Paradigmata, Band 20: Aristoteles über Getrenntheit und Ursächlichkeit: Der Begriff des eidos choriston 3787314415, 9783787314416

Im Zentrum von Aristoteles' Kritik an Platon steht der Vorwurf, Platon habe die Ideen zu selbständigen Entitäten er

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German Pages 366 [378] Year 2000

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Paradigmata, Band 20: Aristoteles über Getrenntheit und Ursächlichkeit: Der Begriff des eidos choriston
 3787314415, 9783787314416

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Johannes Hübner Aristoteles über Getrenntheit und Ursächlichkeit Der Begriff des »eidos choriston«

PARADEIGMATA 20

PARADEIGMATA

Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

Johannes Hübner, Jg. 1968, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Mainz, studierte Philosophie, Griechische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München. Von 1994 bis 1999 Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt der DFG zum griechischen Physis-Begriff. 1999 Promotion mit der vorliegenden Arbeit.

JOHANNES HÜBNER

Aristoteles über Getrenntheit und Ursächlichkeit Der Begriff des eIBogetrennt< nur verschleiere. Wenn das zuträfe, so würde insbesondere zweifelhaft, inwiefern die begriffliche Getrenntheit überhaupt eine genuine Art von Getrenntheit ist. Daher wird im Folgenden zunächst der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit interpretiert. Weil AristoteIes an mehreren anderen Stellen die begriffliche von einer örtlichen Getrenntheit unterscheidet und sie in der zitierten Passage wiederum der uneingeschränkten Getrenntheit gegenüberstellt,4 scheint es naheliegend zu sein, daß er örtliche und uneingeschränkte Getrenntheit miteinander iden-

, Vgl. Ross (192411,227), Morrison (1985a, 130/FN 9), Bostück (1994, 251). AristüteIes erklärt in A 7, 1073a 4f., daß die ewige und unbewegte Substanz, also der erste Beweger, »abgetrennt (X€XWP1crll€:Vll) von dem Wahrnehmbaren« sei. Vgl. EI, 1026a lOf.; Z 17, 1041a 7-9; K 2, 1060a 26; für die Getrenntheit des aktiven Geistes (voü~) vgl. An. 111 5, 430a 17. Es ist auffällig, daß Aristoteles in bezug auf den ersten Beweger den Ausdruck X€XWPlcrlltvo~ verwendet, in bezug auf die konkreten Substanzen dagegen fast immer xwplcr't6~; allenfalls M 10, 1086b 17 könnte als Ausnahme betrachtet werden. Jedoch lassen sich daraus, soweit ich sehe, keine Schlüsse für die Interpretation von xwplcr't6~ ziehen. Z. B. wäre die Annahme falsch, xwplcr't6~ müsse im Unterschied zu X€X(OPlcrll€:VO~ mit ,trennbar< übersetzt werden. Meist, aber nicht immer ist die Version 'getrennt< vorzuziehen; vgl. dazu den Anhang. :> Ebenso sagt Aristoteles in Phys. 11 1, 193 b 4f. von der physischen Form, sie sei »allenfalls dem Begriff nach getrennt«. , Vgl. Ge I 5, 320b 24; An. 11 2, 413 b 14f.; I I, I052b 17.

Eine konservative Deutung

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tifiziert-' Eine Untersuchung des Begriffs der örtlichen Getrenntheit ist deshalb ein geeigneter Ausgangspunkt.

§ 2 Uneingeschränkte und örtliche Getrenntheit Der Begriff der örtlichen Getrenntheit ist intuitiv so leicht verständlich, daß eine Erörterung seines Sinns bei Aristoteles überflüssig erscheint. Örtlich getrennt, so wird man vermuten, ist genau dasjenige, was nicht an demselben Ort ist. Mit dieser Formulierung würde man jedoch eine entscheidende Bedingung übergehen, die Aristoteles in seiner Definition für örtliche Ge-

trenntheit anführt: »Ich sage, daß dem Ort nach dasjenige zugleich (liJ.la) ist, was in einem einzigen primären Ort ist, getrennt (xwpi~) dagegen, was in einem verschiedenen ist, und daß dasjenige in Berührung steht, dessen Grenzen zusammen sind«. 6

Die durch die vorläufige Formulierung nicht erfaßte Pointe ist, daß nach dem aristotelischen Verständnis nur solches dem Ort nach getrennt sein kann, was auch selbst an einem Ort ist. Das ist keine unwichtige Einschränkung, denn Aristoteles hat eine eigentümliche Theorie über den Ort, wonach nicht etwa »jegliches Seiende« einen Ort einnimmt, sondern lediglich der

»bewegungsfähige Körper«.' Die Wurzel dieser Auffassung ist wohl darin zu suchen, daß sich die Frage nach einem Ort für Aristoteles primär in bezug auf das stellt, was einen Ortswechsel vollziehen kann. 8 Dasjenige, was nicht

oder nur akzidentell bewegt werden kann, wie z. B. die Seele nur insofern be, Vgl. ehen (1940, 80, 87/FN 267) für diese Ansicht. 6 Phys. V 3, 226b 21-3; vgl. K 12, 1068b 26-27. Die Bedingung »primär« soll ausschließen, Dinge als örtlich zugleich anzusehen, die zwar einen übergeordneten Ort wie die Erde gemeinsam haben, aber dennoch an verschiedenen spezifischen Orten sind. Vgl. Phys. IV 2, 209a 31-b 1 zur Unterscheidung eines »gemeinsamen« (xolv6~) und eines »spezifischen« (t010~) Ortes. 7 Vgl. Phys. IV 5, 212b 29; 4, 212a 6af. (nach Ross'scher Zeilenzählung). Daher sind z. B. die mathematischen Gegenstände nicht an einem Ort, vgl. Phys. IV 1, 208b 23. R Vgl. Phys. IV 4, 211a 13-14. Es ist klar, daß nur solches, was an einem Ort ist, einen Ortswechsel vollziehen kann. Daß auch das Umgekehrte gilt, ergibt sich für Aristoteles aus folgender Überlegung: Was immer an einem Ort ist, befindet sich in umfassenden Grenzen (vgl. Phys. IV 2, 209b 1 f.; 4,211 b 8f., 212a 6, 20f.), und nur Körper können von Grenzen umfaßt sein. Da ferner umfassende Grenzen stets die Grenzen eines Körpers sind, es sich bei dem Ort, in dem ein Körper ist, aber nicht um die eigenen Grenzen handeln kann (denn diese sind nicht vom Körpertrennbar), müssen die Grenzen, welche den Ort für den einen Körper ausmachen, die Grenzen eines anderen Körpers sein. Also wird jeder Körper, der an einem Ort ist, von einem anderen Körper umgeben, d. h., er könnte auch woanders sein, als er tatsächlich ist.

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Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

wegt wird, als sich der betreffende Träger bewegt, nimmt entsprechend auch nur akzidentell einen Ort ein. 9 Dagegen können die Teile eines Körpers, die sich möglicherweise aus dem Ganzen lösen, immerhin in die Lage kommen, sich an sich zu bewegen, weshalb sie von Aristoteles als potentiell einen Ort einnehmend charakterisiert werden. lo Aber nur die materiellen Einzeldinge sind an sich und im Modus der Wirklichkeit an einem Ort, so daß die örtliche Getrenntheit als auszeichnendes Merkmal dieser Entitäten gelten kann: »Der Ort ist nämlich den Einzeldingen eigentümlich, deshalb sind sie dem Ort nach getrennt; die mathematischen Objekte sind dagegen nicht irgendwo« (N 5, 1092a 18-20). Das Konzept der örtlichen Getrenntheit greift die Körper heraus, die voneinander numerisch verschieden sind. Daher eignet es sich als ontologisches Kriterium, denn Aris!oteles hält an der seiner Auskunft nach gemeinhin anerkannten Substantialität der Körper fest l l Das Konzept läßt sich flexibel einsetzen, denn man kann die ontologische Dignität verschiedener Entitäten klassifizieren, indem man angibt, ob es nur akzidentell oder an sich und potentiell oder wirklich einen Ort einnimmt. Insofern scheint die örtliche Getrenntheit ein ernstzunehmender Kandidat zur Erklärung der uneingeschränkten Getrenntheit zu sein. Jedoch ergibt sich aus der Bindung der örtlichen Getrenntheit an die Bedingung der Orts einnahme nicht nur die Relevanz des Kriteriums der örtlichen Getrenntheit, sondern zugleich, daß es nicht auf die immateriellen Substanzen anwendbar ist, die nach dem Zitat aus H 1 uneingeschränkt getrennt sind. Also impliziert die uneingeschränkte nicht

örtliche Getrenntheit, aber es scheint durchaus plausibel, daß die umgekehrte Jmplikation gilt. Man hat das in der Forschung bestritten, dafür jedoch nur unzureichende Gründe vorgetragen, weil man über die Implikationen des Begriffs der örtlichen Getrenntheit hinweggegangen ist. So behauptet Gail Fine, die örtliche Getrenntheit impliziere nicht die uneingeschränkte, weil z. B. mein Schatten zwar örtlich, aber nicht uneingeschränkt von mir getrennt sei. 12 Donald Morrison wiederum führt mit dem gleichen Beweisziel das Beispiel eines Fingers an, welcher zwar örtlich getrennt vom übrigen Körper sei, aber nicht die 9 Vgl. zur Unterscheidung von an sich und akzidentell Bewegtem Phys. IV 3, 211a 17-23 und mit Bezug auf die Seele An. I 3, 4ü6a 4-22; zur Unterscheidung von an sich und akzidentell an einem Ort Befindlichem Phys. IV 5, 212b 7-12; zum Beispiel der Seele vgl. auch Phys. VIII 6, 259b 16-20. " Vg!. Phys. IV 5, 212b 3-6; IV 4, 211a 29-34. " Vg!." 8, 1017b 10-14; Z 2, 1028b 81.; H I, 1042a 7-11; M 2, 1077a 31-2. 12 Vgl. Fine (1984,37). Fine spricht in dem Beispiel zwar von der »Fähigkeit zur unabhängigen Existenz«; aber weil sie das damit Bezeichnete mit dem Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit gleichsetzt (5. 36), ist es legitim, ihre These so wiederzugeben.

Eine konservative Deutung

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Getrenntheit einer Substanz besitze. 13 Augenblicklich kommt es nicht so sehr darauf an, was die beiden Interpreten unter uneingeschränkter Ge-

trenntheit verstehen, sondern nur darauf, daß jedenfalls ihre Beispiele nicht für örtliche Getrenntheit stehen können: Denn weder ein Schatten noch ein Körperteil nehmen nach Aristoteles einen Ort ein, so daß sie auch keine örtliche Getrenntheit besitzen. Das Konzept der örtlichen Getrenntheit ist also von höherer ontologischer

Aussagekraft, als sonst angenommen. Aus der Bedeutung des Konzepts darf man zwar nicht, wie gesehen, auf seine Äquivalenz mit dem Konzept der un-

eingeschränkten Getrenntheit schließen, aber in bezug auf die Körper läßt sich eine erste These zum Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit (TuG) aufstellen: TuG 1 Etwas ist genau dann ein uneingeschränkt getrennter Körper, wenn es örtlich getrennt ist.

§ 3 Das Getrennte als Zugrundeliegendes (Phys. J 2) Bei Aristoteles findet sich der Ausdruck >uneingeschränkt getrennt< nur ein einziges Mal, in der zitierten Stelle aus H 1. Um seine Bedeutung zu klären,

muß man daher die Stellen heranziehen, in denen Aristoteles den Begriff der Getrenntheit ohne qualifizierende Zusätze verwendet und außerdem mit einer Erläuterung versieht. Aussagen über die Getrenntheit der konkreten,

dem Werden und Vergehen unterliegenden Substanzen sind bevorzugt zu berücksichtigen, denn letztere sind die Paradigmen, auf die der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit zugeschnitten ist.

Eine solche Stelle findet sich in Phys. I 2, wo Aristoteles die eleatische These erörtert, daß »alles eins« sei. Aristoteles kritisiert, daß diese Behauptung unklar sei; sie könnte z. B. so gemeint sein, daß alles Seiende eine einzige Substanz sei oder aber eine einzige Qualität. Letzteres wiederum sei absurd: »Wenn aber alles Qualität oder Quantität sein soll, so ist das ungereimt, ob es nun eine Substanz gibt oder nicht - wenn man denn das Unmögliche ungereimt nennen muß. Denn nichts von dem anderen ist getrennt, außer der Substanz. Denn alles wird von der Substanz als Zugrundeliegendem ausgesagt

(xab'

UTCOXEt~tvO\)

1c€YE,at).«14 Aristoteles bezeichnet die fragliche Positi-

Vgl. Morrison (1985a, 130). 185a 29-32. Auch Morrison (1985a, 128, 139), dessen Interpretation weiter unten diskutiert wird, und GiB (1989, 3M.) gehen zur Erklärung von >uneingeschränkt getrennt< 13

14

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Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

on als unmöglich, weil seiner Ansicht nach Qualitäten und Quantitäten, wie generell alles Nichtsubstantielle, Bestimmtheiten von Substanzen sind, wes-

halb das Seins ganze nicht bloß eine Qualität oder eine Quantität sein könne. Vielmehr müßte es, wie Aris!oteles sich ausdrückt, von einer zugrundelie-

genden Substanz ausgesagt werden, d. h. es wäre die Qualität oder Quantität einer Substanz. Damit knüpft Aris!oteles an Bestimmungen aus Cat. an. Dort identifiziert er die »primäre Substanz« als dasjenige, das »weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist«, während alles andere entweder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird oder einem solchen inhäriert. 15 Diese Bedingungen mögen >Subjekt-Kriterium< heißen.

Die Begriffe, durch die es formuliert wird, bezeichnen grundlegende ontologische Verhältnisse: Das von einem Zugrundeliegenden oder Subjekt Ausgesagte sind die wesentlichen Bestimmungen von etwas, was dagegen »in einem

Zugrundeliegenden« oder Subjekt ist, sind die nicht wesentlichen Bestimmungen von etwas. 16 Auch wenn Aristoteles diese Terminologie in anderen

Schriften nicht beibehält,17 sondern wie in der zitierten Stelle aus Phys. mit >von einem Zugrundeliegenden Ausgesagtwerden< auch die Inhärenz von

Cat. bezeichnet, so bleibt er doch der Identifikation der Substanz als nicht aussagbares Zugrundeliegendes oder letztes Subjekt treu." Eine Definition dieses Begriffs gibt Aristoteles nicht, so daß man sich mit Umschreibungen behelfen muß: Eine primäre Substanz ist nicht die Bestimmung oder Modifikation von irgend etwas anderem, sondern etwas Selbstän-

diges »wie z. B. der bestimmte Mensch oder das bestimmte Pferd" (Cat. 2, 1 b 4). Solche Substanzen sind nach Cat. numerisch einzelne Individuen; das ist allerdings nicht spezifisch für die primären Substanzen, da nach Cat. 2, 1 b von Phys. 185a 31 f. aus. SpeIlman (1995, 85) wendet dagegen ein, der Begriff des Zugrundeliegenden sei nach Z 3 mehrdeutig, da er sowohl die Materie als auch die Form und das Konkretum bezeichnen könne, und eigne sich deshalb nicht, um die Bedeutung von >getrennt< zu klären. Darauf ist zu erwidern, daß Aristoteles aus in Z 3 dargelegten Gründen tatsächlich nicht an der Erklärung des Begriffs der Getrenntheit durch den des Zugrundeliegenden festhält (vgl. I §9). Aber gleichwohl ist das unzweifelhaft sein Begriffsverständnis in Phys. I 2 (und anderen frühen Passagen). " Vg!. Cat. 2, 1 b 31.; 5, 3a 8-9. 16 Aristoteles drückt das in Cat. 5, 2a 19-34 damit aus, daß die Definition eines Ausgesagten auch von dem Subjekt muß ausgesagt werden können, während die Definition eines Inhärierenden keinesfalls von dem Subjekt ausgesagt werden könne. 17 Die meines Wissens einzige Ausnahme ist Top. IV 6, 127b 1-4. IR Vgl. außer der oben zitierten Stelle aus H 1: APo. 122, 83a 24-32; 83b 11 f., 20f., 26; Phys. I 7, 190a 33-b 1; III 4, 204a 23 I.; Long. 465 b 6 I.; B 5, 1001 b 29-32; " 8, 1017b 13 I.; Z:\ 1029al-3; Z 13, 1038b 2, 15. Im Folgenden bezieht sich ,das von einem Zugrundeliegenden Ausgesagte< indifferent auf substantielle und nichtsubstantielle Eigenschaften.

Eine konservative Deutung

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6-9 auch gewisse inhärierende Entitäten »unteilbar und der Zahl nach eines« sind. 19 Das nicht aussagbare Zugrundeliegende ist also zum einen ontologisch unabhängig von einem anderen Zugrundeliegenden, zum anderen ist es das ontologische Fundament für die Entitäten, die seine Bestimmungen sind. Aus diesem Grund identifiziert Aristoteles es mit der primären Substanz, denn die primäre Substanz zeichnet sich dadurch aus, daß dann, wenn die primären Substanzen nicht existierten, auch nichts anderes sein könnte (Cat. 5, 2 b Sf.). Das übrige steht also in einseitiger Abhängigkeit zu den primären Substanzen. In Cat. arbeitet Aristoteles mit einem im Vergleich zu Met. eingeschränkten ontologischen Vokabular, und er vertritt Auffassungen, von denen er in Met. sichtbar abweicht. So begreift er, das ist wohl der wichtigste Unterschied, in Met. nicht die konkrete Substanz, sondern die Form der konkreten Substanz als primäre Substanz. Die gängigste und plausibelste Erklärung dafür ist, daß Cat. eine frühe ontologische Konzeption dokumentiert, die in Met. erweitert und revidiert wird. 20 Dieser Einschätzung schließe ich mich an. Für meine Interpretation ist es jedoch nicht wesentlich, daß die beiden Werke in dieser chronologischen Abfolge stehen; auch wenn das m. E. un-

19 Der Status der nichtsubstantiellen Einzeldinge aus Cat. wird in der Forschung diskutiert, seit Owen (1965) die traditionelle Auffassung in Frage gestellt hat, wonach diese Einzeldinge unwiederholbare Exemplifizierungen nichtsubstantieller Eigenschaften sind. Nach Owen sind sie dagegen als vollständig determinierte, aber prinzipiell reproduzierbare Eigenschaften zu verstehen. Auch wenn Owens Position Unterstützung durch Frede (1987) erfahren hat, verteidigt die überwältigende Mehrheit der Interpreten die traditionelle Auffassung, der auch ich mich anschließe. Vgl. für die traditionelle Deutung z. B. Devereux (1992) und Wedin (1993). 20 V gL Oehler (1984, 117-19). Für die Gegenüberstellung der ontologischen Konzeption von Cat. mit der »reifen« Ontologie von Met. vgl. exemplarisch Loux (1991) und Lewis (1991). Düring (1966,48-52) und Flashar (1983,2361.) ordnen die logischen Schriften der »Akademiezeit« des Aristoteles zu (367-347 v. Chr.). Es ist auffällig, daß der Begriff der Materie in den logischen Schriften nicht auftritt. Wie Dancy (1978, 373-382) und besonders Graham (1984, 39-43) belegen, besteht guter Grund zu der Annahme, daß Aristoteles zur Abfassungszeit des Organon noch nicht über das Konzept der Materie verfügt. Graham (1984, 37-39) argumentiert außerdem überzeugend gegen die These von Happ (1971,270), es lasse sich »[... ] keine Frühperiode des Aristoteles feststellen, in welcher der Begriff \lAll überhaupt noch nicht oder nur in einer - womöglich sehr >akademischengetrenntgetrennt< in Phys. I 2, wo es den Begriff der primären Substanz aus Cat. bezeichnet, dasselbe wie >uneingeschränkt getrennt< in H 1 bedeutet. Denn beide Begriffe sind auf die konkreten Substanzen zugeschnitten, wie es die in Cat. genannten Menschen und Pferde sind, lassen sich aber auch auf immaterielle Substanzen wie den ersten Bewe21

Das ist die Ansicht von Furth (1988, 38f. mit FN 12).

Eine konservative Deutung

21

ger anwenden, der nicht die Bestimmtheit von etwas anderem ist. Damit lautet die zweite These zum Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit: TuG 2

Etwas ist genau dann uneingeschränkt getrennt, wenn es ein nicht aussagbares Zugrundeliegendes im Sinn von Cat. ist.

Die Einschränkung auf Cat. ist erforderlich, weil Aristoteles den Begriff des Zugrundeliegenden in Met. nicht nur im Sinn von Cat. verwendet, was ein

Beispiel für die vorhin angesprochene Begriffserweiterung ist. Man kann das schon aus der in I §1 zitierten Passage aus H 1 ablesen, in der Aristoteles drei

Typen von Substanz und Zugrundeliegendem unterscheidet. Danach ist nämlich sowohl die Materie, die in Cat. gar nicht erwähnt wird, ein Zugrundeliegendes, als auch die Form, ohne daß sie uneingeschränkt getrennt wäre; in welchem Sinn genau sie ein Zugrundeliegendes ist, wird später zu klären sein. Vorläufig genügt es, sich an der Konzeption von Cat. zu orientieren, wonach

ein letztes Subjekt sowohl ontologisch unabhängig ist, weil es nicht die Bestimmtheit von etwas anderem ist, als auch ontologisch basal, weil andere

Entitäten abhängig von ihm sind. Aristoteles muß beide Aspekte mit dem Begriff des Getrennten verbinden, wenn dieser mit dem des Zugrundeliegenden äquivalent ist.

Die Deutung des Begriffs der Getrenntheit durch den des Zugrundeliegenden ist durchaus nicht neu und wird von einigen Interpreten entschieden vertreten. 22 Ross verficht die Deutung wenigstens tendenziell, wenn er erklärt, daß die Substanz im Unterschied zu den anderen Kategorien »für sich« (»apart«) existieren könne, während z. B. eine Qualität für ihre Existenz der

»Ergänzung« (»supplementation«) durch eine Substanz bedürfe." Ebenfalls dieser Auffassung verpflichtet sind Autoren, die den Begriff der Getrenntheit durch »Subsistenz« und ähnliche Ausdrücke wiedergeben. 24 Zur Unterscheidung gegenüber einigen neueren, unten diskutierten Interpretationen soll die vorgetragene Deutung als >konservativ< bezeichnet werden. n Besonders eindeutig ist Witt (1989a, 51): »To say that substances are separate is to say that they do not exist in subjects. In this sense, substances are ontologically independent, and nonsubstances are ontologically dependent.« Vgl. Gill (1989,36-38), Barnes (1992,69-71), Devereux (1994, 80-82). Auch die Deutung von de Strycker (1955, bes. 122, 125 f.) ist am ehesten hier einzuordnen. Ich sehe keine haltbare Rechtfertigung für die These von Bastit (1992, 298), der aristotelische Begriff der Trennung sei primär ein physischer Begriff. Der Umstand, daß Aristoteles in einigen, von Bastit angeführten naturwissenschaftlichen Texten Naturphänomene durch Verwendung von Paronymen zu XWPlcr't6~ beschreibt, belegt die These in keiner Weise. 23 Vgl. Ross (1924 I, xci).

" Vg!. z.B. Simplicius (1882, 72.25, 175.201.), Joachim (1922, 179), Aubenque (1962, 36/FN 2, 407-409), Happ (1971, 303, 4091.,566), Matthen (1987, 1691.).

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Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

Eine der ersten Fragen, die sich bei der Interpretation von >getrennt< bei Aris!oteles stellt, ist die, wovon etwas Getrenntes denn getrennt ist. Während Aristoteles keinen Zweifel daran läßt, daß die platonischen Ideen von den wahrnehmbaren Substanzen getrennt sind (EE I 8, 1217b 15), gibt er dazu in bezug auf die konkreten Substanzen keine Auskunft. Weder erklärt er, wovon eine solche Substanz getrennt sei, noch sagt er, daß sie überhaupt von etwas getrennt ist. Weil eine getrennte Substanz nicht die Bestimmtheit von irgend etwas anderem ist, könnte man erstens annehmen, daß sie von allem anderen getrennt ist. Aber insofern die getrennte Substanz nicht die Existenz von allem fundiert, sondern nur die seiner Bestimmtheiten, wäre zweitens zu erwarten, daß sie nur von diesen getrennt ist. Drittens könnte man vermuten, daß die eine Substanz getrennt von der anderen ist, weil beide numerisch verschieden sind. Diese Vorschläge werden noch zu diskutieren sem. Meiner Meinung nach ist es sinnvoll, den Wortgebrauch bei Aristoteles als Fingerzeig zu werten und >getrennt< im erklärten Sinn ebensowenig als einen Relationsbegriff aufzufassen wie >selbständigvon sich selbst herAkzidentien", (APo. I 4, 73 b 5-10). Der Unterschied zwischen dem von sich selbst her Seienden und den Akzidentien darf nicht mit dem Gegensatz zwischen wesentlichen und akzidentellen Prädikaten verwechselt werden, der in 73 a 24-37 besprochen wird."

Auch dem Nichtsubstantiellen kommen wesentliche Prädikate zu, aber nur Substanzen sind von sich selbst her. Es geht also nicht um Prädikationstypen, sondern um Seinsweisen, so daß man von einer existentiellen Bedeutung von

"ai)' aU16 sprechen kann. Ein Akzidenz existiert nicht als es selbst oder von sich selbst her, d. h. nicht auf Grund der Bestimmtheit, durch die es als Akzidenz identifiziert wird, sondern es verdankt das Sein letztlich einer substantiellen Bestimmt-

heit." Im Unterschied dazu existiert eine Substanz als sie selbst, d. h. auf getrennt werden. Zur wechselseitigen Abhängigkeit von Mischbarkeit und Trennung vgl. III § 9. " Vgl. Ross (1949, 519), Barnes (1975, 111), Loux (1991, 38). 35 In der Diskussion von Stellen aus den logischen Schriften verwende ich den Ausdruck >substantielle Bestimmtheitsubstantiell frühergetrennt< wei t allgemeiner ist, weil sie den Sinn von >Sein< nicht spezifiziert. Daß etwas Getrenntes ohne gegebene andere Entitäten sein kann, ist nach der konservativen Definition in dem spezifischen Sinn zu verstehen, daß jene nicht das Zugrundeliegende für es darstellen; und daß gewisse andere Entitäten nicht ohne das Getrennte sein können, heißt, daß letzteres das Zugrundeliegende für jene ist. Wenn man lediglich den Teil der Erklärung von >substantiell früher< zur Kenntnis nimmt, den Fine berücksichtigt, so erhält man den Eindruck, Aristoteles würde >Sein< nunmehr weniger restriktiv verwenden und Folgerungen wie diese legitimieren: >Ich kann nicht ohne Gewicht sein, aber Gewicht ohne mich, also ist das Gewicht substantiell früher als ich.< Dieser Eindruck wäre jedoch falsch, denn nach der zitierten Begriffserklärung, die Aristoteles ja Platon zuschreibt, folgt ein genuin aristotelischer Zusatz, dem Fine keine Beachtung schenkt: »Da aber das Sein in vielfacher Weise verstanden wird, ist primär das Zugrundeliegende früher, deshalb ist die Substanz früher; dann in anderer Weise das, was im Hinblick auf Vermögen und vollendete Wirklichkeit [zu verstehen] ist« (1019a 4-7). Offensichtlich ist das nicht eine schlichte Anwendung des Kriteriums der substantiellen Priorität, sondern eine Modifizierung: Die unterschiedlichen Sinne von >Sein< wirken sich auf das mit Hilfe von >Sein< formulierte Konzept der substantiellen Priorität aus. 51 Da der primäre Sinn von >Sein< das Sein als Zugrundeliegendes oder Substanz ist, muß man, wie Aristoteles erklärt, auch die Frage nach der substantiellen Priorität von A gegenüber B in erster Linie

-'19 Für äquivalente Definitionen, jedoch nicht immer unter dem Titel ,vorrang der Substanz nachgetrennt< als primär und

welche als abgeleitet anzusehen sind." Sicherlich ist die Getrenntheit und substantielle Priorität der Idee nicht so gemeint, daß die Idee das Zugrundeliegende für das Teilhabende ist, denn letzteres wird nicht von der Idee ausgesagt. Wenn diese Implikation im Fall der Idee aber nicht gilt, liegt dem Anschein nach die Folgerung nahe, daß die fraglichen Begriffe von Haus aus nicht mit Bezug auf den Begriff des Zugrundeliegenden zu erklären sind, sondern durch das Fine'sche unspezifizierte >A kann ohne B existieren, aber

nicht umgekehrtgetrennt< besitzt. Aus einem spezifischen Sinn werden sich naturgemäß eher Implikationen für einen weniger spezifischen entwickeln lassen als umgekehrt. Das läßt sich am Fall der getrennten Idee verdeutlichen. Es ist nicht verwunderlich, wenn nach Aristoteles die Getrenntheit einer platonischen Idee

die substantielle Priorität gegenüber dem Teilhabenden impliziert, ohne daß man den Sinn von >Sein< dabei genau spezifizieren könnte. Denn weil die getrennte Existenz der Ideen nach Aristoteles eine leere Behauptung ist, ist hier

gar keine erklärbare Existenzweise vorhanden. Gerade deshalb darf man diesen Fall nicht als Paradigma für die Erklärung von Getrenntheit und substantieller Priorität ansehen, sondern muß von dem Erklärungsbegriff des Zugrundeliegenden ausgehen. Damit läßt sich erschließen, daß eine Idee als getrennt zu behaupten nach Aristoteles heißt, ein Allgemeines nicht als Bestimmtheit von irgend etwas, sondern als sein eigenes, numerisch einzelnes

Zugrundeliegendes anzusetzen (vgl. II §3.) Auch wenn das nach Aristoteles eine abstrakte und leere These bleibt, so kann man doch die aristotelische Begriffsverwendung in der Beschreibung dieser Position einsichtig machen. 72

Ein weiterer klarer Beleg wird von Polansky (1983, 62) genannt: Aristoteles sagt in M

2, 1077a 16-18, daß die mathematischen Objekte, wenn sie »gewisse getrennte Naturen«

wären, eben deshalb früher als die wahrnehmbaren Größen sein müßten. Zum parallelen Einsatz von ,früher< und 'getrennt< vgl. M 2, 1076b 11-14. 73 Einen ähnlichen Punkt machen Morrison (1985a, 137f.) und Spellman (1995, 8) in ihren Diskussionen von EE I 8 gegenüber Fine geltend, indem sie die Implikationen eines Begriffs von seiner Bedeutung unterscheiden.

Alternative Deutungen

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Um zusammenzufassen: Die von Fine angeführten Texte sind weit davon entfernt, ihre These zu untermauern, daß Getrenntheit die Fähigkeit zur unabhängigen Existenz sei. Vielmehr unterstützen sie die Ansicht, daß Getrenntheit als substantielle Priorität zu begreifen ist. Dabei ist substantielle Priorität allerdings in dem spezifischen und nach Aristoteles primären Sinn zu verstehen, in dem die zugrundeliegenden Substanzen ihren Bestimmungen gegenüber substantiell früher sind. Die untersuchten Texte behalten also den B egriff des Zugrundeliegenden als das zentrale Erklärungskonzept für den Begriff der Getrenntheit bei und bestätigen die konservative Auffassung, das Getrennte sei nach Aristoteles das Zugrundeliegende. In diesem Licht kann Fines These gewürdigt werden, daß »wirkliche Getrenntheit eine modale Behauptung« ist, denn ihrer Ansicht nach ist A genau dann von B getrennt, wenn A ohne B existieren kann;74 ob die Bedingung, daß B nicht ohne A sein kann, hinzugefügt wird oder nicht, macht für den relevanten Punkt keinen Unterschied. Sofern die Aussage, daß A ohne B sein kann, für den Begriff der Getrenntheit Implikationen haben soll, muß sie nach den bisherigen Überlegungen so verstanden werden, daß A nicht auf B im Sinn eines Zugrundeliegenden angewiesen ist. So gesehen wird deutlich, daß der Begriff des Getrennten zwar mit Hilfe modaler Termini formuliert werden kann, daß er selbst aber kein Modalbegriff ist. Modale Eigenschaften sind lediglich ableitbar aus dem Charakter des Zugrundeliegenden. Solange der Begriff der Getrenntheit tangiert ist, muß man den primären Sinn von >substantiell früher< unterstellen, wann immer Aristoteles sagt, daß gewisse Entitäten nicht ohne andere sein können.75 Damit ist gemeint, daß die einen Entitäten Bestimmtheiten der anderen sind und sie als Subjekte benötigen, ohne daß eine besondere Abhängigkeit einer Eigenschaft von einer bestimmten einzelnen Substanz unterstellt wird. In diesem pauschalen Sinn erklärt Aristoteles, daß die Zustände (1tai)ll) nicht getrennt und nicht »neben« den Substanzen sind.7 6 Die Testfrage, ob etwas getrennt sein kann, zielt darauf, ob es sein eigenes Zugrundeliegendes sein kann, nicht ob es von einer gegebenen Entität trennbar ist.

" Vg!. Fine (1984, 36/FN 19, 43-44). 73 Solche Aussagen in Verbindung mit dem Begriff der Getrenntheit sind ohnehin rar bei Aristoteles; ein möglicher Beleg ist A 5, 1070 b 36-1071 a 2. Wenn Aristoteles in A 7, 1072b 13f. sagt, daß alles andere vom ersten Beweger »abhängt«, so hat das keine unmittelbaren Implikationen für die fraglos gegebene Getrenntheit des ersten Bewegers (vgl. K 2, 1060a 21-27); andernfalls würde die ganze Physis zum Akzidenz des ersten Bewegers.

" Vg!. Phys. I 4, 188a 6; Lang. 3, 465 b 12-14; M 2, 1077b 5.

42

Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

§ 6 Probleme für die Unabhiingigkeits-Deutungen Häufiger als Fines Deutung wird die Auffassung vertreten, daß Getrenntheit bei Aristoteles mit der substantiellen Priorität gleichzusetzen sei. 77 Diese In-

terpretation und diejenige von Fine fasse ich im Folgenden durch den Ausdruck >Unabhängigkeits-Deutungen< zusammen und diskutiere einige sach-

liche Schwierigkeiten für beide. Denn nach der vorangegangenen Diskussion ist es nicht mehr erforderlich, die Textbasis für die Gleichsetzung von Getrenntheit und substantieller Priorität zu prüfen. Die These ist einwandfrei, solange substantielle Priorität im primären Sinn verstanden und an den Be-

griff des Zugrundeliegenden gekoppelt wird. Die erforderliche Spezifizierung wird von den betreffenden Interpreten jedoch nicht vorgenommen. Weil die Unabhängigkeits-Deutungen ,getrennt< als Relationsbegriff interpretieren, sollten sie sinnvolle Aussagen darüber erlauben, was die Relata

der Getrenntheit sind. Jedenfalls muß eine konkrete Substanz als von ihren Bestimmtheiten getrennt gelten, weil sie (in einem zu klärenden Sinn) ohne die Bestimmtheiten sein kann, die sie gerade hat, während, so würden die meisten Interpreten hinzufügen, die Bestimmtheiten nicht ohne die Substanz sein können/ 8 Jedoch kann man auch andere Relata einsetzen, nach Fines Deutung sogar beliebige. Wann immer eine beliebige Entität A ohne eine beliebige Entität B sein kann, ist sie von dieser Entität getrennt - und damit uneingeschränkt getrennt. Weil z. B. die Hautfarbe des Sokrates unabhängig von seinem spezifischen Gewicht ist und seine Klugheit unabhängig von dem Ort, den er gerade einnimmt, muß Fine sie als uneingeschränkt getrennt akzeptieren." Es ist klar, daß der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit, der bei Aristoteles ein Kriterium und eine hinreichende Bedingung für Substantialität ist, damit ad absurdum geführt wird. Der einzige, mit Aristoteles

" V gl. ehen (1940, 50), Teloh (1979, 73), Polansky (1983, 62), Graham (1987 a, 218 f. ). Häufig wird der Begriff der Getrenntheit mit dem der Unabhängigkeit assoziiert, ohne daß ganz klar würde, ob der betreffende Autor eher Fines Deutung oder die Gleichsetzung von Getrenntheit und substantieller Priorität vertritt. Formulierungen wie die folgende von Ryan (1973, 213) finden sich immer wieder: »the characteristic or ability of existing apart from other things, independently of them«. Vgl. z.B. Stone Haring (1956-57,318), Frede (1987,65), Kung (1978, 159), Heinaman (1979,255), Mansion (1979, 81), Granger (1995a, 151) und (1995b, 182). 78 Für Substanz und Attribute als Relata der Getrenntheit plädieren Polansky (1983, 63) und Fine (1984, 36/FN 36); fürdie Getrenntheit der Substanz sowohl von Substanz als auch von Nichtsubstanz Fine (1985, 161, 163). 79 Für eine ähnliche Kritik vgl. Devereux (1994, 79-80).

Alternative Deutungen

43

begründbare Weg, dieser Konsequenz zu entgehen, liegt in der Einschränkung der relevanten Abhängigkeit und Unabhängigkeit auf die von Zugrundeliegendem und Bestimmtheit. Dem dargelegten Problem ist die Gleichsetzung von Getrenntheit und substantieller Priorität auch ohne die genannte Spezifizierung bis zu einem gewissen Grad nicht ausgesetzt, weil substantielle Priorität asymmetrisch ist.'o Daß die Hautfarbe des Sokrates ohne dessen besonderes Gewicht sein kann, würde nur dann die Getrenntheit der Farbe implizieren, wenn zugleich das besondere Gewicht nicht ohne sie sein könnte. Jedoch liefert auch diese Deutung nicht die erwünschten Resultate, und zwar schon in bezug auf den paradigmatischen Fall nicht, die konkrete Substanz und ihre Eigenschaften. Sofern Aristoteles numerisch einzelne, unwiederholbare Attribute ansetzt, kann man z. B. sagen, daß Sokrates ohne eine beliebige seiner individuellen Eigenschaften sein kann, während keine einzige dieser Eigenschaften ohne ihn sein kann. 81 Wenn man aber von den numerisch einzelnen zu allgemeinen Attributen übergeht, wird die Unzulänglichkeit der fraglichen Deutung sichtbar. Allgemeine Eigenschaften wie das Gewicht von 70 kg und die Größe von 180 cm können nämlich ohne Sokrates sein, weil auch andere Dinge als Sokrates dasselbe Gewicht und dieselbe Größe besitzen können. Sokrates ist ihnen gegenüber also nicht substantiell früher. Noch schlimmer, gewisse allgemeine Eigenschaften scheinen gegenüber Sokrates substantiell früher zu sein. Sokrates muß zwar nicht genau 70 kg wiegen und 180 cm groß sein, aber er muß überhaupt ein Gewicht und überhaupt eine Größe haben, während umgekehrt Gewicht und Größe überhaupt durchaus ohne Sokrates sein können. 82 Bei der Gleichsetzung von Getrenntheit und substantieller Priorität muß also die oben schon genannte Folgerung akzeptiert werden: ,Ich kann nicht ohne Gewicht sein, aber Gewicht ohne mich, also ist das Gewicht substantiell früher als ichaußer halb der ontologischen Grenzen eines anderenein Zugrundeliegendes sein< und >ein Zugrundeliegendes habendie anderen Einzeldinge< verstehen. 89 Er räumt ein, daß die übliche Übersetzung »weit natürlicher« sei, macht zugunsten seines Vorschlags aber geltend, daß bei der traditionellen Version ,mv bnwv den Bereich der Einzeldinge nicht spezifiziere und »beinahe unerträglich leer« sei. Außerdem werde durch seine Alternative leichter verständlich, wie denn die Getrenntheit der Einzeldinge zu verstehen sei, nämlich als Getrenntheit voneinander. Diese Argumente sind durchaus nicht zwingend, die fragliche Übersetzung ist unnatürlich und die ganze Deutung ist tendenziell zirkulär. 90 Man sollte daher der traditionellen Interpretation dieser Stelle treu bleiben.

88 Der griechische Text lautet: Ei j.1€v yap 'ttt; j.111 Ü'l']crEt 'tdt; oucr{at; dvat XEXWptcrj.1tvat;, xat 'tov 'tp61tov 'toü'tov Wt; J..tYE'tat 'tet xaÜ" Exacr'ta 'twv öv'twv, aVatpTJO"Et 'tl1v oucrl.av wt; ßOu)"6j.1EÜ'a J..tYEtv. Der Unterschied der Übersetzungen be-

ruht darauf, daß man 'twv öv'twv entweder als genitivus partitivus auffassen oder aber von XEXWptcrj.1tvat; abhängig machen kann. H9 Vgl. hierzu und zum Folgenden Morrison (1985a, 127f.). 90 Denn in der Begründung für die These, daß 'twv öV'twv auf die anderen Einzeldinge zu beziehen sei, setzt Morrison voraus, daß 'twv ÖV'twv von XEXWptcrj.1tvat; abhängig sei. Seine Begründung ist, daß 'twv öv'twv entweder auf alles Seiende, auf das andere Seiende oder auf die anderen Einzeldinge bezogen werde müsse. Das erste komme nicht in Frage, weil auch die Einzeldinge selbst Seiende seien; wenn ich recht verstehe, hat man zu ergänzen: Also würden bei diesem Bezug die Einzeldinge zu von sich selbst Getrennten erklären. Das zweite scheide aus, weil die Einzeldinge nicht von allem anderen Seienden getrennt seien, z. B. nicht von den Attributen. Daher bleibe nur das dritte übrig. In dem Ausschluß der ersten bei den Alternativen wird offensichtlich unterstellt, daß 'twv öv'twv von XEXWptcrj.1tvat; abhängig ist. Die Motivierung dieser Unterstellung wiederum setzt voraus, daß 'twv öv'twv auf die anderen Einzeldinge bezogen werden muß.

Alternative Deutungen

47

Auch wenn man die Passage nicht als Beleg für die These von Morrison werten kann und sich andere Nachweise im aristotelischen Text nicht finden lassen, ist damit noch nicht gezeigt, daß die These sachlich unangemessen ist. Folgendes spricht jedoch gegen sie. Erstens, wenn die Getrenntheit der Substanzen nicht mit ihrer numerischen Distinktheit untereinander gleichgesetzt werden kann, dann entfällt auch das Motiv von Morrison dafür, die Getrenntheit der Substanzen als ihre Getrenntheit untereinander aufzufassen. Ein zweiter Einwand betrifft alle Versuche, >getrennt< in bezug auf die konkreten Substanzen des Aristoteles als einen Relationsbegriff zu verstehen. Aristoteles verwendet >getrennt< in diesem Kontext nicht nur nicht als einstelligen Begriff, sondern er expliziert das Gemeinte durch den Begriff des Zugrundeliegenden, der kein Relationsbegriff ist. Da die Versuche, >getrennt< ohne Bezug auf diesen Begriff als Fähigkeit zur unabhängigen Existenz, als substantielle Priorität oder als numerische Distinktheit zu erklären, als gescheitert angesehen werden müssen, sollte man die Lehre ziehen, daß >Getrenntheit< in bezug auf die konkreten Substanzen kein Relationsbegriff ist. Jedoch steht der zweite Interpretationsvorschlag von Morrison noch aus, wonach Entitäten genau dann getrennt oder numerisch distinkt voneinander sind, wenn sie außerhalb der ontologischen Grenzen der jeweils anderen liegen. Das ist nach Morrison bereits dann der Fall, wenn sie nicht Einheit von Bewegung in Ort und Zeit besitzen, während es nicht notwendig sei, daß numerisch distinkte Entitäten unterschiedliche Formen besitzen. 91 Der Besitz unterschiedlicher Formen ist nach Morrison aber hinreichend dafür, daß gegebene Entitäten keine Einheit der Bewegung aufweisen. Morrison gibt seiner These die folgende allgemeine Formulierung: »Die Grenzen einer Substanz sind durch die Prioritätsrelationen festgelegt, in die sie eintritt. Alles, dem gegenüber eine gewisse Substanz als erstes Prinzip und Ursache früher ist, ist »in« dieser Substanz und nicht getrennt von ihr; alle Dinge, denen gegenüber sie nicht in den relevanten Weisen früher ist, sind außerhalb ihrer Grenzen und getrennt von ihr« (1985a, 142). Morrison macht deutlich, daß eine »relevante Weise«, ein erstes Prinzip und Ursache zu sein, darin besteht, ein Zugrundeliegendes zu sein, so daß die allgemeine Formulierung den oben als zentral herausgestellten Begriff des Zugrundeliegenden erfaßt. Was darüber hinaus erfaßt wird, ist nicht klar, weil keine Spezifikation der »relevanten Weisen« von Priorität erfolgt. Morrison

91

Vgl. Morrison (1985a, 140t), mit Bezug auf 11, 1052a 25-8.

48

Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

merkt an, daß Wirkursächlichkeit nicht zu den relevanten Weisen zählt, während er die Form oder Essenz einer Substanz als erstes Prinzip in der »relevanten Weise« gelten lassen möchte.92 Weitere Prioritäts relationen erörtert er nicht.

Morrison nähert sich in der allgemeinen Formulierung seiner Deutung stark der Terminologie der Unabhängigkeits-Deutungen an, denn die »Prioritätsrelationen« sind Abhängigkeitsrelationen. Als Mangel jener Deutungen

hat sich erwiesen, daß sie den Begriff der Abhängigkeit nicht spezifizieren. Auch wenn Morrison diesen Begriff enger faßt, indem er sich auf erste Prin-

zipien und Ursachen beruft, ist er ganz ähnlichen Einwänden ausgesetzt. Aufgrund seiner These muß er folgendes Argument akzeptieren: Die Form von Kallias ist gegenüber der Hautfarbe von Sokrates nicht früher in den »relevanten Weisen«. Also ist die Hautfarbe von Sokrates außerhalb der Grenzen der Form von Kallias und getrennt von ihr und deshalb uneingeschränkt getrennt - was eine absurde Konsequenz ist. Diese Schwierigkeit legt nahe, daß die einzige für den Begriff der Getrenntheit relevante »Prioritätsrelation«

die des Zugrundeliegenden zum Inhärierenden und das Zugrundeliegende und nur dieses getrennt ist.

Man muß also genau die Schlußfolgerung ziehen, die auch das Fazit aus der Diskussion der anderen Interpretationen von )getrennt< war. Nun wurde in

I §4 aber bereits darauf hingewiesen, daß der Begriff des Zugrundeliegenden im Verständnis von Cat. nicht die Implikation der selbstverursachten Einheit besitzt, mit der Aristoteles den Begriff der Getrenntheit einsetzt. Daher ist

nun zu prüfen, ob Aristoteles die Begriffe des Getrennten und des Zugrundeliegenden und ihr Verhältnis zueinander in Met. in einer gegenüber dem bisher erklärten Begriffsrahmen neuen Weise interpretiert.

3 Das neue Verhältnis der Begriffe des Getrennten und Zugrundeliegenden

§ 8 Die Lösung des Begriffs der Getrenntheit vom Subjekt-Kriterium (LI 8) Man muß nicht lange suchen, um in Met. auf die Anzeichen einer Revision in

bezug auf das Verhältnis von Getrenntem und Zugrundeliegendem zu stoßen. In dem der Substanz gewidmeten Kapitel aus .6., das die weiteren Erörterun-

" Vg!. Morrison (1985a, 141/FN 31, 142/FN 32).

Das neue Verhältnis

49

gen zum Substanzbegriff insbesondere in Z vorstrukturiert, koppelt Aristoteles das Subjekt-Kriterium im alten Sinn vom Begriff der Getrenntheit ab." Als Bewerber um den Titel >Substanz< nennt er zunächst die Körper: »Als >Substanz< bezeichnet man sowohl die einfachen Körper, wie Erde, Feuer, Wasser und was [sonst] so beschaffen ist, als auch überhaupt die Körper sowie die aus diesen konstituierten Lebewesen, die göttlichen [Himmels-]Körper und deren Teile; all das wird als Substanz bezeichnet, weil es nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, sondern von diesem das übrige« (Ll 8, 1017b 10-14). Die Körper und ihre Teile sind, so erklärt Aristoteles an anderen Stellen, »augenscheinlich« und »anerkanntermaßen« Substanz. 94 Ihren prima facie bestehenden Anspruch auf Substantialität begründet er terminologisch durch das Subjekt-Kriterium. Es ist auffällig, daß Aristoteles hier ohne zu differenzieren unorganisierte Stoffe, Teile von Körpern und lebendige Individuen auflistet, zwischen denen er anderswo einen deutlichen Unterschied macht. Daraus sollte man nicht ableiten, daß diese Körper das Subjekt-Kriterium gar nicht erfüllen und von Aristoteles nur vorläufig angeführt werden, etwa als von manchen seiner Vorgänger favorisierte Substanz-Kandidaten. Denn anders als in den anschließenden Zeilen 1017b 19 f. signalisiert Aristoteles weder, daß er lediglich andere Meinungen wiedergibt, noch distanziert er sich hier in irgendeiner anderen Weise von seiner Liste. Tatsächlich gilt für jeden Körper, gleich welchen Einheitsgrades, daß er nicht die Bestimmtheit von etwas anderem ist, sondern etwas, das durch anderes bestimmt werden kann. Jedoch sind die elementaren Stoffe und die organischen Teile nach Z 16, 1040b 5-16 keine Substanzen, die einen, weil sie Aggregate oder »Haufen« ohne Einheit sind, die anderen, weil sie nicht getrennt vom Ganzen existieren können. 95 Wenn nach Aristoteles also manche körperliche Entitäten keine Substanzen sind, obwohl sie das Subjekt-Kriterium erfüllen, dann muß man die Folgerung ziehen, daß jenes Kriterium allein nicht adäquat für den SubstanzbegriJfist." Denn das Subjekt-Kriterium für sich genommen besitzt keine Implikationen für die Einheit einer Entität, sondern greift alles heraus, was nicht aussagbar ist, ob es nun eine substantielle Bestimmtheit besitzt

93 Zu dieser Funktion von,1. 8 vgl. Polansky (1983). " Vg!. Z 1, 1028b 8-13; H 1, 1042a 8-11. 93 Man müßte strenggenommen sagen, daß die elementaren Körper keine Substanzen im strikten Sinn von ,Substanz< sind; vgl. 11 § 8. 96 Diese Pointe verfehlt Polansky (1983 , 60), wenn er mit Blick auf Z 16 und m. E. zu Unrecht den Bezug von ,Subjekt< in 1017b 13 auf die konkreten Individuen einschränkt.

50

Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

oder nicht. Wenn ein Subjekt eine solche Bestimmtheit besitzt, so verdankt

sich das nicht seinem Charakter als Subjekt. Eher sind die Verhältnisse umgekehrt, wie Aristoteles im Folgenden deutlich macht: »In einer anderen Weise [bezeichnet man als >SubstanzSubstanz< bezeichnet, das letzte Zugrundeliegende, das nicht mehr von einem anderen ausgesagt wird; und was immer ein bestimmtes Dies und getrennt ist. So beschaffen ist die Gestalt (llopqJ1'j) und die Form (eIöogetrennt< muß man die Immanenz der

als getrennt geltenden Formen beachten. Die vorangegangene Auflistung von Substanz-Kandidaten gibt, wie gesehen, keinen Anlaß zu der Annahme, die Getrenntheit der Form sei als eine existentielle Unabhängigkeit gegenüber den Subjekten zu verstehen. Daß auf der anderen Seite alles, was eine getrennte Form besitzt, nicht ohne diese sein kann, trifft zwar trivialerweise zu,

gibt aber nicht mehr Aufschluß über den Begriff der getrennten Form, als der unspezifizierte Begriff der substantiellen Priorität für den Begriff des getrennten Zugrundeliegenden geben konnte. Die Konzeption dessen, ohne welches anderes nicht sein kann, ist völlig formal und verlangt nach einer

weitergehenden inhaltlichen Präzisierung, und zwar, was die Abhängigkeit konkreter Subjekte von ihren Formen angeht, nach einer Beschreibung der Ursächlichkeit der Formen. Damit läßt sich die Hypothese aufstellen, daß zur Erklärung der Getrenntheit der Form deren Ursächlichkeit analysiert werden muß." Bevor aber weiter geklärt wird, was Aristoteles unter der Getrenntheit der

Form genau versteht, soll das Kapitel Z 3 herangezogen werden, in dem die Unzulänglichkeit des Subjekt-Kriteriums demonstriert und damit ein Motiv für die neue Bestimmung der Begriffe des Zugrundeliegenden und der Getrenntheit gegeben wird. Was das soeben erörterte Kapitel betrifft, so genügt es vorläufig festzuhalten, daß >getrennt< in einer neuen Weise verwendet wird,

um eine mit dem Subjekt-Kriterium konkurrierende Bedingung für Substanz auszudrücken. Daß Aristoteles seine ontologische Theorie in Met. gegenüber Cat. erheblich erweitert und verändert, ist ein Gemeinplatz in der Forschung.

99

Diese Hypothese wird in I § 10 und 11 § 6 aufgenommen und weiter ausgeführt.

Das neue Verhältnis

53

Dagegen ist eher selten bemerkt worden, daß auch der Begriff der Getrenntheit von dieser Revision nicht unbetroffen bleibt. tOO Gar keine Beachtung schließlich hat der äußerst wichtige Umstand gefunden, daß dem Begriff >getrennt< bei der Reformulierung der aristotelischen Ontologie eine Leitfunktion zukommt, weil in ihm die zuvor zwar gehegte, aber begrifflich nicht erfaßte Absicht auf Bestimmtheit der Substanz festgeschrieben wird, und zwar im Rang eines Substanz-Kriteriums.

§ 9 Die Unzulänglichkeit des Subjekt-Kriteriums (Z 3) Nach einem allgemeinen Forschungskonsens stellt Aristoteles in Z 3 das Subjekt-Kriterium aus Cat. auf die Probe und markiert damit den in Ll 8 vorgezeichneten Übergang zum Begriffsrahmen der >reifen< Substanztheorie von Met. Weil Aristoteles in Z kontinuierlich voranschreitend einen Gedanken entwickelt, ist es sinnvoll, den im dritten Kapitel erreichten Stand der Dinge kurz zusammenzufassen. Um die Einschränkung der Frage nach dem Seienden auf die Frage zu motivieren, was die Substanz sei, begründet Aristoteles im ersten Kapitel die Priorität der Substanz gegenüber dem sonstigen Seienden, und zwar in ontologischer wie in epistemologischer Hinsicht. Dabei stützt er sich, wie in I §5 gesehen, ebenso auf das Subjekt- wie auf das Definitions-Kriterium, ohne allerdings heide ausdrücklich als unterschiedliche Bedingungen zu formulieren und in Konkurrenz zueinander zu bringen. Entsprechend macht er, anders als in Ll 8, nicht unterschiedliche Entitäten namhaft, die beiden Ansprüchen gerecht werden sollen, sondern faßt durch den Titel ,substanz< möglicherweise Divergierendes zusammen. 10l Dagegen erschöpft sich das zweite Kapitel darin, historisch orientiert verschiedene Substanz-Kandidaten aufzuzählen: Zunächst die Körper (1028b 8-13), die sich unschwer dem Subjekt-Kriterium zuordnen lassen, dann andere Entitäten wie die aus ~ 8 bekannten »Grenzen der Körper« (b 13-18), ferner Substanzen »neben« den wahrnehmbaren Dingen, wie sie von Platon selbst und von anderen Akademikern vertreten wurden (b 18-27), und schließlich, als Höhepunkt der Entfernung vom Körperlichen, »eine gewisse getrennte Substanz« (b 30) .102 Der An100 Eine Ausnahme ist Morrison (1985a, 154f.); seine Darstellung der Begriffsentwicklung wird in I § 10 diskutiert.

'"

Vgl. Bostück (1994,671).

Wegen des Singulars und der Absetzung von den Substanzen »neben« den wahrnehmbaren ist die letzte Formulierung auf die immaterielle göttliche Substanz zu beziehen. 102

54

Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

spruch all dieser Entitäten auf Substantialität wird sich freilich nur an Hand eines Begriff der Substanz prüfen lassen, weshalb Aristoteles zu der Frage zurückkehrt, was die Substanz ihrem ungefähren Begriff nach sei (b 31 f.). Insbesondere ist zu klären, wie die Substanz begrifflich zu fassen ist, wenn

der im ersten Kapitel erhobene formale Anspruch auf Priorität legitimiert werden soll. Wie tragfähig der Begriff des Zugrundeliegenden in dieser Hinsicht ist, wird im dritten Kapitel untersucht. Aristoteles präsentiert hier ein

Argument dafür, daß sich aus dem gemäß Cat. verstandenen Begriff des Zugrundeliegenden allein nicht herleiten läßt, daß ein Subjekt eine existenzbegründende Bestimmtheit besitzt; er geht sogar noch weiter und erklärt,

daß dem so verstandenem Subjekt als solchem überhaupt keine Bestimmtheit zugesprochen werden könne. Die alte Konzeption des Zugrundeliegenden reicht nach AristoteIes deshalb zur Explikation des Substanzbegriffs nicht aus und, so läßt sich im aristotelischen Sinn hinzufügen, ebensowenig zur Erklärung von >getrenntSubstanz< zugerechnet werden könnte, sondern um Ansätze, den

Begriff der Substanz zu erklären. Die ersten drei Konzepte sind dem Definitions-Kriterium zuzuordnen und werden im weiteren Verlauf des Buchs untersucht.

Zunächst nimmt sich Aristoteles jedoch den Begriff des Zugrundeliegenden vor: »Das Zugrundeliegende ist das, von dem das andere ausgesagt wird,

es selbst aber nicht mehr von einem anderen; deshalb sind zunächst darüber Unterscheidungen zu treffen, denn Substanz scheint vornehmlich das primäre Zugrundeliegende zu sein. Als solches versteht man in einer gewissen Weise die Materie, in einer anderen aber die Gestalt und in einer dritten das Kompositum aus diesen. Unter der Materie verstehe ich so etwas wie die Bronze,

unter der Gestalt die Figur des Bildnisses und unter dem Kompositum die konkrete Statue. Deshalb wird die Form, wenn sie früher als die Materie ist

Das neue Verhältnis

55

und in höherem Maße seiend, aus demselben Grund auch früher als das Kompositum sein« (l028b 36-1029a 7). Wie in H 1 präsentiert Aristoteles unter dem Titel des Zugrundeliegenden dreierlei, die Materie, die Gestalt oder Form und das Kompositum. Dabei darf als unkontrovers gelten, daß der Begriff des Zugrundeliegenden zunächst im Sinn von Cat. eingeführt wird. Dagegen stammen die Begriffe von Materie und Form aus einem anderen Kontext, nämlich aus der Analyse der Veränderung. Diese Analyse, die Aristoteles selbst hier nicht heranzieht, wird später ausführlich diskutiert werden. Vorläufig genügt es, die Zuordnung der Begriffe von Materie und Form am Beispiel der Bronzestatue vorzunehmen. Zur Fixierung des hier einschlägigen Wortgebrauchs ist der Begriff der konstituierenden Materie geeignet, denn das Beispiel für Materie ist eine Quantität an Bronze, die eine konkrete Statue konstituiert. lO ) Die Bronzequantität konstituiert die Statue, indem sie in einer bestimmten Geformtheit vorliegt, und entsprechend ist die Form oder Gestalt nichts anderes als die Geformtheit der Materie. Man kann zwar nicht an dem anspruchslosen Sinn von >Form< als Begrenzung einer Materiequantität in den drei Ortsdimensionen festhalten, wenn es um Lebewesen geht, deren Form Aristoteles mit ihrer Seele identifiziert (Z 10, 103Sb 14-16). Aber auch in bezug auf solche komplexeren Entitäten gilt, daß Materie und Form die Konstituenten von konkreten Dingen und korrelativ zueinander sind: Die Materie realisiert oder erfüllt eine Form, indem sie so und so geformt ist, und die Form wird durch die Materie realisiert oder erfüllt lO4 Entsprechend gilt generell, daß die konkreten Dinge als Komposita aus den Konstituenten Materie und Form zu begreifen sind. Wesentlich für die Prozeßanalyse ist, daß Materie durch einen Prozeß eine andere Form annehmen kann als die, die sie gerade erfüllt. Z. B. könnte die 10} Aristoteles verwendet >Materie< auch als einstelliges Prädikat und bezeichnet damit nicht die Materie von etwas, sondern Körper mit einem niedrigen Organisations grad (vgl. z. B. Meteor. IV 11, 389a 30, b 12; Lang. 5, 466a 20-22). l04Aristoteles verwendet auch zur Beschreibung des Verhältnisses von Materie und Form den aus Cat. bekannten Ausdruck ,>Zugrundeliegendes« (imOXEtj.lEVOV); vgl. Z 13, 1038b 4-6; e 7, 1049b 27-36. Um auszudrücken, daß die Materie das Zugrundeliegende für die Form ist, setze ich statt des Begriffs des Ausgesagt-Werdens aus zwei Gründen die Begriffe >erfüllen< oder ,realisieren< ein. Erstens soll die Implikation vermieden werden, daß eine Materie, die eine Form erfüllt oder realisiert, ein definites Subjekt (Artmitglied) ist, wie es das Subjekt einer Prädikation sein muß. Zweitens ist die Formulierung in bezug auf die Formen der Lebewesen angemessen, weil die Form eines Lebewesens, wie in 111 § 10-12 gezeigt wird, die Aktivität seiner durch den organischen Körper realisierten Selbsterhaltung ist.

Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

56

Bronzequantität, die die Statue konstituiert, durch entsprechende Bearbeitung auch eine Würfelform gewinnen und so einen Bronzewürfel konstituieren. Deshalb charakterisiert Aristoteles in seiner Prozeßanalyse die Materie als das, was dem Prozeß zugrundeliegt und in ihm beharrt. 105 Man könnte vermuten, daß Aristoteles in Z 3 bei seiner Erklärung, inwiefern die Materie ein Zugrundeliegendes ist, auf diese Funktion der Materie zurückgreife, doch das ist nicht der Fall. Die Begriffe von Materie und Form lassen sich nicht ohne weiteres ins Verhältnis zum früheren Begriffsrahmen setzen. Der Begriff der Materie findet sich in den logischen Schriften gar nicht und auch das Konzept der Form ist ihnen fremd. Zwar wird döo~ gebraucht, aber nicht im Sinn von >FormSubstanz< in beiden Fällen nicht auf dasselbe beziehen, sondern muß unter der von der Materie ausgesagten Substanz die substantielle Form verstehen. lo9 Denn die Alternative, daß die konkrete Substanz von der Materie ausgesagt werde, scheint nicht nur unverständlich zu sein, sondern läßt sich auch durch Parallelstellen ausschließen. llo Das bestätigt, daß der Begriff der Form korrelativ

10~ Gill (1989, 16) liest in lü29a 6 mit der Handschrift Ab 'to E~ cq.upo1v statt 'toü E~ CqHPo'iV, so daß sich folgender Sinn ergibt: ,.Deshalb wird [... ] auch das Kompositum aus dem selben Grund früher sein.« Die traditionelle Lesart ist vorzuziehen, weil Aristoteles auch in lü29a 31 das Kompositum als später bezeichnet. Gill (1989, 17) versucht dieses Argument mit der Behauptung zu entkräften, daß es an der zweiten Stelle nicht um ontologischen Vorrang gehe, sondern nur um die Reihenfolge der Erörterung, doch sie begründet ihre Behauptung nicht. Außerdem ist ihre Kritik an der traditionellen Lesart nicht überzeugend und beruht teilweise auf einem Mißverständnis. Der Punkt ist nach der trarutionellen Lesart nicht, daß die Materie und das Konkretum aus exakt denselben Gründen der Form nachgeordnet sind (so Gill 1989, 17), sondern daß aus eben dem Grund, daß die Form ,.in höherem Maß seiend« und früher als rue Materie ist, sie auch früher als das Kompositum ist. Diese Auffassung entspricht derjenigen, die Werun (1996, 49) unter, 10 c< anführt. Zur Kritik an Gills Vorschlag vgl. auch Wehrle (1994). 109 In Übereinstimmung mit Kung (1978, 155), Page (1985, 73), Frede/Patzig (1988 11, 48), Loux (1991, 63). '" V gl. H 2, 1043 a 5 I.; e 7, 1049 a 34-36; lerner B 1, 995 b 35; 4, 999 a 33-34. Bostück (1994,78) behauptet, das Kompositum müsse von etwas ausgesagt werden, weil andern-

58

Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

zu dem der Materie ist. Die Prädikation einer Form von Materie ist zum

Schlüsselbegriff einiger wichtiger Aristoteles-Interpretationen geworden.'" Wie tragfähig dieses Konzept auch sein mag, es hat jedenfalls die Wahrheit auf seiner Seite, daß die nunmehr zentralen Begriffe bei Aristoteles die von Form und Materie sind.

Auch wenn allgemein akzeptiert wird, daß die Diskussion von Z ihre Triebfeder darin hat, daß die alte Konzeption der Substanz als Zugrundeliegendes mit der Form-Materie-Analyse konfrontiert wird, ist umstritten, ob Aristo-

teles eher eine Revision oder lediglich einer Ergänzung der früheren Ontologie intendiert. Besonders kontrovers ist die Frage, in welcher Weise die Form

ein Zugrundeliegendes ist (1029a 2f.). Zunächst muß festgehalten werden, daß hier eine echte Frage vorliegt und es, entgegen einer These von Mont-

gomery Furth, nicht zutrifft, daß Aristoteles den Begriff der Substanz von dem des Zugrundeliegenden »abkoppelt« und statt dessen an den der Ursache des Seins knüpft. 112 Es sei daran erinnert, daß Aristoteles nicht

nur hier, sondern auch in H 1 die Form als Zugrundeliegendes beschreibt. Außerdem machen die folgenden Zeilen deutlich, daß Aristoteles den Begriff des Zugrundeliegenden nicht gänzlich verwirft: »Nun ist dem Typ nach erklärt, was denn die Substanz ist, nämlich daß sie das ist, was nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, sondern von dem das andere

ausgesagt wird. Man darf aber nicht allein in dieser Weise [die Substanz bestimmen], denn es reicht nicht; denn eben dieses selbst [= das Zugrundeliegende] ist undeutlich, und außerdem wird die Materie Substanz« (1029a 7-10). Die Substanz ist also dem Typ nach als Zugrundeliegendes richtig beschrieben; der Begriff ist lediglich nicht hinreichend und muß durch andere Bedingungen ergänzt werden.'" Während andere Passagen Auskunft darüber geben, wie sich die Subjekte Materie und Kompositum unterscheiden, kommt

falls nicht folgen würde, daß nUT die Materie ein letztes Subjekt sei. Jedoch ist es für den Status der Materie als letztes Subjekt m. E. ausreichend, daß man das Gegebensein einer konkreten Substanz darauf zurückführen kann, daß eine gegebene Materie eine bestimmte Form angenommen hat. Zur Kritik an Bostocks Auffassung vgl. Wedin (1996, 68-71). 111 Bes. Lewis (1991) undLoux (1991). '" Vg!. Furth (1988, 50, 61). 113 Das impliziert weder, daß, wie Steinfath (1991, 109) behauptet, der Begriff in seinem Gehalt selbst modifiziert oder präzisiert würde, noch, daß, wie Frede und Patzig (1988 11, 39) annehmen, in Z 3 die Strategie verfolgt werde, »die bei den in.1. 8 noch unterschiedenen Begriffe der ousia zu einem Begriff zu verschmelzen«. Es ergibt sich lediglich, daß nach Aristoteles ein und dieselbe Entität den unterschiedlichen Substanz-Bedingungen gerecht wird.

Das neue Verhältnis

59

Aristoteles abgesehen von H 1 nicht mehr auf die Form als ein Zugrundeliegendes zurück." 4 Aufschluß darüber wird man am ehesten den Bedingungen entnehmen können, durch die Aristoteles den Begriff des Zugrundeliegenden ergänzt, und das sind in Z 3 wie in H 1 die Begriffe der Getrenntheit und des bestimmten Dies.''' Demnach wird der Begriff des Zugrundeliegenden von Aristoteles nicht einfach eingezogen, aber ihm wird nicht mehr die Erklärungs kraft zugesprochen, die er in Cat. besaß; zur Interpretation von >getrennt< ist er unzureichend. Vielmehr müssen umgekehrt zur Klärung der Frage, inwiefern die Form Zugrundeliegendes ist, die Begriffe des Getrennten und des bestimmten Dies herangezogen werden. Nun sei das Argument betrachtet, mit dem Aristoteles die Unzulänglichkeit des Subjekt-Kriteriums nachweisen will. Es hat die Form einer reductio: Wenn man nur das Subjekt-Kriterium ansetzt, dann ergibt sich, so das letzte Zitat, daß die Materie Substanz ist (1029a 10). Da Aristoteles die Materie aber an mehreren anderen Stellen als Substanz anerkennt,116 ist anzunehmen, daß die absurde Konsequenz darin liegt, daß nur die Materie Substanz ist. l17 Aristoteles bedient sich eines Gedankenexperimentes: »Denn wenn nicht diese [die Materie] Substanz ist, so entgeht uns, welche es sonst ist. Wenn nämlich das andere weggenommen wird, so bleibt dem Augenschein nach nichts übrig; denn das andere sind einerseits Widerfahrnisse der Körper, Wirkungen und Vermögen; die Länge, Breite und Tiefe andererseits sind bestimmte Quantitäten, aber nicht Substanz; denn das Quantum ist nicht Substanz, sondern eher das, dem diese [die Quantitäten] primär zukommen, das ist Substanz. Aber wenn nun Länge, Breite und Tiefe weg-

'" Vg!. Z 13, 1038b 3-6; e 7, 1049 a 27-30. In weitgehender Übereinstimmung mit Granger (1995a, 152). Allerdings scheint mir die Aussage zu stark, daß in Z 3 das Subjekt-Kriterium »diskreditiert« wird (S. 154). Das Subjekt-Kriterium bleibt insofern relevant, als es gegen den Substanz-Anspruch des Allgemeinen steht. Shields (1995,164-167), mit dessen Position Granger sich auseinandersetzt, hat deshalb recht, wenn er auf der Unabhängigkeit der Substanz-Kriterien beharrt. ,,,, Vg!.z.B.Z 10, 1035a lf.;H I, 1042a26-28;A3, 1070a9-11. 117 So formuliert Aristoteles die Konsequenz in 1029a 19; vgl. Wedin (1996, 71). Frede und Patzig (1988 11,41) wenden ein, daß auch Form und Materie nach 1029a 1 H. als Zugrundeliegendes und damit gemäß dem Subjekt-Kriterium als Substanz gelten. Daher sei die absurde Konsequenz die, daß die Materie als primäre Substanz erwiesen würde. Das ist nicht überzeugend: Wenn, was die Prämisse der reductio ist, allein das Subjekt-Kriterium angesetzt wird, läßt sich möglicherweise das von Aristoteles intendierte Ergebnis nicht mehr festhalten, nämlich der Anspruch von Form und Kompositum, ebenfalls als Subjekte zu gelten. 11 3

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Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

genommen werden, sehen wir nichts, das übrig bliebe, es sei denn, es gibt

etwas, das durch diese begrenzt wird, so daß die Materie zwangsläufig denen als einzige Substanz erscheint, die in dieser Weise betrachten« (1029a 10-19). Man ist gehalten, einen konkreten Gegenstand wie die Bronzestatue zu betrachten und »das andere« zu abstrahieren, nämlich die Bestimmtheiten im

Unterschied zu dem Subjekt, das sie erfüllt l18 Im ersten Schritt werden die Bestimmtheiten abgezogen, durch die ein Körper Objekt oder Agens physikalischer Interaktion sein kann. Weil die wahrnehmbaren Qualitäten zu diesen Bestimmtheiten zählen, ist das vor dem inneren Auge Verbleibende nichts Wahrnehmbares, sondern etwas, das in den drei Dimensionen ausgedehnt und nichts sonst ist. Im zweiten Schritt werden mit Länge, Breite und Tiefe die Determinanten des Körpers abstrahiert.'" Auf die Frage, was von dem Objekt in der geistigen Betrachtung denn nun übrig geblieben ist, sind die unterschiedlichsten Antworten gegeben worden l20 Die naheliegendste und m. E. richtige Ansicht ist die, daß die Materie übrig bleibt, denn das erfordert die aristotelische Argumentation l21 Die Unzulänglichkeit des Subjekt-Kriteriums soll ja durch

118 Burnyeat et al (1979,15) und Bostock (1994, 76f.) sagen, »das andere« seien die Entitäten, die zugegebenerweise nicht Substanzen seien, während Wedin (1996, 54) Bostock kritisiert und die These vertritt, »das andere« seien die Entitäten, die sich vom Subjekt unterscheiden lassen. Ich kann keinen Unterschied zwischen den bei den Auffassungen erkennen, denn die Prämisse der reductio ist, daß die Substanz mit dem Subjekt gleichgesetzt wird. 119 V gl. Phys. IV 1, 209 a 2-4 zu Länge, Breite und Tiefe als Determinanten jedes Körpers. 120 Schofield (1972, 100) behauptet, daß überhaupt nichts übrig bleibe; er muß deshalb den Satz »es sei denn ... « in 1029a 18 wegerklären und faßt ihn als »inept gloss« auf (S. 99). Nach Dancy (1978, 398) bleibt die Bronze; das ist unplausibel, weil die chemischen Eigenschaften, die für Bronze definierend sind, mit den sonstigen Widerfahrnissen und Vermögen abstrahiert worden sind. Loux (1991, 60) vertritt die Ansicht, daß eine Substanz wie der Mensch ohne seine Akzidentien übrig bleibe. Damit ist unterstellt, etwas könne eine Substanz sein, ohne sonstige Bestimmtheiten zu haben, was nicht nur abwegig erscheint, sondern auch von Aristoteles in Ge I 3, 317b 26-29 implizit, aber unmißverständlich als absurd erklärt wird. Stahl (1981, 178) betont die offenkundige Tatsache, daß die Abstraktion von Eigenschaften eines Objektes das Objekt selbst realiter nicht modifiziert. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sei folgende Festlegung getroffen: Die Frage, was übrig bleibt, wird hier als Abkürzung für die Frage verstanden, wie man ein vorgestelltes Objekt denken muß, nachdem man alle Bestimmtheiten von ihm in Gedanken abstrahiert hat. 121 Vgl. Frede/Patzig (1988 11, 42), Wedin (1996, 55). Eine bekannte Parallele zu dem Gedankenexperiment ist Phys. IV 2, 209b 9-11: »Wenn nämlich die Begrenzung und die Zustände der Kugel weggenommen werden, bleibt nichts übrig außer der Materie.« Die

Das neue Verhältnis

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den Nachweis demonstriert werden, daß seine Anwendung die Materie als einzige Substanz erweist, was aber absurd wäre. Diese These wird unten noch weiter begründet. Zunächst ist zu klären, wie Aristoteles überhaupt unterstellen kann, sein Gedankenexperiment würde das erste Zugrundeliegende zutage fördern. Aristoteles konzipiert das Zugrundeliegende in Cat. als numerisch einzelnen Gegenstand, der nicht eine Bestimmtheit ist, sondern der vielmehr Bestimmtheiten erfüllt. Die Motivation des Gedankenexperimentes ist, den Kern des Zugrundeliegenden zu isolieren, nämlich das Erfüllende und Einzelne. Deshalb werden die Bestimmtheiten in Opposition zu dem gesetzt, was sie erfüllt. Man muß, so ist der Gedanke, um jenen Kern zu identifizieren, das Erfüllende im Unterschied zu allen erfüllten Bestimmtheiten betrachten und letztere abziehen. Wenn der Gegenstand nicht aus seinen Bestimmtheiten besteht, muß dabei etwas übrig bleiben. 122 Was übrig ist, kann nicht ausgesagt werden, da alle aussagbaren Bestimmtheiten von ihm abstrahiert sind. Man kann es lediglich als ein >dies< bezeichnen, weil man es als Instanz denken muß, ohne es als Instanz von etwas zu denken. Eben deshalb, weil das Zugrundeliegende als solches etwas ist, das als Einzelnes ohne irgendeine Bestimmtheit zu konzipieren ist, hat Aristoteles es in 1029a 10 als »undeutlich« bezeichnet. l23 Inwiefern dasjenige, das nach der Abstraktion verbleibt und so durch die unqualifizierte Anwendung des Subjekt-Kriteriums als Substanz erwiesen wird, mit der Materie identifiziert werden kann, versucht Aristoteles im nächsten Abschnitt deutlicher zu machen, der allerdings nicht ohne Schwierigkeiten ist: »Unter Materie verstehe ich, was von sich selbst her weder als Was noch als Quantum noch als irgend etwas anderes von dem verstanden wird, wodurch das Seiende begrenzt wird. Denn es gibt etwas, von dem jede von diesen [Bestimmungen] ausgesagt wird, und dem das Sein verschieden ist von jeder kategorialen Bestimmung; denn das übrige wird von der Substanz ausgesagt, diese aber von der Materie. Deshalb ist das letzte von sich selbst her weder ein Was noch ein Quantum noch irgend etwas anderes; auch nicht

»Begrenzung« kann mit Länge, Breite und Tiefe gleichgesetzt werden; vgl. 209 a 2-4 mit 209 b 1-5. Eine weniger bekannte Parallele ist Phys. IV 8, 216b 2-9; hier erklärt AristoteIes, daß die raumerfüllende »Masse« eines hölzernen Würfels bleibe, wenn man »alles andere« von ihm trenne. 122 In diesem Punkt besteht Übereinstimmung mit Stahl (1981, 179). 123 Die Tatsache, daß das Subjekt-Kriterium nach Aristoteles eindeutig ist, weil es die Materie als einzige Substanz erweist, spricht dagegen, den Ausdruck »undeutlich« nicht auf das Zugrundeliegende selbst zu beziehen, sondern auf das Kriterium, daß die Substanz das primäre Zugrundeliegende ist.

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Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

die Verneinungen, denn auch diese müssen akzidentell zukommen« (1029a 20-26). Unter den debattierten Passagen aus Z 3 ist dies die vielleicht umstrittenste. Die traditionelle Auffassung setzt dasjenige, das von sich selbst her keine kategoriale Bestimmtheit aufweist, mit der sogenannten >ersten Materie< oder >prima materia< gleich und erkennt darin eine aristotelische Doktrin, die am deutlichsten in der Schrift über das Werden und Vergehen erkennbar wird. Dort nimmt Aristoteles, so jedenfalls die traditionelle Meinung, zur Erklärung des wechselseitigen Übergangs der elementaren Körper Feuer, Wasser, Erde und Luft eine zugrundeliegende Materie an, die nicht wahrnehmbar ist und nie als solche vorliegt, sondern stets in Gestalt von einem der Elemente. 124 Andere Interpreten bestreiten dagegen, daß Aristoteles ein solches Konzept vertreten habe, und nehmen daher an, daß er in Z 3 nicht sein eigenes Materiekonzept vorstelle, sondern Platon oder einen hypothetischen Gegner sprechen lasse und kritisiere. 125 Im Folgenden werde ich es vermeiden, Stellung in dieser Kontroverse zu beziehen, und statt dessen der Motivation für die von der traditionellen Deutung abweichenden Interpreten nachgehen. Der Beweggrund für die neueren Auffassungen ist nicht, daß die traditionelle Deutung dem Text nicht gerecht würde; die betreffenden Interpreten sehen sich ja, um mit dem Text umgehen zu können, zu der Hilfskonstruktion gezwungen, in 1029a 10-26 eine oratio obliqua zu unterstellen. Der Stein des Anstoßes ist vielmehr, daß man in der Konzeption der Materie in diesem Kapitel gar keinen Sinn zu erkennen vermag. Die anvisierte Materie, so meint z. B. Mary Louise Gill (1989, 30), habe gar keine Weise zu sein und sei daher etwas, das gar nichts sei, und das komme als aristotelisches Konzept von Materie oder von erster Materie nicht in Frage. Dabei übersieht Gill allerdings, das dem, das von sich selbst her keine kategoriale Bestimmtheit besitzt,

'" Vg!. bes. GC II 1, 329a24-35; II 5, 332a 17f., 34-b I. GiB (1989, 245fl.) versucht, diese Stellen ohne die Unterstellung einer ersten Materie zu interpretieren; sie berücksichtigt allerdings nicht die Rede von einer »gemeinsamen Materie« (332a 18) der Elemente. Graham (1987b, 476, 490) und Loux (1995, 497) machen geltend, daß Aristoteles schon deshalb auf die These festgelegt sei, daß im Übergang der Elemente ineinander eine Materie zugrundeliege, weil er grundsätzlich die Ansicht vertrete, daß in jedem Prozeß eine Materie zugrundeliege. '" So Charlton (1970, 138) mit Bezug auf 1029a 10-26; vg!. GiB (1989,26-29) und Furth (1988, 221-227). Der erste Angriff auf die traditionelle Auffassung findet sich bei King (1956), die erste Antwort darauf bei Solmsen (1958). Zur Verteidigung der traditionellen Auffassung vgl. ferner Happ (1971,302-309), Robinson (1974), Williams (1982, 211-219).

Das neue Verhältnis

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gleichwohl eine genuine Seinsweise zukommen muß, wie Aristoteles gerade in der zuletzt zitierten Passage deutlich zu machen versucht. Ausschlaggebend für das vorhergehende Argument war der Unterschied zwischen dem Sein der Bestimmtheit, das >kategoriales Sein< genannt werden kann, und dem Sein des Erfüllens, das ,instantielles Sein< heißen möge. Von eben diesem Unterschied handelt Aristoteles offensichtlich auch jetzt. Wenn er erklärt, daß für etwas Gewisses das »Sein verschieden ist von jeder kategorialen Bestimmung«, so will er damit sagen, daß sich das instantielle Sein nicht auf das kategoriale reduzieren läßt. 126 Wenn man akzeptiert, daß ein Bündel von Bestimmtheiten nicht ein numerisch Einzelnes konstituiert, dann muß man auch anerkennen, daß etwas übrig bleibt, nachdem man von einem konkreten Objekt alle Bestimmtheiten abgezogen hat. Die für Gill »selbstwidersprüchliche« Konzeption eines bestimmungslosen Etwas fußt m. E. auf einem guten Argument und kann deshalb nicht ohne weiteres als unaristotelisch disqualifiziert werden. Nun ist die Frage, wie diese Konzeption mit dem aristotelischen Begriff der Materie zusammenhängt. Es ist klar, daß 1029a 10-26 kein Beispiel für die bei Aristoteles standardmäßige Einführung des Begriffs der Materie als das einem Prozeß Zugrundeliegende ist. Außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, daß Aristoteles die Platoniker (»die in dieser Weise betrachten«) zu treffen glaubt, wenn er die Strategie beschreibt, das Subjekt im Unterschied zu seinen Bestimmtheiten als substantiell auszugeben. 127 Gleichwohl ist anzunehmen, daß der Materiebegriff in 1029a 10-26 wenigstens eine Gemeinsamkeit mit dem aristotelischen hat; das läßt sich an Hand der Konsequenz deutlich machen, die Aristoteles aus seinem Argument zieht: »Wenn man auf dieser Grundlage betrachtet, ergibt sich, daß die Materie Substanz ist. Aber das ist ausgeschlossen, denn sowohl das Getrennte als auch das bestimmte Dies scheinen vorzüglich der Substanz zuzukommen; deshalb sollte man annehmen, daß die Form und das Kompositum eher Substanz sind als die Materie« (1029a 26-30).

126 Das versucht Aristoteles auch in Phys. I 3, 186a 22-32, bes. 29-32 zu zeigen. Er wendet sich hier mit dem folgenden Argument gegen Parmenides: Angenommen, es würde nur Weißes geben, so müßte man gleichwohl das Sein für Weiß und das Sein für den Rezipienten unterscheiden, sprich das instantielle Sein. Entsprechend gilt, daß man immer, wenn man nur ein Einziges als seiend ansetzt, ein kategoriales von einem instantiellen Sein unterscheiden muß und insofern nicht schlechthin nur ein Einziges als seiend annehmen kann. Den Hinweis auf Phys. I 3 und das instantielle Sein verdanke ich Thomas Buchheim. m Vg!. Frede/Patzig (1988 11, 44).

64

Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

Hier bringt Aristoteles zusätzliche Substanz-Kriterien ins Spiel: Die Mate-

rie, die durch Anwendung des Subjekt-Kriteriums als Substanz ausgewiesen wird, kann gegenüber der Form und dem Konkretum nur in einer weniger bevorzugten Weise Substanz sein, weil sie den Kriterien der Getrenntheit und

des bestimmten Dies nicht gerecht wird. Damit ist der mögliche Anspruch der Materie auf den Titel der primären Substanz erledigt und wird von Aristoteles in Z nicht mehr diskutiert. Nun ist anzunehmen, daß die vorangegangene Diskussion in 1029a 10-26 Implikationen für die Disqualifikation der Materie besitzt, denn andernfalls hätte Aristoteles keine Begründung dafür gegeben, daß die Materie den besagten Kriterien nicht genügt und nicht primäre Substanz ist.

Deshalb ist zuzugestehen, daß der in 1029a 10-26 entwickelte Materiebegriff wenigstens partiell identisch mit dem aristotelischen ist. Die Übereinstimmung liegt m. E. darin, daß die konstituierende Materie von etwas ein instantielles und nicht ein kategoriales Sein besitzt, weil sie im Unterschied zu

der Form begriffen wird, die sie erfüllt. '28 Sie entzieht sich als Erfüllendes der kategorialen Beschreibung. Das gilt nicht nur für die traditionell angesetzte >erste Materiegetrenntbestimmtes DiesDies< oder >Diesheit< wieder.

Jedoch ist damit keine Vorentscheidung für die kontroverse Frage getroffen, ob ,ME 1t sich bei Aristoteles immer auf Individuen bezieht; wenn das

133 Cat. 7, 8a 38-b 5; vgl. !'J. 13, 1020a 7-8. '" Vgl." 8, 1017b 25; Z 3, 1029a 28; H 1, 1042a 27-29; lerner Ge 13, 317b 26-29; Z 14, 1039a 301.; 11, 1052b 15-19; K 2, 1060b 22; M 9, 1086a 33, b 4-9. Zur Markierung des Unterschieds zwischen der Substanz und übrigen Kategorien vgl. z. B. Top. VI 6, 144a 20; Phys. III 1, 200b 271.; Ge 13, 318b 1, 319a 12; An. I 1, 402a 24; I 5, 410a 141.; II 4, 416b 13; B 5, 1001 b 29-32; Z 1, 1028a 11-13; 4, 1030a 191., b 11 I.; 13, 1038b 25. 135 Die klassische Diskussion der beiden Alternativen ist Smith (1921). Für die erste vgl. z.B. Ross (1924 I, 2471.), Preiswerk (1939, 85f.!FN 3), Tugendhat (1958, 25/FN 22), Liske (1985, 384), Steinfath (1991, 160), Weidemann (1996, 91). Für die zweite Alternative vgl. z. B. Loux (1991, 29). 13" In GC I 3, 317b 9, 21, 27, 28 verwendet Aristoteles 't6öE, um sich auf die Substanz zu beziehen, und wechselt in b 31 zu 't6öE 'tl. In Z 13, 1038b 24, 25, 27 geht er von 't6ÖE zu 't65E 'tl über und setzt dann wieder 't6öE ein. ZU 't6öE im Sinn von 't6ÖE 'tl vgl. ferner SE 22, 178b 28; Phys. III 2, 201 b 261.; A 2, 1069b 11.

Das neue Verhältnis

69

so wäre, dann wären die substantiellen Formen schon deshalb individuell, weil sie von Aristoteles als ,ME"' bezeichnet werden. 137 Gill hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich bei Aristoteles der Ausdruck ,bestimmtes Lebewesen< ebenso wie >dieses Lebewesen< sowohl auf eine Art als auch auf ein einzelnes Lebewesen beziehen kann. 138 Entsprechend ist für ,ME "' sowohl etwas Einzelnes als auch eine allgemeine Art als Bezug möglich, gleichgültig, ob ,ME oder", der Stellvertreter für Begriffe wie ,Lebewesen< ist. Daher sollte man davon ausgehen, daß ,ME"' nicht immer etwas Individuelles bezeichnen muß, sondern in bezug auf konkrete Substanzen und ihre Formen jeweils einen anderen Sinn haben kann. Betrachten wir zunächst die Verwendungsweise in bezug auf konkrete Substanzen. In diesem Zusammenhang drückt der Begriff häufig numerische Einheit im Gegensatz zum Allgemeinen aus und impliziert darüber hinaus substantielle Bestimmtheit. t39 Eine solche Bestimmtheit ist nach Aristoteles indirekt sowohl für die Existenz der sonstigen Eigenschaften einer konkreten Substanz verantwortlich als auch für deren Erkenntnis. 140 Aristoteles bringt die Priorität des substantiell bestimmten Konkretums durch den Begriff der Diesheit zum Ausdruck, indem er z. B. sagt, daß eine Bewegung nur durch das Bewegte der Erkenntnis zugänglich sei, weil das Bewegte im Unterschied zur Bewegung ein bestimmtes Dies sei. 141 Weil der Begriff also etwas in ontischer und in epistemischer Hinsicht Grundlegendes bezeichnen kann, liegt seine Eignung als Substanz-Kriterium auf der Hand. Ein konkretes Dies besitzt nach Aristoteles ferner eine bestimmte Einheit, wie man aus seiner Bemerkung in A 3 erschließen kann, daß ein materielles Aggregat, das »durch Berührung und nicht durch Zusammenwuchs« existie-

m Vg!. GC I 3, 318b 14-17,32; " 8, 1017b 23-26; Z 3, 1029a 27-30; 4, 1030a 3-6; H 1, 1042a 28f.; e 7, 1049a 35; A 3, 1070a 12-14. Für das Argument, die substantielle Form müsse qua 't6öE 'tl individuell sein, vgl. z.B. Preiswerk (1939, 86), Sellars (1957, 691), Hartman (1977, 58), L10yd (198Ia, 38-40), Frede (1985,23), Frede/Patzig (1988 I, 52), Whiting (1990, 62f.). Für Kritik an diesem Argument vgl. z. B. Albritton (1957, 701-703), Loux (1991, 143-146). "" Vg!. GiB (1989,31-34) und (1994,671.). '" Vg!. z. R Cat. 5, 3 b 10-21; SE 22, 178b 37-179a 10; Phys. IV 7, 214a 12; GA IV 3, 767b 33-35; B 6, l003a 8-12; Z 11, 1037a I I.; 13, 1039a 2-4,151.; M 10, 1086b 251.; zum parallelen Gebrauch von Subjekt-Kriterium und 't6ÖE 'tl vgl. B 5, 1001 b 29-32. Die Implikation einer substantiellen Bestimmtheit ist besonders deutlich in Z 3, 1029a 27-30; 13, 1038b 4-6; e 7, 1049a 27-29. 1-'10 V gl. die Diskussion von APo. I 4 in I § 4 und die von Z 1 in I § 5. 1-'11 V gl. Phys. IV 11, 219 b 28-31. Damit rechtfertigt Aristoteles in diesem Kontext, daß er bei seiner Zeitanalyse primär vom Bewegten handelt, statt unmittelbar über Bewegung zu sprechen.

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Der Begriff der uneingeschränkten Getrenntheit

re, nur »dem Anschein nach ein bestimmtes Dies« sei (1070a 10f.).t42 Um diese Aussage interpretieren zu können, ist eine Übersicht über die verschiedenen Typen von Einheit hilfreich, die materielle Körper nach Aristoteles aufweisen können: 1. Kontinuität; 2. physische Kontinuität, wie sie die Organe der Lebewesen besitzen; 3. funktionale Einheit oder Ganzheit, die ein Artefakt wie ein Schuh hat; und 4. substantielle Einheit, welche die lebendigen Substanzen auszeichnet, weil sie in sich die Ursache zu einer bestimmten Art von Bewegung haben. ' " Der Unterschied zwischen 2. und 4. beruht darauf, daß die Organe ihre Einheit nicht selbst verursachen, sondern nur auf Grund ihrer Integration in den lebendigen Körper besitzen, während die Einheit der Lebewesen selbstverursacht ist. Da Aristoteles in A 3 dem, was »nicht durch Zusammenwuchs« ist, die Diesheit abspricht, muß ein Dies physische Einheit besitzen, und zwar entweder im Sinn von 2. oder von 4. Jedoch reicht 2. nicht aus, denn weil ein Organ nach Aristoteles keine Substanz ist, wohl aber jedes Dies, muß die Einheit eines Dies substantiell sein, also im Sinn von 4. verstanden werden. Deshalb zeichnen sich unter den konkreten Dingen nur die Lebewesen durch Diesheit aus, d.h. >Diesheit< bezeichnet eine selbstverursachte Einheit. 144 Die elementaren Körper sind nach Aristoteles Aggregate und erfüllen deshalb nicht die Bedingung der Diesheit. 145 1-'12 Cohen (1996, 131 t) macht zu Recht darauf aufmerksam, daß Aristoteles Einheit (in mehreren Sinnen von >Einheitgetrennt< in 1028a 34 auf die Form zu beziehen ist und etwas mit einer seinsmäßigen Unabhängigkeit zu tun hat; 14 alle sonstigen Prämissen und Belegtexte ergeben sich aus absetzt. Bereits ehen (1940, 165/FN 514; vgl. 67) spricht der substantiellen Form Getrenntheit im Sinn von substantieller Priorität zu: »Denn es beharrt beim Wechsel der Individuen.« Ähnlich Stone Haring (1956-57, 710) in bezug auf die Seele: »[ ... ] it exists apart in the sense that it attains successive factual realisation«. " Vgl. SpeIlman (1995,93-95) und Laux (1991, 260-264). 1-'1 Vgl. Spellmann (1995, 46). Spellman möchte hier zeigen, daß ,Form< bei Aristoteles nicht nur zweideutig ist und sowohl die Art als auch die definierenden Eigenschaften bezeichnen kann, sondern auch in einer dritten Bedeutung den Artvertreter. Ihr Argument

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Interpretationsansätze zum Begriff der getrennten Form

den folgenden Zitaten: »Aristoteles sagt, daß die ganze Linie in Wirklichkeit früher gegenüber der halben Linie ist und die Substanz gegenüber der Materie (Metaphysik V 11 1019a8-10). Aber weil, wie wir in VII 1 gesehen haben, eine der für Priorität angebotenen Bedingungen Getrenntheit ist, folgt, daß die ganze Linie ebenso getrennt von der halben ist, wie die Substanz von ihrer Materie« (S. 86). Die Getrenntheit der ganzen von der halben Linie, so fährt Spellman fort, könne zwar als definitorische Getrenntheit verstanden werden, doch wäre das unbefriedigend: »Aber wenn das die einzige Weise wäre, in der sie so wäre [= in der die ganze von der halben Linie getrennt wäre], dann hätte die Analogie zu Substanz und Materie keine ontologische Aussagekraft; genauer gesagt könnte weder die Substanz noch die ganze Linie verwendet werden, um Priorität >der Natur nach< (1019a2) zu illustrieren. Wenn wir jedoch annehmen, daß die Getrenntheit der ganzen Linie das ontologische Äquivalent zur Getrenntheit der Definition nach ist, wäre dieses Problem gelöst. Das heißt, der Definition nach getrennt zu sein, so sagt uns Aristoteles, heißt so zu sein, daß in einer Definition von A keine Bezugnahme auf B erfolgt - das heißt, indem man sagt, was A an sich ist, müssen wir nicht sagen, daß es (ein) B ist. Ebenso, was es für A heißt, getrennt von B zu sein, wenn Getrenntheit das ontologische Korrelat zur Getrenntheit der Definition nach ist, ist, daß A so wäre, daß B zu keiner Zeit (feil dessen) ist, was A an sich ist« (S. 86). Getrenntheit in diesem Sinn nennt Spellman »unabhängiges Sein«, im Unterschied zur unabhängigen Existenz. Die hauptsächlichen Probleme in exegetischer Hinsicht sind erstens, daß Spellman die Hinsichten der Priorität in '" 8 und Z 1 nicht differenziert, und zweitens, daß die von ihr verwendete Erklärung von >definitorisch getrennt< uns nicht etwa von Aristoteles mitgeteilt wird, sondern von manchen seiner Interpreten wie z.B. Fine (1984,35). Was das erste Problem angeht, so begründet Aristoteles mit der Getrenntheit in Z 1 die zeitliche Priorität der Substanz. Wenn man auf der Basis dieser Stelle Getrenntheit zu einer Bedingung für Priorität in einem anderen Sinn erklären will, dann muß man zeigen, daß diese Priorität äquivalent mit der zeitlichen Priorität aus Z 1 ist. SpeIlman bleibt diesen Nachweis schuldig. Sie geht davon aus, daß in '" 11, 1019a 2ff. läßt sich so zusammenfassen: ,Die Substanz ist der Zeit nach primär und deshalb getrennt (1028a 34); und die Substanz ist Form; die Form als Art, d.h. als Sammlung von Einzeldingen ist aber existentiell abhängig von den Einzeldingen; und definierende Eigenschaften sind nicht trennbar. Also kann die Form nicht nur als Art oder als definierende Eigenschaft verstanden werden.< Die Schlüssigkeit dieses Argumentes sei dahingestellt; jedenfalls ist offensichtlich impliziert, daß 'getrennt< in 1028 a 34 auf die Form zu beziehen ist und eine seinsmäßige Unabhängigkeit meint. Vgl. auch Spellmans aus Barnes (1984) übernommene Übersetzung »can exist separately« für xooplcn6v in 1028a 34 (S. 83).

Ansätze aus der Forschung

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natürliche Priorität verhandelt wird, expliziert aberweder diesen Begriff noch seinen Zusammenhang mit dem Konzept der zeitlichen Priorität. Ebensowenig gibt sie eine Antwort auf die durchaus nicht triviale Frage, was genau in den Zeilen 1019a 7-10 Gegenstand ist, auf die sie sich stützt. Da Spellman selbst keine Diskussion der Passage liefert, muß das zur fundierten Würdigung ihrer These an dieser Stelle nachgeholt werden; der Text ist ohnehin wichtig. Wie bereits in I §5 gesehen, modifiziert Aristoteles den Begriff der natürlichen Priorität in zwei Weisen: »Da aber das Sein in vielfacher Weise verstanden wird, ist primär das Zugrundeliegende früher, deshalb ist die Substanz früher; dann in anderer Weise das, was mit Hinblick auf Vermägen und vollendete Wirklichkeit [zu verstehen] ist. Denn das eine ist hinsichtlich des Vermägens früher, das andere hinsichtlich der vollendeten Wirklichkeit, wie z. B. hinsichtlich des Vermägens die halbe [früher] als die ganze Linie ist, der Teil als das Ganze und die Materie als die Substanz, hinsichtlich der vollendeten Wirklichkeit aber später; denn erst, wenn es [das Ganze] zerlegt wird, werden sie in Wirklichkeit sein« (1019a 4-10). Hinlänglich bekannt ist die primäre Spezifikation von ,A kann ohne B sein, aber B nicht ohne A" die sich auf den Begriff des Zugrundeliegenden stützt. Nun führt Aristoteles mittels der Begriffe von Vermägen und Wirklichkeit eine sekundäre Spezifikation ein und beruft sich für deren Erläuterung auf einen Gedanken, den er u. a. in Z 13, 1039 a 3-8 entfaltet. Der Gedanke besagt, daß ein Ganzes nicht aus Teilen bestehen kann, die ihrerseits wirkliche Dinge sind, denn dann wäre eben nicht ein Ganzes gegeben, sondern ein Aggregat mehrerer Dinge. Vielmehr besitzen die Teile lediglich eine potentielle Existenz. Das wiederum heißt nicht, daß einem gar nicht Existierenden eine mysteriöse Seinsweise zugeschrieben wird, sondern vielmehr, daß das wirklich existierende Ganze in materielle Elemente zerlegt werden kann, die damit wirkliche Existenz gewinnen. Die Wirklichkeit des Ganzen und die potentielle Existenz der Teile wird in der zitierten Stelle nun so formuliert, daß ein Ganzes hinsichtlich der Wirklichkeit früher als seine Teile sei, während es sich hinsichtlich des Vermägens umgekehrt verhalte." Das Schema,A kann ohne B sein, aber B nicht ohne A, liefert also je nach Hinsichtnahme ein anderes Ergebnis. Betrachtet man das Ganze unter dem Aspekt seiner Wirklichkeit, so kann man sagen, daß das wirkliche Ganze insofern ohne die Teile ist, als die Teile gar nicht wirklich existieren, während die Teile ihre potentielle Existenz nur im wirklichen Ganzen besitzen; betrachtet man es dagegen hinsichtlich des Vermögens, so ergibt sich, daß das Ganze für seine Existenz darauf angewiesen ist, daß die " Vg!. Ross (1924 I, 318), Kirwan (1971, 1551.).

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Interpretationsansätze zum Begriff der getrennten Form

Teile nur potentiell sind, während die Teile insofern dem Vermögen nach ohne das Ganze sind, als sie dann wirklich existieren, wenn das Ganze zerstört ist. Diese Spezifikation von >substantiell früher< wird von Aris!oteles zu Recht als eine »andere Weise« (1019a 6) gegenüber dem primären Sinn von >sub-

stantiell früher< eingeführt. Der primäre Sinn zielt auf das Verhältnis der zugrundeliegenden Substanz zu den nichtsubstantiellen Bestimmtheiten, der

sekundäre Sinn dagegen auf das Verhältnis der Substanz zu ihren materiellen Konstituenten. Das sind zu unterscheidende Anwendungsbereiche. Z. B. kann man weder sagen, daß die nichtsubstantiellen Bestimmtheiten dem Ver-

mögen nach früher als die Substanz sind, denn sie sind auch potentiell nicht ohne diese; noch trifft es nach Z 3 zu, daß die Substanz qua Zugrundeliegendes früher ist als die materiellen Konstituenten.

Kehren wir nun zurück zu Spellman. Sie faßt deshalb, weil Getrenntheit in 1028a 34 eine Bedingung für zeitliche Priorität ist, Getrenntheit als Bedingung für die Priorität der ganzen gegenüber der halben Linie in 1019a 8-10 auf. Nun ist die Priorität der ganzen gegenüber der halben Linie im sekundären und nicht im primären Sinn von >substantiell früher< zu verstehen. Der Unterschied zwischen den beiden Sinnen, der von Spellman ignoriert wird, ist für den Zusammenhang zwischen substantieller und zeitlicher Priorität wesentlich. Denn es ist zwar, wie in I §S gesehen, durchaus sinnvoll, eine Verbindung von der zeitlichen zur substantiellen Priorität im primären Sinn herzustellen, aber der Zusammenhang mit der substantiellen Priorität im

sekundären Sinn ist zweifelhaft. Deshalb ist Spellmans Annahme unbegründet, daß diese Priorität Getrenntheit impliziert; aus ihren Prämissen folgt einfach nicht, daß die ganze

von der halben Linie getrennt ist. Selbstverständlich besitzt ein substantielles Ganzes nach Aristoteles (uneingeschränkte) Getrenntheit, und man kann

darüber hinaus sagen, daß die Wirklichkeit des Ganzen äquivalent mit seiner (uneingeschränkten) Getrenntheit ist. Aber das bietet nicht die geringste Rechtfertigung, von einer Getrenntheit des Ganzen gegenüber dem Teil zu

sprechen. Das zweite exegetische Problem führt sogleich zu einem sachlichen. Nicht nur ist die Behauptung falsch, daß »Aristoteles uns sagt«, daß definitorische Getrenntheit genau dann vorliegt, wenn in der Definition von A keine

Bezugnahme auf B erfolgt. Sondern auch die Annahme, Aristoteles könnte definitorische Getrenntheit stillschweigend so verstanden haben, ist äußert

unplausibel. Denn nach dieser Erklärung wäre, wie oben gesehen, Beliebiges definitorisch getrennt. Entsprechendes gilt, wenn Getrenntheit als »das ontologische Korrelat zur Getrenntheit der Definition nach« verstanden wird. Spellman selbst bemerkt,

Ansätze aus der Forschung

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daß Getrenntheit in diesem Sinn »zwischen vielen Entitäten bestehen wird« (S. 86); tatsächlich sind es zu viele. Betrachten wir zunächst Spellmans Paradigma, die substantiellen Formen. Sie macht geltend, daß die Formen des Aristoteles, die sie als Artvertreter begreift, gegenüber den konkreten Substanzen ein »unabhängiges Sein« besäßen, weil man sich für ihre Definition nicht auf eine bestimmte konkrete Substanz beziehen müsse. Umgekehrt müsse aber, so Spellman, jede bestimmte konkrete Substanz mit Bezug auf ihre Essenz definiert werden, die wiederum mit dem Artvertreter identisch sei (S.88). Demnach besitzt das Konkretum gegenüber dem Artvertreter kein »unabhängiges Sein«. Dasselbe gilt nach Spellman für die nichtsubstantiellen Eigenschaften, weil deren Definition klarmachen müsse, daß es sich um Eigenschaften von Substanzen handle (S.88). Diese Aussagen sind korrekt, aber ebenso richtig ist, daß man für jede konkrete Substanz und für jede Eigenschaft A eine andere Entität B anführen kann, die »zu keiner Zeit (Teil dessen) ist, was A an sich ist«. Nichts in Spellmans Deutung vermag die Folgerung abzublocken, daß die konkreten Substanzen und die Eigenschaften relativ auf ein solches B Getrenntheit im Sinn des »unabhängigen Seins« besitzen. Deshalb ist diese Deutung untauglich. Ein Verteidiger von Spellman könnte einwenden, daß dies keine wohlwollende Kritik ihrer Auffassung sei und man sich auf die relevanten Unabhängigkeitsbeziehungen konzentrieren solle, statt auf beliebige Entitäten zu rekurrieren, gegenüber denen auch Beliebiges »unabhängiges Sein« besitzt. Dann muß aber zurückgefragt werden, wie denn die relevanten Verhältnisse zu spezifizieren sind, und darauf findet sich bei Spellman nichts, das als Antwort dienen könnte. Ein zweiter sachlicher Kritikpunkt ist folgender. Was Spellman leistet, um die ontologische Aussagekraft der begrifflichen Getrenntheit darzustellen, beschränkt sich darauf, daß sie diesem Kriterium einen anderen Namen gibt, »unabhängiges Sein«. Damit ist natürlich nichts erklärt. Wenn man der substantiellen Form ein »ontologisches Korrelat« ihrer definitorischen Getrenntheit zuspricht, dann hat man allenfalls ein Problem benannt, es aber nicht gelöst. Zu beantworten bleibt die nicht-triviale Frage, welches Sein die substantiellen Formen oder, in Spellmans Terminologie, die Vertreter natürlicher Arten besitzen, wenn sie ohne Bezug auf die Materie definiert werden können. Spellman bezeichnet Artvertreter durch Formulierungen wie »Sokratesqua-Mensch« und erklärt, das »qua« fungiere wie ein »Filter« von Eigenschaften (S. 29-31, 49). Sokrates-qua-Mensch ist sozusagen reduziert auf die Eigenschaften, welche die Art Mensch definieren. Da dies, wie Spellman selbst bemerkt (S. 98f.), nahelegt, daß Artvertreter abstrakte Entitäten sind,

86

Interpretationsansätze zum Begriff der getrennten Form

wird fraglich, ob die Vertreter natürlicher Arten substantiell sein können. Spellman versucht diesem Problem durch die These zu begegnen, daß die aristotelische Teleologie die ontologische Priorität von Vertretern natürlicher

Arten rechtfertige (S. 106). Eine teleologische Erklärung handle »[... ] nur davon, was für die Vertreter natürlicher Arten charakteristisch ist, und nicht von den feiner differenzierten Aktivitäten und Strukturen von individuellen

Organismen« (S. 120). Deshalb seien die Vertreter natürlicher Arten ontologisch vorgeordnet. Ohne dieses Argument im einzelnen diskutieren zu müssen, kann man sagen, daß es die zentrale Frage nicht beantwortet, nämlich was für eine Entität ein Vertreter einer natürlichen Art und wie er wirklich ist. Fassen wir zusammen: Die Deutung von Spellman ist erstens im aristotelischen Text nicht fundiert und sie führt zweitens in systematischer Hinsicht

nicht weiter. Positiv hervorzuheben ist die Absicht, die begriffliche Getrenntheit als ontologischen Begriff zu rehabilitieren, aber was als Einlösung dieser Intention ausgegeben wird, ist nicht mehr als ein Postulat.

Aus der Übersicht zum Forschungsstand haben sich die aristotelischen Bedingungen an Definierbarkeit als sinnvoller Ausgangspunkt für die Klärung von >begrifflich getrennt< herauskristallisiert. Man kann sagen, daß die Form in gewisser Weise ohne Materie sein muß, sofern sie ohne Bezug auf diese soll

definiert werden können, doch es ist nach Aristoteles zugleich wahr, daß die Form in Materie existiert. Inwiefern dann noch von einer genuinen Ge-

trenntheit der Form die Rede sein kann und inwiefern die begriffliche Getrenntheit ontologisch fundiert ist, auf diese Fragen finden sich in der Literatur keine weiterführenden Antworten.

Naheliegend und erfolgversprechend ist eine Untersuchung der Weise, in der Aristoteles selbst im Aporienbuch der Metaphysik die Frage nach der getrennten Form stellt. 16 Die Diskussion dort erfolgt vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Platon. Zwar weist Aristoteles die Annahme

getrennter platonischer Ideen in aller Klarheit und Schärfe zurück, aber bei dem Postulat einer in gewisser Weise getrennten Form bleibt er einigen der Motive treu, die er selbst den Platonikern zuschreibt. Daher ist es sinnvoll,

vor der Betrachtung der einschlägigen Aporie die aristotelische Kritik an Platon darzustellen. Im Anschluß daran sollen die Bedingungen an Definierbarkeit erörtert werden. Es wird sich zeigen, daß der Ansatz bei der Platonkritik und bei der einschlägigen Aporie sachlich eng mit der Definitionsproblema-

H, Vgl. Code (1984,4-9), Cleary (1987, 1121.) undSteinlath (1991, 19-37) lür den Ansatz bei den Aporien, um verwandte Probleme zu erörtern.

Die platonischen Ideen bei Aristoteles

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tik verknüpft ist. Die Aporie führt nämlich zur Analyse des Werdens, und nur mit Rückgriff auf diese Analyse kann gezeigt werden, daß und wie die Form definierbar ist.

2 Die platonischen Ideen bei Aristoteles

§ 3 Das Verfahren und die Motivation der Platoniker Für die Frage, wie die Getrenntheit der aristotelischen Formen zu verstehen ist, ist die aristotelische Diskussion der platonischen Ideen vor allem in negativer Hinsicht aufschlußreich: Man lernt, in welcher Weise die von AristoteIes verfochtene Getrenntheit der Formen jedenfalls nicht verstanden werden kann, und erhält eine Antwort auf die naheliegende Frage, warum Aristoteles denn nicht auf das platonische Modell zurückgreift, wenn er schon eine Getrenntheit der Formen fordert. Der Ertrag in positiver Hinsicht liegt darin, daß Aristoteles für das Postulat einer Getrenntheit der Form Motive übernimmt, die er selbst für platonisch hält (vgl. TI §7). Wenn Platon und seine Anhänger nach Aristoteles getrennte Ideen annehmen, so heißt das den bisherigen Ergebnissen zufolge, daß die Platoniker allgemeine Bestimmtheiten herausgreifen und zu ihren eigenen Subjekten erklären. 17 Eine für subsistent erklärte Bestimmtheit muß im Rahmen der aristotelischen Terminologie als ein Einzelnes und nicht als Allgemeines gelten. Aristoteles definiert das Allgemeine nämlich als etwas, das von Haus aus mehreren zukommt und daher zur selben Zeit vielfach auftreten kann;18 17 Ich verwende den Ausdruck ,Platoniker< im Folgenden indifferent zur Bezeichnung von Platon und seiner Schule, denn ich sehe nicht, daß Aristoteles, was den Vorwurf der Ideentrennung angeht, hier einen Unterschied machen würde. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der These von Chen (1940,6-10), daß Aristoteles den Vorwurf der Ideentrennung nicht gegen Platon richte, sondern gegen gewisse andere, von Chen jedoch nicht identifizierte Philosophen. Seine These läßt sich nicht mit den folgenden Passagen vereinbaren, in denen Aristoteles die Ideentrennung diskutiert und dabei Platon oder seine Werke ausdrücklich nenne A 9, 991b 1-4; Z 2, 1028b 18-20; A 3, 1070a 13-19; M 5, 1080a 1-3; vgl. ferner Al, 1069a 34; M 4, 1078b 30-32. M E. gibt Aristoteles die platonische Position korrekt wieder, wenn er sie durch die Ideentrennung kennzeichnet. Diese Annahme, die als traditionell gelten kann, spielt in meiner Darstellung jedoch keine Rolle und wird darin auch nicht begründet. Die traditionelle, nachdrücklich von Mabbot (1926, 74) vertretene Auffassung (,> [... ] X(J,)plcr~6.; is the only doctrine we can with certainty attribute to Plato«) ist von Fine (1984) in Frage gestellt, jedoch von VIastos (1987) und Devereux (1994) verteidigt worden. '" Vg!. Im. 7, 17a 38-b 3; APr. 127, 43a 25-43; APo. 131, 87b 32 I.; PA I 4, 644a 271.; B 4, 1001 a I; Z 13, 1038b 111.; Z 16, 1040b 25-26.

88

Interpretationsansätze zum Begriff der getrennten Form

wenn ein gegebenes Universale nur ein einziges Mal exemplifiziert sein soll-

te, so könnte es doch vielfach exemplifiziert sein. Indem man ein Allgemeines aber als getrennt behauptet, legt man sich nach Aristoteles darauf fest, daß es nicht die Bestimmtheit von irgend etwas anderem ist, sondern sein ei-

genes Zugrundeliegendes. Deshalb kann man nicht an der Allgemeinheit der Bestimmtheit festhalten, die man hypostasiert, wie Aristoteles in bezug auf die Platoniker erklärt: »Die dagegen hielten es für notwendig, wenn überhaupt irgendwelche Substanzen neben (llapci) den wahrnehmbaren und im Fluß begriffenen sein sollten, daß sie getrennt seien, sie verfügten aber über

keine anderen und isolierten (t1;Eilwav) die allgemein ausgesagten, so daß sich ergibt, daß die allgemeinen und die einzelnen ziemlich genau dieselben Naturen sind" (M 9, l086b 7-12). Zwei Schritte der platonischen Hypostase lassen sich unterscheiden: Die Platoniker isolieren erstens allgemeine Bestimmtheiten und erklären sie zweitens für getrennt, d. h. subsistent. 19 Der zweite Schritt, die Trennung des Allgemeinen, ergibt sich nach Aris!oteles für die Platoniker zwingend, weil sie dem Allgemeinen Substantialität zusprechen wollen und, so ist zu ergänzen, weil Substanzen getrennt sind. 20 Ihren sprachlichen Ausdruck hat die platonische Hypostase nach AristoteIes in dem Wort >selbstselbst< dem gemeinsamen Begriff hinzugefügt« wie in der Wendung »das Gute selbst«, und das heiße nichts weiter, als daß das Betreffende »ewig und getrennt« sein sol1. 21 Das >selbst< signalisiert also, daß die Bestimmtheit für sich genommen wird und auch durch sich selbst existieren soll. In diesem Sinn bezieht sich Aristoteles auf die Ideen wiederholt auch als angeblich »durch sich selbst« (>in einem qualifizierten Sinn< ab, während er in

Z 7-8 zweimal erklärt, daß die physischen Dinge "im vorzüglichen Sinn« (WXAtallgemein< in dem besonderen Sinn zu verstehen, daß ein Satz nur dann allgemein ist, wenn er erstens die Form eines zeitlosen Allsatzes hat und zweitens immer wahr ist. 116 Diesen Sinn vorausgesetzt, läßt sich die >Allgemeinheits-Bedingung< (AB) schlicht so formulieren:

AB

Die Definition ist allgemein.

Im Folgenden sollen weitergehende Bedingungen gesammelt werden, deren Diskussion Aristoteles in Z 4 aufnimmt, indem er das definierende Sein als einen der zuvor in Z 3 genannten Substanz-Kandidaten erörtert. Weil eine Definition das definierende Sein von etwas ausdrückt, lassen sich die Aussagen über letzteres ohne weiteres in Aussagen über Definitionen umformulieren. Aristoteles kündigt in Z 4 an, »logisch« oder »begrifflich« (Aoyt>Was-ist< verhält sich das eine wie das Stupsige, das andere wie das Hohle. Diese unterschieden sich darin, daß das 5tupsige (mJl6v) mit der Materie zusammengenommen ist - denn das Stupsige ist eine hohle Nase -, die Hohlheit aber ohne wahrnehmbare Materie. Wenn nun alles Physische in gleicher Weise wie das Stupsige expliziert wird, wie Nase, Auge, Gesicht, Fleisch, Knochen und insgesamt Lebewesen; Blatt, Wurzel, Rinde und insgesamt Pflanze - denn der Begriff von keinem von ihnen ist ohne Bewegung, sondern er besitzt immer Materie - so ist klar, wie man in der Physik das >Was-ist< erforschen und definieren muß.«149 Mit dem Kunstwort »stupsig« wird das griechische atJl6v wiedergegeben, das eine hohle, also eine einwärts gebogene Nase im Unterschied zur Adlernase bezeichnet. Mit diesem Beispiel veranschaulicht Aristoteles wiederholt die Bauart der physischen Substanzen und ihrer Definition. 150 Die Pointe ist, daß man das »5tupsige« nicht ohne Bezugnahme auf die Nase erklären kann, weil die besondere Hohlheit, die »5tupsigkeit« heißt, durch nichts anderes als durch Nasen realisiert werden kann. Eine Hohlheit in einem anderen Körper wäre nicht »5tupsigkeit«, sondern eben nur Hohlheit. Auf der begrifflichen Untrennbarkeit vom materiellen Subjekt beruht der Vergleich mit der konkreten physischen Substanz, deren Begriff, wie gesehen, nicht nur die Form, sondern auch die Materie spezifiziert. Das »Stupsige« steht also für eine konkrete physische 5ubstanz und die »5tupsigkeit« für das allgemeine Kompositum. Die substantielle Form dagegen ist der Hohlheit zuzuordnen, weil sie ohne Bezug auf Materie definierbar ist. 50 fungiert in Z 11 die Hohlheit als

1-'18 Vg1. Morrison (1985 a, 155). In einer späteren Arbeit bezeichnet Morrison (1990, 140 f.) diese These als »very plausible and powerful view«, räumt aber ein, daß nachZ 10-11 in der Definition der Form von konkreten Substanzen kein Bezug auf die Materie erfolgt. Die These von Morrison ist schon von Tugendhat (1958, 109-115) vertreten worden. Programmatisch für die Berücksichtigung der Materie in der Definition plädiert Rorty (1973) und (1974). 1-'19 E 1, 1025 b 30-1026a 5. Der andere Beleg von Morrison, Phys. 11 2, 194 a 1 H., ist von der Sache her parallel. '" Vgl. z. B. Phys. II 2, 194a 6, 13; Z 10, 1035a 26; 11, 1037a 31.

140

Interpretationsansätze zum Begriff der getrennten Form

(hypothetisches) Beispiel für eine substantielle und definierbare Form, während die Stupsnase das im strikten Sinn nicht definierbare Konkretum illustriert. 151

Dieselbe Rolle kommt dem Beispiel der Stupsnase in Z 5 zu, wo es besonders ausführlich besprochen wird. 152 Aris!oteles diskutiert hier »Verbünde«

(1030b 16) aus Entitäten, von denen die eine der anderen in der Weise von ihr selbst her zukommt, wie z.B. die Helligkeit der Fläche. Wie in II§10 erwähnt, muß man eine in dieser Weise zukommende Entität jeweils mit Bezug auf ihr Subjekt definieren und kann sie nicht »gesondert verdeutlichen«

(1030b 24f.). Daher spricht Aristoteles von einer Explikation »durch Hinzufügung« (1030 b 14 f.), im Gegensatz zu einer Definition im strikten Sinn. Als ein solcher Verbund wird in Z 5 die Stupsnase angeführt; es gibt, so erklärt Aristoteles, »Nase und Hohlheit, und Stupsigkeit ist das aus den beiden Begriffene Dies in Diesem (,ME EV 'OE)« (1030b 17f.). Dabei kennzeichnet das »Dies in Diesem« offensichtlich den Gegensatz zu dem bestimmten Dies, das eine innere Einheit aufweis!. Wenn man von der konkreten Stupsnase den

allgemeinen Begriff »Stupsigkeit« abziehen will, so gelingt es nicht, durch die Verallgemeinerung den Bezug auf das materielle Subjekt Nase zu vermeiden. Deshalb ist der Begriff »Stupsigkeit« nicht ein bestimmtes Dies und eine Form, sondern er besitzt die Struktur des »Dies in Diesem« und ist ein allgemeines Kompositum. Weil Stupsnase und »Stupsigkeit« für die konkreten physischen Substanzen und ihre Begriffe stehen, lassen sich einige Folgerungen ziehen. Erstens stehen eine konkrete Substanz und ihr Begriff in einer engeren Bindung zueinander als das Helle und der Mensch im Leitbeispiel aus Z 4. Das Helle kann ohne das Subjekt Mensch auftreten, aber die »Stupsigkeit« nicht ohne die Nase. In gleicher Weise kann auch der Begriff des Menschen nicht ohne die konkreten Substanzen existieren, von denen er ausgesagt wird. Zweitens ist der Begriff einer konkreten Substanz keine definierbare Einheit. Weil der Stein des Anstosses der Bezug auf das materielle Subjekt ist, wird drittens nur das definierbare Einheit besitzen, das ohne Bezug auf die Materie begriffen werden kann.

151 Vgl. Z 11, 1037a 29-b 3. Die Hohlheit ist nach Aristoteles natürlich keine primäre Substanz; sie ist zwar ohne wahrnehmbare Materie (1025b 34), aber nicht ohne das, was Aristoteles »geistig erfaßbare« Materie nennt, weil man Hohlheit immer ausgedehnt denken muß; vg!. An. III 4, 429b 18-19. 151 Ferejohn (1994a, 295 f.) hebt zu Recht hervor, daß Aristoteles inder Diskussion von Definierbarkeit die Stupsnase als Stellvertreter für die physischen Substanzen anführt, denen das eigentliche Interesse gelte. Außerdem gibt Ferejohn eine erhellende Deutung für die "Aporie« in Z 5, 1030b 28-1031a 1 (5.297-300).

Die Bedingungen für Definition und Definierbarkeit

141

Nun läßt sich die Behauptung von Morrison würdigen, daß nach AristoteIes eine Bezugnahme auf die Materie erfolgt, wenn die Formen von konkreten Substanzen definiert werden. Die These wird durch den zitierten Text aus E 1 nicht belegt. Nicht die Formen der physischen Substanzen, sondern die physischen Substanzen selbst sind danach mit Bezug auf die Materie zu definieren. Diese Position steht ganz im Einklang mit Z 4 und 5 und läßt sich aus der Identitäts-Bedingung ableiten. Der Text ist ferner mit der Forderung vereinbar, daß die Definition im strikten Sinn, die Definition der Form, keinen Bezug auf die Materie enthalten soll. Die Unterscheidung zwischen den zwei Typen von Definitionsgegenständen impliziert sogar, daß es Entitäten vom Typ der Hohlheit gibt, die ohne den fraglichen Bezug definierbar sind. Diese sind innerhalb der Metaphysik gefragt, während im Rahmen der Physik die Definition der physischen Substanzen relevant ist, welche für die Metaphysik keine Definition im strikten Sinn ist. Dabei ist zu beachten, daß in Metaphysik und Physik nicht derselbe Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Vielmehr unterscheidet Aristoteles die beiden Disziplinen primär durch ihre Objekte und nicht durch ihre Betrachtungsweisen; letztere unterscheiden sich, weil die Gegenstände verschieden sind. Die Form ist etwas anderes als die konkrete Substanz, denn sie ist frei von Materie. Damit läßt sich zusammenfassend eine Bedingung formulieren, die sich aus der Einheits-Bedingung ergibt und die ,Immaterialitäts-Bedingung< (1mB) genannt werden kann: 1mB

Die Definition der Form enthält keinen Bezug auf Materie.

Das ist eine Bestätigung für die in der ersten Hypothese zur getrennten Form

formulierte Annahme, wonach die Definierbarkeit der Form impliziert, daß die Form ohne Bezug auf Materie definiert werden kann. Die Form muß immateriell sein, wenn sie eine Definition besitzt, die gemäß der IdentitätsBedingung sowohl vollständig ist als auch ohne einen Bezug auf Materie auskommt. Zum selben Ergebnis führt Z 6. Aristoteles vertritt dort die These, das definierende Sein und »jedes« (~xaa'tov) seien notwendig identisch, aber nur dann, wenn das Betreffende »nicht nach Maßgabe eines anderen verstanden wird, sondern von sich selbst her und primär ist«.153 Die These ist durch die Forderung nach etwas motiviert, das ein ontologisches Fundament ist, d. h. eine primäre Substanz. 153 1031 b 13 f. V gl. die Einschränkung der Identitätsthese auf das »Primäre und von sich selbst her Ausgesagte« in 1032a 5.

142

Interpretationsansätze zum Begriff der getrennten Form

Hinsichtlich einer primären Substanz soll die Frage nicht mehr aufkommen, wodurch sie das ist, was sie ist. Wenn eine Entität, die Anwärter auf den Titel der primären Substanz ist, ein definierendes Sein besäße, das ihr gegenüber distinkt wäre, so hätte sie es jedoch einem anderen zu verdanken, daß sie ist, was sie ist. 154 Daher könnte eher das sie definierende Sein Anspruch auf den Titel der primären Substanz erheben. Wenn aber das definierende Sein ein weiteres distinktes definierendes Sein hätte, könnte es ebensowenig als primär gelten, und dasselbe würde für das zweite definierende Sein gelten, sofern es nicht identisch mit dem es definierenden Sein wäre, usw. Um einen solchen Regreß zu vermeiden, identifiziert Aristoteles von vornherein die primären Entitäten und ihr definierendes Sein. Diese Identität soll außerdem sicherstellen, daß die primären Substanzen in epistemologischer Hinsicht fundamental sind. Aristoteies wählt als Beispiel für primäre Substanzen die platonischen Ideen und erklärt in bezug auf sie: »Und wenn sie voneinander abgelöst sind, so wird es von den einen kein Wissen geben, die anderen werden nicht Seiende sein. Ich meine mit >abgelöstWas ist< in vielfacher Weise verstanden; denn auch das >Was ist< bedeutet in einer Weise die Substanz und das bestimmte Dies, in einer anderen aber jedes kategorial Ausgesagte, Quantitatives, Qualitatives und was sonst derart ist. Denn wie auch das >ist< allen zukommt, aber nicht in gleicher Weise, sondern dem einen primär, den anderen dagegen abgeleitet, so kommt auch das ,Was ist< ohne Einschränkung der

'" Z I, 1028a 351.; vg1. r2, 1003b 161.; 6 I, 1045b 27-32; lernerPhys. IV 1I,219b 28-31. 161 Auch Bostock (1994, 62) entscheidet sich für diese Deutung, hält die zugrundeliegende aristotelische These allerdings für konfus.

146

Interpretationsansätze zum Begriff der getrennten Form

Substanz zu, [nur] in gewisser Weise dagegen den anderen. Denn wir könnten auch fragen, was das Qualitative ist, so daß auch das Qualitative zu dem >Was ist< gehört, aber nicht ohne Einschränkung, sondern so, wie einige beim

Nichtseienden mit Rücksicht auf den Sprachgebrauch sagen, das Nichtseiende sei, nicht uneingeschränkt, sondern eben nichtseiend, in dieser Weise sei

auch das Qualitative« (1030a 17-27). Daß sich das in der Definition explizierte Sein (das ,Was istder< aristotelischen Analyse des Werdens zu sprechen. l8 16 Vgl. Z 9, 1034b 16-18. Die erste Prämisse wird davon in 1034b 7-16 deutlich unterschieden. 17 Aristoteles selbst geht so in der knapperen Darstellung in A 3 vor. 18 Eine konzise Darstellung findet sich in A 2-3. Die wichtigsten Texte zum Thema außer Z 7-9 sind Phys. I 5-9 und GC I 3-4. Phys. I ist vor allem an nichtsubstantiellen Veränderungen orientiert, während in GC der Übergang der Elemente ineinander besondere Berücksichtigung findet. Außerdem gibt es verstreute Bemerkungen über das Grundmuster von Prozessen; vgl. z.B. ['5, 1010a 20-22; GA 11 1, 733 b 25-26. Hilfreich zur Interpretation der aristotelischen Prozeßanalyse sind Scaltsas (1994a, 8-18) und Buchheim (1996,116-129).

156

Die Form als Ursache

Prozesse finden nach Aris!oteles in den Kategorien der Substanz, Quantität, Qualität und des Orts statt. Zur allgemeinen, nicht für eine Kategorie spezifischen Bezeichnung von Prozessen verwendet Aristoteles die Begriffe I1E1aßOA1] und x(VT]crtProzeß< wiedergegeben wird. 19 Während YlyvEaßat sich auf Veränderungen in allen Kategorien beziehen kann, meinen 'YtvEat~ und Bronze< bezeichnen. Bei dieser

188

Die Form als Ursache

Auffassung müßte man von Eigenschaftswechseln an einer numerisch identischen Bronzemasse sprechen, wenn aus einer gegebenen Bronzequantität eine Statue gegossen und diese dann eingeschmolzen und zu einer Glocke ge-

macht würde. Die Statue und die Glocke wären als akzidentelle Komposita wie der sitzende Sokrates und der stehende Sokrates zu betrachten. Dagegen erkennt Aris!oteles hier substantielle Prozesse, deren Produkte Dinge sind, die numerische Einheit besitzen und unterschiedlich zu definieren sind. Der in diesen Prozessen beharrenden Materie, nämlich der Bronzequantität in Abstraktion von der jeweils erfüllten Form, kann gar keine numerische Einheit zugesprochen werden, weil sie keine Form besitz!.l00 Immer erst auf der Ebene der konstituierten Dinge ist numerische Einheit ge-

geben. An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zum Stand der Dinge angebracht. In diesem Abschnitt wurde gezeigt, daß Aristoteles begründen kann, was die zweite und dritte Hypothese zur getrennten Form fordern, nämlich daß die Form eine konstituierende Ursache konkreter Substanzen ist, die immateriell

ist und keinen Prozessen unterliegt. Die folgenden Abschnitte III2 und III3 gehen von der vierten Hypothese aus, wonach nur eine physische Form getrennt ist. Da die physische Form eine immanente Ursache ist, werden die

Überlegungen auch im Hinblick auf die zweite Hypothese relevant sein. Jedoch wird es nicht so sehr darauf ankommen, daß die Form eine konstituierende Ursache der konkreten Substanzen ist, sondern darauf, daß

sie zugleich die Ursache der eigenen Aufrechterhaltung ist, d. h. eine selbstverursachte Einheit. Denn nur eine selbstverursachte Einheit ist, wie

in II §13 gesehen, definierbar und damit gemäß der ersten Hypothese getrennt.

Ein Motiv für die vierte Hypothese war, daß die physischen Formen möglicherweise ewig sind (vgl. II §8). Man könnte meinen, daß Aristoteles die Ewigkeit aller Formen bereits durch sein Argument nachgewiesen hätte, daß die Formen keinen Prozessen unterliegen. Das ist jedoch nicht der Fall. Wenn es zu einem gegebenen Zeitpunkt nichts gibt, das drei cm lang ist und diese Länge daher nicht existiert, während es zu einem späteren Zeitpunkt etwas

von dieser Länge gibt, dann heißt das nach Aristoteles nicht, daß die Länge von drei cm geworden ist. Vielmehr ist seiner Ansicht nach etwas mit einer zunächst anderen Länge drei cm lang geworden, so daß nun diese Länge existiert. Von solchen Entitäten wie der Länge sagt er in einer etwas paradox an100 Zum Zusammenhang von numerischer und eidetischer Einheit vgl. Rapp (1995, 127-151).

Die allgemeine Analyse des Werdens

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mutenden Formulierung, daß sie »ohne Werden und Vergehen sind und nicht sind« (1044b 2lf.). Diese Wendung findet sich schon früh bei Aristoteles und wird von ihm geradezu wie eine Formel gebraucht, um die Entitäten zu beschreiben, die zwar nicht ewig sind, aber auch nicht selbst dem Werden und Vergehen unterliegen. IOI Von dieser Art sind Punkte oder auch flüchtige Zustände, die von etwas angenommen und wieder aufgegeben werden, ohne dabei selbst zu werden oder zu vergehen. Daß eine gegebene Entität, die zu einem früheren Zeitpunkt nicht existierte, nicht geworden sein muß, folgt unmittelbar aus der aristotelischen Analyse des Werdens. Die Frage ist nun, ob die substantiellen Formen nicht nur nicht dem Werden und Vergehen ausgesetzt, sondern darüber hinaus ewig sind. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß Aristoteles erwogen hatte, daß man dann, wenn man eine Bronzekugel herstelle, damit akzidentell die Kugelform mache (1033a 29-31). Später in Z erklärt er, daß alles Immaterielle nicht vergehe, »entweder überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in dieser Weise«, nämlich nicht in der Weise, in der die materiellen Dinge vergehen; und daß die Form »kein Vergehen in der Weise besitzt, daß sie vergeht«.102 Damit räumt Aristoteles abermals die Möglichkeit ein, daß die Formen in gewisser Weise vergänglich sind. Er wirft selbst in H 3 die gerade gestellte Frage in bezug auf die substantielle Form auf: »Es ist notwendig, daß diese entweder ewig ist oder vergänglich ohne das Vergehen und geworden ohne das Werden. Es ist anderswo demonstriert und klargemacht, daß man die Form nicht hervorbringt oder erzeugt, sondern daß ein Dies gemacht wird und das Kompositum aus diesen wird. Ob aber die Substanzen der vergänglichen Dinge getrennt sind, ist [damit] noch gar nicht klar« (1043b 14-19). Die Fortsetzung der Passage ist bereits in 11 §8 zitiert worden. Aristoteles versteht die Substanz in diesem Kontext als das, was für die Einheit eines materiellen Kompositums verantwortlich ist. lo, In Übereinstimmung mit Z 17legt er im Vorhergehenden dar, daß das Einheitsstiftende nicht aus den materiellen Elementen besteht (1043 b

101 Vgl. die ausführliche Diskussion der Sinne von 'YEvTl't6~ und a'YtvTl'to~, Erde< bezeichnet, kann deshalb mehr oder weniger kalt und mehr oder weniger fest sein, d. h. die Erde ist bis zu einem gewissen Grad auch durch die gegensätzlichen Eigenschaften gekennzeichnet. Erde oder Feuer in Reinform gibt es nicht (Ge II 3, 330b 21-30). Der Grund dafür liegt nach Aristoteles u.a. darin, daß die Grundkörper auseinander werden und die gegensätzlichen Bestimmtheiten, von denen das Werden ausging, als Reste bleiben. 124 Wenn aber, wie Aristoteles behauptet, die Grundkörper stets Qualitäten besitzen, die gegensätzlich zu den für sie konstituierenden sind, dann können sie nicht statisch sein, sondern sind internen Prozessen unterworfen. 125 Diese Implikation spricht Aristoteles mit aller Klarheit aus: »Deshalb sind alle immer in Prozessen und werden oder vergehen« (Lang. 3, 465 b 26). Dabei bezieht er sich nicht nur auf die Grundkörper, sondern auf alle gewordenen und damit materiellen Körper. Eine Bestimmtheit könnte nur dann in Reinform gegeben sein, wenn sie nicht materiell realisiert, sondern getrennt wäre, während Bestimmtheiten, die durch Werden angenommen werden und an Materie gebunden sind, ihre Gegensätze mit sich bringen (Lang. 3, 465b 11-14). Ein weiterer Aspekt der Dynamik der Grundkörper ist, daß sie eigene Bewegungstendenzen besitzen: Feuer und Luft tendieren »zur Grenze«, nämlich zur innersten Himmelssphäre, die den sublunaren Bereich begrenzt, Erde und Wasser dagegen »zur Mitte«.126 Dadurch ergibt sich eine Schichtung: Im Zentrum ruht die Erde, auf der sich das Wasser befindet, es folgt die Luft und zuletzt das Feuer, das an die innerste Himmelssphäre anschließt. 12 ? Die Das ist in GC 11 8, 335 a 6-9 impliziert; vgl. Long. 3, 465 b 16-19. Vgl. Long. 3, bes. 465 b 11 f., 22, 29-30. Aristoteles erörtert in Long. 3 die Frage, ob Vergängliches dadurch dem Vergehen entzogen sein könnte, daß es an einem Ort ist, wo es nicht auf Gegensätzliches stößt. Er nennt als Beispiel das Feuer (465b 2), weil man am ehesten in diesem Fall geneigt sein würde, die Frage zu bejahen, denn das Feuer ist unmittelbar unterhalb der innersten Himmelssphäre beheimatet. Die Frage bezieht sich aber ebenso wie die Antwort auf alle materiellen und daher auch die organischen Körper. Aristoteles verneint die Frage entschieden, weil er andernfalls anerkennen müßte, daß etwas Vergängliches möglicherweise nie vergeht. Allerdings ist er etwas unentschieden, was die Gründe betrifft, aus denen die Frage zu verneinen ist: Er zieht in Erwägung, ob Umwelteinflüsse hinreichend für die Vergänglichkeit des Gewordenen sind (465 b 20 f.), setzt dann aber, daß die gewordenen Körper in sich gegensätzliche Bestimmtheiten haben. '" Vg!. GC II 3, 330b 30-33; Cae!. II 3, 286a 201.; IV I, 308a 14-17. 127 V gl. Meteor. I 2, 339 a 13-21. Der obere verhält sich zum eingeschlossenen Körper jeweils wie das Begrenzende zum Begrenzten oder wie die Form zur Materie, vgl. Cael. IV 3, 310b 7-15; IV 4, 312a 12-13. 124 125

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Die Form als Ursache

Schichten haben allerdings keine trennscharfen Grenzen, sondern diffundieren, was zu den meteorologischen Phänomenen führt. Aris!oteles zeich-

net also ein dynamisches Bild von den letzten materiellen Bestandteilen der Körper unserer Welt. Das hat Implikationen für die Dinge, die aus ihnen bestehen.

§ 9 Gemischte Körper (Ge J 10, 11 7) Die Bildung von Körpern, die im Vergleich zu den Grundkörpern neue Eigenschaften besitzen, beruht nach Aristoteles auf Mischung (1l1' ou genau zu verstehen ist, weil in dem betreffenden Satz in a 24 das Prädikat zu uq>' ou ergänzt werden muß. Insofern gemäß a 18 beim physischen Werden ein durch Physis Seiendes das Werden veranIaßt, könnte man annehmen, daß wie in a 23 »besitzt Physis« zu ergänzen ist. Dagegen und für die Ergänzung »ist Physis« spricht allerdings, daß Aristoteles die anschließende Erläuterung dieser Physis im Nominativ formuliert. Außerdem sagt er an einer späteren Stelle in der Werdeanalyse, daß auf Veranlassung von Physis (U1l0 q>UOEülHell< ist in bezug auf seine Existenz indifferent und in den einzelnen Instanzen nicht wirk-

lich, weil das einzelne ,Hell, nicht ursächlich für seine Ausbreitung ist. Ein einzelnes ,Hell, ist deshalb nicht Teil der Wirklichkeit des allgemeinen ,Hell" während die einzelne physische Form Teil der Wirklichkeit einer sich ausbreitenden physischen Bestimmtheit ist. Ist Aristoteles also ein Nominalist oder Realist hinsichtlich der Existenz von Universalien? Dafür, ihn als Nominalist zu beschreiben, spricht seine

These, daß Wirkliches immer individuell ist. Jedoch ziehe ich seine Einstufung als Realist vor, weil er eine genuine Erklärung dafür hat, warum die Formen bestimmter Dinge die gleiche Definition besitzen und weil er aus dem

gleichen Grund mit Recht die These vertreten kann, daß in den einzelnen Formen eine allgemeine Bestimmtheit wirklich ist. Um zeigen, daß dies kei-

ne Scheinlösung ist, muß Aristoteles lediglich auf die Formen der sich fortpflanzenden Lebewese hinweisen: Weil die Formen sich einander selbst gleich machen, ist es gerechtfertigt zu sagen, daß in ihnen die Bestimmtheit wirk-

lich ist, die ihre Definition angibt. Diese Lösung gilt natürlich nur für physische Formen und nicht etwa für technische und mathematische Formen

Die physische Form als Ursache des Werdens

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sowie für nichtsubstantielle Eigenschaften. Der Vorschlag, Aristoteles als Universalienrealisten zu kennzeichnen, bezieht sich deshalb nur auf die ausgezeichnete Klasse der physischen Formen.

§ 16 Die Farm und Ursache des Werdens als primäre Substanz (Z 7) Die These über die Existenzweise der substantiellen Formen fußt auf der Annahme, daß Aristoteles die substantielle Form als Ursache des Werdens und insbesondere des physischen Werdens begreift. Diese Annahme gilt es nun zu untermauern. Aus dem diskutierten Anfangsteil von Z 7 ist jedenfalls soviel deutlich, daß die physische Form als Ursache des physischen Werdens eingeführt wird. In der Fortsetzung von Z 7 geht Aristoteles ausführlich auf die technische Herstellung ein und macht dabei sowohl strukturelle Übereinstimmungen mit dem physischen Werden deutlich als auch einen entscheidenden Unterschied. Angesichts der Tatsache, daß Aristoteles nur dem Physischen volle Substantialität zubilligt, könnte es erstaunen, daß er dem Technischen so viel Aufmerksamkeit schenkt. Der Grund dafür liegt wohl in der leichteren Zugänglichkeit des Technischen. Die ursächlichen Faktoren der technischen Produktion lassen sich besser unterscheiden als beim physischen Werden, wo jeder in einem Sinn Physis ist. Außerdem kann an Hand des Technischen plausibel gemacht werden, daß eine Form Prozeßursache ist. Wenn Aristoteles das für die Physis zeigen wollte, so müßte er seine naturwissenschaftliche Theorie der physischen Reproduktion darlegen, was im Rahmen einer metaphysischen Erörterung unangemessen wäre. Weil AristoteIes der Ansicht ist, daß die Kunstfertigkeit die Physis »nachahmt«,257 kann er am Technischen entwickelte Thesen auf die Physis übertragen. 258 Seine wichtigste These im Rahmen der Diskussion der technischen Prozesse trägt Aristoteles gleich zu Anfang vor, nämlich daß die Form das definierende Sein und die primäre Substanz sei. Auf Grund welcher Züge die Form als primäre Substanz gelten kann, erklärt Aristoteles in Z 7 jedoch nicht ausdrücklich: »Durch Kunstfertigkeit wird nun das, dessen Form in der Seele ist; unter Form verstehe ich das definierende Sein eines jeden und die primäre Substanz. Denn auch die Gegensätze haben in gewisser Weise dieselbe Form; denn Substanz der Beraubung ist die entgegengesetzte Substanz, z. B. m Vg!. Phys. II 2, 194a 21; II 8, 199a 15-17; Meteor. IV 3, 381b 6. So geht er z. B. in Phys. 11 9 vor.

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Die Form als Ursache

Gesundheit von Krankheit, denn durch die Abwesenheit von jener wird die Krankheit erläutert;25' die Gesundheit wiederum ist der Begriff in der Seele und im Wissen« (1032a 32-b 6). Wie die Identifikation von Form und primärer Substanz motiviert ist und warum sie gerade in der Diskussion der technischen Herstellung erfolgt, ist

an Hand dieses und des anschließenden Textes nach und nach zu erschließen. Die plausibelste Hypothese ist, daß die Form deshalb als das ontologisch Grundlegende im Bereich des Vergänglichen gelten kann, weil sie die Ursache des Werdens ist. Denn so, wie Aris!oteles zuvor die physische Form als Ursa-

che des Werdens eingeführt hat, kennzeichnet er nun auch die technische Form als Ursache der Herstellung. Das ergibt sich nicht nur aus dem Thema des Werdens durch Kunstfertigkeit, sondern auch aus der Aussage, daß die Form des technisch Hergestellten »in der Seele« sei. Damit ist das technische Konzept im menschlichen Geist gemeint, im Unterschied zu der im Material umgesetzten Form. Die einzig erkennbare Rechtfertigung dafür, nicht letzteres, sondern das technische Konzept als Form des Hergestellten anzusehen,

liegt darin, daß es die Ursache der Herstellung ist. Da physische und technische Formen somit die Ursachen des Werdens von konkreten Dingen und diesen insofern vorgeordnet sind, können sie den Titel der primären Substanz

beanspruchen. Die mit »Denn auch« eingeleitete Begründung in 1032b 2-6 bezieht sich nicht primär auf die Identifikation von Form und primärer Substanz, sondern

auf die Aussage, durch Kunstfertigkeit werde das, dessen Form in der Seele sei (1032b I). Aristoteles wählt als Beispiel für einen technischen Prozeß die Heilung eines Kranken und versucht plausibel zu machen, daß dessen Form gar nicht in ihm selbst ist, sondern in einem anderen, nämlich als Begriff der

Gesundheit im Geist des Arztes 260 Zur Erläuterung des Gedankengangs ist darauf hinzuweisen, daß Aristoteles eine Sache, sofern sie ohne Materie ist,

mit der aktuellen Erfassung der Sache identifiziert. 261 Daher setzt er die Gesundheit mit dem Konzept gleich, das dem Arzt präsent ist. Seine weitere Er-

klärung baut darauf auf, daß der Kranke steretisch verfaßt ist. Die Gesundheit ist insofern die Form des Kranken, als dessen Krankheit als Abwesenheit 259 Ross (1924) undJaeger (1957) lassen in 1032b 4 das OT)AOÜ'tat der Handschriften E undJ aus, so daß zu übersetzen wäre: >>die Krankheit ist durch die Abwesenheit von jener«. Der Sache nach ergibt sich kein signifikanter Unterschied. 260 Die Wahl des Beispiels ist wohl dadurch motiviert, daß Aristoteles sich auf einen Prozeß beziehen möchte, der sich sowohl durch Kunstfertigkeit als auch von selbst vollziehen kann. Aristoteles behandelt die Heilung im Folgenden wie einen substantiellen Prozeß. '" Vgl. An. III 4, 430a 3-5; A 9, 1075a 1-5.

Die physische Form als Ursache des Werdens

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der Gesundheit zu begreifen ist, und sie ist außerdem nicht im Kranken, sondern qua Begriff im ärztlichen Geist. Also ist die Form des Kranken nicht in ihm selbst. Entsprechend kann man folgern, daß die Form von einem Haufen Baumaterialien im Geist des Bauleiters ist, weil die Materialien steretisch verfaßt sind. Diese Argumentation wäre wenig überzeugend, wenn es beliebig wäre, wann etwas als stere tisch gelten kann und wann nicht. Das trifft jedoch nicht zu, da ein Gegenstand vielmehr nur dann steretisch verfaßt ist, wenn er einem Prozeß ausgesetzt ist, der sich an einer Form orientiert, zu der sich der Zustand des Gegenstandes gegensätzlich verhält. Anders gesagt: Nur weil eine bestimmte Form die Ursache für einen Prozeß ist, dem ein gegebener Gegenstand unterworfen ist, ist dieser Gegenstand steretisch verfaßt, so daß die Prozeßursache als seine Form angegeben werden kann. Weil technisch Produziertes die Herstellungsursache nicht in sich hat, hat es nicht die Form in sich (1032 b 1). Das impliziert, daß die Farm die Ursache des Werdens und als solche die primäre Substanz ist. Außer der ursächlichen Rolle der Form hat Aristoteles im zitierten Abschnitt aber noch ein zweites Motiv für die Identifikation der Form mit der primären Substanz wenigstens angedeutet, nämlich die geistige Erfaßbarkeit der Form. Beide Motive finden sich auch im nächsten Abschnitt, in dem Aristoteles am Beispiel der Kunstfertigkeit zeigt, daß und wie eine Form Ursache sein kann. Besonders kommt es ihm darauf an, daß eine technische Herstellung die Reproduktion einer bereits vorhandenen Form ist und daher mit dem Synonymieprinzip im Einklang steht: »Das Gesunde wird, indem man so überlegt: Weil das Gesundheit ist, muß notwendig, wenn Gesundes sein soll, das vorhanden sein, z. B. Ausgewogenheit, wenn aber dies, Wärme. Und so überlegt man stets solange, bis man zu dem gelangt, was man zuletzt selbst herstellen kann. Die von diesem ausgehende Bewegung zur Gesundung wird dann schon Herstellung genannt. Also ergibt sich, daß auf gewisse Weise aus Gesundheit die Gesundheit wird und das Haus aus Haus, nämlich das, was Materie besitzt, aus dem ohne Materie; denn die Heilkunst und die Baukunst ist die Form der Gesundheit und des Hauses; unter Substanz ohne Materie verstehe ich das definierende Sein. Von den Werdeprozessen und Bewegungen heißt die eine Denken, die andere Herstellung, nämlich die von der Form und dem Ursprung ausgehende Denken, die von dem letzten Glied der Überlegung ausgehende dagegen Herstellung« (1032 b 6-17). Die Eigentümlichkeit dieses und auch des folgendes Abschnitts ist, daß Aristoteles sich auf das Heilen wie auf einen Fall von substantiellem Werden bezieht. Entsprechend stellt er die Gesundheit wie ein materielles Komposi-

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Die Form als Ursache

turn dar, das wird (b 11) .262 Ansonsten ist der Gedankengang nicht schwierig. Es wird vorausgesetzt, daß ein bestimmtes Ziel technisch realisiert werden

501l.2 63 Also ist das Ziel im menschlichen Geist antizipiert, genauer seine definierende Form wie z. B. das Haus »ohne Materie«. Aus dem definierenden

Konzept der Sache lassen sich die Bedingungen für die materielle Umsetzung erschließen, d. h. die Definition der Sache fungiert als Ursprung oder Ausgangspunkt des Denkprozesses. Die Ableitung wird bis zu einer Bedingung fortgeführt, die der Handelnde unmittelbar erfüllen kann. Hier setzt der Herstellungsprozeß ein. Das technische Konzept kann als Ursprung der gesamten Herstellung gelten, weil von ihm der Denkprozeß ausgeht, der wiederum die Herstellung initiiert, und weil das Konzept für den Verlauf der Herstellung leitend bleibt. Allerdings erlangt das Konzept nur deshalb Wirksamkeit, weil es im Geist des Herstellers und daher mit dem menschlichen

Handlungsapparat verbunden ist. In diesem Sinn sagt Aristoteles etwas später, das Aktive, von dem der technische Prozeß seinen Ausgang nehme, sei »die Form in der Seele«.264

Aristoteles verfolgt hier nicht die Absicht, den Ablauf der menschlichen Handlung zu erklären, sondern die Gültigkeit des Synonymieprinzips nachzuweisen. Sein Beweisziel kommt in der Folgerung zum Ausdruck, daß »aus

Gesundheit die Gesundheit wird und das Haus aus Haus«. Denn durch eine technische Herstellung entsteht etwas, das eine solche Form besitzt wie die, die vor dem Prozeß bereits gegeben war und dessen Verlauf determinierte. Dabei ist vorausgesetzt, daß die im technischen Produkt realisierte Form mit

dem geistig erfaßten Konzept des Produkts übereinstimmt. Nicht nur das physische Werden, sondern auch die technische Herstellung ist also die Reproduktion einer bereits vorhandenen Form.

Damit lassen sich einige wichtige Züge der technischen Form festhalten: Sie ist erstens die leitende Ursache der Herstellung, die als ihre Weitergabe zu begreifen ist. Sie geht zweitens aus diesem Grund dem technischen Produkt zeitlich voraus. Deshalb ist sie drittens unterschieden von der Materie, die

das Produkt konstituiert; vor dem Produkt und ohne eine sie erfüllende Materie kann sie als Konzept im Geist des Herstellers sein. Viertens erfüllt

262 In 1032b 27-29 fungiert die Gesundheit als Kompositum mit materiellen Teilen. V gl. Phys. IV 3, 209 b 20f., wo »die Gesundheit im Warmen und Kalten« als Beispiel für eine Form in Materie genannt wird; eine Form in Materie wiederum wird in Cael. 19, 278a 9 f. dem Einzelnen zugerechnet. 263 Vgl. zur Notwendigkeit dieser Voraussetzung EE 11 11, 1227b 28-33; Phys. 11 9, 199b 20-200b 4. '" Z 7, l032b 21-23; vgI. e 2, l046b 21.

Die physische Form als Ursache des Werdens

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sie eine der Bedingungen für Definierbarkeit, weil sie immateriell ist. Die Form als Ursache des Werdens genießt gegenüber dem technischen Produkt also zeitliche, substantielle und begriffliche Priorität: Sie begründet und erklärt dessen Existenz, und mit Bezug auf sie ist das Produkt zu definieren. Die Attribute, durch die Aristoteles die Form hier beschreibt, stellen eine überzeugende Motivation dafür dar, die Form und nicht das konkrete Produkt als primäre Substanz auszuzeichnen. Weil die übrigen Merkmale davon abhängen, daß die Form die Ursache des Werdens ist, läßt sich die obige Hypothese über den Grund bestätigen, aus dem die Form als primäre Substanz (FpS) gelten kann:

FpS

Die Form ist die primäre Substanz, weil sie die Ursache des Werdens ist.

Nun läßt sich auch die Frage beantworten, warum die Identifikation von Form und primärer Substanz innerhalb der Diskussion der technischen Herstellung erfolgt. Am technischen Prozeß läßt sich nämlich einsichtig machen, daß eine Form, die als Begriff im Geist des Herstellers wohl unterschieden ist von der sie möglicherweise realisierenden Materie, die präexistierende Ursache der Herstellung ist. Der heuristische Vorzug des Beispiels der Kunstfertigkeit liegt besonders darin, daß die Sonderung von ursächlicher Form und Materie, um die es Aristoteles geht, hier leicht nachzuvollziehen ist.

Wenn unter den konkreten Dingen allein die physischen als Substanzen im strikten Sinn gelten und entsprechend strenggenommen nur die Physis als Substanz im Sinn der Form akzeptiert wird, ergibt sich aus den vorangegangenen, an der Kunstfertigkeit orientierten Überlegungen eine zweifache Aufgabe.!. Zum einen muß deutlich gemacht werden, daß die Identifizierung der Form als primäre Substanz nicht nur für die Kunstfertigkeit, sondern grundsätzlich gilt. Die Aussagen über die Priorität der Form gegenüber dem Konkretum sollten gerade auf die Physis übertragbar sein. 2. Zum anderen muß aber erklärt werden, warum nur die Physis und nicht die Kunstfertigkeit Substantialität im strikten Sinn begründet. 1. Man darf annehmen, daß ersteres gewährleistet ist, weil die Priorität der Form auf ihrer Rolle als Ursache des Werdens beruht und gerade die physische Form als Ursache des Werdens definiert wird (vgl. III § 17). Da eine physische Substanz durch ihre Physis eine weitere Substanz hervorbringt, welche die gleiche Physis besitzt, kann man sagen, daß die durch das Werden reproduzierte Physis der gewordenen Substanz jeweils zeitlich vorausgeht und deren Existenz begründet. Außerdem sind die physischen Dinge mit Bezug auf ihre Physis zu begreifen.

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Die Form als Ursache

Es könnte allerdings als fraglich erscheinen, ob die Unterschiedenheit der Physis von der Materie und daher auch ihre Definierbarkeit in gleicher Weise wie bei der Kunstfertigkeit gegeben ist. Insbesondere könnte man bezweifeln, daß die Aussage »unter Substanz ohne Materie verstehe ich das definierende Sein« (l032b 14) allgemein und auch für die Physis gelten soll. Denn Ausdrücke wie »Substanz ohne Materie« oder »Haus ohne Materie« scheinen auf die Kunstfertigkeit zugeschnitten zu sein und signalisieren, daß technische Konzepte oder Formen Abstrakta sind.'65 Dagegen gehört die materielle Realisierung zu einer Physis, weil die Physis eine immanente Ursache des Werdens ist. Hier besteht tatsächlich ein wichtiger Unterschied: Während die technische Farm nur als Abstraktum im Geist des Herstellers ursächlich ist, muß die physische Farm in der Materie realisiert sein, um Ursache des physischen Werdens sein zu können. Da der Satz »unter Substanz ohne Materie verstehe ich das definierende Sein« aber allgemein gehalten ist, sollte man eine allgemeine Aussageabsicht unterstellen. Außerdem gilt nach Aristoteles für alle Formen, daß sie »ohne Materie« sind, insofern sie keinen Prozessen unterliegen. Schließlich muß gerade die physische Form ohne Materie sein, wenn sie als primäre Substanz definierbar sein soll. Demnach muß beiden Erfordernissen Rechnung getragen werden, sowohl daß die Form »ohne Materie« ist als auch, daß sie eine »inneseiende Form« (Z 11, 1037a 29) ist. Die Materiebindung der Form muß in der Definition berücksichtigt werden, ohne daß auf Materie Bezug genommen wird (vgl. IV §8-9). Was die Übertragbarkeit der Aussagen über die Kunstfertigkeit auf die Physis angeht, so sollte man die Rede von Substanz und Haus »ohne Materie« in diesem Kontext so verstehen, daß sich Aristoteles die leichte Unterscheidbarkeit der technischen Form von der generativen Materie zunutze macht, um eine solche Unterscheidung allgemein für alle Formen zu behaupten. 2. Für die zweite Frage, warum nur die Physis Substantialität im strikten Sinn begründet, ist an die besondere Organisation des physischen Werdens zu erinnern. Weil die technischen Formen nur als Abstrakta im menschlichen Geist Herstellungsursache sein können, aber nicht, insofern sie in technischen Produkten realisiert sind, verfügen die technischen Dinge nicht über

265 Aristoteles verwendet den Ausdruck »ohne Materie« in unterschiedlichen Kontexten. Er gibt ihm den striktesten Sinn in bezug auf die immateriellen, göttlichen Substanzen; vgl. A 6, 1071 b 21; ferner A 8, 1074a 35-36. In bezug auf die Kunstfertigkeit charakterisiert die Wendung die Form, die vom materiellen Produkt abstrahiert ist; vgl. PA 11, 640a 31 f.; A 3, 1017a 15-17; 10, 1075a 1-2.

Die physische Form als Ursache des Werdens

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die Form, die ihre Ursache ist.'66 In Umkehrung des aristotelischen Diktums »ein Mensch zeugt einen Menschen« könnte man sagen, daß es nicht der Fall ist, daß ein materielles Haus ein Haus baut. Die technische Form ist deshalb im Vergleich zur physischen Form in einem defizienten Modus Ursache: a) Die Umsetzung der technischen Form durch die Herstellung ist nicht zugleich die Reproduktion der Form als Ursache, sondern für diese Reproduktion sind die Hilfsprozesse von Lehren und Lernen erforderlich. b) Außerdem ist sie für ihre Umsetzung in Materie auf das menschliche Handeln angewiesen, und dasselbe gilt für ihre Erhaltung im technischen Produkt: Ohne äußere Unterstützung verfällt das Technische, sobald es hergestellt ist. c) Schließlich besteht keinerlei Notwendigkeit, daß eine technische Form umgesetzt wird. Sie könnte erfunden und wieder vergessen werden, ohne je realisiert worden zu sein, und auch wenn sie realisiert wird, könnte ihre weitere Vervielfältigung jederzeit abbrechen. Aristoteles hat das Gebrechen der Kunstfertigkeit gut in einer Passage aus der Physik zum Ausdruck gebracht, wo er zeigen will, daß die Physis als Form zu verstehen ist, und zugleich den Kontrast zwischen Kunstfertigkeit und Physis deutlich macht: »Ferner, die als Werden verstandene Physis ist ein Weg zur Physis. Denn sie ist nicht so, wie die Heilung nicht als Weg zur Heilkunst verstanden wird, sondern zur Gesundheit; denn es ist notwendig, daß die Heilung nicht von der Heilkunst zur Heilkunst verläuft. Aber nicht so verhält sich die Physis zu der Physis, sondern das physische Wachsende kommt aus etwas zu etwas, insofern es wächst. Was also wächst? Nicht das >Worausder Zahl nach
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