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German Pages 157 [159] Year 2009
Wiebrecht Ries Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“
WERKINTERPRETATIONEN
Wiebrecht Ries
Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-534-20861-6
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Was heißt ‚verstehen‘ ? Gadamers philosophische Hermeneutik als der Entwurf einer „Philosophie der Endlichkeit“ . . . . . . . .
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Teil I Die Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst. Zum Erkenntnisanspruch der Geisteswissenschaft . . . . . . . 1. Die Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subjektivierung der Ästhetik durch die kantische Kritik . . . 3. Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst . Teil II Die Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichtliche Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins . . . . .
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Teil III Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache 1. Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung . . . . . . 2. Prägung des Begriffs ‚Sprache‘ durch die Denkgeschichte des Abendlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie . . . . .
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Teil IV Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Exkurs Gadamer und die Dichtung. Hölderlin – Rilke – Celan Hölderlin und das Zukünftige (1947) . . . . . . . . . Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jahren (1976) . . . . Sinn und Sinnverhüllung bei Celan (1975) . . . . . . .
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Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachen
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Literatur
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Vorwort Die ehrenvolle Aufgabe, für die Reihe ‚Werkinterpretationen‘ den Band über Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode zu übernehmen, hat mich bei der Ausarbeitung in die Zeit meines Heidelberger Studiums bei Gadamer zurückversetzt. In dankbarer Erinnerung an diese Zeit bestätigt sich für mich erneut der Wert eines dialogischen Vorgehens für die Philosophie. Diese hermeneutische Erfahrung habe ich versucht, in das vorliegende Buch einzuarbeiten und vor allem an die Generation derer weiterzugeben, die in dieser dürftigen Zeit Philosophie studieren. Wahrheit und Methode ist ein philosophisch ungemein spannendes, aber kein einfaches Buch. Es setzt beim Leser einen Bildungshorizont voraus, der mit einer tiefen Kenntnis der Geschichte des philosophischen Denkens verbunden ist. Da ein solches Wissen heute nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, habe ich die philosophiegeschichtlichen Exkurse umfangreicher kommentiert, als es üblich ist. Weil sich Gadamers hermeneutisches Denken eng mit den Erfahrungen der Kunst verbindet, wurden Zeugnisse aus der europäischen Dichtung ausgewählt, um die Verschränkung von hermeneutischer und ästhetischer Erfahrung herauszustellen. Darüber hinaus habe ich Wahrheit und Methode in den Kontext der Gesamtausgabe von Gadamers Werken gestellt. Vieles von dem, was er in seinem Hauptwerk ausführt, erhellt sich erst im Licht seiner frühen und späten Arbeiten. Da Philosophie sich für Gadamer im Gespräch vollzieht, ist es unumgänglich, mit den Fragestellungen und Thesen von Wahrheit und Methode in einen Dialog einzutreten, der die Sterilität einer bloß kommentierenden Wiedergabe der in ihm diskutierten Themen hinter sich lässt und die Gedanken Gadamers im Zwiegespräch weiter denkt. An dieser Stelle will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Intentionen meiner Werkinterpretation sich in vielfacher Weise den Büchern von J. Grondin über Gadamer verpflichtet wissen. Wenn es mir gelungen sein sollte, dem Leser Wege der Interpretation zu weisen, die ihm in seiner eigenen Lektüre von Wahrheit und Methode von Nutzen sind, dann ist das Ziel des vorliegenden Buches erreicht. Zu danken habe ich meinem Freund, Herrn Dr. K.-F. Kiesow, für seine freundliche und kritische Durchsicht des Manuskripts, für die vielen Gespräche über Gadamers Hermeneutik, vor allem aber für seine fachkundi-
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Vorwort
gen Hinweise, wie die von mir angesprochenen sprachphilosophischen Themen gedanklich besser darzustellen seien als in den ersten Entwürfen des Buches. Meinem Lektor, Herrn Dr. B. Villhauer, danke ich wie immer für seine Geduld und Umsicht, mit der er das anspruchsvolle Projekt betreut hat. Burgdorf, im März 2009
Wiebrecht Ries
Einleitung Was heißt ‚verstehen‘ ? Gadamers philosophische Hermeneutik als der Entwurf einer Philosophie der Endlichkeit Hermeneutik ist ein gräzisierendes Kunstwort aus dem 17. Jahrhundert. Es geht auf den humanistisch-lateinischen Ausdruck ars interpretandi zurück. Im Griechischen steht hinter dem Ausdruck hermeneia die mythische Gestalt des Botens der olympischen Götter, Hermes. Als Sohn des Zeus in Arkadien geboren, kommen ihm mannigfaltige Funktionen zu. Er ist Gott des Handels, der Diebe, der Wege und der Träume. Als Psychopompos leitet er die Seelen in die Unterwelt. Die bildende Kunst stellt ihn seit dem 5. Jahrhundert als jungen Mann mit geflügelten Sandalen und Heroldsstab dar. In der Antike gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Kunst des hermeneuein und der Mantik, die den Willen der Götter aus ‚Zeichen‘ in einem Doppelsinn von ‚Sprüchen‘ deutet. In einem engeren Sinn versteht man unter Hermeneutik die Kunst der Auslegung. In hellenistischer Zeit wurde sie als eine allegorische Methode ausgebildet, welche die überlieferten Mythen mit einem philosophisch aufgeklärten Bewusstsein in Einklang zu bringen versuchte. In diesem Sinn findet sie ihre Anwendung auch in der Auslegung der ‚Heiligen Schrift‘. Im Zuge der Entstehung des christlichen Dogmas versteht sich Hermeneutik als theologische Textauslegung. So ist zum Beispiel für die ausgehende Antike und das Mittelalter Augustins Schrift De doctrina christiana das wichtigste Lehrbuch der christlichen Hermeneutik. Erst in der Wissenschaftstradition der Neuzeit wird Hermeneutik zu einer theoretischen Grundlage für die historischen Geisteswissenschaften. Als eine Kunstlehre des Verstehens führt sie über F. Schleiermacher zu W. Dilthey und der von ihm aus dem Geist der Historischen Schule entwickelten Neubegründung der Geisteswissenschaft auf der Grundlage einer verstehenden Psychologie. Hermeneutik wird zu einer dem Geist des Deutschen Idealismus verpflichteten Denkrichtung in der Philosophie. Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik (1900) verbindet den gesetzmäßigen Gang in der Geschichte der Hermeneutik mit dem Interesse der Geisteswissenschaft, den jeweiligen Lebensausdruck der geschichtlichen Welt über seine „Schriftdenkmale“ zu rekonstruieren. Da aber diese als hermeneutische ‚Wissenschaft‘
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Einleitung
ihre eigene Befangenheit in den Vorurteilen des Historismus weitgehend ausblendet, zeigt sie Züge einer Sterilität, die schon von Nietzsche in seiner Historienschrift scharf kritisiert wird. Erst mit dem von E. Husserl vorgelegten Entwurf einer phänomenologischen Bedeutungslehre, vor allem aber durch M. Heideggers Hermeneutik der Faktizität, die von Aristoteles aus und im Anschluss an Kierkegaard den Bruch mit einer idealistischen Hermeneutik besiegelt, kommt es zu einem grundlegenden Neuanfang in der Hermeneutik. Verstehen meint nun „nicht mehr ein Verhalten des menschlichen Denkens unter anderen, das sich methodisch disziplinieren und zu einem wissenschaftlichen Verfahren ausbilden lässt, sondern macht die Grundbewegtheit des menschlichen Daseins aus“ (GW 2, 103). Eine „philosophische Radikalisierung“ (K.-O. Apel) der Hermeneutik bei Heidegger zeigt sich vor allem unter dem Aspekt, dass für ihn Sprache das geschichtliche Medium einer Selbstauslegung des Seins im Selbst- und Weltverständnis des Menschen – „Da-Sein“ als „Lichtung des Seins“ – ist. Gadamer wird diesen Denkansatz seines Lehrers vertiefen, wenn er in der Sprache die Universalität eines jeden hermeneutischen Verstehens als begründet ansieht. Gadamers 1960 erschienenes Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik arbeitet im Anschluss an Heideggers „Hermeneutik der Faktizität“ Verstehen als einen Grundzug menschlichen Daseinsverhaltens heraus. Die Voraussetzungen für eine philosophische Hermeneutik liegen in dem Faktum, dass der existentielle Daseinsvollzug nicht determiniert ist, sondern auf Grund der Geschichtlichkeit des Daseins offen steht für die Möglichkeiten jeweiliger Entwürfe eines Sich-selbst-Verstehens. Auf dem Hintergrund einer Verabschiedung der idealistischen Bewusstseinsphilosophie wendet sie sich bei Gadamer gegen die Vorherrschaft des neuzeitlichen Methodenideals, das die Naturwissenschaften bestimmt, aber auch gegen das methodische Selbstverständnis von Positivismus, Historismus und Wissenschaftstheorie. Nach Schleiermachers theologischer Hermeneutik, Diltheys theoretischer Grundlegung der Geisteswissenschaften und Heideggers Philosophie als Hermeneutik des Daseins erhebt sie den Anspruch, im Verstehen ein universales Prinzip identifiziert zu haben, das nicht nur allen geisteswissenschaftlichen Erkenntnisleistungen, sondern darüber hinaus auch aller Traditionsvermittlung zugrunde liegt und damit als eine fundamentale Voraussetzung menschlicher Selbsterkenntnis unentbehrlich ist. Die aus dem Erfahrungshorizont des Daseins erschlossenen hermeneutischen Grundbegriffe lassen sich jedoch nicht definieren, sie sind im Blick auf die drei großen Themen Kunst, Geschichte und Sprache aus der Perspek-
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tive eines ästhetischen und sittlichen Weltumgangs zu charakterisieren, in dem sich der grundlegende rhetorische und der hermeneutische Aspekt der Sprache wechselseitig durchdringen. Dass alle Akte des Verstehens zugleich „Spracherscheinungen“ sind, diesen in Wahrheit und Methode entwickelten Grundsatz einer universellen Sprachlichkeit in jedem menschlichen Weltverhalten, betont auch der Beitrag Sprache und Verstehen (1970). Seine radikale These ist, „dass nicht nur der zwischenmenschliche Vorgang der Verständigung, sondern der Prozess des Verstehens selbst auch dann ein Sprachgeschehen darstellt, wenn er sich auf Außersprachliches richtet oder auf die erloschene Stimme des geschriebenen Buchstabens horcht, ein Sprachgeschehen von der Art jenes inneren Gesprächs der Seele mit sich selbst, als das Plato das Wesen des Denkens charakterisiert hat.“ (GW 2, 184). Lesen wir unser Dasein wie einen Text, dann haben die an ihm ablesbaren einzelnen Worte niemals für sich allein „Sinn“, vielmehr bauen sie „erst durch ihre vielstellige Bedeutung den einen Sinn“ auf, „der in vielen Verschlingungen von mitschwingenden Sinnlinien die Einheit des Text- und Redeganzen bewahrt“ (GW 9, 448). In ihr kann die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nur dann verstanden werden, wenn man auch den Kontext, in dem er steht, verstanden hat. In dem Versuch, Dasein in seinem inneren Daseinssinn zu verstehen, werden wir beständig auf das rätselhafte Phänomen der Sprache verwiesen. Ihr Da-Sein, das allem Verstehen voraus liegt, übersteigt stets das, was uns zu Bewusstsein kommt. Für Gadamer, der ein langes Leben hindurch der Sprache nachgedacht hat, gewinnt jedes Selbst- und Weltverhalten nur durch sie Ausdruck. Sprache ist nie auf den Begriff einer „isolierbaren Aussage“ reduzierbar, vielmehr eignet ihr jene Offenheit, in der die „Welt als Spielraum des Erscheinenden“ (G. Figal) zur Erscheinung kommt. Versteht man sie als ein subjektfreies Geschehen, hat sie „eine bergende und sich selbst verbergende Kraft, so dass das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewussten geborgen bleibt“ (GW 2, 198). Gadamers Kritik des ästhetischen Bewusstseins beruft sich darauf, dass es „gegenüber dem unmittelbaren Wahrheitsanspruch, der von dem Kunstwerk ausgeht“ (GW 2, 220) sekundär ist. Der Kunst wird ein ontologisches Primat vor dem Leben zugestanden, da sie grundlegende Aspekte an ihm zum Aufleuchten bringt. In dieser Epiphanie kommt ein Seinsgeschehen blitzhaft zur Darstellung. Dieses Geschehen lässt sich weder über die rationale Methode einer systematischen Begrifflichkeit auf dem Boden der cartesischen Reflexion (Husserl) noch durch die Deduktion der für die Konstitution des Erfahrungswissens von Kant aufgezählten Kategorien
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Einleitung
verifizieren. Es kann aber auch nicht mehr in einem metaphysischen Sinn ausgelegt werden. Es ist, will man es umschreibend andeuten, in der Welt unserer Erfahrung das Aufscheinen einer ‚Transzendenz‘ des Seins. Ihre Spiegelung (Reflexion) zeigt weniger die Philosophie, als vielmehr die Kunst. Ästhetischen Ausdruck gewinnt diese Transzendenz in einer Wortund Bilderwelt, deren ‚Sprache‘ den Doppelsinn der Erscheinungen, ihre Vielnamigkeit und das Schweigen eines Unausdenkbaren und Unaussagbaren hinter ihr festhält. Man muss diese Bezüge mitdenken, wenn man verstehen will, dass für Gadamer die Kunst dem Menschen eine „verschlossene, das Denken aus der Subjektivität übersteigende Erfahrung“ gewährt, „die Heidegger das Sein nennt“ (GW 1, 105). Kunst beschwört sie durch die Macht der Erinnerung als das, Was, von Menschen nicht gewusst Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. (Goethe, An den Mond) Was Wahrheit und Methode in den Rang eines Klassikers der philosophischen Literatur erhoben hat, ist die Verbindung einer ungewöhnlichen Vertiefung hermeneutischer Fragestellungen mit dem eleganten Stil hoher Gelehrsamkeit. Mit überlegener, zuweilen etwas weitschweifend wirkender Ruhe weiß sein Autor darzulegen, wie alles ‚Verstehen‘ unseres Daseins zugleich mit jenen großen theoretischen Fragestellungen verbunden ist, die in der Geschichte der Philosophie sich auf den ‚Sinn‘ von Dasein im Ganzen der Welt richten. Im Verlauf einer Rationalisierung aller Lebensbereiche in der Neuzeit sind diese Fragen mehr und mehr in die einzelnen Wissenschaften ausgewandert und führen in ihnen ein Schattendasein. Die hermeneutischen Reflexionen von Wahrheit und Methode verstehen sich als eine Bewusstmachung dieses Exils. Sie beziehen den Leser in ein Gespräch mit der philosophischen Tradition dieser Fragestellungen ein, wenn er an dem durch sie eröffneten Frage- und Antwortspiel teilnimmt, das das Buch souverän ausbreitet. Diese Teilnahme ermöglicht die Erkenntnis, „dass die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewusstsein weder abweisen noch überbieten kann“ (GW 1, 2). Wie die klassischen Autoren der philosophischen Tradition diesen ‚Wahrheitsanspruch‘ thematisieren, das hat Gadamer in meisterhaften Einleitungen in dem von ihm herausgegebenen Philosophischen Lesebuch
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dargelegt. Werden sie in ihrem inneren Zusammenhang gelesen, stellt sich ein Bewusstsein für das ein, was Philosophie im Wandel ihrer geschichtlichen Erscheinungsformen als ein fragendes Denken endlicher Vernunft ist. Es wird aber auch an einem solchen Denken bewusst, dass wir, wie es G. Steiner in seinem Essay Warum Denken traurig macht (2006) mit einiger philosophischer Ungenauigkeit, doch im Ganzen treffend formuliert hat, „einer Antwort auf die Frage, ob der Tod endgültig ist oder nicht, ob es Gott gibt oder nicht, keinen Zoll näher gekommen sind als Parmenides oder Platon.“ Die von Gadamer vorgelegte philosophische Hermeneutik ist durch Fragen geleitet, die bereits von ihrem geschichtlichen Ursprung her über die Grenze hinausdrängen, „die durch den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft gesetzt sind“ (GW 1, 1). So der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken, der Frage nach der Struktur des Verstehens, in der sich das Dasein im Strom der Zeit zu sich selbst verhält, der Frage nach der Seinsweise einer universellen Sprachlichkeit in allen Akten, die sich auf ein Verstehen von ‚Welt‘ beziehen, der Frage nach der Ontologie des Kunstwerkes, der Frage, welche philosophische Erfahrung in den Texten der Überlieferung aufbewahrt ist. Welche Bedeutung angesichts ihrer einem hermeneutischen Gespräch über Subjektivität in einem nachmetaphysischen Zeitalter (W. Schulz) zukommt, wird in einem fortlaufenden Dialog mit Plato, Aristoteles, Hegel und Heidegger herausgearbeitet. Die Erfahrung der Philosophie, der Kunst und der Geschichte verweist auf eine Wahrheit, die mit der Methode der Wissenschaft nicht verifiziert werden kann. Wie aber, so Gadamer, lässt sich diese ‚Wahrheit‘ philosophisch legitimieren? Die Antwort, die er in der Einleitung gibt, beruft sich darauf, „dass nur die Vertiefung in das Problem des Verstehens eine solche Legitimation bringen kann“ (GW 1, 2). Die von ihm angesprochene ‚Vertiefung‘ erfordert zunächst eine Klärung, was Sprache ist und wie wir, durch sie gelenkt, uns in ein tätiges Verhältnis zu Welt und Dasein setzen. Verhalten wir uns zu ihnen verstehend, dann stellt sich das Problem, wie das Verhalten zu Umwelt und Mitwelt durch die Regeln der Sprache und ein über sie kodifiziertes ‚System‘ von Normen der Tradition bestimmt ist. Die Hermeneutik Gadamers reflektiert dieses Verhältnis jedoch weder im Sinne einer Semiotik noch thematisiert sie es auf dem theoretischen Niveau des Strukturalismus. Sie entfaltet es an einem sprachlichen Sinn von Verstehen, der auf die Grenze der Methode reflektiert. So schreibt er in einem Beitrag seines Ergänzungsbandes von Wahrheit und Methode:
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Einleitung
„Hermeneutische Reflexion übt so eine Selbstkritik des denkenden Bewusstseins, die alle seine Abstraktionen, auch die Erkenntnisse der Wissenschaften, in das Ganze menschlicher Welterfahrung zurückübersetzt. Philosophie vollends, die immer, ausdrücklich oder nicht, Kritik der überlieferten Denkversuche sein muss, ist ein solcher hermeneutischer Vollzug, der die Strukturtotalitäten, die die semantische Analyse herausarbeitet, in das Kontinuum des Übersetzens und Begreifens einschmilzt, in dem wir bestehen und vergehen.“ (GW 2, 183) Im 1. Teil von Wahrheit und Methode geht es um die Wahrheit in der Kunst. „Dass an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird, die uns auf keinem anderen Weg erreichbar ist, macht die philosophische Bedeutung der Kunst aus“ (GW 1, 2). Die ihr gewidmeten Ausführungen dienen der Abgrenzung von einem Verständnis der Geisteswissenschaften, das sich hinsichtlich seiner Geltung in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften auf eine methodische Grundlegung ihrer Kategorien beruft, ohne doch über den Historismus des 19. Jahrhunderts hinaus zu kommen. Gadamers eigene Hermeneutik entwickelt sich aus seinem Gespräch mit Dilthey und Heidegger. Sie ist keine Methodenlehre der Geisteswissenschaften wie bei Dilthey, „sondern der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstverständnis hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet“ (GW 1, 3). Dieser Versuch ist mit prägenden Erfahrungen verbunden, die Gadamer in seinen ‚philosophischen Lehrjahren‘ aufgenommen und in seiner Hermeneutik eigenständig weitergedacht hat: die phänomenologischen Deskription Husserls, die „Weite des geschichtlichen Horizontes“, die Dilthey dem Denken erschlossen hat, und vor allem die Denkanstöße des Lehrers Heidegger, die die Frage nach dem Sinn von Sein stellen. Alle diese Erfahrungen werden von ihm daraufhin fokussiert, dass Verstehen als ein sprachliches Geschehen nie auf einen mit sich selbst identisch bleibenden Sinngehalt dessen, was wir meinen verstanden zu haben, reduzierbar ist, sondern als ein immer erneutes Anders-Verstehen seinen Ort im Gespräch mit den uns über die Geschichte, die Philosophie und die Kunst vermittelten und eröffneten Sinnhorizonten endlicher Vernunft besitzt. Gegenstand der Geisteswissenschaften ist für Dilthey der Strom des historischen Werdens. Im Gegensatz zum Neukantianismus, der Geschichte als Wissenschaft begründen wollte, sieht er seine Gesetzlichkeit in der inneren Erfahrung des Menschen fundiert. Die Differenz zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften fasst er in den Satz: „Die
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Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ (Ges. Schriften V, 144). Während die Naturwissenschaften als strenge Wissenschaft die physische Welt durch die methodische Erfassung der in ihr herrschenden Kausalität erklären, führen die Geisteswissenschaften die objektiven Zusammenhänge der historischen Wirklichkeit auf eine Typologie des geistigen Lebens zurück. Sie bildet für Dilthey die Grundlage des historischen Verstehens, die zugleich eine Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen ist. Das Leben kann nur in der Vielfalt seiner geschichtlichen Erscheinungen verstanden werden. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Position hermeneutischer Fragestellungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts durch den an einer Methodenlehre der Wissenschaft orientierten Neukantianismus verdeckt wurde, setzt Gadamer im ersten Teil von Wahrheit und Methode eine erneute Reflexion auf ein in der Kunst verborgenes Wahrheitsgeschehen in Gang. Sie knüpft an Hegels Deutung der Kunst als der Vermittlung von Idee und Erscheinung an und zeigt, wie wir in der Begegnung mit dem Kunstwerk die Erfahrung mit einer ‚Wahrheit‘ machen, die unser Sehen verändert, wenn sie den Blick auf eine im Wirklichen verborgene geistige Welt richtet, deren Darstellung in der Kunst die Hermeneutik offen legt. Die Auslegung der Welt am Leitfaden der Kunst führt bereits bei Nietzsche zu einer ästhetisch erweiterten Vernunft, die das, was wir meinen, verstanden zu haben, plötzlich ganz anders sehen lässt. Die Erfahrung, die uns durch die Kunst zuteil wird, lässt die durch die subjektive Leistung unseres Bewusstseins konstruierte Einheit unserer Welterfahrung brüchig werden und bringt an dieser Bruchlinie die andere Seite der Dinge, das Fremde und Unvertraute an ihnen zum Vorschein. In der Begegnung mit einem Kunstwerk, einem philosophischen oder literarischen Text, eröffnet sich für uns eine neue Perspektive auf die Welt, die unsere gewohnte Sicht auf die Dinge erschüttert und uns auffordert, aus einer fremden Sicht mit den Dingen in einen Dialog einzutreten. In seiner Einführung zu der Abhandlung seines Lehrers Heidegger Der Ursprung des Kunstwerkes (1936) schreibt Gadamer, dass dessen Sein nicht darin besteht, dass es zum Erlebnis wird: „Es ist selbst durch sein eigenes Dasein ein Ereignis, ein Stoß, in dem sich Welt öffnet, die so nie da war.“ 1 Dass im Kunstwerk die Offenheit der Welt als eine in sich ruhende Gestalt zum Scheinen kommt, ist ein Grundgedanke Heideggers. Der ‚Stoß‘, den es dem Betrachter versetzt, stellt den Menschen vor eine Wahrheit, die, gegen Hegel formuliert, in keiner Wahrheit des philosophischen Begriffs aufgehoben ist. Es ist die 1
M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1960, S. 106.
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Einleitung
Begegnung mit den Werken der Kunst, die dem Verstehen unseres Daseins eine riskante Tiefendimension zu verleihen vermag. Es sind die großen Kunstwerke, die uns in unserer Daseinshaltung erschüttern und darüber belehren, dass Kunst nie nur ‚ästhetisch‘ verstanden werden kann. Die Erfahrung mit ihr erlaubt den Schluss, dass eine wissenschaftliche Beschreibung von Lebensphänomenen die ihnen zu Grunde liegenden Strukturen zwar mit Hilfe theoretischer Modelle zu erklären vermag, der Vieldeutigkeit des Lebens jedoch nie gerecht wird. Die wundersamen Epiphanien, die wir den Werken der Kunst verdanken, öffnen den Blick auf fremde Dimensionen der Wirklichkeit und ihrer Resonanz im Bereich des Seelischen, die durch keine wissenschaftliche Disziplin auf einen einheitlichen Begriff gebracht werden können. Eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, wie sie im Rahmen einer Kritik der historischen Vernunft Dilthey vorgelegt hat, verwickelt sich in Aporien, wenn sie in der inneren Erfahrung einer universellen Geschichtlichkeit des Bewusstseins, in der Erleben und Ausdruck als Objektivierung von Sinn und Verstehen einen unauflösbaren Zusammenhang bilden, die Bedingung der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der ‚Tatsachen‘ des Lebens sieht. Ihr gegenüber steht das Urteil Gadamers, dass es keine hermeneutische Methode gibt. Zwar teilt er im Begriff der ‚Geschichtlichkeit‘ Diltheys Erkenntnis, dass der Mensch ein durch die Geschichte bedingtes Wesen ist, seine Skepsis gilt jedoch der noch im Schatten Hegels stehenden Überzeugung, das historische Bewusstsein als der Sinn der geschichtlichen Entwicklung sei in einer ‚Metaphysik des Lebens‘ begründet. Es ist die Erfahrung mit der Welt der Kunst, mit der Sprache des Kunstwerkes, die den von Gadamer vorgelegten Entwurf einer philosophischen Hermeneutik davor bewahrt, ein in der Zeitlichkeit unseres Daseins fundiertes ‚Wahrheitsgeschehen‘ aus vorgegebenen Prinzipien der klassischen Philosophie oder aus einer ‚monadischen‘ Einheit des Bewusstseins abzuleiten. Seine hermeneutische Ausdeutung dieses Geschehens ist selbst Kunst. Sie orientiert sich an Hegels Idee einer Universalität des geistigen Seins und lässt in der vielfarbigen Textur unseres Lebens jene kunstvoll aus Erzählungen, Begriffen und Reflexionen eingewebten Muster sichtbar werden, die dem Verstehen unseres Daseins zu Grunde liegen. In einem engeren Sinn besteht die Aufgabe der Interpretation für ihn als Lehrenden im Anschluss an Platons Schriftkritik darin, einen Weg von den schriftlich fixierten Zeichen in den klassischen Texten der philosophischen Tradition hin zu dem lebendigen Wort zu finden, um so den durch die moderne Lebenswelt zerrissenen Zusammenhang des Gesprächs zwischen den Zeiten wieder herzustellen. Die Betonung einer inneren Kontinuität im Wandel
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der geschichtlichen Überlieferung, vermittelt durch das philosophische Gespräch über den Abstand der Zeiten hinweg, zielt auf eine ethische Einsicht in das, was als ‚das Gute‘ zu allen Zeiten im Sinne einer humanen Praxis den begründeten Anspruch auf Geltung erhebt. Die Kunst der Lehre, die Gadamer bei Heidegger studiert hat, zielt darauf, in einem inneren Gespräch mit der philosophischen Tradition ihre uns hinterlassenen Zeugnisse so zum Sprechen zu bringen, dass sie anfangen, in einer neuen Sprache zu uns zu reden. Im Hören auf sie verwandelt sie uns in unserem erstarrten Selbstverständnis. Der Augenblick, der uns die Möglichkeit dieser Verwandlung bewusst macht, ist der kairos des Verstehens, dem alle Mühe des Studiums gilt. Aus ihm resultiert die Einsicht, dass eine historische Rekonstruktion der ‚Aussagen‘ der Philosophie aus dem ‚Geist der Zeit‘ nicht genügt, da er ihren überzeitlichen Wahrheitsgehalt relativiert und ihn in die Unverbindlichkeit des bloß historischen Wissens rückt. Der 2. Teil thematisiert den Entwurf von Grundzügen einer Theorie des Verstehens, und verbindet ihn mit einer Ausweitung der Wahrheitsfrage auf die Besonderheit der Verstehensvollzüge in den Geisteswissenschaften. Geschult an der Phänomenologie Husserls und an Heideggers Entfaltung der existentialen Struktur des Verstehens, richtet er sich gegen den Historismus des 19. Jahrhunderts. Die von Heidegger explizierten Weisen des Verstehens, in denen sich das Dasein in seinem In-der-Welt-Sein versteht, sind Bewegtheitsstrukturen im Horizont der Zeit. Über sie als ontologische Bestimmungen des menschlichen Daseins konstituiert sich die Erschließung des ‚Sinns‘ von Sein als Möglichkeit der Erschließung von Welt. Die in Sein und Zeit entwickelte Daseinsanalytik hat einen starken Einfluss auf Gadamers Theorie des Verstehens. Mehr aber als das bei Heidegger der Fall ist, wird die Sprachlichkeit in allen Akten des Verstehens von ihr herausgearbeitet. Wie I. M. Fehèr in seinem Beitrag Zum Sprachverständnis der Hermeneutik Gadamers (2000) gezeigt hat, richtet sich dessen Kritik an der gegenwärtigen Sprachphilosophie vor allem gegen eine instrumentalistische Zeichentheorie, die der „innigen Einheit von Wort und Sache“ (GW 1, 407) nicht gerecht wird. Die Prägung unserer kulturellen Identität durch die Sprachen religiöser und philosophischer ‚Wahrheiten‘ im Sinne von Deutungen des Menschenlebens, die noch im Vergessen lebendig bleiben, ist für Gadamer eine unhintergehbare Vorbedingung seines Verständnisses von Hermeneutik. Insofern er „die hegelsche Bewusstseinsgeschichte in eine Geschehensgeschichte des Bewusstseins übersetzt“, 2 kommt dem, was bei ihm ‚Ge2
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, hg. v. G. Figal, Berlin 2007, S. 5.
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Einleitung
schichtlichkeit‘ heißt, besondere Bedeutung zu. Sie besagt, dass der Mensch Geschichte in den Akten des Verstehens seiner durch sie geprägten Historizität aus der Situation seiner Stellung in der Welt der Praxis ‚für sich‘ und ‚auf sich hin‘ auslegt, ohne dass diese Auslegung in der Verschränkung von ‚Nachverstehen‘ und ‚Selbstverstehen‘ (O. Pöggeler) in einem ‚historischen Objektivismus‘ aufgeht. „Der Begriff der Geschichtlichkeit will nicht etwas über einen Geschehenszusammenhang aussagen, dass es wirklich so war, sondern über die Seinsweise des Menschen, der in der Geschichte steht und in seinem Sein selber von Grund auf nur durch den Begriff der Geschichtlichkeit verstanden werden kann.“ (GW 2, 135) Das im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der hegelschen Philosophie sich herausbildende ‚historische Bewusstsein‘, gegen dessen erdrückende Präsenz sich Nietzsches unzeitgemäße Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben polemisch zur Wehr gesetzt hat, ist auf ein ‚wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘ hin zu erweitern. Es reflektiert auf die Überlagerung von nie völlig transparent zu machenden Sinnhorizonten der geschichtlichen Überlieferung. Sie sind in der Welt menschlicher Erfahrung immer durch bestimmte kulturell vermittelte Vorurteile geprägt. Auf dem Hintergrund dieses Gedankengangs erfordert die bereits von Dilthey anhand einer Theorie der Erkenntnis des Lebenszusammenhangs thematisierte hermeneutische Zirkelstruktur des Verstehens besondere Beachtung. Ausdruck gewinnt sie in dem Vorverständnis eines geschichtlich vermittelten Sinnganzen und der Auslegung seiner Teile auf dieses Ganze hin. Für den Akt des Verstehens der auf ihre Bedeutung hin interpretierten Lebensphänomene kommt ihr ein produktives Element zu. Es zeigt sich daran, dass sie die Perspektivengebundenheit des Erkennens in der Weise in sich aufnimmt, dass sie der Vieldeutigkeit der Weltphänomene gerecht zu werden vermag. Im Unterschied zu der von Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelten Dialektik, an deren Ende die zu sich selbst gekommene Einheit des absoluten Geistes steht, ist der hermeneutische Zirkel als ein Zeichen endlicher Vernunft unhintergehbar. Er lässt sich weder auf den idealistischen Geistbegriff Hegels noch auf ein Sein im Sinne Heideggers zurückführen. Jedes individuelle Verstehen ist in ein überindividuelles Überlieferungsgeschehen eingebettet. In dieser Horizontverschmelzung (Gadamer) ist Ältestes und Vergessenes im Gegenwärtigen anwesend. Noch immer segelt in unseren Träumen Odysseus auf dem weinfarbenen Meer nach Itha-
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ka, sitzt Penelope am Webstuhl, steht Ödipus auf dem Weg nach Theben vor der Sphinx. Die Arbeit des Denkens, diese Odyssee des Geistes, schärft den Blick für die Verschränkung des eigenen Verstehenshorizontes mit ganz fremden Verstehenshorizonten, wie sie zum Beispiel in den überlieferten Werken der griechischen Tragiker oder in der Spruchweisheit Heraklits Ausdruck gewinnen. An ihnen kommt das eigene Verstehen in der Begegnung mit dem ihm fremd gegenüber stehenden ‚Anderen‘ zu dem Bewusstsein seiner Gebundenheit an die eigene Epoche. Das heißt: weder kann die Moderne antik, noch die Antike modern interpretiert werden. Es gehört zu den wertvollsten Einsichten von Gadamers Hermeneutik, dass sie einen Zusammenhang zwischen der Kontinuität der Geschichte und dem ontologischen Rätsel der Zeit offenkundig macht. In dem Beitrag Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz (1965) findet sich eine Bemerkung über die Wahrheit des historischen Bewusstseins, deren Dialektik ganz auf der Linie einer von Nietzsche intendierten Philosophie des Werdens zu liegen scheint, ohne ihrem Umschlag in eine Lehre der ewigen Wiederkehr zu folgen. „Vielleicht liegt der Erfahrung von Kontinuität noch etwas ganz anderes zugrunde als die Erfahrung des unaufhörlichen Verfließens der Zeit. Die im Fragen nach dem Sein der Geschichte gefragte Kontinuität der Geschichte gipfelt letzten Endes darin, dass es aller Vergänglichkeit zum Trotz überhaupt kein Vergehen gibt, das nicht immer zugleich ein Werden ist. Darin scheint die Wahrheit des historischen Bewusstseins zu ihrer Perfektion gekommen, dass es im Vergehen immer auch Werden, im Werden immer auch Vergehen gewahrt und immer wieder aus dem endlosen Vorüberfluten von Veränderungen die Kontinuität eines geschichtlichen Zusammenhanges aufbaut.“ (GW 2, 136) Die Reflexion auf eine Begriffsgeschichte des philosophischen Denkens führt zu der Erkenntnis jeweiliger historischer Ablagerungen von Wirklichkeitssubstraten in abstrakten Begriffen. Sie freizulegen heißt, dem Verständnis philosophischer Begrifflichkeit die Einsicht in ihre gleichsam organische Herausbildung aus den Erfahrungsgehalten lebensgeschichtlicher Räume zu vermitteln. Die Erinnerung an die Metamorphosen einer aus ursprünglichen Fragestellungen von der Philosophie entwickelten Thematisierung ihrer Denkinhalte dient der Klärung vergessener Wertgehalte in
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einem historischen Prozess der Herausbildung jeweiliger Identitäten menschlicher Selbstauslegung. Das der Gegenwart verloren gegangene Bewusstsein für eine geistige Überlieferungsgeschichte, in der sich ‚Identität‘ als eine substantielle Größe auf dem Hintergrund ihrer schwer umkämpften Selbstfindung herausgebildet hat, zeigt bei dem gegenwärtigen Stand von Bildung Züge eines Verfalls. Ihre Revision ist für Gadamer mit einer innovativen Wiederaneignung des Erbes der griechischen Philosophie verbunden. Darüber hinaus zielt sie auf eine Vertiefung des Bewusstseins für eine in aller Diskontinuität des Denkens sich durchhaltende Kontinuität der philosophischen Reflexion im Gespräch mit den großen Philosophen der Antike, der Neuzeit und der Moderne. Der Vortrag Die philosophischen Grundlagen des 20. Jahrhunderts (Kleine Schriften I, 140– 148) nennt drei ‚Partner‘ des Gesprächs über die Jahrhunderte hinweg: die Griechen, Kant und Hegel. Letzterer hat in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie uns jene denkwürdige Passage hinterlassen, die als ein Motto für Gadamers hermeneutischen Ansatz gelesen werden kann: „Der Inhalt dieser Geschichte sind die wissenschaftlichen Produkte der Vernünftigkeit, und diese sind nicht ein Vergängliches. Was in diesem Felde erarbeitet worden, ist das Wahre, und dieses ist ewig, existiert nicht zu einer Zeit und nicht mehr zu einer anderen. Die Körper der Geister, welche die Helden dieser Geschichte sind, ihr zeitliches Leben ist wohl vorübergegangen, aber ihre Werke sind ihnen nicht nachgefolgt.“ (Hegel, Werke Bd. 18, 57 f.) Das aus dem Gespräch geborene Philosophieren nimmt die durch die Tradition geknüpften Fäden der Reflexion auf und verbindet sie zu neuen Formen des Denkens. Das heißt für die Unabschließbarkeit der hermeneutischen Reflexion: Das Denken des Geistes kommt als ein unendliches Gespräch an kein Ende. Da der Strom des Lebens über weite Strecken unterirdisch verläuft, kann Gadamer daran erinnern, dass es für uns darauf ankommt, die Quellen zu entdecken, aus denen er sich speist und ständig erneuert: „Steigen wir hinein in die gleichen Ströme, fließt andres und andres Wasser herzu.“ (Heraklit, fr. B 12) In der produktiven Rezeption der Geschichte der Philosophie gewinnt das eigene Denken einen Zuwachs an Erkenntnis. Es gibt einen Grundbestand an philosophischen Fragen, der in allem geschichtlichen Wandel seiner Überlieferung sich durchhält und die Fragen gegenwärtigen Philosophierens entscheidend mitbestimmt. Gadamer hat das in vielen einzelnen Studien gezeigt, zuletzt in seinen 1988 in Neapel gehaltenen Vorlesungen, die unter den Titeln Der Anfang der Philosophie und Der Anfang des Wissens erschienen sind und auf die Wirkungsmächtigkeit des ‚Anfangs‘ hinweisen. Wir verstehen,
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wenn wir sie durchgearbeitet haben, dass wir mit unserem Denken immer noch an diesem Anfang stehen. Die Aufdeckung der Quellen, aus denen sich unser Denken speist, geschieht am Leitfaden von zentralen Texten der philosophischen Tradition. Dass sie, befreit aus dem Grab ihrer schriftlichen Form, anfangen, als Stimme zu uns zu reden, wird über eine Dialektik von Frage und Antwort eingeübt. Ihr Vorbild hat sie in bestimmten Denkmodellen Platons und Hegels. Aus dem mit ihnen verbundenen Anspruch auf Wahrheit stellen sich jene Fragen, die die Normalität einer unreflektierten Daseinshaltung in Frage stellen. Im Staunen, dass die Dinge der Welt anders sind, als wir sie gewöhnlich sehen, kommt es zu einer Erschütterung unserer Existenz. Sie erweckt aus dem Schlaf der Vernunft. Gleichzeitig schärft sie die Intuition für eine mit dieser Erschütterung verbundene ‚pädagogische‘ Zielsetzung. Sie geht nicht in der Forderung des Sokrates nach einer Prüfung der unreflektierten Werthaltungen in unserer Daseinsführung auf, sondern will über sie hinaus den Blick für die zeitlose Erfahrung der griechischen Tragödie öffnen, dass die Menschen durch das ihnen auferlegte Leiden zu Wissen und zu einer sokratisch verstandenen ‚Weisheit‘ gelangen. Gadamer beruft sich auf die Orestie des Aischylos, wenn er schreibt: „Er hat die Formel gefunden, oder besser in ihrer metaphysischen Bedeutung erkannt, die die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung aussagt: ‚Durch Leiden Lernen‘ (pathei-mathos). Diese Formel meint nicht nur, dass wir durch Schaden klug werden und die richtigere Erkenntnis der Dinge erst durch Täuschung und Enttäuschung erwerben müssen. So verstanden dürfte die Formel so alt sein wie die menschliche Erfahrung selbst. Aber Aischylos meint mehr. Er meint den Grund dafür, warum es so ist. Was der Mensch durch Leiden lernen soll, ist nicht dieses oder jenes, sondern ist die Einsicht in die Grenzen des Menschseins, die Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Grenze zum Göttlichen hin. Es ist am Ende eine religiöse Erkenntnis – diejenige Erkenntnis, aus der die Geburt der griechischen Tragödie erfolgt ist.“ (GW 1, 362 f.) Die Grenze, die allem menschlichen Denken und Nachdenken gesetzt ist, erzwingt ihre Anerkennung und nötigt eine philosophisch geführte Existenz zu dem Verzicht, sich auf ein ‚Jenseits‘ hin zu überschreiten. Versteht Gadamer in der Nachfolge Heideggers Dasein als geworfenen Entwurf, so kann sein Denken nicht mehr auf den Platonismus bezogen werden. Aus dem Ende der Metaphysik resultiert die Aufgabe, die Faktizität des
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Daseins im Bewusstsein ihrer Endlichkeit in Freiheit zu übernehmen und sich über diese ethische Verpflichtung, die nicht auf Abstand gehalten werden kann, im Dialog um das recht geführte Leben Rechenschaft abzulegen. Man kann unschwer erkennen, dass hinter diesem Gedanken Gadamers nicht nur Sokrates, sondern auch Aristoteles und der von der Generation Heideggers und Gadamers entdeckte Kierkegaard steht. Der dritte Teil zeigt gegenüber den beiden vorhergehenden Teilen von Wahrheit und Methode eine Steigerung. Er stellt die von Heidegger initiierte ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache in den Mittelpunkt der Reflexion. Ihr Thema ist die innere Verwobenheit von Sein, Verstehen und Sprache. Der Weltbezug des Menschen wird über die Sprache eröffnet. Gadamer schließt an die Griechen an, wenn er auf den in der Sprache waltenden logos (Heraklit) hinweist, der die Weisen unseres Verstehens lenkt. „Die sprachliche Welterfahrung ist ‚absolut‘. Sie übersteigt alle Relativitäten von Seinssetzung, weil sie alles Ansichsein umfasst, in welchen Beziehungen (Relativitäten) immer es sich zeigt. Die Sprachlichkeit unserer Welterfahrung ist vorgängig gegenüber allem, das als seiend erkannt und angesprochen wird.“ (GW 1, 453 f.) Sprachlichkeit ist ein ‚Apriori‘, das jedem Akt des Verstehens zugrunde liegt, so die Grundthese Gadamers. Im Blick auf die „ontologische Wendung der Hermeneutik“ sucht er nach in der Geschichte der Philosophie verankerten Sprachkonzeptionen, in denen sich diese Wendung anzeigt. An dieser Stelle wird für ihn Augustinus wichtig. Denn, so J. Grondin: „Das menschliche Denken ist eben keine pure Selbstgegenwart, keine reine noesis noeseos. Das Denken folgt vielmehr dem Rhythmus der Worte, in die es immer schon einverleibt ist. Diese unvordenkliche Angewiesenheit des Denkens auf eine schon gegebene und gesprochene Sprache charakterisiert die ursprüngliche Gegebenheit der Sprachlichkeit, wie sie der augustinische Inkarnationsgedanke dem Denken erschließt.“ 3 Das dialogische Element der Sprache, in dem es zu einer Verständigung über das kommt, was philosophische Wahrheit genannt wird, hat für Gadamer sein Vorbild in der Philosophie Platos. Die Lebendigkeit ihrer Denkbewegung ist eine Grundgestalt der Philosophie. Bestimmt ist sie durch die Sache des Denkens, unter deren Führung alles Philosophieren steht. Jeder einseitig fixierte Standpunkt in der Wahrheitsfrage, wie er in 3
J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 215 f.
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den Ideologien unseres Jahrhunderts mit verheerenden politischen Folgen manifest wird, muss als ein dogmatischer Schein aufgelöst und in dem Wellenspiel von Auf- und Niedergang menschlicher Meinung durch die von Gadamer betonte Einheit von Dialog und Dialektik immer erneut verflüssigt werden. Das heißt: Nicht Thesen und Antithesen sind für die Tätigkeit des Geistes entscheidend, sondern seine endlichen Spiele der Auslegung von Welt. Diese ‚Spiele‘ sind nicht beliebig. Sie unterstehen einem sie lenkenden Prinzip, der Sprache, durch die die Selbstbewegung des Geistes zu ihrem Ausdruck kommt. Das dynamisch-energetische Tätigsein der Sprache, das sich gegen seine Reduktion auf die Satzaussage des Urteils sperrt, eröffnet das Feld der hermeneutischen Erfahrung, auf dem die ‚Aussagegehalte‘ im Logos immer auf je andere Weise gegenwärtig sind. Die Dynamik der Sprache richtet sich über das Vorhandene hinaus auf eine unvordenkliche ontologische Erfahrung, die allen menschlichen Meinungen voraus liegt. Wenn sie sich aus ihrer Unverfügbarkeit heraus dem Menschen schenkt, erinnert sie von Ferne – in einem neuplatonischen Sinn – an das Licht, das auf den Dingen liegt und sie in seltenen Augenblicken zum Aufglänzen bringt. Dieses Aufleuchten ist für die Griechen das Schöne. Dem Glanz, der über dem weiten Meer des Schönen liegt, hat Gadamer am Ende von Wahrheit und Methode einige seiner schönsten Passagen gewidmet. Das Urbild kommt im Schönen zu seiner abbildlichen Erscheinung. In dieser dynamischen Umkehrung des ontologischen Vorrangs des Urbildes gründet für Gadamer die Wahrheitsfähigkeit ästhetischer Gebilde, womit ein ursprünglich platonischer Gedanke aufgenommen und über Plato hinaus weitergeführt wird. Ein ‚Wahrheitsgeschehen‘, verborgen im Sein der Welt, wie es für Gadamer in der Kunst als Darstellung Ausdruck gewinnt, entzieht sich seiner Integration in das Objektivitätsideal der Wissenschaft. Die Versuche, es deskriptiv in der Form von Aussagesätzen zu objektivieren, scheitern. Es erschließt sich einem symbolischen Verstehen, dem ein nicht-repräsentationaler Wahrheitsbegriff zugrunde liegt. Die von Gadamer im Anschluss an Plato, Hegel und Heidegger eingenommene Stellung zu ‚Sinn‘ und ‚Wahrheit‘ gesteht sich die Vorläufigkeit aller menschlichen Rede über ‚das Gute‘ ein, besteht aber auf der intentionalen Ausrichtung des menschlichen Daseins auf die Idee des Guten. Sie ist nicht mit der Transzendenz eines Gottes zu verwechseln. Auch ist sie kein ‚Gegenstand‘ in der Welt. Ihren sinnlichen Ausdruck gewinnt sie in einer philosophischen Weise der Lebensführung. So ‚wissen‘ wir, nachdem wir die Rede des Alkibiades in Platons Symposion gelesen haben, es ist
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Sokrates, der diese Idee durch seine einzigartige Daseinshaltung verkörpert. Das mit dieser Haltung verbundene ‚Wissen‘, das seinen Niederschlag freilich nicht in sprachlich formulierten Erkenntnissen, sondern im Vorrang der Frage findet, hat den Widerstand der an der sprachanalytischen Philosophie orientierten Kritiker von Gadamers Denken auf den Plan gerufen, die mit Wittgenstein „den Zweck der Philosophie“ in „der logischen Klärung der Gedanken“ (Tractatus logico-philosophicus, 4.112) sehen, eine Einstellung, die in dessen Spätwerk zu der Konsequenz geführt hat, die Tätigkeit des Philosophierens nur als ‚Sprachspiel‘ gelten zu lassen. So hat zum Beispiel E. Tugendhat Gadamer wiederholt vorgeworfen, dass er auf Grund seiner Abhängigkeit von Heidegger zwar von ‚Wahrheit‘ spreche, aber nirgends von deren Gründen. 4 Wenn er weiter behauptet, es bleibe daher unklar, wie das von ihm geforderte Gespräch strukturell auszusehen habe, dann verkennt diese Kritik, dass das Gespräch bei Gadamer sich eindeutig am platonischen Dialog orientiert. Jedes Wort öffnet einen Spielraum zwischen Gesagtem und Ungesagtem, in jedem Wort spiegelt sich eine unendliche Differenziertheit von ‚Sinn‘. In der gleichsam musikalischen Wahrnehmung einer inneren Gestimmtheit muss – so das platonische Erbe – das innere Ohr im Gespräch als das Resonanzorgan für Unerhörtes erzogen werden. Wer bei Gadamer studiert und gelernt hat, mit ihm zu philosophieren, der weiß, dass der heimliche Lehrmeister des philosophischen Gesprächs der Eros ist, wie ihn Platon im Symposion porträtiert hat. Als Sohn von poros und penia ist er der Hermeneut mit den Zügen des Sokrates. Immer treibt er sich zwischen den getrennten Sphären von Nüchternheit und Trunkenheit, Sterblichem und Unsterblichem als Landstreicher und Eckensteher herum, wie ihn Nietzsche im Aphorismus „Das Genie des Herzens“ in Jenseits von Gut und Böse verherrlicht hat. Keine auf die Methode gestützte Wahrheitstheorie kann sich auf ihn berufen, weil er den ‚Sinn‘ jeder fest stehenden menschlichen Rede über die Wahrheit immer erneut in Frage stellt und in die Aporie treibt. Ein Geschehen, das die Hermeneutik Gadamers in der Offenlegung der Vorläufigkeit aller menschlichen Sinnentwürfe in der Geschichte darlegt. Nur ‚Götter‘ sind, ironisch formuliert, im Besitz der Wahrheit. Aus diesem Grund philosophieren sie nicht. Seine Gegner, die diese schlichte Erkenntnis verkennen, haben gegen ein hermeneutisches Denken, das den Grenzen der Vernunft nachdenkt, zu Unrecht den Vorwurf des Relativismus erhoben. In ihren Argumenten haben 4
E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München, S. 169.
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sie nur wiederholt, was die Athener dem Sokrates als Sophistik vorwarfen. Was an Gadamers Hermeneutik beeindruckt, ist eine Philosophie der Bescheidenheit. In den Gesprächen mit R. Dottori, Die Lektion des Jahrhunderts (2001), findet sich der entscheidende Satz: „Also was ist Philosophie? Ein Wissen, das ganz beschränkt ist und von Grenzen umgeben.“ Hermeneutik ist für Gadamer die Reflexion auf unsere Endlichkeit, die es verbietet, über die Grenzen, die allem Verstehen gesetzt sind, hinauszugehen. Man kann zu Recht behaupten, dass der Kritizismus Kants mit der Zurückweisung der Ansprüche der theoretischen Vernunft seine hermeneutische Ausdeutung findet. Die Anerkennung der Endlichkeit unseres Wissens ist für den späten Gadamer im Sinne wahrer phronesis eine Figur der Weisheit. Seine ‚Sprachhermeneutik‘ (J. Grondin), die sich gegen die dominierende Einseitigkeit der Aussagelogik unter Berufung auf die alte Lehre vom verbum interius (inneres Wort) richtet, ist dialogisch strukturiert. Sie führt das durch Plato hinterlassene Erbe des sokratischen Dialogs als Kunstform (Schleiermacher) eigenständig weiter. Philosophie ist für das hermeneutische Verständnis ein offenes Denken, die innere Unterredung der Seele mit sich selbst in jenem Gespräch, das wir sind. Die Wahrheit, um deren existentiale Modi (Heidegger) es bei dieser Unterredung geht, ihre Bewährung in der Anwendung auf die Situationen in der Praxis unseres Lebens, muss im philosophischen Gespräch gesucht werden. Indem das Gespräch mit der Überlieferung auf die Geschichtlichkeit jeweiliger Wortbedeutungen im Gebrauch der Sprache in den uns hinterlassenen Texten der Philosophie reflektiert, zielt es über sie hinaus auf ein kommunikatives Einverständnis über das, was wir auf Grund von Argumenten gewillt sind, als die Idee eines gelungenen Lebens für die Führung unseres Daseins in Freiheit anzuerkennen. Ihre Bewährung im Gang der Zeit muss immer erneut geprüft werden. Der Maßstab dieser Prüfung ist der für Gadamers Hermeneutik bedeutsame Begriff der phronesis. Sie ist jene Vernünftigkeit des praktischen Wissens (Aristoteles), die, aus dem Dialog geboren, ihre Anwendung in den konkreten Fällen des Lebens findet. Die Vernünftigkeit des praktischen Wissens ist weder eine Form des Pragmatismus, noch ist sie der Rückfall in eine Wertontologie. Sie orientiert sich bei Gadamer an einem inneren Vorverständnis der Idee des Guten bei Plato, die jenseits des Seins ihren Ort hat und undefinierbar ist. Es ist diese Orientierung, von der her sich für Gadamer der innere Zusammenschluss von Ethik und Hermeneutik begründet. Er steht nicht in der Beliebigkeit dessen, der auf ihn reflektiert. Vielmehr erweist sich für ihn die durch die plato-
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nische Philosophie konstituierte Verbindung von Wahrheit und Logos als richtungweisend. Der Logos kann als „der Vermittler wahrer Freiheit“ (Th. Kobusch) gesehen werden, wenn die Teilnehmer in einem Dialog sich gegenseitig als diejenigen anerkennen, die nach einer sie verpflichtenden gemeinsamen Wahrheit suchen (Gorgias 505e-506a). Das ist das Thema von Gadamers Habilitationsschrift Platos dialektische Ethik, die die Dialektik von einer im hegelschen Sinne absolut verstandenen Methode in die ethische Dimension des Dialoges umsetzt. In dem philosophischen Gespräch mit R. Dottori hat er im Rückblick auf seinen Denkweg zu der Transformation der Dialektik in eine Ethik des Dialogs sich so geäußert: „Gerade in unserem ethischen Bezug zum anderen wird uns klar, wie schwer es ist, den Anforderungen des anderen gerecht zu werden oder (sie) bloß gewahr zu werden. Die einzige Weise, unserer Endlichkeit nicht zu erliegen ist, sich dem anderen zu öffnen, dem ‚Du‘ zuzuhören, das vor uns steht.“ Menschliche Wahrheiten unterliegen dem Gesetz der Zeit. ‚Altern‘ sie, dann müssen sie durch Zeugung sich erneuern und wieder jung werden. In dem Maß, wie Gadamer den von Plato im Symposion dargelegten Prozess der Regeneration des Alten im Neuen auf die hermeneutische Erfahrung zur Anwendung bringt, werden die modernen Fallstricke einer verkehrten Aufklärung (Wahrheit als Vorurteil), eines problematischen Dezisionismus (Kierkegaard) und einer radikalen Kritik der Wahrheit (Nietzsche) vermieden. Gegen eine modisch gewordene Kritik, die im Namen der Aufklärung alle Voraussetzungen der Kommunikation zwischen Menschen ‚problematisiert‘, werden für die gemeinsame Verständigung über Grundprobleme des philosophischen Denkens so zentrale hermeneutische Grundbegriffe thematisiert wie die praktische Klugheit (Aristoteles), Gemeinsinn, Geschmack (Kant) und die Bildung. Sie sind die leitenden „Wertbegriffe einer kommunikativen Subjektivität“ (R. Wiehl). Dass die Sprache, durch die wir uns miteinander verständigen, nie mit dem Seienden als solchem identisch ist, ist eine Grunderfahrung, welche die Philosophie auf verschiedenen Argumentationsebenen realisiert hat. Schon Plato thematisiert das Misstrauen gegenüber der Macht der ‚Wörter‘ ; der Nominalismus der neuzeitlichen Philosophie führt im Ergebnis der kantischen Vernunftkritik zu einem Auseinanderfallen von sprachlichem Denken und Sein; die analytische Philosophie der Gegenwart folgt ungeprüft der Voraussetzung, dass das Sein vorsprachlich gegeben sei und die Sprache nur einen von mehreren Zugängen zur Realität darstelle. Gadamer widerspricht diesem nominalistischen ‚Glaubenssatz‘ durch seinen hermeneutischen Begriff von Sprache. Die Korrelation von Verstehen und
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Auslegung bestimmt für ihn das Weltverhältnis des Menschen und ermöglicht allererst einen adäquaten Umgang mit den ‚Sachen‘, um die es in diesem internen Verhältnis geht. Dass es keinen Bezugspunkt jenseits der Korrelation von Wort und Sache geben soll, hat ihm den Vorwurf einer antirealistischen Wendung eingebracht. Die von H. Krämer vorgelegte Kritik der Hermeneutik (2007) verkennt im Geiste eines kritischen Realismus, dass der Begriff der Realität in der Hermeneutik Gadamers ebenso wie in der Geistesphilosophie Hegels und in der existentialen Analyse Heideggers von einem nicht-repräsentationalen Wahrheitsbegriff beherrscht wird, dessen Zentrum das Erscheinen des Seins im Medium der Welterfahrung, d. h. aber für Gadamer: in der Sprache ist. Allerdings behalten die Einwände Krämers insofern eine vordergründige Plausibilität, als dieser Autor mit einem gewissen Recht darauf bestehen kann, dass das Sein zunächst als vorsprachlich gegeben erscheinen kann. Vorsprachliches Sein aber ist für Gadamer hermeneutisch noch nicht erschlossen: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ (GW 1, 478) Innerhalb der von Gadamer freigelegten Zirkelstruktur des Verstehens ist seine Position unabweisbar. Die Beziehung von Sprache und Welt ist ein Grundthema der Philosophie. Gadamers Rückbindung an den griechischen Logos, auch wenn sie partiell bleibt, ist für die philosophische Position seiner Hermeneutik auf dem Hintergrund dieser Beziehung von Bedeutung. Um zu verstehen, worin diese besteht, muss man wissen, dass in der frühgriechischen Dichtung und bei Heraklit Logos nicht nur das Sagen, sondern zugleich das Gesagte, der Zuspruch von den Dingen her ist. Die Besonderheit der altgriechischen Sprache ermöglicht nicht nur die Herausbildung einer philosophischen Begrifflichkeit, ihre vom subjektiven Willen unabhängige gleichsam körperhafte Gegenständlichkeit fordert, dass die Subjektivität dem Objektiven des musikalisch-sprachlichen Rhythmus gehorcht. Nicht ohne Grund trugen die Schauspieler auf der Bühne des griechischen Theaters Masken, die ihre Individualität verbargen. Das Tragen der Maske betont, dass auf der Bühne nicht Einzelne und Sterbliche sprechen, sondern durch die Maske hindurch „die Macht der Sprache“ (E. Grassi), Ausdruck eines ‚Objektiven‘, eines Schicksals, das von den Göttern her über den Menschen verhängt ist. Die griechische Philosophie, die erstmals auf das Verhältnis von Sprache und Welt reflektiert, hat in der Sophistik den Bezug zwischen Wort und Sache so gelockert, dass das Wort in der von ihr vertretenen Rhetorik zu einem Instrument der beliebigen Darstellung einer Sache wurde. Platos Reaktion gegen die Sophistik macht im Kratylos die „Richtigkeit der
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Namen“ davon abhängig, ob sie von der Sache des Denkens, den Ideen, her gerechtfertigt ist, nicht aber von den durch die Sprache manipulierten Meinungen über die Sachen. Für Plato kommt in der Trias Wort-Begriff-Idee den Wörtern nur eine ephemere Bedeutung zu. Die Welt der Wörter führt zu keiner Erkenntnis der Welt der Ideen und ihrer unaussagbaren Erfahrung. Das christliche Inkarnationsdogma hat in der Trinitätslehre des Augustinus zu der Spekulation über das verbum geführt. Sie thematisiert an ihm einen ihm zukommenden Geschehenscharakter. Es ist auf diese vorerst nur anzudeutenden geschichtlichen Zusammenhänge hinzuweisen, um zu verstehen, dass Gadamer in der geistigen Materialität der Sprache jenes „unvordenkliche Element“ (J. Grondin) sieht, in dem sich das Denken auf Sinn hin entfaltet. Gadamers hermeneutisches Verständnis grenzt sich von zwei Linien der Sprachphilosophie ab: einer nominalistischen Position, für welche die Wörter Kompositionselemente eines Zeichensystems sind, und einer instrumentalistischen Auffassung, die in der Sprache ein Werkzeug sieht, mit dessen Hilfe der Mensch die physische Umwelt in Gebrauch nimmt und sich die soziale Mitwelt verfügbar macht. Diese zuletzt erwähnte Auffassung geht auf eine Tradition zurück, der sich Gadamer gleichwohl in gewisser Weise verbunden weiß: So teilt er mit G. Vico die Überzeugung, dass alle Erscheinungen der geschichtlichen und gesellschaftlichen Welt sprachlich verfasst sind, während er andererseits mit Herder und vor allem Humboldt an den energetisch-dynamischen Charakter der Sprache anknüpfen kann. Aber auch Herder und Humboldt gelangen aus seiner Sicht nicht zu der hermeneutisch adäquaten Korrelation von Verstehen und Auslegung, sondern bescheiden sich bei einem ungeklärten Verhältnis der empirischen Vielfalt der Einzelsprachen zu einem Begriff von Sprache überhaupt. Demgegenüber versucht Gadamer in der Nachfolge Heideggers Ontologie und Hermeneutik zusammenzudenken. Im Zuge dieses Unternehmens richtet sich sein philosophisches Interesse nicht auf die Errichtung einer Wahrheitstheorie; vielmehr orientiert es sich am Wort der Dichtung. Generell lässt sich sagen: Durch ihre ontologische Wendung unterscheidet sich seine Hermeneutik von jeder Spielart einer analytischen Philosophie. Die spekulative Transformation des Seins in die Sprache findet ihren Ausdruck in Rilkes letztem Sonett an Orpheus, welches die Erde herakliteisch zur Zeit und das Wasser parmenideisch zum Sein werden lässt:
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Und wenn dich das Irdische vergaß, zu der stillen Erde sag: Ich rinne. Zu dem raschen Wasser sag: Ich bin. Wenn Gadamer zwar die Erkenntnisse der Sprachwissenschaft in seinen hermeneutischen Erkenntnishorizont einbezieht, so ist der ästhetische Maßstab seiner auf Sinnverstehen ausgerichteten hermeneutischen Reflexion die expressive Sprachgewalt großer Dichtung. Der durch sie erzeugte klangliche Rhythmus, der die zeitlichen Strömungen des Lebens hörbar werden lässt, wie die ihr immanente Kraft der mimetischen aisthesis grundlegender Weltgehalte, in der die Worte aus ihrer bloßen Mitteilungsfunktion befreit und in ihrem Verweisungscharakter aufs Höchste gesteigert sind, führt zu dem alle große Kunst auszeichnenden Urteil: So ist es. In dem Beitrag Das Wort der Dichtung hat W. Schadewaldt am Beispiel von Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied gezeigt, wie in ihm aus Wörtern, Silben, Lauten ein ‚Klangleib‘ entsteht, in dem „über Sinn und Bedeutung hinaus“ das, was ‚Abend‘ ist, vollendete sinnliche Präsenz erreicht. Der Hinweis auf das durch die Dichtung erzeugte Da-Sein von Welt dient dazu, das Bewusstsein für eine der wesentlichen Intentionen von Gadamers Hermeneutik zu schärfen: Verstehen zu öffnen für eine in der Sprache verborgene ontologische Erfahrung von Welt. Als ein Lichtungsgeschehen im Sinne des späten Heidegger besitzt sie ihren ‚Ort‘ nie im nur Wissbaren der Wissenschaft. Die Differenz zwischen dem schweigenden Sein der Welt und dem, was sich sagen lässt, führt Gadamer zu einer zentralen Einsicht: Immer meint unsere Rede mehr, als sich in Worten ‚aussagen‘ lässt. Was uns als Welt begegnet, ‚sagt‘ uns etwas, das nicht zur ‚Ichrede‘ (E. Husserl) eines Subjekts werden kann. Das Atmosphärische der Welt, in dem die Dinge eine eigentümlich schwebende Durchsichtigkeit annehmen, weckt in uns die Ahnung einer Anwesenheit, die sich nie völlig zeigt. Die Akte des Verstehens, durch die das Individuum sich seines Daseins zu vergewissern sucht, sind nicht mehr als ‚ein Flackern‘ im Stromkreislauf des geschichtlichen Lebens. Es gleicht jener Kerze, von der Tolstoi am Ende des Romans Anna Karenina schreibt, dass in ihrem Licht es Anna kurz vor ihrem Freitod möglich wird, in dem „von Unruhe, Täuschungen, Kummer und allem Bösen erfüllten Buch ihres Lebens“ zu lesen. Der Zeitpunkt ihres Todes und der tödliche Augenblick der Erkenntnis ihres Verlorenseins konvergieren, wenn das Licht dieser Kerze heller aufstrahlt denn je, noch einmal alles beleuchtet, was bisher in undurchdringlichem Dunkel für sie gelegen hatte, schwächer wird und für immer erlischt. Die
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Pointe der von Tolstoi gestalteten Sterbeszene liegt auf dem Erlöschen der Kerze. Das Wunder eines plötzlichen Lesens in dem verwirrenden Text eines Lebens, wie es Anna kurz vor ihrem Ende zuteil wird, führt trotz aller blitzhaften Erhellung der in ihm enthaltenen Dunkelheiten zu keinem endgültigen Verstehen. Unmittelbar vor seinem Durchbruch wird es durch das Erbarmungslose eines tödlichen Schlages zerstört. Das bedeutet für eine der menschlichen Situation angemessene Selbstbescheidung einer jeden Theorie des Verstehens: Der Tod ist die Grenze, an der die hermeneutische Reflexion, die den verschlungenen Wegen unseres Daseins nachgeht, scheitert. Was vor dieser Grenze am Ende bleibt, sind nur Fragen, denen keine Antwort zuteil wird: „Wo bin ich? Was tue ich? Warum?“ (Tolstoi, Anna Karenina) Gadamers überlegene Weisheit hat das Fehlen abschließender Antworten auf diese Fragen nie verleugnet. Er hat sie jedoch in der Wachsamkeit des philosophischen Gesprächs lebendig gehalten und dadurch dem menschlichen Dasein die Würde einer eigentümlichen Spannung von Wissen und Nichtwissen zurückgegeben. In dieser sokratischen Haltung seines Denkens, die sich jedem dogmatischen Glauben ebenso verweigert wie einem skeptischen Nihilismus (Nietzsche), liegt ihr größtes Verdienst für ein philosophisches Verständnis der Philosophie. Dass sie in keiner Wissenschaftstheorie aufgeht, verdanken wir ihr. In der Reflexion auf unsere Endlichkeit und durch sie hindurch „spricht sich unser menschliches Todesbewusstsein aus, das sprachlos und sprachsuchend dem eigenen Ende entgegenstrebt.“ 5 In jedem poetisch-bildlichen Denken, das dem fließenden Seinscharakter der menschlichen Lebensvollzüge unvergessliche Ausdrucksmomente abzuringen weiß, kommt etwas von dem zum Ausdruck, das der Mensch sich durch die Sprache mit dem Wissen um seine Endlichkeit zu versöhnen vermag. Steigert sich das Sprechen zur „Sagkraft“ der Dichtung, so scheint das ihr eigentümliche Melos das Vergessen zu überdauern, das unserem kurzen Leben als Los beschieden ist. Anlässlich seiner späten Überlegungen zu einem Gedicht des westfälischen Dichters E. Meister (GW 9, 345 f.) hat Gadamer angemerkt, dass die einzige Antwort auf die Frage „Geht alles vorbei?“ das Gedicht selbst ist. Es steht durch die ‚Tragkraft‘ seiner Worte in sich selbst: „eh alles / vorbei“ (Meister). „Wir philosophieren nicht, weil wir die absolute Wahrheit haben, sondern, weil sie uns fehlt“, schreibt J. Grondin in seiner Einführung in die philosophische Hermeneutik (2001). Es ist der Mangel, das unser Denken 5
J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 170.
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wie ein Schatten begleitende Wissen um den Tod, das das Philosophieren aus sich heraus antreibt. Auch das macht uns die Hermeneutik Gadamers bewusst.
Teil I Die Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst. Zum Erkenntnisanspruch der Geisteswissenschaften
Für eine philosophische Neubestimmung der Geisteswissenschaften ist die Erfahrung mit der Kunst und die Frage, wie wir diese Erfahrung in unserem Leben zu verstehen haben, eine grundlegende Aufgabe der Hermeneutik. Am Beginn des Abschnitts Das Methodenproblem steht eine Darlegung und Erörterung der für die neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft entscheidenden Orientierung an der Methode. Wie das Hauptwerk von J. Stuart Mill, A System of Logic, ratiocinative and inductive (1843) im Rahmen einer ‚Philosophie der Erfahrung‘ betont, ist die Methode der wissenschaftlichen Forschung die Induktion. Ihr Hauptziel ist, die Geltung des Prinzips der Kontinuität in Natur und Gesellschaft im Sinne einer Gesetzmäßigkeit ihrer Erscheinungen nachzuweisen. Ihr gegenüber argumentiert Gadamer, dass die Methode der Induktion nicht auf die perspektivische Erfahrung der Welt der Geschichte übertragen werden kann. Geschichtliche Erfahrung durchkreuzt den ehrgeizigen Anspruch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Geschichte. Im Blick auf den Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaft hat für ihn die 1862 gehaltene Rede Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften von H. Helmholtz eine heuristische Funktion. In ihr unterscheidet der große Naturforscher zwischen der logischen und der künstlerisch-instinktiven Induktion. Letztere beruht auf der intuitiven Kraft des Erfassens von Zusammenhängen in der Erscheinungswelt, der jedoch kein wissenschaftlicher Wahrheitsgehalt zukommt. Gadamer hebt an der Rede von Helmholtz deren Akzentsetzung auf das psychologische Vermögen des ‚Takts‘ hervor. Das Taktgefühl in den Geisteswissenschaften beruht auf der Fähigkeit, Analogien zwischen den uns hinterlassenen Zeugnissen der Geschichte zu entdecken, an denen die Ausbildung von ‚Sinn‘ zu beobachten ist, und durch diese Art von fortschreitenden Entdeckungen unseren Erkenntnishorizont zu erweitern. Beruht auf dem Verfahren der Induktion der Objektivitätsanspruch der Methode, so geht es in der Wissenschaft immer um bestimmte Verfahrensweisen der Objektivierung von Forschungsproblemen. Gegenüber dem von Descartes betonten Primat der Methode als Voraussetzung neuzeitlicher Wissenschaft geht Gadamer auf das griechische Wort methodos zurück, das sich auf das Ganze und den Umgang mit dem weiten Bereich der Dinge bezieht, mit denen wir befasst sind. In den 1988 in Neapel gehal-
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tenen Vorlesungen zur griechischen Philosophie, veröffentlicht unter dem Titel Der Anfang der Philosophie (1996), sagt er: „Diese Bedeutung von ,Methode‘ als Mitgehen setzt voraus, dass wir uns schon mitten im Spiel befinden und keinen neutralen Blickpunkt einnehmen – auch wenn wir uns noch so sehr um Objektivität bemühen und unsere Vorurteile aufs Spiel setzen.“
1. Die Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften Die vermeintliche Unterlegenheit der Geisteswissenschaften angesichts des stetigen Erkenntnisfortschritts der Naturwissenschaften wird von dem hermeneutischen Ansatz Gadamers gleichsam unterlaufen. Man muss den Akzent auf den Ansatz dieses Unternehmens setzen. Es erinnert zunächst an die Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften und reflektiert auf das mit der deutschen Klassik verbundene Ideal der Humanität. Das mag auf den ersten Blick diejenigen befremden, die nicht mehr davon überzeugt sind, dass Lessing, Herder und Goethe über einen kleinen Kreis von Gebildeten hinaus noch für das Bewusstsein unserer Zeit Bedeutung haben. Auch der Begriff der Humanität ist dem Wandel unterworfen. In der Periode der Weimarer Klassik ist er an einen humanistischen Begriff von Bildung gebunden, der in den gesellschaftlichen Formen seiner Anwendung auf die Lebenspraxis sich der Diktatur der Zwecke entzieht. Dass die Bildungsgesellschaft der Weimarer Klassik heute vergangen ist, hat Gadamer nie geleugnet. Gleichwohl besteht er gegenüber der modernen Informationsgesellschaft auf einen von ihr missachteten Begriff der Bildung. Zumal heute, da wir vom Geschwätz der Politiker über ‚Bildung‘ genug haben, ist es geboten, darauf aufmerksam zu machen, was Gadamer unter Bildung als einem kommunikativen Lebenselement des Geistes versteht, das in der griechischen Philosophie in dem Gedanken der paideia seine erste Ausdrucksform gefunden hat und von Cicero bis Petrarca und Erasmus seine eigenständige Weiterentwicklung erfährt. Nicht zuletzt ist es Herders Bestimmung der Bildung als einer ‚Emporbildung zur Humanität‘, die in der Bildungsreligion des 19. Jahrhunderts nachwirkt und unseren Begriff von Bildung, wenn auch nur mehr schwach, bestimmt. Was Bildung sein kann, die sich durch einen Konsens über die Tradierung von Werten definiert, erörtert Gadamer anhand ‚humanistischer Leitbegriffe‘. Sie widersetzen sich einem falschen Verständnis, sie stünden im Dienst einer „technischen Abzweckung“ (GW 1, 17). In seinem begriffsgeschichtlichen Abriss des Wortes ‚Bildung‘ orientiert sich Gadamer an Hegel, für den das Tätigsein des Geistes mit der Idee der Bildung als ‚arbeitendem
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Bewusstsein‘ verbunden ist. Bildung ist bei Hegel als ein Element des Geistes immer schon praktische Bildung. In welcher Weise sie im Rahmen der humanistischen Tradition bestimmte Elemente wie den sensus communis, Urteilskraft und Geschmack integriert, wird in breit angelegten geistesgeschichtlichen Exkursen zu Vico, Gracián, Shaftesbury und Kant dargelegt.
2. Subjektivierung der Ästhetik durch die kantische Kritik Der Prozess einer Subjektivierung der Erkenntnis im 18. Jahrhundert, wie er sich zum Beispiel bei Kant in der subjektiven Allgemeinheit des ästhetischen Geschmacksurteils widerspiegelt, verbindet sich mit einer Abgrenzung gegen den Wahrheitsanspruch einer von Erfahrung abgelösten begrifflichen Erkenntnis. Deutlich wird diese vor allem in Kants Kritik der Urteilskraft (1790). Sie entdeckt in der subjektiven Allgemeinheit des ästhetischen Geschmacksurteils „eine eigene Form der Rationalität“ (O. Höffe) gegenüber den Ansprüchen des Verstandes und der Moral. „Im Unterschied zu wissenschaftlichen und moralischen Aussagen spricht Kant den ästhetischen Urteilen keine objektive, wohl aber eine subjektive Allgemeinheit zu.“ 1 In dieser Reduktion sieht Gadamer einen kritisch zu reflektierenden Verzicht auf den Anspruch des Kunstwerkes, aus sich heraus eine von Subjektivität unabhängige Wahrheit ins Licht zu stellen, die in ihm zur Darstellung kommt. Die von Kant in seiner dritten Kritik vorgelegte Ästhetik, die in den Kontext der Geschmacksästhetiken des 18. Jahrhunderts gehört, verdankt sich dem freien Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand. In ihm behaupten Leitbegriffe der humanistischen Tradition wie Geschmack, Gemeinsinn und Urteilskraft ihre Geltung. Für das Urteilsvermögen des Geschmacks kommt dem Geniebegriff bei Kant auf dem Hintergrund einer teleologischen Naturordnung eine regulative Funktion zu. Sein Satz „Schöne Kunst ist Kunst des Genies“ (KU, § 46) unterstreicht die Ablösung der Regelästhetik durch eine Genieästhetik. Sie verweist auf ihre Ausweitung im 19. Jahrhundert zum Geniekult. In ihm ist das schaffende Subjekt nicht mehr wie noch bei Kant ein Günstling der Natur, sondern deren tyrannischer Gesetzgeber. Die Autonomie des Ästhetischen in der Moderne wird durch die von Kant in der Kritik der Urteilskraft vorgelegte Ästhetik entscheidend vorbereitet. Indem er die Grundlegung der Ästhetik auf die subjektive Allgemeinheit des Geschmacksurteils gründet, hat er für Gadamer „die Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften in die Anlehnung an die Me1
O. Höffe, Immanuel Kant, München 2000, S. 265.
Subjektivierung der Ästhetik durch die kantische Kritik
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thodenlehre der Naturwissenschaften gedrängt“ (GW 1, 47). In seiner Replik zu dem Vorwurf Gadamers einer durch Kant eingeleiteten „Subjektivierung der Ästhetik“ hat sich O. Höffe in seiner Kant-Monographie (2000) so geäußert: „Gerade wenn man Gadamer folgt und auch für die Kunst, dann für die Überlieferung und die Geisteswissenschaften einen Wahrheitsanspruch erhebt, muss dieser Anspruch von dem der mathematischen Naturwissenschaft deutlich abgegrenzt werden. Andernfalls erscheinen Kunst und Geisteswissenschaften bloß als Erkenntnis geringerer Stufe. Damit sie nicht zur kleinen, vielleicht sogar illegitimen Schwester der Naturwissenschaften herabsinken, muss man ihre Eigenart anerkennen und verglichen mit der theoretischen Erkenntnis in einem analogen Sinn von Wahrheit sprechen. Kants Begriff der subjektiven Allgemeinheit könnte dafür die Grundlage abgeben. Der Begriff macht sowohl auf das Gemeinsame, die Allgemeinheit, als auch auf das Besondere, eine von mathematisch-naturwissenschaftlicher Objektivität unterschiedene Subjektivität aufmerksam. So entgeht Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft genau der Gefahr, die auch Gadamer bannen will (…)“ 2 In einem weiteren Abschnitt geht Gadamer auf die Wortgeschichte von ‚Erlebnis‘ ein. Er zeigt, wie diesem bei Dilthey über das es auszeichnende lebensgeschichtliche Motiv hinaus eine Funktion zugewiesen wird, für die der Begriff der ‚Gegebenheit‘ leitend ist. Die entscheidenden Gegebenheiten des Lebens und der Geschichte sind keine Daten, sondern Bedeutungseinheiten, Sinngebilde, in denen sich die Kontinuität des Lebensstromes in seiner jeweiligen Struktur manifestiert. Der Erlebnisbegriff schließt diese verdeckte Kontinuität in sich ein und wird für Dilthey zu einer erkenntnistheoretischen Grundlage für die Erfassung der Phänomene des Lebens in der sie verbindenden Einheit eines Sinnganzen. So gesehen, erscheint das Kunstwerk, das dieses Ganze überhöht, als der ästhetische Ausdruck der Dynamik des Lebens. Nach poetologischen Erwägungen zur Bedeutungsgeschichte von Symbol und Allegorie, die vor allem für den Literaturwissenschaftler von Interesse sind, kommt Gadamer zu entscheidenden Überlegungen hinsichtlich einer Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst. Ihr Ansatz ist ein kritischer, insofern er die Fragwürdigkeit der ästhetischen Bildung zum Gegenstand hat. In der Epoche der Weimarer Klassik sind Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) für diese ein ambivalentes Zeugnis. Zwei Triebe, so Schiller, bestimmen den Menschen: Stofftrieb und Formtrieb. Der Spieltrieb ist gleichsam der Vermittler, der 2
Ebd., S. 266.
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Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst
die Vereinigung dieser antagonistischen Triebe ermöglicht. Denn, so die klassisch gewordene Formulierung Schillers im 15. Brief: „(…) um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in der vollen Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (NA 20, 359) Gadamer betont an den Briefen die ungelöste Spannung zwischen Freiheit und Unfreiheit, sieht er doch auf dem Grund der ästhetischen Versöhnung des kantischen Dualismus von Sein und Sollen einen nicht versöhnten Dualismus zwischen „der Prosa der entfremdeten Wirklichkeit“ und „der Poesie der ästhetischen Versöhnung“. Das Bewusstsein dieses Dualismus schärft das Misstrauen an dem von Nietzsche gefeierten Spiel des ästhetischen Scheins, der für ihn einen ontologischen Aspekt am ästhetischen Gegenstand verdeckt. Gadamer grenzt sich im Gang seiner Ausführungen von einer Absolutsetzung der Form als einer falsch verstandenen ‚transzendentalen Reinheit des Ästhetischen‘ ab und besteht in der Nachfolge der klassischen Ästhetik (Hegel) auf der Einheit von Form und Sinn. Versteht man diese als die innere Einheit von Zeichen und Bedeutung, wie sie das klassische Kunstwerk auszeichnet, so ist es gleichwohl kein Leichtes, sie an der modernen Kunst herauszuarbeiten. An ihr ist, wie H. Friedrich in seiner Struktur der modernen Lyrik (1960) ausgeführt hat, das Auseinanderfallen von hermetischer Sprachform und semantischer Bedeutung signifikant. Es ist die gesteigerte Selbstreflexivität der modernen Dichtung, die eine erneute Diskussion über die Einheit von Zeichen und Bedeutung eröffnet. Mit der Zurückweisung einer Absolutsetzung der Form kann Gadamer aber auch in einem schlichteren Sinn die Ablehnung einer rein artistischen Kunstauffassung gemeint haben, wie sie G. Benn in seiner Apotheose der Form leidenschaftlich verteidigt hat. Gadamer kritisiert die Einschränkung der Kunst auf die Subjektivität des ästhetischen Erlebnisses. Das durch Kants Kritik der Urteilskraft beförderte Vorurteil, das Schöne in der Kunst sei über ein ‚interesseloses Wohlgefallen‘ hinaus durch keinen Begriff bestimmbar, verkennt nach ihm den Seinscharakter des Schönen, der dem Auge ein Urbild des Wahren vermittelt. Seine Gegenthese ist: Das Organ der inneren Erfahrung, das diese Vermittlung produktiv aufnimmt, muss weiter gefasst werden als begriffliche Naturerkenntnis beziehungsweise sittliche Vernunfterkenntnis. Die Überlegungen zu einem gleichsam inneren Richtungssinn des sprachlich aufgefassten Verstehens zielen auf eine das Dasein erschütternde Sinnwahrheit. Sie erschließt sich einer Erfahrung mit dem Kunstwerk, die nicht „in die Unverbindlichkeit des ästhetischen Bewußtseins abgedrängt werden“ darf (GW 1, 103). Gadamer wendet sich mit dieser Forderung gegen
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einen neoromantischen Ästhetizismus, der den Umgang mit der Kunst zu einem Modus des Selbstgenusses degradiert. Seine Einwände liegen auf der Linie von Nietzsche, der nach seiner Abwendung von Wagner im ästhetischen Selbstgenuss ein Symptom der Dekadenz gesehen hat.
3. Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst Wie wird man der inneren Wahrheit der ästhetischen Erfahrung gerecht? Wie vermittelt Kunst jenseits der ‚Fragwürdigkeit der ästhetischen Bildung‘ eine Wahrheit, die die „Abdrängung der ontologischen Bestimmung des Ästhetischen auf den Begriff des ästhetischen Scheins“ (GW 1, 89) rückgängig macht? Dass Kunst mehr ist als schöner Schein, macht Gadamer in seiner Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins deutlich. Erfasst die Wahrnehmung eines Kunstwerkes an ihm immer schon eine bestimmte Bedeutung, dann ist es „ein verkehrter Formalismus“, „die Einheit des ästhetischen Gebildes im Gegensatz zu seinem Inhalt allein in seiner Form zu suchen“ (GW 1, 97). Für Gadamer ist die Begegnung mit dem Kunstwerk zugleich Selbstbegegnung. Das Kunstwerk eröffnet unserem Dasein eine Möglichkeit des Verstehens, in der die Diskontinuität und Punktualität des zeitlichen Erlebens von Weltphänomenen gleichsam aufgehoben ist. Es bleibt jedoch die Frage, ob die von Nietzsche in der Morgenröthe festgestellte mangelnde Übereinstimmung von Bewusstsein und Handeln, die zahlreiche Ich-Figuren der modernen Literatur charakterisiert, mit dieser Auffassung Gadamers zu vereinbaren ist. 1 Zur Beantwortung der eingangs erwähnten Fragen nach dem Wahrheitsstatus der Kunst knüpft Gadamer an Hegels „bewundernswerte Vorlesungen“ über Ästhetik an, wenn er schreibt: „Hier ist auf eine großartige Weise der Wahrheitsgehalt, der in aller Erfahrung von Kunst liegt, zur Anerkennung gebracht und zugleich mit dem geschichtlichen Bewusstsein vermittelt.“ (GW 1, 103) Seine sich an Hegel anschließenden Reflexionen richten sich auf die spezifische Erfahrung mit den Sprachen der Kunst. Ihre ikonographische Transfiguration wird an bestimmten Weisen sichtbar, wie wir ‚Welt‘ sehen. „Die Weisheit des Auges“ (M. Bruns), von der die Bilder in den Hochkulturen Zeugnis geben, prägt unbewusst unser Weltverhalten. Ihrer eingedenk reflektiert Gadamer auf das dialektische Verhältnis
1
Hierzu: W. Ries, Nietzsche / Kafka. Zur ästhetischen Wahrnehmung der Moderne, Freiburg 2007.
Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst
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von ästhetischer Erfahrung und ontologischem Wahrheitsgeschehen. Er stellt die Frage, in welchem Bezug dieses Verhältnis zum Verstehen in den Geisteswissenschaften steht.
Teil II Die Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verständnis in den Geisteswissenschaften
1. Geschichtliche Vorbereitung Die Rede von einer Ontologie des Kunstwerks erfordert einen besonderen hermeneutischen Erklärungsansatz. Gadamer fundiert ihn im Begriff des Spiels. In diesem Zusammenhang erfordert es Beachtung, dass er den Spielbegriff von der subjektiven Bestimmung abgrenzt, die ihm bei Kant und Schiller zuteil wurde. Im Spiel sieht er einen Modus des Verstehens in paradigmatischer Weise vorgebildet. Hier folgt er, ohne es hervorzuheben, seinem Lehrer Heidegger, für den in Sein und Zeit sich im Verstehen dem Dasein ein Spielraum seines ‚Seinkönnens‘ eröffnet. Die Abgrenzung des Spielbegriffs von seiner subjektiven Regelsetzung wird auch daran deutlich, dass Gadamer die Seinsweise des Spiels in die engste Nähe zu der Seinsart des Kunstwerks stellt. Was berechtigt ihn zu dieser Position? Es ist die Reflexion auf die eigentümliche Parallelität, dass das ‚Subjekt‘ der Erfahrung der Kunst das Kunstwerk selbst ist, nicht aber die Subjektivität dessen, der es in der Frage nach den Intentionen seines Erfinders zu verstehen sucht. Grundsätzlich formuliert: Das Spiel besitzt einen Seinsstatus, der über das Bewusstsein derer hinausgreift, die das Spiel spielen. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf J. Huizingas Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1956), in dem das Primat des Spiels gegenüber dem Bewusstsein des spielenden Menschen Anerkennung findet. Im Spiel als Kulthandlung repräsentieren die Spieler die Figuren einer über sie hinausgehenden Gesetzlichkeit im Drama einer kosmischen Welttotalität. Eine unverkennbar herakliteische Einfärbung zeigt der Grundgedanke Gadamers, dass alles Spielen ein Gespieltwerden ist. Man muss, um ihn in seiner Tiefe zu verstehen, die heimlichen Zeugen dieses Gedankens mitdenken: Nietzsches an Heraklit anschließenden Gedanken des amor fati und Rilkes Lyrik. In der Spielbewegung, in der Rhythmik ihrer Ordnung, kommt ein spezifisch menschliches Daseinsverhalten zum Ausdruck. An der Stelle, an der es als ein tragisches ‚Schauspiel‘ verstanden wird, überkreuzen sich in ihm – über das Bewusstsein der Spielenden hinaus – fehlbare Freiheit und unfehlbare Notwendigkeit. Im menschlichen Spiel als Kunst ereignet sich für Gadamer die Verwandlung des Spiels ins ‚Gebilde‘. Ihm kommt eine ästhetische Autonomie zu. Als Darstellung verweist es auf ein ontologisches Geschehen. Wenn er schreibt, dass in der Darstellung des Spiels ans Licht kommt, was ist, dann
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denken wir unwillkürlich an den König Ödipus des Sophokles. Seine Inszenierung auf der Bühne erleben wir als das Spiel der Enthüllung einer tragischen Wahrheit. Ihre Vollendung erfährt sie in der Erfüllung einer göttlichen Weissagung. Es ist ein herausragendes Merkmal der sophokleischen Tragödie, dass sie eine auf der Bühne zur Darstellung gebrachte religiöse Wahrheit mit dem Bild der griechischen Welt des 5. Jahrhunderts vereinigt. Der König Ödipus zählt zu Recht zu den klassischen Texten der griechischen Überlieferung. Seine kommunikative Kraft der Vermittlung einer überhistorischen Wahrheit über den Stand der menschlichen Dinge hat nichts an Wirkung einbüßt, auch wenn die Welt, zu der er spricht, eine andere geworden ist als die Welt des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Einem hermeneutischen Verstehen erscheint das Kunstwerk, das den Zusammenhang einer Ganzheit von Bedeutungen ästhetisch überhöht, als eine symbolische Sinngestalt der Dynamik des Lebens. Es ist dieses anamnestische Vermögen der Kunst, das Gadamer in das Zentrum seiner Betrachtungen zum Kunstwerk stellt. Kunst als Mimesis beruht auf einem „mimischen Urverhältnis“. Seine archaischen Wurzeln weisen auf den Tanz als Darstellung des Göttlichen. In der Kulthandlung wird ein bestimmter Mythos ‚nachgeahmt‘. Mimesis ist eine eng mit dem Mythos verwandte Denkform. In der griechischen Tragödie zielt sie auf die Wiedererkennung von Grundsituationen im Leben der Polis, deren Dramatik das Spannungsverhältnis von Helden und Göttern abbildet. Das ‚mimische Urverhältnis‘ ist für Gadamer ein Zeigen, das Geschehen als Darstellung in die Erkenntnis seines Wesens, ins Da erhebt. Hingegen hat der Begriff der Mimesis im Nominalismus der modernen Wissenschaft seine Verbindlichkeit verloren. Gadamers Hermeneutik strebt ihre Rehabilitierung an. Mit der Aufwertung des ursprünglichen Sinns von Mimesis, so die kühne These, ist die Aufhebung der ästhetischen Differenz zwischen Werk und Darstellung gegeben. Die Frage nach dem Sein von Kunstwerken und ihrer Wahrheitserfahrung eröffnet das bereits angesprochene Problem, wie sie als die Zeugnisse einer Epoche der Geschichte und als die Zeugen ihres Geistes über eine Lektüre erschlossen werden können, der es gelingt, dass wir uns durch sie in unserem Selbstverständnis bestätigt oder widerlegt wissen. Zur Debatte steht die Beziehung zwischen der Zeitgebundenheit der Kunstwerke und der Wirkung einer von ihnen über diese Gebundenheit hinausgehenden Darstellung einer zeitlosen Wahrheit. Die Dialektik von Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit, die dem Kunstwerk eignet, scheint im Akt seiner Betrachtung zunächst wie aufgehoben. Dem entspricht, dass Gadamer die
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Begegnung mit großer Kunst in die Nähe des griechischen Wortes theoria rückt. Hinter ihm steht ursprünglich ein Pathos, das ‚hingerissene Eingenommensein‘ von einem Anblick. Der Begriff von theoria, abgeleitet von theoros, dem Teilnehmer an einer Festgesandtschaft, besitzt einen weithin vergessenen religiösen Hintergrund. Er bezieht sich auf das staunende Anschauen der Göttlichkeit des Kosmos. Übertragen auf die ästhetische Ebene der Betrachtung der Kunst, bedeutet das: Der Zuschauer, dem durch das Kunstwerk eine ekstatische Erfahrung zuteil wird, vergisst, ganz versunken im Anschauen, sich selbst und fällt als Beute von Gesichten in eine andere Welt. Dieser ekstatische Vorgang entspricht völlig dem, was in Nietzsches Geburt der Tragödie dionysische Erfahrung heißt. Das Hingerissensein von dem Pathos des Kunstwerkes schließt seinen Anspruch nicht aus. Die versteckt religiösen Konnotationen, die mit dem Wort ‚Anspruch‘ verbunden sind, erörtert Gadamer an Kierkegaard und der lutherischen Theologie. Das Wort der Schrift durchbricht die Mauer der Zeit und trifft als ein göttliches Wort zu jeder Zeit das Ohr des Menschen. Gleiches gilt für das Wort der Kunst. Wo es den Menschen ‚anspricht‘, setzt sich eine Vermittlung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen durch. Das heißt: in der Begegnung mit dem Kunstwerk ereignet sich kraft dieser Vermittlung das, was im Sinn von „Gleichzeitigkeit“ die Aussage des Kunstwerkes durch die Kette der Jahre hindurch mit dem Verständnis unseres eigenen Daseinsverhaltens verbindet. Wie geschieht diese Verbindung? Die Antwort Gadamers auf diese Frage heißt: Kunstwerke stellen ihren Betrachter in das Ganze ihres zu Vergangenheit gewordenen Seins zurück. Diese Rückstellung bedeutet jedoch keine Identität des Betrachters mit der durch das Kunstwerk eröffneten Welt. Vielmehr wird durch ihre Darstellung im Kunstwerk der Abstand deutlich, der das Vertraute des alltäglichen Weltumgangs von der Fremdheit dieser Welt trennt. In der am Kunstwerk ablesbaren Dialektik von Ferne und Nähe, Fremdheit und Vertrautheit wird auf einer abstrakten Stufe die sich wechselseitig bedingende Vermittlung der durch das Kunstwerk ins Bild gestellten Darstellung und ihrer ästhetischen Rezeption als ein Geschehen deutlich, das er Horizontverschmelzung nennt. Indem wir mit den Sprachen der Kunstwerke kommunizieren, d. h. uns über ihren jeweiligen Stil und die mit ihm verbundenen zeichenhaften Elemente verständigen, erkennen wir, welcher Zeitenabstand uns von ihnen trennt und welche Zeittiefe uns mit ihnen verbindet. An der aristotelischen Theorie der Tragödie lassen sich wesentliche Strukturen eines Kunstwerks erschließen. Verkörpert nach Nietzsche das Tragische ein ästhetisches Grundphänomen, so liegt für Gadamer der Wert
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einer Definition des Tragischen in der Poetik des Aristoteles darin, dass sie auf seine Wirkung reflektiert. Nach Aristoteles wirkt die Tragödie auf den Zuschauer, indem sie bei ihm eleos und phobos auslöst. Beeinflusst von W. Schadewaldt und seinem Beitrag „Furcht und Mitleid?“ Zur Deutung des Aristotelischen Tragödienansatzes (1955) weist er die Übersetzung der griechischen Ausdrücke mit ‚Mitleid‘ und ‚Furcht‘ zurück. Eleos ist vielmehr der Jammer, der den Zuschauer angesichts des Geschicks des Ödipus überfällt, während phobos der Schauder ist, der ihn angesichts des Untergangs des tragischen Helden anfällt. Eleos und phobos sind affektive Weisen der ekstasis, des Außersichseins. Zugleich kommt ihnen bei Aristoteles ein kathartischer Sinn zu. Was mit ihm jenseits seines ursprünglichen Ortes in einer kultischen Handlung gemeint ist, lässt sich an dem eigenartigen Phänomen verdeutlichen, dass wir als Zuschauer am Ende einer Passion „uns mit Tränen niedersetzen“ (J. S. Bach), durch den tränenreichen Jammer jedoch eigentümlich aufgerichtet werden. Worin besteht die kathartische Wirkung dieser Erhebung? Für Gadamer kann sie darin bestehen, dass durch die Darstellung des Leidens in der Kunst uns das Bild unserer eigenen Endlichkeit vor Augen gestellt wird und wir durch dieses ‚Bild‘ mit ihr versöhnt sind. Es ist die Erkenntnis des Ausgesetztseins der Sterblichen einem übermächtigen Geschick gegenüber, die uns die griechische Tragödie so überwältigend vermittelt, dass wir für den Augenblick der Verwandlung in einen ekstatischen Zustand zu dem Opfer bereit sind, sie ohne Klage als unser Los zu bejahen. Gadamer hebt hervor, dass der Zuschauer der griechischen Tragödie im 5. Jahrhundert sich zu ihr nicht in der genießenden Distanz des ästhetischen Bewusstseins verhält, sondern „in der Kommunion des Dabeiseins“ (schon die Wahl dieses Ausdrucks verweist auf den verschütteten sakralen Charakter, der ursprünglich der Begegnung mit dem Kunstwerk zukommt). An seinen Ausführungen zur griechischen Tragödie wird deutlich, wie entschieden er im Einklang mit Hegel die ‚Erlebniskunst‘ und die von ihr propagierte romantische ‚Innerlichkeit‘ als das Symptom eines entfremdeten Bewusstseins beurteilt und ablehnt. Große Kunst bewahrt in sich Bilder von einer unvergleichlichen Leuchtkraft. Die ihnen zuzuordnende „semantisch-weisende Sprache“ verdichtet die Erfahrung mit der Phänomenalität der Welt so extrem, dass an ihr nach einer glücklichen Wendung von E. Grassi 1 „das blitzartige, funkenartige Wesen“ eines vergessenen Ursprünglichen in den Blick kommt. „Das Wort ist ein Fächer“, so Goethe im West-östlichen Divan. Was der Dichter zwi1
E. Grassi, Macht des Bildes: Ohnmacht der rationalen Sprache, Köln 1970.
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schen seinen ‚Stäben‘ sieht, ist zwar verschleiert, aber nicht verborgen. Es wird Ereignis der Wahrheit, wenn – wie in Goethes Gedicht – das Auge des Mädchens ins Auge des es Anschauenden ‚blitzt‘. Das Aufblitzen, diese Epiphanie des Schönen, ist mit einem Verstehensvorgang verbunden, der als ein Lichtungsgeschehen in einem ursprünglich mystischen Sinn von Repräsentation vollkommen sinnliche Anschaulichkeit und Wortlosigkeit zugleich ist. Sein literarisches Äquivalent ist das Wortsymbol, in dem sich wie bei Goethe Fasslichkeit und Geheimnis verbinden. Es sind diese Beziehungen, von denen her sich für Gadamer die Frage nach der Seinsvalenz des Bildes stellt. Für ihre Beantwortung kann der „Bildbegriff der neueren Jahrhunderte freilich nicht als selbstverständlicher Ausgangspunkt gelten“ (GW 1, 141). Man muss, um die Rede von der ‚Seinsvalenz‘ des Bildes zu verstehen, beachten, dass seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wertung des ‚Bildbegriffs‘ maßgeblich von Schopenhauers Ästhetik bestimmt ist. Für Schopenhauer bieten sich dem Bewusstsein die Erscheinungen des Willens als ‚Bilder‘ dar. Ihre Konstellation gleicht einem Regenbogen, der über dem wesenslosen Grund der Welt, dem Nichts, gespannt ist. Im Unterschied zu der Ästhetik Hegels, die in der Kunst eine Manifestation des objektiven Geistes sieht, entreißt die Kunst für ihn dem Strom der Erscheinungen bestimmte Urbilder der Dinge und gewährt ihrer von der Begierde befreiten Anschauung eine zeitweilige Erlösung vom blinden Weltwillen. Man kann bei Schopenhauer aber auch von einer Illusionsästhetik sprechen, wenn er die Frage stellt: „Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu SEHEN sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu SEYN ist ganz etwas Anderes“ (Die Welt als Wille und Vorstellung II, 675 f.). Gadamers Überlegungen zur Seinsvalenz des Bildes orientieren sich am Vorbild der Hegelschen Ästhetik, wenn er darauf hinweist, dass in der ‚Idealität‘ des Kunstwerks das ‚Scheinen‘ der Idee selbst zur Geltung kommt. Zugleich ist bei ihnen der Einfluss von Heideggers Kunstwerkaufsatz (1936) unverkennbar. Heidegger hat an dem von van Gogh gemalten Bild eines so marginalen Zeugs, wie es ein Paar Bauernschuhe sind, deutlich gemacht, wie in ihr Leder die Schwere der Erde, „ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärliches Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes“, so eingezogen ist, dass an ihnen Sein zum Vorschein kommt. Dieses Sich-Zeigen, das Heidegger als Ereignis des Hervortretenlassens der Erde bestimmt, in die sich das Kunstwerk (der
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griechische Tempel) zurückstellt, erfüllt den Begriff der Kunst als Darstellung bei Gadamer. Er beginnt seine Ausführungen zu der Seinsvalenz des Bildes mit Überlegungen, die sich auf das bei Plato thematisierte dialektische Verhältnis von Urbild und Abbild beziehen. Bekanntlich hat bei Plato das Bild einen nur schwachen Anteil an dem Sein des Urbildes. Gadamer revidiert dieses platonische Verständnis des Bildes, wenn er schreibt: „Darstellung bleibt also in einem wesenhaften Sinne auf das Urbild bezogen, das in ihr zur Darstellung kommt. Aber sie ist mehr als ein Abbild. Dass die Darstellung ein Bild – und nicht das Urbild selbst – ist, bedeutet nichts Negatives, keine bloße Minderung an Sein, sondern vielmehr eine autonome Wirklichkeit. (…) Dass das Bild eine eigene Wirklichkeit hat, bedeutet nun umgekehrt für das Urbild, dass es in der Darstellung zur Darstellung kommt.“ (GW 1, 145) Erneut erweist sich an dieser Stelle der Begriff der Mimesis als hermeneutisch bedeutsam. Er bedeutet nicht primär Abbildung, sondern dargestellte Wirklichkeit. Ist die Seinsweise des Kunstwerks Darstellung von Welt, so ist sie „ein Seinsvorgang und macht den Seinsrang des Dargestellten mit aus.“ Das Bild erfährt als Darstellung „gleichsam einen Zuwachs an Sein. Der Eigengehalt des Bildes ist ontologisch als Emanation des Urbildes bestimmt.“ (GW 1, 145) Gadamer greift mit dieser Formulierung auf den neuplatonischen Gedanken der Emanation zurück. Er ist dort als das Überströmen der Vielheit aus der Quelle des Einen und das Zurückströmen zu ihr bestimmt. Analog zu diesem Kreislauf, dem die plotinische „Einheit von Hervorgang und Rückwendung“ (J. Halfwassen) zu Grunde liegt, sättigt sich der „Eigengehalt des Bildes“ mit einem Zuwachs an Sein. Die Versinnlichung eines Urbildlichen im Bild macht Gadamer in grundlegender Weise am Begriff der Repräsentation deutlich. „Offenbar stellt sich der Begriff der Repräsentation nicht von ungefähr ein, wenn man den Seinsrang des Bildes gegenüber dem Abbild bestimmen will. Es muss eine wesentliche Modifikation, ja fast eine Umkehrung des ontologischen Verhältnisses von Urbild und Abbild stattfinden, wenn das Bild ein Moment der ‚Repräsentation‘ ist und damit eine eigene Seinsvalenz besitzt. Das Bild hat dann eine Eigenständigkeit, die sich auch auf das Urbild auswirkt. Denn strenggenommen ist es so, dass erst durch das Bild das Urbild eigentlich
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zum Ur-Bilde wird, d. h. erst vom Bilde her wird das Dargestellte eigentlich bildhaft.“ (GW 1, 146 f.) Zu Ende gedacht, entsprechen seine Ausführungen einem nicht-repräsentationalen Wahrheitsbegriff. In ihm hebt sich die Differenz zwischen dem Kunstwerk und seinem Sujet in der Einheit von Dargestelltem und Darstellung auf. Das Urbild wird dem Abbild inkorporiert. Man muss sehen, welche revolutionäre Konsequenz diese Auffassung des Bildes hat. Gadamer bricht mit Platons Abwertung des Bildes. Er stellt sich in die Nähe von Hegels Bestimmung der Kunst, wenn er schreibt: „So paradox es klingt: das Urbild wird erst vom Bilde her zum Bilde – und doch ist das Bild nichts als die Erscheinung des Urbildes.“ (GW 1, 147) Erkennbar wird diese „Dialektik“ des Bildes am religiösen Bild. Die dynamis der von ihm ausgestrahlten ‚Seinsmacht‘ stiftet eine Kommunikation mit dem von ihm Abgebildeten. Deutlich wird das an der Ikone. Ihre Verehrung in der Ostkirche beruht darauf, dass die ihr zugeschriebene wundersam heilende Kraft sich auf den Gläubigen überträgt, wenn er ihr Silber mit den Lippen berührt. In der Kunst der Bilder wie in den Bildern der Kunst verbirgt sich für Gadamer ein Seinsgeschehen, das sich einem ästhetischen Bewusstsein nie angemessen erschließt. Die mit ihm verbundene Idealität des Kunstwerkes kommt dem nahe, was Hegel am Beispiel des Schönen als das „‚Scheinen‘“ der Idee bezeichnet hat. Wie hoch Gadamer den dem Bild zukommenden Seinszuwachs einschätzt, wird daran deutlich, dass er den Unterschied zwischen sakraler und profaner Kunst relativiert. Das Mysterium großer Kunstwerke liegt für ihn in ihrer Teilhabe an einem Sein, in dessen Leuchtkraft sich eine unmittelbare Erfahrung des Wahrseins repräsentiert. Man kann sich fragen, ob diese Auffassung auch für die Kunst der Moderne Gültigkeit hat. Ist ihr Thema nicht die Verfinsterung jenes Leuchtens, von dem Gadamer spricht, wenn er vom Kunstwerk redet? Wie problematisch eine vorschnelle Antwort ist, wird deutlich, wenn man an Hölderlin denkt, der die „Verwobenheit“ (W. Michel) des Bleibenden mit dem Vorübergehenden aus einer „Vollkommenheit“ gedeutet hat, dessen sinnliches Zeichen das Glänzende des hohen Himmels ist. 2 Oder man erinnert sich an 2
Die Aussicht Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten, Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten, Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet Den Menschen dann, wie Bäume Blüth’ umkränzet. (Stuttgarter Ausgabe 2,1, S. 312)
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die Dichtung des griechischen Autors O. Elytis, der für sein Hauptwerk To Axion Esti – Gepriesen sei 1979 den Nobelpreis für Literatur erhielt. In ihr erscheint „der alttestamentliche Gott und der Logos-Gott des Johannes als ein griechischer Licht- und Sonnengott, der immer wieder – als Sonne der Idee des Guten – auch platonische Züge trägt.“ 3 Die Seinsvalenz des Bildes gründet aus platonischem Verständnis in seiner schwachen Teilhabe an dem Sein der Idee. Aus dieser Methexis begründet sich der Übergang des Bildes zum Symbol. Ihm kommt keine Verweisungsfunktion des Zeichens zu, sondern es repräsentiert eine Gegenwärtigkeit des in ihm Symbolisierten. Aus diesen Verhältnisbestimmungen kann die Definition abgeleitet werden. Das Bild steht in der Mitte zwischen Zeichen und Symbol. Aus dieser Mittelstellung speist sich seine ‚Seinsvalenz‘. Gadamer betont an ihr die kunstvolle Verdichtung eines Geschehens, das in einem gleichsam dialektischen Spiel von Anwesenheit und Verborgenheit als ein ‚Zur-Darstellung-Kommen des Seins‘ gewürdigt wird. Eine Formulierung, die an Heidegger erinnert, für den Kunst ein ‚InsWerk-Setzen‘ der Wahrheit ist. Die Welt der Literatur wird von Gadamer in einen engen Zusammenhang mit Lektüre im Sinne eines inneren Sprechens mit der literarischen Überlieferung gestellt. Es erfährt in jedem Augenblick des Lesens seine Belebung. Das Gespräch mit der Literatur erfüllt die Funktion einer geistigen Bewahrung der klassischen Überlieferung. Es ist das historische Bewusstsein, das die übernationale „Weltliteratur“ (Goethe) in das Korsett der Literaturgeschichte zwängt. Von dieser abgehoben bleibt ihr kanonischer Sinn. Er stellt vor Augen, was zu allen Zeiten und für alle Menschen Wahrheit und Gültigkeit besitzt. Dem Glanz dieser Literatur kann der Zeitenabstand keinen Schaden zufügen, wenn es gelingt, den über ihm liegenden Staub bestimmter Normen der Lektüre zu entfernen. Lesen wir in der Sammlung altägyptischer Liebeslieder „Deines Gesichtes Schönheit glänzt und leuchtet. / Vor Deinem schönen Gesicht wird man trunken / Gold! Hathor!“; hören wir die Klage der Sappho „Hingestorben wirst du liegen, und nie wird Erinnerung an dich / sein, nach dir kein Sehnen später: Nicht hast du teil an den Rosen / aus Pierinen, nein, unbemerkt auch in des Hades Haus wandelst du unter dämmerumflorten Toten, fortgeflattert“: so ist das, was die Stimme der Toten zu uns sagt, mehr als die flüchtige Rede der Lebenden. Indem die Hermeneutik das Ohr für diese Stimme schärft, wird bewusst, dass sich unsere Identität vor allem
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O. Elytis, To Axion Esti / Gepriesen sei, Frankfurt a. M. 1981, S. 111.
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über die großen Erzählungen des Abendlandes (Homer, Vergil, Dante, Cervantes) bildet. Gadamer lenkt den Blick auf die tiefe innere Gemeinsamkeit der Werke der Weltliteratur. Ein gemeinsam sie verbindendes Band ist ihre hohe sprachliche Formung. Bei ihrer Interpretation kommt alles darauf an, sie in ihrer jeweiligen Sprache erneut für uns zum Sprechen zu bringen. Er rühmt die Kunst des Lesens, die das Wunder der Rückverwandlung einer ‚toten Sinnspur‘ der Schrift in lebendigen Sinn bewirkt. An dem Wunder dieser Verwandlung lässt sich die Leistung der Hermeneutik bestimmen. Ihre Anstrengung, der Forderung von E. Wind gerecht zu werden, dass „unser Auge sieht, wie unser Geist liest“, ist mit der Aufgabe verbunden, zu lernen, wie ein Text, wie ein Bild zu ‚lesen‘ ist. Dieses der Ikonographie ähnliche Studium, das die rätselhaften Wortbildungen in einem Text-, die geheimen Zeichen in einem Bild im Kontext ihrer allegorischen oder symbolischen Sinnbedeutungen entziffert, übertrifft ein im Genuss zentriertes ästhetisches Bewusstsein. Dass die ‚Kunst des Verstehens‘ das, was im Kunstwerk zur Darstellung kommt, in ein ‚Sinngeschehen‘ zu übersetzen vermag, berechtigt Gadamer zu der viel diskutierten Formel: Ästhetik muss in Hermeneutik aufgehen. Dieser Appell richtet sich – ebenso wie Nietzsches Angriff gegen den Historismus – gegen die Herrschaft eines historischen Bewusstseins, das die Auslegung von Texten dem Maßstab ihrer philologischen ‚Richtigkeit‘ unterwirft und sich mit einer Rekonstruktion der Aussage des Textes aus dem ‚Geist der Zeit‘ begnügt. Die wahre Treue zur Philologie, das weiß der Altphilologe Gadamer, besteht in der Aufgabe, seinen Übersetzungen alter Texte jene ursprüngliche Frische zurückzugeben, die der ihnen zugrunde liegenden musikalischen Struktur eine Stimme verleiht, deren Zauber wie eine fremde Melodie unser Ohr entzückt. Hölderlins freie Übersetzung der Tragödien des Sophokles kann für diese Art der Übersetzung ein paradigmatisches Zeugnis sein. Diltheys Hermeneutik, so bezwingend sie auf den ersten Blick erscheint, erfordert eine Revision. Sie orientiert sich an einem Verständnis, das im Kunstwerk keinen Gegenstand sieht, der sich einem nur historischen Bewusstsein erschließt. Diese Einsicht ist die Voraussetzung für die Frage: Was hat Hermeneutik zu leisten, wenn sie der Autonomie der Kunst und den historischen Zeugnissen der Vergangenheit gerecht werden will? Gadamer geht, was die Klärung dieser Frage angeht, zunächst auf die Hermeneutik Schleiermachers ein, um danach auf Hegel zurückzugehen. Das bedeutendste Zeugnis der romantischen Hermeneutik sind Schleiermachers Akademiereden von 1829 und die von Fr. Lücke zusammen-
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gestellten Kollegnachschriften (Die auf Anregung von Gadamer in den Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erstellte Neuedition der hermeneutischen Schriften Schleiermachers, herausgegeben von H. Kimmerle, erschien 1959). Schleiermacher unterscheidet am Verstehen zwei Momente: Das eine, die Betrachtung der Rede in ihrer Beziehung auf die Gesamtheit der Sprache, dient der grammatischen Interpretation; das andere, die Betrachtung der Rede in ihrer Beziehung auf das Denken ihres Urhebers, dient der psychologischen Interpretation. Die Methodenlehre Schleiermachers zielt darauf, die originelle Eigenart literarischer Quellen, über denen die zeitlichen Ablagerungen ihrer Rezeption liegen, dem Verstehen in ihrer sprachlichen Konkretion erneut zugänglich werden zu lassen. Als „die schönste Frucht von aller ästhetischer Kritik“ bezeichnet Schleiermacher „ein erhöhtes Verständniß von dem inneren Verfahren der Dichter und anderer Künstler der Rede von dem ganzen Hergang der Composition vom ersten Entwurf an bis zur letzten Ausführung.“ Eine ausführliche Darstellung der Grundzüge seiner Hermeneutik findet sich in dem auf Vorlesungen beruhenden Band Einführung in die literarische Hermeneutik (1975) von P. Szondi. Die quellengeschichtliche Auslegung des Alten- und Neuen Testaments beruft sich auch auf die theologische Hermeneutik Schleiermachers, die der „Historisierung der Theologie“ (K. Barth) Vorschub leistet. Der Vorbehalt, den Gadamer gegenüber Schleiermacher äußert, bezieht sich weder auf dessen Glaubenslehre noch auf dessen Plato-Verständnis. Er gilt seinem antiquiert wirkenden Anspruch, die ‚Ursprünglichkeit‘ literarischer Texte könne unter Ausklammerung ihres sachlich-überindividuellen Wahrheitsgehalts über das Erlebnis und die Geschichte in dem psychologischen Sinn eines unmittelbar kongenialen Verstehens rekonstruiert werden. Das auf dem „Gefühl“ eines geistigen „Allebens“ (Schleiermacher) sich gründende Verstehen der Überlieferung des philosophischen Wissens lässt sich auf dem wackeligen Podest der modernen Kultur zu keinem allgemeinen Bildungsgut erheben. Es kann lediglich im Sinne seiner Metamorphose zu einem „kritisch reflektierten Verstehen“ (Gadamer) auf die Aporien hinweisen, die sich aus einer Vermittlung zwischen der Totalität der historischen Welt und einem problematisch gewordenen Begriff der ‚Individualität‘ ergeben. Es ist Hegel, dessen nüchterner Wirklichkeitssinn das klarste Bewusstsein von der nicht zu restaurierenden, daher für uns verloren gegangenen Ursprünglichkeit des antiken Lebens und seiner ‚Kunstreligion‘ besitzt. Gadamer zitiert aus der Phänomenologie des Geistes die bekannte Passage, in der Hegel schreibt, dass die Werke der Muse für uns „vom Baume
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gebrochene schöne Früchte“ sind, „ein freundliches Schicksal reichte sie uns dar, wie ein Mädchen (auf einem Gemälde – W. R.) jene Früchte präsentiert …“ Er fährt fort: „So gibt das Schicksal uns mit den Werken jener Kunst nicht ihre Welt, nicht den Frühling und Sommer des sittlichen Lebens, worin sie blühten und reiften, sondern allein die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit.“ Für Hegel ist es nicht ein akademisches „äußerliches Tun“, „das von diesen Früchten etwa Regentropfen oder Stäubchen abwischt“, sondern es ist die Philosophie, die im Selbstbewusstsein des Geistes die Erinnerung an die Wahrheit der Kunst, der schönsten Frucht, im Sinne einer „denkenden Vermittlung“ des Vergangenen „mit dem gegenwärtigen Leben“ (Gadamer) aufhebt. Diese Einsicht in das Leben des Geistes, das dem mythischen Bild des Mädchens gleicht, dessen spendende Hand den Menschen „die gepflückten Früchte darreicht“, erweist sich als der von Schleiermacher entworfenen Hermeneutik und ihrer Anwendung auf die Historie überlegen. Gadamers Kritik des ästhetischen wie des historischen Bewusstseins ist nicht von Nietzsche her bestimmt. Sie weiß sich vielmehr Hegel verpflichtet, in dessen Tradition sie steht. Die geschichtliche Ausweitung der Wahrheitsfrage thematisiert Gadamer auf dem Hintergrund der Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik und ihrer Anwendung auf die Historik. In der Epoche der Romantik entwickelt sich die Hermeneutik zu einer allgemeinen Theorie des Verstehens. „Die Kunst des Verstehens wird einer prinzipiellen theoretischen Aufmerksamkeit und universellen Pflege gewürdigt, weil weder ein biblisch noch ein rational begründetes Einverständnis den dogmatischen Leitfaden alles Textverständnisses mehr bildet.“ (GW 1, 183) Die über literarische Texte vermittelte ‚Wahrheit‘ schließt die historische Individualität des sie tragenden Gedankens ausdrücklich ein. Indem wir uns dessen bewusst werden, treten wir in ein Gespräch mit ihm ein, das der dialektischen Wahrheitssuche dient. Bei Schleiermacher ist sie durch ein divinatorisches Verhältnis zu den klassischen Texten überformt. Unter dem in der Romantik zentralen Begriff des Künstlerischen Denkens sieht er Dichtung und Redekunst als Einheit und legt den Akzent des Verstehens ganz auf die Individualität des schöpferischen Geistes. Gadamer spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer „ästhetischen Metaphysik der Individualität“ (GW 1, 193). Sie verleiht den von Philologen und Theologen eingenommenen hermeneutischen Grundsätzen eine Wendung in die Sphäre des Ästhetischen. Ihr korrespondiert eine kongeniale Einfühlung in das Fremde, das die alten Texte als die Manifestationen eines ursprünglich vergangenen Lebens ausstrahlen. Im Licht eines divinatorischen Verstehens löst sich die mit diesem ‚Fremden‘ verbundene Distanz auf, weil aus dem
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Zeitenabstand ein ‚mehr‘ an Verständnis der Alten erreicht werden kann, als es ihnen selbst zu dem Zeitpunkt ihres Wirkens möglich gewesen ist. Indem der Anspruch der uns von ihnen hinterlassenen Zeugnisse auf eine individuelle Wahrheit weitgehend ausgeblendet wird, werden sie auf ‚reine Ausdrucksphänomene‘ eines überindividuellen geistigen Lebenszusammenhanges reduziert, der aus sich selbst heraus zu verstehen ist. Gadamer fasst das Selbstverständnis der ‚historischen Schule‘ in dem Satz zusammen: Die Grundlage der Historik ist also die Hermeneutik (GW 1, 203). Im Rahmen der aus der Romantik geborenen ‚historischen Schule‘ ist es das besondere Verdienst Diltheys, dass er in Analogie zu Kants Kritik der reinen Vernunft nach den Bedingungen fragt, die als Kategorien der geschichtlichen Welt die Legitimation der Geisteswissenschaften ermöglichen. Im Anschluss an Vico hebt er den Primat der vom Menschen gemachten Geschichte hervor. Zu Bewusstsein kommt sie im unauflösbaren ‚Innesein‘ der geschichtlichen Welt und ihrer Artefakte auf dem Hintergrund der Strukturen des schöpferischen Lebens. „Wie der Zusammenhang eines Textes ist der Strukturzusammenhang des Lebens durch ein Verhältnis von Ganzem und Teilen bestimmt. Jeder Teil drückt etwas vom Ganzen des Lebens aus, hat also eine Bedeutung für das Ganze, wie seine eigene Bedeutung von diesem Ganzen her bestimmt ist. Es ist das alte hermeneutische Prinzip der Textinterpretation, das deshalb auch für den Lebenszusammenhang gilt, weil in ihm in gleicher Weise die Einheit einer Bedeutung vorausgesetzt wird, die in allen seinen Teilen zum Ausdruck kommt.“ (GW 1, 227 f.) Im Gegensatz zu Husserl ist für Dilthey Bedeutung kein logischer Begriff, sondern ein Ausdruck des Lebens. Es ist das Leben, das sich in seinem geschichtlichen Formenreichtum selbst ständig auslegt. Hinter das Leben selbst kann nicht zurückgegangen werden. Die Frage, die sich für Gadamer stellt, ist: In welche spekulativen Aporien verstrickt sich Dilthey mit diesem Ansatz seiner Hermeneutik, der in einer verdeckten Nähe zu Hegel steht? Es ist dann aber doch von Nietzsche her gedacht, wenn Gadamer im Blick auf Diltheys Lebensphilosophie von einer „ästhetischen Metaphysik“ (GW 1, 234) spricht, die eine Grundlage seines Geschichtsverständnisses ist. Es ist fraglich, ob sie sich angesichts der endlichen Beschränktheit unseres Bewusstseins gegenüber dem beständigen Strom des Bedeutungswandels der Geschichte nicht als unzureichend erweist, wenn Dilthey die Begründung der Geschichtswissenschaft in den Geschehenszusammen-
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hang des Lebens zu integrieren sucht. Dilthey hat dieses Problem gesehen und mit ihm gerungen. Das endlich-geschichtliche Bewusstsein bleibt immer in den Wellengang des geschichtlichen Wirkungszusammenhanges eingelassen und kann keinen über ihn hinausragenden Standpunkt gewinnen. Wenn das richtig ist, wie ist dann eine objektive historische Erkenntnis möglich? Die Antwort Diltheys, das Bewusstsein könne sich in ein aufgeklärt reflektierendes Verhältnis zu der Geschichte setzen, steht noch ganz im Schatten Hegels und ist in seinem Vertrauen auf die rationale Kraft des Geistes, geschichtliche Prozesse zu durchdringen, tief fragwürdig. Dilthey liest als Erbe der historischen Schule Geschichte aber noch wie einen Text, dessen Buchstaben ‚Sinn‘ ergeben. Dieser ‚Lektüre‘ steht entgegen: Der nie in sich abgeschlossene Prozess der Geschichte lässt sich durch die Methode der Geschichtswissenschaft nicht durchsichtig machen. Wir stehen im Strom der Geschichte und deuten seinen Wellengang aus der endlichen Perspektive unserer Vernunft, es bedürfte aber eines göttlichen Auges, ihn in seinem Verlauf zu überschauen. Diltheys Ansatz, das Leben auf die Stufe des Selbstbewusstseins zu erheben und in seiner Gesetzlichkeit zu Ende zu denken, endet in einem ästhetischen Relativismus, den Gadamer durch seinen hermeneutischen Ansatz zu überwinden beansprucht. Er setzt zwischen seinen Äußerungen zu Dilthey einige gewichtige Passagen zu Husserls Logischen Untersuchungen (1900/01) ein, deren Psychologismuskritik sich mit einer Neubegründung der Logik verbindet. In ihnen reflektiert er auf „das Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen“ (GW 1, 248), dem auf dem Hintergrund einer transzendentalen Reflexion unseres Zeitbewusstseins die Einheit im Sinn von ‚Bedeutung‘ zukommt. Der späte Husserl spricht von einer anonymen Intentionalität, durch die ein umfassender Welthorizont konstituiert wird, den er „die Lebenswelt“ nennt. Sie liegt aller Wissenschaft zu Grunde und auf sie hin sind alle subjektiven Leistungen des Bewusstseins bezogen. „Auch das Weltverhalten des Subjekts hat (…) seine Verständlichkeit nicht in den bewussten Erlebnissen und ihrer Intentionalität, sondern in den anonymen ‚Leistungen‘ des Lebens.“ (GW 1, 253) Dem, was bei Dilthey ‚Erlebnis‘ genannt wird, entspricht bei Husserl die Einheit des ‚Erlebnisstroms‘. So gesehen, gehen beide Denker bei aller Unterschiedlichkeit ihrer theoretischen Ansätze auf die ‚Konkretion des Lebens‘ zurück. Ein Einwand Gadamers gegenüber Dilthey und Husserl zielt daraufhin, dass bei ihnen der spekulative Gehalt des Lebensbegriffs unentfaltet bleibt. Was ihn auszeichnet, zeigt vor allem der Nachlass des Grafen York von Wartenburg. In dem Briefwechsel mit Dilthey (1877 – 1897) richtet sich sein
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Interesse auf eine tiefgründige Analyse der ‚Lebendigkeit‘. Ihre Struktur umfasst die Gliederung des Lebens als eine innere, in sich bewegte Einheit. Sie muss allem historischen Verstehen zugrunde gelegt werden. An der inneren Zusammengehörigkeit von geschichtlicher Existenz und historischem Erkennen lässt sich eine ihr zuzuordnende strukturelle Entsprechung von Leben und Selbstbewusstsein (GW 1, 256) aufweisen, die bereits bei Hegel ein Grundthema seiner Philosophie ist. Weil Graf York die von Hegel herausgearbeitete Reflexionsfigur eines internen Zusammenhanges von Leben und Selbstbewusstsein in existentieller Weise an der Struktur der Lebendigkeit erhellt, ist er nach Gadamers Urteil Dilthey und Husserl überlegen. So hat es bereits Heidegger gesehen, der im § 77 von Sein und Zeit ausführlich aus den Briefen des Grafen York an Dilthey zitiert. Das Zauberwort, das den jungen Gadamer für Heidegger begeisterte, ist die Wortfügung ‚Hermeneutik der Faktizität‘. Sie ist Thema einer Vorlesung Heideggers im Sommer 1923. Was ist mit ihr gemeint? Schon für Dilthey war der ‚letzte Erklärungsgrund der Welt‘ reine Faktizität, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Der junge Heidegger knüpft an sie an, wenn er auf dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles und Husserl die Frage nach der Eigenart des zeitlichen Vollzugscharakters des Daseins stellt. Ihre Auslegung ist Sache der Philosophie. ‚Hermeneutik der Faktizität‘ erschließt die Vollzugsweise des menschlichen Daseins aus seiner Möglichkeit, sich von sich selbst her zu verstehen. Die Weise dieses Verstehens zeigt Heidegger an einer von Augustin, Luther und Kierkegaard beeinflussten Analyse der durch Sorge und Schuld gezeichneten Bewegtheit der menschlichen Existenz. In der Bekümmerung um ihr Sein in der Leere der Welt, in die sie geworfen ist, geht es ihr in dem ihr zukommenden inneren Richtungssinn um die Möglichkeit der Selbstergreifung oder der Selbstverfehlung. Grundthese ist: Dasein ist in den Akten seiner Existenzvollzüge selbstverantwortlich. Diese Verantwortlichkeit ist seine Freiheit. Die Subjektivität, die allem Verstehen zu Grunde liegt, ist als Verhaltensweise zu sich selbst unhintergehbar. Die dem Dasein eignende Zeitlichkeit, die seine Verstehensentwürfe ermöglicht, ist jedoch für Heidegger durch die erstarrten Kategorien der philosophischen Tradition verdeckt. Gefordert ist daher die Destruktion dieser Verdeckung. Sie soll das Dasein in den Weisen seines existentialen Vollzugs als geworfenen Entwurf erneut zum Vorschein bringen. „In seiner Grundlegung der ‚Hermeneutik der Faktizität‘, so Gadamer, überschreitet Heidegger „ebenso den Begriff des Geistes, den der klassische Idealismus entwickelt hatte, wie das Themenfeld des durch die phänomenologische Reduktion gereinigten transzendentalen Bewusstseins“ (GW 1, 262).
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Die von Heidegger gestellte Seinsfrage verleiht dem Verstehen von Dasein eine radikale Wende. Seine transzendentale Analytik des Daseins verengt es nicht auf einen Methodenbegriff, sondern zeigt Dasein in den Vollzugsweisen seines Sichverstehens im Anschluss an Kierkegaard als eine Bewegtheit, deren zeitliche Strukturbestimmungen von Heidegger Existentiale genannt werden. Im Unterschied zu anderem Seienden versteht sich Dasein als ein reflexives Selbstverhältnis, das alles in der Welt Gegebene auf seine Möglichkeit hin übersteigt, ohne dass es den Bannkreis geschichtlicher Endlichkeit durchbricht. Gadamer nimmt Grundzüge der hier skizzierten Analyse Heideggers in seine Hermeneutik auf und denkt sie unter dem Aspekt der Sprachlichkeit des Verstehens eigenständig weiter.
2. Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip In Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung analysiert Gadamer die hermeneutische Zirkelstruktur des Verstehens. Er knüpft an die von Heidegger in Sein und Zeit explizierte Vorstrukturierung des Verstehens an und stellt die Frage, wie sich in ihr bestimmte Weisen der Geschichtlichkeit des Verstehens aufweisen lassen. Die hermeneutische Zirkelstruktur des Verstehens demonstriert er an dem Beispiel, wie wir einen Text verstehen. Wir lesen einen Text immer schon mit ganz bestimmten an ihn herangetragenen Sinnerwartungen. Diese ‚Vorentwürfe‘ von Verstehen werden durch ein erneutes Eindringen in den Text korrigiert, bis sich eine Annäherung unseres Textverstehens an das ergibt, was der Text selbst auch gegen die anfängliche Vormeinung uns ‚sagt‘. Das heißt: Nicht ich bestimme durch historische Rekonstruktion, wie ein Text zu lesen ist, sondern es ist der Text, der mich im Verstehen seines Sinns bestimmt. Diesem Verhältnis trägt Gadamer Rechnung, wenn er schreibt: „Die hermeneutische Aufgabe geht von selbst in eine sachliche Fragestellung über“ (GW 1, 273). Dieser Übergang zeigt sich daran, dass wir lernen, auf das zu hören, was der Text uns zu sagen hat. „Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen.“ (GW 1, 274) Gadamers Akzentsetzung auf die sachliche Wahrheit, die uns durch die Tradition in literarischer Form vermittelt wird, korrigiert das seiner Hermeneutik unterstellte oberflächliche Missverständnis, Interpretieren als solches sei beliebig gegenüber der Aussage des Interpretandums. Man muss vielmehr sehen, wie entscheidend sich die Arbeit der Interpretation am Vorbild des platonischen Dialogs orientiert. Das bestimmende Element in ihm sind nicht die Gesprächspartner, sondern ein ‚Drittes‘, die Sache des Denkens, die den Verlauf des Gesprächs lenkt. Die Anerkennung der ‚wesenhaften Vorurteilshaftigkeit‘ allen Verstehens radikalisiert das hermeneutische Problem. Gadamer stellt im Fortgang seiner Überlegungen die Frage, welche Rolle Vorurteile im Prozess des Verstehens spielen. Ihre negative Wertung ist für ihn vor allem durch
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die Aufklärung verursacht. Die durch sie initiierte Religionskritik fordert eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit der dogmatischen Überlieferung, deren Autorität sich vor dem Richterstuhl der Vernunft (Kant) zu rechtfertigen hat. „Nicht Überlieferung, sondern die Vernunft stellt die letzte Quelle aller Autorität dar.“ (GW 1, 277) Mit der schönen, an Hegel erinnernden Formulierung: „das Schrittgesetz der Geschichte des Geistes“ verdeutlicht Gadamer den Prozess der Rationalisierung grundlegender Lebensaspekte, der als Säkularisierung die Legitimität der Neuzeit (H. Blumenberg) bestimmt. Ihm entgegen steht der auch durch die Aufklärung nie völlig überwundene Gegensatz von Mythos und Vernunft, der durch die Romantik verewigt wird. Ihre Berufung auf eine in der Frühzeit des Mythos liegende „Weisheit“ bleibt jedoch ebenso abstrakt wie der Glaube der Aufklärung an ein durch Vernunft ermöglichtes ‚absolutes Wissen‘. Beiden Epochen, der Aufklärung und der Romantik, liegt ein Bruch mit der ‚Sinnkontinuität‘ der Überlieferung zugrunde. „Wenn es für die Aufklärung feststeht, dass alle Überlieferung, die sich vor der Vernunft als unmöglich, d. h. als Unsinn darstellt, nur historisch, d. h. im Rückgang auf die Vorstellungsweise der Vergangenheit, verstanden werden kann, so bedeutet das historische Bewusstsein, das mit der Romantik heraufkommt, eine Radikalisierung der Aufklärung.“ (GW 1, 280) Indem Gadamer die Forderung der Aufklärung nach einer Überwindung aller Vorurteile selbst als Vorurteil deutlich macht, stärkt er die Einsicht in die Begrenztheit endlicher Vernunft, „die nicht nur unser Menschsein, sondern ebenso unser geschichtliches Bewusstsein beherrscht“ (GW 1, 280). Er akzentuiert mit Schärfe die unüberwindbare Bedingtheit allen Verstehens, welche die Idee einer absoluten Vernunft diskreditiert. Dies gilt nicht nur in einem rein erkenntnistheoretischen Sinn, sondern erst recht für den Anspruch der Vernunft, die Totalität der Historie zu erfassen, sowie für die vom Deutschen Idealismus thematisierte Setzung des Absoluten als einer sich durchsichtig gewordenen Selbstreflexion. Auf diesen hier angedeuteten Komplex beziehen sich die entscheidenden, noch ganz im Geiste Hegels formulierten Grundsätze: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein
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Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.“ (GW 1, 281) Dass die Selbstbesinnung des Individuums nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens ist, dieses Bild verweist auf den Bruch Gadamers mit dem Deutschen Idealismus, auch wenn für ihn Hegel ein ständiger Gesprächspartner im philosophischen Gespräch bleibt. Vor dem Hintergrund der universellen Vergesellschaftung des Menschen und der durch sie verursachten Schematisierungen der sprachlichen Kommunikation, deren Kritik Thema der Ideologiekritik ist, reflektiert Gadamer auf die Vorurteile als eine Vorbedingung des Verstehens. Seine Frage ist: Wodurch lässt sich die Legitimität bestimmter Vorurteile begründen? In einem ersten Ansatz der Beantwortung dieser Frage findet der von der Aufklärung thematisierte Gegensatz von Autoritätsglauben und eigenem Vernunftgebrauch seine Anerkennung. Es kommt jedoch darauf an, den im Zuge der Aufklärung missachteten Begriff der Autorität neu zu überdenken. Ihre Legitimität beruht für ihn auf einer aus Vernunftgründen erfolgten Anerkennung der ‚besseren Einsicht‘, nicht auf blindem Gehorsam. Was die Verbindung von Autorität und Tradition angeht, so kennzeichnet es die ‚Überlegenheit‘ der antiken Ethik über die neuzeitliche Moralphilosophie, dass sich für sie auf Grund ihrer nie ganz abgebrochenen Kontinuität zum Rechtsbestand in der Überlieferung Ethik am Maßstab einer durch sie bewährten konkreten Kunst der Gesetzgebung legitimiert. Tradition ist für Gadamer mit der ‚Bewahrung‘ der normativen Geltungsansprüche der Vernunft verbunden. So gesehen kommt ihr ein Identität stiftendes Motiv zu. Verstehen in den Geisteswissenschaften weiß sich von der Überlieferung ‚angesprochen‘. Dieser ‚Anspruch‘ führt zu einer „Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr“ (GW 1, 287). Geschichtliche Erfahrung besitzt ihre Dignität darin, dass wir lernen, auf den Chor der Stimmen zu hören, in denen Vergangenheit fortlebt. Aufgabe der historischen Forschung ist es, ihn uns immer neu hörbar werden zu lassen. So verstanden, wird sie zu einer Kunst, und der Historiker, der sich auf sie versteht, zum Künstler. Auch wenn der Name dieses Historikers von Gadamer nicht genannt wird, so denken wir doch an niemand anderen als an J. Burckhardt. Keiner hat ein eindringlicheres Bild des Lebens der Griechen im Altertum gezeichnet als er in seinem Werk Griechische Kulturgeschichte.
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In der weiteren Diskussion geht es um den normativen Begriff des Klassischen. Gadamer zeigt an Herder und Hegel, wie er mehr und mehr von einem Epochenbegriff zu einem ‚deskriptiven Stilbegriff‘ wird, dem ein übergeschichtlicher Wert nicht mehr eindeutig zuzuordnen ist. Sein Verständnis des Klassischen fasst er in dem Satz zusammen: „Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält.“ (GW 1, 292) Dem Klassischen in Literatur und Kunst kommt eine zeitlose Gegenwart zu, die unsere eigene Vergänglichkeit berührt und sie verwandelt. Begegnen wir ihm, so scheint uns, als seien wir in seinem Anblick unserer Vergänglichkeit für kurze Zeit entronnen. Gadamer knüpft an Hegel an, wenn er betont, dass das Klassische sich im ‚Ruin der Zeit‘ bewahrt, weil es in seiner Bedeutung für sich selbst steht und sich aus sich selbst heraus deutet. Die Begegnung mit der Literatur und der Kunst der ‚Klassik‘ hat Folgen für das Verständnis von Verstehen. In seinen Worten: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ (GW 1, 295). In ihm sind Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander vermittelt, jedoch so, dass die Horizonte, die sich diesem Geschehen erschließen, niemals definitiv ineinander aufgehen. Wir sind als Subjekte immer schon der Teil eines ‚Ganzen‘. Gadamer erinnert an die Regel der antiken Rhetorik, das Ganze aus seinen einzelnen Teilen und die einzelnen Teile aus dem Ganzen zu verstehen, um sie auf die Zirkelstruktur des Verstehens zu übertragen. Die Frage, die sich aus der Beachtung dieser ‚Struktur‘ stellt, ist das Problem, ob sich aus der Begegnung des eigenen- mit einem fremden Verstehen die Teilhabe an einem beide Verstehensweisen verbindenden Sinn einstellt. Für Gadamer ist es Heidegger, dessen existentiale Begründung der hermeneutischen Zirkelstruktur des Verstehens eine entscheidende Wende gegenüber der romantischen Hermeneutik (Schleiermacher) vollzieht. Für Heidegger gehört die Zirkelstruktur des Verstehens in den Bereich einer ontologischen ‚Vorstruktur des Daseins‘ (J. Grondin). Es geht bei ihr in einem hermeneutischen Sinn um eine vertiefte Aneignung der Frage unserer Selbstverständigung hinsichtlich dessen, was in der „Polarität von Vertrautheit und Fremdheit“ (Gadamer) die Stellung unseres In-der-Welt-Seins ausmacht.
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Positioniert ist sie für Gadamer durch das Zwischen-Sein einer Welt des Vergangenen und einer Welt des Gegenwärtigen, die eine reflexive Rückbesinnung auf sie immer schon unbewusst mitbestimmt. Im Akt des Verstehens wird sich diese Spannung ihrer selbst bewusst. Sie äußert sich auf der linearen Schiene der Zeit in einem immer sich wandelnden und sich erneuernden Verständnis der Dinge, die uns angehen. Der zeitliche Abstand, der uns von dem Vergangenen trennt, ist für Gadamer jedoch nur die von unserem Zeitbewusstsein nicht durchschaute Verhüllung einer durch die Zeit sich durchhaltenden Kontinuität. Sie ist gleichsam der Krug, in dem das Vergessene und Vergangene im Haus der Zeit aufbewahrt ist. Es in das Licht der Erinnerung zu heben, ist ein Gleichnis für die Arbeit des hermeneutischen Verstehens. Sie spürt „stets neuen Quellen des Verständnisses“ für das aus der Verborgenheit in die Erinnerung Geholte auf, „die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren“ (GW 1, 303). Sie nötigen zur Korrektur unserer falschen Vorurteile hinsichtlich dessen, was wir meinen, verstanden zu haben. Das bedeutet keine Naivität eines ‚historischen Objektivismus‘, der die geschichtliche Bedingtheit unserer Vorurteile missachtet. Vielmehr erzwingt eine Hermeneutik im Sinne Gadamers die Anerkennung der Geschichtlichkeit unseres Verstehens wie die einer bereits von Dilthey thematisierten Wirkungsgeschichte der philosophischen Tradition. Der ‚historische Objektivismus‘ verkennt die wirkungsgeschichtliche Verflechtung, in der das historische Bewusstsein steht. Nicht um Tatsachenfeststellung in der Rekonstruktion historischer Abläufe geht es in einem geschichtlichen Bewusstsein, sondern um das Aufzeigen, wie das Vergangene beständig in das Geschehen der Gegenwart hineinsteht. „Das gerade“, schreibt Gadamer in der Nachfolge Hegels, „ist die Macht der Geschichte über das endliche menschliche Bewusstsein, dass sie sich auch dort durchsetzt, wo man im Glauben an die Methode die eigene Geschichtlichkeit verleugnet.“ (GW 1, 306) Wirkungsgeschichte ist ein offener Prozess, der im Gegensatz zu Hegel in kein absolutes Wissen mündet. Ihre Reflexion bringt zu Bewusstsein, wie tief unsere jeweilige Situation in der Gegenwart ihre verborgenen Wurzeln in dem Boden der Geschichte hat. Er ist in seiner Dunkelheit durch das Licht der Vernunft nie völlig zu erhellen. Gadamer vertritt jedoch nie die Position eines geschichtsphilosophischen Irrationalismus. Die Einsicht, dass die Geschichte sich durch Vernunft nicht rational aufklären lässt, erfüllt für ihn die Bedingung der Rede von der Geschichtlichkeit des Daseins, zusammengefasst in dem Satz: „Geschichtlichkeit heißt, nie im Sichwissen Aufgehen.“ (GW 1, 307) Das ist gegen Hegel formuliert. Zugleich aber sieht er mit ihm eine Aufgabe der philosophischen Herme-
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neutik darin, in aller Subjektivität die sie bestimmende „Substantialität“ (Hegel) bewusst zu machen, die in der Geschichte die Kette der Generationen und der Individuen schmiedet und ihnen Wert verleiht, insofern sie seine Träger sind, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Im Unterschied zu Nietzsche ist für Gadamer ‚Subjektivität‘ kein Phantasma, sondern eine durch die Geschichte geprägte Figur, die in ihren Metamorphosen das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen bestimmt. Für die immer an Situationen und Perspektiven gebundene Daseinsstellung des Menschen wird der Begriff des Horizonts bedeutsam, so für Nietzsche, Dilthey, Husserl und Heidegger. Für Gadamer, der die Vorstellung eines durch die Geschichte der Ontotheologie bestimmten geschlossenen Horizonts als eine Abstraktion zurückweist, ist Horizont die wandernde Grenze, die unser Dahinschreiten durch die Zeit begleitet. An ihr lässt sich die Stellung des Menschen zur Welt ablesen. Im Horizont des menschlichen Weltverständnisses bilden sich kommunikative Formen heraus, in denen sich eine Vermittlung vergangener und gegenwärtiger Verstehenshorizonte ereignet. Eine von Hegels Phänomenologie des Geistes inspirierte Reflexion auf diese Vermittlung verweist auf die Brüche, die das Kontinuum der Geschichte durchziehen, zugleich deutet sie jene geheime Verbindung an, die zwischen dem Totenkult und dem Kult der Demeter besteht. Diese gleicht einem Band, das die Welt der Vergangenheit mit der Welt der Gegenwart auf eine unsichtbare Weise miteinander verknüpft. Übersetzt man diese Spekulation, die Eingang in die Überlegungen von Wahrheit und Methode findet, in die Sprache des Mythos, so heißt das: Immer steht die Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Ist in der Tiefe der Zeit die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben, so bedeutet diese Aufhebung für ein geschärftes hermeneutisches Bewusstsein, dass in den Stimmen der Lebenden die Stimmen der Toten hörbar werden. Es ist für Gadamer eine Aufgabe für die „Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins“ (GW 1, 312) zu zeigen, wie sich die Anwendung des historisch vermittelten Wissens auf dem Boden des denkenden Bewusstseins nachzeichnen lässt. Dieser Frage widmet sich der Abschnitt Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems. Gadamer rekurriert erneut auf die Romantik, die am Problem des Verstehens die innere Einheit von intelligere und explicare thematisiert hat. In der Fixierung der romantischen Hermeneutik auf diese Einheit, durch die Verstehen immer schon Auslegung und Auslegung immer schon eine explizite Form des Verstehens ist, gerät das hermeneutische Problem der Applikation des Verstandenen aus dem Blick. Will man ihm gerecht werden, so muss man sich
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der Anstrengung unterziehen, die innere Einheit von Verstehen, Auslegung und Anwendung des Verstandenen aufzuweisen. Zunächst wird von Gadamer betont, dass die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von philologischer, juristischer und theologischer Hermeneutik auf der Anerkennung der Applikation im Sinne eines integrierenden Moments des Verstehens beruht. Es ist von den Griechen her gedacht, wenn es heißt: jede Auslegung muss in der konkreten Situation ihrer Anwendung an der Lebenspraxis orientiert sein und hat sich vor ihr zu rechtfertigen. Das sichert ihr ihre Lebendigkeit und bewahrt sie vor jeder dogmatischen Erstarrung. „Verstehen ist immer schon Anwendung“, lautet die Formel für diesen Vorgang. Das heißt: Der Praxisbezug geht vor den Methodenzwang. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass – wie etwa in der Wissenschaft – die kognitive und die normative Funktion im Verfahren der Auslegung getrennt zu betrachten sind. Sie bilden vielmehr eine innere Einheit. Gadamer wendet sich gegen die künstliche Aufspaltung der Subjektivität des Interpreten, der sich einem Text zuwendet, und der Objektivität, die als ‚Sinn‘ dem zu interpretierenden Text zukommt. Er betont im Anschluss an Hegel die in jedem Akt des Verstehens schon immer wirksame dialektische Vermittlung zwischen Subjektivität und Objektivität. Ihr Vorbild ist für ihn die juristische und theologische Hermeneutik. Sie stehen im Dienst der Geltendmachung eines irdischen oder göttlichen Gesetzes, das seine Anwendung in der menschlichen Gemeinschaft unmittelbar impliziert. Gleiches kann für die historische Hermeneutik geltend gemacht werden. Auch sie wendet die großen kulturellen Zeugnisse der Vergangenheit auf ein vertieftes Sinnverstehen der Gegenwart an. Was der Bezug von Verstehen und seine Anwendung für eine philosophische Hermeneutik bedeutet, darüber klärt das Kapitel über Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles auf. Das alte in der Philosophie diskutierte Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderen gewinnt Relevanz in der Anwendung von etwas Allgemeinem auf eine konkrete Situation. Hier kommt der Ethik des Aristoteles zentrale Bedeutung zu. Gadamer, für den in seinen Studienjahren die Lektüre von Heideggers Einleitung Anzeige der hermeneutischen Situation von 1922 zu dem Manuskript Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles wie eine Offenbarung waren und der ihm 1989 mit einem Essay in Band 6 des Dilthey-Jahrbuchs ein Denkmal gesetzt hat, hat sich immer wieder mit der aristotelischen Ethik, besonders dem 6. Buch der Nikomachischen Ethik, auseinandergesetzt. Bei der Frage nach der hermeneutischen Aktualität des Aristoteles geht es um die Klärung, was
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vernünftiges ‚Wissen‘ in seiner Ethik bedeutet. Die Ethik, wie sie Aristoteles in das griechische Denken eingeführt hat, ist die philosophische Lehre von der Lebensführung des Menschen. Bestimmend erweist sich für sie die Frage nach dem Guten. „Indem er (Aristoteles – W. R.) die platonische Idee des Guten als eine leere Allgemeinheit kritisiert, setzt er ihr die Frage nach dem menschlich Guten, dem für das menschliche Handeln Guten, entgegen.“ (GW 1, 317) Es ist die Frage, welche Bedeutung ein ethisches Wissen für das sittliche Handeln des Menschen in konkreten Situationen besitzt. Der Lebensrealismus des Aristoteles sieht in diesem ‚Wissen‘ weniger eine theoretische Leistung der Vernunft als vielmehr die Verkörperung einer klugen Lebenshaltung. Er grenzt das sittliche Wissen der phronesis im Sinne praktischer Lebensklugheit von dem theoretischen Wissen der episteme ab, wie es in der Mathematik als dem Paradigma wissenschaftlicher Erkenntnis Geltung beansprucht. Durch diese Abgrenzung wird er zu einem Vorläufer der Trennung von Erklären und Verstehen. Übertragen auf das Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften lässt sich sagen, dass dem Verstehen in den Geisteswissenschaften ein durch die Wissenschaft nicht verifizierbares ‚sittliches Wissen‘ zukommt. Seine Geltung gründet sich auf den Menschen als Leidenden und Handelnden im Strom der Geschichte. Die Griechen sprechen von techne, wenn, wie im Handwerk, dem Tun ein bestimmtes Wissen als eidos zugrunde liegt. Ist nun auch das sittliche Wissen eine solche techne? Gadamer verneint mit Aristoteles zu Recht diese Frage. Für ihn hat das ‚sittliche Wissen‘ einen anderen Status als das ‚technische‘ Wissen. Er erinnert daran, dass für Sokrates das Wissen des Handwerks wirkliches Wissen in Bezug auf die konkrete Aufgabe der Herstellung von Gütern bedeutet, gleichwohl aber vom ‚wahren‘ Wissen um die Idee des Guten getrennt ist. Die Anwendung des Wissens in der Praxis des Lebens, wie sie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik zum Thema macht, bietet den Anknüpfungspunkt für eine erneute Reflexion auf das hermeneutische Problem der Geisteswissenschaften. Zunächst liegt es auf der Hand, dass der Mensch in den konkreten Situationen seines Lebens ein sittliches Wissen nicht in der gleichen Weise besitzt wie ein Handwerker, der sein technisches Wissen für die Herstellung eines Werkes regelgerecht anzuwenden versteht. Die Besonderheit des sittlichen Wissens liegt im Gegensatz zum
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handwerklichen Können darin, dass es, so Aristoteles, ein ‚Für-sich-Wissen‘ des Richtigen ist. In ihm zeigt sich die wahre phronesis als praktische Klugheit. Gadamer arbeitet die Besonderheit der von Aristoteles thematisierten phronesis auf dem Hintergrund seines Interesses an ihrer Applikation in den Geisteswissenschaften heraus. Er betont den Unterschied des sittlichen Wissens zur techne, die man lernen oder verlernen kann. Sittliches Wissen kann man nicht lernen, wie man das Klavierspiel lernen kann. Wenn sittliches Wissen kein Gebrauchswissen ist, sondern sich über seine Bewährung in den konkreten Situationen des Lebens definiert, dann stellt sich die Frage, was unter einer ‚Anwendung‘ des sittlichen Wissens zu verstehen ist. Scheint sie in besonderer Weise auf dem Gebiet der Rechtsprechung wirksam zu sein, so wird sogleich das schon von Aristoteles diskutierte Problem deutlich, dass das abstrakte Recht auf Grund seiner allgemeinen Geltung niemals mit der Vielfalt der konkreten Lebenssituationen, ihrer besonderen Individualität, zur Deckung kommt. Seiner Anpassung an die politische und soziale Lebenswelt trägt der von Aristoteles gebrauchte Begriff der epieikeia, der ‚Billigkeit‘, Rechnung. In seiner Skizze zum Naturrecht bei Aristoteles hebt Gadamer hervor, dass es ein ‚natürliches Recht‘ anerkennt, ihm zugleich aber bestimmte Anpassungen an die stets sich verändernde Lebenswirklichkeit abverlangt. Ein dogmatischer Gebrauch des Naturrechts wird von Aristoteles nirgends vertreten. Daraus lässt sich folgern, dass Normen sich primär durch die Bewährung ihrer Anwendung legitimieren. Das aber heißt: „Es gibt so wenig einen dogmatischen Gebrauch der Ethik wie einen dogmatischen Gebrauch des Naturrechts.“ (GW 1, 327) Gadamer stellt mit Sokrates den Unterschied zwischen sittlichem Wissen und Gebrauchswissen heraus. Er demonstriert die Eigenart des sittlichen Wissens im Anschluss an Aristoteles anhand einer Reihe von ethischen Begriffen. Ein Fazit seiner Erörterungen ist, dass sittliches Wissen seine Anwendung einschließt. Mit dieser Einsicht soll das in der Moderne vor allem durch Nietzsche beförderte Missverständnis ausgeschlossen werden, das sittliche Wissen sei eine wirklichkeitsfremde Chimäre. Auffällig ist, wie sehr sich Gadamer als Hermeneutiker von rechtsphilosophischen Fragestellungen fasziniert zeigt. Er fokussiert sie auf die Anwendung der Gesetzesmaterie in der Rechtspraxis. Seine Ausgangsfrage ist, ob beim Rechtshistoriker und Juristen der Unterschied zwischen einem dogmatischen und einem historischen Interesse an Gesetzestexten so eindeutig ist, wie er erscheint. Er ist es in der Tat nicht. Der Richter übernimmt in der Rechtssprechung zwar nicht die Rolle des Historikers, aber
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er steht in einem Verhältnis zu der geschichtlichen Auslegung des Gesetzes, die er in der Praxis seiner Rechtssprechung fortschreibt. Umgekehrt kann der Rechtshistoriker, der das Gesetz aus seiner historischen Entwicklung heraus betrachtet, von seiner systematischen Auslegung nie ganz absehen. Beide, der Jurist und der Rechtshistoriker, müssen bei ihrer Arbeit von einer Vermittlung zwischen einem historischem Verstehen und einem geltenden Sinn des Gesetzes ausgehen. „Zwischen juristischer Hermeneutik und Rechtsdogmatik besteht mithin eine Wesensbeziehung, in der die Hermeneutik den Vorrang hat.“ (GW 1, 335) Was über die juristische Hermeneutik gesagt wird, gilt auch für die theologische Hermeneutik. Gadamer betrachtet sie nicht vom Standpunkt des Religionswissenschaftlers. Er teilt aus seinem hermeneutischen Interesse eine protestantische Position, wenn er behauptet: „Die Heilige Schrift ist Gottes Wort, und das bedeutet, dass die Schrift vor der Lehre derer, die sie auslegen, einen schlechthinnigen Vorrang behält.“ (GW 1, 336) In diesem Zusammenhang kommt es zu einer Diskussion mit der Theologie R. Bultmanns. Gadamer war seit seiner Marburger Zeit mit ihm befreundet. In Frage steht, was eigentlich mit einem existentialen Vorverständnis der Auslegung biblischer Texte gemeint ist. Gadamers Antwort bezieht sich auf die existentielle Betroffenheit durch die Gottesfrage, die sich für ihn als Philosophen nur dort einstellt, wo der Mensch in den konkreten Situationen seines Lebens sich von Gott angesprochen wähnt, d. h. die Heilsbotschaft des christlichen Glaubens jenseits aller Dogmen für sich anerkennt. Das heißt in der Sprache Kierkegaards, dass er sich zu der christlichen ‚Botschaft‘ in ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit setzt. Von außen betrachtet, ist sie nur das literarische Dokument einer bereits historisch gewordenen religiösen Ansicht im Spektrum der Weltreligionen. Für das hermeneutische Selbstverständnis kann aus diesen gegensätzlichen Bestimmungen gefolgert werden, dass das Verstehen eines Textes immer schon die Applikation des verstandenen Sinnes mit einschließt. Diesen Einschluss aber klammert eine rein historisch orientierte Geisteswissenschaft aus. Ihr Ideal einer wissenschaftlichen Objektivität, dem sich die Arbeit der Entschlüsselung literarischer Quellen zu unterwerfen hat, verbietet es, ihnen ein subjektiv gebundenes Vorverständnis des Historikers zu unterschieben, hinter dem sich undurchschaute Werturteile verbergen. Wissenschaft erhebt den Anspruch, „sich durch ihre Methodik von allen subjektiven Applikationen unabhängig zu halten“ (GW 1, 339). Gegen die historisch-kritische Methodik der Geisteswissenschaften, deren beschränktes Erkenntnisinteresse es ist, einen Text unter quellenkritischem Aspekt in den Geist seiner Zeit einzuordnen, wird von Gadamer
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der sachliche Wahrheitsanspruch der Überlieferung herausgestellt. Er wendet sich an einen Adressaten, den Ausleger des Textes. Herausgerissen aus der Distanz seiner nur historischen Betrachtung und plötzlich von der ‚Anrede‘ eines Textes getroffen, beginnt der Angeredete für sich zu verstehen: es geht um die Sache meines Lebens. Das heißt: Empfinde ich mich in meiner konkreten Situation als Existierender von den Texten der Überlieferung so angesprochen, dass der Zeitenabstand zu ihnen gleichsam wegbricht, dann wird mein Blick frei für eine in ihnen verwahrte Wahrheit. In ihr ist die Differenz zwischen einem epistemischen und einem normativen Sinn ihrer Aussage in der Weise aufgehoben, dass sie mich in der Führung meines Daseins ethisch verpflichtet und durch diese Verpflichtung mich in meinem Daseinsverständnis verwandelt. Nichts anderes meint der provokante Satz, dass ein wirkliches Verstehen immer schon die Applikation des verstandenen Sinns mit einschließt. Das hermeneutische Verstehen unterscheidet sich von dem Selbstverständnis der wissenschaftlichen Methode, die mit M. Weber eine wertfreie, von jedem subjektiven Interesse gereinigte historisch-kritische Forschung zum Ideal erhebt: „Nur der versteht, der sich selber aus dem Spiele zu lassen versteht. Das ist die Forderung der Wissenschaft.“ (GW 1, 340) Lese ich, um ein Beispiel zu geben, als Theologe oder Historiker einen Text aus dem Alten Testament, so verstehe ich ihn unter der Berücksichtigung der Quellenkritik als ein literarisches Dokument seiner Zeit; höre ich ein Oratorium nach Worten des Alten Testaments wie den Elias von F. Mendelssohn Bartholdy, bin ich durch das Pathos seines dramatisch musikalischen Ausdrucks wie von einer „ontologische Erfahrung“ (K. Albert), dem Vorübergang des Heiligen, berührt. Diese Erfahrung, sofern es sie gibt, lässt sich weder durch die von Dilthey hervorgehobene Kategorie des Erlebnisses erklären, noch erschließt sie sich der wissenschaftlichen Forschung. Sie öffnet sich nur einer hermeneutischen Erfahrung. Indem der Historiker analog zum Philologen die Texte der Überlieferung als ‚Ausdrucksphänomene‘ einer Epoche liest und sie im Vergleich der Quellen daraufhin prüft, ob sie als gesicherte Dokumente für sie anerkannt werden können, setzt er sich zu ihnen in ein grundsätzlich anderes Verhältnis als der Hermeneutiker. Gadamer stellt angesichts dieses Unterschiedes die Frage nach dem Rechtsgrund in dem methodischen Anspruch, den ein solches Verhältnis gegenüber der Tradition für sich reklamiert. Er sieht die Grenze der historischen Methode darin, dass sie den Anspruch verkennt, den die Texte der Überlieferung an uns stellen. An der Stelle, da er in Historik und Philologie zum Durchbruch kommt, befreit sich der Philologe wie der Historiker aus dem Gefängnis der ‚Selbstvergessenheit‘
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seines Methodenbewusstseins. Er versteht seine Tätigkeit als einen Beitrag, jenen verborgenen Quellen nachzugehen, die dem am Webstuhl der Zeit geknüpften Textzusammenhang eine zeitlose Lebendigkeit verleihen.
3. Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins Die Frage, was unter einem wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein zu verstehen ist, klärt Gadamer durch den Aufweis, wie im Verstehen Wissen und Wirkung zusammengehören. Es bedarf jedoch einer besonderen Aufhellung der Reflexivität dieses Bewusstseins, die bei Hegel in der „absoluten Vermittlung von Geschichte und Wahrheit“ (GW 1, 347) ihre Vollendung erfährt. Diese Vermittlung aber ist nach Hegel für eine hermeneutische Erfahrung fragwürdig geworden. Man muss sehen, wie Gadamer ständig mit und gegen Hegel denkt, wenn er an dem Wahrheitsmoment seines Denkens festhält und zugleich den durch dieses Denken repräsentierten Anspruch auf die ‚Allmacht der Reflexion‘ kritisch begrenzt. Es gehört zu den Glanzstücken seiner Darstellung in Wahrheit und Methode, wenn er Hegels Prinzip der Reflexionsphilosophie, die dialektische Selbstvermittlung der Vernunft, gegen seine Kritiker, die Junghegelianer, verteidigt. „Das gerade macht die formale Qualität der Reflexionsphilosophie (Hegels – W. R.) aus, dass es keine Position geben kann, die nicht in die Reflexionsbewegung des zu sich kommenden Bewusstseins einbezogen ist.“ (GW 1, 349) Gleichwohl räumt Gadamer einer Kritik an der „spekulativen Grundfigur“ (H. Schnädelbach) von Hegels Philosophie, der totalen Selbstvermittlung der Vernunft, ihr begrenztes Recht ein. Er geht dabei von einem bestimmten Verständnis von Erfahrung aus, das seine Verkürzung auf eine ‚erkenntnistheoretische Schematisierung‘ in der Logik der Naturwissenschaften revidiert. Nach Exkursen zum Begriff der Erfahrung bei Bacon und Aristoteles widmet er sich dem dialektischen Moment in dem Begriff der Erfahrung bei Hegel. Erfahrung ist für diesen die Erfahrung, die das Bewusstsein dann macht, wenn es im Fremden sich selbst erkennt. Als Tätigkeit des Geistes verstanden, umfasst sie „die Gewissheit seiner selbst im Wissen“ (GW 1, 361). In ihr ist die Identität von Bewusstsein und Gegenstand erreicht. Dass das Ganze der Welt nur als Einheit seiner selbst mit seinem Gegenteil gedacht werden kann, diesem geschlossenen Kreis der Dialektik bei Hegel setzt Gadamer die grundsätzliche Offenheit für die Belehrung durch eine neue, unvorhersehbare Erfahrung entgegen. Ihre Härte wird an der bereits erwähnten Tragödie des Aischylos deutlich. Die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung ist in ihr durch die Formel ‚Durch Leiden lernen‘ bestimmt. Was durch das Leiden gelernt
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wird, ist die Einsicht in unsere Endlichkeit. Verbunden ist sie mit der Erkenntnis der Grenze unserer Vernunft. Ihr Scheitern beweist sich in der Anerkenntnis, dass wir Natur durch unsere Rationalität zu beherrschen vermögen, nicht aber die Herren des über uns verhängten Lebensschicksals sind. Auf dem Weg von Delphi nach Theben weiß Ödipus das Rätsel der Sphinx zu lösen, er erfährt jedoch erst am Ende seiner Suche nach der Wahrheit seiner Herkunft, dass er selbst nie etwas anderes getan hat als das, was ihm durch die Weissagung des Apollon vorherbestimmt wurde. In dieser Dialektik von souveränem Wissen und der Erfahrung des Scheiterns dieses Wissens an der Erkenntnis, dass kein Sterblicher dem entgehen kann, was ihm als der Weg seines Schicksals ‚eingeschrieben‘ ist, nicht in der spekulativen Figur eines ‚absoluten Wissens‘ bei Hegel, erfüllt sich Erfahrung als die Erkenntnis unserer Endlichkeit. Es gilt, diese Erfahrung in ihrer Bedeutung auf die Hermeneutik anzuwenden. Im hermeneutischen Phänomen kommt Überlieferung zu Bewusstsein. Sie ist eine Stimme, von der wir uns wie von einem ‚Du‘ angesprochen wissen, zu dem wir uns in das Verhältnis eines kommunikativen Austauschs setzen. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang, dass die Dialektik des Ich-Du Verhältnisses, wie sie bei Hegel in der Phänomenologie des Geistes zur Darstellung kommt, ein Reflexionsverhältnis ist. Gadamer verweist an dieser Stelle auf die Analyse dieses dialektischen Verhältnisses in K. Löwiths Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). In kritischem Einverständnis mit ihr betont er, dass die „Dialektik der Gegenseitigkeit“ im Ich-Du-Verhältnis in ihrer wechselseitigen Offenheit dem Bewusstsein in einem positiven Sinn verdeckt bleibt. Die Übertragung dieser Verhältnisbestimmung auf das historische Bewusstsein bedeutet, dass der Anspruch auf die Vergewisserung des historisch Vergangenen durch die Methode seiner wissensmäßigen Einverleibung in einem ‚dialektischen Schein‘ befangen bleibt. In kritischer Haltung zu einer Reflexionsdialektik objektloser Innerlichkeit, wie sie an Kierkegaard zu beobachten ist, erhebt Gadamer gegen sie den Vorwurf, dass sie die sittliche Grundlage der Ich-Du-Beziehung zerstört, indem sie sich aus ihrer unaufhebbaren Wechselseitigkeit ‚herausreflektiert‘. Gleiches gilt für das Reflexionsverhältnis zur geschichtlichen Überlieferung. Auch hier „zerstört, wer sich aus dem Lebensverhältnis der Überlieferung herausreflektiert, den wahren Sinn dieser Überlieferung“ (GW 1, 366). Das historische Bewusstsein muss daher beständig seine eigene Geschichtlichkeit ‚mitdenken‘, will sie den Sinn der Überlieferung retten. Das von Gadamer angesprochene Mitdenken entspricht der Erkenntnis,
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dass wir in unserem Daseinsverständnis durch die Geschichte der Überlieferung bestimmt sind. Im Akt der Anerkennung dieser Bestimmtheit wird ein naives Verhältnis zur Gegenwart im Sinne einer unreflektierten Unmittelbarkeit aufgebrochen. Die einer unreflektierten Naivität enthobene Reflexion auf das geistige Potential der uns überlieferten Texte der Philosophie, die das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit bedenken und auf ein theoretisches Verhältnis des Menschen zu Natur und politisch-sozialer Welt reflektieren, ermöglicht ein freies und kritisches Verhältnis des Individuums zu dem politischen Machtanspruch des Staates und zu den Dämonen der Gegenwart. Ein hermeneutisches Verständnis der geistigen Überlieferung steht im Dienst der Stabilisierung dieser freien Selbstbehauptung, indem sie die historischen Ursprünge seiner Entwicklung aktualisiert und ihre Legitimation aus sich heraus neu durchdenkt. Der Abschnitt Der hermeneutische Vorrang der Frage widmet sich der Klärung der ihr immanenten logischen Struktur der Offenheit (GW 1, 368). Sie charakterisiert das hermeneutische Bewusstsein und hat ihr Vorbild in der platonischen Dialektik. Der Offenheit der Erfahrung korrespondiert als ihr logisches Äquivalent die Struktur der Frage. Ihr kommt stets ein negatives Moment zu, wie es in dem sokratischen Wissen des Nichtwissens Ausdruck gewinnt. Am Beispiel des sokratischen Dialogs hält Gadamer fest, wie sehr ein jedes unvoreingenommenes rechtes Fragen bereits das Wissen einschließt, dass man um die Sache, in der es in der Frage geht, nichts weiß. Das heißt: in jeder rechten Frage steht die Antwort aus, der Fragende ist aus diesem Grund für den durch die Frage gestellten Richtungssinn auf ein noch unbekanntes Wissen hin offen. Aus der Entfaltung der Dialektik, die zwischen Fragen und Wissen besteht, zieht er den Schluss, dass alles Fragen und Wissenwollen ein Wissen des Nichtwissens voraussetzt und dass es ein jeweilig bestimmtes Nichtwissen ist, das zu einer bestimmten Frage und zu ihrer von der durch sie thematisierten Sache bestimmten Antwort führt, welche die vorläufige Meinung über sie korrigiert. Die platonische Fragekunst als Elenktik ist keine techne im Sinne eines lehr- und lernbaren Könnens. Gadamer verweist auf den so genannten erkenntnistheoretischen Diskurs im 7. Brief (Plato), der die Kunst des rechten Fragens mit der Kunst der Dialektik gleichsetzt, die als ‚Kunst des Denkens‘ niemals lehrbar und lernbar ist. Er hat ihm 1964 eine wichtige Abhandlung gewidmet: Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief (GW 6, 90–115). In ihr heißt es, die Überlegungen zu ihm in Wahrheit und Methode noch einmal zusammenfassend:
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„Die Gemeinsamkeit des Suchens, die unablässig das Eine am Anderen schärft, Wort und Begriff und Anschauung, die jede eigene Meinung willig auf die Probe stellt und im Spiele des Fragens und Antwortens alle Rechthaberei hinter sich lässt, soll nicht nur die Einsicht in dieses oder jenes aufleuchten lassen, sondern, soweit menschenmöglich, Einsicht in alle Tugend und Schlechtigkeit und in das Ganze des Seins.“ (GW 6, 114) In der platonischen Dialektik ist es der Fragende selbst, der beständig zur Rede gestellt und zur Rechenschaft über sein Meinen gefordert wird. Ziel dieses maieutischen Verfahrens, das in der Figur des Sokrates seine Verkörperung findet, ist es, die Wahrheit über das ans Licht zu bringen, was in allen Reden um die Sachen verborgen ist und durch das Gespräch aus der verlorenen Erinnerung in die Anamnesis der Seele zurückgeholt wird. Gadamer beruft sich ausdrücklich auf Plato, wenn er „für das hermeneutische Phänomen den Bezug auf die Frage“ (GW 1, 374) in den Vordergrund seiner Überlegungen stellt. Vor allem die literarische Form der platonischen Dialoge stellt – eingedenk der Schwäche der Logoi – Sprache und Begriff in die ursprüngliche Bewegung des Gesprächs zurück und bewahrt sie dadurch vor allem dogmatischen Missbrauch. Was wir am Beispiel des platonischen Dialogs lernen können ist, dass der Buchstabe tötet, der Geist aber die sterblichen Worte mit immer sich erneuernder Lebendigkeit begabt. Von diesem Zusammenhang her kommt Gadamer zu einer glänzenden Formulierung dessen, was Dialektik bei Hegel bedeutet: „Wenn Hegel sich die Aufgabe stellt, die abstrakten Gedankenbestimmungen zu verflüssigen und zu begeisten, so heißt das, die Logik in die Vollzugsform der Sprache, den Begriff in die Sinnkraft des Wortes, das fragt und antwortet, zurückzuschmelzen – eine noch im Misslingen großartige Erinnerung an das, was Dialektik eigentlich war und ist.“ (GW 1, 375) Im Verlauf seiner weiteren Erörterungen widmet sich Gadamer der Logik von Frage und Antwort im Gespräch und vertieft diese am Beispiel der uns überlieferten Texte. Was ihre Interpretation maßgeblich bestimmt, ist den Fragehorizont zu ermitteln, innerhalb dessen sich ihre Sinnrichtung ausmachen lässt. So gesehen, steht „die Logik der Geisteswissenschaften“ immer auch unter einer Logik der Frage. Nach einem Verweis auf den in Deutschland kaum gelesenen R. G. Collingwood und die von ihm entwickelte Logik der Verschränkung von Fra-
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ge und Antwort macht Gadamer an Tolstois Krieg und Frieden darauf aufmerksam, wie tief es in ihm gesehen ist, dass die Gestalt des eigentümlich schläfrigen russischen Feldherrn Kutusow den ‚bestimmenden Mächten‘ eines Kriegsverlaufs weit gerechter wird als der methodische Scharfsinn der Strategen eines Kriegsrates. Beide Hinweise dienen der Hindeutung, dass es des ‚inneren Ohrs‘ bedarf, das versteht, den unterirdisch verlaufenden Strömungen im Kreislauf des geschichtlichen Lebens nachzulauschen. So wie das Geschehen der Geschichte alle subjektiven Sinnerwartungen der in ihr Stehenden überschreitet, so transzendieren die ‚Sinntendenzen‘ eines Textes die ursprünglich mit ihnen verbundenen Gedanken ihres Autors. Eine auf die reine Rekonstruktion dieser Gedanken konzentrierte Aufgabe der philologisch-historischen Textauslegung greift zu kurz. Es bedarf vielmehr der Freilegung von immer neuen Bedeutungsaspekten an den Texten der Überlieferung, die uns ihr wirkungsgeschichtliches Potential in der Geschichte vor Augen führt. Entscheidend sind die Fragen, die die Texte an uns stellen. Sie führen unser jeweiliges ‚Meinen‘ ins Offene des nie ganz abzuschließenden Gesprächs mit ihnen. In ihm „geht die Rekonstruktion der Frage aus der sich der Sinn eines Textes als Antwort versteht, in unser eigenes Fragen über“ (GW 1, 380). Gadamer hat in den von ihm geleiteten Seminaren dieses hermeneutische Verfahren zum Zentrum des akademischen Unterrichts erhoben. In ihm ging es am Beispiel philosophischer Texte nie um vorschnelle Antworten, sondern stets um das richtige Fragen, das mit ihm eingeübt wurde. Das Modell dieser Einübung in das Verstehen von Texten ist die phronesis. In „Phronesis als Modell der Hermeneutik“ (2007) hat F. Rese hervorgehoben, wie sehr die Urteile des Interpreten über die Sache des Textes durch den Text selbst in Frage gestellt und modifiziert werden. Die phronesis, die die hermeneutische Praxis bestimmt, ist kein Wissen im Sinne einer puren Kunstfertigkeit (techne). Die Endlichkeit der Vernunft zeigt sich daran, dass wir keinen Standpunkt außerhalb unserer geschichtlichen Bedingtheit einnehmen können. Dies einzusehen bedeutet zu erkennen, dass eine im Sinne des Neukantianismus verstandene Problemgeschichte der Philosophie ein fragwürdiges Unternehmen ist. In den Augen Gadamers ist sie „ein Bastard des Historismus“ (GW 1, 382). Eine Besinnung auf das, was hermeneutische Erfahrung ist, verwandelt die den „Problemen“ anhaftende Abstraktheit zurück in Fragen, die unser Dasein in Frage stellen. Der leitende Gedanke der Ausführungen Gadamers zu der Dialektik von Frage und Antwort ist, „dass die im Verstehen geschehende Verschmelzung der Horizonte die
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eigentliche Leistung der Sprache ist“ (GW 1, 383). Mit dieser Leistung ist das schwierige und dunkel bleibende Verhältnis von Sprache und Denken verbunden, ein Grundthema der Philosophie von Plato bis Wittgenstein. Der dritte Teil von Wahrheit und Methode wendet sich ihm zu.
Teil III Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache
1. Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung Der dritte Teil von Wahrheit und Methode nimmt für sich in Anspruch, die vorhergehenden Ausführungen über den hermeneutischen Sinn von Kunst und Geschichte ihren Abschluss durch eine ‚ontologische Wendung‘ am Leitfaden der Sprache finden zu lassen. Der erste Abschnitt Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung setzt mit einer Reflexion auf das ein, was wir unter einem Gespräch verstehen. In einem alltäglichen Sinn sagen wir, dass wir ein Gespräch führen. Gadamer zeigt im Gang seiner Überlegungen, dass es sich umgekehrt verhält. Nicht wir führen ein Gespräch, sondern wir sind die durch das Gespräch Geführten. So gesehen, hat das Gespräch seinen ‚eigenen Geist‘. Die Sprache, in der das Gespräch geführt wird, hat ihre eigene ‚Wahrheit‘, d. h. sie lässt aus sich heraus etwas ans Licht treten, was zuvor verborgen war und was diejenigen, die das Gespräch führen, nicht voraussehen können. In jedem dialogischen Geschehen ist die Sprache „die Mitte, in der sich die Verständigung der Partner und das Einverständnis über die Sache vollzieht“ (GW 1, 387). Der sprachliche Vorgang im Dienst der Verständigung ist bestimmten Schwierigkeiten unterworfen. Sie lassen sich am Problem der Übersetzung verdeutlichen. Übersetzung wird für Gadamer zu einem Modell der Arbeit des Hermeneutikers schlechthin. Jede gelungene Übersetzung impliziert immer schon eine Auslegung des zu Übersetzenden. Die Leistung der Übersetzung, die Transformation der fremden Sprachwelt einer Dichtung in die eigene Sprachkultur, macht die Bedeutung der Sprachlichkeit als Medium der Verständigung in besonderer Weise bewusst. Der ideale Übersetzer muss nicht nur in beiden Sprachwelten zu Hause sein, um zum Beispiel wie S. Geier einen Roman Dostojewskijs kongenial in die deutsche Sprache zu übertragen, er muss vielmehr immer schon aus der Gedankenrhythmik (W. Schadewaldt) einer Dichtung heraus übersetzen und die Fähigkeit besitzen, gleichsam aus den Gestalten der Dichtung heraus denken können. Eine solche Begabung des Übersetzers besitzt den Vorzug, die Gestalten der Literatur dem Leser in ihrem lebendigen Sein so herbeizuzaubern, dass er vermeint, sie seien seine Weggefährten. In dem von ihm
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herausgegebenen Philosophischen Lesebuch hat Gadamer selbst antike Texte übersetzt. Im Vorwort schreibt er, dass er an der Stelle, wo er selbst keine eigene Übersetzung vorlegt, vorzugsweise auf altertümliche Übersetzungen zurückgegriffen hat. Er begründet seine Entscheidung aus einer hermeneutischen Perspektive mit den Worten: „Die leichte Verfremdung, die altertümliche Übersetzungen an sich zu haben pflegen, scheint mir in allen solchen Fällen ein echter Gewinn. Sie verleihen den philosophischen Gedanken, die sie ausdrücken, etwas von der Art Autorität, die dem Seltenen und Gewählten im Vergleich zu dem Häufigen und Gewohnten zukommt. Die leichte Anstrengung, die das Verstehen eines altertümlichen Deutsch verlangt, ist schon der erste Schritt zu der etwas größeren Anstrengung, die jeder philosophische Gedanke, den man verstehen will, inhaltlich vom natürlichen Bewusstsein fordert.“ Die Verständigung im Gespräch gewinnt ihre Wendung in das hermeneutische Problem an der Stelle, an der es sich um das Verstehen von Texten handelt. Auch hier geht Gadamer wiederum von dem Phänomen der Übersetzung aus. Er betont erneut den ihm anhaftenden Charakter der Auslegung, wenn er darauf verweist, dass die Verlebendigung des Seins von Gestalten immer einen unvermeidbaren Zug der ‚Überhellung‘ an sich trägt, aus dem heraus sie auf uns wirken. Die Situation des Übersetzers ist analog zu der Situation des Interpreten eines Textes. Beide sind ‚Dolmetscher‘ und suchen nach einer Sprache, die der sprachlich verfassten Sache, um die es geht, weitgehend angemessen ist. Die Entscheidung über diese Angemessenheit fällt für Gadamer in den Bereich eines hermeneutischen Begriffs von Sprache. Er transzendiert in der Korrelation von Verstehen und Auslegung einen Sprachbegriff, der sich als ein regelgeleitetes System von Bezeichnungen versteht. In dem Vorwort seines Buches Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren (1997) hat R. Schrott sich dem von Gadamer vertretenen hermeneutischen Sprachbegriff stark angenähert, wenn er aus der Perspektive des Übersetzers schreibt: „Das Gelingen eines Gedichts ermisst sich (…) daran, wie genau seine Bilder zu Ende gedacht werden, wie sich seine Logik aus ihnen und mit ihnen zwangsläufig über die Zeilen hinweg entfaltet. Übersetzen dagegen heißt, diese Bilder zu sehen, bevor sie geschrieben werden, und sie dann, weil sie sich nie nur kopieren lassen, mit den Utensilien der eigenen Sprache freihändig nachzuzeichnen und neu zu skizzieren: so nahe wie möglich und so frei wie notwendig. Man kann ihnen dabei nur die eigene Sprache leihen, auch wenn
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man den Tonfall ihrer Stimmen zu imitieren sucht. Wer sie überträgt, setzt nur fort, was die alten Dichter immer schon getan haben: er macht sich die Tradition der Poesie zu eigen und sucht sie zu verkörpern.“ Der weitere Gang von Gadamers Überlegungen vertritt die Überzeugung, dass alles Reden seine Erfüllung im Gespräch findet. Es erweist sich im Idealfall dann als geglückt, wenn der Vollzug des Verstehens mit demjenigen der Verständigung zusammenfällt. Die Vollzugsform des Gesprächs bewährt sich darin, dass in ihr die Sache, um die das Gespräch geht, Anerkennung findet. Sie beruht darauf, dass die Gesprächspartner sich durch die Sache des Gesprächs miteinander verbunden wissen. Das unterscheidet den sokratischen Dialog von dem sophistischen Gebrauch der Rhetorik, in dem es um die Durchsetzung von Interessen geht. Es ist erneut die Romantik, deren Poetik uns darüber belehrt hat, dass Verstehen und Auslegen korrelative Begriffe sind. Pointiert heißt es bei Gadamer: „Die Vollzugsweise des Verstehens ist die Auslegung“. (GW 1, 392) Wenn alles Verstehen Auslegung ist und sich diese Korrelation im Medium der Sprache realisiert, dann scheint eine antirealistische Wende in Gadamers Hermeneutik unverkennbar. Kommt Gegenständlichkeit für sie nur in der Sprache zur Geltung, dann ist es folgerichtig zu sagen, „dass der bevorzugte Gegenstand der Auslegung sprachlicher Natur ist“ (GW 1, 393). Die These, dass der Gegenstand der Auslegung sprachlicher Natur ist, wird im ersten Abschnitt Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Gegenstandes vertieft. Die Sprachlichkeit der Überlieferung kommt zu ihrer vollen hermeneutischen Bedeutung in der schriftlichen Überlieferung. Das verwundert auf den ersten Blick, ist es doch für einen Platoniker die Schwäche der Schrift, dass sie die Vermittlung einer ontologischen Erfahrung blockiert und als literarisch fixierte Rede stets dem Missverständnis ausgeliefert ist. Was die schriftlichen Zeugnisse der Vergangenheit auszeichnet ist, dass sie in sich geschlossene Sprachwelten verkörpern. Kommen wir mit ihnen in Berührung, so bereichert sich das eigene Weltverständnis „um eine ganze Tiefendimension“ (GW 1, 393). Vor allem in den großen Werken der Weltliteratur ist die Kontinuität des Gedächtnisses der Menschheit als Dauer des Andenkens (Hegel) bewahrt. Ist Schriftlichkeit als solche zunächst eine Weise der Selbstentfremdung des Lebendigen, so verwandelt sie sich im Akt des Lesens in Sprache, die die schriftlich fixierten Zeichen in lebendige Rede überführt. Durch diese Metamorphose „bewegt sich der Vorgang des Verstehens ganz in der Sinnsphäre, die
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durch die sprachliche Überlieferung vermittelt wird“ (GW 1, 394). Der von Gadamer angesprochenen ‚Sinnsphäre‘ scheint ein Verstehen zu korrespondieren, das im Anschluss an G. Kurz 1 als ein symbolisches Verstehen bezeichnet werden kann. Im Gegensatz zu einem Verstehen, das sich an empirisch feststellbaren Gegebenheiten orientiert, bezieht es sich auf den Sinn eines ‚Zeichens‘, das in seiner pragmatischen Bedeutung nicht aufgeht, da es die mit ihr verbundenen subjektiven Intentionen übersteigt. Das heißt: Symbolisches Verstehen deckt sich mit dem hermeneutischen Phänomen, dass wir stets mehr sagen, als wir pragmatisch-subjektiv wollen. Die Dichtungen Kleists und Kafkas machen es geradezu zu einem Hauptthema, dass uns nie völlig durchsichtig wird, ‚in welchem Sinn‘ wir etwas sagen, wenn wir sprechen. Was dies für ein hermeneutisches Verständnis der Sprache bedeutet, gewinnt grandiosen Ausdruck in dem Aufsatz von M. Kommerell Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist (1942). 2 Gadamer erinnert daran, dass Hermeneutik immer mit dem Verstehen von Texten verbunden war. Die mit Schleiermacher eingeleitete psychologische Wendung im Akt des Verstehens hat seine Einlassung in die geschichtliche Dimension weitgehend ausgeblendet. Die von Gadamer vertretene Position der Hermeneutik strebt ihre Wiedergewinnung an. In Parallele zu dieser Bemühung besteht sie darauf, dass Texte nicht so sehr Ausdruck für ein bestimmtes Lebensgefühl sind – was sie als Dichtungen auch sind – als vielmehr Sinnträger einer durch sie repräsentierten geschichtlichen Wahrheit, deren beständiges Oszillieren zwischen einer figurativen und einer wörtlichen Auslegung der mit ihr verbundenen Begriffe die ‚Denkbewegung der Reflexion‘ repräsentiert. ‚Platoniker‘ bleibt Gadamer insofern, als er in der Rückverwandlung der Zeichen der Schrift in lebendige Rede die eigentliche hermeneutische Aufgabe des Interpreten sieht. Als ein intellektueller ‚Schriftsteller‘ besteht er gleichwohl auf der Kunst des Schreibens, weil sie als eine zweite Art von Rede den Leser in den Bann der durch sie vermittelten Gedanken zieht und ihn dazu überredet, ihnen produktiv nachzudenken. Ein Phänomen, das bei einem so großen Stilisten wie Nietzsche zum Beispiel unmittelbar einleuchtet. Was „die Schwäche der Schrift“ im Vergleich zur lebendigen Rede angeht, so stellt sie eine Herausforderung für die Aufgabe des Ver1
G. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1988, S. 74 ff. M. Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt a. M. 1942, S. 200–274. Zu F. Kafka: W. Ries, Nietzsche / Kafka. Zur ästhetischen Wahrnehmung der Moderne, Freiburg 2007. 2
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stehens dar, den in ihr verborgenen Sinn einer unsagbaren Erfahrung herauszustellen, auf die die Einweihungsrede der Diotima in Platos Symposion hinweist. Der zweite Abschnitt Sprachlichkeit als Bestimmung des hermeneutischen Vollzugs thematisiert die Beziehung zwischen Verstehen und Sprachlichkeit. Erneut kritisiert Gadamer die Naivität eines historischen Verstehens, das meint, es sei geboten, bei der Auslegung eines Textes „nur in Begriffen der zu verstehenden Epoche zu denken“ (GW 1, 400). Ihr entgegen formuliert er: „Historisch denken heißt in Wahrheit, die Umsetzung vollziehen, die den Begriffen der Vergangenheit geschieht, wenn wir in ihnen zu denken suchen.“ (GW 1, 401) Jede Auslegung muss in ihrer Zeit für sich die rechte Form finden, will sie den Sinngehalt eines Textes so zur Sprache bringen, dass er von den Zeitgenossen als ein nie veralteter Anspruch erfahren wird. Es ist die Kette der Auslegungsformen, die das geschichtliche Leben der Auslegung ausmacht. Jede Generation fügt ein Glied zu dieser Kette bei. Der nie völlig auszuschöpfende Sinngehalt eines philosophischen Textes oder einer bedeutenden Dichtung bedingt die Unendlichkeit der Interpretation. Sie arbeitet beständig an dem, was Gadamer „die Konkretion des Sinns selbst“ (GW 1, 401) nennt. Unter ‚Konkretion‘ versteht er, dass der Sinn des Textes, aus dem Verständnis seiner Zeit herausgehoben, auf die Situation des Auslegenden in dessen Zeit bezogen werden muss. Diese Arbeit steht unter der Bedingung, „der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen“ (GW 1, 274). Wenn nun der Überlieferungszusammenhang sprachlicher Natur ist, dann kommt es darauf an, die Bedingung seiner Sprachlichkeit am Beispiel einzelner Texte so zu erhellen, dass die Auslegung zuletzt zu verschwinden scheint und der Text wie ‚von sich aus‘ zu sprechen beginnt, als sei das, was er sagt, der jeweiligen Gegenwart zugesprochen. Gelingt es, einen Text als Text zur Sprache zu bringen, so hat das Wunder der Auslegung seine Erfüllung erreicht. Zusammenfassend lässt sich sagen: Jedes Verstehen ist aus sich selbst heraus immer schon Auslegung. Beides, Verstehen und Auslegung, ist sprachlicher Natur, da es keinen Bezugspunkt jenseits von Wort und Sache gibt. Der Gedanke, dass das Sein der Welt weder Geist noch Sprache ist, wird von der Hermeneutik Gadamers gleichsam unterdrückt. Für sie ist
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Sein immer schon Auslegung des Seins durch Sprache. Heißt das, dass, was ist, durch die logische Leistung der Sprache nie völlig verstanden werden kann? Diese Frage rührt an eine Grenze aller hermeneutischen Erfahrung. Sie „liegt darin, sofern alles, was eine Sprache führt, immer noch über das hinaus weist, was zur Aussage gelangt.“ (GW 2, 234) Was über das hinaus weist, was zur Aussage kommt, ist die Kunst. Mit dem, was sie sagen kann, wächst das, was in ihr stumm bleibt. Die von Gadamer betonte ‚Sprachnot‘ der Dichtung muss als ein Ansturm gegen die Grenze des Unsagbaren verstanden werden. Er vertritt also nicht die These einer „totalen Verständlichkeit“ (D. Barbaric) von allem, was ist, durch das Sichdarstellen als Sprache? Man kann diese Frage vorsichtig bejahen. Zwar verstehen wir uns nur aus der Sprache, aber sie ist als „die eigentliche Spur unserer Endlichkeit“ (GW 2, 150) auch das Indiz für die Grenze, die der hermeneutischen Erfahrung gesetzt ist. Was die Position der Sprachskepsis angeht, so bezieht sie sich für Gadamer weniger auf den Schematismus des sprachlichen Ausdrucks, der für Nietzsche in Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne der Angriffspunkt seiner Kritik der Sprache war, als vielmehr gegen die Konventionen des Meinens, die sich im Bereich des Sprachlichen festsetzen und ihm jene Ungenauigkeit verleihen, die jedem Ausdruck des Lebendigen zukommt. Die These der Einheit von Wort und Sache erscheint einem nominalistischen Sprachverständnis als das Skandalon der Hermeneutik. Gadamer verteidigt sie, nicht zuletzt durch den Verweis auf Herder und Humboldt. Diese erkannten nicht nur den engen Zusammenhang von Sprache und Denken; vielmehr geschieht für sie in der Sprache je auch eine besondere Form des Lebensvollzugs und des Weltumgangs. Für Herder stellt sich dieser Zusammenhang so dar, dass, als Ersatz für den tierischen Instinkt, dem Menschen durch das ‚Merkwort der Seele‘ allererst der Spielraum und die Weite des Bewusstseins eröffnet werden, während Humboldt in der Organisationsleistung der Sprache den Aufbau einer Weltansicht erkennt. Nicht das tote Gerippe der Grammatik, sondern die ‚Geisteskraft‘ ruft die sprachlichen Ordnungsprinzipien und mit ihnen die Strukturen menschlicher Welterfahrung hervor. Die Frage Gadamers hinsichtlich dessen, was die Einheit von Verstehen und Auslegung ausmacht, ist im Anschluss an Aristoteles die Frage nach der „Begrifflichkeit alles Verstehens“ (GW 1, 407). Der Hinweis auf die Unhintergehbarkeit einer begrifflichen Organisation aller Erfahrung, wie sie Aristoteles und Kant in unterschiedlicher Weise dargelegt haben, verschränkt sich mit der Zurückweisung einer instrumentalistischen Zeichen-
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theorie der Sprache. Obschon diese in der Geschichte der Sprachphilosophie reiche Tradition hat, verfehlt sie für Gadamer nicht nur die Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen Logik und Ontologie, sondern das eigentlich hermeneutische Phänomen, das für ihn in der Wahrheit des Wortes in Erscheinung tritt. In der sprachlich-begrifflichen Strukturierung unserer Welterfahrung sieht Gadamer das Indiz der Durchdringung von Sprache und Denken. Die Einseitigkeit, Sprache im Sinn der Transzendentalphilosophie als Form der Erkenntnis zu bestimmen, wird durch den Hinweis korrigiert, dass die Sprachunbewusstheit nie aufgehört hat, „die eigentliche Seinsweise des Sprechens zu sein“ (GW 1, 409). Wiederum wird auf die Griechen verwiesen, die für das, was wir Sprache nennen, kein eigenes Wort hatten, und gleichwohl durch ihre Sprache den Anfang des Philosophierens gesetzt haben.
2. Prägung des Begriffs ‚Sprache‘ durch die Denkgeschichte des Abendlandes Von diesem Abschnitt geht eine große Faszination aus, er setzt aber dem durchschnittlichen Verstehen erhebliche Schwierigkeiten entgegen, die ich versuchen werde, für den Leser ein wenig aufzuhellen. Gleich an seinem Beginn steht die breit entfaltete Darstellung des Verhältnisses von Sprache und Logos. Dazu einige knapp gefasste Hinweise. Die altgriechische Legende von Orpheus ist auch ein Sinnbild für „die magische Allmacht des Wortes“ (W. Muschg). Gadamer verweist als Beispiel für die Wortmagie auf den Namenszauber im Griechischen. Das griechische onoma (Name) ist zugleich Seinsbestandteil seines Trägers. Erst die griechische Philosophie, die auf die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Wert der Sprache reflektiert, führt zu der Erkenntnis, dass das Wort nicht das wahre Sein ist. Für Parmenides kann die Sprache, da sie den Bereich von Bewegung und Werden repräsentiert, nicht, wie Heraklit annimmt, dem Sein entsprechen, denn dieses ist unbewegt und bleibt sich selbst immer gleich. Platos Kratylos ist dann „die Grundschrift des griechischen Denkens über Sprache“ (GW 1, 409). Sie diskutiert das Problem, ob die Namen, mit denen wir die Dinge bezeichnen, etwas über sie selbst aussagen oder nicht. Bei Aristoteles sind Wahrheit und Falschheit Eigenschaften von Sätzen, nicht von Wörtern. Gadamer stellt zunächst die beiden extremen Grundeinstellungen in den Diskussionslinien des Kratylos vor. Die konventionalistische Theorie sieht in der durch Übereinkunft erzielten Eindeutigkeit des Sprachgebrauchs die einzige Ursache für die Richtigkeit der Wortbedeutungen. Die ihr konträre Theorie vertritt eine Übereinstimmung von Wort und Sache. Gemäß der Ergebnislosigkeit der Diskussion im Kratylos zeichnet Gadamer die Grenzen beider Theorien anhand der Seinsweise der Sprache nach und zieht daraus, dass Plato sich hinsichtlich der Sprache weder für die physei- noch für die nomo-These entscheidet 1 , den Schluss:
1
Hierzu: E. Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Tübingen/Basel 2003, S. 58.
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„Plato will mit dieser Diskussion der zeitgenössischen Sprachtheorien zeigen, dass in der Sprache, in dem Anspruch auf Sprachrichtigkeit (orthotes ton onomaton) keine sachliche Wahrheit (aletheia ton onton) erreichbar ist und dass man ohne die Worte (aneu ton onomaton) das Seiende erkennen müsse rein aus sich selbst (auta ex heauton).“ (GW 1, 411) Nicht das Wort eröffnet bei Plato den Zugang zur Wahrheit, vielmehr verhält es sich umgekehrt, dass erst von der Erkenntnis der Sachen aus die ‚Angemessenheit‘ des Wortes zu beurteilen ist. Im 7. Brief muss der wahre Dialektiker die Welt der Wörter ebenso hinter sich lassen wie den sinnlichen Anschein der Dinge. „Das reine Denken der Ideen, die Dianoia, ist als ein Dialog der Seele mit sich selbst stumm (aneu phones).“ (GW 1, 411) Daraus folgert Gadamer in befremdlicher Weise, „dass die Entdeckung der Ideen durch Plato das eigene Wesen der Sprache noch gründlicher verdeckt, als es die sophistischen Theoretiker taten, die im Gebrauch und Missbrauch der Sprache ihre eigene Kunst (techne) entwickelten.“ (GW 1, 412) Zu diesem harten und sicher übertriebenen Urteil über Platos noetische Verdeckung der Sprache kommt Gadamer, weil er seinem Lehrer Heidegger folgt. Wie dieser sieht er in jener eine entscheidende Prägung des Begriffs ‚Sprache‘, der die Denkgeschichte des Abendlandes bestimmt. Aus diesem Grund wird die im Kratylos diskutierte These, Namen ahmten von Natur aus das Wesen der Dinge nach, von ihm so ausführlich und kritisch behandelt. Die schwache Ahnung Platos, dass es über Name und Zeichen hinaus so etwas wie „eine Angemessenheit der Wörter“ (E. Coseriu) geben müsse, findet ihre Bekräftigung in den Zeilen: „Das Wort nennt aber auf eine viel innigere und geistigere Weise die Sache, als dass Ähnlichkeitsabstand, ein Mehr oder Minder des richtigen Abbildens, hier statthätte. Kratylos hat ganz recht, wenn er sich dagegen erklärt. Er hat auch ganz recht, wenn er sagt, soweit ein Wort Wort sei, müsse es ‚richtiges‘, richtig ‚liegendes‘ sein. Ist es das nicht, d. h. hat es keine Bedeutung, dann sei es ein bloßes tönendes Erz.“ (GW 1, 414) Nach Gadamer macht es Sinn, von einer absoluten Perfektion des Wortes (GW 1, 415) zu sprechen, da es in ihm zwischen seiner lautlichen Formgebung und einer durch sie erzeugten Bedeutung keine Differenz zu geben scheint. Das platonische Urbild/Abbild-Schema kann nicht auf das Wort-
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Bedeutung-Verhältnis übertragen werden. Daher „ist es wie das Aufblitzen einer ganz verdunkelten Wahrheit, wenn Sokrates den Wörtern – im Unterschied zu den Gemälden (zoa) – nicht nur richtig, sondern auch wahr zu sein (alethe) zuerkennt.“ (GW 1, 415) Gadamer steigert diese Zuerkennung des Sokrates noch, wenn er davon spricht, dass die „Wahrheit“ des Wortes „in seiner vollendeten Geistigkeit, d. h. dem Offenliegen des Wortsinns im Laut“ liegt (GW 1, 415). In einer kritischen Auseinandersetzung mit Plato weist er darauf hin, dass für den Athener die Zuordnung des Wortes zu seinem richtigen oder falschen Gebrauch hinsichtlich des Seins nicht mehr Sache des Wortes, sondern Sache des Logos als des Trägers der Wahrheit ist. Aus dieser Zuweisung folgert er, dass „der Bereich des Logos den Bereich des Noetischen in der Vielheit seiner Zuordnungen“ repräsentiert, während das Wort „zum bloßen Zeichen eines wohldefinierten und damit vorgewussten Seins“ wird. (GW 1, 416) Eine solche Zuweisung hat weitreichende Folgen für den Denkweg der Philosophie. In seinem Verlauf gerät das Wort zunehmend in ein völlig sekundäres Verhältnis zur Sache, es büßt seine geistige Energie ein und wird als ein ‚Zeichen-Zeug‘ zu einem bloßen Werkzeug der Information. Der kritisch ablehnende Hinweis auf Leibniz und sein Ideal einer klassifikatorischen Zeichensprache der Vernunft dient dazu, das Wort von seiner Auffassung als Zeichen abzuheben. Diese Abhebung steht gegen eine nominalistische Sprachauffassung in weitestem Sinn. (Der Name der „Rose“ ist nur eine Bezeichnung für das Gedankending „Rose“.) Demgegenüber kann man bei Gadamer von einer ontologischen Auffassung des Wortes sprechen, wenn er eine Partizipation des Wortes an der Sache oder eine Inkorporation der Sache im Wort annimmt. „Dem Wort kommt auf eine rätselhafte Weise Gebundenheit an das ‚Abgebildete‘, Zugehörigkeit zum Sein des Abgebildeten zu.“ (GW 1, 420) Das Wort ‚Rose‘ enthält einen Widerschein ihrer leuchtenden Schönheit und ihres sinnlichen Duftes. Durch ihn wird sie unsterblich. Man denkt bei dieser Auffassung des Wortes unwillkürlich an die Dichtung des Hafiz. Rückert hat ihren Doppelsinn in einem „dem persischen Meister würdigen Wortspiel“ (A. Schimmel) eingefangen. Es lässt sich auf die von Gadamer gemeinte rätselhafte Zugehörigkeit des ,Wortes‘ zum ‚Sein‘ beziehen. Hafiz, wo er scheinet Übersinnliches nur zu reden, redet über Sinnliches. Oder redet er, wenn über Sinnliches er zu reden scheint, nur Übersinnliches?
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Sein Geheimnis ist unübersinnlich; denn sein Sinnliches ist übersinnlich. Die griechische Philosophie, die bereits in der Vorsokratik die Berufung des Denkens auf die Namen der Dinge bekämpft, denkt aus der Idealität des Logos heraus. „Weil hier die Richtung auf das Eidos als das Bestimmende des Logos gedacht wurde, konnte das eigene Sein der Sprache nur als Beirrung gedacht werden, deren Bannung und Beherrschung die Anstrengung des Denkens galt.“ (GW 1, 422) Am Ende dieses griechischen Weges – so der kritische Einwand Gadamers, der Heideggers Thema einer Verfallsgeschichte der Metaphysik variiert – steht die neuzeitliche instrumentalistische Sprachtheorie und das Ideal eines Zeichensystems der Vernunft. Die Nivellierung der ursprünglich poetischen Magie der Sprache erreicht ihren Endpunkt in dem seelenlosen Zeitalter der Informationstechnologie, das künstlichen Sprachsystemen huldigt. Die Sprache der Dichtung befindet sich seitdem im Exil. Der Abschnitt Sprache und verbum knüpft das Verhältnis von Wort und Sache noch weit enger als zuvor. War für das griechische Denken die sprachliche Bezeichnung gegenüber dem Ideengehalt stets sekundär geblieben, so geht Gadamer in seiner Auslegung der Trinitätslehre davon aus, dass das Mysterium der Inkarnation die Wortwerdung des Geistes einschließt. Es klingt indessen für moderne, am neuzeitlichen Nominalismus und an Kant geschulte Ohren gleichwohl wie eine Provokation, wenn Gadamer schreibt, dass der christliche Gedanke der Inkarnation dem Sein der Sprache mehr gerecht wird als der griechische Gedanke des Logos. „Es gibt aber einen Gedanken, der kein griechischer ist und der dem Sein der Sprache besser gerecht wird, so dass die (mit Plato einsetzende – W. R.) Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens keine vollständige werden kann. Es ist der christliche Gedanke der Inkarnation.“ (GW 1, 422) Dazu J. Grondin: „Wenn Heideggers Thema die Seinsvergessenheit war, so bildet die Sprachvergessenheit die große Herausforderung von Wahrheit
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und Methode. Und analog zu Heidegger, beginnt diese Vergessenheit für Gadamer mit Platon.“ 2 Gadamer betont den Unterschied zwischen dem christlichen Dogma der Inkarnation und der platonisch-pythagoreischen Philosophie, in der die Seele ihr ‚Für-sich-Sein‘ gegenüber dem Gefängnis des Leibes behält, und hebt den Unterschied des christlichen Glaubens an den Sohn Gottes zu den religiösen Vorstellungen der Griechen hervor, um dann die sich erst in langen dogmengeschichtlichen Kämpfen herausbildende Christologie mit dem Geheimnis der Trinität zu verbinden. (Gadamer zeigte sich Zeit seines Lebens von Augustinus und vor allem von dessen theologischem Hauptwerk De trinitate fasziniert, wenngleich in Wahrheit und Methode nicht Augustinus, sondern Thomas der am meisten zitierte Autor ist.) Nun geht es ihm aber nicht um Theologie, „sondern um die sprachphilosophischen Konsequenzen, die (im christlichen Dogma der Inkarnation – W. R.) diese ungriechische Rehabilitierung der (sprachlichen) „Fleischlichkeit“ zur Folge hat.“ 3 Wenn sich nach christlichem Glauben Gott durch seinen Sohn in die Zeit einlässt, so körpert sich analog der Geist in die temporale Stuktur des Wortes ein. Bei Augustinus sind das verbum interius (innere Wort) und das verbum mentis (Wort des Geistes) durcheinander und füreinander vermittelt. Er unterscheidet neben dem gesprochenen Wort zwei Formen des ‚inneren Wortes‘ : die in der imaginatio vorhandenen Lautbilder und die verba nullius linguae (Worte keiner Sprache), in denen sich das Denken in der Form der inneren Rede vollzieht. Man könnte im Blick auf diese nie restlos in das Denken einzuholende geistige Materialität des verbum von einer Geistgeburt sprechen. Dieser mystische Gedanke, dem sich das Sprachgeschehen aus der Sicht Gadamers annähert, steht in einem absoluten Gegensatz zu einer analytischen Sprachphilosophie. Gadamer schreibt – unter Verwendung des in Klammer gesetzten Thomas-Zitats aus der Summa Theologiae „Das Wort wird mit Recht personhaft ausgesagt“ – im Blick auf das Inkarnationsgeheimnis des Logos im Johannesevangelium: „Wenn das Wort Fleisch wird und erst in dieser Inkarnation die Wirklichkeit des Geistes sich vollendet, so wird damit der Logos aus seiner Spiritualität, die zugleich seine Potentialität bedeutet, befreit. Die Einmaligkeit des Erlösungsgeschehens führt den Einzug des geschichtlichen Wesens in das abendländische Denken herauf und lässt 2 3
J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 205. Ebd., S. 211 f.
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auch das Phänomen der Sprache aus seiner Versenkung in die Idealität des Sinnes heraustreten und sich dem philosophischen Nachdenken darbieten. Denn im Unterschied zum griechischen Logos gilt: das Wort ist reines Geschehen (verbum proprie dicitur personaliter tantum).“ (GW 1, 423) Das Glaubensbekenntnis von Nizäa (325 n. Chr.) legt sich auf die Entscheidung fest, dass Jesus Christus aus demselben Wesen (ousia) wie der Vater gezeugt ist, das heißt, dass er eines Wesens mit dem Vater (homoousion to patri) ist. Diese Wesensgleichheit wird dadurch unterstrichen, dass Jesus als der Sohn Gottes nicht geschaffen, sondern aus dem Vater hervorgegangen ist. Diese Homoousialehre ist eine Grundlage für Augustinus und die augustinische Tradition der Scholastik in ihren theologischen Spekulationen des verbum. Als das „innere Wort des Geistes ist (es) mit dem Denken genauso wesensgleich, wie Gottessohn mit Gottvater“ (GW 1, 425). Wenn wir uns fragen, welche Bedeutung dieses „innere Wort“ jenseits einer Auffassung der verba als Zeichen (Augustinus) für ein hermeneutisches Verständnis der Sprache haben soll, so müssen wir uns klar machen: „Es kann nicht einfach der griechische Logos, das Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt, sein. Vielmehr ist die bloße Tatsache, dass ‚logos‘ sowohl durch ‚ratio‘ als durch ‚verbum‘ wiedergegeben wird, ein Hinweis darauf, dass sich das Phänomen der Sprache in der scholastischen Verarbeitung der griechischen Metaphysik stärker zur Geltung bringen wird, als bei den Griechen selbst der Fall war.“ (GW 1, 425 f.) In einer Skizze der Entwicklung des christlichen Wortverständnisses im scholastischen Denken führt Gadamer unter ausführlicher Bezugnahme auf Thomas aus, dass der „Seinscharakter des Denkens“ darin besteht, dass er das, was er denkt „wie in einer inneren Selbstaussprache vor sich selber hinstellen“ muss. (GW 1, 426) Diese „Selbstaussprache“, in der alles Denken ein „Sichsagen“ ist, ist bei Plato das innere Gespräch der Seele mit sich selbst (Sophist. 263 e). Nun erfährt aber dieses Gespräch bei Thomas von Aquin im Sinne einer emanatio intellectualis noch einmal eine Steigerung. „Mit diesem neuplatonischen Begriff sucht Thomas den Prozesscharakter des inneren Wortes so gut wie den Prozess der Trinität zu beschreiben. Damit kommt etwas zur Geltung, was in der Logos-Philosophie Platos tatsächlich nicht enthalten war.“ (GW 1, 427)
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Der Logosphilosophie Platos wie auch der ganzen griechischen Philosophie ist die „Fleischwerdung“ eines Gottes grundsätzlich fremd. Erst der christliche Gedanke einer Inkarnation im Sinne eines Hervorgangs des Sohnes aus dem Vater führt unter Aufnahme des Begriffes der Emanation im Neuplatonismus zu der Spekulation, dass in der Geburt des Sohnes aus dem Vater dieser nicht etwas von seiner Fülle verliert, sondern zu ihr etwas hinzunimmt. Analoges gilt auch für das geistige Hervorgehen, „das sich im Vorgang des Denkens, des Sichsagens, vollzieht“ (GW 1, 427). Insofern das Wort mit der Bildung (formatio) des Intellekts zugleich ‚da‘ ist, kann man in diesem intellektualen Charakter der Erzeugung des Wortes ein Abbild des Geheimnisses der Trinität sehen, dessen dreigliedrige Struktur nach Augustinus dem menschlichen Geist als memoria, intelligentia und voluntas eingebildet ist. Eine vertiefte Darstellung dieser Bezüge findet sich im 9. Kapitel „Das innere Wort“ des Buches Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität (2006) von Th. Kobusch. Nach diesen gelehrten Exkursen, die von seiner Vertrautheit mit heute weitgehend in die Vergessenheit abgesunkenen Denktraditionen zeugen, betont Gadamer die unüberbrückbare Differenz zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Wort. Für den menschlichen Verstand bleibt das Mysterium der Trinität ein unverständliches Rätsel. Einig weiß er sich mit Thomas und der christlichen Mystik, wenn er die Unvollkommenheit des menschlichen Geistes im Unterschied zu der Vollkommenheit des göttlichen Geistes mit den Worten hervorhebt: „Im Unterschied zum göttlichen Wort ist das menschliche Wort wesensmäßig unvollkommen. Kein menschliches Wort kann in vollkommener Weise unseren Geist ausdrücken“ (GW 1, 429). Dazu bemerkt J. Grondin: „Diese Unvollkommenheit ist aber nicht die der Sprache, sondern die der menschlichen Erkenntnis schlechthin. Das menschliche Denken ist eben keine pure Selbstgegenwart, keine reine noesis noeseos. Das Denken folgt vielmehr dem Rhythmus der Worte, in die es immer schon einverleibt ist. Diese unvordenkliche Angewiesenheit des Denkens auf eine schon gegebene und gesprochene Sprache charakterisiert die ursprüngliche Gegebenheit der Sprachlichkeit, wie sie der augustinische Inkarnationsgedanke dem Denken erschließt.“ 4 Im gleichen Kapitel seiner Einführung zu Gadamer weist Grondin zu Recht darauf hin, dass bei ihm die Unaussagbarkeit des inneren Wortes in 4
Ebd., S. 215 f.
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das Zentrum seiner späten Arbeiten rückt. Dem entspricht in Wahrheit und Methode die grundsätzliche, an Hegel erinnernde Bemerkung: „Das Wort des menschlichen Denkens zielt zwar auf die Sache (des Gedankens – W. R.), aber kann sie nicht als ein Ganzes in sich enthalten. So geht das Denken den Weg zu immer neuen Konzeptionen fort und ist im Grunde in keiner ganz vollendbar. Seine Unvollendbarkeit hat als Kehrseite, dass sie positiv die wahre Unendlichkeit des Geistes ausmacht, der in immer neuem geistigem Prozeß über sich hinausgeht und eben darin auch die Freiheit zu immer neuen Entwürfen findet.“ (GW 1, 429 f.) Wie der Geschehenscharakter der Sprache mit dem Prozess der Begriffsbildung sich als zusammengehörig erweist und welche Folgen in dieser Zusammengehörigkeit liegen, erörtert der Abschnitt Sprache und Begriffsbildung. Gadamer hebt zunächst hervor, dass alles Sprechen in sich einen Prozess der Begriffsbildung einschließt, „durch den sich das Bedeutungsleben der Sprache selber fortentwickelt“ (GW 1, 433). Weit mehr als das logische Schema der Abstraktion und Induktion ist für das ursprüngliche Leben der Sprache die Bildung von Metaphern und die Fähigkeit des Auffindens von Analogien in textuellen Feldern von Bedeutung. So unbestreitbar diese Feststellung ist, so unbezweifelbar ist es, dass der Sprache ein logisches Vermögen a priori vorhergeht. Aus einer historischen Perspektive ist es bereits Reflexionsgegenstand in der platonischen Akademie und in der Definitionslogik des Aristoteles. In der aristotelischen Philosophie bleibt die Einheit von Sprechen und Denken weitgehend erhalten. Gleichwohl ist ihr Bruch schon in ihrem Ansatz angelegt. Gadamer hebt an der Rhetorik des Aristoteles ihre Anbindung an die Dialektik hervor, wie sie bereits in Platos Phaidros Thema gewesen war. Insoweit sich bei Aristoteles „das logische Ideal der Überordnung und Unterordnung der Begriffe“ mit einer progressiven Instrumentalisierung sprachlicher Gehalte verbindet, „beginnt sich die Sphäre der sprachlichen Bedeutung von den in der sprachlichen Gestaltung begegnenden Sachen zu lösen“ (GW 1, 436). Mit dieser Ablösung, die zugleich mit der Entstehung von Wissenschaft einhergeht, löst sich die ‚innige Einheit‘ von Sprechen und Denken zunehmend auf: „Überall, wo das Wort eine bloße Zeichenfunktion übernimmt, wird der ursprüngliche Zusammenhang von Sprechen und Denken, auf den unser Interesse gerichtet ist, in ein instrumentales Verhältnis um-
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gewandelt. Dieses verwandelte Verhältnis von Wort und Zeichen liegt der Begriffsbildung der Wissenschaft insgesamt zugrunde und ist für uns so selbstverständlich geworden, dass es einer eigenen kunstvollen Erinnerung bedarf, dass neben dem wissenschaftlichen Ideal eindeutiger Bezeichnung das Leben der Sprache selber unverändert weitertreibt.“ (GW 1, 437) Sprachphilosophische Reflexionen, die den Sachen des Lebens ein Mehr an symbolischem Bedeutungsinhalt verleiht, als es von ihrem faktischen Sein her gerechtfertigt erscheint, gibt es in der Geschichte der Philosophie vielfach. Gadamer ruft als Zeugen dieser Reflexionen den Neuplatonismus, die ‚trinitarische Spekulation‘ bei Augustinus und die Philosophie des Nicolaus Cusanus auf. In ihr sind Begriff und Sprache als Entfaltung des Geistes kein Abfall von seiner Einheit. Für den Cusaner besitzt „das Wort kein anderes Sein als der Geist, keine geminderte oder abgeschwächte Erscheinung desselben. Das zu wissen, macht für den christlichen Philosophen seine Überlegenheit über die Platoniker aus“ (GW 1, 439). In der spät- und nachmittelalterlichen Philosophie tritt dann „mit der nominalistischen Auflösung der klassischen Wesenslogik auch das Problem der Sprache in ein neues Stadium“ (L. c. I, 439). Gadamer hebt die Bedeutung der Philosophie des Cusaners hervor, wenn er davon spricht, dass in ihr auf Grund der Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens die Ungenauigkeit der Sprache und der ihr folgenden Begriffsbildung Anerkennung findet, „ohne deshalb schon einer rein konventionalistischen Sprachtheorie und einem instrumentalistischen Begriff von Sprache zu verfallen“ (GW 1, 441). Für die Erkenntnislehre des Cusaners, in der sich platonische und nominalistische Motive kreuzen, bleibt am Ende der Universaliendiskussion der mittelalterlichen Philosophie noch die enge Nähe zwischen Wort und Begriff bewahrt. Die unüberwindbare Sprachgebundenheit in aller Sacherkenntnis stellt in ihr lediglich „eine prismatische Brechung dar, in der die eine Wahrheit scheint“ (GW 1, 442). Eine komprimierte und kritische Darstellung der engen Beziehung, die Gadamer zu der Philosophie des Cusanus hat, gibt das Cusanus-Buch (2005) von K. Flasch. Hier ein Auszug: „Gadamer orientiert sich an Cusanus, nicht um zu seiner spekulativen Metaphysik (…) zurückzukehren, sondern um ein Gegengewicht zu der (…) Fragerichtung der neueren Sprachtheorien zu schaffen und um dadurch die Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung zu zeigen. Darin liegt vor allem, dass es keinen Sinn hat, sich gegenüber sprachlichen Weltansichten auf die ›Welt an sich‹ zu berufen. Wenn Gadamer sagt, Sein sei sprachliches
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Sichzeigen, dann entspricht dies formal dem Weltgrund, der sich ausspricht bei Cusanus, aber es ist klar, dass dies bei Gadamer als Anzeige der Endlichkeit der menschlichen Weltansichten einschließlich ihrer Übersetzbarkeit (in Sprache – W. R.), nicht als Rückkehr des metaphysischen Idealismus gedacht ist.“ Dass sich uns in der Sprache ‚die Welt selbst‘ darstellt, veranlasst Flasch zu dem Hinweis, dass diese hermeneutische Erfahrung für Gadamer in der Philosophie des Cusanus „formal“ vorweggenommen ist, „wonach die Welt das Sichdarstellen des absoluten Begriffs in kontrakten Begriffen (das heißt: realen Wesenheiten) und ihren sinnlichen Zeichen ist.“ 5
5
K. Flasch, Nicolaus Cusanus, München 2005, S. 165.
3. Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie Diesem Abschnitt kommt für das Selbstverständnis von Gadamers Hermeneutik eine besondere Bedeutung zu. In ihm finden sich erneut wertvolle Bemerkungen zu der Sprachphilosophie W. v. Humboldts. Will man sie kurz charakterisieren, so ist zu sagen: Die nationalen Sprachen sind bei Humboldt das Resultat einer ursprünglichen ‚Sprache‘ schaffenden Kraft des menschlichen Geistes. Sie bildet zugleich ihre ‚innere Form‘, auf Grund derer jede Sprache eine Ansicht der Welt repräsentiert. In dieser Sprachauffassung Humboldts zeigt sich ihre Nähe zu Leibniz. „Es ist das monadologische Universum Leibnizens, in das sich die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus einzeichnet.“ (GW 1, 444). Gadamer hebt an Humboldt hervor, dass für ihn eine dreigliedrige Beziehung zwischen der Sprache, dem sprechenden Individuum und seiner Welt besteht: ein unlösbares, aber auch freies Wechselverhältnis. Ungeachtet der Meriten Humboldts auf dem Gebiet der Sprachphilosophie stellt aber für ihn dessen Begriff der Sprache eine Abstraktion dar, die es für den Hermeneutiker rückgängig zu machen gilt. Denn: „Sprachliche Form und überlieferter Inhalt lassen sich in der hermeneutischen Erfahrung nicht trennen.“ (GW 1, 445) Einem lebendigen Umgang mit Sprache erschließt sich die Erkenntnis, dass „sie nicht nur ihre eigene Wahrheit in sich, sondern auch eine eigene Wahrheit für uns“ vermittelt (GW 1, 445). Humboldts besonderes Verdienst für die Hermeneutik sieht Gadamer vor allem darin, dass er „die sprachliche Energeia als das Wesen der Sprache erkannt und dadurch den Dogmatismus der Grammatiker gebrochen“ hat. (GW 1, 446) Die Sprachfähigkeit gehört nicht nur zu der anthropologischen Grundausstattung des Menschen, sie ist darüber hinaus die Voraussetzung dafür, dass er Welt hat. Es ist ein Grundsatz der Hermeneutik Gadamers, dass ‚Welt‘ für uns nur durch Sprache ‚da‘ ist. Im Sinne einer strengen Gleichursprünglichkeit denkt er das komplexe Verhältnis von Welt in der Sprache und Sprache als Weltverhalten. Wir wachsen von Geburt an in die Sprache unserer Mitwelt hinein, deren Stimme wir am Beginn unseres Lebens durch die Laute der Mutter
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erfahren. Durch die Sprache erlangen wir die grundlegende Prägung, in der sich uns die Welt darstellt und durch deren Gebrauch wir uns zu unserer Mitwelt verhalten. Jenseits der Welt der Sprache scheint es für uns kein Da-Sein von Welt zu geben. Es klingt ganz im Tonfall Heideggers, wenn Gadamer schreibt: „Die ursprüngliche Menschlichkeit der Sprache bedeutet also zugleich die ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen In-derWelt-Seins.“ (GW 1, 447) Es ist ein philosophisches Grundinteresse, dem engen Bezug von Sprache und Welt nachzudenken. Die Klärung dieser internen Relation stellt das Denken vor erhebliche Schwierigkeiten, zugleich ist sie eine Voraussetzung, um die Sprachlichkeit der hermeneutischen Erfahrung adäquat zur Darstellung zu bringen. Gadamer orientiert sich hinsichtlich des Verhältnisses von Sprache und Welt weitgehend an Heidegger, die verschiedenen Bedeutungstheorien der analytischen Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts finden in seinen hermeneutischen Überlegungen geringere Beachtung. Gadamer schließt aus dem Weltverhältnis der Sprache auf die ihr zuzuschreibende Sachlichkeit. Es sind Sachverhalte, die in der Sprache Ausdruck finden. Die griechische Ontologie gründet auf der Sachlichkeit der Sprache, „indem sie das Wesen der Sprache von der Aussage her denkt“ (GW 1, 449). Bei Aristoteles bestimmen die Weisen der Aussage die Kategorien des Seins. Für die aristotelische Definitionslogik ist die Erfahrung des Negativen im Gegensatz zur Negation im Urteil kein Gegenstand. Für Gadamer schließt Sachlichkeit aber auch – und das ist in seiner Wendung gegen die Logik des Aristoteles von Bedeutung – Negativität ein. Sie bleibt in der Geschichte der Philosophie durch die Einheit der denkenden Seele (Plato) wie auch durch die Einheit der sich selbst denkenden Vernunft (Hegel) weitgehend verdeckt. Dass Seiendes in seiner Identität nur auf Grund ihrer Negation zum Gegenstand der Erkenntnis wird, war für Hegel Gegenstand der philosophischen Reflexion. Schon Plato hat in seinem späten Denken die starre Seinsthese des Parmenides dadurch überwunden, dass er aus der Idee der Einheit die der Zweiheit hat hervorgehen lassen. Mit seiner Lehre von der unbestimmten Zweiheit nimmt er bereits die von Hegel herausgearbeitete dialektische Bewegung des Denkens vorweg. In ihr richtet sich das Auge des Geistes auf den Sinn von Sein, wie er sich im Logos als Einheit in der Vielheit zur Darstellung bringt. Es gehört zu den bedeutenden Einsichten von Gadamers Denken, wenn er als Frucht seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und mit der Philosophie Hegels schreibt:
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„Es gibt also grundsätzlich auch negative Sachverhalte, die das griechische Denken zuerst gedacht hat. Schon in der stummen Monotonie des eleatischen Grundsatzes der Zuordnung von Sein und Noein ist das griechische Denken der grundlegenden Sachlichkeit der Sprache gefolgt, und Plato hat dann, in der Überwindung des eleatischen Seinsbegriffes, das Nichtsein im Sein als die eigentliche Ermöglichung des Redens vom Seienden erkannt.“ (GW 1, 449) Es ist ganz von Sokrates her gedacht, wenn Gadamer darlegt, wie Sprache in der Praxis des Lebens im Gespräch, in der kommunikativen Verständigung, ihr eigentliches Sein hat. In ihm zeigt sich Sprache als Lebensvorgang. Das ‚Rhetorische‘ an ihm, der onomapoetische Zauber der Sprache, dessen musikalische Transformation sich in den Opern Mozarts an dem Sprachzeremoniell zwischen den Geschlechtern studieren lässt, wird von Gadamer anerkannt, wenn er betont, dass die Formen menschlicher Sozietät Formen von Sprachgemeinschaften bilden, die die Regeln der Verständigung festlegen. Ein Gedanke, der in der Nähe von Wittgensteins später Sprachphilosophie steht. Sprachlichkeit ist das Band, das Menschen nicht isoliert, sondern miteinander verbindet. Sie ist keine Schranke der Erkenntnis wie bei Nietzsche, sondern sie „umfasst grundsätzlich alles, wohinein sich unsere Einsicht zu erweitern und zu erheben vermag“ (GW 1, 450 f.). Sie erfasst freilich nie ‚Welt an sich‘, sondern artikuliert immer nur sich ständig verschiebende Horizonte der Bedeutung von Welt. Man könnte es auch so formulieren: Die Grenzen der Sprache, die die Grenzen meiner Welterfahrung bestimmen, sind keine undurchdringlichen Mauern, sondern sie sind durchlässig für Ausblicke auf den unendlich vor unseren Augen sich weitenden Horizont der Welt. „In jeder Weltansicht ist das Ansichsein der Welt gemeint. Sie ist das Ganze, auf das die sprachlich schematisierte Erfahrung bezogen ist. Die Mannigfaltigkeit solcher Weltansichten bedeutet keine Relativierung der ,Welt‘. Vielmehr ist, was die Welt ist, nichts von den Ansichten, in denen sie sich darbietet, Verschiedenes.“ (GW 1, 451) Die Anerkennung der Sprachgebundenheit unserer Welterfahrung schließt für Gadamer einen von Nietzsche vertretenen Perspektivismus ein. Durch ihn öffnet sich dem Bewusstsein ein schmaler Durchblick auf eine reine Phänomenalität der Dinge. Ihr bedeutungsfreies An-sich-sein wird für Nietzsche im Unterschied zu Gadamer durch die Sprache ver-
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deckt. Nur an der Stelle, da Sprache – wie in der Dichtung – zum reinen Ausdruck wird, kommt ein Vorschein von ihr zum Durchbruch. Es fällt schwer, Gadamers These einer Aufhebung der ontologischen Differenz zwischen dem, was Welt ist und den Ansichten, in denen sie sich zeigt, anzuerkennen. Der Text Im grossen Schweigen zu Beginn des Fünften Buches von Nietzsches Morgenröthe spricht von der „ungeheuren Stummheit“ der Natur, vor der jede menschliche Rede versagt: „Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein.“ (KSA 3, 260) Wenn im Schweigen des Abends, im bleichen Schimmer der ins Unendliche sich weitenden Meeresoberfläche eine ‚Rede‘ verborgen zu sein scheint, die den Menschen an den Tod denken lässt, dann liegt darin ein riskantes Moment für den universalen Anspruch von Gadamers Hermeneutik, das dieser selbst wohl nicht bestritten hätte. Die These, Innen- und Umwelt des Menschen seien sprachlich strukturiert, erscheint unter doppeltem Aspekt fragwürdig: beide Welten sind von dem Geborenwerden und Sterben der Individuen umgriffen und der Geist als „Träger der Todesgewißheit“ (H. Kunz) hat seinen „Ursprung“ in einem sprachlosen Grund der Natur. Der Einwand, dass die wissenschaftliche Erkenntnis dem durch unsere Sprachgebundenheit erzeugten Augenschein widerspricht, ist für Gadamer kein Argument gegen die Sprachlichkeit des Verstehens. Es wirkt wie eine Apologie der sinnlichen Plastizität der Sprache, wenn er schreibt, dass der durch sie ermöglichten Offenlegung ontologischer Aspekte der Welt die gleiche Legitimation zukommt wie der Wissenschaft, die sich in ihrer Erforschung von Lebensphänomenen an abstrakten Denkmodellen orientiert. Dem dynamisch-energetischen Vollzug der Sprache scheint es angemessen, wenn Gadamer dann doch ein Stück weit entgegen seinen Ausführungen zu Augustinus und Cusanus einräumt, dass er keine einseitige Entfaltung des reflektierenden Denkens, sondern Ausdruck des schöpferischen Mitvollzugs unseres Weltverhaltens ist. Gadamers Reflexionen zum Verhältnis von Sprache und Welt finden ihre höchste Steigerung in der These: Der Welthorizont der Sprache umschließt alles das, was von Menschen als seiend erkannt und angesprochen wird. In dieser glühenden Verteidigung der Macht der Sprache findet jener universalistische Anspruch von Gadamers Hermeneutik Ausdruck, der in der Philosophie genügend Anlass zu fruchtbaren Debatten gibt. Was die Wissenschaften der Biologie und der Physik angeht, deren Denkmodelle auf Grund ihrer Abstraktheit sich ihrer Übersetzung in den
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normalen Sprachgebrauch zu entziehen scheinen, so gibt Gadamer zu bedenken, dass ihnen eine nicht abzustreitende ‚Daseinsrelativität‘ zukommt. Die ‚Sachlichkeit‘, wie sie der Sprache eignet, ist Voraussetzung für die Befähigung des Menschen zur Wissenschaft. Die durch sie ermöglichte Distanz zu dem Andrang unmittelbarer Sinneseindrücke ist die Bedingung für die theoretische Neugierde im Sinne eines natürlichen Strebens nach Wissen (Aristoteles). Im bios theoretikos hat die Antike das höchste Lebensideal gesehen. Die Unterschiedlichkeit zwischen dem antiken- und dem neuzeitlichen Theoriebegriff gründet in einer unterschiedlichen Stellung zur sprachlichen Welterfahrung. So kommt dem griechischen Ausdruck physis in der antiken Naturphilosophie ein anderer Bedeutungssinn zu als dem lateinischen Ausdruck natura am Beginn des neuzeitlichen Methodenbewusstseins. Die Berücksichtigung der sprachlichen Unterschiedlichkeiten in philosophischen Begriffssystemen bewahrt vor der Torheit, die antike Philosophie auf ein modernes Theorieverständnis hin auszulegen, wie Gadamer kritisch gegenüber dem Neukantianismus anmerkt. Im Anschluss an Heidegger betont er, dass in der Sprache Welt ähnlich zum Aufscheinen kommt wie im Ereignis des Kunstwerkes. In dem Verständnis der Sprache und der Kunst als Welt erschließende Größen gründet alles Verstehen in den Geisteswissenschaften, das durch dieses Einverständnis selbst Züge der Kunst annimmt. „Darin – und nicht in dem methodischen Ideal der rationalen Konstruktion, das die moderne mathematische Naturwissenschaft beherrscht – vermag sich das in den Geisteswissenschaften geübte Verstehen wiederzuerkennen.“ (GW 1, 460) Der sich anschließende Abschnitt widmet sich der Mitte der Sprache und ihrer spekulativen Struktur. Gadamer weist zunächst darauf hin, dass die Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung den Weg der griechischen Philosophie seit Platos ‚Flucht in die Logoi‘ bestimmt. Der Logos ist in ihr die Repräsentanz der Gegenwart des Seienden als Aletheia. „Es ist die Unendlichkeit dieser Gegenwart, auf die sich das menschliche Denken als auf seine vollendete Möglichkeit, seine Göttlichkeit, hin versteht.“ (GW 1, 461) Eine solche ‚Gegenwart‘, die im Reich der Seele verborgen anwesend ist, erfordert eine Sprache, die uns in den Texten der Mystiker überliefert ist. Wir vernehmen sie zwar, aber wir verstehen sie in dem, was sie sagt, nur mühselig. Dies mag der Grund dafür sein, dass Gadamer dem Gang der Sprache als der ‚Spur‘ unserer Endlichkeit folgt. Für ihn macht die Endlichkeit des Menschen das aus, was er die Mitte der Sprache nennt, „von der
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aus sich unsere gesamte Welterfahrung und insbesondere die hermeneutische Erfahrung entfaltet“ (l. c. 1, 461). Diese Einsicht führt zu einer gegenüber der Metaphysik gewandelten Einstellung zum Wort. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit erneut darauf, dass in der Sprache des Menschen sich „eine eigentümliche Reflexionsdialektik“ (W. Schulz) zeigt: die Sache ist im Wort da, aber das Wort ist doch nicht mit der Sache identisch. In der Anerkennung dieser Dialektik reflektiert Gadamer beständig auf die durch die Sprache ermöglichte Vermittlung des endlich-geschichtlichen Daseins des Menschen mit sich selbst und der Welt. Zugleich rührt er an das Wunder der Sprache, wenn er davon spricht, dass im Wort – und er meint hier das Wort der Dichtung – das Ganze der Sprache, der es angehört, ‚antönt‘ und in ihm stets das Ganze der ihm zugrunde liegenden Weltansicht zur Erscheinung kommt. In jedem Wort schwingt immer ein Ungesagtes mit, „auf das es sich antwortend und winkend bezieht“ (GW 1, 462), so die einprägsam lyrische Sprachfügung, die an Goethes Das Wort ist ein Fächer aus dem Divan erinnert. In diesem Zusammenhang erfordert sein Aufsatz Von der Wahrheit des Wortes (1971) besondere Beachtung. In ihm weist Gadamer darauf hin, dass die ‚Sagkraft‘ des Wortes der Dichtung in nichts anderem besteht als in seiner reinen ‚Selbst-Präsenz‘. „Das universale ‚Da‘ des Seins im Wort ist das Wunder der Sprache, und die höchste Möglichkeit des Sagens besteht darin, sein Vergehen und Entgehen zu binden und die Nähe zum Sein festzumachen. Es ist Nähe, Präsenz, nicht von diesem oder jenem, sondern von der Möglichkeit zu allem. Das ist es, was das dichterische Wort auszeichnet.“ (GW 8, 54 f.) In der Studie Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit (1971) hat Gadamer ausgeführt, was diese Nähe bedeutet, die das Wort der Dichtung im reißenden Strom des Vergehens als ‚Da‘ des Seins zu bewahren weiß: „In der Tat ist das unsere Grunderfahrung als zeitliche Wesen, dass alle Dinge uns entgehen, dass alle Inhalte unseres Lebens uns mehr und mehr verblassen, so dass sie aus fernster Erinnerung höchstens noch in einem fast unwirklichen Schimmer leuchten. Aber das Gedicht verblasst nicht. Das dichterische Wort bringt gleichsam die Zeitentgänglichkeit zum Stehen.“ (GW 8, 78)
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Schöner hat kein Philosoph im 20. Jahrhundert das Bleibende des dichterischen Wortes gepriesen als Gadamer an dieser Stelle seines Werkes. Die Grenze, die dem menschlichen Sprachvermögen gesetzt ist, hat Gadamer anerkannt. Er sieht sie dort, wo die unüberwindbare Okkasionalität der menschlichen Rede es unmöglich macht, die in ihr artikulierten Sachverhalte in ihrer Sinnbedeutung adäquat zur Sprache zu bringen. Die Grenzziehung zwischen dem Sprechen über die Welt und einem ihm vorgängigen Sein der Welt findet ihre Anerkennung in jenen Sätzen, die von sich aus den Vorwurf widerlegen, er habe sich einer Überschätzung der Sprachkompetenz schuldig gemacht. „Alles menschliche Sprechen ist in der Weise endlich, dass eine Unendlichkeit des auszufaltenden und auszulegenden Sinnes in ihm angelegt ist. Deshalb ist auch das hermeneutische Phänomen nur von dieser endlichen Grundverfassung des Seins aus aufzuhellen, die von Grund auf eine sprachlich verfasste ist.“ (GW 1, 462) In der modernen Wissenschaft besitzt die in der klassischen Metaphysik thematisierte Zugehörigkeit des erkennenden Subjekts zum Objekt der Erkenntnis keine Geltung. Im Widerspruch zu ihr führt die philosophische Hermeneutik auf sie erneut zurück. Darin bezeugt sich für Gadamer erneut „die Kontinuität des Problemzusammenhanges von seinem griechischen Ursprung her“ (GW 1, 464). Es waren die Griechen, die nicht wie in der neuzeitlichen Philosophie von der Subjektivität her die Objektivität der Erkenntnis zu begründen versuchten, vielmehr beruht ‚Objektivität‘ der Erkenntnis für sie auf der Ähnlichkeit zwischen dem Abgebildeten und dem Urbild der kosmischen Ordnung, dem Sein. Der von ihnen geschaffene Begriff der Dialektik erhebt den Anspruch, dass er eine im Prozess des Denkens fundierte Bewegung des Seins entfaltet. Dieses griechische Verständnis der Dialektik findet seine Erneuerung bei Hegel. Wie W. Schulz in seinem Beitrag Philosophie als absolutes Wissen (1977) gezeigt hat, destruiert Hegel „in allen seinen Überlegungen die Vorstellung, dass es ein Subjekt gibt, das vom Objekt getrennt seine Bezüge zum Objekt im vornhinein in sich selbst durch reine Selbstbesinnung klären könnte.“ 1 Die durch Hegel erneut in Gang gebrachte spekulative Vermittlung von Denken und Sein findet bei Gadamer ihre Transformation in einer hermeneutischen Theorie, die ihre nicht mehr von Hegel und dem deutschen Idealismus bestimmten Intentionen auf 1
W. Schulz, Vernunft und Freiheit, Stuttgart 1981, S. 57.
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„das Verwebtsein von Geschehen und Verstehen zur Anerkennung bringen will“ (GW 1, 465). Der ursprünglich vorgesehene Titel für Wahrheit und Methode war Geschehen und Verstehen. Es geht Gadamer nicht um eine Wiederholung der spekulativen Dialektik Hegels, die für uns eine große, aber vergangene Gestalt des philosophischen Denkens ist. Sein Interesse richtet sich darauf, zu zeigen, wie von der „Mitte der Sprache“ aus alles Verstehen auf die innere Zugehörigkeit von Subjektivem und Objektivem gegründet ist. Sie muss für ihn anders gedacht werden denn als eine „teleologische Bezogenheit des Geistes auf das Wesensgefüge des Seienden, wie sie in der Metaphysik gedacht ist“ (GW 1, 465). Geschehen tritt aus seinem apersonalen Seinsgefüge in die Zeit, wenn es sich im Wort inkarniert. Im Rückblick seines Da-Seins in der Welt wird es zum Wort der Überlieferung, das „uns wirklich trifft, als rede es uns an und meine uns selbst“ (GW 1, 465 f.). Man meint an dieser Stelle R. Bultmann und die Stimme der dialektischen Theologie zu hören, denen es darum ging, das christliche Kerygma in einer modernisierten Verkündigung als ‚Anrede‘ Gottes an den Menschen auszulegen. Die unverkennbar theologischen Implikationen in dieser „Anrede“ werden dadurch überlagert, dass sie sich auf die philosophische Überlieferung als solche beziehen. Wir gehören ihr immer schon zu, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Erst die hermeneutische Reflexion auf sie öffnet unser Ohr für ihre Stimme, die anders zu uns redet als bei einer oberflächlichen Berührung mit Traditionszusammenhängen. Gadamer deutet Grundzüge einer akroamatischen Hermeneutik an, wenn er davon spricht, dass nicht das Sehen, sondern ihm gegenüber „der Vorrang des Hörens dem hermeneutischen Phänomen zugrunde liegt, wie schon Aristoteles erkannt hat“ (GW 1, 466). Es gehört zum hermeneutischen Phänomen, dass man lernt zu hören was die Sprache spricht. Auf die Sprache hören heißt, Ohren für Ungehörtes (Nietzsche) zu entwickeln. Alle hermeneutische Erfahrung beruht auf dem ‚Geschehenscharakter‘ der Sprache. Ihre nähere Bestimmung gewinnt sie am ‚hermeneutischen Phänomen‘, in dem sich Aneignung und Auslegung der philosophischen Tradition von der Sache des Denkens her zusammenschließen. In der Reflexion auf diese Zirkularität zeigt sich die Nähe von Gadamers Denken zu Hegel und zur Philosophie der Antike. Für Hegel ist die wahre Methode das ‚Tun der Sache‘ selbst. Gadamer argumentiert im inneren Gespräch mit Hegel, dass für dieses ‚Tun‘ Platos Dialoge das Vorbild sind. Sokrates im Gespräch fordert dazu auf, von der Sache her, um die es in ihm geht, zu denken und nicht von den Meinungen über sie. Dass sich die sinnliche Gewissheit über Dinge, sofern sie im Denken durchdacht werden, gleich-
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sam auf den Kopf stellt, diese dialektische Negativität, „ist die Erfahrung des Denkens, auf die sich Hegels Begriff der Methode als der Selbstentfaltung des reinen Gedankens zum systematischen Ganzen der Wahrheit beruft“ (GW 1, 469). Wenn nun auch die hermeneutische Erfahrung nicht mit der Dialektik des begrifflichen Denkens bei Hegel gleichgesetzt werden kann, so ist ihr doch gleichfalls eine bestimmte Dialektik eingezeichnet. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Methodik verleiht sie dem Verstehen einen eigentümlichen Zug der Passion. Es stößt ihm etwas zu. Was heißt das? Es heißt, dass sich das Verstehen seiner Grenze bewusst wird. In dieser Grenzerfahrung wird das alltägliche Daseinsverständnis selbst in Frage gestellt, wenn es sich eingesteht, dass sich in den Dingen der Welt eine ‚Unendlichkeit des Sinnes‘ verbirgt, die wir auf Grund der Begrenztheit unseres Bewusstseins nie auszuschöpfen vermögen. Es ist die Sprache der Kunst, die uns eine Ahnung von dem Ganzen dieses Sinns zuteil werden lässt. Und zwar in der Weise, dass sie uns das Andere der Vernunft vor Augen stellt. Ihm muss ein hermeneutisches Philosophieren gerecht werden, das wie Gadamer auf die Begrenztheit des Denkens reflektiert. In dem Beitrag Die ästhetisch begrenzte Vernunft (1999) hat G. Figal betont, dass ein Denken im Sinne Gadamers auf ein ‚Anderes‘, auf ein dem Denken Hinzutretendes verweist: „Ein Denken, das sich durch das es Begrenzende bedingt weiß und diese Bedingung nicht untergehen lassen möchte, kann man ,hermeneutisch‘ nennen. Hermeneutisch ist ein Denken, das zur Sprache bringt, was sich ihm als seine Veranlassung entzieht und gleichwohl seine Artikulationen trägt. In einem Denken, das seines eigenen Darstellungscharakters inne wird, bleibt die Spur des Anderen erhalten.“ 2 Das zur Sprache-Bringen der Dinge ist für Gadamer mit einer Dialektik verbunden, „die aus der Mitte der Sprache gedacht ist“ (GW 1, 469). Worin unterscheidet sich diese Dialektik von der metaphysischen Dialektik Platos und Hegels? Die Frage nach der Unterscheidung setzt die Beantwortung des Gemeinsamen voraus. Gadamer sieht dieses Gemeinsame in dem, was er im Anschluss an Hegel das Spekulative nennt. Spekulativ ist ein Gedanke, wenn in ihm sich das Gedachte in der Dialektik von Identität und Dif2 G. Figal, Die ästhetisch begrenzte Vernunft, in: M. Riedel (Hg.), „Jedes Wort ist ein Vorurteil“. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken, Köln/Weimar/ Wien 1999, S. 37.
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ferenz widerspiegelt. Hegel hat dieses Verhältnis an der Logik des philosophischen Satzes demonstriert. Ihm hat Gadamer sechs hermeneutische Studien unter dem Titel Hegels Dialektik gewidmet, die im Band 3 der Gesammelten Werke zusammengestellt sind. In Hegels Lehre vom spekulativen Satz, wie sie aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ersichtlich wird, kommt die Einheit des Begriffs als ein Identität stiftendes Prinzip der Sache selbst zur Darstellung. Nur seiner äußeren Form nach ist der spekulative Satz ein Urteil, in dem „ein Einzelnes, das Subjekt, als etwas Allgemeines, das Prädikat bestimmt wird. Der philosophische Satz soll vielmehr die konkrete Einheit beider zum Ausdruck bringen (…). Ganz allgemein gesprochen, heißt dies, dass der philosophische oder spekulative Satz gerade auf die Wahrheit als Bewegung durch ihre Momente, nicht auf sie als ,Eigenschaft‘ ihrer Elemente oder deren Verbindung zeigt.“ 3 Gadamer erklärt dies an dem Beispiel, dass der Satz „Gott ist Einer“ nicht meint, „dass es eine Eigenschaft Gottes ist, Einer zu sein, sondern dass es das Wesen Gottes ist, die Einheit zu sein. Die Bewegung des Bestimmens ist hier nicht an die feste Basis des Subjekts geknüpft (…)“ (GW 1, 470). Die Aufhebung des Unterschiedes zwischen dem Spekulativen und dem Dialektischen in Hegels Wissenschaft des Begriffs zeigt, „wie sehr er sich als der Vollender der griechischen Logosphilosophie weiß“ (GW 1, 472). Obschon Hegels Denken dem spekulativen Geist der Sprache sich mimetisch anschmiegt, steht doch seine Aufhebung des Wissens in dem zu sich selbst gekommenen Selbstbewusstsein des Begriffs in äußerstem Gegensatz zu dem alltäglichen Sprachgebrauch. Da diesem eine grundsätzliche Unschärfe eignet, umgibt er die Phänomene menschlicher Welterfahrung mit einem Hof von Undurchsichtigkeit, die es unmöglich macht, dass sie sich dem Bewusstsein in ihrem Bedeutungssinn erschöpfend erschließen. Wie stellt sich nun das ‚dialektische Wesen‘ der Sprache einem hermeneutischen Denken dar? Die Antwort Gadamers auf diese Frage lautet: das spekulative Element im sprachlichen Vollzug gewinnt seinen Ausdruck im ‚Geschehen der Rede‘ selbst, da in ihr die endlichen Möglichkeiten des Wortes dem gemeinten Sinn im Gespräch in einer nie völlig abschließbaren Weise zugeordnet sind. Mit dieser Auffassung der Zuordnung von Wort und Sinnbedeutung geht eine stark von Heidegger beeinflusste Kritik an dem Satz als Aussage einher. „In der Aussage wird der Sinnhorizont dessen, was eigentlich zu sagen ist, mit methodischer Exaktheit verdeckt.“ (GW 1, 473) Dem defizienten Modus der Aussage wird ein anderes Ver3
Th. S. Hoffmann, G. W. F. Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, S. 240.
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ständnis des Redens im Gespräch entgegengestellt. Dieses Sagen hält im gesprochenen Wort „das Gesagte mit einer Unendlichkeit des Ungesagten in der Einheit eines Sinnes zusammen und lässt es so verstanden werden“ (GW 1, 473). Gleiches gilt für das Verstehen eines Textes. Es ist eine Maxime von Gadamers Hermeneutik: Wer einen Text verstehen will, darf ihn nie wörtlich nehmen – im Sinne eines „aber es steht doch da“ –, er muss zwischen den Zeilen auf das von ihm nicht Gesagte hinhören, um seinen vollen Sinn zu erfassen. Nur in dem strengen Wort der Dichtung kommt das von ihm Gesagte zur vollendeten Darstellung. In ihm erfüllt sich für Gadamer Kunst als Aussage. „Die Ablösung des Gesagten von allem subjektiven Meinen und Erleben des Autors macht ja erst die Wirklichkeit des dichterischen Wortes.“ (GW 1, 473) Das der Spekulation verwandte Moment in der Dichtung liegt in der geistigen Potenz des durch sie repräsentierten Sprachgeschehens, durch das ein nie erwarteter Anblick der Welt in das Licht der Erinnerung gehoben wird. Gadamer ruft für dieses Ereignis Hölderlin als Zeugen auf. Er bezieht sich auf das Aufsatzfragment Die Verfahrensweise des poetischen Geistes, dessen gedankliche Intentionen für ihn auf das zielen, was im dichterischen Sprachgeschehen am Werk ist. In dem Fragment Hölderlins ist es die letzte Aufgabe des „poetischen Geistes“, „einen Faden, eine Erinnerung zu haben, damit der Geist nie im einzelnen Momente, und wieder einem Momente, sondern in einem Momente wie im andern fortdauernd, und in den verschiedenen Stimmungen sich gegenwärtig bleibe, so wie er ganz gegenwärtig ist, in der unendlichen Einheit (…), so dass in ihr das Harmonischentgegengesetzte (…) als einig entgegengesetztes unzertrennlich gefühlt, und als gefühltes erfunden wird.“ (FHA XIV, 311) Es folgt der Hinweis, dass in der Lyrik Hölderlins nichts Seiendes bezeichnet wird, vielmehr bewirkt ihre „evokatorische Qualität“ (H. Bothe) die Epiphanie eines Ideellen, „einer Welt des Göttlichen und des Menschlichen“ als die Einheit ihrer gegenstrebigen Fügung. K.-H. Stierle hat in Sprache und Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins (1979/1997) Gedanken zu der Verfahrensweise des poetischen Geistes geäußert, die sich wie ein Kommentar zu den hermeneutischen Intentionen Gadamers hinsichtlich des Verhältnisses von Wort und ‚Material‘ der Wirklichkeit lesen: „Erst in der sprachlichen Konkretisation erhält der Stoff, der als solcher schon geeignet sein muss, eine unendliche Erfahrung zu ihrer größten bildlichen Verdichtung zu bringen, seine höchste Prägnanz.
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Dass aber überhaupt poetischer Geist und ‚Stoff‘ als Fragment eines Lebenszusammenhangs einander zugeordnet sein können, dass der Stoff poetischer, vom Geist durchdrungener Stoff sein kann, ist nur möglich, sofern beide Bereiche vermittelt sind in einem Grund, der der Tendenz nach beide in sich als eine vielfältig widersprüchliche Einheit enthält. Dieser Grund aber, das ,Geistsinnliche‘ des Gedichts, hat seine Wirklichkeit in der subjektiven Erfahrung des Dichters, in jener Erfahrung, die in Hölderlins ,Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde‘ zum Ausdruck kommt.“ 4 Das Spannungsverhältnis zwischen Text und Auslegung äußert sich auf vielfache Weise. Etwa, in dem der auszulegende Text in seiner Fremdheit die an ihn herangetragene Auslegung immer erneut in Frage stellt. Das Geschäft der Auslegung trägt dieser Herausforderung in einem Frageund Antwortspiel Rechnung. In den Worten Gadamers: „Die Dialektik von Frage und Antwort ist mithin der Dialektik der Auslegung immer schon zuvorgekommen. Sie ist es, die das Verstehen als ein Geschehen bestimmt.“ (GW 1, 476) Das Problem des Verstehens findet seine Verschärfung im wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein der hermeneutischen Erfahrung. An ihm wird die ‚unabschließbare Offenheit des Sinngeschehens‘ der Überlieferung offenbar. Es gibt hier kein ‚mögliches Bewusstsein‘, in dem die Sache, um die es in der Überlieferung geht, ein für allemal zu klären ist. Die Aneignung der Überlieferung ist durch ihre geschichtliche Rezeption bedingt. Der mit ihr verbundene ‚Sinn‘ verschiebt sich beständig in den jeweiligen ‚Ansichten‘, die im Strom der Zeiten an sie herangetragen werden. Gleichwohl besitzt jede dieser ‚Ansichten‘ ihr Recht, eine neue Erfahrung an der Sache selbst zum Vorschein zu bringen. In dieser Dialektik des Neuen im Alten besteht das spekulativ- kreative Element der hermeneutischen Erfahrung. Das höchste Ideal läge für sie darin, „dass die auslegenden Begriffe in der Vollendung des Verstehens zur Aufhebung kommen, weil sie zum Verschwinden bestimmt sind“ (GW 1, 477). Was an aller Auslegung über ihr methodisches Selbstbewusstsein hinaus das Spekulative ist, ist das, was an der Sprachlichkeit zu Tage kommt. Die Reflexion auf dieses Geschehen drängt über die Philologie hinaus auf eine philosophische Fragestellung. Sie wendet sich dem spekulativen Element in der Arbeit des Gedankens zu, um ihm in seiner Eigenart gerecht zu 4
K.-H. Stierle, Sprache und Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins, in: F. Hölderlin. Neue Wege der Forschung, hg. von Th. Roberg, Darmstadt 2003, S. 23.
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werden. Es kann jedoch nicht mehr aus der Geschichte der Metaphysik erschlossen werden, in der es sein ursprüngliches Heimatrecht besaß. Das spekulative Moment des Gedankens, so seine ‚moderne‘ Lesart, richtet sich auf eine unsichtbare Sinnspur im Geschehen der Welt, der es wie ein Jäger nachjagt. Die durch das ‚Spekulative‘ des Logos erzeugte Differenz zwischen Sein und Bedeutung ist das Thema des Dekonstruktivismus (J. Derrida). Ihm scheint sich Gadamers Hermeneutik lediglich in dem platonischen Gedanken anzunähern, dass Eros als Sohn von poros und penia die Philosophie als die Bewegung eines reinen ‚Zwischen‘ (der Sphäre des Göttlichen und des Menschlichen) bestimmt. 5 Von der Sprachlichkeit des Verstehens ausgehend, thematisiert Gadamer den universalen Aspekt der Hermeneutik. In Sprache und Gespräch, in Dichtung und ihrer Auslegung zeigt sich für ihn die spekulative Struktur des Denkens. In ihr sieht er einen Hinweis auf das Da-Sein einer universal-ontologischen Struktur der Sprache. Aus ihrem Vorhandensein folgt der in der Rezeption der Hermeneutik Gadamers am heftigsten umstrittene Satz: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ (GW 1, 478) Die Lesart dieses Satzes muss gegenüber den sprachphilosophischen Konzeptionen Herders und Humboldts seinen ontologischen Aussagesinn herausstellen. Sprache ist keine Leistung der Subjektivität, sie hat – entgegen dieser traditionellen Auffassung – ihren Grund in einem allem Sprechen vorgängigen Sein. Im Blick auf die spekulative Struktur der Sprache, die den universalen Aspekt der Hermeneutik begründet, heißt es in leicht hegelianisierender Sprechweise: „Die spekulative Seinsart der Sprache erweist damit ihre universelle ontologische Bedeutung. Was zur Sprache kommt, ist zwar ein anderes, als das gesprochene Wort selbst. Aber das Wort ist nur Wort durch das, was in ihm zur Sprache kommt. Es ist in seinem eigenen sinnlichen Sein nur da, um sich in das Gesagte aufzuheben. Umgekehrt ist auch das, was zur Sprache kommt, kein sprachlos Vorgegebenes, sondern empfängt im Wort die Bestimmtheit seiner selbst.“ (GW 1, 479)
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Hierzu: W. Ries, Platon für Anfänger. Symposion. Eine Lese-Einführung, München 2003.
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Sprache ist für Gadamer ein subjektfreies ontologisches Geschehen, an dem das Wort wesenhaft partizipiert. Alles Seiende kommt im Wort zur Darstellung und erhält von ihm her die ‚Bestimmtheit seiner selbst‘. Ihr gegenüber vorgängig ist das Geschehen der Sprache. Aus ihm heraus bildet sich erst die Differenz von Identität und Nichtidentität des einzelnen Seienden, die im Wort zur Sprache kommt. Würde man diese Sprachkonzeption Gadamers, die vieles seiner Rezeption von Platos Parmenides verdankt, auf die seinem Denken so fern stehende strukturalistische Linguistik übertragen, die auf die Sprachforschungen F. de Saussures in seinem Cours de linguistique générale zurückgeht, so käme man zu einer überraschenden, wenn auch nicht durchgängigen Parallelität hinsichtlich der durch sie repräsentierten Sprachauffassung. Nach de Saussure ist es die Sprache als langue, die jeder einzelnen Rede (parole) als ihrer Bedingung notwendig vorausliegt. Die Differenz zwischen Hermeneutik und Strukturalismus liegt in der ontologischen bzw. nicht ontologischen Auffassung der Sprache. Zur Diskussion des Verhältnisses von Hermeneutik und Linguistik verweise ich auf Ch. Scott: Überlieferungen jenseits von Bildern und gestohlenen Erinnerungen in dem Festschriftband Hermeneutische Wege. Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten (2000). Gegen die Abstraktion der vergegenständlichend verfahrenden Naturerkenntnis und die methodische Verfahrensrationalität der Geisteswissenschaft werden von Gadamer Kunst und Geschichte in dem ihnen zukommenden Geschehensvollzug herausgestellt. Das zukünftige Programm einer Hermeneutik, das ihrem universalen Aspekt Rechnung trägt und das sich gleichermaßen gegen den Methodologismus der Naturwissenschaft und den „idealistischen Spiritualismus einer Unendlichkeitsmetaphysik im Stile Hegels“ wendet, umreißt Gadamer mit den Worten: „Wenn wir von der Sprachlichkeit des Verstehens ausgehen, unterstreichen wir (…) die Endlichkeit des sprachlichen Geschehens, in dem sich das Verstehen jeweils konkretisiert. Die Sprache, die die Dinge führen (…) ist nicht der logos ousias und vollendet sich nicht in der Selbstanschauung eines unendlichen Intellekts – sie ist die Sprache, die unser endlich geschichtliches Wesen vernimmt, wenn wir sprechen lernen.“ (GW 1, 480) Die ontologische Wendung der hermeneutischen Erfahrung ist für Gadamer mit einem metaphysischen Grundbegriff verbunden, dem sich seine abschließenden Überlegungen in einer abschließenden Steigerung des Ge-
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dankens zuwenden. Es ist der Begriff des Schönen. Nach einem knappen Hinweis auf seine Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert kommt er zu seiner Bedeutung im antiken Denken. 6 Für griechisches Denken, das stets entzückt ist von der sinnlichen Erscheinungsfülle im Licht der Welt, steht das Schöne in einem grundsätzlichen Gegensatz zu dem nur Nützlichen. „Die schönen Dinge sind solche, deren Wert für sich selbst einleuchtet. Man kann nicht nach dem Zweck fragen, dem sie dienen. Sie sind um ihrer selbst willen vorzüglich (di’hauto haireton) und nicht wie das Nützliche um etwas anderen willen.“ (GW 1, 481) Im Griechischen ist der Begriff des kalon als Gegensatz zum aischron (Hässlichen) das „Ansehnliche“, das moralisch Sich-Geziemende. In den Frühdialogen Platos spielt der Begriff des kalon eine wichtige Rolle. Er steht dort in engster Beziehung zu dem Begriff des Guten (agathon). Die platonische Philosophie denkt ihre Verbindung so, dass die Idee des Guten mit der des Schönen in innigstem Zusammenhang steht. „Beide sind über alles Bedingte und Viele hinaus: das Schöne an sich begegnet der liebenden Seele am Ende eines durch das vielfältige Schöne führenden Weges als das Eine, Eingestaltige, Überschwengliche (,Symposion‘), genau wie die Idee des Guten, die über alles Bedingte und Viele, was nur in gewisser Hinsicht gut ist, hinausliegt (,Politeia‘).“ (GW 1, 482) Gadamer bezieht sich ausführlich auf die von Plato im Symposion dem Sokrates in seiner Jugend erzählte Lehre der Diotima über den Aufstieg der Seele zur Idee des Schönen. Das erotische Verlangen zielt auf das Schöne, auf die „Zeugung im Schönen“, die die Geburt des Sterblichen überwindet. Der vom Eros geleitete Weg der Erkenntnis zur Anschauung des Schönen wird „ans Ziel der Liebe kommend, plötzlich ein wundersam Schönes erblicken“ (Symposion, 210 E). Der vom Eros Geleitete und Eingeweihte wird auf der letzten Stufe seines Aufstiegsweges den Bereich des „göttlich Schönen“ (theion kalon) und des immerwährenden Seins berühren. Die Einweihung endet im Triumph eines mystischen Augenblicks. In der Philosophie der Antike und des Mittelalters ist die Idee des Schönen mit einer teleologischen Seinsordnung verbunden. In dieser Ordnung bilden Kunst und Natur keinen Gegensatz. Erst das 19. Jahrhundert ersetzt den platonisch bestimmten Begriff des Schönen durch den Begriff der „Schönheit“ mechanischer Konstruktion. Gadamer spricht in diesem Zu-
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Hierzu: E. Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1980.
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sammenhang von einem Umschichtungsprozess, „durch den das Naturschöne schließlich seinen Vorrang so sehr verliert, dass es als Reflex des Geistes gedacht wird“ (GW 1, 484). Für die Frage nach dem hermeneutischen Wert des rätselhaften Phänomens des Schönen ist erneut der Rückgang auf Plato erforderlich, hat er doch der Schönheit im Reich des Seienden eine alles überragende Rolle zugeschrieben. „Die Basis der engen Verknüpfung der Idee des Schönen mit der der teleologischen Seinsordnung ist der pythagoreisch-platonische Maßbegriff. Plato bestimmt das Schöne durch Maß, Angemessenheit und Proportioniertheit, Aristoteles nennt als die Momente (eide) des Schönen Ordnung (taxis), Wohlproportioniertheit (symmetria) und Bestimmtheit (horismenon) und findet dieselben in der Mathematik in exemplarischer Weise gegeben.“ (GW 1, 482 f.) Für Plato – und darin ist er ganz Grieche und ‚Erotiker‘ – ist das Schöne als das Erscheinende in seiner Helligkeit greifbarer als das Gute. Gadamer zitiert an diesem Punkt seiner Überlegungen die berühmte Stelle aus dem Phaidros (250 d 7): Denn „der Schönheit allein ist dies zuteil geworden, dass sie das am meisten Hervorleuchtende (ekphanestaton) und Liebenswerte ist.“ An dem Glanz des Schönen wird ein ontologisches Strukturmoment, ja eine „universale Struktur des Seins selber“ sichtbar. Für Gadamer liegt diese Sichtbarkeit in der einzig durch das Schöne realisierten Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung. Wie diese Vermittlung zu denken ist – etwa im Begriff der Teilhabe (methexis) –, ist bekanntlich die ‚metaphysische Crux‘ des Platonismus. Das umstrittene Verhältnis der Teilhabe der Erscheinungswelt an den Ideen verdeutlicht Plato am Beispiel des Schönen. Die Idee des Schönen, darin liegt ihre Auszeichnung vor allen anderen Ideen, hat ihre sinnliche Anwesenheit in dem, was schön ist. „Schönheit mag noch so sehr wie der Abglanz von etwas Überirdischem erfahren werden – sie ist doch im Sichtbaren da.“ (GW 1, 485) Man denke bei diesem ‚Da‘ an die Sixtinische Madonna von Raffael. Blickt uns in der Maria mit dem Christusknaben nicht ein Urbild des Schönen an? Oder man erinnere sich an Hölderlins Elegie Brod und Wein, deren erste Strophe unter dem Titel Die Nacht 1807 erschienen ist. Ihre letzten sechs Strophen, welche die Nacht als das mythische Urbild eines göttlich Schönen heraufbeschwören, „erweitern das Gedicht schließlich über das Gesellschaftliche, Natürliche, Historische hinaus ins Kosmische
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und drängen den Menschen in die Rolle des überwältigten, nicht begreifenden Bewunderers“ 7 : „Sieh! Und das Schattenbild unserer Erde, der Mond Kommet geheim nun auch: die Schwärmerische, die Nacht kommt Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns, Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen Über Gebirgshöhn traurig und prächtig herauf.“ Ein faszinierendes Moment in Gadamers Überlegungen zum Phänomen des Schönen sehe ich in dem Hinweis, dass in der trüben Welt menschlicher Erfahrung Schönheit nur zuweilen aufblitzt und vergeht. An dem ‚Wunder‘ dieser Epiphanie erhellt sich die besondere Bedeutung des Augenblicks. „Plötzlich scheint sie (die Schönheit – W. R.) auf, und ebenso jäh und ohne Übergänge, unvermittelt, ist sie vergangen. Wenn man mit Plato von einem Hiat (chorismos) zwischen Sinnlichem und Ideellem sprechen muß: hier ist er, und hier ist er zugleich auch geschlossen.“ (GW 1, 485) Beim Schönen ist sein ‚Hervorscheinen‘ bedeutsam. In ihm ist seine Seinsweise begründet. Im Schönen ereignet sich jene ‚Offenbarkeit‘ (aletheia), von der Plato im Philebos (51 d) spricht. Schönheit ist, griechisch gedacht, das Glänzende, das Aufscheinende. K. Schefold hat in seiner Abhandlung über die griechische Kunst darauf verwiesen, dass der Aphrodite des Praxiteles „ein fast überirdisches Leben im Licht“ eignet, „eine zart gleitende Oberfläche mit feinen Schatten, die durch das Durchsichtige des Marmors aufgehellt werden.“ 8 Das Schöne hat, so Gadamer, die Seinsweise des Lichtes. Es verleiht den Weltphänomenen das „Numinose der Form“ (K. Schefold). Der philosophische Terminus ‚Reflexion‘ gehört, dies ein weiterer Hinweis Gadamers, ursprünglich in den Bereich der Optik. Das griechische Denken hat seit Parmenides die „Reflexionsverfassung des Lichtes hervorgehoben“ (GW 1, 486). Das Proömium des Lehrgedichts des Parmenides berichtet in Ich-Form von der
7 G. Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, München 1983, S. 669. 8 K. Schefold, Griechische Kunst als religiöses Phänomen, Hamburg 1959, S. 118.
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Fahrt in einem von Stuten gezogenen- und von Sonnenmädchen begleiteten Wagen in einen Bereich jenseits der Bahnen der Nacht und des Tages. Der im Haus des Lichts Angekommene wird von einer Göttin huldvoll begrüßt. Sie offenbart ihm die Wahrheit des Seins. Wie ich in meiner Philosophie der Antike (2005) ausgeführt habe, ist die Seinslehre des Parmenides über eine Lichterfahrung vermittelt. Reflexion im Sinne der Vermittlung von menschlicher Wahrheit und göttlichem Licht ist bei Plato, Plotin, Augustinus und Thomas von Aquin ein Grundthema ihres philosophischen Denkens. Bei Thomas lesen wir: „Im Lichte der Ur-Wahrheit erkennen und beurteilen wir alles: da ja das Licht unserer Erkenntniskraft selbst, das natürliche wie das gnadenhaft geschenkte, nichts anderes ist als eine Einprägung der UrWahrheit.“ (Summa theologiae I, 88, 3 ad i) Gadamer greift auf platonisches und neuplatonisches Gedankengut zurück, wenn er die Verbindung zwischen dem Licht und einem jenseitigen Reich des Noetischen hervorhebt. Sie wird für ihn dadurch unterstrichen, dass die neuplatonische Lichtmetaphysik und die christliche Lehre vom verbum einander verwandt sind. Was ihn an dieser Verwandtschaft interessiert, ist die enge Beziehung zwischen „dem Vorscheinen des Schönen und dem Einleuchtenden des Verständlichen“ (GW 1, 487). Für die Beantwortung der Frage, welche Bedeutung das von Schelling thematisierte Rätsel hat, dass aus einem ewigen Seinsgrund der Logos hervorgeht und sich in die Zeit einlässt, wird für ihn Augustinus wichtig. Auf den letzten Seiten von Wahrheit und Methode weist er auf dessen Genesiskommentar hin. In ihm ist das göttliche Schöpfungswort eine ‚geistige Lichtwerdung‘, durch die dem Geist die Unterscheidung des von Gott Geschaffenen möglich wird. In dieser augustinischen Deutung der Genesis erkennt Gadamer einen ‚Vorklang‘ für eine spekulative Sprachauffassung, nach der aus der Einheit des Wortes die Vielheit des Gedachten geboren wird. Auch wenn sich die Lichtmetaphysik geschichtlich von der Substanzmetaphysik gelöst hat, kommt ihr gleichwohl eine für das Selbstverständnis der Hermeneutik zentrale Bedeutung zu: „Dass Sein Sichdarstellen ist und dass alles Verstehen ein Geschehen ist, diese erste und diese letzte Einsicht überschreiten in gleicher Weise den Horizont der Substanzmetaphysik wie auch die Metamorphose, die der Begriff der Substanz in die Begriffe der Subjektivität und der wissenschaftlichen Objektivität hinein erfahren hat.“ (GW 1, 488)
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In der Metaphysik des Schönen, an der Gadamer nach der Verfallsgeschichte der Metaphysik festhält, kommt jener von ihm betonte Ereignischarakter der Kunst zum Vorschein, wie er am Schönen sichtbar wird. Begegnen wir – in jenen seltenen Augenblicken des Lebens – dem Schönen als solchem, so sind wir durch seine Wirkungsmächtigkeit so geblendet, dass es keiner Mühe des Verstehens bedarf, um zu „wissen“: in seiner Epiphanie zeigt sich die „Wahrheit“ der Erscheinung unmittelbar. Der Überwältigung durch den Augenblick eines plötzlichen Innewerdens dieser Unmittelbarkeit eignen Züge eines mystischen Erlebens. Authentische hermeneutische Erfahrung bewährt sich im Gang des philosophischen Gesprächs an dem, was seinen Teilnehmern ‚einleuchtet‘. Dieses Einleuchtende kommt für Gadamer in einem sokratischen Sinn der Bewegung des Denkens zu. „Es wird dabei immer mitgedacht, dass das Einleuchtende nicht bewiesen und nicht schlechthin gewiss ist, sondern sich innerhalb des Möglichen und Vermutlichen als ein Vorzügliches zur Geltung bringt.“ (GW 1, 489) Die Weise, in der dieses ‚Vorzügliche‘ erscheint, gleicht dem Aufscheinen eines Lichtes, das die Dinge in eine Beleuchtung taucht, die sie uns anders sehen lässt als die Gewohnheit unseres Sehens in der Höhle Platos. Das Schöne, das Einleuchtende vertieft unsere Erfahrung aus dem Grund, dass es an den Dingen ein in ihnen verborgenes Sein zum Vorschein bringt. Wie wir das Schöne erfahren, hat zu ihrer zunächst unartikuliert bleibenden Voraussetzung die Endlichkeit unserer Existenz. Ihr wird von der Idee des Schönen jeweils nur ein ‚Vorschein‘ gewährt. Es ist die Einsicht in diese Begrenztheit, die bei Gadamer zu einer kritischen Abgrenzung gegenüber den Erscheinungsformen einer ‚Geistphilosophie‘ führt, die als Ontotheologie alles Seiende auf einen Gott beziehungsweise einen Geist hin ausrichtet, der es „aus sich selbst entfaltet und in der vollen Selbstanschauung seiner selbst alles Denkbare denkt“ (GW 1, 490). In der Einleitung zu dem von ihm übersetzten und kommentierten zwölften Buch der Metaphysik des Aristoteles weist er auf die ‚unabsehbare Bedeutung‘ hin, die den in ihm gemachten Aussagen über die Seinsweise des ersten unbewegten Bewegers als der des denkenden Geistes für die Geschichte des abendländischen Denkens zukommt. Zugleich aber hat er in seinem Kommentar auf die Grundaporie hingewiesen, die darin liegt, dass ‚Denken‘ immer ‚etwas denken‘ ist „und ein Denken, das nicht etwas anderes, sondern sich selbst denken soll, leer erscheint.“ In dieser und anderen Bemerkungen kommt Gadamers Misstrauen einer Selbstüberschätzung endlicher Vernunft gegenüber zum Ausdruck, gegen die er sich ironisch zur Wehr gesetzt hat, ohne in die Attitüde Nietz-
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sches einer Verdammung der rationalen Kraft der Vernunft einzustimmen. Das Faszinierende an den hermeneutischen Überlegungen Gadamers kann man sich in zweierlei Hinsicht erklären. Zum einen bewegen sie sich in einem beständigen Hin und Her von Zustimmung und Kritik der philosophischen Tradition und vermitteln so ein Abbild der Unruhe des Denkens, zum anderen spüren sie – wie am Beispiel der platonischen Schönheitslehre – den geheimen mystischen Unterströmungen nach, die in dem Fluss der Philosophie sich mit seinen logischen Strömungen kreuzen. Welche überragende Bedeutung Plato für Gadamer hat, wird erneut daran ersichtlich, dass er es für ihn gewesen ist, der das Schöne als ein Wesensmoment der aletheia bestimmt hat. Es ist, von ihm her gedacht, „die metaphysische Auszeichnung des Schönen, dass es den Hiat zwischen Idee und Erscheinung“ (GW 1, 491) schließt. Im Schönen ist die platonische Differenz zwischen der Idee und ihrer Abschattung als ‚Bild‘ aufgehoben. Analog zu ihm ist das Sein des Kunstwerkes zu bestimmen. In ihm gewinnt das Ereignis der Wahrheit zuweilen eine so überwältigende Präsenz, dass die Zweideutigkeit, die der dichterischen Aussage anhaftet, zu verschwinden scheint. In seinem späten Beitrag Nietzsche – der Antipode. Das Drama Zarathustras (1984) hat Gadamer das mystische Ereignis der Wahrheit als das „Aufgehen im Da des Augenblicks“, die Verwandlung des Daseins in Gesang, bestimmt. Es ist die Weisheit des Alters, die ihn die eindrucksvollen Sätze hat schreiben lassen: „Aber das Ende des Dritten Teils (des Zarathustra – W. R.) sagt alles. Unvergesslich die Szene, in der Zarathustra – damals – das Leben lieber war als je alle seine Weisheit. Es ist die Trauer des kühlen Abends, aber vor allem die Rührung des nahen Abschieds darin: ,Sie weinten miteinander‘ – ohne Klage, leicht.“ (GW 4, 462) Gleichwohl ist daran zu erinnern, dass an den großen Kunstwerken, wie etwa den platonischen Dialogen, die Wahrheit nur mit Mühe zu erfassen ist, so wie es bei den Sprüchen des Orakels der Fall ist. Auf sie trifft zu, was Heraklit von Apollon, dem Gott von Delphi, gesagt hat: „Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und (ver)birgt nichts, sondern er bedeutet.“ (DK 22 B 93) Es ist die „Würde“ der hermeneutischen Erfahrung, dass die Überlieferung der abendländischen Denktradition durch die „zirkuläre Dynamik“ (G. Reale) von Schrift und indirekter Rede zu einer sich ständig erneuernden Lebendigkeit erwacht. In Abwandlung einer berühmten Passage aus
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dem 7. Brief Platos könnte man sagen, dass sie in der Seele des sie Empfangenden ein Licht anzündet, das ihr eine verborgene Wahrheit der Dinge erhellt. Aber erst der sprachliche Vollzug stellt dieses Erkenntnisgeschehen in die Helle des Bewusstseins. Seine höchste Steigerung erfährt es im Kunstwerk. Gadamer denkt bei ihm vorzugsweise an das Gedicht, dem seit jeher seine Liebe galt. Seine poetischen Studien (GW 9) widmen sich vorrangig der Interpretation von Gedichten Hölderlins, Rilkes, Celans. Seiner Zuwendung zur Dichtung korrespondiert eine Grundthese seiner Hermeneutik. Nicht die am Ideal der Methode orientierten Texte und Theorien, sondern die Sprachwelten der Literatur, die bildende Kunst und die Tonwelten der Musik vermitteln uns eine Ahnung von einem Geschehen, in dessen Tonalität das stumme Fließen der Zeit hörbar ist. Es ist der Beachtung wert, dass uns die Werke der Kunst eine weitere Erfahrung der Zeit vermitteln. Sie führt uns vor Augen, welche Erkenntnislinien einem langen Leben eingraviert sind und welche Fallrichtung ihm eignet: „Denn vieles lagern ab die langen Tage Näher zum Kummer hin, doch von der Freude Siehst du nicht, wo sie bleibt, Wenn einer länger ins Leben geriet. Als Befreier, der alles gleich macht, Kommt dann, wenn des Hades Schickung Brautliedlos, ohne Leier, Ohne Reigentanz erscheint: Nur der Tod zuletzt.“ (Sophokles, Ödipus auf Kolonos, 1212) Die Sprachspiele der Kunst, die um einen imaginären Mittelpunkt kreisen, bezeugen für Gadamer die von ihm herausgestellte Bedeutung des Spiels. „Wie sich das Gewicht der Dinge, die uns im Verstehen begegnen, gleichsam ausspielt, das ist selber ein sprachlicher Vorgang, sozusagen ein Spiel mit Worten, die das Gemeinte umspielen.“ (GW 1, 493) Der Spielbegriff Gadamers, gedacht in seiner Anwendung auf das Risiko des Verstehens, rückt aus seiner ästhetischen Unverbindlichkeit heraus und gewinnt an der Welt erschließenden Daseinsleistung des Verstehens seine Bedeutung. „Wer versteht, ist schon immer einbezogen in ein Geschehen, durch das sich Sinnvolles geltend macht. So ist es wohlbegründet, dass für das hermeneutische Phänomen derselbe Begriff des Spiels gebraucht
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wird, wie für die Erfahrung des Schönen. (…) Was uns in der Erfahrung des Schönen und im Verstehen des Sinnes der Überlieferung begegnet, hat wirklich etwas von der Wahrheit des Spiels. Wir sind als Verstehende in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen, was wir glauben sollen.“ (GW 1, 494) Diese berühmten Sätze erwecken bei der Lektüre die Erinnerung an die geistige Physiognomie Gadamers als Lehrer, den seine Studenten in der Zeit seines Alters liebevoll den „Sokrates mit Gehstock“ (D. J. Schmidt) nannten. Zugleich verweisen sie über alles Persönliche hinweg auf unser Schicksal, Mitspieler in einem Spiel zu sein, das allem unserem Verstehen voraus liegt. Es ist philosophische Weisheit, die weiß, dass wir auf der Theaterbühne des Lebens jenen Schattenfiguren vor der Kulisse eines dunklen leeren Hintergrundes gleichen, deren Bewegungen wie durch die unsichtbare Hand eines unbekannten Spielleiters gelenkt wird. Bei Gadamer ist ihre Bitterkeit gemildert. So hat er Wahrheit und Methode ein Gedicht Rilkes vorangestellt, das davon spricht, dass erst, wenn wir „Fänger des Balls“ werden, den „eine ewige Mitspielerin“ uns zuwirft, „FangenKönnen“ ein Vermögen ist, eine Fähigkeit, die in der Möglichkeit der hermeneutischen Erfahrung zur Erfüllung kommt. Auf sie geht J. Grondin ein, wenn er in seinen Überlegungen zu dem Rilkegedicht schreibt: „Aber wir sind es, die den Ball fangen und die einer Welt vermögend sind. Dieses Vermögen, das weniger ein Tun als ein Erleiden, ein Pathos ist, ist für Gadamer das Verstehen. Seine philosophische Hermeneutik wird versuchen, dieses Verstehen zu verstehen. Sie ist buchstäblich ein Begreifen dessen, was uns ergreift (…).“ 9 Die Inanspruchnahme der Methode in der Logik der Wissenschaft garantiert Richtigkeit, aber sie erschließt, anders als die Kunst, keine ontologische Wahrheit als ein Geschehen des Seins. Auf diese These, die Gadamer mit Heidegger verbindet, kritisch zu reflektieren, ist eine Aufgabe der Geisteswissenschaften, und sie gilt in besonderer Hinsicht für den Wissenschaftsanspruch der Philosophie. Über ihn zu entscheiden, falls er entscheidbar ist, ist die Streitsache der ‚Theoretiker‘. Die unbestreitbare humane Bedeutung der Philosophie in einer Zeit der Dunkelheit und der Verwirrung gewinnt für Gadamer dadurch an Konkretheit, dass der in ihr Denkende sich mit seinem Denken selbst aufs Spiel setzt. In diesem Verständnis eines ‚Einsatzes‘ des Denkens, der einen fragwürdigen Welt9
J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 24.
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zustand durch ihn zu überwinden sucht, berühren sich Hermeneutik und Existenzphilosophie im Sinne Kierkegaards. Darüber hinaus gilt das Wort des Simmias an Sokrates nach dessen Mysterienrede über die Schwäne des Apollon in Platos Phaidon: „Ich denke über diese Dinge ungefähr so wie Du: dass es in diesem Leben unmöglich oder doch sehr schwierig ist, etwas Sicheres darüber zu wissen, dass es aber deshalb nötig ist, auf jede Weise zu prüfen, was darüber gesagt wird (…) Denn eines muss man doch in diesen Dingen erreichen: entweder von einem anderen lernen, wie es damit steht, oder es selbst herausfinden. Wenn das aber unmöglich ist, dann doch wenigstens den relativ besten der menschlichen Beweise dafür zu ergreifen und auf ihm wie auf einem Floss das Leben zu durchschwimmen suchen – falls man nicht sicherer und gefahrloser auf einem zuverlässigeren Fahrzeug, etwa einem göttlichen Worte hindurchschiffen kann.“ (Phaidon, 85 c 1–d 3) Was die hermeneutische ‚Methode‘, die in den Worten des Simmias Ausdruck gewinnt, nicht zu leisten vermag, das kompensiert „eine Disziplin des Fragens und des Forschens, die Wahrheit verbürgt“ (GW 1, 494). Die „Wahrheit“, die der Logik des wissenschaftlichen Denken zuteil wird, ist eine endliche. In der Anerkennung ihrer Begrenztheit liegen die Demut und der Stolz endlicher Vernunft.
Teil IV Ausblicke
Es ist der Vorzug von Gadamers Hermeneutik, dass sie die Begrenztheit philosophischer Theorien auf dem Hintergrund endlicher Vernunft aufzeigt und sie damit in einen geschichtlichen Vermittlungszusammenhang stellt. Ausführlich ist Gadamer auf dieses Problem der Vermittlung bereits 1971 in seiner Replik auf die theoretischen Ansätze einer kritischen Reflexionswissenschaft eingegangen, die von J. Habermas im Rahmen einer ‚emanzipatorischen Reflexion‘ entfaltet wird, wie sie in der Marxschen Theorie und in der Psychoanalyse Freuds vorliegt. Er konfrontiert sie im Rahmen von Kritik und Zustimmung mit seinem Verständnis einer hermeneutischen Reflexion, die in einem sokratischen Sinn in den Sprechakten ein ‚inadäquates Selbstverständnis‘ zerstört. Sie enthält in sich einen ideologiekritischen Impuls, da sie die Vorurteilsstrukturen in den menschlichen Meinungen und der Sprache aufdeckt. Sie ist aber nie bloß Ideologiekritik, deren ‚Götter‘ Marx, Nietzsche und Freud sind. Nicht ablösbar von einer hermeneutischen Praxis, ist sie die Arbeit des Denkens an den „Sachen“ der Überlieferung und an den Paradigmen des ‚Sinnverstehens‘ in Religion, Philosophie und Kunst. Diese Arbeit ist weder abschließbar, noch impliziert sie einen Erkenntnisfortschritt, wohl aber erschließen sich ihr die Konturen einer ‚Wahrheit‘, deren Stimme durch die Jahrhunderte hindurch uns anspricht. Wenn Habermas Gadamer zum Vorwurf macht, er verkenne „die Kraft der Reflexion, die sich im Verstehen entfaltet“, so wirft dies erneut die Frage nach dem Verhältnis von emanzipatorischer und hermeneutischer Reflexion auf. Gadamer kann sich in diesem Zusammenhang gegenüber seinen Kritikern darauf berufen, dass die Reflexion nur in der Anverwandlung der Tradition die Freiheit neuen Fragens gewinnt, indem sie diese in einer problematischen und aporetischen Gestalt neu rekonstruiert. Seine Hermeneutik weiß sich durch das Geschichtlichwerden aller überlieferten Antworten auf die ewigen Fragen der Philosophie in einer Weise bereichert, deren sich eine ausschließlich auf die Selbstbegründung der Vernunft gegründete emanzipatorische Reflexion niemals zu vergewissern vermag. Insofern ist die sokratische Gestalt der Philosophie das unüberholbare Modell jeder Reflexion, da sie die Teilnehmer am hermeneutischen Gespräch zwingt, sich dem Anspruch der Vernunft auf stringente Begründung ihrer Überzeugungen zu beugen, ohne diese selbst in ihrer je endlich-geschichtlichen Gestalt zu verabsolutieren. Mag die Kritik an
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Gadamer in einzelnen Punkten Bestand haben, so verkennt sie doch grundsätzlich, dass wir im Bereich der Hermeneutik, zumal was ihre Applikation auf die geschichtlichen Prozesse des Lebens angeht, über ein revidierbares Wissen niemals hinauskommen. Gleichwohl hält Gadamer an einem eminenten Wahrheitsbegriff fest, der nicht zufällig im ästhetischen und ethischen Applikationshorizont aktuell wird. Denn wer nach dem Guten fragt, ist in sokratisch-platonischer Sicht selbst eine Gestalt der Wahrheit, wie diese in bestimmten Zeugnissen der Kunst sinnliche Konkretion erlangt. Was die Philosophie angeht, die nie Expertenwissen ist, so beweist sie ihre Lebendigkeit in der Bildung von Theorien, auf die sie – in kritischer Prüfung – reflektiert. Stellt sie nach dem Ende der Metaphysik die Frage nach dem Ganzen des Seins und der ungesicherten Stellung des Menschen in ihm, kann sie weder zu einer Ersten Philosophie (Aristoteles) zurückkehren, noch die Figur einer theoretischen Wissenschaft annehmen. Wie K. Albert in seinem Buch Griechische Religion und platonische Philosophie (1980) ganz im Sinne Gadamers eindrucksvoll ausgeführt hat, ist philosophisches Fragen ursprünglich weder einzelwissenschaftliches Wissen noch die Reflexion auf dieses Wissen. Es ist, wie er zu Recht hervorhebt, sui generis. Zu einer mit ihm verbundenen mystischen Erkenntnis, die niemals positives Wissen werden kann, führt der Weg, den Plato im Symposion den Worten der Einweihungsrede der Diotima anvertraut hat. An seinem Ende ist die Philosophie aufgehoben in einer höchsten Schau der Idee. Die Grenze der philosophischen Methode hat der mit dem Denken Gadamers in manchen Zügen verwandte P. Ricœur immer wieder thematisiert. Indem das Denken die cartesische Gewissheit des „Ich denke“ als eine nichtige und leere Abstraktion in Frage stellt, „begreift die Reflexion, dass sie nicht in erster Linie Wissenschaft ist, dass sie, um sich zu entfalten, die undurchsichtigen, zufälligen und zweideutigen Zeichen wieder in sich aufnehmen muss, die in den Kulturen, in denen unsere Sprache wurzelt, verstreut liegen“. 1 Da Gadamer seine Hermeneutik als Gespräch verstanden hat, war er stets offen für Kritik an den von ihm vertretenen Positionen; er hat sie, wo sie ihm berechtigt erschien, anerkannt. Auf einer für das hermeneutische Denken konstitutiven Tatsache hat er jedoch uneingeschränkt bestanden: der Anerkennung des Unterschiedes zwischen Gott und Mensch. Er
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P. Ricœur, Die Zuflucht der Reflexion zum Symbol, in: Hermeneutische Philosophie, hg. v. O. Pöggeler, München 1972, S. 272.
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Teil IV
zwingt uns, auf ein absolutes Wahrheitskriterium, das nur ein göttliches sein könnte, zu verzichten. Das philosophische Selbstverständnis der Hermeneutik knüpft an ihren ursprünglich antiken Sinn an, das ‚Fremde‘, sei es der unerforschliche Wille der Götter oder eine heilige Botschaft, zu ‚übersetzen‘. Ihr moderner Aspekt bezieht sich demgegenüber in vielfacher Weise auf das Gebiet der Literatur, deren Klassiker sie darauf hin auslegt, was die durch sie zur Darstellung gebrachte conditio humana für ein wirkungsgeschichtliches Bewusstsein bedeutet. Seine wahre Legitimation findet das hermeneutische Phänomen jedoch in dem, was Gadamer die Erfahrung der Geschichte nennt. Sie erkennt in ihr keine Vernunft im Sinne Hegels, sondern sie entdeckt in der ‚dunklen Kontingenz‘ des Faktischen der Geschichte nur ‚Sinnfragmente‘, die sie zu entziffern und im Erinnern zu bewahren versucht, bevor der Wind der Zeit über sie hinwegfegt und sie im Vergessen verschwinden.2 Die Arbeit der Hermeneutik ist Erinnerungsarbeit. Die Vergeblichkeit ihrer Anstrengung, die sich dem Malstrom der alles verschlingenden Zeit entgegenstemmt, zeigt tragische Züge. Bei Gadamer sind sie herabgestuft zu einem melancholischen Blick auf die Geschichte der Überlieferung. In einem finsteren Zeitalter des Kampfes fundamentalistischer Weltanschauungen, die nach der Aufklärung und ihren ohnmächtigen Siegen erneut auf die Errichtung einer Theokratie pochen, deren Anhänger bereit sind, sie unter dem Opfer ihres Lebens mit Gewalt herbeizuführen, ist es von größter Bedeutung, dass Gadamer alle seine Hoffnung auf den Dialog gesetzt hat. Seine Teilnehmer müssen in ihm ihre Vorurteile wechselseitig auf die Probe stellen, um am Ende des Gesprächs einzusehen, dass sie durch die Berufung auf die heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen nicht zu rechtfertigen sind. Das Ideal eines solchen Dialogs wäre eine Erkenntnis aus dem Geist der Aufklärung: „Es ist die Idee der Vernunft selbst, die auf die Idee des allgemeinen Einverständnisses nicht verzichten kann. Das ist die Solidarität, die alle eint.“ 3 Eine realistische Sicht auf den Menschen, die an Hobbes und den französischen Moralisten geschult ist, wird jedoch zugeben müssen, dass es mit der von Gadamer geforderten Solidarität sehr mangelhaft bestellt ist. Gadamer ist, wie mehrfach betont, in einem andauernden Gespräch mit Plato, Aristoteles und Hegel. Vor allem seine Auseinandersetzung mit 2 H.-G. Gadamer, Replik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M., S. 302. 3 Ebd., S. 309.
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Hegel dokumentiert seinen Abschied vom Deutschen Idealismus. So schreibt er im Blick auf die Phänomenologie des Geistes: „Vollendete Erfahrung ist nicht Vollendung des Wissens, sondern vollendete Offenheit für neue Erfahrung. Das ist die Wahrheit, welche die hermeneutische Reflexion gegen den Begriff des absoluten Wissens geltend macht.“ 4 Hermeneutische Praxis ist keine Sozialtechnik, sie ist überhaupt keine Technik, sondern ein von Vernunft geleiteter Umgang mit dem Formenspiel des Lebens. Sie erfordert eine Anerkennung der Rhetorik, deren Rehabilitierung Gadamer in Wahrheit und Methode dadurch ins Werk gesetzt hat, dass er sie aus dem Schatten der Kritik Platos an der Sophistik – unter anderem unter Berufung auf Vico – herausgeholt hat. Schon in der Orestie des Aischylos ist es Athene, die durch ihre Kunst der Überredung den Blutdurst der Erynien besänftigt. Für Aristoteles ist die Rhetorik keine techne, sondern eine dynamis, welche die Sprachfähigkeit des Menschen im politischen Leben unter Beweis stellt. Aristoteles ist für Gadamer aus dem Grunde von tragender Bedeutung, weil er die Idee des Guten bei Plato in den Vollzug der menschlichen Praxis übersetzt hat. L. Honnefelder hat diese Bedeutung in seiner Interpretation der aristotelischen Ethik hervorgehoben: „Aristoteles teilt Platons Verankerung der praktischen Wahrheit in einer taxis der Ideen nicht, behält aber das sokratische Projekt (die Frage nach dem guten Leben – W. R.) bei und bringt es in seiner Ethik zu einer unser Denken bis heute bestimmenden Entfaltung. Die Frage nach dem als verbindlich erkannten Guten ist stets die Frage nach dem Besseren, die Frage ‚Wer will ich sein?‘ stets die Frage nach dem für mich Besten, nämlich nach dem gelungenen Leben, das er als eudaimonia bezeichnet. Die praktische Frage ist die nach der Gestalt meines Verhältnisses zu mir selbst, und diese Gestalt ist Resultat einer Überlegung, die das praktisch Wahre erfasst, indem sie das konkrete Handeln auf die dem Subjekt eigene Strebensnatur einerseits und das Ganze eines gelungenen Lebens andererseits bezieht.“ 5 Gadamers Stellung zu der Idee des Guten könnte man so charakterisieren: Was das (moralisch) Gute ist, lässt sich weder über die Hypostasierung
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Ebd., S. 311. L. Honnefelder, Was soll ich tun? Wer will ich sein?, Berlin University Press 2007, S. 20. 5
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Teil IV
seiner Idee (Plato) definieren, noch lässt es sich wie bei Kant aus der „formalen Struktur der Vernünftigkeit des praktischen Wissens“ (L. Honnefelder) deduzieren. Es gewinnt seine Evidenz am konkreten Beispiel guten Handelns, doch ist diese Position insofern keine bloß ethische, als für Gadamer das Gute gegenüber der menschlichen Lebenspraxis transzendent bleibt. In Platos Politeia sagt Sokrates über das Gute, das dem Menschen in der Welt der Erfahrung nie als eine objektive Gegebenheit vor Augen steht, vielmehr als eine Ahnung des Menschen die Sehnsucht seiner Seele auf sich zieht: „Eine jede Seele also strebt dem Guten nach und lässt um seinetwillen nichts ungetan. Denn sie ahnt, dass es etwas sei, ist aber unsicher und vermag es in seiner wahren Bedeutung nicht hinreichend zu erfassen, kann auch nicht zu einer festen Überzeugung darüber gelangen, wie bei den anderen Dingen.“ (Politeia, 505 d 11-c 5) Gadamer, der die Suche der Seele nach einem Guten, das in den ‚Tatsachen‘ des Lebens nicht auffindbar ist, stets gewürdigt hat, beruft sich gleichwohl auf Aristoteles und seine Kritik an Plato, wenn er schreibt: „Als allgemeine Idee ist eine Idee des rechten Lebens ‚leer‘.“ 6 Was das ‚rechte Leben‘ ist, kann uns an dem Leben und Sterben des Sokrates aufgehen, es kann uns deutlich werden, wenn wir die Nikomachische Ethik des Aristoteles lesen oder die Texte der Stoiker studieren. Nie aber an den Traktaten derer, die zu wissen vorgeben, was das rechte Leben ist, und die mit der Anmaßung ihres Herrschaftswissens ihre Mitmenschen traktieren. Weder die religiöse noch die philosophische Begründung ethischer Normen hat in der Geschichte eine herausragende Wirkung entfaltet. Es gibt in ihr keinen moralischen Fortschritt des Menschengeschlechts. Was nun den anhaltenden Kampf der Werte angeht, in dem es darum geht, auf welche ethischen Voraussetzungen sich eine offene Gesellschaft verpflichtet, so kann über ihn nur in der Weise eines sokratischen elenchos entschieden werden, der auf die Vorurteilsstrukturen in tradierten Systemen reflektiert. Auch wird er unter dem Zeichen der Aufklärung geführt werden müssen, wenn er sich dagegen zur Wehr setzt, dass es eine von außen her institutionell auferlegte Entscheidung seines Ausgangs gibt. Als ein Zeuge der Katastrophen seines Jahrhunderts hat Gadamer, ausgehend von der ästhetischen Idee des Spiels, darauf hingewiesen, dass das Ideal einer praktischen Vernunft sich 6
H.-G. Gadamer, Replik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971, S. 316.
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im gesellschaftlich-politischen Leben lediglich in einem labilen Gleichgewicht zwischen einem ‚Spiel der Kräfte‘ und einem ‚Spiel der Überzeugungen, Argumentationen und Erfahrungen‘ bewährt. In einer Demokratie, die diesen Namen verdient, baut sich durch die Dialektik dieser ‚Spiele‘ eine Gemeinsamkeit auf, die den Kampf partikularer Interessen und Verbände übertrifft. Gadamers Wahrheit und Methode kann jenseits seiner hermeneutischen Intentionen auch als ein Beitrag zu einer solchen Gemeinsamkeit gelesen werden, die unter der Führung praktischer Vernunft steht. Es bleibt indes eine offene Frage, ob seine humane Berufung auf die Überzeugungskraft der phronesis die destruktiv-irrationalen Kräfte in der menschlichen Natur zu bändigen vermag. Gadamers Hermeneutik, welche die universale Sprachlichkeit unserer Welterfahrung thematisiert, ist gleichwohl keine Sprachphilosophie. Sie zeigt vielmehr Züge einer Kunstphilosophie, insofern es ihr um die Aufdeckung eines ontologischen Wahrheitsgeschehens in der Kunst geht. Ist das menschliche Dasein offen für das Sich-Zeigen von ‚Sinn‘, dann ist dieses hermeneutische Phänomen mit einer unhintergehbaren Geschichtlichkeit in jedem Akt des Verstehens von Welt und Dasein verbunden. Das heißt: Eine irrtumsfreie Erkenntnis gibt es nicht. Diese These Gadamers, die ein Motiv von Nietzsches Erkenntniskritik aufnimmt, bezieht sich in erster Linie nicht auf Logik und Erkenntnistheorie, sondern auf den in der Epoche des Deutschen Idealismus erhobenen Anspruch der Vernunft, Geschichte sei als der Prozess der in die Welt sich entäußernden Manifestationen des Geistes transparent zu machen. Verstehen im Strom der Zeit bedeutet für Gadamer, dass unser Dasein in ein Überlieferungsgeschehen einrückt, in dem die Horizonte des Vergangenen und des Gegenwärtigen verschmelzen, ohne endgültig ineinander aufzugehen. Ein verstehendes Daseinsverhalten zu den Zeugnissen der Überlieferung in Kunst, Geschichte und Philosophie ist durch die Dialektik von Frage und Antwort bestimmt. In ihr ist jede ‚Wahrheit‘ dieser Hinterlassenschaft die Antwort auf eine durch den Geist der Epoche gestellte Frage, die über sich hinaus auf neue, noch unerprobte Fragestellungen verweist. Was das dialektische Moment des Verstehens angeht, so ist es in der spekulativen Reflexionsstruktur der Sprache verankert. Jeder einzelne Satz spiegelt eine Unendlichkeit an Sinn wider, die es gilt, im Gespräch als das Echo eines Unsagbaren mitzuhören. Das hermeneutische Phänomen erreicht seine Erhellung in einer Betrachtung des Wortes. Sie stellt seinen ihm zugehörigen geistig-sinnlichen Doppelaspekt heraus, der vor allem in der Dichtung zum Aufscheinen kommt. Der dritte und letzte Teil von Wahrheit und Methode enthält eine Reihe von sprachphilosophischen Spekulationen, die dort ihre besondere
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Teil IV
Tiefe gewinnen, wo sie sich auf die von der Stoa und von Augustinus überlieferte Lehre vom logos endiathetos (inneren Wort) richten. Bei Augustinus zeigt dieses Wort Züge des ‚inneren Lehrers‘ Christus. Von ihm ist bei Gadamer nicht mehr die Rede. Vielmehr denkt er dem platonischen ,inneren Gespräch der Seele mit sich selbst‘ als der Bewegung des Denkens erneut nach. Als ein solches gewinnt es weder in der Schwäche der Schrift noch im gesprochenen Wort völlige Präsenz. Zeigt das ‚innere Wort‘ Züge des sokratischen daimonion? Ist seine Heimat wie bei Plato eine rein noetische Sphäre? Oder ereignet sich in ihm eine Versprachlichung des geistigen Selbst? Diese Fragen lassen sich nicht mit Sicherheit beantworten. Nur soviel lässt sich vor dem Hintergrund des hermeneutischen Denkens Gadamers sagen: Ist es ein Grundzug am Altersdenken, dass ihm zuletzt Alles zu einem Gleichnis wird, in dem Wirklichkeit und Bild zusammenfallen, dann ist das innere Wort wie ein Gewand, in dem ich den Freund des verborgenen Lebens des Geistes selbst anzurühren glaube.
Exkurs Gadamer und die Dichtung. Hölderlin – Rilke – Celan
Wenn die Hermeneutik in der Dichtung den „Ort“ der Wahrheit zu finden glaubt, so ist zu erwarten, dass die Aktualität Gadamers über sein Hauptwerk Wahrheit und Methode hinaus sich am Beispiel seiner Interpretation poetischer Zeugnisse der Vergangenheit und Gegenwart besonders nachdrücklich herausarbeiten lässt. Für den an der Klassik Geschulten ist es neben Goethe vor allem Hölderlin, dessen späte Lyrik das verschüttete Wort der Wahrheit erneut hören lässt. Für den Zeitgenossen der poetischen Moderne erlangt Rilke exemplarischen Rang. Und ganz zuletzt vermag Gadamer, vielleicht überraschend für einen Gelehrten seines Bildungszuschnitts, dem œuvre von Celan eine Auslegung abzugewinnen, welche nicht nur diesen zum Zeugen für die Fruchtbarkeit seines Denkens macht, sondern in der Erschließung seiner hermetischen Dichtung auch der philosophischen Hermeneutik selbst einen unerhört herausfordernden neuen Interpretationsgegenstand zueignet. Ästhetik und Poetik II (GW 9) enthält die Beiträge Gadamers zu Werken der Dichtung, welche die Applikation ihres Verstehens unter dem Stichwort „Hermeneutik im Vollzug“ erproben. Sie nimmt den von Heidegger eingebrachten Gedanken über die Dichtung als ein Ins-Werk-Setzen der Wahrheit erneut auf und versucht, ihn aus einer poetologischen Perspektive näher zu bestimmen. In diesem Zusammenhang spricht es für die Bescheidenheit des Autors, dass er die von ihm vorgelegten Beiträge als „Versuche“ ansieht, mit der Rede bedeutender Dichtung in ein Gespräch einzutreten. Sie ist für ihn in einem emphatischen Sinn „Arbeit des Geistes“, der aus dem Grund eine besondere Bedeutung zukommt, weil, wie es im Vorwort zu Ästhetik und Hermeneutik heißt, „zwischen der Sprache der Dichtung und der Sprachfindung des philosophischen Gedankens eigentümliche Fäden hin und her laufen.“ In einer Auswahl von Gadamers Beiträgen zu Hölderlin, Rilke und Celan will ich zeigen, welche philosophisch bedeutsamen Einsichten wir ihnen unter der Voraussetzung verdanken, dass wir auf die zwischen ihnen geknüpften ästhetischen Zusammenhänge unser Augenmerk richten.
Hölderlin und das Zukünftige (1947) In der gedanklichen Auseinandersetzung mit der Dichtung ist es Hölderlin, der schon früh auf Gadamer die größte Faszination ausübte. In seinem späten Aufsatz Die Gegenwart Hölderlins (1983) hat er Rechenschaft abgelegt, warum es ihm als begründet erscheint, in Hölderlin „einen Dichter unseres Jahrhunderts“ zu sehen. Es ist im Werk Hölderlins vor allem das Geheimnis des dichterischen Wortes, das in ganz anderer Weise als bei Goethe als „Sprachnot“ im Mittelpunkt der späten Dichtungen steht. Was diese „Not“ vertieft, ist die quälende Frage, wie in einer gottlosen Zeit noch vom Göttlichen zu reden ist. Kommt der Kunst die Aufgabe zu, aus sich heraus Wahrheit ins Licht zu stellen, dann ereignet sich durch die Reflexion auf ihre Form auch eine Aufhellung der für die Dichtung Hölderlins kennzeichnenden Gebrochenheit, wenn sie das Verhältnis zwischen Erde, Sterblichen und Göttern zu bestimmen sucht. In ihr sieht Gadamer ein Indiz für die „Modernität“ von Hölderlins Dichtung. „Gerade auch die Vielfalt dieser Brechungen (Natur, Sterbliche, Götter – W. R.), in denen das Werk Hölderlins zu uns sprach, macht für den, der ein Ohr für Dichtung hat, noch immer seine Gegenwärtigkeit aus.“ (GW 9, 41) Weder bei Rilke noch bei dem späteren Celan wird dem inneren Ohr aus der Stille der Natur das Ereignis eines aus ihr reifenden „Seinsgeschehens“ so eindrucksvoll vernehmbar wie in der Dichtung Hölderlins. Als ein Beispiel erinnere ich an das im Homburger Folioheft überlieferte Gedicht Heimat. In ihm wird über das synästhetische Spiel sinnlicher Eindrücke (der Duft der Linden, das Rauschen des vom Wind bewegten Kornfeldes) ein subjektloses Weltgeschehen gleichsam hörbar: … und Rosendornen Und süße Linden duften neben Den Buchen, des Mittags, wenn im falben Kornfeld Das Wachstum rauscht … Ich wende mich einem frühen Beitrag Gadamers zur Dichtung Hölderlins zu. Er trägt den Titel Hölderlin und das Zukünftige (1947) und verbindet den Rückblick auf eine bestimmte Phase der Hölderlin-Rezeption mit
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einer ganz eigenen Deutungsperspektive auf das Werk des Dichters. Was Gadamer zunächst hervorhebt, ist das an ihm abzulesende neuzeitliche Geschichtsbewusstsein. Seinen poetischen Ausdruck findet es in den von mir bereits erwähnten Versen der ersten Strophe von Brod und Wein, die unter dem Titel Die Nacht (1807) Aufnahme in einen Musenalmanach fanden. Die Nacht wird, so Gadamer, vom Dichter geehrt, weil sie ihm auch ein Symbol für einen gegenwärtigen Weltzustand ist. „Die Ehrung der Nacht meint die ‚Geschichtsnacht‘, das nächtliche Schicksal des Abendlandes, fern von der göttlich erfüllten Welt des Altertums in einer götterlosen Zeit zu leben.“ (GW 9, 24) Der Gegensatz Tag-Nacht wird von ihm geschichtstheologisch gedeutet. Die nächtliche „Not der Götterferne“ bemisst sich an ihrem Gegenbild, dem vom Göttlichen erfüllten Tag des griechischen Lebens. Ähnlich kommentiert J. Schmidt, der in der Nacht die Vorwegnahme eines künftigen Tages sieht : „Schon in der ersten Strophentrias – in der sich der gleitende Übergang von der real erlebten Sommernacht in die geschichtliche Nacht vollzieht – kommt diese in die Zukunft weisende Qualität der ,Nacht‘ zur Geltung. Denn gerade indem die Nacht die Zeit der poetisch-inspirierten Erinnerung an den einstigen (griechischen) Tag ist (…), vermittelt sie die antizipatorische Wahrnehmung des künftigen ,Tages‘.“ 1 Die moderne Erfahrung des Entzugs der „Götter“, die noch in Nietzsches Diagnose des Nihilismus gegenwärtig ist, stützt Gadamers Deutung, in ihr „die Nacht“ der Götterferne zu sehen. Gleichwohl haben in ihrem Dunkel die Gaben der Demeter (Brot) und des Dionysos (Wein) ihre Segen spendende Kraft nicht verloren. Im Gedicht stiften sie die Erinnerungszeichen an eine die Not der Zeit übergreifende Synthese, in der das Brot als der Erde Frucht vom Licht gesegnet ist und die Freude des Weins als Geschenk des nächtlichen Gottes Dionysos vom donnernden Gott kommet. Es mag ein an das eigene Epochenbewusstsein gebundenes Verständnis vom Amt des Dichters sein, wenn ihm Gadamer in dürftiger Zeit die Aufgabe zuspricht, wie einst des Weingotts heilige Priester „die Kunde vom Göttlichen zu bewahren und weiterzugeben“ (GW 9, 26). In seinem Kommentar zu Brod und Wein hat J. Schmidt auf die Verbindung der dichterischen Sphäre mit der des Dionysos hingewiesen, der nach 1
Herausgeberkommentar, in: F. Hölderlin, Sämtliche Gedichte, hg. von J. Schmidt, Frankfurt a. M. 2005, S. 724.
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orphischer Tradition auch der Gott der Dichter war. 2 Die Frage, die der Aufsatz Gadamers auf dem Hintergrund dieses Bezuges stellt, ist, ob aus Hesperien dem „Schattenland“ eine Wiederkehr der Götter zu erwarten ist. Im Blick auf ihre vorsichtige Bejahung zitiert er eine spätere Umarbeitung Hölderlins aus Brod und Wein: Nemlich zu Hauß ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat; Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist. Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder Den Verschmachtenden. Fast wäre der Beseeler verbrannt. Diese Verse, die auf den Dionysos-Mythos zurückgehen, beziehen sich auf den kommenden Gott, 3 der in seiner Wanderschaft von Osten her seinen Siegeszug nach Westen hin antritt. Gadamer sieht in ihm den Geist, der sich immer von neuem eine Wohnstätte unter den Menschen sucht. Er verbindet ihn mit dem Dichter, der „dem Weg des Wortes aus Osten, dem Flug des Adlers“ folgt. Darin erkennt er zugleich „eine letzte, alles vollendende Stufe in der Neudeutung der Nacht“ (GW 9, 30). Sie ist für ihn nicht nur „der bleibende Grund“, aus dessen mütterlichem Dunkel alles Seiende ans Licht des Tages drängt, sondern auch für den, der die Zeichen der Zeit zu deuten weiß, „das beständige Mitdasein mit dem gestalteten Tag und dem gegenwärtig Göttlichen“ (ebd.). In dem Schlussvers der Elegie – Sanfter träumet und schläft in Armen der Erde der Titan, / Selbst der neidische, selbst Cerberus trinket und schläft – erscheint der aus dem Orient kommende Dionysos als der Gott einer die Zeiten übergreifenden kosmischen Harmonie. J. Schmidt und U. Schmidt-Berger haben in ihrer Einleitung zu dieser Elegie die engen Bezüge des Dichters zu der antiken Tradition des Dionysos-Mythos detailliert herausgestellt. 4 Sie sollten vom Leser als Hintergrund der Hölderlin-Interpretation Gadamers stets mitbedacht werden. 2
Ebd., S. 725. Dazu: M. Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982. 4 Mythos Dionysos. Texte von Homer bis Thomas Mann, hg. v. J. Schmidt u. U. Schmidt-Berger, Stuttgart 2008, S. 174 ff. 3
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In einem weiteren Abschnitt geht Gadamer auf den griechischen Mythos von den Titanen ein, um zu fragen, was für Hölderlin das Titanische bedeutet. Es ist für den Dichter das Zeichen einer „mythischen Auflehnung gegen die Götter“. Sie impliziert eine schuldhafte „Vergessenheit“, wie sie in der „Verkehrung des wahren Verhältnisses zwischen Göttern und Menschen“ Ausdruck gewinnt. Ihr Spiegel in der Dichtung Hölderlins ist die mythische Rede von der Entfesselung des prometheischen „Herrschaftswillens“, die sich gegen „die Gaben der Natur“ richtet. Es ist von Heidegger her gedacht, wenn Gadamer in ihr eine „Verwandlung allen Seinsverhaltens“ sieht, wie sie als rationale Berechnung den Geist des technischen Zeitalters bestimmt. In ihr offenbart sich die Macht des „Wilden“, die über eine Welt triumphiert, in der Wie Raub Titanenfürsten die Gaben / Der Mutter greifen … In dieser Vision des Unheils deutet sich ein dialektisch gedachter, von Hölderlin eschatologisch akzentuierter Umschlag an. In der Nacht „uralter Verwirrung“ kündigt sich das Morgenrot eines neuen Äons an. Dessen Vorboten kennt niemand. „Nur der Dichter“, schreibt Gadamer, „kennt sie, das heißt aber, sie bekunden sich nur im Wort des Gesangs, der dem Dichter gelingt“ (GW 9, 32). Dass dieses „Wort“ gelingt, liegt nicht in dem Vermögen des Dichters, sondern ist dadurch, dass es sich ihm schenkt, ein Zeichen für die weckende, lösende und erlösende Kraft des ihm übergebenen „Stabes des Gesangs“. Warum aber, so die Frage Gadamers, ist die lösende Zaubermacht des Gesangs, wie sie in der Orpheus-Sage Ausdruck gewinnt, ein „Unterpfand des Seins und der kommenden Rückkehr der Götter?“ (GW 9, 33) Die Antwort, die er gibt, ist ganz von seiner Auffassung der Sprache bestimmt. In ihr ereignet sich Sein. Die poetische Sprache der Dichtung stiftet „das Kommende“: das Wiederfinden alles Verlorenen, die Gemeinschaft der Götter mit den Sterblichen. Er beruft sich an dieser Stelle auf ein spätes im Homburger Folioheft überliefertes Fragment Hölderlins. Überschrieben ist es mit Das Nächste Beste (Zweiter Ansatz): offen die Fenster des Himmels Und freigelassen der Nachtgeist Der himmelsstürmende, der hat unser Land Beschwätzet, mit Sprachen viel, unbändigen, und Den Schutt gewälzet Bis diese Stunde.
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Gadamer erkennt in diesen Versen die Verschmelzung zweier Motive aus dem griechischen Mythos der Titanen einerseits und dem biblischen Mythos der babylonischen Sprachverwirrung andererseits. Er deutet sie als Hinweise für eine urzeitliche Entstellung kosmischer und sprachlicher Ordnung. Sie kann nur durch die Sprache der Dichtung geheilt werden. „Die göttliche Ordnung ist eine Bindung des Chaos. Die eigentliche Botschaft des Dichters ist die Unzerstörbarkeit dieser Herrschaft der ordnenden Geister.“ (GW 9, 34) Es bleibt fraglich, ob diese „Unzerstörbarkeit“ noch ihren Halt in der späten Sprache Hölderlins findet. Im Dritten Ansatz des Fragments finden sich berauschende Naturbilder, die in der Form von Gesängen „Sprache“ gewinnen, das Ganze endet aber in der hermetischen Sprachfügung: Bei Ilion aber War auch das Licht der Adler. Aber in der Mitte Der Himmel der Gesänge. Neben aber Am Ufer zornige Greise, der Entscheidung nämlich, die alle Drei unser sind. Die Parataxe rätselhaft bleibender Bildepisoden – das Licht der Adler, zornige Greise am Ufer – , die wirken, als seien sie aus dem Archaikum der Seele an die Oberfläche des Bewusstseins aufgestiegen, markieren eine Grenze dessen, was interpretierbar ist. Die grammatikalische Zerstörung der Sinneinheit der einzelnen Satzperioden macht ihre Zuordnung zu einem festen Bedeutungsinhalt unmöglich. Die hohe mythische Sprache der Hymnendichtung Hölderlins zerbricht. Steht aber, so wäre zu fragen, mit diesem Zerbrechen nicht auch der Ordnungsgedanke in Gefahr, den Gadamer durch das Wort der Dichtung garantiert sieht? Er bezieht sich in seiner Interpretation von Hölderlins Dichtung wiederum auf den griechischen Mythos der Titanen, wenn er auf den Schluss der Hymne Der Rhein verweist. In ihm steht das „Lächeln“ des Gottes über dem Weltzustand des bei Tag „angeketteten Lebens“ wie über der aus der Nacht aufsteigenden Dämonie „uralter Verwirrung“. Dies wird von ihm so kommentiert: „Titanenaufstand, Lossagung vom Göttlichen, ist das wesenhaft Ohnmächtige. Dass die Macht der Himmlischen jemals schwach würde, ist
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nur ein Schein. Auch noch über der Entgötterung der Welt waltet das Gesetz und behält sie ein.“ (GW 9, 34) Die Tragödie, deren Katastrophe für Hölderlin darin liegt, dass „die Himmlischen“ die Sterblichen „schonen“ – Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen – wird von Gadamer verschwiegen. An den Titanenmythos schließt auch die Ode Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter an. Hölderlin geht in ihr auf die überlieferte Sage von Saturn (Kronos), „dem Gott der goldenen Zeit“, und seiner Entthronung durch Jupiter (Zeus) zurück. Er verbindet sie mit einer kunstvollen Mythologisierung der Opposition von „Natur“-Sphäre (Saturn) und „Kunst“Sphäre (Jupiter), „indem er den vom Mythos berichteten Sturz Saturns durch Jupiter als Unrecht darstellt und zugleich fordert, die fundamentale Bedingtheit der ,Kunst‘ durch die ,Natur‘ als ihren schöpferischen und zugleich legitimierenden Ursprungsbereich anzuerkennen.“ 5 Gadamer verweist bei seiner Lektüre der Ode auf das Prometheus-Drama des Aischylos, in dem der Titan „dem jungen Herrscher des Olymp Maß und Versöhnlichkeit zu lernen aufgibt“ (GW , 935). In seiner Auslegung der Ode geht es ihm auch um ein Grundthema des Deutschen Idealismus, das bei Hölderlin poetische Ausdruckskraft gewinnt: die Versöhnung der Gegensätze Natur und Kunst, die er in eine analoge Nähe zu einer Überwindung des Gegensatzes zwischen der Ordnung des Tages und der sie auflösenden Nacht stellt. Der Bann, der über die Titanen von Zeus verhängt wurde, muss bestehen bleiben, da sie urzeitliche Mächte des „Wilden“ verkörpern, die das Licht des Tages nicht dulden kann. Saturn ist hingegen der Repräsentant einer göttlichen Ordnung der Natur, von der die Kunst, die in ihrem Dienst steht, Kunde gibt. Gadamers Überlegungen zu Hölderlin gewinnen an der Stelle für die Diskussion an Brisanz, an der er auf die Rolle des Sehers zu sprechen kommt, dessen Urbild in der Dichtung der Antike Teiresias ist. Dieser weiß sich als ein „Sprecher des Gottes“, der um den Verlauf des Vergangenen wie des Zukünftigen weiß. Gadamer rückt den Dichter Hölderlin in die Nähe des blinden Sehers: „Auch Hölderlins Wort ist das Wort eines Wissenden, eines Eingeweihten. (…) Gleich dem antiken Seher steht auch er unter dem Andrang einer göttlichen Fülle, derer kein anderer gewahr wird, es sei 5
Vgl. den Herausgeberkommentar, in: F. Hölderlin, Sämtliche Gedichte, hg. v. J. Schmidt, Frankfurt a. M. 2005, S. 755.
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denn ein Erblindeter. Gleich ihm trägt er die gefährliche Einsamkeit dessen, der unter einer Berufung steht.“ (GW 9, 37) Diese Sätze spiegeln zunächst den aus der George-Schule geborenen Geist einer Epoche, die, wie bei F. Gundolf und M. Kommerell, in dem Dichter (Hölderlin) den göttlich inspirierten Künder sieht. In dem sich anschließenden Absatz revidiert jedoch Gadamer diese Deutung des Dichters, wenn er schreibt: „Er liest nicht, als der vom Gott her Wissende, die Zeichen irgendeiner Zukunft, die den anderen verhüllt ist und doch zu wissen not“ (ebd.). Das, von dem der Dichter „kündet“, ist kein von den Göttern gesandtes Geschick, sondern „die Wiederkehr der Götter selbst“. Sie geschieht nirgends als im „Ruf des Dichters“. Dass das Wort der Dichtung in sich selbst zu stehen vermag, diese Grundaussage Gadamers findet variierend ihre Anwendung auf Hölderlin: „So steht das Seherwort des hesperischen Dichters ganz auf sich selber und bleibt seiner selbst gewärtig. Sich selbst zukünftig ist es das ins Ungewisse der Zeit ausgesetzte Unterpfand eines bleibenden Seins.“ (GW 9, 38) Das Unterpfand dieses Seins bleibt im Wort der Dichtung verwahrt. Dies ist ein Grundsatz, fast könnte man sagen, ein Glaubenssatz von Gadamers Hermeneutik. Nach dem knappen Hinweis, dass alle „schnellen Anwendungen“ der Dichtung Hölderlins auf die Gegenwart und ihre Erwartungen zu kurz greifen, wird auf das Bruchstück der Ode Der Frieden verwiesen. Die sie bestimmende Polarität zwischen Zwist und Harmonie stützt den Hinweis, dass der Friede kein in der Zukunft zu erwartendes Ereignis ist. Sie zeigt aber auch die Zerrissenheit von Hölderlins dichterischer Weltvision. Nimmt man sie ernst, so scheint sie Gadamers Rede von einem „bleibenden Wort“ in Gefahr zu bringen. Zwei Strophen sind streng antithetisch einander zugeordnet. Die eine redet von dem Unfrieden, dem „Chaos“ und davon, dass wild ist und verzagt und kalt von Sorgen das Leben der Armen immer. Die andere, die Schlussstrophe, beschwört das Lächeln des Sonnengottes, das – menschlichem Verstand unbegreiflich – über dem Kampfplatz der Wagenrennen und seinem Staub steht. Der Antagonismus, der in dieser Zuordnung zum Ausdruck kommt, vertieft den Gegensatz zwischen den Himmlischen, die droben in anderer Welt leben, und der Niederung, in deren Hütten die Sterblichen wohnen. Es bleibt nur die Schwermut des Wissens um diese Trennung. Ihre Klage vermag das Gedicht auszuhalten, da der in ihm verborgene „Trost“ auf der einen unzer-
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störbaren Gewissheit des Dichters beruht: Die Heiligfreien, jenseits der dürftigen Wohnstätten des Menschengeschlechts, sind ewig: Und einsam ist der Göttliche, Frohe nie, Denn ewig wohnen sie, des Äthers Blühende Sterne, die Heiligfreien.
Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jahren (1976) Auf der Umschlagvorderseite von G. Martens’ und A. Post-Martens’ Monographie Rainer Maria Rilke (2008) sieht den Leser eine Photographie des Dichters aus dem Jahr 1906 an: Ein zartes, fast mädchenhaftes Gesicht mit einem fragenden, schwermütig verschattet wirkenden Ausdruck der hellen Augen. Es scheint das Urteil P. Valérys zu bestätigen: „Ich sah in ihm, ich liebte in ihm den zartesten und geisterfülltesten Menschen dieser Welt, den Menschen, der am meisten heimgesucht war von all den wunderbaren Ängsten und allen Geheimnissen des Geistes (…).“ Die Liste von Rilkes Bewunderern ist lang. Sie enthält so prominente Namen wie von Hofmannsthal, Musil, Gide, Kassner, Pasternak. Es gibt aber auch kritische Stimmen, wie die des Basler Germanisten W. Muschg, der in seiner Tragischen Literaturgeschichte ein einseitiges Urteil über Rilkes „wollüstig rinnende Formlosigkeit“ fällt, die ihn zum „Abgott“ aller weiblichen Gemüter gemacht hat. Sieht man auf die Lyrik Trakls oder liest zum Beispiel Gedichte Ungarettis, so wird ein abschließendes Urteil über das Werk Rilkes nicht so einmütig sein wie das seiner Zeitgenossen. Was uns jedoch an dieser Stelle interessiert, ist die Frage, auf welche Gründe sich für Gadamer das Faszinosum von Rilkes Dichtung stützt. Eine Antwort gibt sein Aufsatz Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jahren. In seinem einleitenden Absatz gibt er zu bedenken, dass ein Abstand von fünfzig Jahren zu der Dichtung Rilkes die größte „Sonnenferne“ bedeuten kann. Es ist für ihn die Auszeichnung des Wortes der Dichtung, dass es den Zeitenabstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schließen vermag. Schon aus diesem Grund ist es hermeneutisch legitim, nach dem bleibenden Bestand von Rilkes Werk zu fragen. Da ist es zunächst der Tagebuchroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), der durch die literarische Form eines in sich zersplitterten inneren Monologs, in dem sich die Konturen der äußeren Realität auflösen, mit der überkommenen Romantradition bricht und dadurch Rilkes Weltruhm begründet. Hinter der Daseinsangst, die alle Episoden des Romans durchtränkt, steht die große Frage: „Wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfasslich sind? Wenn wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich, da zu sein?“ (Rilke an L. Hepner, 8. 11. 1915) Es ist das an Kierkegaard
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und Heidegger geschulte Ohr Gadamers, das ihn für den dichterischen Rang des Malte empfänglich macht. Seine Würdigung des Romans nimmt Züge einer Sprache der Dichtung an, wenn er ihn mit den Worten preist: „Seit Nietzsche wohl die schönste, reichste, reifste deutsche Prosa, die ich kenne, von einem bezwingend klaren Rhythmus getragen und wie von einer durchsichtigen Dunkelheit durchstrahlt, über der der opalene Schimmer eines leidenden Gedächtnisses liegt – ein Buch, das als Roman damals fast einzig dasteht, da es alles Romanhafte in seinen Eigenraum einer zeitlosen Gegenwart des Erinnerns auflöst.“ (GW 9, 309) Zwei Themenkreise gibt es, die Gadamers philosophisches Interesse an Rilke wachhalten: die bedrückende „Inkongruenz zwischen überliefertem Wort und unsäglicher Erfahrungswelt“ (W. Killy) und die Verwandlung des Daseins in Gesang, die bei Nietzsche und Rilke als ein zentrales Motiv ihres Schreibens gesehen werden kann. Denn so spricht Vogel-Weisheit im Ja- und Amen-Lied zu Zarathustra: „Siehe, es gibt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! Singe! Sprich nicht mehr!“ (KSA 4, 291) Noch ein drittes Thema findet in der Dichtung Rilkes eine ihm angemessen gesteigerte Ausdrucksform, „dass Gott fern ist und dass keine Heraufbeschwörung christlich-humanistischer Glaubensvorstellungen oder ältester mythischer Symbole uns die Ferne Gottes verschleiern darf“ (GW 9, 313). Gadamer versteht die Dichtung Rilkes als eine Dichtung der Gottesferne. Sie evoziert eine Rühmung des „Hierseins“, deren Glanz darauf beruht, dass die Jahrhunderte alte Hoffnung auf ein „Jenseits“ verblasst ist. Das menschliche Dasein in der Vergeblichkeit seiner Anstrengung nicht nur aushalten zu können, sondern zu „überstehen“, ist ein Thema des Malte. Die Elegiendichtung transzendiert die menschliche Daseinsbewegung und ihre Unruhe, die wie ein Schatten sie begleitende Drohung seiner Vergänglichkeit, durch einen „Überstieg“ auf einen Weltinnenraum, in dem die antithetische Spannung zwischen Seele und Welt aufgehoben ist. Vor diesem Hintergrund kommt der Figur des Engels in der Dichtung Rilkes zentrale Bedeutung zu. Sie verdankt sich seiner Begegnung mit den Engelgemälden El Grecos und hat, so der Dichter in einem berühmten Brief vom 13. November 1925 an W. Hulewicz, „nichts mit dem Engel des christ-
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lichen Himmels zu tun.“ Rilkes Engel ist der Repräsentant einer unsichtbaren Welt, in der alles Vergangene in einer rätselhaften Gegenwärtigkeit bewahrt bleibt. „Für den Engel der Elegien sind“, so Rilke in dem erwähnten Brief, „alle vergangenen Türme und Paläste existent“, weil „längst unsichtbar, und die noch bestehenden Türme und Brücken unseres Daseins“ schon „unsichtbar, obwohl noch (für uns) körperhaft dauernd.“ Wenn wir es richtig verstehen, heißt das: Verschwinden alle Dinge in einer dunklen Leere, so ist in dieser unheimlichen Verflüchtigung eine heimliche Verwandlung des Sichtbaren ins Unsichtbare am Werk. Durch sie bleibt das dem sterblichen Auge längst Entschwundene wie von den „Bienen des Unsichtbaren“ (R. M. Rilke) gesammelter Honig verwahrt. Ein mystischer Gedanke, durch den sich Rilke über das Grauen vor dem Verschwinden aller Dinge hinwegzuretten versucht. Dies scheint auch Gadamer andeuten zu wollen, wenn er die Mystik dieses Gedankens anerkennend schreibt: „Der Engel ist überhaupt nur das Gewahrwerden unseres eigenen Zurückbleibens hinter uns selbst. Denn wir sind selbst uns übersteigende, ‚metaphysische‘ Wesen. Und doch hört uns nicht einmal der Engel.“ (GW 9, 315) Der letzte Satz bezieht sich auf den Beginn der ersten Duineser Elegie: Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Gadamers feines Gespür für die wechselnden Strömungen in einem Kunstwerk nimmt wahr, dass sich im Fortgang des Elegienwerkes eine Umkehr vollzieht. Ihr Thema ist die Rückverwandlung des ins Unsichtbare Verwandelten in das Sichtbare der Gestalt. In dieser Metamorphose sieht er einen Grundzug der Dichtung Rilkes. Deren Intention ist es, dem flüchtigen „Hiersein“ Dauer zu verleihen, indem es Abwesendes als Abwesendes durch das Wort vergegenwärtigt. Ein Höhepunkt von Gadamers Rilke-Würdigung scheint mir an der Stelle erreicht zu sein, an der er auf das Verhältnis des Dichters zum Tod eingeht. Es ist für Rilke dadurch bestimmt, dass das Wissen um die Unausweichlichkeit des eigenen Todes mit der Aufgabe verbunden ist, „zu dem Schwindenden ja zu sagen – und dass diese Aufgabe in der Zustimmung zum Tode ihre letzte Erfüllung findet“ (GW 9, 316). Dass das „Hiersein“ gerade durch seine radikale Endlichkeit ,herrlich‘ ist, das, so Gadamer, „schärfen uns die Elegien ein, uns, den ,Schwindendsten‘“ (GW 9, 317). In seinen Ausführungen zum Problem des Todes bemerkt er, dass Rilkes Ele-
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gien und Sonette auf eine in der Philosophie zu wenig bedachte „Weisheit“ reflektieren, die ein im Sichtbaren verborgenes „unsichtbares“ Reich erkennt. Es umfasst den geheimen Doppelbereich, der die Lebenden und die Toten einschließt. „Das hat Rilke offenbar vor Augen, wenn er das jenseitige Schicksal der jungen Toten schildert, als wären sie hier.“ (ebd.) Es bedarf einer Umwendung des Blicks, um der orphischen Erkenntnis des Vorhandenseins jenes „Doppelbereiches“ teilhaftig zu werden. Mag auch die Spieglung im Teich oft uns verschwimmen: Wisse das Bild. (Sonette an Orpheus, Erster Teil IX) Der thrakische Sänger Orpheus war der mythische Held der dionysischen Mysterienreligion der Griechen, die ihn als ihren Stifter verehrte. Er wird von Rilke zu einem „Gott“ erhoben, der durch die Macht seines Gesangs das Doppelreich von Leben und Tod umgreift: Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden / Reichen erwuchs seine weite Natur. Die ihm zugeeignete Kraft der „Rühmung“ richtet sich als Gesang und Verwandlung auf „das fühlende Vermögen des Menschen, das durch den Mund des Dichters Sprache gewinnt.“ 1 Gadamer bindet Rilkes magische Beschwörung einer mythischen Wirklichkeit an das „Prinzip der mythopoietischen Umkehr“. Es ist, wie der Beitrag Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien (1967) ausführt, eine Voraussetzung für das Verständnis von Rilkes Dichtung und Poetik. Die mythische Welt, die uns in ihr begegnet, zeigt „die genauen Konturen einer bloßen Rückspiegelung einer diesseitigen Erfahrung“ (GW 9, 295). Als ein zugleich Unsägliches sie in unser Verständnis als „lesbare Schrift“ zurückzuübersetzen, ist die riskante Aufgabe des Hermeneutikers. Gadamer konzentriert sich in seiner Rilke-Würdigung auf die zehnte Elegie, die als „Totenklage“ den geheimen Einklang von Leben und Tod für uns hörbar werden lässt. In ihrer Meditation erreicht seine Altersweisheit einen Aufschwung und eine Dichte eigener Reflexion über Tod und Vergänglichkeit wie selten zuvor in seinem Werk: „Das ist das Leben, dass es auch noch den Tod verwindet. Mehr noch, dass es gerade aus der Anerkennung der vollen Trostlosigkeit und
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H. E. Holthusen, Rilke, Hamburg 1958, S. 150.
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Grausamkeit des Todes ihn annehmen lernt als das, was er ist (…) Zwar ist es wirklich nur eine kleine Weile, was wir Leben nennen, und wirklich verstummen die Klagen am Ende, und die Quelle der Freude schimmert in der Ferne. Aber das ist nicht eine bittere Erkenntnis, dass jeder vergessen wird, sondern eine Botschaft. Wir sollen mit der Dichtung und an ihr die schier herzlose Gewalt des Lebenswillens erkennen müssen, der jeden Schmerz überwindet und jeden Toten am Ende ,unendlich tot‘ sein lässt – und wir sollen all das bejahen.“ (GW 9, 317 f.) Die von Gadamer angesprochene „Bejahung“ ist für den Menschen das Schwerste. Was lehrt sie uns? Es ist in der zehnten Elegie das Gleichnis der leeren Hasel, „die blüht, ohne die Zukunft der Frucht zu meinen“, und des Regens, der fällt auf dunkles Erdreich im Frühjahr, in dem wir unser eigenes Los (an)erkennen. Zu ihm und seinem Verweisungscharakter schreibt er: „Auch wir werden – wie jene (die unendlich Toten – W. R.) – einst ,unendlich Tote‘ sein, namenlos und vergessen, und sollen das mit Zustimmung annehmen. Das zu wissen und zu wollen – uns in unserer Flüchtigkeit zurücknehmen zu lernen – das lehren uns die Toten.“ (GW 9, 318) In diesen kostbaren Zeilen des Totengedenkens, denen in der philosophischen Literatur nichts Gleichwertiges zur Seite gestellt werden kann, ist Gadamers schönster Beitrag zu der abendländischen Tradition des Nachdenkens über den Tod zu sehen. Er findet weder im jüdischen Glauben der Bewahrung der Toten im Gedächtnis Gottes noch im christlichen Glauben an die Auferstehung der Toten Halt. Es bleibt nur die ,Zustimmung‘ zu der Rücknahme der ,Flüchtigkeit‘ unseres Daseins in das Vergessensein. Durch sie erkennt er die Überlegenheit der Toten an, die wie in C. F. Meyers unvergleichlich schönem Gedicht Lethe den Lebenden die Schale mit dem Trank des Vergessens darbieten. Der Gadamer-Schüler und Tübinger Philosoph W. Schulz hat am Ende von Wandlungen der Einstellung zum Tode (1976) gleichfalls auf Rilkes Duineser Elegien Bezug genommen. Seine Ausführungen korrespondieren, wenn auch um eine Spur härter, den Überlegungen Gadamers zur zehnten Elegie:
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„Rilke hat in der zehnten ,Duineser Elegie‘ das Phänomen des Vergessens der Toten in seinen möglichen Steigerungen dargelegt. Die Klage steht im Mittelpunkt dieser Elegie. Sie ist es, die sich des Toten annimmt, ihn durch die ,weite Landschaft der Klagen‘ geleitet und schließlich – das ist der entscheidende Schritt – vom Toten Abschied nimmt. Sie zeigt ihm die Quelle der Freude. In Ehrfurcht nennt sie sie, sagt sie: ,Bei den Menschen ist sie ein tragender Strom.‘ Doch der Tote muß fort. ,Einsam steigt er dahin, in die Berge des Urleids. Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem todlosen Los.‘ Das heißt: Wenn niemand mehr da ist, der um den Toten klagt, wenn die Klagenden selbst tot sind, dann erst ist der Tote endgültig gestorben. Keiner weiß mehr von ihm; es ist, als ob er nie gelebt habe. Am Phänomen des endgültigen Vergessens zeigt sich die Spurlosigkeit, Wirkungslosigkeit und Hintergrundlosigkeit des menschlichen Daseins, von der Rilkes Grabspruch sagt: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.“ 2 Niemand, so Gadamer abschließend, kann heute voraussehen, welche Bedeutung der Dichtung in einem „Zeitalter des Massen-Atheismus und der Religion der Weltwirtschaft“ noch zukommen wird. Trotz aller Skepsis gegenüber dem Fortschritt der Technik ist für ihn das Eine gewiss: Das Wort einzelner Dichtung, verstanden als eine „Botschaft der Aufrichtigkeit“, bleibt durch alle Zeiten hindurch wahr – „wie die großen anderen Botschaften der Weltliteratur, von Homers lachenden Göttern und weinenden Rossen an“ (GW 9, 319).
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W. Schulz, Wandlungen der Einstellung zum Tode, in: Der Mensch und sein Tod, hg. v. J. Schwartländer, Göttingen 1976, S. 105.
Sinn und Sinnverhüllung bei Celan (1975) Es ist gewiss keine Selbstverständlichkeit, dass sich Gadamer, dessen ästhetischer Geschmack sich schon früh an Goethe, Hölderlin und Rilke geschult hat, noch in hohem Alter einer so extrem hermetischen Dichtung, wie es die Lyrik Celans ist, zugewandt und die Herausforderung ihrer Interpretation angenommen hat. Von ihrer hermeneutischen Fruchtbarkeit legt die Studie Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedichtfolge „Atemkristall“ (1986) Zeugnis ab. Celans Gedichte kreisen, darin den Elegien Rilkes noch fern verwandt, um das ihm als sinnlos erscheinende Mysterium des Todes. Sie zeigen eine härtere sprachliche Fügung, eine größere Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit sowie eine schärfere poetologische Reflexion als die Gedichte Rilkes. In ihrem Inneren haust der Herzog der Stille, der Tod, gegen den sie, dicht am Rand des Verstummens, einen vergeblichen Kampf führen. Der Essay Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan konzentriert sich auf die interpretierende Lektüre des Gedichtes Tenebrae aus dem Gedichtband Sprachgitter (1959). Er widerlegt zunächst ein doppeltes Missverständnis, das allgemein an die Lyrik der Moderne herangetragen wird. „Es ist ein Irrtum, zu meinen, im Gedicht sei deshalb nichts zu verstehen, weil es keine Eindeutigkeit der Sinnbezüge gibt. Und es ist ein Irrtum, zu meinen, es fehle die Einheit der Rede-Intention.“ (GW 9, 452) Der Titel des Gedichts, Tenebrae, verweist auf die Finsternis, die nach dem Zeugnis der Evangelien in der Todesstunde Jesu am Kreuz eingetreten ist. Zugleich aber weist das Wort „Tenebrae“ über „die Beschwörung“ eines kosmischen Phänomens hinaus und wird zu einem Zeichen für die „Gottesverlassenheit“ des sterbenden Jesus. Gadamer rührt an den Blasphemismus der Strophe Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah, wenn er von der Herausforderung spricht, die das Gedicht für uns und unseren Glauben verkörpert. Die Blasphemie, die den sterbenden Jesus dazu auffordert, nicht zu dem Gott zu beten, der ihn verlassen hat, sondern zu „uns“, wird von ihm in einen „unüberhörbaren Sinn“ umgebogen:
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Gadamer und die Dichtung. Hölderlin – Rilke – Celan
„Weil Gott den Tod nicht kennt, ist er in der Todesstunde nicht erreichbar. Wir dagegen kennen den Tod, wissen um ihn und seine Unausweichlichkeit (…). Darin liegt eine letzte Gemeinsamkeit zwischen dem Menschensohn und den Menschenkindern, dass sie den Tod erleiden.“ (GW 9, 454) Gadamer stellt im Fortgang seiner Interpretation des Gedichts die Frage, was in ihm das Wort „beten“ bedeutet. Ist die Klage Jesu am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – man muss sie in ihrer Vertonung durch Johann Sebastian Bach in seiner Matthäuspassion hören – noch Gebet? Oder ist sie der Verzweiflungsschrei eines an seinem Gott Gescheiterten? Sie ist für Gadamer Gebet schlechthin, flehentliche Bitte in der Stunde äußerster Verlassenheit, nicht allein zu sein. Celans Aufforderung an den sterbenden Gott Bete, Herr, bete zu uns, abgelöst von dem Bezug auf die ursprüngliche Jesaja-Stelle, die Jesus nach dem Zeugnis des Evangelisten am Kreuz gebetet hat, ist für Gadamer ein verzweifelter Appell an die Solidarität der im Leid Verlorenen, die wie alle Menschen „unter dem Gesetz des Todes stehen“ (GW 9, 455). Die Schlusszeilen des Gedichtes Bete, Herr. / Wir sind nah weist in die „Gegenrichtung“ zur Eingangsstrophe der Patmos-Hymne Hölderlins: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott.“ Nicht Gott ist den Menschen nahe, sondern allein das ineinander verkrallte Dasein der Lebenden und der Sterbenden. Es ist die Sensibilität des im Lesen Verstehenden, die Gadamer dazu veranlasst, ganz im Sinn der Darstellung des mittelalterlichen Totentanzes zu schreiben: „Das, wovon wir ergriffen sind, kann nur der ‚absolute Herr‘ sein, der Tod, dem die Menschen gehören. Er ist so sehr unser Herr, dass wir vor ihm alle gleich sind. ,Ineinander verkrallt‘, halten wir uns wie im Todeskampf um sich Greifende. Diese Verzweiflung ist offenbar so sehr die eigentliche Gemeinsamkeit, dass die Menschen, ineinander verkrallt, in jedem anderen Hilfe und Heil suchen – ,als wäre der Leib eines jeden von uns dein Leib, Herr‘.“ (GW 9, 455) Jedes Lesen eines Gedichtes erfordert ein genauestes Hinsehen auf den Wortlaut. Entsprechend betont Gadamer, dass in Celans Gedicht „der Leib eines jeden von uns“ steht, nicht aber „unser Leib“. Die vom Dichter gewählte Wortfügung, in die die Schattenbilder ineinander verkrampfter Leiber der in den Gaskammern Ermordeten Einzug halten, setzt den Akzent auf die Verlassenheit der Sterbenden. Sterben vereinzelt in einer nie
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zuvor erfahrenen Weise, wirft den Sterbenden in das Meer seines Alleinseins ohne Hoffnung auf Rettung zurück. Angesichts der sinnlosen Grausamkeit des Sterbens erscheint es fast als so etwas wie eine Abschwächung von Celans Wortfügung, wenn Gadamer die „Jemeinigkeit“ der in ihr Sprache gewordenen Verzweiflung harmonisierend interpretiert. Mit dem „Herrn“ „in der Jemeinigkeit des Sterbens eins, stellt dieses Einssein auch noch in der höchsten Verlassenheit Nähe und Verbundenheit dar“ (GW 9, 456). Letztere bleibt, auch wenn man sie im Sinne Gadamers versteht, trostlos. Geht es im Gedicht, wie bei Rilke, um ein Annehmen der Todesverfallenheit des menschlichen Daseins, verdichtet in der metaphorischen Wortfügung ,Windschief gingen wir hin‘? Ist das Zur Tränke des Blutes Gehen die Vereinigung mit dem Golgatha-Geschehen im Sinne einer ganz unchristlichen Kommunion? Das Gedicht Celans lässt uns mit solchen Fragen allein. Gadamer betont an ihm die Richtungslosigkeit des Wortes windschief: „Die Ausweglosigkeit menschlichen Lebens, dessen Weg das Vermeiden des Sterbens sein möchte, ist darin in einem einzigen Wort zusammengeballt.“ (ebd.) Die Stillung des uns „zur Tränke“ treibenden Lebensdurstes findet ihre paradoxe Erfüllung im Blut des Opfers. Der Vers „es war, / was du vergossen, Herr. / Es glänzte“ ist eine Travestie der Einsetzungsworte des Abendmahles für uns vergossen im Ritus der katholischen Messe. Das Blut, das glänzt, kann als eine Metonymie für den Leichnam des gekreuzigten Messias gelesen werden. Ihm kommt im Gegensatz zu der Legende keine wundersame Heilkraft zu. Es ist Zeichen für jene schreckliche Faszination, die vom Grauen des Todes ausgeht. Daraufhin scheinen auch die Worte Gadamers zu zielen: „Es ist die ganze Unheimlichkeit des Todes, diese entsetzliche Fremdheit, die den Gestorbenen für die Lebenden ganz und gar ins Abseits scheidet, die hier denen begegnet, die, vom Lebensdurst getrieben, auf der Suche nach dem Trank sind. Das Motiv der Pietà klingt an.“ (GW 9, 457) Im Bild des gekreuzigten Gottes begegnen wir uns in unserem Todesschicksal selbst, als wär / der Leib eines jeden von / uns dein Leib, Herr. Gadamer kommentiert die Botschaft dieser Inversion so: „Das ist die große affirmative Konklusion, mit der das Gedicht sein Argument vollendet: ,Wir haben getrunken, Herr. Das Blut, und das Bild, das im Blut war, Herr.‘ Das heißt: obwohl es Blut war und das
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Blut, in dem der tote Leib Jesu sich spiegelte, haben wir es getrunken. Wir haben es angenommen und nicht schaudernd zurückgewiesen. Wir haben es angenommen, dass wir sterben müssen. Das ist es, was uns berechtigt zu sagen: ,Bete, Herr. Wir sind nah.‘“ (ebd.) In Celans Kommunion des Gott-Essens, in die dunkelste Bilder aus dem Abgrund der Seele einziehen, sieht Gadamer „eine letzte Einung mit dem sich von Gott verlassen fühlenden sterbenden Jesus“. (ebd.) Das Blasphemische der Bildersprache Celans eröffnet für ihn die Möglichkeit, in einer Zeit der äußersten Gottesferne noch an jene Mysterien des Leids zu erinnern, die im Zeichen des Kreuzes und überhöht wie verfremdet in der Sprache des Gedichts eine letzte Heimat finden: „Im immer sich wiederholenden ,Herr‘ erkennt der für uns Sprechende förmlich an, dass der am Kreuz gestorbene Jesus unser Herr bleibt, als der Leidende und Verlassene – wenn auch nicht als der Christus der Auferstehung.“ (GW 9, 458) Der Tod als Frage (1975), der konstatiert, dass die griechische Philosophie an dem, was der Tod ist, gescheitert sei, richtet seine Aufmerksamkeit gleichfalls auf Celans Gedicht Tenebrae und betont an ihm den rätselhaften inneren Zusammenhang „zwischen der Schwäche des Menschen und der Erfahrung des Todes“ (GW 4, 170). Ihn akzentuiert auch der Beitrag, den ich behandele. Er spricht erneut von einem „rätselhaften Ineins“ äußerster Verlassenheit am Kreuz und jener nicht zu verdrängenden „Todesgewissheit“, die als Angst das menschliche Dasein verschattet. Stellt dieses „Ineins-Sein“ den Menschen vor das Nichts? Oder erfährt er in ihm einen letzten, ihn tragenden Grund? Gadamer belässt die Antwort auf diese Fragen im Unbestimmten. Sie sind vielleicht nicht zu beantworten, auch wenn Celans bittere Lyrik ihre nihilistische Deutung nahelegt. Für den Literaturwissenschaftler sind jene abschließenden Betrachtungen Gadamers von Interesse, die sich mit dem „dichterischen Stilideal“ auseinandersetzen, das seit Goethe noch immer den Maßstab unserer literarischen Tradition bestimmt. An dieser Stelle fällt im Sinne einer Zäsur der Name Hölderlin, dessen große Hymnen zu seiner Zeit, wie Gadamer bemerkt, „überhaupt nicht als dichterische Schöpfungen eines bei Vernunft seienden Menschen angesehen [wurden], sondern als Produkte des Wahnsinns, dem er später verfiel“ (GW 9, 459). Es war das Verdienst der Generation, zu der Gadamer zählt, in ihnen „eine großartig kalkulierte, bewusste und gekonnte dichterische Form“ (GW 9, 460) erkannt zu haben.
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Noch die Gedichte aus Hölderlins spätester Zeit sind für Gadamer zu Recht die Offenbarung „einer Gattung von unbeschreiblicher Schönheit“. (ebd.) Die „Sinnverhüllung“ der „hermetischen Poesie“, über die so viele klagen, kann als „eine Befestigung“ gegen den alles nivellierenden „Wellenschlag“ der modernen Massenmedien verstanden werden. Dass diese Poesie in ihrem Widerstand gegen einen egalisierenden Konformismus des Denkens und Fühlens wie ein dunkler Block fremd in die moderne Menschenwelt hineinragt, ist als eine Herausforderung für den Denkenden anzunehmen. Sie zwingt dazu, der Frage nach ihrer Lesbarkeit nachzugehen. In ihrer Vernachlässigung liegt für Gadamer gleichsam eine „Schuld“ gegenüber der fremden Schönheitswelt einer Dichtung, wie sie die Lyrik Celans auf eine zunächst nicht erkennbare Weise auszeichnet. Dass sie konventionelle Sinnerwartungen an ein Gedicht zerstört, liegt auf der Hand. Dieser Provokation versucht eine immer noch anschwellende Flut von Kommentaren zu Celans Dichtung zu begegnen. Es ist bedauerlich, dass die Mühe der Interpreten über einen verschwindend kleinen Kreis von Experten hinaus kaum eine größere Anzahl an Lesern berührt. Dass sie zuweilen hermeneutisch Herausragendes zu leisten vermag, beweist die komparatistische Studie von M. Jakob „Schwanengefahr“. Das lyrische Ich im Zeichen des Schwans (2000). Sie zeigt, wie Celans gleichnamiges Gedicht nicht nur zum „Schwanengesang“ auf das eigene Schreiben wird, „das unaufhörlich zu erstarren droht“, sondern auch als ein Zeichen für das Ende „des Dichtens überhaupt“ gelesen werden kann. Sein bizarrer Schluss mit dem „asemantischen rhythmischen Fetzen“ (M. Jakob) Hei, Chebeldei, Chebeldei hallt lange im Ohr des Lesers nach. Der Verstörung, die solche dissonanten Klangbilder in uns gewöhnlich auslösen, gilt es, sich zu stellen. Das sind wir großer Dichtung schuldig. Oder, um es mit dem Großmut der Worte Gadamers zu formulieren: „Celan hat sein Äußerstes gegeben. So verlangt er ein Äußerstes und oft mehr, als wir aufbringen.“ (GW 9, 460)
Literatur Gesammelte Werke Von 1985 bis 1995 erschien eine zehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke von Gadamer, von der es seit 1999 eine preiswerte Taschenbuchausgabe (UTB 2115) gibt. Nach ihr wird unter GW mit Band- und Seitenzahl zitiert. Bücher, die einzeln erschienen sind Die Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1976 Philosophische Lehrjahre, Frankfurt a. M. 1977 Poetica, Frankfurt a. M. 1977 Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 1977 (GW 8, 94–142) Lob der Theorie: Reden und Aufsätze, Frankfurt a. M. 1983 Das Erbe Europas: Beiträge, Frankfurt a. M. 1989 Gadamer-Lesebuch, hg. v. J. Grondin, Tübingen 1997 Der Anfang der Philosophie, Stuttgart 1997 Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999 Gadamer in der Diskussion Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. v. J. Habermas, D. Henrich u. J. Taubes, Frankfurt a. M. 1971 Hermeneutische Wege. H-G. Gadamer zum Hundertsten, hg. v. G. Figal, J. Grondin, D. J. Schmidt, Tübingen 2000 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, hg. v. G. Figal, Berlin 2007 Interviews H.-G. im Gespräch: Hermeneutik – Ästhetik – Praktische Philosophie, hg. v. C. Dutt, Heidelberg 1993 Dialogischer Rückblick auf das Gesammelte Werk und dessen Wirkungsgeschichte, in: Gadamer-Lesebuch, hg. v. J. Grondin, Tübingen 1997, S. 280–295 H.-G. Gadamer, Die Lektion des Jahrhunderts. Ein philosophischer Dialog mit R. Dottori, Münster – Hamburg – London 2001 (Leider sehr schlecht übersetzt.)
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Literatur
Sekundärliteratur Figal, G., Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, Stuttgart 1996 –, Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, hg. v. G. Figal, Stuttgart 2000 Grondin, J., Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999 –, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000 –, Einführung in die philosophische Hermeneutik, 2. Aufl., Darmstadt 2001, S. 152–172 –, Hermeneutik, Göttingen 2009 Hammermeister, K., Hans-Georg Gadamer, München 2000 Krämer, H., Kritik der Hermeneutik, München 2007 Olay, C., Hans-Georg Gadamer. Phänomenologie der ungegenständlichen Zusammenhänge, Würzburg 2007 Tietz, U., Hans-Georg Gadamer zur Einführung, Hamburg 2000 Wischke, M., Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, Köln – Weimar – Wien 2001
Personen Aischylos 21, 73, 125, 136 Albert, K. 71, 123 Aquin, T. v. 92, 114 Aristoteles 10, 13, 22, 25 f., 49, 59, 67– 69, 73, 85, 87, 94, 98, 101, 104, 112, 115, 123–126 Augustinus 22, 28, 91–93, 95, 100, 114, 128 Bach, J. S. 49, 146 Barth, K. 55 Blumenberg, H. 62 Bothe, H. 107 Bultmann, R. 70, 104 Burckhardt, J. 63 Celan, P. 117, 130 f., 145–149 Cervantes, M. de 54 Cicero 36 Collingwood, R. G. 76 Coseriu, E. 87 f. Cusanus, N. 95 f., 100 Dante 54 Derrida, J. 109 Descartes, R. 34 Dilthey, W. 9 f., 14–16, 18, 39, 54, 57–59, 65–67, 71 Dostojewskij, F. 80 Dottori, R. 25 f., 151 Elytis, O. 53 Erasmus 36 Flasch, K. 95 f. Freud, S. 122 Friedrich, H. 40 Geier, S. 80 Goethe, J. W. v. 12, 29, 36, 49 f., 53, 102, 130 f., 145, 148
Gracián, B. 37 Grassi, E. 27, 49, 111 Grondin, J. 7, 22, 28, 30, 64, 90 f., 93 f., 118, 151 f. Habermas, J. 122 Hegel, G. W. F. 13, 15 f., 18, 20 f., 23, 27, 36 f., 40, 42, 49 f., 52, 54–59, 62–67, 73 f., 76, 82, 94, 98, 103–106, 110, 124 f. Heidegger, M. 10, 12–15, 17 f., 21–25, 27–29, 46, 50, 53, 59–61, 64, 66 f., 88, 90 f., 98, 101, 106, 118, 130, 134, 140 Helmholtz, H. v. 34 Heraklit 19 f., 22, 27, 46, 87, 116 Herder, J. G. 28, 36, 64, 85, 95, 109 Hobbes, T. 124 Höffe, O. 38 f. Hölderlin, F. 52, 54, 107 f., 112, 117, 130– 137, 145 f., 148 f. Homer 54, 133, 144 Honnefelder, L. 125 f. Huizinga, J. 46 Humboldt, W. v. 28, 85, 95, 97, 109, 130 Husserl, E. 10 f., 14, 17, 29, 57–59, 66 Kant, I. 11, 20, 25 f., 37–40, 46, 57, 62, 85, 90, 126 Kierkegaard, S. 10, 22, 26, 48, 59, 70, 74, 119, 139 Kiesow, K.-F. 7 Kimmerle, H. 55 Kleist, H. v. 83 Kobusch, Th. 93 Kommerell, M. 83, 137 Krämer, H. 27, 152 Kurz, G. 100 Löwith, K. 74 Lücke, F. 54
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Personen
Marx, K. 122 Meister, E. 30 Meyer, C. F. 143 Michel, W. 52 Mill, J. St. 34 Muschg, W. 87, 139 Nietzsche, F. 10, 15, 18 f., 24, 26, 30, 40– 42, 46, 48, 54, 56 f., 66, 69, 83, 85, 99 f., 104 f., 115f., 122, 127, 132, 140 Petrarca 36 Plato 13, 16, 21–28, 51 f., 55, 75 f., 78, 84, 87–94, 98, 101, 104 f., 109–117, 119, 123–126, 128 Plotin 114 Reale, G. 116 Rese, F. 77 Ricœur, P. 123 Rilke, R. M. 28, 46, 117 f., 130 f., 139– 145, 147
de Saussure, F. 110 Schadewaldt, W. 29, 49, 80
Schefold, K. 113 Schiller, F. 39 f., 46 Schleiermacher, F. 9 f., 25, 54–56, 64, 83 Schmidt, D. J. 118, 151 Schopenhauer, A. 50 Schrott, R. 81 Schulz, W. 13, 102 f., 143 f. Scott, Ch. 110 Sophokles 47, 54, 117 Stierle, K.-H. 107 f. Stoa, die (auch Stoiker) 126, 128 Szondi, P. 55 Tolstoi, L. 29 f., 77 Tugendhat, E. 24 Vergil 54 Vico, G. 28, 37, 57, 125 Wagner, R. 41 Wartenburg, Graf Y. v. 58 Weber, M. 71 Wiehl, R. 26 Wind, E. 54 Wittgenstein, L. 24, 78, 99
Sachen Abbild 23, 51, 88, 93, 116 aisthesis 29 aletheia 88, 101, 113, 116 Anamnesis 76 Anerkennung 21, 25, 42, 46, 61, 63, 65, 67, 75, 82, 95, 99, 102–104, 119, 123, 125, 142 Anspruch (auch: Anrede) 48, 63, 71, 84, 104 Antike 9, 19 f., 101, 104, 111, 114, 136 Applikation (auch: Anwendung) 9, 25 f., 36, 56, 66–71, 117, 123, 130, 137 Apriori 22 ars interpretandi 9 Ästhetik 38–40, 42, 50, 54, 130, 151 Ästhetizismus 41 Aufklärung 26, 62 f., 124, 126 Auslegung 9, 15, 18, 23, 27 f., 54 f., 59, 66 f., 70, 80–85, 90, 104, 108 f., 130, 136 Außersprachliches 11 Bewusstsein 9, 11–20, 22, 29, 36, 42, 46, 49 f., 52–59, 62, 65 f., 73–75, 81, 85, 99, 105 f., 108, 117, 124, 135 Cartesische Reflexion 11 daimonion 128 Da-Sein 10 f., 29, 98, 104, 109 Daseinsanalytik 17 Daseinsvollzug 10 Deduktion 11 Dekonstruktivismus 109 Deutscher Idealismus 9, 62 f., 103, 125, 127, 136 Dezisionismus 26 Dialektik 18 f., 21, 23, 26, 47 f., 52, 73–77, 88, 94, 102–106, 108, 127 Dualismus 40
eidos 68, 90 Elenktik 75 eleos 49 Emanation 51, 93 Ende der Metaphysik, das 21, 123 Endlichkeit 9, 22, 25 f., 30, 49, 60, 74, 77, 85, 96, 101, 110, 115, 119, 141 episteme 68 Ereignischarakter 115 Erfahrung, ästhetische 7, 42 f. Erfahrung, hermeneutische 7, 23, 26, 61, 71, 73, 77, 80, 85, 96–98, 102, 104 f., 108, 110, 115 f., 118 Erkennen 18, 59 Erkenntnis 10, 12, 14, 16, 18–21, 24, 28 f., 33 f., 36, 38–40, 47, 49, 58, 68, 70, 74, 86–88, 93, 95, 97–100, 103, 110 f., 114, 117, 122–124, 127, 142 Erkenntnistheorie 127 Eros 24, 109, 111 Erscheinung 11–13, 15, 23, 28, 34, 50, 52, 86, 95, 102, 111 f., 115 f. Ethik 25 f., 63, 67–69, 125 f. eudaimonia 125 Existentiale 60 Gegebenheit 22, 39, 83, 93, 126 Geist, der absolute/objektive 50 Geniebegriff 38 Geschichtlichkeit (auch: Historizität) 10, 16, 18, 21, 25, 61, 65, 73 f., 127 Gespräch 7, 11–14, 16 f., 20, 24–26, 30, 53, 56, 61, 63, 76 f., 80–82, 92, 99, 104, 106 f., 109, 115, 122–124, 127 f., 130 Gott 9, 13, 23, 53, 70, 91–93, 104, 106, 114–116, 123, 132 f., 135–137, 140, 142, 145–148 hermeneia, hermeneuein 9 Hermeneutik 7, 9, 10, 13–17, 19, 22, 24 f., 27–31, 34, 47, 53–57, 59–61, 64–67, 69–
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Sachen
71, 74, 77, 79 f., 82–85, 97, 100, 103 f., 107, 109 f., 114, 117–119, 122–124, 126 f., 130, 137, 142, 151 f. Hermeneutik der Faktizität 10, 59 Hermeneutik, idealistische 10 Hermeneutischer Zirkel 64 Heuristik 34 Historische Schule, die 9, 57 f. Historismus 10, 14, 17, 54, 77 Homoousialehre 92 Horizont 14, 17, 64, 66, 77, 97, 99, 114, 127 Horizontverschmelzung 18, 48 Humanismus 9, 36–38, 140 Humanität 36
Mantik 9 Metaphysik 16, 21, 56 f., 90, 92, 95, 102– 104, 109, 114 f., 123 methexis 53, 112 Methodenideal 10 methodos 34 mimesis 47, 51 Moral 38 Mythos 47, 62, 66, 133–136
Ichrede 29 Idee des Guten 23, 25, 53, 68, 111, 125 Idee des Schönen 111 f., 115 Identität 19 f., 48, 53, 63, 98, 105–108, 110 Identität, kulturelle 17 Individualität 27, 55 f., 69 Induktion 34, 94 Inkarnationsdogma 28 Innere Gestimmtheit 24 Intentionalität 58 Interesseloses Wohlgefallen 40
Objektivismus 18, 65 onoma 87 Ontologie 13, 28, 48, 86, 97 f.
kairos 17 Katabasis 65 Klassische, das 64 Konkretion 58, 84 Kritizismus 25 Kunst 7, 9–16, 23, 33 f., 38 f., 40 f., 42, 46– 56, 63 f., 80, 85, 88, 101, 105, 107, 111 f., 115, 117 f., 122 f., 127, 131, 136 Lebenswelt 16, 58, 69 Leiden 21, 49, 74, 118 Linguistik 110 Logik 58, 73, 76, 81, 86, 98, 106, 118 f., 127 Logos 22 f., 26 f., 53, 87, 89–93, 98, 101, 109 f., 114, 128
Neukantianismus 14 f., 77, 101 Neuplatonismus 51, 93, 95 Nihilismus 30, 132 noesis noeseos 22, 93 Nominalismus 26, 47, 90
paideia 36 penia 24, 109 Phänomenologie des Geistes 18, 55, 66, 74, 106, 125 phobos 49 phronesis 25, 68 f., 77, 127 Platonismus 21, 112 poros 24, 109 Positivismus 10 Pragmatismus 25 Psychoanalyse 122 Psychologie, verstehende 9 Psychologismuskritik 58 Psychopompos 9 Radikalisierung, philosophische 10 Relativismus 24, 58 Repräsentation 39, 50–52 Romantik 56 f., 62, 66, 82 Sache des Denkens, die 22, 28, 61, 104 Schöne, das 23, 40, 50, 52, 111–116, 118, 151 Schuld 59, 249 Schriftdenkmale 9 Seele 9, 11, 25, 76, 85, 88, 91 f., 101, 111, 117, 126, 128, 135, 140, 148
Sachen Seele, denkende 98 Seiende, das 26, 60, 88, 98 f., 101, 104, 107, 110, 112, 115, 133 Sein 10, 12, 14, 17 f., 22 f., 26–29, 40, 47, 50–53, 59, 80, 84 f., 87, 89 f., 95 f., 98 f., 102 f., 109, 114–116, 134 Seinsvalenz des Bildes 50 f., 53 Seinsvergessenheit 90 Selbstbewusstsein 56, 58 f., 106, 108 Selbsterfahrung 105 Selbsterkenntnis 10 sensus communis 37 Sophistik 25, 27 f., 75, 125 Sorge 59, 137 Spekulative, das 105 f., 108 f. Sphinx 19, 74 Spiel 23, 35, 40, 46 f., 53, 71, 76, 117 f., 126 f., 130 Spielraum 11, 24, 46, 85 Sprache 10–13, 16 f., 22 f., 25–30, 42, 48 f., 54 f., 76, 78–110, 122 f., 127, 130, 134 f., 140, 142, 147 f. Spracherscheinungen 11 Sprachlichkeit 11, 13, 17, 22, 60, 80, 82, 84, 93, 96, 98–101, 108–110, 127 Sprachspiel 24, 117 Sprachunbewusstheit 86 Sprachvergessenheit 90 Strukturalismus 13, 110 techne 68 f., 75, 77, 88, 125 Text 11, 15, 30, 54, 58, 61, 67, 70 f., 77, 84, 107 f. Tod 13, 29–31, 100, 117, 139, 141–148
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Trieb (auch: Stofftrieb, Formtrieb, Spieltrieb) 39 f. Transzendenz 12, 23 Trinitätslehre 28, 90 Universalität 10, 16 Urbild 23, 40, 50–52, 88, 103, 112, 136 verbum interius 25, 91 verbum mentis 91 Vernunft (auch: Vernünftigkeit) 13–15, 18, 20, 24 f., 57 f., 62 f., 65, 68, 73 f., 77, 89 f., 103, 105, 115 f., 119, 122, 124–127, 148, 151 Vernunft, denkende 98 Vernunft, historische 16 Vernunft, Schlaf der 21 Verstehen 9–19, 22 f., 25, 27–30, 40, 42 f., 46 f., 50, 54–56, 59–71, 73, 77, 81–85, 87, 100 f., 104 f., 107–110, 114–118, 122, 127, 130, 152 Vorsprachlichkeit 27 Weimarer Klassik 36, 39 Weisheit 21, 25, 30, 42, 62, 116, 118, 140 Welt 9, 11–13, 15–18, 21, 23, 27–29, 34, 42, 49–51, 55, 57, 59, 64–66, 73, 75, 84, 96–105, 107, 109, 118, 127, 136, 140–142 Wertontologie 25 Wissenschaftstheorie 10, 30 Zeitlichkeit 16, 59 Zirkelstruktur (auch: Zirkelstruktur des Verstehens) 18, 27, 61, 64