. ebd. 8,39,4. Ebd. 8,39,5. Vgl. Liv. 2,40,1-3. Zu den verschiedenen Versionen dieser Episode und ihrer Vorgeschichte vgl. Valette (2012), 7-12; 17-19. 170 Zur Rolle der Episode als Aitiologie des Tempels vgl. ebd. 5 und Cornell (2003), 76. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Episode nicht als eine Aitiologie des Tempels entstanden ist, sondern diese Assoziation erst später aufkam. Die besondere Rolle der Mutter ist u.a. psychologisierend in der Vaterlosigkeit Coriolans gesehen worden, wie Plut. Coriolanus 1 und 4 sie als Ursache charakterlicher Eigenheiten andeutet, ebenso im Angriff Coriolans auf Rom, seine Mutterstadt, vgl. Cornell (2003), 79-80. 171 Vgl. Valette (2012), 25.
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deshalb als Ausdruck einer „oratio d’un genre nouveau“ zu verstehen seien, da nicht die Rednerin allein, sondern auch ihre Gefolgschaft eine wesentliche Rolle spielen, die matronae gewissermaßen als Kollektiv auftreten würden.172 Bei den griechischen Autoren verweist Valette auf den Einfluss der Tragödie, der der Schilderung der Szene zu Grunde liege. Dabei biete Cassius Dio, der Veturia ihre mütterliche Brust entblößen lässt (5,40), das deutlichste Beispiel, für das Valette Parallelen in Kunst und Literatur anführt.173 Zusammenfassend kommt sie zu der Aussage: [L]es discours de la mère de Coriolan se présentent à la fois comme une pièce d’éloquence conforme à la tradition rhétorique romaine, mais essentiellement centrée sur le movere, et comme un rituel de supplication qui évoque à la fois la tragédie grecque et les pratiques de supplication collectives propres à la culture romaine.174
Es wäre vermutlich müßig, die Anteile spezifisch rhetorischer und dramatischer Theorie in den griechischen Darstellungen exakt bestimmen zu wollen. Dass im Falle des Dionysios hier die paradigmatische Vorführung rednerischer Gewalt eine zentrale Rolle spielt, ist angesichts der bereits behandelten Passagen deutlich. Tatsächlich wird die Überzeugungskraft ja geradezu als eine göttliche Gabe dargestellt.175 Das kann man so deuten, dass Dionysios das Auftreten der Frauen als eine Inszenierung nach gewissen Kriterien auffasst bzw. darstellen will, und zugleich für erläuterungsbedürftig hält, woher sie diese Kriterien kennen – Rhetorikunterricht hatten die meisten vermutlich nicht. Aber auch das tragische Element einer solchen göttlichen Eingebung steht hier offenbar in einem engeren Zusammenhang mit der Darstellungsabsicht, der Betonung der Macht der Rede. Philip Haas deutet das Schicksal Coriolans bei Dionysios, die Ermordung durch die Volsker, von denen er wieder abfällt, als göttliche Strafe, und geht davon aus, dass die Götter hier als „metaphysische Entitäten“ von „Rom getrennt“ würden, da Coriolan äußert, er halte seinen Abfall von Rom für gottgefällig, da er keine Strafe erfahren habe, als er zu den Volskern übergelaufen sei:176 „Erst nachdem er sich von seinem Kurs abwendet, verlässt ihn das Glück“.177 Tatsächlich aber erscheint die Ermordung durch die Volsker gerade als die späte, eben tragische Rache der Götter Roms, als Katastrophe nach dem retardierenden Moment der Versöhnung mit der Mutter: Im Auftrag der Götter ist sie ja schließlich unterwegs, ausgerüstet mit dem stärksten Mittel, der Kunst der Überredung, die zwar den Sohn nicht rettet, wohl aber die Stadt. Das von Valette beobachtete Phänomen des movere ist freilich selbst keine Erfindung der römischen rhetorischen Theorie. Hinweise auf die Erregung von Mitleid finden sich auch in der griechischen Rhetorik bereits bei Aristoteles. Dabei ist 172 Vgl. ebd. 13-14. Cornell (2003), 78 Anm. 16 verweist auf die Ähnlichkeit zu einem Brief der Cornelia an ihren Sohn C. Gracchus bei Nepos. 173 Vgl. Valette (2012), 19-20. 174 Ebd. 21. 175 Vgl. DH AR 8,39,2 und Plut. Coriolan 33: Inspiration der Valeria im Kapitolinischen Tempel. AR 40,1: Gebet der Valeria für Charis und Peitho. 176 Vgl. AR 8,33,2–3; Haas (2008), 155-6. 177 Ebd. 156.
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das Verhältnis des Mitleides zum Jammer durch den häufigen Begriff οἶκτος, der beide Seiten beinhaltet und das zugehörige Verb οἰκτίζω, das sowohl ‚jammern‘ als auch ‚Mitleid erregen‘ bedeuten kann, schon auf der sprachlichen Ebene als sehr eng gekennzeichnet. In der aristotelischen Rhetorik taucht das Mitleid (οἶκτος) im Zusammenhang mit der Frage auf, welche Geschichten sich im Falle einer Verteidigungsrede eignen, um solches zu erregen.178 Die ausführliche Schilderung der supplicatio der römischen Matronen und ihre Erklärung als ein Phänomen, das letztlich in den Bereich der Redekunst einzuordnen ist, kann man allerdings durchaus als einen weiteren Ausdruck der Gräzisierung eines römischen Phänomens ansehen ‒ und auch als die Technisierung einer kulturellen Praxis. Egon Flaig hat solchen supplicationes im Zusammenhang mit seinen „zwingenden Gesten“ und deren zentraler Funktion, der Herstellung von Konsens – auch für Dionysios ja eine der wesentlichen Funktionen der öffentlichen Rede überhaupt – eine zentrale Rolle zugesprochen.179 Einige der von Dionysios in der Rede der Valeria und an anderen Stellen erwähnten Maßnahmen hat Flaig in seinen Untersuchungen explizit zu den „zwingenden Gesten“ gezählt. So verweist er auf das Mittel des squalor, einer öffentlich inszenierten Trauer, bei der auch die vestis sordida, das schmutzige Gewand, eine Rolle spielt. Flaig untersucht den squalor allerdings hinsichtlich seiner Bedeutung für die Diskreditierung von Würdenträgern, als Mittel des Angriffes auf die fama eines Politikers.180 Das Phänomen des weinenden Feldherren, dem Flaig ebenfalls einen Teil seiner Untersuchung gewidmet hat, findet bei Dionysios eine gewisse Parallele in Berichten über das öffentliche Weinen eines hohen Repräsentanten in einem nichtmilitärischen Kontext: Der Senator Manlius Valerius weint im Rahmen der Auseinandersetzungen über die Klage gegen Coriolanus und die Bedeutung der tribunizischen potestas für den inneren Frieden und die Stabilität der res publica. Flaig verweist im Zusammenhang mit dem öffentlichen Weinen des Feldherren auf eine Bemerkung Plutarchs, aus der hervorgehe, dass diesem eine solche Praxis der Römer zwar bekannt, aber „als Griechen zuwider“ gewesen sei – er aber dennoch in seinen Biographien solche Szenen geschildert habe.181 Bei Dionysios findet sich neben der Schilderung des weinenden Valerius auch die explizite Forderung, einen Feldherren weinen zu lassen, nämlich in seiner Kritik der Apologie des Perikles bei Thukydides.182 Ob Dionysios auch hier schon eine Romanisierung vorgenommen hat, oder sich auf eine Theorie stützte, die öffentliches Weinen auch für einen Griechen mit den entsprechenden Zielen für denkbar hielt, kann hier nicht geklärt werden, eben so wenig, welche Gesten im Einzelnen als römisch oder griechisch gewertet werden können, wie sich Theorie und Praxis im einzelnen Fall kausal zueinander verhalten, oder wie sich die rhetorische Prägung einzelner Quellen auswirkt.183 Dionysios jedenfalls scheint 178 179 180 181 182 183
Vgl. Arist. Rhet. 1417a. Vgl. Flaig (1997); (2003). Vgl. Flaig (2003), 113. Vgl. ebd. 112. Vgl. De Thuc. 45. Flaig (2003), 117 sieht die Schilderung der Maßnahmen in den rhetorischen Handbüchern als einen Reflex der römischen politischen Praxis.
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seine Version der Coriolanepisode vor dem Hintergrund einer rhetorischen Theorie entwickelt zu haben, für die auch die spezifisch römischen Elemente, etwa das kollektive Auftreten als Bittsteller, als Überzeugungsmittel im klassischen Sinne, als außersprachliche πίστεις, gelten – und hat eventuell selbst dieser Theorie den einen oder anderen spezifisch römischen Aspekt hinzugefügt. Diese Eingliederung in die rhetorische Systematik und Ausrichtung an ihrer Zielsetzung führt notwendig auch dazu, dass Dionysios’ Erklärung ihrer Wirkungsweise, die er hier ja paradigmatisch vorführen will, sich von dem unterscheidet, was Flaigs Anwendung seiner Theorie, die auf eine Beschreibung der von ihm angenommenen realen und symbolischen Machtverhältnisse abzielt, zu Grunde liegt. Neben der Eröffnung einer Möglichkeit des Einlenkens ohne Gesichtsverlust für eine Person mit hohem sozialen Prestige, welche die „Rührszenen“ in der Deutung Flaigs eröffnen sollen,184 sind auch seine Interpretationen des squalor als Störung des Bildes eines Politikers im öffentlichen Raum, allgemein die Deutung der politischen Rituale in ihrer Wirkung auf das ‚symbolische Kapital‘ durch die Auffassung geleitet, dass diesen konsensstiftenden Elementen bereits ein kultureller und gesellschaftlicher Konsens auch über die konkrete Anwendung der Mittel zu Grunde gelegen habe. Die Erklärung dieser Phänomene bei Dionysios geht in eine andere Richtung. Die Aussagen, die Dionysios im Rahmen seiner Schilderung etwa über den weinenden Valerius macht, dessen Tränen nicht „gestellt und aufgesetzt, sondern wahrhaftig“185 gewesen seien, beinhalten dieselbe Vorstellung von Wahrhaftigkeit, wie wir sie hier schon in Passagen gesehen haben, in denen Dionysios sie im Zusammenhang mit den Anforderungen der µίµησις und des πρέπον als eine besondere Form des auf die Überzeugung gerichteten Ausdrucks behandelt. Das wird aus einer entsprechenden theoretischen Passage deutlich: οὐ δι’ ὀργῆς τ’ οὖν ταῦτα ὑπερβαλλούσης καὶ οἴκτου λέγεσθαι προσήκει; τίνες οὖν εἰσιν ὀργῆς καὶ ὀλοφυρµοῦ τόνοι καὶ ἐγκλίσεις καὶ σχηµατισµοὶ προσώπου καὶ φοραὶ χειρῶν; ἃς οἱ κατ’ ἀλήθειαν ταῦτα πεπονθότες ἐπιτελοῦσι. πάνυ γὰρ εὔηθες ἄλλο τι ζητεῖν ὑποκρίσεως διδασκαλεῖον, ἀφέντας τὴν ἀλήθειαν. Erfordert dies nicht, diese Dinge durch Zorn und Mitleid übermannt wiederzugeben? Was sind die Stimmlagen und -veränderungen, die Mimiken des Gesichts und Gesten der Hände bei Zorn und Mitleid? Diejenigen, welche man, wenn man diese Emotionen tatsächlich verspürt, an den Tag legt: Es wäre gänzlich naiv, eine andere Schule der rednerischen Darbietung zu suchen und die Realität zu ignorieren.186
Die Anlehnung an die ἀλήθεια als Leitkriterium der rhetorischen Regeln verweist dabei unmittelbar auf die Wirkungsbegründung, die Dionysios annimmt: Er als 184 Vgl. dens. (1997), 33-50, 35 (Zitat); 37. Zur Problematik des Begriffes vgl. H.I. Flower, Egon Flaig, Ritualisierte Politik, Rez. in: Bryn Mawr Classical Review 2003.12.20: „Thus when he calls the gestures he analyzes ‚zwingende Gesten‘ he himself does not really mean that they literally ‚forced‘ an opponent or an audience to yield.“ 185 AR 7,55,1: Διεξιὼν δὲ ταῦτα µετὰ πολλῶν δακρύων οὐ προσποιητῶν καὶ πεπλασµένων, ἀλλ’ ἀληθινῶν … 186 De Dem. 54.
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antiker Rhetor sieht weniger kulturelle Prägung am Werk, sondern die psychologische Macht der Rede. Diese Sichtweise erklärt auch die betonte Wichtigkeit des natürlichen Auftretens, ohne das der gewünschte Effekt nicht eintreten kann. Für Dionysios entscheidet der gelungene Einsatz rhetorischer Mittel, seien sie sprachlich oder außersprachlich, über die Wirkung. Es sind Mittel, die der Natur nachempfunden sind, die eine natürliche Wirkung entfalten und die auf die Menschen wirken, deren psychologische Beschaffenheit etwas ist, das durch die Natur bestimmt wird. So schildert er im Falle der Rede des Tullius im vierten Buch dessen Auftreten in der vestis sordida mit der gesamten königlichen Familie als Bestandteil einer ausgeklügelten Strategie. Vor allem aber beschreibt Dionysios „das Ungewöhnliche des Anblicks“ (παράδοξον τὴς ὄψεως).187 Die geschilderte Wirkung macht die Perspektive des Dionysios auf das Vorgehen deutlich: Nach der Rede sei das Volk in Tränen ausgebrochen und habe unter frenetischem Jubel die Fortsetzung der Herrschaft des Tullius gefordert.188 Auch an anderen Stellen beschreibt Dionysios die heftige Wirkung von Reden auf das Publikum, mal mit, mal ohne Hinweise auf besondere Gesten oder Formen des Auftretens. So gibt Dionysios eine umfangreiche Analyse der Reaktionen auf die Rede des Brutus nach der Vergewaltigung und dem Selbstmord der Lucretia: Τοιαῦτα τοῦ Βρούτου δηµηγοροῦντος ἀναβοήσεις τε συνεχεῖς ἐφ’ ἑκάστῳ τῶν λεγοµένων ἐκ τοῦ πλήθους ἐγίνοντο διασηµαίνουσαι τὸ βουλόµενόν τε καὶ ἐπικελευόµενον, τοῖς δὲ πλείοσιν αὐτῶν καὶ δάκρυα ὑφ’ ἡδονῆς ἔρρει θαυµαστῶν καὶ ἀπροσδοκήτων ἀκούουσι λόγων· πάθη τε ποικίλα τὴν ἑκάστου ψυχὴν κατελάµβανεν οὐδὲν ἀλλήλοις ἐοικότα· λύπαι τε γὰρ ἡδοναῖς ἐκέκραντο, αἱ µὲν ἐπὶ τοῖς προγεγονόσι δεινοῖς, αἱ δ’ ἐπὶ τοῖς προσδοκωµένοις ἀγαθοῖς, καὶ θυµοὶ συνεξέπιπτον φόβοις, οἱ µὲν ἐπὶ τῷ κακῶς δράσαι τὰ µισούµενα τῆς ἀσφαλείας ὑπερορᾶν ἐπαίροντες, οἱ δὲ κατὰ λογισµὸν τοῦ µὴ ῥᾳδίαν εἶναι τὴν καθαίρεσιν τῆς τυραννίδος ὄκνον ταῖς ἐπιβολαῖς ἐπιφέροντες. Während Brutus zum Volk sprach, kam es bei allem, was er sagte, aus der Menge zu unablässigen Zurufen, welche die Zustimmung und das Einverständnis signalisierten, bei den meisten der Zuhörer flossen auch Tränen der Freude, während sie den wunderbaren und unerwarteten Worten zuhörten. Verschiedenartige Gefühle ergriffen die Seele eines jeden, keines den anderen vergleichbar: Schmerzen vermischten sich mit angenehmen Gefühlen, erstere wegen der zurückliegenden Schrecken, letzteres wegen der erhofften guten Ereignisse, und Hoffnungen mischten sich mit Ängsten, erstere ermutigten sie, um die verhassten Zustände zu verderben, die Sicherheit hintan zu stellen, zweitere erfüllte sie, wegen der Überlegung, dass die Befreiung von der Tyrannis nicht einfach sein würde, mit Furcht vor den Plänen.189
Dionysios gibt hier also eine detailgenaue Interpretation der Wirkung der Rede auf die Psyche der Zuhörer, wobei er die unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung ebenso darzustellen versucht wie die Emotionen, die die Zuhörer befallen. Eine in ähnlichem Maße überwältigende Wirkung attestiert Dionysios einer Rede, die der Diktator Postumius gehalten haben soll. Hier ist es gleichermaßen eine „göttliche Macht“ (δαιµόνιον), die sich während der Rede seiner Truppe bemächtigt und ihr 187 Vgl. AR 4,10,6. 188 Vgl. ebd. 4,12,1. 189 Ebd. 4,84,1.
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erneuten Siegeswillen einflößt, mit dem Resultat, dass das Heer den Kommandanten „wie aus einer Seele“ angerufen habe, es in die Schlacht zu führen.190 In einer Passage lässt sich sogar ein relativ deutlicher Anklang an die Kategorien des Publikums, in die Aristoteles in der Rhetorik die Zuhörerschaft unterteilt, sehen. In der Schilderung der Auseinandersetzungen im Senat über den Umgang mit den revoltierenden Plebejern zu Beginn des Streits über die cura annonae, die schließlich mit dem Exil des Marcius Coriolanus endet, unterscheidet Dionysios zwischen den Jungen und Alten hinsichtlich ihres Temperaments und betont, dass die Reichen und besonders Gierigen (φιλοτιµότατοι) auch unter den Älteren sich hinsichtlich dieser Auseinandersetzung auf die Seite der jungen, radikalen Senatoren geschlagen hätten. Insbesondere die Aufteilung in junge und alte Senatoren und eine Tendenz der Jüngeren und der Reichen zur Maßlosigkeit mag als Allgemeinplatz erscheinen. Allerdings handelt es sich wie so oft eben um einen Gemeinplatz, der auch in der rhetorischen Theorie eine feste Tradition hat. Unabhängig davon, wie man dieses letzte Beispiel und damit die tatsächliche Nähe zu den in der aristotelischen Rhetorik dargestellten Konzepten der Zuhörerpsychologie bewerten mag, zeigt sich deutlich, dass für Dionysios bei der Darstellung von Reden ihr psychologischer Effekt im Vordergrund steht, der sich vom Effekt der die Rede begleitenden Gesten nur schwerlich trennen lässt.191 Dionysios deutet die außersprachlichen Gesten im Rahmen seiner eigenen darstellerischen Absichten und seiner Konzeption der Rhetorik als Möglichkeit eines Eingreifens in die Politik und damit in den Lauf der Geschichte. Solche Gesten und ihr Erfolg waren für ihn nur durch eine universelle Natürlichkeit – sei sie Ausdruck eines tatsächlichen Charakters oder dessen perfekter Anschein – und eine explizit geplante und auf das natürliche Verhalten der Zuhörer ausgerichtete Durchführung erklärbar. Die von Flaig als „Scharlatanerie“ bezeichnete „Massenpsychologie“192 stellte gemäß der rhetorischen Tradition – der griechischen wie der römischen – für Dionysios den wesentlichen Wirkungsansatz der Rede als Mittel der politischen Kommunikation im allgemeinen und Konsensstifterin der römischen Gesellschaft im Besonderen dar.193 Der Einsatz der jeweils angemessenen Gesten war dabei, 190 Vgl. ebd. 6,10,1. 191 Die psychologische Deutung bzw. „Erklärung“ ist offensichtlich kein rein griechisches Phänomen, als ein Beispiel von vielen vgl. Cic., Or. 131: nec vero miseratione solum mens iudicium permovenda est – qua nos ita dolenter uti solemus, ut puerum infantem in manibus perorantes tenuerimus, ut alia in causa excitato reo nobili, sublato etiam filio parvo, plangore et lamentatione compleremus forum … Zum Verhältnis der Affektenlehre in der griechischen Theorie bei Aristoteles und der lateinischen bei Cicero vgl. Zinsmaier (2005). 192 Vgl. Flaig (2003), 122: „Jene Scharlatanerie, die eine Zeit lang als ‚Massenpsychologie‘ im Schwange war, vermag hier nichts zu erklären.“ Flaig betont die soziale Differenziertheit der römischen Gesellschaft und verweist darauf, dass auch „Emotionen“ kulturell geprägt und an die „Internalisierung von Werten und Normen gebunden“ seien. Daher müsse man sich „verabschieden von der naiven Vorstellung, das Emotionale sei ein eigener Bereich, der auf die Seite der ‚Natur‘ gehöre, wohingegen das ‚Rationale‘ der Kultur zuzurechnen sei.“ (123. Herv. im Original). 193 Kath (2012) betont den psychologisch-manipulativen Charakter solcher Überzeugungsmittel auch aus der Sicht der römischen Theorie. Der zeige sich unter anderem darin, dass sie sich
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ebenso wie eine fachgerechte Komposition von Reden allgemein, unmittelbarer Ausdruck der politischen Fähigkeit der Handelnden und zugleich Vorbild für seine eigene politisch tätige Leserschaft.
ausführlich mit dem Problem der Gefahren sowohl einer schon ihrem Wesen nach durchschaubaren Verwendung von Emotionen als auch einer drohenden Transparenz der verwendeten Mittel gerade durch ihre Theoretisierung auseinandersetze (80). Insbesondere das Problem einer drohenden Abnutzung bzw. der Tatsache, dass eine gespielte Emotion eventuell nicht überzeugend sei, wird in den römischen Handbüchern problematisiert. Das Ziel der Wahrhaftigkeit bzw. Natürlichkeit führt dabei zu einer „Authentizitätsfiktion“ (79), die ihrer Wirkung nach wahrhaftig sein muss (80), durchaus vergleichbar also mit den Auffassungen, die Dionysios hierzu vertritt.
SCHLUSSBETRACHTUNG: RHETORIK, GESCHICHTE UND WAHRHEIT IN DEN ANTIQUITATES ROMANAE i) Zusammenfassung Es wurde im ersten Hauptabschnitt (I) der Arbeit zunächst herausgearbeitet, dass bei Dionysios eine Unterscheidung der gängigen Forderungen historischer Quellenkritik und solcher Anforderungen, die sich als formale Kriterien der Gestaltung beschreiben lassen, nur schwer möglich ist. Im ersten Kapitel (I.1) wurde gezeigt, wie Dionysios sich zum einen um einen Anschluss an die historiographische Tradition bemüht, dabei aber zentrale methodische Begriffe seiner Vorgänger, insbesondere Polybios, im Sinne seiner eigenen Zielsetzung umdeutet, um seine eigenen Vorstellungen vom Nutzen der Historiographie und der Darstellungswürdigkeit seines Gegenstandes zu behaupten. So kann man in der Bestimmung seiner Historiographie als Universalgeschichte (κοινὴ ἱστορία) eine Verschiebung der Bedeutung des geographisch Universellen (κοινόν) auf eine allgemeine thematische Vielfalt beobachten. Diese Bedeutungsverschiebung ist für Dionysios unumgänglich, da der Begriff bei Polybios mit einer bestimmten historischen Epoche und einer darin enthaltenen Ablehnung der Frühgeschichte (ἀρχαῖα) verbunden ist. Es ist festzuhalten, dass die Argumentation des Dionysios das Verhältnis der behaupteten historischen Wahrheit und des Nutzens im Vergleich zu Polybios umkehrt: Für Polybios existiert die real-historische Situation einer κοινὴ οἰκουµένη im Sinne eines zusammenhängenden politischen Raumes ab einer bestimmten Zeit, deren historiographische Behandlung nach gewissen Kriterien einen konkreten Nutzen ermöglicht, weil das zuvor Disparate und Belanglose hier Bestandteil von etwas Großem wird. Für Dionysios steht die Vorstellung des paradigmatischen Nutzens im Vordergrund, der Historiograph selbst ist für die Zusammenstellung einer κοινὴ ἱστορία, die dieses Ziel erfüllt, verantwortlich. Dabei muss er sich an schönen Gegenständen orientieren, damit die Geschichte geeignete Beispiele liefern kann. Die Diskussion des ἦθος des Historiographen hat ergeben, dass es sich hierbei um eine prinzipiell als authentisch beschriebene Qualität handelt. Es erscheint als diejenige charakterliche Fähigkeit, die es ermöglicht, die schönen Gegenstände zu erkennen und angemessen zu gestalten. Aus diesen Punkten wird eine grundsätzlich affirmierende Ausrichtung der Historiographie deutlich: Die zu vermittelnden Ziele leiten die Auswahl und Behandlung des Gegenstandes. Im zweiten Kapitel (I.2) konnte gezeigt werden, wie Dionysios die Mittel des klassischen antiken Rationalismus in den Dienst seiner eigenen Argumentation stellt und dabei die generelle Ambivalenz dieses Vorgehens durchaus geschickt nutzt, um seine eigenen im engeren Sinne argumentativen historischen Ziele, namentlich den Nachweis der Gräzität der Römer auf allen Ebenen, zu verfolgen. Im ersten Kapitel des zweiten Teils (II.1) wurde gezeigt, dass die Diskussionen über die rhetorische µίµησις von „Wahrheit und Natur“ nicht ohne Weiteres auf das
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Schlussbetrachtung
Wesen der historischen Darstellung zu übertragen sind. Es gibt keine Belege dafür, bei Dionysios eine explizit historische µίµησις zu sehen, deren Ziel eine plastischrealistische Nachbildung der Wirklichkeit ist, der Dionysios einen eigenen Wahrheitswert zuspricht. Die entsprechenden Aussagen beziehen sich explizit auf einen bestimmten rednerischen Stil, dessen Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit zudem als Eigenschaften des reinen Anscheins qualifiziert werden. Dieser Stil allerdings findet auch in historiographischen Reden durchaus Anwendung, und ist dann in gewissen Situationen paradigmatisch zu vermitteln. Im zweiten Kapitel (II.2) wurde untersucht, inwiefern Dionysios’ πρέπον als Forderung nach einem angemessenen historiographischen Diskurs gelten kann, der Wahrheit jenseits einer Übereinstimmung oder Korrespondenz mit dem Faktischen bestimmt. Es konnte gezeigt werden, dass Dionysios’ Vorgehensweise auch hier durchaus von einer Kenntnis der historiographischen Methodendiskussion zeugt, er dabei eine Umdeutung methodischer Ansätze seiner Vorgänger vornimmt, die seine Kritik historiographischer Reden auf Grundlage der Kriterien des πρέπον rechtfertigt, und dass er dabei andere Aufgaben, die man der antiken historiographischen Rede insbesondere von Seiten der älteren Forschung zugeschrieben hat, explizit zurückweist, man also auch hier den Vorwurf einer unreflektierten und unpassenden Anwendung rhetorischer Allgemeinplätze kaum aufrechterhalten kann. Außerdem wurde gezeigt, dass Dionysios in seiner Theorie zwei Bereiche des πρέπον unterscheidet. Eine ist vornehmlich mit den Anforderungen der rednerischen Praxis, also der rhetorischen Charakterkonstruktion, Einwirkung auf die Affekte der Zuhörer und den weiteren Umständen der Rede, etwa dem Bestimmen der Gattung und dem Erkennen des καιρός im Hinblick auf die Redebestandteile, beschäftigt. Die andere Theorie ist zwar als eine Weiterführung der Kernidee zu verstehen, ist aber mit einer im engeren Sinne linguistischen Theorie des Zusammenhangs von Bezeichnung und Bezeichnetem beschäftigt und bedient sich dabei auch Beispielen aus der Dichtung. Es wurde dargelegt, dass Dionysios das πρέπον im Kontext seiner Diskussion der historiographischen Reden des Thukydides zunächst im ersten Sinne mit einer Ausrichtung auf ihre Überzeugungskraft in der konkreten, d.h. der geschilderten historischen Situation zum Kriterium erhebt. Die hier behandelten Theorien des πρέπον und der µίµησις sind für Dionysios so nur mittelbar als Ausdruck von Forderungen nach Realismus, Plausibilität und Glaubwürdigkeit der Historiographie zu verstehen: Glaubwürdigkeit und Überzeugung im konkreten sowie im moralischen Sinne haben das Publikum der jeweiligen Rede zum Adressaten, der Historiograph soll in diesem Zusammenhang auch nicht überzeugend oder angemessen charakterisieren, sondern Beispiele von Reden liefern, die in der gegebenen Situation zum gewünschten Ziel geführt hätten. Die Notwendigkeit, sich im konkreten Fall historiographischer Reden an den allgemeinen Kriterien der öffentlichen Rede zu orientieren, scheint im Hinblick auf die Historiographie Ausdruck einer technischen Ebene des paradigmatischen Nutzens zu sein. Es zeigt sich hier die Rolle der Rhetorik in der Geschichte, deren Darstellung ein wesentliches Kriterium des Nutzens der Geschichtsschreibung ist. Der dritte Teil dieser Arbeit hat sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern Dionysios von der Existenz historischer Ideale – hier zunächst sehr weit aufgefasst –
Schlussbetrachtung
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ausgeht, und die Forderung, in einer bestimmten Art und Weise über die Geschichte zu schreiben, auch einer bestimmten Vorstellung vom tatsächlichen Wesen der Geschichte folgt. Im ersten Kapitel (III.1) wurde die allgemeine Forderung nach Schönheit (κάλλος) des Kunstwerkes, die Dionysios in der Schrift über die literarisch-technische µίµησις erläutert, auf Eigenschaften untersucht, die sie als ein Ideal erscheinen lassen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Dionysios sich hier in einem starken Maße einer Terminologie und auch Beispielen bedient, die einem auch in der platonischen Diskussion über das Wesen wahrer Schönheit begegnen. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass derlei Anklänge bei Dionysios eine erläuternde Funktion erfüllen. Der abstrakte Begriff einer absoluten Schönheit dient als Leitkriterium für den Prozess der eklektischen µίµησις. Das κάλλος ist in diesem Zusammenhang eine abstrakte Kategorie, aber wohl kein Ideal im ontologischen Sinne. Im zweiten Kapitel (III.2) wurde der Frage nach der Beschaffenheit des καλόν im Kontext der Historiographie nachgegangen. Eine Untersuchung der frühen römischen Verfassung, die Dionysios Romulus zuschreibt, hat gezeigt, dass hier neben einer Vielzahl verschiedener Einflüsse auch deutliche Anspielungen auf den platonischen Idealstaat, das große Beispiel eines antiken Gesellschaftsentwurfes mit einer im engeren Sinne idealistischen Grundlage, ausgemacht werden können, etwa im Hinblick auf die Verteilung der zentralen Tugenden der Gesellschaft als auch auf die religiöse Erziehung der Bürger. Hier wurde auch Dionysios’ Einstellung zur Religion untersucht. Es wurde herausgestellt, dass die Schilderung insbesondere der Mythenrevision des Romulus, in der manche den Ausdruck einer echten religiösen bzw. religionsphilosophischen Haltung gesehen haben, zwar weder mit der abschreckenden Staatsreligion bei Polybios, noch mit Varros theologia tripertita zusammenhängt, aber in ihrem Bezug auf Platon auch auf die gleichen Ziele ausgerichtet ist, nämlich eine ideale, das heißt, einem idealen Staat entsprechende politische Ordnung des Religionswesens. Die Untersuchung der verschiedenartigen Einflüsse auf die Konzeption des politischen καλόν ist zu der Feststellung gekommen, dass Dionysios sich einer Reihe von Vorbildern bedient, in denen die Begriffe von Tugend und Nutzen im Zusammenhang mit tatsächlich ontologischen Idealismen stehen können, er selbst aber den Rahmen des Real-Konkreten und empirisch Erfahrbaren nicht verlässt. Es wurde betont, dass sich in der Idealisierung der römischen Gesellschaft zugleich eine Hervorhebung bestimmter Faktoren ausmachen lässt, die nicht allein als die Charakteristika eines abstrakten Idealstaates aufgefasst werden sollten, sondern tatsächlich als historisch feststellbare Faktoren der Stabilität und Dauerhaftigkeit der römischen Gesellschaft gelten können. Gerade diese Faktoren erläutert Dionysios durch die griechischen Theorien von Erziehung und Staat. Die Ausrichtung auf das inhaltliche Ideal des καλόν führt zur Ausrichtung der Darstellung vor allem auf den richtigen Umgang mit gewissen feststehenden Faktoren des Politischen, wie der Natur des Menschen und dem Wirken der Götter. Die zentrale Vorstellung von ζῆλος und µίµησις, die nicht nur die äußere Form der Darstellung leitet, sondern auch die Handlung, namentlich die Orientierung der historischen Protagonisten an historischen Vorbildern und politischen Theorien, bestimmt, wurde hier als eine zentrale Theorie des Lernens und auf das Zuträgliche gerichteten Handelns aufgefasst.
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Schlussbetrachtung
Im vierten Teil schließlich wurde versucht, den von Dionysios explizit geforderten paradigmatischen Charakter der Historiographie im Hinblick auf seine zentralen Elemente zu untersuchen. Es wurde dabei der Ansatz verfolgt, für Dionysios wesentliche methodische Forderungen als Ausdruck einer Orientierung seiner Historiographie an zentralen Punkten seines eklektischen Bildungsideals zu verstehen, und in einem weiteren Schritt schließlich die Umsetzung dieser Forderungen in den Antiquitates untersucht. Im ersten Kapitel (IV.1) wurde das Verhältnis der Geschichtsschreibung des Dionysios zu seinem umfassenden Bildungsprogramm bestimmt. Es wurde betont, dass Dionysios sich zwar an ein weites Publikum wendet, aber dennoch die Vorstellungen seiner ἐπιστήµη maßgeblich sind, da diese sowohl die angesprochene Theorie des eklektischen Lernens als auch grundsätzliche Punkte seiner Weltanschauung bestimmen. Es wurde die Bedeutung des Isokrates für das wissenschaftliche Weltbild des Dionysios bestimmt. Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass für Dionysios die rhetorische Bildung durchaus auch auf eine praktische Anwendung ausgerichtet ist und nicht allein als eine kontemplative eloquentia tacens aufzufassen ist. Im zweiten Kapitel (IV.2) wurde der Charakter der Historiographie des Dionysios als einer an einer bestimmten Vorstellung politischer Vernunft orientierten Geschichtsschreibung herausgearbeitet. Es wurden zunächst die wiederkehrende Betonung von σοφία und φρόνησις als Ziele eines Lernens aus der Historiographie und die wiederholte Betonung eines Handelns nach den Vorgaben von σοφία und φρόνησις in der historischen Darstellung in einen Zusammenhang gebracht. Im zweiten Abschnitt wurde ein Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit einer nach bestimmten rhetorischen Regeln der Darstellung und argumentativen Verwertbarkeit definierten Vollständigkeit und der Idee eines stochastischen Urteilsvermögens herausgestellt, das als eine der wesentlichen Voraussetzungen der isokrateischen φρόνησις gelten kann. Auch wurde die Ausschaltung der Kontingenz betont, die als Ziel des stochastischen Urteilens einerseits und zum anderen als Grundbedingung für eine tatsächlich paradigmatische Geschichte gesehen werden kann, in der nicht der Zufall, sondern die begründete und kluge Entscheidung politisch Handelnder im Zentrum steht. Diese Ausschaltung der Kontingenz zeigt sich bei Dionysios in einer rigorosen Ablehnung der τύχη oder gar des αὐτοµατισµός im Bereich des Historischen. Auch die nicht-kontingente, determinierende τύχη wird bei Dionysios durch die εὔνοια ersetzt, die hier nach dem Vorbild der römischen pax deorum und somit als Ergebnis politischer Maßnahmen geschildert wird. Es wurde schließlich gezeigt, wie bei Dionysios die Entwicklung der römischen Verfassung als das Ergebnis politischer Kenntnis und eines auf Theorien und praktischen Erfahrungen beruhenden Urteilsvermögens der historischen Protagonisten dargestellt wird, zugleich aber ein Hinweis auch auf die Fehlbarkeit des menschlichen Vermutens gegeben wird. Im dritten Kapitel (IV.3) wurde der praktische Aspekt der politischen Rede herausgestellt, die für Dionysios als Mittel der politischen Beratung und Erziehung eine wesentliche Position einnimmt. Hierbei ist besonders betont worden, dass Dionysios zum einen die spezifisch psychologische Wirkungsweise hervorhebt und mitunter auch detailliert beschreibt. Zusammengenommen haben die Ergebnisse dieses Abschnitts gezeigt, dass für Dionysios nicht allein die Historiographie eine rhetorische Gattung ist, sondern
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zugleich die Regeln der Rhetorik, die er in diesem Sinne auf den historischen Stoff anwendet, für ihn Mittel des Verstehens und der Nutzbarmachung der Geschichte selbst sind. ii) Die Antiquitates als rhetorischer Text? Bevor hier nun eine abschließende Erörterung der grundlegenden Wahrheitsvorstellung vorgenommen werden kann, soll zunächst noch einmal auf die Frage eingegangen werden, inwiefern die Historiographie für Dionysios als ein rhetorischer Text gelten kann und was einen solchen ausmacht. Grundsätzlich stellt sich die Frage nach der rhetorischen Ausgestaltung der historischen Erzählung. Auf dieser Ebene ist deutlich zu sehen, dass Dionysios eine Orientierung der Darstellung an bestimmten äußeren Kriterien fordert. Das reicht von der Auswahl und Anordnung der Gegenstände über die Forderung nach Vollständigkeit der Darstellung bis hin zur expliziten Aussage, die historische These müsse anhand zahlreicher Zeugnisse und Hinweise untermauert werden. Eine zentrale Rolle spielt außerdem die Rhetorik in der Geschichte, also die Darstellung historiographischer Reden. Wir haben hier gesehen, dass Dionysios sie nicht nur in seinen kritischen Schriften nach einigermaßen klassischen Vorstellungen beurteilt, sondern auch in der historischen Erzählung Reden nicht nur ausführlich darbietet, sondern sie zum einen als eine der wesentlichen historischen Ursachen überhaupt anführt, und zum anderen auch ihre Wirkungsweise und ihren Aufbau erläutert. Schließlich ist betont worden, dass scheinbar formale rhetorische Kriterien gerade Ausdruck dessen sind, was für Dionysios Inhalt der Geschichte zu sein hat, weil es ihr Wesen im Hinblick auf ihre kausale Struktur ausmacht. Der im rhetorischen παράδειγµα schon immer vorhandene Gedanke der prinzipiellen Analogität historischer Situationen gipfelt in der Vorstellung, dass die Logik der Geschichte der Struktur des Arguments prinzipiell analog ist und sogar durch sie bestimmt wird. Dionysios’ Geschichtsschreibung ist also in vielerlei Weise rhetorisch, allerdings in anderer Art, als die Kritik der „rhetorischen Geschichtsschreibung“ dies zumeist hervorgehoben hat. Die Frage nach der Zielsetzung eines rhetorischen Textes muss nun konsequenterweise mit der Frage verbunden werden, ob Dionysios mit seinem historiographischen Werk die Adressaten überreden oder überzeugen, erziehen oder bilden wollte. Allgemein entsteht oftmals der Eindruck, Dionysios spreche die Leser prinzipiell so an wie die seiner rhetorischen Schriften: Auch in den Antiquitates möchte er offenbar die Mittel einer im engeren Sinne technisch-rhetorischen Überzeugung lehren, die, ganz im isokrateischen Sinne, den Schülern selbst Beispiele für die Ausbildung ihrer φρόνησις bietet und ihnen dadurch zugleich die zentrale Kompetenz der εὐβουλία, die Fähigkeit gut zu urteilen und damit zugleich gut zu beraten, verleiht, die für das politische Handeln wichtig ist. Das ist sicherlich eine einigermaßen plausible Erklärung für Dionysios’ methodisches Vorgehen und seine Schematisierung des Historischen. Es führt aber auch unweigerlich zu der Frage nach dem Verhältnis des Historischen im Allgemeinen
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Schlussbetrachtung
zur historischen These des Dionysios im Besonderen: Möchte Dionysios seinem Bildungspublikum ernsthaft vermitteln, dass es sich bei den Römern, bis auf einige spätere Fusionen, um Griechen handelte, oder muss man diese Argumentation als ein reines Paradigma seiner eigenen Überzeugungsfähigkeit sehen? Es ist zur Begründung der historischen These vieles angeführt worden, von der Schmeichelei gegenüber den Römern, propagandistischer Absicht, einem Appell an die Griechen, an ihrer Identität festzuhalten, der Versöhnung der Griechen mit dem Schicksal der Unterwerfung, dem Versuch, den Römern selbst aus einer eigentlich nicht dazu befugten sozialen Position ihre eigenen exempla zu präsentierten ‒ vieles, das sich prinzipiell auch aus den Aussagen der Antiquitates herauslesen lässt, und das grundsätzlich zutreffend ist. Tatsächlich scheint es für Dionysios aber einen wesentlichen Grund zu geben, weshalb er die Römer geradezu als Griechen darstellen musste. Aus der griechischer Sicht seiner Zeit, die Dionysios am Anfang als die eines Teils seiner Leser betont, und die sicherlich auch die seines persönlichen Bildungsverständnisses ist, ist die Gräzisierung der Römer die notwendige Antwort auf ihre Defamierung als Barbaren. Sie ist eben deshalb nötig, weil eine Geschichte zusammengelaufener Barbaren sich als schöner und nützlicher Gegenstand nicht eignet. Ein solcher schöner und nützlicher Gegenstand zieht seinen Nutzen eben daraus, dass er den historischen Erfolg durch eine idealisierende Theoretisierung erläutert und damit prinzipiell, auf unterschiedlichen Ebenen, zum Paradigma macht. Die idealisierenden Theorien sind nicht nur normative Zuschreibungen, sondern funktionale Begründungen für die Dauerhaftigkeit und Macht des römischen Gemeinwesens, die, trotz aller Verwerfungen des Jahrhunderts der Bürgerkriege, evident und spürbar sind. Die Begriffe und Theorien der (idealen) Polis, die Dionysios auf Rom projiziert, sind seiner Vorstellung einer schönen Geschichte also inhärent, zugleich aber aus der griechischen Perspektive untrennbar mit der griechischen Identitätskonstruktion verbunden. Sein Bildungsprogramm fußt auf der Grundlage des Kontexts der griechischen Polis als Ausdruck einer Lebensweise, in der die von ihm vertretene wahre politische Vortrefflichkeit, τὸ καλόν, erst ihre Wirkung entfalten konnte. Die griechische Historiographie tut sich traditionell schwer damit, solche Theorien und Begriffe auf Nicht-Griechen anzuwenden. Herodot führt die Verfassungsdebatte der Perser als etwas ein, was den Griechen unglaublich erscheinen müsse.1 Polybios weist explizit darauf hin, dass die Mischverfassung in Rom nicht auf demselben Wege entstanden sei wie diejenigen der Griechen, nämlich durch einen vorausschauenden Plan mit Wissen über das Wesen der Verfassungen.2 Das Unerhörte an Dionysios’ Ansatz ist weniger die Herstellung mehr oder minder hanebüchener und widersprüchlicher Genealogien. Das ist seit jeher das Geschäft der griechischen Historiographie. Es ist die Anerkennung als – im griechischen Sinne – politische Menschen und damit die Begründung des Erfolges der Römer durch rationale Kriterien, die gerade den Griechen erst durch die Widerlegung des Gegenteils umständlich nahegebracht werden muss, damit die argumentative Grundlage für Dionysios’ spezifische Form einer nützlichen und schönen Geschichte geschaf1 2
Vgl. Hdt. 3,80. Vgl. Pol. 6,10,14.
Schlussbetrachtung
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fen ist, die die Griechen als Teil der historia perpetua akzeptieren können. Zugleich scheint Dionysios in der römischen Kultur der memoria tatsächlich ein ähnliches Bedürfnis nach einer historischen Orientierung gesehen zu haben, wie es sein eigenes Bildungsprogramm an den Vorbildern der griechischen Klassik hatte. Wenn man so will, war Dionysios um die Schaffung einer römischen Klassik bemüht, und diese musste notwendigerweise das aufweisen, was für ihn klassische Formen ausmacht, und das ist in wesentlichen Teilen offenbar die politische Kultur der klassischen Polis. Das bedeutet nicht, dass Dionysios jedes seiner inhaltlichen Argumente im Einzelnen selbst für glaubhaft hält. Er fährt vielmehr, wie ein Anwalt bei Gericht, sämtliche Beweise und Zeugnisse auf, um die Richtigkeit seiner Aussage im Kern zu vermitteln, und damit dem Publikum der Antiquitates die logische und theoretische Geschlossenheit, in erster Linie aber die historische und kulturelle Anschlussfähigkeit seiner Geschichtskonzeption vor Augen zu führen. iii) Gibt es einen historischen Wahrheitsbegriff bei Dionysios? Es ist sicherlich deutlich geworden, dass der Wahrheitsanspruch, den Dionysios äußert, nicht in dem begründet ist, was für die meisten modernen Historiker eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung definiert. Zugleich ist die Tendenz auszumachen, dass die Wahrheitsbehauptungen der antiken Historiographie nicht mehr in weiten Teilen als reine Gemeinplätze abgetan werden, sondern vielmehr betont wird, dass wir es hier eben mit anderen Kriterien und Kategorien, mit anderen sozialen, politischen und kulturellen Voraussetzungen, vor allem aber mit einer Gattung zu tun haben, die in ihrer Ausrichtung, bei aller Bedeutung für das Selbstverständnis der modernen Geschichtswissenschaft, gänzlich andere Zielsetzungen verfolgt, als ihre modernen Nachfolger das zu tun vorgeben. Es handelt sich bei der antiken Historiographie eben um eine „communicatieform die in de moderne cultuur geen exacte pendant heeft.“3 In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die Frage danach, was für Dionysios historische oder historiographische Wahrheit ausmacht, zu beantworten. Untersucht wurde, in welchem Verhältnis spezifisch inhaltlich-historische Vorstellungen zu formalen Anforderungen an den Charakter der Darstellung stehen, wo die Vorbilder liegen und welche Implikationen für den Wahrheitsbegriff daraus resultieren. Tatsächlich kann Dionysios sich bei seinem Anspruch auf Wahrheit vordergründig auf gewisse Grundannahmen der antiken historiographischen Methode berufen. Zu nennen sind hier vor allem die im ersten Teil der Arbeit genannten kritisch-methodischen Verfahren, insbesondere im Umgang mit der mythologischen Überlieferung. Dass hierbei sowohl die Quellengattung als auch das Vorgehen selbst antiken und modernen Beobachtern als fragwürdig erscheinen mögen, bedeutet nicht, dass Dionysios sich hier nicht in einer Tradition bewegt, die von der 3
Goudriaan (1989), 290.
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antiken Historiographie als legitim erachtet wurde. Die Diskussion der Forderung nach einer „angemessenen Nachahmung“ der ἀλήθεια hat zugleich gezeigt, dass Dionysios eben nicht in Plausibilität und Angemessenheit der historischen Darstellung allein ein hinreichendes Wahrheitskriterium sieht. Die Erörterungen über ἀλήθεια in den kritischen Schriften sind Diskussionen über rednerischen Stil und rednerische Überzeugungskraft, die Dionysios in historiographischen Reden auf das Publikum eben dieser Reden ausgerichtet wissen will, nicht auf das der Historiographie. Dass die Vermittlung dieser technischen Fähigkeiten im Vordergrund steht, nicht die allgemeinliterarische Forderung nach Charakterdarstellung, die Dionysios explizit im Rahmen von Aussagen des Autors in seiner historischen Erzählung selbst fordert, findet eine Entsprechung in der Art und Weise, in der Dionysios selbst das Verhältnis von Redner und Publikum in den Antiquitates kommentiert und veranschaulicht. Die allgemein zu bemerkende Idealisierung, überhaupt die Tatsache, dass Dionysios’ Geschichte in weiten Teilen von Kriterien geleitet zu sein scheint, deren Ziel die Affirmation feststehender Auffassungen ist, hat in der Forschung wiederholt dazu geführt, dass man Dionysios zumindest dort, wo man ihm grundsätzlich zugestanden hat, mit seinem historiographischen Werk zutreffende Aussagen über die Wirklichkeit treffen zu wollen, einen ‚allgemeinen Wahrheitsbegriff‘ attestiert hat. Worin genau dieses Allgemeine besteht, wird allerdings meist nicht näher beantwortet. In der Regel wird eine Forderung nach allgemeinem Realismus unterstellt und auf die aristotelische Charakterisierung der Dichtung verwiesen, das Allgemeine in bestimmten Manifestationen der condicio humana oder Erzählungen darüber, „how the world works“ gesehen, die Geschichte als ein Sammelsurium moralisierender Parabeln bzw. eben ‚natürlich-menschlichen‘ Verhaltens, das sich stets wiederhole, wodurch auch die Geschichte sich stets wiederhole,4 oder die allgemeine Wahrheit als „rhetorisch-moralisch“ charakterisiert. In der vorliegenden Arbeit ist versucht worden, dem Charakter dieser ‚allgemeinen Wahrheit‘, die sich in Dionysios’ formalen Ansprüchen niederschlagen könnte, genauer nachzugehen. Neben einer Einordnung der Forderungen nach Realismus, der sich eher als ein bewusst technischer Realismus entpuppt hat, ist auch versucht worden, das, was oftmals als Dionysios’ allgemeiner Moralismus aufgefasst wurde, im Hinblick auf seine Funktion als Leitkriterium der Historiographie nachzuvollziehen. In diesem Zusammenhang ist von den Idealen des Dionysios gesprochen worden, die auf den unterschiedlichen Ebenen der ästhetischen und rhetorischen Theorie, der historiographischen Methodenforderung und der historischen Darstellung selbst diskutiert worden sind. Auf allen Ebenen ist hierbei ein abstrakt konzipiertes Ideal von Schönheit bzw. Vortrefflichkeit ausgemacht worden. Dessen Erkenntnis beruht auf einer kontemplativen Vergegenwärtigung bzw. dem beschriebenen Verfahren der eklektischen Nachahmung. Insbesondere im Falle der Geschichte, sowohl im Sinne des geschilderten Geschehens, als auch im Hinblick auf den angestrebten Nutzen der Geschichte, sind es schließlich bestimmte praktische Tugenden, die zur Erkenntnis 4
Marincola (2007), 28-9 verweist hierauf als eine der typischen Wahrheitsvorstellungen der antiken Historiographie.
Schlussbetrachtung
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und Vermittlung des Ideals, damit auch zur historischen Wirksamkeit, führen. Ein zentrales Problem besteht in der Einschätzung der Vorstellung einer quasi-inspirierten Kontemplation des abstrakt benannten Schönen, die Anklänge an die Autorität des Metaphysischen, vor allem aber an die der Großphilosophen sucht. Es wurde hier angeregt, den Bezug auf das Metaphysische eher als eine grundsätzliche Erläuterung der Funktionsweise des eklektisch-kontemplativen Verfahrens aufzufassen, das für Dionysios auch im Hinblick auf andere Bestandteile seiner ästhetischen Theorie von Interesse ist. Im Bereich des Politischen jedenfalls bezieht sich die Fähigkeit zur Erkenntnis des Schönen auf den Bereich des Diesseitigen und Evidenten, auf das „Wirklich-Reale“. In dieser Vorstellung vom Wesen der Dinge, deren Erkenntnis für Dionysios zum einen durch seine ‚epistemische‘ Theorie des Lernens und der eklektischen Nachahmung geleitet ist, zeigt sich offenbar ein wesentlicher Bestandteil der Begründung seines Wahrheitsanspruches. Ein Teil der Weltsicht des Dionysios ist allerdings auch der Hinweis auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und Vernunft. Zwar hat die Geschichte, um paradigmatisch zu sein, einen idealtypischen Verlauf zu schildern. Dass aber Fehlbarkeit stets eine Rolle spielt, deutet, wie wir gesehen haben, auch Dionysios seiner Leserschaft an. Für das Verständnis des Wahrheitsanspruches scheint neben ihrem Erkenntnismodell der andere Aspekt der ἐπιστήµη von noch größerer Bedeutung zu sein, ihre Anwendungsausrichtung. Es scheint kein Zufall zu sein, dass Dionysios mit σοφία und φρόνησις in einer „wahren Geschichte“ explizit Tugenden vermitteln will, die er im Rahmen der Handlung als praktische Tugenden darstellt. Dazu passt auch, dass die Inhalte dessen, was er als politische Vortrefflichkeit qualifiziert, also das, was letztlich schöne Beispiele und einen schönen Gegenstand ausmacht, eigentlich Handlungsweisen sind. Nicht der willkürliche Wille der Götter, kein unabwendbares Schicksal, keine Menschennatur, die sich in widrigen Umständen zeigt, bedingen den Verlauf seiner paradigmatischen Geschichte, gerade nicht das, was einem sonst im Sinne historischer Determinanten als die ‚tiefere‘ oder eben ‚allgemeine Wahrheit‘ antiker Historiographie begegnet. Es ist vielmehr der Umgang der Menschen mit diesen Faktoren, der, wenn sie über die notwendigen praktischen und politischen Tugenden verfügen, die Geschichte – im Rahmen des für die Antike Denkbaren – bestimmt. Wenn man als das wesentliche Vermittlungsziel der paradigmatischen Geschichte die Fähigkeit sieht, grundlegende kausale Beziehungen des Historischen im Hinblick auf das Zuträgliche zu verstehen und zu nutzen, wobei der Zusammenhang von Handlung und möglichem Erfolg im Zentrum steht, scheint es auch diese Vorstellung praktischer Wahrheit zu sein, die den Wahrheitsanspruch der Historiographie des Dionysios begründet. Wie eingangs bemerkt, entspricht diese Ausrichtung der Historiographie sicher nicht den Kriterien einer modernen Wissenschaft. Die Antiquitates scheinen aber bei allen Eigenheiten hinsichtlich der Vorstellungen, wie dieses Ziel zu erreichen sei, mit der Selbstzuschreibung der antiken Geschichtsschreibung als einer vor allem nützlichen Gattung mehr gemein zu haben, als mitunter angenommen.
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ABKÜRZUNGEN ANTIKER AUTOREN UND WERKE / ZITIERTE EDITIONEN UND ÜBERSETZUNGEN Arist. = Aristoteles Poet. = Ars Poetica, ed. R. Kassel, Oxford 1965. Rhet. = Ars Rhetorica, ed. W.D. Ross, Oxford 81992. Rhetorik, übersetzt von G. Krapinger, Stuttgart 1999. Rhetorik, übersetzt von Ch. Rapp, Werke in Deutscher Übersetzung Bd. 4, 1. Halbband, Berlin 2002. Cic. = Cicero Brut. = Brutus, ed. A.E. Douglas, Oxford 1966. De nat. deor. = De natura deorum, ed. W. Ax, Leipzig 1933. De or. = De oratore, ed. K.F. Kumaniecki, Leipzig 1969. Über den Redner, übersetzt von H. Merklin, Stuttgart 1986. De rep. = De re publica, rec. K. Ziegler, M. Tulli Ciceronis opera scripta 39, Leipzig 61964. Vom Gemeinwesen, übersetzt von K. Büchner, Stuttgart 1979. Der Staat/De re publica, übersetzt von R. Nickel, Mannheim 2010. Or. = Orator, ed. H. Westmann, Leipzig 1980. De inv. = De Inventione, ed. & übersetzt von G. Achard, Paris 1994. Diod. = Diodor, ed. K.T. Fischer, Leipzig 31888–1905 (ND Stuttgart 1985). DH = Dionysios von Halikarnassos AR = Antiquitates Romanae, ed. C. Jacoby, Dionysii Halicarnasei Antiquitatum Romanarum quae supersunt, Leipzig 1885–1905 (ND Stuttgart 1967). The Roman Antiquities, übersetzt von E. Cary, Cambridge 1937–50. Antiquités Romaines I, übersetzt von V. Fromentin, introduction générale & Livre I, Paris 1998. Römische Frühgeschichte. Bücher 1–3, übersetzt von Nicolas Wiater, Bibliothek der griechischen Literatur 75, Stuttgart 2014. SR = Scripta Rhetorica, ed. H. Usener – L. Radermacher, Dionysii Halicarnasei quae exstant, Leipzig 1899 (ND Stuttgart 1965). Opuscules rhétoriques, ed. & übersetzt von G. Aujac, Paris 1978–92. Critical Essays, übersetzt von Stephen Usher, Cambridge 1974–85. De comp. verb. = De compositione verborum De Dem. = De Demosthene Ep. ad Pomp. = Epistula ad Pompeium De im. = De imitatione Sull’ imitazione, ed., übersetzt & komm. von D. Battisti, Pisa und Rom 1997. De Is. = De Isaeo De Isoc. = De Isocrate De Lys. = De Lysia De oratt. vett. = De oratoribus veteribus Das klassizistische Manifest des Dionys von Halikarnass: die Praefatio zu De oratoribus veteribus, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Th. Hidber, Leipzig 1996. De Thuc. = De Thucydide On Thucydides, übersetzt und kommentiert von W.K. Pritchett, Berkeley 1975. Hdt. = Herodot, ed. C. Hude, Oxford 1908 (ND 1927). Hom. Od. = Homer, Odyssee, ed. P. v. d. Mühll, Stuttgart 31962 (ND ebd. 1982).
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pa l i ng e n e s i a Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft
Begründet von Rudolf Stark, herausgegeben von Christoph Schubert.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0552–9638
80. Marietta Horster / Christiane Reitz (Hg.) Antike Fachschriftsteller Literarischer Diskurs und sozialer Kontext 2003. 208 S., geb. ISBN 978-3-515-08243-3 81. Konstantin Boshnakov Die Thraker südlich vom Balkan in den Geographika Strabos Quellenkritische Untersuchungen 2003. XIV, 399 S., geb. ISBN 978-3-515-07914-3 82. Konstantin Boshnakov Pseudo-Skymnos (Semos von Delos?) Ta; ajristera; tou` Povntou Zeugnisse griechischer Schriftsteller über den westlichen Pontosraum 2004. X, 268 S., geb. ISBN 978-3-515-08393-5 83. Mirena Slavova Phonology of the Greek inscriptions in Bulgaria 2004. 149 S., geb. ISBN 978-3-515-08598-4 84. Annette Kledt Die Entführung Kores Studien zur athenisch-eleusinischen Demeterreligion 2004. 204 S., geb. ISBN 978-3-515-08615-8 85. Marietta Horster / Christiane Reitz (Hg.) Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt 2005. 348 S., geb. ISBN 978-3-515-08698-1 86. Robert Gorman The Socratic Method in the Dialogues of Cicero 2005. 205 S., geb. ISBN 978-3-515-08749-0 87. Burkhard Scherer Mythos, Katalog und Prophezeiung Studien zu den Argonautika des Apollonios Rhodios 2006. VI, 232 S., geb. ISBN 978-3-515-08808-4
88. Mechthild Baar dolor und ingenium Untersuchungen zur römischen Liebeselegie 2006. 267 S., geb. ISBN 978-3-515-08813-8 89. Evanthia Tsitsibakou-Vasalos Ancient Poetic Etymology The Pelopids: Fathers and Sons 2007. 257 S., geb. ISBN 978-3-515-08939-5 90. Bernhard Koch Philosophie als Medizin für die Seele Untersuchungen zu Ciceros Tusculanae Disputationes 2007. 218 S., geb. ISBN 978-3-515-08951-7 91. Antonina Kalinina Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio Untersuchungen zu seiner Terminologie und Textgeschichte 2007. 154 S., geb. ISBN 978-3-515-09102-2 92. Efstratios Sarischoulis Schicksal, Götter und Handlungsfreiheit in den Epen Homers 2008. 312 S., geb. ISBN 978-3-515-09168-8 93. Ugo Martorelli Redeat verum Studi sulla tecnica poetica dell’Alethia di Mario Claudio Vittorio 2008. 240 S., geb. ISBN 978-3-515-09197-8 94. Adam Drozdek In the beginning was the apeiron Infinity in Greek philosophy 2008. 176 S. mit 11 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09258-6
95. Eckart Schütrumpf Praxis und Lexis Ausgewählte Schriften zur Philosophie von Handeln und Reden in der klassischen Antike 2009. 368 S., geb. ISBN 978-3-515-09147-3 96. Theokritos Kouremenos Heavenly Stuff The constitution of the celestial objects and the theory of homocentric spheres in Aristotle’s cosmology 2010. 150 S., geb. ISBN 978-3-515-09733-8 97. Bruno Vancamp Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung von Platons „Menon“ 2010. 115 S., geb. ISBN 978-3-515-09811-3 98. Marietta Horster / Christiane Reitz (Hg.) Condensing texts – condensed texts 2010. 776 S., geb. ISBN 978-3-515-09395-8 99. Severin Koster Ciceros Rosciana Amerina Im Prosarhythmus rekonstruiert 2011. 178 S., geb. ISBN 978-3-515-09868-7 100. Theokritos Kouremenos Aristotle’s de Caelo Γ Introduction, Translation and Commentary 2013. 121 S., geb. ISBN 978-3-515-10336-7 101. Hendrik Obsieger Plutarch: De E apud Delphos / Über das Epsilon am Apolltempel in Delphi Einführung, Ausgabe und Kommentar 2013. 417 S., geb. ISBN 978-3-515-10606-1 102. Theokritos Kouremenos The Unity of Mathematics in Plato’s Republic 2015. 141 S. mit 8 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11076-1 103. Stefan Freund / Meike Rühl / Christoph Schubert (Hg.) Von Zeitenwenden und Zeitenenden Reflexion und Konstruktion von Endzeiten und Epochenwenden im Spannungsfeld von Antike und Christentum 2015. 219 S., geb. ISBN 978-3-515-11174-4
104. Sonja Nadolny Die severischen Kaiserfrauen 2016. 257 S. mit 10 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11311-3 105. Michael Müller Tod und Auferstehung Jesu Christi bei Iuvencus (IV 570–812) Untersuchungen zu Dichtkunst, Theologie und Zweck der Evangeliorum Libri Quattuor 2016. 413 S., geb. ISBN 978-3-515-11340-3 106. Hedwig Schmalzgruber Studien zum Bibelepos des sogenannten Cyprianus Gallus Mit einem Kommentar zu gen. 1–362 2016. 601 S. mit 1 Abb. und 8 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11596-4 107. Stefan Weise (Hg.) HELLENISTI! Altgriechisch als Literatursprache im neuzeitlichen Europa 2017. 389 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11622-0 108. Armin Eich / Stefan Freund / Meike Rühl / Christoph Schubert (Hg.) Das dritte Jahrhundert Kontinuitäten, Brüche, Übergänge 2017. 286 S. mit 30 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11841-5 109. Antje Junghanß Zur Bedeutung von Wohltaten für das Gedeihen von Gemeinschaft Cicero, Seneca und Laktanz über beneficia 2017. 277 S., geb. ISBN 978-3-515-11857-6 110. Georgios P. Tsomis Quintus Smyrnaeus Kommentar zum siebten Buch der Posthomerica 2018. 456 S., geb. ISBN 978-3-515-11882-8 111. Silvio Bär Herakles im griechischen Epos Studien zur Narrativität und Poetizität eines Helden 2018. 184 S., geb. ISBN 978-3-515-12206-1 112. Christian Rivoletti / Stefan Seeber (Hg.) Heliodorus redivivus Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen Aithiopika-Rezeption 2018. 229 S. mit 7 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12222-1
Was ist Wahrheit? Auf diese zentrale Frage jeder wissenschaftlichen Methodendiskussion kannte schon die Antike höchst unterschiedliche Antworten – auch die Historiographie bildet hier keine Ausnahme. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Wesen historischer Wahrheit widmet sich Friedrich Meins den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos. Während diese lange als Beispiel einer kolportageartigen „rhetorischen Geschichtsschreibung“ ohne Quellenwert galten, rücken sie als Zeugnis ihres Entstehungsumfeldes nun wieder vermehrt in den Fokus. Im Zuge dessen lässt sich auch eine gewisse Rehabi-
litierung ihres spezifischen Wahrheitsanspruches ausmachen: in Form einer Neubewertung von Dionysios’ Forschungsbemühungen, unter Heranziehung narrativistischer Konzepte historischer Wahrheit oder durch den Verweis auf Vorstellungen allgemeiner Wahrheiten des Historischen. Meins diskutiert diese Ansätze und formuliert die These, dass Dionysios’ paradigmatische Geschichte ihren Anspruch auf Wahrheit sowohl aus der sehr eigenen Vorstellung wissenschaftlicher Erkenntnis als auch aus dem Anspruch der praktischen Anwendbarkeit historischen Wissens ableitet.
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ISBN 978-3-515-12250-4
9
7835 1 5 1 2 2504