Offenes Erzählen: Experimente im zeitgenössischen indischen Dokumentarfilm 9783839437872

The artistic documentary film in India - encompassing local and global references, political discourses, and cultural ex

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German Pages 206 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Vorbedingungen des Sprechens
Offenes Erzählen im Dokumentarfilm
Facetten des offenen Dokumentarfilms: Künstlerische Bildstrategien ausgewählter Filmemacher
Fazit
Quellenverzeichnis
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Offenes Erzählen: Experimente im zeitgenössischen indischen Dokumentarfilm
 9783839437872

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Ulrike Mothes Offenes Erzählen

Film

Ulrike Mothes (PhD) ist Dokumentarfilmerin und Filmdozentin. Während eines mehrjährigen Lehr- und Forschungsaufenthalts in Bangalore entwickelte sie ihr Forschungsinteresse am indischen Kino. Seit 2010 lehrt sie an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Arbeit zum indischen Dokumentarfilm wurde 2016 mit dem Hochschulpreis für Nachwuchskünstler und -wissenschaftler der Bauhaus-Universität ausgezeichnet.

Ulrike Mothes

Offenes Erzählen Experimente im zeitgenössischen indischen Dokumentarfilm

Der vorliegende Text entstand als Ph.D. Arbeit an der Bauhaus-Universität Weimar (Ph.D. Kunst und Design). Die Arbeit wurde durch die Graduiertenförderung des Freistaats Thüringen und die Bauhaus Research School unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlag: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Lakshmi and Me« (Nishta Jain) Filmstandbild von Deepti Gupta. Quelle: Nishtha Jain. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3787-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3787-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7 Vorbedingungen des Sprechens | 13

Zwischen medialer Form und geografischem Kontext | 13 Dokumentarfilm als Institution | 16 Die Rolle der Zensur | 37 Filmgeschichtliche Einordnung | 45 Offenes Erzählen im Dokumentarfilm | 79

Semiotische Offenheit | 80 Filmästhetische Offenheit | 82 Offenheit der Erzählstruktur | 89 Kombinationen struktureller und filmästhetischer Offenheit | 95 Offene Medienformen | 100 Facetten des offenen Dokumentarfilms: Künstlerische Bildstrategien ausgewählter Filmemacher | 105

Luft, Geister, Schatten, Djinns. Iram Ghufrans dokumentarische Repräsentation spiritueller und psychologischer Grenzerfahrungen | 105 Archäologie und Dokument. Ayisha Abrahams Umgang mit Found Footage | 121 Selbstreflexives dokumentarisches Erzählen in Ranjan Palit’s IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN | 145 Dokumentarischer Filmzyklus als offenes Projekt: Das BEHIND THE TIN SHEETS PROJECT | 168 Fazit | 185 Quellenverzeichnis | 189



Literaturnachweis | 189 Internetquellen | 193 Filmnachweis | 198 Danksagungen | 203

Einleitung 

Die vorliegende Arbeit untersucht den gegenwärtigen indischen Dokumentarfilm hinsichtlich seiner filmästhetischen Form und seiner Positionierung zwischen lokalen und globalen Bezugnahmen, politischem Diskurs und kulturellem Ausdruck. Rahmenbedingungen für das gegenwärtige dokumentarische Schaffen sind etwa die zunehmende Öffnung der indischen Märkte einschließlich des Kunstmarktes und Kunst-Filmmarktes zum Westen hin sowie die Demokratisierung des Mediums Film mit der Einführung der preiswerten Videotechnik ab den 1990er Jahren. Damit gingen erweiterte Einsatzmöglichkeiten einher: FilmAufzeichnungsapperate stehen heute professionellen Filmemachern ebenso wie Amateuren und Protagonisten nahezu aller Gesellschaftsschichten zur Verfügung. Selbst Bauern und Wanderarbeiter verfügen über einfache Mobiltelefone, mit denen sie Fotos oder kurze Videos aufzeichnen können, die als Bildanregungen oder Archivmaterialien für dokumentarische Geschichten zur Verfügung stehen. Ein wachsender Anteil der indischen Bevölkerung verfügt über Zugang zu höherer Bildung. Ebenso tragen das verstärkte Selbstbewusstsein der indischen Gesellschaft und insbesondere ihrer Mittelschicht, einhergehend mit dem Bedürfnis, sich selbst zu betrachten und zu reflektieren, zu einer verstärkten Suche nach Teilhabe an zeitgenössischem Ausdruck der eigenen Kultur jenseits von Bollywood-Traumbildern bei. Es lässt sich fragen, welche Auswirkungen die derzeitigen immensen gesellschaftlichen und sozialen Umbrüche auf die dokumentarischen Erzähltraditionen haben. Dieser Text untersucht, inwiefern aus dem lokalen und kulturellen Kontext Indiens heraus gegenwärtig Dokumentarfilm hinsichtlich seiner Ästhetik und narrativen Vorgehensweisen neu gedacht wird. Das besondere Augenmerk liegt dabei auf Erzählstrategien, die mehrdeutig

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operieren und dem Zuschauer bewusst Interpretationsspielräume eröffnen statt definitive Aussagen über die repräsentierten Problemstellungen zu treffen. Im Zuge meiner Betrachtungen soll dabei beleuchtet werden, welches Verhältnis die Filmemacher zur dargestellten Realität haben. Es soll untersucht werden, in welchem Maße die begrenzten Produktionsmöglichkeiten in Indien die Dokumentarfilmpraxis, ihre thematischen Fragestellungen und ihre visuelle Repräsentation beeinflussen. Online-Filmfestivals und Videoplattformen, aber auch ein gut ausgeprägtes Schwarzmarktsystem für raubkopierte DVDs erleichtern den Zugang zu in Indien schwer erhältlichen Filmreferenzen und ermöglichen eine globale Zirkulation von Filmbildern. Gleichzeitig ist eine zunehmende Mobilität der Akteure des indischen Dokumentarfilms zu verzeichnen: Filmemacher verbringen im Rahmen von Stipendien, Austauschprogrammen, Künsterresidenzen oder zur Festival-Präsentation ihrer Arbeiten Zeit im Ausland. Es ist zu vermuten, dass dieser internationale Austausch sich auch auf die indische Dokumentarfilm-Form auswirkt. Es lässt sich die Frage aufwerfen, ob spezifische kulturelle Codes und Erzählmuster existieren, die charakteristisch für den zeitgenössischen indischen Dokumentarfilm und dessen offene Spielarten sind. Dies wird zum Beispiel in der Analyse von Ayisha Abrahams Found-Footage-Film STRAIGHT 81 anhand des filmischen Dialogs, den die Regisseurin mit dem Material eines Amateurfilmers des kolonialen Indiens führt, exemplarisch diskutiert. Es ist einzuräumen, dass die Auswahl der in diesem Text diskutierten Filme auch subjektiven Kriterien unterlag. Mit dem Fokus auf ‚Offenes Erzählen‘ habe ich mir eine Kategorie Filme zur Betrachtung vorgenommen, die mir im aktuellen Dokumentarfilm-Diskurs als relevant erscheint. Mir ist bewusst, dass es sich dabei um einen international gepflegten Diskurs handelt, den ich im lokalen Kontext Indiens darstelle. Dieser Diskurs wurde jedoch weder in Indien entwickelt, noch fühlen sich alle indischen Dokumentarfilmer gleichermaßen darin abgebildet. Im unabhängigen indischen Dokumentarfilm stehen sich bis heute noch zwei Lager gegenüber: Auf der einen Seite sind die Filmemacher, die sich vor allem dem Thema ihrer Filme verpflichtet fühlen und sich daraus resultierend mit einem sozialen, politischen oder ökologischen Anliegen an die Gesellschaft wenden. Auf der anderen Seite stehen Regisseure, die stärker an der filmischen Form interessiert sind und sich an ein Kunst- und Kulturpublikum richten. Man könnte diese zweite Ausrichtung als weltmarktkonformer und anschlussfä-

 1



STRAIGHT 8 (IN 2005, R: Ayisha Abraham, Dokumentarfilm, 17 min).

E INLEITUNG

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higer an einen internationalen Dokumentarfilmdiskurs beschreiben. Weil eine solche Hinwendung zur Form häufig auch größere Budgets erfordert als medienaktivistische Projekte, stellt sich gleichzeitig die Frage, wer den Zugang zu den Produktionsmitteln hat und folglich aus indischer Perspektive den Diskurs mit prägen kann. Angesichts dieser stark unterschiedlichen Erwartungen, die in Indien an dokumentarische Erzählungen geknüpft werden, betrachtet die vorliegende Arbeit auch die Frage, wer das Publikum indischer Dokumentarfilme ist und inwiefern sich Publikum und Präsentationskontexte aufgrund gegenwärtiger sozialpolitischer Veränderungen in Indien wandeln. Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit Dokumentarfilm in Indien war mein dreijähriger Aufenthalt als Dozentin und Artist in Residence in der Filmabteilung der Srishti-School of Art, Design and Technology in Bangalore. Während dieser Zeit setzte ich mich intensiv mit meiner Rolle als Dokumentarfilmerin in einem anderen Kulturkontext und dem ‚fremden Blick‘ auseinander, den ich möglicherweise auf meine filmischen Themen haben würde. Inwiefern würde sich meine filmische Perspektive auf gesellschaftliche Fragen von der eines indischen Filmemachers unterscheiden? Meine Überlegungen zu spezifischen indischen Themenstellungen, Bildklischees und Erzählweisen mündeten schließlich in die Recherchen zur vorliegenden Arbeit. Eine umfassende Behandlung künstlerischer Strategien des indischen Dokumentarfilms würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. In dem Text sind Aspekte des offenen Erzählens als eine Facette des gegenwärtigen künstlerischen Dokumentarfilms herausgegriffen, die mir ein wesentlicher Impuls erscheint. Statt nach allgemeingültigen Kriterien zur Beschreibung dieser Form suche ich Antworten in individuellen Autorenhandschriften. Auf die gesellschaftlichen Auswirkungen, welche die Kommunikation kritischer Themen in diesen Dokumentarfilmen mit sich bringen, geht dieser Text nicht ein. Die gesellschaftspolitische Rezeptionssituation wird zwar als Extrem-Szenario im Kapitel „Zensur“ für den indischen Dokumentarfilm insgesamt vorgestellt. Dabei wird jedoch keine Unterscheidung der Konsequenzen nach unterschiedlichen erzählerischen Vorgehensweisen getroffen. Die zentrale Problemstellung künstlerischer Erzählstrategien im indischen Dokumentarfilm im Allgemeinen und Strategien des offenen Erzählens im Besonderen wird in der vorliegenden Arbeit aus drei Perspektiven untersucht: Zunächst als diskursive sozialhistorische Beschreibung seiner Vorbedingungen – zur Einbettung in seinen historischen Kontext sowie die wirtschaftlichen, sozia-

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len und politischen Bedingungen. Damit soll zugleich das Verhältnis von Publikum und Erzählform untersucht werden. Des weiteren als filmästhetische und dramaturgische Betrachtung, die sich auf meine bei zahlreichen Festivalbesuchen in Indien und Europa gewonnene empirische Kenntnis der aktuellen indischen Dokumentarfilmszene stützt und vier Projekte ausführlich schildert sowie zahlreiche aktuelle wie auch historische Filme exemplarisch beschreibt. Schließlich begegne ich der Fragestellung durch die Felderhebung in Interviews und Gesprächen mit indischen Filmemachern, Festivalorganisatoren, Distributoren, Filmkuratoren, Filmtheoretikern und Filmlehrenden, um Autorenhandschriften, Herangehensweisen, Verortungen im internationalen Diskurs kennen und verstehen zu lernen. Standardwerke zum indischen Dokumentarfilm sind die filmhistorischen Betrachtungen von B.D. Garga2 und Jag Mohan3. Beide Autoren betrachten die Entwicklung des Dokumentarfilms im kolonialen und unabhängigen Indien bis in die siebziger und achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in seiner Funktion als staatliches Instrument zur Aufklärung und zur Konstruktion einer gemeinsamen Identität im neu gegründeten Indien. Diese Literatur bietet einen soliden Hintergrund für das Verständnis der frühen Filmgeschichte Indiens. Die Einordnung, die Garga und Mohan vornehmen, ist vorrangig politisch und institutionsgeschichtlich, filmgestalterische Vorgehensweisen hingegen spielen in ihren filmhistorischen Darstellungen nur eine marginale Rolle. Darüber hinaus begegnete ich im Verlaufe meiner Recherchen verschiedenen Artikeln indischer und internationaler Wissenschaftler, welche einzelne Aspekte der Dokumentarfilmproduktion, -distribution und -rezeption in Indien diskutieren.4 Häufige the-

 2

Garga, Bhagwan Das: From Raj to Swaraj: The Non-Fiction Film in India. New

3

Mohan, Jag: Documentary Films and National Awakening. Delhi, Publications Divi-

Delhi, Penguin Books, 2007. sion, Ministry of Information and Broadcasting, Government of India, 1990. 4

Viele dieser Artikel waren mir nur in ihrer Online-Version zugänglich und sind daher im vorliegenden Text ohne Seitenangabe zitiert. Zeitgleich mit der Fertigstellung dieses Textes erschienen zudem zwei Publikationen indischer Autoren, welche sich mit den dokumentarischen Produktionen jenseits des staatlichen Produktionsapparates beschäftigen: Chatterjee, Shoma: Filming Reality. The Independent Doumentary Movement in India, New Delhi, Sage Publications, 2015, sowie Jayashan-

E INLEITUNG

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matische Schwerpunkte stellen dabei Filmzensur und Formen politischer Stellungnahme oder feministische Artikulationen mittels des Dokumentarischen dar. Auch auf die Rolle des unabhängigen Dokumentarfilms im Kontext des Medienaktivismus und die solidarische Verbindung von Filmemachern zu ihren in Protestbewegungen aktiven Protagonisten wurde vielfach hingewiesen. Diese aktuellen Artikel belegen das neue Interesse der Inder, sich nicht nur mittels des Mediums Dokumentarfilm auszudrücken, sondern dieses Medium zunehmend auch wissenschaftlich zu reflektieren. Für das Entwickeln meiner Theorie über das offene Erzählen im indischen Dokumentarfilm anregend war Amrit Gangars Idee des ‚Cinema of Prayoga‘, erstmals beschrieben im gleichnamigen Sammelband von Brad Butler und Karen Mizra.5 Gangar entwickelt darin für experimentelle fiktionale wie non-fiktionale Filme aus Indien eine alternative Terminologie zum westlichen Avantgarde-Begriff, der dem von westlichen Film- und Denktraditionen abweichenden lokalspezifischen Verständnis von Raum und Zeit gerecht werden soll. Eine ausführliche, explizit filmästhetische und dramaturgische Aufarbeitung des Dokumentarfilms in Indien hingegen ist nach meinem Kenntnisstand bislang nicht publiziert. Diese Lücke suche ich hinsichtlich offener und mehrdeutiger Strategien zu schließen. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei große Kapitel: Im ersten Kapitel werden die Rahmenbedingungen der Produktion und Distribution indischer Dokumentarfilme dargestellt und das kulturelles Umfeld sowie die sozialen und politische Bedingungen, unter denen Dokumentarfilme in Indien entstehen, diskutiert. Anhand eines historischen Abrisses wird ein grundlegendes Verständnis für erzählerischen Traditionen und inhaltlichen Auseinandersetzungen geschaffen, auf die sich gegenwärtige Arbeiten beziehen. Der zweite Teil untersucht die Methode des offenen Erzählens für den Dokumentarfilm, insbesondere im Kontext Indiens. Darauf aufbauend werden im dritten Teil exemplarisch vier aktuelle Dokumentarfilme, die sich dieser künstlerischen Vorgehensweise in verschiedener Form bedienen, vorgestellt und analysiert. Die Arbeit stellt dabei die These auf, dass angeregt durch globale und lokalspezifische Impulse gegenwärtig in Indien eine Diversifizierung künstlerischer

 kar, K.P. / Monteiro, Anjali: A Fly in the Curry. Independent Documentary Film in India. New Delhi, Sage Publications, 2015. 5

Butler, Brad / Mirza, Karen (Hrsg): Cinema of Prayoga. Indian Experimental Film & Video 1913 – 2006. London, No.w.here, 2006.

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dokumentarischer Erzählstrategien stattfindet. Diese Impulse reichen bis in die Kolonialzeit zurück, ebenso handelt es sich dabei um zeitgenössische Anregungen. Daraus entsteht unter anderem eine Erzählform, die ich ‚offene Erzählung‘ nenne. Diese Form untersuche ich in den folgenden Kapiteln im Kontext indischer Medien- und Dokumentarfilmproduktion.



Vorbedingungen des Sprechens

Z WISCHEN K ONTEXT

MEDIALER

F ORM

UND GEOGRAFISCHEM

Dem Fokus dieser Arbeit liegt die Verknüpfung der medialen Form des Dokumentarfilms und seines geografischem Kontexts zugrunde. Wissenschaftliche Aufarbeitungen des kommerziellen indischen Spielfilms weisen immer wieder auf lokale stilistische Eigenheiten wie die charakteristische Unterbrechung der Filmhandlung durch Song-and-Dance-Szenen hin, die diesen prägen. Die Frage, inwiefern auch die dokumentarische Erzählform aus dem kulturellen Kontext Indiens heraus entwickelte Eigenheiten aufweist, schwingt unterschwellig durch die gesamte Arbeit mit. Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist ein Gedanke der Filmemacherin Soudhamini Iyer zu ihrer Arbeitsweise: „Working in film is like speaking in English. We are so much grounded in our Indian traditions. Film is a very young medium, brought to us from outside. It is no Indian medium of expression, at least outside the Indian mainstream cinema.“1 Damit weist die Regisseurin auf die Tatsache hin, dass Dokumentarfilm ein aus dem Westen nach Indien importiertes Medium ist – ein Medium, welches ähnlich der englischen Sprache in Indien seinen Stellenwert und Dialekt gefunden hat. Dennoch drückt Iyer mit dem Gedanken auch ihren Wunsch aus, mit ihren Arbeiten eine lokal verortete Filmsprache zu entwickeln. Für die Kategorie der bereits seit mehren Jahrzehnten praktizierten aktivistischen Dokumentarfilme fällt es vergleichsweise leichter, regelmäßige stilisti-

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Interview mit Soudhamini Iyer in ihrem Studio in Chennai, 2010-03-28.

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sche Merkmale festzustellen, die eine solche Indien-Spezifik vermitteln. Das mag daran liegen, dass diese Filme die Gemeinsamkeit haben, ein gesellschaftspolitisches Anliegen möglichst wirkungsvoll zu kommunizieren. Weiterhin sind sie definiert durch ihre Arbeit mit dokumentarischen Protagonisten, mit denen sie häufig in einem bündnisähnlichen Verhältnis stehen. Dies schlägt sich auch in der filmischen Perspektive nieder. Viele dieser Filme betonen das Kollektiv, welches ein Gemeinschaftsziel verfolgt und gemeinschaftlich mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert ist. Beispiele dafür sind der drohende Bau eines Dammes in FOLLOW THE RAINBOW,2 welcher die Lebensumstände der Landbevölkerung drastisch verändern würde oder die drohende Vertreibung nomadisch lebender Adivasi-Stämme3 in MAHUA MEMOIRS,4 deren Lebensraum für den Bergbau erschlossen werden soll. Das Kollektiv drückt auch das traditionelle indische Kulturverständnis aus: insbesondere in ländlichen Gebieten spielen Clans und Gruppenzugehörigkeiten noch immer eine wichtige Rolle, während Prozesse der Individualisierung in den Wohn- und Lebenskonzepten vorrangig die indischen Metropolen betreffen. Diese filmische Auseinandersetzung mit dem Kollektiv von Protagonisten beeinflusst auch die Erzählform. Jyotsna Kapur ebenso wie Thomas Waugh beschreiben als indientypisches dokumentarisches Erzählmittel das Gruppeninterview, welches eben diese kollektiven Perspektiven unterstreicht.5 Darin berichtet statt eines einzelnen Protagonisten eine Gruppe als Gemeinschaft Betroffener oder Augenzeugen. Sie hören sich gegenseitig zu, unterbrechen sich, ergänzen einander, pflichten bei, korrigieren und fordern sich gegenseitig mit Sätzen wie „You tell it!“ oder „Let mother speak!“ auf, ihre Erfahrungen zu schildern. Auf diese Weise bilden sich

 2

FOLLOW THE RAINBOW (IN 1991, R: Vasudha Joshi/Ranjan Palit, Dokumentarfilm,

3

Der Begriff Adivasi ist die Selbstbezeichnung der indigenen Bevölkerung Indiens.

52 min).

Die kulturellen Traditionen und Lebensräume dieser beinahe 700 Volksgruppen umfassenden Adivasi-Stämme werden durch die gegenwärtige rasante wirtschaftliche Entwicklung Indiens mehr und mehr eingeschränkt. 4

MAHUA MEMOIRS (IN 2007, R: Vinod Raja, Dokumentarflm, 82 min).

5

Vgl. Kapur, Jyotsna: Why The Personal is Still Political – Some Lessons from Contemporary Indian Documentary. In: Jump Cut: A Review of Contemporary Media No. 46, 2003, sowie Waugh, Thomas: The Right to Play Oneself. Looking Back at Documentary Film. Minneapolis, University of Minnesota Press, 2011.

V ORBEDINGUNGEN DES S PRECHENS

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während des Gruppen-Interviews auch die sozialen Hierarchien der Gruppe untereinander ab: Wer darf zuerst sprechen? Wem glaubt man am meisten? Und sicherlich auch: Wer ist der beste Erzähler? Diesen Sequenzen liegt kein abgefilmtes Gespräch im Sinne des beobachtenden Erzählmodus zugrunde. Vielmehr tragen die Protagonisten ihre Gedanken gezielt der Kamera vor, der Regisseur lenkt ihre Erzählung mit Fragen. „The ‚talking groupµ trope arises from a society where the group rather than the individual is the primary site of political discourse and of cultural expression.“6 So verortet Thomas Waugh das Gruppeninterview im indischen Kulturkontext. Die Entwicklung des Gruppeninterviews als Erzählmittel mag im Zusammenhang mit der Kultur mündlicher Überlieferungen stehen. Darin ergibt sich im wörtlichen Sinne ein mehrstimmiges Erzählen – ohne dabei jedoch zwangsläufig verschiedene Perspektiven oder alternative Deutungsweisen zu beinhalten. Gargi Sen, die sich als Distributorin beständig mit den Eigenheiten indischer Dokumentarfilme beschäftigt, geht davon aus, dass die verbreitete dokumentarische Erzählstruktur, welche einer einzelnen Figur und deren dramatischem Ziel folgt, einer westlichen Vorstellung entspringt und indische Denkund Kommunikationsweisen nicht abbildet. 7 Als indische Alternativformen stellt sie dem etwa Filme gegenüber, die mit Musik als entscheidendem Erzählmittel arbeiten. So operierten etwa Shabnam Virmanis Musikdokumentationen aus der Kabir-Reihe in atmosphärisch-abstraker Weise mit einem gleichwertigen Verhältnis von Musikszenen und beobachtenden Bildern beziehungsweise Interviews. Damit setzen sie sich von erklärenden ebenso wie dramatisch strukturierten Dokumentarfilm-Modellen ab. Einschränkend ist hier anzumerken, dass die Narration in Shabnam Virmanis Filmen der Musik und den Musikern folgt und dass die Musik die dokumentarische Handlung auslöst. So wird etwa in HAD ANHAD8 die Begegnung indischer und pakistanischer Sufi-Musiker als ein Road-Movie erzahlt, bei dem die Protagonisten über lange Zeiträume musizieren und sich philosophisch über ihre Musik und die Texte des mythischen Dichters Kabir austauschen. Diese Erzählform erscheint mäandernd und verfolgt kein vordergründig dramatisches Ziel. Parallel zu den Musikszenen

 6

T. Waugh: The Right to Play Oneself, S. 246.

7

Vgl. Gespräch mit Gargi Sen in Delhi 2011-09-08.

8

HAD ANHAD / BOUNDED BOUNDLESS (IN 2010, R: Shabnam Virmani, Dokumentarfilm, 103 min).

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entfaltet Virmani jedoch auch eine dramatische Entwicklung mit Hindernissen wie der Beschaffung pakistanischer Visa für die indischen Musiker sowie die symbolgeladene indisch-pakistanische Grenzüberquerung, bei der die Regisseurin ihre Protagonisten begleitet. Andere Filme wie Vinod Rajas THE BEE, THE BEAR AND THE KURUBA9 entfalten sich zwar nicht entlang musikalischer Strukturen, nutzen jedoch von ihren Protagonisten vorgetragene Lieder und Musikstücke als Ausdrucksmittel, das etwa auf die rituellen Traditionen und Legenden der Filmcharaktere hinweist. Wieder andere Filmemacher, wie Anand Patwardhan, integrieren in ihre Dokumentationen Lieder, die Teile von Protestkampagnen und Demonstrationen sind. Während sich für die aktivistischen Formen des unabhängigen Dokumentarfilms bestimmte wiederkehrende Stilelemente feststellen lassen, fällt diese Bestimmung für künstlerische oder experimentelle Dokumentarfilme schwer. Sie haben zunächst weder eine gemeinsame Form noch einen gemeinsamen Inhalt, die ihre Struktur bestimmen würden. Vielmehr verbindet sie das Herausfordern der filmischen Erzählkonventionen, Perspektiven und ästhetischen Vorgehensweisen. Daraus ließe sich ableiten, dass in der experimentellen dokumentarischen Kategorie per se eine größere Vielfalt an Erzählmitteln zum Tragen kommt. Die zahlreichen künstlerischen Dokumentarfilme, die ich während meiner Recherchen auf indischen Festivals betrachten und in meinen FilmKorpus einschließen konnte, bestätigen diese Annahme. Insofern halte ich es für eine angemessene Methode, künstlerische Aspekte als Facetten zu beschreiben. Dabei lege ich den Fokus meiner Betrachtungen auf offene Vorgehensweisen, die im Folgenden untersucht und im dritten Teil dieses Texts anhand der Analyse von vier Beispiele beleuchtet werden sollen.

D OKUMENTARFILM

ALS I NSTITUTION

Um die Erneuerungen der indischen Dokumentarfilmform zu diskutieren, ist es unerlässlich, einen Blick auf das System zu werfen, innerhalb dessen diese Filme entstehen und betrachtet werden, da Auftragslagen, Fördermöglichkeiten

 9

THE BEE, THE BEAR AND THE KURUBA (IN 2001 R: Vinod Raja, Dokumentarfilm, 66 min).

V ORBEDINGUNGEN DES S PRECHENS

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und Aufführungs- beziehungsweise Ausstrahlungsmöglichkeiten zu einem guten Teil mitentscheiden, welche Art Filme produziert werden können. Orte dokumentarischer Ausbildung

 Die Ausbildung von Filmschaffenden wurde im neugegründeten Indien als Staatsaufgabe angesehen. Im Jahr 1960 wurde das Film and Television Institute of India (FTII) in Poona als erste staatliche Ausbildungsstätte für Film eingerichtet. Das FTII ist eine bis heute aktive, renommierte Filmhochschule, die in den klassischen Disziplinen Regie, Drehbuch, Schnitt, Kamera, Ton, Schauspiel und Ausstattung ausbildet. Das Studium in Poona ist um die Realisation mehrerer Studienfilme konzipiert, die mit der Betreuung der Lehrenden in Teams, die sich aus den verschiedenen Studiengängen zusammensetzen, realisiert werden. Die Studienprojekte werden bis heute im 35-Millimeter- und 16-MillimeterFormat gedreht. Dabei kommen auch historische Kameras und Kräne zum Einsatz, die zum Teil noch aus den 1930er Jahren stammen. Sie sind der Nachlass der Prabhat Film Company in Poona, auf deren Gelände später das Film Institut und das National Film Archive entstanden sind.10 Aktuell wird die Umstellung der Studienfilme und Labors auf digitalen Film vorbereitet. Die geografische Nähe zum National Film Archive in Poona macht das regelmäßige Sichten von 35-Millimeter-Kopien indischer und internationaler Filme zu einen wichtigen Bestandteil der Auseinandersetzung mit Film im Studium. Es entsteht der Eindruck, dass sich aus diesen gemeinsamen Referenzen ein am Film and Television Institute gepflegter Kanon entwickelte. So werden die Filme Andrej Tarkovskis, Jean Renoirs, Michelangelo Antonionis oder Stanley Brakhages von zahlreichen Absolventen des Filminstituts geschätzt und vielfach als Inspirationen benannt. Ein spezialisierter Studiengang oder Schwerpunkt Dokumentarfilm allerdings wird in Poona nicht angeboten. Lediglich eines der Semesterprojekte ist dem non-fiktionalen Film gewidmet. Dennoch sind unter den bedeutenden Dokumentarfilm-Regisseuren Indiens viele Absolventen des FilmInstituts. Zu ihnen gehören Surabhi Sharma, Reena Mohan, R.V. Ramani oder Nishtha Jain. Im Gegensatz zu ihren Kollegen, die in spezialisierten Positionen

 10 Vgl. PRABHAT PHERI / JOURNEY WITH PRABHAT (IN 2014. R: Jessica Sadana / Samarth Dixit, Dokumentarfilm. 89 Min) und Publikumsdiskussion auf der Berlinale 2014.

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in der Mumbaier Filmindustrie arbeiten, verstehen sich die Dokumentarfilmer als Generalisten. Häufig sind sie zugleich Rechercheure, Autoren und Editoren von ambitionierten Projekten, die in sehr kleinen Crews umgesetzt werden. Auch unter den Absolventen anderer Studiengänge sind einige dem Dokumentarfilm treu geblieben, so etwa der Toningenieur Suresh Rajamani,11 der seit Jahrzehnten fast ausschließlich für die Tonaufnahmen wichtiger Dokumentarfilme verantwortlich ist, oder der Dokumentarfilm-Kameramann Ranjan Palit, dessen Arbeit in separatem Kapitel ausführlich besprochen wird. Einige Jahre nach der Gründung des FTII wurde in Kalkutta im kommunistischen und zugleich kulturbewussten Bengalen eine weitere Ausbildungsstätte für Film eingerichtet: das Satyajit Ray Film and Television Institut. Es bietet ein ähnliches Ausbildungsprofil und umfasst einen vergleichbaren Komplex von Studios, Laboren, Hörsälen und Wohnheimen. Neuerdings fügt sich in die Reihe der staatlichen Filmschulen auch das State Institute of Film and TV in Rohtak, Haryana ein. Auch in diesen beiden Instituten enstehen im Rahmen des Curriculums Dokumentarfilme, ohne dass ein unmittelbarer Studienschwerpunkt existiert. Die staatlichen Filminstitute ermöglichen durch die Subventionierung des Studiums bewusst Studierenden aus verschiedenen Teilen Indiens sowie unterschiedlichen Kasten und Gesellschaftsschichten die Teilhabe am filmischen Diskurs. Neben den klassischen Filmhochschulen, an denen Dokumentarfilm eher eine Randerscheinung darstellt, findet dokumentarische Ausbildung auch in verschiedenen Journalismus- und Mass Communication-Studiengänge statt. So besitzt die Jamia Millia Islamia (National Islamic University) in Neu-Delhi seit 1982 ein Mass Communication Research Center,12 das maßgeblich zum Ruhm der Institution beiträgt. In dessen Digital Media Lab entstehen, begleitet von film- und medientheoretischen Seminaren, filmpraktische Arbeiten. Auch Designhochschulen widmen sich in ihrem Studienprogramm dem non-fiktionalen Film. Das National Institut of Design in Ahmedabad bietet mit den Studienschwerpunkten in Film and Video Communication und Animation

 11 Etwa VOICES FROM BALIAPAL (IN 1988, R: Ranjan Palit / Vasudha Joshi, Dokumentarfilm, 40 min) oder IN THE FORREST HANGS A BRIDGE (IN 1999, R: Sanjay Kak, Dokumentarfilm, 39 min). 12 Benannt nach dem Institutsgründer Anwar Jamal Kidwai, Mitbegründer war der kanadische Filmemacher James Beveridge.

V ORBEDINGUNGEN DES S PRECHENS

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auch Spielraum für dokumentarische Filme, wie Ujjwal Uttkarshs PURNA VIRAMA 13 oder die dokumentarisch geprägte Animationen Anitha Balachandrans belegen. Die Srishti School of Art, Design and Technology, eine private Kunst- und Designhochschule von hohem Anspruch in Bangalore betreibt ein Department of Digital Filmmaking, in dem Studierende im Anschluss an ein zweijähriges Design-Grundstudium ihren Studienschwerpunkt für weitere zweieinhalb Jahre wählen können.14 In dem Programm werden im Gegensatz zu den staatlichen Filmhochschulen Allrounder ausgebildet, die von der Konzeption und Stoffentwicklung über die Dreharbeiten und Tonaufnahme bis zum Schnitt in alle wesentlichen kreativen Positionen im Film Einblick erhalten und neben theoretischen Einführungen und kurzen filmischen Etüden zu verschiedenen technischen Aspekten in jedem Semester eine Kurzfilmarbeit realisieren. Auch die Srishti School bietet bislang keinen offiziellen Studienschwerpunkt für Dokumentarfilm an, fokussiert aber in einem Semester auf non-fiktionale Produktionen und räumt den Studierenden auch im anschließenden Experimentalfilmsemester und in den Diplomarbeiten die Möglichkeit des Dokumentarischen ein. Als Dozentin in Srishti habe ich ein Experimentalfilm-Semester um interaktives dokumentarisches Erzählen konzipiert, in dem gemeinsam mit Studierenden und dem Spiele-Designer Arun Kumar das interaktive Filmprojekt VIVAADADA BAGGE SAMVAADA / INTERACTIVE DIALOG ON GENDER15 realisiert wurde. Das Projekt erkundete einerseits auf persönliche Weise Gender-Rollen in der Metropole Bangalore vor dem Hintergrund gewaltsamer Übergriffe auf westlich gekleidete Frauen und Paare in Mangalore. Andererseits untersuchte es die Möglichkeiten nonlinearen filmischen Erzählen: mittels kurzer dokumentarischer und assoziativer Videoclips führte die Projektgruppe einen filmischen Dialog. Auch im Rahmen inter-disziplinärer Lehrveranstaltungen enstehen häufig dokumentarische Bearbeitungen der Problemstellung. Aufgrund dieser Unterrichtsstruktur sind die Srishti-Kurzfilme stark von Grenzgängen zwischen

 13 PURNA VIRAMA (IN 2009, R: Ujjwal Uttkarsh, Dokumentarfilm, 12 min). 14 Meine Ausführungen stützen sich hier auf meine eigenen Erfahrungen als Dozentin in ebenjenem Film Department zwischen 2007 und 2010. 15 VIVAADADA BAGGE SAMVAADA / INTERACTIVE DIALOGUE ON GENDER (IN 2009, R: Ulrike Mothes, Arun Kumar – in Zusammenarbeit mit Tariq Thekaran, Roanna Rahman, Narayanan Poomulli, Arvind Philipose, Pooja Madhavan, Sahil Sen, Radha Mahendru, Prerna Gupta – Interaktiver Dokumentarfilm, 54 min).

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Kunst, Kino und dem Neue-Medien-Diskurs geprägt. In diesem Sinne begünstigen die Kurse die Erkundung neuer künstlerischer Formen und Strategien – auch im Dokumentarfilm. Das Sri Aurobindo Institute for Arts and Communication in New Delhi ist die derzeit einzige Kunsthochschule, die neben den klassischen Studienschwerpunkten für Fotografie, Film- und Videoproduktion sowie angewandtem Journalismus seit Oktober 2013 auch ein spezialisiertes Programm für Creative Documentary anbietet. Mit der Regisseurin und Editorin Sameera Jain 16 und der Autorin und Regisseurin Anupama Srinavasan17 haben zwei bedeutende Akteurinnen des indischen Dokumentarfilms die Programmleitung übernommen. Im akademischen Beirat wird das Programm von weiteren wichtigen Vertretern der indischen Dokumentarfilm-Landschaft begleitet. Dazu gehören unter anderem der Documenta-Künstler und Regisseur Amar Kanwar, der Kameramann und Regisseur Avijit Mukul Kishore, die Verleiherin Gargi Sen und die Festivalleiterin Bina Paul. Diesem Zusammenschluss erfahrener Dokumentarfilmschaffender gelang ein wegweisender Schritt, der für die technische und konzeptionelle Professionalisierung des Dokumentarfilm-Nachwuchses ebenso entscheidend sein mag wie für die Wahrnehmung des dokumentarischen Formats in Indien. Im Rahmen des neuen Studienganges sollen anhand der studentischen Filmvorhaben, so Anupama Srinivasan, erzählerische Methoden und individuelle künstlerische Repräsentationsweisen und erprobt und diskutiert werden: „[…] The course is also to ‚see what you as a filmmaker can do with that tool, what your responsibility is, what your vision is, and how you see the world and interpret what’s out thereµ.“18 Den beiden Institutsleiterinnen ist es ein Anliegen, den Studierenden ein Bewusstsein für die ethischen Fragen des Drehens mit realen Figuren und Situationen zu vermitteln. Die Studierenden spezialisieren sich nicht auf einen

 16 Autorin zahlreicher Dokumentarfilme, z.B. BORN AT HOME (IN 2000, R: Sameera Jain), PORTRAITS OF BELONGING (IN 2009, R: Sameera Jain), MERA APNA SHEHER / MY OWN CITY (IN 2011, R: Sameera Jain). 17 Autorin zahlreicher Dokumentarfilme, z.B. NIRNAY (IN 2012, R: Anupama Srinivasan , Pushpa Rawat), I WONDER (IN 2009, R: Anupama Srinivasan ), ON MY OWN AGAIN

(IN 2008, R: R: Anupama Srinivasan).

18 Anupama Srinivasan zitiert nach: Bhattacharya, Budhaditya: To Explore, To Experiment. In: The Hindu 2013-09-06 [Web].

V ORBEDINGUNGEN DES S PRECHENS

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Verantwortungsbereich wie Schnitt oder Kamera, sondern erhalten in alle Produktionsschritte Einblick, um später als unabhängige Autorenfilmer eine ganze Produktion selbständig planen zu können.19 Grenzwanderungen zwischen dem fiktionalen und dem non-fiktionalen Genre sind dabei ausdrücklich erwünscht. Die zunehmende Zahl der Ausbildungsstätten mag ein Hinweis auf eine zu erwartende vermehrte Produktion von dokumentarischen Arbeiten geben, die in unterschiedlichen narrativen und visuellen Traditionen stehen. Und schließlich machen neben diesen Film- und Kunsthochschulabsolventen auch viele Quereinsteiger Dokumentarfilme: Künstler, Wissenschaftler oder Aktivisten aus Hilfsorganisationen.

 Auftraggeber  Grundsätzlich fällt bei der Betrachtung der Arbeitsbedingung von indischen Dokumentarfilmern auf, dass ihre Finanzierungs- und Verbreitungsmöglichkeiten beschränkt sind. Der Programmdirektor des Goethe-Instituts Südasien Robin Mallick überlegt dazu: Es besteht so gut wie keine Infrastruktur für Filmemacher in Südostasien. Das Funding kommt zum Teil sehr kurzfristig, nur wenige Wochen vor dem Festival, das die Arbeit zeigt und fördert. Und dementsprechend flexibel müssen dann auch die Produktionsabläufe geplant werden.

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Die wesentlichen Sendeanstalten für die Fernseh-Ausstrahlungen von Dokumentarfilmen in Indien sind Doordarshan und NDTV 24x7. Derzeit größter Auftraggeber für Dokumentarfilme ist der Public Service Broadcasting Trust (PSBT), eine mit Unterstützung der Ford-Foundation gegründete Private-Public Partnership mit der Rundfunkanstalt Prasar Bharati, der Films Division, der Public Diplomacy Division und dem indischen Außenministerium.21 Unter dem Dach der Prasar Bharati sind traditionelle Sender wie das All-India-Radio oder der staatliche Fernsehkanal Doordarshan vereint. Doordarshan finanziert die

 19 Vgl. Ebd. 20 Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs mit Robin Mallick zum Internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig, 2013-11-01. 21 Vgl. http://www.psbt.org, Zugriff 2013-11-24.

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Hälfte des Produktions-Etats für die Dokumentationen des Public Service Broadcast Trust und stellt die Sendezeit für die Filme zur Verfügung. Die thematischen Schwerpunkte des Senders sind Erfolgsgeschichten von Frauen, Geschlechterrollen und Sexualität sowie soziale Konflikte in Indien und die Vorstellung von Lösungsansätzen, HIV und Aids oder die Diskussion von Umweltproblemen. Zweimal jährlich ruft der PSBT Dokumentarfilmer dazu auf, Exposés für Filme einzureichen, die sich mit ihren Themen beschäftigen. Die Films Division of the Government of India unterstützt die PSBT in ihrem Independent Film Fellowship Program. Mit diesen Mitteln werden jedes Jahr bis zu zehn Filme gefördert, die Indien sowohl aus inhaltlich wie auch erzählerisch oder filmästhetisch neuer und unerwarteter Perspektive untersuchen. Das Stipendium bedeutet für indische Dokumentarfilmer, ein Projekt mit großer thematischer und gestalterischer Freiheit umsetzen zu können. Zwar ist der zugebilligte Etat von durchschnittlich etwa hundert- bis hundertzwanzigtausend Rupien für einen Film von sechsundzwanzig beziehungsweise zweiundfünfzig Minuten Länge22 vergleichsweise niedrig, um daraus Produktionsmittel, Reisekosten, Drehgenehmigungen und die Entlohnung von Teammitgliedern zu bestreiten. Dennoch können mit der Unterstützung des PSBT-Stipendiums unabhängig von Einschaltquoten und Fragen der Vermarktbarkeit vielschichtige Autorenfilme entstehen. Mit dieser offenen Ausrichtung stellt das PSBT-Fellowship-Programm einen interessanten Recherche-Kontext hinsichtlich der Entwicklung alternativer dokumentarischer Erzählformen dar. Neben diesen zahlenmäßig recht geringen Filmfinanzierungen durch Fernsehsender (in Europa ermöglichen diese den hauptsächlichen Anteil der dokumentarischen Produktionen) sind in Indien Hilfsorganisationen wichtige Auftraggeber für Dokumentarfilme. Mit unterschiedlichen Budgets und Formatvorgaben ebenso wie unterschiedlichem erzählerischem Anspruch finanzieren sie Filme, welche ihre Anliegen thematisieren: etwa das Recht auf ärztliche Behandlung, Aufklärung über Umweltprobleme, Schutz und Unterstützung von misshandelten Frauen, die Ausbildung von Slumkindern, die Errichtung von einfacher Sanitäranlagen in den indischen Dörfern und so fort. Die Filme werden als Aufklärungs- und Informationsmaterial für Förderer, Betroffene oder einen breiten Zuschauerkreis eingesetzt, und dementsprechend vor Ort in öf-

 22 Stand 2013 / Vgl. Unbekannter Autor: Call for Proposals. PSBT Film Fellowships. In: Dear Cinema Magazine, 2013 [Web].

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fentlichen Vorführungen und Schulen, in Veranstaltungen der Hilfsorganisationen und auf deren Webseiten, aber auch auf Filmfestivals gezeigt. Nicht selten dienen sie als Rechenschaftsbericht über das Engagement der jeweiligen Organisation. Die Filmemacher sind zum Teil selbst Mitglieder der Organisation oder als Dokumentatoren regulär dort beschäftigt. Schließlich entstehen in Indien auch mit internationaler Finanzierung bzw. in internationalen Koproduktionen Dokumentarfilme – wenngleich diese Form der Förderung für die indische Dokumentarfilmproduktion insgesamt der Verleiherin und Festivalorganisatorin Gargi Sen zufolge nur eine marginale Rolle spielt.23 Neben Koproduktionen mit internationalen Sendern wie dem BBC, ARTE oder YLE kommen als Filmförder-Institutionen der Rotterdamer HubertBals-Fund,24 der Jan Vrijman-Fund des International Documentary Film Festival Amsterdam, das französische Cinema du Monde, der Norwegian Film Fund, der Asian Cinema Fund des Busan International Film Festivals in Südkorea und der South Visions Swiss Film Fund des Fribourg Film Festival in Frage.25 Einige der Förderungen sind an eine internationale Koproduktion gekoppelt. Viele der geförderten Filme profitieren nicht nur vom Produktionsbudget, sondern auch von den professionellen Netzwerken der Förder-Institutionen, und ihre Filme werden in internationalen Festivals zirkuliert. Als Kontaktbörse für die Finanzierung anspruchsvoller dokumentarischer Projekte spielt das DocEdge in Kalkutta und seit kürzerem auch der von der Indian Documentary Foundation in Mumbai organisierte Good Pitch2 eine zentrale Rolle. In beiden Foren werden Ideen und Konzepte unter Beratung internationaler Mentoren formuliert, pointiert und präsentiert, um internationale Produktionspartner zu finden. Die Einbettung in solche internationalen Koproduktionssysteme kann den Poduktions-Etat wie auch die Sichtbarkeit der Filme maßgeblich erhöhen. Zugleich beeinflussen die Formatvorgaben der produzierenden Sendeanstalten jedoch auch

 23 Gargi Sen im Gespräch während des Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig 2013-10-30. 24 Der Hubert Bals-Fund fördert vorrangig Spielfilmprojekte aus Entwicklungsländern. Unterstützung für Dokumentarfilme kann nur in der Kategorie „Postproduktion“ beantragt werden. 25 Vgl. Unbekannter Autor (Dear Cinema Magazine): 7 Funds available for Indian filmmakers. 2013 [Web].

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die filmische Form – ein Konflikt, von dem allerdings auch westliche Filmemacher nicht frei sind.

 Archivierung  Für die Rekonstruktion von Filmgeschichte spielen Archive eine wichtige Rolle. Seit seiner Gründung sammelt das National Film Institute in Poona indische und internationale Filme zur Verwendung als Unterrichtsmaterial.26 Im Jahr 1964 bekam diese Sammlung mit der Einrichtung des National Film Archive of India am selben Standort einen offiziellen Rahmen. Ministerpräsident Jarwahal Nehru hatte kurz zuvor National Awards für indische Filme eingeführt, für deren Lagerung man einen offiziellen Ort suchte. Diese historische Situation begünstigte die Einrichtung des NFAI durch das indische Ministry of Information & Broadcasting. Das Archiv sammelt analoge Filmkopien von preisgekröntem indischen Kino sowie Kassenschlagern und indischen Filmen, die erfolgreich auf internationalen Festivals gezeigt wurden. Einige Filmdosen datieren weit vor die Gründung Indiens zurück. So befinden sich im NFAI die Arbeiten Dadarsahib Phalkes. Der langjährige Direktor des National Film Archive, P.K. Nair berichtet von große Schwierigkeiten, mit der Regierungsbehörde einen Tenor des Sammelnswerten zu finden. Auch sah er sich mit großen restauratorischen Problemen konfrontiert. Frühe indische Filme konnten häufig nur noch in Fragmenten zusammengetragen werden: The biggest shock that I found was nearly 70% of Indian films made before 1950 was not available for love or money. All gone, destroyed and vanished. Some of them got lost in fire. Because the prints had nitro cellulose they got powdered. Producers and distributors sold as waste film after extracting silver from them. Waste film was a big business.

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Die Kontrolle und Restaurierung der archivierten Filme ist eine der entscheidenden Aufgaben des Archivs, das in Poona angesiedelt wurde, weil die klima-

 26 Vgl. Kumar, Amshan: Each Film is Material for Archive – Amshan Kumar’s Interview with P K Nair. 2012-07-29 [Web]. 27 A. Kumar, Amshan: Each Film is Material for Archive [Web].

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tischen Bedingungen für eine Lagerung der Rollen dort günstig erschien.28 Auch dort scheint es nicht immer möglich, die ideale Lagertemperatur von 15 Grad einzuhalten, das Archiv ist zunehmend mit dem Problem rostender Filmdosen konfrontiert, deren Inhalt häufig nicht mehr abspielbar ist. In den Archivregalen in Poona lagern auch indische Newsreels und Dokumentarfilme. Als 16-Millimeter-Kopien wurden die Filme aus dem Archiv an die Film Societies im ganzen Land geschickt und werden bis heute für Retrospektiven zur Verfügung gestellt. Die Films Division of the Government of India als jahrzehntelang wichtigster Produzent von Dokumentarfilmen verfügt ebenfalls über ein Archiv von Arbeiten, die unter ihrem Dach entstanden sind. Dieses Archiv beherbergt die umfassendste Sammlung indischer Dokumentarfilme. Ausgewählte Klassiker wurden als auch Video-CDs und DVDs vertrieben. Einige davon sind nun auch auf der Webseite der Films Division abrufbar. Und auch die in Protest gegen Filmzensur ins Leben gerufene Initiative VIKALP Films for Freedom betreibt ein Archiv von Dokumentarfilmen, aus dem heraus sie Vorführungen organisieren. Dazu kommen mehr und mehr kleine Archive von Privatpersonen, Hilfsorganisationen oder Filmkollektiven, die für ihren Arbeitskontext relevante Filme in digitaler Form sammeln und katalogisieren, und ebenfalls Archivrecherchen ermöglichen.

 Aufführungs- und Vertriebsmöglichkeiten. Filmfestivals als indische Plattform für den Dokumentarfilm  Angesichts mangelnder regulärer Aufführmöglichkeiten stellen Dokumentarfilm-Festivals gegenwärtig relevante Podien für das Betrachten non-fiktionaler Arbeiten und den Dialog über filmische Themen und Vorgehensweisen dar. Das erste wichtige Dokumentarfilmfestspiel Indiens war das 1990 gegründete Mumbai International Filmfestival (MIFF), welches von der Indian Documentary Producer Association und Films Division ausgerichtet wird. Im Zweijahresrhythmus zeigt das Festival indische und internationale Dokumentar- und Kurzfilme. Mittlerweile werden darüber hinaus auch Gesprächsrunden wie der Funders‘ Talk, Podiumsdiskussionen, Retrospektiven, kuratierte Filmreihen und ein

 28 Bharathi, Vartha: Film Is A Part Of Our Cultural Heritage: P.K. Nair. 2013-09-29 [Web].

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Pitching Forum veranstaltet. Um ein größeres Publikum zu erreichen, werden neuerlich die indischen Wettbewerbsbeiträge parallel zum Festival auch in Delhi, Chennai, Bangalore, Kolkata und Chandigarh aufgeführt.29 Diese Tatsache belegt ein wachsendes Interesse indischer Zuschauer an dokumentarischen Filmen. Die Magic Lantern Foundation weist darauf hin, dass die staatliche Organisation des Festivals in Mumbai den Preisträgern eine Art offizieller Legitimation beschert. Allerdings hat diese staatliche Leitung auch Konsequenzen für die Freiheit der Programmgestaltung: Das erste und größte Dokumentarfilmfestival Indiens war im Jahr 2004 Austragungsort eines Streits um zensierte Dokumentarfilme, der im folgenden Kapitel ausführlicher dargestellt wird. Die Aufmerksamkeit, die dem Dokumentarfilm in Mumbai zuteil wurde, mag ein maßgeblicher Impuls für die Gründung zahlloser weiterer Festivals im ganzen Land gewesen sein. Nur wenige Jahre nach der Gründung des Mumbai International Filmfestival entstand mit dem Film South Asia Festival in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu ein weiteres wichtiges Forum für die Aufführung von ausschließlich Dokumentarfilmen.30 Die Film-Beiträge stammen aus Nepal, Pakistan, Bangladesh, und, zum größten Teil, von indischen Filmemachern. Während des Festivals wird ein lebendiger Diskurs zwischen Filmschaffenden Südasiens gepflegt, und auch das lokale Publikum nimmt regen Anteil an den Vorführungen, die Kinosäle sind auch in den Wiederholungsvorstellungen brechend voll. Wegweisend für die Gleichbehandlung von dokumentarischen und fiktionalen Filmen verkaufte das Film South Asia als erstes Festival in Südasien Tickets für Dokumentarfilme, statt sie, wie viele Hilfsorganisationen, Vorführungen kostenlos anzubieten, um mit deren Hilfe ein Bewusstsein für von ihnen aufgegriffene Problemstellungen zu generieren. „I remember watching with a sense of hope and bewilderment a long queue waiting to buy a ticket. For a documentary!“ 31 So erinnert sich die DokumentarfilmDistributorin Gargi Sen. Die gewonnene Unabhängigkeit vom Vertrieb durch

 29 Vgl. Unbekannter Autor: MIFF-2014 for Documentaries ‚Will Bring Rich Experienceµ. In: The Hindu. 2013-11-25. [Web]. 30 Lediglich im regionalen Fokus auf Filmschaffen in Nepal werden auch fiktionale Filme gezeigt. 31 Vgl. Sen, Gargi: More than Earnest and Real. In: Himal Southasian Magazin 201310-01 [Web].

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Hilfsorganisationen, welche an die Repräsentation „ihrer“ Themenschwerpunkte gebunden sind, bringt auch eine Offenheit gegenüber Experimenten mit der dokumentarischen Erzählform mit sich. In jüngster Zeit finden immer mehr Dokumentarfilmfestivals in ganz Indien statt. Einige werden als Filmclubs oder Filmreihen von Hochschulen, andere von Vereinen organisiert. Einige sind dokumentarischen Repräsentationen gewidmet, andere verfolgen einen thematischen Schwerpunkt, wie das „Voices from the Water Festival“ in Bangalore, das sich mit Wasser als schrumpfender Ressource filmisch auseinandersetzt, oder das „Persistance Resistance Festival“ in Delhi, das von der Magic Lantern Foundation und Gargi Sen betrieben wird und zeitgenössische Dokumentarfilme, die sich kritisch mit der Gesellschaftsordnung und den bestehenden politischen Systemen in Indien auseinandersetzen, zeigt. Das „Open Frame Festival“ zeigt in Delhi ausschließlich jüngste Produktionen des Public Service Broadcast Trust, zusammen mit sorgfältig moderierten Diskussionen. Zugleich wendet es sich mit Workshops und Einführungskursen an College-Studenten und den dokumentarischen Nachwuchs. Ein absolutes Ausnahme-Phänomen in der indischen Festival-Landschaft stellt die „Experimenta“ dar, Indiens erstes Festival für Moving Image Art, Kunst- und Experimentalfilm. Gegründet in Mumbai, zog das von Shai Heridia organisierte und kuratierte Festival binnen kurzem nach Bangalore um und bietet dort ein einzigartiges Forum für indische sowie internationale Filme, die sich keinem bekannten Genre zuordnen lassen. Aufgrund seiner Finanzierung durch Sponsoren und Crowdfunding-Kampagnen ist das Festival in seiner kuratorischen Ausrichtung sehr frei und kann es sich leisten, auch sperrige und abstrakte Filmund Videoarbeiten zu präsentieren, für die es innerhalb Indiens sonst kaum Aufführungsmöglichkeiten gibt. Filme am Rande des Dokumentarischen wie Chaoba Thiyams bildgewaltigem Essayfilm EYE OF AN I,32 einer persönlichen Reflexion von omnipräsenter Gewalt und Polizei-Kontrolle im nordöstlichen Bundesstaat Manipur, ebenso wie die modern-mystischen Arbeiten Vipin Vijays finden während der „Experimenta“ eine Bühne und ein diskursfreudiges Publikum. Damit hat sich die „Experimenta“ zu einem Raum entwickelt, in dem Filmemacher und Publikum Film neu denken können.

 32 EYE OF AN I (IN 2009, R: Chaoba Thiyam, Experimenteller Dokumentarfilm, 15 min).

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Nicht nur Festivals zeigen Dokumentarfilme. Die alternativen Dokumentarfilm-bühnen werden auch von Filmclubs und Film Societies bespielt, die sich aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen finanzieren. Zu den bedeutendsten Veranstaltern gehört die im zuvor erwähnten Mumbai’er Protest gegen Zensur dokumentarischer Filme gegründete Initiative VIKALP Films for Freedom. In dem Bestreben, alternative Spielorte unabhängig von der Billigung des Censorboards zu schaffen, organisiert VIKALP in mehreren indischen Großstädten Aufführungen von engagierten sozialkritischen Filmen, denen häufig offizielle Verbreitungswege nicht offen stehen. Viele der Vorstellungen sind mit einem Regiegespräch oder dem Dialog mit Protagonisten oder Sachkundigen verknüpft. Das zumeist städtische, gebildete Mittelklasse-Publikum nutzt die Vorstellungen als Informationsquelle für unbequeme Wahrheiten. Trotzdem VIKALP von einem Zusammenschluss von Filmemachern betrieben wird, spielen filmgestalterische Aspekte in den Debatten eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum der Publikumsdiskussionen stehen vielmehr die Manifestationen von Redefreiheit, die präsentierten Inhalte und Fragen nach individueller und kollektiver Verantwortlichkeit. Einen deutlichen Schub erlebte die unabhängige Festivallandschaft auch durch die Feierlichkeiten „100 Years of Indian Cinema 2013“ – einem Jahr der stolzen Rückbesinnung auf die eigene Filmgeschichte und ihrer verschiedenen Aspekte. Frühe Filmdiven wurden ebenso erinnert wie die Choreografien des populären Kinos und dokumentarische Filmformen.33 In Zusammenhang mit dem Jubiläum wurde auch die FD Zone etabliert, eine wöchentliche Filmreihe, die mit der Namensreferenz an Andrej Tarkovskis STALKER34 den Kinoraum als Hoffnungen und Wünsche erfüllende magische Zone beschwört. 35 Nach dem Programm der unabhängiger Filmemacher Avijit Mukul, Pankaj Rishi Kumar, Madhavi Tangella und Surabhi Sharma stellt die Reihe ebenso zeitgenössisches dokumentarisches Filmschaffen wie filmhistorische Perlen aus dem Archiv der Films Division vor. 36

 33 RAJA HARISHCHANDRA (IN 1913, R; Dadarsahib Phalke, mythologischer Film, 40 min). 34

STALKER (SU 1979, R; Andrej Tarkovski, Spielfilm, 163 min).

35 Vgl. Ramnath, Nandini: Division Bell. In: Live Mint. 2012-09-09 [Web]. 36 Vgl. Griffin, Peter: Show and Tell: The Films Division’s New Film Club. In: Forbes India Magazin, 2012-07-16 [Web].

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Die Zone wird von dem indischen Filmkritiker Amrit Gangar als Nische für einen seltenen Dialog zu dokumentarischen Experimenten beschrieben. Eine Nische, die gut angenommen wurde: Der Filmreihe in Mumbai folgte innerhalb kurzer Zeit ein Ableger in Kalkutta. Das traditionell aus Künstlern, Intellektuellen und Aktivisten bestehende Dokumentarfilmpublikum erweitert sich um junge Leute.37 Mit diesem wachsenden Kreis verändert sich auch die Wahrnehmung von Dokumentarfilmen im Land.

 Aufführungs- und Vertriebsmöglichkeiten. Wege ins indische Kino-Programm  Die oben geschilderte Vielfalt an Filmfestivals und Filmreihen legt nahe, dass es sehr wohl ein indisches Publikum für Dokumentarfilme gibt. Existiert über diese temporären Filmereignisse hinaus jedoch auch ein Markt für regelmäßige Dokumentarfilm-Aufführungen in Kinos? In den letzten Jahren zeigten sich deutliche Hinweise auf eine Veränderung der Marktsituation für Dokumentarfilme, wenngleich die historischen Probleme für den Verleih nach wie vor bestehen. Eine besondere Herausforderung für die Distribution insbesondere von alternativen Filmen in niedriger Kopienzahl stellen die in Indien gängigen mehr als sechsundzwanzig offiziellen Landessprachen dar. Dialoge sowie Kommentartexte müssen, um landesweit konsumierbar zu sein, übersetzt und die Übersetzung in den Film integriert werden. Die vergleichsweise preiswerte Lösung der Untertitelung funktioniert jedoch für ein ländliches oder weniger medienerfahrenes Publikum schlecht. Für immer noch quer durchs Land existente analphabetische Zuschauer werden diese ohnehin eher „intellektuellen“ Dokumentarfilme durch eine Untertitelung gänzlich unzugänglich. Synchronisierungen in andere Sprachen sind teuer. Nicht umsonst haben englischsprachige Filme – oder Filme, die mithilfe einer einfach zu synchronisierenden Kommentatorstimme erzählen – einen Distributionsvorteil. Viele indische Regisseure, insbesondere von sozialkritischen Filmen, drehen ihre Projekte aus Idealismus heraus und ohne die Unterstützung von Sendern oder Filmförder-Systemen. Die Distribution ihrer Arbeiten stellt für sie häufig eine schwierige Aufgabe dar. Mangels kommerzieller Alternativen, oder auch um ihr Anliegen zielgerichtet zu kommunizieren, entwickeln unabhängige

 37 Vgl. G. Sen: More Than Earnest and Real [Web].

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Filmemacher alternative Vertriebsstrukturen an der Basis. So organisieren sie Vorstellungen für die Betroffenen oder präsentieren ihre Werke in Informationsveranstaltungen von Hilfsorganisationen, in Schulen, Hochschulen und Filmclubs. Gargi Sen befindet diese Reaktion auf die Einschränkungen im Vertrieb als bemerkenswert. Ihr zufolge ist indischer Dokumentarfilm nicht zuletzt deshalb für den Westen interessant, weil er unkonventionelle Strategien verfolgt, sein Publikum zu erreichen. Die mangelhafte Distributions-Infrastruktur befördere andersartige Vertriebsideen, die sich auch auf die dokumentarische Form auswirken.38 Und schließlich mag die Abwesenheit einer dominanten Vertriebsstruktur auch eine Vielfalt an Filmen befördern, die auf kleinen Alternativpodien gezeigt werden. Wer sind diese Filmemacher, die jenseits der Gesetzmäßigkeiten eines Fernseh- oder Kinomarkts Dokumentarfilme produzieren: Amateure, Idealisten, Künstler, Guerrillas? Häufig sind die Filmaktivisten Angehörige der Mittelschicht, deren Arbeit und Einkommen nicht von der – finanziell wenig ertragreichen – Distribution ihrer Filme abhängt. Mit dem Enthusiasmus des ‚Changemakers‘39 produzieren sie allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Filme. Von der Einführung des preiswerten und unaufdringlichen Produktionsmediums Video profitierten die Filmaktivisten ebenso wie Filmkünstler, die persönliche oder experimentelle Erzählformen erprobten und mit kleiner Crew und geringem Budget ihre Projekte umsetzen konnten. Dazu gehört etwa Avijit Mukul Kishores videotagebuchartiger Film SNAPSHOTS FROM A FAMILY ALBUM,40 in dem er seine eigene zwischen drei sich rasant verändernden indischen Metropolen pendelnde Familie portraitiert. In der Interaktion des Filmemachers mit seinen Eltern lassen sich Andeutungen auf seine Homosexualität lesen. Mit offizieller Förderung und großem Budget, welches nach Drehbuch und Produktionssicherheit verlangt, sowie einer vorab genehmigten Anzahl an Drehtagen wäre ein derartiges Projekt kaum realisierbar.

 38 Gespräch mit Gargi Sen in der Magic Lantern Foundation, New Delhi 2011-09-08. 39 Den Begriff verwendete Rada Sesic für ihrem Programm indischer Filme Filmmakers as Changemakers – The Rythm of Indias auf dem Internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig 2011. 40 SNAPSHOTS FROM A FAMILY ALBUM (IN 2004, R: Avijit Mukul Kishore, Dokumentarfilm, 63 min).

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Gargi Sen betont, dass aufgrund informeller Finanzierungsstrukturen durch Hilfsorganisationen oder auch Spenden unabhängig davon, ob ein Sender oder Verleiher bereits dessen Veröffentlichung zugesagt hat, Filme entstehen können: „A filmmaker who is a producer first will continue to produce even if their films are not being distributed. All they need is sponsorship, from a TV channel or from a donor.“41 Die Vertriebswege, die solche Filme anschließend gehen, sind mannigfaltig. Filmemacher bringen ihre Filme selbst vor Ort, oder überlassen diese Arbeit Hilfsorganisationen oder Gewerkschaften, die ihre Interessen vertreten. Sen wünscht sich eine Bündelung solcher Ideen, um die Wahrnehmung des Dokumentarfilm in Indien voranzuteiben: A distribution network has not evolved in India primarily because filmmakers who are making issue based films are yet to develop a political and ideological consensus. Till such time that a common concern develops, a distribution channel will not evolve.

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An der Veränderung dieser Situation arbeitet Sen mit ihrer Magic Lantern Foundation. Ihr Ziel ist es, indischen Dokumentarfilm auch zu einem Geschäft zu machen, um ihm damit zugleich ein professionelles Präsentationsumfeld zu entwickeln. Es lässt sich die Frage aufwerfen, ob die von vielen Filmemachern und Kultur-Netzwerkern wie Sen herbeigewünschte Kino-Auswertung von Dokumentarfilmen nicht einer westlichen Idealvorstellung entspringt, die sich nicht unbedingt auf Indien übertragen lässt. Kinogänger und DokumentarfilmPublikum scheinen in Indien bislang getrennte Gruppen zu sein. Der aufgeschlossene und Diskussions-offene Dokumentarfilm-Zuschauer erwartet gegenwärtig kaum Vorstellungen im Kino, nach denen er Ausschau halten sollte. Der klassische Kinogänger wiederum ist an andere Mechanismen der FilmAnkündigung gewöhnt, die seine Aufmerksamkeit auf einen Streifen lenken und ihn an die Kinokasse locken. Solch umfangreiche Kampagnen mit Plakaten, Kinovorschauen und so weiter stellen wiederum für die neu in den Kinomarkt einsteigenden Dokumentarfilm-Verleiher große finanzielle Hürden dar.

 41 Sen, Gargi / Ghosh, Sujit / De, Ranjan: Who Needs Distribution? Some Questions, Problems and Concerns. In: Alternative Media Times. Band 1, Ausgabe 1, Delhi, Dezember 1999, S. 13. 42 Ebd., S. 14.

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Dies betont die Regisseurin von WHEN HARI GOT MARRIED43, Ritu Sarin. Ihr Film gehört zu den wenigen, die bislang offiziell in indischen Kinos angelaufen sind. [...] the biggest problem for indie filmmakers in releasing films theatrically is that without a substantial marketing and publicity budget, it is very difficult to get audiences to come to the theatres, and since most of us are working on shoestring budgets, we don’t have the money to do this effectively.

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Verkompliziert wird die Kinoauswertung durch die Tatsache, dass in Indien keine Arthouse-Kinos nach europäischem Modell existieren. Solche alternativen oder kommunalen Kinos sind im Westen jedoch die traditionellen Aufführungsorte für Kinodokumentarfilme. Indien verfügt zwar über mannigfaltige Ausprägungen des Kinos von Wanderkinos über traditionelle Lichtspielhäuser mit nur einem großen Kinosaal, die selbstverständlich Bollywood oder regionales Spielfilmkino zeigen, bis hin zu einer stetig steigenden Zahl Multiplexkinos in den indischen Großstädten. Für all diese Orte sind Dokumentarfilme jedoch ungewöhnlich. Zwar mussten in Indien per Regierungsbeschluss seit der Staatengründung 1947 in sämtlichen Kinos edukative Dokumentarfilme aus staatlicher Films-Division-Produktion gezeigt werden. In Abwesenheit von ArthouseKinos ist jedoch der Kinoverleih von Dokumentarfilmen außerhalb dieses institutionellen Rahmens unüblich. Diese Werke, die sich häufig auf gesellschaftliche Probleme beziehen, laden kaum zur träumerischen Flucht vor der Realität in den Kinosaal ein und entsprechen den indischen Ansprüchen an KinoUnterhaltung somit selten. Die Filmkritikerin Nandini Ramnath entwickelt diesen Gedanken weiter zu Betrachtungen der Wirtschaftlichkeit solcher Aufführungen: „Theatrical distribution remains by and large elusive for documentaries,

 43 WHEN HARI GOT MARRIED (IN 2012, R: Ritu Sarin / Tenzing Sonam, Dokumentarfilm, 75 min). 44 Ritu Sarin zitiert nach: Dutta, Nandita: Difficult to Get Audiences in Theatres Without Substantial Marketing & Publicity Budget: Ritu Sarin, Co-Director, When Hari Got Married. In: Dear Cinema Magazine 2013-08-20 [Web].

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due to a perception that they are too serious-minded or politically tilted to be viewer-friendly and, ultimately, lucrative.“45 Bereits die aufklärenden Kurzdokumentationen der Films Division waren bei den Kinobetreibern wenig beliebt, da sie keine zusätzlichen Einnahmen mit sich brachten. Diese Erfahrung mag mit zu der Skepsis beitragen, die sie der kommerziellen Vermarktung von Dokumentarfilmen entgegenbringen. Der Altmeister des indischen Dokumentarfilms Sanjay Kak mahnt umgekehrt seine Kollegen, keine zu hohen Erwartungen an Kinovermarktung oder Fernsehausstrahlungen zu knüpfen. Damit bricht er eine Lanze für die Freiheit des „nicht kanonisierten“ und schwer vermarktbaren Dokumentarfilms: By constantly knocking the doors of Doordarshan, you are falling into the demands of their narrow imperatives. Then you are not going to make independent films. You are going to make films that they can show.

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Kak selbst ist regelmäßig auf Filmfestivals vertreten und konnte durch Aufträge des PSBT als auch mit internationalen Film-Finanzierungen außergewöhnliche dokumentarische Arbeiten realisieren. Er plädiert für alternative Präsentationsformen und das Erkunden von Aufführungs-Nischen, statt VierundzwanzigStunden-Dokumentarfilmkanäle zu fordern, die für das indische Publikum ungewohnt und wirtschaftlich riskant seien. Wo indische Dokumentarfilme noch um ihren Programmplatz in den heimischen Kinos kämpfen, assistieren, ganz im Sinne des internationalen Bilderflusses, ausländische Dokumentarfilm-Produktionen. Die indische Verleih-Firma Sophodok und die gemeinnützige Indian Documentary Foundation haben es sich zur Aufgabe gemacht, internationale Dokumentarfilme in den regulären, indienweiten Kino-Verleih und auf den indischen DVD-Markt zu bringen und damit die Aufmerksamkeit für Dokumentarfilm zu schüren und das Publikum für solche Filme zu mehren. Parallel versucht die Indian Documentary Foundation, mit Workshops und Stipendien indische Projekte zu unterstützen. Solche Lobbyarbeit als auch ein wachsendes Interesse an Dokumentarfilmen, dass sich aus der Dynamik an jedem Ort der Welt abrufbarer internationa-

 45 Ramnath, Nandini: The Rat Race: Documentaries in the Multiplex. In: Time Out Magazine Mumbai, 2012-04-13 [Web]. 46 Sanjay Kak: Interview in: Sen, Gargi et al. 2000, S. 19.

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ler Dokumentarfilme im Netz entwickelt, zeigten bereits Wirkung: Miriam Chandy Menacherrys THE RAT RACE 47 war 2012 nach Anand Patwardhans WAR AND PEACE48 und Madhusree Duttas SEVEN ISLANDS AND A METRO49 der dritte Lang-Dokumentarfilm, der in den indischen Kinos gezeigt wurde. A RAT RACE begleitet die Angestellten einer Seuchenschutzbehörde in Mumbai auf ihren nächtlichen Exkursionen durch die schlafende Megacity, in der Mission, das Rattenproblem in den Griff zu bekommen. Nicht mit Rattengift operieren Menacherrys Film zufolge die jungen Männer, die sich mit dem ungewöhnlichen Job ihre Studiengebühren verdienen oder sich für die Festanstellung in der Staatsbehörde qualifizieren. Vielmehr ziehen sie mit Fallen und Holzstöcken in die Nacht und kehren morgens mit prall gefüllten Säcken zum Büro zurück. Bezahlt wird nach Erfolg: Bevor die Kadaver entsorgt werden, wird die Beute gezählt. Auf komische Weise zeigt der Film die Männer auf der Jagd nach den Epidemien verbreitenden Nagern und einem besseren Leben in der Großstadt. Das Filmthema mag zunächst zu Reaktionen des Ekels führen – auch die Regisseurin bekannte sich im Interview dazu, sich zunächst vor Ratten gefürchtet zu haben.50 Tatsächlich werden im Schein der Taschenlampen so manche Rattenkadaver in die Kamera gehalten. Das macht den Film nicht vordergründig zu einem Publikumsliebling. Die zupackenden und humorvollen Charaktere machen diesen Mangel jedoch mehr als wett, bei ihren nächtlichen Patrouillen ebenso wie beim Kricketspiel der Müllgesellschaft. Die packende dramatische Struktur hilft dem Zuschauer, sich für die normalerweise im Stadtbild unsichtbaren, seltsamen Helden zu erwärmen und an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen. Prakhar Joshi, der für das „Director’s Rare“-Fenster von Indiens größter Multiplex-Kinokette PVR das Wagnis einging, den Dokumentarfilm zu distributieren, glaubt an diese Kraft des Humors: „There is a certain kind of audience that we want to tap – corporate employees, educated folks. The documentary

 47 THE RAT RACE (IN 2012, R: Miriam Chandy Menacherry, Dokumentarfilm, 52 min). 48 WAR AND PEACE (IN 2003, R: Anand Patwardhan, Dokumentarfilm, 135 min) Der Film wurde mit dem 51. Indischen National Award für Non-Feature Film ausgezeichnet. 49 7 ISLANDS AND A METRO (IN 2006, R: Madhusree Dutta, Dokumentarfilm, 100 min). 50 Vgl. N. Ramnath: The Rat Race: Documentaries in the Multiplex [Web].

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has humor, which always works. Serious documentaries bore people. This film seemed ideal.“51 Auch THE RAT RACE entstand ohne Kinodistributionspläne in Indien, zunächst selbstfinanziert und schließlich mit der Unterstützung des niederländischen Jan-Vrijman-Funds und Cannes-Koproduktion.52 Der Film wurde äußerst erfolgreich auf internationalen Festivals gezeigt und mehrfach auf dem deutschfranzösischen Kulturkanal ARTE ausgestrahlt – Erfolge, die indischen Distributoren die Angst vor dem Schritt ins Kino ein Stück weit genommen haben mögen. Auf THE RAT RACE folgte Ritu Sarins und Tenzing Sonams WHEN HARI GOT MARRIED in die Kinos von Delhi, Mumbai, Poona und Bangalore. Der Film zeichnet sich durch ähnlich humorvolle Qualitäten aus und behandelt ein Thema, welches das indische Bollywood-Publikum anhaltend beschäftigt: die Eheschließung. Die Filmemacher begleiten den nordindischen Taxifahrer Hari bei den Vorbereitungen für seine arrangierte Ehe. Angesichts der Großfamilienpolitik überraschend ist Haris romantischer Enthusiasmus, mit dem er seine Braut über das Handy kennenzulernen versucht und die Hochzeit so perfekt wie möglich plant. Gemeinsam mit Hari sieht auch das Publikum die schüchterne Braut erst zum Ende des Films bei der schließlich stattfindenden Hochzeitszeremonie. Auch dieser Kinoauswertung gingen eine ITVS-Koproduktion, internationale Festivalerfolge und ARTE-Ausstrahlungen voraus. THE CELLULOID MAN53 ist ein weiteres aktuelles Beispiel für einen Dokumentarfilm, der erfolgreich in den indischen Multiplex-Kinos gezeigt wurde. Der Film portraitiert den Gründer des National Film Archive of India in Poona, P.K. Nair, in Gesprächen und Filmausschnitten, die in Kinosälen und an den Filmsichtungs-Tischen des Archivs abgefilmt sind. Der Film ist eher nachdenklich als humorvoll, lässt aber viele Momente der indischen Filmgeschichte wieder auf der Leinwand flimmern und geht Nairs Bemühungen um die Konservierung dieses indischen Filmerbes nach. Nach einer Reise durch internationale Festivals schließlich wurde er 2013 im Jubiläumsjahr „Hundred Years of Indian Cinema“ in der Reihe PVR Directors Rare veröffentlicht.

 51 Ebd. 52 Dutta, Nandita: Finishing the Rat Race. In: Dear Cinema. 2012-04-07 [Web]. 53 CELLULOID MAN (IN 2012. R: Shivendra Singh Dungarpur) wurde in PVR veröffentlicht.

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Trotzdem die geschilderten Beispiele bislang noch Ausnahmen in der indischen Dokumentarfilm-Landschaft darstellen, so sind sie doch als Manifestation einer wachsenden Akzeptanz non-fiktioner Filme zu lesen. Auch der DVD-Verkauf von Dokumentarfilmen entwickelt sich zu einem Geschäftsfeld. Eine wesentliche Protagonistin in diesem Bereich ist wiederum Gargi Sen, die mit „Magic Lantern Movies“ den ersten Verleih für ausschließlich indische Dokumentarfilme betreibt und aus diesem Archiv auch Programme kuratiert. Die Aktivitäten von Magic Lantern stehen auch mit dem von Sen initiierten Persistance-Resistance-Festival in Zusammenhang. „When I started it, people laughed at me“, erinnert sich Gargi Sen. „They said no one will buy documentaries in this country. We knew we couldn’t create a system of distribution like commercial cinema does, we couldn’t provide theatrical releases. But we had to come up with a model of distribution, because no one else was doing it.“54 Magic Lantern Movies startete den Vertrieb von DVDs und VCDs als preiswertere Alternative mit einem Direktverkauf über ihre Website, welche ausführliche Informationen zu Filmemachern und Filmen bietet. ‚On Demand‘ brennen sie aus ihrem digitalen Film-Archiv die angeforderten Kopien und vermeiden damit auch Lagerkosten und das Risiko, einzelne Filme nicht oder nur schlecht zu verkaufen zu verkaufen. Die Rechte für den indischen Markt werden nicht angekauft, vielmehr wird nach Verkaufszahlen abgerechnet. 65 Prozent der Einnahmen gehen an die Filmemacher.55 Man kann feststellen, dass indische Filmemacher und Verleiher mannigfaltige Strategien verfolgen, im eigenen Land Zuschauer zu erreichen. Sanjay Kak beantwortete die Frage nach einem indischen Publikum für Dokumentarfilm positiv: There is a large audience who like turning periodically to viewing documentaries – initially perhaps in the form of a festival, or even regular screenings. I haven’t been to a single documentary screening in Delhi in the last years […], which is not packed. And it is not friends and relatives, it is people who read the newspapers and land up. So, it’s our

 54 Sen, Gargi. Zitiert nach: Dutta, Nandita: Distributing Documentaries: A Reality Check. In: Dear Cinema Magazin 2011-06-22. [Web]. 55 Vgl. http://magiclanternfoundation.org/ Zugriff 2014-02-10.

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responsibility to create an audience for our work and that audience will in turn make the space for us wherever, on broadcasts or in screenings.

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Für ihn steht außer Frage, dass die Zahl der Dokumentarfilm-Zuschauer beständig wächst. Filmemacher, Produzenten und Verleiher sollten dieses Interesse nach Kräften weiter unterstützen und nach neuen Formen suchen, die Filme zu zeigen – im Kino und außerhalb.

D IE R OLLE

DER Z ENSUR  Historisch gesehen war der Dokumentarfilm über lange Jahre das Monopol der Films Division of the Government of India, welche die Arbeiten beauftragte, finanzierte, produzierte und distributierte. Ein solch umfassendes System ermöglichte per se eine gezielte Förderung von staatsrelevanten Filmthemen und ein hohes Maß an Kontrolle über die Dokumentarfilme, die schließlich in die indischen Kinos gelangten. Auch über diese engen institutionellen Produktionszirkel hinaus ist staatliche Kontrolle ein wichtiger Faktor, der die Arbeit von freien Dokumentarfilmern bis heute prägt. Der Jurist Ross Carbone weist darauf hin, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung in der indischen Verfassung lediglich als „qualified right of speech“, verankert ist. Es kann folglich Einschränkungen unterliegen, wenn diese Äußerung respektive der Film die demokratischen Gesellschaftsordnung und die nationale Sicherheit gefährdet. Diese Praxis reicht zurück bis in die 1920er Jahre, als Filme auf Kritik gegenüber dem kolonialen Staatssystem untersucht und von der britischen Verwaltung kontrolliert wurden.57 Der indischen Cinematograph Act von 1952 setzt diese Idee der Kontrolle fort:

 56 Sanjay Kak: Interview in: Sen, Gargi / Ghosh, Sujit / De, Ranjan: Interview with Sanjay Kak. In: Alternative Media Times. Delhi, April 2000, S. 19. 57 Entsprechend dem ersten Cinematograph Act, der 1918 von der Kolonialregierung durchgesetzt wurde.

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[...] the scope of film censorship is not limited to intervention over moral and sexual issues in cinema. Film censorship world over operates in three major areas, viz, sex, violence and politics. And India is no exception in this regard.

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Umgesetzt wird die Kontrolle durch Zertifikate des Central Board of Film Certification, die alle in indischen Kinos oder Fernsehkanälen aufgeführten Filme im Vorspann zeigen müssen. Das Central Board of Film Certification ist verantwortlich für die Sichtung, Bewertung und Zertifizierung der Filme und damit die Zulassung zur Aufführung in Indien: A film shall not be certified for public exhibition if, in the opinion of the authority competent to grant the certificate, the film or any part of it is against the interests of . . . the security of the State, friendly relations with foreign States, public order, decency or morality, or involves defamation or contempt of court or is likely to incite the commission 59

of any offense.

Die vom Censor Board vergebenen Zertifikate entsprechen der US amerikanischen Praxis des Ratings. Die vier möglichen Zertifikate des Censor Boards legen die Auswertung für einen unbeschränkten Personenkreis oder eine Beschränkung auf Volljährige, die Betrachtung unter elterlicher Aufsicht oder die ausschließliche Sichtung durch ein Expertenpublikum fest.60 Die Zensurbehörde kann auch Schnitte im existierenden Material fordern oder im Extremfall die Vergabe eines Zertifikats ganz verweigern. Filme, die außerhalb des staatlichen Films-Divisions-Systems produziert wurden, habe es oft schwerer, ein Zertifikat zu erhalten. Dazu gehören insbesondere sozialkritische Filme wie die ‚Independent Documentaries‘, die seit den 1970er Jahren in Indien realisiert werden.

 58 Bhowmik, Someswar: Politics of Film Censorship: Limits of Tolerance. In: Economic & Political Weekly. Band 37, Nr. 35 (August 31 - September 6, 2002), S. 3574. Wie aus den Zensurkriterien ersichtlich, betrifft die Zensur ebenso fiktionale Filme mit zu expliziten Sex- oder Gewalt-Darstellungen. 59 The Cinematograph Act, No. 37 of 1952, India Code (1952). Zitiert nach: Carbone, Ross: Streets of Fire: Shiv Sena and Film Censorship in Contemporary India. Ruttgers Journal of Law and Religion, Band 13 / 2012, S. 461. 60 Vgl. Carbone, Ross: Streets of Fire. Shiv Sena snd Film Censorship in Contemporary India. Camden, Ruttgers Journal of Law and Religion Band 13, 2012, S. 464.

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Das Filmemacher- und Filmtheoretiker-Paar Anjali Monteiro und K.P. Jayasankar kritisiert die monopolistische institutionelle Struktur, innerhalb derer die Zertifizierungs-Entscheidungen getroffen werden. Sie werfen die Frage auf, welche Interessen die Kommissionsmitglieder vertreten: The Power in the CBFC [Censor Board] is concentrated in the hands of a small group of politically motivated bureaucrats. A single chairman runs the CBFC with the help of between twelve and thirty-five advisors, all of which are appointed by the State. These officials serve two-year terms and are never held accountable to the electorate. As a result, the CBFC staff is more loyal to the government officials who appoint them than they are 61

to the Indian people.

 Eine besondere Rolle in der Geschichte der Zensur von Dokumentarfilmen  kommt Rakesh Sharmas vierteiliger Dokumentarfilm FINAL SOLUTION bei. Der Filmzyklus setzt sich mit einer langen Kette blutiger Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen im indischen Bundesstaat Gujarat auseinander, die ihren Ursprung im Niederreißen der vierhundertfünfzig Jahre alten ElBabri-Moschee in Ayodhya durch einen Mob fundamentalistischer Hindus in der Nacht des 6. Dezember 1992 fand. Diese rechtfertigten ihre Aktion damit, dass am selben Platz ursprünglich ein Tempel den Geburtsort des hinduistischen Gottes Rama markiert habe. Mit dem Abbruch beanspruchten sie den heiligen Ort für einen hinduistischen Tempelbau zurück. Im Jahr 2002 setzten Muslime in einem Vergeltungsakt einen Zug aus Ayodhya heimkehrender hinduistische Aktivisten im Bahnhof von Ghodra in Brand. Blutige Unruhen zwischen Hindus und Muslimen in den Dörfern und Städten von Gujarat folgten. Sharmas Film verbindet in seiner Montage eindringliche Interviews von hinduistischen und muslimischen Zeitzeugen – Kindern, Frauen und Alten, die sich unversöhnlich und voll Schauer an die Übergriffe erinnern – mit der Politik der Hindu-nationalen Partei BJP. Der Film legt den Schluß nahe, dass die BJP zusammen mit dem damals amtierenden Ministerpräsidenten von Gujarat, Narendra Modi, die anti-muslimische Stimmung für ihre Wahlkampagnen nutzten. Rakesh Sharmas Film wurde auf über achtzig internationalen Filmfestivals ge-

 61 Monteiro & Jayasankar, zitiert nach: R. Carbone: Streets of Fire, S. 474. 62 FINAL SOLUTION (IN 2003, R: Rakesh Sharma, Dokumentarfilm, 218 min).

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zeigt und erhielt siebzehn Preise, 63 jedoch kein Filmzertifikat. Das Censor Boards verweigerte vielmehr die für die Auswertung notwendig Einstufung, ohne auch nur Änderungen im Filmschnitt anzumahnen.64 Statt seine versöhnliche Botschaft zu verstehen, befürchtete das Board, der Film könne die Disharmonie zwischen hinduistischen und muslimischen Gruppen vertiefen und weitere Zusammenstöße zwisc den Parteien herausfordern. 65 In der Begründung des CBFC heißt es: [FINAL SOLUTION] attacks the basic concept of our Republic i.e. National Integrity and Unity. Certain dialogues involve defamation of individuals or body of individuals. Entire picturisation is highly provocative and may trigger off unrest and communal violence. State security is jeopardized and public order is endangered if this film is shown.

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Damit durfte FINAL SOLUTION nicht im indischen Fernsehen ausgestrahlt werden67 und wurde 2004 auch vom prestigeträchtigen Mumbai International Film Festival ausgeschlossen.68 In den darauffolgenden Jahren wurden das MIFF und andere eigentlich unabhängige Festivals dafür kritisiert, keine innenpolitisch kontroversen Dokumentarfilme in ihr Programm aufzunehmen, um Konflikte mit dem Censor Board zu vermeiden. Dies kann angesichts der subjektivkünstlerischen Programmgestaltung auf Filmfestivals nur den Charakter des Verdachts annehmen. Die Filmwissenschaftlerin Swathi Bandi stützt sich auf die statistische Auswertung mehrerer Festival-Jahre und ihrer thematischen

 63 Vgl. Fischer, John: Oppression2. Indian Independent Political Documentaries and the Ongoing Struggle for Viewership. In: The Columbia Undergraduate Journal of South Asian Studies. Band 1, Nr. 1. 2009, S.46. 64 Vgl. Swathi Bandi: Zitiert nach: J. Fischer: Oppression2, S. 50. 65 Vgl. Sharma, Kalpana: Censor Board Bans ‚Final Solutionµ . In: The Hindu, 200408-06 [Web]. 66 K. Sharma, Kalpana: Censor Board Bans ‚Final Solutionµ [Web]. 67 Der Film lief jedoch erfolgreich auf mehreren internationalen wie BBC, NHK, DR2, YLE. 68 Im Jahr 2004 hatte das Central Board for Film Certification durchgesetzt, dass alle indischen Beiträge des Mumbai International Film Festival, im Gegensatz zu den internationalen Wettbewerbsbeiträgen, ein Censor Certificate benötigen / Vgl. J. Fischer: Oppression2, S. 50.

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Ausrichtung, wenn sie postuliert: „[The Mumbai International Film Festival] is notorious for consistently rejecting films that are anti-establishment and actively critical of state policies.“69 In Reaktion auf diese Zensurmaßnahmen formte sich in Mumbai die Initiative ‚Vikalp Films For Freedom‘, ein Zusammenschluss von 275 Filmemachern, die gegen diese staatliche Regulierung protestierten. In einer parallel zum MIFF stattfindenden dreitägigen Veranstaltung zeigten sie nicht-zertifizierte Filme – in brechend vollen Sälen. „We did not ask anyone to boycott MIFF, nor are we against the government festival. We just wanted people to see the rejected films and come to their own conclusions“,70 erinnert sich die Dokumentarfilmerin Anjali Monteiro. Ihr zufolge sollte die neue Initiative den unabhängigen Filmemachern Raum geben, mit ihren Arbeiten kritische Perspektiven einzunehmen. Rakesh Sharma ist seit Beginn der Initiative ein aktives VIKALP-Mitglied. Um sicherzustellen, dass seine regierungskritische und zur Versöhnung zwischen den Religionen aufrufende Dokumentation FINAL SOLUTION von möglichst vielen Hindus und Muslimen in Indien gesehen wird, initiierte Sharma eine „Pirate and Circulate“Kampagne, die mit dem Angebot des Regisseurs einherging, eine DVD seines Filmes kostenlos denjenigen zur Verügng zu stellen, die davon mindestens fünf Kopien herstellten und diese weiterzirkulierten. Auf diese unkonventionelle Weise umging Sharma die Entscheidung des Certification Board und wandte sich direkt an sein Publikum. Bis Ende 2004 verteilte Sharma auf diese Weise über zehntausend DVDS in ganz Indien.71 In einer Unterschriftskampagne forderten mehrere tausend Aktivisten die indische Regierung auf, das Verbot von FINAL SOLUTION aufzuheben: The right to freedom of expression and the right to information are central to any healthy and vibrant democracy. Final Solution is itself a strong plea against the politics of intol-

 69 Bandi, Swathi: Films from the Margins Women, Desire and the Documentary Film in India. Ann Arbour, ProQuest, 2008 S. 18-19. 70 Anjali Monteiro, zitiert nach: Ramnarayan, Gowri: Positive Protest. In: The Hindu 2004-02-22 [Web]. 71 Vgl. Sharma, Rakesh: Directors Statement. http://rakeshfilm.com/finalsolution.htm Zugriff 2013-12-03.

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erance and hate and we are perturbed to find it become a victim of political intolerance…

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Nach mehreren Monaten des Protests machte das Censor Board das Verbot von FINAL SOLUTION schließlich rückgängig. In ähnlicher Weise sah sich die Regisseurin Shabnam Virmani für ihre Dokumentarfilmreihe um den mystischen Dichter Kabir mit widersprüchlichen Reaktionen konfrontiert. Wie Rakesh Sharma gelang es ihr, das Verbot des Censorboards schließlich aufzuheben: KABIRA KHADA BAZAAR MEIN73 gewann 2011 einen National Award, nachdem ihm kurz zuvor noch das Censor BoardZertifikat verweigert wurde mit der Begründung es würde die religiösen Gefühle der Kabir Panth-Sekte verletzen, die in dem Film eine wesentliche Rolle spielen.74 Der kastenlose rajastanische Folk-Sänger Prahlad Tipanya, Hauptprotagonist des Films, war Anhänger der Sekte und interpretierte entgegen der orthodoxen Praxis seiner Religionsgemeinschaft Kabirs Lehren in seiner Musik ausgesprochen offen. Die Regisseurin war einer anonymen SMS-Kampagne ausgesetzt, die sie unter Druck setzte, den Film vom National Board for Film Certification zurückzuziehen und dementsprechend alle offiziellen Distributionspläne für den Film aufzugeben.75 Ihr Film war gleichzeitig mit Zensurmaßnahmen des Staates sowie radikaler Anhänger der Kabir Panth-Sekte konfrontiert. Und ein weiterer Film der Kabir-Reihe, HAD ANHAD. JOURNEYS WITH RAM AND KABIR sah sich der Kritik und dem Druck verschiedener Staatsorgane ausgesetzt. Zur kritischen Rezeption mögen wohl die einführenden Aufnahmen von Marktständen an der von Hindu-Fundamentalisten niedergerissenen ElBabri-Moschee von Ayodhya beigetragen haben.76 Der Film zeigt Händler, die

 72 Petition gegen das Verbot von FINAL SOLUTION. Zitiert nach: http://rakeshfilm.com/ downloads/FSpressblurbs.pdf Zugriff 2013-12-05. 73 KABIRA KHADA BAZAAR MEIN / JOURNEYS WITH SACRED AND SECULAR KABIR (IN 2008, R: SHABNAM Virmani, Dokumentarfilm, 93:49 min) 74 Vgl. Ganesh, Deepa: Margins Are Great Places to Be In. In: The Hindu, 2011-06-08 [Web]. 75 Vgl. Email von Shabnam Virmani 2012-01-06. 76 Am 6. Dezember 1992 riss ein Mob fundamentalistischer Hindus mit Spitzhacken und bloßen Händen über Nacht die 450 Jahre alte El-Babri- Moschee in Ayodhya nieder, mit der Begründung, am selben Platz habe ursprüngliche ein Tempel für den

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Videoaufnahmen der Moschee-Demolierung als Souvenirs verkaufen und stellt die Frage nach einer möglichen Versöhnung, um anschließend, auf der Suche nach heutigen Spuren des Gottes Rama, Musik-Sessions und Gespräche mit den indischen Kabir-Interpreten Prahlad Tipanya und Muktiyar Ali zu zeigen. Die Dokumentation gipfelt in einem Besuch der Filmemacherin mit Prahlad Tipanya und seinen Musikern bei dem pakistanischen Sänger Farid Ayaz. Im Sinne der eingangs geforderten Versöhnung musizieren die beiden Ensembles gemeinsam. HAD ANHAD ist der politischste unter den Kabir-Filmen, der die Aufmerksamkeit der Zensurbehörde in besonderem Maße hervorrief. Shabnam Virmani legte gegen die Entscheidung des Censor Boards Einspruch ein. Ihr Film wurde schließlich in einem historischem Präzedenz-Urteil des ausgesprochen liberalen Richter Muralidhar vor dem indischen High Court als ungefährlich eingestuft.77 Dass Erfolge wie die Rakesh Sharmas oder Shabnam Virmanis bei der gerichtlichen Anerkennung ihrer Dokumentarfilme zwar Zeichen setzen, aber noch längst nicht den Beginn einer liberaleren Handhabung der Zertifikatvergabe oder streitlustigerer Filmemacher signalisieren, argumentiert John Fischer: The legal process to have a ban overturned can take many years. Waging these battles requires an investment of time and money that is unfeasible for many IPD [Independent documentary] filmmakers.

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Nur einer zahlenmäßig geringen Elite von Filmemachern ist es überhaupt möglich, den Beschluss des Censorboards anzufechten. Auch die politische Brisanz ihrer Filme mag im langen Warten auf ein Urteil verloren gehen. Filmzensur in Indien ist ein komplexes Thema, an dem sich auch gesellschaftliche Prozesse ablesen lassen. Zensiert werden vorrangig Filme von politischer Brisanz oder Filme, die Nacktheit oder Gewalt zeigen. Letzteres ist im Dokumentarfilm weniger bestimmend. Von Zensurmaßnahmen der ersten Ka-

 hinduistischen Gottes Rama gestanden. Mit der Aktion beanspruchten sie den heiligen Ort für einen Hinduistischen Tempelbau zurück. Das gewaltsame Ereignis wurde zum Beginn blutiger Auseinandersetzungen zwischen hinduistischen und muslimischen Nachbarn in Ayodhya und ganz Indien. 77 Vgl. Email von Shabnam Virmani, 2012-01-06. 78 J. Fischer, John. Oppression2, S. 51.

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tegorie besonders stark betroffen sind unabhängige aktivistische Dokumentarfilme. Aber auch künstlerisch ausgerichtete Dokumentarfilme tragen politische Botschaften oder werfen einen kritischen Blick auf aktuelle soziopolitische Ereignisse, wie etwa Avijit Mukul Kishores in strengen Tableaux komponierter Architektur-Film VERTICAL CITY79 über Slum-Umsiedelungsprojekte in Mumbai, Amar Kanwars dokumentarische Installationen oder Filme, oder auch Shabnam Virmanis Musikdokumentationen belegen. Im Gegensatz zum Spielfilm sind im Dokumentarfilm jedoch die Vorgaben der Zensur kaum ausschlaggebend für eine eigene gestalterische Reaktion. Indische Spielfilmproduktionen geraten häufig in Schwierigkeiten mit dem Censor Board. So führte das staatliche Verbot von Bollywood-Küssen zu den bekannten alternativen Bildlösungen wie sich einander zuneigende Blumen, schnäbelnden Vögeln und Tänzen vor Alpenkulissen, um im Film alles bis auf eben jenen erzählten Kuss zu zeigen. Der in Bangalore lebende Anwalt und Filmtheoretiker Lawrence Liang bezeichnet die indische Filmzensur als Mutter aller filmischen Liebes-Metaphern.80 Die unter dem Druck der Zensur entstehenden Behelfsbilder fügen sich zu einer eigenständigen und lokal verwurzelten Filmsprache zusammen. Im Dokumentarfilm richtet sich die Zensur nicht gegen Bildmotive, sondern kommunizierte Inhalte: Szenen, Einstellungen, Kommentartexte von politischer Brisanz. Darum kann ihr weniger mit der Erfindung einer neuern Bildsprache begegnet werden. Wohl aber führte die Auseinandersetzung mit den Zensurbehörden zu einer Reaktion – in Form von Überlegungen zu alternativen Distributionswegen innerhalb Indiens, die sich der staatlichen Aufsicht und Kontrolle entziehen. Diese Initiativen wiederum befördern die Verbreitung, Akzeptanz und das Verständnis von Dokumentarfilm in Indien. Sie führen zu einem tieferen Dialog unter den Filmemachern, sowie zwischen Filmemachern und Publikum.

  79 VERTICAL CITY (IN 2011, R: Avijit Mukul Kishore, Dokumentarfilm, 34 min). 80 Liang, Lawrence: Cut and Thrust. In: Frontline. Indias National Magazine. 100 Years of Indian Cinema. Band 30, Nr. 20. 2013-10-18, S.134.

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F ILMGESCHICHTLICHE E INORDNUNG Die in diesem Text dargestellten aktuellen Tendenzen der dokumentarischen Filmform in Indien sollen sowohl im Kontext des internationalen Dokumentarfilmdiskurses als auch vor dem Hintergrund der Produktions- und Rezeptionssituation in Indien betrachtet werden. Hier wird sich ein Leitmotiv ergeben, dass ich ‚offene Erzählung‘ nenne. Bereits in die filmhistorischen Betrachtungen wird die Frage nach offenen Erzählstrukturen und offener Bildlichkeit des indischen Dokumentarfilms mit eingeflochten werden. Im Anschluss an eine Begriffsklärung im Teil Zwei „Offenes Erzählen im Dokumentarfilm“ folgen vier ausführliche Analysen von Filmen, die mit dieser Erzählform arbeiten. Der Versuch einer zusammenfassenden Wiedergabe der indischen Dokumentarfilmgeschichte sieht sich dabei mit mehreren Problemen konfrontiert: Es fällt auf, dass mit der Rekonstruktion der indischen Filmgeschichte der Kolonialzeit ebenso wie nach der indischen Unabhängigkeit, auch die Konstruktion von (Landes-)Geschichte verbunden ist. Dokumentarfilm betreibt per se auch Geschichtsschreibung, wie Filme über die britischen Krönungszeremonien in Indien oder die Unabhängigkeitszeremonie belegen. Dokumentarfilm wird als geschichtliche Quelle genutzt, die analysiert, welche Personen und Orte abgebildet sind, für welche politischen und kulturellen Ereignisse der Aufwand einer filmischen Dokumentation betrieben wurde. Filmgeschichtsschreibung nun, als Aufzeichnung der Historie dieser Dokumente, ist kein neutrales Unternehmen, vielmehr verfügt sie auch über eine politische Dimension. Mit der historischen Konstruktion werden Aussagen gemacht, die sich auch auf das gegenwärtige Staatsystem beziehungsweise die gegenwärtigen FilmInstitutionen beziehen. Mit der (Re-) Konstruktion von Filmgeschichte wird zugleich auch gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert. Walther Benjamin fasst Geschichtsschreibung als dialektisches Bild auf. Er versucht damit, die Idee von Geschichte als einem homogenen und leeren Zeitkontinuum aufzubrechen, und betrachtet die Vergangenheit als unabgeschlossen, weil sie immer wieder neu beschrieben und damit neu ausgelegt wird. Die Möglichkeit einer unwiderlegbar geltenden Universalgeschichte schließt Benjamin aus.

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Geschichtsforschung ist nichts anderes als die andauernde Befragung der Vergangenheit im Namen der Probleme und der Wissbegier der Gegenwart – auch des Beunruhigenden und Beängstigenden der Zeit, in der wir uns bewegen und von der wir belagert werden.

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 So schließt Ferdinand Braudel an diese Überlegung an. Geschichtsschreibung könne folglich nicht Selbstzweck sein, sondern ist immer von Interessen gesteuert – Interessen, die zum Zeitpunkt des Niederschreibens des Geschichtstextes relevant sind. Darin seien bestimmte Ziele, aber auch „unerfüllte Hoffnungen der Vergangenheit“ enthalten. Unter dieser Annahme drängt sich natürlich die Frage auf, wie anders und mit welcher Motivation heute in Indien auf die (filmpolitische) Vergangenheit geschaut wird, deren Geschichtsschreibung so einheitlich vollzogen wird, und welche alternativen Deutungen das Studium der Filmdokumente zulassen würde. Insbesondere die frühe indische Dokumentarfilmgeschichte und die Geschichte des Dokumentarfilms unmittelbar nach der indischen Unabhängigkeit erscheint als kanonischer Text, der mit dem Auftrag und der Unterstützung staatlicher Film-Institutionen erstellt wurde. Die Aufarbeitung geschieht im wesentlichen durch zwei Autoren, die beide in den maßgeblichen indischen Dokumentarfilm-Institutionen verwurzelt sind: Jag Mohan, im Auftrag des Ministry of Information and Broadcasting, und der Films Division-geprägte Filmtheoretiker Bhagwan Das Garga, Gründer des National Film Archive in Poona, der für seine Anthologie früher indischer Dokumentarfilmgeschichte 2007 den indischen National Award erhielt. Die beiden Autoren stellen die wesentlichen Buchtitel zur frühen indischen Dokumentarfilmgeschichte, auf die sich alle späteren film-, postkolonial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten und auch das vorliegende Manuskript beziehen. An die Erkenntnisse dieser beiden Autoren knüpfen auch die aktuellen Abhandlungen von K. P. Jayasankar / Anjali Monteiro sowie Shoma Chatterji an. Das Augenmerk der institutionellen Filmgeschichtsschreibung liegt naturgemäß auf dem Aufbau von Förder- und Kontroll-Institutionen und der Rolle des dokumentarischen Films bei der indischen Unabhängigkeit und der Neugründung Indiens, als Zeuge und Motor von Veränderung. Mit dem Fortschreiten der Dokumentarfilmbewegung ab den 1970er Jahren, besserer Zugänglichkeit der aktuellen

 81 Braudel zitiert nach: Buchholz, René: Midrasch und Messianismus. Walter Benjamins Konzept komentierender Geschichtsschreibung. Vortrag, 2011-07-07, Wuppertal [Web] S. 1.

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Filme auf Festivals oder im Internet und einem zunehmenden Interesse indischer Filmemacher und Akademiker an der Theoretisierung ihrer Arbeiten löst sich die Deutungshoheit der staatlichen Filminstitutionen auf. Ein zweites Problem, dass sich bei der Schilderung der geschichtlichen Rahmenbedingungen des indischen Dokumentarfilms auftut, ist die Ausschnitthaftigkeit, mit der die umfangreiche Historie zwangsläufig behandelt werden muss. Die Dokumentarfilm-Geschichte zerfällt, insbesondere mit dem zunehmenden Alter des Mediums und dem Entstehen von preisgünstigeren Varianten wie 16-Millimeter-Film und später dem Videoformat, und damit einhergehend einer rasant zunehmenden Zahl der Produktionen, in einzelne Autorenhandschriften. Diese Zusammenfassung des historischen Kontexts kann die Bandbreite der Themen und Anliegen indischer Dokumentarfilme, die unterschiedlichen Erzählmodi, Realitätsansprüche und -auffassungen, und die politischen und formal-ästhetischen Anforderungen der Auftrageber nur skizzieren. Die folgende Schilderung bezieht sich auf die Darlegungen von B.D. Garga und Jag Mohan, zahlreiche Aufsätze und Rezensionen zur jüngeren indischen Dokumentarfilm-Geschichte sowie die kurze Betrachtung exemplarischer Filme, die mir zugänglich waren. Meine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den eingenommenen Erzählperspektiven und verwendeten dokumentarischen Erzählmodi, dem filmästhetischen Ausdruck kultureller Identität und offenen Erzählansätzen, wie sie in den exemplarischen Analysen im dritten Teil ausführlich dargestellt werden.  Die Geburt des indischen Dokumentarfilms

 Wie stellt sich demnach die indische Dokumentarfilmgeschichte dar? Unumstritten sind die ersten dokumentarischen Bilder, die in der britischen Kolonie gezeigt wurden und die dokumentarische Bewegung auf dem Subkontinent ins Rollen brachten: Nur kurze Zeit, nachdem die Brüder Louis und Auguste Lumière ihren Kinematographen und mit ihm die ersten Kinobilder im Pariser Grand Café dem faszinierten Publikum vorführten,82 wurde diese Sensation rund um den Globus geschickt. Ihre Filmrollen gelangten innerhalb gerade einmal eines halben Jahres auch nach Bombay. Die britische Kolonialstadt war damit neben den Weltstädten Paris, London und St. Petersburg eine der ersten, in der die

 82 Die erste Kinovorführung der Lumière-Brüder fand am 28.12.1895 in Paris statt.

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technische Sensation der bewegten Bilder der Gebrüder Lumière vorgeführt wurde. Die erste indische Film-Vorstellung fand am 07. Juli 1896 im Watson Hotel, dem heutigen Navy Building, im britischen Stadtteil Fort Mumbai statt. Innerhalb kürzester Zeit folgten Vorstellungen in Theatern und improvisierten Vorführ-Zelten. Die dort präsentierten „living, moving photographic pictures“ wurden als „the marvel of the century“ angekündigt und ebenso enthusiastisch aufgenommen wie zuvor vom europäischen Publikum. Es bleibt anzumerken, dass die in Bombay projizierten ersten kurzen Filmstücke – dokumentiert sind „THE ENTRY OF THE CINEMATOGRAPH, ARRIVAL OF A TRAIN, THE SEA BATH, DEMOLITION, WORKERS LEAVING THE FACTORY und LADIES AND SOLDIERS ON WHEELS83 – allesamt Aufzeichnungen von vorgefundenen Situationen in Frankreich waren. Auch in Indien waren die ersten bewegten Bilder dokumentarisch. Von der Faszination des Films ließ sich nicht nur das britische, sondern bald auch das indische Publikum anstecken. Einer der ersten indischen Akteure des Dokumentarfilms war der PortraitFotograf Harishchandra Sakharam Bhatwadekar, auch bekannt als Sawe Dada.84 Mit seiner bereits 1897 aus London importierten Filmkamera drehte er in Indien kurze Filme, die vom Aufbau und ihrer Machart denen der Brüder Lumière ähnelten: Sie zeigten aktionsreiche, sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne abspielende lokale Szenen wie einen Ringer-Wettkampf im den Hanging Gardens in Bombay (THE WRESTLERS, 1899) oder einen Trupp wandernder ‚Madaris‘85 beim Dressieren von Zirkusaffen (A MAN AND HIS MONKEYS, 1899). Wie die Kamera, so musste auch sein Filmmaterial eine lange Reise hinter sich bringen. Sawe Dada schickte seine Rollen nach London zum Entwickeln und konnte die kurzen dokumentarischen Filme dann 1898 zum ersten Mal in einem Freilufttheater in Mumbai zeigen, zusammen mit importierten europäischen Stücken. Hier beginnt die indische Filmgeschichte: mit der Aneignung eines aus dem Westen eingetragenen Mediums, und mit einem Dokumentarfilm. „To this pioneering Harishchandra Sakharam Bhatwadekar“, stellt der Filmhistoriker Jag Mohan dar, „should go the credit of being father of Indian factual film.“86

 83 Vgl.: J. Mohan: Documentary Films and National Awakening, S. 2. 84 Harishchandra Sakharam Bhatwadekar (Sawe Dada).15.03.1868 – 20.02.1958. 85 Fakire aus dem heutigen Bundesstaat Punjab. 86 J. Mohan: Documentary Films and National Awakening, S. 3.

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Fasziniert von den erzählerischen Möglichkeiten des neu entdeckten Mediums ebenso wie von ihrem kommerziellen Potential begann Sawe Deda ab 1901 in Indien ein Format des Nachrichtenfilms zu entwickeln. Die kurzen Filme, die in die indischen Vorführzelte geschickt wurden, zeigten jeweils eine Serie von historischen Ereignissen. Ab den 1920er Jahren werden diese Filme analog zum US-amerikanischen Format als ‚Newsreels‘ bezeichnet. Diese auf Berichterstattung ausgerichteten Filme prägten den indischen non-fiktionalen Film bis zur Unabhängigkeit. Um die ‚Topicals‘ über einen längeren Zeitraum auswerten zu können, verlegte man sich darauf, Ereignisse zu dokumentieren, die langfristig beim Publikum auf Interesse stoßen würden. Dazu gehörten etwa die Hochzeiten von Maharadschas oder die Delhi Durbars – Krönungszeremonien britischer Herrscher in Delhi – opulente Selbst-Inszenierungen der britischen Kolonialmächte in Indien. Weitere populäre Themen waren die hinduistischen Dusserah-Feierlichkeiten 87 oder auch das alltägliche Leben in unterschiedlichen Teilen Indiens, wie das Öffnen und Schließen der Howrah-Brücke in Kalkutta.88 Damit gingen indische Nachrichtenfilme nicht anders vor als die Brüder Lumière und zahlreiche andere Film-Pioniere in Europa, welche die Krönung des Zaren Nikolas II im Mai 1896 in St. Petersburg, oder ähnlich historische Ereignisse ins Zentrum ihrer kurzen Filme stellten. Die Aufnahmen für diese frühen Topicals stammten gleichermaßen von britischen und indischen Kameramännern. Internationale Filmcrews fanden nur selten ihren Weg nach Indien. Allerdings weist B.D. Garga in seiner Aufarbeitung der frühen indischen Dokumentarfilmgeschichte darauf hin, dass das die zuvor bereits in England vollzogenen und dann in der indischen Kolonie wiederholten Krönungszeremonien der von King Edward VII. und Queen Alexandra,89 und wenige Jahre später King Georg V.90 und Queen Mary als Herrscher

 87 Hinduistischer Feiertag, der mit Musik und Feuerwerkskörpern die Rückkehr des Gottes Rama nach Ayodhya nach seinem Sieg über den Dämonenkönig Ravana feiert. 88 Topical von J.F. Madan, 1905. 89 Im Jahr 1903. King Edward VII nahm allerdings nicht persönlich an den Krönungszeremonien teil, sondern entsandte stellvertretend seinen Bruder, den Duke of Connaught.

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von Indien größte internationale Aufmerksamkeit erhielten. Sie lockte Kamerateams von Pathé, Gaumont, Urban, Warwick Trading Company, Barker Motion Photography und anderen großen europäischen und amerikanischen Produktions- und Verleih-Häusern an. Und auch die indischen Dokumentationen der Paraden im Coronation Park in Delhi wurden in das Programm von Dumont oder American Biograph aufgenommen. Diese Filme setzten den monumentalen Prunk und die Selbstverherrlichung der britischen Krönungsrituale eindrucksvoll um erfuhren als erste (koloniale) indische Dokumentarfilme eine internationale Distribution. Auch innerhalb Indiens wurden die Aufnahmen der pompösen Zeremonien in Vorführzelten quer durchs Land gezeigt. Das politische Ereignis britischer Machtdemonstration war zweifelsohne ein bedeutendes Moment für die Entwicklung einer Film-Berichterstattung im großen Stil, welches auch zahlreiche internationale Journalisten nach Indien lockte. Hinsichtlich der Produktion des Filmmaterials wurden, zugunsten eines optimalen und markttauglichen Materials, verschiedene Konstellationen erprobt. So stellte der bengalische Kinobetreiber und Filmproduzent Madan Theatre Company of Calcutta für seine filmischen Aufzeichnungen der Krönung vier Kameramänner aus England an. Obgleich das dokumentierte Ereignis ein kolonial britisches war, so profitierten doch bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts indische Unternehmer von der Herstellung und dem Vorführen von dokumentarischen Filmen. Im Kontext des globalen Bilderflusses ist also davon auszugehen, dass das Zusammentreffen der internationalen Film-Fachleute in Delhi einen entscheidenden Impuls darstellte, der noch einmal über das kritische Betrachten der importierten europäischen oder amerikanischen Filme und die daraus gezogene Erkenntnisse hinausgeht – zu einem Zeitpunkt, an dem filmische Sprache weltweit neu erkundet und definiert wird.

 Die frühe politische Dimension des dokumentarischen Films in Indien  Grundsätzlich existierte in den frühen Tagen des Films ein weitgehendes Einverständnis zwischen britischen und einheimischen indischen Filmschaffen-

 90 Im Jahr 1911. Während dieser Krönungszeremonie wurde die Verlegung der britschindischen Hauptstadt von Kalkutta nach Delhi, dem Ort des Durbar, verkündet. Dieser Durbar war die letzte in Indien abgehaltene Krönungsfeierlichkeit.

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den. Wie das Beispiel von Jamshedji Framji Madan mit seinem Kalkutta’er Produktionshaus nebst Kinokette zeigte, partizipierten indische Firmen und Kameramänner durchaus erfolgreich am Geschäft Film. Gleichermaßen waren auch von der Kolonialverwaltung beauftragte britische Kameramänner vor Ort, stellten ethnografische Dokumente städtischer und ländlicher Szenen her91 und dokumentierten die kolonialen Macht-Demonstrationen. Dass der koloniale indische Dokumentarfilm früh auch zur Artikulation des Protests gegen die britische Regierung genutzt wurde, belegt Jyotish Sarkars GREAT BENGAL PARTITI92 ON MOVEMENT: MEETING AND PROCESSON. Das 1905 entstandene Topical dokumentiert mit einer Demonstration im Rathaus von Kalkutta den Beginn der Swadeshi-Bewegung,93 die eine entscheidende Rolle im indischen Unabhängigkeitskampf spielen sollte. Die Bewegung protestierte in Kalkutta gegen die Aufteilung Bengalens in einen muslimischen Teil - Assam und Ost-Bengalen und das restliche hinduistische Bengalen. Mit der Teilung erhoffte sich die britische Regierung, das Gebiet besser kontrollieren zu können. Der Film wurde als ein aus der Protestbewegung heraus entstandener Swadeshi-Film beworben. Jyotish Sarkar bezog mit seinem Film eine klare politische Position und nutzte den Film gezielt zur Kommunikation der indischen Unabhängigkeits-Idee. Mit seiner Perspektive des bündnishaften Filmens aus einer Bewegung heraus und dem Eintreten für deren Ziele nimmt Sarkar bereits den Impuls des aktivistischen Filmschaffens der 1970er Jahre vorweg. Von den Chronisten des institutionellen indischen Dokumentarfilms wird sein Engagement für die SwadeshiBewegung als filmischer Beitrag zur Staatenbildung Indiens hervorgehoben. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs in Europa galt es für die Briten mehr zu kommunizieren als nur ihren königlichen Prunk und Paraden. England benötigte Soldaten, um den Krieg im fernen Europa führen zu können. Dabei wurde der Film als wirkungsvolles Propagandamittel entdeckt. Die Madan Theatres, die wenige Jahre zuvor noch Sarkars umstürzlerisches Topical aufführten,

 91 Wie etwa die Filme des britischen Fotografen F.D. Steward aus der Garnisonsstadt Poona THE INDIAN DHOBIE über indische Wäscher und FIRE BRIGADE TURNOUT IN BOMBAY. 92 Vgl.: B.D. Garga: From Raj to Swaraj, S. 13. 93 Die Swadeshi-Bewegung war Teil der frühen indischen Unabhängigkeitsbewegung und rief unter anderem mit Boykotten britischer Produkte, Demonstrationen und Protestmärschen zur Autarkie auf.

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zeigten sich auch für die aus London gelieferten, pointieren und dramatisierten Kriegsaufnahmen in Indien als zuverlässige Vertriebspartner - durchaus erfolgreich: binnen weniger Wochen waren 210.000 bewaffnete Freiwillige unterwegs nach Frankreich und Ägypten, als Teil der British Indian Army. Auf diese Weise wurde Indien auch für die politisierende Wirkung des Mediums Film sensibilisiert. Ab dem Jahr 1919 begann man sich unter der Führung Mahatma Gandhis gegen die durch den ersten Weltkrieg geschwächten britischen Herrscher aufzulehnen. In Reaktion auf die Unruhen im Land und deren Reflexion in der indischen Presse wurde das 1918 beschlossene Cinematographic Act durchgesetzt und in Bombay, Calcutta, Madras, Rangoon und Lahore Censor Boards eingesetzt.94 Diese Zensur-Behörden verboten alle Filme, die hätten als patriotisch aufgefasst werden können oder dem britischen Prestige schaden konnten – aus indischer wie internationaler Produktion. So erwies sich unter anderem auch ein Film des französischen Produktionshauses Pathé als problematisch, der den türkischen Mohamed Ali in der Woke-Moschee zeigte - eine Figur, die mit der indischen Unabhängigkeits-Idee assoziiert wurde. Der Dokumentarfilm geriet in seiner journalistischen Funktion, seinem politischen Ausdruck und seiner Massenwirksamkeit in die Schusslinien eines kolonialen Zensurapparats, der später nach der Unabhängigkeit als Censor Board of India weitergeführt werden sollte. Paradoxerweise strebte die britische Verwaltung zugleich an, die Zahl der Kinos in Indien zu erhöhen und damit nicht nur mehr Spielfilme, sondern auch dokumentarische Vorfilme zu zeigen. Diese mussten jedoch erst von einem Komitee als empfehlenswert befunden wurden.95 Ein historischer Streit entbrannte 1930 über der Berichterstattung über Mahatma Gandhis symbolträchtigem Salzmarsch in Protest gegen die von der Kolonialregierung erhobene Salzsteuer. Journalisten und Fotografen der internationalen Presse hatten sich während des vierundzwanzigtägigen Marsches an seine Fersen geheftet und mir ihren Berichten weltweite Erschütterung hervorgerufen. Die drei indischen Dokumentationen des Protestmarschs GANDHIS MARCH TO FREEDOM von der Sharada Company, MAHATMA GANDHIS MARCH von Ranjit und MAHATMA GANDHIS HISTORIC MARCH von Krishna, die alle aus dem Wunsch, die Unabhängigkeits-Bewegung zu unterstützen, heraus entstan-

 94 Vgl. B.D. Garga: From Raj to Swaraj, S. 29. 95 Vgl. Ebd., S. 31-33.

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den waren wurden, während die Entscheidung des Censor Boards noch ausstand, sofort vom Kommissar der Bombay Police verboten96 – was unmittelbare Proteste in Bombay auslöste. Gandhi, so viel er auch von Filmkameras portraitiert wurde, stand dem Film als Propagandamittel zutiefst skeptisch gegenüber. Er unterschied in seiner Kritik des Films wenig zwischen unterhaltendem Spielfilm und den dokumentarischen Newsreels. Amrit Gangar belegt diese misstrauische Haltung Gandhis mit dessen durch seinen Sekretär übermittelter Weigerung, ein Grußwort für das Indian Cinematographers Committee zu formulieren: As a rule, Gandhiji gives messages only on rare occasions – and those only for causes whose virtue is even undoubtful. As for the cinema industry he has the least interest in it 97

and one may not expect a word of appreciation from him.

Trotzdem Mahatma Gandhi sehr effizient Bilder und massenwirksame Symbole, wie die Baumwollkleider des armen Mannes für sich nutzte, verspürte er dennoch Zweifel gegenüber dem jungen Informationsmedium und dessen propagandistischen Potential. Für den Unabhängigkeitskampf Indiens spielte der Dokumentarfilm dennoch eine zunehmend wichtige Rolle.

 Zuwendung zur filmischen Form  Mit der verstärkten staatlichen Kontrolle über den Film und insbesondere seine dokumentarischen Spielarten entstand parallel ein großes Interesse, mit der filmischen Form zu experimentieren. Eine zentrale Rolle übernimmt dabei Dadarsahib Phalke, der 1912 mit seinem dokumentarischen Film THE GROWTH OF A PEA PLANT in Zeitrafferaufnahmen den aufkeimenden Samen einer Erbse und dessen Entwicklung zur ausgewachsenen Pflanze zeigte. Im Jahr 1913 beschritt Phalke mit dem mythischen Drama RAJA HARISHCHANDRA den Weg des Experimentellen weiter, mit A GAME OF MATCHSTICKS drehte er den ersten Animationsfilm Indiens. Während einer London-Reise erhielt Phalke mehrere Angebo-

 96 Vgl. Ebd., S. 31-33. 97 1938. Zitiert nach Gangar, Amrit: ‚The Cinema of Prayoga‘. In: Butler, Brad / Mirza, Karen (Hg.): Cinema of Prayoga. Indian Experimental Film & Video 1913 – 2006. No.w.here, London 2006, S. 15.

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te, in England zu bleiben. Er zog es jedoch vor, in die unsicheren Produktionsverhältnisse in Indien heimzukehren. Dort waren Engpässe im Import von Filmmaterial üblich, so dass Phalke sich wieder auf Kurzfilme konzentrierte, sowie einige Dokumentarfilme und Topicals. Bemerkenswert ist sein Dokumentarfilm CHITRAPAT KASE TAYA KARTAT, in dem er sich selbst beim Anleiten von Schauspielern, Dreharbeiten und schließlich dem Schnitt eines Filmes portraitierte.98 Indem er einen Blick hinter die Kulissen darbietet, arbeitet der Film selbstreferentiell. Er legt die Gemachtheit des Films offen und kratzt damit an der Illusion der Realität, die das dokumentarische Genre zu erschaffen pflegte. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war geprägt von Spannungen und Kontrollen einerseits, und einem Wachstum der Filmindustrie, allem voran des populären indischen Spielfilms andererseits. Auch im dokumentarischen Bereich lassen sich in den dreißiger Jahren eine Auseinandersetzung mit dem Medium und ein transkultureller Austausch verzeichnen. Als entscheidender Impuls dafür wird die Rückkehr dreier Filmemacher von verschiedenen europäischen Akademien in den indischen Filmbetrieb gedeutet: Dr. P.V. Pathy99 hatte in Paris Kamera studiert und dort die Arbeiten von Joris Ivens, Jean Vigo und John Grierson mit ihren sehr verschiedenen Ansätzen der Darstellung von Realem kennengelernt.100 Vor seiner Rückkehr nach Indien realisierte Pathy Dokumentarfilme in Paris und in der Sahara. Der zweite, Dinanath Gopal Tendulkar,101 studierte in Moskau unter Sergej Eisenstein und wurde nach seiner Rückkehr nach Indien als Biograf Mahatma Gandhis bekannt. K.S. Hirleka, von einem Filmstudium in Deutschland zurückgekehrt, war der Dritte. Er gründete später in Indien die Motion Picture Society und machte die Newsreels als Vorfilme zum festen Bestandteil der indischen Kinovorführungen. Die drei Männer

 98

CHITRAPAT KASE TAYA KARTAT / HOW FILMS ARE MADE (IN 1917, R: Dadarsahib Phalke, Dokumentarfilm, unbekannte Länge) / Vgl. Bhaskaran, Gautaman: Bollywood Documenting India. In: TimeOut Magazin 2010-05-12 [Web], S. 6.

99

Dokumentarfilmer, 1906-1961.

100

Vgl. Wolf, Nicole: ‚Foundations, Movements and Dissonant Images: Documentary Film and its Ambivalent Relations to the Nation State‘. In Gokulsing, K. / Dissanayake, Wimal (Hg.): Routledge Handbook of Indian Cinemas. Routledge, London 2013, S. 365.

101

Schriftsteller und Dokumentarfilmer, 1909-1971.

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brachten neue die Ideen und Konzepte des Dokumentarischen mit nach Indien, wo man sich noch stark am Grierson’schen Erzählmodus orientierte, und wurden dort zu den wichtigsten Akteuren des Pre-Independence-Dokumentarfilms. Pathy arbeitete in Indien für internationale Firmen wie British Paramount und Universal News102 und betrieb eine Amateur Film Society, die Filmklassiker zeigte. Später machte er das indische Filmpublikum und seine FilmemacherKollegen durch die von ihm herausgegebenen ‚Indian Screen Gazette‘ mit internationalen Filmen, filmischen Vorgehensweisen und Denkansätzen vertraut und leistete damit einen substantiellen Beitrag zum Filmdiskurs in Indien. Tendulkar lieferte seinen Beitrag in Form von Film-Vorträgen, etwa zu Eisensteins in filmischen Experimenten hergeleiteter Montagetheorie, die vom Kontinuitätsprinzip in der Montage abrückte und statt dessen durch die Aneinanderreihung konträrer Einstellungen „Schocks“ oder Assoziationen auszulösen wollte. Für Eisenstein war es nötig, den Anschein von Realität zu zerstören um sich der Realität zu nähern. Für die heimgekehrten Filmkünstler stellten diese Ideen alles auf den Kopf, und ließ sie umso achtsamer mit ihren Bildern umgehen. Als Filmkünstler betrieben sie großen ästhetischen Aufwand für ihre Aufnahmen. Die Männer begriffen Dokumentarfilm, in Anlehnung an das aktuelle Dokumentarfilmgeschehen in Europa, als Kunstform, die sie dem ‚Creative Treatment of Actuality‘ widmeten. The factual film took the name of „avant-garde“, „Pure Cinema“, „Experimental Cinema“ or „Documentary“. The word „Documentary“ seems to have gained popular preference and great usage.

103

So blickt P.V. Pathy auf die Filmbewegungen dieser Zeit zurück. Die PreIndependence-Dokumentarfilmgeschichte scheint weiterhin stark journalistisch geprägt: das Newsreel als Kino-Vorprogramm wurde als erfolgreiches Massenmedium für das Erreichen einer zu großen Teilen illiteraten Bevölkerung entdeckt, lange vor der Einführung des Fernsehens mir seinen dokumentarischen und journalistischen Formaten. Während des zweiten Weltkrieges wurden in den Kinos erneut kriegsrelevante Propagandafilme aus britischer und bri-

 102

Vgl. N. Wolf: Foundations, Movements and Dissonant Images, S. 363.

103

Dr. P.V. Pathy: ‚A Document on Indian Documentary‘ In: The people (July 2, 1950) zitiert nach J. Mohan: Documentary Films and National Awakening, S. 7.

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tisch-indischer Produktion gezeigt, und der bis dahin übliche Fokus auf indische Kulturgüter trat in den Hintergrund. Verschiedene Institutionen wie die Information Films of India, die Indian News Parade und das Film Advisory Board sorgten für eine regelmäßige Produktion der kurzen dokumentarischen Formate und deren staatliche Gütekontrolle. „Never before did our documentary see such a big house for its production and its distribution,“104 beschreibt Jag Mohan und verweist darauf, dass dieser vergrößerte Produktionsapparat eine ausgezeichnete Ausbildung für junge Filmtechniker bot. Um die Filme möglichst effektiv in indischen Kinos zu zeigen, richtete die Regierung DistributionsEinheiten ein und setzte mit der Defense Rule of India ein pro Filmvorführung zu zeigendes Minimum von 600 Metern Newsreels durch, welche offiziell abgesegnet werden mussten.105 Mit dem Inkrafttreten der Interimsregierung in Indien 1946 wurden die ‚Information Films of India’ abgeschafft. In Folge dessen, so unterstreichen Garga und Mohan, gab es keinen offiziellen Auftraggeber, der ein indisches Kamerateam hätte entsenden können, um die indische Unabhängigkeit 1947 zu dokumentieren.

 Dokumentarfilm im unabhängigen Indien Dennoch fanden sich unabhängige Filmemacher, das historische Moment festzuhalten. Hier tat sich P.V. Pathy erneut hervor, der aus seinem persönlichen Geschichtsbewusstsein heraus den Geschäftsmann Ambalal Patel überzeugte, ihm zwei Kameras zur Verfügung zu stellen, um die Unabhängigkeitszeremonie und die Rede des ersten indischen Premierministers Jarwahal Nehru zu dokumentieren. B.D. Garga betont in seiner Abhandlung der indischen Dokumentarfilm-Geschichte die bedeutende Rolle, die der faktische Film bei der Nationenbildung spielte und wie Menschen quer durch den Subkontinent die Bilder der Machtübergabe am 15. August 1947 erleben konnten. Er vergleicht eingehend die Unabhängigkeits-Aufnahmen britischer und indischer Kamerateams und bemängelt, dass die britische Berichterstattung sich auf Bilder der abziehenden

 104 105

J. Mohan: Documentary Films and National Awakening, S.9. Vgl. Varma, Mitu: ‚Documentary in India: A Historical Perspective‘ In: Raghavendra, M.K. / Bennurakar, Chalam / Pani, Sujata (Hg.): Sakshi. Cinema as a Witness to our Times. Celebrating Twentyfive Years of Indian Independent Documentary Films. Festivalbroschüre, Jahr unbekannt, keine Seitennummerierung.

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Briten konzentrieren und das Hissen der neuen Nationalflagge aussparten. Nur drei Wochen nach dem 15. August kursierten in den indischen Filmtheatern drei Dokumentationen der Zeremonie.106 Einer der Filme war 15 AUGUST 1947, bestehend aus früherem Film-Footage und produziert von den Bombay Talkies. Ebenfalls mit Archivmaterial internationaler Teams und zudem P.V. Pathy als Schnittmeister arbeitete A.K. Chettiar an seinem Dokumentarfilm MAHATMA GANDHI. Den dritten Film, INDIAS STRUGGLE FOR NATIONAL SHIPPING finanzierte die SC India Steamship Navigation Company. Regie führte der aus dem Nazi-Deutschland geflohene Paul Zils, der zu einem der führenden Dokumentarfilmern des Unabhängigen Indien werden und die bis heute aktive Indian Documentary Producers Association gründen sollte. Im April 1948 beschloss die neue indische Regierung, die während des Machtwechsels stillgelegten Filminstitutionen neu zu beleben um wieder dokumentarische Produktionen in Auftrag geben zu können. Sie gründeten die Nachfolgeinstitution Films Division of the Government of India, das als Organ des Ministry of Information and Broadcasting bis heute Hauptauftraggeber für Dokumentarische Produktionen ist, die Filme archiviert und deren Geschichtsschreibung betreibt. Die Regelung der obligatorischen dokumen-tarischen Vorfilme wurde beibehalten, und Kinobetreiber mussten für diese Rollen eine Leihgebühr entrichten, die in die Produktion weiterer Filme zurückfloss. B.D. Garga beklagt, dass der erste Direktor der Films Division, Bhavani, zunächst den kreativen Aspekten des Dokumentarfilms wenig Aufmerksamkeit schenkt und sich wenig um eine „Dokumentarfilmbewegung mit klarer Identität und sozialem Anliegen“107 bemüht. Diese Formulierung nimmt das jahrelange Selbstverständnis der Films Division als identitätsstiftende Institution vorweg. Garga kritisiert in deren ersten Filmen die redundante Überbetonung von indischem Nationalstolz in stereotypen Bildern von Paraden gegen eine Horizont voller Flaggen anstelle einer detaillierten Analyse der aktuellen sozialen Probleme Indiens in filmischen Bildern. Bei der Installation der Films Division als Übernahme des Medieninstruments der Briten wurden zugleich auch zahlreiche indische Kameramänner, Toningenieure, Regisseure, Schnittmeister etc. in den indischen Filmdienst übernommen. Um den Ausbau der Films Division zu gewährleisten, wurden

 106 Vgl. M.Varma: Documentary in India: A Historical Perspective. 107 Vgl. B.D. Garga: From Raj to Swaraj, S. 133.

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Studenten mit Stipendien an die University of Southern California geschickt, die nach ihrer Heimkehr alle in die Films Division übernommen wurden. Auch hier baute man auf die formale Ausbildung des Produktions-Apparats durch den Westen.108 Ein neuer Produktionsschwerpunkt der Films Division wurden Filme, die sich der indischen Kunst und Kultur widmeten. Sie waren explizit keine Kunstfilme, vielmehr berichteten sie über das kulturelle Erbe Indiens: indische Architektur, Musik, Tempel und Skulpturen – und stellten sich somit in den Dienst der Propaganda des neugeborenen Staats. Als gelungenes Beispiel innovativen Kulturfilms gilt Jehangir Bhownagarys dokumentarische Erzählung des hinduistischen Krishna-Mythos anhand von Miniaturmalereien des 18. Jahrhunderts in RADHA AND KRISHNA.109 Bhownagary verwendet die Miniaturen wie Schiebegrafiken und pointiert die durch eine Offstimme anschaulich erzählte Handlung und die Bezüge und Blickachsen zwischen den mythologischen Charakteren durch aneinander montierte Bildausschnitte. Atmosphärische Erzählpausen werden mit klassischen Musikstücken von V. Shirali, Ali Akbar und Ravi Shankar gemacht, zu denen man auf den Miniaturen turbangeschmückte Musiker die Sitar-Saiten zupfen sieht. Die poetische Liebesgeschichte Krishnas und seiner Gespielin setzt sich aus liebevollen Details der Miniaturen zusammen. Durch Bhownagarys Montage wird den flächigen Abbildungen die zeitliche Dimension des Films hinzugefügt. Neben den Kunstfilmen wurden von der Films Division auch ethnografische Themen entdeckt und gefördert, und Kamerateams in alle Stammesgebiete des neugegründeten Staats entsendet. Auf diese Weise wurden Brauchtümer festgehalten und den anderen Volksgruppen Indiens sichtbar gemacht – im Sinne des Verständnisses für die mannigfaltigen Kulturen des unabhängigen Indien. Ein weiteres wichtiges Feld für die Films Division waren Filme zu landwirtschaftlichen Themen, Familienplanung, Gesundheit und Hygiene. Diese Filme waren von instruktionellem Charakter. Als Vorprogramm der Bollywood-Filme sollten sie die Bevölkerung aufklären, zu einer fortschrittlichen und gesunden Lebensführung anhalten, und auf diese Weise für ein blühendes Indien sorgen. Premierminister Jarwahal Nehru unterstützt diese Agenda ausdrücklich und

 108 109

Vgl. Ebd., S. 130. RADHA AND KRISHNA (IN 1959, R: Jehangir Bhownagari, Dokumentarfilm, 22 min).

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fordert längere Dokumentarfilme dieser Art: „[...] It should be a longer and more educative picture and it should be taken in mobile vans to remote villages [...]“110 Allein zwischen 1949 und 1950 produzierten die Films Division siebenundneunzig Filme, die sie in fünf Sprachen übersetzte – Hindi, Englisch, Bengali, Tamil und Telugu – um ein möglichst großes Publikum im Vielvölkerstaat Indien zu erreichen111 – in den großstädtischen Kinos ebenso wie in mobilen Vorführzelten, die, ganz im Sinne Nehrus, die Filme zu ihrem ländlichen Publikum transportierten. Im Bericht zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Films Division werden auch die Schwierigkeiten der Dokumentarfilm-Distribution in den Anfangsjahre benannt: (a) Compulsion through a condition in the cinema license (b) Payment of rental at rates unilaterally fixed by Government (c) Increase of rentals by wide-gap slaps and addition of incidental charges; (d) Lack of news value in newsreels after the first few weeks; and (e) Departmental harassment.

112

Die Maßnahmen der Regierung unterstützten zwar grundsätzlich die Verbreitung von Dokumentarfilmen im ganzen Land, limitierten jedoch zugleich durch ihr striktes Regelwerk die Spielarten ihrer Vorführung und die Möglichkeit, mit ihnen, wie mit den Kinospielfilmen, Gewinne zu erzielen. In den 1950er Jahren geriet die Films Division so in ihre erste Krise. Ihr Direktor Jehangir Bhownagary zeigte sich überrascht ob des geringen Austauschs unter den durch die Films Division beauftragten Regisseuren. Garga zufolge wünschte er, sie würden ihre Arbeiten untereinander stärker diskutieren: […] There was no interaction between his own filmmakers in terms of discussing, analyzing , criticizing and appreciating each others work, nor were they aware of the history 113

and evolution of documentary film outside their own country.

 110 Vgl. J. Mohan: Documentary Films and National Awakening, S. 109. 111 Vgl. J. Mohan: Documentary Films and National Awakening, S. 24. 112

Unbekannter Autor: Indian Talkies 1931-56: The Silver Jubilee. Documentaries, News-Reels and Other Short Films, S. 201.

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Der von Bhownagary vermisste Austausch wird ab Mitte der 50er Jahre vollzogen. In dieser Zeit kommen international renommierte Regisseure nach Indien, auf der Suche nach Drehorten und Filmthemen. Unter ihnen sind Robert Flaherty, John Huston, Fritz Lang oder Arne Sucksdorff, die jeweils indische Helfer in ihren Produktionen hatten. Jean Renoirs Assistent bei den Dreharbeiten zu dem Spielfilm THE RIVER114 war der bengalische Satyajit Ray, der später durch seine APU TRILOGIE115 zum international gefeierten Regisseur wird – mit einem feinen Bewusstsein für die filmische Form. Dieser bedeutende Vertreter des indischen Parallel Cinema fertigte mit der Unterstützung der Films Division auch Dokumentarfilme von künstlerischem Anspruch, etwa das Portrait des großen bengalischen Dichters RABINDRANATH TAGORE, 116 oder den bildgewaltigen, ethnografisch anmutenden Film SIKKIM,117 der unterstützt durch wohl formulierten Kommentar-Ton von dem kleinen Königreich im Himalaya berichtet. Roberto Rosselinis Dokumentarfilm: INDIA SENZA MITI118, der auf Einladung Jarwahal Nehrus für das französische Fernsehen entstand, und Louis Malles Dokumenationen der siebziger Jahre markieren das westliche Interesse für Indien-Repräsentationen im Fernsehen. In den folgenden Jahrzehnten sollten zunehmend internationale Teams entsandt werden, um Dokumentarfilme und Reportagen zu drehen. Louis Malles siebenteilige Fernsehserie L’INDE FANTÔME: REFLEXIONS SUR UN VOYAGE schildert in persönlicher Weise seine Reise-Erfahrungen in Indien und das religiöse Leben dem er dort begegnet.

 113 Zitiert nach B.D. Garga: From Raj to Swaraj, S. 145. 114 LE FLEUVE / THE RIVER (FR/IN/USA 1951R: Jean Renoir, Spielfilm, 99 min). 115

APU TRILOGY: PATHER PANCHALI. (IN 1955, R: Satyajit Ray, Spielfilm, 122 min), APARAJITO (IN 1956, R: Satyajit Ray, Spielfilm, 110 min), APUR SANSAR (IN 1959, R: Satyajit Ray, Spielfilm, 105 min).

116 RABINDRANATH TAGORE (1961, R: Satyajit Ray, Dokumentarfilm, IN 54 min). 117

SIKKIM (IN 1981, R: Satyajit Ray, Dokumentarfilm, 55 min). Der Film wurde vom Censor Board gebannt, mit der Begründung, er propagiere die Monarchie des kleinen Himalaya-Königreichs Sikkim kurz vor seiner Angliederung an Indien. Vgl. Unbekannter Autor: Banned Satyajit Ray Documentary Restored. In: CBC News. 2008-11-09 [Web].

118

INDIA SENZA MITI / INDIA 57 (IT 1959, R: Roberto Rosellini, Dokumentarfilm, keine Längenangabe).

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Seinen Dokumentarfilm CALCUTTA119, erzählt er entlang der Stichworte ‚People / Religion‘, ‚Politics‘ und ,The Poor‘. Beide Arbeiten sind in der europäischen Cinema Verité-Tradition verwurzelt. Malles Indien-Darstellung wurde allerdings von der indischen Regierung wenig geschätzt und sie versuchte in Konsequenz zunächst, weitere BBC-Drehs in Indien zu unterbinden. Während der Westen mit der Einführung des Synchron-Tons und der geräuschgedämpften, portablen 16-Millimeter-Kameras das Direct Cinema und Cinema Verité entdeckt werden, bleibt die Films Divison diesen Impulsen gegenüber zunächst skeptisch. Man fürchtet die unbebrechenbaren Drehergebnisse und lange Drehzeiten, die mit hohen Kosten verbundenen sind.120 Erklärende Filme mit einem ‚Voice-of-God‘-Kommentar,121 der die montierten Filmbilder in einen Kontext stellt, dominierten nach wie vor den Erzählmodus der Films Division-Filme. Die große Stunde der beobachtenden Erzählformen wird erst mit dem Aufkommen von Video anbrechen. Wenngleich die Mehrheit der Filme weiterhin nach dem vertrauten und bewährten Modell beauftragt und hergestellt werden, so finden sich in den 60er Jahren auch innerhalb der Films Division Filmemacher, die den Austausch mit internationalen Regisseuren in Indien und Europa pflegen und filmische Experimente betreiben. Amrit Gangar weist darauf hin, dass die Films Division in ihren Katalogen sogar eine Sektion für experimentellen Film einrichtete.122 Zu den Akteuren des experimentellen Kinos gehörten Pramod Pathi, S.N.S. Shastry123 und Vijay B. Chandra124, der später zum Chefproduzenten der Films Division und dem Gründungsdirektor des Mumbai International Film Festival aufsteigen sollte. Pathi war Absolvent eines internationalen Filmstudiums: Er hatte Animation in der Tschechoslowakei stu-

 119

‚ L INDE FANTÔME: REFLEXIONS SUR UN VOYAGE / PHANTOM INDIA (FR 1968-69,

R: Louis Malle, BBC-TV-Serie) und CALCUTTA (FR 1969, R: Louis Malle: Dokumentarfilm, 105 min). 120 Vgl. T. Waugh: The Right to Play Oneself, S. 254. 121

Die körperlose Kommentarstimme, welche den Zusamenhang der dokumentarischen Ereignisse im explanatorischen Dokumentarfilm erklärt, wird aufgrund seiner behauptetem Allwissenheit als ‚Voice-of-God‘-Kommentar bezeichnet.

122 A. Gangar: The Cinema of Prayoga, S.13. 123 Shastry, S. N. S., 1930-1978. 124

Zu seinen Filmen gehört z.B. CHILD ON A CHESS BOARD (IN 1979, R: Vijay B. Chandra, Experimentalfilm, 8 min).

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diert, und bei Norman MacLaren am National Film Board of Canada gelernt.125 Im Jahr 1960 kehrte er nach Indien zurück, wo er sein erlerntes Handwerk mit traditionellen und modernen, zutiefst indischen Motiven spielerisch erprobte. Seine Filme spielen bewusst mit indischen Bildklischees und dem Kontrast von indischer Tradition und Moderne. Seine eigene postkoloniale Identität zwischen Tradition und internationalen Film-Inspirationen spiegelt sich in seinen Arbeiten wider. Shai Heridia hebt die große Freiheit von Filmtraditionen hervor, aus der heraus indische Filmemacher im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen Arbeiten schufen: ‚Experimental film‘ has so far been identified as the pure provenance of the West through „an irrational fetishization of the Medium“. Filmmaking in India, however, is free from the burden of the ‚schools‘ of the western ‚avant-garde film‘ and ‚experimental film‘.

126

Pathis Kurzfilm EXPLORER127 schrieb in diesem Sinne indische Filmgeschichte und ließ sich keiner vertrauten Gattung zuordnen: ein Film ohne die gewohnte Erzählerstimme, rhythmisch und assoziativ. Ikonische Bilder von Brahmanen, Mantren rezitierend, sind keck gegen Zeichnungen aus der indischen Populärkultur, Anzeigetafeln und Tempelfresken geschnitten. Mythologische Figuren und Jugendliche des zeitgenössischen Indiens werden in der Montage verbunden. Pathi mengt ernst vorgetragene mythologische Dialogfragmente in den Filmton und kreiert ein stark atmosphärisches Stück, eine ekstatische Ton- und Bildcollage. Ein guter Teil der Pathi-Filme wurde von der Films Division produziert. Für sie realisierte er auch informative Topicals wie den Kurzfilm SIX, FIVE, FOUR, THREE, TWO (FAMILY PLANNING)128, in dem zwei Pantomimekünstler in der Bühnensituation eines leeren Fabrikgebäudes für das vielsprachige Indien höchst effizient die Problematik der Geburtenkontrolle illustrieren. Ihr

 125 Vgl. Gangar: The Cinema of Prayoga, S. 25. 126

Heridia, Shai: ‚Bombay Experiments‘. In: Butler, Brad / Mizra, Karen (Hg.): Cinema of Prayoga. Indian Experimental Film and Video 1903 – 2006. No.w.here, London 2006, S.46.

127 EXPLORER (IN 1968. R: Pramod Pathi, Experimenteller Dokumentarfilm, 7 min). 128

SIX, FIVE, FOUR, THREE, TWO (FAMILY PLANNING) (IN 1967, R: Pramod Pathi, Dokumentarfilm, 5 min).

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Spiel ist komisch und abstrakt zugleich, hinzu fügt Pathi ein höchst experimentelles Sound-Design. Der Film passt bestens in die Idee der instruktiven KinoVorfilme der Films Division und hebt sich dennoch von deren Machart stark ab. Pathi öffnet die dokumentarische Erzählform, indem er in dem erzieherischen non-fiktionalen Format fiktional inszeniert. Shai Heridia führt diese Experimentierfreude auf ein neu entstehendes Selbstbewusstsein der Künstler und Filmemacher im unabhängigen Indien zurück: Within the post-colonial context, these films were quintessential experimental ethnographic works, made on and by Indians. These were filmmakers who not only questioned culture, but also critiqued their own otherness by self-conciously exposing newfound relationships to film technology.

129

Ähnlich assoziativ und collagenartig arbeitet auch S.N.S. Shastry in seinen verschiedenen experimentellen Filmen. Deren berühmtester, AND I MAKE SHORT FILMS130 lässt auf spielerische und unerwartete Weise verschiedene reale und animierte Filmstücke und Tonaufnahmen aufeinanderprallen. Er synchronisiert die Aufnahmen in langer Reihe vor ihren Mikrofonen hockender klassischer indischer Musiker mit dem afro-amerikanischen Kinderlied-Refrain „Singin’ aye aye yippie yippie yeah“, ein westliches Sinfonieorchester mit indischer Musik. Seine disparaten Bilder scheinen einander zu kommentieren, wie etwa die Tränen des Zeichentrick-Rehs den Tod eines Mannes, der auf der Tonebene durch Schussgeräusche erzählt wird. In selbstreflexiver Weise schließt Shastry an die kaleidoskopartigen Aufnahmen von Füßen, Affen, Ochsen-Karren, züngelnden Schlangen und Zugunglücken die Bilder einer Filmkamera und des Pfeife rauchenden Kameramanns, der durch den Sucher blickt. Damit stellt er ein Ordnungsprinzip her, einen Bezug zwischen den mannigfaltigen, oft widersprüchlichen Bildern: die Person des Kameramanns, des Filmemachers, der all diese Momente sieht und aufzeichnet. Das arrangierte Abbild der Filmkamera erinnert an den russischen Avantgarde-Filmer Dziga Vertov und dessen ikonische Aufnahmen in DER MANN MIT DER KAMERA.131 Vertov zeigt den AufnahmeApparat in seiner essayistischen Schilderung der Großstadt als Symbol der Mo-

 129 S. Heridia: Bombay Experiments, S.44. 130 AND I MAKE SHORT FILMS (IN 1968, R: S.N.S. Shastry, Dokumentarfilm. 16 min). 131 DER MANN MIT DER KAMERA (UDSSR 1928, R: Dziga Vertov, 58 min).

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derne und Zentrum der dokumentarischen Erzählung. Filmkamera, Kameramann und Filmrollen bilden ein wiederkehrendes Motiv im Shastry’s Film. Im zweiten Drittel des Films fügt Shastry seiner assoziativen Erzählung einen Kommentar hinzu. Die Männerstimme überlegt: I think, a good film is a good film anywhere in the world. The film is a powerful medium. Once I asked Grierson: What is a documentary? And he said: Documentary is seeing. You must see with your eyes, heart and soul. With your wife’s eyes and heart and soul, with your children’s eyes and heart and soul. It is total observation.

132

Diese Reflexion, zugleich Hommage an den britischen Dokumentarfilm-Pionier John Grierson, bietet Aufschluss über Shastry’s dokumentarischen Ansatz und seine assoziative Montage. An diese Aussage knüpft er die Aufnahmen eines Paars am Strand, welches von einem Kameramann verfolgt wird. Nahaufnahmen ihrer Hände werden in assoziativer Reihung von den Beinen einer sich sonnenden Touristin gefolgt, von der Nahaufnahme eines durch Wasser watenden Bauern, und einer Gruppe Einbeinige an Krücken – als pointierte, doch unvollständige Momentaufnahme Indiens. Shastry versäumt in seiner Collage nicht die Aufnahme einer Hand, die mit einer Zahnbürste ein Gebissmodell putzt, als Referenz an die erzieherischen Filme der Films Division. Spätere Einstellungen zeigen Filmschaffende im Labor, im Voice-Over ist fragmentarisch Shastrys Kommentar zu seiner Verantwortung als Dokumentarist zu hören: „ are filmmakers. We are not here as sociological experts.“ Aus den Anfangs lose erscheinenden Collagen setzt sich eine Reflexion über das Filmemachen und Shastrys Außenseiter-Rolle als Regisseur in der indischen Gesellschaft zusammen. Mit der Abbildung von Zeitungs-Schlagzeilen wie „focus on films division, unwanted documentaries“ oder „documentary with a different style“ zeigt Shastry ein Bewusstsein dafür, wie sich seine Arbeit in den indischen Diskurs einordnet. Am Ende der in raschem Rhythmus montierten Collage ver„ kündet selbstironisch ein leuchtender Werbeschriftzug das Wort „Elite“. Nach dem Abspann schließt sich Shastris offen und reflexiv angelegter Film doch noch, mit einem Voice-Over-Resümee: „Look, what do you want to convey with your film?“ fragt eine Stimme. Sie erhält zur Antwort: „I don’t know, it’s a very difficult question. I make films to express myself. To show myself to other

 132 Voice-Over AND I MAKE SHORT FILMS bei ca. Min 06:43.

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people. Perhaps something more than myself. Perhaps it’s the sun in the belly.“133 Damit nimmt Shastry seine zuvor eingeführten Argumente und die Trope der Sonne im Bauch als Ausdruck unbändigen kreativen Schaffens wieder auf. Zugleich kehrt er zum Anfangsbild der abstrakten Wellen zurück und schließt damit den Film auch formal ab. Mit Arbeiten wie AND I MAKE SHORT FILMS wird in den 1960er Jahren ein Höhepunkt künstlerischen Erprobens, und der Reflexion über die Möglichkeiten des Films erreicht. Madhusree Dutta legt nahe, dass es der Verdienst von Filmemachern wie Sukhdev und Shastry sei, die Erzähl-Tradition der Films Division zugunsten freier dokumentarischer Formate aufgebrochen zu haben.134 Ihre Arbeiten galten in Indien als sehr intellektuell und fanden zunächst nur kleine und zumeist urbane Zuschauerkreise. Die von ihnen gesetzten Impulse gelten jedoch als entscheidend für spätere künstlerische Dokumentarfilme. In jüngster Vergangenheit wurden sie in den kuratierten Programmen des ‚Experimenta‘-Festivals oder der Feierlichkeiten in Zusammenhang mit 100 Years of Indian Cinema wieder in Indien aufgeführt. Der Boom des experimentellen Films wurde durch den indischen Ausnahmezustand 1975 unterbrochen, der zum Impuls für politische Dokumentationen wurde. 135 Dennoch realisierten Regisseure wie Satyajit Ray, Mani Kaul oder Shyam Benegal künstlerisch ausgerichtete Dokumentarfilme mit häufig biografischen Themen. Madhusree Dutta honoriert die künstlerische Leistung dieser Filmemacher nicht ohne darauf hinzuweisen, dass diese Filme Ausflüge von Spielfilm-Regisseuren ins dokumentarische Feld darstellen: „These films are broadly regarded as the phase of avant-garde in Indian documentaries. But documentary was not the primary interest for these filmmakers and thus their contributions to the field remain sporadic. “136 Zeitgleich mit den filmischen Experimenten Sukhdevs und Shastrys wurde in Indien das Fernsehen eingeführt. Der erster Fernsehsender Indiens wurde

 133 Voice-Over AND I MAKE SHORT FILMS bei ca. Min 15:00. 134

Vgl. Dutta, Madhusree: In Defense of the Political Documentary. 2007 [Web], S. 6.

135

Vgl. Dutta, Madhusree. The Old and the New of Indian Documentary. In: Frontline

136

Vgl. Ebd., S. 6.

Magazin, October 2013 [Web], S. 6.

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1959 unter Jarwahal Nehru als Bildungs- und Informations-Projekt für ganz Indien eingerichtet, mit Unterstützung der UNESCO und der Ford Foundation.137 Ab 1965 strahlte das indische Fernsehen täglich unter dem Dach des All India Radio Sendungen aus. Im Jahr 1976 wurde das Fernsehen vom Radio abgelöst und der erste indische Fernsehsender Doordarshan eingerichtet, der staatlich betrieben wurde.138 Die Agenda des frisch gegründeten Fernsehsenders scheint der Films-Division-Prämisse ausgesprochen ähnlich. Die Aufgabe von Doordarshan war es, [to] stimulate national development in India… to contribute to health, hygiene, and family planning, national integration, to improve agricultural practices, to contribute to general school and adult education, and improve occupational skills.

139

Unter dieser Maßgabe wurde Doordarshan wurde zum Präsentationsmedium der Films Division of the Government of India. Interessant ist, dass sich aufgrund der politischen Rahmensituation zeitgleich mit der Etablierung von Doordarshan zahlreiche Filmemacher von dem etablierten Produktionssystem lösten und begannen, unabhängig von staatlichen Themenstellungen und Sichtweisen Filme zu drehen.

 Filmischer Aktivismus als Erneuerungsbewegung der siebziger Jahre Ein entscheidender historischer Moment für den aktivistischen Film als indischem ‚Subgenre des Dokumentarfilms‘140 ist der zwischen dem 26. Juni 1975

 137

Vgl. Shitak, Rommani Sen: Television and Development Communication in India: A Critical Appraisal. Global Media Journal – Indian Edition / ISSN 2249-5835 Winter Issue / December 2011 Band 2, Nr. 2, S. 2.

138

Vgl. Kamat, Payal: Short Essay on Development of Television in India. [Web],

139

Kumar, Shanti: An Indian Personality for Television? In: Jump Cut Magazine. A

S. 1. Review of Contemporary Media, Nr. 43, July 2000, S. 92-101. [Web] Keine Seitenangabe in Online-Version.

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und 21. März 1977 von der Premierministerin Indira Gandhi ausgerufene Ausnahmezustand. Während dieser Zeit plante sie die Macht- und Verfassungsstrukturen umzugestalten und Neuwahlen herauszuzögern. Mit unkonventionellen und wenig demokratischen Mitteln ging sie gravierende Probleme in Indien an: Sie beantwortete die rasante Bevölkerungsentwicklung in Indien mit Zwangsterilisationen, Hunger mit der düngemittelbasierten grünen Revolution und hob die Leibeigenschaft auf. Indira Gandhi setzte mit dem Ausnahmezustand grundlegende Bürgerrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit außer Kraft. Indische Bürger konnten ohne Anklage bis zu zwei Jahre lang inhaftiert werden. Es wurde von Schiessbefehlen auf Demonstranten berichtet, die gegen die Willkür der staatlichen Familienplanung protestierten.141 Bis heute ist umstritten, wie notwendig die von ihr getroffenen Maßnahmen waren und in welchem Maße sie vor allem der Machtsicherung Gandhis und ihrer Kongresspartei dienten.142 Angesicht dieser Umstände konnten mit der Unterstützung der Films Division of the Government of India keine systemkritischen Filme entstehen. Dennoch empfanden viele Filmemacher die Notwendigkeit, institutionsunabhängig die Missstände zu portraitieren.143 Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Filmemacher kam nicht von Filmhochschulen. Sie waren Quereinsteiger, die angesichts der drastischen politischen Verhältnisse zur Kamera griffen. Zu ihnen gehört auch Anand Patwardhan, der in Indien und den USA Soziologie und Literaturwissenschaft studiert hatte und sich mit seiner Rückkehr nach Indien begann, sich politisch zu engagieren. Er arbeitete als Hindi-Lehrer und Traktorfahrer in einem Dorf.144 Dort machte auch seine Film-Aufnahmen für ONE DAY

 140

Vgl.: Gupta, Dipti: Confronting the Challenge of Distribution. Women Documentary Films in India. Master Thesis at Concordia University Montreal, Quebec, 1998 [Web], S. 21.

141

Vgl. Unbekannter Autor: Indira macht arme Männer impotent. In: DER SPIEGEL 52/1976 [Web].

142

Vgl. Netzer, Nina: Indien im Ausnahmezustand 1975-77 – Ein autoritäres Regime? München, GRIN Verlag, 2004, S. 5.

143

Zu diesen Filmemachern gehörten etwa Gautam Ghosh, Anand Patwardhan, Mira Nair, Tapan Bose, Suhasini Mulay und andere.

144

Vgl. Klaue, Wolfgang/Lichtenstein, Manfred/Wäscher, Edith/Jenß, Gabriele (Hg.): Dokumentarfilm in Indien. Berlin, Staatliches Filmarchiv der DDR, 1988, S. 48.

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AFTER THE HARVEST145 über ein Tuberkulose-Krankenhaus, mit denen er die Kranken aufforderte, nicht voreilig die Station zu verlassen um, ihre Arbeit auf den Feldern fortzusetzen, sondern sich ausreichend lange behandeln zu lassen. Mit diesem Anliegen unterscheidet sich Patwardhan noch kaum von den staatlichen Films Division-Produktionen. Sein Erzählmodus146 jedoch hebt sich von der explanativen Filmform des staatlichen Dokumentarfilms ab. Statt mittels eines ‚Voice-of-God‘-Kommentars Erklärungen für die gezeigten Bilder abzugeben, stellen Patwardhans Filme Fragen – etwa durch das Gegenüberstellen der Aussagen von Zeitzeugen und Opfern, denen ausführlich, oft minutenlang, Raum gegeben wird. Häufig bilden diese Interviews die Grundlage für die Montage. Erstmals in der Geschichte des indischen Dokumentarfilms treten Unterprivilegierte oder Angehörige von Minderheiten als Protagonisten auf. Statt bloße Staffagefiguren für pastorale Szenen zu sein, berichten sie selbst von Erfahrungen. Sind die Portraits aus der Hand aufgenommen, nicht optimal ausgeleuchtet oder in sonstiger Weise technisch improvisiert, so erhöht dies nur den Wahrheitswert der Aussagen. The premise is that documentary is a bearer of truth, it brings in voices from the margins, it enters into the debate with voiceless peoples voices. It provides a point of view, which is not visible in the mainstream. And the documentary is truth. It is a truth-claiming form.

147

So beantwortet Gargi Sen die dokumentarische Grundfrage des Verhältnisses zur außerfilmischen Realität für den filmischen Aktivismus. Die Wahrheit des unabhängigen Regisseurs weicht von der institutionellen Wahrheit ab, er sucht sie an den Rändern der Gesellschaft. Während des Ausnahmezustands richtet sich Patwardhans Aufmerksamkeit zunehmend auf die Landespolitik. Wie viele andere Filmemacher dieser Zeit beginnt er, Filmemachen als Werkzeug für soziale und politische Veränderungen zu begreifen. Patwardhans Film PRISONERS

 145

ONE DAY AFTER THE HARVEST (IN 1973 R: Anand Patwardhan, Dokumentarfilm,

146

Vgl. Bill Nichols Terminologie der verschiedenen Modi der dokumentarischen Ar-

keine Längenangabe). tikulation, ausführlicher beschrieben im dritten Teil dieses Buchs „Facetten des offenen Dokumentarfilms“. 147

Gespräch mit Gargi Sen, 2011-09-08, Delhi, Magic Lantern Foundation.

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CONSCIENCE148 bezog sich unmittelbar auf die politische Situation Indiens. Er portraitierte politische Häftlinge vor, während und nach dem Ausnahmezustand. Patwardhans einleitende Aufnahmen kontrastieren ein geteiltes Indien von Reichen und Armen, Privilegierten und Dienern, modernen Hochhäusern und Slums. Der Film reiht drastische Interviewzeugnissen ehemaliger Inhaftierter über die Umstände ihrer Verhaftung, Folter und die Zustände in den Gefängnissen aneinander. Sie werden eingeleitet durch kurze Texttafeln, die Aufschluss über den Namen und Herkunft des Protagonisten, seine Haftdauer und, falls existent, den Grund der Verurteilung geben. In den meisten Fällen jedoch wurde niemals ein Urteil gesprochen. Die Interviews sind mit heimlich aufgezeichnetem Handkamera-Material von Verhaftungen und Demonstrationen während des Ausnahmezustands unterschnitten und durch Perkussionstakte voneinander getrennt. Die Bilder versuchen nicht, Assoziationen zu erwecken, sie wollen Geschehenes illustrieren und belegen. Im Kommentar beschreibt Patwardhan in einfachen Worten die Ereignisse und ordnet sie ein: Die abgefilmten Gefängnismauern erzählen nicht nur von Folter, sondern auch von Courage. Wie häufig in seinen Filmen verwendet Patwardhan auch in diesem Lieder, die während Demonstrationen und Protestaktionen gesungen werden. Sie sind nicht nur musikalische Untermalung, sondern Teil des dokumentarischen Geschehens und erfüllen häufig die Funktion politischer Parolen oder gesungener Interview-Satements eines protestierenden Kollektivs. Filme wie PRISONERS OF CONSCIENCE wurden aus eigener Tasche finanziert oder entstanden mit der Unterstützung von Gönnern: OF

„Waves of Revolution“ kostete weniger als 2000 Pfund und „Prisoners of Conscience“ etwa 3000 Pfund. Diese Art von Budget kann in Indien von Freunden oder Kollegen beschafft werden, die an meine Arbeit glauben, manchmal haben mir auch andere Filmemacher ihr Rohmaterial zur Verfügung gestellt,

149

erinnert sich Patwardhan. Bis heute kommt für viele der aktivistischen Filmemacher in Indien die Finanzierung nicht aus staatlichen Kassen, sondern aus

 148

ZAMEER KE BANDI / PRISONERS OF CONSCIENCE (IN 1978, R: Anand Patwardhan, Dokumentarfilm, 45 min).

149

Interview mit Anand Patwardhan (aus: Framework, Nr. 21 / 1982). Zitiert nach: W. Klaue et al. : Dokumentarfilm in Indien, S. 52.

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Basis-Initiativen, Hilfsorganisationen und Spendengeldern. Ihre filmische Form wird durch das niedrige Budget bestimmt. Die deutlich erkennbaren Grenzen des Filmprozesses erscheinen als eine Eigenart der Filme Patwardhans und seiner Kollegen: „Ich habe nur begrenzte Möglichkeiten, meine Filme sinnlich schön zu machen; ich habe einen politischen Auftrag in allem, was ich tue, und das bestimmt die Form meiner Filme.“150 Mit dem Verständnis, Bilder der Befreiung bedürfen keiner Schönheit und Ästhetisierung, fühlt sich Patwardhan dem lateinamerikanischen Imperfect Cinema151 verwandt. Für Regisseure wie ihn standen die Aussage, die gesammelten Fakten und deren Verbreitung im Vordergrund. Daraus resultierend herrschte unter unabhängigen indischen Dokumentarfilmern einige Skepsis gegenüber den künstlerische Formen des Dokumentarfilms, der in ihren Augen zu stark an Form, Struktur und Ästhetik ausgerichtet war und dabei das Eigentliche, den Inhalt, zu kurz kommen ließ. Auch der Kameramann und Regisseur Singh Sandu Sukdev152 brach mit der althergebrachten Form der Films-Division-Dokumentationen, indem er mit filmischen Collagen und Re-Enactme arbeitete. Seine internationale Bekanntheit allerdings verdankte er weniger diesem experimentellen Arbeitsansatz als vielmehr seiner expliziten politischen Botschaft, die sein gesamtes Werk prägt. Filme wie AND MILES TO GO153 oder NINE MONTHS TO FREEDOM154 sind stark

 150

W. Klaue, et al.: Dokumentarfilm in Indien, S.54.

151

Patwardhan verwendet diese Bezeichnung synonym für Fernando Solanas und Patricio Guzmans Third Cinema (Vgl. Akomfrah, John/Halberstadt, Ilona: Interview with Anand Patwardhan. Reproduced from PIX* 2, [Web] 1997) Der Begriff des Third Cinema rührt aus der Opposition zu den dominanten Erzählmodi und Ästhetiken etablierten Kinoformen. In Indien wäre unter dem First Cinema das populäre Bollywod-Kino zu verstehen, aus dessen Kritik heraus sich die Kunstfilmbewegung mit Satajit Ray, Rhitwik Ghatak usw. als Second Cinema gebildet hatte, während der Dokumentarfilm sich als Third Cinema begreift.

152

1933–1979. Singh Sandu Sukdev hatte seine Karriere als Assistent von Paul Zils begonnen und drehte ab den 50er Jahren Dokumentarfilme - sowohl für die Films Division als auch ohne staatliche Unterstützung.

153

AND MILES TO GO (IN 1965, R: S. Sandu Sukdev, Dokumentarfilm, 14 min). Der Film wurde 1964 mit dem Indian National Award ausgezeichnet.

154

NINE MONTHS TO FREEFOM (IN 1975, R: S. Sandu Sukdev Dokumentarfilm, 72 min). Der Film wurde 1973 mit dem Indian Film Fare Award ausgezeichnet.

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von dieser engagierten Haltung geprägt. Dem ‚nur um seiner bloßen Form willens aufgeblähten‘ subjektiven Dokumentarfilm steht er kritisch gegenüber: „Da das ‚Personal Cinema‘ sich nicht verpflichtet fühlt, etwas auszusagen oder vom Zuschauer verstanden zu werden, wird es zur bloßen Formspielerei.“155 Obwohl sich Sukhdev viel mit seinen eigenen filmkünstlerischen Ausdrucks-möglichkeiten auseinandersetzt, so unterstellt er dennoch diesen „Künstler-Filmen“, Realismus und die Darstellung sozialer und ökonomischer Probleme zu vermeiden. Er argwöhnt, dass solcherlei Filme durch westliche Filmförderer und Verleiher unterstützt werden. Sukhdevs Vermutung nach sind diese Agenturen kapitalistisch geprägt und lassen deshalb Kritik an den gesellschaftlichen Missständen nicht zu. In Abgrenzung von solchen persönlichen und künstlerischen Strategien postuliert er, Film müsse eine „starke Waffe im Kampf für die Abschaffung von Armut, Hunger, und Ausbeutung“ sein. Diesem Leitgedanken folgt etwa NINE MONTHS TO FREEDOM, eine sorgfältig recherchierte und über den Verlauf vieler Monate gedrehte dokumentarische Betrachtung des Teilungsprozesses von Ost- und Westpakistan 1971 bis zur Staatengründung Bangladeshs. Der Film reiht unzählige beinahe unerträgliche Bilder der Krise aneinander, die von großer Nähe des Filmemachers zu seinen Subjekten zeugen: lange Schlangen von Flüchtlingen, Koffer und Bündel tragend, Leichen, auf deren Gesichtern Fliegen krabbeln, verstümmelte Überlebende in Krankenstationen, Gesichter von Trauernden. Sukhdev entwickelte seine Schilderung aus dem Text heraus, im steten Wechsel von Experteninterviews – Flüchtlinge und Opfer sind nur auf der Bildebene des Filmes präsent – und seinem eigenen Voice-Over-Kommentar. Dieser birgt durchaus auch reflexive Momente, welche den Produktionsprozess miterzählen: so stellt der Filmemacher etwa zum Ende des Films fest, alle erforderlichen Aufnahmen gesammelt zu haben: „On the day we were filming the return of the refugees from India […] we knew we had come to the end of the film.“156 Mit dieser Feststellung gesteht Sukhdev auch seine eigene Beobachterrolle gegenüber seinen Protagonisten ein. So sehr er mit der Verwendung des persönlichen KommentatorTons das Subjektive seines Zusammenschnitts betont, ist die von Sukhdev gewählte Erzählform dennoch geschlossen im Sinne einer konsistenten Argumen-

 155

Sukhdev, Sing: Personal Cinema und gesellschaftliche Relevanz. In: W. Klaue, et al.: Dokumentarfilm in Indien, S. 84.

156 Min. 63:30.

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tation, dem zweifelsfreien Identifizieren der Probleme der Staatentrennung und Flüchtlingsgeschichte. „Es sollte kein anderes Kino geben, persönlich oder nicht, als jenes, dass sich zu gesellschaftlicher Relevanz verpflichtet fühlt...“,157 betont der Regisseur seine Aufgabe, die Wahrheit über ebendiese gesellschaftlichen Zustände zu enthüllen. Als weiteren wichtiger Aspekt des neuen Genres des Filmaktivismus neben seiner politischen Funktion betont die Regisseurin Madhusree Dutta die Verschiebung der filmischen Perspektive. Die Filmemacher wenden sich ihren Protagonisten in anderer Weise zu, und zeigen mit ihrer Repräsentation eine andere Haltung. Dutta weist zugleich darauf hin, dass sich das Machtverhältnis zwischen Kamera und Protagonist durch den unabhängigen Dokumentarfilm wenig ändert: No longer was it the alien people of the exotic land, it was now the victim of the NationState who came under the lens. However, the distance between the subject, the filmmaker and the audience stayed the same. There is always a triangle: of the filmmaker who collates and presents the facts, the protagonist who is the fact, and the audience who re158

ceives the fact.

 Dieses Verhältnis wird wiederum zwei Jahrzehnte später aufgelöst mit den partizipatorischen Film-Experimenten mit Community Video, in denen die Protagonisten zugleich auch die Rolle der Filmemacher übernehmen. Deren Dorfoder Slumgemeinschaft stellt häufig auch das Publikum für ihre Videoarbeiten dar. Der filmische Aktivismus der 1970er Jahre trug entscheidend zur Veränderung der dokumentarischen Form in Indien bei. Er öffnete die Sichtweisen des institutionellen Films und suchte nach neuen Aufführungsmöglichkeiten. Offenes Erzählen als dramaturgischer oder filmästhetischer Ansatz wurde jedoch als Ausdruck künstlerischen Filmemachens skeptisch betrachtet.

 157 S. Sukhdev: Personal Cinema und gesellschaftliche Relevanz, S. 87. 158 M. Dutta: In Defense of the Political Documentary [Web].

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Neue dokumentarische Strategien von Filmemacherinnen

 Schon nur noch eine Randnote in der offiziellen Filmgeschichtsschreibung der Films Division sind die Frauen, die in den 1980er Jahren das Feld des Dokumentarfilms betreten, eine andere visuelle Sensibilität mitbringen und häufig aus feministischem Bewusstsein heraus operieren. Während des durch Indira Gandhi ausgerufenen Ausnahmezustands begannen auch viele Frauen, in der indischen Film- und Medienindustrie in verschiedenen Positionen zu arbeiten159 – in den Massenkultur-Betrieben von Bollywood, in denen sich Frauen bis zu diesem Zeitpunkt lediglich als Schauspielerinnen behaupten konnten, ebenso wie in unabhängigen und kritischen Produktionen. Video als aufkommendes preiswertes Produktionsmedium begünstigt diese Entwicklung. Ella Shohat betont, dass die feministische Filmbewegung in den Drittweltländern und auch Indien zwar deutlich weniger Vertreterinnen aufweist als die vergleichbaren Bewegungen im Westen, diese jedoch ausgesprochen bedeutsam sind für das Entstehen der Frauenrechtsbewegungen in diesen Ländern, sowie deren öffentliche Wahrnehmung: As is the case with First-World cinema, women’s growing participation within the ThirdWorld cinema has hardly been central, although the growing production over the last decade corresponds to a worldwide burgeoning movement of independent work by women, made possible by new, low-cost technologies of video communication. But apart from this relative democratization through technology, growth of women’s grass roots local organizing, also helps us to understand the emergence of what I call „post-thirdworldist feminist film and video“.

160

Nach Shohat unterscheidet sich die filmische Erzählung von DrittweltRegisseurinnen in ihrer Kritik von westlichen feministischen Filmen und deren Form der Adressierung. Die Filme der Dritten Welt nämlich treten nicht nur für die Bedürfnisse und Rechte von Frauen ein, sondern kritisieren häufig zugleich antikolonialen Nationalismus (der Frauen in ihrer Entwicklung limitiert) und

 159

Vgl. S. Bandi: Films from the Margins, S. 25.

160

Shohat, Ella: ‚Post-Third-Worldist Culture: Gender, Nation, and the Cinema‘. In: Ezra, Elizabeth / Rowden, Terry (Hg.): Transnational Cinema. The Film Reader. Oxon, Routledge, 2006, S. 39.

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das eurozentristische Verständnis von ‚Frau‘ und ‚Feminismus‘. Feministische Arbeiten aus diesen Ländern sind komplex. Sie beziehen auch nationale Fragen von Rassen, Klassen- und Genderzugehörigkeit mit ein – schließlich ist der Widerstand der Frauen an gesamtgesellschaftliche Bedingungen gekoppelt. Die Handlungs- und Emanzipationsspielräume indischer Frauen etwa sind durch die Gesetzmäßigkeiten von Kasten und Religionen, zu denen die Frauen gehören, geprägt. Diese haben Einfluss auf Heiratspraxis, Lebensformen, Berufswahl, Besteuerungen, sowie auf Mitgift- und Erbschaftsregelungen. Regisseurinnen, die in ihren Filmen von den misslichen Situationen indischer Frauen erzählen, müssen das die Frauen umgebende Rahmenwerk mitskizzieren und – problematisieren. Die Feministinnen der ersten Welt hingegen fokussieren auf die Annahme einer universellen Schwesternschaft161 und hinterfragen seltener die politische Konstruktion von ‚Nation‘, innerhalb derer sich die Produktion und auch Verbreitung ihrer filmischen Arbeiten abspielt: Rather than merely „extending“ a preexisting First-World feminism, as a certain „Eurodiffusionism“ would have it, post-Third-Worldist cultural theories and practises create a more complex space for feminisms to open the specifity of community culture and 162

history.

Die nachweislich erste Dokumentarfilmerin in Indien war Durga Khote, die 1952 ihren ersten Film drehte. 1960 gründete sie ihre Produktionsfirma Durga Khote Productions mit der sie Filme zu Frauenrechten drehte – unter anderem für die Films Division.163 Nach ihr begannen weitere Frauen, sich mit der dokumentarischen Filmform auseinanderzusetzen: Deepa Dhanraj164 etwa, Madhusree Dutta,165 Meera Dewan166 und Paromita Vohra.167

 161

Vgl. Mohanty, T. Chandra: ‚Feminism without Borders. Decolonizing Theory, Practising Solidarity‘. Zitiert nach: S. Bandi: Films from the Margins, S. 28.

162

E. Shohat: Post-Third-Worldist Culture, S. 40.

163

Vgl. D. Gupta: Confronting the Challenge of Distribution, S. 23.

164

Zu Dhanrajs frühen Arbeiten gehört z.B. SOMETHING LIKE WAR (IN 1991, R: Deepa Dhanraj, Dokumentarfilm, 52 min).

165

Zu Duttas frühen Arbeiten gehört z.B. I LIVE IN BEHRAMPADA (IN 1993, R: Madhusree Dutta Dokumentarfilm, 46min).

V ORBEDINGUNGEN DES S PRECHENS

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Auch Manjira Duttas Dokumentarfilm THE SACRIFICE OF BABULAL BHUIYA168 opriert bewusst aus einer femininen Perspektive: Als weibliche Darstellung eines gesellschaftlichen Misstandes bewegt er sich jenseits der vertrauten Erzählformen. In poetischer Weise untersucht der Film die Umstände des Todes eines Kohlebergwerks-Arbeiters: 1981 wurde Babulal Bhuya von der Industrial Security Force erschossen. Damit steht er für die Dreharbeiten als Protagonist und Interviewgeber nicht mehr zur Verfügung. Dutta beschreitet indirekte, poetische Wege, um seinen Tod zu erzählen. Sie besucht die Demonstrationen kommunistischer Gruppen – Minderheiten, die mit der Einrichtung des Bergbaus ihre Lebensgrundlage verloren und in ein neues Auskommen gezwungen wurden. Die Regisseurin zeigt in stillen, unkommentierten Bildern anonyme Männer, die mit bloßen Händen mühselige Bergwerksarbeit verrichten und montiert dazu die stellvertretenden Aufnahmen eines toten Körpers. Zwanzig Jahre nach dem SACRIFICE OF BABULAL BHUIYA suchen noch immer Regisseurinnen nach persönlichen Erzählformen für die Geschichten von Frauen: Nishtha Jain reflektiert in ihrer Dokumentation LAKSHMI AND ME169 die Frauenrollen in verschiedenen Gesellschaftsschichten des urbanen Indien. Hauptschauplatz der dokumentarischen Handlung ist der geborgene und sichere Ort von Nishtha Jains Zuhause, einem modernen Apartment in Mumbai. Die Protagonistinnen sind die Autorin und ihr Dienstmädchen Lakshmi. Die eine Frau ist Koordinatorin, die andere Befehlsempfängerin. Die eine studierte am Film and Television Institute of Poona Regie, denkt englisch, bewegt sich in den internationalen Dokumentarfilmforen, ist emanzipiert im Sinne ihrer Berufswahl und eigenständigen Lebensgestaltung als unverheiratete Frau. Sie ist reflexionsbereit, steht für sich selbst und ihre Projekte ein, trägt moderne indische Kleidung und genießt die Segnungen der globalen Zivilisation. Die andere Frau ist jünger und verfügt über eine sehr geringe Schulausbildung und fragile

 166

Zu Meera Dewans frühen Arbeiten gehört z.B der Dokumentarfilm über Opfer der Mitgift-Paxis GIFT OF LOVE (IN 1983 R: Meera Dewan, Dokumentarfilm, keine Längenangabe).

167

Zu Vohras frühen Arbeiten gehört z.B UNLIMITED GIRLS, (IN 2002, R: Paromita Vohra, Dokumentarfilm, 95 Min).

168

BABULAL BHUIYA KI QURBANI / THE SACRIFICE OF BABULAL BHUIYA (IN 1987,

169

LAKSHMI AND ME (IN 2008, R: Nishtha Jain, Dokumentarfilm, 59 min).

R: Manjira Dutta, 63 min).

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Gesundheit. Sie scheint das Gegenstück der Filmemacherin zu sein. Sie darf nicht selbstbestimmt leben, sondern folgt den Anforderungen des väterlichen Slum-Haushalts. Aber auch Lakshmi wird als emanzipiert erzählt. Im Verlauf des Films bricht sie aus der Kasten-Hierarchie aus, weil sie sich in einen Mann aus einer niedrigeren Kaste verliebt. Jains Film ist feministisch, weil er eine Geschichte von Frauen unter Frauen portraitiert. In ihrem Film spielen Männer kaum eine Rolle. Ausnahmen bilden nur kurze Auftritte von Lakshmis Vater und ihrem Bräutigam, die beide starken Einfluss auf sie und ihre Lebensentscheidungen haben. Die Kamera begegnet ihnen bei Ausflügen in Lakshmis Leben. Die Frauen empfinden in der filmischen Repräsentation Bewunderung für die Lebensweise der jeweils anderen und haben ein Bewusstsein für die gesellschaftliche Trennlinie, die zwischen ihnen verläuft – etwa wenn Jain die Benimmregeln von Kastenhierarchien ignoriert und Lakshmi auffordert, mit ihren Gästen gemeinsam am Tisch zu speisen. Die sich im Film entwickelnde Allianz der beiden Frauen ist geprägt von der Mütterlichkeit der Arbeitgeberin und Filmemacherin Jain, die sich vor der Kamera hingebungsvoll um ihr krankes und unterernährtes Dienstmädchen kümmert und beherzt das Überleben ihrer Protagonistin während Schwangerschaft und Geburt sichert. Über die persönlichen Schwierigkeiten Lakshmis hinaus interessiert sich Jain auch für die politische Stellung ihrer ‚maid‘ und begleitet sie etwa auf ein Gewerkschaftstreffen, bei dem die Frauen sich gegenseitig zur Einforderung ihrer Rechte ermuntern. Diese Szene erinnert filmgestalterisch stark an die aktivistischen Filme der 1970er Jahre. Die Gruppe der ‚domestic servants‘ wird stellvertretend für Lakshmi und ihre gesellschaftliche Situation abgebildet. Nach der professionellen, journalistischen Beobachtung der GewerkschaftsAktivitäten kehrt Jain in den Grenzbereich zwischen Privatem und Professionellem zurück. Sie interessiert sich für die komplizierte Beziehung der einundzwanzigjährigen Lakshmi und ihre Mutterschaft. Dabei erscheint in der Untersuchung der alten und neuen weiblichen Rollenbilder das Interesse der westlich aufgeklärten und emanzipierten, alleinstehenden älteren Frau gegenüber dem Kind ihres Dienstmädchens durchaus ambivalent.

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Im Gespräch wies Jain darauf hin, dass der scheinbar so beiläufig und beobachtend daherkommende Film komplett geskriptet sei.170 Der Erzählertext und ein Großteil der Szenen in Jains Apartment waren im Vorfeld geplant. Lakshmis Schwangerschaft und die draus entstehenden Komplikationen entstanden während der anderthalbjährigen Dreharbeiten als dramaturgischer Bonus und ermöglichten der dokumentarischen Erzählung einen noch persönlicheren Zugang. Mit dem Offenlegen ihrer ungleichen Beziehung übt Nishtha Jain eine weit über feministische Belange hinausgehende Kritik am indischen Gesellschaftssystem im Umbruch. Mit GULABI GANG171 führt sie ihre dokumentarische Auseinandersetzung mit Frauen, die ihre Rolle in der indischen Gesellschaft behaupten und verteidigen, fort. Mit dem Beispiel Nishtha Jains erreicht dieser historische Überblick die Gegenwart, die von noch mehr individuellen Ansätzen und filmischen Handschriften geprägt ist. Den künstlerischen Tendenzen im gegenwärtigen Indien, insbesondere der Öffnung dokumentarischer Erzählweisen, sowie der facettenartigen Betrachtung exemplarischer Dokumentarfilme sind die folgenden Kapitel gewidmet.



 170

Interview mit Nishtha Jain in Mumbai, März 2010 / Dies entspricht Nishtha Jains Arbeitsweise, auch für CITY OF PHOTOS lag vor Drehbeginn ein ausdifferenziertes Drehbuch vor. Zugleich mag es die Erfordernisse einer international finanzierten Produktion bedienen – der Film wurde unterstützt durch ITVS International (USA), Tjubang Film Dänemark, das dänische Filminstitut, Danidas Oplysningsbevilling, Danish Center for Cultural Development, Millenium (Finnland), YLE (Finnland) und die finnische Botschaft New Delhi sowie einer Förderung durch den Nokia-Award der besten Filmidee beim DocEdge-Forum in Kalkutta und bedurfte somit einer hohen Planungssicherheit.

171

GULABI GANG (IN/NOR/DK 2012, R: Nishtha Jain, Dokumentarfilm, 94 min).

Offenes Erzählen im Dokumentarfilm   Mit der sich verändernden Situation des Dokumentarfilms von einem staatlichen Erziehungsmedium zu einem sich unabhängig auf dem Festival- und Kinomarkt behauptenden Format hat sich auch das Selbstverständnis vieler indischer Dokumentarfilmer geändert. Innerhalb einer modernen, zunehmend individualisierten Gesellschaft können Filmemacher stärker denn je subjektive Perspektiven einnehmen. Mehr und mehr Filmemacher und Zuschauer betrachten den faktischen Film als eine Form der Kunst statt einem bloßen Überbringer von Informationen. Daraus ergeben sich für den aktuellen indischen Dokumentarfilm vielfältige narrative und ästhetische Impulse und unter anderem eine Strategie, die ich ‚offenes Erzählen‘ nenne. Der Begriff ist den dramaturgischen Theorien des Spielfilms entlehnt. Für Kerstin Stutterheim sind solcherart offen operierende Spielfilme mit einer Öffnung der Erzählebenen, einer Loslösung vom filmischen Realismus und der Nutzung von Symbolik und allegorischen Figuren verbunden. 1 Es lässt sich fragen, inwiefern die genannten Kriterien auch im nonfiktionalen Film eine Rolle spielen. Die Offenheit der dokumentarischen Erzählung soll auf den Ebenen der filmischen Struktur, der Filmästhetik und dem Verhältnis zum Betrachter untersucht werden. Auf der phänomenologischen Ebene mag offenes Erzählen im Film zunächst als eine paradoxe Kategorie erscheinen, weil Film klassischerweise auf Linearität und Stringenz baut. Das Medium Film hat sowohl strukturell als auch temporal immer einen Anfang und ein Ende und ist damit begrenzt. Film, in seiner analogen Form, ist physisch linear und abgeschlossen als Objekt, als Filmstreifen.

 1

Vgl. Stutterheim, Kerstin/Kaiser, Silke: Handbuch der Filmdramaturgie. Das Bauchgefühl und seine Ursachen. Frankfurt (Main), Peter Lang Internationaler Verlag der Wissenschaft, 2011, S. 174.

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Film ist überhaupt nur in seiner zeitlichen Dimension erfahrbar: der Projektor wird an- und abgeschaltet, dazwischen findet das Kunstwerk ‚Film‘ statt. Das Erlebnis des Film-Sehens ist durch die Filmlänge begrenzt. Innerhalb dieser festgelegten Erscheinungsform jedoch ist eine inhaltliche Offenheit, ein Abweichen von hergebrachten filmischen Konstruktionsweisen möglich, die den Zuschauer beim Lesen der filmischen Handlung stärker fordern.

 

S EMIOTISCHE O FFENHEIT   Für Umberto Eco liegt die Offenheit von Werken verschiedenster Kunstgattungen in der Interpretation des Wahrgenommenen durch den Betrachter. In vielerlei Hinsicht erscheint mir sein Standpunkt brauchbar für die Analyse aktueller künstlerischer Dokumentarfilme aus Indien. Interessant ist seine Idee insbesondere angesichts der Frage der Wahrheitsfindung, die mit dem dokumentarischen Medium gemeinhin assoziiert wird. Eco führt aus: Der Künstler, so kann man sagen, bietet dem Interpretierenden ein zu vollendendes Werk: er weiß nicht genau, auf welche Weise das Werk zu Ende geführt werden kann, aber er weiß, dass es zu Ende geführt wird, und dass am Ende des interpretativen Dialogs eine Form sich konkretisiert haben wird, die seine Form ist, auch wenn sie von einem anderen 2

in einer anderen Weise organisiert worden ist, die er nicht vorhersehen konnte.

Eco zufolge ist das Kunstwerk also vieldeutig und lässt verschiedene Lesarten, Deutungen und Neuknüpfungen innerer Beziehungen zu. Er demonstriert seine These an verschiedenen künstlerischen Arbeiten wie James Joyces Ulysses und Finnigans Wake, den Kompositionen Karl-Heinz Stockhausens oder dem unvollendeten Kunstbuch Le Livre des französischen symbolistischen Dichters Stéphane Mallarmé. Eco greift Mallarmés Gedanken der ‚Poetik des Andeutens‘ auf und führt fort: Ein Werk, das „andeutet“, nimmt bei jeder Interpretation das in sich auf, was der Leser an emotiven und imaginativen Elementen dazubringt. Zwar ist beim Lesen jeder Dichtung eine persönliche Welt im Spiel, die danach strebt, sich möglichst getreu der Welt des Textes

 2

Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt (Main), Suhrkamp, 1973, S. 55.

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anzugleichen; in den ausdrücklich auf das Andeuten gegründeten dichterischen Werken aber möchte der Text bewusst die persönliche Welt des Lesers so anregen, dass er aus der Tiefe seiner Innerlichkeit eine über geheimnisvolle Konsonanzen zustande kommende Antwort zieht. Jenseits der metaphysischen Intentionen oder der preziösen und dekadenten Geisteshaltung, die derartigen Poetiken zugrunde liegt, enthüllt hier der Mechanismus der ästhetischen Rezeption eben diese Art von „Offenheit“.

3

 In dem Zitat wird auch der Anteil des Autors / Regisseurs deutlich, der den offenen Text / Film eben nicht beliebig werden lässt, sondern mit Bedeutung füllt – und dem Rezipienten Raum für eigene Schlüsse lässt, indem er andeutet, evoziert, oder gezielt mit Leerstellen arbeitet. Diese offene Lesart solcher Filme ist bewusst geplant. Iram Ghufrans im Kapitel „Luft, Geister, Schatten, Djinns“ ausführlicher besprochene Dokumentation THERE IS SOMETHING IN THE AIR erzählt von schizophrenen Frauen, die sich von Dämonen besessen glauben und an einem Sufi-Schrein in Nordindien Zuflucht suchen. Ghufran entscheidet sich in der Repräsentation der Frauen gegen die unmittelbare Abbildung ihrer Gesichter, gegen eine Erläuterung des Krankheitsbildes sowie des alternativen Heilungsansatzes am Schrein. Statt die äußeren Geschehnisse am Schrein abzubilden, evoziert erdurch metaphorische Aufnahmen die Erscheinungen und Stimmen, welche die Protagonistinnen erleben. In der Literatur, die Eco zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über das interpretative Verhältnis von Kunstwerk und Betrachter macht, werden Beschreibungen von Situationen und Gedanken, jedoch keine Bilder vorgegeben. Bücher verlangen dem Leser Vorstellungskraft ab und fordern von ihm eine aktive Mitarbeit. Das Medium Film enthält das Sichtbare und Hörbare bereits. Es stellt sich die Frage, wo die Spielräume der Andeutung und des Evokativen im Film liegen. Wie plant ein Filmemacher die offene Lesart seines Films? Eco beschreibt erzählerische Mittel, die auch im Film anwendbar sind: „[…] In diesem Sinne beruht ein großer Teil der modernen Literatur auf der Verwendung des Symbols als Ausdruck des Unbestimmten, der für immer neue Reaktionen und Interpretationen offenbleibt.“4 Folgt man Eco, kann Offenheit durch Symbolik und unbestimmte Suggestion oder emotive Anregung, aber auch Verfremdung im Brechtschen Sinne herge-

 3

Ebd., S. 37.

4

U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 37.

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stellt werden. Die Dramen Bertolt Brechts enden häufig mit einer Situation der Ambiguität. Der Zuschauer erwarte und erhoffe eine Lösung, die das Stück zu zeigen verweigert. Damit wird das Publikum zur aktiven Mitarbeit gezwungen. Es antizipiert und erfindet Antworten auf die im Drama aufgeworfenen Fragen. Die Offenheit wird so zu Brechts Werkzeug revolutionärer Pädagogik.5 Dieser pädagogische Charakter entsteht jedoch nicht auf Basis einer vollständigen Offenheit, vielmehr lenkt Brecht durch das Andeuten von Antworten und Lösungen sein Publikum bereits in eine bestimmte von ihm gewünschte Richtung. Gerade dieses Vorgeben, oder didaktische Lenken, macht jedoch nach Eco das offene Kunstwerk zu einem Werk der Kunst und nicht einem „Klumpen zufälliger Elemente“.6 Das Spiel mit dem Feststehenden und den Leerstellen, das Abbilden, Repräsentieren oder Auslassen wird zum Raum, in dem ein Autor seine Handschrift entfalten kann.

 

F ILMÄSTHETISCHE O FFENHEIT  Ein filmästhetisches Mittel zur Erzeugung dokumentarischer Offenheit ist die Methode der Evokation. Der Begriff der Evokation bezeichnet das Heraufbeschwören von etwas nicht physikalisch Anwesendem. Er kann auch im spiritistischen Sinne für die Anrufung der Götter oder eine Geisterbeschwörung stehen. Im Film werden mittels Evokation Ahnungen und Stimmungen erzeugt, welche den Zuschauer als atmosphärische Anhaltspunkte bei der Interpretation der Filmhandlung unterstützen und ihn zum Assoziieren einladen. Für den Begründer des postmodernen Ansatzes der Anthropologie, Stephen Tyler – der sich in seinen Abhandlungen allerdings ausschließlich auf schriftliche Aufzeichnungen bezieht – spielt Evokation in der ethnografischen Dokumentation eine entscheidende Rolle. „[It] makes available through absence which can be conceived but not presented“,7 beschreibt er das Potential des von ihm empfohlenen, bis dahin als unwissenschaftlich verrufenen Erzählmittels. Dieses stellt die beim Zuschau-

 5

Vgl.: Ebd., S. 40 – 41.

6

Vgl.: U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 55 – 56.

7

Vgl. Tyler, Stephen, zitiert nach: Strecker, Ivo/Verne, Markus (Hg.): ‚Introduction‘. In: Strecker, Ivo/Verne, Markus (Hg.): Astonishment and Evocation: The Spell of Culture in Art and Anthropology. New York, Oxford , Berghahn Books, 2013, S. 3 – 4.

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er ablaufenden Prozesse der Wahrnehmung und Ahnung über die bloße Präsentation von Informationen, die kein aktives Mitdenken erfordert. Evocation defamiliarizes commonsense reality in a bracketed context of performance, evokes fantasy whole abducted from fragments, and then returns participants to the world 8

of common sense – transformed, renewed and sacralized.

Das Abweichen von gewohnten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern bewirkt Stephen Tyler zufolge beim Zuschauer ein Innehalten und Neudenken der repräsentierten Situation. Tyler entwickelte in The Said and the Unsaid vier Wahrnehmungsschemata, die der Kulturanthropologe Ivo Strecker für das Verständnis filmischer Evokation heranzieht: das Schema der Existenz, der Funktion, des Zuordnens und des Vergleichens. Diese Systeme menschlicher Wahrnehmung helfen, evokative Bilder oder Szenen zu lesen – und zu erzeugen.9 Das Scheme of Existence zeigt auf etwas Sichtbares und stellt damit eine Behauptung über die reale Welt auf. Das Existenzschema beschäftigt die menschliche Wahrnehmung auf einer grundlegenden Ebene. So kann ein Zeigefinger auf einen fliegenden Vogel aufmerksam machen, der sich sonst unserer Wahrnehmung entzogen hätte. Das Scheme of Attribution ist mit der (fotografischen) Abbildung bestimmter sensorischer Eigenschaften verbunden, die eine Figur oder Handlung charakterisieren. Die Suppe in einem Kessel kann heiß, duftend, stärkend, würzig und farbig sein, ihre Eigenschaften erlangen Bedeutung im Kontext, wie einem frostigen Wintertag. Wird in dem Suppenkessel ein Opfertier zubereitet, lässt sich die Liste der zugeschriebenen Eigenschaften noch um einiges erweitern. Insbesondere der farbigen Beschaffenheit von Dingen kann dabei eine große Bedeutung zukommen – wie dem Blau in Krysztof Kieslowskis Film BLAU.10 Kieslowski weist mit dem Titel und durch die farbliche Komposition auf den Zustand der

 8

Tyler, Stephen zitiert nach: Nichols, Bill: Getting to Know You: Knowledge, Power and the Body. In: Renov, Michael (Hg.): Theorizing Documentary. New York, Routledge, 1993, S. 187.

9

Strecker, Ivo: ‚Co-Presence, Astonishment, and Evocation in Cinematography‘. In: Strecker, Ivo / Verne, Markus (Hg.): Astonishment and Evocation: The Spell of Culture in Art and Anthropology. New York, Oxford, Berghahn Books, 2013, S. 53.

10 BLAU (FR/PL 1993. R: Krystof Kieslowski, Spielfilm, 100 min).

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Melancholie und Trauer seiner Hauptfigur Julie hin, die über den Verlauf des Films den Unfalltod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter verarbeitet.11 Der Zuschauer erkennt die Qualitäten der filmischen Abbilder wieder und ordnet sie eigenen Erfahrungen zu: Much of the astonishment and evocation arising from our primary experience of the world is related to attribution: we wonder and ponder about the redness of blood, the whiteness of snow, the blackness of the coal, the translucence of the sky, the hardness of a feather and so on.

12

Ivo Strecker überträgt diese Momente der Faszination, die der Zuschauer durch das Abgleichen mit seinen eigenen Erfahrungen erlangt, auf die Möglichkeiten filmischer Darstellung und der Stilisierung und Überhöhung durch die Kamera: The camera is able to capture and even enhance this wondering about the nature of things. In fact, photography and film were invented partly to explore and document the most primary states and processes in the world. Prototypical examples from the early days of cinema are leaves falling, smoke rising, an animal running, or tears shimmering in an human eye.

13

In ähnlicher Weise wirkt auch Tylers Scheme of Function, welches auf dem Verknüpfen von Ursache und Wirkung, Zweck und Form beruht. So evoziert der Hammer den Nagel, der Teelöffel die Teetasse, und umgekehrt. Dieser Funktionszusammenhang zwischen den Objekten wird durch die Interpretation des Zuschauers hergestellt. Die Verknüpfung beruht auf den Erfahrungen des Betrachters und ist darum kulturell geprägt. Das Verhältnis von Form und Funktion, welches das Verständnis solcher funktionell miteinander verbundenen Objekte bestimmt, war lange Zeit wichtiges Thema anthropologischer Filme. Strecker nennt beispielhaft den Lehmkrug, welcher die den Lehm formende Hand evoziert, oder den Metallkrug, der auf den Werkzeug-gebrauch hindeutet. Zugleich

 11 Vgl. Wiseman, Boris: ‚Tangled Up in Blue. Symbolism and Evocation‘. In: Strecker, Ivo/Verne, Markus (Hg.): Astonishment and Evocation: The Spell of Culture in Art and Anthropology. New York, Oxford, Berghahn Books, 2013, S. 45. 12 I. Strecker: Co-Presence, Astonishment, and Evocation in Cinematography, S. 54. 13 I. Strecker: Co-Presence, Astonishment, and Evocation in Cinematography, S. 54.

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lassen aber unterschiedliche kulturelle Erfahrungen des Zuschauers unterschiedliche Interpretationen dieser evokativen Kopräsenzen zu. Der ethnografische Film eines Indologen, ließe sich schlussfolgern, wird von einem westlichen wissenschaftlichen Publikum anders gelesen als von einem westlichen KinoPublikum, wiederum anders durch ein indisches Publikum. Die drei Zuschauergruppen sind in unterschiedlichem Maße den Konnotationen und metonymischen Zusammenhängen vertraut. Der Dokumentarfilm, den eine Gruppe von DalitFrauen14 über die Diskriminierung dreht, welche sie im eigenen Dorf erleben, wird wiederum von einer anderen Erfahrung und Interpretationsfähigkeit ausgehen. Mit dem Scheme of Comparison erschließt sich der Zuschauer einen Sachverhalt durch den Vergleich mit der ihm vertrauten Welt. Wesentliche Bezugspunkte stellen dabei Raum, Zeit und Ähnlichkeit dar. Das Zeitschema ist eines der wichtigsten Wahrnehmungsmuster, welches der Film sich zunutze machen kann. Häufig geht es mit dem Funktionsmuster Hand in Hand. Strecker nennt hier das Beispiel einer Filmeinstellung, in der ein Fischer sein Boot am frühen Morgen zu Wasser lässt. In Funktion dieser Handlung sowie in Funktion der erzählten Zeit antizipiert der Zuschauer Fangglück oder Unglück. Die Antizipation wird wiederum über weitere vorangegangene Sequenzen gesteuert, die ins Verhältnis mit dem In-See-Stechen des Fischers gesetzt werden. Über die interpretative Mitarbeit des Zuschauers wirken sie evokativ. Das Ähnlichkeitsschema arbeitet mit der bereichernden Kopräsenz des Eigenen und des Fremden im ethnografischen Film: Filmemacher und später Zuschauer vergleichen die filmische Situation, etwa einer Hochzeitsfeierlichkeit, mit ihren eigenen Erfahrungen. Die simultan festgestellte Ähnlichkeit und Andersartigkeit von Emotionen und Ritualen aktiviert die gedankliche Teilnahme. Durch das Vermitteln zwischen allgemeiner menschlicher Erfahrung und Faktoren, die das Verständnis der dokumentierten Situation ermöglichen, entsteht eine über den Film hinausweisende Relevanz. Filmische Metaphern und Symbole entspringen folglich dem Bedürfnis des Filmemachers, einer von Protagonist und Publikum gemeinsam empfundene Be-

 14 Die Dalits sind keiner Kaste zugehörig und stehen am unteren Ende der hinduistischen Kasten-Hierarchie.

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deutung gerecht zu werden.15 Dieses System kann nicht nur fiktionalen, sondern ebenso dokumentarischen Filmen innewohnen. In diesem Übersetzungsprozess von Situationen der realen ‚historischen‘ Welt für den Betrachter fordert Bill Nichols ein Überdenken dokumentarischer Fragestellungen hinsichtlich expressiver und poetischer Strategien jenseits der Deskription. Für den offenen Dokumentarfilm bedeutet dies, dass er nicht eine möglichst klar und eindeutig formulierte Botschaft transportieren muss. Vielmehr verlagert sich Nichols zufolge die Aufmerksamkeit der dokumentarischen Repräsentation weg von der logikbasierten, exakten Abbildung hin zu dem Verhältnis, welches der Zuschauer zu ihm aufbauen kann: „We are what such films refer to“.16 Anitha Balachandrans Arbeiten wohnt nicht nur darum Offenheit inne, weil sie im Grenzbereich der Gattungen des Dokumentarfilms und der Animation verlaufen, sondern auch, weil sie journalistisch vielfach ausgewertete Fakten in evokativer Weise neu erzählen. Ihr animierter Dokumentarfilm FLOOD OF ME17 MORY berichtet von einer Flut im indischen Wüstenstaat Rajasthan. Er kombiniert Interviews der Überlebenden mit Videoaufnahmen des Flüchtlingscamps und Animationen, die im Stopptrick-Verfahren mit dem Material Sand arbeiten und eindrücklich das Eintreffen der Flut und den Kampf mit dem Wasser illustrieren. Die Materialien der rajasthanischen Wüste, die dem Regen keinen Halt bieten konnten, werden nun zum Medium, mit dem Balachandran die Geschichte der Flut erzählt. Auf die animierten Bilder der wertvollen Tropfen am Dorfbrunnen lässt sie die armreifgeschmückten Hände einer Frau folgen, die sich an einem aus den Fluten ragenden Baum festklammern, bis die Finger nachgeben. Das Nachdenken ihres Protagonisten im Videointerview überblendet sie in eine aus den Fluten auftauchenden animierten Figur, welche langsam Wasser durch ihre Hände rinnen lässt. Balachandran evoziert die Erinnerungen des Schreckens: nicht als chronologische Aufzeichnung der Ereignisse, vielmehr dehnt sie aus

 15 Vgl. I. Strecker: Co-Presence, Astonishment, and Evocation in Cinematography, S. 58. 16 Vgl. Nichols, Bill: ‚Performing Documentary‘, In: Nichols, Bill: Blurred Boundaries, Questions of Meaning in Contemporary Culture. Bloomington (u.a.), University of Indiana Press, 1994, S. 100. 17 FLOOD OF MEMORIES / BAAD KI RAAT (UK/IN 2008, R: Anitha Balachandran, Animierter Dokumentarfilm, 11 min).

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der Erinnerung herausragende Bilder des untergegangenen Dorfes und der durch die Wassermassen watenden Menschen ins Endlose und Poetische.

 Abbildung 1: Flood of Memory. Filmstandbild

Quelle: A. Balachandran

„When I met this people I realized that I in my head was making images to what this person said“18 beschreibt Balachandran den Beginn ihrer Beschäftigung mit dem Thema und ihre Suche nach Bildern für die unwiederbringlich in der Vergangenheit liegenden Geschichten ihrer dokumentarischen Protagonisten. Bilder des Schauplatzes standen für die ausführlichen Interview-Schilderungen nicht mehr zur Verfügung.

 You are speaking to people who you know will never be in your position, they will never have a camera in their hands,

 denkt die Animationsfilmerin über das Verhältnis zu ihren Protagonisten nach.

 For me that makes a little bit of a dilemma. How to represent their stories? You don‘t want to play on their situation. How do you try and bring a little bit humanity to it? Then you have to find out what is it, what kind of story do they want to tell? And I realized nobody

 18 Anitha Balachandran im Gespräch in New Delhi, 2009-10-02.

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wants to have his or her head on the screen. […] I was trying to find another way, a more 19

subjective way that calls upon them and your imagination.

So entschied sich Anitha Balachandran für eine sehr offene Form der Übersetzung. Sie versucht, in ihren Filmen eine Realität zu erschaffen, wie sie wahrgenommen wurde, nicht wie die Kamera sie hätte einfangen können. In ähnlicher Weise kombiniert sie auch in ihrer Videoinstallation HE RAM20, welche die letzten Minuten Mahatma Gandhis vor seinem Attentats-Tod 1948 im Birla-Haus beschreibt, dokumentarisches Archivmaterial des großen indischen Führers mit einem Lied des Sufi-Dichters Kabir aus dem 14. Jahrhundert und animierten Bildern, die der kollektiven Erinnerung an Gandhi nachempfunden sind. Untermalt von der getragenen Stimme des klassischen indischen Sängers Kumar Gandharva wird HE RAM zu einer versöhnlichen Evokation der Vergänglichkeit: Kumar Ghandarva sings Kabir’s Nirgun Bhajans. […] The Nirgun Bhajans are sung to no god, to a secular god. The idea of a Nirgun Bhajan playing and somebody being killed by a religious fanatic I thought was a nice tension.

21

Es stellt sich die Frage, inwieweit sich die filmische Form von HE RAM dem Dokumentarischen zuordnen lässt. Die Verwendung von Dokumenten wie den abgeschwenkten Räumen des Birla-Hauses, in die Animation eingebettete Archivfilme, die Gandhi auf Protestmärschen oder am Spinnrad zeigen, die nicht fiktionalisierte, atmosphärisch erweiterte Rekonstruktion seiner letzten Schritte, und schließlich die Produktion von HE RAM als Dokument für einen Museumsraum legen eine Nähe zur dokumentarischen Gattung nahe. Durch das Ausschmücken von Gandhis letztem Gang mit historisch unverbrieften Elementen wie einem kreisenden Vogelschwarm, einem zu den Liedzeilen Kabirs niederfallenden Blatt und dem sich verlangsamenden Ticken einer Taschenuhr erweitert Balachandran die ‚historische‘ Welt und baut, im Nicholsschen Sinne, ein Verhältnis zwischen der Figur Gandhi und dem Zuschauer auf. Hinsichtlich seiner dramaturgischen

 19 Ebd. 20 HE RAM (IN 2005, R: Anitha Balachandran: Animierter Dokumentarfilm. 5 min) – Die Arbeit entstand als Auftragsproduktion für das Gandhi Smriti, New Delhi. 21 Anitha Balachandran im Gespräch in New Delhi, 2009-10-02.

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Struktur bleibt der Film ebenfalls offen. Er zeigt einen Schuss, ein sich blutrot färbendes Gewand. Daran schließt sich das informative Element eines Rolltitels an, der über die Verurteilung Nathuram Godes und Narayan Aptes Auskunft gibt. So wird mit dem juristischen Resultat die Erzählung des Attentats zumindest hinsichtlich der Schuldfrage geschlossen. Evokation wäre in diesem Sinne ein Element, das der Dokumentarfilm dem fiktionalen Erzählprinzip entlehnt und für seine Zwecke weiterentwickelt: eine Annahme, eine Interpretation. Der ethnografische Filmemacher David MacDougall setzt diesen Gedanken fort. Ihm zufolge bietet filmische Evokation dem Zuschauer die Möglichkeit, selber zu sehen und zu wissen.22

  O FFENHEIT

DER E RZÄHLSTRUKTUR  Offenheit kann entgegen der abendländischen Erzählkonventionen auch in der Struktur des Films angelegt sein. Aristoteles’ grundlegende Forderung der Geschlossenheit hat die Form der westlichen Dramen und Erzählungen entscheidend geprägt. Dem klassischen Erzählkino liegt eine geschlossene Form mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende zugrunde. Der Film folgt einer linearkausalen Anordnung von Ereignissen entlang einer zentralen Frage, die zum Ende des Films hin positiv oder negativ beantwortet wird. Dabei konzentriert sich das klassischen Kino auf einen Haupt-Handlungsstrang und zumeist eine Hauptfigur. Das dramatische Geschehen wird in einer Drei-Akt-Struktur erzählt. Im ersten Akt werden die Figuren vorgestellt und der Konflikt des Filmes etabliert. Der Hauptfigur wird ein Ziel gesetzt. Im zweiten Akt steigert sich das Bedürfnis der Hauptfigur, dieses Ziel zu erreichen, das von verschiedenen Hindernissen verstellt wird. Im dritten Akt erreicht sie ihr Ziel oder scheitert daran. Innerhalb eines solchen Systems ergibt sich eine Szene kausal aus der vorangegangenen. Insbesondere der beobachtende Dokumentarfilm bedient sich oft einer ähnlichen Erzählweise. In den Anfangsjahren des Films wurde noch nicht strikt in dokumentarische und fiktionale Filmformen unterschieden. Filmgestalterische Ideen wurden unkompliziert von einer Form in die andere übertragen.23 Regis-

 22 Vgl. B. Nichols: Performing Documentary, S. 101. 23 Vgl. Kiener, Wilma: Die Kunst des Erzählens. Narrativität in dokumentarischen und ethnografischen Filmen. Stuttgart, Haus des Dokumentarfilms, 1999, S. 46.

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seure wie John Grierson und Robert Flaherty, die den Begriff des Dokumentarfilms überhaupt erst prägten, begannen in diesem Sinne Erzählstrukturen und Montageprinzipien des fiktionalen Films in ihre dokumentarischen Arbeiten zu übersetzen und die von ihnen repräsentierte Wirklichkeit zu dramatisieren.24 Als prominentes Beispiel wird in der Dokumentarfilm-Literatur immer wieder Ro bert Flahertys 1922 fertig gestellter Film NANOOK OF THE NORTH zitiert. Flaherty unternahm darin den anthropologischen Versuch, das Leben eines sich in seinen Gewohnheiten drastisch verändernden Inuit-Stammes zu dokumentieren. Flahertys exemplarischer Charakter sind der Eskimo Nanook und seine Familie, mit denen der Regisseur die Zuschauer in die Welt der arktischen Jäger eintauchen lässt. Robert Flahertys Film vermittelt die untergehende Kultur der Inuit auf spannende und unterhaltsame Art und Weise. Dafür greift er zu ungewöhnlichen dokumentarischen Mitteln: Er stellt Nanooks pittoreske Familie eigens für den Film zusammen und inszeniert eine Walfisch-Jagd mit der Harpune zu einem Zeitpunkt, zu dem die Eskimos längst mit Gewehren jagten. Das Ringen Nanooks mit dem erbeuteten Tier unter dem Eis wurde mit einem CrewMitglied nachgestellt, der am anderen Ende des Harpunen-Seils zog. Die pointierten Aufnahmen fügt Flaherty zu dem dramatischen Bild des Überlebenskampf der Inuit zusammen. Sie gelten als Beleg dafür, wie Repräsen-tationen real stattgefundener Ereignisse den Erfordernissen von Erzählung und Publikum angepasst werden – ohne dabei ihren dokumentarischen Status zu verlieren. Filme wie NANOOK sind im dramatischen Sinne geschlossen: Der Konflikt wird über den Verlauf des Filmes aufgebaut und schließlich gelöst, oder die Protagonisten scheitern bei dem Lösungsversuch. Vierzig Jahre nach Robert Flaherty setzte das amerikanische Direct Cinema mit seiner beobachtenden Prämisse ebenfalls auf eine geschlossene, dramatische Erzählstruktur in der Dokumentation von Orten und Ereignissen, die naturgegeben von Konflikt und Veränderung geprägt sind. Wilma Kiener nutzt für diese Direct-Cinema-Dramaturgie den Begriff der ‚crisis structure‘.26 So schildert Ro-

 24 Kiener zufolge hatte John Grierson in London eine Vorführung von Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin gesehen, die ihn stark beeindruckte. (Vgl. W. Kiener: Die Kunst des Erzählens, S. 46). 25 NANOOK OF THE NORTH (USA 1922, R: John Grierson, Dokumentarfilm, 79 min). 26 Vgl. W. Kiener: Die Kunst des Erzählens, S. 58.

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bert Drews PRIMARY 27 den Präsidentschaftswahlkampf zwischen Hubert Humphrey und John F. Kennedy. Der Konflikt des Films beruht auf dem Kampf zweier gegensätzlicher Kräfte und erzeugt dessen dramatische Spannung. Ein aktuelles indisches Beispiel für solch eine dramatisch geschlossene Erzählform ist Ritu Sarin und Tenzing Sonams WHEN HARI GOT MARRIED: Ein zentraler Charakter, der junge Taxifahrer Hari, verfolgt über den Verlauf des Films hinweg das romantische Ziel, die Liebe seiner Braut zu gewinnen – und sie noch vor den Hochzeitsfeierlichkeiten kennenzulernen. Die Ehe ist von den Eltern der Brautleute arrangiert. Für die Entwicklung der Handlung, die eben nicht nur ein ethnografischer Bericht nordindischer Heiratsbräuche darstellt, ist Haris Liebesziel entscheidend. Im Filmverlauf hat er mit Hindernissen wie der Schüchternheit seiner Braut zu kämpfen, die sich am Telefon nicht auf seine romantischen Bekenntnisse einlassen möchte und schließlich nur widerstrebend den von ihm vorgegebenen Satz „I love you“ reproduziert. Auch die finanzielle Situation seiner Familie stellt Hari vor Schwierigkeiten, die Feier so opulent wie möglich zu gestalten und damit einen vielversprechenden Start in sein Eheleben zu haben. Am Ende des Films steht ein Hochzeitszug und eine Braut, die auch im Spielfilm nicht schöner und aufgeregt verlegener hätte sein können. Im Epilog lassen uns Sarin / Sonam dem Paar nach der Geburt ihres ersten Kindes noch einmal begegnen. Haris Erwartungen sind im besten Sinne erfüllt, das Paar steht nun vor dem neuen Ziel, sich als Familie zusammenzufinden. Vielleicht liegt auch in dieser klassischen Erzähl-Struktur der Erfolg des Dokumentarfilms in den indischen Kinos begründet: Er bietet nicht nur humorvolle Dialogszenen, sondern auch die Gelegenheit zur Identifikation mit dem mal tollkühn romantischen, mal verletzlich zweifelnden Hauptcharakter und seinen Zielen. Ebenso bietet Haris dramatische Reise dem Zuschauer die Möglichkeit der Empathie. Ganz im dramatischen Sinne handelt Hari unkonventionell, um sein Ziel zu erlangen und geht als veränderte Person aus der Geschichte hervor. Eine andere verbreitete Strategie des geschlossenen Dokumentarfilms ist die argumentative Form des Pro und Contra zu einem gesellschaftspolitischen Problem, zu dem der Regisseur Stellung nimmt.28 Im Verlauf des Filmes geht der Filmemacher den widersprüchlichen Argumenten nach. Er stellt anhand von Interviews und illustrierenden Aufnahmen am Schauplatz des Geschehens konträre

 27 PRIMARY (USA 1960, R: Robert Drew, Dokumentarfilm, 60 min). 28 Vgl. W. Kiener: Die Kunst des Erzählens, S. 26.

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Standpunkte einander gegenüber, überprüft Vorwürfe vor Ort und zieht sein Resümee – oder legt Schlüsse nahe. Die argumentative Erzählform kann so an eine Beweisführung erinnern. Meist versucht sie, unerwartete Facetten des Themas aufzudecken. Diese Struktur wohnt vielen heutigen Fernseh-Reportagen inne. Die Dokumentation nimmt dann eine geschlossene Form an, weil der Interpretationsspielraum des Zuschauers zwischen den präzise präsentierten Evidenzen und Argumenten häufig gering ist. Statt eines zentralen Charakters operieren diese Filme mit einem Argument, stellen eine Recherchefrage ins Zentrum des Films. Diese Frage kann dann anhand multipler Schauplätze und Protagonisten entfaltet werden. Eine Entwicklung im dramatischen Sinne findet nicht in der Figur, sondern in der Wahrnehmung des diskutierten Problems statt. An die Stelle der zentralen Charakters kann, im Bild oder im Kommentar-Text, zum Beispiel auch der Filmemacher als Reporter-Erzähler oder investigativer Erzähler treten, der in kriminalistischer Manier seinen Sachverhalt untersucht und seine Fortschritten bei der Recherche reflektiert. Die Suche des Autors nach Informationen kann zu einer dramatischen Rahmenhandlung oder Metageschichte innerhalb des faktischen Films werden. Auch für argumentativ vorgehende Filme gilt die dramatische Regel: je mehr Widerstände sich dem Filmemacher in den Weg legen, desto stärker steigt die Spannung beim erkenntnishungrigen Zuschauer.29 Weil das Entfalten des journalistischen Arguments mit einem Wahrheitsanspruch verbunden ist, und diese Art dokumentarischer Erzählung zumeist eine Interpretationsweise vorgibt, muss sie sich der Kritik der Begrenztheit unterziehen. Christoph Decker beobachtet dies an Dokumentarfilmen, die aus sozialer Praxis heraus entstehen, und merkt an: „[Bedenklich ist,] dass dem Argument insgesamt ein sehr reduktionistisches Verständnis von rhetorischen Verfahren unterliegt.“30 Wie aber kann anhand von offener oder multiperspektivischer dokumentarischer Aufzeichnung und ohne das Vorwegnehmen von Schlüssen und Lösungen die ‚historische Welt‘ [Bill Nichols] dargestellt werden? Jean-Claude Carrière unterscheidet in Über das Geschichtenschreiben31 zwei Kategorien filmischer

 29 Vgl. W. Kiener: Die Kunst des Erzählens, S. 245. 30 Decker, Christoph: Die soziale Praxis des Dokumentarfilms. In: montage a/v. 7/2/1998, S. 49. 31 Vgl. Carrière, Jean-Claude/Bonitzer, Pascal: Praxis des Drehbuchschreibens. Über das Geschichtenschreiben. Berlin, Alexanderverlag, 1999, S. 204.

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Erzählung, nämlich Geschichten, die der aristotelischen Einheit der Handlung folgen – nach dem oben beschriebenen Muster – und „die orientalische Geschichte: gewunden und endlos, ununterbrochen bereichert, ununterbrochen umgeformt.“ Diese Erzählform, die Carrière in allen Teilen der Welt verortet und insbesondere in asiatischen Erzähltraditionen ausführlich beschreibt, mag einen Anhaltspunkt für eben diese mäandernde, unabgeschlossene Alternative der Narration bieten. Der indische Filmkritiker und -kurator Amrit Gangar entwickelte, um regionalspezifische Experimente des indischen Films zu beschreiben, den Begriff des ‚Cinema of Prayoga‘32 als eine Erweiterung des westlichen Konzepts des Avantgarde- oder Experimentalfilms. Das Sanskrit-Wort Prayoga, das er als Alternative vorschlägt, verweist auf: Praxis, Experiment, Rezitation oder Repräsentation. Das Präfix ‚Pra-‘ steht für: vorwärts, vorausgehend. Es verortet das Prayoga damit in einer Avantgarde-Tradition, ohne jedoch als Terminus dem militärischen Gebrauch entlehnt zu sein. ‚Yoga‘ wiederum steht für: Erfüllung, Konzentration des Geistes, Beschwörung und Kontemplation. 33 Mit der Indienspezifischen Perspektive auf Raum und Zeit als Parameter der filmischen Erzählung spielt Offenheit im Konzept des Prayoga eine wichtige Rolle. Wie bereits Jean-Claude Carrière, so weist auch Gangar darauf hin, dass in der hinduistischen Tradition neben der im Westen verbreiteten linearen Zeitauffassung parallel auch ein Konzept der zyklischen Zeit existiert. Ähnlich den Wachstums- und Vergehenszyklen in der Natur gehen die vedischen Lehren von einem ewigen kosmischen Kreislauf aus, in dem sich vier Zeitalter abwechseln: Our sense of time [...] is very different from Occidental or Western notions of the same. This makes it important for us to try and find an alternative understanding of time in our 34

narratives, especially our cinematographic narratives.

Diese nonlineare Zeitauffassung spiegelt sich auch in der Dramaturgie wieder. Der klassische aristotelische Erzählungsaufbau läuft zielgerichtet auf das Errei-

 32 Vgl. Gangar, Amrit: ‚Their Experiments With Truth‘. In: The Big Indian Picture, 2013-06 [Web] sowie A.Gangar: The Cinema of Prayoga. 33 Vgl. A. Gangar: The Cinema of Prayoga, S. 24-25. 34 A. Gangar: Their Experiments with Truth [Web].

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chen oder Verfehlen eines dramatischen Zieles der Hauptfigur heraus. Diese dramatische Konstruktion existiert auch in vielen Dokumentarfilmen. Also, our epics, such as the Mahabharata and the Ramayana – the Mahabharata particularly – have so many points of departure in narrative, which often don’t lead to a climax or catharsis at all. So the whole question of a narrative which is linear and which leads to a final point, a catharsis, and a resolution – stemming from the European Renaissance – doesn’t hold. We don’t necessarily have such a resolution in our art, our literature or in our music for that matter.

35

Problematisch ist, dass sich Gangars Filmbeispiele stark auf Repräsentationen der hinduistischen Mythen beziehen. Dadarsahib Phalke, Amit Dutta oder Vipin Vijay sind experimentelle indische Filmemacher, die mit vedischen Erzählstrukturen und Symbolbildern spielen – und die strukturelle Offenheit ihre Filme mit offenen filmästhetischen Vorgehensweisen kombinieren. Es lässt sich die Frage stellen, inwiefern das von Gangar vorgeschlagene Prayoga-Filmkonzept auch jenseits zyklischer Zeitauffassungen und mythologischer Gleichzeitigkeit denkbar ist. Darüber hinaus lässt sich anmerken, dass auch westliche Theater- und Filmkonzepte mit Gleichzeitigkeit, Brüchen in der Chronologie und ähnlichen Angriffen auf die Linearität spielen, wie Bertold Brechts episches Theater und aktuelle Filme wie Milcho Manchevskis BEFORE THE RAIN36 oder Alexandru Gonzales Iñárritus BABEL37 belegen. Zeitkonzepte wie das zyklische sind damit weder explizit indisch noch dominieren sie die grundsätzliche dokumentarische oder fiktionale filmische Erzählweise Indiens. Jedoch bricht Gangar mit seiner Argumentation des Prayoga eine Lanze für die Existenz einer alternativen und experimentellen Filmkultur in Indien. Diese schließt den Dokumentarfilm mit ein und wird in die Jahrhunderte alte Denk- und Erzähltradition des Landes eingebettet.

 35 Ebd. 36 BEFORE THE RAIN (MK/UK 1994, R: Milcho Manchevski, Spielfilm, 113 min). 37 BABEL (UK/MX/FR 2006, Alexandru Gonzales Iñárritu, Spielfilm, 143 min).

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K OMBINATIONEN

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STRUKTURELLER UND

FILMÄSTHETISCHER

O FFENHEIT

Der aus Jammu stammende Amit Dutta studierte am Film und Television Institute in Poona und verbrachte nach dort auch einige Jahre als Alumnus und Dozent, um mit der informellen Unterstützung des Instituts und der Studenten weitere sperrige und experimentelle Filme zu drehen. Seinen visuellen Reichtum schöpft er aus dem Traum und zweierlei Arten von Erinnerung: „[...] the personal memories based on individual experience and the acquired memory which we gather from common pools of memory like folk-tales, folk songs or religious literature.“ 38 Diese tradierten Formen der Erzählung, die Carrière und Gangar als offen, mäandernd oder mythologisch beschreiben, sind tief im Bewusstsein Duttas und auch seines indischen Publikums verwurzelt. Sie fließen intuitiv in die Konstruktion seiner Filme mit ein. Amit Duttas frühe Arbeiten KRAMASHA,39 KSHA TRA GYA40 oder MA PA41 sind keinem Genre zuordenbar, assoziativ, enigmatisch und dicht. Seine Filme folgen keiner dramatischen Struktur, vielmehr erscheinen sie als lose, über Assoziation und das durch Zeitlupen, Zeitraffer, Vor- und Rückspulen der Sequenzen bestimmte surreale Timing sowie seine traumartigen Symbole verbunden. In Duttas Inszenierungen tauchen immer wieder Motive hinduistischer Ikonografie wie die Augen einer Götterfigur, sich windende Schlangen, ein stilisierten Pfau auf dem ein kleiner Junge reitet, Fische, oder Gänsen auf. Sie sind mit Sequenzen dörflichen Alltagslebens oder zum Beispiel Ausschnitten aus Dadarsahib Phalkes mythologischen Filmen vermengt. Mit seinen visuell opulenten Filme möchte Dutta Assoziationen und Erinnerungen wecken, die jenseits sprachlicher Logik liegen: [...] the very form of those films is meant to evoke many stories. It would be self-defeating if I were to fix one story onto them and restrict imagination. Secondly, I would like to look

 38 Dutta, Amit zitiert nach: Loosen, Marita: Amit Dutta im Interview des ARTE KurzSchluss-Magazins #480. 2010-04-26 [Web]. 39 KRAMASHA (IN 2007, R: Amit Dutta, Experimentalfilm, 22 min). 40 KSHA TRA GYA (IN 2004, R: Amit Dutta, Experimentalfilm, 22 min). 41 MA PA (IN 2005, R: Amit Dutta Experimentalfilm, 10 min).

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upon these films as a body of work and so make sense through that pattern, sooner or lat42

er.

Nach einer Reihe symbolisch aufgeladener Experimentalfilme wandte sich Dutta der dokumentarischen Form zu: THE MUSEUM OF IMAGINATION – A PORTRAIT IN ABSENTIA43 ist ein dokumentarisches Portrait von Professor B.N. Goswamy, den er zwischen 2011 und 2012 in langen Tableaux-Bildern im Kunstmuseum Chandigarh interviewte. In seinem Film verweigert Dutta schließlich alle Erklärungen und Auskünfte über das umfassende Werk des indischen Kunsthistorikers. In der Montage arbeitet er mit Leerstellen, setzt Goswamys flüchtige Momente der Stille und des Nachdenkens mit den weiten Räumen des Le-Corbusier-Baus zusammen. Gemeinsam mit Goswamy lässt Dutta den Zuschauer Konzentration und Kontemplation erfahren – ohne auch nur ein einziges Wort über Kunst zu verlieren, oder Kunstwerke als Gegenstände seiner Auseinandersetzung zu präsentieren. Vielmehr bleiben sie Räume und Objekte, die den Protagonisten und sein Denken umgeben. „Like Proust, one may suddenly remember one’s childhood, and the memory of it is more accurate and pure than the actual childhood. That’s what I am really interested in – the pure memory.“44 beschreibt Dutta seine Methode der filmischen Konstruktion, die er von den experimentellen Explorationen in sein non-fiktionales Werk übertragen hat. In seiner dokumentarischen Beschwörung der Erinnerung sind nicht nur Worte abwesend, sondern auch eine vordergründige dramatische Struktur. Die Form bestimmend sind Zeit, Raum und der Wind, der durch die Räume streicht. Amit Duttas dokumentarischer Kinematografie wohnt das Zeitverständnis des Prayoga inne. Die lineare Lebenszeit Goswamys verdichtet Dutta in der Montage zu zweiundzwanzig Minuten der Versenkung. Als Meditation ist THE MUSEUM OF IMAGINATION statt einer dramatischen Steigerung der gleichbleibenden Emotion verpflichtet.

 42 Dutta, Amit (Interview mit M. Loosen, 2010). 43 THE MUSEUM OF IMAGINATION – A PORTRAIT IN ABSCENTIA (IN 2012, R: Amit Dutta, Dokumentarfilm, 30 min). 44 Amit Dutta zitiert nach: Gangar, Amrit: Cinematographic Rigour. A Case of Four Indian Filmmakers [Web].

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Auch dokumentarische Filme, die mit Inszenierungen und fiktiven Elementen arbeiten, können Offenheit anstreben – etwa I AM THE VERY BEAUTIFUL 45 von Shyamlal Karmakar. Darin wird die Bar-Sängerin Ranu portraitiert, eine emanzipierte und unerschrockene Frau, die sich als Objekt der Begierde in einer Männergesellschaft inszeniert und behauptet. Vor Karmakars Kamera offenbart sie ihre seelischen und körperlichen Wunden: Nach ihrer unglücklichen Heirat und der frühen Geburt ihrer Tochter zündete sie sich selbst an und verließ schließlich ihre Familie in Richtung der singenden klingenden Glitzerwelt Mumbais. Diese dokumentarische Erfolgsgeschichte öffnet Karmakar, indem er das Machtverhältnis zwischen Regisseur und Protagonistin während des Drehprozesses zum gleichberechtigten Thema des Films macht. Ranu dreht unvermittelt das Interview-Spiel um und konfrontiert den Regisseur mit seinem Bedürfnis, sie auszustellen und nach den Dreharbeiten zurücklassen zu wollen. In fiktionalen Sequenzen inszeniert Shyamlal Karmakar Ranus Bruch mit der Männerwelt als Partnern, denen sie vertrauen kann – so zerschneidet und kocht sie Fotos von Männern – und inszeniert sich selbst als filmenden Eindringling in ihr Leben: Den Prozess des Filmshoots übersetzt er mit einem Spielzeug-Revolver, den er statt Kamera auf die kichernde Protagonistin richtet. Aus seinem Hosenstall zaubert er ein phallusartig anmutendes Richtmikrofon. Mit diesen filmischen Mitteln evoziert Karmakar ein Spiel zwischen Filmemacher und selbstbewusster Protagonistin um die Kontrolle der filmischen Situation sowie die Deutung von Ranus Geschichte in der Dokumentation. Offenheit kann sich auf reflexive filmische Vorgehensweisen beziehen, wie in wie in Ranjan Palits IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN46, in dem er über sein eigenes dokumentarisches Schaffen der letzten 25 Jahre nachdenkt. In der ausführlichen Analyse seines Films im Kapitel „Selbstreflexives dokumentarisches Erzählen“ soll die Öffnung des dokumentarischen Filmformats durch den Blick des Filmemachers hinter die Kulissen und sein Resümieren über Drehentscheidungen zu einem Metadiskurs untersucht werden. Eine Spielform des offenen Erzählens ist die Multiperspektivität. Als relativ unscharfer Begriff bezeichnet sie für Erzählformen jenseits der linear-kausalen

 45 I AM THE VERY BEAUTIFUL (IN 2006, R: Shyamlal Karmakar, Dokumentarfilm, 65 min). 46 IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN (IN 2009, R: Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 79 min).

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Anordnung. Die geschieht etwa, wenn eine Geschichte, wie in Akira Kurosawas Film RASHOMON, aus mehreren Versionen zusammengesetzt wird.47 Mehrere Figuren schildern darin in aufeinanderfolgenden Episoden ihre Sichtweise auf einen Mordfall, auch der heraufbeschworene Geist des Getöteten. Durch das wertungslose Nebeneinanderstellen mehrerer Perspektiven lässt der Regisseur die Deutungsweisen bewusst offen. Eine Variante der Multiperspektivität im dokumentarischen Film ist das Auflösen der Autorenschaft, wie die Videokünstlerin und Dokumentarfilmerin Ayisha Abraham es in ihren Found-Footage-Arbeiten STRAIGHT 8 oder YOU ARE HERE vornimmt. Darin dialogisiert sie mit dem Filmmaterial längst verstorbener Amateurfilmern, montiert das Archiv-Material neu und kombiniert die Aufnahmen unterschiedlicher Filmautoren miteinander und mit eigenen Bildern und Tonaufnahmen. Auf diese Weise verwischt sie die Grenzen der Autorenschaft von kolonialem Amateurfilmer und zeitgenössischer Filmemacherin. Abrahams Arbeit ist im Kapitel „Archäologie und Dokument“ ausführlich analysiert. Um multiple Autorenschaft nicht nur als Domäne des künstlerischen Filmes darzustellen, sei an dieser Stelle auch auf indische Community Video-Projekte verwiesen, die mit einem Laien-Filmkollektiv von Betroffenen Dokumentarfilme zu regionalen Problemstellungen verfassen. Bespiele für derlei Projekte sind das von Shabnam Virmani und dem aktivistischen Filmemacher Stalin K. gegründete ‚Drishti Media Collective‘ in Ahmedabad oder Jessica Mayberrys ‚Video Volunteers‘ in Panaji. Die Organisationen leisten gemeinsam Basisarbeit in der Repräsentation von Menschenrechtsthemen. Mit der Förderung von Hilfsorganisationen unterstützen Gruppen im ländlichen Indien, ihre Geschichten zu erzählen und die dabei entstandenen Dokumentationen und Videomagazine an Hauswände projiziert oder auf einfachen Fernseh-Monitoren in ihren Dörfern und für andere Betroffenen vorzuführen. Damit wollen sie ein Bewusstsein für Probleme wie häusliche Gewalt oder Kinderheirat schaffen. Mit den Vorführungen bieten die Community-Filmemacher Raum und Anlass zur Diskussion. People in villages talk about the weather, rising prices, the crops, the bad roads, or grumblings about the neighbors. They talk much less about domestic violence, about caste dis-

 47 Vgl. K. Stutterheim/S. Kaiser: Handbuch der Filmdramaturgie, S. 224.

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crimination, about their constitutional right to health care and how to hold the government accountable.

48

 Mit diesen Worten fasst Jessica Mayberry die Bedeutung ihrer Video-Initiativen zusammen. Gayatri Spivak kommt in ihrem Essay Can the subaltern speak?49 zu dem Schluss, die Subalternen können nicht sprechen, weil sie keine Stimme haben und die Konventionen medialer Artikulation nicht kennen. Community Video möchte diese sprachlosen Minderheiten ermächtigen, ihren Beitrag zum Diskurs zu leisten. Die Video-Volunteer-Projekte mögen damit eine alternative Spielform des aktivistischen Filmschaffens in Indien darstellen. Die Projektgruppe des Sneha Praja Video etwa bestand aus zwölf Frauen, von denen elf bereits als Kinder verheiratet wurden. Aus ihrem persönlichen Erleben heraus wählten sie sich das Thema der Kinderheirat für die Bearbeitung in einer Reihe von Filmen, um Frauen dazu aufzurufen, ihre Töchter zur Schule zu schicken, statt sie dem schwiegerelterlichen Haushalt zu übergeben. Als Markenzeichen der Video-Volunteer-Filme zeigt der Vorspann zunächst in poppigen Schnitten die Autorinnen, kleine Videocamcorder in den Händen oder vorm Gesicht haltend. Die Frauen folgen der traditionellen journalistische Strategie des Interviews, stellen sich selbst dabei aber als Mitbetroffene vor. Die AmateurReporter erhalten innerhalb der Community-Video-Projekte eine Einführung in die technischen Belange des Filmemachens. Das Training umfasst grundsätzliche Kenntnisse in den Bereichen Recherche, Kameraarbeit, Interview und Interviewtranskription, sowie Filmschnitt.50 Die Projekte sind prozessoffen und werden von einem Kollektiv von Autoren entwickelt und gestaltet. Zwar sind die Community Video-Projekte von multipler Autorenschaft geprägt, zugleich aber sind die Erzählerinnen einstimmig in ihrem Appell und ihrem Bündnis mit den Protagonisten. Aus dramaturgischer Sicht sind die Filme geschlossen. Stilistisch mögen die Videoreporter Anleihen am investigativen Fernsehen genommen haben. Auch die Organisatoren und Mentoren setzen durch ihre Schulungen ästhetische und narrative Standards und haben da-

 48 Mayberry, Jessica: Sneha Prajaj Video: A Community Video Project at Velugu. Training conducted by Video Volunteers in April-May 2005 [Web]. 49 Vgl. Spivak, Gayatri: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien, Turia und Kant, 2007. 50 Vgl. J. Mayberry.: Sneha Prajaj Video [Web].

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mit einen gestalterischen Anteil an den Community-Filmen. Verlagert man den Fokus auf die künstlerische Praxis der Projekt-Initiatoren, wird aus vielen Einzel-Magazin-Beiträgen ein konsistentes Gesamtprojekt, welches nicht nur von zahlreichen Autoren, sondern auch vielen Perspektiven geformt wird.

O FFENE M EDIENFORMEN  Offenheit kann sich auch in einer offenen Medienform widerspiegeln, welche die Darstellung zu verschiedenen Orten und Medien öffnet, wie Amar Kanwars THE LIGHTNING TESTIMONIES51 oder A NIGHT OF PROPHECY52, die sowohl als Film als auch als Installation konzipiert sind. THE LIGHTNING TESTIMONIES ist eine Reflexion sexueller Gewalt gegen Frauen in unterschiedlichen Jahrzehnten und Regionen Indiens, von Verschleppungen und Missbräuchen von Flüchtlingsfrauen während der Teilung Indiens und Pakistans 1947 bis zu den Protesten gegen Vergewaltigungen im nordindischen Bundesstaat Manipur 2004. A NIGHT OF PROPHECY beschäftigt sich anhand von Musikern und Dichtern blutigen Kasten-, Religions- und Stammeskonflikten in Indien. Kanwar schlägt mit seinem Video eine Versöhnung durch Musik und Poesie vor. Beide Projekte wurden als simultane Projektionen im Museumsraum gezeigt. Als Loop eröffnen sie einen Interpretationsraum statt einen klaren Schluss zum repräsentierten Konflikt nahezulegen. Kanwar glaubt, dass vielfältige Erfahrungen, Gedanken und Definitionen seine Persönlichkeit und sein Weltbild geprägt haben.53 Diese Fragmente kann er nur zu einer mehrdimensionalen filmischen Realität zusammenfügen. I don’t think that dealing with multiplicity and putting forth your point of view are contradictory. Further, I think in the global political situation, any activist would know that the audience he is trying to reach out to is of many kinds, with many rationales and many his-

 51 THE LIGHTNING TESTIMONIES (IN 2007, R: Amar Kanwar, Dokumentarfilm, 113 min / 8-Kanal-Installation auf der Documenta 12, 33min). 52 A NIGHT OF PROPHECY (IN 2002, R: Amar Kanwar, Dokumentarfilm, 77 min / Mehrkanalinstallation zur Documenta 11 in Kassel, 2002, Keine Längenangabe). 53 Vgl. Rutherford, Anne: Not Firing Arrows: Multiplicity, Heterogeneity and the Future of Documentary: Interview with Amar Kanwar. In: Asian Cinema, Spring / Summer 2005, S.118.

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tories. Even if you want to make just a convincing kind of argument film, you will find that you don’t end up convincing at all.

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Damit räumt Amar Kanwar mit der sich in Kapitel „Filmischer Aktivismus als Erneuerungsbewegung der siebziger Jahre“ abgezeichneten Annahme auf, aktivistischer Film müsse, um wirkungsvoll zu sein, eindeutig erzählen. Er traut seinem ebenfalls von komplexen und heterogenen Erlebnissen geprägten Publikum die Deutung solcher offenen Werke unbedingt zu. Verschiedene Perspektiven betonen demnach die Glaubwürdigkeit des dokumentarischen Werkes. Auf Grundlage seines Vertrauens in die aufrichtige und authentische Arbeit des Filmemachers, der selbst auch zweifeln oder Fehlschlüsse ziehen kann, ist der Zuschauer bereit, sich auf die Interpretationsarbeit zwischen den Zeilen des Videobildes einzulassen. In der Doppelverwertung des Materials in linearem Film und Mehrkanal-Videoinstallation bezieht sich der Begriff der Offenheit auf einen offen Umgang mit dem Film-Dispositif. Damit wird zweierlei Publikum angesprochen: Das Filmpublikum von Kino, Fernsehen und Festivals ebenso wie die Besucher von Kunstmuseen, Galerien und Biennalen. Wie Kanwar verfolgen auch die jungen Filmemacherinnen Ekta Mittal und Yashaswini Raghunandan in ihrem BEHIND THE TIN SHEETS PROJECT diese Strategie. Ihr über den Verlauf von fünf Jahren gesammeltes Video-Material von Wanderarbeitern auf der Baustelle der Bangalorer Metro pflegen sie in ein Archiv, aus dem bisher drei Dokumentarfilme und eine Installation entstanden sind. Mit dem der Einrichtung ihres persönlichen Video-Archivs begannen die Filmemacherinnen ein erzählerisches Experiment mit offenem Ausgang. Angesichts der Tatsache, dass in der indischen Gesellschaft noch immer eine deutliche soziale Ungleichheit herrscht, halte ich den Hinweis Verena Kriegers für bedenkenswert. Sie postuliert, dass die Mehrdeutigkeiten, die seit den 1960er Jahren die internationalen Kunstproduktion [ebenso wie die künstlerische Filmproduktion] prägen, auch mit sozialer Distinktion verbunden seien: Man kann die Ambiguität in der Kunst als einen „kulturellen Code“ im Sinne Pierre Bourdieus verstehen, einen Code, den nur das gehobene Bildungsbürgertum versteht und mittels dessen es sich gegenüber bildungsfernen Schichten abgrenzt.

 54 Ebd., S. 123 .

55

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Diese von Krieger vorgetragenen Bedenken lassen an den traditionellen Streit indischer Dokumentarfilmer um ihre Verortung zwischen filmischer Form und ideologischem Programm anknüpfen. Offene, unbestimmte Erzählformen würden demnach möglicherweise ein weniger film- und medienerfahrenes Publikum ausschließen, welches jedoch zum erklärten Zielpublikum aktivistischer Regisseure gehören. Sie widersprächen folglich der Auffassung des Dokumentarfilms als gesellschaftlicher Basisarbeit, wie auch dem Aufklärungsideal der frühen Films-Division-Filme. Die Betonung der künstlerischen Form hingegen wendet sich per se in stärkerem Maße an ein bildungsbürgerliches Publikum. Die Tatsache, dass offene dokumentarische Formate in Indien gegenwärtig zunehmen, mag auch darin begründet sein, dass insbesondere in urbanen Gebieten die Zahl der Inder, die Zugang zu höherer Bildung haben, ansteigt. Durch die wiederholte Beschäftigung mit dokumentarischen Filmen nimmt folglich auch die Deutungskompetenz des Zuschauers zu. Dies könnte zukünftige offene oder multiperspektivische Erzählstrategien im Dokumentarfilm begünstigen. Anhand meiner Beobachtung gegenwärtiger nonfiktionaler Filme in Indien lässt sich aber auch jetzt schon feststellen, dass sich formale und inhaltliche Ideale überschneiden. Ein Beispiel dafür wäre Avijit Mukul Kishores Dokumentarfilm VERTICAL CITY, auf den in dieser Arbeit bereits mehrfach verwiesen wurde. Auch Sanjay Kak beschreitet mit seinem Dokumentarfilm HOW WE CELEBRATE FREEDOM 56 einen Weg, der sowohl formale Explorationen als auch ein starkes politisches Sendungsbewusstsein vereint. Der Film reflektiert in formal präziser Weise die blutigen Auseinandersetzungen in Kaschmir und sucht in dem Konfliktgebiet nach Wahrheit und Poesie. Als weiteres Beispiel ist Avinash Deshpandes THE GREAT INDIAN SCHOOL SHOW57 anzuführen. Der Film betrachtet kritisch die Einführung eines pädagogischen Experiments in einer Schule in Poona, in deren Klassen-

 55 Krieger, Verena: ‚At war with the obvious – Kulturen der Ambiguität. Historische, psychologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen.‘ In: Krieger, Verena/Mater, Rachel/Jesberger, Katharina (Hg.): Ambiguität in der Kunst: Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas. Weimar, Böhlau Verlag, 2010, S. 26. 56 JASHN-E-AZADI / HOW WE CELEBRATE FREEDOM (IN 2007, R: Sanjay Kak, Dokumentarfilm, 133 min). Betrachtungen zum visuellem Stil dieses Films finden sich in der Analyse von Ranjan Palits Kamera-Arbeit im dritten Teil dieses Buchs. 57 THE GREAT INDIAN SCHOOL SHOW (IN 2005, R: Avinash Deshpande, Dokumentarfilm, 45 min).

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zimmern und Korridoren 200 Überwachungskameras installiert sind. Deshpandes Film bietet einen Perspektivwechsel zwischen der scheinbar neutralen Beobachterposition der dokumentarischen Kamera und der auktorialen Perspektive, welche der Schuldirektor vor seinen Überwachungsmonitoren hat. Mit diesem Materal zeichnet Deshpande ein Bild von Perfektion und Disziplin. THE GREAT INDIAN SCHOOL SHOW verdeutlicht, dass die sozialkritische Haltung von Filmemachern nicht nur in der dokumentarischen Beschreibung von Slums oder Stammesangehörigen zum Tragen kommt, sondern auch Indiens Mittelschicht Bürgerrechte zu verteidigen hat. Darüber hinaus sind Filme wie Deshpandes oder Kaks sind ein Beleg dafür, dass sich eine engagierte Haltung des Regisseurs und eine bewusste künstlerische Filmgestaltung sehr wohl miteinander vereinbar sind. Die von den beiden opponierenden Lagern vorgebrachten Kriterien der ästhetischen Filmform auf der einen Seite und dem politischen Sendungsbewusstsein auf der anderen Seite dienen auch der immer neuen Positionierung im indischen Dokumentarfilm-Diskurs. Wie die Beispiele von Deshpande oder Kak zeigen, können sich dabei die Kontrahenten in ihrem jeweiligen Anspruch durchaus gegenseitig befruchten. Hinsichtlich ihrer narrativen Vorgehensweise sind aus meiner Sicht die interessantesten aktuellen indischen Dokumentarfilme jene, die in der einen oder anderen Weise eine offene Erzählform nutzen und sich damit vom postkolonialen expositorischen Dokumentarfilm-Ansatz, wie im Kapitel „Filmgeschichtliche Einordnung“ hergeleitet, abgrenzen. Die offene Erzählung stellt dabei kein Genre mit festgelegten Narrations-Regeln und Konventionen dar. Jedoch finden sich zahlreiche Dokumentarfilm-Autoren, die unter Einsatz verschiedener filmischer Mittel und individueller Strategien neue Wege des offenen Erzählens beschreiten. Vier dieser Autorenhandschriften sollen im folgenden Teil exemplarisch untersucht werden.

Facetten des offenen Dokumentarfilms: Künstlerische Bildstrategien ausgewählter Filmemacher   

L UFT , G EISTER , S CHATTEN , D JINNS . I RAM G HUFRANS DOKUMENTARISCHE R EPRÄSENTATION SPIRITUELLER UND PSYCHOLOGISCHER G RENZERFAHRUNGEN   Geister, Götter, und Dämonen prägen die indische Mythologie und die volkstümlichen Geschichten. Pilger, Heiler und Heilige gehören zu den unumstrittenen Bildklischees Indiens, von Reisenden, Reportagen, Tourismuskampagnen und der populären Spielfilmindustrie wieder und wieder reproduziert. Auch die in Delhi lebende Iram Ghufran besuchte die viel fotografierte Architektur nordindischer Sufi-Tempel. Ihr Blick auf den Tempel verwehrt sich verklärter Ästhetisierung, schriller Spiritualität oder religionspolitischer Kritik. Ihr im Jahr 2011 mit einer Förderung des PSBT realisierter Film THERE IS SOMETHING IN THE AIR verwischt die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Fiktion, zwischen Traum, Trance und Realität. In sorgsam arrangierten Bildern portraitiert Iram Ghufran Menschen, die von Dämonen heimgesucht werden. Am Bade Sarkar Schrein im nordindischen Badayun, etwa vier Stunden von Delhi entfernt, suchen sie Heil und Zuflucht. „Bade Sarkar is referred to as the ‚supreme court‘ for spiritual ‚cases‘ / ailments. It is said, that when all else fails, one should seek refuge in Bade Sarkar. I suppose it works for some.“1 beschreibt Iram Ghufran den Ort,

 1

Ghufran, Iram, zitiert nach: Unbekannter Autor (First City): Where do We Go When There’s Something in the Air Around Us? 2012 [Web].

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der ihren Film bestimmt, und die Heilkräfte, die ihm durch die muslimischen Pilger zugesprochen werden. Ghufrans Prämisse liegt per se am Rande des dokumentarischen Genres, weil sich die Filmemacherin auf etwas einlässt, was jenseits des Faktischen liegt: die Erscheinungen und Stimmen, welche die Männer und Frauen am Schrein hören und die Figuren, die sie besuchen.

 Die Filmautorin Iram Ghufran  Iram Ghufrans dokumentarischer Debütfilm gewann den indischen National Award for Best Documentary and Best Editing. Die im indischen Lucknow geborene Regisseuri hatte sich bereits während ihres Studiums am Mass Communication Research Centre der Jamia Milla Islamia University in New Delhi intensiv mit Dokumentarfilm, Journalismus und Fotografie und seinen gegenwärtigen Schnittbereichen auseinandergesetzt. Mittlerweile lehrt sie am selben Institut und arbeitet als Film-editorin an den Projekten anderer Regisseure, unter anderem den Bewegtbild-Projekten des Raqs-Media-Künstlerkollektivs. Im Verlauf dieser Tätigkeiten entfernte sie sich vom traditionellen Journalismus- und Dokumentarfilm-Verständnis. An dessen Stelle trat eine Neugier auf neue Genres und Formate: I have been working as an editor on many projects, I have been extensively editing for RAQs Media Collective, and I have been researching in the SARAI Media Lab, and been writing and producing videos there. These videos don't demand to be called documentary or fiction.

2

Sowohl das SARAI Media Lab als auch das Raqs Media Collective sind enorm experimentelle und interdisziplinäre Gruppen in Neu-Delhi, deren Arbeit sich zwischen digitaler Kunst, kultur- und sozialwissenschaftlicher sowie stadtplanerischer Forschung verortet. Beide Initiativen sind interessiert am Vorantreiben des Diskurses von Kunst, neuen Medien und einer sich verändernden indischen Gesellschaft, der traditionelle ebenso wie neuartige Impulse vereint. Die künstlerischen Formate dieser Auseinandersetzung werden aus dem Prozess heraus entwickelt. Aus dieser Erfahrung heraus spielt die klare Zuordnung ihres ersten Filmprojektes zur dokumentarischen Tradition spielt für Ghufran nur eine unter-

 2

Gespräch mit Iram Ghufram in New Delhi, 2011-09-17.

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geordnete Rolle. THERE IS SOMETHING IN THE AIR verbindet dokumentarische Fakten mit Geister-Mythen und mündlichen Überlieferungen: This is a deeply personal film. Some of the stories came from people I know well. So the lines between personal and not-so-personal are fairly blurred. Besides, I think there is no such thing as „objectivity“. There are only varying degrees of distance one creates between the story and the audience.



 Die Entstehungsweise von THERE IS SOMETHING IN THE AIR und die Vertrautheit der Regisseurin mit ihren Protagonisten und deren universellen Geschichten machen die Arbeit zu einem persönlichen Film. Dokumentarische Beobachtung und traditionelle Interviews werden um gedachte und evokative Elemente erweitert.  Djinns, Geister und Psychosen – schamanistische und psychiatrische Annäherungen  Die Dokumentation THERE IS SOMETHING IN THE AIR bewegt sich zwischen westlicher und östlicher Konzeption von Geisteskrankheit. Der Film versucht deren Essenz zwischen sauberen, stillen Krankenhausfluren und geschäftigen Tempelmauern zu erkunden. Stavros Mentzos und Alois Münch beschreiben die Psychose in westlicher wissenschaftlicher Deutung, als einem Prozess des nach Innen Wendens, durch den der Patient die im Äußeren vermiedenen Konflikte mit sich selbst austrägt: Die Psychose ist der – freilich pathologische – Versuch, gerade die dahinter liegenden, gewaltigen Grundsätze und Dilemmata durch sich in der Fantasie abspielende Szenarien und unter Vermeidung eines realen, destruktiven Agierens zu führen.

4

In diesem Sinne ringen die Patienten mit sich selbst – oder mit Djinns, deren Stimmen sie in sich tragen. Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar legt dar, dass der Glaube an die Besessenheit von Geistern und Dämonen über den Verlauf der Jahrhunderte vielerorts als beherrschende Erklärung für seelische Er-

 3

Unbekannter Autor (Time Out Bangalore): Novel vague. 2011 [Web].

4

Mentzos, Stavros/Münch, Alois (Hg.): Psychose im Film. Frankfurt (Main), Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 20.

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krankungen herangezogen wurde, und verweist dabei auf Erika Bourguignons Analyse von 488 Gesellschaften aus dem Ethnographic Atlas, der zufolge in nahezu vier Fünfteln der untersuchten Gruppen der Glaube an Heimsuchungen durch Geister nachzuweisen war.5 Diese Auffassung findet sich auch bei dem Ethnologen Bernhard Streck wieder, der Besessenheit als Bestandteil und Folge religiöser Praxis deutet: Besessenheit ist eine universale Erscheinung und möglicherweise Kernbestandteil der Religion von Anbeginn der Menschheit. Sie setzt den Glauben an Geister voraus und wandelt sich verständlicherweise, wenn ALLE Geister durch DEN Geist ersetzt werden.

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Streck schießt in seiner Definition die Herkunftsländer der Besessenheitskulte erforschenden Ethnologen mit ein. Er legt dar, dass der Westen sich mit der Aufklärung von dergleichen ritualistischen Praktiken abgrenzte und begann, anders verfasste Menschen zu pathologisieren und zunehmend auch mit Medikamenten zu behandeln. Diesem modernen, aufgeklärten Selbstverständnis liegt auch die Perspektive ethnografischer Berichte aus den Kolonialstaaten des neunzehnten Jahrhunderts zugrunde, welche das Phänomen der Besessenheit als Ausdruck einer primitiven Kultur deuteten. Besessenheit steht in engem Zusammenhang mit einem Identitätswechsel. Dieser wird auch in der rituellen Geisterbeschwörung vorgenommen und mit der Verwendung von Masken oder Körperbemalungen unterstützt. Im Moment der Trance tritt die eigene Persönlichkeit hinter der des Geistes zurück. Besessenheit hingegen kann nicht willentlich ausgelöst oder gesteuert werden. Streck verwendet zur Beschreibung der Besessenheit die lutherische Metapher von Ross und Reiter: der Mensch als Ross trägt, der Geist lenkt. Die Ungleichheit der Beziehung zwischen Besessenem und Heimsuchendem wird darin deutlich: „Um das Leiden zu mildern, schließt der Kranke sich einem Kult an, wo Techniken angeboten werden, mit dem Reiter bekannt zu werden. Pferd und Reiter werden im

 5

Kakar, Sudhir: Schamanen, Mystiker und Ärzte: Wie die Inder die Seele heilen. Mün-

6

Streck, Bernhard: ‚Fremdauslegung im Selbst. Besessenheit und Trance in der ethno-

chen , Beck, 2006, S. 48. logischen Forschung‘. In: Schäfer, Alfred/Wimmer, Michael (Hg.): Selbstauslegung im Anderen. Münster, Waxmann Verlag, 2006, S. 28.

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Laufe der Rituale miteinander vertraut, ohne jemals in Augenhöhe zu verkehren.“7 Einem ähnlichen Prinzip folgen auch die von der Regisseurin Iram Ghufran repräsentierten muslimischen Frauen, die am Bade-Sarkar-Schrein um Erlösung und Heilung bitten. Streck hebt hervor, dass insbesondere der Islam eine große Toleranz gegenüber undogmatischer Frömmigkeit sowie mannigfaltigen Spielarten von Religiosität und Spiritualität übt. Diese Varianten überlebten und gediehen in mündlichen Überlieferungen. Die flexiblen Auffassungen ließen auch in stärkerem Maße wandelbare Mischwesen von Götter und Geister zu.8 Dazu gehören auch die Djinns als unsichtbare spirituelle Wesen der islamischen Mythologie und Folklore. Eine solch selbstentgrenzende Beziehung, wie sie Ghufrans Protagonistinnen mit den mythologischen Kreaturen wird als nicht ungewöhnlich angesehen. Seelische und körperliche Störungen, Bewusstseinsveränderungen und Trancezustände gelten als Anzeichen von Besessenheit. Die von dem indischen Psychiater Dr. Aziz Ahmed Quadri aufgezählten Symptome lassen sich an Ghufrans Bade Sarkar-Schrein wiedererkennen: Starrköpfigkeit und kindisches Verhalten gehören dazu, unkontrolliertes Lachen, Schreien, Singen, Weinen, das Hören von Stimmen und Sprechen in unverständlichen Sprachen oder auch das Schlagen des Kopfes.9 Durch die permanenten Auseinandersetzungen mit den von ihnen Besitz ergriffenen Wesen erschöpft ziehen sich die Patienten mehr und mehr aus den Aufgaben des täglichen Lebens zurück und lassen ihr Leben vom Verhältnis zu dem Djinn bestimmen. Der indische Psychiater C.R. Chandrasheker vermittelt mit seine Ansätzen zum wissenschaftlichen Verständnis der Besessenheit durch Geister oder Djinns zwischen den sekulären und spirituellen Krankheits-Auffassungen:10 Anhand der Dissoziationstheorie deutet er den Zustand der Besessenheit als eine Art Hysterie, in der das Es als Instanz der Triebe und Affekte versucht, das Ich als Instanz des rationalen Denkens und Wahrneh-

 7

B. Streck: Fremdauslegung im Selbst, S. 30.

8

Vgl. Ebd., S. 29.

9

Vgl. Quadri, Aziz Ahmed: Jinn, Magic or Mental Illness? Aurangabad, Anjum Quadri, 2009 [Web], S. 18-19.

10 Vgl. Khalifa, Najat; Hardie, Tim: Possession and Jinn. In: Journal of the Royal Society of Medicine 2005 August; 98(8) [Web], S. 351–353.

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mens zu überwinden.11 In diesem Sinne lässt sich auch die sexuelle Konnotation verstehen, von denen die Begegnungen mit Djinns häufig geprägt sind. Auch in THERE IS SOMETHING IN THE AIR berichten Frauen wiederholt von lüsternen Stimmen, die sie zu Unsittlichem auffordern. Iram Ghufrans Film wägt nicht westliche Medizin und östliches Zeremoniell gegeneinander ab, vielmehr nimmt er das eine als Ausgangspunkt, um dieselbe Krankheit im anderen Kontext zu erforschen. Viele Betroffene gehen ebenfalls beide Wege der Heilung. Berichten von psychisch Erkrankten in Indien zufolge blieben ihre Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen und die Behandlung ihrer Symptome mit Psychopharmaka oft ohne Wirkung, so dass sie eine Besessenheit als Krankheitsursache in Betracht ziehen und Heilung in religiösen Ritualen suchen. Möglicherweise umstrittene spirituelle Heiler und Scharlatane werden in Ghufrans Film ebenso außen vor gelassen wie westliche Psychiater und ihre Behandlungsmethoden. Stattdessen verweilt ihr Film bei den Patientinnen und ihrer Wahrnehmung der sie umgebenden Welt.

 Film. Körper. Wahnsinn  Mit subjektiven Schwarzweiß-Aufnahmen beginnt Ghufran ihren Film: einem Lichtkegel der über marmorierte Fliesen wandert, sanft schwenkt die Handkamera zum tropfenden Duschkopf. Man hört Grillen zirpen, sanft klingt ein Windspiel. Die Reflexion einer Tonschale auf einem Glastisch, wieder wandert die Lichtreflexion, Metapher der Selbsterkenntnis, tastend über die Tischfläche. In der Spiegelung sieht man die Hand, welche die Taschenlampe hält. Das Geräusch von tropfendem Wasser setzt ein, ein angeschnittenes Portrait einer Frau, vom durch das Fenster fallende Sonnenlicht beschienen. Sie atmet. Diese assoziativen Bildern nutzt Ghufran als Einstieg in die Innenwelten der von Stimmen, Visionen, Bildern und Psychosen geplagten Musliminnen ein: „I am interested in the state of madness and how we negotiate logical reasoning with inexplicable

 11 Chandrasheker bezieht sich damit auf das Freud’sche Strukturmodell der Psyche des Menschen, die in die drei Instanzen Über-Ich, Ich und Es gegliedert ist. Das Über-Ich ist die Instanz, welche die sozialen Normen und Werte verarbeitet. Das Ich steht für das Selbstbewusstsein, Wahrnehmen und Denken. Das Es steht bezeichnet die unterbewusste Struktur von Trieben und Affekten.

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events and episodes around us. I was curious to understand how science and faith look at each other – is it suspicion, negation, acknowledgement?“12 Die Körper der Besessenen werden dabei zum Spiegel der unsichtbaren Wesen, die von ihnen Besitz ergriffen haben und sich damit verkörpert haben. Äußerlich sind diese Geister nicht sichtbar, sondern nur die Effekte ihrer Macht. Heike Behrend zufolge schaffen sich die Geister durch Bewegung, Herumwirbeln, Sprünge und Geschwindigkeit visuelle Präsenz.13 Ghufrans Detailaufnahmen sind folgerichtige Beobachtungen dieses Phänomens: immer wieder ziehen sich Bilder von Füßen durch den Film: gehend, tanzend, ausgestreckt. In der Montage werden diese Einstellungen durch Zeitdehnungen und -raffungen sowie das Rückwärtsspielen von Aufnahmen der normalen Wahrnehmung enthoben. Mit diesen Gestaltungsmitteln wird eine Atmosphäre der Zeitlosigkeit konstruiert. Neben den Füßen spielen auch die Handgelenke der Frauen eine wichtige Rolle. Immer wieder zeigt Ghufran Handgelenke von Frauen, die mit schweren Ketten umwickelt sind, von zahlreichen Vorhängeschlössern verschlossen. Die zwischen bunt gemusterten Kleiderfalten sichtbar werdenden Schnitt-Narben auf einem Frauenarm weisen auf die körperlichen Leiden des Besessenheitszustandes hin. Wem dieser Arm gehört, enthüllt die Kamera jedoch nicht. Statt dessen zeigt sie gesichtslose Frauen im Trance-Tanz: zuckend, schreiend, sich verkrampfend, und vor den Gittern des Heiligtums niederwerfend, als Ausdruck der Verkörperung. Wie in der Lutherschen Metapher von Pferd und Reiter sind Frau und Dämon vereint in einer eigenwilligen, aberwitzigen, abermals wiederholten Bewegung. THERE IS SOMETHING IN THE AIR ist ein Film über Frauen zwischen Normalität, religiöser Hingebung, Gebet und Wahnsinn. Behutsam arbeitet Ghufran die fragile Grenze zwischen der normalen Welt und der Besessenheit heraus, wenn sie nach Aufnahmen der rastlos auf und ab gehenden Besessenen Bilder spielender Mädchen schneidet, welche die zwanghaften Bewegungen imitieren. In der Montage entsteht ein einverständiges Nebeneinander von andächtigen, rastenden und mit ihren Djinns ringenden Pilgern. In vielen Einstellungen ist ein ungerührt blickender Frauenkopf hinter einer ekstatisch ihren Leib schüttelnden Frau zu

 12 Das, Soma: Screen Saver. In: Mid day. Mumbai 2013-02-15 [Web]. 13 Vgl. Behrends, Heike: Der Geist des Flugzeugs. Bemerkung zu eines Ästhetik des „Dazwischen“. In: ZfM Zeitschrift für Medienwissenschaft. Immaterialität. 1/2010. Berlin, Akademie Verlag, 2010, S. 76.

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sehen und betont, dass die Ekstase mitten im geschäftigen Tempeltreiben unter „gesunden“ Pilgern und Gläubigen stattfindet. Dieses Nebeneinander liegt Iram Ghufran am Herzen: „India is not a place where mad people are tucked away from public life. They are a part of the mainstream.“14, so die Filmemacherin.

Abbildung 2: There is Something in the Air. Filmstandbild

Quelle: I. Ghufran

Die Bearbeitung von Phänomenen, die von der Norm abweichen, ist seit jeher ein wichtiges Thema in Kunst und Literatur. Insbesondere Spielfilme haben sich im Lauf der Filmgeschichte immer wieder Figuren gewidmet, die unter psychischen Störungen litten oder in Traum-Welten flüchteten. Regisseure wie Robert Wiene, David Lynch oder auch Federico Fellini beschäftigten sich ausführlich mit Figuren, deren Wahrnehmung über die vertraute Realität hinausgeht und die daraus ihre filmische Rätselhaftigkeit beziehen. Dokumentarfilme über psychische Störungen sind seltener. Ein vielzitiertes Beispiel ist Jean Rouchs Film LES MAÎTRES FOUS15, der die spirituelle Ekstase der westafrikanischen Hauka ins

 14 Ghufran, Iram. Zitiert nach: unbekannter Autor (The Pioneer) Atmosfear. Interview with Iram Ghufran. 2012 [Web]. 15 LES MAÎTRES FOUS (FR 1955, R: Jean Rouch, Dokumentarfilm, 36 min).

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Zentrum stellt. Das von Rouch repräsentierte Besessenheitsritual wird von den Hauka einmal im Jahr aufgeführt. Die dabei angerufenen Geister sind Imitationen der französischen Kolonialherren. In seiner zunächst umstrittenen Dokumentation kommentiert Jean Rouch vor allem die koloniale Gesellschaftsordnung – weshalb der Film von der Regierung Ghanas als Majestätsbeleidigung aufgefasst wurde. In dem von Rouch gefilmten Ritus wird bewusst ein temporärer TranceZustand herbeigeführt. Ghufrans Protagonistinnen hingegen müssen längerfristig mit ihren Dämonen kämpfen. Wenn Ghufran ein Ritual beobachtet, dann das der versuchten Heilung, die durch die Aussöhnung mit dem Djinn geschehen könnte. Rouch blickt auf den Trancezustand seiner Protagonisten, Ghufran in diese Trance hinein. Ihre Bilder beobachten nicht nur, sondern illustrieren die quälenden Begegnungen der Frauen mit ihren Djinns. Vertraut mit den folkloristischen Geistergeschichten bewegt sich Ghufran durch das Schrein-Areal. In ersten Sequenzen zeigt sie Blicke der Frauen in ihr Objektiv: lange, grübelnd, neugierig. Im OFF berichten währenddessen Frauenstimmen von Geistererlebnissen. Ghufran achtet darauf, die von ihr portraitierten Frauen nicht bloßzustellen. Viele der Interviews wurden während eines veränderten Bewusstseinszustands gegeben. An Stelle ihrer Gesichter zeigt Ghufran Hände, Füße oder Totalaufnahmen des Schreins. „I am not in a position to represent anyone. It’s not just possession of mind. We showed feet and hands. At times, the feet would walk faster than normal. Hands would be taut. It’s a disembodiment of possession“,16 beschreibt die Filmemacherin ihre Vorgehensweise. Sie liefert ihre andersartigen Protagonistinnen nicht dem Blick des Zuschauers aus und verweigert sich somit dem Voyeurismus. Die eindringlichen, gesichtslosen Stimmen der Frauen werden universell. Fast zeitgleich mit THERE IS SOMETHING IN THE AIR entstand auch Helene Basus Dokumentarfilm DRUGS AND PRAYERS.17 Die Ethnologie-Professorin an der Universität Münster beobachtet dasselbe Phänomen, das Ghufran fasziniert: Besessene an heiligen Orten, in ihrem Fall dem nordindischen Mira-DatarSchrein. Auch Basu legt den Fokus ihres Films auf den Grenzbereich zwischen psychischer Erkrankung und spiritueller Besessenheit: Sie dokumentiert ein interdisziplinäres indisches Forschungsprojekt, dass den Erkrankten im Team von Ärzten, Psychologen, Heilern und Priestern Hilfe anbietet – mit einer Mischung

 16 Ghufran, Iram. Zitiert nach: unbekannter Autor: Atmosfear [Web]. 17 DRUGS AND PRAYERS (DE 2009, R: Helene, Basu, Dokumentarfilm. 55 min).

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aus Gebeten und Medikamenten. Ihre Protagonisten beschreiben ähnliche Begegnungen mit Geistern und von Stimmen, die sie hören. Interviewte Ärzte und Psychologen finden für ihre Symptome Begriffe wie Anpassungsstörungen und Depression, in einigen Fällen sogar Schizophrenie. Sie räumen ein, dass ihre Patienten glauben, ihre Beschwerden entstünden durch Geister und Zauberei, und deren Symptome folgten dem Glauben. Auch Basus Dokumentation zeigt Bilder von Männern und Frauen in Trance-Zuständen, die am Boden hocken, Kopf und Oberkörper kreisen lassen, ihr wirres Haar schütteln und dabei Schreie ausstoßen. Während Basu in ethnografischer Aufsicht Beratungsgespräche für betroffene Männer und Frauen am Schrein und im Büro der Hilfsorganisation filmt und mittels Sachverständiger beider Lager das Entstehen der Psychosen und die Rahmenbedingungen des Projektes zu erkunden sucht, verweilt Ghufran – bis auf einen kurzen Exkurs in eine psychiatrische Klinik in New Delhi – am Schrein. Dort wechselt sie beständig zwischen beobachtenden Bildern und die Innenperspektive der besessenen Frauen evozierenden Aufnahmen hin und her. Die besessenen Frauen folgen anderen Gesetzmäßigkeiten. Ghufran fragt nicht nach deren „wahrem Leben vor den Tempeltoren“, nach den Mühseligkeiten des Alltags oder Integrationsversuchen. Auch spielt es für sie keine Rolle, wie lange Zeit ihre Protagonistinnen am Schrein verbringen, ob sie dort tatsächlich Linderung ihrer Leiden erfahren. Die Visionen ihrer Protagonistinnen hingegen nimmt sie ernst: I grew up in Lucknow, in a social milieu where summer nights brought power-cuts and djinn and ghost stories were told, and those memories in many ways informed the film. On a different note, I feel that madness is closer to us than we realize – It’s always inside us... something we’re always escaping through ‚normalcy‘.

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Die Kindheitserinnerungen der Regisseurin an Geistererzählungen führten sie zu einer unaufgeregten Momentaufnahme am Schrein, in der alle Deutungsweisen möglich sind: Psychose ebenso wie die Heimsuchung durch Djinns oder religiöse Verzückung. Mit dem Hinweis auf ein Stück Verrücktheit, das in uns allen wohnt, relativiert Ghufran die ekstatischen Zustände ihrer Protagonistinnen. Auf diesen irrationalen Erfahrungen des Zuschauers beruht die evokative Wirkung

 18 Iram Ghufran, zitiert nach: Unbekannter Autor (First City): Where Do We Go When There’s Something in the Air Around Us? 2012 [Web].

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ihres Filmes. Bernhard Streck forderte als Grundvoraussetzung für die anthropologische Darstellung der Besessenheit, diesen aus der normalen Gesellschaft entrückten Personen Verständnis entgegenzubringen.19 THERE IS SOMETHING IN THE AIR nimmt ganz in diesem Sinne die Protagonistinnen ernst und entscheidet sich, um deren Geschichten zu erzählen, für das Prinzip des Einfühlens. Filmische Mittel, Evokation und dokumentarische Wahrheit  Wenn die dokumentarische Erzählung jenseits der bekannten und erwarteten Genres, Erzählperspektiven, zwischen Wahrheit und Fiktion angesiedelt wird, bietet sich dem Betrachter die Möglichkeit des Erstaunens, und daraus abgeleitet eines erweiterten Verständnisses der gefilmten Realität. Für eine solche Vorgehensweise setzt sich Ivo Strecker mit seiner Idee der evokativen Ethnologie ein. Der Filmemacher soll in seinen Arbeiten Freiräume für die Interpretation der repräsentierten Themen zu schaffen. Auf diese Weise sei es möglich, einen Zwischenraum zu erschaffen: „[A] third space between self and other, interior and exterior, fact and fiction, thought and emotion, truth, and illusion.“20 THERE IS SOMETHING IN THE AIR eröffnet einen solcher Raum zwischen medizinischer und ritueller Deutungsweise, zwischen sich wandelnden Wahrnehmungen. Der Begriff der Evokation steht auch für das Beschwören von Geistern oder Göttern, das Heraufbeschwören eines Zaubers. Die Anwesenheit dieser nicht sichtbaren Geister und Dämonen lässt die Regisseurin den Zuschauer durch ihre filmischen Mittel erahnen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Darstellung von Wasser, Rauch und Wind sowie der Rhythmus der sich drehenden Körper als Schnittstellen zwischen der äußeren Realität am Schrein und der inneren Wirklichkeit der Protagonistinnen. Der Film beginnt mit zunächst schwer zuordenbaren Aufnahmen von Wasser in einem städtischen Apartment: dem Strahl einer Dusche, den Wassertropfen, die einer Frau im angeschnittenen Portrait das Gesicht herab perlen. Weitere Bilder von Wassers dienen der Transition vom urbanen zum spirituellen Raum in Badayun. Dort nimmt die Filmemacherin dieses das Unterbewusste symbolisierende Motiv21 i altertümlichen Spielart wieder auf: in den Aufnahmen eines Brunnens am Chote-Sarkar‐Schrein,

 19 B. Streck: Fremdauslegung im Selbst, S. 30. 20 I. Strecker/M. Verne: Astonishment and Evocation, S.16. 21 Carl Gustav Jung prägte für das Unterbewusstsein das Bild eines tiefen Sees.

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welcher einer Texteinblendung zufolge die Heimstatt von Feen als Wächterinnen des Brunnens ist. Hyperrealistisch sind die Tropfen des Wassers im Brunnenschacht zu hören. Wie vielerorts gilt auch in der sufistischen Mythologie Wasser das Element des Lebens, aus dem die Schöpfung hervorgeht. Wasser steht nicht nur für Reinigung – etwas durch rituelle Waschungen – sondern auch für Auflösung und Ertrinken. Ghufran filmt die veränderliche, formlose Substanz vom Heck eines kleinen Bootes..22 Das Wasser strömt um die Finger einer Frau. Die Schwarz-Weiss‐Aufnahmen lassen sich nicht im Tempelgeviert verorten. Sie sind mit ihm motivisch verbunden und erweitern die Schilderung der Besessenen in assoziativer Weise. Mittels eines Untertitels kommentiert Ghufran die Bilder: „Many dream of water... and look for fairies in the wells of the city.“ Mit diesem Teil der Schriftgrafik poetisch gebrochen und geografisch geöffnet werden. Als weiteres wiederkehrendes Element zur Darstellung übernatürlicher Phänomene am Schrein nutzt Ghufran Rauch, der in Form von Räucherstäbchen zum Zeichen der spirituellen Andacht und Reinigung wird und sich damit dem physischen Raum des Schreins zuordnen lässt. Auf abstrakterer Ebene verweist der Rauch auf die Feuernatur, die den Djinns im Koran und in den folkloristischen Erzählungen zugeschrieben wird. Der in der zweiten Hälfte des Films einsetzende Wind ist ein ähnliches Motiv, das Iram Ghufram nutzt, um die Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit der Djinn-Erscheinungen zu bebildern. In der Totalansicht des Tempels wehen Papiere über den Boden, Tücher und Gewänder der Frauen flattern. Ein Mann dreht sich wie ein wirbelndes Blatt zwischen den Gebäuden.23 Die Zeitlupe, in der seine selbstvergessene Tanzbewegung dargestellt wird, betont das Maß, in dem die portraitierten Gläubigen von dieser Affektion der Luft erfasst sind. Dazu zählt die Autorin die verschiedenen Erscheinungsformen auf, welche die Erscheinungen annehmen können: „Hawaa aseb, saya, bhoot, roh, pret aatma, djinn. Air, shadow, ghost, spirit, djinn“.24 Die sichtbare Aufgeladenheit der Luft am Bade-Sarkar-Schrein ist Ghufrans Hinweis auf Unsichtbares. Sichtbar macht sie diese Wesen durch Schatten, die eine bewegliche Lichtquelle auf eine Hauswand wirft.25 Während die Untertitel die Geschichte

 22 Min 16:45. 23 Min 12:44. 24 Min 12:13. 25 Min 15:30.

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des Mädchens Kakul erzählen, das auf seine Djinn-Liebhaber wartet, lässt das Licht die Schatten tanzen – so wie die Frauen am Schrein. Mit Dokumentarfilm ist traditionellerweise der Anspruch verbunden, Realität abzubilden, während das Imaginäre dem Spielfilm vorbehalten ist. Ghufrans Film dokumentiert ein Phänomen, das am Rande des objektiv Wahrnehmbaren liegt. Von unruhig auf und ablaufenden Frauen abgesehen kann die Filmemacherin keine Evidenzen präsentieren. Die Glaubwürdigkeit ihrer Zeuginnen ist zutiefst unsicher, da sie sich in Traumwelten aufhalten und von gesellschaftlich nur beschränkt akzeptierten, subjektiven Wahrheiten berichten. Diese Wahrnehmungen, lässt der Film erkennen, stehen selbst für die betroffenen Frauen nicht fest. Ghufran beschreibt ihren dokumentarischen Anspruch an ihre Protagonistinnen: I was not producing „witnesses“. My characters are telling anecdotes – many are based on rumour and hearsay. All the women in the film suffer from various „afflictions of the air“. The film is not making any truth claims at all. And providing factual information beyond the minimum was not a primary concern to me.

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Die Diskontinuität der Wahrnehmung der besessenen Frauen spiegelt sich auch in der offenen, fragmentarischen Filmform wieder.

 Erzählstruktur  Ghufrans komplexe filmische Erzählung ist aus mehreren Ebenen gewebt. Die erste wird konstituiert durch das klassische Instrument des Dokumentarfilms: Interviews muslimischer Frauen am Bade-Sarkar-Schrein, die psychisch erkrankt sind und am Schrein Schutz suchen. In Hindi und Urdu erzählen die Frauen von ihrer Heimsuchung durch Djinns und Dämonen, von ihren Träumen, ihrem sich zu den Luftwesen hingezogen fühlen und ihrem Aufbäumen dagegen: „The affliction has a beautiful face. Sometimes it is very pretty, sometimes it is very ugly... and I feel scared.“ 27 Die Filmlogik folgt der Logik der Träume ihrer Protagonistinnen. An Stelle des dramatischen Zuspitzens eines filmischen Konfliktes setzt Ghufran Sprünge und Unerwartetes. Trotzdem die Regisseurin kaum patho-

 26 Iram Ghufran, zitiert nach: Unbekannter Autor (Time Out Bangalore): Novel vague. 2011 [Web]. 27 Ca. Min. 18:00.

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logische Informationen preisgibt, zeichnet sie ein eindrucksvolles und subjektives Bild der Vereinigung mit Luftwesen. Nicht nur Frauen suchen Heilung am Bade-Sarkar-Schrein. Der Dokumentarfilm zeigt kurzzeitig auch einen Mann, dessen Handgelenke wie die der besessenen Frauen mit Metallketten und Schlössern umwickelt sind. Ghufran jedoch stellt jedoch entschieden die Frauen ins Zentrum von THERE IS SOMETHING IN THE AIR. Die Interviews werden aus dem OFF erzählt und untertitelt. Statt der Portraitaufnahmen ihrer Interviewpartnerinnen zeigt Ghufran beobachtende Aufnahmen am Schrein. Mit dieser Diskretion unterscheidet sie sich von klassischen journalistischen Interview-Ästhetiken. Anhand der Interviews setzt Ghufran eine fragmentarische Schilderung der Vorkommnisse am Bade-Sarkar-Schrein zusammen. Die zweite Ebene besteht in einer Art Mischung aus historischem Rückblick und Legende: Hier erzählt Ghufran mittels Untertiteln lang vergangene Geschichten von Frauen, die denen am Bade-Sarkar-Schrein gleichen. Die Geschichte von Kishwar, die vor langer Zeit einfach verschwand: Niemand wusste wohin, keine Briefe, keine Spuren blieben von ihr zurück, sagt der Untertiteltext. In nachgestellten Bildern einer Briefe schreibenden Frau und kaligrafischen Briefausschnitten wird die Geschichte Kishwars erzählt, die den Djinns an einen unbekannten Ort folgte: „Friday June 10, 1949. My dear mother, I understand your anger and pain. So much time has passed. Still... no one tried looking for me.“28 In ähnlicher Weise repräsentiert die Filmemacherin die Geschichte Kakuls, die auf ihren Djinn-Liebhaber wartet. Zu der typografischen Variante der Erzählerstimme fügt Ghufran schemenhafte Bilder einer Frauengestalt, die durch eine nächtliche Ruinenlandschaft geht. Ob diese Frauengeschichten Fakt oder Fiktion angehören, lässt der Film offen. Ghufran zeigt Fotos von Frauen, die Kishwar oder Kalkul sein könnten, die jedoch weder deren Existenz noch deren Verschwinden belegen. Für THERE IS SOMETHING IN THE AIR spielt es keine Rolle, ob ihre Geschichten historisch verbrieft, Gerücht oder Mythos sind. Eine dritte Ebene besteht im Abspielen realistischer Tondokumente zu Architekturdetails einer großstädtischen psychiatrischen Klinik in Delhi während der Eingangssequenz. Der Raum wird durch einen sich verbreiternde Lichtstreifen und wehende weiße Vorhänge eingeführt, und schließlich durch das leere Be-

 28 Min. 06:30.

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handlungszimmer einer Ärztin erzählt. Über den Bürodrehstuhl ist der Kittel der Ärztin gelegt, durch das Fenster im Hintergrund wird ein begrünter Innenhof sichtbar, durch den schließlich ein Mann geht. Die Situation wirkt, als könne jeden Moment jemand zurückkommen und seine Arbeit wieder aufnehmen. Auf dem Schreibtisch, von warmem Licht beschienen, steht ein Diktiergerät, mit dem offenbar der zu hörende Dialog zwischen Ärztin und Patientin aufgenommen wurde. Die Patientin beschreibt die Stimmen, die sie hört: That woman was speaking to me... I can constantly hear her voice – Okay, where did you see her? – On the road, while coming to the hospital... – So, what was she saying? – She was asking me to get down from the bike and show my private parts. – Fine. Can you see her in this room now? – No. She is not in the room. I don’t see her. But I can constantly hear her speak.

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 Ihr Bericht ähnelt stark denen der Frauen am Bade Sarkar-Schrein. Iram Ghufrans Zusammenstellung ist einfach: Ohne weiteren Kommentar montiert sie die Szenen der neuen und der alten, der rationalen und der mythologischen Welt zusammen. Die Krankenhaus-Bilder sind die einzigen menschenleeren Bilder des Films. Die vierte Ebene bilden die Kommentare der Autorin. Der Film ist insgesamt sehr still angelegt. Die Interviews sind in einen entfernten Teppich von Stimmen, Gebeten, Schritten, Geräusch-Atmosphäre des Schreins eingebettet. Iram Ghufran verzichtet darauf, ihren Kommentar einzusprechen. Stattdessen thronen ihre Gedanken als Untertitel über der Stille. „Each lock is for a separate affliction, to be opened, once the affliction is expelled. She knows she has to let the affliction claim her body,“30 kommentiert die Filmemacherin die eine lange Einstellung einer in einen orangefarbenen Salwari Kameez gekleideten Frau, um deren Hand- und Fußgelenke Metallketten mit Vorhängeschlössern gewickelt sind. Die Frau klammert sich an die grün gestrichenen Gitter, welche die Fenster vom Schreininneren abgrenzen. Sie schwingt ihren Körper am Gitter entlang. Ihre Füße tanzen über den Marmorboden. Mit dem typografischen Text ordnet und

 29 Min. 02:10. 30 Min. 20:02.

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kommentiert Ghufran die Bilder und zusammengefügten Geschichten. Ohne den Duktus einer Erzählerstimme scheinen die Kommentare zwischen erläuternden Anmerkungen und subjektiven Gedanken zu changieren. Der Verkörperung der Djinns scheint Ghufran mit Entkörperung zu antworten: den ausgesparten Gesichtern der Interviews, der enigmatischen Stille des Erzählers. Auf einer fünften Erzählebene ertönen schließlich Sufi-Lieder, deren Text untertitelt wird. Die Gesänge verorten die Besessenen und ihren Zufluchtsort in der muslimischen Mythologie: So wird der Schrein eingeführt mit dem Gesang einer Frau: „O Saint of the Court of justice... learned and wise“.31 In den Zeilen spiegelt sich die Hoffnung der erkrankten Frauen auf Heilung am Schrein wieder. Nach der Annäherung an die ruhelosen und von Geistern getriebenen Protagonistinnen endet der Film schließlich mit den versöhnlichen Zeilen eines SufiLieds, aus männlicher Kehle: Everybody calls me mad. I am but a passionate lover and follower of the saint Everybody calls me mad.

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Der diegetische Gesang ist mehr als nur stimmungsvolle Filmmusik: Er funktioniert als Kommentar, der die dokumentarische Handlung einrahmt, in bester Tradition indischer Dokumentarfilme. Die Strophen des Liedes heben den Unterschied zwischen gesundem Gläubigem und krankem Pilger auf. Angesichts des Heiligen und seiner Kräfte gehört Wahnsinn zur Normalität. Das mosaikartige Verweben dieser verschiedenartigen Erzählebenen trägt zum offenen Charakter des Films bei. Die andeutenden und fabelartigen Geschichten erhalten dabei einen gleichwertigen Platz neben den Schilderungen von Zeitzeuginnen. Zusammen ergeben sie die leidvolle kollektive Geschichte von Frauen und Djinns am Bade Sarkar Schrein, die um das Erscheinen von Geister und das Verschwinden von Frauen konstruiert sind. „There were no biographies to be told, just fragments as material – fragments of lives and dreams.“33

 31 Min. 05:00. 32 Ca. Min 24:30. 33 Iram Ghufran, zitiert nach: Unbekannter Autor: Novel Vague [Web].

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Auf diese Weise beschreibt die Regisseurin das Material, das sie in Badayun sammelte. Sie formt daraus einen Ensemblefilm von nicht sichtbaren Protagonistinnen und nicht sichtbaren Geistern. Ghufran zeigt keine einzelnen Charaktere, vielmehr fädelt sie die Episoden von Heimsuchungen wie Perlen auf eine Kette.34 Die einzelnen Fragmente sind im Film über das Thema der durch die Geister ausgelösten Krankheiten motivisch miteinander verknüpft. Über die Kapitel ‚Precision of the Unspoken‘, ‚An Affliction‘, ‚Some Dreams‘, ‚Living with Air‘ und ‚A Convent of Dreamers‘ wird die Erzählung gegliedert. Die Kapitel beinhalten jeweils mehrere Schilderungen von Begegnungen mit Djinns. Im Verlauf des Films steigern sich der repräsentierte Schmerz und die Schreie der Frauen. Die sich ekstatisch hin- und herwerfenden gesichtslosen Protagonistinnen am Schrein erfahren keine äußeren Konflikte und ihre ungewöhnliche Existenz am sakralen Ort wird von den anderen Gläubigen akzeptiert. Jedoch beruht der Film auf einem starkem inneren Konflikt der Frauen, den Ghufran nachvollzieht, ohne für ihn eine Lösung abzuzeichnen. Dieser innere Konflikt bildet sich sich in der Körpersprache der Protagonistinnen ab. Er wird von der Regisseurin in assoziative und inszenierte Sequenzen übersetzt, die Anknüpfungspunkte für die Fantasie und die eigenen Erfahrungen des Zuschauers bilden. Dazu gehört etwa die Geschichte der Briefe schreibenden Kishwar. Ihre Geschichte wird zum Ende des Films wieder aufgegriffen und bietet damit so etwas wie eine Rahmenhandlung, einen Kreis, der sich schließt.

A RCHÄOLOGIE UND D OKUMENT . A YISHA A BRAHAMS U MGANG MIT F OUND F OOTAGE  Kratzer, Blasen und Flecken schwirren durch das vergilbte Bild eines Staudamms. Am rechten Bildrand strömt tosend Wasser hervor. Ein Mann läuft den Damm entlang in Richtung Horizont. Schwanzwedelnd bewegt sich ein Schäferhund auf die Kamera zu, die nächste Einstellung gibt einen Fotografen hinter seinem Aufnahmeapparat frei. Das Bild blendet ins Schwarz und das Geräusch eines Filmprojektors setzt ein, in den eine Filmspule gelegt wird. Mit dem Klicken des Einschaltens beginnt er, eine Abfolge flirrender, zerkratzter Privatauf-

 34 Vgl. Siegfried Krakauer, zitiert nach: K.Stutterheim/S. Kaiser, Silke: Handbuch der Filmdramaturgie, S. 199.

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nahmen zu zeigen: Ein Mann bedient eine Super8-Kamera, unter beinahe unkenntlichen Bildern wird ein an beiden Händen gehaltenes Kleinkind in bauschigem weißen Kittel sichtbar und verschwindet dann wieder unter den dicken Artefakten, die das Bild übermalen, bevor mit nüchterner Schrift der Filmtitel eingeblendet wird: STRAIGHT 8.35 Mit diesem Super8-Material unternimmt die Filmemacherin Ayisha Abraham eine Reise in das Bangalore der 1940er Jahre. Die historische Dimension ist dem von ihr verwendeten Amateur-Material anzusehen. Blasig, angefressen und verblichen erscheinen die Aufnahmen der Busfahrten, Picknicks, und Zirkusaffen.Wie entstand dieses Material, lange bevor preiswerte Videokameras die internationalen und auch indischen Märkte überschwemmten und private Filmaufnahmen in großem Maßstab ermöglichten? Welche Rolle spielt die Verwendung und Aufarbeitung privater Filme in der indischen Kunst- und Filmszene? Wie verschieben sich kulturelle Blickweisen durch den Aneignungsprozess des Filmmaterials? Ayisha Abrahams FoundFootage-Filme liefern wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung dieser Fragen. Frühe Home Movies in Indien  Das Kino war bereits wenige Jahre nach seiner Erfindung durch die Brüder Lumière von Frankreich als Zerstreuungsmedium der Kolonialbeamten nach Indien gelangt. Kameratechnik zur professionellen Aufzeichnung ihres Lebensumfeldes und als Dokumentationsinstrument ethnologischer Forschung folgte bald den nach Asien verschifften Projektoren und Filmrollen. Bemerkenswert ist die rasche Übernahme dieser westlichen Technologie in indigene Hände. Im Westen datieren erste Filme, die außerhalb kommerzieller, wissenschaftlicher oder militärischer Kontexte von Laien aufgenommen wurden, bis in die 1920er Jahre zurück. Nur selten leistete sich ein privater Haushalt solch eine schwere, sperrige und kompliziert zu bedienende Filmkamera. Die Amateure nutzten ein Schmalfilm-Format, das 1932 von Kodak auf den Markt gebracht wurde. Mit dem deutlich kleineren Bildformat richtetet sich der 8-Millimeter-Film an private

 35 Der Text dieses Kapitels wurde in stark gekürzter Fassung bereits unter dem Titel ‚Perspektiven im aktuellen indischen Dokumentarfilm‘ publiziert in: Weiß, Monika; Blum, Philipp; Thielmann Carlo (Hg.): An- und Aussichten. Tagungsband zum 26. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquium. Marburg, Schüren, 2016.

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Nutzer, die ihr Material nicht auf großen Leinwänden zu projizieren planten. Die neue und preiswerte Amateurtechnik schien ausgezeichnet geeignet, ihre Besitzer auf Reisen zu begleiten – so auch in die südindische Garnisonsstadt Bangalore. Durch welche Charakteristika lässt sich der frühe Amateurfilm beschreiben? Alexandra Schneider schlägt für den Amateurfilm als private filmische Praxis die Untergliederung in Familienfilm und Clubfilm vor.36 Was die Gruppe des Familienfilms angeht, so scheint eine enge Korrelation zwischen Haushalten mit Kindern und dem Besitz einer Kamera zu bestehen, die Geburt eines Kindes scheint das Dokumentations-Bedürfnis zu steigern.37 Mit ihren Werken wird der Kreis der Familie und Freunde ebenso repräsentiert wie adressiert. Die Familien sind zugleich Darsteller und Publikum. Der „Familienfilmer“ dürfte mit dem von Pierre Bordieu für den Großteil der Fotoamateure heraufbeschworenen Begriff des „Saisonkonformisten“ charakterisiert sein, dessen sporadische Aufnahmen bei Familienfesten, Freundestreffen oder während der Sommerferien entstehen. Hochzeiten, Ausflüge, die ersten Mahlzeiten und Schritte des Kleinkindes gehören in Indien wie andernorts zu den typischen Motiven des Genres. Unangenehme Aspekte des Familienlebens wie Streit, Todesfälle und oder Momente des Scheiterns bleiben in der privaten Filmchronik meist außen vor. Schneiders zweite Kategorie, die der privaten Filmclubs, datiert ebenfalls bereits in die Frühzeit des Films zurück. So ist etwa eine Filmgruppe in Frankfurt bereits im Jahr 1926 belegt. Durch den Zusammenschluss in Gruppen und Vereine ließen sich die Arbeitsteiligkeit des Mediums Film leichter bewältigen und die Anschaffungs-kosten der Filmtechnik und des Materials verteilen. Gemeinschaftlich wurden die unterhaltsamen Aspekte der Filmdrehs und des anschließenden gemeinsamen Betrachtens der Werke genossen. Die Arbeiten der Filmclubs zeichnen sich durch einen höheren Professionalitätsanspruch als die privaten Amateuraufnahmen aus und orientieren sich häufig am kommerziellen Unterhaltungskino. Im Gegensatz zum fragmentarischen Familienfilm liegen Clubfilme häufig als abgeschlossene Streifen mit Vor- und Abspann, TextTafeln und umfangreichem Drehplan vor. Amateurfilme entstehen frei von wirtschaftlichen Auswertungsinteressen und, für Ayisha Abraham besonders bedeutungsvoll, aus Liebe für das Filmen:

 36 Vgl. Schneider, Alexandra: Die Stars sind wir. Heimkino als filmische Praxis. Marburg, Zürcher Filmstudien, 2004, S. 37. 37 Vgl. Ebd., S. 65-66.

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I came upon a definition of ‚amateur‘. And I think I’ve been an amateur filmmaker for years now. And I didn’t actually know that the origin of the word ‚amateur‘ came from38

lover, a devoted friend, a devotee, an enthusiast, and pursuer of objective.

Abrahams Verständnis des Amateurs scheint der Schlüssel zu ihrer Beschäftigung mit deren Filmen. Beide verbindet eine von wirtschaftlichen Zwängen und politischen Agenden freie Liebe zu den flackernden Filmbildern: These home movies are often a medium of joy. They are a medium where the best – however much of a front it was – the best and the happiest moments of your childhood or your life, or whatever your family might have represented. But the representation is only part of this particular history.

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Die Möglichkeit, sich mittels des Mediums Film auszudrücken, ist gekoppelt an den Zugang zur Aufnahmetechnik. Im Westen setzt sich der Amateurfilm erst nach dem zweiten Weltkrieg in Privat-Haushalten durch. Zuvor galt er als zu kostspielig und komplex. Aus dieser Zeit stammt das von Abraham verwendete Filmmaterial. In Indien geht dieser historische Moment der Aneignung des Mediums Film durch private Haushalte einher mit der Auflösung der kolonialen Machtverhältnisse. Ayisha Abraham beschreibt die Übernahme der Filmausrüstung als Resultat eines erhöhten Reisebetriebs von britischen Militärs, die auch zivile Technologien wie Kameras bei sich trugen: […] during the war, the world war II, Bangalore was the rest and recuperation centre for the troops, and there was a lot of amateur activity as well as this flow of technology. Cameras were coming in and out, because there were the Americans, and the Dutch, and there were people coming out and in, and they would leave behind this cameras when they would fly off to Burma or Japan or wherever, or back to Europe. They would leave these cameras behind, and they would circulate.

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  Abraham, Ayisha: Talk at CAMP Mumbai. 2010 [Web]. 39 Ebd. 40 Abraham, Ayisha: Vortrag im Center forInternet and Society, Bangalore, 2011-12-05 [Web].

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Demnach übernahmen die indische Amateurfilmer der ersten Stunde ihre Ausrüstung aus dem Kreis britischer Truppen, die ebenfalls privat filmten, um ihre Erinnerungen an die Militärzeit und den fernen Ort, an dem sie stationiert waren, in 8-Millimeter-Filmbildern festzuhalten. Neben der Filmtechnik konnten die indischen Filmliebhaber auch Motive und Stilisierungen der britischen Amateurfilmer übernehmen und entsprechend ihren Bedürfnissen und Anschauungen modifizieren. Es stellt sich die Frage, wer diese frühen indischen Amateurfilmer waren, die in bewegten Bildern eine private Geschichtsschreibung betrieben. Patricia Zimmermann und Alexandra Schneider beschreiben den 8-Millimeter-Film als ein Medium der Privilegierten. Auch in der britischen Kolonie galt Film-Technik als teuer und nur wenigen zugänglich. In diesem Sinne schließt Tahireh Lal, die 2008 das Schmalfilm-Material ihres Großvaters der 1960er und 1970er Jahre zu einem filmischen Portrait desselben editierte,41 ihre Erzählung mit dem Verkauf der Super-8-Kamera in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs der Familie. Damit beendet sie die Folge fröhlicher Familienbilder: Ihre Protagonisten gehören nicht mehr der Klasse an, welche die gesellschaftliche und politische Geschichte Indiens dokumentiert. Der Lesart des bevorzugten Amateurfilmers aus höchsten Gesellschaftskreisen widerspricht Ayisha Abraham: Ihr komplettes Material stammt nicht aus den Archiven der Maharadschas oder Großindustriellen, sondern aus bürgerlichen Haushalten. Abraham zufolge waren die Filmer der Mittelschicht kein Ausnahmephänomen. Zahlreiche Filmliebhaber hätten – nicht zuletzt als Nachnutzer kolonialen Kameraausrüstungen – selber Aufnahmen gemacht. Ihr Material allerdings habe nur in wenigen Fällen das tropische Klima überdauert. Ein wesentliches Kriterium zur Beschreibung von Amateurfilmen ist der Fakt, dass sie im Unterschied zu Kinofilmen nie öffentlich aufgeführt wurden.42 Ist das Material im künstlerischen Found-Footage-Film wiederaufgenommen, wird es häufig zum ersten Mal veröffentlicht – lange nach dem Akt des Filmens, und häufig aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst.



 41 THESE OLD FRAMES (IN 2008, Tahireh Lal, Dokumentarfilm, 15 min). 42 Vgl. A. Schneider: Die Stars sind wir, S. 47.

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Die Filmautorin Ayisha Abraham

 Eine Beschreibung der kulturübergreifenden Sichtweise indischer Film-Amateure der 1940er Jahre in STRAIGHT 8 kann nicht ohne einen Hinweis auf die ebenso transkulturelle künstlerische Prägung der Regisseurin geschehen. Ayisha Abraham wurde als Tochter des indischen Karikaturisten Abu Abraham in London geboren. Ihr Vater arbeitete dort als Kolumnist für die englischen Magazine „The Observer“ und „The Guardian“. Später wechselte er zum „Indian Express“ und siedelte mit seiner Frau und der siebenjährigen Ayisha nach Delhi um. Die durch ihren Vater vermittelte Erfahrung des europäischen und indischen Alltags und das Miterleben des kunst- und journalistischen Diskurses auf beiden Seiten prägten sie früh. Mit dem Studium setzte Abraham ihr interkulturelles Interesse fort: Sie studierte Bildende Kunst im indischen Baroda und in New Brunswick, USA. Später nahm sie am Whitney Independent Study Program in New York teil und kehrte schließlich nach Bangalore zurück. Abraham wanderte zwischen Kontinenten und den sie prägenden Kultur-Diskursen. Auch ihre Arbeiten verorten sich in einem Zwischenraum, dem der Bildenden Kunst und dem experimentellen und dokumentarischen Film. In diesem Grenzbereich entwickelt sie ihre persönliche Erzählweise. „Are you an artist, or are you a documentarian, or are you something else?“, wurde sie von ihrem Publikum befragt. Documentary filmmakers see me as an artist, and artists say: she is only giving me information but there is no experience. […] I have lots and lots of footage, but this is an instance where this footage in a way spoke to me. It wasn't enough for me to project it like 43

an experience and sensation, but there was this interesting history there.

Motor ihrer Arbeiten ist Abrahams Auseinandersetzung mit ihrem Stadtteil Cook Town, einem traditionellen Wohnquartier der anglo-indischen Gesellschaft von Bangalore. In ihren Filmen und mit dem Filmmaterial der alten Bewohner des Stadtteils untersucht die Filmemacherin deren Tradition, die zunehmend vom globalen Lebensgefühl der IT- und Call-Center-Stadt verschluckt wird. Zurück bleiben nostalgische Erinnerungen und fotografische und filmische Versatzstücke einer Gemeinschaft sowohl britisch als auch indisch geprägter Kultur. Ebenso wie das erodierende Filmmaterial verschwinden auch die kolonialen Einfami-

 43 A. Abraham: Vortrag im Center forInternet and Society [Web].

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lienhäuser, die den Stadtteil einst prägten. Sie weichen mehrstöckigen Apartment-Komplexen, die Raum für die neuen, globalen Protagonisten der stark wachsenden Metropole bieten.

 Stadtteil-Archäologie und filmische Funde  Mit der Unterstützung mehrerer Kunststiftungen begann Ayisha Abraham 2001 die Recherche für STRAIGHT 8, ihren ersten Found-Footage-Film.44 Ohne bereits indische Amateurfilmer oder deren Material zu kennen, war Abraham fasziniert von der Idee solcher Selbstdokumentationen. Ihre Suche nach privatem Filmmaterial war langwierig, da in Indien selbst offizielle Filmdokumente nicht durchgehend archiviert sind. Das seit 1964 aktive National Film Archive in Poona, einziges staatliches Filmarchiv, bewahrt journalistische Filmfragmente aus der Gründungszeit Indiens, rare historische Filmdokumente von etwa Mahatma Gandhis Protestmärschen und vor allem Kopien herausragender indischer Spielfilme auf. Für private Aufnahmen war in dem riesigen Archiv kein Raum, Filmspenden aus privater Hand nahm es nicht an. Auch Hinweise auf dergleichen private Geschichtsschreibung konnten weder das National Archiv noch andere Institutionen geben.45 I was searching for found footage. No public or official archive collects this material in India. My intension was to create a private archive, which would narrate a different, more particular history of Indian film, multilayered on three levels: visual, metaphorical, and historical,

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beschreibt Ayisha Abraham eindrücklich ihre Suche und das erhoffte Material. Statt auf Home Movies stieß sie 2002 auf den einstigen Fotografen und Amateurfilmer Tom D’Aguiar (1910-2002). Er war der Sohn einer anglo-indischen

 44 Für die Recherche erhielt Abraham die Unterstützung der indischen Kulturinitiativen Majlis (Mumbai) und Sarai (Delhi), sowie der Srishti-School of Art (Bangalore). 45 Vgl. Gespräch mit Ayisha Abraham, April 2009. 46 Abraham, Ayisha: ‚Deteriorating Memories. Blurring facts and fiction in Home Movies in India‘. In: Zimmermann, Patricia/Inhizuka, Karen L. (Hg.): Mining the Home Movie. Excavations in Histories and Memories. Berkeley und Los Angeles University of California Press, 2007, S. 168.

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Familie aus Kalkutta und siedelte später nach Bangalore über. Dort arbeitete er für das Post- and Telegraph Department – eine typische Karriere der angloindischen Gemeinde, die er als recht eintönig beschrieb. Privat schrieb er Gedichte und interessierte sich für Fotografie. Viele Aufnahmen des autodidaktischen Filmemachers entstanden während seiner Dienstreisen durch den Bundesstaat Karnataka. Während des Krieges drehte er mehrere Filme für britische Soldaten in Indien. In einer improvisierten Dunkelkammer in seinem Wohnhaus editierte er sein Material. Das Interview mit dem Zweiundneunzigjährigen wird die narrative Grundlage für STRAIGHT 8 bilden. Rückblickend beschreibt Ayisha Abraham ihre Faszination für ihren Zeitzeugen und die schwierige Suche nach seinem Material: „He had spoken about the films that he had shot in the 1930ies. He lived alone with a dog and he had not seen the films for about fourty years. I offered to clean out his store room and look for it. He said no, no, it’s not possible.“47 D’Aguiars Material schien verschollen, und kurze Zeit nach dem Interview starb der Amateurfilmer. In einem Winkel seines Hauses fanden seine Söhne ein Päckchen mit dem Filmmaterial, das sie Abraham überließen. Es gelang ihr, das stark beschädigte Filmmaterial noch einmal zu projizieren und zu digitalisieren. Bis 2005 montierte sie aus seinem Super-8-Material ein Portrait D’Aguiars: STRAIGHT 8. In derselben Zeit setzte sie ihre Recherche nach privaten Filmaufnahmen in Indien und insbesondere ihrer Heimatstadt Bangalore fort. Abrahams Fundstücke sind Dokumente von Zeitgeschichte, Politik und Lebensstil – repräsentiert durch Kinderspielzeuge, Hausflure, Vorgärten, Fahrzeuge, Familienfeiern – und lassen durch den alltäglichen Blickwinkel des filmenden Familienüberhauptes Rückschlüsse auf die Beschaffenheit einer vergangenen Gesellschaft zu. Patricia Zimmermann beschreibt die Qualität solcher AmateurAufnahmen: These amateur film artifacts present a materialization of the abstractions of race, class, gender, and nation as they are lived and as a part of everyday life, much valorized by cultural studies as site for agency, fissure, and resistance to dominant modalities. Home movies provide vectors into the processes of racialization, race difference, and the imaging of racial difference.

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 47 A. Abraham: Talk at CAMP Mumbai. 48 Zimmermann, Patricia: ‚The Home Movie Movement. Excavations, Artifacts, Mining‘ In: Zimmermann, Patricia/Inhizuka, Karen L. (Hg.): Mining the Home Movie. Excava-

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Als persönliche Erinnerungsstützen sind die Home Movies kaum editiert, nur selten existierte ein Drehbuch. Daher ist das Ausgangsmaterial sehr offen und erlaubt Abraham eine eigene Interpretation dieser Familien- und Stadtgeschichte.49 Ihre Dokumentation des Stadtteils Cook Town geschieht ebenso zu einem Zeitpunkt kulturellen Wandels wie die Aufzeichnung des von ihr verwendeten Super-8-Materials der 1940er Jahre. So sehr Abrahams Arbeit vom Impuls des Bewahrens getragen ist (eindrücklich beschrieben beim Fund des ersten Archivmaterials), so entkommt sie dem ethnologischen Modus des Erklärens, indem sie STRAIGHT 8 statt zum audiovisuellen Bericht über eine Gruppe Anglo-Inder zum individuellen Portrait Tom D’Aguiars formt – eines Familienvaters, Staatsbeamten und Filmliebhabers im kolonialen Indien. Erzählstruktur

 Obwohl der Kurzfilm keine umfassende Chronologie von Tom D’Aguiars Leben darstellt, sondern seine Beschäftigung mit Film eher atmosphärisch reflektiert, ist STRAIGHT 8 dennoch sehr erzählerisch organisiert. Seine Struktur entspinnt sich um die im Interview geschilderten Erinnerungen ihres Protagonisten, denen Abraham Super8-Bilder zuordnet. Die Found-Footage-Blöcke gliedern sich in 1. 2. 3. 4.

Collagen von Familienaufnahmen Stadtaufnahmen von Bangalore Ausflüge im Bundesstaat Karnataka in sich geschlossene Stummfilme Tom D’Aguiars - nämlich die Agentenfilm-Parodie WELL DONE, WALTHER,50 den scheinbar ebenfalls fiktionalen Film PICNIC51 sowie die dokumentarische Aufnahmen des Tänzers Ram Gopal.52 Im Gegensatz zu den Kurzspielfilmen lag das Gopal-Material in Fragmenten vor und wurde erst von Abraham (wieder) zusammengesetzt. Ver-

 tions in Histories and Memories. Berkeley und Los Angeles, University of California Press, 2007, S 4. 49 Vgl. Abraham, Ayisha: En Route of a Thousand Moons. Ausstellungsbegleitender Film zur Ausstellung Paris –Bombay–Delhi im Centre Pompidou. 2011 [Web]. 50 Ab Min 02:50, Gesamtlänge im Film 02:45 Minuten. 51 Bei Min 06:50, von knapp einer Minute Länge. 52 Bei Min 10:43, von ca. 02:30 Minuten Länge.

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mutlich lässt sich auch das schwarz-weiße Filmfragment eines auf der Sessellehne trommelnden und kleine Artistiknummern vorführenden Mannes auf eine durchgehende Einstellungsreihe D’Aguiars zurückverfolgen. Hinzu kommt 5. ein Videointerview Tom D’Aguiars in seiner Wohnung,53 in dem er handkolorierte Fotografien vorführt. Auffallend ist 6., eine Super-8-Montage, die mit einer Toncollage aus Interview-Fragmenten von Tom D’Aguiar und seiner Frau verknüpft ist. In der Sequenz erinnert sich das Paar an die improvisierte Dunkelkammer in ihrem Schlafzimmer und den diffizilen Entwicklungsprozess. Die Sequenz zeichnet ein atmosphärisches Erinnerungsstück, aus dem sich keine technischen Details ablesen lassen. Vielmehr überlagern sich Satzfragmente wie „Now you put hat into a diaper... pressed it to a paper… material was getting exhausted... that was during the war...“ Sie sind schwer zu verstehen und verwoben mir den Geräuschen des Projektors und Musikfragmenten. Sich wiederholende Einstellungen von großem Wiedererkennungswert bieten in der Aneinanderreihung der Archivbilder Orientierung. Dazu gehört die beschriebene Aufnahme des den Staudamm entlanglaufenden Mannes im Intro oder Einstellungen von Männern, die eine Kamera vor das Gesicht halten. Obwohl keineswegs sicher ist, dass es sich bei den abgebildeten Figuren um Tom D’Aguiar handelt, so stehen sie doch symbolisch für den Erzähler, der als Flaneur und Filmer im Voice-Over präsent ist. Der Interviewaufbau von STRAIGHT 8 kann nicht chronologisch genannt werden, weil er nicht das Leben D’Aguiars beschreibt, sondern Momente seiner Beschäftigung: mit der Stadt Bangalore, mit den technischen Prozessen der Aufnahme und Filmentwicklung. Indem sich Abraham in ihrer Montage auf das Atmosphärische, Ausschnitt- und Collagenhafte der Aufnahmen konzentriert, entkommt sie dem erklärenden Modus ethnografischen Films und lässt damit multiple Lesarten zu.

 53 Bei Min 13:24, knapp einer Minute Länge.

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Kulturelle Perspektiven in S TRAIGHT 8 – ein Stille-Post-Spiel

 Abrahams Dokumentation schafft durch die Verknüpfung von Tom D’Aguiars historischem und ihrem eigenen gegenwärtigen filmischen Ausdruck einen Dialog, in dem komplexe kulturelle Identität verhandelt wird – zwischen kolonialen, indischen, angloindischen und internationalen Perspektiven. Homi K. Bhabha geht in seinem Schlüsselwerk Die Verortung der Kultur zunächst von einer kolonialen und einer kolonialisierten Kultur aus, die in einem binären Machtverhältnis zueinander stehen und sich durch kulturelle Annahmen oder Stereotype  voneinander abzugrenzen versuchen. Anhand dieser Differenzen beschreiben sie ihre eigene kulturelle Identität sowie die der ‚Anderen‘. Beispielsweise beschreibt die Seite der Kolonialmächte sich selbst als ‚nicht schwarz‘, ‚nicht wild‘, ‚nicht primitiv‘ etc. und definiert ihre eigene Kulturzugehörigkeit mindestens im selben Masse durch die Andersartigkeit von der lokalen Kultur wie den Kultur-mechanismen des Heimatlandes. Diese Perspektiven sind vielschichtig und ambivalent. Eine verbreitete Kolonial-Fantasie war etwa die des Einheimischen als ‚Wildem‘ und ‚treuem Diener‘, faszinierend und furchteinflößend zugleich. Über solche Brüche in den Stereotypkonzepten hinaus haben Bhabha zufolge stets Verhandlungsprozesse über die Kolonialgrenzen hinweg stattgefunden. Inwiefern bei der britischen Diasporakultur oder den kolonialisierten Indern angesichts mannigfaltiger Lokalsprachen, Religionen und Ethnien von klar definierbaren Ursprungskulturen zu sprechen ist, bleibt sicherlich offen. Für Austausch- und Übersetzungsprozesse zwischen den beiden Traditionen schlägt Bhabha die Denkfigur des ‚dritten Raumes‘ vor. Darin kann kulturelle Identität neu ausgehandelt werden. Die im ‚Third Space‘ entstehenden kulturellen Vermischungen beschreibt er als hybride Kulturen. Mit dem Begriff der ‚Hybridität‘ löst Homi Bhabha die Trennung zwischen der Auffassung von etwas kulturell ‚Eigenem‘ und ‚Fremden‘ auf. Er geht davon aus, dass diese Mischform weit über die Summe der beiden Ursprungskulturen hinausgeht, vielmehr durch einen permanenten Aushandlungsprozess neue kulturelle Identitäten entstehen. Die von dem Amateurfilmer Tom D’Aguiar beschriebene Gesellschaft der Anglo-Inder in Bangalore, noch vor dem Abzug der Besatzer aus Indien 1947, mag als Paradebeispiel für Bhabhas Theorie gelten. In einem beide Kulturen

 54 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen, Stauffenburg Verlag, 2000.

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verbindenden Zwischenraum verknüpft sie Rituale, Religionen und Stereotypen der Selbstdarstellung. Problematisch mag sein, dass einige der Insignien westlichen Lebensstils wie Autos und Telefone auch einfach als Boten der Moderne, des Wohlstands und globalen Handels gelesen werden können. Mit dem Filmen von Familienereignissen und Reisen fertigt D’Aguiar persönliche Erinnerungsstücke an. Zugleich vergewissert er sich damit seiner eigenen hybriden Identität. Hieraus folgt die Frage, wie sich das kulturelle Selbstbild D’Aguiars in Abrahams Montage artikuliert. Auffallend sind zunächst die Repräsentation von Lebensstil, Bekleidung, Frisuren, aber auch Hautfarbe - als Indiz von kultureller Zugehörigkeit und Abstammung. So sind Anglo-Inder im Allgemeinen hellhäutiger als die restliche indische Bevölkerung. Dieser Faktor, der bis heute in Indien die Identität und das Schönheitsideal stark prägt, wird durch die Schwarz-Weiß-Aufnahmetechnik und die Möglichkeit des Spiels mit Kontrastverhältnissen noch begünstigt. An welchen Orten und zu welchen Anlässen entstehen die Amateuraufnahmen? Die Motive erscheinen zumindest in Zusammenhang mit D’Aguiars Material recht universell und denen des westlichen Amateurfilms vergleichbar: Familien-Ereignisse, Aufnahmen der heranwachsenden Kinder, der lächelnden Ehefrau, des liebevoll umsorgten Schäferhunds (Attribut westlicher Lebensart, das im Kontrast zu den indischen Straßenhunden steht), Ausflüge mit Familie und Freunden zu nahegelegenen Zielen. Neben der nach westlicher Manier ausstaffierten Familie erscheint ein Automobil im Bild - zugleich Fortbewegungsmittel und Versicherung der Zugehörigkeit zu einer modernen, wohlhabenden und internationalen Welt. Die aufgezählten Merkmale erinnern an Homi Bhabhas Begriff der kolonialen Mimikry. Ihm liegt das Begehren der Beherrschten zugrunde, am wirtschaftlichen Erfolg und in modifizierter Form den äußerlichen Idealen der Herrscher teilzuhaben. Koloniale Erziehungsbestimmungen nutzten dieses Begehren und zielten darauf ab, kolonialisierte Eingeborene zu schaffen, mit denen sich eine Zwischenstufe im hierarchischen System zwischen den Kolonialherren und Kolonialisierten errichten ließe. Diese Gruppe sollte die Machtinteressen der Briten stärken. Der Gouverneur von Agra, Thomas Babington Macaulay55 beschrieb diese erstrebte Helfer-Kaste als eine „Klasse von Personen, indisch in Blut und

 55 1834 – 1838.

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Farbe, aber englisch in Geschmack, Sinn, Moral und Intellekt.“56 Die angloindische Kultur mag eine ähnlichen ‚Zwischenraum‘ einnehmen. Jedoch leitet sie sich nicht aus den Prinzipien eines Disziplinierungs- und Erziehungs-Systems ab, sondern vielmehr aus Eheschließungen britischer Soldaten und Angestellten der Ostindien-Kompanie mit indischen Frauen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Da beide Gesellschaften patriarchalisch organisiert sind und die britische Seite die Familienoberhäupter stellte, ist eine Betonung der „britischen“ Identität zunächst nicht verwunderlich. Besonders stark tritt das „Britische“ in D’Aguiars Kurzfilm PICNIC zutage, der als Sequenz in Abrahams Film verwendet wird. Darin inszeniert er einen modernen kolonialen – oder eben „anglo-indischen“ Lebensstil, in der Übersetzung von britischem Empire-Lifestyle in tropisch-indische Landschaften und Architektur. Die Damen tragen vornehm weiße Kleider und Sonnenschirmchen, die Knaben Tropenhelme, man schüttelt sich - ganz europäisch - zur Begrüßung die Hand, unter Palmen werden Brote und Bierflaschen arrangiert, auf dem englischen Rasen schlummert, die Melone auf dem Kopf, das akkurat westlich gekleidete Familienoberhaupt. Komödiantisch wird ihm, während die Familie Fußball spielt, vom bereits aus anderen Aufnahmen bekannten Schäferhund das Gesicht geleckt. Die schon über mehrere Generationen geformte anglo-indische Gesellschaft dürfte weit über das in PICNIC beschriebene Szenario hinausgehende kulturelle Eigenständigkeit im Bhabha’schen ‚Zwischenraum‘ erlangt haben – heute stellt sie in Indien eine staatlich anerkannte ethnische Minderheit dar. Durch die Auswahl und Montage des Super-8-Materials lässt Abraham D’Aguiars Figuren nicht zu dunkel geratene Europäer in tropischer Landschaft sein. Vielmehr wählt sie bewusst widersprüchliche Materialien, um sie zu dem Portrait D’Aguiars zusammenzusetzen. Ein Mittel, dass dies besonders unterstreicht, ist das der Tongestaltung. Abraham unterlegt D’Aguiars sonst chronologisch eingefügten Kurzfilm mit einer abgespielten Grammophon-Aufnahme von Franz Schuberts „Su leika #2 / Suleikas Gesang an den Westwind“. Schubert komponierte das Lied 1821 zu den Strophen eines Gedichts aus der Sammlung West-Östlicher Divan von Johan Wolfgang von Goethe, die der Dichter während einer kurzen Phase

 56 Zitiert nach Do Mar Castro Varela, Maria/Dhavan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Enführung. Bielefeld, transcript, 2005, S. 90. 57 Franz Schubert: Suleika #2, Op. 31, D 717, 1821.

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der Begeisterung für den mystischen Islam schrieb. Die knisternden PianoAkkorde sind fehler- und lückenhaft und erinnern an Stummfilm-Begleitung. Zugleich spielt Abraham, während sie die Aufnahmen europäisierter Inder in gezähmter tropischer Parklandschaft zeigt, ein subtiles Spiel mit der romantischen Verklärung des Orients in Goethes Liedtext, und der romantischen Verklärung des Westens in der anglo-indischen Selbstinszenierung. Abbildung 3: Straight 8. Filmstandbild

Quelle: A. Abraham

Von Distanz und ironischer Brechung zeugt D’Aguiars Kurzfilm WELL DONE, WALTHER, einer Parodie europäischer Agentenfilme, für den D’Aguiars Freundeskreis in fantasievolle Uniformen steigt. Der Film zeigt ein komisches Gespür für „eigene“ und „fremde“ Kulturen, wenn etwa der Schuhe putzende Butler Walter für seinen verunfallten Chef als Geheimagent einspringt und mit seinem Fallschirm zwischen indischen Palmen in „Deutschland“ landet. Genussvoll inszeniert der indische Amateurfilmer die Dummheit der Gestapo, vor denen Walther sich als Mädchen verkleidet versteckt und auf Slapstick-artige Weise enttarnt wird. Neben der geplanten Komödienhandlung tragen auch kleine Pannen zum humorvolle Charakter bei, die Tom D’Aguiar im Interview beschreibt:

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So folgt etwa sein (uns bereits bekannter) Schäferhund unerwartet dem Heldenpaar in der Abschluss-Sequenz in das Boot, mit dem Walther seine Braut über die Kulisse des Bangalorer Ulsoor Lake zurück nach „England“ rudert. Die Unvollkommenheit des Kostümbilds und die bewusste Inkongruenz des deutschen Gasthofs „Prinzenhof“ und der indischen Kulisse tun das ihrige. In der Persiflage des ernsten und kriegerischen Europa der 1940er Jahre tritt D’Aguiars eigene Perspektive auf die Zeitgeschichte und deren kulturelle Reflexion zutage. Abrahams ratternder Projektoren-Ton und ihr bewusster Verzicht auf zusätzliche dramatisierende oder emotionalisierende Musik schaffen Distanz bei der Betrachtung des Stücks als humoriges Zeitdokument. Sie rückt Tom D’Aguiars Schilderung im Voice-Over akustisch in den Vordergrund und akzentuiert damit die komische außerfilmische Realität während des Drehs und die trockene, respektlose Perspektive des Amateur-Kameramanns auf das europäische Agentenkino. Eine weitere Inszenierung kultureller Identität geschieht durch das dokumentarische Material des Tänzers Ram Gopal. Mit diesen Filmrollen zeigt D’Aguiar, dass er auch professionelle Aufträge bewältigen kann. Die Sequenzen präsentieren die hinduistische Tanz-Tradition des Bharatnatyam, der heute als Verkörperung klassischer indischer Kultur gilt und von den wohlerzogenen Töchtern bürgerlicher indischer Haushalte erlernt wird. Abraham zufolge hatte der Tanz es jedoch im prüden viktorianischen Indien schwer: „It is the time when Bharatnatyam was not a middle class dance yet. It is still looked down upon. It is still between the Devadasi and being seen as a performance.“58 Ram Gopal beherrschte diese häufig als Form der Prostitution missverstandene Kunstform, die auf der Erzählung hinduistischer Mythen beruht, perfekt. Zu Hause umstritten, folgte er einer amerikanischen Ballett-Truppe in die USA und nach Europa und macht dort den Bharatnatyam berühmt. Ende der dreißiger Jahre kehrt er in seine Heimatstadt Bangalore zurück und begegnet dort 1939

 58 A. Abraham: Vortrag im Center for Internet and Society, Bangalore. Bharat Nathyam ist ein klassischer Tempeltanz aus dem südindischen Tamil Nadu, der von männlichen und weiblichen Tänzern dargeboten wird. Symbolisch werden während der Performance mittels Gesten und szenischem Tanz hinduistische Mythen erzählt. Heute gilt Bharat-Natyam als eine der klassischen indischen Künste analog zum klassischen europäischen Ballet. In der Devadasi-Tradition werden Tempeltänzerinnen, häufig in der Doppelrolle als Tempelprostituierte, dem spirituellen Leben geweiht. 

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Tom D’Aguiar. Ayisha Abraham beschreibt diese Begegnung als Moment gegenseitiger Faszination: „He gets up to him and tells him: I have never seen myself in color! Will you come over and shoot me on the terrace?“59 Für die Kamera tanzt der kleine, filigrane Mann mit Turban, Ringen und Kajal-umrandeten Augen eklektische Ausschnitte verschiedener Choreografien und Motive. Er illustriert verschiedene Mudras, höchst stilisierte erzählerische Gesten. Tom D’Aguiar übersetzt diese in Filmbilder. An das Mudra einer sich öffnenden Lotusblüte montiert er die Aufnahme einer realen Lotusblüte, deren Aufblühen er durch Stopptrick animiert. Bharatnatyam entspringt nicht der kulturellen Tradition, in der D’Aguiar beheimatet ist, sein Blick auf den Tanz mag ein Fremder sein. Ram Gopals Rolle als Repräsentant indischer Kultur im Westen ist ebenfalls kulturübergreifend zu nennen. So stößt der „hybride“ Blick des Kameramanns auf einen durch „hybride“ Aufführungs-Erfahrungen geprägten Tänzer.

 Found Footage und das dokumentarische Moment  Zum Verständnis des Kontexts, innerhalb dessen Tom D’Aguiars Super-8-Filme im Bangalore der späten dreißiger Jahre entstanden sind, wurden an früherer Stelle Betrachtungen zur Geschichte des Amateurfilms in Indien angestellt. Als Kontext für Ayisha Abrahams Umgang als gegenwärtige bildende Künstlerin und Regisseurin mit dem Archivmaterial soll nun auch das Genre betrachtet werden, innerhalb dessen Abrahams dokumentarische Arbeit einzuordnen ist: der Found-Footage-Film. Die Verwendung von Archivmaterial ist dem Dokumentarfilm nicht fremd. Auch in Indien greifen Filmemacher auf Archivbilder zurück. So benutzen Tahireh Lal mit THESE OLD FRAMES oder Santana Issar mit BARE60 die Video- und Super-8-Archive ihrer Eltern beziehungsweise Großeltern, um daraus persönliche Geschichte zu formulieren. Die in Großbritannien aufgewachsene Sandhya Suri erweitert für I FOR INDIA61 die transkontinentalen Super8-Briefe ihrer Großfamilie in England und Indien um BBC-Material. Vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte reflektiert sie damit über größere Zusammenhänge von Migration und kultureller Identität. Ayisha Abrahams Verbindung zu den Filmbildern liegt nicht Familienzugehörigkeit begründet, vielmehr

 59 A. Abraham: Vortrag im Center for Internet and Society, Bangalore. 60 BARE (IN 2006, R: Santana Issar,:. Dokumentarfilm, 11 Minuten). 61 I FOR INDIA (UK/IT/GER 2005, R: Sandhya Suri, Dokumentarfilm, 70 Minuten).

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ist die portraitierten Stadt auch ihr Zuhause. Das Found Footage macht den größten Teil des Materials von STRAIGHT 8 aus. Cecilia Hausheer definiert die Form des Found Footage Films wie folgt: „Found Footage (gefundenes Filmmaterial) bezeichnet ein ästhetisches Verfahren, für das die extensive Verwendung, Transformation und Umdeutung von fremdem, gefundenem oder in Archiven speziell ausgesuchtem Filmmaterial charakteristisch ist.“62 Sie unterteilt die Found-Footage-Praktiken in die Kategorien Kompilationsfilm und Collage. William C. Wees fügt diesen noch die Kategorie der Aneignung hinzu.63 Im Kompilationsfilm werden dokumentarische wie auch fiktionale oder assoziative Geschichten fast ausschließlich mit Archivmaterial erzählt. Häufig wird diese Methode in historischen Filmen, wie etwa Alain Resnais’ Holocaust-Reflexion NACHT UND NEBEL64 oder Harun Farockis Essayfilmen angewendet. Das Archiv-Bild als wird als Referenz zur Wirklichkeit genutzt: Es bezeugt etwas historisch Dagewesenes und verweist in der neuen Montage auf seine ursprüngliche Bedeutung. Die Film-Collage hingegen arbeitet abstrakter und nutzt das Bild stärker in seiner formal-ästhetischen Beschaffenheit. So schneidet etwa der deutsche Experimentalfilmer Mathias Müller in HOME STORIES65 stereotype Einstellungen weiblicher Heldinnen aus Hollywoodfilmen aneinander: Sie telefonieren, erschrecken, sind gerührt, laufen mit wallenden Gewändern Treppen hinab und schalten Lampen ein und aus. Müllers Montage ist eine Aneinanderreihung, die gängige Hollywood-Plot-Stereotype entlarvt, indem sie die verwendeten Filmbilder aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang reißt. In STRAIGHT 8 bleiben, ganz im Sinne des Kompilationsfilmes, Tom D’Aguiars Aufnahmen, was sie waren: Familien-Erinnerungsstücke, die mit seinen auf Abrahams Video festgehaltenen Erinnerungen montiert und fragmentarisch zu einer biografischen Erzählung zusammengesetzt werden. In ihren späteren Archiv-Filmen wie YOU ARE HERE66 geht Abraham offener und assoziativer

 62 Hausheer, Cecilia/Settele, Christoph (Hg.): Found Footage Film. Luzern, VIPER / Zyklop-Verlag, 1992, S. 4. 63 Vgl. Wees, William C.: ‚Found Footage und Fragen der Repräsentation‘ In: C. Hausheer/C. Settele: Found Footage Film, S. 38. 64 NUIT ET BROUILLARD / NACHT UND NEBEL (FR 1955, R: Alain Resnais, Dokumentarfilm, 32 min). 65

HOME STORIES. (D 1990, R: Matthias. Müller, Experimentalfilm, 6 min).

66

YOU ARE HERE (IN 2008, R: Ayisha Abraham, Experimenteller Kurzfilm, 7 min).

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vor, sie verzichtet auf eine einordnende Voice-Over-Erzählung, verwendet Materialien unterschiedlicher Autoren, weicht von deren ursprünglicher Narration ab. Sie bleibt von der maroden Filmästhetik fasziniert und nähert sich zunehmend der Arbeitsweise des Collagierens an. STRAIGHT 8 nutzt filmische Dokumente: private, dokumentarische und fiktionale. Inwiefern ist er ein „Dokumentarfilm“? Dass Dokumentarfilm kein Abbild von Wahrheit – in diesem Fall der vergangenen Realität Tom D’Aguiars – ist, wissen wir seit John Griersons Definition von Dokumentarfilm als einem „creative treatment of actuality“ – einer kreativen Widergabe von Wirklichkeit, hinter der sich die ordnende, strukturierende Person des Filmemachers erkennen lässt. An diesem dramatisierenden Prozess mögen im Falle von STRAIGHT 8 Abraham ebenso wie D’Aguiar beteiligt gewesen sein. Amateurfilme scheinen ein besonders starkes Wirklichkeitsversprechen zu bergen. Da man den Filmamateuren einen weniger professionellen Umgang mit der Aufnahme- und Schnitt-Technik als auch dem Strukturieren des Materials unterstellt, werden private Aufnahmen oft als unmittelbarer und damit authentischer gedeutet als der professionelle Film.67 Dieser Annahme entgegen bemängelt der Anthropologe Sol Worth, dass Familienfilme immer kulturelle Dokumente konstruierter Wirklichkeit seien. Sie seien nicht einfach im dokumentarischen Sinne als Abbild der Realität zu verstehen, sondern als visuelle Statements, Symbole, die das aufgezeichnete Familienleben mit Sinn aufladen sollen. Das korrespondiert mit der Beobachtung, dass Home Movies sich auf das Abbilden der frohen und erfolgreichen Momente des Familienlebens konzentrieren. Sorgfältig wird die Familie mit den Insignien einer Gesellschaft inszeniert, deren Teil zu sein sie beansprucht. Patricia Zimmerman zieht zwar nicht den dokumentarischen Charakter von Familienfilmen in Zweifel, bescheinigt ihnen jedoch eine spezielle Perspektive, einen anderen Zugang zu den historischen Fakten als den offiziellen Dokumenten von politischen und historischen Ereignissen:

 67 Vgl. Roepke, Martina: Privat- Vorstellung. Heimkino in Deutschland vor 1945 Hildesheim, Georg Olms Verlag, Medien und Theater, Band 7, 2006, S. 19

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Amateur films and home movies negotiate the space between private memories and social histories in a variety of forms and iterations; there is never a one-to-one-correspondence 68

between the empirical fact and the representation.

 Für Abrahams Archäologie spielt jedoch keine Rolle, wie inszeniert oder geschönt die Aufnahmen D’Aguiars gewesen sein mögen. Sie nutzt die scheinbar realistischen Aufnahmen seine Ausflüge ins Bangalorer Umland, die Aufnahmen von Kind, Frau und Schäferhund ebenso wie seine liebevoll konstruierten Filmkomödien als Erzähl-Bausteine. Mit ihnen setzt sie das Bild eines Chronisten zusammen und das Bild der Zeit und der Stadt, die ihn umgaben. Bereits Eileen Simpson und Ben White bewiesen mit ihrem 2009 fertiggestellten FoundFootage-Film STRUGGLE IN JERASH dass fiktionaler Film zu Dokumentarischem werden kann. Sie verwendeten, ganz im Sinne des Readymade, gleich das komplette, durchgehende Material des gleichnamigen ersten jordanischen Spielfilm aus dem Jahr 1957 und unterlegten es mit Gesprächen und Kommentaren heutiger jordanischer Zuschauer. Diese erklären dem Künstlerpaar nicht nur die Handlung des Agentenfilms, sondern ziehen anhand der Ausstattung auch Rückschlüsse auf die jordanische Gesellschaft der fünfziger Jahre. Sie erkennen das obligatorische Portrait des Staatsoberhauptes über dem Schreibtisch des Kommissars, und freuen sich über die Selbstverständlichkeit, mit der die Heldin in einem eleganten Badeanzug kokett in den See steigt. Mit dieser Hinzufügung erweitern sie das fiktionale Material um die dokumentarische Dimension persönlicher Erinnerungen, sowie historischer Erläuterungen als Sehanleitungen und Interpretationshilfen. Ayisha Abrahams Vorgehen, fiktive Sequenzen ebenbürtig zu dokumentarischen Familienaufnahmen zusammenzumontieren, folgt einer ähnlichen Logik. Sie sind Belege von Tom D’Aguiars Filmschaffen. Darüber hinaus stehen sie für Ideen, nicht Fakten der Zeit, die Tom D’Aguiar prägte. Der Film erhebt nicht den Anspruch, ein komplexes Gesellschaftsbild von Bangalore zu geben, vielmehr zeichnet er das fragmentarische Bild der anglo-indischen Gesellschaft der 1940er Jahre. Abraham stellt fest: „Home movies exist as fragments. Slices of differentiated reality come to life frequently without a beginning or end.“69 Ayisha Abrahams ordnende Hand stellt in STRAIGHT 8 nicht die Erinnerungen Tom D’Aguiars an Familienereignisse in den Vordergrund. Statt als

 68 P. Zimmermann: The Home Movie Movement, S 4. 69 A. Abraham: Deteriorating Memories, S. 170.

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Familienvater portraitiert sie ihn als Filmemacher in einem vergangenen, vergessenen Bangalore: „Because I experienced firsthand these massive changes in the city, Bangalore became a site of a form of archeology to reclaim these hidden – and now demolished – memories.“70 D’Aguiars disparate Filmstücke bilden die Straßenzüge, Fahrzeuge, Bekleidungsstile und kleinen Vergnügungen der anglo-indischen Gesellschaft in einer heute nicht mehr existierenden Kolonialstadt ab. Abrahams Montage stellt ihren Versuch dar, vergangene Realität zu verstehen und rekonstruieren. Dabei muss sie ohne die Erläuterungen des zwischenzeitlich verstorbenen Schöpfers dieser Bilder auskommen – und ihre eigene Version von Tom D’Aguiars Bangalore erzählen, ihre persönliche Lesart, an der Grenze zwischen historischer Faktizität und Fiktion: In my work, I critically examine amateur images of middle-class Indians to reveal this private story. The narratives in amateur films – as well as the narratives I fashion from them – blur fact and fiction. […] Severed from their „real home“ these memories and images are made homeless: I house them myself. They thus assume the status of found footage.

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 Abraham sammelt, reiht das vorgefundene Material, stellt es neu aus und kontextualisiert es. Es fällt auf, dass sie für die Interviews mit Tom D’Aguiar keinen Kameramann beschäftigte, sondern die Gespräche selbst mit einem kleinen Amateur-Mini-DV-Camcorder aufzeichnete. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass ihr Recherchegespräch nach dem Tod des Protagonisten zu ihrem einzigen Gegenwarts-Material wurde. Ästhetisch knüpfen Abrahams Aufnahmen jedoch an die des greisen Amateurfilmers in seinem vollgestellten Apartment an. Die wackelige Handkamera, die Verweise auf die filmende Künstlerin im Bild: ihre Hände, die von D’Aguiar Fotos entgegennehmen, und Abrahams leiser ausgepegelte Stimme hinter der Kamera erwecken den Eindruck eines privaten Gesprächs – zwischen zwei Filmemachern. Der durch Tom D’Aguiars geöffnete Fenster hereindringende Verkehrslärm der modernen Großstadt und die Rufe von Vögeln erstrecken sich von den Interview-Sequenzen hinein in sein Archivmaterial aus den 1940er Jahren. Sie kontrastieren mit den Aufnahmen der leeren Straßen eines beschaulichen, historischen Bangalore und machen darauf auf-

 70 Ebd., S. 169. 71 Ebd., S. 168.

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merksam, dass der Film eine Wiederaufnahme des Materials durch Ayisha Abraham ist. Volko Kamensky und Julian Rohrhuber postulierten in ihrer Abhandlung über Geräusche und Atmosphären im Dokumentarfilm, das Geräusch bezeuge „das auf der Bildebene gezeigte Ereignis, behauptet eine über den Bildrand hinaus existierende Wirklichkeit.“72 Der Ton, der zu D’Aguiars Archiv-Aufnahmen zu hören ist, kann nicht dokumentarisch und synchron zum Bild sein, denn zu den Super-8-Aufnahmen existierte kein Ton. Abraham rekonstruiert Atmosphären, und konstruiert damit Abraham den Eindruck von akustischer Kontinuität. Nicht die Herstellung von Evidenz im Sinne der Absicherung und Bestätigung des Filmbildes stehen für Abraham im Vordergrund. Ihr behutsamer Umgang mit dem Ton ist ähnlich dem der Bildmontage: ein Erahnen, ein Ausfüllen von Leerstellen, ein Evozieren. Versatzstücke aus der Gegenwart des Interviews und einer angenommenen Vergangenheit verschmelzen miteinander. Sie werden ergänzt durch das Geräusch des Projektors, das Rattern der Spule, das Knistern des Filmmaterials. Mit der Betonung der Projektion verweist Abraham auf das Fundstück-Charakter des Materials, ihre Reflexion beim Betrachten und ihre Rolle als Vermittlerin der anglo-indischen Vergangenheit.

 Ästhetik des sich zersetzenden Filmbilds

 Durch die Abbildung der filmischen Artefakte macht Abraham auf das Gemachte und die Historizität ihrer verwendeten Aufnahmen aufmerksam. Die filmische Materialität wird dabei zum Teil ihrer Erzählung über den Amateurfilmer: „My interest in this analog technology grows out of my fascination with the iconic aspects of cinema: images burnt distinctly onto celluloid,“73 beschreibt Ayisha Abraham den Ausgangspunkt ihrer Beschäftigung mit D’Aguiars Bildern. Bis die Filme den Weg in Abrahams Atelier fanden, war das Nitrozellulose-Material dem langjährigen Prozess des Schrumpfens und Verklebens ausgesetzt, die mangelhafte Lagerung in einem tropischen Haushalt und das Rosten der Filmdosen

 72 Vgl. Kamensky, Volko / Rohrhuber, Julian: Die Kronzeugen. Geräusch und Atmo im Dokumentarfilm. Kunst des Forschens/Dazwischen 4. Zürich, Zürcher Hochschule der Künste, 2008, S. 17. 73 A. Abraham: Deteriorating Memories, S. 169.

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im Monsunklima trugen das Ihrige bei. Mühsam gelang es Abraham, die zerrütteten Filmstücke noch einmal zu projizieren und abzufilmen. Nicht wenige der kostbaren Filmrollen zerfielen, nachdem sie ein letztes Mal an Abrahams Atelierwand projiziert wurden, zu Staub.74 Bezeichnend für STRAIGHT 8 ist, dass Abraham die Spuren des Verfalls nicht aus ihrem Material zu kaschieren versucht. Vielmehr fügt sie ihnen den knatternden Ton des Projektors hinzu, nutzt die sich in gelbliches Weiss auflösenden Bilder als Blenden, feiert Kratzer und Blasen als abstrakte Ornamente. Abraham ist begeistert von dieser Ästhetik des Verfalls, die so viel über den Stellenwert des Super-8-Filmens in der Filmnation Indien und über die so nachlässig betriebene indische Archivkultur erzählt. Die Fehlfarben und Blasen geben dem Material ihrer archäologischen Untersuchung die spröde Patina gesprungener, antiker Figuren. Für Abraham wächst aus diesen dem Verfall entrissenen Bildern die Vergänglichkeit der alten Kolonialstadt. Christa Blümlinger beschreibt diese Ästhetik als „melancholische Dimension“ des Found Footage-Films, der auf zwei Ebenen der Vergänglichkeit ausgesetzt sind, nämlich: [...] materiell, als „letzte“ Kopie in einem Filmarchiv dem Vergessen und Verschwinden ausgesetzt, und immateriell, in der Projektion seines steten Entgleitens. [...] Das Fragmentarische, Fleckige und zersprungene der Überreste verfallener Nitratfile dominiert dann nämlich in einer eigentümlich farbigen Pracht, um das Ausgangsmaterial in der Gegenwart seines materiellen Überlebens hervorzuheben.

75

Wie der portraitierte Filmemacher sind auch seine Filmrollen gealtert. Wie die Architektur der kolonialen Villen in Bangalore ist auch seine Vorführtechnik unüblich geworden. Die Materialität von STRAIGHT 8 ist eine Reverenz an D’Aguiar. „The projection of reels through light summons a reemergence of the

 74 Vgl. Ebd., S. 169. 75 Blümlinger, Christa: Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst. Berlin, Vorwerk 8, 2009, S. 36-37. Als Beispiele für dieses bewusste Spiel mit der Materialität zerfallender Filme nennt sie den New Yorker Avantgardefilmer Bill Morrison oder Joachim Paech, der postmodernes Kino durch den willentlichen, gezielten Angriff des Archivfilmmaterials erzeugen will – als melancholisches Begriffspaar der Zerstörung und Verzeitlichung.

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past. The process functions as an Aladdin’s lamp, offering wishes, dreams, and unknown images.“76 Wo Ayisha Abraham in einer Ästhetik der Verfärbungen und Kratzer schwelgt, die aus gegenständlichen Filmbildern melancholische und abstrakte machen, vergisst sie auch das Evozieren der Vorführsituation nicht. Der ratternde Super-8-Projektor machte das Betrachten der fragilen Bilder überhaupt erst möglich, durch die Projektion können die sonst leblosen und unzugänglichen Einzelbilder in Bewegung versetzt werden. Mit Abrahams knatterndem Sounddesign77 wird die erwartungsvolle Spannung der alten Heim-Filmvorführungen neu heraufbeschworen. Zurück zum Archiv

 Mit STRAIGHT 8 verfolgt Ayisha Abraham eine lineare, poetische und offene Vorgehensweise, mit der sie die ausgegrabenen Filmmaterialien befragt und zu einem neuen, atmosphärischen Stück verdichtet. Die frühen privaten Filmaufnahmen in Indien beschäftigen Abraham auch nach dem Endschnitt von STRAIGHT 8. In weiteren Recherchen stößt sie auf andere frühe indische Amateurfilmer wie Iqbal Khan und Leela Anjanappa. Aufgrund ihre langjährigen, behutsamen Auseinandersetzung mit D’Aguiars Material gilt sie nun als Expertin für historische Home Movies in Indien. In Folge wenden sich Erben privater Filmrollen an sie und überantworten diese Dokumente ihrem kleinen Archiv. Abraham sammelt, restauriert und digitalisiert das fragile Material. YOU ARE HERE, ihr nächster auf Found Footage basierender Kurzfilm vereint das Material verschiedener Autoren. Aus den Fragmenten zeichnet Abraham ein stimmungsvolles und ein wenig nostalgisches Bild des indischen Transportsystems. Ihre Perspektive ist die eines Flaneurs: an knatternde Mopeds montiert sie Kinder auf Dreirädern, an Modellflugzeuge reale Flugschauen, an prall gefüllte Busse, leere Strassen. Der Film ist abstrakter und rhythmischer montiert als STRAIGHT 8 und kommt ohne Interviewstimmen aus. In weiteren Found-Footage-Projekten stellt Abraham ihren kleinen Fundus alter Filme immer wieder neu um. Ihr Projekt, das mit der Suche nach einem privaten Filmarchiv in Indien begann, endet wieder im Archivraum: Aus den Regalen in Abrahams Studio in

 76 A. Abraham: Deteriorating Memories, S. 172. 77 Sound Design und Musik – Rajivan S.A., Additional music – Konarak Reddy.

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Cook Town verlagert sie schließlich das ihr anvertraute Material in ein Internet Archiv: die von der Künstlergruppe CAMP aus Mumbai gemeinsam mit dem Alternative Law Forum Bangalore und der Berliner Gruppe 0x2620 gegründete Künstlerinitiative „Pad.Ma“. Der Name steht für „Public Access Digital Media Archive“, ist nebenbei auch die Sanskrit-Bezeichnung für den mit Weisheit assoziierten Lotus. Pad.Ma sucht Videos aus dokumentarischer oder künstlerischer Produktion zugänglich zu machen und unterschiedlich zu kontextualisieren – durch Verlinkungen, Umschnitte und Annotationen. Auf der Plattform finden sich, nach Schlagworten sortiert, vollständige Dokumentarfilme ebenso wie nicht verwendete Schnipsel aus Videos von Künstlern, verworfene oder verwendete Interviews, unveröffentlichte Aufnahmen von Bürgerprotesten und Demonstrationen. Ihre Arbeit mit den bröckelnden, verblichenen, fehlfarbenen, sich auflösenden Super-8-Filmen hat Abraham die historische Bedeutung solcher Archive für Kleines, Privates, sich normalerweise der großen Geschichtsschreibung Entziehendes gelehrt. Die Vielfalt möglicher Formen, Perspektiven, und Formaten, zu denen sich die filmischen Fragmente von Vergangenheit zusammensetzen können, fasziniert sie: I find this form quite liberating because it makes me feel that I can do what I would like to do with the footage, if at all. It could be historical material, it could lend itself to anoth78

er project, it could just be there as a story, or as narrative.

 In der offenen Umgebung von Pad.Ma greift Abraham die Aufnahmen des Tänzers Ram Gopal erneut auf. In der Datenbank fügte sie ihnen weiteres Material hinzu, etwa die Stimme des alten Ram Gopal, die mit den stummen JugendBildern kontrastiert. Ihre Materialsammlung ist ebenso zugänglich wie die Found-Footage-Arbeiten, die Abraham daraus formt – und von dort aus wieder in Galerieräume und Festivals hinausgetragen werden kann, wie etwa die Videoinstallation RAM GOPAL THE DANCER. Potentiell stellt Abraham das Material ihrer filmarchäologischen Grabungen jedoch auch anderen Filmemachern zur Verfügung. Abraham, die Videokünstlerin, die ihre Arbeiten aus den Versatzstücken anderer Autoren zusammensetzt, verwischt mit diesem Schritt die Autorschaft erneut. Mit dem Veröffentlichen des Rohmaterials, und dem öffentlichen

 78 A. Abraham: Talk at CAMP Mumbai.

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Annotieren auf Pad.Ma beginn für Abraham eine neue Stufe Auseinandersetzung mit dem vertrauten Material: … there’s this moment of real excitement that happened which was when I was looking at this footage of Ram Gopal and almost came upon a make believe conversation between Tom, who actually filmed this, and Ram Gopal himself. I was, in a way, I think playing both roles, and annotating from Tom’s point of view, and from Ram Gopal’s point of view. I think that's when I realized that there is such possibility in this medium.

79

 Der Sesam der raren Minuten Super-8-Materials öffnet sich erneut: Auf der Bühne des Online-Archivs scheinen nicht nur die Autorschaft, sondern auch die Perspektiven beider Filmemacher D’Aguiar und Abraham, und die des Tänzers Gopal zu verschmelzen. Mit der Veröffentlichung ihres Archivmaterials können weitere Perspektiven und Geschichtsschreibungen folgen. Die Digitalisierung des historischen Materials und die Übertragung in ein Archiv öffnet das Filmkunstwerk vom einzelnen Film zu endlos weiteren möglichen Reflexionen. 

S ELBSTREFLEXIVES DOKUMENTARISCHES E RZÄHLEN R ANJAN P ALIT ’ S In Camera. Diaries of a Documentary Cameraman

IN

Die indische Filmtheoretikerin Jyotsna Kapoor stellt eine gundsätzliche Tendenz dokumentarischer Filme hin zu persönlichen Erzählungen fest: „In recent years, as any international film festival will demonstrate, documentary films have come to be predominantly structured around the first-person narrative.“80 Tatsächlich tauchen in aktuellen Dokumentarfilmfestivals immer wieder persönliche Narrative auf, Videotagebücher wie Arash T. Riahris EXILE FAMILY MOVIE81 oder Johan van der Keukens DE GROTE VAKANTIE82, welche die Authentizitätsdebatte des Dokumentarfilmgenres neu entfachen. Im folgenden Kapitel soll mit Ranjan

 79 AAbraham: Talk at CAMP Mumbai. 80 J. Kapur, Jyotsna. Why The Personal is Still Political.  EXILE FAMILY MOVIE (AT 2006, R: Arash T. Rihari, Dokumentarfilm, 93 min).  DE GROTE VAKANTIE / LONG VACATION (NL 2000, R: Johan van der Keuken, Dokumentarfilm, 145 min).

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Palits IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN die dokumentarische Arbeit eines indischen Regisseurs und Kameramanns untersucht werden, die sich eben dieser subjektiven filmischen Methode bedient.83 Der Titel IN CAMERA lässt sich mit ‚hinter geschlossenen Türen‘ übersetzen, als Blick hinter die Kulissen und spielt zugleich mit der Bezeichnung für den Apparat zur Filmaufzeichnung. IN CAMERA ist der Rückblick eines Kameramannes auf sein fünfundzwanzigjähriges Schaffen, ein stiller, poetischer Film, ein Selbstportrait. Der Regisseur nimmt darin sein altes Filmmaterial erneut auf, und verknüpft die Film-Themen neu. In seinem Film tritt Palit hinter der Kamera hervor und trägt zweifelnde Gedanken über den Aufzeichnungsprozess mit in den Film hinein, „to take stock of my bearings“,84 wie er es im Gespräch mit Shoma Chatterjee beschreibt. Kritisch beleuchtet er formal-ästhetische Aspekte seines Filmschaffens, wie Kameraperspektiven, Kompositionen und Tiefenschärfe, vor allem aber die sozialen Interaktionen mit den Personen vor seiner Kamera. Der Film meditiert über das Ensemble von filmendem Subjekt und gefilmten Objekten, und denkt über deren (Macht-) Beziehungen nach.

 Ranjan Palit Als Kameramann und unabhängiger Regisseur hat Ranjan Palit insbesondere mit seinen frühen Arbeiten Erfahrung mit dem aktivistischen Filmemachen gesammelt – etwa mit Anand Patwardhan in BOMBAY OUR CITY85 oder mit Vasudha Joshi in FOLLOW THE RAINBOW. Damit bewies er seine hohe Sensibilität für seine Subjekte und die repräsentierten Themen. Thomas Waugh hebt die große Einfühlsamkeit gegenüber den gefilmten Kontexten hervor, die man Palits Bildern ansieht:



  Palits IN CAMERA gewann den National Award for Best Narration (Voice-Over) and Best Editing, was eine bemerkenswerte Auszeichnung an einen Kameramann darstellt. 84 Ranjan Palit, zitiert nach: Chatterjee, Shoma: In Front of the Lens. In: India Together 2011-03-22 [Web]. 85 BOMBAY OUR CITY (IN 1985, R: Anand Patwardhan, K: Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 75 min). Der Film gewann den 33. indischen National Award für Non-Feature Film.

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Palit is sensitive, consciously or unconsciously, to the cultural determinations of speech and the cultural politics of collective life. Palit's talent for fitting easily into group situations which may be otherwise guarded about outsiders is clear. … He seems to sense instinctively how the camera wields power, and how to dissipate and share that power.



 Palit durchlief ein Kamera-Studium an Indiens erstem Filmausbildungs-Institut, dem Film and Television Institute of India in Poona. Bereits sein Abschlußfilm aus dem Jahr 1982, eine dreißigminütige Dokumentation über die Lebensumstände der Weber in Bhiwandi, zeugt von seinem frühen Interesse für das dokumentarische Genre, das eigentlich im Curriculum des Filminstituts in Poona bis heute nicht als Schwerpunkt verankert ist. Die Zusammenarbeit mit dem Pionier des politischen Dokumentarfilms Anand Patwardhan im unmittelbaren Anschluss an sein Studium führt dieses Interesse fort. Ranjan Palit arbeitet seit mittlerweile mehr als fünfundzwanzig Jahren als Kameramann an hauptsächlich dokumentarischen Filmen. Für seine Kameraarbeit wurde er mit dem Indian National Award for Best Documentary Cinematography87 und dem Award for Best Cinematography88 der Indian Documentary Producers Association ausgezeichnet. Als Regisseur realisierte er eigenständig sowie gemeinsam mit seiner Frau Vasudha Joshi zahlreiche Dokumentarfilme, etwa VOICES FROM BALIAPAL, oder FOREVER YOUNG. Neben seinem dokumentarischen Schwerpunkt wirkte er als Kameramann auch an mehreren fiktionalen Filmproduktionen mit, wie DREAMING LHASA, dem ersten Spielfilm des Dokumentarfilmer-Paares Ritu Sarin und Tenzing Sonam.89 Seine Mitarbeit an den Produktionen der wichtigsten unabhängigen Dokumentarfilmer in Indien, wie Sanjay Kak, Amar Kanwar oder Anand Patwardhan macht ihn zu einer wichtigen Figur hinsichtlich meiner Betrachtungen über den indischen Dokumentarfilm.

 86 Waugh, Thomas. The Right to Play Oneself, S. 264. 87 Für IN THE FOREST HANGS A BRIDGE (IN 1998, R: Sanjay Kak, K: Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 39 min) und JOURNEYINGS AND CONVERSATIONS (IN 2003, R: Arvind Sinha, K: Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 88 min). 88 Für HOPE DIES LAST IN WAR (IN 2008, R: Supriyo Sen, Dokumentarfilm, 80 min). 89 DREAMING LHASA (IN / UK 2005, R: Ritu Sarin, Tenzing Sonam, Spielfilm. 90 min).

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Erzählstruktur

 „Maybe I should shoot a whole film that is jerky and out of focus. Maybe it’s better that I don’t look through the lens. Close my eyes and shoot, as if I were dreaming,“90 eröffnet die Stimme Ranjan Palits. Der Film beginnt mit dem Surren eines Projektors und einer Montage dokumentarischer Bilder: die Lichter durch die Nacht fahrender Autos, eine Frau, die sich Tränen aus den Augenwinkeln tupft, Filmdosen, ein kleines Mädchen, das um eine Säule tanzt, Spinnweben im Gegenlicht. Einige der analogen Film-Bilder datieren weit zurück. In seinem Videotagebuch reflektiert Palit sein eigenes Filmschaffen auf verschiedenen Erzählebenen, die virtuos miteinander verquickt sind. Da ist erstens die Ebene des Original-Materials aus sechzehn Dokumentarfilmen, die er als Kameramann und zum Teil auch als Regisseur drehte. Allein schon aus urheberrechtlicher Sicht ist das bemerkenswert und zeugt von Vertrauen und dem guten Verhältnis zu den jeweiligen Regisseuren, die ihm ihr Material zur NeuInterpretation überließen. Das erneute Aufgreifen seines alten Videomaterials stellt eine Strategie der Öffnung der bereits existenten dokumentarischen Erzählungen dar. Palit löst die Nähte der bereits definierten Filmmontage wieder auf, und kontextualisiert die Szenen neu hinsichtlich der Reflexion von ästhetischen, strategischen und ethischen Entscheidungen, welche während des Drehprozesses zu treffen waren. Mit dem Fokus auf das Archivmaterial bedient sich Palit, wie schon die im vorangegangenen Kapitel beschriebene Ayisha Abraham, der Avantgarde-Praxis des Kompilationsfilms. Die Besonderheit an Ranjan Palits IN CAMERA ist, dass fast alles Material dieser ersten Erzählebene seinem eigenen Archiv entnommen ist. In der daraus montierten Erzählung schaut er auf sein Schaffen wie auch seine persönliche Lebensgeschichte zurück und sinniert über Kernfragen dokumentarischer Vorgehensweisen. In einer zweiten damit verbundenen Ebene sucht der Filmemacher seine alten Protagonisten in der Gegenwart erneut auf. Hier schafft Palit eine historische Achse durch sein Material: Er vermittelt von der Zeit des Filmdrehs zum Zeitpunkt der Entstehung von In CAMERA. Analog verfährt er mit alten Drehorten, wie Kaschmir als Region, in der Palit immer wieder Dokumentarfilme drehte, und Orten von persönlicher Bedeutung. Viel Raum gibt der Regisseur dem blin-

 90 Min 00:01.

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den Kanai Baul aus dem Film ABAK JAYE HERE91. Er sucht ihn seinem Dorf Tarapith auf und begleitet ihn auf einer Hochzeit sowie in die selben alten Tempelanlage, die bereits Schauplatz für frühere Aufnahmen mit seinem musizierenden Protagonisten waren. Eine weitere Begegnung, an die Palit anknüpft, ist die mit Jonga und ihrem Enkel Lakshman, den Protagonisten seines Films FOLLOW THE RAINBOW. Der Dokumentarfilm begleitet eine Dorfgemeinschaft bei den Protesten gegen den Dammbau am Subarnarekha-Fluss im Bundesstaat Bihar, welcher ihren Lebensraum drastisch zu verändern droht. Beide Filme entstanden unter der Regie von Palit beziehungsweise gemeinsam mit Joshi. Zwischen den beiden Drehs bestand offensichtlich kein Kontakt zwischen Filmemacher und Protagonisten. Palits Strategie, ein erneutes Treffen mit seinen Filmcharakteren herbeizuführen, wird in beiden Fällen ähnlich erzählt. Er filmt die Überraschung von Kanai: Ranjan: Do you recognize me? Kanai: Yes, of cause we recognize you. Ranjan: So tell me who I am? Kanai: Ashok da? Ranjan: No, guess again! Kanai: Niranjon…PALIT… oh my god!

92

 Auch der mittlerweile erwachsene Lakshman ist zunächst überrascht. Der junge Mann gesteht ein, den Namen seines Gegenüber vergessen zu haben, erinnert sich jedoch an das Filmteam, das während der Damm-Proteste in das Dorf seiner Kindheit kam. Palit geht mit der Kamera in der Hand auf seine Protagonisten zu, abwartend, beobachtend. Im Moment, in dem sie den Kameraman erkennen, gerät ein Lächeln in das Gesicht seiner Figuren. Indem Palit seine Filmcharaktere für IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN erneut aufsucht, betont er den langen Zeitraum seiner Arbeit als dokumentarischer Kameramann, etwa mit der Abbildung des zum Manne herangewachsenen Kindes Lakshman. Die Begegnungen in der Gegenwart weisen auf die die Ausschnitthaftigkeit der dokumentarischen Geschichten hin. Indem die Figuren aus dem Film heraustre-

 91 ABAK JAYE HERE / THE MAGIC MYSTIC MARKETPLACE. A FILM ON KANAI DAS BAUL (IN 1996, R: Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 27 min). 92 Ca. bei Minute 16:30.

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ten und sich gemeinsam mit dem Kameramann Palit an die Zeit der Dreharbeiten erinnern, wird die Trennung zwischen der ästhetischen Filmebene und der faktischen Realitätsebene aufgelöst und die filmische Erzählung geöffnet. Eine dritte Ebene eröffnet sich in der Schilderung von Palits persönlicher Geschichte. Die Erzählebene wird unterstützt durch Studienkollegen und Wegbegleiter wie seinen Jugendfreund Dilip Varma. Varma wird unmittelbar zu Beginn des Films im Freisitz eines Cafes eingeführt.93 Die Gefährten betrachten sich gegenseitig durch DV-Kameras. Die Camcorder reflektieren in Dilips Sonnenbrille. Die beiden Männer spielen mit der vertrauten, kleinen Technik und arrangieren sich, Protagonist und Kameramann zugleich, im Bild. „Shall I stare in the lens?“ fragt Dilip. Ranjan antwortet „I flagged it in the wide, but it is nice“. Mit der Sequenz setzt Palit die dem Dreh vorangehenden Überlegungen spielerisch in Szene. In ähnlicher Weise operiert er einer späteren Sequenz: beide Männer mit sehen mit konzentriertem Blick auf die kleinen ausklappbaren Monitore ihrer Videokameras. Dilip sitzt auf einer Bank, Palit ist als Spiegelung neben ihm sichtbar. Er stellt das Bild ein. Dazu ist ihr Dialog zu hören: Palit: It’s not exposing right. 94

Varma: Can you see the movement of the zoom and the lens?

 Mit diesen Sequenzen gelingt es Palit als Figur, die normalerweise hinter der Kamera unsichtbar bleibt, sich im Bild zu inszenieren: in der Auseinandersetzung mit der Aufnahmetechnik, deren Einsatz er in seinem Dokumentarfilm reflektiert. Zur Ebene der persönlichen Erzählung gehören auch die Aufnahmen des Familiensitzes Palits in Kalkutta in gegenwärtigen und in alten Aufnahmen. Palit präsentiert sich dem Zuschauer als Privatmann und Vater einer Tochter. Diese wiederum tritt auch als Protagonistin von Vasudha Joshis Film FOR MAYA95 auf, einem Portrait dreier Frauen unterschiedlicher Generationen. Indem er das Material in seinen Film einbindet, offenbart Palit die Tradition des persönlichen Filmemachens im Haushalt Palit-Joshi und verschmilzt die Narrations-Ebene der persönlichen Erinnerung mit der ersten Erzählebene, dem Archivmaterial.

 93 Ca. bei Minute 03:47. 94 Ca. bei Minute 04:46. 95 FOR MAYA (IN 1997, R: Vasudha Joshi, Dokumentarfilm, 38 min).

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Als Referenz findet sich Maya in der erneuten Begegnung mit der alten Frau Jonga aus FOLLOW THE RAINBOW, die das Frage-Antwort-Spiel umdreht und sich nach dem Befinden des Filmemacherpaars erkundigt: Vasudha: One daughter. She is sixteen now. Old Woman: So what did you name her? Vasudha and Ranjan: Maya. Old Woman: Maya? Oh… lacht The deal was that you’d call her Jonga? You ought to have called her Jonga!

96

Indem Palit dieses Material in seinen Film einfügt, gesteht er die Verquickung von persönlichem und professionellem Verhältnis zu seiner Protagonistin ein, und die Freiheit des Filmemacherpaars von ihren Erwartungen. Im Gegensatz zum klassischen narrativen Dokumentarfilm betont IN CAMERA auf diese Weise die Dynamik zwischen innerfilmischen und außerfilmischen Akteuren. Auf einer vierten Ebene lässt Palit den Zuschauer dokumentarischen Charakteren begegnen, die nicht in seinen vorangegangenen Filmen auftauchen. Dazu gehört ein Taxifahrer im gegenwärtigen Mumbai, welcher dem Material von Anand Patwardhans BOMBAY OUR CITY gegenübergestellt wird. Während einer Taxifahrt durch das moderne Mumbai tauscht er sich mit dem Filmemacher darüber aus, ob Mumbai eine Stadt der Reichen geworden ist. Mit der Figur des Taxifahrers erweitert Palit die Geschichte der Slumbewohner und ihrer Lebensbedingungen und ständigen Angst vor Zwangsräumungen, die in Patwardhans Film erzählt wird, in die Gegenwart. Auf einer fünften Ebene steht das Voice-Over des Autors, in dem er seine stete Faszination für dokumentarische Bilder verkündet, Fragmente miteinander verknüpft und Überlegungen zur Ethik seiner dokumentarischen Vorgehensweise anstellt. Hier erinnert sich Palit an die zitierten Filme, fasst ihre Inhalte zusammen, und legt seine eigenen Empfindungen gegenüber der geschilderten Episode dar. In diesem Sinne gesteht er die Ängste ein, die er beim Wiederaufsuchen des blinden Kanai Baul aus ABAK JAYE HERE verspürte: „I was afraid to revisit Tarapathi. It’s dead, and it’s living. Even when I was filming in ‘96, I had a sense that I was witnessing the end of a tradition.“97

 96 Bei Minute 73:55. 97 Voice-Over, bei Minute 19:43.

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Zur Verknüpfung der Erzählstränge und um seine persönliche Voice-OverErzählung zu unterstützen, nutzt Palit Bilder seiner Kamera-Ausrüstung sowie aus Autos, Bussen und Flugzeugen gefilmte Landschaftsaufnahmen. Durch sie reist der Filmemacher als Flaneur von einem Kapitel des Filmes zum nächsten. Die verschiedenen Erzählebenen werden durch eine komplexe Montage ineinander verwoben und widerspiegeln die dichte Verflechtung von Palits privatem und professionellem Leben. Die Schilderung seiner persönlichen Geschichte schreitet chronologisch voran, vom Studium am Film and Television Institute of India, über seine an das Studium anschließenden Aufträge als Hochzeitsvideograph hin zu dem Moment, in dem der Familienvater Palit seine Tochter zum Studium nach London verabschiedet. Die von ihm gedrehten Dokumentarfilme hingegen sind nicht chronologisch angeordnet, sondern folgen dem Argument des Regisseurs.

 Ethische Betrachtungen  Die erste Frage, mit der sich Palit in seiner in seiner filmischen Positionsbestimmung auseinandersetzt, ist die der Verantwortung, die mit dem Herstellens eines filmischen Dokuments verbunden ist. Er schildert eine Episode aus BOMBAY OUR CITY, seiner ersten offiziellen Kameraarbeit, die er für Anand Patwardhan in den Slums von Bombay drehte. Das kleine Film-Team wird von seinen Protagonisten herbeigerufen, um die Beerdigung eines Säuglings zu filmen: „One morning he [Patwardhan] called me and said: We have to film the funeral of a baby who got wet in the rains a few days ago, fallen sick and died. I said I don’t want to film this.“98 Im Kommentartext berichtet Palit, wie sich zunächst gegen diesen Auftrag sperrt, bis er schließlich feststellt, dass die Trauergemeinschaft seine Arbeit wünscht: Er soll die einzigen Bilder schaffen, die von dem Säugling zurückbleiben werden. „It was an affirmation of the documentary, and not a voyeuristic peep“,99 blickt der Filmemacher auf seine ethischen Zweifel bei seinem ersten Auftrag zurück, der ihm das Triftige seiner Zeugenschaft deutlich macht.

 98 Voice-Over, bei Minute 11:49. 99 Ranjan Palit im Gespräch mit Shoma Chatterji, In: S. Chatterjee: In Front of the Lens [Web].

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Die Situation demonstriert die Verantwortung des dokumentarischen Kameramanns, zwischen dem Anspruch auf Erkenntnis und dem Anspruch auf Privatsphäre zu vermitteln. Nicht zuletzt, weil der Aufzeichnung des Todes der Akt des Sehens vorausgeht, dem Auge des Kameramannes, der die Situation erfasst, noch bevor das Objektiv seiner Kamera es tut, gilt die Darstellung von Tod im Dokumentarfilm noch immer als ein Tabu. Der Blick des Kameramanns und der Blick der Kamera müssen auf eine drastische Situation reagieren, die aus in der westlichen Gesellschaft traditionell ausgeklammert wird: „Während der Filmemacher die Sterbenden beobachtet, beobachten wir ihn beim Beobachten und beurteilen Wesen und Qualität seines oder ihres Interesses“,100 fasst Vivien Sobchak den Rezeptionsprozess dokumentarischer Aufzeichnungen von Tod zusammen. Das Bewusstsein dieser Situation legt ein moralisches Rechtfertigen nahe. Palit tut dies in IN CAMERA immer aufs Neue. Die drastische Situation des Trauerzugs platziert er als Inciting Incident seiner Selbstbefragung als Kameramann in der Einführungssequenz des Films. Mit dem Vertrauen der Slumbewohner und seiner unsentimentalen Beobachtungshaltung gelingen ihm leise, unprätentiöse Aufnahmen der Trauernden. In der Enge der behelfsmäßigen Behausung und des tosenden Straßenverkehrs ist Distanz unmöglich. Palits Bildern ist anzusehen, dass er sich Schulter an Schulter mit den klagenden Nachbarn und Angehörigen befindet, die Bewegung folgt ihren Bewegungen. Mit derselben Fassungslosigkeit wagt Palit, das bewegungslose Gesicht des Säuglings bildfüllend zu kadrieren, dann, ebenso nah, die Gesichter der Trauernden. Der Leichenzug wird auf ihn warten, wenn er beim Filmen im Straßenverkehr zurückgeblieben ist, damit er seine Aufnahmen machen kann. Auf diese Weise bleibt etwas von dem Neugeborenen zurück. Der Tod erscheint auf Ranjan Palits Filmbildern als Beweis – ähnlich Alain Resnais, der in seiner Archivfilm-Dokumentation NIGHT AND FOG nicht davor zurückschreckt, Berge von Leichen in deutschen Konzentrationslagern zu zeigen, und sie als Beweise der Nazi-Kriegsverbrechen zu verwenden. Zugleich tritt der Tod in der Sequenz als Symbol auf: Das Bild seines kleinen Leichnam wird als Sinnbild für die vielen Ungerechtigkeiten, welche die Slumgemeinschaft erfährt, verwendet. Palit erweitert den symbolischen Raum

 100

Sobchak, Vivien: ‚Die Einschreibung des Ethischen Raums – Zehn Thesen über Tod, Repräsentation und Dokumentarfilm‘. In: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin, Vorwerk 8, 2008, S. 179.

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der Trauer-Szene, indem er sie um Einstellungen von Slumbewohnern des gegenwärtigen Mumbai ergänzt. Er setzt damit die Geschichte seiner aus den Augen verlorenen Protagonisten fort. Besonders eindrücklich sind die Bilder einer Mutter die ihr Kind am Straßenrand unter einer Hochstraße zum Schlafen legt und fürsorglich mit einem Lumpen zudeckt. Durch diese Reihung stellt Palit nachdrücklich das Archetypische der repräsentierten Situation heraus.

 Strategien der Selbstreflexion bei Ranjan Palit  Timothy Corrigan bezeichnet in seinen Betrachtungen zum essayistischen Film den Prozess des filmischen Tagebuchschreibens als eine Art öffentlicher Überlegung: „From its literary origins to its more recent cinematic and electronic carnations, the essay has inherited, approximated, and overlapped with, among its many precursors and relations, diary writing.“101 Viele wichtige Vertreter des Essayfilms, wie Johan van der Keuken oder Chris Marker bedienten sich der Methode des Erzählens persönlicher Geschichten. Diese Essayfilme verfahren selbstreflexiv. Sie thematisieren nicht nur die Herkunft der verwendeten Bilder und Töne, sondern kommentieren sie zugleich, indem die sie in neue Zusammenhänge versetzen.102 Dies korrespondiert mit der Herangehensweise Palits, der seine Bilder in persönlicher Weise mit dem Dokumentarfilm-Diskurs verknüpft. In Representing Reality unterscheidet Bill Nichols vier Modi dokumentarischer Darstellung: Der erste ist der erklärende Modus, der häufig mit einem ‚Voice-of-God‘-Begleitkommentar versehen ist. Der Filmemacher erscheint darin als autoritäre Instanz, die Wissen ermittelt. An zweiter Stelle führt er den beobachtenden Modus an, in welchem der Filmemacher bestrebt ist, nicht in die beobachteten Geschehnisse vor seiner Kamera einzugreifen. Die Regisseure des Direct Cinema, die als Paradebeispiele der beobachtenden Methode gelten, präg-

 101

Corrigan, Timothy: ‚Of Diaries in Film. Of the Velocities of Non-Place‘. In: Kramer, Sven/Tode, Thomas (Hg.): Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität. Konstanz, UVK, Reihe Close Up, 2011, S. 125.

102

Vgl. S. Kramer/T. Tode: Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, S. 13. Mit dieser Methode arbeitet auch Harun Farocki: Das in seinen Filmen verwendete Material stammtzu großen Teilen aus Archiven, ist sorgsam recherchiert sind und wird im Kommentartext zu einem neuen Argument zusammengesetzt.

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ten den Ausdruck des Filmemachers als ‚fly on the wall‘: Er bezeugt Ereignisse und zeichnet sie auf, ohne zu intervenieren. Im dritten, dem interaktiven Modus, werden die Anwesenheit von Kamera und Crew und ihr Einfluss auf die repräsentierte Realität eingestanden, in dem beim Drehen die Filmemacher direkt mit den Protagonisten interagieren. Auf diese Weise arbeiten etwa die Vertreter des Cinema Verité ihre Autoren-Perspektive bewusst heraus. Die vierte Methode, die Nichols schließlich beschreibt, ist der reflexive Modus, in dem das Medium des Films selbst problematisiert wird. Zentraler Teil der erzählerischen Vorgehensweise ist die Schilderung der beim Filmprozess entstandenen Probleme, das Thematisieren von Zielgruppe und Auftraggeberschaft und das Sichtbarmachen des Repräsentations-Prozesses, wie es in Jean Rouchs CHRONIK EINES SOMMERS oder Dziga Vertovs DER MANN MIT DER KAMERA geschieht.103 Diese vierte Kategorie Dokumentarfilm, der ich auch Palits IN CAMERA zuordnen möchte, befindet sich per Definition in der philosophischen Tradition der Reflexion. Auch die Figur des Filmemachers kann – wie im Falle Palits - zum Gegenstand der Reflexion werden. Der Philosoph Herbert Schnädelbach beschreibt den Vorgang einer solchen Selbstreflexion sehr anschaulich:

 Wenn die philosophische Tradition das Wort ‚Reflexion‘ verwendet, bedient sie sich einer Metapher aus der Optik. Durch sie wird die Aufmerksamkeit des Bewusstseins mit einem Lichtstrahl verglichen, den eine Lichtquelle vermittels eines reflektierenden Mediums auf sich selbst zurückwirft. Im Bilde des Lichts, das sich so selbst erleuchtet, tritt durch jene Metapher an die Stelle der Lichtquelle das Bewusstsein, das sich auf sich zurückwendet und sich darin seiner selbst bewusst wird.

104

Selbstreflexion ließe sich folglich mit dem Begriff der ‚Selbstbespiegelung‘ übersetzen. Sie beruht auf einer Bewusstseinsäußerung, die sich selbst einer Kritik unterzieht.105 In diesem Sinne führt der reflexive Film einen Diskurs über die

 103

In seinem 2001 erschienenen Buch „Introduction to Documentary“ fügt Nichols die-

104

Schnädelbach, Hartmut: Reflexion und Diskurs: Fragen einer Logik der Philoso-

ser Auflistung noch den performativen sowie den poetischen Modus hinzu. phie. Zitiert nach: Keiper, Jürgen: ‚Film auf Leinwand, 3x4m‘. In: Amman, Frank/ Kaltenecker, Siggi/Keiper, Jürgen (Hg.): Selbstreflexivität im Film. Basel (u.a.) Schriftenreihe Film und Kritik 2/1994. Strömfeld, Roter Stern. 1994, S. 85. 105 Vgl. J. Keiper: Selbstreflexivität im Film, S. 85

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Voraussetzungen des Systems, das ihn hervorbringt – wie Palits Auseinandersetzung mit seinem eigenen Bildschöpfungsprozess in IN CAMERA. Zum Verständnis der Erzählweise seines Videotagebuchs, welches definitionsgemäß der Selbstbespiegelung verschrieben ist, soll ein weiterer Blick auf den vierten Nichols’schen Repräsentationsmodus geworfen werden: Itarose from the desire to make the conventions of representations themselves more apparent and to challenge the impression of reality, which the other 3 modes normally conveyed unproblematically. It is the most self-aware mode, it uses many of the same devices as other documentaries but sets them on edge so that the viewers attention is drawn to the 106

device as well as the effect.

 Palits Film ist reflexiv, indem er die Produktionsbedingungen und den Aufnahme-Apparat sichtbar macht, und selbstreflexiv im resümierenden Kommentartext. Palit verbindet bereits in der Eingangssequenz in schneller Montage private Bilder mit politischen. Die Person des Filmemachers ist im Anschnitt oder als Spiegelung mehrfach sichtbar. So schafft er einen Ausblick auf die Vielfalt des zu erwartenden Film- und Videomaterials, das er reflektieren wird. Der Materialität der Bilder und dem Aufeinanderprallen von Quellen wie 16-MillimeterFilm, DV und Hi8-Video kommt eine bedeutende Rolle zu. Analoges, Digitales, und digitalisiertes Analoges werden miteinander in Dialog gebracht. Als bewusst eingesetztes Stilmittel verweisen sie auf eine bestimmte Zeitlichkeit. In Palits Film werden die mannigfaltigen Formate und Geschichten kunstvoll ineinander verwoben. Schon die Titelsequenz ist so konstruiert: Der Film beginnt mit Video-Farbbalken, die auf Filmmaterial aufgezeichnet und mit den charakteristischen Kratzern und Artefakten für den Schnitt erneut digitalisiert wurden. In schneller Bildfolge sehen wir 16mm Aufnahmen einer Bäuerin, in analoger Grafik prangt weiß auf rotem Grund der Titel IN CAMERA. Über weiteren assoziativen Film- und Videobildern liegt der Voice-Over-Kommentar des Autors: „Before it all became easy. Before it all became plastic and synthetic.“107 Daran schließt sich der Untertitel des Films an, auf digitalem blauem Untergrund flackert der Schriftzug „diaries of a documentary cameraman“ auf.

 106

Nichols, Bill: Representing Reality: Issues and Concepts in Documentary. Bloomington, Indiana University Press, 1992, S. 33.

107 Min 01:08.

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Ein wichtiges Element der Selbstreflexivität von IN CAMERA ist die visuelle Präsenz des Autors in seinem Film. In seiner Funktion als Kameramann tritt Palit in Spiegelungen, als Videobild in Kameradisplays und Fotos auf. Dies sind die eigentlich inszenierten Bestandteile des Films. Der Filmemacher schreitet in seinem Hotelzimmer in Kaschmir auf und ab, auf die Beruhigung der Lage und seinen nächsten Kamera-Einsatz wartend. Sein Gesicht spiegelt sich im Monitor seines Schnittplatzes und verbindet in der Aufnahme den Autor mit seinem Werk. Palits Präsenz ist spürbar in der Interaktion mit seinen Protagonisten. In der Begrüßung seiner alten Filmcharaktere Lakshman und Kanai Baul stellt Palit die Menschlichkeit der Begegnung vor die Professionalität der Aufnahme, seine schwankenden Schulterkamera-Aufnahmen und seine zum Gruß ins Bild gestreckte Hand verraten den Mann hinter der Kamera. Palit tritt in seinem Film selten direkt auf, häufig hingegen – ganz im Sinne der Reflexion – als Spiegelung: in realen Spiegeln oder Monitoren, oder gespiegelt durch die Reaktion seiner Protagonisten. Besonders augenscheinlich ist dies in den Fragmenten aus KAMLABA, Reena Mohans Regiedebüt. Die Dokumentation portraitiert Kamlabai Gokhale, die erste indische Filmschauspielerin.108 Zum Zeitpunk des Drehs ist die Protagonistin zweiundneunzig Jahre alt und, wie sie selbst es beschreibt, „auf einem Auge blind und mit einem Bein lahm“. Der in Palits Videotagebuch verwendete Ausschnitt zeigt sie auf ihrem Bett sitzend, in einer Intervieweinstellung. Sie sieht gemächlich in die Kamera, deutet auf sie und sagt: „Nice! See how he’s looking at me, one eye shut! Hey you, Bengal! What’re you up to? Shall we stop? Cut? No? What!“ Sie schüttelt ihren Kopf und fügt sich: „All right, ask!“109 Die Worten der greisen Protagonistin, die auf die erlösende Drehpause hofft, enthalten die Beschreibung des Mannes hinter der Kamera und offenbaren das Verhältnis zwischen der Schauspielerin und dem Filmteam. Bereits für KAMLABAI war das Einfügen der Interaktionen zwischen Protagonistin und Team ein wichtiges Gestaltungsmittel, um die alte und weitgehend immobile Protagonistin in der Gegenwart zu verorten. Die Regisseurin Reena Mohan beschreibt ihren Dokumentationsansatz als sehr persönlich: „The film wasn’t meant to be documentation or a film that had to inform in a stodgy way. The film was her, she

 108 Kamlabai trat ab 1913 in indischen Spielfilmproduktionen auf. 109 Dialogtext, bei Minute 32:00.

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was the film.“110 In seinem Videoselbstportrait setzt Palit diesen Gedanken des lebendigen Portraitierens und der Erweiterung der Interview-Szene um die Figuren hinter der Kamera fort. Palits visuelle Referenzen betreffen auch das Fernsehen als Endmedium, das Filme zugänglich machen wird. Er schneidet Nachrichtenbilder in seine Aufnahmen von Kaschmir und verwendet bewusst Aufnahmen, die im Anschnitt Kameras anderer Film- und Fernsehteams zeigen und einen Eindruck von der hohen Pressepräsenz im Krisengebiet geben. Er erzählt in Fernsehbildern, die vom Bildschirm eines Fernsehers in einem Hotelzimmer abgefilmt wurden. Textbanner überlagern die Aufnahmen: … Cameraman Tariq Ahmed was attacked today in the protests. He has been admitted to the hospital for treatment. We request people to refrain from attacking media persons. They are the only ones who can bring out the hidden truths – if they are attacked these 111

truths will be lost and the voice of the people will go unheard.

 Eindrucksvoll eröffnet sich anhand der Parallele zu Palits eigenen Aufnahmen eine Dimension von Gefahr, die mit seiner Arbeit verbunden ist. Während der Mitteilung schneidet er zurück auf eine Totale des Fernsehers im Hotelzimmer, im Vordergrund ist im Anschnitt der Filmemacher zu sehen, während die Sprecherstimme fortfährt. An diese Episode schließt ein persönliches Kapitel an. Palit hatte Demonstrationen in Kaschmir gedreht, wackelige Handkameraaufnahmen einer Menschenmenge, Frauen, die vom Fenster aus das Geschehen beobachten und mit ihren Handys fotografieren, Polizisten, die Schilde vor sich tragen. Ein Junge ruft Parolen in ein Mikrofon, Andeutungen von in die Luft gehaltenen Fernsehkameras. Die Kamera wird erschüttert und zeigt zu Boden, richtet sich erneut auf die Gruppe der Demonstranten, bis die Hand eines Demonstranten das Objektiv verdeckt. Während die Detailaufnahme der Handfläche zu sehen ist, führt der Kommentartext die Geschichte fort: Er berichtet von den Spannungen, die das Filmteam zwingen, die nächsten Tage im Hotelzimmer zu verbringen. Die bana-

 110

Reena Mohan, zitiert nach: Ramnath, Nandini: Twist in the Tale. Reena Mohan Shows Us How Not to Shoot a Biographical Film. In: Timeout Magazin Mumbai. 2010-01-21 [Web].

111 Bei Minute 47:20.

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len Aufnahmen des Raums, Nahaufnahmen von Tassen, in die Tee gegossen wird, ein rastloser Kameramann im Spiegel des Kleiderschranks, der im VoiceOver gesteht, zum ersten Mal seit sechsundzwanzig Jahren Angst vorm Drehen zu haben. Ein weiteres reflexives Element ist der Verweis auf den Produktionsprozess von IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN und die darin zitierten früheren Filmen, indem Palit seine Protagonisten beim Betrachten des Filmmaterials zeigt. Filmcharaktere und Zuschauer zugleich, sitzen sie um den auf einem Plastikstuhl aufgebauten MiniDV-Player oder Laptop, auf dem das Video abgespielt wird. Der Dokumentarfilm wird so Teil seiner eigenen Diegese.  In seiner Bestimmung des reflexiven dokumentarischen Modus formuliert Nichols unter anderem, die Reflexion sei in stärkerem Maße auf die Wahl der filmischen Mittel oder die Schwierigkeiten des Produktionsprozesses denn auf ethische Fragen gerichtet: In fact, one of the oddities of the reflexive documentary is that it rarely reflects on ethical issues as a primary concern, other than with a sigh of a detached relativism readier to criticize the choices of others then to examine its own. … Explorations of the difficulties and consequences of representation are more common than examinations of the RIGHT of rep112

resentation.

Palit hingegen versucht mit seinem Film genau das: seine eigene ethische Position beim Dreh investigativer und aktivistischer Dokumentarfilme zu verstehen. Zwar thematisiert er auch formale Aspekte wie Komposition und Einstellungsgröße, etwa in der Café-Sequenz mit seinem Studienfreund, im Zentrum seiner Aufmerksamkeit aber steht die Frage, mit welchem Recht er seine Charaktere filmt und nach Abschluss der Dreharbeiten wieder ihrem Überlebenskampf überlässt, warum und aus welcher Perspektive er sie betrachtet, und wie die Anwesenheit seiner Kamera und seiner selbst die vorgefundene Situation beeinflussen. So beschreibt er seinen persönlichen Zwiespalt angesichts eines Schusswechsels in Kaschmir, oder angesichts eines Trauernden aus JASHN-E-AZADI auf dem Friedhof in Srinagar, der seinen einzigen Sohn als Märtyrer im Freiheitskampf verloren hatte: „Do I respect the body? Does it matter what the soul that resided

 112 B. Nichols: Representing Reality, S. 59.

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there believed, said or committed?113 Darauf schlussfolgert er für seine Arbeit als Kameramann: „Is there ever a time to switch off a camera? Does my camera respect a living person?“114 Indem Ranjan Palit die Grenzen seiner Kunst betont, nimmt er die Frage der Ethik und des Herrschaftsverhältnisses erneut auf, um sich schließlich mit den Worten „The being behind the camera is better then just looking away“.115 bedingungslos zum Dokumentarfilm und seiner Zeugenrolle zu bekennen.

 Das Zusammenspiel von Voice-Over und visuellen Gestaltungsmitteln  Gesprochener Kommentartext war in Indien lange Zeit ein wesentliches Stilelement des explanatorischen Dokumentarfilms, wie er von den Films DivisionProduktionen favorisiert und für aufklärende Zwecke in den Kinos eines Landes mit niedriger Alphabetisierungsquote genutzt wurde. Palit hingegen verwendet den Kommentar als persönliches Erzählmittel: Statt einer ‚Voice-of-God‘ähnlichen Erläuterung der Filmbilder hört der Zuschauer die Stimme eines Zweiflers, welches das bestehende Archivmaterial hinterfragt und in einen neuen Kontext rückt. Kristallisationspunkt seiner Überlegungen sind die ethischen Fragen des Aufzeichnungsprozesses. Palits Voice-Over betont die persönlichen Erinnerungen, die er an professionelle Aufnahmen knüpft und verbindet Vergangenes und Gegenwärtiges. So schließt das Ende seines Besuchs am Filminstitut in Poona mit den Worten „It was raining when I finished film school in Poona, twenty-five years ago“,116 die mehr atmosphärischen als informativen Charakter haben. Dazu montiert Palit DV-Aufnahmen des heutigen Mumbai-PoonaHighway durch die regennasse Frontscheibe, und Details der Regentropfen. Neben der melancholischen Anschaulichkeit des Abschieds von Studientagen dient die Sequenz mit ihren offenen Bildern auch als Transition zur Gegenwart, in welcher der Regisseur Vergangenheitssuche betreibt. Als „Röntgen des Bildes mit Hilfe des Kommentars“ beschreibt Thomas Tode diese Vorgehensweise, die ein wichtiges Charakteristikum essayistischer Filme ist. Tode stellt dar, wie sich

 113 Voice-Over, bei Minute 53:00, folgend. 114 Voice-Over, bei Minute 54:58, folgend. 115 Voice-Over, bei Minute 81:17, folgend. 116 Bei Minute 06:38.

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die Subjektivität der Filmautoren bewusst gegen die Objektivität behaupteter Diskurse wie den Nachrichtendiskurs im Fernsehen wendet: Im traditionellen Dokumentarfilm und insbesondere in der aktuellen Fernsehberichterstattung illustriert das Bild das im Kommentar Gesagte. Die sprachlichen Einlassungen essayistischer Filme dagegen hinterfragen das Bild, nähren den Zweifel am Sichtbaren, nennen Grenzen des Filmbaren, verweisen auf eine „Wirklichkeit außerhalb der Bilder“.

117

In diesem Sinne füge der Kommentar dem Bild eine Dimension hinzu, die nicht sichtbar ist. Dieser Strategie bedient sich auch Palit – auf mehreren Ebenen: Die Bezüge zwischen Bild und Text können poetischer Natur sein, etwa, wenn Palit den Aufnahmen einer aus dem Kabinenfenster eines Flugzeugs gefilmten Wolkenlandschaft philosophische Dialogteile seines Weggefährten und CoRegisseurs Surjo Deb zuordnet: „Actually, all journeys are eventually the same, like I have forgotten where I am going, or why?“ Dem fügt er weitere assoziative Detailaufnahmen des Kabinenraums hinzu, die für das Motiv der Reise stehen. Neben der Navigationsfunktion durch die eigene Geschichte untersucht der Kommentartext auch die Bildstrategie Palits, so angesichts der Militärpräsenz in Kaschmir. Palits Bilder zeigen eine verschneite Einkaufsstraße, entlang der Füße eines bewaffneten Soldaten schwenkt er zu dessen Gesicht und gibt im Hintergrund bunte Ladenschilder frei. Aufnahmen eines brennenden Hauses sowie einer friedlichen Seelandschaft schließen sich an, während der Autor im VoiceOver über seine Entscheidungen resümiert, die Ereignisse in Bilder zu fassen. Die ausgewählten Einstellungen stehen beispielhaft für Situationen, in denen Palit sich ethischen Fragen der Repräsentation stellt. In seinem Kommentartext formuliert er sie wie folgt: How do you frame a soldier, a militant, a protester? Is your lens more sympathetic to a violent crowd than the police on a Lathi charge? What goes on in your head when you shoot such images? When are you partisan, observer, narrator, voyeur? Do you keep shooting this? Who are you filming this for?

118

 117 Vgl. T. Tode: Abenteuer Essayfilm, S. 32. 118

Bei Minute 52:53 / Als ‚Lathi‘ wird ein Bambusstab bezeichnet, der bei der indischen Polizei als Schlagwaffe verbreitet ist.

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Nach dieser Reflexion seiner Perspektive schneidet Palit zurück auf die brennende Straße. Die Andeutung eines DV-Kamera-Monitors am Bildrand macht darauf aufmerksam, wie viele Journalisten und Pressekameras dieses Ereignis bezeugt haben mögen. Die Flammen werden zum Sinnbild für den anhaltenden Bürgerkrieg in Kaschmir, das Brennen des Hauses muss für den Zuschauer gerahmt werden, seine Kamera ist die vermittelnde Instanz, die den Krieg für uns rekonstruiert. Auf den selbstreflexiven Blick hinter die Kulissen der Kriegsberichterstattung lässt Palit in der Montage eine stille, sorgfältig komponierte Stativ-Aufnahme des abendlichen Dal-Sees prallen. In seinem Resümee knüpft er an die evozierte Unsicherheit beim Lesen dieser kontrastierenden Bilder an: „In Kashmir I came to realize that documentary can look stranger than fiction. Truth is not always in focus. And beauty is one hell of a burden.“ 119 Zum Ende des Films stellt der Regisseur ähnliche Überlegung mit seinem sehr persönlichen Videomaterial an: Der Kopf einer jungen Frau ruht auf dem Tisch eines Flugzeugsitzes, sie liest, halb durch die Rücklehne des Vordersitzes verdeckt, ein Buch. Die dem Dröhnen der Maschine hinzugefügten Geräusche eines Windspiels betten sie in eine anheimelnde, friedliche Atmosphäre ein. Im Voice-Over-Text spricht Palit: „Now Maya s leaving home. Is she ever gonna back to live in our house?“120 Hier beginnt die Erzählung des Privatmanns Ranjan, Bilder eines Vaters, der seine Tochter verabschiedet, Bilder, die ohne einen Auftraggeber entstanden sind, aus dem Familienalbum Palits. Bis zu dieser Szene wird im Kommentartext nicht auf die Vater-Tochter-Beziehung hingewiesen. Mit der Flugzeug-Szene fügt Palit der Figur des Kameramanns eine neue Dimension hinzu. Wie die politischen müssen nun auch die privaten Ereignisse kadriert werden. Es gilt, bildliche Metaphern für die zugrundeliegenden Themen Verlust, Loslassen und Neubeginn zu finden und die Einstellungen auf ihre Aussagekraft und Anmutung zu untersuchen. Aus welcher Perspektive blickt der Film-Fachmann auf sein eigenes Leben? Während er in den Bordmonitor mit den Sicherheitsanweisungen zoomt, Detailaufnahmen von Leselampen und lesende Passagiere zeigt, die mit dem Dröhnen der Maschine und dem Geräusch der Anschnallzeichen unterlegt sind, überlegt Palit im Voice-Over: „How do I frame something personal like this? What am I trying to do? Should I be doing

 119 Voice-Over, bei Minute 55:33. 120 Voice-Over, bei Minute 62:05.

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this? Or is this more evocative?“121 Mit der Aufnahme einer Geigerin auf einer nebeligen Brücke in London probiert Palit eine andere Metapher für die Abnabelung und das Ausgesetzt-Sein. Fröstelnd nimmt sie einen Schluck aus einer Thermosflasche, und greift dann erneut zum Bogen. In einer unscharfen Einstellung strömen die Passanten an der allein stehenden Straßenmusikerin vorbei. Feinsinnig zieht der Autor den Vergleich aus der neuen Heimat seiner Tochter. Er fährt fort: „Can an image ever say more than a voice? Would you like to hear her speak, tell her story? Or am I just trying to find ways to tell my own story?“122 Palits Texte sind für sein Videotagebuch strukturprägender als seine Bilder. Die Erzählung von IN CAMERA folgt mehr einer Hierarchie der Worte denn der Bilder. Das Voice-Over legt einen roten Faden durch die Erinnerungsfragmente seiner Filmaufnahmen, ordnet sie in neuem Kontext, kommentiert sie außerhalb ihrer ursprünglichen Funktion und Bedeutung. Mit dem Übergang vom Kapitel der Hochzeitsvideografie zur Begegnung mit Kanai Baul auf einer Hochzeitsfeierlichkeit oder dem Durchqueren von Vergangenheit und Gegenwart anhand ähnlicher Einstellungen, wie Kanais Frau, die ihm das Haar kämmt, entstehen in der Montage jedoch auch bildliche Verknüpfungen.

 Die Entwicklung des filmischen Stils des Kameramanns  Angesichts seiner Video-Selbstbefragung liegt die Frage nahe, inwiefern sich an den Bildern eine Entwicklung des Kameramanns ablesen lässt. Palits Videotagebuch legt zunächst Zeugnis ab von den beiden thematischen Schwerpunkten, die ihn während seiner Arbeit begleitet haben, und die zugleich klassische indische Dokumentarfilm-Sujets darstellen: der eine sind politische Dokumentarfilme, wie er sie mit Anand Patwardhan drehte und gemeinsam mit seiner Frau Vasudha Joshi in seinen frühen ‚Movement Films‘ fortsetzt. Palits zweiter Schwerpunkt ist das filmische Begleiten von Künstlern, und vor allem Musikern und die Darstellung von deren Leben und Werken: dem Bob-Dylan-Interpreten Lou Majaw aus Shilong in FOREVER YOUNG , dem blinden Sufi-Sänger Kanai Baul in

 121 Voice-Over, bei Minute 62:37. 122 Voice-Over ,bei Minute 64:13.

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ABAK JAYA HERE, der alten Kamalabai aus Reena Mohans Dokumentarfilm, Guru Gambhir Singh’s Maskentanz-Gruppe aus ABHIMANYU’S FACE. Bereits am Filminstitut setzte sich Palit mit Dokumentarfilm auseinander. Nach dem Studium emanzipierte er sich von der dort vorherrschenden geplanten Arbeitsweise des Spielfilms mit großer Crew und der damit einhergehenden Ästhetik. Ein wesentlicher Moment für die Entwicklung dieser Arbeitsweise war sein Kamera-Auftrag bei Anand Patwardhan. In seinem Essay im Open Frame Reader beschreibt Palit die Schwierigkeiten, welche mit der technisch Umsetzung solcher unmittelbaren Aufnahmen verbunden waren. Zugleich betont er die enorme Gestaltungsfreiheit, die mit der Arbeit in einem kleinen Dokumentarfilm-Team einhergeht: In ‚Bombay our city‘ we were a crew of two men (Anand does his own sound). Suddenly I was in a volatile situation were nothing was in my control – Anand would just start recording and expect me to start rolling the moment I was ready. Ready or not I would have to start rolling and make the most of the several givens – space, light, characters and the character movement. No time and no one to take light readings, hold a reflector, pull focus, cut glare in the lens – no time to plan or discuss – no time to think!

123

Palit verweist damit auf die Verantwortung des dokumentarischen Kameramanns, der auf die realen Situationen vor seiner Kamera reagieren muss. Anand Patwardhan drehte seinen Dokumentarfilm BOMBAY OUR CITY aus tiefempfundener Überzeugung. Für ihn bedeuteten die Dreharbeiten zugleich ein sich Solidarisieren mit seinen Protagonisten. Er zeichnete nicht nur deren sonst ungehörte Geschichten auf, sondern organisierte ihnen auch Anwälte und Hilfsgruppen, die sie in ihrem täglichen Kampf gegen Slum-Räumungskomitees unterstützen sollten.124 Palit verarbeitete die komplexen Anforderungen der dokumentarischen Situation, bei der er alle seine im geschützten Raum der Filmhochschule entwickelten Vorstellungen von Kameraarbeit über Bord werfen musste. Mit präzisen

 123

Palit, Ranjan. The Other Eye: ‚On Documentary Cinema‘. In: Mehotra, Rajiv (Hg.): The Open Frame Reader. Unreeling the Documentary. New Delhi, Rupa & Co. 2006, S. 48.

124

Vgl. Komers, Rainer. Wenn die Leidenschaft groß genug ist. Unveröffentlichter Text, 2001. Den National Award, den er für den Film erhielt, ließ Patwardhan von einer Slumbewohnerin entgegennehmen.

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Vorbereitungen, geplanten Einstellungsreihen, wohldurchdachten Kompositionen und großem Team ließ sich seine komplexe dokumentarische Situation nicht meistern. Mit dem Scheitern seines erlernten Handwerkszeugs gelingt es Palit, Schönheit, Unmittelbarkeit und schließlich eine eigene Handschrift zu finden: „The biggest lesson was that the reality of the moment mattered more than the aesthetics of the shot“125 Diese Erkenntnis prägt seine Bilder seither. Die erforderliche Flexibilität, auf Geschehnisse vor Ort zu reagieren, begründet Palits Vorliebe für Hand- und Schulterkamera. Mit dem in dieser ersten Zusammenarbeit gewonnenen Vertrauen in die sich vor seiner Kamera abspielende Handlung beginnt auch sein Interesse an langen Einstellungen, die ihn als Stilmittel durch seine Kameraarbeit begleiten werden: „Pretty early on, I developed a taste for very slow movements, slow enough to allow the editor to cut with another shot, if necessary.“126 Für Manjira Duttas Dokumentation THE SACRIFICE OF BABULAL BHUIYA über die Ausbeutung von Kohlebergarbeitern in Indiens ärmstem Bundesstaat Bihar drehte Palit eine ruhige Einstellung eines Tagelöhners in einem schlammigen Fluss. In der Halbtotalen taucht sein Kopf aus dem trüben Wasser auf. Er legt sich ein Joch über seine Schultern, an dem zwei Metalleimer befestigt sind und steigt, behutsam über den unebenen Boden des Gewässers balancierend, ans Ufer. Die Länge der Einstellung, welche die Erzählzeit der realen Zeit annähert, und das Schwanken des schmalen, barfüßigen Mannes lassen das auf seinen Schultern lastende Gewicht spürbar werden. Die Kamera schwenkt mit dem Mann. Als er aus dem Wasser steigt, ist sein Kopf abgeschnitten, die Füße und Hände hingegen, die seine Fracht stützen, bleiben im Bild. Am Ufer angekommen, beugt der Arbeiter sich vor, sein Kopf gelangt damit in den Bildausschnitt zurück, und gießt den Inhalt der Eimer in das benachbarte Wasserbecken. Eine Sirene ertönt. Der Mann verlässt mit seinen beiden geleerten Gefäßen seitlich das Bild.127 Die Einstellung dauert anderthalb Minuten. Sie bezeugt die Geduld des Kameramannes und sein Vertrauen in die Bewegung des Protagonisten, der den Bildkader verlässt, und ohne dass Palit die Komposition nachjustiert, am Ende der Einstellung wieder in die halbnahe Bildkomposition zurückkehrt. Mit dieser Einstellung erweitert Palit den filmischen Bildraum. Der Zuschauer er-

 125 Ramnath, Nandini: The Real Deal. In: TimeOut Magazin Delhi 2011 [Web]. 126 R. Palit: The Other Eye. S 48-49. 127 Min. 39:44 – 41:13.

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gänzt die ausserhalb des Bildkaders liegenden Handlungselemente im Kopf. In der langen Einstellung nimmt er den Rhythmus des Arbeiters auf. Arbeiter und Kameramann führen beide auf dem glitschigen Untergrund und im strömenden Wasser ihre Arbeit aus, der eine seine Eimer, der andere seine Kamera balancierend. Mit seiner bewegten Kamera mit bewusstem Verzicht auf Zoom-Objektive arbeitet Palit stets in unmittelbarer Nähe seiner Protagonisten. Sie sind sich über die Anwesenheit seiner Kamera absolut bewusst, er durchschreitet ähnliche Risiken wie sie. Trägt der Minenarbeiter einen Korb mit Kohlestaub durch das trübe Wasser, so ist davon auszugehen, dass Palit wenige Meter von ihm entfernt seine Kamera über demselben milchigen Wasser balanciert. Intuitiv geht Palit mit dem Tempo der Ereignisse mit, die sich vor seiner Kamera abspielen. Diese Vorgehensweise spiegelt auch seinen bewussten Umgang mit der Kamera als Machtinstrument wider. Palits langsame Bilder lassen die Nähe des Kameramannes zu seinem Motiv und das Einverständnis der Gefilmten spüren. Die DV-Bilder eines abendlichen Friedhofs in Kaschmir aus Amar Kanwars A NIGHT OF PROPHECY128 wurden zwölf Jahre später aufgenommen und haben einen ähnlichem Duktus. Behutsam begleitet er seinen Protagonisten mit der Schulterkamera über einen Friedhof, beim Pflanzen von Blumen auf ein Grab, dem Wässern der Grabstelle aus einem blauen Plastikeimer, dem Abwischen einer erdigen Hände, bis er sich schließlich zur Kamera umwendet und die Geschichte erzählt, die zuvor schon in seine liebevollen Gesten angeklungen ist. „The whole rhythm of a film gets broken if you use too many separate shots. Small subtle movements are much nicer,“129 begründet Palit seine Vorliebe für lange, beobachtende Kamera-Einstellungen. Sein Verzicht auf eine große Zahl von Schnitten korrespondiert mit einem Anspruch auf dokumentarische Authentizität: Auf diese Weise wird die repräsentierte Realität durch so wenig als mögliche Eingriffe in Frage gestellt.

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A NIGHT OF PROPHECY ist ein Film über Sänger, Musiker und Dichter in verschiedenen Teilen Indiens, die zum Teil durch blutigen Auseinandersetzunge geprägt sind. Mit ihrer Musik und ihren Gedichten versuchen sie die sie umgebenden Konflikte zu verstehen.

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Palit, Ranjan, zitiert nach: Unbekannter Autor: Daring Step Out. Saat Khoon Maaf. In: Images Band 8, Ausgabe 5, 2011.

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Palits Einstellung auf dem Märtyrer-Friedhof in Sanjay Kaks JASHN-EAZADI,130 erneut in Kashmir, ähnelt der oben beschriebenen Friedhofsaufnahme. Seine Schulterkamera befindet sich in permanenter Bewegung, um die reale Situation spontan erfassen zu können. Sie folgt dem in einen Schal gehüllten Protagonisten über einen verscheiten Friedhof. Die langen, ruhigen Einstellungen sind in der Montage zusammengefügt mit dem Portrait des nachdenklich vor sich hinblickenden Protagonisten und Nahaufnahmen seiner Hände, die über den Grabstein streichen. Palit wartet ab, er lässt seinem Protagonisten Zeit, Gesten und Worte für seinen als Märtyrer gestorbenen einzigen Sohn zu finden. Die Bewegungen der Kamera sind intuitiv und fließend. Während er dem Mann zwischen den Gräbern folgt, scheinen Kameramann und Aufnahme-Apparat zu einem verwachsen zu sein. Die einzige Planung der Sequenz bestand im Sehen und Reagieren. Some people find that I make a fetish of the handheld camera. It is true. I really do. Shooting from the shoulder is a must in most documentary situations … It is also when the camera is on your shoulder that it really becomes an extension of your body – your arms and even your eyes. It seems to me to be the most natural way of shooting sometime.

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In Sanjay Kaks JASHN-E-AZADI sind den Schulterkamera-Aufnahmen statische Landschaftsaufnahmen gegenübergestellt. Sie wirken geplanter und komponierter: So sieht man etwa Schar Enten langsam im über den Dal-See in Srinagar ziehen, ein Boot rudert ihnen entgegen und dynamisiert den Vordergrund. Im Mittelgrund ragt still ein Tor aus dem Wasser, dahinter staffeln sich in Grauabstufungen Baumwipfel und Berge. Die gegenläufigen Bewegungen auf parallelen Ebenen sind bestechend präzise kadriert. „I am really against the finished, polished look that many aspire to. When everything is perfect, there is a synthetic, sterile quality, which, for me, takes away from the feel and the texture of a documentary.“132 betont Palit sein filmästhetisches Ideal. In JASHN-E-AZADI beweist er jedoch, dass er auch stark ästhetisierte und kontrollierte Bilder produzieren kann. Die friedliche Abendstimmung wird mit nächtlichen SchulterkameraAufnahmen von Straßenkämpfen kontrastiert, welche den Komfort mit den vo-

 130 Ca. Min. 50:29. 131 R. Palit: The Other Eye, S. 49. 132 R. Palit: The Other Eye, S. 53.

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rangegangenen Einstellungen sofort in Misstrauen gegenüber dem schönen Schein verkehren. Palit bleibt sich selbst als Kameramann während seiner fünfundzwanzigjährigen Laufbahn treu und überträgt die Methode der bewegten Kamera von 16Millimeter-Film auf Hi-8-Video, DV und schließlich HD, und erprobt sie sowohl und mit professionellen Kameras wie auch mit kleinen Amateur-Camcordern. An IN CAMERA lässt sich jedoch eine entscheidende stilistische Entwicklung Palits als Regisseur ablesen. Schonungslos offen und persönlich löst sich der Autor zum ersten Mal hinter der Kamera hervor und tritt, wenngleich hauptsächlich mittels Reflexionen und Fotografien, ins Videobild. Palit erzählt in essayistischer Weise über das Bildermachen und spannt dabei einen großen zeitlichen Bogen durch seine Laufbahn als Kameramann. Mit dem Film setzt er der offiziellen Dokumentarfilm-Geschichtsschreibung, wie sie von der Films Division und dem National Film Archive of India betrieben wird, eine eigene subjektive und leise Geschichte gegenüber. Entsprechend den Maximen des Essayfilms beantwortet Palit seine in IN CAMERA aufgeworfenen Fragen nur vorläufig und gesteht die künstlerischen Entscheidungen innewohnende Subjektivität ein: „I do not even want to know what the answers to my questions are. It is impossible to retain objectivity because the degree of involvement is tremendous.“133 IN CAMERA ist eine Arbeit, die zum Nachsinnen über dokumentarische Praxis auffordert. Angesichts der vor der Kamera und im Kommentartext stets aufs Neue ausgehandelten Fragen zu seiner Verantwortung als Dokumentarist kann seine filmische Form nicht abgeschlossen sein. Palits sich zwischen den Bildern abzeichnende Antworten sind nicht unwiderruflich.

D OKUMENTARISCHER F ILMZYKLUS ALS OFFENES P ROJEKT : D AS Behind the Tin Sheets Project  Einen Fundus an Videomaterial bildet das BEHIND-THE-TIN-SHEETS-PROJECT der jungen Bangalorer Filmemacherinnen Yashaswini Raghunandan und Ekta Mittal, die über den Verlauf von vier für die Entwicklung ihrer Heimatstadt entscheidenden Jahren ein prestigeträchtiges Großbauprojekt aus der Perspektive der am Bau beteiligten Wanderarbeiter aufzeichneten: „Namma Metro“ ist ein

 133 Palit, Ranjan, zitiert nach: S. Chatterjee: In Front of The Lens.

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umstrittenes Projekt zur Lösung des akuten Verkehrsproblems, mit welchem die beständig wachsende IT-Metropole Bangalore konfrontiert ist. Das nach dem Muster der Metro in Delhi zu großen Teilen oberirdisch als Hochbahnstrecke geplante Projekt ging einher mit dem Verschwinden von hundertjährigen Straßenbäumen und ganzen Häuserzeilen aus dem Stadtbild Bangalores. Als kostenintensive Nahverkehrslösung umstritten und hinsichtlich seiner mangelnder Arbeitssicherheit vielfach kritisiert, ist die Unternehmung dennoch politisches Symbol eines fortschrittlichen Bangalore und veränderte dessen Gesicht maßgeblich. Das BEHIND THE TIN SHEETS PROJECT wurde durch das Indian Labour Archive inspiriert und mit der Unterstützung des Archival Fellowship Grant der India Foundation for the Arts und des Kalkutta Docedge Development Grant realisiert. Zusätzliche Beratung erfuhren die Filmemacherinnen im Rahmen des deutschindischen Mentoring-Programms „DokWok“. Im Rahmen des TIN-SHEETSPROJECTS sind innerhalb von vier Jahren drei Dokumentarfilme entstanden: IN_TRANSIENCE134 beschäftigt sich mit Träumen und Geistern und arbeitet stark mit der Modulation filmischer Zeit durch sehr lange Einstellungen. PRESENCE135 vertieft das Thema der Geister weiter und DISTANCE136 widmet sich dem Motiv der Liebe und Sehnsucht. Als Gestaltungsmittel stehen in diesem dritten Film Lichter sowie Detail- und Nahaufnahmen in der Arbeiterkolonie im Vordergrund. Die Recherchen auf den Metro-Baustellen und Arbeitercamps mündeten überdies in die Kunstinstallation FOOTLOOSE,137 welche im Ausstellungsraum rekonstruierte Wellblechhütten und Landkarten sowie Videomaterial zusammenführt, um die große Entfernung der Arbeiter von ihrer Heimat nachzuzeichnen. Der Titel des BEHIND THE TIN SHEETS-PROJECTS verweist auf die Wellblechwände der temporären Behausungen der Arbeiter. Die Themen der Entfernung vom

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IN_TRANSIENCE (IN 2011, R: Yashaswini Raghunandan, Ekta Mittal, Dokumentarfilm, 24 min).

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PRESENCE (IN 2012, R: Yashaswini Raghunandan, Ekta Mittal, Dokumentarfilm 17:51 min).

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DISTANCE (IN 2013, R: Yashaswini Raghunandan, Ekta Mittal, Dokumentarfilm, 38 min).

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FOOTLOOSE (IN 2010, R: Yashaswini Raghunandan, Ekta Mittal, Kunstinstallation im Centre for Internet and Society, Bangalore).

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Zuhause und der Entwurzelung spiegeln sich in allen Arbeiten des Projekts wider. Visuell und strukturell gehen die Filme ähnlich vor. Sie verwenden zum Teil die gleichen Protagonisten. Auch Bilder, wie das eines Arbeiters, der eine Schubkarre die Rohbau-Treppe der Metrostation hinabbalanciert, und InterviewAussagen wiederholen sich. Damit erreichen die Filmemacherinnen eine Öffnung der einzelnen Filmprojekte und schaffen im Gesamtprojekt ein komplexes und vielstimmiges Bild von der Situation der Metro-Arbeiter.

 Zug und Metro als Motiv  Zentrale Elemente in allen Filmen des Tin-Sheets-Projekts sind die Metro in Konstruktion sowie die bereits existierenden Eisenbahnlinien, die aus der Stadt Bangalore hinaus in die Ferne führen. So beginnt DISTANCE auf einem Bahnsteig, IN_TRANSIENCE und PRESENCE verweisen in ihren Eingangssequenzen auf die Metro. Gleise, Bahnsteige und deren Konstruktionsprozess werden als Bilder immer wieder in den Film eingewoben. Auch auf der Tonebene findet sich ein wiederkehrender Verweis auf Züge: durch das entfernte Rattern und Quietschen der Räder, Schienenschlag, Zugsignale und Bahnhofsansagen erscheint die Bahn omnipräsent und unwirklich. Mit diesem Motiv beziehen sich Mittal / Raghunandan auf ein klassisches Filmtopos. Die Filmgeschichte beginnt mit einer Eisenbahn-Darstellung in der EINFAHRT DES ZUGES IN LA CIOTAT der Brüder Lumière. Die der Kamera entgegenfahrende Lokomotive und das soeben erfundene Medium Film waren beide gleichermaßen Symbole der Moderne, des Aufbruchs und des Fortschritts. In ähnlicher Weise fortschrittlich und modern wird auch der Bau der Bangalorer Metro von der lokalen Politik stilisiert. Christa Blümlinger hebt hervor, dass Kino und Eisenbahn in ähnlicher Weise die menschliche Wahrnehmung beeinflussten, indem sie dem Betrachter eine schnelle Folge verändernder Bilder – respektive Landschaften – anboten, seinen Blick ordneten und ihn damit zu einem „visuellen Konsumenten, eine[m] panoramatischen Betrachter, ein[em] zutiefst instabile[n] Subjekt“138 machten. Das Zeitalter der Moderne verkörpert sich in Beiden, weil sie auf einer Institutionalisierung und Standardisierung der Zeit, im Sinne der Verlässlichkeit von Fahrplänen und weltweit normierten Bildaufnahme- und -abspielraten, basieren:

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Blümlinger, Christa: Räume und Rahmungen. Lumière, der Zug und die Avantgarde. 2002. [Web], S. 28.

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Es gibt also eine apparative Verwandtschaft zwischen Kino und Eisenbahn, oder vielmehr den Maschinen, die beiden eingeschrieben sind: Lokomotive, Waggon und Projektor. Wie die Eisenbahn konstituiert das Kino einen neuen Zeitraum, der auf der Zerstörung der traditionelle Zeiträume gebunden ist, an die Lust auf Beschleunigung, auf die Entdeckung 139

fremder Welten und den Verlust der Wurzeln.

Diese Erhöhung des Lebenstempos spiegelt sich in der rasanten Stadtentwicklung der IT-Metropole Bangalore wider, mit ihrer im Bau befindlichen Metrolinie als optimistischem Sinnbild für Konnektivität, Funktionalität und Geschwindigkeit. Raghunandan / Mittal begegnen dieser Lust auf Beschleunigung mit der Entschleunigung ihrer Bilder und Filmsequenzen. Dies geschieht etwa in betont langen Einstellungen. Das Anfangsbild von IN_TRANSIENCE beispielsweise zeigt über die Dauer von 03:35 Minuten ein riesiges Bauteil für eine Säule der Metrolinie, welches angehoben und langsam durch die Luft geschwenkt wird. Die Einstellung etabliert Ort und Kontext der filmischen Handlung: eine überdimensionierte Baustelle. In der extrem weiten Einstellung werden die Bauarbeiter als winzige Figuren sichtbar, die das schwebende Bauteil zu dirigieren und fixieren suchen. Drama und Spannung der Einstellung liegen gerade in ihrer Länge: es bedarf Zeit, das imposante Bauteil an seinen Platz zu transportieren, im Verlauf dessen werden die Größenordnung der Baustelle und die vergleichsweise schlichten Arbeitsmittel pointiert. In einer ähnlich langen Einstellung ziehen Arbeiter ein Rohr an zwei Seilen hinauf. Ein Vorarbeiter ruft Befehle, daraufhin ziehen die in der extrem weiten Einstellung winzig erscheinenden Männer und das Rohr bewegt sich mit einem Ende nach oben. Die Männer laufen aus dem Bild, wieder hören wir die Rufe des Vorarbeiters, nun bewegt sich das andere Ende des Rohrs in die Luft. Die arbeitenden Männer befinden sich außerhalb des Bildkaders. Der filmische Raum wird jedoch durch den Ton und die Fortsetzung der Zugbewegung der Männer erweitert und so deren Arbeit evoziert. Auch das Sounddesign der Filme trägt zur empfundenen Getragenheit und Langsamkeit des Erzähltempos bei. Im Sinne von Robert Bressons Ideal der filmischen Stille als „silence obtained by a pianissimo of noises“140 setzen die Regisseurinnen die Baustellenatmosphäre aus dem Knarren von Gerüstplanken,

 139 Ebd., S. 28. 140

Bresson, Robert: Notes on the Cinematographer. Los Angeles, Green Integer, 1997. S. 49.

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dem Krächzen von Krähen, dem metallischen Klirren und Schlagen von Werkzeugen und den entfernten Stimmen der Arbeiter, die sich Anweisungen zurufen, zusammen. Die Filme verzichten dabei auf die Wiedergabe realistischer Stadtgeräusche wie denen des omnipräsenten rauschenden und hupende Verkehrs. Mit dem Sound-Design konzentrieren Mittal / Raghunandan die Wahrnehmung des Films auf die Arbeit an der Metro und rhythmisieren ihn. Mit den akustischen Hinweisen auf Züge und Bahnstationen wird zugleich eine Verknüpfung zu dem Motiv der Bahn geschaffen. Die Schienen und Züge stehen auch für die Verbindung, welche die Arbeiter zu ihrer fernen Heimat haben. Sie symbolisieren den Zustand ständiger Bewegung, in dem sich die ihrer Arbeit hinterher ziehenden Protagonisten befinden. Deren flüchtige, kurzfristige Arbeitsaufenthalte stellten auch für die Dreharbeiten erhebliche Probleme dar. Yashaswini Raghunandan beschreibt die Auswirkungen der spontanen Migration auf die Konstruktion ihre filmischen Geschichten: Our issue was more people leaving. Suddenly, someone would take off to Hyderabad to a construction ground there. They are really migrants. It is very hard to continue a rapport and finish the work you were planning. The temporariness of the space, right here, right now, was what we were looking at.

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 Zwar erschwerte die Heimatlosigkeit und geografische Unstetigkeit der Arbeiter die Zusammenarbeit mit den Protagonisten und deren für die Darstellung einer filmischen Entwicklung relevantes Wiederaufsuchen. Zugleich betonten diese Schwierigkeiten beim Dreh aber auch die Dringlichkeit einer Aufarbeitung von Arbeitsmigration als relevantem gesellschaftlichen Thema.  Die Darstellung der Stadt  Die reale Stadt Bangalore, zu deren Fortschritt die Männer beitragen, wird aus der dokumentarischen Erzählung weitestgehend ausgeklammert. Städtische Wahrzeichen oder auch nur Architekturelemente abzubilden vermeiden die Filmemacherinnen. Die rapide Urbanisierung bildet den Hintergrund für die Darstellung von Prozessen der Arbeits-Migration, wird jedoch weder erläutert noch

 141 Yashaswini Raghunandan im Gespräch am 03.09.2011 in Bangalore.

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hinsichtlich stadtplanerischer oder bevölkerungspolitischer Entscheidungen hinterfragt. Die Stadt Bangalore tritt in DISTANCE buchstäblich in der Ferne auf – etwa als Apartmentblocks im Unschärfebereich,142 von der temporären Siedlung der Bauarbeiter aus betrachtet. Deren Lebensraum wird eher dörflich charakterisiert, sogar ein Hahn stolziert durch die Wellblech-Gassen. Die Bilder konzentrieren sich auf das vorübergehende Zuhause der Arbeiter. Yashaswini Raghunandan beschreibt die Kurzlebigkeit dieser Siedlungen analog zur Flüchtigkeit der Arbeitsverhältnisse: The idea of this temporality is at a very heightened state. And not just mentally but also physically. You can remove the tin sheets, and then it’s off somewhere else. [...] In the first year, we researched on old Madras road. Finally we got a camera and dwelled back. And in a months time they were wrapping up the labour colony. So we had skeletons of scaffoldings left and then the entire labour colony was gone.

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Weil der Film die Bilder der Metrobaustelle mit einschließt, bietet IN_TRANSIENCE einen deutlicheren Blick auf die Stadt Bangalore jenseits der Arbeiterquartiere als etwa DISTANCE. In den unerwarteten Stadt-Schilderungen seiner Protagonisten spannt die Dokumentation den Bogen zurück in deren Heimat. Während IN_TRANSIENCE die Spiegelung einer Hochstraße in einer Glasfassade zeigt, reflektiert ein Metro-Arbeiter über die Orte, an denen er sich in der fremden Metropole zu Hause fühlen kann: „Then I returned. I got to see a lake. There are huge lakes here. It looks much like a village. Like it is in our village... it is actually like that, there.“144 Weitere Elemente des Temporären und Vergänglichen sind die hinter sich elegant kurvenden Hochstraßen und Metrobrücken mehrfach sichtbar werdenden Häuser, deren Fassaden im Zuge der Straßenverbreiterungsarbeiten abgebrochen wurden. Wie in Puppenstuben kann man von der Straße aus in ihr Inneres sehen. Auch diese für die Stadtentwicklung Bangalores markanten und im Kontext indischer Modernisierung absolut wiedererkennbaren Aufnahmen der Stadt lassen Raghunandan / Mittal unkommentiert. Der Film verschreibt sich nicht der Er-

 142 Bei Minute 11:10. 143 Yashaswini Raghunandan im Gespräch am 03.09.2011 in Bangalore. 144 Bei Minute 15:05.

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kundung sozialer Verhältnisse sondern nutzt diese als Hintergrund für die persönlichen Erfahrungen der Bauarbeiter. Abbildung 4: In_transience. Filmstandbild

Quelle: Y. Raghunandan

Die Repräsentation von Arbeit

 Wie die Metropole, in der die Männer arbeiten, wird auch die Mühsal der körperlichen Arbeit im BEHIND THE TIN SHEETS PROJECT außen vor gelassen. Die Filme nehmen keine menschenrechtliche Perspektive ein. Folglich verzichten sie darauf, die geringe Bezahlung der Arbeiter, die Arbeitssicherheit auf den Baustellen oder die Rechte ihrer Protagonisten zu diskutieren. Stattdessen konzentrieren sich die Regisseurinnen auf das Motiv der Migration und Heimatlosigkeit. Der erste Film des BEHIND THE TIN SHEETS PROJECTS entstand für eine Ausstellung, die das Verhältnis von Arbeit und Freizeit auszuloten suchte.145 In diesem Rahmen entwickelten Raghunandan / Mittal die Idee, die Arbeiter nicht entsprechend dem gängigen Stereotyp als Revolutionäre oder Opfer zu stilisieren, sondern vielmehr eine humanistische Perspektive auf sie einzunehmen. Diese Perspektive rief beim einheimischen Publikum, welches an die Verbindung von Dokumentar-

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Der Ausstellung Labour and Leisure des WYSPA Institute of Art in Danzig/Polen 2011.

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film und der Repräsentation von Menschenrechts-Themen gewöhnt war, irritierte Reaktionen hervor. So erinnert sich Yashaswini Raghunandan: In Bangalore, it was actually much more difficult to show the work, because of the image the worker has. He can’t be also happy. Most of the time they are telling stories. It’s not that he is talking about his work, about labour and being the victim – which is the familiar story of the worker. Most of the viewers over here react to this and come from a very left perspective. They would wonder: How come I don’t see the misery they are in? Nobody will deny that its there. That’s a story. But this is also another story.

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Die Arbeit der Männer erscheint insbesondere in Distance nur in Form von Verweisen: der Halbnah-Einstellung einer Waschstelle in der Arbeitersiedlung, in dessen Wasser sich eine Shampooflasche und ein gelber Bauhelm spiegeln.147 Dieses assoziative Bild enthält bereits die Erzählung der Arbeit, für die sich morgendlich gerüstet wird, ohne sie explizit zu zeigen. Eine weitere Einstellung zeigt die zusammengedrängten Körper der Männer, wiederum Bauhelme tragend.148 Aus der ruckelnden Bewegung und den Schatten, die über ihre Gesichter streichen, lässt sich schlussfolgern, dass sie sich auf der Ladefläche eines fahrenden Lasters befinden und ihrer Arbeit entgegenfahren. Im Hintergrund zieht die Straße vorbei. Die lange Einstellung verweist zwar auf die Arbeit, der die Männer nachgehen, konzentriert sich jedoch auf das Unterwegssein und die Flüchtigkeit ihrer Beschäftigung. IN_TRANSIENCE und PRESENCE zeigen mehr Ansichten der Arbeitsplätze, jedoch stehen auch in diesen Aufnahmen nicht die Chronologie von Arbeitsschritten, das Verhältnis vom Mensch zur Arbeit oder die anstrengenden Arbeitsbedingungen im Vordergrund. Vielmehr wird aus Aufnahmen von Männern, die Beton gießen, Eimer und Werkzeuge transportieren, Metallteile hämmern, ein Rhythmus aufgebaut. Die Protagonisten des BEHIND THE TIN SHEETS PROJECTS sind zumeist in Interview-Situationen inszeniert. In Portraiteinstellungen erzählen sie ihre persönlichen Geschichten, ihre Träume und Sehnsüchte. In beobachtenden Aufnahmen hingegen keine Individuen auszumachen. Hier werden sie zu einem Arbeiter-Kollektiv: kleinen Männlein in Panoramaeinstellungen der Metro-Baustelle, arbeitenden oder Tee kochenden

 146 Yashaswini Raghunandan im Gespräch am 03.09.2011 in Bangalore. 147 DISTANCE, bei Minute 07:15 – 07:33. 148 DISTANCE, bei Minute 13:00.

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Silhouetten in extremen Lichtverhältnissen, oder Rückenfiguren vor den glitzernden Fassaden Bangalores – Projektionsflächen, die zum Betrachten der Stadt aus ihrer Perspektive einladen. Damit präsentieren die Regisseurinnen ihre Figuren als Zuschauer aus der Distanz und als nicht an den Abläufen in der Stadt beteiligt.

 Das Liebesmotiv in Traum, Film und Erinnerung Aufgrund der unsteten Arbeitsverhältnisse und der Planung der Bauunternehmer von Namma Metro gelangen die Arbeiter zumeist allein nach Bangalore. Zwar finden sich in den Kolonien ganze Gruppen von Männern aus denselben Dörfern, die zur Arbeitssuche aufgebrochen sind. Ihre Familien bleiben jedoch in den oft Tagesreisen entfernten Dörfern zurück. Die Regisseurin Yashaswini Raghunandan enttarnt diese Isolation, in der sich die meisten ihrer Protagonisten befinden, als Konsequenz eines effektiven Verwaltungssystems: The minute you bring a family one starts to evolve a certain sense of home. They don’t want that. They want them to be footloose to be in control of where to send them and when. How to govern the money. It’s a very thought out migration system.

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Die Abwesenheit von Frauen oder Familien drückt sich etwa in den Aufnahmen von Männern aus, die in ihren Hütten alltägliche Handgriffe wie das Zubereiten von Tee oder Malzeiten ausführen. Diese Darstellung der Übernahme dieser Handgriffe, die im traditionellen, dörflichen Rollenverständnis von Frauen ausgeführt werden, verstärken das Gefühl ihres Alleinseins. Alle Protagonisten werden isoliert dargestellt. Im Film werden kaum Interaktionen zwischen den Männern gezeigt. Statt des kollegialen Verhältnisses der Arbeiter werden, insbesondere in DISTANCE, deren individuelle Träume erzählt. Mittels fragmentarischer Filmdialoge und Filmmusik, die aus kleinen Kofferradios schallt oder von den Protagonisten gesungen wird, ebenso wie in der Bauarbeitersiedlung vorgefundenen Kreidezeihnungen einer Frau führen Raghunandan / Mittal das Liebesthema in ihren Film ein. In den Interviews berichten die Protagonisten von ihrem Sehnen und Träumen. Die dargebotenen Geschichten sind häufig verwoben mit Handlungen des

 149 Yashaswini Raghunandan im Gespräch am 03.09.2011 in Bangalore.

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populären indischen Kinos. So beschreibt ein Wanderarbeiter das Mädchen, das er begehrt, durch den Vergleich mit der Bollywood-Schauspielerin Raveena Tandon. Ein Anderer verweist, statt seine komplizierte und unglückliche Liebesgeschichte zu erzählen, auf einen Hindi-Film und übersetzt diesen dann erst auf seine eigene Situation: „Watch this film ‚Sirf tum‘ (Just you) and you’ll know my story. Watch it again if you don’t remember. And based on that you can imagine what all happened in my life.“150 Die indische Filmindustrie wird hier als Apparat zum Erzeugen von Träumen und Begehren beleuchtet. In deren Stilisierung können sich Zuschauer über die gesellschaftlichen Grenzen hinweg wiederfinden. Die Identifikation mit dem im Film formulierten Lebensgefühl erleichtert es den Protagonisten, Worte für ihre enttäuschten Gefühle zu finden. Von ihrem sozialen Umfeld und der realen Möglichkeit der Hochzeiten und Familiengründungen abgeschnitten, werden die Männer zu Zuschauern. In DISTANCE lauscht ein Protagonist einem von seinem Mobiltelefon abgespielten Filmdialog, der nach seiner Meinung seine schwierige emotionale Situation besonders gut widerspiegelt. Nachdem er sich vergewissert hat, dass diese auch läuft, wiederholt er den Dialog für die Kamera: „Okay, now I will say it. Have you started? Why did you come into my life? Why did you do that? Why did you make me like that? Why did you love me? And now you want to be with someone else? And Kajal says…“ Der junge Mann spielt mit dramatisch ausgestrecktem Arm die Szene und unterbricht sich lachend. Aus dem OFF ist das Gelächter der Filmemacherinnen zu hören. „This is how he says it.“151 Der Prozess des Identifizierens mit Film-Helden basiert auf den im Skript angelegten positiven Eigenschaften der Figur und ihres unverschuldeten Hineingeratens in dramatische Verstrickungen, was beim Zuschauer Mitgefühl auslöst und ihn dadurch bis zum Ende des Films am Schicksal der Filmfigur teilnehmen lässt. Dagegen beschreibt Stephen Lowry Identifikation als Prozess, der abhängig von den Wünschen und Bedürfnissen der Zuschauer ist, die auf die filmischen Charaktere übertragen werden: Über die Figuren und die erzählte Handlung als Relais werden die Zuschauer eingeladen, verschiedene partielle Identifikationen mit Figuren bzw. ihren Eigenschaften, Haltungen etc. einzugehen. [...] Dies passiert nicht automatisch, sondern ist davon abhängig, daß die

 150 DISTANCE, bei Minute 08:44. 151 Bei Minute 24:29.

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Identifikationsangebote schon existente Wünsche der Zuschauer und Zuschauerinnen ansprechen.

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So entnehmen die Protagonisten des BEHIND THE TIN SHEETS PROJECTS einerseits den Bollywood-Epen emotionale Anregungen und nutzen die Filme zur Interpretation ihrer Erlebnisse. Andererseits kommt den Geschichten im Kontext ihrer Erfahrung neue Bedeutung zu. Indem Raghunandan / Mittal in DISTANCE die einander durchlässigen Elemente vom Bollywood-Stereotyp der romantischen Liebe und den Tagträumen der Protagonisten zusammenbringen, öffnen sie ihre dokumentarische Erzählung. Mit den Referenzen zu romantischen Spielfilmsituationen verlässt der Film den nüchternen und faktischen Duktus des Dokumentarischen und begibt sich in einen Grenzbereich. DISTANCE repräsentiert wie die anderen Filme des BEHIND THE TIN SHEETS PROJECTS eine Männergesellschaft. In der zweiten Hälfte des Filmes jedoch führen Raghunandan / Mittal überraschend die Figur einer jungen Frau ein – nicht als Traumgestalt der Protagonisten, sondern als realen Charakter der jungen Ehefrau eines Wanderarbeiters. Im Interview erzählt sie die Begegnung mit ihrem Mann und ihre Hochzeit in der Arbeiterkolonie.153 Damit spitzen die Regisseurinnen das Liebesthema dramatisch zu und transportieren das Motiv von der romantischen Vorstellung in die soziale Wirklichkeit der Siedlung. Auch hier ist die Bebilderung der Beziehung sparsam: weder die Protagonistin noch ihr Ehemann sind während der freudigen Schilderung zu sehen. Ihre Beziehung wird durch die liebevollen Worte der Ehefrau skizziert, welche ihre Begegnung, ihre tägliche Routine und die lebendigen Bewegungen ihres Partners beschreibt. Träume und Geister  In ähnlichem Maße wie die Projektionen romantischer Liebe spielen auch die Träume und Geister-Erfahrungen der Protagonisten im BEHIND THE TIN SHEETS PROJEKT eine Rolle. Die Geister sind für die Protagonisten unfassbar und dennoch anwesend, und können als Überbleibsel ihrer dörflichen magischen Kultur in der urbanen Umgebung gelesen werden. Die nächtliche Begegnung eines Pro-

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Lowry, Stephen: Film – Wahrnehmung – Subjekt. Theorien des Filmzuschauers. In:

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Bei Minute 17:26.

montage/av. 1/1/1992, S. 125.

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tagonisten mit einer imaginierten Frau, die sowohl in DISTANCE als auch in IN_TRANSIENCE verwendet wird, verbindet das Motiv romantischen Sehnens mit den Geistererzählungen. „She came at night. Outside she was standing. I was in my room. The lights were on. She came in my dreams. Why did she come?“154 Weitschweifig erzählt der Mann davon, wie er das Mädchen sieht, seiner Wahrnehmung nicht traut, wie sie sich näherkommen und er schließlich allein zurückbleibt und aus seinem Traum aufwacht. Während das Bild vom Portrait des Protagonisten zur nächtlichen Metrolinie schneidet, grübelt der Mann, wie viel besser es wäre, wenn seine Frau bei ihm in Bangalore sei. „There are these very subtle layers of how you live, how you inhabit the presence.“155 kommentiert Yashaswini Raghunandan die Gedanken ihres Protagonisten. Die Geistergeschichten sind mit den Erinnerungen an das zurückgelassene Zuhause verbunden. In IN_TRANSIENCE erzählt ein auf dem nächtlichen Bahnsteig hockender Junge von der Begegnung mit einem Geist, den er im Dschungel nahe seines Dorfes erlebte.156 Mit solchen Geschichten ist er seit seiner Kindheit vertraut. Auch die Begegnung mit dem Geist erstaunt ihn wenig: „Who are they? Where are they? What are they? Here, people see them only in films. There, we see them for real.“157 Noch stärker bemächtigen sich die Geistergeschichten der Gegenwart in dem Bericht über einen Jungen, der von einem Zug überrollt wurde und nun seinen Kollegen Nacht für Nacht erscheint. 158 In deren plastischen Schilderungen schwingt die Furcht mit, von dem unversöhnten Geist eingeholt zu werden. Somit helfen die Geisterbegegnungen den Wanderarbeitern dabei, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Die Reflexion ihrer Situation verlagert sich in Mythen und Träume. „The boys ghost wants to say all of you go away from here. You are not going to get anything here.“159 So beendet der junge Arbeiter seinen Bericht. Mittels indirekter Schilderung werden die Emotionen der Wanderarbeiter evoziert. Hier verschaffen sich die sonst von den Filmemacherinnen ausgelassenen Men-

 154 DISTANCE bei Minute 02:43, IN_TRANSIENCE bei Minute 08:25. 155 Yashaswini Raghunandan im Gespräch am 03.09.2011 in Bangalore. 156 IN_TRANSIENCE, bei Minute 22:13. 157 IN_TRANSIENCE, bei Minute 23:46. 158 IN_TRANSIENCE, bei Minute 15:58. 159 IN_TRANSIENCE, bei Minute 17:15.

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schenrechtsfragen einen Ausdruck. Um die Rolle der Geistererzählungen in der Lebenswelt der Wanderarbeiter zu verstehen, verweisen die Regisseurinnen auf Avery Gordon: The ghost is not simply a dead or a missing person, but a social figure, and investigating [that social figure]…lead[s] to that dense site where history and subjectivity make social life…The way of the ghost is haunting, and haunting is a very particular way of knowing what has happened or is happening.

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Dieser von Gordon beschriebene Raum zwischen Geschichte und persönlichem Erleben bietet eine offene Lesart der dokumentierten Szene an. In weiteren Ausführungen betont Gordon den Prozess der unterbewussten Verarbeitung von sozialem Druck, der sich in den Geister-Erfahrungen abbildet: What’s distinctive about haunting as I used the term […] is that it is an animated state in which a repressed or unresolved social violence is making itself known, sometimes very 161

directly, sometimes more obliquely.

Im Gegensatz zu Iram Ghufrans THERE IS SOMETHING IN THE AIR unternimmt das BEHIND THE TIN SHEETS PROJECT nicht den Versuch, die Geister-Begegnungen zu illustrieren. Die Regisseurinnen nutzen die Geschichten über Geister als Elemente der alten Welt, in der ihre Protagonisten beheimatet sind, welche sie in die moderne Metropole transportieren. Dort verfolgen die Geister die Männer in ihre Träume. Erzählstruktur

 Die TIN SHEETS -Filme folgen keiner linearen Entwicklung. Raghunandan / Mittel verzichten darauf, ihre Szenen dramatisch zuzuspitzen oder im Verlauf der

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Gordon, Avery F. zitiert nach der Synopsis des Films PRESENCE in der Festivaldatenbank von Shehernama. A City / Film Festival, Mumbai 2014: http://sheharnama.wordpress.com/2014/01/19/presence/ Zugriff: 2014-03-05.

161

Gordon, Avery F.: ‚Who’s There?’: Some Answers to Questions About Ghostly Matters. Talk presented at UnitedNationsPlaza (Berlin) for Seminar 6: Who’s There? – An Interrogation In the Dark 2007 [Web].

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Filme unerwartete Fakten zu enthüllen. Vielmehr verfolgen sie eine mäandernde Narrationsstruktur. Die einzelnen Geschichten, welche die Bauarbeiter den Autorinnen anvertrauen, sind häufig weitschweifig und in ihrer Struktur den Oral Histories verwandt. Sie werden in den Film eingebunden, ohne im Schnitt wesentlich bereinigt oder pointiert zu sein. Als „threading between real and unreal and the fantasies of the workers“162 beschreiben die Filmemacherinnen selbst ihre dramaturgische Vorgehensweise. Wie bei Amit Duttas oder Iram Ghufrans Arbeiten bestimmen Erinnerungen und Träume die Logik, das Tempo und das Voranschreiten des Films. Das filmische Zeitkonzept ist nicht geradlinig. Vielmehr vermitteln die Filme des Tin-Sheets-Projekts den Eindruck eines Anhaltens und sich in die Tiefe der Zeit Versenkens.DieseKonstruktion von filmischer Zeit gemahnt an Amrit Gangars Idee des Cinema of Prayoga. In ihrer Zeitlosigkeit stellen sie einen Gegenentwurf zur raumzeitlichen Auffassung der dominanten Filmtraditionen in Indien her. Yashaswini Raghunandan beschreibt diese als eine Betonung der Gegenwart, in der die Arbeiter leben.163 Die Erinnerung als filmische Prämisse und strukturelles Ordnungsprinzip wird in der ersten Szene von IN_TRANSIENCE durch einen Protagonisten adressiert und eingeführt: „In life, nobody takes anything back with them. Altaf Raja sings: I won’t leave behind my pride, my crown or my song. I’ll leave behind my memories. That’s it. People leave behind memories.“164 Die in den Interviews wiedergegebenen Erinnerungen und Träume der Wanderarbeiter sind assoziativ aneinandergereiht. Während IN_TRANSIENCE mit einem Protagonisten endet, der versucht, zu erfassen, was Geister sind und woher sie kommen, bietet DISTANCE ein atmosphärisches Outro aus Bildern eines nächtlichen Bahnhofs, in dem Waggons mit Wasserschläuchen abgespritzt werden und Regen neben einer Straßenlaterne niederfällt. Diese Bilder von Leere, Reinigung und dem romantischen Filmmotiv des Regens bieten dem Zuschauer einen meditativen Raum über das Vorangegangene zu resümieren.

 162 Yashaswini Raghunandan im Gespräch am 03.09.2011 in Bangalore. 163 Vgl. Ebd. 164 Min. 04:28.

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Die Arbeit mit dem Archiv

 Die im Rahmen des BEHIND THE TIN SHEETS PROJECTS entstandenen Aufnahmen formen ein privates Archiv. Die Beiträge stammen ausschließlich von den beiden Filmemacherinnen und ihre Kamerafrau Paromita Dhar. Mit dem Tin-SheetsFootage legen sie eine beständig wachsende Materialsammlung an, welche die raschen und grundlegenden Veränderungen ihrer Heimatstadt Bangalore aufzeichnet. Kristallisationspunkt dieser Beobachtungen ist der Bau der Metro als eines der symbolträchtigsten Projekte dieser Modernisierung und der rasanten Ausdehnung des städtischen Lebensraums in periurbane Gebiete und HochhausArchitekturen. Der Impuls des Dokumentierens der Metropolisierung Bangalores, aber auch der Etablierung einer indischen Arbeitsmigrations-Gesellschaft ähnelt dem Motiv der salvatorischen Ethnologie, die angesichts rasanter Veränderungen Kulturen in Text und Bild festhielt, bevor diese untergingen. Die grundsätzliche Idee des Archivs ist eine Ähnliche, sie geht Jaques Derrida zufolge auf ein eben solches Bewusstsein der Endlichkeit der gegenwärtigen Zustände zurück: „There would indeed be no archive desire without the radical finitude, without the possibility of a forgetfulness which does not limit itself to repression.“165 Der Wandel der Stadt Bangalore wurde durch die digitale Industrie als neu etabliertem Wirtschaftszweig ausgelöst. Dieselbe digitale Entwicklung ermöglicht nun auch die private Aufzeichnung und Archivierung. Mittal / Raghunandans subjektives Archiv beinhaltet Videobilder des Vergänglichen aus der gewachsenen Stadt Bangalore, von Arbeiterbehausungen und Arbeiterträumen. Aus diesem Fundus formen sie die Erinnerung und Stadt-Geschichtsschreibung auf einer persönlichen und humanistischen Ebene. In ihrem Buch Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses beschreibt Aleida Assmann Archive als politische Orte, wo „nicht nur Dokumente aus der Vergangenheit aufbewahrt werden, sondern auch [...] Vergangenheit konstruiert und produziert werde.“166 Ihr zufolge prägen Archive

 165

Derrida, Jaques / Prenowitz, Eric: Archive Fever: A Freudian Impression. Dia-

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Vgl. Scholl, Joachim: Zu allen Zeiten hat der Mensch versucht, Dinge aufzuheben.

critics, Band 25, Nr. 2, 1995, S. 19. Aleida Assmann im Gespräch mit Joachim Scholl. DeutschlandRadio Kultur 200908-19 [Web].

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die zukünftige Geschichtsauffassung unserer Gegenwart und unser kulturelles Gedächtnis. Die Materialien, die in das Archiv einfließen, stellen somit eine ‚Flaschenpost in die Zukunft‘167 dar. Das kulturelle Gedächtnis als zentrales Element ihrer Theorien entsteht aus dem Archiv und dem Kanon, welcher die archivierten Fakten immer wieder in die Gegenwart holen. Zum diesem Kanon gehören Theaterstücke, Werke der Literatur, Filme oder auch Kunstwerke, welche die im Archiv festgeschriebenen Tatsachen reflektieren. Auch die filmischen Arbeiten von Ekta Mittal und Yashaswini Raghunandan rekontextualisieren archivisches Material – welches sie zuvor selbst angelegt haben. Das Archiv ist offen und unvollständig, weil die städtische Entwicklung sowie deren Dokumentation nicht abgeschlossen sind. Durch die Tatsache, dass verschiedene Materialien aus dem Fundus in mehreren Filmen wiederholt werden – das Interview eines Protagonisten, der seine erotische Begegnung mit einer Frau erträumt, Bilder von LKW-Fahrten zur Arbeit oder Baustellenansichten – wird die Bedeutung der einzelnen Teile erweitert. Die Archivaufnahmen gelangen durch die Intervention von Yashaswini Raghunandan und Ekta Mittal immer wieder in den Assmanschen Kanon. Die künstlerische Strategie der Materialsammlung und wiederholten Umstellung und Neuformung seiner Dokumente lässt eine offene Rezeption der städtischen und gesellschaftlichen Prozesse und des Selbstverständnisses der Arbeiter über einen längeren Zeitraum zu.

 167 Assmann, Aleida in: Ebd.

Fazit 

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Perspektive indischer Filmemacher und ihr Verhältnis zu der von ihnen abgebildeten Realität sich verschoben hat. Der Auftrags- und Deutungshoheit der staatlichen Films Division und deren anfänglichem dokumentarischen Ansatz, eine unbezweifelbare Realitätabzubilden, wurde in den 1970er Jahren durch den unabhängigen Dokumentarfilm alternative Wahrheiten als Gegenentwürfe gegenübergestellt. Daran war das Anliegen geknüpft, mit den Filmen zu einem gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Diese aktivistischen Dokumentarfilme stellen ohne Frage eine relevante lokalspezifische Spielform des Dokumentarischen dar. Sie sind von einer realistischen Ästhetik geprägt. Vielfach auftauchende Stilelemente sind etwa Gruppeninterviews oder das Spiel von Musikern, die nicht selten zugleich Protagonisten des Films sind, als Kommentar oder epische Pause im Erzählfluss. Gegenwärtig lässt sich eine Entwicklung hin zu dokumentarischen Filmformen beobachten, welche die Annahme von Wahrheit als solche hinterfragen und mehrere Sichtweisen und Deutungen auf ihr Thema zulassen. Dies geschieht zum Beispiel mit dem Mittel der Reflexion, wie anhand von Ranjan Palits essayistischen Dokumentarfilm IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN beschrieben. Darin tritt der Filmemacher aus der Diegese seiner im Verlauf von 25 Jahren gedrehten Dokumentarfilme heraus und hinerfragt die scheinbare filmische Objektivität, indem er seine technischen und gestalterischen Entscheidungen bei der Aufzeichnung der afilmischen Situation offenlegt. Damit offenbart er, dass auch andere Sichtweisen auf das repräsentierte Thema möglich gewesen wären. Weitere Mittel zur Erzeugung solcher Offenheit, die gegenwärtig im Kontext Indiens zu beobachten sind, sind die Andeutung, das Anlegen von Leerstellen

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durch rätselhafte oder mehrfach codierte Bilder, sowie das bewusste Nebeneinanderstellen konträrer Aufnahmen. Diese Vorgehensweise verfolgt etwa die Regisseurin Iram Ghufran in ihrer dokumentarischen Erzählung über Frauen, die von Dämonen heimgesucht werden. Die Geschichten der Protagonistinnen weichen von der herkömmlichen Realitätswahrnehmung stark ab. Die Regisseurin begibt sich folglich auf die Suche nach subjektiven Wahrheiten und bricht damit die Rationalität einer geschlossenen Erzählung auf. Als zentrales Motiv in der Beschreibung offener Erzählstrategien hat sich die filmische Arbeit mit dem Archiv herausgestellt, die drei der vier analysierten Filmbeispiele zugrunde liegt. Aus dieser Relation lässt sich kein prozentualer Anteil unter den mehrdeutig operierenden Filmen ableiten. Im Rahmen meiner Auseinandersetzung erwies sich diese postmoderne Strategie der Archivarbeit jedoch als fruchtbare Verknüpfung. Angesichts des steigenden Bedürfnisses indischer Künstler und Filmemacher, die fundamentalen Transformationen ihres räumlichen und sozialen Umfeldes aufzuzeichnen, sowie deren Offenheit, sich ihre Archive gegenseitig zugänglich zu machen, ist in diesem Feld mit verstärkten filmkünstlerischen Auseinandersetzungen zu rechnen. Diese werden auch für zukünftige filmwissenschaftliche Untersuchungen im Kontext Indiens lohnend sein. Es ist darauf hinzuweisen, dass nach wie vor auch eindeutig und geradlinig operierende Filme in Indien zu finden sind und sogar die Mehrheit der produzierten Dokumentarfilme ausmachen. Auch die Films Divison of the Government of India besteht als produzierende und distributierende Institution weiter. Sie richtet ein maßgebliches Filmfestival sowie verschiedene Filmreihen aus. Auf diese Weise beteiligt sie sich signifikant am aktuellen Dokumentarfilmdiskurs und unterstützt, wie die Einrichtung der FD-Zone als Podium künstlerischer Dokumentarfilme aus dem Films-Division-Archiv belegt, durchaus auch erzählerische Experimente. Die Tatsache, dass diese Veranstaltungen sowie eine zunehmende Zahl weiterer Dokumentarfilmfestivals existieren und sogar erste Dokumentarfilme in regulären Kinovorstellungen gezeigt werden, bestätigt die Annahme der verstärkten Wahrnehmung von Dokumentarfilmen in Indien und des Anwachsens seines Publikums. Damit ist auch ein wachsendes Verständnis für vielfältige Formen des Dokumentarfilms einschließlich offener und mehrdeutiger Formate verbunden. Die Ursachen für die Entwicklung von neuen ästhetischen und strukturellen Vorgehensweisen lassen sich nicht klar voneinander abtrennen. Die Entstehung

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eines eigenen postkolonialen Staates, die Globalisierung, der rasche Wandel der neuen Medien ab den 1990er Jahren sowie die Einbettung in internationale Entwicklungen, die für Film und Medien auch in anderen Ländern eine Rolle spielen, mögen auch die indischen Explorationen der dokumentarischen Form beeinflusst haben. Jedoch fällt es schwer, diese Einflüsse unmittelbar zurückzuverfolgen. In diesem Sinne lässt sich aus meiner Aufarbeitung keine eindeutige stilistische Tendenz des offenen dokumentarischen Erzählens in Indien erkennen, sondern vielmehr eine Vielfalt neuer individueller Künstler- und RegieHandschriften ablesen. Diese sind in ihrer Erzählform eigenständig, jedoch schlagen sich in ihnen die Elemente west-östlichen Dialogs und die Auseinandersetzung mit der indischen Kultur und Gesellschaft nieder.

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Unbekannter Autor: Indira macht arme Männer impotent. In: DER SPIEGEL 52/1976. 1976-12-20. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41119094. html. Zugriff 2014-03-16. Unbekannter Autor: MIFF-2014 for Documentaries ‚Will Bring Rich Experience’. In: The Hindu. 2013-11-25. http://www.thehindu.com/news/national/ miff2014-for-documentaries-will-bring-rich-experience/article5387986.ece. Zugriff 2013-11-26. Unbekannter Autor: Novel Vague. In: TimeOut Magazin Bangalore. 2011-11-05. http://www.timeoutbengaluru.net/search%3Fkeyword%3Diram-ghufran. Zugriff 2013-08-10. Unbekannter Autor: Revoke the Ban on Final Solution. http://www.Petition Online.com/FilmBan/petition.html. Zugriff 2013-12-05. Unbekannter Autor: Where do We Go When There’s Something in the Air Around Us? In: First City. May 2012. http://tisita.files.wordpress.com/2012/ 05/page-124-film-pager-marz.pdf. Zugriff 2013-08-10.



F ILMNACHWEIS 7 ISLANDS AND A METRO (IN 2006, R: Madhusree Dutta, Dokumentarfilm, 100 min). A NIGHT OF PROPHECY (IN 2002, R: Amar Kanwar, Dokumentarfilm, 77 min / Mehrkanalinstallation zur Dokumenta 11 in Kassel 2002, keine Längenangabe). ABAK JAYE HERE / THE MAGIC MYSTIC MARKETPLACE. A FILM ON KANAI DAS BAUL (IN 1996, R: Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 27 min). AND I MAKE SHORT FILMS (IN 1968, R: S.N.S. Shastry, Dokumentarfilm. 16 min). AND MILES TO GO (IN 1965, R: Singh Sandhu Sukdev, Dokumentarfilm, 14 min). APU TRILOGY (R: Satyajit Ray): PATHER PANCHALI (IN 1955, Spielfilm, 122 min) / APARAJITO (IN 1956, Spielfilm, 110 min) / APUR SANSAR (IN 1959, Spielfilm, 105 min). BABEL (UK/MX/ FR 2006, R: Alexandru Gonzales Iñárritu, Spielfilm, 143 min). BABULAL BHUIYA KI QURBANI / THE SACRIFICE OF BABULAL BHUIYA (IN 1989, R: Manjira Dutta, Dokumentarfilm, 63 / 70 min).

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BARE (IN 2006, R: Santana Issar, Dokumentarfilm, 11 min). BEFORE THE RAIN (MK/UK 1994, R: Milcho Manchevski, Spielfilm, 113 min). BLAU (FR/PL 1993, R: Krysztof Kieslowski, Spielfilm, 100 min). BOMBAY OUR CITY (IN 1985, R: Anand Patwardhan, Dokumentarfilm, 75 min). CALCUTTA (FR 1969, R: Louis Malle, Dokumentarfilm, 105 min). CELLULOID MAN. (IN 2012, R: Shivendra Singh Dungarpur, Dokumentarfilm, 150 min). CHELOVEK S KINO APPARATOM / DER MANN MIT DER KAMERA (UDSSR 1928, R: Dziga Vertov, Dokumentarfilm, 58 min) CHITRAPAT KASE TAYA KARTAT / HOW FILMS ARE MADE (IN 1917, R: Dadarsahib Phalke, Dokumentarfilm, unbekannte Länge). DE GROTE VAKANTIE / LONG HOLIDAY (NL 2000, R: Johan van der Keuken, Dokumentarfilm, 145 min). DISTANCE (IN 2013, R: Yashaswini Raghunandan / Ekta Mittal, Dokumentarfilm, 38 min). DREAMING LHASA. (IN / UK 2005, R: Ritu Sarin / Tenzing Sonam, Spielfilm. 90 min). DRUGS AND PRAYERS (DE 2009, R: Helene Basu, Dokumentarfilm, 55 min). EYE OF AN I (IN 2009, R: Chaoba Thiyam, Experimenteller Dokumentarfilm, 15 min). EXILE FAMILY MOVIE (AT 2006, R: Arash T. Rihari, Dokumentarfilm, 93 min). EXPLORER. (IN 1968, R: Pramod Pathi, Experimenteller Dokumentarfilm, 7 min). FINAL SOLUTION (IN 2003, R: Rakesh Sharma, Dokumentarfilm, 218 min). FLOOD OF MEMORY (UK/IN 2008, R: Anitha Balachandran, Animierter Dokumentarfilm, 11 min). FOLLOW THE RAINBOW (IN 1991, R: Vasudha Joshi / Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 52 min). FOR MAYA (IN 1997, R: Vasudha Joshi, Dokumentarfilm, 38 min). FREEDOM (IN 2000, R: Amar Kanwar, Dokumentarfilm, 58 min). GULABI GANG (IN/NOR/DK 2012R: Nishtha Jain, Dokumentarfilm, 94 min). HAD ANHAD. JOURNEYS WITH RAM AND KABIR / BOUNDED - BOUNDLESS (IN 2008, R: Shabnam Virmani, Dokumentarfilm, 103 min). HE RAM (IN 2005, R: Anitha Balachandran, Animierter Dokumentarfilm, 5 min). HOME STORIES (D 1990, R: Matthias Müller, Experimentalfilm, 6 min).

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I AM THE VERY BEAUTIFUL (IN 2006, R: Shyamlal Karmakar, Dokumentarfilm, 65 min). I FOR INDIA (UK/IT/GER 2005, R: Sandhya Suri, Dokumentarfilm, 70 Minuten ). IN CAMERA. DIARIES OF A DOCUMENTARY CAMERAMAN (IN 2009, R: Ranjan Palit, Dokumentarfilm, 79 min). IN_TRANSIENCE (IN 2011, R: Yashaswini Raghunandan / Ekta Mittal, Dokumentarfilm, 24 min) INDIA SENZA MITI / INDIA 57 (IT 1959, R: ROBERTO Rossellini, Dokumentarfilm, keine Längenangabe). JASHN-E-AZADI / HOW WE CELEBRATE FREEDOM (IN 2007, R: Sanjay Kak, Dokumentarfilm, 133 min). KABIRA KHADA BAZAAR MEIN / JOURNEYS WITH SACRED AND SECULAR KABIR. (IN 2008, R: Virmani, Shabnam: Dokumentarfilm, 94 min). KAMALABAI (IN 1991, R: Reena Mohan, Dokumentarfilm, 46 min). KRAMASHA (IN 2007, R: Amit Dutta, Experimentalfilm, 22 min). KSHA TRA GYA (IN 2004, R: Amit Dutta, Experimentalfilm, 22 min). L’INDE FANTÔME: REFLEXIONS SUR UN VOYAGE / PHANTOM INDIA (FR 1968-69, R: Louis Malle, BBC-Dokumentar-Serie, 7 Folgen, Gesamtlänge 378 min). LAKSHMI AND ME (IN 2008, R: Nishtha Jain, Dokumentarfilm, 59 min). LE FLEUVE / THE RIVER (FR/IN/USA 1951, R: Jean Renoir, Spielfilm, 99 min). LES MAÎTRES FOUS / THE MAD MASTERS (FR 1955, R: Jean Rouch, Dokumentarfilm, 36 min). MA PA (IN 2005, R: Amit Dutta, Experimentalfilm, 10 min). MAHUA MEMORIES (IN 2007, R: Vinod Raja, Dokumentarfilm, 82 min). NANOOK OF THE NORTH (USA 1922, R: John Grierson, Dokumentarfilm, 79 min). NINE MONTHS TO FREEFOM (IN 1975, R: S. Sukdev, Dokumentarfilm, 66 min). NUIT ET BROUILLARD / NACHT UND NEBEL (FR 1955, R: Alain Resnais, Dokumentarfilm, 32 min). ONE DAY AFTER THE HARVEST (IN 1973, R: Anand Patwardhan, Dokumentarfilm, keine Längenangabe). PRABHAT PHERI / JOURNEY WITH PRABHAT (IN 2014, R: Jessica Sadana, Sarnat Dixit, Dokumentarfilm, 89 min). PRESENCE. (IN 2012, R: Yashaswini Raghunandan / Ekta Mittal, Dokumentarfilm, 18 min). PRIMARY (USA 1960, R: Robert Drew, Dokumentarfilm, 60 min). PURNA VIRAMA (IN 2009, R: Ujjwal Uttkarsh, Dokumentarfilm, 12 min).

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RABINDRANATH TAGORE (IN 1961, R: Satyajit Ray Dokumentarfilm, 54 min). RADHA AND KRISHNA (IN 1959, R: Jehangir Bhownagari, Dokumentarfilm, 22 min). RAJA HARISHCHANDRA (IN 1913, R: Dadarsahib Phalke, mythologischer Film, 40 min). RASHOMON (JP 1950, R: Akira Kurosawa, Spielfilm, 88 min). SIKKIM (IN 1981, R: Satyajit Ray Dokumentarfilm, 55 min). SIX, FIVE, FOUR, THREE, TWO / FAMILY PLANNING (IN 1967, R: Pramod Pathi, Experimenteller Dokumentarfilm, 5 min). SNAPSHOTS FROM A FAMILY ALBUM (IN 2004, R: Avijit Mukul Kishore, Dokumentarfilm, 63 min). STALKER (SU 1979, R; Andrej Tarkovski, Spielfilm, 163 min). STRAIGHT 8 (IN 2005, R: Ayisha Abraham, Dokumentarfilm, 17 min). THE BEET HE BEAR AND THE KURUBA (IN 2001, R: Vinod Raja, Dokumentarfilm, 66 min). THE GREAT INDIAN SCHOOL SHOW (IN 2005, R: Avinash Deshpande, Dokumentarfilm, 45 min). THE LIGHTNING TESTIMONIES (IN 2007, R: Amar Kanwar, Dokumentarfilm, 113 min / 8-Kanal-Installation auf der Documenta 12, 2007, 33 min). THE MUSEUM OF IMAGINATION – A PORTRAIT IN ABSCENTIA (IN 2012, R: Amit Dutta, Dokumentarfilm, 30 min). THE RAT RACE (IN 2012, R: Miriam Chandy Menacherry, Dokumentarfilm, 52 min). THERE IS SOMETHING IN THE AIR. (IN 2011, R: Iram Ghufran, Dokumentarfilm, 26 min). THESE OLD FRAMES (IN 2008, R: Tahireh Lal, Dokumentarfilm, 15 min). VERTICAL CITY (IN 2011, R: Avijit Mukul Kishore, Dokumentarfilm, 34 min). VIVAADADA BAGGE SAMVAADA / INTERACTIVE DIALOGUE ON GENDER (IN 2009, R: Mothes, Ulrike / Kumar, Arun - in Zusammenarbeit mit Tariq Thekaran, Roanna Rahman, Narayanan Poomulli, Arvind Philipose, Pooja Madhavan, Sahil Sen, Radha Mahendru, Prerna Gupta, Interaktiver Dokumentarfilm, 54 min). VOICES FROM BALIAPAL (IN 1988, R: Ranjan Palit, Vasudha Joshi, Dokumentarfilm, 40 min). WAR AND PEACE (IN 2003, R: Anand Patwardhan Dokumentarfilm, 135 min).

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WHEN HARI GOT MARRIED (IN/UK/USA 2012, R: Ritu Sarin / Tenzing Sonam, Dokumentarfilm. 75 min) . YOU ARE HERE (IN 2008, R: Ayisha Abraham, Experimenteller Kurzfilm, 7 min). ZAMEER KE BANDI / PRISONERS OF CONSCIENCE (IN 1978, R: Anand Patwardhan, Dokumentarfilm, 45 min).



Danksagungen

Mein Dank gilt meinen beiden Mentoren Prof. Herbert Wentscher und Prof. Dr. Timo Skrandies, die mich bei der Entwicklung des vorliegenden Textes sowie bei der Konzeption und Realisation meines künstlerischen Teils dieser Doktorarbeit, dem Dokumentarfilm Women‫ތ‬s Police Station unterstützt haben. Für die finanzielle Unterstützung dieser Arbeit danke ich der Graduiertenförderung des Freistaats Thüringen und der Bauhaus Research School für die Gewährung eines Graduiertenstipendiums, sowie dem Kreativfonds und dem Frauenförderfonds der Bauhaus-Universität Weimar für die Unterstützung der Postproduktion meines Dokumentarfilms als dem gestalterischen Anteil der Ph.D.-Arbeit. Die Drucklegung der vorliegenden Publikation wurde durch Mittel der BauhausUniversität maßgeblich unterstützt. Dafür spreche ich Prof. Herbert Wentscher meinen besonderen Dank aus. Ferner danke ich für ihre Beratungen und die ausführlichen Diskussionen meiner Forschungsfragen und Texte Prof. Dr. Kerstin Stutterheim und Prof. Dr. Nadja-Christina Schneider, sowie Dr. Geetha Narayanan für ihre Unterstützung meiner Forschung während meiner Tätigkeit an der Srishti School of Art, Design and Technology. Ayisha Abraham danke ich für entscheidende Impulse während meiner Konzeptfindung, Gargi Sen und den Mitarbeitern der Magic Lantern Foundation in New Delhi für die freundliche Gelegenheit der Recherche in ihrem Dokumentarfilm-Archiv und die Gespräche über die Zukunft des indischen Dokumentarfilms und seiner Vertriebsmöglichkeiten. Ich danke dem Büro der Films Division Mumbai für Gespräche und die freundliche Unterstützung mit Literatur, Ömer Alkin und Alena Strohmeyer für die intensive Debatte postkolonialer Theorien im Bezug auf Film; dem Filmkollektiv Pedestrian Pictures in Bangalore und Giulia Battaglia, Shai Heridia, Ran-

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jan Palit, Michael Joseph, Avijit Mukul Kishore, Vipin Vijay, Nishtha Jain, Surabhi Sharma, Smriti Mehra, Soudhamini Iyer, Joanna Griffin, Dilip Sampath, Anitha Balachandran, Vijay Kumar Sethappa, Ekta Mittal, Yashaswini Raghunandan, Ujjwal Utkarsh, Nancy Brand, Stefanie Dresch, Dr. Christina Junghanß, den Kollegen und meinen Studenten an der Srishti-School of Art, Design and Technology für ihre Anregungen und Hinweise. Ich danke Carolin Bierschenk vom Transcript Verlag für die fachkundige Betreuung meiner Publikation und schließlich danke ich meiner Familie, die mich während der gesamten Bearbeitungszeit ermutigt und unterstützt hat.

Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.) Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3046-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0

Ramón Reichert (Hg.) Big Data Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie 2014, 496 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2592-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2592-3 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2592-3

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Medienwissenschaft Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2983-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

Beate Ochsner, Robert Stock (Hg.) senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens

September 2016, 448 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3064-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3064-4

Pablo Abend, Mathias Fuchs, Ramón Reichert, Annika Richterich, Karin Wenz (eds.) Digital Culture & Society Vol. 2, Issue 1/2016 – Quantified Selves and Statistical Bodies März 2016, 196 p., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3210-1 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3210-5

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