Objektivität im Journalismus. Mit Beiträgen von Ulrich Saxer, Philomen Schönhagen und Detlef Schröter [1. ed.] 9783832964184


108 0 2MB

German Pages 356 [355] Year 2012

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Objektivität im Journalismus. Mit Beiträgen von Ulrich Saxer, Philomen Schönhagen und Detlef Schröter [1. ed.]
 9783832964184

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Reihe ex libris kommunikation

Klassische Texte über Medien und Kommunikation Begründet von Detlef Schröter und Hans Wagner Herausgegeben von Hans Wagner Neue Folge – Band 10

Hans Wagner [Hrsg.]

Objektivität im Journalismus Mit Beiträgen von Ulrich Saxer, Philomen Schönhagen und Detlef Schröter

ex libris kommunikation

Die Reihe „ex libris kommunikation“ wird gefördert durch den Verleger des Donaukurier, Inglostadt, Georg Schäff. © Titelbild: Hans Wagner

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8329-6418-4

1. Auflage 2012 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2012. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Zur neuen Folge ›ex libris kommunikation‹ Vorwort des Herausgebers Nach einer langjährigen Pause wird mit diesem Band über die »Objektivität im Journalismus« die Reihe ex libris kommunikation in einer neuen Folge fortgesetzt. Aber es hat sich seither eine Menge verändert. Detlef Schröter, mit dem ich vor mehr als 20 Jahren die Reihe begründet und herausgegeben habe, ist zu meinem Bedauern berufsbedingt als Mitherausgeber ausgeschieden. Ihm hat die Reihe und habe ich persönlich viel zu verdanken und ihm daher auch an dieser Stelle zu danken. Ohne seine Ideen, ohne sein Organisationstalent und vor allem ohne seinen unerschütterlichen Optimismus gäbe es diese Reihe nicht. Und es gäbe sie auch nicht, wenn nicht der Münchener Fachverleger Reinhard Fischer den Mut gehabt hätte, mit dieser Reihe Titel aufzulegen, von denen von vornherein abzusehen war, dass sie keine Bestseller werden würden. Auch ihm gebührt dafür ein herzlicher Dank. Gewinne hat ihm die Reihe nicht eingefahren, aber auf jeden Fall Ansehen und Renommee in Fachkreisen und bei Fachbibliotheken. Das ist das ›Kapital‹, das die Reihe ex libris kommunikation einbringen kann, wenn sie nun mit der neuen Folge auch in einem neuen Verlag erscheint. Das äußere Erscheinungsbild wurde wie das Layout einem Relaunch unterzogen. Attraktiver und ansehnlicher sollten die Bände werden und lesefreundlich bleiben. Für die guten Gespräche sowie für das Engagement bei der Vorbereitung der Reihe verdienen alle beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Nomos-Verlags Anerkennung und Dank. Unverändert blieb bei all dem die Konzeption der Reihe. Sie will eine kleine Fachbibliothek unterschiedlicher Standpunkte und mit besonderen Akzenten bieten; Nachdrucke, Neuausgaben, aber auch Erstpublikationen in loser Folge präsentieren; Klassiker und

Nonkonformisten gleichermaßen zu Wort kommen lassen, wenn sie etwas zu sagen haben. So haben wir es bisher gehalten. Darum bemühen wir uns weiterhin. Das Hauptaugenmerk gilt dabei der Theoriegeschichte zur Sozialen Kommunikation und zum Journalismus. Dies war vor 20 Jahren die impulsgebende Idee. Sie entstand aus dem Erstaunen, was da auf dem kommunikationsfachlichen Büchermarkt so alles an ›Neuheiten‹ angeboten wurde, in Wirklichkeit aber keine Neuheit war. Man konnte den Anspruch nur erheben, weil in der Lehre wie in der Forschung Theoriegeschichte vergessen war oder ausgeblendet wurde. Deshalb wählten wir damals den Leitsatz für diese Reihe: Oft steht das Neueste in alten Büchern! Oder um es mit Arno Schmidt zu sagen, der in »Zettels Traum« schrieb: »Wenn ein neues Buch erscheint, lies du ein altes!« Auch ein Wunsch für diese Reihe! Die schönsten Ideen sind wenig wert, wenn sie sich nicht verkörpern lassen. Das gilt auch und erst recht für Bücher. Und daher schulde ich einen ganz besonderen Dank dem Verleger des Donaukurier in Ingolstadt, Georg Schäff, der durch seine großzügige Unterstützung die Fortführung der Reihe ex libris kommunikation erst möglich gemacht hat. Aus Gesprächen mit ihm weiß ich, wie sehr ihm an einem Qualitätsjournalismus liegt, der sich an den Regeln der Unparteilichkeit orientiert. Daher ist dieser erste Band der neuen Folge gewissermaßen auch eine Hommage für ihn. Schließlich danke ich den drei Autoren, die uns für diesen Band ihre Beiträge sowie die Nach- oder Abdruckrechte ohne Zögern und ohne Ansprüche überlassen haben. München, im September 2012 Hans Wagner

Inhalt

Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Ulrich Saxer Die Objektivität publizistischer Information . . . . . . . . . . . . . 11 1. Die Diskussion um die publizistische Objektivität . . . . . . . 12 (1.1) Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 (1.2) Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Politisch relevante Dimensionen publizistischer Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 (2.1) Funktionsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 (2.2) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Publizistische Objektivität als Sicherung demokratischer Information . . . . . . . . . . . . 27 (3.1) Normativer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 (3.2) Systemgerechte Garantierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4. Publizistische Objektivität als dynamische Gesamtkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 (4.1) Systematische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 (4.2) Systematische Gefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5. Die praktische Verwirklichung publizistischer Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 (5.1) Objektive publizistische Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . 54 (5.2) Reduktive und additive Objektivität . . . . . . . . . . . . . 60

–8–

inhalt

Philomen Schönhagen

Zur Tradition der Unparteilichkeitsnorm im deutschen Journalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Historische Befunde: Die Unparteilichkeitsnorm und die Handwerksregeln . . . ›Unvergreiflich‹ und ›ohne passion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Ohnparteyische‹ Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »... damit jeder sich sein Urteil bilden könne « . . . . . . . . . »... ein treuer Spiegel«: Cottas ›Allgemeine Zeitung‹ . . . . .

69 72 75 83 89

2. Die zeitgenössische ›Fachdebatte‹: »... muß ein Zeitunger unparteyisch seyn« . . . . . . . . . . . . . 93 »Die einlaufende Zeitungen sind zu prüfen« . . . . . . . . . . . 96 ›Relata refero‹ und Quellentransparenz . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Fazit: Unterschätzte ›Kärrner-Arbeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4. Heimatzeitungen: Orientierung an der Unparteilichkeitsnorm . . . . . . . . . . 105 5. Zeitungswissenschaftliche Diskussion der Unparteilichkeitsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Audiatur et altera pars‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trennung von Nachricht und Kommentar . . . . . . . . . . . . Quellentransparenz und Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . Getreue Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Journalistisches Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109 109 114 117 121 127

6. Erfolg und Ethos: Motive journalistischer Unparteilichkeit . . . . . . . . . . . . . 129

objektivität im journalismus

–9–

Detlef Schröter

Mitteilungs-Adäquanz Studien zum Fundament eines realitätsgerechten journalistischen Handelns . . . . . . . . . . . 139 1. Trennung von Mitteilung und Vermittlung . . . . . . . . . . . 139 2. Spannungsfeld ›Objektivität‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. ›Realitätsgerechte‹ Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4. Dimensionen der Mitteilungs-Adäquanz . . . . . . . . . . . . . Der Kommunikationskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vermittlungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Identität der Ausgangspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Adäquanz von Mitteilung und Vermittlung . . . . . . . Mitteilungen ›Dritter‹ und Vermittler-Wertung . . . . . . .

158 160 162 166 169 172

Hans Wagner Das Fach-Stichwort:

Objektivität im Journalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Die Objektivitätsszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objektivität: Positionen und Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitteilungs-Adäquanz: Objektivität wird überprüfbar . Unparteilichkeit: das Ende der Legenden . . . . . . . . . . . .

177 179 183 187

2. Die Objektivitätsabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwehrformeln aus der publizistischen Praxis . . . . . . . . Journalismus als Meinungslenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Zertifikate: Objektivität gibt es nicht Objektivität als Zubehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

196 197 202 204 209

– 10 –

inhalt

3. Der Objektivitätsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das publizistische Dispositiv: Objektivität deplatziert . . Objektivität: konstitutiv für vermittelte Mitteilung . . . . Analyse der Vermittlung: die Neutralität der Mitte . . . . Die Typen ›Journalist‹ und ›Publizist‹ und das Unparteilichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . Komplementäre Rollen, sozial notwendige Funktionen Das Metaprinzip der Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenbilanz: Objektivität und Professionalität . . . . . Unterschiede die einen Unterschied für das Objektivitätsgebot machen . . . . . . . . . . . . . . .

213 214 220 224 228 232 237 238 242

4. Die Objektivitätsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Untaugliches Surrogat: Pluralität der Parteibücher . . . . 247 Additive Objektivität: die Summe aller Kommentare . . 250 Die reduktive Objektivität und ihre Bewährungsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Unparteilichkeit: die Objektivität im Journalismus . . . . 259 Sinntreue: die Wahrheit des ›Journalisten‹ . . . . . . . . . . . 267 Das Problem: Sinnüberlagerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Der oberflächliche Vorwurf der Oberflächlichkeit . . . . . 290 Vom Preis der sozialen Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Realität und Wahrheit: an Kommunikation gebunden . . 315 5. Die Objektivitätsgewinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Journalistische Reputation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Journalistischer Orientierungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . Journalistische Kulturleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autoren

334 335 342 345

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Ulrich Saxer

Die Objektivität publizistischer Information1

Mit der Selbstgefälligkeit des Siegers und gewillt, es unter allen Umständen zu bleiben, tat Hermann Göring im Frühjahr 1933 kund: »Ich danke meinem Schöpfer, dass ich nicht weiß, was objektiv ist.« Um so besser weiß es dagegen offenbar der schwedische Politologe Jörgen Westerståhl, der des Marschalls Dankgebet ironisch einer Studie über die Meßbarkeit publizistischer Objektivität voranstellt.2 Meßbar sollte diese Qualität journalistischer Arbeit in der Tat auch sein, wird sie doch von den publizistischen Codices und Regulativen demokratischer Gesellschaften in den verschiedensten Formulierungen immer wieder gefordert, so etwa von den Richtlinien der Schweizerischen Radiound Fernsehgesellschaft für Informationssendungen: »Die SRG hat die Aufgabe, das Publikum so klar, so rasch, vollständig, objektiv und unparteiisch wie möglich zu informieren. Die Objektivität bildet das oberste Ziel der Informationstätigkeit.«3 Dass Journalisten aufgrund der Nichterfüllung dieser Forderung entlassen oder gar prozessual belangt werden können, hindert indes die für das einschlägige Stichwort verantwortlichen Publizistikwissenschaftler im ›Wörterbuch zur Publizistik‹ nicht, die Mög1

Der hier abgedruckte Beitrag wurde als Originalbeitrag zu dem Sammelband »Zur Theorie der politischen Kommunikation«, hrsg. von Wolfgang R. Langenbucher, München 1974, geschrieben. Das Manuskript wurde im September 1973 abgeschlossen.

2

Jörgen Westerståhl: Objectivity is measurable. In: EBU Review, 121 B (May 1970), S. 13 f.

3

Richtlinien der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft für die Informationssendungen an Radio und Fernsehen, vom 13. 09. 1968, S. 2.

– 12 –

ulrich saxer

lichkeit publizistischer Objektivität überhaupt zu bestreiten: »Da die öffentliche Kommunikation stets von den Gefühlen und Haltungen der Berichtenden abhängt, ist Objektivität im Bereich der Publizistik ausgeschlossen.«4 Fürwahr eine sonderbare Situation! 1. Die Diskussion um die publizistische Objektivität Selbst wenn es keine publizistische Objektivität geben sollte, so gibt es wenigstens das entsprechende Postulat, auch entsprechende journalistische Bemühungen und zumindest eine mehr oder weniger heftige diesbezügliche Diskussion. Unterschiede zwischen Politik- und Kommunikationswissenschaft wirken sich in dieser ebenso aus wie politische Unvereinbarkeiten bzw. der Gegensatz von Norm und Wirklichkeit, von Theoretikern und Praktikern. Die Frage nach der publizistischen Objektivität ist daher zuerst als wissenssoziologische zu durchdringen, bevor sie im Zusammenhang mit der politischen Kommunikation beantwortet werden kann. Insbesondere verlangt auch die Heftigkeit, mit der plötzlich im Zuge einer scharfen Re-Ideologisierung das Objektivitätspostulat in der Bundesrepublik vielfach verworfen wird, solch vorgängige Klärung. (1.1) Auffassungen Vier Auffassungen fallen dabei in der internationalen Diskussion um das Objektivitätsprinzip sogleich auf: zwei positive, eine ambivalente und eine negative.5 In idealtypischer Überpointierung lassen sie sich folgendermaßen umreißen: 4

Kurt Koszyk / Karl Hugo Pruys (Hrsg.): Wörterbuch zur Publizistik. München 1969, S. 263.

5

Zum Folgenden auch Ulrich Saxer: Zum Stichwort »Objektivität«. In: ders. (Hrsg.): Fernsehen: Stichwort Objektivität, Pressestelle des Fernsehens der deutschen und rätoromanischen Schweiz, 1973, S. 7-17.

objektivität publizistischer information

– 13 –

1. Wünschbarkeit und Möglichkeit publizistischer Objektivität werden vorbehaltlos bejaht. Das Objektivitätspostulat wird mit andern Worten überhaupt noch nicht problematisiert; meist bewahrt man darum auch den alten Diskussionszusammenhang von publizistischer Objektivität und Wahrheit und verfolgt den heute gängigen Bezug zur Manipulationsthematik kaum.6 2. Wünschbarkeit und Realisierbarkeit publizistischer Objektivität werden kritisch bejaht, das heißt, publizistische Objektivität wird weder als Endwert verabsolutiert noch ihre Verwirklichung im Sinne irgendwelcher absoluter Forderungen für möglich gehalten. Das Objektivitätspostulat wird vielmehr als eine freilich entscheidende Kommunikationsvoraussetzung zur Verwirklichung bzw. Erhaltung einer parlamentarischen Demokratie und als immerhin grundsätzlich praktikable Berufsnorm verstanden. 3. Die Wünschbarkeit publizistischer Objektivität wird zwar prinzipiell anerkannt, ihre Verwirklichungsmöglichkeit aber bestritten oder zumindest bezweifelt. Argumentation und Zielbestimmung verschieben sich daher in Richtung erheblich relativistischerer Vorstellungen von »additiver« Objektivität; an die Stelle von »Wirklichkeitsentsprechung« treten derart abgeschwächte Forderungen wie diejenige nach »Sachlichkeit« oder »pluralistischer Meinungsrepräsentation«. 4. Wünschbarkeit wie Möglichkeit publizistischer Objektivität werden entschieden verneint, und zwar verwirft man das Objektivitätspostulat als Hindernis irgendwelcher idealer Gesellschafts6

In diese Diskussionstradition stellt sich zum Beispiel – wie schon der Titel seiner Habilitationsschrift »Wahrheit und Objektivität in der Information« (Bern 1951) verrät – der schweizerische Zeitungswissenschafter Siegfried Frey. Gerade er beweist aber, dass der Wahrheitsbezug allein, wenn nicht verabsolutiert, keineswegs zwangsläufig zu Auffassung 1 – oder auch 4 – führt und zumindest ebenso fruchtbare Einsichten in die Objektivitätsproblematik erbringen kann wie der Manipulationsaspekt.

– 14 –

ulrich saxer

zustände, gegenwärtiger oder künftiger, und bestreitet auch aufgrund philosophischer, politischer und publizistischer Erwägungen und insbesondere mit dem Einwand, es handle sich beim Objektivitätsprinzip um eine bloße ideologische Fiktion, seine Praktizierbarkeit. (1.2) Positionen Gemäß wissenssoziologischem Verfahren ist nun zu ermitteln, von welchen gesellschaftlichen Positionen aus diese unterschiedlichen Auffassungen vertreten werden. Der 1. Standpunkt findet sich weniger in den erwähnten Codices oder Regulativen als in Momenten publizistischer Selbstglorifizierung bzw. Selbstverteidigung. Während diese Richtlinien ja immerhin vielfach auch Wegleitungen bezüglich einer anscheinend doch nicht unproblematischen Berufsanforderung enthalten, dominiert bei solchen Anlässen publizistischer Selbstdarstellung die Strategie der Verharmlosung, wenn nicht Leugnung, der ganzen Problematik. Dabei kann vielfach auch mit entsprechend naiver Glaubensbereitschaft gerechnet werden. Auffassung 1 erfüllt also für Position 1 unverkennbar Legitimierungs- bzw. Alibifunktionen. Solches lässt sich allerdings für jegliches Postulat publizistischer Ethik nachweisen;7 insofern müssen somit trotzdem auch die einschlägigen publizistischen Codices und Regulative hier berücksichtigt werden. Im übrigen wird dieser 1. Standpunkt heute praktisch nur noch vorwissenschaftlich eingenommen. Auffassung 2 scheint für Politologen und Juristen charakteristischer zu sein als für Publizistik- bzw. Kommunikationswissen-

7

Vgl. Ulrich Saxer: Publizistische Ethik und gesellschaftliche Realität. In: Communicatio Socialis, 3. Jg. (1970), Heft 1, S. 24 ff.

objektivität publizistischer information

– 15 –

schafter,8 während die Hauptmacht der qualifizierten journalistischen Praktiker demokratischer Gesellschaften sich ungefähr hälftig je zu Standpunkt 2 bzw. 3 bekennen dürfte. Gesamthaft bildet hier wohl die respektive Nähe zur publizistischen Praxis das wichtigste Differenzierungskriterium. Die Spannung zwischen der Norm und ihrer Verwirklichung ist mit andern Worten für die Objektivitätsproblematik dermaßen elementar, dass sie selbst nur eine heterogene Gruppe kritischer Befürworter publizistischer Objektivität zulässt, mit der Konsequenz weiterer entsprechender Problematisierung derselben natürlich. Es ist ferner zu vermuten, dass die der Auffassung 2 zuneigenden publizistischen Praktiker ihre Berufsrolle häufiger als diejenige von Mediatoren, von gesamtgesellschaftlich verantwortlichen Vermittlern interpretieren denn als Gruppen- oder Individualinteressen artikulierende Kommunikatoren. Standpunkt 3 dürfte gegenwärtig von der Mehrheit empirisch ausgerichteter Publizistikwissenschafter eingenommen werden, ebenso von der Überzahl der politisch engagierten Journalisten. Allerdings orientieren sich die gegen die Realisierungsmöglichkeit der Objektivitätsnorm vorgebrachten Argumente vornehmlich an absoluten erkenntnistheoretischen Idealen bzw. an der Subjektivität des einzelnen Publizisten. Es fragt sich daher, ob auf diese Weise der für die politische Problematik publizistischer Objektivität wesentliche praktisch-systematische Zusammenhang nicht überhaupt verfehlt werde.9 Eine gewisse Praxisferne zumal der deutschen Wissenschaft von der Publizistik ist ja hinreichend

8

Zum Beispiel Rudolf Wildenmann / Werner Kaltefleiter: Funktionen der Massenmedien. Frankfurt a. M./Bonn 1965; Franz Riklin: Juristische Aspekte der Objektivitätsproblematik. In: Saxer, Objektivität, (Fn 5), S. 37-46.

9

John C. Merrill / Ralph L. Lowenstein: Media, Messages, and Men. New Perspectives in Communication. New York 1971, S. 228-235.

– 16 –

ulrich saxer

belegt und erweist sich gerade in ihrer gesamthaft sehr dürftigen Aufarbeitung der Objektivitätsproblematik aufs neue.10 Umfassendere, d. h. den systematischen Gesamtzusammenhang der publizistischen Produktion berücksichtigende internationale Untersuchungen bringen denn auch ungleich gewichtigere, nämlich systemimmanente Gefährdungsmechanismen der publizistischen Objektivität zum Vorschein.11 Was endlich die hier eingereihten Journalisten betrifft, so ist eine dissonanzfreie publizistische Tätigkeit von Mitarbeitern großer Nachrichtenagenturen oder bei Monopolmedien von der Art des deutschen und schweizerischen Radios und Fernsehens bei dieser Einstellung gegenüber der Objektivitätsverpflichtung schwer vorstellbar. Jedenfalls fungiert die These von der Impraktikabilität der Objektivitätsnorm de facto sehr oft als Gegenideologie zu den in den Regulativen niedergelegten Beschneidungen gruppenhafter oder individueller publizistischer Subjektivität.12

10

Heinz Bäuerlein: Die Problematik der Objektivität in der Presse-Berichterstattung. Diss. München 1956. Bäuerleins einleitende Feststellung: »Mit der Frage der Objektivität hat sich die Pressewissenschaft bisher wenig beschäftigt«, trifft auch noch den heutigen Sachverhalt; Koschwitz' gegensätzliche Auffassung (Hansjürgen Koschwitz: Zum Problem der Objektivität in der Informationspolitik der Massenmedien. In: Stimmen der Zeit, Heft 11, Nov. 1971, S. 337 f.) kann sich kaum auf entsprechende Arbeiten von Publizistikwissenschaftern aus der Bundesrepublik stützen.

11

Johan Galtung / Mari H. Ruge: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Foreign Newspapers. In: Journal of Peace Research, vol. 2, 1965, S. 64-91; James D. Halloran / Philip Elliott / Graham Murdock: Demonstrations and Communication: A Case Study. London 1970.

12

Freilich beschränkt sich dieser gegenideologische Einsatz häufig auf das Binnenverhältnis, also auf dasjenige von Publizisten zu ihren Vorgesetzten; Beeinflussungsversuchen der Informationstätigkeit von außen sucht man dagegen trotzdem mit Argumentation 1 beizukommen.

objektivität publizistischer information

– 17 –

Der 4. Standpunkt basiert überhaupt auf ideologischer Ablehnung des Objektivitätsprinzips und wird gewöhnlich von einer radikalen, pluralismusfeindlichen politischen Position aus formuliert. Die praktische Unmöglichkeit objektiver Publizistik wird dabei einfach aus diesen politischen Prämissen deduziert, ein Verfahren, das denn auch vor allem geisteswissenschaftlich orientierte Medientheoretiker pflegen.13 Sie, wie auch die Politiker und praktischen Publizisten, die diese Auffassung vertreten, rechnen wegen ihres ideologischen Ausschließlichkeitsanspruchs in einer funktionierenden Demokratie zu den politischen Randgruppen. Dementsprechend findet sich diese scharfe Ablehnung publizistischer Objektivität bei der extremen Rechten wie bei der extremen Linken1.14 Beider Auseinandersetzung mit dem Objektivitätsproblem ist freilich viel weniger kognitiv als aktivistisch motiviert und richtet sich weniger gegen dieses publizistische Prinzip als gegen die liberale bzw. sogenannte bürgerliche Demokratie überhaupt.15 Manipulation wird demgemäß von marxistischer Seite als konstitutiver Prozeß der kapitalistischen Gesellschaft schlechthin interpretiert16 und eine andere Art von Objektivität, eine im Sinne 13

Götz Dahlmüller / Wulf D. Hund / Helmut Kommer: Kritik des Fernsehens. Darmstadt/ Neuwied 1973, S. 103 f; Günther Rager: Das Problem der Objektivität in politischen Nachrichten. In: ders., Rhetorik, Ästhetik, Ideologie. Aspekte einer kritischen Kulturwissenschaft, Stuttgart 1973, S. 237-257.

14

Vgl. u. a. Bäuerlein, Objektivität (Fn 10), vor allem S. 40 f.

15

Vgl. u. a. Bäuerlein, Objektivität (Fn 10), vor allem S. 39-42.

16

Diesen Vorrang der Manipulationsthematik bei marxistisch orientierten Theoretikern spiegeln schon zahlreiche Titel, u. a. Karlpeter Arens: Manipulation. Kommunikationspsychologische Untersuchungen mit Beispielen aus Zeitungen des Springer-Konzerns. Berlin 1971; Bernd Jansen / Arno Klönne (Hrsg.): Imperium Springer. Macht und Manipulation. Köln 1968. Kritisch zu solchen Manipulationsthesen Gerd Albrecht: Möglichkeiten und Grenzen publizistischer Manipulation. In: Saxer, Objektivität, (Fn 5), S. 106-119; KarlWilhelm Gattwinkel: Manipulation? In: Medium - Zeitschrift für evangelische

– 18 –

ulrich saxer

der Geschichtsgerechtigkeit nämlich, den Trägern des einzig richtigen, eben marxistischen Bewußtseins reserviert. Auf diese Weise wird die Objektivitätsfrage sogar von neuem entproblematisiert, und Auffassung 4 schlägt von dieser 4. Position aus, unter Aufhebung des publizistischen Pluralismus selbstverständlich, in Auffassung 1 um.17 2. Politisch relevante Dimensionen publizistischer Objektivität Die Darstellung dieser vier Hauptauffassungen der Objektivitätsproblematik und ihre wissenssoziologische Interpretation lassen immerhin die wichtigsten Dimensionen des Phänomens »publizistische Objektivität« erkennen und weisen zugleich auch schon Wege, wie es sinnvoll auf die Theorie der politischen Kommunikation bezogen werden kann. Nicht alle Aspekte des Objektivitätsproblems sind ja in diesem Zusammenhang relevant; Konzepte der funktional-strukturellen Systemtheorie müssen daher auch noch helfen, den Stellenwert des Prinzips publizistischer Objektivität innerhalb der politischen Kommunikation zu bestimmen.

Rundfunk- und Fernseharbeit, 8. Jg. (1971), Heft 4, S. 244 f.; Rainer Geißler: Massenmedien, Basiskommunikation und Demokratie. Tübingen 1973; Holger Rust: Massenmedien als Sozialisationsfaktoren. Manipulation oder Emanzipation? In: Rundfunk und Fernsehen, 19. Jg. (1971), Heft 3, S. 289 - 299. 17

Im Thesenentwurf der Leipziger Fakultät für Journalistik aus dem Jahre 1962 heißt es: »Nur die sozialistische Journalistik, die die grundlegende Gesetzmäßigkeit unserer Epoche, den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, erkennt und die als Organ der revolutionären Arbeiterbewegung für die Durchsetzung dieser Gesetzmäßigkeit kämpft, vermag die echten, objektiven Informationsbedürfnisse der Volksmassen zu fördern und zu befriedigen. Ihre Informationspolitik ist offen parteilich und wissenschaftlich, objektiv, wahrhaftig zugleich« (zit. nach Koschwitz, Objektivität, [Fn 10], S. 349). Vgl. auch ders., ebd. S. 348 ff. und Rager, Objektivität, (Fn 13), S. 255.

objektivität publizistischer information

– 19 –

(2.1) Funktionsanalyse Freilich bereitet die Bezugsgröße, die politische Kommunikation, selber auch einige begriffliche Schwierigkeiten. Schließlich können ja sehr verschiedene Politikbegriffe angesetzt werden. Hier sei im Sinne von Niklas Luhmanns Überlegungen unter Politik jenes Subsystem verstanden, dessen spezifische Leistung in der Herstellung allgemein verbindlicher Entscheidungen besteht.18 »Politische Kommunikation« umfasste demnach die Prozesse der Bedeutungsvermittlung in Zusammenhang mit diesem Subsystem, wobei es hier nur um die durch publizistische Medien veranlasste politische Kommunikation gehen soll. Als das funktionale Spezifikum von publizistischer Kommunikation wiederum kann, unter weiterer Nutzung Luhmannscher Konzepte, die Reduktion von Umweltkomplexität für personale und soziale Systeme erkannt werden. Was die publizistischen Medien produzieren, sind ja Aussagen, welche die unübersichtliche Umwelt für Individuen wie Kollektive auf für diese und ihre Handlungszusammenhänge sinnvolle, d. h. einsehbare und mehr oder weniger gut darauf zugeschnittene Strukturen vereinfachen. Und zwar beschränkt sich diese Reduktionsleistung keineswegs auf die Benachrichtigungstätigkeit, auch die Vielfalt der zirkulierenden Meinungen wird ja gerade von eigentlichen Massenkommunikationsmitteln rigoros kanalisiert und damit auf ganz wenige Hauptvarianten gebracht, und nicht minder reduktiv verfährt vielfach das publizistische Unterhaltungsangebot bei seinen Stereotypisierungen. Die Kenntnis dieses funktionalen Gesamtzusammenhangs von Publizistik lässt nun auch den Gehalt und den Stellenwert des 18

Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. Opladen 21971, S. 158 f. Diese Charakterisierung des politischen Systems schränkt im übrigen den Betrachtungshorizont auf moderne Gesellschaften ein.

– 20 –

ulrich saxer

Objektivitätsprinzips besser erfassen, seine Bedeutung für die politische Kommunikation präzisieren und endlich auch ein begründetes Urteil über die vier vorgetragenen Auffassungen zum Objektivitätsproblem formulieren. Publizistische Objektivität, so kann gesagt werden, meint die Verpflichtung bzw. den Willen zu einer möglichst unverzerrten und daher allgemein annehmbaren publizistischen Beschreibung der Wirklichkeit. Das Resultat publizistischer Objektivität ist mit andern Worten eine Aussagenproduktion, die nach allgemeinem Konsens als wirklichkeitstreu gilt, als maßstabsgerechte Verkürzung aller nach der gemeinsamen Wirklichkeitserfahrung und dem gemeinsamen Sinnhorizont relevanten Dimensionen der Realität. Da aber die Reduktionsleistung von Publizistik stets eine Strukturierungsleistung impliziert, kann natürlich auch objektive Publizistik nie rein und nur re-produktiv sein, sondern ist unweigerlich auch produktiv, ist Wirklichkeitsbehandlung, »Manipulation« im wertneutralen Sinn notwendiger Umsetzungsakte von Welt in Aussagen. Neben der reduktiven Komponente publizistischer Objektivität ist also auch eine additive zu berücksichtigen, neben der Idee der umfassend unbestechlichen Augenzeugenschaft von Kommunikatoren für Rezipienten auch diejenige von deren fairer Sprechvertretung. Zusammen ergibt das dann erst jene Merkmalkataloge, nach denen Regulative und publizistische Praktiker objektive Publizistik zu qualifizieren pflegen, nämlich nach Richtigkeit, Unparteilichkeit, Ausgewogenheit, Vollständigkeit und Verständlichkeit. (2.2) Kritik Von diesem funktionalen Objektivitätsverständnis aus können nun die beschriebenen Auffassungen zur weiteren Klärung des Beitrags des Objektivitätsprinzips an das Funktionieren des politischen Systems herangezogen und zugleich kritisch beurteilt

objektivität publizistischer information

– 21 –

den. Bemerkenswert und für die Vielschichtigkeit und die politische Brisanz des Problems bezeichnend ist auf jeden Fall die starke Spannung zwischen Norm und Verwirklichung, die in den Auffassungen zutage tritt, und das hohe Ausmaß an Ideologisierung,19 die das Objektivitätsprinzip auf verschiedenen Positionen erfährt. Auffassung 1, die uneingeschränkte Bejahung der Möglichkeit und Wünschbarkeit publizistischer Objektivität, unterschlägt offenbar den Produktionscharakter jeglicher Publizistik und übersieht zudem, dass die Objektivitätsnorm sehr wohl durch höhere Werte relativiert werden kann. Nur scheint die erkenntnistheoretische Argumentation, die von Auffassung 3 und 4 gewöhnlich gegen die Möglichkeit publizistischer Objektivität ins Feld geführt wird, ebenfalls wenig stichhaltig. Wenn nämlich zum Beispiel immer wieder geltend gemacht wird, die publizistische Wirklichkeitswiedergabe bleibe ja unvermeidlich selektiv, so versteht sich das bei der als Reduktionsleistung aufgefassten publizistischen Objektivität von selbst.20 Sogar der Nachweis regelmäßiger subjektiver oder schichtmäßiger Verzerrungen des publizistischen Angebots, von Unzulänglichkeiten publizistischer Codes usw. relativiert die Möglichkeit publizistischer Objektivität bloß, 19

Koschwitz, Objektivität (Fn 10), S. 347.

20

Solche erkenntnistheoretischen (im weitesten Sinne des Wortes) Argumente gegen die Möglichkeit publizistischer Objektivität greifen z. B. folgende Publizisten auf: Wolf Donner: Werden wir manipuliert? In: Theo van Alst (Hrsg.), Millionenspiele – Fernsehbetrieb in Deutschland, München 1972, S. 37-41; Martin Schlappner: Die Kamera ist objektiv – Es gibt keine objektive Kamera. In: Saxer, Objektivität, (Fn 5), S. 56-64; Hans O. Staub: Die Objektivität von Sendung und Programm, ebd., S. 65-72. Eine theoretische Aufarbeitung dieses ganzen Aspekts versuchen Bernard Bellwald: L'objectivité de la presse d'information. Étude des grands quotidiens romands. In: Bulletin Schweizerischer Zeitungsverleger-Verband, 1962, Nrn. 435, 438, 440-441, 442, und Ken Macrorie: Objectivity: Dead or Alive? In: Journalism Quarterly, vol. 36. (Jg. 1959 / Spring), Nr. 2, S. 145-150.

– 22 –

ulrich saxer

widerlegt sie aber als praktisch relevante und realiter auch praktizierte und weitgehend als eben »objektiv« anerkannte Form politischer Kommunikation nicht.21 Das schlichte erkenntnistheoretische Dementi der Möglichkeit publizistischer Objektivität genügt darum für eine Theorie der politischen Kommunikation schon angesichts der realen politisch-publizistischen Bedeutung des Phänomens nicht, ganz abgesehen davon, dass hier offenbar mit einem inadäquaten Wirklichkeitsbegriff argumentiert wird. Die marxistisch-leninistische Pressetheorie zumal bringt ja die publizistische Objektivität in Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff und legt dabei absolute Maßstäbe an, vor denen sie zweifellos nicht zu bestehen vermag. Der frühere Absolutheitsanspruch von Wissenschaft als der Wahrheit wird dabei einfach weiter vertreten und überdies auch noch auf die Institution Publizistik projiziert. 22 Wohl ist das Postulat der publizistischen Objektivität während des späteren 19. Jahrhunderts in Analogie zur wissenschaftlichen Objektivität als vermeintlicher Garantin der Wahrheit schlechthin entwickelt worden. Eine moderne Wissenschaftstheorie indes erwartet von der wissenschaftlichen Objektivität ebensowenig irgendwelche absoluten Wahrheiten wie eine moderne Kommunikationswissenschaft von der Institution Publizistik Objektivität 21

Diesen Nachweis unternehmen mit unterschiedlichem Erfolg zum Beispiel Stefan Böhm / Gerhard Koller / Jürgen Schönhut / Erich Straßner: Rundfunknachrichten. Sozio- und psycholinguistische Aspekte. In: Annemarie Rucktäschel (Hrsg.), Sprache und Gesellschaft, München 1972, S. 153 f.; Dahlmüller et al., Fernsehen, (Fn 13); Rager, Objektivität, (Fn 13); Heribert Schatz: ›Tagesschau‹ und ›heute‹ – Politisierung des Unpolitischen? In: Ralf Zoll (Hrsg.), Manipulation der Meinungsbildung. Zum Problem hergestellter Öffentlichkeit, Opladen 21972, S. 109-123.

22

Vgl. u. a. Rager, Objektivität (Fn 13), S. 246 f. Als Ausweg aus diesen Schwierigkeiten bleibt denn auch nur das Paradox der »objektiven Parteilichkeit« (vgl. Fn 17).

objektivität publizistischer information

– 23 –

von der Art der von der Institution Wissenschaft geforderten. In beiden Fällen gründet »Objektivität« vielmehr in der sozialen Übereinkunft, einen bestimmten Aussagetyp als deckungsgleich mit der Wirklichkeit zu qualifizieren, die eben ihrerseits auch als gesellschaftliche Konstruktion23 erkannt wird. Objektivität ist mit andern Worten von einem modernen Verständnis aus als konsensuelle Größe auf der Grundlage gemeinsamer Wirklichkeits- und Sinnvorstellungen zu interpretieren, wobei auf der einen Seite für die Institution Wissenschaft die Gemeinschaft der Wissenschafter und auf der andern Seite für die Institution Publizistik letztlich die Rezipienten die Bewährungsinstanz abgeben. Publizistische Objektivität gründet also nach dieser Auffassung in erster Linie einmal in einem Konsens, eben demjenigen, gewisse Typen von publizistischem Angebot aufgrund ähnlicher kognitiver Strukturierung aller am Massenkommunikationsprozess Beteiligten als unverzerrte Spiegelung der Ereigniswelt oder des Meinungsspektrums usw. gelten zu lassen und andere nicht.24 Die wissenssoziologische Positionsbestimmung von Auffassung 4 stützt diese Annahme, insofern offenbar in funktionierenden Demokratien gerade von extremen Randpositionen aus die publizistische Objektivität am schärfsten abgelehnt wird. Dasselbe lässt sich an den Schwierigkeiten ablesen, in die stark nonkonformistische Journalisten an demokratisch kontrollierten Monopolmedien mit dem Objektivitätsprinzip regelmäßig geraten. Publizisti23

Vgl. Peter Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 1969.

24

Dieser konsensuelle Charakter von publizistischer Objektivität erweist sich zum Beispiel ebenso in den journalistischen Objektivierungstechniken (vgl. 5.1) wie im immer wieder ermittelten Glauben des breiten Publikums an die Zuverlässigkeit seiner publizistischen Medien, zumal der demokratisch kontrollierten. Vgl. auch Claus-Peter Gerber / Manfred Stosberg: Die Massenmedien und die Organisation politischer Interessen. Bielefeld 1969, S. 99.

– 24 –

ulrich saxer

sche Objektivität als konsensuelle Größe verlangt somit auf der einen Seite eine gewisse gegenseitige Anpassung, auf der andern Seite ist sie stets nur eine für bestimmte Gesellschaften und Publika; was diesen als objektiv erscheint, dünkt andere gerade verzerrt. Die Darstellung des politischen Geschehens als eines Kampfes von Klassen zum Beispiel ist objektiv nur für ein Publikum, das selber Politik unter dieser Kategorie erlebt und nicht z. B. primär als einen Ordnungs- und Gestaltungsprozeß.25 Eine gewisse Paradoxie scheint freilich auf, wenn von Anpassung als Voraussetzung von Objektivität die Rede ist. Insbesondere gilt ja auch der angepassteste, der Boulevardjournalismus, keineswegs als der objektivste – im Gegenteil. Dies erweist indes lediglich aufs neue, wie wenig das komplexe Grundverhältnis, aus dem publizistische Objektivität wird, die Verabsolutierung irgendwelcher Einzelelemente gestattet. Reduktion von Umweltkomplexität für ihre Publika können Journalisten sinnvoll nur besorgen, wenn deren Bewusstseinsstrukturen bis zu einem gewissen Grad auch die ihren oder ihnen immerhin bekannt sind. Die ganze Leser-, Hörer- und Zuschauerforschung – die charakteristischerweise von Position 4 aus häufig auch verworfen wird – dient schließlich diesem Zweck.26

25

Auch ein publizistischer Politikbegriff, der viel weiter als der gängige gefasst ist, wird darum sofort als »unobjektiv« empfunden, da er vieles problematisiert, was die Mehrheit der Rezipienten als kulturelle Selbstverständlichkeit annimmt.

26

Von einer Auffassung, die wie die marxistische sich anheischig macht, die »objektiven« Bedürfnisse der Rezipienten gültig zu bestimmen, kann ja Publikumsforschung nur akzeptiert werden, soweit sie diese Setzungen bestätigt. Ermittelt sie hingegen Publikumspräferenzen, die diesen theoretisch »richtigen« Bedürfnissen nicht entsprechen, dann muss entweder die Forschungstechnik oder das Publikumsbewusstsein falsch sein, und die entsprechenden Befunde brauchen darum auch nicht weiter berücksichtigt zu werden.

objektivität publizistischer information

– 25 –

Schon eine Theorie mit universellem Erklärungsanspruch, wie etwa der Marxismus, bringt zum Beispiel die Phänomene in einen solch konsistenten Gesamtbezug, dass die entsprechende Publizistik der fragmentarisierten Alltagserfahrung der meisten Rezipienten als wirklichkeitsfremd, als parteiisches Deutungsraster erscheint. Die vielgeschmähte »Scherbenwelt«27 der Tages- und Wochenschauen bzw. das Grundelement objektiver Publizistik: »facts«, der unkommentierte und auch nicht weiter eingeordnete Tatbestand, entspricht dagegen diesem dominanten Erfahrungsmodus durchaus. Dass die publizistischen Medien in Demokratien ihre Aufmerksamkeit besonders häufig den Reichen und Mächtigen zuwenden, lässt sich anderseits von deren realem Einfluss auf das gesamtgesellschaftliche Geschehen her als objektive Informationsleistung vertreten. Schließlich sprengt jene oft gehörte Argumentation, publizistisches Schweigen impliziere Anerkennung, den hinsichtlich der publizistischen Objektivitätsproblematik noch sinnvoll diskutierbaren Zusammenhang überhaupt.28 Die Verwirklichung des ohnehin nur relativ praktikablen Postulats publizistischer Objektivität kann doch wohl nur bezüglich des publizistisch über die Wirklichkeit Ausgesagten bzw. Nicht-Ausgesagten kritisiert werden; den spekulativen Aussagewert von Nichtausgesagtem vermag hingegen bloß eine nichtempirische, ideologisch die Objektivitätserfordernisse verabsolutierende Auffassung ernsthaft ins Feld zu führen. Die Verwechslung der dialektischen Denktechnik mit den Realprozessen der Um- und Außenwelt bewirkt hier einmal mehr, dass die marxistische Analyse des Objektivitätsproblems den relevanten Realzusammenhang verfehlt. 27

Hans Magnus Enzensberger: Scherbenwelt. Die Anatomie einer Wochenschau. In: ders., Einzelheiten, Frankfurt a. M. 1964, (S. 106-133), S. 106 f.

28

Vgl. u. a. Rager, Objektivität, (Fn 13), S. 250.

– 26 –

ulrich saxer

Mit Konsensualität ist die publizistische Objektivität allerdings tatsächlich erst zur einen Hälfte und erst gegen ihre ideologisch begründete Totalverwerfung für die Theorie der politischen Kommunikation präzisiert. Publikumszustimmung als vorgeblich »wirklichkeitstreue« können ja durchaus auch manipulative journalistische Techniken gewinnen, und auch ein entschieden vereinseitigtes Gesamtmedienangebot mit entsprechenden Dunkelzonen und Verzerrungsmechanismen mag unter Umständen die gesamtgesellschaftliche Illusion einer aufs Ganze gesehen objektiven Publizistik bewahren. Soll die Reduktion von Umweltkomplexität durch Publizistik wirklich objektiv sein, so hat sie eben auch der Umwelt und nicht bloß dem Publikum gerecht zu sein, und die Umwelt, die Realität, ist natürlich bei weitem nicht bloß konsensuell konstituiert. Die zweite Instanz, vor der sich publizistische Objektivität außer vor dem Publikum zu bewähren hat, ist also die Wirklichkeit, und je weniger die angesprochene Rezipientengruppe diese Wirklichkeit mitgestaltet, mitkontrolliert, direkt miterfährt, desto anspruchsvoller wird es, dieser zweiten Instanz zu genügen. Die Zweifel an der Möglichkeit publizistischer Objektivität, welche Auffassung 3 äußert, beziehen sich vor allem auf diesen Aufgabenaspekt. Die Unterschiede zwischen lokaler und internationaler Publizistik veranschaulichen diese Problematik sofort. Im ersten Fall ist das Publikum jeweils in viel erheblicherem Maß direkt Teil der Umwelt, deren Komplexität es adäquat für es zu reduzieren gilt. Die Rezipienten verfügen so auch über unvergleichlich viel größere Erfahrungskontrollen, die Umweltgerechtheit publizistischer Aussagen zu beurteilen. In der internationalen Berichterstattung wirken sich dagegen dem publizistischen Apparat immanente Verzerrungsmechanismen viel unkontrollierter aus.29 29

Vgl. Galtung / Ruge, Foreign News, (Fn 11), allenthalben.

objektivität publizistischer information

– 27 –

Umweltkomplexität publizistisch auf eine Art zu reduzieren, die sowohl wirklichkeitsgerecht als auch sinnvoll für die Rezipienten ist, bereitet somit sehr viel mehr Schwierigkeiten als die trivialisierende Auffassung 1 es wahrhaben will. Anderseits ist ein pluralistisches Gesamtmediensystem, das in einer demokratischen Gesellschaft auf die Objektivitätsnorm verpflichtet ist, zu viel größeren Leistungen im Sinne dieses Ideals befähigt, als die Auffassungen 3 und 4 zugeben wollen. Die Sanktionierung des Objektivitätsprinzips gegen Manipulationstechniken, aber auch gegen die Selbstgefälligkeit kollektiver Verblendungen wirft freilich immer wieder die größten Probleme auf, derartige in der Tat, dass mit Auffassung 2 sicher nur von einer relativen Praktikabilität der Objektivitätsnorm die Rede sein kann. 3. Publizistische Objektivität als Sicherung demokratischer Information Nachdem die publizistische Objektivität gegen die extremen Standpunkte, also im Sinne der Auffassungen 2 und 3 für eine Theorie der politischen Kommunikation etwas präzisiert worden ist, muss nun die spezifisch politische Funktionalität dieses Prinzips noch genauer erkannt werden. Die publikums- und wirklichkeitsgerechte publizistische Reduktion von Umweltkomplexität soll demnach im Folgenden mit dem politischen System, mit dem Hervorbringen allgemein verbindlicher Entscheidungen in Zusammenhang gebracht werden. (3.1) Normativer Gehalt Der Umstand, dass in der Moderne bloß die Demokratien das Objektivitätsprinzip institutionalisieren, Diktaturen irgendwelcher Art es hingegen regelmäßig durch das Parteilichkeitsprinzip ersetzen lassen, bezeugt den besonders engen Zusammenhang publizistischer Objektivität mit dem politischen System der

– 28 –

ulrich saxer

mokratie. Freilich darf auch diesbezüglich keine simplizistische Gleichung erstellt werden: Objektivität im Sinne von Unparteilichkeit verlangen schließlich schon die Obrigkeiten des 17. Jahrhunderts, in Wahrheit Kritiklosigkeit, nämlich im Dienste des Status quo.30 Der Vorwurf, das Objektivitätsprinzip impliziere schlechthin Konservatismus, will denn auch nicht verstummen.31 Diese Ansicht entspringt zweifellos einem Irrtum. Wohl zeigt objektive Publizistik einfach kommentarlos, was der Fall ist. Was die Objektivitätsnorm als Rollenanforderung betrifft, so erheischt sie ja vom Publizisten den Verzicht auf die Richter- zugunsten der Zeugenrolle, die Preisgabe des engagierten Handelns zugunsten des zuverlässigen Betrachtens. Die Abwesenheit von Kritik mit Billigung gleichzusetzen verfehlt daher die publizistische Rollenrealität, und der Abwesenheit von Kritik die Wirkung von Kritiklosigkeit zuzuschreiben widerspricht der politisch-kommunikativen Wirklichkeit. Jenes objektiv Dargestellte, das – wie etwa Slums – den Standards der bestehenden Ordnung nicht genügt, erscheint ja auch ohne ausdrückliche Zitierung dieser Normen als Verletzung derselben. Insofern eignet dem Objektivitätsprinzip durchaus auch eine kritische Komponente, sogar wenn es die normativen Standards selber nicht besonders problematisiert. Dieses kritische Potential des Objektivitätspostulats ist es, das die publizistischen Medien zum Beispiel davor bewahrt, bloße Public-Relations-Agenturen zu werden, die Strittiges oder Übelstände einfach verschweigen.

30

Christian Padrutt: Publizistische Objektivität als institutionelle Forderung. In: Saxer, Objektivität, (Fn 5), S. 26 f.

31

P. Stolle: Die Nachrichten-Revue. In: van Alst (Hrsg.), Millionenspiele (Fn 20), (S. 74-82), S. 81: »Nachrichten sind konservativ. Sie zeigen, was ist, nicht, was werden soll.«

objektivität publizistischer information

– 29 –

Publizistische Objektivität, so lässt sich demnach festhalten, ist zwar kein engagierendes, aber unter Umständen ein durchaus kritisches Prinzip. Der Widerstand autoritärer bzw. totalitärer Machteliten gegen objektive Publizistik erklärt sich schon daraus zur Genüge. Andererseits bedarf die erwähnte Affinität des Objektivitätsprinzips zum politischen System der Demokratie weiterer Begründung. Die wichtigste liegt zweifellos darin, dass publizistische Objektivität sowohl demokratische Gleichheit als auch demokratische Partizipation verwirklichen hilft. Totalitäre Publizistik informiert darum im Gegensatz dazu stets parteiisch, das heißt, sie verbreitet Nachrichten einfach gemäß deren Brauchbarkeit für die herrschende Machtelite. Gleichheit schaffen objektive Informationen – ihre allgemeine Zugänglichkeit und Verständlichkeit vorausgesetzt – insofern, als sie ja die unterschiedlichen Wertungs- und Interessenbezüge neutralisieren oder aber ausgewogen zu Worte kommen lassen. Zugleich respektiert diese objektive Publizistik aber auch die Selbständigkeit, auf welche die Bürger einer Demokratie Anspruch haben. In der modernen Gesellschaft, in der jedermann auf publizistische Informationen angewiesen ist, erhalten sie nur so die nach allgemeinem Konsens wirklichkeitsgetreuen Orientierungsdaten, deren sie zu einer angemessenen Fruktifizierung ihrer demokratischen Rechte bedürfen. Ist nämlich diese Information schon parteiisch verzerrt, so beraubt sie die Bürger letztlich ihres freien Entscheidungsrechts bezüglich des ihnen optimal erscheinenden Verhaltens. Parteiische Information verunmöglicht ihnen ja die selbständige Tatbestandswürdigung als Vorstufe der persönlichen Verhaltensentscheidung gemäß eigenen Interessen, indem sie Tatbestände schon vorher entstellt oder überhaupt gar nicht ins Bewusstsein des Publikums gelangen lässt. Publizistische Objektivität erscheint somit als demokratische Informationsgarantie, die den Rezipienten die Wissensgrundlagen für möglichst

– 30 –

ulrich saxer

selbständige, persönlichkeits- und wirklichkeitsgerechte Verhaltensentscheidungen sichert, weil diese wiederum die Voraussetzung für eine je optimale Teilnahme und Teilhabe am politischen Prozess bilden. Das Objektivitätsprinzip als Mittel, die politischen Mitgestaltungschancen der rezipierenden Individuen zu optimieren, ist freilich in seiner Geltung nach Intensität und Umfang beschränkt. Es fungiert nach seinem institutionellen Stellenwert wie in der politisch-publizistischen Praxis nur als Mittel-, nicht als Endwert. Zumal im Zusammenhang einer Theorie der demokratischen Kommunikation muss die Relativität des Objektivitätsprinzips auch in normativer Hinsicht klar erkannt werden. Und zwar lässt sich diese Beschränkung auch der normativen Geltung des Objektivitätsprinzips auf die Umfangs- und Anspruchsgrenzen des politischen Systems der Demokratie überhaupt zurückführen oder – traditionalistischer ausgedrückt – auf den Umstand, dass in Demokratien der Staat nicht die ganze Gesellschaft vereinnahmt. Der Bereich Politik ist also in Demokratien ein beschränkter, und dementsprechend sind auch die Funktionen der publizistischen Medien keineswegs nur politischer Art. Daran vermag auch die modische Ausweitung des Politikbegriffs auf den Bereich der Gesellschaft – nämlich als sogenannte Gesellschaftspolitik – bzw. auf jegliche Form von organisierter Herrschaft nichts zu ändern. Seit eh und je hat dementsprechend ein Großteil des publizistischen Angebots aus trivialen Fiktionen, überkommenen Kulturwerken, Einführungen in Kulturtechniken usw. bestanden; dies als »Entpolitisierung« anzuprangern ist ebenso irrtümlich wie der behauptete prinzipielle Konservatismus des Objektivitätsprinzips und entspringt auch gewöhnlich demselben ideologischen Vorurteil. Es müssen darum zum Beispiel neben politischen auch kulturelle Funktionen der Massenkommunikation erkannt

objektivität publizistischer information

– 31 –

den, und für diese letzteren gilt die Objektivitätsnorm offenbar nur noch sehr bedingt.32 Ausgewogenheit zum Beispiel verurteilt eine Gattung wie das Fernsehkabarett alsogleich zum Tode, und nur Banausen können etwa politisches Credo und künstlerische Qualität in der Programmgestaltung gegeneinander aufrechnen. Aus solchen und ähnlichen Beispielen erhellt unmissverständlich, dass das Objektivitätserfordernis bloß Teilnorm der Publizierpflicht des Journalisten ist und weder sinnvoll auf alle Medien noch auf alle publizistischen Gattungen ausgedehnt werden kann. Selbst die politischen Leistungen der publizistischen Medien in der Demokratie müssen, ja dürfen durchaus nicht nur objektive sein, sondern der parteiische Pressekommentar zum Beispiel ist durchaus legitime demokratische Propaganda. Was die Geltungsintensität des Objektivitätspostulats betrifft, so steht es als Informationsgarantie im Dienste der politischen Mitgestaltungsrechte der Bürger. Sobald allerdings Demokratie als Staatsform verstanden und praktiziert wird, die neben der politischen Gleichheit auch das Gemeinwohl zu verbürgen hat, relativieren sich diese beiden Verpflichtungen gegenseitig. Die politischen Partizipationsrechte müssen zum Beispiel unter Umständen, in Krisensituationen zumal, hinter Gemeinwohlerwägungen zurücktreten, die Objektivitätskriterien der Vollständigkeit oder gar der Richtigkeit der publizistischen Aussage etwa zugunsten 32

Vorwürfe wie derjenige der »Entpolitisierung« melden in Wahrheit den Anspruch der Publizisten an, Kategorien wie »Politik« allein verbindlich – also auch gegen das Publikum – zu definieren, ein Privileg, das freilich kaum mit der Objektivitätsnorm begründet werden kann. Das Umgekehrte, die konsequente Politisierung von Gattungen, die – wie etwa die Unterhaltung – den Rezipienten herkömmlich als unpolitisch gelten, zeitigt denn auch sofort Gegenreaktionen aus dem Publikum, nämlich den Ruf nach Ausweitung der Objektivitätsnorm auch auf diesen Bereich, was dessen kultureller Qualität natürlich durchaus abträglich ist.

– 32 –

ulrich saxer

höherer Interessen verletzt werden. Militärische Belange sind für den ersten, bevorstehende Währungsmanipulationen für den zweiten Fall bekannte Beispiele. Die Objektivitätsnorm erweist sich in solchen Situationen geradezu als korrekturbedürftig; Normwidersprüche tun sich also hier auf, die den Publizisten unvermeidlich in Rollenkonflikte stürzen.33 Die Tatsache, dass das Objektivitätspostulat häufig mit anderen Normen und Werten konfligiert, erklärt noch einmal die großen Auffassungsdiskrepanzen auch unter den publizistischen Praktikern hinsichtlich des Objektivitätsproblems. Wie oft muss doch der Publizist unerwünschte Konsequenzen bestimmter Veröffentlichungen befürchten, die er aber um der Objektivität der Information willen nicht unterlassen darf. Die heiklen Entscheidungen, die er ständig zwischen Gemeinwohl- und Objektivitätsverpflichtung zu fällen hat, erfordern jedenfalls vom Publizisten ein ganz klares demokratisches Norm- und publizistisches Rollenverständnis. Insbesondere verlangt gerade die Objektivitätsnorm von ihm, dass er der Rollen-Unterschiede zwischen Politiker und Journalist in der institutionellen Arbeitsteilung der Demokratie stets eingedenk bleibe. An ihm selber ist es ja, gemäß dem Objektivitätspostulat, Entscheidungsunterlagen bereitzustellen, Informationen also – am Politiker hingegen, Entscheidungen herbeizuführen. Ihm bedeutet darum auch Publizität nur Mittel zum Zweck, dem Publizisten hingegen ist sie, wie schon seine Berufsbezeichnung bezeugt, Selbstzweck. Verstöße gegen das zuverlässige öffentliche Sprechen wiegen darum bei ihm viel schwerer als beim Politiker, 33

Vgl. u. a. Robert K. Merton: Mass Persuasion. The Social Psychology of a War Bond Drive. New York/London 1946; Karl M. Setzen: Objektivität oder Manipulation? Soziale Faktoren der Fernsehinformation. Heidenheim 1971; Edward A. Shils: The Torment of Secrecy. The Background and Consequencies of American Security Policies. Glencoe (Illinois) 1956.

objektivität publizistischer information

– 33 –

sündigt er doch damit gegen seine eigentliche institutionelle raison d'être. Gerade auch Zumutungen behördlicherseits an die Adresse der Publizisten, bestimmte Tatbestände im Namen des Gemeinwohls zu verschweigen, müssen demnach von diesen als Beeinträchtigung ihrer allgemeinen Publizierpflicht wie ihrer besonderen Objektivitätsverpflichtung erkannt werden, die sich nur in ganz gravierenden Fällen rechtfertigt. (3.2) Systemgerechte Garantierung Den – wie sich gezeigt hat – komplexen normativen Gehalt publizistischer Objektivität systemgerecht zu garantieren bereitet große, an der Fülle von Versuchen und deren Kritiken ablesbare Schwierigkeiten. Ein Hauptgrund dafür liegt zweifellos in der allgemeinen Spannung zwischen der Regulierungsbedürftigkeit demokratischer Massenkommunikation und ihrer demokratisch zugleich unerlässlichen Freiheitlichkeit. Jegliche rechtliche oder sonstige Normierung des Mediensektors wirkt sich ja auf das politische System der Demokratie dysfunktional aus, wenn sie die Flexibilität beeinträchtigt, mit der sich die Medien auf die politischen Prozesse auszurichten haben.34 Die große Vielfalt sehr unterschiedlicher und rasch wechselnder Arbeitssituationen erschwert zudem die generelle, über bloße Leerformeln hinausgehende Normierung publizistischer Tätigkeit ganz ungemein, wie das Ungenügen publizistischer Regulative immer wieder erweist. Beim Objektivitätsprinzip im besonderen kommt noch dazu, dass allein schon seine positive Umschreibung nie recht gelingen will, da es ja die Selbstverständlichkeit der gemeinsamen Konstruktion der Wirklichkeit zum Gegenstand hat. Erst wenn die erwartete Objektivität verletzt wird, tritt normalerweise ihre Normativität 34

Franz Ronneberger: Konzentration und Kooperation in der deutschen Presse. In: Publizistik, 16. Jg. (1971), Heft 1, (S. 5-38), S. 26.

– 34 –

ulrich saxer

überhaupt ins Bewusstsein; darum sind Verstöße gegen sie auch so viel leichter zu nennen als ihre positiven Gehalte. Schließlich zeitigen unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie auch unterschiedliche Ideen von systemgerechter Sicherung des Objektivitätsprinzips, und ebenso haben je andere kommunikationstheoretische Annahmen – über die Wirkungen der publizistischen Kommunikation zum Beispiel – je andere Objektivitätsgarantien zur Folge. Fest steht nur, dass diese Sicherungen den Publizisten einen beträchtlichen Ermessensspielraum hinsichtlich dessen, was als objektiv gelten kann, offenlassen müssen, sollen nicht die Nachteile einer solchen Regelung ihre Vorteile überwiegen. Systemgerecht ist offenbar die Sicherung publizistischer Objektivität dann, wenn dauernd und in Übereinstimmung mit den übrigen demokratischen Prinzipien dafür gesorgt ist, dass der beschriebene normative Gehalt des Objektivitätsprinzips praktisch verwirklicht werden kann. Die radikale Privilegierung der Publizisten oder gar erhebliche Veröffentlichungszwänge kommen also schon aus Gründen dieser Übereinstimmung mit der demokratischen Gesamtstruktur nicht in Frage, und auch die Verstaatlichung des Mediensektors um der publizistischen Objektivität und Chancengleichheit willen erscheint bei einer überwiegend privaten Wirtschaft nur noch bedingt systemkonform. Jedenfalls sind die Zeitungen und Zeitschriften in Demokratien regelmäßig als praktisch staatsunabhängige Unternehmen verfasst. Umgekehrt erweist sich die rein privatwirtschaftliche Institutionalisierung des gesamten Mediensektors und damit seine völlige Unterstellung unter die Marktgesetze auch immer wieder als der Verwirklichung des Objektivitätspostulats abträglich: Die wirtschaftlich Schwächeren bleiben so letztlich publizistisch unterrepräsentiert und unterversorgt. Ebenso lässt die funktionale Verschränkung von politischem und medialem System einen Institutionalisierungsmodus des letzteren geraten erscheinen, der es dem

objektivität publizistischer information

– 35 –

system Politik nicht weniger verbindet als dem Subsystem Wirtschaft. Gerade das Objektivitätsproblem bezeugt einmal mehr, dass Publizistik nicht bloß als Ware, sondern auch als öffentlicher Dienst zu qualifizieren ist. Was dabei materiell garantiert werden muss, sind eben die Informationsgrundlagen des Souveräns, des Volkes, bezüglich des politischen Systems. Transparenz, Öffentlichkeit muss also für die politischen Prozesse publizistisch hergestellt werden,35 und zwar der ganzen Bevölkerung zum gleichen Nutzen. Auch noch die für das Mediensystem gesamthaft verbindliche Objektivitätsdefinition muss demnach eine pluralistische sein, dem konsensuellen Charakter von Objektivität entsprechend. Ebenso sollte sich die Objektivitätsgarantie letztlich auf den publizistischen Gesamtprozess beziehen: Selbst das Bemühen der Publizisten um objektive Aussagen genügt nämlich nicht, wenn ihre Quellen unzuverlässig, die Programmzeiten unausgewogen oder die Rezipienten objektiver Information unzugänglich sind.36 Die systemnotwendige Objektivität kann somit erst dann als garantiert gelten, wenn allen wesentlichen Bevölkerungsgruppen publizistische Repräsentation und ein gewisser Schutz gegen Manipulation im Rahmen eines medialen Gesamtsystems gesichert sind, das effizient Umweltkomplexität für die Rezipienten reduziert. An diese letzte Bedingung, die Voraussetzung einer funktionalen Institutionalisierung von publizistischer Objektivität überhaupt, muss auch hier wieder erinnert werden, da seit Bert Brechts »Radiotheorie« marxistisch orientierte Autoren immer wieder die

35

Franz Ronneberger: Massenkommunikationsmittel, Parteien und Verbände im Verfassungswandel. In: Gerber / Stosberg, Massenmedien, (Fn 24), (S. 140-148), S. 144 f.; ders., Konzentration, (Fn 34), S. 21 f.

36

Zu diesen Problemen ausführlicher Ulrich Saxer: Die Objektivität publizistischer Information. In: IS-Informationen, 1972, Nr. 3, S. 1 f.

– 36 –

ulrich saxer

Idee »Jeder Rezipient ein Sender« als Lösung des Objektivitätsproblems vorschlagen.37 Bei diesem Extrem pluralistischer Partizipation höbe freilich das Objektivitätsprinzip zugleich mit der reduzierenden Ordnungsleistung publizistischer Information sich selber als deren Garanten auf. Der Damm gegen die totale Konfusion,38 gegen Informationsanarchie,39 den das Objektivitätsprinzip mitbauen soll, würde so gerade eingerissen.40 Von neuem drängen sich da wissenssoziologische Fragen auf, in welchem Interesse solche Forderungen, die durch ihre Absolutheit das Funktionieren von Publizistik überhaupt zerstören, vorgebracht werden. Dieser auch technisch absurde Vorschlag übertreibt allerdings bloß eine der beiden realen elementaren Möglichkeiten, publizistische Objektivität zu verwirklichen, nämlich die additive. Letztlich im Gefolge der liberalen Auffassung, kein einzelner sei je im Besitze der ganzen Wahrheit, kann ja versucht werden, publizistische Objektivität gewissermaßen durch Addition von subjektiven oder immerhin gruppenspezifischen Standpunkten zu erreichen. Die unvermeidliche Perspektivität publizistischer Aussagen soll mit andern Worten dadurch überwunden werden, dass alle wichtigen Perspektiven ausgewiesen werden und auf diese Weise so etwas wie ein überindividuelles und übergruppenhaftes Gesamtbild der Realität zustande kommt. Es ist dies natürlich der 37

Bert Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1968, S. 127-134; Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20, 1970, (S. 159-186) S. 159 f.; (s. a. ders. in: ex libris kommunikation, Bd. 8, München 1997, S. 97-132)); Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt a. M. 1968.

38

Geißler, Massenmedien, (Fn 16), S. 51.

39

Merrill / Lowenstein, Media, (Fn 9), S. 15 f. und 228 f.

40

Zur Kritik an dieser ganzen Konzeption vgl. auch Rust, Massenmedien, (Fn 16), allenthalben.

objektivität publizistischer information

– 37 –

Modus, der in gemäßigter Form bei der pluralistischen Besetzung von Redaktionen und Aufsichtsgremien von demokratisch kontrollierten Monopolmedien Anwendung findet; ebenso liegt der Theorie, die einen pluralistischen Mediensektor für demokratisch unerlässlich hält, letztlich die additive Auffassung von publizistischer Objektivität zugrunde. Im übrigen muss Addition als denkbare Objektivitätsverwirklichung damit in Zusammenhang gebracht werden, dass ja bei publizistischer Objektivität neben dem reduktiven stets auch ein produktives Element gegeben ist. Reduktive Objektivität als zweite elementare Möglichkeit wird dagegen z. B. von der BBC praktiziert, die lieber andere Leute zu Wort kommen lässt, als selber die Sachverhalte zu formulieren.41 Die Welt erscheint in dieser Publizistik bloß noch als Zitat, reduziert, wo immer möglich, auf nackte Faktizität, entsprechend dem hier vorwaltenden Ideal des sozusagen ichlosen publizistischen Vermittlers. Die Objektivitätsgarantie bei der Reproduktion von Umweltkomplexität wird in diesem Fall also durch die Reduktion von Subjektivität angestrebt; insofern bezeichnen die vielgenannten Objektivitätsmerkmale der Neutralität und Unparteilichkeit auch persönliche Qualifikationen, an die jeweils als publizistisches Ethos allgemein in Regulativen bzw. hinsichtlich einzelner Kommunikationssituationen appelliert wird.42 Allerdings wird reduktive Objektivität durchaus auch überindividuell, von ganzen Nachrichtenredaktionen zum Beispiel, praktiziert. Trotzdem ist ihre Komplementarität zur additiven Objektivität offensichtlich. Für die systemgerechte Garantierung des Objektivitätsprinzips in der Demokratie ist indes auch die Spannung zwischen referieren41

»... BBC newsmen tend to avoid making their own statements when others can be found to make them for them« (Halloran et al., Demonstrations, [Fn 11], S. 185).

42

Riklin, Juristische Aspekte, (Fn 8), S. 37.

– 38 –

ulrich saxer

der und engagierender Publizistik von Belang. Zwar kann additive Objektivität durchaus durch engagierte Elemente, z. B. verschiedene Parteienvertreter in einer Diskussionssendung, verwirklicht werden, nur beschränkt sich in diesem Fall dann die »Objektivität« auf eine ausgewogene Berücksichtigung der verschiedenen Meinungspositionen. Objektivität im normalen, strengeren Wortsinn verlangt darum regelmäßig auch reduktive Bemühungen. Additive Objektivität bezieht sich eben primär bloß auf das System der (möglichen) Kommunikanten; reduktive Objektivität dagegen auf das Verhältnis von Kommunikator und Ereignis. Dieser Beschaffenheit wegen eignet der publizistischen Objektivität zweifellos nur ein geringes engagierendes Vermögen; als reduktive gibt sie lediglich Handlungsunterlagen, und im additiven Fall neutralisieren sich die Handlungsaufforderungen gegenseitig. Objektive publizistische Information allein verbürgt darum noch keine optimale demokratische Teilnahme, denn sie aktiviert ja kaum. Auch noch die ungeschminkte Darstellung von Missständen ist eben bloß Darstellung, während das Setzen von Werten und die Entwicklung entsprechender Handlungsziele und Überredungsstrategien außerhalb der durch das Objektivitätspostulat umschriebenen Möglichkeiten bleiben. Nicht einmal neue Akzente werden von objektiver Publizistik erwartet, sondern Dominanz der Normalperspektive im weitesten Sinne des Begriffs. 43

43

Diese Dominanz der Normalperspektive impliziert zum Beispiel einen gewissen Vorrang der »amerikanischen« unter den Bildeinstellungen (Schlappner, Kamera, [Fn 20], S. 62), möglicherweise sogar – gegen die Objektivitätsanforderung der Vollständigkeit des Relevanten (Westerståhl, Objectivity, [Fn 1], S. 14) die Beschränkung des Informationsangebots auf das allgemein Erwartete und Plausible (Gaye Tuchman: Objectivity as Strategic Ritual: An Examination of Newsmen's Notions of Objectivity. In: American Journal of Sociology, vol. 77, 1972, Nr. 4, S. 674 f).

objektivität publizistischer information

– 39 –

Wird nun die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben als für das System der Demokratie wesentlich eingestuft und werden demzufolge entsprechende Leistungen der publizistischen Medien erwartet, so muss offenbar neben der referierenden Objektivität auch dem Engagement sein Platz in der demokratischen Publizistik gesichert sein. Die Begrenztheit des normativen Gehalts des Objektivitätspostulats erweist sich auch in dieser Hinsicht noch einmal, so dass wirklich auch nur eine begrenzte und zudem differenzierte Institutionalisierung publizistischer Objektivität systemgerecht erscheint. Allzuoft fehlen ja dem Bürger Kompetenz oder Bereitschaft, aufgrund bloßer Fakten selber zu kommentieren und zu entscheiden; engagierte Medien bieten hier immerhin Artikulations- und Aktivierungshilfe. Anderseits muss eben diese Propaganda auch wieder durch objektive Information aufgewogen werden, denn die Norm demokratischer politischer Kommunikation heißt ja nicht nur Aktivierung, sondern auch Selbständigkeit, Autonomie des Bürgers. Ebenso selbstverständlich ist, dass unter diesen Umständen die Garantierung des Objektivitätsprinzips systemgerecht nur unter Berücksichtung des medialen Gesamtsystems einer Gesellschaft erfolgen kann. Gewöhnlich werden denn auch an verschieden institutionalisierte publizistische Medien unterschiedliche Objektivitätsansprüche gestellt, ebenso an die politischen bzw. nichtpolitischen Sendungen von demokratisch kontrollierten Monopolmedien, und sogar unter den politischen Sendungen variieren wieder die Objektivitätsanforderungen je nach Gattung. Von der liberal, d. h. privatwirtschaftlich institutionalisierten Presse kann zum Beispiel rechtens bloß Gruppensprechvertretung verlangt werden und damit auch keine Ausgewogenheit – etwa in der Nachrichtenauswahl – wie bei einem Monopolmedium von der Art des deutschen, österreichischen oder schweizerischen Radios und Fernsehens, die der Gesamtbevölkerung zu dienen haben. Um funktional zu bleiben,

– 40 –

ulrich saxer

darf zwar auch die Presse nicht einfach Lügen auftischen, denn etwaige Parteigänger benötigen schließlich ebenfalls zuverlässige Orientierungsgrundlagen; sonst aber genügt hier die bloß von der jeweiligen Zielgruppe sanktionierte Objektivität, mit dem Resultat additiver Objektivität des Presse-Gesamtsystems. Was die Presse in einem Gesamtsystem, in dem Privat- und Monopolmedien nebeneinander figurieren, vor allem vertreten kann, ist denn auch das engagierende Prinzip. Damit wird zugleich auch das strengere Objektivitätsmaß, das gewöhnlich an solche demokratisch kontrollierten Monopolmedien, aber auch an die großen internationalen und nationalen Nachrichtenagenturen gelegt wird, verständlich. Zum einen handelt es sich ja hier um ausdrücklich der Gesamtgesellschaft verpflichtete bzw. möglichst vielerlei Medien beliefernde publizistische Institutionen. Überparteilichkeit, Neutralität im Konflikt der Gruppeninteressen müssen daher die ersteren schon um des Gesetzes und die letzteren um des Absatzes willen üben. Die Parallele zwischen kommerziell motivierter Objektivität und solcher, die gerade durch wirtschaftliche Privilegierung dank Monopolisierung und damit durch teilweise Freisetzung von kommerziellen Rücksichten zustande kommt, erweist dabei erneut die wirtschaftlich-politische Doppelverschränkung des Mediensektors, die keine demokratische Kommunikationspolitik zugunsten des einen oder anderen Subsystems vernachlässigen darf. Zum andern erscheint auch von der Idee der Vielfalt der Informationsarten her, die allein die Qualität der demokratischen Meinungsbildung verbürge, die Entprivatisierung der elektronischen Medien durch Unterstellung unter gesamtgesellschaftlich repräsentativ zusammengesetzte Kontrollgremien systemgerecht. So erhalten ja die legitimerweise an Spezialinteressen oder speziellen Zielgruppen orientierten Pressebeiträge ihre Ergänzung durch einen eindeutig nur dem Ganzen verpflichteten und in diesem

objektivität publizistischer information

– 41 –

Sinn überparteiischen Informationstyp. Die demokratischen Gleichheits- und Pluralismuspostulate werden also durch eine solche nichtstaatliche, aber gesamtgesellschaftliche Inpflichtnahme der elektronischen Medien in einem aus liberaler und demokratisch kontrollierter Institutionalisierung gemischten medialen Gesamtsystem gleicherweise verwirklicht.44 Zugleich ergeben sich hier normenlogisch auch schon gewisse Hinweise, was bei zunehmender Pressekonzentration vorzukehren ist: Wenn die Pressevielfalt nicht mehr gegeben ist, dann hat das Monopolmedium durch seine eigene Pluralisierung die Verschiedenartigkeit der Informationsarten zu gewährleisten. Im einzelnen wirft die demokratische Kontrolle der elektronischen Medien als Garantie von deren Objektivität freilich mancherlei Probleme auf. Schon einen befriedigenden Schlüssel zu entwickeln, nach dem die verschiedenen Publikumskategorien und gesellschaftlichen Institutionen in den Aufsichtsgremien bzw. in irgendwelcher Form bei der publizistischen Produktion repräsentiert werden sollen, bereitet gewöhnlich die größten Schwierigkeiten. Zu Missverständnissen Anlass gibt auch immer wieder die zumal von publizistischer Seite selber erhobene Forderung nach einem Recht auf Kritik auch im Monopolmedium. Angesichts der Relativität und des daher auch auf verschiedene Arten realisierbaren normativen Gehalts des Objektivitätspostulats lässt sich dieser Anspruch bzw. die hie und da sogar juristisch ausdrücklich festgehaltene Kritikverpflichtung der Monopolmedien nicht ohne weiteres als systemunverträglich abtun.45 Durch das Nebeneinander von Tagesschauen, die sich um Objektivität be44

Gerade gegensätzlich argumentieren natürlich die Anhänger eines privatwirtschaftlich verfassten Mediensektors. Vgl. z. B. Alphons Silbermann: Vorteile und Nachteile des kommerziellen Fernsehens. Düsseldorf/Wien 1968.

45

Setzen, Objektivität, (Fn 33), S. 65.

– 42 –

ulrich saxer

mühen, und engagierten politischen Magazinen im deutschen Fernsehen wird einfach die z. B. in der Schweiz46 stärker intermediale Trennung referierender und sich engagierender Publizistik durchwegs intramedial. Dies bedeutet allerdings de facto zugleich eine Gesamtverschiebung in Richtung des Engagements, wohl auch der publizistischen Polarisierung, günstigenfalls der additiven Objektivität. Systemgerecht operiert ein Monopolmedium nämlich nur so lange, als es ein solches Engagement im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung, also ausgewogen, wahrnimmt und sich nicht – aus welchen Gründen immer – dem politischen Dienst irgendwelcher Gruppen verschreibt. Politische Werbung ist ja nur so lange demokratiegerecht, als sie pluralistische bleibt, im Unterschied zu totalitärer Propaganda, die von der einzig zugelassenen Partei monopolisiert wird.47 Bei demokratischen Monopolmedien, in denen das gesamte nationale Multiplikationsvermögen einer ganzen Mediengattung sich konzentriert, spricht daher vieles für die Neutralisierung politischer Propaganda überhaupt, denn propagandistische Monopolmedien sind zumindest tendenziell totalitär. Nicht zuletzt kann auch das große Kapital an Glaubwürdigkeit, das demokratisch kontrollierte Massenmedien mehren,48 46

Im Unterschied zu deutschen Rundfunkgesetzen hält nämlich die bundesrätliche Konzession an die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft aus dem Jahre 1964 nur die Objektivitätsverpflichtung fest. Das Resultat ist nach Jürg Steiner (Gewaltlose Politik und kulturelle Vielfalt. Hypothesen entwickelt am Beispiel der Schweiz. Stuttgart 1970, S. 141) für das Verhältnis von schweizerischen Monopolmedien und schweizerischem politischem System kennzeichnend: »Das Radio und das Fernsehen stellen nur in geringem Maß eigene Forderungen an das politische System.«

47

Geißler, Massenmedien, (Fn 16), S. 34 f.

48

Vgl. u. a. Dahlmüller et al., Kritik, (Fn 13), S. 326; Siegfried H. Drescher: Wirkung des Fernsehens als Quelle aktueller Informationen. In: Publizistik, 14. Jg. (1969), Heft 2, S. 179.

objektivität publizistischer information

– 43 –

durch heftiges und einseitiges Engagement leicht verspielt werden,49 und zwar zum Nachteil der funktionalen Effizienz demokratischer Publizistik überhaupt. 4. Publizistische Objektivität als dynamische Gesamtkonstellation Auch die beste, systemgerechteste Garantierung des Objektivitätspostulats bleibt jedoch letztlich erfolglos, wenn sie nicht alle Stufen des publizistischen Prozesses umfasst. Publizistische Objektivität muss mit andern Worten als eine Art von Gemeinschaftswerk von Publizisten, Publikum und jenen erkannt werden, von denen in den publizistischen Aussagen die Rede ist, den Publizierten also. Zwischen diesen drei Gruppen besteht nämlich ein dynamischer Zusammenhang, von dem die Verwirklichung des Objektivitätspostulats abhängt; insbesondere kann das Publikum durch seine Erwartungen, und vermögen die Publizierten durch ihr Verhalten, z. B. Täuschungsmanöver, die etwaigen Bemühungen der Publizisten um Objektivität zu vereiteln. Publizisten wie Publikum bilden eben selber einen Teil jener Umwelt, die es objektiv darzustellen gilt, und konstituieren so den systematischen Zusammenhang mit, in dem publizistische Objektivität jeweils mehr oder weniger postulatsgemäß verwirklicht wird. (4.1) Systematische Voraussetzungen Die allgemeinste der systematischen Voraussetzungen publizistischer Objektivität, die über die beschriebenen systemgerechten Garantierungsmaßnahmen hinaus erfüllt sein müssen, besteht darin, dass die Bewusstseinsstrukturen der am publizistischen 49

Franz Dröge / Rainer Weissenborn / Henning Haft: Wirkungen der Massenkommunikation. Münster 1969, S. 115 f.; Marvin Karlins / Herbert I. Abelson: Persuasion. New York 21970, S. 108 f.

– 44 –

ulrich saxer

Prozess Beteiligten nicht allzu verschiedenartig sind. Ein Minimum an gemeinsamem Wirklichkeits-, Sinn- und Demokratieverständnis müssen Publizisten, Publizierte und Publikum teilen; andernfalls verhindern Missverständnisse und Manipulation, Tarnverhalten und Intoleranz gegen jede Information, welche die eigenen Vorurteile nicht bestätigt, von jeder der drei Positionen aus die Verwirklichung des Objektivitätsprinzips. 50 Im einzelnen verlangt Objektivität von den Publizisten sowohl ein bestimmtes Können als auch ein gewisses Wollen. Wirklichkeitsund publikumsgerecht vermag schließlich die journalistische Reduktion von Umweltkomplexität nur zu sein, wenn die Publizisten über beides ausreichend Bescheid wissen. Die Qualität der Ausbildung und der Arbeitsbedingungen wirkt sich demnach direkt auf die Objektivierungsleistungen der Publizisten aus. Die alte und professionalisierungshindernde Forderung nach völlig freiem Zugang zu den journalistischen Berufen überzeugt unter diesen Umständen weniger als diejenige nach freierem Zugang zu den Informationsquellen. Als professionalisierter vermöchte sich der Journalistenstand zweifellos auch besser gegen objektivitätsfeindliche Zumutungen zu behaupten, dank höherem Prestige, aber auch dank wirkungsvoller sanktionierten entsprechenden berufsethischen Normen. Zu Recht wird ja das Objektivitätsproblem im publizistischen Rollenzusammenhang immer wieder auch maßgeblich als eines der Einstellung behandelt.51 Was die Arbeitsbedingungen der Publizisten im besonderen betrifft, so verschiebt sich die Entstehung der Nachrichten zusehends in Kommunikationsinstitutionen, wie behördliche Pressestellen oder Public-Relations-Agenturen, die den publizistischen 50

Horst Reimann: Kommunikationssysteme. Umrisse einer Soziologie der Vermittlungs- und Mitteilungsprozesse. Tübingen 1968.

51

Merrill / Lowenstein, Media, (Fn 9), S. 228 f.

objektivität publizistischer information

– 45 –

Medien vorgelagert sind und ihnen als Quellen dienen. Das quellenkritische Vermögen der Publizisten gewinnt unter diesen Umständen für die Erhaltung vertretbarer Objektivitätsstandards immer größere Bedeutung, wobei aber der Quellenvergleich nach wie vor die eigene Recherche nur unzulänglich ersetzen kann. Alles, was ja die Abhängigkeit der Publizisten und Medien von ihren Informationsquellen verstärkt, sei es ungenügendes Wissen, sei es Kumpanei oder wirtschaftliche Verpflichtetheit, schwächt nämlich den Faktor »Publizisten« in der objektivitätsrelevanten Gesamtkonstellation zugunsten des Faktors »Publizierte«. 52 Voraussetzung objektiver Publizistik hinsichtlich dieses zweiten Faktors ist denn auch eine politische Kräfteverteilung, die es keiner Gruppe gestattet, ausschließlich ihren Objektivitätsbegriff in der Publizistik durchzusetzen. Dieser enthält einfach zu viel Eigenperspektive, als dass er nicht andere Gruppen benachteiligte. Was nicht mit der Gruppenselbstdarstellung übereinstimmt, wird ja darum sehr rasch schon als Kritik und damit als Objektivitätsverstoß empfunden, die publizistische Reproduktion dieser Selbstdarstellung von andern Gruppen hingegen gerade als Schönfärberei.53 Der Kirche einen besonderen, in eigener Regie 52

Heinz Werner Hübner: Politische Interessen und Fernsehobjektivität. In: Saxer, Objektivität, (Fn 5), S. 77; Chaïm Perelman: A propos de l'objectivité de l'information. In: Publics et techniques de la diffusion collective. Etudes offertes à Roger Clausse, Bruxelles 1971, S. 181 f.

53

Der 1972 aufgrund massiver Angriffe der Schweizerischen Volkspartei auf das Fernsehen der deutschen und rätoromanischen Schweiz verfasste Untersuchungsbericht der Kommission Luvini (Gastone Luvini / Franz Riklin / Willi Ritschard / Stefan Sonder [Kommission zur Abklärung der Vorwürfe in der SVP-Dokumentation]: Bericht, 1972) veranschaulicht die Probleme im Zusammenhang mit gruppenspezifischen Objektivitätsbegriffen recht eindrücklich. Vgl. auch Ulrich Saxer: Fernsehen und Objektivität. In: Saxer, Objektivität (Fn 5), S. 126 f.; Rüdiger Proske: Über die Fragwürdigkeit der Objektivität. Anmerkungen zum Thema Dokumentarsendungen. In: Christian Longolius (Hrsg.), Fernsehen in Deutschland. Gesellschaftspolitische

– 46 –

ulrich saxer

betriebenen Radio- und Fernsehfunk in einem sonst demokratisch kontrollierten und damit einer pluralistischen Objektivitätsperspektive verpflichteten Medium zuzugestehen, muss somit – auch wenn gerade auf diese Weise irgendwelche »höhere« Objektivität angestrebt wird – als Verstoß gegen diese systematische Voraussetzung bewertet werden.54 Publizistische Objektivität kommt schließlich auch nur dann zustande, wenn das Publikum fähig und willens ist, diese Art von Medienangebot zu schätzen. Der Freizeitempfang publizistischer Aussagen zeitigt ja leicht Zerstreuungsansprüche, die zumal durch reduktive publizistische Objektivität gerade enttäuscht werden. Starke gruppenloyale Verhaftung bzw. mangelnde Empathie des Publikums reduzieren ferner die Rezeptionsbereitschaft für Informationen jenseits der eigenen Gruppenvorurteile auf ein Minimum bzw. engen überhaupt das einigermaßen intentionsgerechte Verständnis publizistischer Informationen radikal ein. »Der Zuschauer als Manipulator«55 durchkreuzt eben nicht nur die Absichten publizistischer Manipulatoren, sondern auch von ehrlich um Objektivität bemühten publizistischen Informatoren. Die systematischen Voraussetzungen beim Faktor »Publikum« wären daher durch dessen intensivere Erziehung zu einer kritisch-verständnisvollen Mediennutzung zweifellos noch zu verbessern und damit auch wieder die Nachfrage nach einem objektiven publi-

Aufgaben und Wirkungen eines Mediums, Mainz 1967, S. 133 f; Kurt Sontheimer: Politische Berichterstattung im Fernsehen und gesellschaftliche Kontrolle. In: Publizistik, 14. Jg. (1969), Heft 2, S. 154-161. 54

Dies um so mehr, je stärker sich die Tendenz bei den Kirchen durchsetzt, sich zunehmend als politische und nicht bloß als kulturelle Institutionen zu definieren und zu verhalten.

55

Hertha Sturm: Der Zuschauer als Manipulator. In: Saxer, Objektivität, (Fn 5), S. 95-105.

objektivität publizistischer information

– 47 –

zistischen Angebot größer.56 Solange allerdings die breite Rezipientenschaft die Television zum Beispiel für objektiv hält, zugleich aber doch findet, es kämen dort nicht alle Parteien gleich zu Wort,57 so lange werden Publizisten mit erheblichen Publikumswiderständen gegen objektive Information rechnen müssen. Eine vergleichbare Berücksichtigung von Regierung und Opposition gilt nämlich unter solchen Umständen schon als entschiedenes Bekenntnis zur letzteren. (4.2) Systematische Gefährdungen Wo systematische Voraussetzungen für die Verwirklichung des Objektivitätsprinzips fehlen, da ist mit seiner systematischen Gefährdung zu rechnen. Vermag insbesondere einer der drei erwähnten Faktoren der beschriebenen Gesamtkonstellation diese zu seinen Gunsten aus dem Gleichgewicht zu bringen, so kommt es, weil es sich ja um einen systematischen Zusammenhang handelt, zu einem systematisch verzerrten publizistischen Angebot auch in der Demokratie. Dies ist z. B. bei der reinen Gefälligkeitsproduktion gegeben, welche schwache Publizisten für ihr Publikum oder ihre Inserenten auf Kosten der Wirklichkeit leisten müssen. Die Objektivitätsparagraphen in den Regulativen der Monopolmedien stellen darum, da gewöhnlich doch mit einiger Verbindlichkeit ausgestattet, eine gewisse Garantie gegen diese Art von Objektivitätsbeeinträchtigung dar. Den von Johan Galtung bzw. James D. Halloran und ihren Mitarbeitern analysierten Verzerrungsmechanismen lässt sich freilich mit solch einfachen Gleichgewichtsvorstellungen nicht beikom56

Franz Ronneberger: Sozialisation durch Massenkommunikation. In: ders. (Hrsg.), Sozialisation durch Massenkommunikation, Stuttgart 1971, (S. 32101), S. 84; Schlappner, Kamera, (Fn 20), S. 63.

57

Clemens Burrichter: Fernsehen und Demokratie. Bielefeld 1970, S. 147 f.

– 48 –

ulrich saxer

men. Ihr Nachweis von bestimmten Einseitigkeiten in der Berichterstattung auch bester Publikationsorgane stellt nämlich die Realisierbarkeit von publizistischer Objektivität viel grundsätzlicher in Frage, da die Autoren diese Objektivitätsmängel nicht mit speziellen Konstellationen, sondern mit dem publizistischen Apparat schlechthin in Verbindung bringen. Dieser bedingt derartige journalistische Arbeitssituationen und Rollenvorstellungen, dass zum Beispiel weder über das Ausland noch über Demonstrationen wirklichkeitsgerecht referiert wird, sondern durchaus im Sinne kultureller und politischer Vorurteile, und zwar keineswegs mit irgendwelchen manipulatorischen Absichten. Manipulation wird damit nicht als beabsichtigter Regelverstoß, sondern gewissermaßen als die unbewusste Regel selber erkannt. Ähnlich wie in der neomarxistischen Kritik, wenn auch mit anderer Begründung, wird der publizistische Objektivitätsanspruch als bloß ideologischer entlarvt. Abzuklären bleibt indes – ganz im Sinne dieser vorsichtig argumentierenden Autoren –, wie unvermeidlich diese Art von publizistischen Verzerrungen tatsächlich ist. Schließlich wird hier nicht global aus dem Wirtschaftssystem auf die unvermeidliche Korruption des publizistischen geschlossen, sondern es werden empirisch die Objektivitätsbeeinträchtigungen durch Stereotypisierung, Vorstrukturierung, Aktualitätsvorstellungen und Binnenorientierung dargetan. In diesem Sinn müssen die Prägnanztendenz der publizistischen Aussagen, die Raschheit, mit der die Tagespublizistik unklare Situationen zu strukturieren hat, die gängigen News-Werte der Journalisten und die starke Orientierung der publizistischen Medien aneinander tatsächlich als stete Gefährdung publizistischer Objektivität durch bestimmte Strukturen des publizistischen Apparats selber erkannt werden. Gerade die von J. D. Halloran et al. untersuchte Demonstration erweist sich allerdings als ein Typ von Ereignis, bei dem publizistische

objektivität publizistischer information

– 49 –

Objektivität besonders schwer zu verwirklichen ist, weshalb sich auch die erwähnten Mängel des publizistischen Apparates kumulativ auswirken.58 Zu irgendwelchen verabsolutierenden Schlüssen berechtigen mit andern Worten auch diese empirischen Befunde nicht; sie decken aber immerhin auf, wie sehr die Verwirklichungschancen publizistischer Objektivität von der jeweiligen Nachrichtensituation und vom gegebenen Informationsthema abhängen. Zusätzlichen empirischen Untersuchungen ähnlicher Art obläge es, die in dieser Hinsicht zu erwartenden publizistischen Leistungsunterschiede systematischer zu erhellen. Abgesehen von ihrem Zusammenwirken müssen aber auch viele einzelne dieser Verzerrungsmechanismen, die zumal Soziologen wie die erwähnten oder auch z. B. G. Tuchman, T. Shibutani, L. Sigelman und andere hervorgehoben haben, als systematische Gefährdungen publizistischer Objektivität interpretiert werden. Die Ähnlichkeit der Aufgabe des Soziologen und des Publizisten, eben objektive Information zu produzieren – bei freilich viel ungünstigerer Arbeitssituation des letzteren –, mag dabei wissenssoziologisch das besondere Gewicht erklären, das diese soziologischen Publizistikkritiker auf die geringere Gültigkeit dieser journalistischen Objektivität legen.59 Die beträchtlichen Unterschiede dürfen freilich hier auch nicht übersehen werden: Publizistische Objektivität soll einfach ausreichende und verlässliche Daten bereitstellen, aufgrund deren der Rezipient sich entscheiden kann; sozialwissenschaftliche Objektivität indes soll dermaßen gesicherte Erklärungen formulieren, dass auch jeder Mitwissenschaf-

58

Dies hängt maßgeblich damit zusammen, dass der Veranstaltungstyp »Demonstration« selber immer perfekter zu einer Art Gegenmedium ausgestaltet und auf den publizistischen Apparat angesetzt wird, dessen Objektivierungskapazität vielfach überfordernd.

59

Tuchman, Objectivity, (Fn 43), S. 662-668.

– 50 –

ulrich saxer

ter ihnen zustimmen muss. Andererseits bedingt natürlich das rasche Strukturieren unübersichtlicher Situationen, das der Tagesjournalismus zu leisten hat, tatsächlich den ständigen Rückgriff auf oft wenig gegenstandsgerechte Klassifikationsschemata, und auch die publizistische Faktenverifizierung hat ganz andern Ansprüchen, nämlich denjenigen des Common sense, des Presserechts und der Vorgesetzten,60 zu genügen als die sozialwissenschaftliche. Das Prinzip der stellvertretenden Augenzeugenschaft wiederum, das letztlich bei publizistischer Objektivität praktiziert wird, zeitigt, auch bei publizistischer Teamarbeit, immer wieder Profilierungen bzw. Nivellierungen der Realität in der publizistischen Aussage analog zum »sharpening« und »leveling« individueller Perzeption.61 Diese Prägnanztendenz von Publizistik wird durch die üblichen journalistischen Vorstellungen von notwendigen Konzessionen an das beschränkte Verständnis und Interesse von Freizeitrezipienten noch verallgemeinert und verstärkt. Das Publikum beeinträchtigt demzufolge publizistische Objektivität ebensosehr durch die Idee, die sich der Kommunikator von ihm formt, wie durch sein tatsächliches Verhalten.62 Einer angeblich nur auf Sensationen erpichten, unverständigen Klientel kann man schließlich keine sachlichen und differenzierten Wirklichkeitsschilderungen zumuten; und ein Publikum, das als Teil der einzufangenden Wirklichkeit selber etwaigen Manipulatoren allzu 60

Vgl. u. a. Lee Sigelman: Reporting the News. An Organizational Analysis. In: American Journal of Sociology, vol. 79 (1973), Nr. 1, S. 132 f.; Tuchman, Objectivity, (Fn 43), allenthalben.

61

Manfred Koch / Waltraud Hausmann: »Auf ewig«. Inhaltsanalytische Untersuchung über den Kommunikationseinfluß nach der Bundespressekonferenz vom 9. Mai 1969. In: Publizistik, 16. Jg. (1971), Heft 4, (S. 369-378), S. 375 f.

62

Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Hamburg 1963, S. 103-109.

objektivität publizistischer information

– 51 –

bereitwillig hilft – z. B. bei gestellten Aufnahmen –, einen publizistischen Schein zu erzeugen, überhaupt aus Bequemlichkeit sich Sensationalisierungen oder Ausbeutung seiner Vorurteile gerne gefallen lässt oder aber durch ein entsprechendes Tarnverhalten ehrliche Informationsbemühungen in die Irre leitet, verunmöglicht publizistische Objektivität auf seine Weise. Die gravierendste solcher systematischen Beeinträchtigungen publizistischer Objektivität ist indes nicht beim Publikum, sondern im gemischten Rollenverständnis der Publizisten zu sehen, das aus der Spannung zwischen Objektivitäts- und Aktualitätsprinzip entsteht. Darum laviert man denn auch bei der Bestimmung der sogenannten Nachrichten- oder News-Werte in allen Medien zwischen diesen beiden Verpflichtungen. Was J. Galtung, J. D. Halloran, G. Tuchman und andere an solchen Werten der Journalisten ermittelt haben, erweist sich demzufolge als ein sehr problematisches Konglomerat von Vorstellungen über die »Mediumsgerechtheit« von Ereignissen, ihrer »absoluten« Wichtigkeit und ihrer vermuteten Relevanz bzw. Attraktivität für die jeweilige Rezipientenschaft. Ausgerechnet diese reichlich unklaren und infolge der meist informellen beruflichen Sozialisation der Publizisten auch nicht richtig artikulierbaren Kriterien, welcher Tatbestand nun welche publizistische Berücksichtigung als Nachricht, als Neuigkeit verdiene, werden indes von vielen Journalisten gerade als der Kern ihres professionellen Wissens eingeschätzt und dementsprechend auch verteidigt. Diese Vermengung von Aktualitäts- und Objektivitätskriterien führt dann eben dazu, dass sich die publizistischen Medien gegenseitig ebensosehr die allerjüngsten Trivialitäten abjagen, die gewisse dramatisch verdichtete Verlaufsformen aufweisen, wie sie weniger spektakuläre Sachverhalte referieren, die dafür von großer Tragweite für sehr viele Leute sind. Infolge dieser Interferenzen von Aktualitäts- und Objektivitätsprinzip in den gängigen

– 52 –

ulrich saxer

journalistischen Nachrichten- und News-Werten63 verschiebt sich das erforderliche Gleichgewicht von Ereignis- und Publikumsgerechtheit immer wieder in Richtung der letzteren, im Extremfall mit dem Resultat eines publizistischen Benachrichtigungsstils, dem die Sparte »Unglücksfälle und Verbrechen« Vorbild zu sein scheint. Die ausdrückliche Verpflichtung der Radio-und Fernsehjournalisten auf die Aktualität von Ereignissen als Selektionskriterium im Informationsstatut des ORF64 entbehrt unter diesen Umständen, bei aller Berechtigung, nicht einer gewissen Problematik; die Informationsrichtlinien der SRG fordern jedenfalls expressis verbis den Vorrang des Objektivitäts- vor dem Aktualitätsprinzip im Monopolmedium65. Freilich darf nun aus dieser Spannung zwischen dem Objektivitäts- und dem Aktualitätsprinzip auch wieder nicht auf eine prinzipielle Unvereinbarkeit der beiden geschlossen werden. Schon allein die Tatsache, dass in autoritären und totalitären Gesellschaften das Aktualitätsprinzip durch das opportunistische Timing – die Manipulation der Veröffentlichungszeitpunkte also, und zwar im Interesse der herrschenden Machtelite – ersetzt wird,66 reiht ja die Verpflichtung zur Aktualität unter diejenigen demokratischer Massenkommunikation ein. Selbstverständliches Merkmal jeder objektiven Publizistik von ihrer demokratischen Funktion her ist schließlich, dass auch der Zeitpunkt der Nachrichtenveröffentlichung den Rezipienten maximale Selbständig63

Zum Aktualitätsprinzip vgl. neben Galtung, Foreign News, (Fn 11), Halloran, Demonstrations, (Fn 11), Gaye Tuchman: Making News by Doing Work: Routinizing the Unexpected. In: American Journal of Sociology, vol. 79 (1973), Nr. 1, p. 110; auch Ulrich Saxer: Actualité et publicité. In: Diogène, Nr. 68 (Octobre-Décembre 1969), S. 57 f.

64

Informationsstatut des ORF vom 1. Juli 1971, iv.

65

Vgl. Fn 3.

66

Vgl. Anton Buzek: Die kommunistische Presse. Frauenfeld 1965, S. 202 f.

objektivität publizistischer information

– 53 –

keit ihres Sich-darnach-Richtens verbürgen, also möglichst nah dem tatsächlichen Geschehen sein muss. Umgekehrt zwingt das Aktualitätsprinzip die Publizisten tatsächlich, ständig nach dem Unerwarteten, dem Regel- und Normdurchbrechenden Ausschau zu halten. Damit kommt in die demokratische Nachrichtenpublizistik eine dauernde Verzerrung zugunsten des Regelwidrigen, ja des Chaotischen, und des Neuen, das aufs merkwürdigste mit der unveränderlichen Euphorie der kommerziellen Reklame in denselben Medien kontrastiert. Nicht wie gut die Stromversorgung stets funktioniert, wird bekanntlich von der publizistischen Information festgehalten, sondern bloß wenn und dass sie einmal ausfällt. Nicht bloß zwischen Objektivität und Aktualität, vielmehr zwischen Objektivität und Information schlechthin werden hier freilich Spannungen zum Schaden der ersteren offenbar. Versteht man nämlich Information im Sinne der Informationstheorie als Verminderung von Ungewissheit, von Nichtwissen, so eignet nun einmal dem Normwidrigen von vornherein höherer Informationswert als dem Überkommenen, Regelhaften; beides zusammen macht indes die objektive Wirklichkeit aus. Der Ruf nach mehr »positiver« Information namens mehr Objektivität67 kann darum auch wieder nur analoge Abweichungen vom Erwarteten, nun aber besonders erfreulicher Art, meinen; die Hervorhebung gewöhnlicher Regelhaftigkeit bedeutete dagegen einfach Werbung für den Status quo. Bloß wenn es als Korrektiv des selbstverständlich zu praktizierenden und in allen Demokratien auch praktizierten Aktualitätsprinzips begriffen wird, optimiert mit andern Worten das Objektivitätsprinzip die politische Kommunikation im Sinne einer demokratischen Partizipation.

67

Galtung / Ruge, Foreign News, (Fn 11), S. 293.

– 54 –

ulrich saxer

5. Die praktische Verwirklichung publizistischer Objektivität Die Analyse der dynamischen Gesamtkonstellation, aus der publizistische Objektivität wird oder eben nicht wird, hat angesichts gewisser systematischer Gefährdungen schon tief in Probleme der praktischen Realisierung des Objektivitätspostulats durch den publizistischen Apparat demokratischer Gesellschaften geführt. Diese Praktiken müssen nun in einer der publizistischen Wirklichkeit nahen Diskussion noch etwas systematischer dargestellt und in ihrem Einfluss auf die politische Kommunikation erfasst werden. Was dabei von Anfang an immer berücksichtigt werden muss, ist die doppelte Funktionalität dieser Objektivierungsusancen als Legitimationsinstrumente der Publizisten und ihres Tuns wie als Hilfsmittel zur tatsächlichen Objektivierung der publizistischen Produktion. Auch in diesem Fall genügt mit andern Worten der wissenssoziologische Bezug auf die Positionsprobleme der Publizisten keineswegs für die Würdigung der Gesamtrelevanz dieser Praktiken noch gar für eine Diskreditierung ihrer tatsächlichen Effizienz.68 (5.1) Objektive publizistische Aussagen Die systemgerechte Makro-Garantierung publizistischer Objektivität und auch die Erfüllung der erwähnten systematischen Voraussetzungen sichern das Objektivitätsprinzip noch nicht ausreichend; es müssen vielmehr von publizistischer Seite auch die entsprechenden besonderen Techniken entwickelt werden, die unter den diesbezüglich vielfach ungünstigen publizistischen 68

Der Vorwurf einer solch einseitigen Interpretation kann z. B. Tuchman (Objectivity, [Fn 43]) nicht erspart werden; entsprechend auch die Korrekturen von Herbert I. Gans: The Famine in American Mass-Communications Research: Comments on Hirsch, Tuchman, and Gecas. In: American Journal of Sociology, vol. 77, Nr. 4 (Jan. 1972), S. 697 f.

objektivität publizistischer information

– 55 –

Arbeitsbedingungen trotzdem einigermaßen Gewähr für eine regelmäßige objektive Informationsproduktion bieten. Ihrer doppelten Funktionalität wegen müssen diese Objektivierungstechniken sowohl mediumextern wie -intern, also Publikum wie Vorgesetzte, in ähnlicher Weise überzeugen, obliegt doch Chefredakteuren, Intendanten usw. maßgeblich die Optimierung des Außenverhältnisses publizistischer Institutionen. Solche allgemeine Plausibilität gewinnen Techniken indes nur, wenn sie auf der Ebene des Common sense einleuchten, und genau auf diesen sind auch die gängigen einfachen Klassifikationen von »Information« und »Kommentar« oder »harten« und »weichen« Nachrichten zugeschnitten,69 und damit zugleich auch auf die informellen Sozialisationspraktiken eines weitgehend frei zugänglichen Berufs. Common sense gebietet es, gewisse, höchst wahrscheinliche Tatbestände einfach – also nicht weiter recherchiert – als zutreffend anzunehmen und andere, höchst unwahrscheinliche von vornherein auszuschließen, bei gewissen Zweifeln noch einen bestimmten Typ von Zusatzinformationen zu suchen, bei komplexen, strittigen Themen die Auffassungen verschiedener Leute, die als sachverständig oder aber als unterschiedlich betroffen gelten können, einzuholen usw., und alles dies ist dann schließlich als zuverlässige, eben »objektive« Orientierungsgrundlage anzuerkennen und zu nutzen wie in der gewöhnlichen, nichtpublizistischen Lebenspraxis auch.70 Das konsensuelle Moment, das als dermaßen konstitutiv für publizistische Objektivität er-

69

Vgl. Tuchman, Making News, (Fn 63), S. 113 f.

70

Belege für solche und analoge Objektivierungstechniken finden sich u. a. bei Bäuerlein, Objektivität, (Fn 10), Halloran, Demonstrations, (Fn 11), Sigelman, Reporting, (Fn 60), Tuchman, Objectivity, (Fn 43) sowie dies., Making News, (Fn 63), bzw. in den einschlägigen Regulativen von ARD, ORF, SRC, ZDF, allenthalben.

– 56 –

ulrich saxer

kannt wurde, prägt ganz selbstverständlich auch die publizistischen Instrumente, die sie verwirklichen helfen sollen und auch nur unter diesem Gesichtspunkt angemessen beurteilt werden können. Das Wort »Objektivität« greift für diese Praxis freilich etwas hoch und wird gerade darum von vielen Publizisten selber abgelehnt. Was ist dies, tatsächlich, für eine Objektivität, die olympische Feierstunden als öffentlich relevant publizistisch überbeleuchtet, über Arbeitswelt und Kindererziehung dagegen als »privat« kaum referiert?71 Solch gängiger Kritik ist indes nicht nur entgegenzuhalten, dass die um Objektivität bemühten publizistischen Medien zum Beispiel sehr wohl die beschränkte Bedeutung sogenannter »protokollarischer« Nachrichten,72 öffentlicher Repräsentationsakte also, zu gewichten wissen, sondern auch, dass eben die Objektivitätsgarantie primär auf das schon politisch Thematisierte sich bezieht, nicht auf das unter Umständen zu Politisierende. Wenn also, ganz konkret, Rechtsordnung und überwältigend mehrheitliches Rezipientenbewusstsein die Kindererziehung der Intimität der Familie überantworten, dann kann nur das engagierende, nicht das referierende publizistische Prinzip diese Erziehungspraktiken um ihrer etwaigen politischen Konsequenzen willen als öffentlichen Gegenstand, und zwar gar regelmäßig, behandeln. Selbst die Wahl des absolut klingenden Begriffs »Objektivität« für die nur relativ praktikable Norm mag immerhin soweit funktional sein, als er nicht durch Einblick in diese Relativität das Publikumsvertrauen in den publizistischen Apparat von vornherein empfindlich senkt und zugleich auch recht hohe Leistungsmaßstäbe setzt. 71

Vgl. z. B. Oskar Negt / Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Frankfurt 1972.

72

Nachrichtenstatut des ORF vom 23. Mai 1967, S. 5.

objektivität publizistischer information

– 57 –

Im einzelnen können gemäß den Phasen der journalistischen Informationsarbeit Kontroll-, Interpretations-, Selektions- und Präsentationstechniken bzw. -prinzipien unterschieden werden, welche die Objektivität der publizistischen Aussagen sichern sollen: 1. Die hier wichtigen Kontrolltechniken betreffen vor allem die Umwelt, und zwar ist nicht nur für tatbeständliche Richtigkeit bzw. ausgewogene Quellenberücksichtigung im Sinne additiver Objektivität zu sorgen, sondern zum Beispiel auch gemäß der Verpflichtung zum Nicht-Engagement der Einfluß der eigenen Berichterstattung auf den Verlauf der politischen Ereignisse zu minimieren. All die unzähligen auf die Medien berechneten politischen Inszenierungen, seien es Parteikonvente oder Demonstrationen, stellen ja Versuche dar, die Massenkommunikationsmittel für partikuläre Zwecke einzuspannen, was sich mit dem Objektivitätspostulat natürlich nicht vereinbaren lässt. Das Kriterium der Vollständigkeit, das bei der Selektion und Präsentation publizistischer Information in bestimmtem Sinn gilt, darf also zum Beispiel bloß unter Berücksichtigung solcher Wirkungskontrollen zur Anwendung kommen. Gerade der Siegeszug der auffälligen TV-Produktion hat solche Verzerrungsmöglichkeiten der politischen Prozesse durch Publizistik vervielfältigt. 73 2. Als Interpretationshilfe, welche objektive Information verbürgen soll, dient in erster Linie ein Satz handfester, das anfallende Material rasch sichtender Klassifikationen, allen voran natürlich die bekannte Gegenüberstellung von »Tatsachen« und »Meinungen«, »facts« und »comment«. Selbstverständlich ist diese Unterscheidung auch wieder nur so relativ praktikabel wie die ganze Objektivitätsnorm überhaupt. Immerhin vermag der Verpflichtungs73

Das Versagen solcher Techniken behandeln sehr instruktiv Kurt Lang / Gladys Engel Lang: Politics and Television. Chicago 1968.

– 58 –

ulrich saxer

gehalt der Idee reiner Faktizität die publizistische Subjektivität wenigstens in Richtung reduktiver Subjektivität zu disziplinieren, als er sie letztlich zur Beschränkung auf die Beschreibung des Beobachtbaren zwingt. Schon Hypothesen über Motive oder Ursachen von Handlungen oder Ereignissen, die sorgfältig zu ermitteln der Tagesjournalismus gewöhnlich ohnehin keine Zeit hat, gelten in dieser Klassifikation dagegen als »Meinungen« und werden – falls überhaupt – nach den Regeln additiver Objektivität, also in ausgewogener Zitation verschiedener Standpunkte behandelt. Die Oberflächlichkeit bloßer Tatsacheninformation liegt unter solchen Umständen auf der Hand, maximiert aber eben auch die Korrektheit der Tatbestandswiedergabe und die soziale Sicherheit der Publizisten zugleich. Als »facts« gelten umgekehrt freilich auch gesellschaftlich kursierende Meinungen, selbst wenn es bloß die öffentlich verlautbarten Zwecklügen von Politikern sind. Publizistische Objektivität hat es eben, wie schon früher dargetan, nicht schlicht mit »der Wahrheit« zu tun. Faktizität insbesondere muss vielmehr als spezifischer publizistischer Modus von Komplexitätsreduktion erkannt werden, der auch im Meinungsfeld Anwendung finden kann, soweit es um den Zusammenhang von Meinungen und Meinungsträgern, um die statistische Verteilung von Meinungen oder um die Beschreibung von deren inhaltlichen Differenzen geht. Je tiefer nun ein Artikel oder eine Sendung in eine Materie eindringt, desto weiter entfernen sie sich gewöhnlich vom Reduktionsmodus bloßer Faktizität, und die Objektivitätsgarantie muss dann z. B. durch ein pluralistisch zusammengesetztes Interpretationsteam von Publizisten, durch einen ausgewogenen Expertenbeizug usw. geleistet werden.74 74

Zu »facts« und »comment« vgl. vor allem Gans, The Famine, (Fn 68), S. 702 f., und Tuchman, Objectivity, (Fn 43) sowie dies., Making News, (Fn 63).

objektivität publizistischer information

– 59 –

3. Die Techniken zur Vermeidung von Einseitigkeit bei der Selektion von Tatbeständen gründen regelmäßig in irgendwelchen Vorstellungen von vollständiger Information, die an sich auch wieder leicht zu Missverständnissen führen könnten. Praktisch konkretisieren sie sich indes jeweils analog zu den vorgängigen Kontroll- und Interpretationsvorgängen und durchaus gemäß der zu leistenden maßstabsgerechten Verkürzung von Realität vornehmlich wieder in Ausgewogenheitsregeln. Deren Anwendung wirft zwar insofern immer wieder Probleme auf, als zum Beispiel Meinungsqualität und Meinungsvertreter vielfach unterschiedliche publizistische Berücksichtigung nahelegen. Die banale Mehrheitsmeinung verdient unter dem Gesichtspunkt optimaler Entscheidungsunterlagen für Rezipienten nicht unbedingt viel stärkere publizistische Repräsentation als die kreative Minderheitsmeinung, sobald einmal das statistische Verhältnis der zwei als selbstverständlich weiteres wichtiges Orientierungsdatum bekanntgegeben worden ist. 4. Ausgewogenheit in der Präsentation schließlich bezieht sich ebenso auf die Platzierung von Sendungen und Artikeln wie auf die Aspekte, unter denen Probleme publizistisch abgehandelt werden. Konkurrierende Meinungspositionen zum Beispiel müssen zumindest an vergleichbarer Programmstelle um ein Publikum werben können; Ausgewogenheit in der Problemdiskussion wiederum schließt die einseitige Artikulation religiöser, militaristischer, ästhetischer oder sittlicher Gesichtspunkte in einem Monopolmedium aus. Die vielgeforderte Politisierung aller denkbaren Tatbestände verstößt mithin auch gegen die Objektivierungsregel der Aspektvielfalt.75 75

Ausführlicher dazu Saxer, Objektivität, (Fn 36), S. 4 ff. und (Fn 5), S. 129-132; ferner Matthias F. Steinmann: Publikumsforschung und Programmstruktur beim Schweizer Fernsehen. In: Publizistik, 18. Jg. (1973), Heft 1, S. 71-80.

– 60 –

ulrich saxer

Ausgewogene publizistische Präsentation meint ja soweit immer möglich Überwindung der publizistischen Einzelperspektive, gar von Perspektivität überhaupt, im Sinne additiver Objektivität. Als komplementäres Präsentationsprinzip ist demgegenüber die Trennung von Nachricht und Kommentar zu verstehen, die natürlich das Analogon zur entsprechenden Interpretationstechnik bildet. Auch hier wird begrifflich absolut getrennt, was offenbar bloß unterschiedliche Akzentuierung sein kann und darum auch in idealtypischer Reinheit76 kaum auftritt. Trotzdem leuchtet auch diese Unterscheidung auf der Ebene, auf die sie abzielt – derjenigen des Common sense nämlich –, seit über 100 Jahren ein.77 Objektive Präsentation erfolgt somit, aufs letzte vereinfacht, reduktiv bei demjenigen, was als Nachricht definiert wird, und additiv bei demjenigen, was von den Publizisten als Kommentarmaterie aufgefasst wird. (5.2) Reduktive und additive Objektivität Reduktive und additive Objektivität erweisen sich damit auch hier wieder als die beiden Elementarformen, in denen publizistische Objektivität verwirklicht wird. Selbst noch die Korrektur unzulänglicher publizistischer Informationsleistungen lässt sich auf diese zwei Grundtypen beziehen: die Berichtigung auf reduktive, die Gegendarstellung auf additive Objektivität. Zugleich muss 76

Zur Theorie des Idealtypus vgl. J. Janoska-Bendl: Methodologische Aspekte des Idealtypus. Berlin 1965.

77

So formulierte 1855 Samuel Bowles in seinem ›Springfield Republican‹: »Der redliche Leser mag unsere Meinung vertrauensvoll billigen, wenn er will. Wenn er jedoch, wie es ihm zukommt, das Für und Wider selbst abwägen will, so sind wir verpflichtet, ihm den Rohstoff zu liefern. Und das ist die Philosophie des unabhängigen Journalismus in nuce« (zit. nach Bäuerlein, Objektivität, [Fn 10], S. 22). Als kritische Gegenstimme: Wolfang Koczian: Acht Thesen zur Nachrichtenarbeit. In: Publizistik, 17. Jg. (1972), Heft 2, S. 202-206.

objektivität publizistischer information

– 61 –

erneut betont werden, dass die Praktiken der reduktiven wie der additiven Objektivität stets nur Annäherungswerte an die erstrebte Wirklichkeitstreue der publizistischen Aussage erbringen. Dies entspricht nun einmal der Eigenart des Objektivitätspostulats und den Limitationen publizistischer Arbeit. Umgekehrt ist der Aufwand für die Verwirklichung des Objektivitätsprinzips innerhalb wie außerhalb des publizistischen Apparates, zum Beispiel in Form von Techniken und Garantien, doch so groß, dass auch hieraus auf seine kommunikative Systemrelevanz für das Funktionieren der Demokratie geschlossen werden kann. Der Versuch, die Bedingungen für die Realisierung publizistischer Objektivität zu optimieren, stellt darum auch eines der zentralen Anliegen der kommunikationspolitischen Diskussion dar. Allerdings leidet deren Qualität unter der ungenügenden Unterscheidung von Seins- und Sollens-Stufen. Schon viel wäre gewonnen, wenn vom absoluten Ideal »Objektivität« klar die relative publizistische Norm abgehoben und reduktive und additive Objektivität als Idealtypen im Max Weberschen Sinne und damit als Maßstäbe für die entsprechenden realen publizistischen Bemühungen erkannt würden. Im übrigen kann offenbar die Optimierung der Verwirklichungsbedingungen von publizistischer Objektivität sich sowohl auf die reduktiven wie auf die additiven Varianten und zum dritten auch auf deren Kombination beziehen. Funktionell wirkt sich ja reduktive Objektivität im Regelfall eher publikumsmaximierend und integrierend, additive Objektivität eher gruppenverstärkend und polarisierend aus. Der erste Modus beweist, ähnlich vereinfachend gesagt, stärkere Affinität zum Wirtschafts-, der zweite stärkere Affinität zum politischen System, wie u. a. der Unterschied zwischen liberalen und demokratisch kontrollierenden Objektivitätsgarantien erkennen lässt. Reduktive und additive Objektivität erscheinen in dieser Beleuchtung noch einmal recht eigentlich als komplementäre Modi der

– 62 –

ulrich saxer

Verwirklichung des Objektivitätspostulats. Die Forcierung des einen auf Kosten des andern dürfte daher weder besonders effizient noch wirklich systemgerecht sein. Dies gilt es immerhin zu bedenken zu einer Zeit, da allenthalben Stimmen sich erheben, die den Sinn und die Möglichkeit reduktiver publizistischer Objektivität bestreiten. Dass neuerdings publizistische Praktiker selber recht häufig auch diese Auffassung vertreten, sollte denn auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass additive Objektivität keineswegs die bessere, sondern bloß die leichtere publizistische Praxis ist.78 Gemessen an der publizistischen Grundaufgabe, nämlich maßstabsgerechte Reduktion von Komplexität, bleibt dementsprechend die Reduktionsleistung additiver gegenüber derjenigen von reduktiver Objektivität um eine Stufe zurück. Der Rezipient wird in diesem Fall einfach mit einer Fülle von Perspektiven konfrontiert, aus der er die seinige auswählen muss, während reduktive Objektivität auch noch diese Komplexität auf zugegebenermaßen oberflächliche Faktizität vereinfacht, damit aber immerhin schon eine übergruppenhaft akzeptable Orientierungsgrundlage bereitstellt. Schlüssige Aussagen über ein demokratisch optimales Verhältnis von reduktiver und additiver Objektivität würden freilich voraussetzen, dass das Problem publizistischer Objektivität im Rahmen einer Theorie der politischen Kommunikation noch viel eingehender erforscht wird als bis anhin.

78

Gans, The Famine, (Fn 68), S. 702; Merrill / Lowenstein, Media, (Fn 9), S. 228 f.

Philomen Schönhagen Zur Tradition der Unparteilichkeitsnorm im deutschen Journalismus1

Seit einiger Zeit wird unter dem Schlagwort der ›journalistischen Qualität‹ auch die Frage nach der Objektivität oder Parteilichkeit im Journalismus wieder verstärkt diskutiert. Dabei nehmen die meisten Autoren Bezug auf die angelsächsische Tradition des Objektivitätsprinzips; eine Rolle in der deutschen Journalismusgeschichte wird dieser Handlungsmaxime dagegen in der Regel nicht beigemessen. So schreibt etwa Wolfgang Donsbach: »Wir hatten in Deutschland praktisch bis in dieses Jahrhundert hinein eine eher parteigebundene Presse. Das änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Weimarer Republik war die Mehrzahl der Zeitungen parteigebunden oder an irgendeine andere Institution gebunden, die weltanschauliche Ziele verfolgte. In den USA löste sich dagegen diese Bindung zwischen Presse und Interessengruppen anfangs des 19. Jahrhunderts, also mehr als hundert Jahre eher als in Deutschland.«2 An anderer Stelle bemerkt er noch pointierter: »Meine These lautet: In Deutschland gab es 1

Auszüge (teilw. gekürzt und bearbeitet) aus: Philomen Schönhagen: Unparteilichkeit im Journalismus. Tradition einer Qualitätsnorm. (Verlag Max Niemeyer) Tübingen 1998. (Medien in Forschung + Unterricht, Serie A, Bd. 46.) Die hier vorliegenden Texte sind entnommen: Teil i, Kap. 1 (Traditionen im deutschsprachigen Zeitungswesen), Teil iii, Zusammenfassung (S. 140-143) sowie Teil v, Teilkapitel 2.3 (Zeitungswissenschaftliche Diskussion der Unparteilichkeitsmaxime).

2

Wolfgang Donsbach: Instrumente der Qualitätsmessung – Internationale Entwicklung. In: Bürger fragen Journalisten e.V. (Hrsg.): Pressefreiheit, Pressewahrheit. Kritik und Selbstkritik im Journalismus. Erlangen 1992, (S. 4368), S. 65.

– 64 –

philomen schönhagen

eigentlich nie eine Tradition, durch die der Journalismus sich der Objektivität und Neutralität verpflichtete oder verpflichten musste.«3 Ob diese in der wissenschaftlichen Debatte ebenso wie in der journalistischen Praxis häufig anzutreffende Auffassung der historischen Faktenlage entspricht, wird zu untersuchen sein. Zunächst ist soviel auf jeden Fall festzuhalten: Das Objektivitätsoder Unparteilichkeitsprinzip ist aus der Theorie des Journalismus so wenig wegzudenken wie aus der journalistischen Praxis. Wie Hans Wagner zeigt,4 kommt dem Arbeitsprinzip der Unparteilichkeit für eine Klärung der Funktion von Journalismus grundsätzliche Bedeutung zu. Theoretisch wie historisch belegt, lassen sich zwei Grundtypen des Journalismus funktional unterscheiden: ›Publizist‹ und ›Journalist‹.5 Für diese Unterscheidung 3

Wolfgang Donsbach: Das Verhältnis von Journalismus und Politik im internationalen Vergleich. In: Bürger fragen Journalisten e.V. (Hrsg.): Medien in Europa. Angst als publizistische Strategie? Erlagen 1993, (S. 67-82), S. 70.

4

Vgl. Hans Wagner: Journalismus i: Auftrag. Gesammelte Beiträge zur Journalismustheorie. Erlangen 1995; vor allem das Kapitel zu ›Journalist‹ und ›Publizist‹, S. 94ff.

5

Vgl. hierzu auch Dieter Paul Baumert: Die Entstehung des deutschen Journalismu. Eine sozialgeschichtliche Studie. München/Leipzig 1928; ferner Wilhelm Spael: Publizistik und Journalistik und ihre Erscheinungsformen bei Joseph Görres (1798-1814). Ein Beitrag zur Methode der publizistischen Wissenschaft. Köln 1928, besonders S. 5-24. Ansatzweise kennzeichnet diese beiden Grundtypen journalistischen Arbeitens bereits Paul Jacob Marperger im Jahre 1726 in seiner Schrift über das Zeitungslesen. Allerdings versteht er diese im Hinblick auf vermeintlich höhere und geringere Qualität und nicht als gleichermaßen notwendige, sich ergänzende, aber funktional konträre Prinzipien. Es heißt dort, dass die Zeitungen »entweder aufrichtig, zuverläßig, unpartheyisch, wohlbedächtlich und nach geschehener wohlgegründeter Confirmation« bearbeitet und verbreitet würden, oder aber »fälschlich und zum Theil erdichtet, boßhafftiger Weise exaggeriret und vermehret, partheyisch oder doch ungegründet auf den ersten davon einlauffenden Ruff [...], ohne erwartete Confirmation, mehrenteils muthmaßlich...«. Paul Jacob

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 65 –

zentral sind die jeweils dominanten Arbeitsprinzipien. Die Arbeit des ›Publizisten‹ ist »abhängig von der eigenen Position, vom eigenen Standort, von der eigenen Betroffenheit und dem eigenen Interesse«6 und zielt darauf, die Dinge aus eigener Sicht und Erfahrung zu erklären, zu interpretieren und natürlich auch, andere davon zu überzeugen; meinungsbildend zu wirken also. Damit entspricht sie gewissermaßen der ›natürlichen‹ Kommunikationssituation, wo jedermann Publizist in eigener Sache ist.7 Solchermaßen publizistischer Umgang mit den ›Zeitungen‹, womit bis ins 19. Jahrhundert hinein Nachrichten gemeint waren,8 lässt sich zurückverfolgen bis auf die Liedzeitungen des 16. Jahrhunderts und manifestierte sich bis ins 19. Jahrhundert hinein in speziellen Medien wie dem Flugblatt und politischen Zeitschriften, war aber in der Regel nicht Bestandteil der periodischen, einoder mehrmals wöchentlich erscheinenden Nachrichtenblätter. Durch ihr regelmäßiges Erscheinen unterlagen diese naturgemäß stärker der Kontrolle der absolutistischen Obrigkeit und ihre Herausgeber damit der Gefahr drakonischer Bestrafung, wenn sie – die häufig selbst die ›Redaktion‹ innehatten – gegen Verbote des Räsonierens verstießen. Die nicht selten mobilen Drucker und Marperger: Anleitung zum rechten Verstand und nutzbarer Lesung Allerhand so wohl gedruckter als geschriebener, Post-Täglich aus unterschiedlichen Reichen, Ländern und Städten, in mancherley Sprachen und Format einlauffender Ordentlicher und Außerordentlicher Zeitungen oder Avisen. o.O., o.J. [1726], S. 3 f. u. S. 20. Zitiert nach Klaus Beyrer / Martin Dallmeier: Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte. Gießen 1994, S. 26 (und S. 196). 6

Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 98.

7

Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 98 (in Anlehnung an Heinz Starkulla).

8

Vgl. Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse. Teil i. Unveränderter Neudr. der Originalausgabe von 1969. Berlin 1988, S. 15. – Vgl. ferner Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Nachdruck d. Erstausgabe, München 1984, Bd. 31, Sp. 591ff.

– 66 –

philomen schönhagen

Herausgeber von Einzeldrucken dagegen – zudem eher in der Lage, ihre Anonymität zu wahren – konnten sich diesen Gefahren leichter entziehen, nicht zuletzt durch Flucht über eine der zahlreichen Landesgrenzen.9 Schon aufgrund dieser Situation war es für die Zeitungsmacher eine Frage der Existenz, auf Stellungund Parteinahme zu verzichten. Mehr noch drängte der Einfluss der Obrigkeit wohl zum opportunistischen Parteigängertum, dem aber musste wiederum das wirtschaftliche Interesse der Zeitungsmacher entgegenstehen. Dem nämlich wäre es abträglich, wenn »nach (subjektiven) Parteilichkeitsgesichtspunkten die Bedürfnisse eines Teils im Publikum bevorzugt oder die eines anderen Teils im Publikum vernachlässigt« würden.10 In den periodischen Nachrichtenzeitungen kam somit die Arbeit des ›Journalisten‹ zum Tragen, die auf eine Nachrichtenbedarfsbefriedigung für jedermann zielt. Hier orientiert sich die Berichterstattung nicht am eigenen oder einem bestimmten, einzelnen Interesse, in dessen Auftrag der ›Publizist‹ handelt, sondern an den gesamten Interessen des relevanten Gesellschaftsbereiches, der im jeweiligen Medium ›kommuniziert‹ werden soll – dies auch im Sinne der wirtschaftlichen Interessen des Herausgebers oder Verlegers, der für sein Produkt ›Zeitung‹ eine optimale Marktorientierung (Absatz) anstreben muss.11 Das Arbeitsprinzip 9

Vgl. z. B. Paul Roth: Die Neuen Zeitungen in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Leipzig 1914, S. 53-60. Vgl. auch Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 94ff.

10

Wagner, Auftrag, (Fn 4),S. 108.

11

Vgl. Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 107 f. Auch Karl Schottenloher (Flugblatt und Zeitung. Neudr. der Erstausgabe, München 1985, S. 157 u. S. 8) sieht als treibende Kraft, die zur regelmäßigen Verbreitung gedruckter Nachrichten geführt hat, die »möglichst wirksame Ausnutzung der Nachricht als Handelsware«, die geschäftlichen Interessen von Buchdruckern und anderen im Zeitungsgewerbe tätigen Berufen. Otto Groth vertritt ebenfalls die Ansicht, »geschäftliche Zwecke« hätten die Vermittler des 17. Jahrhunderts geleitet.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 67 –

des ›Publizisten‹ ist somit wesentlich gekennzeichnet durch Parteilichkeit, der ›Journalist‹ dagegen verarbeitet Nachrichten nach dem Grundsatz der Unparteilichkeit.12 Aber wann diese typenbildende Norm der Unparteilichkeit oder zumindest die »Etikettierung ›unparteilich‹ in Zeitungstiteln, in Zeitungs-Programmen und Privilegien-Dokumenten erstmals auftritt, ist unsicher.«13 Walter Schöne erklärt in einem Aufsatz über »Zeitungsgewerbe und Publizistik« von 1928: »Von den ersten Anfängen an bezeichneten sich [...] die Zeitungen gern als unparteiisch: sie wollen nach keiner Seite hin Anstoß erregen«, denn die Zeitung verlange »als wirtschaftliche Unternehmung Anpassung, wenn sie sich nicht selbst verneinen will. [...] Jene Postmeister, Frachtführer, Buchdrucker, Buchhändler, denen wir im 16. und 17. Jahrhundert als Gründer von Zeitungen begegnen [...] waren politisch neutral und mussten es sein«, nicht nur wegen der Zensur, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen: »Das investierte Kapital war damals schon erheblich.« 14 (Otto Groth, Die unerkannte Kulturmacht. Berlin 1961, Bd. 2, S. 348.) Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich Wilhelm Spael (Publizistik, [Fn 5], S. 13) der Abgrenzung des Journalisten gegenüber dem Publizisten dadurch nähert, dass er »die Zeitung als gewerbsmäßiges Unternehmen« auffasst. 12

Vgl. zu diesen unterschiedlichen Funktionen und Arbeitsprinzipien auch Peter Ukena: Tagesschrifttum und Öffentlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland. In: Elger Blühm (Hrsg.): Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München 1977, (S. 35-53), S. 46f.

13

Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 99.

14

Walter Schöne: Zeitungsgewerbe und Publizistik. In: Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgrafik. Pressa-Sonderheft 4/1928, (S. 185-191), S. 186. Julius Otto Opel (Die Anfänge der deutschen Zeitungspresse 1609-1650. Leipzig 1879, S. 24) zeigt, dass auch die ersten periodisch erscheinenden geschriebenen Zeitungen (in Nürnberg seit 1587) in einem »geschäftsmäßigen« Ton ohne eigene Anteilnahme geschrieben und nur sehr selten mit Lob oder Tadel, Hoffnungen oder Befürchtungen verknüpft wurden: »Selbst die Berichte aus

– 68 –

philomen schönhagen

In Titeln sogenannter »Meßrelationen« findet sich die Berufung auf Unparteilichkeit als Maxime der Ereignisdarstellung ab dem Ende des 16. Jahrhunderts.15 Aber diese meist halbjährlich erscheinenden »Meßrelationen« sind Chroniken und insoweit »Teil eines Geschichtswerkes«,16 das zumindest nicht primär dazu bestimmt ist, »gleichzeitig Lebenden von gleichzeitigen Angelegenheiten, Tatsachen und Begebenheiten (...) Kenntnis zu verschaffen«, wie Wolfgang Riepl die Nachricht im Gegensatz zur histo-

Rom sind in dieser, objectiven Weise gehalten, welcher eine besondere Parteinahme für den Papst oder die katholische Kirche nicht anzumerken ist.« Dasselbe gelte für die ersten gedruckten periodischen Zeitungen Anfang des 17. Jahrhunderts (vgl. ebd., S. 35/36). Georg Rennert (Die ersten Post-Zeitungen. Berlin 1940, S. 7) vertritt die Ansicht, dass auch die Postmeister Zeitungen weniger in ihrer amtlichen Funktion als aufgrund finanzieller Interessen herausgegeben hätten. 15

Siehe dazu Klaus Bender: Eine unbekannte Meßrelation. Die ›Unpostreuterischen Geschicht-Schrifften‹ des Tobias Steger, Straßburg 1590. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 2/1981, S. 346-365; ders.: Die deutschen Meßrelationen von ihren Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. In: Elger Blühm / Hartwig Gebhardt (Hrsg.): Presse und Geschichte ii. Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München u. a. 1987, S. 61-70.

16

Wagner, Auftrag, (Fn 4) S. 99. Auch Margot Lindemann (Deutsche Presse, [Fn 8], S. 84) möchte Meßrelationen »als einen Endpunkt in einer Entwicklungslinie des historischen Berichtes« verstanden wissen. Dass es sich dabei zumindest um deren primäre Funktion handelte, bestätigen auch Auszüge aus der Vorrede zu einer Meßrelation von Sigismund Latomus aus dem Jahre 1608: »Vnd bleibet demnach darbey / daß [...] es recht vnd billich / ja löblich und gut sey / daß man das jenige so täglich fürgehet / bescheidenlich aufzeichne / damit vnsere Nachkommen auch etwas haben mögen / das sie im thun vnd lassen / zu jhrem besten gebrauchen mögen [...] hab ich diese Verzeichnussen zu continuiren keines wegs vnderlassen sollen noch wollen / der gentzlichen Hoffnung / solches dem jetzigen Leser erbawlich / dem künftigen aber zum Vnderricht / dienstlich vnd annemlich seyn werde.« Zitiert nach Thomas Schröder: Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachrichtenauswahl. Tübingen 1995, S. 22.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 69 –

rischen Überlieferung präzise definiert.17 Ihre Herausgeber folgen mit dem Unparteilichkeitsanspruch dem Prinzip einer objektiven Geschichtsschreibung, das nicht ohne weiteres auf das periodische Zeitungswesen übertragen werden kann und darf. Im Unterschied zum Geschichtsschreiber nämlich ist der Zeitungsmacher nicht mit der Darstellung ›der‹ Wahrheit oder ›der‹ Realität befasst, sondern mit der Veröffentlichung von Berichten und Darstellungen Dritter von der (vermeintlichen) Realität oder Wahrheit. Wichtig zu bedenken ist dabei, dass der Gegenstand der Historie abgeschlossene Begebenheiten sind, während die Zeitung Dinge zum Gegenstand hat, die noch im Fluss sind. Über deren ›abschließende‹ Realität oder ›wahre‹ Beschaffenheit können deshalb, anders als bei der Historie, ohnehin keine Aussagen gemacht werden. Journalistische Unparteilichkeit kann sich demnach keinesfalls darauf beziehen, dass der Zeitungsmacher die ›wahre‹ Beschaffenheit der Realität darstellt, sondern nur auf seinen Umgang mit Darstellungen oder Interpretationen der Realität. 1. Historische Befunde: Die Unparteilichkeitsnorm und die Handwerksregeln Nach Jörg Jochen Berns ist »die Beteuerungsformel, eine Nachrichtenzusammenstellung sei ›unparteyisch‹ oder ›unparteylich‹«, in den Wochenzeitungen erstmals im Jahre 1623 nachweisbar.18 Gemeint ist die ›Newe Vnpartheysche Zeitung vnd Relation / Auß 17

Siehe Wolfgang Riepl: Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer. Leipzig/Berlin 1913, S. 2.

18

Jörg Jochen Berns: »Parteylichkeit« und Zeitungswesen. Zur Rekonstruktion einer medienpolitischen Diskussion an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Wolfgang F. Haug (Hrsg.): Massen, Medien, Politik. Karlsruhe 1976, (S. 202-233), S. 210.

– 70 –

philomen schönhagen

allerhand glaubwürdigen Sendbrieffen...‹, die wahrscheinlich in Zürich in der Offizin Johann Jakob Bodmers erschien.19 Bei Berns nicht erwähnt, aber noch interessanter ist, dass im Jahre 1633 dieses Blatt zeitweise folgenden Titel führte: »Zeitung Post: Das ist / Aller denckwürdigen / namhafften vnnd fürnehmen Geschichten / so sich hin vnd wider in der Welt zutragen vnd verlauffen möchten / einfalte / vnpartheische beschreibung / auß allerhand glaubwürdigen anderstwo getruckten Zeitungen / vnd gewissen Sendbrieffen / zusammen gesetzt / vnd dem begierigen Leser mitgetheilt.«20 In dieser Zeit wurde das Blatt übrigens von der Witwe Dorothea Bodmer herausgegeben.21 Im Folgejahr änderte es sei-

19

Entgegen weit verbreiteter Auffassungen z.B. bei Julius Opel (Anfänge, [Fn 14]), Ludwig Salomon (Geschichte des Deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches, 3 Bde., Oldenburg/Leipzig 21906), bei Emil Löbl (Kultur und Presse, Leipzig 1903) oder auch bei Heinrich Jacobi (Die Entwicklung des Frankfurter Zeitungswesens, Bad Homburg 1926) hat Hans Bodmer bereits 1891 überzeugend Zürich als Erscheinungsort nachgewiesen. Vgl. Hans Bodmer: Die älteste Züricher Zeitung. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1891. Zürich 1891 (14. Jg.), S. 175-216. Diese Ansicht teilt Georg Rennert, Post-Zeitungen, (Fn 14), S. 120 u. 44/45. In Else Bogel / Elger Blühm (Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben. Band i, Bremen 1971, S. 55), wird das Blatt ebenfalls als Züricher Zeitung geführt.

20

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 55 (Hervorhebung P.S.). Übrigens ist hier auch schon die Relevanz als Selektionskriterium für Nachrichten thematisiert (»Aller denckwürdigen/namhafften vnnd fürnehmen Geschichten«), wie auch in anderen Titeln dieser Zeit, die im folgenden noch zitiert werden.

21

Nach dem Tod Johann Jakob Bodmers im Jahre 1629 leitete diese 11 Jahre lang das Unternehmen, bis sie es an die beiden Söhne weitergab. Vgl. Sabine Welke: Die Frau und die Anfänge des deutschen Zeitungswesens. Eine Studie zur Geschichte der Publizistik des 17. Jahrhunderts. Diss. mschr. Wien 1971, S. 77. Hier ist nachzulesen, dass es viele Frauen gab, die – häufig Witwen – als Druckerinnen und Zeitungsherausgeberinnen tätig waren.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 71 –

nen Haupttitel in ›Wöchentliche Ordinari Zeitung‹, der Hinweis auf die Unparteilichkeit blieb erhalten. Der Titel wurde zudem um interessante Erläuterungen zur Funktion des Blattes in Gedichtform ergänzt: »Zeitung Post an Leser. / Durch d'Welt lauff ich, vnd thun eynnemmen / Zeitungen vil, darbey ich b'kennen, / Wie ich sie nemm, so gib ichs auß / Triffts nicht, dir drumb darab nicht grauß: / Was nicht gschehen ist, das gschehen kan, / Alles wahrnet einen klugen Mann.«22 Abgesehen von dem amüsanten lakonischen Umgang mit Berichten, die sich nachträglich als falsch erweisen, ist hier der Hinweis interessant, dass die Nachrichten so wiedergegeben werden sollen, wie sie dem Zeitungsmacher zugegangen sind. In diesem Zusammenhang ist zudem bemerkenswert, dass die Zeitung im Titel als ›einfalte‹ bezeichnet wird; denn ›einfalt(ig)‹ bedeutete nicht nur ›einfach, schlicht‹, sondern auch unschuldig und redlich.23 Außerdem ist der Rekurs auf »glaubwürdige« Zeitungen und Briefe als Quellen beachtenswert. Mit diesen beiden Aspekten wird offensichtlich konkretisiert, inwiefern es sich um eine »Vnpartheyische Zeitung vnnd Relation«24 handelt. Zwei Bereiche sind dabei deutlich zu unter22

Zitiert nach Opel, Anfänge, (Fn 14), S. 102. (Hervorhebung P.S.) Vgl. auch Jacobi, Frankfurter Zeitungswesens, (Fn 19), S. 27/28. Dieser meldet Zweifel an, ob die Zeitung ihrem Namen gerecht geworden sei. Sie habe vor allem Artikel von protestantischer Seite enthalten und für diese Partei genommen (ebd., S. 28). Vgl. auch Opel, Anfänge, (Fn 14), S. 108. Zu gegenteiligen Ergebnissen kommt Göran Rystad (Kriegsnachrichten und Propaganda während des Dreissigjährigen Krieges. Die Schlacht bei Nördlingen in den gleichzeitigen, gedruckten Kriegsberichten. Lund 1960, S. 10); er ermittelt eine häufig mehrseitige und nicht erkennbar Partei nehmende Berichterstattung bei den frühen Wochenzeitungen.

23

Vgl. Grimm, Wörterbuch, (Fn 8), Bd. 3, Sp. 173.

24

Zitiert nach Jacobi, Frankfurter Zeitungswesen, (FN 21), S. 27. Die Zeitung wandelte ihren Titel des öfteren ab, so auch hier im Jahre 1633. Vgl. auch Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 55/56.

– 72 –

philomen schönhagen

scheiden: die Glaubwürdigkeit der Quellen sowie die getreue Vermittlung der gesammelten Nachrichten. Ganz eindeutig wird hier, worauf sich journalistische Unparteilichkeit nur beziehen kann: auf die Vermittlung von Nachrichten, von Kommunikations-Vorgaben Dritter durch den Journalisten also, und nicht auf den ursprünglichen, bei diesen Dritten angesiedelten Akt der Mitteilung.

›Unvergreiflich‹ und ›ohne passion‹ In der Sammlung von Else Bogel und Elger Blühm findet man eine weitere, vermutlich in Zürich erschienene Zeitung mit dem Titel »Wochentliche / ungefelschte Newe Zeitung / Vnd Relation / auß den Glaubwirdigsten Sendbrieffen aller Orten / Stett vnd Landen zusamen getragen«, ebenfalls aus dem Jahre 1623.25 Noch im selben Jahr lautet der Haupttitel dann ›Newe Vnpartheysche Zeittung vnd Relation‹; besonders interessant ist eine weitere Titelvariante aus demselben Jahr: »Wuchentliche RELATION Von allerhand newen: zeytungen / der fürnemen vn gedächtnus: wirdige Historien vnnd geschichten / [...] Alles ohne einichen affeckt / gantz vnparteyisch mit bestem fleiß / so vast es müglich sein mag: Auß den Glaubwirdigsten Missifen / [...] dem Histori begirigen Leser zur nachricht und erbawung / abgetruckt...«.26 Demnach bedeutete Unparteilichkeit auch, dass die Sammlung und Veröffentlichung der eingehenden Nachrichten »ohne einichen affeckt«, unbeeinflusst von den Emotionen, Zu- oder Abneigungen des Zeitungsmachers erfolgen sollte. 25

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 53. (Hervorhebung P.S.)

26

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 53. (Hervorhebungen P.S.) »Missife« oder »Missive« (lat.) heißt »Sendschreiben«. Vgl. Meyers Lexikon, hrsg. v. Bibliographischen Institut, Leipzig 71928, Bd. 8, Sp. 547.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 73 –

Die angeführten Konkretisierungen der Unparteilichkeitsmaxime findet man auch schon in früheren Zeitungstiteln, noch bevor der Begriff der Unparteilichkeit auftaucht. Aus dem Jahre 1621 ist folgender Titel einer in Frankfurt am Main vom kaiserlichen Postmeister Johann von den Birghden herausgegebenen Zeitung bekannt: »Unvergreifliche continuirende Post Zeitungen wie solche bey den Ordinari Posten einkommen / von glaubhafften Correspondenten eingeschickt / und ohne einige passion divulgirt werden /...«.27 »Ohne Passion« sollen die eingehenden Nachrichten verbreitet werden, das bedeutet frei von leidenschaftlicher Teilnahme, von den eigenen Haltungen und Überzeugungen unabhängig28 – das ist ein klares Bekenntnis zur Neutralität und entspricht der Bedeutung des Begriffs »unvergreiflich « im Titel. Dieser nämlich bedeutete – und das wurde bislang übersehen – nichts anderes als »unangreifbar, einwandfrei«, »richtig, unpartheilig« und »quod fiat sine praejudicio«, also »ohne den rechten, dem urtheil eines andern vorzugreifen« oder »ohne der meinung [..] [eines anderen; P.S.] vorzugreifen«29 – was wiederum der Sache nach nichts anderes markiert als eben Unparteilichkeit. Konrad Schwarz verweist allerdings auf Untersuchungen, die eine tendenziöse Auswahl und Kürzung der Nachrichten durch Birghden zugunsten der protestantisch-schwedischen Seite feststellen. Dies erkläre sich durch den halbamtlichen Charakter der Postzeitun27

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 14. (Hervorhebung P. S.) Diese Zeitung erschien mit wechselnden Titeln von 1615 bis 1690. Bei Else Bogel / Elger Blühm (Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben. Band ii: Abbildungen. Bremen 1971), S. 18, findet man auch eine Abbildung der Zeitung aus dem Jahre 1627 mit einem geänderten Titel, der immer noch den Hinweis »alles ohne einige Passion« enthält.

28

Vgl. zu dieser Bedeutung: Grimm, Wörterbuch, (Fn 8), Bd. 13, Sp. 1489/1490.

29

Grimm, Wörterbuch, (Fn 8), Bd. 24, Sp. 2041.

– 74 –

philomen schönhagen

gen, deren Herausgeber als Postmeister jeweils im Dienste der Regierung standen.30 Vier Jahre später (1625) heißt es im Titel einer Oettinger Zeitung (die auch unter dem Titel ›Continuation der Augspurger [bzw.: Nürnberger; P.S.] Zeitung‹ erschien): »Wöchentliche RELATION, Aller denckwürdigen Historien vnd Geschichten / [...] Auff das trewlichst vn vnvergreifflichst / wie solches zu wegen kan gebracht werden / in Truck verfertigt.«31 Die Herausgeber der ›Sontäglichen Zeitung‹ aus dem Jahre 1688 versicherten im Zeitungskopf, dass sie sich »im übrigen aber [..] ferners befleissen werden / ohne Beleidigung einigen Stands auch ohne passion mit den bewehrtesten und allerneuesten advisen menniglich nach möglichkeit satisfaction zu geben.«32 Auch hier ist klar, was gemeint ist: die ›Leidenschaften‹ der Zeitungsmacher sollen bei der Berichterstattung zurückstehen, keinesfalls zur Benachteiligung irgendeiner Bevölkerungs- und Interessengruppe (denn solche waren ja die Stände) führen. Und mehr noch ist in dieser Kopfzeile enthalten, nämlich ein Hinweis auf ein Motiv solch allseitiger Berichterstattung: Sie soll »dem hochgeneigten gönstigen Leser«,33 und

30

Vgl. Konrad Schwarz: Der Postzeitungsvertrieb in der deutschen Postgeschichte. Berlin 1936, S. 19. – Bestätigt wird eine weitgehend allseitige Vermittlung dagegen durch die Untersuchungen der beiden ältesten Wochenzeitungen (›Relation‹ und ›Aviso‹) von Thomas Schröder, Zeitungen, (Fn 16), sowie von Brigitte Tolkemitt: Der Hamburgische Correspondent. Zur öffentlichen Verbreitung der Aufklärung in Deutschland. Tübingen 1995.

31

Zitiert nach Bogel / Blühm, Abbildungen, (Fn 27), S. 49. Vgl. auch den Titel von 1626, zitiert bei Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 65.

32

Walter Schöne (Hrsg.): Die deutsche Zeitung des siebzehnten Jahrhunderts in Abbildungen. 400 Faksimiledrucke. Leipzig 1940, S./Abb. 266, Faksimile der ›Sontäglichen Zeitung‹ vom 1. und 11. Januar 1688. (Hervorhebung P.S.)

33

An diesen war die Erklärung gerichtet. Zitiert nach Schöne, Abbildungen, (Fn 32), S./Abb. 266.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 75 –

zwar jeglichem (»menniglich«34), »nach möglichkeit satisfaction [..] geben.« Begründet wurde neutrale Berichterstattung also mit der Rücksicht auf die unterschiedlichen Informations- und Orientierungsbedürfnisse der Leser, wobei niemand ausgegrenzt werden sollte (was durch Parteinahme zweifellos der Fall gewesen wäre). Hier wird das Unparteilichkeitsprinzip bereits im Jahre 1688 im Ansatz geradezu journalismusethisch begründet. Das sich hier äußernde Selbstverständnis der Herausgeber entspricht somit deutlich der theoriegeleiteten Funktionsbestimmung des ›Journalisten‹. Die ›Unvergreiflichen Postzeitungen‹ von 1621 beriefen sich außerdem, wie auch die Postzeitungen von 1633, auf ihre »glaubhafften« Quellen. Der Titel einer im Jahre 1673 erschienenen ›Continuation Der am Montag heraußkommenden Wochen-Zeitung(en)...‹ versprach ebenfalls Nachrichten »Wie dieselbe von getreuen Handen / under ganz frischem Dato berichtet werden.«35 ›Ohnparteyische‹ Vermittlung Anhand dieser ersten programmatischen Äußerungen lassen sich vier Aspekte herausarbeiten, die von den Zeitungern36 selbst mit dem Postulat unparteilicher Berichterstattung verbunden wurden, und die zum Teil auch schon vor der Verwendung des Begriffs der 34

»Menniglich« oder »männiglich« bedeutete neben »männlich« auch »jeder, jeglicher«. Vgl. Grimm, Wörterbuch, (Fn 8), Bd. 12, Sp. 1591 ff.

35

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 196. (Hervorhebung P.S.) Vgl. auch ein Faksimile von 1688 in: Schöne, Abbildungen, (Fn 31), S./Abb. 231. Ein ähnlicher Ausdruck (»durch guten Händen berichtet«) erschien auch im Titel einer Zeitung aus Altdorf-Weingarten seit dem Jahre 1680 (Bogel / Blühm, Zeitungen, [Fn 19], S. 223).

36

›Zeitunger‹ wurden »im 16. jahrh. die gewerblichen berichterstatter von zeitereignissen und verfasser geschriebener zeitungen, auch novellisten oder avisenschreiber genannt«: Grimm, Wörterbuch, (Fn 8), Bd. 31, Sp. 594.

– 76 –

philomen schönhagen

Unparteilichkeit Programm waren. Es sind dies erstens die Glaubwürdigkeit der Quellen, mit der zunächst die Qualität der angebotenen, partei- und interessengebundenen Informationen sichergestellt werden sollte, zweitens die Neutralität des Vermittlers, welcher dem Urteil des Lesers nicht vorausgreifen möchte. Diese Neutralität ist Voraussetzung für, drittens, die getreue Vermittlung eingehender Mitteilungen, welche sich, viertens, an den unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen der Leser orientiert. Einige dieser Aspekte weisen eine große Nähe zu den von Berns und Schröder geltend gemachten Kriterien unparteilicher Berichterstattung37 auf: Der letztgenannte Aspekt bedingt eine pluralistische Vermittlung, der zweite Punkt entspricht der Zurückhaltung mit Kommentaren. Lediglich die Angabe der Herkunft von Mitteilungen ist in diesen ›Programmen‹ nicht thematisiert, sie verweisen nur auf deren Glaubwürdigkeit. Damit korrespondiert Schröders Befund mangelnder Quellentransparenz in der berichterstatterischen Praxis des Jahres 1609. Für den Leser bedeutete das, zumindest aus heutiger Sicht, eine Einschränkung seiner Orientierungsmöglichkeiten. Zu sehen ist dieses Fehlen von Quellentransparenz aber vor dem historischen Hintergrund: Die Interessen der noch wenig herausgebildeten und zersplitterten Parteiungen mögen für die Zeitgenossen relativ gut überschaubar und damit die Mitteilungen leichter einschätzbar gewesen sein. Es wäre demnach zu erwarten, dass dieser Aspekt mit einer zunehmenden Pluralisierung und Politisierung der Gesellschaft an Gewicht gewonnen hat. Die Zeitungsmacher messen dagegen einem anderen Punkt Bedeutung bei, der in der genannten Literatur unbeachtet bleibt: der getreuen Vermittlung der eingehen37

Vgl. dazu Berns, ›Parteylichkeit‹, (Fn 18) sowie Schröder, Zeitungen, (Fn 16).

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 77 –

den Mitteilungen. Gerade aber in der »treulichen« und »unvergreifflichen« Weiter- und Wiedergabe der einzelnen Mitteilungen, von welcher Parteiung sie auch stammen, beweist sich ständig die Neutralität des Zeitungsmachers. Es handelt sich somit um einen zentralen Aspekt der Unparteilichkeitsmaxime, der bis dato kaum beachtet wurde. Ausdrücklich begegnet man diesem Aspekt schon im Titel einer der ältesten deutschen periodischen Zeitungen, der Straßburger ›Relation‹. Dieser lautete nämlich von 1634 bis 1636 »RELATION Aller Fürnemen vnd Gedenckwürdigen Historien / [...] Welche alles auff das treulichst vnd ohnparteyisch / so gut ich solche jeweiln erlangen vnd zur hand bringen mag / wochentlich / geliebts Gott / soll in truck verfertigt werden.«38 Bereits im Jahre 1609 hatte der Titel die Versicherung enthalten, die ›Historien‹ »auff das trewlichst wie ich solche bekommen und zu wegen bringen mag, in Truck verfertigen« zu wollen.39 Der Aspekt der getreuen Vermittlung wurde also bereits von einer der ersten periodischen Zeitungen im Titel thematisiert! Im Vorwort zum Jahrgang 1635 erklärte der Herausgeber seinen Lesern, die Zeitungen »aufs aller treulichst, so viel durch glaubwürdige Leut können zuhand gebracht werden, als von unparteiischen Referenten sollen publiciert und in Druck gegeben werden.«40 Hier wird erneut deutlich, dass sich der Anspruch der Unparteilichkeit auf die Vermittlung von Mitgeteiltem bezieht und nicht eine Eigenschaft der Mitteilungen selbst gemeint ist. Gleichzeitig werden hier drei der wesentlichen Aspekte des Unparteilichkeits-Prinzips geltend gemacht.

38

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 1. (Hervorhebung P.S.) Vgl. auch Opel, Anfänge, (Fn 14), S. 60.

39

Zitiert nach Opel, Anfänge, (Fn 14), S. 44. (Hervorhebung P.S.)

40

Zitiert nach Opel, Anfänge, (Fn 14), S. 62. (Hervorhebung P.S.)

– 78 –

philomen schönhagen

Zahlreiche weitere Zeitungen des 17. Jahrhunderts postulierten in ihren Titeln oder Erklärungen eine unparteiliche Berichterstattung. Bei Walter Schöne ist eine ›Br. Einkommende Freytags Postzeitung. Unpartheyscher Außführlicher Bericht / wegen Uberkommung der Insel Fühnen‹ abgebildet.41 Im Jahre 1660 erschien ein »Erster Jahr-Gang der Täglich-neu-einlauffenden Kriegs- und Welt-Händel oder Zusammen-getragene unpartheyliche NOUVELLES...«42 aus Leipzig. Eine Konstanzer Zeitung betonte in den Jahren 1665/1666 im Zusammenhang mit Unparteilichkeit wiederum die Glaubwürdigkeit der Quellen: »Mercurius auffs ... Jahr: Das ist / Ordinari Post-Zeitungen vnnd NOVELLA, Aller denckwürdigen Geschichten vnd Sachen / [...] Alles auß vnpartheyischen vberschickten Glaubwürdigen Missiven vnd Schriften extrahirt / vnd zusammen getragen.«43 Interessant ist ein Hinweis, der sich bei Carsten Prange findet. Demnach bemühte sich der in Hamburg (vermutlich seit Anfang der 1660er Jahre44) erscheinende 41

Schöne, Abbildungen, (Fn 32), S. 180 (vgl. auch den Titel auf S. 179). Schöne nennt keinen Erscheinungsort. Aus dem Jahre 1663 stammt ein weiterer Titel ›Br. Neue wöchentliche Post-Zeitungen‹ (vgl. ebd., S. 178), wobei es sich offenbar um dieselbe Zeitung handelte. Diesen Titel von 1663 findet man auch bei Bogel / Blühm, Abbildungen, (Fn 27), S. 188. Der Druckort sei vermutlich Breslau; vgl. dies. Zeitungen, (Fn 19), S. 172/173; dort auch der Hinweis, aus den Jahren 1659 und 1669 seien Blätter mit derselben Abkürzung als Breslauer Blätter gesichert (ebd., S. 173).

42

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), i. S. 160. Vgl. auch Heinz Bäuerlein: Die Problematik der Objektivität in der Presse-Berichterstattung. Phil. Diss. mschr., München 1956, S. 6.

43

Zitiert nach Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), i. S. 176.

44

Das nimmt Elger Blühm an. Siehe Elger Blühm: Nordischer Mercurius 16651730. In: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Pullach b. München 1972, (S. 91-102), S. 95. Carsten Prange vermutet, daß der ›Nordische Mercurius‹ seit 1659 erschienen sei. Siehe Carsten Prange: Die Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts in Hamburg und Altona. Ein Beitrag zur publizistischen Frühaufklärung.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 79 –

›Nordische Mercurius‹ Georg Greflingers »um möglichst objektive Berichterstattung, indem er den Lesern durch den Abdruck mehrerer Versionen eines Vorganges gerecht zu werden versuchte.« Dabei legte Greflinger seine Auffassung von der Aufgabe eines Zeitungsschreibers »in einem längeren Discurs für den Leser« dar. Darin heißt es u.a., es solle »von einer jeden Parthey Schreiben ein Extract mitgetheilet werden / um den Verfasser dieser Novellen nicht [für; P.S.] einseitig zu halten.«45 Besonders spannend ist, dass die Leserschaft diese Auffassung deutlich teilte, was sich auch in anerkennenden Zuschriften äußerte. Im Jahre 1673 betonte ein Leser, »Daß es den Juristen zwar wol an stünde / einseitig und der Parthey getreu zu seyn / den Novellisten aber gebührte es nicht ein / sondern wol zwey / und wol gar 3.seitig zu seyn / um den vilen Humeuren und jedem nach seiner Paßion ein genüge zu thun.«46 Erneut findet in diesem Zusammenhang der Begriff ›Passion‹ Verwendung, um die Neigungen einzelner Parteien zu bezeichnen – ›ohne Passion‹ zielt auch hier eindeutig auf Unparteilichkeit. Ausdrückliche sowie indirekte Bekenntnisse zur Unparteilichkeitsnorm lassen sich kontinuierlich bis zum späten 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Presse verfolgen. Das sei nur an einigen Beispielen verdeutlicht. Das ›Wienerische Diarium‹ des Jahres 1703 gelobte Berichterstattung »ohne einigen Oratorischen Hamburg 1978, S. 130. Bogel / Blühm, Zeitungen, (Fn 19), S. 180, geben 1665 als erstes Jahr seines Erscheinens an. Vgl. zu dieser Zeitung auch Martin Welke (Hrsg.): Hollsteinischer Unparteyischer Correspondent 1721-1730, Hamburgischer Unparteyischer Correspondent 1731-40. (Microfiche-Index.) Hildesheim/New York 1977. 45

Beide Zitate aus: Prange, Zeitungen, (Fn 44), S. 147/148.

46

Zitiert nach Prange, Zeitungen, (Fn 44), S. 148, der nach dem Original zitiert. Blühm, Mercurius, (Fn 44), S. 100, schreibt diese Bemerkungen Greflinger selbst zu und datiert sie auf das Jahr 1674, gibt jedoch keine Quelle an.

– 80 –

philomen schönhagen

und Poetischen Schminck / auch Vorurtheil / sondern der blossen Wahrheit derer einkommenden Berichten gemäß «.47 Der Anspruch, ohne Vorurteil, also sachlich und unvoreingenommen, zu berichten, entspricht in der Sache genau der Bezeichnung »ohne Passion«, also dem Bekenntnis zur Neutralität. Mit anderen Worten wird hier außerdem der Kern der ›treulichen‹ Vermittlung präzisiert: nämlich nicht der Wahrheit schlechthin entsprechend, sondern der Wahrheit der einkommenden Berichte gemäß zu berichten. Der Herausgeber der ›Trierischen Staats- und GelehrtenAnzeigen‹ erklärte im Jahre 1744 seine Grundsätze für die geplante Zeitung in einem Faltblatt mit dem Titel »Kurtzer Entwurf, auf welchem Fuß man die Trierische Staats- und Gelehrte Zeitungen [...] einzurichten gewillet sey«. Schon an zweiter Stelle heißt es dort, man wolle unparteiisch sein.48 Andere Trierer Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts bekannten sich ebenfalls zur ›Unpartheylichkeit‹, so der ›Kurier von der Mosel und den belgischen und französischen Grenzen‹ (seit 1792 von einem Postbeamten herausgegeben) und der ›Volksfreund‹ (seit 1878).49 Auch die ›Augspurgische Ordinari-Post-Zeitung‹, die spätere Moysche ›Augsburger Postzeitung‹, versicherte, in allem »unparteiisch« zu bleiben. Besonders intensiv vertrat diese Richtung der Schriftleiter Tobias Brandmüller (seit 1780), allerdings in Fortsetzung der Tradition seines Vorgängers. Dieser hatte ganz ausdrücklich gefordert, die »Pflicht eines unparteiischen Zeitungsschreibers [...] erfordere das ›audiatur et altera pars‹ als Richtmaß 47

Zitiert nach Löbl, Kultur, (Fn 19), S. 50. (Hervorhebungen P.S.)

48

Der erste Punkt erklärte, dass aus »den neuesten Zeitungen und aus anderen Mitteillungen« das »Merckwürdige« [wörtlich zu verstehen als das des Merkens Würdige; P.S.] entnommen und »in reinem Deutsch« gebracht werde. Zitiert nach Emil Zenz: Trierische Zeitungen. Ein Beitrag zur Trierer Zeitungsgeschichte. Trier 1952, S. 9.

49

Vgl. Zenz, Trierische Zeitungen, (Fn 48), S. 17 u. 82.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 81 –

zu nehmen.«50 Interessant ist ferner, was man der Festnummer aus dem Jahre 1886 zum 200jährigen Bestehen der »Postzeitung« entnehmen kann: »Es wird [um die Mitte des 18. Jahrhunderts; P.S.] streng objektiv berichtet, ohne Reflexion, ohne Kritik von Seite der Redaktion, welche vom Verleger vertreten wird; nur berichtende Noten findet man hie und da, welche mit einem Sternchen versehen, dem Haupttext unmittelbar angefügt sind.«51 Demnach wurden hier Beiträge des Redakteurs deutlich von den eigentlichen Nachrichten getrennt. Zwar handelte es sich dabei noch nicht um ›kommentierende‹ Beiträge im eigentlichen Sinn, aber doch um eigene Mitteilungen seitens der Redaktion im Gegensatz zu den Nachrichten, die Mitteilungen Dritter referierten. Der Kern der gängigen journalistischen Handwerksregel der (intramedialen) Trennung von Nachricht und Kommentar ist darin bereits enthalten – auch wenn diese Trennung in der Frühzeit des Zeitungswesens zunächst vor allem intermedial realisiert wurde.52 Die ›Frankfurter Kayserl. Oberpostamtszeitung‹ umriss das Gebot der Unparteilichkeit im 13. Stück des Jahres 1781, indem die Rolle des Zeitungers wie folgt beschrieben wurde: »Ein Zeitungsschreiber muß Cosmopolit seyn, mit keiner Nation weder 50

Zitiert nach Hermann Hart: Skizzen aus der Geschichte der »Postzeitung«. In: Postzeitung. Wochenschrift für Politik und Kultur, Nr. 175, 250. Jg. München 4. 8. 1935, S. 6 (1. Teil). (Hervorhebung P.S.)

51

Joh. G[eor]g Fußenecker: Zur Geschichte der »Augsburger Postzeitung«. In: Festausgabe 200 Jahre Augsburger Postzeitung v. 1.1. 1886, S. 4.

52

Schon in der Frühzeit des Zeitungswesens manifestierten sich (referierender, unparteilicher) Bericht und (kommentierend parteiliches) Räsonnement in unterschiedlichen Medien. Die funktionale Trennung von vorwiegend relatorischen Einzel- und Wochenzeitungen einerseits und Flugschriften mit »publizistischem Ausdruckswillen« andererseits stellt u.a. Werner Lahne dar. Siehe Werner Lahne: Magdeburgs Zerstörung in der zeitgenössischen Publizistik. Magdeburg 1931, S. 130. Dazu auch Paul Roth, Neue Zeitungen, (Fn 9), S. 1-6.

– 82 –

philomen schönhagen

Freund noch Feind scheinen, jede Neuigkeit durch seine Quelle prüfen, und dieselbe ohne Rückhalt nackt und blos dem Leser mittheilen.«53 In ihrer Erstnummer reklamierte die ›Stadt Hildesheimische privilegirte Zeitung und Anzeigen für alle Stände‹ vom 28. Juni 1807 für sich, »die wichtigsten Ereignisse unserer Zeit [...] so schnell als möglich zu verbreiten. Wir werden sie, so umständlich als es der Raum erlaubt, wahr und unpartheiisch erzählen, um unsere Leser in den Stand zu setzen, sie nach ihrem genauesten Zusammenhange mit ihren etwaigen Ursachen und Folgen zu übersehen.«54 Hier wird journalistische Unparteilichkeit erneut mit dem Orientierungsbedürfnis der Leser begründet. In seinem Begrüßungsartikel erklärt der neue Redakteur der ›Bamberger Zeitung / Fränkischer Merkur‹, Dr. Schwarz, im Jahre 1834, dass »historische Unparteilichkeit der leitende Grundsatz« seiner Arbeit sein soll, wobei er »ohne Vorliebe für diese oder jene politische Meinung, lediglich die geschichtlichen Tagesbegebenheiten treu und wahr den Lesern«55 präsentieren möchte. Franz Simeth bringt in seiner Untersuchung zur Bamberger Presse dann auch vielfältige Beispiele dafür, dass die Zeitung unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen und diese sich aussprechen ließ, außerdem die seltenen Stellungnahmen aus der eigenen Feder des Redakteurs nicht nur gekennzeichnet, sondern obendrein mit einer Entschuldigung versehen wurden.56 Mit der unparteilichen Haltung geht also auch hier die konsequente Trennung von

53

Zitiert nach Holger Böning: Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt. Die Enwicklung der periodischen Presse im Zeitalter der Aufklärung. In: Beyrer / Dallmeier, Post, (Fn 5), S. 96. (Hervorhebung P.S.)

54

S. 2 der Erstnummer. (Hervorhebungen nicht übernommen.)

55

Zitiert nach Franz Simeth: Die Bamberger Presse von 1802 bis 1848. Phil. Diss. München 1941, S. 45.

56

Vgl. Simeth, Bamberger Presse, (Fn 55), S. 150, 152, 155.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 83 –

Nachricht und redaktionellem Kommentar einher. Ziel des Nürnberger ›Friedens- und Kriegs-Kuriers‹ (im Jahre 1673 gegründet) war laut Bekanntmachung in der ersten Nummer des Jahres 1826 die »unparteiische Darstellung der wichtigsten Zeitbegebenheiten in gedrängter, soweit bei einem Tagblatt möglich, pragmatischer Übersicht« sowie die Wiedergabe der Handlungen und Ansichten der verschiedenen Parteien.57 »... damit jeder sich sein Urteil bilden könne « Als besonders aufschlussreich für das Praktiker-Verständnis der Unparteilichkeitsmaxime erweist sich das Zeitungsprogramm des berühmten ›Hamburgischen‹ beziehungsweise ›Hollsteinischen unpartheyischen Correspondenten‹. Aus der Literatur ist bekannt, dass seine Redaktion, dem »Grundsatz des ›audiatur et altera pars‹ folgend [...] [,] Äußerungen ohne Ansehen ihrer Herkunft [veröffentlichte; P.S.], Verlautbarungen herrschender Gruppierungen stehen neben oppositionellen Stimmen. [...] Unter bewusster Zurückhaltung der eigenen Meinung stellt der ›Correspondent‹ widersprechende politische Auffassungen nebeneinander, ›damit jeder sich sein eigenes Urteil bilden könne.‹« Besonders interessant ist, dass die Zeitung auf Kommentierungen verzichtete, obwohl es »unter der milden Hamburger Zensur durchaus Spielraum«58 dafür gegeben hätte. Hier zeigt sich beispielhaft, dass nicht nur die Zensur mit ihren Strafandrohungen die Zeitunger zu unpartei57

Zitiert nach Walter Zimmermann: Entwicklungsgeschichte des Nürnberger »Friedens- und Kriegskuriers« (»Nürnberger Kurier«) von seinen ersten Anfängen bis zum Übergang an den »Fränkischen Kurier« 1663-1865. Phil. Diss. Nürnberg 1930, S. 304. (»Parteien« dürfen hier nicht im heutigen, engeren Sinne als politische Parteien missverstanden werden.)

58

Beide Zitate aus: Martin Welke: Staats- und gelehrte Zeitungen des Hollsteinischen/Hamburgischen Unparteyischen Correspondenten. In: ders. (Hrsg.), Correspondent, (Fn 44), S. iii. (Hervorhebung P.S.)

– 84 –

philomen schönhagen

licher Berichterstattung motivierte, auch wenn dies auf den ersten Blick naheliegend erscheinen könnte. Das bayerische Preßmandat vom 6.9.1799 unter Maximilian iv. Joseph etwa verlangte von den Journalisten, »die Tatsachen möglichst einfach, ohne Hinzufügung eigenen Urteils und unter genauer Quellenangabe, zu berichten.«59 Damit werden eindeutig dieselben Regeln thematisiert, die von den Zeitungen geltend gemacht wurden – und im übrigen noch heute als journalistische Qualitätsmerkmale gelten. Die allseitige, neutrale Berichterstattung des ›Correspondenten‹ mit der Konsequenz, dass »jeder sich sein eigenes Urteil bilden« konnte, kam aber vor allem – von der Zensur ganz abgesehen – »wie der einzigartige Erfolg des Blattes zeigt, den Leseerwartungen des Publikums entgegen. Der ›Correspondent‹ bevormundete nicht, sondern überließ dem mündigen Leser die Beurteilung. Damit beweist er sich als ein Kind der Aufklärung...«60, für die Hamburg eines der wichtigsten Zentren war. Martin Welkes 59

Heinz Starkulla: Zur Geschichte der Presse in Bayern. In: Verband Bayerischer Zeitungsverleger (Hrsg.): 50 Jahre Verband Bayerischer Zeitungsverleger 1913-1963. München 1963, (S. 7-47), S. 17. (Hervorhebungen P.S.)

60

Welke, Zeitungen, (Fn 58) S. iii. Vgl. auch ders.: Die Presse und ihre Leser. Zur Geschichte des Zeitungslesens in Deutschland von den Anfängen bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: Beyrer / Dallmeier, Post, (Fn 5), S. 144: »Sicher bezeugt ist das Verlangen des Publikums nach einer nüchternen, auf jede Kommentierung verzichtenden, materialreichen, fast enzyklopädischen Berichterstattung, die sich vorrangig auf politische Materialien konzentrieren sollte. Nicht von ungefähr entwickelte sich der legendäre ›Hamburgische unpartheyische Correspondent‹, der diesen Erwartungen gewissenhaft Rechnung trug, zur auflagenstärksten Zeitung Europas. Das Blatt [...] lehnte es strikt ab, dem als mündiges, vernunftbegabtes Individuum begriffenen Leser durch Kommentierung ›vorzudenken‹ und seine Gedanken in bestimmte Richtungen zu drängen. Vielmehr sollte er von der Redaktion mit wertfrei dargebotenen Fakten so vollständig ausgestattet werden, dass er – Aufklärungsphilosophie reinster Prägung – ›sein Urtheil selber finden könne‹. Diese Auffassung hielt sich bis tief ins 19. Jahrhundert.«

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 85 –

spannende Leserforschung bestätigt, was Wilhelm Bauer im Jahre 1914 so beschrieb: »Zu einer Zeit, da der einzelne noch Muße hatte, selber nachzudenken und sich ein Urteil zu bilden, liebte man die vorgekaute Kost des Leitartikels und Entrefilets nicht. Man sträubte sich, über jede Tagesfrage denken zu müssen, was ein anderer schon vorgekaut hatte.«61 Es ist schon deshalb nach Martin Welkes Auffassung keinesfalls richtig, dass »die nüchtern referierende Form der Stoffdarbietung und das Fehlen des Raisonnements in den Zeitungen [..] im wesentlichen nur ein Ergebnis der Bedrückung durch die Zensur«62 gewesen sei. Im Gegenteil: »Das entscheidende Motiv, das die Herausgeber [des 18. Jahrhunderts; P.S.] zur Edition von Zeitungen veranlasste, [war] die außergewöhnliche Verdienstmöglichkeit, [...] Gewinnspannen von 400-500%« waren durchaus nicht selten.63 So zeigt auch Hans Wagner an einer Reihe von Beispielen, dass die Zensur zwar »hier und dort einem neutralen, distanzierten, eher diplomatisch-vorsichtigen Stil der Zeitungen nachgeholfen haben [mag]; ursächlich jedoch provoziert sie wohl eher Opportunismus als Unparteilichkeit. Vor allem aber verlangt jede Zensur zuallererst das Streichen und Schweigen und damit den Ausfall von Informa61

Wilhelm Bauer: Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1914, S. 276/277 in Anlehnung an Löbl, Kultur, (Fn 19).

62

Martin Welke: Zeitung und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. In: Blühm, Geschichte, (Fn 12), S. 82.

63

Martin Welke: Die Geschichte der Zeitung in den ersten Anfängen ihres Bestehens. Kritische Bemerkungen zu Margot Lindemanns »Deutsche Presse bis 1815«. In: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur. Band 3, 1974, (S. 92-106), S. 97. Günter Kieslich betont die Bedeutung dieses ökonomischen Motivs auch für die Institutionalisierung des Informationswesens in der Zeit um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Günter Kieslich: Anmerkungen über die Anfänge des journalistischen Berufs. In: Hansjürgen Koschwitz / Günter Pötter (Hrsg.): Publizistik als Gesellschaftswissenschaft. Internationale Beiträge. Konstanz 1973, (S. 119-130), S. 123/124.

– 86 –

philomen schönhagen

tionen. Insofern wirkt sie dem Ziel geradezu entgegen, das unter dem Arbeitsprinzip der Unparteilichkeit angestrebt werden sollte: der umfassenden Information des Lesers.«64 Man darf auch nicht vergessen, dass bereits die Zeitungen des 17. Jahrhunderts, entgegen zum Teil heute immer noch verbreiteter Annahmen, tatsächlich eine »breite Öffentlichkeit« erreichten und sicher auch erreichen wollten.65 Das diese Zeitungen neben Universalität und Periodizität prägende Charakteristikum, »die ungedeutete, ungewertete, unkommentierte Nachricht, die zur Nachricht versachlichte Neuigkeit«,66 steht mit dieser breiten Publizität und der daraus folgenden Orientierung an vielfältigen Leserinteressen ganz offensichtlich in Verbindung. In der ersten Nummer »am Mittewochen / den 22. Junii« 1712 entwickelt »Der Hollsteinische unpartheyische Correspondente / Durch Europa und andere Theile der Welt«67 im nachfolgend zitierten »Vorbericht an den geehrten Leser!« ein bemerkenswert konkretes und, sieht man von der Sprache einmal ab, als geradezu ›modern‹ zu bezeichnendes redaktionelles Programm, welches auch die Norm journalistischer Unparteilichkeit deutlich erläutert. Es heißt dort: »Es sind verhoffentlich billige Ursachen / die uns bewegen / diese Correspondence zu eröffnen / umb damit die curieusen Gemüther Cimbriens und umliegender Oerter zu un64

Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 107.

65

Vgl. Ukena, Tagesschrifttum, (Fn 12), S. 45.

66

Ukena, Tagesschrifttum, (Fn 12), S. 46. Völlig zu Recht betont der Autor, dass dieses Charakteristikum »bei jeder Untersuchung berücksichtigt werden müsste, die den Einfluss der Presse auf die Entwicklung der Gesellschaft im Zeitalter der Vor- und Frühaufklärung bestimmen will.« (Ebd.)

67

Herausgegeben wurde dieser vom Buchdrucker Hermann Heinrich Holle in Schiffbek bei Hamburg. Ab 1731 erschien er in Hamburg als »Hamburgischer unpartheyischer Correspondent«. Vgl. dazu auch Rennert, Post-Zeitungen, (Fn 14), S. 56.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 87 –

terhalten / die man aus folgender Einrichtung unser Correspondence ersehen mag. Den[n] zuforderst bemühen wir uns nur allein um die glaubhafftesten und bewehrtesten Nova oder Zeitungen / die man gleichsam concentrirt allhie beyeinander finden wird / dadurch man vertrauet / den curieusen Leser aus der verdrießlichen Verwirrung in mehrere Gewißheit zu setzen. Ferner ists eine unpartheyische Relation die uns vergnüget / und damit die Liebhabere zu versichern / daß man nichts von allem zurück halten wird / es sey en faveur dieser oder jener hohen Parthey / wovon wir nur durch unsere Correspondenten Gewißheit haben mögen; und sol dieses verhoffentlich jede privat Persohn / so Interesse am allgemeinen nimmt / belieben / weil zugleich versichert wird / daß niemahlen aus interesirter Pastion [!] die Wahrheit sol verkehret noch verkleinert werden.« Dem folgt der Hinweis, dass auch »curieuses Neues« aus Literatur und Kunst sowie der gelehrten Welt Gegenstand sein sollen. Die »Correspondence« soll zweimal wöchentlich erscheinen »als am Mittewochen und Sonnabend / weil man so dann nicht alleine von allen Orten völlige Nachricht haben kan / sondern auch genugsame Zeit / die eingelauffene Nova wohl zu confrontiren / und so dann das Beste mitzutheilen«.68 Abgesehen von den Hinweisen auf Aktualität (»Nova«, »Neues«), allgemeines Interesse des Inhaltes, Information, Unterhaltung und Bildung finden sich hier eine ganze Anzahl von Aspekten, die im Zusammenhang mit dem Konzept der Unparteilichkeit hochinteressant sind. Zunächst wird auch hier – gewissermaßen als Voraussetzung – die Glaubwürdigkeit der Nachrichten und ihrer Quellen betont. Außerdem sollen die »eingelauffenen« 68

(Hervorhebungen nicht übernommen.) Diese Zeitungsnummer wird in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen aufbewahrt, welche mir dankenswerter Weise eine Kopie zur Verfügung stellte.

– 88 –

philomen schönhagen

Nachrichten geprüft und verglichen werden (»genügsame Zeit... [sie einander] zu confrontiren«), bevor man aus diesen dann »das Beste«, »gleichsam concentrirt« mitteilt. Interessant ist, dass auf die notwendige Konzentration der Nachrichten hingewiesen wird – gerade auch im Hinblick auf die dann folgenden Erläuterungen zur Unparteilichkeit. Diese nämlich bedeutet einerseits die Vollständigkeit und Allseitigkeit der Berichterstattung: nichts werde zurückgehalten, unabhängig von den jeweils betroffenen Interessen. Andererseits heißt Unparteilichkeit, dass die Redaktion keinesfalls aufgrund eines passionierten Interesses die Wahrheit (der konzentrierten Nachrichten) entstellen (»verkehret«) oder auch nur gewichten (»verkleinert«) wird. Das Register für den ersten Jahrgang 1712 greift diesen Aspekt nochmal auf: man beabsichtige, »die einlauffende Nova dem curieusen Leser treulich mitzutheilen«.69 Hier wird klar, dass Unparteilichkeit als eine Norm (bei) der redaktionellen Bearbeitung von Nachrichten (Sammlung, Vergleich, Auswahl und Konzentration werden thematisiert) verstanden werden muss, und nicht bedeutet, dass der Zeitunger ›die Wahrheit‹ berichten müsse (auch wenn dieser Begriff benutzt wird). Schließlich nennt das Programm als Motiv der Unparteilichkeit ausdrücklich die Absicht, jede an den allgemeinen Angelegenheiten interessierte Person »aus der verdrießlichen Verwirrung« in den Stand einer größeren Gewissheit zu versetzen, das heißt jedermanns Orientierungsbedürfnisse zu befriedigen.

69

(Hervorhebung P.S.) Das Register sollte dem zum Buch gebundenen Jahrgang vorgeheftet werden. Auch dieses liegt der Verfasserin in Kopie von der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen vor.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 89 –

»... ein treuer Spiegel«: Cottas ›Allgemeine Zeitung‹ Unparteilichkeit gehörte auch zu den Prinzipien, die für den Buchhändler und Verleger Johann Friedrich Cotta bei der Gründung eines neuen politischen Tageblattes Ende des 18. Jahrhunderts Programm waren. Im Oktober 1797, in der Ankündigung der Zeitung, die ab dem 1. Januar 1798 unter dem Titel ›Neueste Weltkunde‹ in Tübingen erstmals und nach einem Verbot am 9. September unter dem neuen Titel ›Allgemeine Zeitung‹ in Stuttgart wieder erschien, versprach Cotta »ein politisches TagBlatt, das wie ein treuer Spiegel die wahre und ganze Gestalt unsrer Zeit zurückstrahle; so vollständig, als ob es der ganzen Menschheit angehörte, so untergeordnet den grosen Grundsäzen der Moral und bürgerlichen Ordnung, als ob es ganz auf das Bedürfniß einer Welt voll GährungsStoff berechnet wäre; so edel in Sprache und so unparteyisch in Darstellung, als ob es auf die Nachwelt fortdauern sollte...«.70 Sodann wird das Programm in fünf Prinzipien konkretisiert: »Vollständigkeit« der Nachrichten, aller »historischwichtige[n] Facta [...], in so weit sie durch Correspondenz oder durch gedrukte Nachrichten zu unsrer Kenntnis gelangen [...]«; »Unparteylichkeit, im weitesten Sinne des Wortes, d.h. gleiche Achtung für alle Verfassungen und für alle Länder; treue Darstellung dessen, was geschieht, ohne Hass noch Gunst. Uiberall, wo mehrere in einem Factum verschlungen sind, (z.B. bei Schlachten, beim Abbruche von Unterhandlungen ec.) werden wir jeden Theil mit seiner eignen Darstellung auftreten lassen«; »Wahrheit, so weit diese bei 70

Zitiert nach Ed.[uard] Heyck: Die Allgemeine Zeitung 1798-1898. Beiträge zur Geschichte der deutschen Presse. München 1898, S. 15. (Hervorhebung P.S.) Vgl. auch Christian Padrutt: Allgemeine Zeitung (1798-1929). In: Fischer, Zeitungen, (Fn 44), (S. 131-144), S. 131; ferner Lindemann, Deutsche Presse, (Fn 8), S. 175.

– 90 –

philomen schönhagen

einem Stoffe, den man schon im ersten Moment seines Werdens aufgreifen muß, nur irgend gedenkbar ist. Immer soll genau unterschieden werden, was zuverlässiges [...] Factum; was blose Muthmasung, oder Raisonnement [...] ist... Ein Factum, das in der ersten Zeit allgemein für wahr galt, aber in der Folge falsch befunden wird, soll jedesmal ausdrücklich widerrufen werden«; verständliche, deutliche Darstellung und sachliche Sprache.71 Cotta verstand demnach sein Blatt als Forum, in dem alle gesellschaftlich relevanten Standpunkte vollständig sowie treu und unverfälscht, in adäquater sprachlicher Form wiedergegeben werden sollten. Die Redaktion sollte die Funktion eines neutralen Vermittlers, »ohne Hass noch Gunst«, erfüllen und »jeden Theil mit seiner eignen Darstellung auftreten lassen«. Weiter kündigte Cotta hier die deutliche Unterscheidung von zuverlässigen Fakten und Raisonnement an. Das Programm spiegelt damit alle typischen Aspekte des Unparteilichkeitskonzeptes wider. Dass es in der Folge mal mehr, mal weniger realisiert wurde, war vor allem von den jeweiligen Chefredakteuren und deren Selbstverständnis abhängig.72 Zudem setzten die politischen Verhältnisse dem Konzept Grenzen, insbesondere die Zensur. Dadurch sah sich Cotta veranlasst, seinen Korrespondenten Anonymität zu gewähren und zu ihrem Schutz das Originalmaterial vernichten zu lassen73 – wodurch die Transparenz der Berichterstattung empfindlich eingeschränkt wurde. 71

Zitate nach Heyck, Allgemeine Zeitung, (Fn 70), S. 16/17. (Hervorhebungen P.S.) Vgl. Volkmar Hansen: Heinrich Heines politische Journalistik in der Augsburger ›Allgemeinen Zeitung‹. (Katalog zur Ausstellung der Stadt Augsburg: Heines Artikel in der ›Allgemeinen Zeitung‹.) Augsburg 1994, S. 15.

72

Vgl. dazu etwa Hansen, Heine, (Fn 71), S. 10, 15 f. sowie S. 43 ff.

73

Vgl. Heyck, Allgemeine Zeitung, (Fn 70), S. 103 und Michael von Rintelen: Zwischen Revolution und Restauration. Die Allgemeine Zeitung 1798-1829. Frankfurt/M. 1994, S. 381.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 91 –

Jedenfalls gelang es dem Blatt durch seinen »Forumcharakter«, eine regierungsunabhängige ›Linie‹ zu verfolgen, ohne selbst Partei zu ergreifen oder gegen die Zensur zu verstoßen: »Simple Referate der unterschiedlichen Sehweisen der Parteien [...] reichen aus, um ein Schablonendenken in politischen Fragen zu verhindern...«74 und dem Leser eine freie Meinungsbildung zu ermöglichen. So weist auch Ende 1847 der kommissarische Außenminister von Maurer eine Beschwerde Metternichs gegen die ›Allgemeine Zeitung‹ mit der Begründung zurück, sie sei »völlig von der Regierung unabhängig: sie öffnet ferner ihre Spalten dem ›Für‹ und dem ›Wider‹ in jeder Sache und die unparteiische Stellung ist für die bayerische Regierung sowohl als für das Unternehmen selbst [...] mit so entschiedenem Vortheil verbunden, daß eine Änderung derselben gar nicht wünschenswerth erscheint.«75 Im selben Jahr verteidigt Georg Cotta, Sohn und Nachfolger des Zeitungsgründers, in einem Brief an den Freiherrn Josef Christian von Zedlitz – der für das österreichische Ministerium des Äußeren sowie für die ›Allgemeine Zeitung‹ als Mitarbeiter tätig war – die unparteiliche Haltung der ›Allgemeinen Zeitung‹ gegenüber dessen Anregung, in täglichen Leitartikeln Stellung zu nehmen. In einem Konzept zu diesem Brief (welchen er dann allerdings später ›entschärft‹ abschickte), beschreibt Cotta auf anschauliche Weise das Unparteilichkeitskonzept, das ihm sichtlich am Herzen lag: »Mein seliger Vater hatte die Ansicht, daß die A. Z. nie leitende Artikel, die von ihrer Redaktion ausgehen, geben dürfe, er be74

Hansen, Heine, (Fn 71), S. 55, S. 54.

75

Zitiert nach Hansen, Heine, (Fn 71) S. 53. Ganz ähnlich lautete auch ein Brief des bayerischen Ministers Oettingen-Wallerstein an den bayerischen Gesandten von Lerchenfeld in Berlin vom 9. Dezember 1847. Dieser Grundcharakter des Blattes sei »selbst in den sturmbewegten Jahren 1831-34 nie und von keiner Seite bestritten worden«. Zitiert nach Heyck, Allgemeine Zeitung, (Fn 67), S. 317.

– 92 –

philomen schönhagen

zeichnete im Gegenteil ihre Linie als eine solche, die jede ausgesprochene Farbe seitens der Redaktion ausschließen müsse, um keiner Partei die Lust zu nehmen, sich in ihrem Namen auszusprechen. [...] ich kenne keinen Menschen unter Gottes Sonne, dessen Ansicht ich als allein wahre mit meinem Gelde honorieren und mit meinem Namen in der Welt verbreiten möchte. Dies will und kann ich nur für alle ruhig und wissenschaftlich ausgesprochenen Ansichten thun, weil die Ansichten aller zusammengenommen mir allein das Providentielle zu repräsentieren scheinen, das unserer Gattung; weil der Verstand aller mehr ist, als der des einzelnen, und weil jedenfalls nur aus dem Kampfe aller und der verschiedensten Meinungen die Wahrheit hervorgehen kann. Wenn ich die verschiedensten Meinungen alle sprechen lasse, so lasse ich Gottes Stimme vernehmen; wenn es bloß der leitende Artikel eines Redakteurs ist, ach, dann ist es ja nur irgend eine Ansicht, die möglicherweise im einzelnen Falle sehr irren kann. [...]«.76 An diesem Briefkonzept wird auch deutlich, dass Cotta die Unparteilichkeitsmaxime wohl mehr aus Prinzip und aufklärerischem Idealismus verfolgte als aus Geschäftssinn. Wenn schon sein Vater über diesen in hohem Maße verfügte, so warf die mit großem Aufwand (etwa an Korrespondenten) und erheblichen Kosten erstellte ›Allgemeine Zeitung‹ doch nie große Gewinne ab,77 obwohl sie auf der Höhe ihres Erfolges im Jahre 1848 über 11.000 Abonnenten hatte78 und ihrem Verleger in anderem Sinne Erfolg und Ansehen verschaffte. Die bisweilen sehr drastischen Charakterisierungen der ›Allgemeinen Zeitung‹ durch Zeitgenossen las76

Zitiert nach Heyck, Allgemeine Zeitung, (Fn 70), S. 272/273 (Hervorhebungen abweichend vom Original; P.S.).

77

Heyck, Allgemeine Zeitung, (Fn 70) S. 98, vertritt die Ansicht, Cotta hätte mit einer parteiischen Zeitung ein besseres Geschäft machen können.

78

Vgl. Padrutt, Allgemeine Zeitung, (Fn 70), S. 141.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 93 –

sen darauf schließen, dass es Cotta trotz aller Einschränkungen im Prinzip gelungen ist, seinen Plan eines unparteilichen Forums zu realisieren. So etwa beschimpfte der Verleger Campe die Zeitung Cottas als »allgemeine Metze« und Ludwig Börne, selbst ein Korrespondent des Blattes, bezeichnete sie gelegentlich als eine »alte Kupplerin, die jeder geilen Gesinnung Gelegenheit verschafft, sich gütlich zu tun«.79 2. Die zeitgenössische ›Fachdebatte‹: »... muß ein Zeitunger unparteyisch seyn« Damit entsprechen die Programme der Praktiker sehr weitgehend den Forderungen, die in zeitgenössischen Abhandlungen über die Zeitung erhoben wurden,80 soweit diese nicht den Zeitungen überhaupt ablehnend gegenüberstanden. Als exemplarisch kann Kaspar Stielers Schrift über »Zeitungs Lust und Nutz« aus dem Jahre 1695 angesehen werden. Für Stieler steht außer Frage, es »muß ein Zeitunger unparteyisch seyn«.81 Denn: »Ob auch schon eben so wol in der Historie / als denen Zeitungen getadelt wird / ein Urteil über die vorgehende Sache zu fällen; So ist doch solches mehr in diesen als jener verwerflich. Denn man lieset die Zeitungen darüm nicht / daß man daraus gelehrt und in beurteilung der Sachen geschicket werden / sondern daß man allein wissen wolle / was sich hier und dar begiebet. Derowegen die Zeitungsschreiber 79

Hansen, Heine, (Fn 71), S. 44.

80

Einige dieser Schriften versammelt der Band von Karl Kurth (Hrsg.): Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. Brünn u.a. 1944. Vgl. auch die im folgenden zitierte Literatur. Auch Berns, ›Parteylichkeit‹, (Fn 18), führt hierzu einige Beispiele an.

81

Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nutz. Vollst. Neudr. der Originalausgabe von 1695. Hrsg. von Gert Hagelweide. Bremen 1969, S. 49. Grimm, Wörterbuch, (Fn 8), Bd. 24, Sp. 1223, geben übrigens für den Begriff ›Unparteilichkeit‹ Kaspar Stielers Schrift als ersten Beleg an.

– 94 –

philomen schönhagen

/ mit ihrem unzeitlichen Richten zu erkennen geben / daß sie nicht viel neues zu berichten haben / sondern bloß das Blat zu erfüllen / einen Senf darüber her machen / welcher zu nichts anders dienet / als / daß man die Naseweysheit derselben verlachet / und gleichsam mit Füssen tritt / weil sie aus ihrer Sfäre sich verirren / wo sie nicht anders / als straucheln und versinken können«.82 Kurz gesagt: »Ein Urteil in den Zeitungen zufallen [!] / ist ungebührlich.«83 An anderer Stelle bekräftigt Stieler, dass es überhaupt nicht Aufgabe der Zeitungsschreiber sei, eigene Aussagen zu verbreiten: »Eigene Erfindungen sind in den Zeitungen zu vermeiden.«84 Einschränkend stellt Stieler jedoch fest: »Beschreibungen können wol passiren.«Erläuternde Hinweise der Zeitunger sieht er als durchaus nützlich an; es sei nicht zu »tadeln / daß man in den Zeitungen manchesmal einen unbekannten Ort / der da belagert / oder einen kleinen Fluß der überbrücket wird / der Lage und Gelegenheit nach / mit wenigen beschreibet oder / von einem Könige / Fürsten oder beiden / wer er sey / wie er mit Nahmen heisse / und was sein Anspruch und Vorhaben sey? beyher Meldung tuht / vielmehr [zu] wünschen / daß man in unbekannten Sachen dergleichen Umstände nicht verschweige; So ist doch darinnen eine kluge Mäsigkeit zu gebrauchen und die vergebliche Wäscherey zu vermeiden.«85 Stieler versteht unter Unparteilichkeit jedoch mehr als nur den Verzicht auf eigene, urteilende Beiträge der Zeitungsmacher. Besonders deutlich wird das dort, wo er anhand eines Beispiels beschreibt, was Unparteilichkeit nicht ist: »Ich besinne mich hiebey eines Fürstlichen Sekretariens Lutherischen Glaubens / der 82

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 27.

83

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 27 (Marginalie).

84

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81) S. 34 (Marginalie).

85

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 30 sowie ebd. Marginalie.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 95 –

mit einem Gesanten nacher Regenspurg / nachzuschreiben / geschicket ward / und / als von einem Religions-Punct beratschlaget und votiret wurde / derer Herrn Catolschen Meinung ganz anders / als sie aus fielen / niederschriebe: Wie nun der Gesante des Abends das Protocoll durchginge / es aber weit anders befunde / auch deshalber den Schreiber zur Rede setzete / empfing er die Antwort: Ich weyß wol / das die Katoliken das Gegenteil geredet / sie hätten aber also / wie ich geschrieben / billig zustimmen sollen.« Hier wird deutlich: Die Meinungen und Neigungen des Journalisten sollen nicht nur nicht in eigenen (Meinungs-)Beiträgen dargelegt werden, sondern sie dürfen vor allem die Berichterstattung, die Bearbeitung der Nachrichten nicht beeinflussen. Anschließend warnt Stieler vor den Gefahren parteilicher Berichterstattung: »Wenn demnach ein Post-Meister / der gut Französisch ist / sich unterwinden wolle / die Kayserliche / oder den Alliirten Teil / mit wiedrigen Zeitungen zu beschweren / derer Franzosen Partey hingegen zuhalten / viel von ihren Siegen und Anstalten zu prangen / das würde ihm sehr übel bekommen.«86 Direkter drückt Tobias Peucer in der ersten zeitungswissenschaftlichen Dissertation im Jahre 1690 die Erwartungen an einen unparteilichen Zeitungsschreiber aus: »Zum Willen des Berichterstatters rechne ich seine Glaubwürdigkeit und Wahrheitsliebe: daß er nicht etwa aus Voreingenommenheit für eine Partei schuldhaft etwas Falsches beimische oder nicht ganz sichere Dinge über Vorgänge von großer Bedeutung niederschreibe.«87 Der Zeitunger sollte also sowohl bei der Auswahl wie auch bei der Bearbeitung der Nachrichten neutral und unparteilich vorgehen – ›ohne passion‹, wie es in den frühen Zeitungs-Programmen hieß. 86

Beide Zitate aus Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 49.

87

Tobias Peucer: Über Zeitungsberichte. Leipzig 1690. Zit. nach Kurth, Schriften, (Fn 80), S. 95.

– 96 –

philomen schönhagen

»Die einlaufende Zeitungen sind zu prüfen«88 Stieler verdeutlicht sodann, wie sich mit sorgfältiger Quellenprüfung mögliche Parteilichkeiten vermeiden lassen. Der Zeitungsschreiber solle deshalb »nicht alzuleichtgleubig seyn / sondern betrachten / von welchem Ort eine Zeitung herkomme? [...] Was kluge Post-Meister seyn / lassen sich nicht von iedem Winde hin und her bewegen und trauen nicht leichtlich einer jeden Relation / sie komme von Osten oder Westen / sondern warten / entweder der Bestätigung bey der künftigen Post / oder sehen zu / ob auch von andern Orten dergleichen gemeldet werde?«89 Und an anderer Stelle betont er, gute Zeitungsschreiber »raffen nicht alles zusammen / was ihnen aus der Luft entgegen geflogen kommt / examiniren und prüfen vorhero die bey ihnen einlaufende Zettul / wo sie herkommen und ob ihnen auch zu trauen sey?« Sie wählten »ehrliche / unbescholtene und glaubhafte Männer« als Quellen »zuverlässige[r] Correspondenz« aus. »Insonderheit trauen sie nicht jedwedem Geschrey / das in der Stadt und Lande / wo sie wohnen / ausgesprenget wird / weil man auch über die Gasse zu lügen pfleget [...]«.90 Der Aspekt der Glaubwürdigkeit spielt ebenso wie in den Zeitungsprogrammen auch bei Stieler eine wichtige Rolle. Der Zeitungsmacher könne nicht immer für die Wahrheit der Nachrichten einstehen, denn es könne »allezeit so genau nicht abgehen / daß nicht ein erdichtetes Wesen mit unterlaufe / und dann ist nur darauff zu sehen / ob die Relation wahrscheinlich sey oder nicht?«91 Die Verantwortung des Zeitungers betrifft demnach nicht die Wahrheit der Nachrichten, zumal es unmöglich sei »bey so vielen Parteylichkeiten und Auffangungen 88

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 31 (Marginalie).

89

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 49.

90

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 31.

91

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 32.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 97 –

des mannigfaltigen Gerüchts die reine Wahrheit zu ergründen«.92 Verantwortlich ist der Zeitunger aber für die korrekte Wiedergabe der – möglichst glaubwürdigen – Nachrichten. ›Relata refero‹ und Quellentransparenz Außerdem empfiehlt Stieler den Zeitungern, die Herkunft der Nachrichten in der Zeitung kenntlich zu machen: »Er schreibet nicht: dieses und jenes habe ich mit meinen Augen gesehen / mit meinen Ohren gehöret / und mit meinen Händen betastet / sondern setzet bey jeder Zeitung oben über / den Ort und das Datum / oder den Tag / meldet auch wol dabey: aus Turin / von Brüssel / von Peterwardein etc. wird berichtet: Ein Courier aus der Armee bringet mit: Es wil verlauten / ob solle etc. und damit verwahret er sich zur genüge / indem er es ausgiebt / wie er es empfangen hat.«93 Das entspricht genau den Äußerungen in den Zeitungsprogrammen zur ›treulichen‹ Vermittlung. Ähnliche Forderungen formuliert hundert Jahre später auch Joachim von Schwarzkopf: Die Zeitungsschreiber könnten unmöglich »für alles 92

Der Versuch wäre so, »als wenn ich in der Abends-Demmerung den Mittag suchen wolle.« Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 58.

93

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 57 (Hervorhebungen P.S.). Die Glaubwürdigkeit der Quellen und die Forderung eines Hinweises für den Fall, dass diese zweifelhaft ist, spielten bereits bei den sog. Fuggerzeitungen eine nicht unerhebliche Rolle. »Die Berichterstatter der beiden Fugger waren [..] sehr vorsichtig mit ihren Nachrichten. Erschien ihnen die Zeitung ungewiß oder zweifelhaft, so merkten sie das zur Orientierung an. Bestätigte sich eine Nachricht, so versäumte man nie, dies nachdrücklich zu bemerken. Oft ließ man etwas ›in blanco‹, bis man Genaues erfuhr [...] Um möglichst sicher zu gehen, suchten die Zeitungsschreiber daher ›Zeittungen von glaubwürdigen Personen‹.« (M[athilde] A[uguste] H[edwig] Fitzler: Die Entstehung der sogenannten Fuggerzeitungen in der Wiener Nationalbibliothek. Baden b. Wien 1937, S. 21/22.) Vgl. zur Nennung der Quellen auch Johannes Kleinpaul: Die Fuggerzeitungen 1568-1605. Leipzig 1921, S. 22.

– 98 –

philomen schönhagen

Gewähr leisten«, meint er; eben deshalb aber müssten sie »auf die Auswahl guter handschriftlicher Quellen, zuverlässiger Correspondenten und Bulletinisten ihr Augenmerk« richten.94 Geht der Zeitunger derart sorgfältig vor, bevor er einkommende Mitteilungen veröffentlicht, dann trägt er keine Verantwortung, falls sich die Nachrichten im Nachhinein als unwahr erweisen. Der Zeitungsschreiber nämlich »muß anders nicht wissen / als / daß alles sich so / und anders nicht begeben habe / was er denen Zeitungen ein verleibet. Sintemal er den einlaufenden Dingen im Zweifel glauben zustellen muß / bis er eines andern und bessern berichtet wird. Welchenfals er sich nicht zu schämen hat / in folgender Zeitung anzuführen: Es continuire nicht / es wolte vielmehr das Gegenteil verlauten / man habe nunmehro eine gewissere Nachricht etc.«95 Diese Forderungen sind keine anderen als jene, welche heute unter dem Begriff der Sorgfaltspflicht erhoben werden. Jörg Jochen Berns spricht im Zusammenhang mit der Quellentransparenz vom »Prinzip des ›relata refero ‹«,96 welches Parteilichkeit vermeiden helfe und dem Leser ermögliche, Rückschlüsse auf den jeweiligen parteilichen Hintergrund der Nachrichten zu ziehen. Auch Kaspar Stieler betont an anderer Stelle, dass diese Angaben zur Herkunft der Nachrichten für die Beurteilung (der Glaubwürdigkeit) derselben durch die Leser vonnöten sind.97 94

Vgl. Joachim von Schwarzkopf: Ueber Zeitungen (und ihre Wirkung). Faksimile-Druck der Ausgabe von 1795. Hrsg. von Hans Wagner. München 1993, S. 92, S. 80 sowie auch S. 85/86: Die Kennzeichnung der Quelle erleichtere dem Leser die Übersicht und die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit.

95

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 34.

96

Berns, ›Parteylichkeit‹, (Fn 18), S. 209. Der Ausdruck bezeichnet genau das Prinzip, die Mitteilungen so weiterzugeben, wie man sie erhalten hat, also die getreue Vermittlung. Dazu gehört die Benennung der Quelle.

97

Vgl. Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 124 f.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 99 –

Christian Weise beschreibt dieses Prinzip im Jahre 1685 ebenfalls aus der Sicht des Lesers: »Es ist auch eine schöne Vorsichtsmaßregel, wenn wir den Ort beachten, woher die Erzählung kommt.« Da manche Korrespondenzen voreingenommen seien, »ziehe ich sogar jene Berichte vor, die aus einem neutralen Orte stammen oder ich vereinige die miteinander verglichenen Erzählungen beider Parteien, so daß die sich daraus ergebende mittlere Linie schließlich Glauben zu verdienen scheint.«98 Die Zeitungen des 17. Jahrhunderts haben nach Berns diesen Grundsatz weitgehend befolgt. »Sehr oft ist zu beobachten, dass die Perspektivengebundenheit einer Nachricht nicht nur durch Angabe von Herkunftsort und Ausstellungsdatum gekennzeichnet ist, sondern dass in der Nachricht selbst die Aussageperspektive des Informanten festgehalten ist, indem er als Subjekt der Aussage auch grammatisch kenntlich bleibt. [...] Der Vorteil solcher subjektfixierten Nachrichten liegt auf der Hand: Der Zeitungsherausgeber muss für deren Gehalt nicht einstehen. Unparteylichkeit stellt er demnach am ehesten dann her, wenn er eine möglichst große, kontrastreiche Pluralität perspektivengebundener – und in dieser Bindung authentischer – Nachrichten in seinem Blatt versammelt. Damit ist ein wesentliches Prinzip des frühen Zeitungswesens angesprochen: der Informant durfte oder sollte im Interesse der Glaubwürdigkeit als Subjekt in Erscheinung treten, durfte oder sollte seinen Standpunkt vertreten; der Zeitunger aber nicht«.99 Die Urheberschaft der Nachricht sollte demnach möglichst offengelegt werden. Entsprechend forderten auch andere Schriften zur Zeitung den sorgfältigen Umgang mit den Quellen und die getreue Wiedergabe der Mitteilungen. So heißt es etwa in Daniel Hart98

Christian Weise: Interessanter Abriß Über das Lesen von Zeitungen. Frankfurt u. Leipzig 1685. Zitiert nach Kurth, Schriften, (Fn 80), S. 67.

99

Berns, ›Parteylichkeit‹, (Fn 18), S. 209/210. (Hervorhebung P.S.)

– 100 –

philomen schönhagen

nacks Schrift »Erachten Von Einrichtung Der Alten Teutschen und neuen Europäischen Historien«100 aus dem Jahre 1688: »Wie mirs verkaufft ist / so geb ichs wieder.«101 Auch in August Ludwig von Schlözers Entwurf für eine Zeitungsvorlesung aus dem Jahre 1777 heißt es: »Keine Zeitung hat sich je vermessen, daß sie nichts als die Wahrheit melde; alle führen die Devise: Relata refero. Der Zeitungsschreiber also ist gemeinlich außer Schuld, wenn er etwas Falsches debitieret; und es ist unvernünftig, gegen ihn [...] als vorsätzlichen Erfinder einer Unwahrheit zu toben. Aber der Zeitungsleser sollte hübsch auf seiner Hut sein und Zeitungen nicht für mehr halten, als wofür sie der Zeitungsschreiber selbst gehalten wissen will: eine Sammlung nämlich von Nachrichten und Gerüchten, so wie er sie dem nächsten Posttag vorher [...] erhalten hat, für deren Richtigkeit er nichts weniger als gewährleistet, sondern deren Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, er der Urteilskraft des Lesers lediglich anheim stellt.«102 Den Regeln der Quellentreue und Quellen-Angabe kommt gerade »bei der im 17. Jahrhundert schwierigen Überprüfung von Sachverhalten«103 besondere Bedeutung zu, wie auch aufgrund der Tatsache, dass viele der einkommenden Mitteilungen »von Berichterstattern [...] zweifellos tendenziös« geliefert worden sind104 – Umstände und Rah100

Erschienen in Celle 1688. Vgl. Berns, ›Parteylichkeit‹, (Fn 18), S. 205.

101

Zitiert nach Jens Gieseler / Elke Kühnle-Xemaire: Der ›Nordische Mercurius‹ – eine besondere Zeitung des 17. Jahrhunderts? In: Publizistik 2/1995, (S. 163185), S. 174.

102

August Ludwig v. Schlözer: Entwurf eines Zeitungs-Collegii. Göttingen 1777. Zitiert nach Kurt Koszyk: Vorläufer der Massenpresse. Ökonomie und Publizistik zwischen Reformation und Französischer Revolution. München 1972, S. 82.

103

Gieseler / Kühnle-Xemaire, Mercurius, (Fn 101), S. 175.

104

Koszyk, Vorläufer, (Fn 102), S. 51.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 101 –

menbedingungen journalistischer Praxis, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Dass Verstöße gegen das Unparteilichkeitspostulat trotz allem an der Tagesordnung waren, beweisen die vehementen Klagen, die ebenfalls in den zeitgenössischen Schriften zu finden sind. So kritisierte schon Christoph Besold im Beitrag über ›Newe Zeitungen‹ in seinem ›Thesaurus Practicus‹ (Praktischer Hausschatz) von 1629 die Neuen Zeitungen: »Es werden Siege ausgesprengt, die Gegenseite wird niedergedrückt, Niederlagen werden erfunden, um das Volk (weil die Welt, wie man sagt, betrogen werden will) kopflos zu machen, damit es für diese oder jene Partei eintrete usw.«105 Auch Ahasver Fritsch betont im Jahre 1676, dass die Zeitungen »bisweilen politische Geheimzwecke« verfolgen und dass sie gelegentlich gar »geradezu Maßnahmen der Kriegführung« seien.106 Zusammenfassend fordert Kaspar Stieler, ähnlich wie die Programme der Zeitungsmacher selbst, dass der Zeitunger »mit den Zeitungen redlich umgehen / nichts verfälschen / hinzuoder davon tuhn / auch nichts annehmen wolle / es komme dann von glaubwürdigen Orten her [...]«.107

105

Zitiert nach Kurth, Schriften, (Fn 80), S. 32.

106

Ahasver Fritsch: Diskurs über den heutigen Gebrauch und Missbrauch der ›Neuen Nachrichten‹, die man ›Neue Zeitunge‹ nennt. Jena 1676. Zitiert nach Kurth, Schriften, (Fn 80), S. 40. Besold und Fritsch beklagen genau das, was Stieler als positive, staatsschützende Aufgabe der Zeitungen erachtet: »Die Ursache ist / daß es der Stat vielmals erfordert / etwas Ungegründetes unter das Volk zu bringen / wenn es dem gemeinen Wesen zu träglich ist.« ( Stieler, Zeitungs Lust, [Fn 81], S. 35.) Die Unparteilichkeit findet also dort ihre Grenze, wo die Interessen des Staates auf dem Spiel stehen. Allerdings sehen in solchen Fällen nicht nur absolutistische Staaten Zensurmaßnahmen vor.

107

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81), S. 51.

– 102 –

philomen schönhagen

3. Fazit: Unterschätzte ›Kärrner-Arbeit‹108 Schon hier zeichnet sich ab: Das Arbeitsprinzip der Unparteilichkeit ist von Beginn an eng verbunden mit dem Typ des informierenden, referierenden Nachrichtenjournalismus. Im wesentlichen ist es dort motiviert von dem Ziel, möglichst vielen, in der Regel sehr unterschiedlichen Lesern möglichst umfassende Informationen zu ihrer Orientierung und eigenständigen Meinungsbildung zu liefern. Die deutliche Nähe zu den Ideen der Aufklärung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Ziel weniger in Idealismus oder Altruismus wurzelte, sondern in ganz handfesten ökonomischen Interessen: »Unparteilichkeit lohnt sich.«109 Die Zeitungsmacher verfügten über eine auffallend einheitliche und klare Vorstellung davon, was Unparteilichkeit konkret heiße, auf welchen Ebenen der praktischen Tätigkeit sie umzusetzen sei. Die Analyse der verschiedenen Programme ergab folgende Bereiche oder Aspekte. Unparteilichkeit konkretisiert sich demnach (1.) in der sorgfältigen Prüfung der Quellen auf ihre Glaubwürdigkeit (und in einer entsprechenden Auswahl), um bereits hier Parteilichkeiten vorzubeugen. Damit eng verbunden ist die Forderung der Kennzeichnung der Mitteilungs-Herkunft nach dem Prinzip des ›Relata refero‹, um die Interessengebundenheit von Informationen durchschaubar und ihre Glaubwürdigkeit auch für die Leser nachvollziehbar zu machen. Sie erfordert 108

Walter Hömberg hat 1987 darauf hingewiesen, dass es zwar schwierig, aber durchaus möglich und wichtig sei, »neben den Königen die Kärrner« bei der Erforschung von Journalismusgeschichte zu würdigen. Vgl. Walter Hömberg: Von Kärrnern und Königen. Zur Geschichte journalistischer Berufe. In: Manfred Bobrowsky / Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte. München 1987, (S. 619-629), S. 627.

109

Zu diesem Schluss kommt auch Wagner, Auftrag, (Fn 4) S. 108.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 103 –

(2.) die »treuliche«, also getreue, unverfälschte Vermittlung jeder einzelnen (ausgewählten) Mitteilung (ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Standortes). Diese Forderung erhält angesichts der notwendigen Konzentration der Mitteilungen besonderes Gewicht und schließt den Anspruch der prinzipiellen Gleichbehandlung aller Mitteilungen ein. Unparteilichkeit manifestiert sich (3.) in der Offenheit der Berichterstattung für alle Seiten, Parteien, Standpunkte und Interessen, dem Prinzip des ›audiatur et altera pars‹. Voraussetzung für die genannten Aspekte ist (4.) die Neutralität des vermittelnden Journalisten, der möglichst ›ohne passion‹ vorgeht. Sämtliche redaktionellen Tätigkeiten, von der Auswahl der Mitteilungen bis zu deren Umarbeitung in ein vermittlungsfähiges Konzentrat und dessen Gewichtung, sollen nicht von Parteinahmen und vorausgreifenden Urteilen des Journalisten beeinflusst werden. Daraus folgt (5.), dass die Zeitungsmacher in die Berichterstattung keine eigenen Urteile und Ansichten einfließen lassen sollen, also die konsequente Trennung von Berichterstattung und journalistischem Kommentar, die ›unvergreifliche‹ Berichterstattung, die dem Leser ein selbständiges, unabhängiges Urteil zugesteht und ermöglicht. Bedenkt man alle diese Aspekte der Unparteilichkeitsmaxime sowie die Hinweise auf ihre (zumindest teilweise) Verwirklichung, dann muss man feststellen, dass Jörg Jochen Berns zu kurz greift, wenn er die Zeitungs-Praxis des 17. Jahrhunderts – den Unparteilichkeits-Beteuerungen der Programme widersprechend – als parteilich darstellt. Begründen möchte er dies vor allem mit der erfolgreichen Praxis der Obrigkeit, (teilweise bewusst falsche) Nachrichten in die Zeitungen zu lancieren. Hierzu präsentiert er mehrere Beispiele.110 Diese aktive Nachrichtenpolitik und ihre 110

Vgl. Berns, ›Parteylichkeit‹, (Fn 18), S. 215 f.

– 104 –

philomen schönhagen

Erfolge sind unzweifelhaft; was man daran beobachten kann, sind aber allenfalls die Grenzen journalistischer Unparteilichkeit im absolutistisch verfassten Staat. Dass nämlich Zeitunger die Mitteilungen seitens der Obrigkeit ebenso aufnahmen wie die von anderer Seite, widerspricht keineswegs dem Unparteilichkeitsprinzip – im Gegenteil. Ohne Zweifel handelte es sich um einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht, wenn bewusst Falschmeldungen aufgenommen wurden. Aufgrund der Machtverhältnisse konnten die Zeitunger dies aber kaum ablehnen. Auch ist nicht gesichert, dass die Unwahrheit solcher Meldungen für die Zeitunger immer offensichtlich beziehungsweise überprüfbar war und ob die Forderung nach Quellenprüfung und Angabe der Mitteilungsherkunft bewusst missachtet wurde. Die historische Bedeutung der nachrichtenjournalistischen Handlungsnorm der Unparteilichkeit darf nicht unterschätzt werden, auch wenn die Beispiele und Protagonisten des ›gegenteiligen‹ Prinzips, des meinungsbildenden und politisch kämpferischen Journalismus, nicht nur bekannter und häufiger untersucht, sondern oft auch höher eingeschätzt worden sind.111 Tatsächlich war es die »nüchtern referierende Zeitung«, die im 18. und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein »im gesamten deutschen Sprachgebiet dominierte«112 und alle Bevölkerungsschichten erreichte.

111

Vgl. Welke, Öffentlichkeit, (Fn 62), v.a. S. 71/72. Vgl. auch Elger Blühm: Fragen zum Thema Zeitung und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. In: ders. (Hrsg.): Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München 1977, (S. 54-70), S. 68 f. (Anm. 37).

112

Welke, Leser, (Fn 60), S. 145.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 105 –

4. Heimatzeitungen: Orientierung an der Unparteilichkeitsnorm Alle wesentlichen Befunde zur Unparteilichkeitsmaxime sowie zu den Handwerksregeln, mit denen sie verwirklicht wurde, lassen sich lückenlos reproduzieren, wenn man die lokalen Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts daraufhin untersucht. Anhand von Erklärungen, Programmen und ähnlichen ›Verlautbarungen‹ der Zeitungsmacher kann gezeigt werden, dass diesen lokalen Blättern, die in großer Zahl auch als Heimatzeitungen firmieren, ein redaktionelles Konzept zugrunde lag, das sich an der Norm der Unparteilichkeit orientierte.113 Zudem zeigt die Inhaltsanalyse einiger Fallbeispiele, dass diese Norm auch weitgehend in der Praxis umgesetzt wurde. Für die Auffassung von unparteilicher Berichterstattung zentral war auch in diesen Erscheinungsformen des Zeitungswesens typischerweise das Prinzip des ›audiatur et altera pars‹, die allseitige Vermittlung. Redakteure und Verleger verstanden ihre Zeitungen als Foren lokaler Kommunikation, die nicht nur allen Themen öffentlichen Interesses, sondern insbesondere allen Seiten, Interessen und Standpunkten gleichermaßen offen stehen sollten. Diese Funktion wurde durch regelmäßige Aufforderungen zur Mitarbeit der Leser zusätzlich unterstrichen und transparent gemacht. Sie gründete einerseits in der Überzeugung, dass vernünftige Lösungen für die öffentlichen Angelegenheiten nur gefunden werden können, wenn diese nach allen Seiten offen besprochen werden und jedem Bürger ein eigenes, unvoreinge113

Eine ausführliche Darstellung der Befunde sowie die exemplarische Analyse einzelner herausragender Titel findet sich in: Schönhagen, Unparteilichkeit, (Fn 1), insbesondere in Teil iii und iv unter folgenden Titeln: »Unparteilichkeit: Vermittlungsprinzip der Heimatzeitungen im 18. und 19. Jahrhundert« (S. 78-143) sowie »Fallbeispiele« (S. 144-233).

– 106 –

philomen schönhagen

nommenes Urteil ermöglicht werde, andererseits im wirtschaftlichen Interesse der Verleger und Herausgeber, im eng begrenzten lokalen Verbreitungsgebiet ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Unparteilichkeitskonzeptes war ein spezifisches Selbstverständnis, wonach der Redakteur, ähnlich wie in einer Versammlung, als Moderator des lokalen Diskurses fungieren sollte. Seine Funktion wurde in erster Linie in der mediengerechten und unparteilichen Vermittlung der unterschiedlichen Gesprächsbeiträge gesehen, im Dienste der heterogenen Kommunikations- und Informationsbedürfnisse der örtlichen Bevölkerung. Daraus folgt ein weiterer charakteristischer Aspekt dieses redaktionellen Konzeptes: Eigene Beiträge der Redakteure sollten gegenüber diesen Vermittlungsdiensten weitgehend oder vollständig zurücktreten. Obwohl in den Programmen seltener thematisiert, wurde diese – für die Zeitungsmacher wie auch für die Leser offenbar ganz selbstverständliche – Forderung in der alltäglichen Arbeit ebenso regelmäßig umgesetzt wie eine offene, unterschiedliche und gegensätzliche Seiten einbeziehende Vermittlung. Wenn überhaupt kommentierende Beiträge der Redaktion erschienen, so waren diese in der Regel deutlich als solche gekennzeichnet und von den Berichten abgesetzt. Gewannen solche Stellungnahmen bei manchen Blättern größeres Gewicht, so reagierte das Publikum meist mit Unmut – und dem Herausgeber entstanden wirtschaftliche Schäden. Ebenso wie eigene Beiträge der Redaktion kenntlich gemacht wurden, bemühten sich die Heimatzeitungen typischerweise auch darum, die Herkunft der Berichte offenzulegen. Diese Absicht wurde ebenfalls in Programmen und Erklärungen zum Ausdruck gebracht. Die Umsetzung allerdings wurde erheblich dadurch eingeschränkt, dass auch noch im 19. Jahrhundert das

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 107 –

mitäts-Prinzip für die gesamte journalistische Tätigkeit Geltung hatte. Die Zeitungsmacher beanspruchten Anonymität nicht nur für sich selbst, sondern gestanden sie konsequenterweise ebenso den ›Beiträgern‹ von Mitteilungen und Berichten zu. Eine Rolle spielte hier zudem der Quellenschutz. Daher beschränkte sich die Kennzeichnung ›fremder‹ Beiträge häufig auf allgemeine Hinweise zu den Quellen, Berufs- und Funktionsangaben oder Initialen. In Anbetracht der Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse dürften diese den Lesern in der Regel zumindest eine grobe Orientierung und Einschätzung der Herkunft ermöglicht haben. Von großer Bedeutung innerhalb des Unparteilichkeits-Prinzips war zudem die Forderung nach ›getreuer‹ und ›unverfälschter‹ Vermittlung der einzelnen Berichte. Besonders im Zusammenhang mit Aufrufen zur Mitarbeit der Leser wurde dieser Aspekt durch die Formulierung und Veröffentlichung von Vermittlungsregeln konkretisiert. Diese sollten die Wahrhaftigkeit eingesandter Mitteilungen sicherstellen, indem sich die Einsender gegenüber der Redaktion nennen mussten. Außerdem regelten sie die Länge und, damit verbunden, den Grad der redaktionellen Bearbeitung sowie die thematische Breite der Beiträge; vor allem dienten sie dem Ausschluss beleidigender Inhalte, persönlicher Angriffe und Beschimpfungen. Damit trugen diese Regeln einerseits dazu bei, trotz der offenen und häufig stark kontroversen Diskussionen eine sachliche Kommunikations-Basis in der Zeitung aufrecht zu erhalten, andererseits gewährleisteten sie den chancengleichen Zugang zum gedruckten Kommunikationsforum für alle unter gleichen Bedingungen. Die Chancengleichheit wurde dadurch noch vergrößert, dass die Vermittlungsstandards nicht nur regelmäßig veröffentlicht, sondern auch an einzelnen Fällen erläutert und gerechtfertigt wurden. Somit vollzogen die Redaktionen ihre vermittelnde Tätigkeit nicht nur im Interesse, sondern regelrecht vor den Augen der breiten örtlichen Öffentlichkeit.

– 108 –

philomen schönhagen

Die Untersuchung der Heimatzeitungen erbrachte auch interessante Hinweise auf Gründe und Motive eines am Prinzip der Unparteilichkeit orientierten Journalismus. Der Verzicht auf redaktionelle Kommentierungen oder ›Räsonnements‹ wurde, ebenso wie die Kennzeichnung der Quellen, in der Regel von der Zensur gefordert. Doch lässt sich damit allein nicht sinnvoll begründen, dass sich die Zeitungsmacher zu einer Wahrnehmung aller Kommunikationsinteressen entschlossen, soweit diese bestimmte Grenzen nicht überschritten, und dafür auch Konflikte mit den Behörden in Kauf nahmen, anstatt den ›Weg des geringsten Widerstandes‹ zu wählen und sich einseitig in den Dienst der Obrigkeit zu stellen. Nach den Ergebnissen der vorangegangenen Analysen war es vor allem die wirtschaftliche Situation der lokalen Zeitungsverleger und Herausgeber, welche zur Favorisierung des Unparteilichkeitsprinzips führte. Angesichts der begrenzten Verbreitungsgebiete ihrer Blätter waren sie darauf angewiesen, eine heterogene Bevölkerung möglichst vollständig zu erreichen. Sie begriffen, dass ihnen dies am ehesten möglich war, wenn sie die Kommunikations-, Informations- und Orientierungsbedürfnisse aller Bürger unmittelbar in die Zeitung einbezogen, indem sie diese als ein offenes, für alle zugängliches, unparteiliches Forum des Ortsgespräches gestalteten. Die Zensur mag dieses Konzept eines pragmatischen Journalismus in mancher Hinsicht gefördert haben, vor allem aber setzte sie ihm Grenzen. Interessant ist auch, dass die Monopol- oder Konkurrenzstellung eines Blattes keinen bestimmenden Einfluss auf die parteiliche oder unparteiliche Haltung der Zeitungsmacher hatte. Unparteiliche Berichterstattung (und in vielen Fällen zugleich wirtschaftlicher Erfolg) fand besonders deutlich dort ein Ende, wo politisch oder religiös ambitionierte Persönlichkeiten das Zeitungsunternehmen oder die Redaktion übernahmen, um für ihre

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 109 –

weltanschaulichen Überzeugungen publizistisch aktiv zu werden und in diesem Sinne auf das Publikum einzuwirken. Nach allen bisherigen Erkenntnissen manifestiert sich im Prinzip der Unparteilichkeit, das mit annähernd denselben Charakteristika sowohl die Wochenzeitungen des 17. Jahrhunderts wie auch einen Großteil der lokalen Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts prägt, ganz offensichtlich ein spezifisch journalistisches Rollenverständnis. Dessen besondere und typische Ausprägung resultiert aus dem Problem, gesamtgesellschaftliche Kommunikation und Orientierung unter den Bedingungen der massenmedialen Vermittlung zu verwirklichen. Damit steht diese Rollenselbstdeutung in einem deutlichen Gegensatz zu Funktionsträgern wie Politikern oder politischen Publizisten und Schriftstellern, deren Ziel die Vertretung einzelner Interessen in der gesellschaftlichen Kommunikation ist. 5. Zeitungswissenschaftliche Diskussion der Unparteilichkeitsmaxime ›Audiatur et altera pars‹ Wie bereits deutlich wurde, versteht die zeitungswissenschaftliche Theorie Medien als Foren der sozialen Kommunikation. Dabei sind jedoch gesamtsoziale, universelle Medien von partikularen, speziellen Medien zu unterscheiden. Letztere stellen Öffentlichkeit114 nur für bestimmte Teilbereiche der Gesellschaft her. In beiden Fällen aber können die einleitend schon skizzierten gegensätzlichen Vermittlungsstrategien des ›Journalisten‹ und des 114

»Die zeitungswissenschaftliche Definition der Öffentlichkeit lautet: ›Öffentlichkeit ist die soziale Offenkundigkeit des Wissens und Urteilens als Ergebnis eines voll realisierten Austausches der je beteiligten Kommunikationspartner.‹ (Heinz Starkulla)« (Zitiert nach Hans Wagner: Kommunikation und Gesellschaft. 2 Bde. München 1978: i, S. 72).

– 110 –

philomen schönhagen

›Publizisten‹ Anwendung finden, weshalb diese einer Relativierung bedürfen. »Journalistische Vermittlung heißt dann: Medien und die in ihnen tätigen Vermittler leisten immer dann journalistische Vermittlung, wenn sie den erkennbaren Versuch unternehmen, möglichst alle Kommunikationsrepräsentanten (und damit die entsprechenden Wissens- und Meinungspositionen) eben des gesellschaftlichen Bezugssystems zu Wort kommen zu lassen, dem das jeweilige Medium als Versammlungsstätte dient. Publizistische Vermittlung heißt dann: Medien und Vermittler handeln immer dann publizistisch, wenn sie die zu vermittelnden Kommunikationsrepräsentanten eben jenes gesellschaftlichen Bezugssystems, dem ein Medium als Versammlungsstätte dient, nur einseitig oder partiell zu Wort kommen lassen.«115 Das für die traditionelle Unparteilichkeitsmaxime seit den ersten Wochenzeitungen zentrale Prinzip des ›audiatur et altera pars‹, der allseitigen Vermittlung, zielte also genau auf die Funktion des Journalisten oder Zeitungers, die zeitungswissenschaftlich als journalistische Vermittlung bezeichnet wird. Ziel des Prinzips sollte es sein, alle (und bei den lokalen Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts bedeutete dies konkret: in der lokalen Gesellschaft) vorhandenen Standpunkte und Positionen in die Berichterstattung einzubeziehen; damals allerdings mit der Einschränkung: soweit die Zensur dies zuließ. Die Zensurbeschränkungen führten aber, und das ist entscheidend, in der Regel nicht zu einer einseitigen, partiellen Vermittlung hinsichtlich einzelner Kommunikationsgegenstände, sondern zu einer vollständigen Ausblendung einzelner Gegenstände aus der Berichterstattung sowie (zeitweise) eigener Kommentare der Zeitungsmacher. Hinsichtlich der Themen und Bereiche aber, die 115

Wagner, Kommunikation, (Fn 114), i. S. 119/120. (Hervorhebungen im Original.)

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 111 –

die Zensur passieren konnten, war bei den untersuchten Zeitungen im allgemeinen ein deutliches Bemühen festzustellen, die gesellschaftliche Kommunikation nach allen Seiten offen zu vermitteln. Trotz (und in den Grenzen) der Zensur handelten diese frühen Zeitungsmacher und Lokaljournalisten also bereits spezifisch journalistisch. Insofern kann und muß man hier, bereits auf der Basis dieser einen Dimension des Unparteilichkeitsprinzips, von einem genuin ›journalistischen‹ Funktionsoder Rollenverständnis sprechen. Aus der theoretischen Betrachtung dieses Vermittlungsprinzips ergibt sich aber auch eines der zentralen Probleme der Massenkommunikation: auch solche Meinungs- oder Interessengruppen einzubeziehen, die über keine Repräsentanten verfügen, also informell und nicht organisiert sind. Deren Wissensbestände und/ oder Meinungen werden »zunächst nur durch Einzelstimmen markiert« und sind möglicherweise noch gar nicht öffentlich artikuliert. Diese »latenten Partnerschaften« einzubeziehen ist deshalb schwierig. Aber es ist unverzichtbar, »wenn die zeit- und gegenstandsbedingten Kommunikationsräume vollständig erschlossen werden sollen.«116 Allseitige Vermittlung erfordert daher selbstverständlich auch aktive journalistische Recherche, um solche Partnerschaften ausfindig zu machen und zur Mitteilung zu bewegen. Dies ist umso wichtiger, da jene Interessen- und Partnergruppen, die gut organisiert sind »und über funktionierende Repräsentanzstrukturen verfügen, ohnehin schon nicht zu unterschätzende Vorteile in der ›Massenkommunikation‹ haben«117, zumal sie in der Regel aktive Mitteilungspolitik betreiben. 116

Beide Zitate: Wagner, Kommunikation, (Fn 114), i. S. 85.

117

Hans Wagner: Rationalisierungsprozesse der Sozialen Kommunikation. Materialien zu einem besseren Verständnis der Massenkommunikation. In: Politische Bildung. Heft 1/1980, (S. 3-32), S. 26.

– 112 –

philomen schönhagen

Journalistischer Vermittlung entspräche es allerdings nicht, wenn aus dieser Aufgabe ein einseitiges Engagement für benachteiligte Gruppen entstünde – etwa im üblichen Sinne eines ›anwaltschaftlichen Journalismus‹ – und deren Interessen (die schlechteren Chancen sozusagen ›ausgleichend‹) einseitig in den Vordergrund gestellt würden, was aus zeitungswissenschaftlicher Sicht einem publizistischem Engagement gleichkäme. Der Ausgleich der Artikulations-Chancen kommt bei der journalistischen Vermittlung nicht durch ein einseitiges Engagement für die Interessen latenter Partner in der Berichterstattung zustande, sondern durch das besondere Engagement (im Vorfeld), das notwendig ist, um diese überhaupt in die Vermittlung einzubeziehen. Interessanterweise war es nach Ansicht von Thomas Schröder eben die mangelnde »Recherche-Praxis der Berichterstatter«, die in den beiden frühesten deutschen Wochenzeitungen zu Unausgewogenheiten in der Berücksichtigung verschiedener Standpunkte führte, wenn diese eine unterschiedliche Mitteilungspolitik betrieben. 118 Unparteiliche Berichterstattung erfordert somit vom Journalisten, sich nicht nur auf ohnehin ›einkommende‹ Mitteilungen zu verlassen, sondern auch aktiv Mitteilungen zu recherchieren mit dem Ziel, alle Wissens- und Meinungspositionen gleichermaßen in die Vermittlung einzubeziehen. In den untersuchten Heimatzeitungen ist ein solches aktives Bemühen zumindest darin zu erkennen, dass die Redaktionen in ständig wiederkehrenden Aufrufen ihr Publikum zur Einsendung von Mitteilungen aufforderten und bisweilen auch gezielt um Gegenmeinungen ersuchten, wie es beispielsweise der ›Chemnitzer Bote‹ im Jahre 1848119 unternahm, 118

Schröder, Zeitungen, (Fn 16), S. 334.

119

Siehe Jubiläumsausgabe ›75 Jahre Chemnitzer Tageblatt‹ v. 1. 7. 1923, S. 25. Hier wie in anderen Programmen wird erkennbar, dass die Redaktionen sich um regelmäßige Mitarbeiter mit »verschiedensten Ansichten« bemühten.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 113 –

oder wie es der ›Westfälische Anzeiger‹ etliche Jahrzehnte früher durch einen Lesermitarbeiter mit folgenden Worten an die Adresse anderer Leser verlauten ließ: »Es gibt Fälle, wo es gut ist, daß mehrere über einerley Sache ihre Meinung abgeben. Jeder hat seine eigene Ansicht und Darstellungsart. Die Wahrheit gewinnet allemal dadurch.«120 Übrigens wird hier deutlich, dass ausgewogene Berichterstattung keineswegs mit unkritischem, passivem ›Verlautbarungsjournalismus‹ gleichzusetzen ist. Im Gegenteil schließt eine verantwortungsvolle Wahrnehmung der Vermittlungsfunktion unbedingt ein, kritische Stimmen in der Gesellschaft ausfindig und öffentlich vernehmbar zu machen. Detlef Schröter bezieht den Aspekt der allseitigen Vermittlung nicht in sein Kriterienbündel der ›Mitteilungs-Adäquanz‹ ein. Er würdigt stattdessen die »Ausgewogenheit« (womit dasselbe gemeint ist) als »Spezialfall der Objektivität unter den Voraussetzungen der Kommunikations-Vermittlung«121, bezogen also auf die Vielzahl der Kommunikations-Vorgaben aus der Gesellschaft, während sich die Kriterien der ›Mitteilungs-Adäquanz‹ auf die Vermittlung der je einzelnen Mitteilungen beziehen. Im Hinblick auf diese unterschiedlichen Ebenen des Problems erscheint die Ausgliederung dieses Aspektes nachvollziehbar. Dennoch ist es wohl konsequenter, die Allseitigkeit der Vermittlung nicht als ›Spezialfall‹, sondern im Gegenteil als ›Regelfall‹ unparteilicher Berichterstattung zu betrachten: Denn »die Vielstimmigkeit, der Austausch, das Mit-teilen [!] konstituieren letztlich die soziale 120

Westfälischer Anzeiger, Nr. 42 v. 26. 5. 1801.

121

Detlef Schröter: Mitteilungs -Adäquanz. Studien zum Fundament eines realitätsgerechten journalistischen Handelns. In: Hans Wagner (Hrsg.): Idee und Wirklichkeit des Journalismus. Festschrift für Heinz Starkulla. München 1988 (S. 175-216), S. 182, i. d. Bd. S. 151; der Hauptteil dieses Beitrags ist wieder abgedruckt in diesem Band; alle Seitenangaben zu den folgenden Zitaten aus diesem Beitrag weisen auf die Fundstellen im vorliegenden Band.

– 114 –

philomen schönhagen

Kommunikation.«122 Auch läuft man mit einer Ausgliederung Gefahr, dass dieser, auch aus theoretischer Perspektive zentrale Aspekt der Unparteilichkeitsmaxime als nebensächlich rezipiert wird. In einer späteren Veröffentlichung hat Schröter diesen Aspekt der allseitigen Vermittlung dann als weitere Dimension eingefügt, allerdings nicht mehr unter dem Begriff der Mitteilungs-Adäquanz, sondern als Aspekt »der Qualität journalistischen Handelns«, welcher definiert wird als: »Tendenziell umfassende Berücksichtigung aller relevanten Themen- und Meinungsdimensionen der je aktuellen Gegenwelt eines vom Medium zu bedienenden Kommunikationsraumes.«123 Trennung von Nachricht und Kommentar Für eine zureichende Erklärung der Spezifika der Massenkommunikation müssen die dabei ablaufenden Prozesse der Mitteilung und der Vermittlung deutlich voneinander unterschieden werden. Zudem lässt sich nachweisen, dass beide Funktionen als Folge einer historischen Entwicklung und der Rationalisierung Sozialer Kommunikation in der Massenkommunikation unterschiedlichen Rollenträgern zufallen. Diese spezifische Rollenstruktur erweist sich als notwendige Voraussetzung für eine gesamtgesellschaftliche, alle kommunikativen Interessen chancengleich berücksichtigende journalistische Vermittlungsleistung. Zur Zeit der ersten Wochenzeitungen waren diese Funktionen der Kommunikationsvermittlung einerseits und der Meinungsvertretung (durch Zeitungsherausgeber) andererseits intermedial voneinander getrennt; beide Funktionen wurden von und in unterschiedlichen 122

Bernd Maria Aswerus: Vom Zeitgespräch der Gesellschaft. Hrsg. von Hans Wagner. München 1993, S. 94.

123

Detlef Schröter: Qualität und Journalismus. Theoretische und Praktische Grundlagen journalistischen Handelns. München 1995, S. 65.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 115 –

Medien wahrgenommen. Im amerikanischen Journalismus ist es üblich, diese Funktionen je unterschiedlichen Personen und Redaktionsbereichen dauerhaft zuzuweisen. Übt jedoch ein und dieselbe Person beide Rollen nebeneinander aus, wie es im deutschen Journalismus die Regel ist, so kann auch der primär als Vermittler und so als ›Gesprächsanwalt‹ (Bernd M. Aswerus) tätige Journalist, gewissermaßen als Zugabe oder Ergänzung, eigene Beiträge zum gesamtgesellschaftlichen Gespräch vermitteln.124 Problematisch wird diese doppelte Funktion erst dann, wenn journalistische Kommentierungen mit der Berichterstattung vermischt werden, die allseitig-chancengleiche Vermittlung also eingeschränkt oder gar überlagert wird. Aus diesem Zusammenhang heraus ist die Forderung nach konsequenter Trennung von Nachricht und Kommentar zu erklären. Die explizite Formulierung einer solchen Regel ist schon deshalb notwendig, weil nur der Journalist »einen unmittelbaren Zugang zum Medium hat, während alle übrigen Ausgangspartner ihren Zugang nur und ausschließlich über ihn gewinnen können.«125 Tritt möglicherweise noch ein Selbstverständnis hinzu, wonach der Journalist seine Funktion in erster Linie als privilegierter Gesprächs-Partner versteht, ist die Versuchung groß, diesen bevorzugten Medienzugang zu publizistischer Interessenvertretung zu nutzen. Solchen Rollenkonflikten kann dann nur mit Berufsregeln begegnet werden. Die Trennregel soll in diesem Sinne sicherstellen, dass den Rezipienten erstens die einzelnen Mitteilungen gesellschaftlicher Ausgangspartner(schaften) unabhängig von journalistischen Wertungen und Urteilen zugänglich gemacht werden, und zweitens, dass die Vielfalt gesellschaftlicher Standpunkte unabhängig von 124

Vgl. auch Heinz Starkulla: Marktplätze sozialer Kommunikation. Bausteine einer Medientheorie. München 1993, S. 16.

125

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 194. i. d. Bd. S. 172.

– 116 –

philomen schönhagen

journalistischen Einschätzungen (und trotz notwendiger Konzentration) umfassend dargestellt wird. Nicht nur im traditionellen Praktiker-Verständnis unparteilicher Berichterstattung spielte dieses Trennungsprinzip eine wichtige Rolle, sondern auch ein Großteil der aktuellen Praxisliteratur kommt, wie Detlef Schröter nachweist, zumindest »in die Nähe der Überzeugung, dass die wertenden, selbstvermittelnden Anteile des Journalisten mehr oder weniger eine ›Zugabe‹ zu einer ansonsten umfangreichen und vielseitigen Vermittlung gesellschaftlichen Redens und Meinens sein müßten.«126 Andererseits weist Schröter gerade in diesem Punkt, allerdings in einer auf Wirtschaftsberichterstattung begrenzten Untersuchung, erhebliche Defizite in der aktuellen Praxis nach.127 In den hier untersuchten Heimatzeitungen dagegen konnte eine breite Umsetzung dieser Regel festgestellt werden; interessanterweise sogar dann noch, wenn zugleich gegen das Prinzip allseitiger Vermittlung verstoßen wurde. Da eine nachvollziehbare Trennung von Kommentar und Berichterstattung nur durch eine entsprechende Kennzeichnung erreicht werden kann, ist die Trennungsregel eng mit der Forderung nach Transparenz der (Primär-)Quellen verknüpft. Darauf weist auch Detlef Schröter hin.128 Während sich erstere aus dem konkreten Problem ableitet, dass von denselben Personen gleichzeitig publizistische und journalistische Funktionen ausge126

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 195, i. d. Bd. S. 173.

127

Dazu ausführlich Schröter, Qualität, (Fn 123). Vgl. außerdem Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 137 (Anm. 1) mit Angaben zu weiteren Untersuchungen mit vergleichbaren Ergebnissen auch für andere Ressorts. Anzumerken ist, dass sich ohne eine klare Unterscheidung von Ausgangspartnern (bzw. Aussageträgern oder Primärquellen) und deren wertenden Äußerungen einerseits und Journalisten (sowie deren werthaltigen Kommentierungen) andererseits dieses Problem kaum zureichend untersuchen lässt.

128

Vgl. Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 194, i. d. Bd. S. 172.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 117 –

übt werden, gründet letztere auf der Notwendigkeit, die Verantwortlichkeiten des vermittelnden Journalisten gegenüber fremden Mitteilungen zu regeln. Beide Forderungen dienen letztlich, wie die Unparteilichkeitsmaxime als Ganzes, der optimalen Orientierung der Rezipienten innerhalb der sozialen Kommunikation beziehungsweise der je zu vermittelnden Kommunikationsräume. Quellentransparenz und Glaubwürdigkeit Vermittelt der Journalist primär Wissen und Meinungen Dritter, so kann sich seine Verantwortung in der Regel nicht auf deren Inhalt erstrecken, zumindest dann nicht, wenn es sich um Meinungsäußerungen oder um Wissens-Mitteilungen handelt, die sich seinem eigenen Wissen entziehen. »Die zentrale Maxime eines ›journalistischen Ethos‹ könnte lauten: Dem ›Journalisten‹ ›wird etwas anvertraut, und er liefert etwas aus. Zu verantworten hat er nicht, ob das Übermittelte wahr ist, wohl aber, dass er es getreu weitergibt.‹«129 Daraus resultiert direkt die Forderung nach getreuer Vermittlung; zunächst aber muss natürlich deutlich gemacht werden, dass es sich um Mitteilungen Dritter handelt. Bei diesen selbst liegt dann die Verantwortung für den Inhalt ihrer Mitteilungen, solange dieser korrekt vermittelt wird. Schon Kaspar Stieler wies deshalb darauf hin, dass die Verantwortung des Zeitungers nur darin liegen könne, die Glaubwürdigkeit der Quellen zu prüfen und möglichst sicherzustellen sowie die Herkunft der Nachrichten zu kennzeichnen. Auch die Redaktionen der untersuchten Heimatzeitungen legten deutlich Wert darauf, die Glaubwürdigkeit der Primärquellen zu prüfen – die 129

Hans Wagner: Medientabus und Kommunikationsverbote. Die manipulierbare Wirklichkeit. München 1991, S. 61; dort im Anschluss an Bernhard Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen im Anschluß an Edmund Husserl. Den Haag 1971, S. 211.

– 118 –

philomen schönhagen

vorwiegend dadurch sichergestellt wurde, dass sich diese der Redaktion namentlich offenbaren mussten, was in den lokalen Verhältnissen wohl in der Regel auf mehr oder weniger persönliches Bekanntsein hinauslief – und deren Herkunft im Blatt kenntlich zu machen, wenngleich dies durch die Gewährung von Anonymität eingeschränkt wurde. An die Stelle namentlicher Kennzeichnung traten in diesen Fällen häufig Orts-, Funktionsund Berufsangaben. Mit Hilfe solcher Angaben wird dem Rezipienten eine zumindest grobe – und bedenkt man die Enge der örtlichen Verhältnisse im Falle der Heimatzeitungen, vermutlich meist sogar präzise – Zuordnung der Mitteilungen zu bestimmten Interessensphären oder gar zu einzelnen Gruppen und Personen ermöglicht. Diese, für die Orientierung der Leser oder Rezipienten unerlässlichen Quellenangaben entsprechen in der Sache den »Nebenumständen« der Mitteilung. Die Notwendigkeit ihrer Vermittlung gründet in der für den ›Bürger, der gut informiert sein will‹, typischen Strategie der Informationsverarbeitung. Dieser nämlich kann die in den Medien angebotenen Sachinformationen, anders als der Experte (allerdings auf einem eng begrenzten Fachgebiet), in der Regel nicht anhand von Sachkriterien beurteilen, sondern orientiert sich an Quellenkriterien, also an Informationen über die Quellen der Information.130 Im einzelnen umfasst dieses »Beglaubigungswissen [...] (1.) alle verfügbaren Informationen über den Kommunkationspartner oder Aussageträger aus der Gesellschaft, der eine Mitteilung macht. [...] Zuallererst beziehen sich die gefor130

Vgl. Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 188 ff; ausführlich dazu: Alfred Schütz: Der gut informierte Bürger. In: ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag 1972, S. 85-101. – Den Begriff der »Nebenumstände« verwendet Arnold Mallinckrodt, der Herausgeber des ›Westfälischen Anzeigers‹ in Dortmund, einem der Fallbeispiele für die Analyse von Heimatzeitungen.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 119 –

derten Informationen auf Merkmale, die etwas über seine Identität und über seine Sachkundigkeit, das heißt über seine Nähe und Ferne zu den mitgeteilten Tatsachen und Ereignissen aussagen können. (2.) Alle verfügbaren Informationen, die es erlauben, die Interessenlage und damit das typische Relevanzsystem des mitteilenden Ausgangspartners zu identifizieren; dies ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass jeder Informationssucher Kongruenz oder Differenz mit und zu seinem eigenen Relevanzsystem ausmachen kann. (3.) Alle verfügbaren Informationen darüber, wer das fragliche Fakten-Wissen akzeptiert oder nicht akzeptiert, um Intensität und Umfang seiner ›sozialen Billigung‹ einschließlich der hierfür relevanten Repräsentanz-Beziehungen abschätzen zu können.«131 Gerade in den zahlreichen Bereichen der sozialen Lebenswelt, die über den unmittelbaren Erfahrungsbereich des einzelnen hinausgehen, ihn aber trotzdem angehen, ist der Bürger darauf angewiesen, dass ihm diese Orientierungsdaten (umfassend und korrekt) vermittelt werden, da er nicht die Möglichkeit einer Überprüfung anhand eigener Erfahrung besitzt. Der zweite Punkt dieser Quellenkriterien entspricht sachlich der von Schröter geltend gemachten »zureichende[n] Vermittlung des Kommunikationskontextes«132, die Angaben zu Absichten, Motiven und Situationen umfasst, aus denen heraus Mitteilungen gemacht werden. Diese können wesentlich für die Beurteilung einer Mitteilung sein. Eine ganz unterschiedliche inhaltliche Qualität kann einer Äußerung zukommen je nachdem, ob sie zum Beispiel als Reaktion auf einen provokanten Vorwurf während eines Streites oder im Rahmen einer sachlichen Darstellung gemacht wird. Wird beispielsweise eine Mitteilung bei einer routinemäßigen 131

Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 201. (Hervorhebungen im Original.)

132

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 186, i. d. Bd. S. 159.

– 120 –

philomen schönhagen

Pressekonferenz gemacht, dann verdeutlicht in der Regel der bloße Hinweis auf den Ausgangspartner (etwa: ›Der Pressesprecher der Firma XY hat mitgeteilt, dass...‹) ausreichend die Situation; nicht aber dann, wenn es sich beispielsweise um Reaktionen auf eine unvorhergesehene Krisensituation handelt. Auch diese Vermittlung der Motive und Umstände von Mitteilungen wurde bereits von Kaspar Stieler gefordert. Detlef Schröter weist auf die doppelte Bedeutung der Quellentransparenz hin, die sich aus der theoretischen Unterscheidung von Primärquellen und Vermittlungsinstanzen ergibt. Quellen des Journalisten können einerseits, wie oben besprochen, die Urheber von Mitteilungen selbst sein, andererseits auch vorgelagerte journalistische »Vermittlungsstationen«, also etwa Korrespondenten oder Nachrichtenagenturen.133 Er unterscheidet deshalb einerseits die Dimensionen »Kennzeichnung der Mitteilungs-Herkunft« und »Transparenz des Kommunikationskontextes«, welche der Quellen-Transparenz im Rahmen der Unparteilichkeitsmaxime entsprechen, sowie andererseits die Dimension »Transparenz des Vermittlungs-Kontextes«, welche neben der Kennzeichnung der Vermittlungsstationen »Angaben zu den Vermittlungsbedingungen und Vermittlungsbemühungen« umfasst.134 Die theoretische Analyse ergibt also einen weiteren Aspekt der Transparenzproblematik, der in den aus der Praxis gewonnenen Regelungen nicht enthalten ist. Zwar finden sich auch in den untersuchten Zeitungen durchaus Hinweise auf Bedingungen der Vermittlung und auf vorgelagerte Vermittler, insbesondere dann, wenn diese die Qualität des Mitgeteilten beleuchten; als eigener Aspekt des Unparteilichkeits-Konzeptes wurden diese jedoch nicht thematisiert. Es ist 133

Vgl. Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 189 ff, i.d. Bd. S. 164.

134

Detlef Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 186 ff, Zitate (in der Reihenfolge ihrer Wiedergabe): S. 187,186, 190, i. d. Bd. S. 159, 164.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 121 –

zu überlegen, ob solche Angaben zu Vermittlungs-Kontexten möglicherweise die ›getreue Vermittlung‹ beziehungsweise die diesbezüglichen Vermittlungsregeln betreffen, denn sie scheinen insbesondere dann von Bedeutung zu sein, wenn sie für die adäquate Einschätzung der ursprünglichen Mitteilung seitens des Rezipienten vonnöten sind. Wenn die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Vermittler außer Zweifel steht, gewissermaßen beim gewöhnlichen ›Geschäftsgang‹ also, erscheint die detaillierte Angabe aller Vermittlungsstationen und -bedingungen verzichtbar. Im folgenden wird darauf zurückzukommen sein. Getreue Vermittlung Zeitungswissenschaftlich gesehen resultiert das Prinzip der getreuen, ebenso wie das der allseitigen Vermittlung aus einem der Hauptprobleme der Massenkommunikation. Es beruht auf der »prekäre[n] Situation«, dass die Kommunikationspartner unter den Bedingungen der Massenkommunikation auf die Vermittlungsdienste von ihnen unabhängiger Vermittler angewiesen sind, welche die soziale ›Kommunikation über Distanz‹ einerseits garantieren, zugleich aber auch gefährden, indem sie sich als »›ungebetene Partner‹ in das Mitteilungsgeschehen einschalten« können.135 »Da jedoch die Partner der Sozialen Zeit-Kommunikation auf Vermittlung angewiesen sind, kommt alles darauf an, dass die schließlich durch Zielvermittlungssysteme vermittelte Mitteilung trotz aller Vermittlungseingriffe in einer Vermittlungskette der ursprünglichen Mitteilung des Ausgangspartners noch entspricht.«136 Genau darauf zielte das Prinzip der ›getreuen Vermittlung‹, welches der Dimension der »inhaltlich-sachlichen Ent135

Wagner, Rationalisierungsprozesse, (Fn 118), S. 6/7.

136

Wagner, Kommunikation, (Fn 114), i, S. 53. Nach Wagner ist dies das »erste Hauptproblem der Massenkommunikation« (ebd.).

– 122 –

philomen schönhagen

sprechung von Mitteilung und vermittelter Mitteilung (Mitteilungs-Adäquanz im engeren Sinn)«137 bei Schröter gleichkommt. Vermittlung der gesellschaftlichen ›Kommunikations-Realität‹ kann selbstverständlich nicht heißen, dass soziale Kommunikation »unverändert, quasi eins zu eins abgebildet, gespiegelt oder irgendwie ›protokolliert‹«138 werden soll. Sie muss vielmehr »verkleinert«, das heißt mittels Selektion und Transformation konzentriert werden.139 Auch im historischen Praktikerverständnis war mit getreuer Vermittlung keineswegs grundsätzlich die Protokollierung von Mitteilungen im Originalwortlaut gemeint, auch wenn die Heimatzeitungen häufig Originalmitteilungen brachten,140 sondern prinzipiell die ›concentrirte‹ und dabei ›treuliche‹ Vermittlung. Entscheidend ist also, dass der ursprüngliche Sinn der Mitteilung im Vermittlungskonzentrat erhalten bleibt. Übertragen auf audiovisuelle Medien ebenso wie auf die Verwendung von Bildern aller Art in der Presse verlangt dieses Prinzip zugleich, dass solche Darstellungen nicht den ursprünglichen Sinn der Mitteilungen entstellen oder verzerren und keine ›falschen Koppelungen‹ 141 hervorrufen. Aus diesen Zusammenhängen erklärt sich auch die innerhalb der traditionellen Unparteilichkeitsmaxime markierte Position zur spezifischen Verantwortung des Journalisten, mit der ein bestimmtes Verständnis von ›Wahrhaftigkeit‹ der Berichterstattung 137

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 187, i. d. Bd. S. 169.

138

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 185, i. d. Bd. S. 157.

139

Zur organisierenden und konzentrierenden Funktion der Vermittlung vgl. Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 176 ff.

140

Dass dies überhaupt möglich war, hängt von den besonderen Bedingungen des eng begrenzten lokalen Kommunikationsraumes mit relativ wenigen Kommunikationspartnerschaften ab.

141

Siehe Walther von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. München 121991.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 123 –

verbunden war: »Wie ich sie [die einkommenden Nachrichten] nemm, so gib ichs auß «.142 Der Satz beschreibt nichts anderes als das oben bereits zitierte ›journalistische Ethos‹: »Dem Übermittler wird etwas anvertraut, und er liefert etwas aus. Zu verantworten hat er nicht, ob das Übermittelte wahr ist, wohl aber, dass er es getreu weitergibt.«143 Die getreue Vermittlung sollte in den untersuchten Zeitungen mit einer Reihe von Vermittlungsregeln sichergestellt werden, die häufig in den Blättern explizit und damit allen potentiellen Kommunikationsteilnehmern zugänglich gemacht wurden. Diese Regeln dienten der Standardisierung der Vermittlungseingriffe und damit letztlich der Vermeidung von Parteilichkeit bei der Bearbeitung einzelner Mitteilungen. Hierzu zählten vor allem Regeln zum Ausschluss von beleidigenden und rein persönlichen Inhalten, zur Länge und Form (und dem davon abhängigen Grad redaktioneller Bearbeitung) der Beiträge sowie zur Anonymität. Diese Regeln sind Teil der sogenannten ›Vermittlungsverfassung‹ eines Mediums, indem sie die Zuteilung von »Sprechraum«144 an die Kommunikationspartner und deren Mitteilungen sowie die selektiven und transformierenden Eingriffe des Vermittlers festschreiben. Mehrere Kriterien geben Aufschluss über die jeweilige Vermittlungsverfassung eines Mediums: die Aufteilung des im Medium zur Verfügung stehenden Sprechraumes unter die verschiedenen Kommunikationspartner, die Art und der Grad der 142

Aus dem Titel der ›Wöchentlichen Ordinari Zeitung‹, zitiert nach Opel, Anfänge, (Fn 14), S. 102. Sinngleiche Parallelstellen finden sich sowohl bei Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 81) wie auch bei Schwarzkopf, Zeitungen, (Fn 94).

143

Waldenfels, Dialog, (Fn 129), S. 211.

144

Wagner: Vermittlungsverfassung in der Massenkommunikation. Zeitungswissenschaftliche Theorie der journalistischen und publizistischen Darstellungsformen. In: Publizistik 1/1977 (S. 5-13), S. 10.

– 124 –

philomen schönhagen

Vermittlungseingriffe sowie das Verhältnis zwischen Fremd- und Eigenvermittlung.145 Im Sinne der zeitungswissenschaftlichen Theorie der Vermittlungsverfassung sind demnach alle Dimensionen oder Prinzipien der Unparteilichkeitsmaxime als ›Regeln‹ der Vermittlung zu verstehen. Die im Rahmen des Prinzips getreuer Vermittlung relevanten (und hier in Abgrenzung zu den übergeordneten Dimensionen oder Prinzipien der Unparteilichkeit so bezeichneten) Vermittlungs-Regeln betreffen somit nur ein Kriterium der Vermittlungsverfassung: nämlich die Art und den Grad der »Eingriffe der Vermittler in das Kommunikationsgeschehen«.146 Sie standardisieren Aspekte der »Partnerselektion«, indem etwa anonyme Partner grundsätzlich von der Vermittlung ausgeschlossen werden, Aspekte der »Aussagenselektion«, wenn beleidigende Äußerungen oder Passagen (gleich welchen Partners) nicht vermittelt werden, sowie Aspekte der »Transformation«147, wenn etwa kurze Mitteilungen im Original dokumentiert, längere dagegen umgeschrieben werden. Die bei den untersuchten Heimatzeitungen übliche Veröffentlichung dieser Regeln – und damit deren Transparenz, die zudem durch die häufigen ›Rechenschaftsberichte‹ über Vermittlungseingriffe noch verstärkt wurde 145

Wagner, Vermittlungsverfassung, (Fn 144), S. 9-11. ›Fremdvermittlung‹ bezeichnet in der Theorie die Vermittlung aller Arten von Mitteilungen Dritter; sie umfasst alle Formen des ›Berichtens‹. ›Eigenvermittlung‹ bezeichnet die Vermittlung ›eigener‹ Äußerungen oder Stellungnahmen des jeweils agierenden Journalisten bzw. Vermittlers, umfasst also sämtliche Formen des Kommentierens.

146

Wagner, Vermittlungsverfassung, (Fn 144), S. 10.

147

Die Zeitungswissenschaft unterscheidet bezüglich der redaktionellen Vermittlungsleistungen »Partnerselektion«, d.h. die Auswahl der zu vermittelnden Kommunikationspartner oder Aussageträger, die »Aussagenselektion«, also die Auswahl der zur Vermittlung kommenden Teile der »Partnermitteilung« sowie die »Transformation« dieser Mitteilungen, also deren Umformung zu allen Typen der Nachricht und des Berichts.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 125 –

– trägt erheblich zu deren Zweck bei, die Vermittlung der gesellschaftlichen Kommunikation zu standardisieren und so vor möglicher Parteilichkeit der Vermittler weitgehend zu schützen. Indem die Zeitungsmacher die Leserschaft und damit prinzipiell die gesamte lokale Gesellschaft nicht nur durch ständige Aufrufe zur Beteiligung an der Kommunikation aufforderten, sondern diesen auch weitgehenden Einblick in die Vermittlungsleistungen gewährten, ließen sie völlig außer Zweifel, in wessen Interesse die Vermittlung vor Parteilichkeit geschützt werden sollte: nämlich im Interesse (und vor den Augen) der gesamten (lokalen) Öffentlichkeit. Hier wird an der Praxis regelrecht mit Händen greifbar, dass Vermittlungsregeln gemäß der zeitungswissenschaftlichen Theorie die Lösung eines weiteren Hauptproblems der Massenkommunikation sind, welches darin besteht, »trotz größerer Ausdehnung und zunehmender Komplexität der Redegesellschaft die notwendigen Sprechchancen aller zu sichern.«148 Chancengleichheit aller Partner und Gleichbehandlung aller Mitteilungen, ganz unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer ›Richtung‹, kann nur mit Hilfe standardisierter Regeln gewährleistet werden. Auch wenn man davon ausgeht, dass journalistische Vermittlung als Ganzes eine spezifische, strukturelle ›Verzerrung‹ der Realität beziehungsweise auch der Kommunikations-Realität, etwa auf bestimmte Themen oder Negativität hin, notwendig bedingt, so können solche Regeln doch gleichzeitig parteiliche Verzerrungen (wenn man so will: innerhalb der strukturell bedingten Verzerrung) vermeiden helfen. Ohne ein Konzept, das für jeden einzelnen Akt der redaktionellen Vermittlung (mit allen seinen Schritten von der Selektion bis zur Transformation der Mitteilung) gleichermaßen gültige und verbindliche Verfahrensregeln vorgibt, wäre Unparteilichkeit gewiss nicht professionell zu gewährleisten. 148

Wagner, Kommunikation, (Fn 114), i. S. 103.

– 126 –

philomen schönhagen

Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus sinnvoll, die von Detlef Schröter geforderten Angaben zu Vermittlungskontext und -bedingungen den Regeln getreuer Vermittlung zuzuordnen, da sie dazu beitragen, die ›Treue‹ der Vermittlung transparent zu machen. Dadurch werden die Vermittlungsleistungen einer Überprüfung durch die (betroffenen) Kommunikationspartner zugänglich. Ähnlich wie Angaben zum Kommunikationskontext (als Aspekt der Quellentransparenz) sind solche zum Vermittlungskontext immer dann geboten, wenn sie zum Verständnis und zur richtigen Beurteilung (des ursprünglichen Sinnes und der Glaubwürdigkeit) der Mitteilung notwendig sind, wenn der Rezipient ohne die Zusatzinformationen die Mitteilung nicht adäquat einschätzen kann. Insbesondere dann, wenn die ›getreue Vermittlung‹ vorgelagerter vermittelnder Instanzen in Zweifel steht und dadurch die schließlich vermittelnde Redaktion auch ihrerseits eine solche nicht gewährleisten kann, sind entsprechende Hinweise und Angaben unverzichtbar. Wesentlich ist im Zusammenhang der getreuen Vermittlung, dass dabei diese »Informationen über die Information« (Hans Wagner) bei allen Mitteilungen, gesellschaftlichen Standpunkten und Kommunikationsinteressen gleichermaßen mitvermittelt und nicht im Sinne einseitiger Interessenvertretung instrumentalisiert werden. Es eröffnen sich hier nämlich erhebliche Möglichkeiten subtiler Manipulationen durch Weglassen oder Veränderung kleinster Bestandteile der ursprünglichen Mitteilung. Damit wird, wie schon bei den zuvor diskutierten Prinzipien oder Dimensionen, der enge Zusammenhang mit einem (im zeitungswissenschaftlichen Sinne) spezifischen journalistischen Selbstverständnis oder, wie man in Anlehnung an Ulrich Saxer formulieren könnte, dem journalistischen ›Willen‹ zur Unparteilichkeit sichtbar. Der folgenden Dimension der Unparteilichkeitsnorm kommt deshalb erhebliche Bedeutung zu.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 127 –

Journalistisches Selbstverständnis Es wurde deutlich, dass letztlich alle diskutierten Dimensionen der Unparteilichkeitsnorm auf einem spezifischen, im idealtypischen Sinne ›journalistischen‹ Selbst- oder Berufsverständnis beruhen. Sie alle gründen in der Absicht, eine optimale Vermittlung der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation (bzw. der gesamten Kommunikation eines bestimmten Gesellschaftsbereiches) zu leisten. Genau dieses Ziel unterscheidet die ›journalistische‹ von der ›publizistischen‹ Vermittlungsstrategie, welche auf optimale Vermittlung einzelner Kommunikationsinteressen zielt. Damit ist keinerlei Wertung impliziert, denn »für den gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozess sind beide Funktionen von Bedeutung«.149 Welche dieser Strategien jeweils zum Tragen kommt, ist natürlich vom jeweiligen Medium und dessen Funktion ebenso abhängig wie von äußeren Bedingungen der Vermittlung (z.B. Zensur, Gesetze etc.), von den Publikumserwartungen und nicht zuletzt von den Fähigkeiten der Vermittler. Dies wird aber andererseits und ganz wesentlich vom Berufsverständnis der Journalisten bestimmt, welches wieder von unterschiedlichen Faktoren abhängig ist. »Richtig ist also, dass Handwerksregeln allein eine journalistisch-gesprächsanwaltschaftliche Vermittlungsleistung noch nicht garantieren. Dazu muss schon die Absicht treten, dieses handwerklich-professionelle Können allen Kommunikationsinteressenten in der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen mit dem Ziel, auf diese Weise die Voraussetzung zu schaffen, dass jeder sich auskennen kann in der Gesellschaft, in der er lebt, dass jeder seine Meinung sich bilden kann zu allen aktuellen Fragen, 149

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz (Fn 121), S. 179, i. d. Bd. S. 146. Als »Meinungsgeber oder Meinungsrepräsentant« ist der Publizist ebenso unverzichtbar wie der Journalist als »Anwalt des Gesprächs der Gesellschaft«: Wagner, Medien-Tabus, (Fn 129), S. 55 u. 54; Hervorhebungen nicht übernommen.

– 128 –

philomen schönhagen

die ihn angehen oder betreffen, dass die Gesellschaft als ganze auf diese Weise handlungsfähig bleibt und in allen neuen Situationen handlungsfähig wird. Wo solche Absicht oder solches journalistische Ethos fehlte, erstarrte die Einhaltung von Handwerksregeln zu unverstandener, formeller Routine, zu nicht mehr einsichtigem Selbstzweck.«150 Solchen Überlegungen entsprechend gehörte als fester Bestandteil zum traditionellen Unparteilichkeits-Konzept der Anspruch der Zeitungsmacher oder Journalisten, als neutrale Vermittler im Dienste der Kommunikationsund Orientierungsinteressen von jedermann zu stehen. Sowohl aufgrund der theoretischen Zusammenhänge als auch im Hinblick auf diese Konzepte macht es daher durchaus Sinn, das journalistische Selbstverständnis als eine eigene Dimension der Unparteilichkeitsmaxime aufzufassen. Nachdem jedoch zugleich die übrigen Dimensionen auf diesem Berufsverständnis beruhen, könnte dieses vielleicht treffend als ›Meta-Prinzip‹ bezeichnet werden. Hauptfunktion des Journalisten ist es aus dieser theoretischen Perspektive folglich keineswegs, und war es auch gemäß des Unparteilichkeitskonzeptes im Verständnis der Zeitungsmacher selbst nie, ›objektive‹ Erkenntnisse über die Realität zu formulieren oder gar eigene Realitätsentwürfe zu konstruieren, sondern die (ständige) gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit erst zu ermöglichen, welche nur mittels Kommunikation und Diskussion aller Beteiligten und Betroffenen, also der gesamten Gesellschaft, zustande kommen kann. Journalistische Vermittlung wird damit zur Voraussetzung für die ständige Leistung einer gemeinsamen gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion, die nur mittels eines kommunikativen Austauschs zwischen den

150

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 121), S. 184, i. d. Bd. S. 155 f.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 129 –

unterschiedlichsten Mitgliedern und Interessengruppen über deren je eigene Hypothesen und Konstruktionen der Realität zustande kommen kann.

6. Erfolg und Ethos: Motive journalistischer Unparteilichkeit Betrachtet man nun die historisch relevanten Motive für Unparteilichkeit vor dem Hintergrund des zeitungswissenschaftlichen Theorieansatzes, so lassen sich interessante Zusammenhänge erkennen. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung legen es nahe, dass die Unparteilichkeitsmaxime vorwiegend pragmatisch-ökonomischen Interessen der Zeitungsmacher sowie, im engen Zusammenhang damit und wohl auch geprägt durch die Ideen der Aufklärung, der Rücksicht auf die vielfältigen Informations- und Orientierungsbedürfnisse einer heterogenen Leserschaft entsprang. Weil die Zeitungsmacher ein möglichst breites, heterogenes Publikum mit ihren Vermittlungsprodukten ansprechen und damit nicht zuletzt deren gewinnbringenden Absatz sichern wollten, konnten sie es sich nicht leisten, einseitig nur bestimmte Interessen eines Teils der Gesellschaft zu vertreten oder auch nur gezielt bestimmte Teile derselben von der Vermittlung auszuschließen. »Die Anlehnung an das Arbeitsprinzip der Unparteilichkeit dient als Vorkehrung, um nicht anzuecken, um Publikations-Privilegien zu erhalten oder um Sanktionen zu verhindern; es ist Mittel, um den Erfolg, nicht zuletzt den wirtschaftlichen Erfolg, zu sichern, die Marktchancen beim Publikum oder bei Anzeigenkunden zu gewinnen und zu erhöhen. Es geht also, wo Unparteilichkeit als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, stets um Interesse und Vorteile des Vermittlers. Aber es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied gegenüber der Instrumentalisierung des Parteilichkeitsprinzips [...]: Auch wo Zeitunger oder ihre

– 130 –

philomen schönhagen

fahren mit dem Kalkül der Unparteilichkeit ihre Vorteile suchen, gelingt das nur, wenn sie sich an den vielfältigen Interessen ihres Publikums und zugleich an der Vielfalt der Kommunikationsinteressen orientieren, wenn sie also die Vermittlung des je gegebenen Meinungs-, Wissens- und Interessenpluralismus optimieren.«151 Dazu waren (und sind es heute noch) die Lokal- und Heimatzeitungen ganz besonders genötigt, da ihr Lesermarkt von vornherein geographisch begrenzt ist. Eine Optimierung des Absatzes ist daher nur mittels des Prinzips größter Marktsättigung zu erreichen, indem möglichst alle Schichten und Gruppen der Bevölkerung und somit alle Kommunikationsinteressen berücksichtigt werden. Solchermaßen am ›Kommunikationsmarkt‹152 orientierte Vermittlung entspricht exakt der »Phase der Fremdvermittlung « innerhalb des Rationalisierungsgeschehens sozialer Kommunikation, wie sie von der Zeitungswissenschaft beschrieben wird. Dabei tritt an die Stelle der Abhängigkeit von den Kommunikationspartnern in den früheren Phasen »die freie Partnerorientierung der Vermittlung; diese wiederum rationalisiert sich zu einer mehrfachen Marktorientierung. Der verselbständigte Vermittler sucht Absatz für sein Vermittlungsprodukt, d.h. für die von ihm gesammelten Mitteilungen; er drängt auf den Vermittlungs- und Medienmarkt. Seine Aussichten auf demselben wach151

Wagner, Auftrag, (Fn 4), S. 111. Vgl. auch Starkulla, Marktplätze, (Fn 124), S. 15/16: »Zeitung als Medium der Sozialen Zeit-Kommunikation«, welche »vermittels einer sozial-konformen Struktur die meisten Bezieher und damit auch Inserenten verbürgt«, verdankt ihre Existenz »nicht so sehr journalistischer Gesinnung, sondern sehr kühler verlegerischer Planung«.

152

Von »›Kommunikationsmärkten‹, welche dank der Vermittlungspotentiale der Medien entstehen«, sprach bereits Albert E. Schäffle im Bd. 1 von: Bau und Leben des Socialen Körpers. Tübingen 21896. Nach Detlef Schröter: ›Marktkommunikation‹: Gefährdung der öffentlichen Kommunikation? In: Günter Bentele / Manfred Rühl (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. München 1993, (S. 288-297), S. 290, Anm. 7.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 131 –

sen in dem Maße, in dem er Interessenten findet, welche die von ihm vermittelten Mitteilungen zu erfahren begierig sind. Dies wird am ehesten der Fall sein, wenn es dem Vermittler gelingt, die Mitteilungen möglichst vieler, gesellschafts-bedeutsamer Ausgangspartner in seine Vermittlung einzubeziehen. [...] Die Chancen des Vermittlers auf dem Medienmarkt steigen proportional zu jenen Chancen, die er als Vermittler den am gesellschaftlichen Kommunikationsmarkt beteiligten Kommunikationspartnern und deren Mitteilungen einräumt – im buchstäblichen Sinne übrigens, indem er nämlich diesen Mitteilungen Raum gibt im Medium.«153 Eine im Dienste des gesamtgesellschaftlichen Austausches stehende, und das bedeutet auf dem Prinzip der Unparteilichkeit beruhende journalistische Vermittlung wird also nach diesen theoretischen Überlegungen dann optimal geleistet, wenn sie marktorientiert vorgeht. Der pragmatische Charakter der traditionellen Unparteilichkeitsmaxime als rationales ›Mittel zum Zweck‹ (Hans Wagner) kann somit theoretisch begründet werden. Auch zeichnet sich in der Theorie ab, dass eine an idealistischen Zielen (sofern diese nicht gerade in der Verwirklichung gesamtgesellschaftlicher Kommunikation bestehen) orientierte Vermittlung umgekehrt einer Verwirklichung von Unparteilichkeit sogar im Wege stehen kann, wenn sie nämlich »neben den eigenen nur jenen ›fremden‹ Mitteilungen Zugang zu den Medien und Raum in ihnen gewährt, die ihren eigenen Intentionen und Überzeugungen« entsprechen.154 Innerhalb der autonomen Vermittlungssysteme, die sich ursprünglich mit dem Zweck gesamtgesellschaftlicher Vermittlung herausgebildet haben, kann es aber aufgrund des »Überdrehens« der Rationalisierungsprozesse zu Verschiebungen in Richtung auf eine solche publizistische Ver153

Wagner, Rationalisierungsprozesse, (Fn 118), S. 9.

154

Wagner, Rationalisierungsprozesse, (Fn 118), S. 21.

– 132 –

philomen schönhagen

mittlungsstrategie und damit zu Defiziten in der unparteilichen, journalistischen Vermittlung kommen. »In einer weiteren, von der Eigendynamik der Rationalisierung beschleunigten [...] Bewegung nämlich kommt es dahin, dass ›der Bote oder Redakteur nicht mehr das Gespräch einer vorgegebenen Gesprächsgesellschaft (manifestiert), sondern die Manifestation eines Zeitgesprächs-Surrogats produziert und dafür Kommunikationsverbraucher sucht‹.«155 Übrigens wird damit sehr anschaulich das beschrieben, was Konstruktivisten als Funktion des Journalismus bezeichnen, nämlich die Konstruktion eines eigenen journalistischen Wirklichkeitsentwurfes, einer autonomen Medienrealität;156 ganz im Gegensatz zu der Vorstellung von einer Vermittlung gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit beziehungsweise der Organisation und Konzentration des Kommunikationsprozesses, durch den diese soziale Konstruktion zustandekommt, worin die Zeitungswissenschaft die Funktion des Journalismus sieht. Die beschriebenen Verschiebungen hin zur publizistischen Interessenvertretung führen entweder zur Unterdrückung »aller andere[n], nicht vermittlungsgenehmen Positionen und Mitteilungen« oder dazu, dass sich diese je eigene publizistische Medien schaffen. »Mit solchen Ausprägungen aber wirkt Kommunikationsrationalisierung ihrem ursprünglichen und eigentlichen Zweck diametral entgegen: die Vernehmbarkeit der Mitteilungen aller in der ganzen Gesellschaft wird aufgehoben in einem chaotischen Stimmengewirr von Monologen; die Orientierungs-Chance für jeden im Ganzen, welche durch Vermittlung 155

Aswerus, Zeitgespräch, (Fn 122), S. 108; zit nach Wagner, Rationalisierungsprozesse, (Fn 118), S. 21.

156

Eine solche Konstruktion ist im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Kommunikation und Wirklichkeitskonstruktion immer reduktionistisch.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 133 –

der ›Kommunikation über Distanz‹ garantiert werden sollte, wird von grundauf zerstört. Staat und Gesellschaft werden funktionsunfähig gemacht und in ihrem Bestand bedroht.«157 Man darf dabei allerdings nicht übersehen, dass auch die Produktion von ›Zeitgesprächs-Surrogaten‹ unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten lohnend sein kann; allerdings weniger angesichts eines geographisch eng begrenzten Marktes und einer Strategie der Marktsättigung, sondern eher unter den Vorzeichen der Auflagenoptimierung und Reichweitenmaximierung anhand einer geographischen Ausweitung des Marktes. Das gibt Anlass zum Nachdenken über aktuelle Entwicklungen: Angesichts einer immer stärker europäisch wie global expandierenden Medienlandschaft scheint somit die Gefahr einer ›publizistischen Überlagerung‹ der gesellschaftsnotwendigen journalistischen Vermittlung zu wachsen und das pragmatische Korrektiv der ökonomisch motivierten Orientierung an der Gesamtheit der Kommunikationsinteressen weiter zu schwinden. Eine immer stärker an immer präziser eingegrenzten Zielgruppen orientierte Werbung könnte diese Entwicklung noch vorantreiben: Im Interesse der werbetreibenden Wirtschaft und damit des eigenen Erhalts rein oder primär werbefinanzierter Medien werden die Interessen solcher gesellschaftlichen Gruppen und Kommunikationspartner(schaften) vernachlässigt, die als Zielgruppen für die Werbung uninteressant sind. Vor allem unter den Bedingungen großer Reichweiten kann deshalb gleichermaßen oder mehr noch wie für Unparteilichkeit gelten: Parteilichkeit lohnt sich. Zu beachten ist, dass derartige publizistische Überlagerungen nicht unbedingt Folge einer bewussten Tendenz oder Beeinflussungsabsicht sein müssen. Anhand von Bernd Maria Aswerus' Überlegungen zu den verschiedenen typischen Erscheinungsformen »publizistischer 157

Wagner, 1995, (Fn 4), S. 49/50. Vgl. auch ebd. S. 121 ff.

– 134 –

philomen schönhagen

Information« wird das ganz deutlich. Sie kann demnach als »allgemeine publizistische Information« auftreten, die sich von der »speziellen Publizistik« gerade »durch den Verzicht auf Tendenz« auszeichnet, und eine »Kommunikation ›von der Stange‹« anbietet: »Ohne einen Führungsanspruch zu erheben, bietet die allgemein publizistische Information an Unterhaltung, Unterrichtung und Information an, was voraussichtlich auf Käuferinteresse stößt. Es geschieht, dass sie um des erstrebten Absatzes willen die Methoden der totalpublizistischen oder speziell-publizistischen Information anwendet und Führungsanspruch erhebt, aber jegliche Tendenz birgt sich in der Absatzbemühung.«158 Problematisch sind derartige Entwicklungen vor allem in Medien der ›informationellen Grundversorgung‹, also in AbonnementTageszeitungen und in öffentlich-rechtlichen Programmen. Damit wird die kommunikationspolitische Frage angeschnitten, ob im Interesse der Aufrechterhaltung einer gesellschaftsweiten Kommunikation, die für den Bestand und die Integration jeder Gesellschaft unverzichtbar ist, andere Korrektive als eine freie Marktsteuerung notwendig sind und worin diese bestehen könnten. Denn: »Die soziale Kommunikation gewährleistet jene im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit, die zumeist als Pressefreiheit verteidigt und nur unvollständig verstanden wird. Über die Freiheit hinaus, in der Presse Meinungen zu propagieren und zu verfechten, will das Grundgesetz wirkliche Zeitungsfreiheit gewährleisten«, im Sinne einer »Freiheit der Gesellschaft zur Mitsprache, zur aktiven Teilnahme aller am Zeitgespräch der Gesell158

Aswerus, Zeitgespräch, (Fn 122), S. 89, S. 91 und S. 102. Aswerus entwickelt diese Gedanken im Zusammenhang mit der Unterscheidung »typische[r] Phasen gesellschaftlicher Zeit-Kommunikation« (so die Überschrift des betreffenden Kapitels, ebd., S. 84). Die publizistische oder auch »intentionale« Information kennzeichnet die von Zweckgemeinschaften geprägte zweite der dort beschriebenen drei Phasen gesellschaftlichen Daseins.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 135 –

schaft.«159 Konzentrationskontrolle allein kann jedenfalls, vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, kein wirksames Korrektiv sein, um eine journalistische Vermittlungstätigkeit sicherzustellen. Sie ist auf den Erhalt von Medien-Vielfalt angelegt, nicht aber notwendig auch auf den Erhalt journalistisch-unparteilicher Medien und einer Vermittlungsleistung im Dienste der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation. In diesem Zusammenhang gewinnen schon eher Konzepte wie der von Stephan Ruß-Mohl für den amerikanischen Journalismus beschriebene »I[nfrastruktur]-Faktor«160 oder der vom ehemaligen Bundespräsidenten Weizsäcker angeregte Medienrat gerade unter dem Aspekt der Sicherstellung journalistischer Unparteilichkeit an Bedeutung. Das Unparteilichkeits-Konzept nämlich zielt exakt auf den Kern der dargestellten Problematik: »Geht es dabei doch letztlich um die Frage, [...] wie der Sozial-Gebrauch des Mediums gegen individuell-subjektivistischen Missbrauch gesichert werden kann. [...] Sozialgebrauch der Medien bedeutet mitnichten Sozialisierung der Medien, vielmehr Sicherung der Vermittlung [...] Und Sozialgebrauch des Mediums heißt ferner: Gesellschaftliche (nicht staatliche!) Kontrolle darüber, dass diese sozialkommunikative Vermittlung auch tatsächlich und bestmöglich verwirklicht wird.« Diese Problematik bildet auch den Kern der »gesamtgesellschaftlich entscheidenden Wirkungsfrage. Eine mitteilungsadäquate [unparteiliche; P.S.] Vermittlung sozialer Kommunikation nämlich ermöglicht es dem Einzelnen, die Interessenlagen, die Positionen des Wissens und Meinens in der Gesellschaft sowie deren Träger auszumachen, seine Bezugsgruppen zu finden und seine Kommunikations-Gegner zu identifizieren. Die sozialen Orientierungs-Chancen jedes 159

Aswerus, Zeitgespräch, (Fn 122), S. 94/95.

160

Vgl. Stephan Ruß-Mohl: Der I-Faktor. Qualitätssicherung im amerikanischen Journalismus. Modell für Europa? Zürich/Osnabrück 1994.

– 136 –

philomen schönhagen

Bürgers sind unmittelbar davon abhängig, ob und wie Medien den verschiedenen Gesprächspartnerschaften eine ArtikulationsChance einräumen. Erst auf der Basis solcher realitätsgerechter Orientierung, die zumindest für sämtliche der unmittelbaren Erfahrung entzogenen Lebens- und Handlungsräume ausschließlich von einer allseitigen, journalistischen Vermittlung Sozialer Kommunikation durch Medien abhängt, gewinnen einzelne und Gruppen die Spielräume ihres Urteils, ihrer Entscheidung und schließlich ihres Handelns. Nur auf der Grundlage sozialer Orientierung können sie das eigene Urteil und das eigene Handeln am Interesse potentiell aller anderen ausrichten, deren Interessen in das eigene Handlungskalkül einbeziehen. Nur auf diese Weise können einzelne und Gruppen die Gefahr ausschalten, am eigenen Interesse Schaden zu nehmen, weil jeder, der ›sein Handeln nicht am Interesse der anderen orientiert, mit diesen nicht ›rechnet‹, deren Widerstand herausfordert‹ (Max Weber).« 161 Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen ist es umso faszinierender, dass schon Zeitunger des 17. Jahrhunderts den Unparteilichkeits-Anspruch aus der Leserperspektive heraus begründeten, nämlich mit dem Ziel, »menniglich nach möglichkeit satisfaction zu geben«, also Jedermanns kommunikative Bedürfnisse nach Möglichkeit zu befriedigen, wie es die ›Sontägliche Zeitung‹ im Jahre 1688 ihren Lesern versprach. In dieser Absicht stimmte sie, wie viele andere Blätter, mit den Erwartungen ihres Publikums überein, was sich unter anderem in der Zuschrift eines Lesers des ›Nordischen Mercurius‹ im Jahre 1673 äußerte, der die Bedeutung einer allseitigen oder doch mehrseitigen Berichterstattung damit unterstrich, dass »den vilen Humeuren und jedem nach seiner Paßion ein genüge« getan werde. Diese Rücksicht auf die vielfältigen, heterogenen Kommunika161

Beide Zitate aus: Wagner, Auftrag, (Fn 4), S.46/47 und S. 63.

die tradition der unparteilichkeitsnorm

– 137 –

tions-, Informations- und Orientierungsbedürfnisse der Bürger – die pragmatisch-ökonomisch motiviert sein und sich so quasi ›von selbst‹ regeln kann, aber nicht muss – erscheint angesichts der obigen theoretischen Überlegungen als der zentrale Fixpunkt eines journalistischen Berufsverständnisses, welches der Unparteilichkeitsmaxime verpflichtet ist, oder anders gesagt: Unparteilichkeit im Sinne der hier dargestellten Vermittlungsprinzipien erweist sich als zentrale Größe eines journalistischen Handelns, das die gesamtgesellschaftlichen Kommunikations- und Orientierungsbedürfnisse wirklich ernst nimmt.

Detlef Schröter

Mitteilungs-Adäquanz Studien zum Fundament eines realitätsgerechten journalistischen Handelns1

In einer Zeit, in der die Massenkommunikationsforschung mit immer neuen und komplizierteren Methoden nach den Wirkungsmechanismen der Medienberichterstattung sucht, ist die Erforschung der journalistischen Arbeit im Alltag der Berichterstattung unverdientermaßen an den Rand gedrängt worden. Die Kluft zwischen der journalistischen Praxis und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr scheint immer größer zu werden. Theorie und Praxis finden selten eine gemeinsame Grundlage für einen konstruktiven Austausch über ihren gemeinsamen Gegenstand: die Qualität der Medienberichterstattung. 1. Trennung von Mitteilung und Vermittlung Viele gängige und weit verbreitete Vorstellungen (in Theorie und Praxis) von Massenkommunikation gehen im wesentlichen davon aus, »dass Massenkommunikation ein indirekter und einseitiger Kommunikationsprozess zwischen professionellen Kommunikatoren und einem massenhaft großen, dispersen Publikum sei, wobei die Rolle des aktiven Kommunikators auf relativ Wenige ebenso fest fixiert ist wie die Rolle des passiven Medienkonsu1

Der folgende Beitrag ist zuerst erschienen in: Idee und Wirklichkeit des Journalismus. Festschrift für Heinz Starkulla, hrsg. v. Hans Wagner. München 1988, S. 175-216. Hier wird aus diesem Beitrag nur der erste grundlegende Teil abgedruckt. Im Original folgt unter dem Titel »Der Testfall« die detaillierte Darstellung der Ergebnisse einer Inhaltsanalyse zur Berichterstattung über große Wirtschaftsunternehmen.

– 140 –

detlef schröter

menten bzw. Rezipienten auf den Großteil der Gesellschaft«.2 Nach diesem Verständnis übernimmt der Journalist in der Medienberichterstattung die kommunikative Aufgabe, mit eigenen Aussagen und mit Hilfe eines technischen Mediums die interessierte Öffentlichkeit über gesellschaftliche Ereignisse und Zustände zu unterrichten und Hilfestellungen für deren Interpretation zu geben. Nach diesen Modellvorstellungen spielt es natürlich eine wesentliche Rolle, was der Journalist in seinen eigenen Mitteilungen über die gesellschaftliche Realität zum Ausdruck bringt. Gelingt es ihm, ausreichend Fakten und Tatsachen zusammenzutragen? Gelangt er zu den richtigen Beurteilungen und Interpretationen dieser Sachverhalte? Schätzt er die Konsequenzen und Entwicklungen richtig ein? Richtet er seine Aufmerksamkeit auf jene gesellschaftlichen Aspekte, über welche sein Publikum etwas erfahren will (soll)? Oder redet er ganz einfach an den Bedürfnissen seiner Zuhörer vorbei? Diese Fragen und viele mehr sind von erheblicher Bedeutung für den angenommenen »Mitteilungsvorgang« zwischen dem Journalisten und seinen Rezipienten, zumal die Medienberichterstattung im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit und unter Bedingungen einer ständig komplexeren und zugleich ausgedehnteren Gesellschaft eine immer dominierendere Stellung eingenommen hat. Im Gegensatz zu diesen gängigen Medienmodellen und Journalismuskonzepten berufen sich andere Erklärungsmodelle der Mas2

Zitiert nach Hans Wagner: Vermittlungsverfassung in der Massenkommunikation. In: Publizistik 1/1977, (S. 5-13), S. 5. Ein gängiges Massenkommunikationsmodell im beschriebenen Sinne findet sich bei Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation, Hamburg 1963. Zur zeitungswissenschaftlichen Kritik der Massenkommunikationsmodelle siehe Hans Wagner: Die Partner der Massenkommunikation, Bd. i, Habilschrift, München 1974.

mitteilungs-adäquanz

– 141 –

senkommunikation, unter ihnen vor allem der zeitungswissenschaftliche Theorieansatz, auf ein grundlegend anderes Verständnis von der »öffentlichen Aufgabe« des Journalisten.3 Nach dieser Vorstellung von Massenkommunikation besteht die Funktion des Journalisten nicht mehr zuerst in der Verwirklichung seines eigenen Kommunikationsinteresses; ihm kommt vielmehr primär die Rolle eines »Vermittlers« von Mitteilungen anderer, nämlich gesellschaftlicher Kommunikationspartner oder Aussageträger zu. Journalisten und ihre Medien stehen im Dienst der Kommunikationsinteressen der Gesellschaft, d.h. der Kommunikationsinteressen potentiell aller. Massenmedien leisten unaufgebbare Vermittlungsdienste für die aktuelle soziale Kommunikation. Diese vollzieht sich, wie in allen Zeiten, zwischen einzelnen und Gruppen, in Organisationen und Institutionen und zwischen ihnen. Aber diese Kommunikationen und ihre Einzelbeiträge, soweit sie alle angehen, allen vernehmbar zu machen, bedarf es der ›Medien‹ ebenso wie der ›Vermittler‹. In langdauernden und langwierigen Rationalisierungsprozessen haben sich Vermittlungsleistungen und Vermittlungstechniken von den Mitteilungsprozessen gelöst, haben sich die Vermittler verselbständigt, zur eigenen Profession entwickelt. Vermittlung wurde unverzichtbare Dienstleistung für soziale Kommunikation, weil eben diese letztere im Interesse des gesellschaftlichen Ganzen nicht funktionieren könnte, wenn sie nicht – freilich in konzentrierter Form – umfassend, zuverlässig, professionell vermittelt würde. Die Konsequenzen für die Berichterstattung liegen auf der Hand. Das »Zeitgespräch der Gesellschaft« (Bernd M. Aswerus), fassbar in Gestalt der Mitteilungen

3

Siehe dazu u.a. Hans Wagner: Kommunikation und Gesellschaft. Band i, München 1978. Ferner Otto Groth: Vermittelte Mitteilung. Ein journalistisches Modell der Massenkommunikation. Hrsg. v. Wolfgang R. Langenbucher. München 1998 (ex libris kommunikation Bd. 7).

– 142 –

detlef schröter

unterschiedlichster Kommunikationspartner, bildet die Vorgabe allen journalistischen Tuns. Von daher ergeben sich ganz andere Fragestellungen an die Tätigkeit des Journalisten: Gelingt es dem Journalisten, alle für einen Sachverhalt relevanten Partnermitteilungen aufzuspüren und zu vermitteln? Wie können die gesellschaftlichen Mitteilungen angemessen vermittelt werden? Welche Partnermitteilungen sind auszuwählen, damit am Ende alle relevanten Interpretationen und Standpunkte zu einem gesellschaftlichen Sachverhalt berücksichtigt sind? Wodurch sind die zu vermittelnden Standpunkte ausgezeichnet? Welchen Stellenwert haben die einzelnen Kommunikationspartner in der Gesellschaft selbst? Welchen Einfluss nimmt der Journalist bei seiner Vermittlungstätigkeit auf den gesellschaftlichen Kommunikationsprozess? Entsprechend der Trennung von Mitteilung und Vermittlung unterscheidet die zeitungswissenschaftliche Massenkommunikationstheorie konsequent zwischen den sogenannten Kommunikationsrollen und den Vermittlungsrollen. Die Kommunikationsrollen werden wahrgenommen von den Kommunikationspartnern in der Gesellschaft; jede Mitteilung, auch und nicht zuletzt die bloße, nackte Tatsachenfeststellung, geht auf einen Kommunikationspartner zurück: sie hat einen Ursprung, den Otto Groth als »Ausgangspartner« bezeichnete.4 Dessen Mitteilung ist für einen oder viele »Zielpartner« bestimmt. Wichtig ist, dass der Austausch zwischen Ausgangs- und Zielpartnern (aus der Gesellschaft) sich auch über Medien, also in der »Massenkommunikation«, im Rahmen eines ständigen Rollentausches vollzieht. Ob und wieweit solcher Austausch indessen öffentlich wahrnehmbar wird, hängt von der Qualität der journalistischen Vermittlung ab. Die Strate4

Vgl. Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 3).

mitteilungs-adäquanz

– 143 –

gie des »Vermittlers« ist konkretes Maß der Manifestation aktueller, sozialer Kommunikation. Für eine Beschreibung der Medienberichterstattung lässt sich aus der Trennung von Mitteilung und Vermittlung jedoch keinesfalls folgern, dass diese ›reine‹ Dokumentation oder Protokollierung des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses anzustreben habe. Es ist vielmehr das Spezifikum journalistischer Arbeit, dass stets nur ein Konzentrat des realen gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens vermittelt werden kann und vermittelt werden muss. Die handwerklichen Regeln und Techniken für solches Konzentrationsverfahren sind ebenfalls Ergebnis eines mehrdimensionalen, historisch fassbaren Rationalisierungsprozesses. 5 Was man gewöhnlich als »journalistische Darstellungsformen« beschreibt, ist als Handwerksinstrumentarium das Produkt solcher Entwicklungsprozesse, ein vorläufiges und wohl nie endgültiges; denn Ausprägung, Modifikation und Variation dieser Darstellungsformen hängen von vielen Faktoren ab: Von gegebenen Vermittlungsbedingungen, von gestellten sachlichen Vermittlungsanforderungen, von Rezipienten-Gewohnheiten, von professionellen Selbstansprüchen der Vermittler, wobei insbesondere letztere wieder nicht unerheblich vom beruflichen Selbstverständnis geprägt sind. Ganz grundsätzlich aber werden eben diese »journalistischen Darstellungsformen« im Rahmen der üblichen Massenkommunikationstheorien als die Sprechmöglichkeiten der professionellen »Kommunikatoren« interpretiert. Nach zeitungswissenschaftlicher Theorievorstellung dagegen verstehen sie sich 5

Siehe dazu Hans Wagner: Rationalisierungsprozesse der Sozialen Kommunikation. Materialien zu einem besseren Verständnis der Massenkommunikation. In: Politische Bildung. Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung und zur Unterrichtspraxis. Heft 1/1980: ›Massenkommunikation in der Demokratie‹, S. 3-32.

– 144 –

detlef schröter

zuallererst als »Sprechmöglichkeiten der gesellschaftlichen Kommunikationspartner unter den Bedingungen der Massenkommunikation«,6 die von Journalisten gehandhabt und verwaltet werden, und die sie den zur Vermittlung ausgewählten oder zugelassenen Kommunikationspartnern bzw. deren Mitteilungen zuweisen. Wer gegenüber solcher Interpretation skeptisch ist, möge die aktuelle Berichterstattung eines beliebigen Mediums getrost daraufhin überprüfen, wessen Mitteilungen, wessen Sachdarstellungen oder Meinungsäußerungen in welcher Form in Nachrichten, Berichten, Zitaten, Reportagen, Features usw. tatsächlich enthalten sind. Er wird unschwer finden, dass hier regelmäßig und überwiegend die Stellungnahmen verschiedenster Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen zum Ausdruck kommen, abgesehen einmal von einigen wenigen Formen, die der Vermittler vornehmlich für sich und seine eigenen Äußerungen ›reserviert‹ hat, etwa Kommentar und Glosse. Wen dieser Versuch noch nicht ausreichend überzeugt, möge sich weiter fragen, mit welchen Wissenszielen er sich täglich den Informationsteilen der Medien zuwendet. Er wird sich ehrlicherweise eingestehen, dass ihn – wieder abgesehen von den Kommentierungen und Interpretationen der Journalisten, deren Kompetenz und Expertentum im Einzelfall hier nicht zur Debatte steht – primär doch wohl die Mitteilungen und Meinungen der unterschiedlichsten Zeitgenossen interessieren, die ihm da in zahlreichen Formvarianten durch Medien geboten werden; zumal dann, wenn die geäußerten Handlungsabsichten, Sachaspekte und Wertvorstellungen für ihn, den Rezipienten, und ebenso für die ganze Gesellschaft von weitreichender Konsequenz sind oder erscheinen, weil die »Ausgangspartner« kraft ihrer Position in der Gesellschaft über nicht unerhebliche Handlungsvollmachten etwa verfügen. 6

Zitiert nach Wagner: Vermittlungsverfassung, (Fn 2), S. 9.

mitteilungs-adäquanz

– 145 –

Als »Sprechmöglichkeiten der gesellschaftlichen Kommunikationspartner« unterscheiden sich die vom Journalisten nutzbaren und genutzten Darstellungsformen nach Art und Grad des immer erforderlichen Vermittlungseingriffs in das Mitteilungsgeschehen. Auf den ersten Blick ist klar, dass solche Eingriffe im Falle der Formulierung einer äußerst knappen (Kurz-)Nachricht massiver ausfallen müssen als dann, wenn der Journalist einer Mitteilung die größeren Chancen eines lediglich verkürzten Statements oder eines im ausführlichen Wortlaut wiedergegebenen Interviews einräumt. Aus dem oben Gesagten wird auch deutlich, dass das Darstellungs-Instrumentarium danach klassifiziert werden kann, ob eine Darstellungsform ausschließlich bzw. primär für des Journalisten eigene Mitteilung reserviert ist – das wären Formen der »Eigenvermittlung« –, oder ob sie ausschließlich bzw. primär zur »Fremdvermittlung« eingesetzt wird, d.h. also, um die Mitteilungen gesellschaftlicher Kommunikationspartner zu vermitteln. Insgesamt ist die Bereitstellung, die handwerklich saubere Anwendung und die Ausgestaltung der geeigneten Formen der Berichterstattung eine zentrale Aufgabe des Journalisten, deren konkrete Erfüllung nicht zuletzt abhängig ist von der Funktion und vom Typus eines Mediums, in dem die Berichterstattung angesiedelt ist.7 Dies alles weiß – aus seiner Perspektive – wohl auch schon ein Volontär.

7

Vgl. dazu Heinz Starkulla (Presse, Fernsehen und Demokratie. Der ›Wettbewerb‹ der Medien als kommunikationspolitisches Problem. In: Festschrift für Otto Groth. Bremen 1965, S. 198-206; hier S. 201) stellt dazu fest: »›Bericht‹ vor allem – in all seinen Formen –, auch die Mitarbeit nicht-redaktioneller Kräfte, insbesondere der Wortführer des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens und nicht zuletzt Leserbriefe manifestieren unmittelbar oder mittelbar das gesellschaftliche Wort. Diese öffentliche Funktion bestimmt vor allem die journalistische Qualität des Mediums, während die ›eigene Linie‹ gleichsam private Beigabe ist.«

– 146 –

detlef schröter

In gedanklicher Verwandtschaft mit zahlreichen theoretischen und praktischen Journalismuskonzepten8 unterscheidet auch die Zeitungswissenschaft zwischen zwei idealtypisch gegensätzlichen Vermittlungsstrategien, die sich nach der Tendenz des Eingriffes der professionellen Vermittler in das gesellschaftliche Mitteilungsgeschehen unterscheiden. Die knappeste Charakterisierung der gegensätzlichen Vermittlungsinteressen des ›Publizisten‹ und des ›Journalisten‹ wird an dem unterschiedlichen Selektionsverhalten deutlich: Der ›Journalist‹ vermittelt das, was er, mit Blick auf die gesamte Gesellschaft, für wichtig hält, der ›Publizist‹ dagegen das, was er als richtig empfindet. Diese Trennung der zwei Vermittlungsinteressen und -strategien will zunächst nicht mehr als eine idealtypische Hilfskonstruktion sein, an der die nuancierten Mischformen der journalistischen Realität gemessen werden können. Dabei ist in keiner Weise eine Wertung der unterschiedlichen Vermittlungsstrategien und ihrer Träger intendiert. Denn für den gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozess sind beide Funktionen von Bedeutung: ›Publizisten‹ in allen Erscheinungsformen markieren die zu vermittelnden Gesprächspositionen in der Gesellschaft, nicht zuletzt und 8

Zum (idealtypischen) Begriffspaar ›Journalist‹ – ›Publizist‹ siehe u.a. Wilhelm Spael: Publizistik und Journalistik und ihre Erscheinungsformen bei Joseph Görres, Köln 1928, insbes . S. 5-24; ferner Dieter Paul Baumert: Die Entstehung des deutschen Journalismus, München/Leipzig 1928; Hans Wagner: Kommunikation und Gesellschaft, Bd. i, München 1978. Otto Groth (Vermittelte Mitteilung, [Fn 3]) unterscheidet den ›vermittelnden‹ und den ›produzierenden‹ Journalisten; eine ähnliche Unterscheidung treffen Wolfgang R. Langenbucher mit ›Mediator‹ vs.›Kommunikator‹ (Kommunikation als Beruf, Habilschrift München 1973); oder mit ›Gatekeeper‹ vs. ›Advocate‹ Morris Janowitz (Professional Mode in Journalism, in: Journalism Quarterly, 1975, S. 618-626) sodann mit ›Channel role‹ vs. ›Advocacy role‹ auch Bruce H. Westley / Macolm S. MacLean, Jr. (A Conceptual Model for Communication Research, in: Journalism Quarterly, 1957, S. 31-38).

mitteilungs-adäquanz

– 147 –

insbesondere die nicht organisierten informellen Meinungspositionen. Der ›Journalist‹ jedoch ermöglicht erst die Versammlung der publizistisch sich artikulierenden Positionen zum Gespräch aller, damit die Vernehmbarkeit jeder Position für alle und schließlich so die Transparenz des Kommunikationsraumes. 9 Hier konnten nur Bruchstücke zum Problem und zur Konsequenz der Trennung von Mitteilung und Vermittlung dargestellt werden. Für die intensive Beschäftigung mit diesem Theorieansatz sei auf die Quellen verwiesen. Autoren wie Bernd M. Aswerus, Karl d'Ester, Otto Groth, Heinz Starkulla und Hans Wagner geben mit ihren Ausführungen erschöpfend Auskunft über die Grundlagen dieser Theorie10 und ihre Brauchbarkeit für die Erklärung der Massenkommunikation als eines »Modus sozialer Zeitkommunikation«. 2. Spannungsfeld ›Objektivität‹ Das Erklärungspotential dieser Theorieperspektive ist nun aber von erheblicher Bedeutung für die Lösung wesentlicher Praxisprobleme auch im Detail. Ein solches stellt sich in der bislang nicht abgeschlossenen Diskussion um die ›Objektivität‹ der Berichterstattung. Hier wird ein massiv aufgeladenes Spannungsfeld journalistischen Handelns sichtbar. Zwei Lager scheinen sich gegenüberzustehen. Für die einen ist alles subjektiv, auch die journalistische Arbeit. Es lohnt sich für sie nicht, nach einer ob9

Vgl. dazu Heinz Starkulla: Publizistik und Kommunikation. In: Festschrift für Hanns Braun, Bremen 1963, (S. 562-571), hier insbes. S. 566 f.

10

Lediglich exemplarisch sei hier auf folgende Publikationen verwiesen: Karl d'Ester, Zeitungswesen, Breslau 1928; Bernd M. Aswerus, Vom Zeitgespräch der Gesellschaft, (hrsg. v. Hans Wagner), München 1993 (ex libris kommunikation Bd. 3); Otto Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 3); Heinz Starkulla: Marktplätze sozialer Kommunikation, München 1993 (ex libris kommunikation Bd. 4); Hans Wagner, Kommunikation, (Fn 3).

– 148 –

detlef schröter

jektiven Wirklichkeit als dem möglichen Gegenstand journalistischen Handelns zu suchen. Die größtmöglich erreichbare Objektivität sehen sie darin, die subjektiven Einflüsse im Journalismus, die Subjektivität des Journalisten überhaupt, deutlich kenntlich zu machen.11 Alles andere wird als Etikettenschwindel empfunden. Im anderen Lager wird Objektivität als ein grundsätzlich anzustrebendes Ziel im Interesse einer zureichenden Wirklichkeitserkenntnis und einer zuverlässigen Berichterstattung über sie angestrebt. Solchermaßen verstandener Informationsjournalismus, nicht zuletzt in der Ausprägung eines »Präzisionsjournalismus«,12 müht sich in Anlehnung an wissenschaftliches Erkenntnisstreben um möglichst tragfähige Verfahren der Informationssammlung und -prüfung. In letzter Konsequenz versucht dieser Journalismus, sich an reinen ›Fakten‹ und ›Tatsachen‹ zu orientieren. Objektive Berichterstattung würde dann eine grundsätzliche Abkehr von expliziten Wertungen bedeuten. Diese Auffassung manövriert sich in das praxisrelevante, aber kaum journalistisch lösbare Problem, was objektive Fakten und Tatsachen überhaupt sind, ob es sie in der Gesellschaft überhaupt geben kann und ob, wenn es sie gibt, eine Berichterstattung auf sie tatsächlich begrenzt bleiben kann. 11

Diese Auffassung von Subjektivität im Journalismus vertreten u. a. Hans Heinz Fabris: Objektivität und Parteilichkeit in den Sozialwissenschaften und im Journalismus. In: Publizistik 1/1981, S. 16-24; Manfred Rühl: Journalismus und Wissenschaft - Anmerkungen zu ihrem Wirklichkeitsverständnis. In: Rundfunk und Fernsehen, 2-3/1981, S. 211-222; ferner in der Praxis etwa Franz Alt: Es gibt keine Objektivität oder: Nur Gott ist objektiv. In: Günter Bentele / Robert Ruoff (Hrsg.): Wie objektiv sind unsere Medien?, Frankfurt 1982, S.205-210

12

Die Auffassungen eines solchen »Informations- und Präzisionsjournalismus« finden sich in Reinkultur nur in amerikanischen Lehrbüchern, u.a. bei Philip Meyer: Precision Journalism, Indiana University Press, 1979, oder bei Maxwell McCombs et. al.: Handbook of Reporting Methods, Boston 1976.

mitteilungs-adäquanz

– 149 –

Beide Lager gehen bei ihren Versuchen der Problemlösung – ausdrücklich oder stillschweigend – von der Prämisse der üblichen Massenkommunikationsvorstellungen aus, dass nämlich der ›Kommunikator‹ seinen Rezipienten die aktuellen Ereignisse mitzuteilen und ihnen auf diese Weise die Wirklichkeit der Gesellschaft und der Welt höchstpersönlich zu erklären habe. Immerhin sehen von dieser Prämisse aus so unterschiedliche Autoren wie Bruce H. Westley und Malcolm S. MacLean, Jr., Franz Ronneberger oder Ulrich Paetzold (um nur einige exemplarisch zu nennen), dass Ereignisse in der Berichterstattung nicht ›an sich‹ und ›für sich‹ stehen, sondern immer mehr oder weniger mit – organisierten und nicht organisierten – Interessen in der Gesellschaft verknüpft sind, so dass Interessengruppen als wichtige ›Quellen‹ für die journalistische Arbeit in den Blick treten.13 Aus der Perspektive des zeitungswissenschaftlichen Verständnisses von Massenkommunikation ergibt sich, vereinfacht betrachtet, dass das ›Objekt‹ journalistischer Berichterstattung nicht ein ›Ereignis an sich‹ oder eine ›Realität an sich‹ ist, sondern in aller Regel eine ›kommunikative Vorgabe‹ zu irgendwelchen aktuellen Ereignissen in irgendwelchen Wirklichkeitsbereichen. Anders gesagt: Der Journalist ist konfrontiert mit einer Vielzahl meist kontroverser ›Interpretationen von Ereignissen‹ in der Gesellschaft, die aus unterschiedlichen Sichtweisen, Interessenlagen und Wertüberzeugungen resultieren. Objektive Vermittlung heißt dann zunächst nichts anderes, als dass eben diese Interpretationsvorgaben in Gestalt von Mitteilungen über und zu Ereignissen aufzuneh13

Zur Bedeutung der »organisierten Interessen« für den Prozess der Massenkommunikation vgl. u.a. Ulrich Paetzold: Wie objektiv können Nachrichten sein? In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 8/1973; Franz Ronneberger: Leistungen und Fehlleistungen der Massenkommunikation. In: Publizistik, 3/ 1973, S. 203-215; ders.: Legitimation durch Information, Düsseldorf/Wien 1977.

– 150 –

detlef schröter

men und darzustellen sind. Objektivität wird so zu einer – nachprüfbaren – Relation der Entsprechung von vorgegebenen Mitteilungen und ihrer Vermittlung durch den Journalisten. Daher lassen sich auch am Vermittlungsprodukt, nämlich an Nachricht und Bericht, durchaus die ›objektiven‹ und die (vom Journalisten geprägten) subjektiven Merkmale weitgehend trennen. Zu fragen ist nämlich dann im Einzelfall: Wie wird eine einzelne Mitteilung eines Ausgangspartners14 oder Aussageträgers aus der Gesellschaft vermittelt? Wird die von einem Ausgangspartner stammende Interpretation eines Sachverhaltes in ihrem Kern zutreffend vermittelt? Ist diese Mitteilung auch in ihrer vermittelten Gestalt wiederzuerkennen, und zwar hinsichtlich ihres sachlichen Gehalts wie hinsichtlich ihrer Herkunft? Oder werden durch einfließende subjektive Kommunikationsinteressen des Journalisten die Artikulations-Chancen und -intentionen des Ausgangspartners beeinträchtigt, überlagert und zerstört? Und was die Summe der Leistungen in lang andauernden Vermittlungsprozessen betrifft: Ist die Vermittlungsstrategie insgesamt so angelegt, dass die Sach- und Wirklichkeitsinterpretationen aller gesellschaftlichen Partner eine gleichberechtigte Chance erhalten? Oder wählt der Journalist die Mitteilungen womöglich einseitig, nach subjektiven Überzeugungen und Vorlieben aus? Wir haben es also mit einer völlig anderen Sichtweise zu tun. Der Journalist ist nicht mehr (wie in den reduktionistischen Modellen der Massenkommunikation15) auf das unmögliche Unterfangen verpflichtete, eine ›Realität an sich‹ transparent zu machen. Kein 14

Die Begriffe ›Ausgangspartner‹ und ›Zielpartner‹ zur Fixierung der Kommunikationsrollen in der Massenkommunikation hat Otto Groth eingeführt; vgl. Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 3).

15

Dazu zählt vor allem das immer noch vielzitierte und wohl am meisten verbreitete Maletzke-Modell (siehe Fn 2).

mitteilungs-adäquanz

– 151 –

endgültiges Urteil über ›objektive‹, wahre Sachverhalte ist von ihm verlangt. Es muss auch gesehen werden, dass eine so praktizierte Vermittlung von Mitteilungen gesellschaftlicher Aussageträger samt deren unterschiedlichen, aktuellen Sach- und Weltinterpretationen niemals automatisch schon einen objektiv richtigen Blick auf einen ›wahren Sachverhalt‹ gewährleistet. ›Wahrheiten‹ im wissenschaftlichen Sinn und eine angemessene Darstellung gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse sind ganz verschiedene Dinge. Ziel des Journalisten kann es immer nur sein, durch die Vermittlung aller geglaubten, gelebten und aktuell mitgeteilten ›Wahrheiten‹ aus der Mitte der Gesellschaft die Voraussetzung für soziale Orientierung, für Urteils- und Entscheidungsfindung des einzelnen sowohl wie der ganzen Gesellschaft bestmöglich zu schaffen. Wie das Objektivitätsproblem erscheint unter diesen Aspekten auch das ›Ausgewogenheits‹-Kriterium in einem anderen Licht. Zumeist verdichtet sich ja die Ausgewogenheits-Debatte auf den irreführenden Gegensatz eines unkritischen und deshalb ›ausgewogenen‹ Journalismus auf der einen, und eines kritischen, dafür aber subjektiven und notgedrungen ›unausgewogenen‹ Journalismus auf der anderen Seite.16 Aber ›Ausgewogenheit‹ als Kriterium journalistischen Handelns bekommt seinen Sinn nur dann, wenn sie als Spezialfall der Objektivität unter den Voraussetzungen der Kommunikations -Vermittlung betrachtet wird. Ein einzelnes ausgewogenes Kommuni16

Der Ausgewogenheitsbegriff wird insbesondere im Zusammenhang der Rundfunkpolitik und der Programmgestaltung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten heftig diskutiert. Einen guten Überblick der grundsätzlichen Positionen und Probleme bieten dazu das Themenheft der Zeitschrift Medien: Thema: Ausgewogenheit, 1/1977, sowie der von Jörg Aufermann u. a. herausgegebene Sammelband: Rundfunk und Fernsehen für die Demokratie, Opladen 1979.

– 152 –

detlef schröter

kationsinteresse oder gar eine einzelne ausgewogene Mitteilung ist ernsthaft nicht diskutierbar. Wäre, wie unter der Prämisse der üblichen Massenkommunikationstheorien angenommen, der professionelle ›Kommunikator‹ tatsächlich einziger Sprecher in der Massenkommunikation, dann in der Tat könnte Ausgewogenheit nur erreicht werden durch ›meinungsfreie‹ Aussagen, in denen keinerlei Standpunkt mehr formuliert wird. Nicht eine meinungs- und wertungsfreie Mitteilung des Journalisten, sondern die nach allen Seiten offene, unparteiliche Vermittlung von kritischen und kontroversen Standpunkten aus der Gesellschaft zum Zwecke der Ausleuchtung von Tatsachen nach allen Seiten hin kennzeichnet das Bemühen um eine ausgewogene Berichterstattung. Schon allein deshalb ist engagierte Wahrnehmung der Vermittlungsfunktion durch den Journalisten niemals identisch mit passivem Verlautbarungsjournalismus, welcher sich damit begnügt, die ihm absichtsvoll oder zufällig zugetragenen Informationen weiterzugeben, ohne die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Hintergründe zu berücksichtigen. Die täglichen Vermittlungsentscheidungen und die Bemühungen um neue Informationen verlangen vom Journalisten vielmehr ein hohes Maß an Kompetenz, Aufmerksamkeit, aktiver Recherche und Widerstandskraft gegen Beeinflussungsversuche. Das auf Vermittlung sozialer Kommunikation gerichtete Interesse des Journalisten bietet außerdem alle Voraussetzungen für die Erfüllung einer Kritik- und Kontrollfunktion, deren Träger allerdings nicht primär der Journalist oder er jedenfalls nicht allein ist; vielmehr ist er deren Anwalt, indem er auch die kritischen Gesprächspositionen in der Gesellschaft ausfindig macht, indem er auch jene Stimmen vernehmbar macht, die mit Kompetenz und Urteilsfähigkeit Bedenken zum jeweiligen Status quo anmelden, die Zweifel an der Richtigkeit von Maßnahmen vorbringen, Kritik an allen Arten von

mitteilungs-adäquanz

– 153 –

ausübung formulieren und so eine permanent öffentliche Kontrolle von der gesellschaftlichen Basis her ermöglichen und tatsächlich ausüben. Ein letztes ist anzufügen, um Missverständnissen vorzubeugen: Die hier vertretene Auffassung von der Funktion des Journalisten als dem »Gesprächsanwalt der Gesellschaft« (Bernd M. Aswerus) und die damit bezogene Position zur Objektivitäts-Norm bedeutet nicht, dass der Journalist auf die Darstellung und Vermittlung seiner eigenen Meinung, seines eigenen Urteils und seiner eigenen Sichtweisen verzichten müsste. In manchen Situationen mag es sein, dass der Journalist selbst Augen- oder Ohrenzeuge eines Ereignisses ist oder wird; dann wird er auch und selbstverständlich seine Interpretation des Ereignisses liefern. Auch in diesem Fall muss er allerdings wissen, dass seine Realitäts-Interpretation nicht die einzig mögliche oder gar die einzig richtige ist. Wo immer und mit welchen Mitteilungen auch immer der Journalist sich selbst vermittelt, er stellt sich damit in die Reihe der Kommunikationspartner. Das hat zweierlei Konsequenzen: Der Journalist als Kommunikationspartner hat dem Rezipienten dann – wie in jedem anderen Fall von Mitteilungs-Vermittlung – deutlich erkennbar zu zeigen, woher diese Ereignis-Interpretation stammt; hier: dass sie von ihm selbst stammt, dass es sich um seine eigene Wahrnehmung, um seinen eigenen Standpunkt, um seine eigenen Schlußfolgerungen handelt. Zum anderen hat der Journalist darauf zu achten, dass er sich mit seinen eigenen Gesprächsanteilen zu den gesellschaftlichen Sachverhalten nicht selbst privilegiert gegenüber allen übrigen Kommunikationsinteressenten aus der Gesellschaft – oder gar deren Gesprächsanteile überlagert und erstickt.

– 154 –

detlef schröter

3. ›Realitätsgerechte‹ Vermittlung Man kann also durchaus davon ausgehen, dass die Erfüllung der journalistischen Aufgabe unausweichlich im Spannungsfeld des Anspruchs einer objektiven, umfassenden Vermittlung sozialer Kommunikation und des Anspruchs auf Befriedigung eigener, subjektiver Kommunikationsinteressen liegt. Daher wäre es umgekehrt auch ein Irrtum, zu behaupten, eine der beiden Komponenten wäre gänzlich irrelevant und könnte total eliminiert werden. Der Journalist kann weder seinen persönlichen Standpunkt verleugnen, noch kann er sich ausschließlich auf ihn berufen oder ihn gar privilegieren. Diese Spannung kann nicht ohne weiteres aufgelöst werden. Aber sie muss gewissermaßen in eine Ordnung gebracht werden, wenn nicht die publizistische Komponente die journalistische paralysieren soll. Es sind daher Regeln des Handwerks, im weitesten Sinn Maßstäbe des journalistischen Ethos, die den professionell arbeitenden Journalisten instand setzen, unabhängig von seinem eigenen Standpunkt die Gesprächsbeiträge aus der Gesellschaft zu vermitteln. Dabei wäre es nämlich abwegig, zu verlangen oder zu erwarten, dass der Journalist sich mit allen von ihm vermittelten Inhalten persönlich identifizieren könnte oder gar müsste. Vielmehr hat er hier Sorge zu tragen dafür, dass er die verschiedensten Standpunkte inhaltlich korrekt darstellt, dass er deren Herkunft präzise kenntlich macht, dass er chancengleiche, gerechte Vermittlungsbedingungen für alle möglichen Standpunkte garantiert, dass er ein ausreichend breites Spektrum der real vorhandenen Positionen in der Gesellschaft zu aktuellen Fragen sichtbar macht. Die Einhaltung solcher Leitlinien vorausgesetzt, sind Befürchtungen gegenstandslos, die sich in Wissenschaft und Praxis nicht selten an das Konzept der Vermittlungsfunktion hängen oder

mitteilungs-adäquanz

– 155 –

gegen dieses gerichtet sind. Sie laufen im allgemeinen darauf hinaus, Medienberichterstattung könne und müsse auf diese Weise abgleiten und degradiert werden zu unkritischer Hofberichterstattung, zum Verlautbarungsjournalismus, der den wirklichen Problemen und Bedürfnissen der Gesellschaft nicht gerecht werde. Das Gegenteil ist richtig. Der auf die ganze gesellschaftliche Kommunikation gerichtete Vermittlungsauftrag würde gerade verlangen, die in der Gesellschaft real vorhandenen und sich artikulierenden Standpunkte, Probleme und Bedürfnisse vernehmbar, diskussionsfähig und -würdig und daher auch wirksam zu machen; gerade dieser Auftrag wäre aber verfälscht, wenn er auf Dienstleistung für einzelne oder wenige Sonderinteressen, seien sie mächtig oder schwach, seien sie aggressiv oder zurückhaltend, verkürzt würde.17 Wenn Ulrich Saxer trennt zwischen der Fähigkeit und dem Willen des Journalisten zu objektiver Informationsgebung,18 so trifft er damit sicher einen auch hier entscheidenden Punkt. Fähigkeiten beziehen sich auf die Beherrschung des Handwerks. Aber der Wille bestimmt Absicht und Ziel beim Einsatz der Fähigkeiten. Richtig ist also, dass Handwerksregeln allein eine journalistischgesprächsanwaltschaftliche Vermittlungsleistung noch nicht garantieren. Dazu muss schon die Absicht treten, dieses handwerklich-professionelle Können allen Kommunikationsinteressenten in der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen mit dem Ziel, auf diese Weise die Voraussetzung zu schaffen, dass jeder sich auskennen kann in der Gesellschaft, in der er lebt, dass jeder seine Mei17

Vgl. dazu Barbara Baerns: Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus? Zum Einfluss im Mediensystem, Köln 1985; Hans Wagner / Heinz Starkulla (Hrsg.): Hofberichterstattung oder Journalismus?, München 1984.

18

Vgl. Ulrich Saxer: Die Objektivität publizistischer Information. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.), Zur Theorie der politischen Kommunikation, München 1974, S. 225. (In diesem Band S. 11-62.)

– 156 –

detlef schröter

nung sich bilden kann zu allen aktuellen Fragen, die ihn angehen oder betreffen, dass die Gesellschaft als ganze auf diese Weise handlungsfähig bleibt und in allen neuen Situationen handlungsfähig wird. Wo solche Absicht oder solches journalistische Ethos fehlte, erstarrte die Einhaltung von Handwerksregeln zu unverstandener, formeller Routine, zu nicht mehr einsichtigem Selbstzweck. Erst im Verein mit und unter Vorzeichen einer journalistischen Handlungsintention entfalten Handwerksregeln ihren Sinn und ihre Kraft als zweckrationale, die Entscheidungen des alltäglichen Vermittlungshandelns entlastende Verfahrensregeln für eine ›realitätsgerechte‹ Vermittlung. In Umrissen sollte aus dem Gesagten zunächst deutlich geworden sein, was ›realitätsgerechte‹ Vermittlung also nicht heißt. Sie heißt nicht, dass der Journalist seine eigenen, subjektiv beliebigen Realitätskonstruktionen als die einzigen und ausschließlichen zu setzen und durch Medien zu verbreiten hätte. Sie kann umgekehrt auch nicht heißen, dass der Journalist eine unangreifbare, irgendwie gültige Konstruktion von einer ›Realität an sich‹ geben könnte. Letzteres ist nicht journalistische Sache und kann es nicht sein, weil der Journalist es nicht mit einer irgendwie vorgegebenen, schwer fassbaren Realität im allgemeinen oder mit ebensolchen gesellschaftlichen Realitäten im besonderen zu tun hat: Er ist vielmehr stets mit Kommunikations-Realitäten konfrontiert, das heißt immer mit Mitteilungen über und zu Realitäten, die ihm als seine relevanten Realitäten zur Vermittlung vorgegeben sind. Ersteres nicht, weil seine eigene, subjektive Realitätskonstruktion allenfalls eine von vielen oder mehreren ist, die in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft prinzipiell gleichberechtigt miteinander konkurrieren; sie ist zwar, wie jede andere, mitteilbar, und – soweit mitgeteilt – auch vermittelbar; aber es gibt keinen Grund und keinerlei Legitimation dafür, warum ausgerechnet und nur

mitteilungs-adäquanz

– 157 –

die subjektive Realitätskonstruktion des Journalisten in den Medien eine privilegierte Vermittlungs-Chance erhalten sollte. ›Realitätsgerechte‹ Vermittlung bedeutet also positiv zunächst, dass allen von den verschiedenen organisierten und nicht organisierten Interessengruppen artikulierten, also in Gestalt von Mitteilungen vorgegebenen Realitätskonstruktionen eine faire VermittlungsChance in den Medien eingeräumt, die Chance auf allgemeine und öffentliche Vernehmbarkeit damit eröffnet wird. ›Realitätsgerechte‹ Vermittlung, auch dies ergibt sich aus den einleitenden Überlegungen, kann ferner nicht und niemals heißen, dass in den Medien das reale Kommunikationsgeschehen in der Gesellschaft unverändert, quasi eins zu eins abgebildet, gespiegelt oder irgendwie ›protokolliert‹ werde. Vielmehr muss dieses Kommunikationsgeschehen stets gewissermaßen ›verkleinert‹ werden. Dies erfordert , wie dargestellt, Vermittlungseingriffe in das Kommunikationsgeschehen. Diese Eingriffe schließen Selektion in allen Arbeitsphasen ein, erschöpfen sich aber nicht darin. Selektionsentscheidungen bestimmen, was als wichtig aufgenommen wird und was als unwichtig ausgeschieden wird. (Selektionsentscheidungen orientieren sich also unter bestimmten Aspekten an einem ›Verkleinerungs-Maßstab‹, der je nach Funktion und Typ eines Mediums anders sein kann.) Was in diesen Selektionsvorgängen als ›vermittlungsfähig‹ oder ›vermittlungswürdig‹ übrigbleibt, bedarf jedoch weiterer Bearbeitung, zu der auch die medienbedingte Transformation der zu vermittelnden Mitteilungen gehört. Nicht die originale Aussage eines Ausgangspartners im originalen Wortlaut wird im Normalfall vermittelt, sondern ein ›auf den Punkt‹ gebrachtes, gedrängtes Resümee, eine auf den ›Sinnkern‹ der Aussage reduzierte Fassung. ›Realitätsgerechte‹ Vermittlung heißt also unter diesen Aspekten positiv : Vermittlung von Mitteilungskonzentraten. Dabei ist die

– 158 –

detlef schröter

Forderung zu stellen, dass das vermittelte Konzentrat der ursprünglichen Mitteilung sachlich-inhaltlich, ihrem Aussage- oder Sinnkern also, möglichst exakt entspricht. Mitteilungs-Adäquanz der Vermittlung wird somit zu einem mit Vorrang zu lösenden Hauptproblem der Massenkommunikation. 4. Dimensionen der Mitteilungs-Adäquanz Diese Theorie ist alles andere als praxisfremd. Eine intensive Beschäftigung mit der sogenannten Praktiker-Literatur kann das ohne weiteres belegen. Viele darin beschriebene journalistische Alltagsprobleme sind mittelbar und unmittelbar mit dem Problem der Mitteilungs-Adäquanz verwoben. Unter Praktikerliteratur sind zu verstehen alle Hand- und Lehrbücher, die für die tägliche Arbeit des Journalisten gedacht sind; meist sind es erfahrene Praktiker, die für Kollegen, vor allem für den journalistischen Nachwuchs, dort ihre gesammelten Reflexionen oder bewährte Regeln, Verfahren und Techniken erläutern.19 19

Einige Titel solcher Praxishandbücher seien zur Illustration, vor allem ohne Anspruch auf Vollständigkeit angeführt: Walther von La Roche: Einführung in den praktischen Journalismus, München 1975. Werner Meyer: Journalismus von heute (Loseblattsammlung), Percha 1979, sowie gewissermaßen als Vorläufer das in der Nachkriegs-Journalistenausbildung häufig eingesetzte, vom damaligen Werner Friedmann-Institut herausgegebene ›ABC des Reporters‹ von Carl Warren, das in mehreren Auflagen erschien und dessen deutsche Ausgaben von Rolf Meyer besorgt wurden. Sodann auch: Michael Haller: Recherchieren. Ein Handbuch für Journalisten, München 1983; Projektteam Lokaljournalismus (Hrsg.): ABC des Journalismus, München 1981; Wolf Schneider (Hrsg.): Unsere tägliche Desinformation, Hamburg 1984; Rudolf Fest u. a.: Radio-Nachrichten, Stuttgart 1983 (Eigenpublikation der ARD) sowie ZDF (Schriftenreihe Heft 22): Information und Meinung im Fernsehen, Mainz 1979. (Zwischenzeitlich erlebte die Sparte der ›Einführungen in den praktischen Journalismus‹ mit mehreren Buchreihen und zahlreichen Einzeltiteln geradezu einen Boom.)

mitteilungs-adäquanz

– 159 –

Mit anderen Worten zwar, aber in der Sache gleichgerichtet, wird dort das Problem der Mitteilungs-Adäquanz aufgegriffen, indem seine verschiedenen praxisrelevanten Aspekte beleuchtet werden. Die Betonung der Wichtigkeit, die sogenannten W-Fragen zu beantworten, ›Quellen‹ exakt kenntlich zu machen, oder die zahlreichen Regeln für die Darstellung von Fakten und Meinungen, die Unterscheidung zwischen journalistischer Wertung und Meinungen sowie Aussagen ›Dritter‹, die Trenn-Norm für Kommentar und Nachricht und ihre diversen Begründungen: All dies und einiges mehr ist hier relevant. Meist beziehen sich diese Praktiker-Ausführungen auf Nachrichten und Berichte im engeren Sinn; aber wenn wir das ganze Problem von der anderen Seite, der Seite des Rezipienten nämlich und seinem Anspruch auf zuverlässige Benachrichtigung, angehen, lassen sich solche Praxisregeln und -Überlegungen durchaus verallgemeinern. Für eine praxisnahe Analyse der Mitteilungs-Adäquanz (und auch für die Möglichkeit empirischer Untersuchungen dieser Frage) empfiehlt es sich, das Phänomen Mitteilungs-Adäquanz in seine möglichen Bestandteile zu zerlegen. Mitteilungs-Adäquanz der Vermittlung kann sich in folgenden Dimensionen manifestieren: 1. in der zureichenden Vermittlung des Kommunikationskontextes; 2. in der Transparenz des Vermittlungskontextes; 3. in der umfassenden Kennzeichnung der Mitteilungs-Herkunft (Aussageträger, Ausgangspartnerschaften); 4. in der inhaltlich-sachlichen Entsprechung von Mitteilung und vermittelter Mitteilung (Mitteilungs-Adäquanz im engeren Sinne) und 5. in der rigoros vollzogenen Trennung von fremdvermittelten Mitteilungen und subjektiv-journalistischer (= publizistischer) Wertung (inkl. Trennung von Nachricht und Kommentar).

– 160 –

detlef schröter

Die letztere Dimension ist weiter gefasst als die üblicherweise häufig statuierte Trenn-Norm von Kommentar und Nachricht. Dies wird deutlich werden, wenn wir uns nun zunächst allgemein mit diesen Dimensionen näher befassen. Der Kommunikationskontext Die erste Dimension der Mitteilungs-Adäquanz, der ›Kommunikationskontext‹, wird in der Praktikerliteratur sehr anschaulich und ausführlich unter dem Stichwort ›Journalistische W-Fragen‹ abgehandelt. Die einzelnen Autoren berufen sich dabei auf enger oder weiter greifende Gliederungen oder Ausdifferenzierungen dieser sogenannten W-Fragen. Aus theoretischer Sicht scheint eine grobe Unterteilung in zwei Arten von W-Fragen sinnvoll: 20 In jene ›elementaren‹ W-Fragen zunächst, die auf unverzichtbare Bezugsangaben zielen: Wer hat was wo und wann gesagt oder getan? Diese werden ergänzt durch ›weiterführende‹ W-Fragen, deren Beantwortung Auskunft gibt über die umgebenden Kontexte, in denen vermittelte Mitteilungen über Sachverhalte stehen und zu verstehen sind: Wie, warum, mit welchem Ziel ist etwas geschehen oder gesagt worden? Für die Nachrichtengebung sind die elementaren W-Fragen eine verbindliche Grundlage journalistischen Handelns. Hier wird einheitlich akzeptiert und gefordert, dass der Rezipient dieser minimalen Bezugsangaben bedarf, um eine Nachricht überhaupt verstehen zu können. Während aber die elementaren W-Fragen auf (scheinbar) leicht und problemlos nachprüfbare Fakten verweisen, bewegen sich die weiterführenden W-Fragen in einem eher 20

Eine Unterscheidung zwischen ›elementaren‹ und ›weiterführenden‹ W-Fragen wird von den Praktikerhandbüchern so nicht gemacht. Diese Unterscheidung ist vielmehr ein zeitungswissenschaftlicher Versuch, die verschiedenen W-Fragen zu klassifizieren.

mitteilungs-adäquanz

– 161 –

umstrittenen Bereich der Deutung und Interpretation von Sachverhalten durch den Berichterstatter, Augenzeugen oder Kommentator. (Das kann, muss aber nicht zwangsläufig der Journalist sein.) Wie ist etwas geschehen oder gemeint? Warum wurde dies oder jenes gesagt und getan? Mit welchem Ziel? Hier stehen Auskünfte nach Absichten und Motiven zur Debatte. Und hierauf gibt es daher je nach den Interessenlagen der Beobachter sehr unterschiedliche Antwortmöglichkeiten. Deshalb kann es im Sinne einer seriösen und sachgerechten Vermittlungsleistung durchaus notwendig sein, ganz unterschiedliche Versionen des ›Wie‹ und ›Warum‹ in die Berichterstattung einzubeziehen. In der Konsequenz wird es erforderlich sein, bei den umfangreichen, interpretierenden Darstellungsformen je neu zu prüfen, mit welchem Selbstverständnis solche weiterführenden Kontextierungen in einem Beitrag wahrgenommen werden. Wo die subjektiven Wertvorstellungen des Journalisten im Vordergrund stehen, werden die Kontexte der dargestellten Sachverhalte möglicherweise ausschließlich auch von ihm selbst hergestellt; sie könnten dann einseitig und subjektiv eingefärbt sein; sie gehen dann unter Umständen zu Lasten anderer Interpretationen und decken jedenfalls die in der gesellschaftlichen Kommunikation tatsächlich vorhandenen Kontextierungen nicht zureichend ab. An dieser Stelle ist außerdem aus theoretischer Sicht eine wichtige Unterscheidung anzubringen: Wie alle W-Fragen kann sich auch die elementare Wer-Frage in der Praxis sowohl auf das Handeln wie auf das Mitteilen über Handeln und Handelnde, auf Akteure also wie auf Ausgangspartner beziehen. Das ist jedoch keinesfalls dasselbe; und in beiden Fällen betrifft die Wer-Frage in der Tat völlig andere Dimensionen der Mitteilungs-Adäquanz. Wo über ihre Beantwortung dem Rezipienten verdeutlicht werden soll, wer gehandelt hat, ist diese Auskunft als Bestandteil einer Mitteilung in dieser enthalten; die Glaubwürdigkeit und die Relevanz dieser

– 162 –

detlef schröter

Mitteilung hängt jedoch selbst wieder davon ab, wer sie gemacht hat. Die Wer-Frage ist also doppelbödig. Soweit sie sich als Bestandteil der Mitteilung auf irgendwelche Akteure bezieht, gehört ihre Beantwortung hierher in den weiteren Rahmen des allgemeinen Kommunikationskontextes; soweit sie sich aber auf eine Auskunft über die Herkunft der Mitteilung bezieht, ist sie essentieller Kern dieses Kommunikationskontextes im engeren und speziellen Sinn, der in der dritten Dimension der Mitteilungs-Adäquanz gesondert behandelt wird. Fehlende oder falsche Kommunikationskontexte in der journalistischen Berichterstattung werden von fast allen Praktikern als Verstöße gegen Handwerksregeln betrachtet, auch wenn ihre Argumente zu Sinn und Zweck einer ausreichenden Kontextierung im einzelnen recht divergierend sind. Stellt man sich auf die Seite des Rezipienten und akzeptiert sein Recht auf umfassende Information und gesellschaftliche Orientierungs-Chancen, so gewinnen die Kontextierungs-Regeln an Verbindlichkeit: Medieninhalte sind für den Rezipienten immer Informationen aus zweiter, dritter oder n-ter Hand. Eine zureichende Beurteilung dieser Informationen wird für den Rezipienten unter diesen Umständen nur möglich, wenn ihm alle wichtigen Bezugsangaben zur Situation des Kommunikationsvorganges mitgeliefert werden. Das Problem der Mitteilungs-Adäquanz stellt sich damit also weit im Vorfeld der Frage nach einer inhaltlich-sachlich adäquaten Darstellung der Einzelmitteilung in der Berichterstattung. Der Vermittlungskontext Noch ins Vorfeld gehört auch die zweite Dimension der Mitteilungs-Adäquanz mit ihrer Frage nach dem Vermittlungskontext, nach den notwendigen Angaben zu den Informations- und

mitteilungs-adäquanz

– 163 –

Vermittlungs-›Quellen‹ der Berichterstattung.21 Die verschiedenen Ausführungen zu den entsprechenden Handwerksregeln ergeben dazu auf den ersten Blick keine ganz klare Sachlage. Von der Notwendigkeit von Quellenangaben wird fast immer gesprochen. Wann sie notwendig sind, scheint umstritten. Zahlreich vorgeführte Negativ-Beispiele für unzulässig fehlende Quellenangaben ließen sich möglicherweise auf einen gemeinsamen Nenner bringen.22 Fehlende Quellenangaben werden in der Regel dann bemängelt, wenn Zweifel an der Richtigkeit des vermittelten Sachverhalts aufkommen, oder wenn die vermittelten Mitteilungen subjektiv wertende Aussagen enthalten. Im hausinternen ›Stylebook‹ der Nachrichtenagentur Reuters heißt es dazu sinngemäß: Anonyme ›Quellen‹ können lediglich für reine FaktenAngaben, niemals aber bei der Wiedergabe von Wertungen und Meinungen akzeptiert werden. Aus der Sicht des Rezipienten hat diese Forderung, auch über die spezielle Situation einer Nachrichtenagentur hinaus, ihre Berechtigung. Daher verwundert es nicht, wenn die Autoren des ARD-Arbeitsheftes ›Radio-Nachrichten‹ an einer ganzen Anzahl von Fällen exemplifizieren, wann bei einer soliden Nachrichtengebung Quellenangaben unverzichtbar sein sollten.23 Auch hier kristallisieren sich folgende Bedingungen heraus: Quellenangaben sind erforderlich, wenn berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Meldung bestehen, wenn einseitige Tendenzen und Interessen verdeutlicht werden müssen, oder auch dann, wenn die Quelle selbst einen Nachrichtenwert hat.

21

Siehe dazu insbesondere die in der Fußnote 19 aufgeführten Bücher von Michael Haller, Wolf Schneider und Walther von LaRoche.

22

Viele, recht anschauliche Negativ-Beispiele von fehlenden Quellenangaben hat Wolf Schneider (Unsere tägliche Desinformation, Hamburg 1984) zusammengetragen.

23

Vgl. dazu Fest u. a., Radio-Nachrichten, (Fn 19), Stuttgart 1983, S. 38.

– 164 –

detlef schröter

Die zitierten und viele weitere Passagen zur Quellenfrage in der Praktikerliteratur leiden, sieht man näher zu, an einem nicht unerheblichen Mangel. Er besteht in einem unklaren und im allgemeinen ungeklärten ›Quellen‹-Begriff. So hilfreich im journalistischen Alltag die entsprechenden Regeln auch sein mögen, ihre divergierende Fassung und ihre unterschiedliche Reichweite haben in diesem Mangel wohl ihren Grund. Teilweise werden unter ›Quellen‹ nämlich die ›Ursprünge der Mitteilung‹ oder die ›Primärquellen‹ (in unserem Sinne also die jeweiligen Ausgangspartnerschaften) gefasst, teilweise aber auch die verschiedenen Vermittlungsstationen oder ›Vermittlerhände‹, durch die eine vermittelte Mitteilung in Gestalt einer Meldung oder einer Nachricht gelaufen ist, bis sie schließlich beim Rezipienten ankommt. Und auch dies ist, wie aus allem Gesagten, insbesondere aus der grundsätzlichen Unterscheidung von Mitteilung und Vermittlung sich ergibt, zweierlei. Wo die Forderung nach Quellenangaben in der Praktikerliteratur eine Kennzeichnungspflicht für den ›Ursprung der Mitteilung‹ statuiert, ist diese ebenfalls der dritten Dimension der Mitteilungs-Adäquanz zuzurechnen. Hier aber, im Vorfeld der zweiten Dimension, geht es ausschließlich um die Kennzeichnung der Vermittlungsstationen oder der Vermittlungsketten, der ›Vermittlerhände‹, durch die eine Nachricht geht; gelegentlich auch um Angaben zu den Vermittlungsbedingungen und Vermittlungsbemühungen, unter denen eine Mitteilung gewonnen, oder trotz solcher Bemühungen eine andere verweigert wurde. Alle Quellenangaben im letzteren Sinn fassen wir unter dem Begriff des »Vermittlungskontextes« zusammen. Wie jeder Journalist aus Erfahrung weiß, ist dieser »Vermittlungskontext« keineswegs zu vernachlässigen. Es macht einen Unterschied, ob eine Meldung von TASS, von dpa, von AFP oder einer anderen Agentur oder von mehreren zugleich kommt. Es ist

mitteilungs-adäquanz

– 165 –

keineswegs gleichgültig, ob ein Journalist die zu vermittelnde Mitteilung durch eigene Recherche, gewissermaßen durch Autopsie erhoben hat, oder ob sie aus ihm zugelieferten Sekundärmaterialien, aus Agenturdiensten, Nachrichtendiensten, Korrespondenzen usw. entnommen wurde. Es könnte allerdings sein, dass der journalistische Praktiker sich fragt, ob dies alles für den Rezipienten wichtig ist, zumal ja bei diesem ein breites Wissen über Vermittlungswege und Vermittlungsbedingungen im allgemeinen kaum vorausgesetzt werden kann. Das mag richtig sein; nur darf die Tatsache, dass der Exaktheitsgrad des fraglichen Vermittlungswissens bei Journalisten und Rezipienten ein anderer ist, nicht zu dem Fehlschluss verleiten, das Wissen um die Vermittlungskontexte sei daher für den Rezipienten generell ohne Belang. Man weiß immerhin (teils auch aus empirischen Studien), dass Ansehen, Beliebtheit und Glaubwürdigkeit einer VermittlungsQuelle für das Informationsverhalten des Rezipienten zumindest mitentscheidend für den Umgang mit Nachrichten oder gar für deren Handlungsrelevanz ist. Der Wert und die Glaubwürdigkeit einer vermittelten Mitteilung wird gewissermaßen durch den Wert, den man der Vermittlungsquelle zuschreibt, gebrochen. So mag dem Rezipienten ein grobes Orientierungsraster in diesem Bereich genügen, aber vorhanden sein muss es in Gestalt wenigstens minimaler Kenntlichmachung von Vermittlungsquellen: Stammt das Vermittlungsprodukt aus der Redaktion des eigenen Blattes (des eingeschalteten Programms usw.)? Welcher Journalist (den man vielleicht kennt, gern liest oder hört, bzw. umgekehrt gar nicht mag) ist dafür verantwortlich? Ging die vermittelte Mitteilung durch viele Hände und Stationen? Durch welche gegebenenfalls? Dies wären immerhin Anhaltspunkte. Sie geben dem Rezipienten die Möglichkeit, unter Umständen (und wo er es für nötig hält) selbst eine Art ›Quellenprüfung‹ und ›Quellenbewertung‹

– 166 –

detlef schröter

zunehmen, deren Ergebnis nicht ohne Einfluss darauf bleibt, für wie vertrauenswürdig, glaubhaft und zuverlässig er eine Meldung oder einen Bericht oder irgendeine Information hält. Auf diese Weise schlagen auch diese Kennzeichnungen auf die Abschätzung der Mitteilungs-Adäquanz durch. Die Identität der Ausgangspartner Zentrale Bedeutung für die Mitteilungs-Adäquanz beansprucht nun allerdings die dritte Dimension, nämlich die Offenlegung der Mitteilungs-Herkunft. Auf sie sind wir schon sowohl bei der elementaren Wer-Frage wie bei der Quellen-Frage gestoßen; und die journalistischen Hand- und Regelbücher behandeln sie genau unter den genannten Stichworten meist zentral, gelegentlich auch marginal. Hervorgehoben werden dort die entsprechenden Transparenz-Forderungen dann, wenn eine auf reine Fakten- und Tatsachenvermittlung reduzierte Darstellung nicht mehr möglich oder nicht mehr sinnvoll erscheint, wenn also verschiedene Interpretationen und Meinungen zu einem Sachverhalt, oder wenn womöglich ganz unterschiedliche Versionen einer Sachlage zur Debatte gestellt werden müssen, wenn unglaubwürdige Aussagen einzelner Politiker oder Honoratioren dem Journalisten das Leben schwer machen... Michael Haller macht die Qualität einer journalistischen Recherche u.a. explizit davon abhängig, inwieweit die Angaben zu den »Informationsquellen« in die Berichterstattung eingearbeitet worden sind.24 Zeitungswissenschaftlich geht es bei alledem um die akribisch korrekte und umfassende Vermittlung aller verfügbaren und ermittelbaren Angaben über die Ausgangspartner, von denen eine Mitteilung stammt. Diese Angaben betreffen zunächst einmal die 24

Vgl. Haller, Recherchieren, (Fn 19) und Schneider, Desinformation, (Fn 19).

mitteilungs-adäquanz

– 167 –

Identität der Ausgangspartner bzw. – da solche Ausgangspartner auch Gruppen, Organisationen oder Institutionen als ganze sein können und dann auch häufig entsprechend pauschal zitiert sind (»Die Bundesregierung erklärt . . .«) – die Identität der Ausgangspartnerschaften. In der Regel ist dies durch korrekte NamensNennung erledigt. Aber schon hier tauchen Sonderfälle und Sonderprobleme auf. Bei scheinbar reinen Tatsachenfeststellungen glauben Journalisten nicht selten, auf eine namentliche Kennzeichnung der Mitteilungs-Herkunft verzichten zu können. Gewiss ist es richtig, dass es zahllose ›einfache‹ Tatsachenfeststellungen gibt, die potentiell jedermann in der gleichen Lage auf gleiche Weise treffen könnte. Doch so simpel und unverfänglich ist dieser Tatbestand einer Tatsachenfeststellung keineswegs. Grundsätzlich nämlich erfolgen auch Tatsachenfeststellungen immer vom Standpunkt eines Beobachters aus, sind also perspektivisch. Der Beobachter kann mithin logischerweise nur feststellen, was er von seinem ›Standpunkt‹ – im wörtlichen und übertragenen Sinne – aus sieht oder überhaupt für bemerkenswert hält. ›Reine‹ Tatsachenfeststellungen, die nicht gebrochen sind durch Standpunkte, durch Relevanzkriterien, durch Überzeugungen und Interessenlagen, sind vermutlich jedenfalls nicht so häufig, wie die Vermittlung solcher Tatsachenfeststellungen ohne Angabe einer Herkunft in den Medien dies glauben machen möchte. Da sind sodann jene Fälle, in denen ein Ausgangspartner seine Identität nicht preisgeben möchte; der Journalist sieht sich gezwungen, seine Quelle zu schützen; er anonymisiert die Mitteilung in der Vermittlung. So verständlich dies Verfahren sein mag, die Folge ist ebenso unbestreitbar eine Beeinträchtigung des Wertes der Mitteilung und die Verweigerung einer OrientierungsChance für den Rezipienten. Schließlich sind Fälle nicht selten, in denen aus den soeben genannten Gründen dem

– 168 –

detlef schröter

den Journalisten selbst die tatsächlichen Primärquellen, also die wirklichen Ausgangspartner nicht oder nicht genau bekannt sind, weil die Streichung der Identitäts-Merkmale oder die Anonymisierung der Ausgangspartner schon in vorausliegenden Vermittlungsstationen (z. B. von einer Nachrichtenagentur) vorgenommen wurde. Nicht zuletzt in diesen Fällen muss dann tatsächlich die Transparenz des Vermittlungskontextes mageren Ersatz für fehlende Ursprungs-Etiketten bieten. Erst auf der Basis der gewährleisteten Identifikation der Ausgangspartnerschaften können alle weiteren notwendigen Kennzeichnungen aufbauen. Dabei handelt es sich um sogenannte Repräsentanz-Merkmale, das heißt um Angaben zu Funktion und Zugehörigkeit von Ausgangspartnern zu (Interessen-)Gruppen. Diese betreffen im wesentlichen ihre Kompetenz (aus der auf die Relevanz ihrer Aussagen geschlossen werden kann), ihre Rollen und Funktionen, ihre Legitimation, für andere zu sprechen; alle diese Kennzeichnungen sagen etwas aus darüber, mit welcher Verbindlichkeit eine Aussage gemacht wird, welchen Gruppen, Parteien oder ›Lagern‹ sie zuzurechnen ist, kurzum: Aus diesen Angaben ist mit größerer oder geringerer Sicherheit die Interessenlage zu erschließen, von der her eine Mitteilung erfolgt ist und verständlich wird. Die Kenntnis der Interessenlage erlaubt es aber erst, den sachlichen Gehalt einer Mitteilung abzuschätzen, Schlussfolgerungen über die Perspektive zu ziehen, aus der eine Sache oder ein Ereignis bemerkt und sodann geschildert wurde. Sämtliche Angaben zur Herkunft von Mitteilungen sind für den Rezipienten daher im buchstäblichen Sinne soziales Orientierungswissen; ohne derartige »Information über die Information« (H. Wagner) können die Sachgehalte einer Mitteilung, mögen sie ansonsten noch so genau und präzise wiedergegeben sein, im höchsten Grade irreführend werden, realitätsverf älschend wirken und zu vollendeter Desinformation beitragen.

mitteilungs-adäquanz

– 169 –

Die Adäquanz von Mitteilung und Vermittlung Letztendlich ist also die Frage, wer über eine Sache oder ein Ereignis etwas mitteilt, nicht abzulösen davon, was er davon oder darüber mitteilt. Nach diesem ›Was‹ wird in der vierten Dimension Ausschau gehalten, auf eine besondere Weise allerdings, weil es hier ausschließlich um die inhaltlich-sachliche Entsprechung von ursprünglicher Mitteilung und vermittelter Mitteilung geht, um Mitteilungs-Adäquanz im engeren Sinne. So formuliert, erstreckt sich die Dimension auf die Vermittlung einer Einzel-Mitteilung; ausgedehnt auf die Vermittlung eines ganzen Spektrums von Wissens- und Meinungsmitteilungen zu einem Sachverhalt, betrifft sie konsequenterweise dessen zureichend adäquate Darstellung von allen Seiten und unter allen relevanten Aspekten. Beide Erstreckungen sind in der Praxisliteratur wieder vermischt. Wolf Schneider etwa bemängelt, Einzelaspekte würden durch die Berichterstattung aus ihrem realitätsbezogenen Kontext gerissen und in falsche Zusammenhänge eingereiht, Einzelmitteilungen würden sinnentstellt und unverständlich verkürzt wiedergegeben, Zitate würden grob fahrlässig verändert.25 Solche Exempel aus der Praxis ließen sich natürlich zusammenfassen unter dem Stichwort ›einseitige Selektion‹ von Fakten und Meinungen als Folge eines unsachlich subjektiven oder wenig sachkundigen, wenig professionellen Journalismus. Nach den Praxishandbüchern bezieht sich die Einzelnachricht zwangsläufig stets auf Teilaspekte, auf aktuelle Teilbilder einer Sache. Erst die Summe vieler Einzelnachrichten zu einem Thema kann demnach die Vielseitigkeit eines Ereignisses und die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens offenkundig machen. Positiv wird daher auch für größere, Überblick gewährende Darstellungsformen u. a. die lineare Abfolge der Schilderung sowie eine logische Verknüpfung der vermittelten 25

Schneider, Desinformation, (Fn 19), S. 35.

– 170 –

detlef schröter

Einzelmitteilungen gefordert. Umgekehrt wird die Gefahr gesehen, dass gerade in solchen Darstellungsformen suggestive Möglichkeiten liegen, wenn für die Auswahl, für die Darstellung oder die Montage der Einzelmitteilungen subjektive Erwartungen, Vorstellungen und Interpretationsrahmen des Journalisten leitend werden.26 Ob nun mehr auf die Vermittlung der Einzelmitteilungen oder auf die Vermittlung ihrer Summe abgehoben wird, stets provozieren die zur Konstruktion eines Mitteilungskonzentrats erforderlichen Vermittlungseingriffe das Problem der inhaltlich-sachlichen Mitteilungs-Adäquanz. Obwohl das Problem bewusst ist, scheint es offenbar schwer rationalisierbar und noch schwerer operationalisierbar zu sein. Konkrete Handwerksregeln dafür jedenfalls, was nun der ›Sinnkern‹ einer Mitteilung sei, wie man ihn entdecken könne, wie man zu verfahren habe, um ihn adäquat zu vermitteln, finden sich nirgends. Genau an solchen Stellen verweisen Praktiker, sofern sie sich nicht ausschweigen, auf das ›learning by doing‹, auf ›Routine‹, auf das berühmte ›Fingerspitzengefühl‹ oder auf den noch berühmteren ›Riecher‹. Anscheinend entwickelt der gute Journalist ein intuitives Gefühl dafür, welche Teile einer ihm vorliegenden oder von ihm erhobenen Mitteilung von zentraler Bedeutung und daher vermittlungswürdig sind. Die Erfahrung von Journalismus-Studenten bei ihren ersten Praxiseinsätzen bestätigt dies: Nach einiger Zeit des Mitarbeitens in der täglichen Berichterstattung erwerben sie – auch auf dem Weg einer ständigen Korrektur durch ›alte Hasen‹ – fast unmerklich die Fähigkeit, unbeanstandet Meldungen aus Mitteilungs-Vorgaben zu destillieren – ohne präzise sagen und rationalisieren zu können, was dabei eigentlich vor sich geht. 26

Vgl. dazu etwa Meyer, Journalismus (Fn 19), Kapitel 5: Meinung in der Nachricht. Wenn Information zur Suggestion wird ..., S. 15.

mitteilungs-adäquanz

– 171 –

Doch an diesem Punkt sind die Wissenschaftler bis heute in keiner besseren Lage. Obwohl eine umfangreiche Palette von Selektionskriterien oder von »Nachrichtenwerten« empirisch dingfest gemacht wurde, ist damit die Frage nach der Mitteilungs-Adäquanz unter dem variierenden Konzentrationszwang der Vermittlung kaum berührt.27 Erklärbar ist dies nicht zuletzt, weil sich die Frage nach der Mitteilungs-Adäquanz – wie oben gezeigt – unter den Prämissen der üblichen Massenkommunikationstheorien ganz einfach gar nicht stellen lässt. Unter zeitungswissenschaftlicher Perspektive sind fürs erste immerhin zwei Verfahren denkbar, die wenigstens eine empirische Annäherung an das Problem erlauben. Das journalistische Vermittlungskonzentrat kann (in vielen Fällen jedenfalls) mit der objektiv bestehenden Mitteilungs-Vorgabe verglichen werden. Oder aber: Der Ausgangspartner, der authentisch darüber Auskunft geben kann, was er gesagt hat oder zumindest sagen wollte, kann befragt werden, ob er seine eigene Aussage im Vermittlungskonzentrat wiedererkennt, ob er, was er laut Vermittlung gesagt haben soll, auch tatsächlich geäußert hat. Ganz offensichtlich wird in der Kritik an der Praxis durch die Praxis klar gesehen, dass das, was wir mit Mitteilungs-Adäquanz bezeichnen, in Gefahr ist, sobald subjektiv-unsachgemäßer Einfluss des Vermittlers sich in der Berichterstattung breit macht.

27

Einen Überblick über die Nachrichtenwertforschung bietet Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung, Freiburg/München 1976, S. 11 et passim. Vgl. dazu auch Manfred Steffens: Das Geschäft mit der Nachricht, München, 1971; ferner Johan Galtung / Mari H. Ruge: The Structure of Foreign News. In: Journal of Peace Research, vol. 2/1965, S. 64-91. Auch und zusammenfassend: Joachim Friedrich Staab: Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg/München 1990.

– 172 –

detlef schröter

Mitteilungen ›Dritter‹ und Vermittler-Wertung Mit diesem Sachverhalt haben wir es nun in der fünften und letzten Dimension zu tun, bei der es um die rigorose Trennung von vermittelten Mitteilungen ›Dritter‹ (d. h. »Fremdvermittlung«) und subjektiver Wertung durch den Vermittler selbst (d. h. »Eigenvermittlung«) geht. Man sollte sich zunächst zur Ernüchterung vor Augen halten, dass alle derartigen Trennregeln, ob sie nun eng oder weit gefasst sind, nichts anderes fixieren als einen Spezialfall der Forderung, in jedem Fall dem Rezipienten die Herkunft einer Partner-Mitteilung und damit deren Interessenlage uneingeschränkt kenntlich zu machen. Redet und wertet der Journalist selbst, gilt für ihn nichts anderes. Dennoch ist die explizite Formulierung solcher Trennregeln wohl deshalb erforderlich, weil nur er, der Journalist, einen unmittelbaren Zugang zum Medium hat, der ihn scheinbar zu einem privilegierten ›Kommunikator‹ macht, wie es eben die reduktionistischen Massenkommunikationsmodelle suggerieren; demgegenüber können alle übrigen Ausgangspartner ihren Zugang nur und ausschließlich über den Journalisten gewinnen. Der unmittelbare Zugang zum Medium, verbunden mit Selbstverständnissen, in denen sich der Journalist wenn nicht als einzig berufenen, so doch als privilegierten, öffentlichen Vor-, Mit- und Einsprecher sieht, stellt eine berufsbedingte Versuchung dar, der nur mit Berufsregeln begegnet werden kann. Sehr allgemein ist die geforderte Trennung in der Norm festgeschrieben, dass Kommentar und Nachricht zu scheiden seien. Die Norm ist nicht unumstritten; jedoch hält ein großer Teil der Praxisliteratur daran fest. Nun sind allerdings wertende Einflüsse und Eigenbeteiligungen des vermittelnden Journalisten keineswegs auf förmliche Kommentare beschränkt. Es gibt Darstellungsformen, für die eine Mischung von Fremdvermittlung und

mitteilungs-adäquanz

– 173 –

vermittlung geradezu konstitutiv erscheint. Die (subjektive) Reportage (deutscher bzw. mitteleuropäischer Provenienz) etwa oder das Feature gehören dazu. Stellvertretend für viele andere sei hier Werner Meyer angeführt, der für diese Formen Subjektivität und Wertung durch den Journalisten »manchmal und in Grenzen« zulässt und für wünschenswert hält.28 Dabei soll das persönliche Urteil des Journalisten jedoch nicht für die gesamte Berichterstattung bestimmend werden, der Bericht nicht seiner Wertung untergeordnet sein. Insgesamt geht es immer wieder um die Frage, wie und in welchem Umfang Journalistenwertungen gerechtfertigt sind. Eigene Wertungen des Journalisten sollen auch nicht undurchsichtig, versteckt oder als Nachricht getarnt eingebracht werden. Sie sollen nicht ausufern zu wilden Spekulationen, die dann die gesamte Berichterstattung überlagern könnten. Mit solchen Vorstellungen kommt die Praxisliteratur – gelegentlich mit einigem Zögern, aber immerhin – in die Nähe der Überzeugung, dass wertende, selbstvermittelnde Anteile des Journalisten mehr oder weniger eine ›Zugabe‹ zu einer ansonsten umfangreichen und vielseitigen Vermittlung gesellschaftlichen Redens und Meinens sein müssten. Jedenfalls behält die Meinung des Journalisten ihren legitimen Anspruch auf Darstellung nur dann, wenn sie als eine unter vielen möglichen Interpretationen der Gesellschaft und der Welt kenntlich gemacht wird. Zusammenfassend lässt sich folgende plausible Annahme formulieren: Wenn der Journalist seine persönlichen Kommunikationsinteressen gezielt zugunsten seiner Vermittlungsaufgaben zurückstellt, wenn er also seine Vermittlerrolle bewusst und eben professionell wahrnimmt, wird er die verschiedenen Dimensionen der Mitteilungs-Adäquanz stärker und sorgfältiger beachten und bemüht sein, entsprechenden Anforderungen nachzukommen. 28

Meyer, Journalismus, (Fn 19), Kapitel 6, S. 7.

– 174 –

detlef schröter

Wenn der Journalist, aus welchen Motiven auch immer, seine eigenen Kommunikationsinteressen (oder die von ihm persönlich favorisierten fremden Kommunikationsinteressen) in den Vordergrund stellt, wird er die alltäglichen, routinemäßigen Problemlösungen im Zusammenhang der Mitteilungs-Adäquanz als nebensächlich und unwichtig eher vernachlässigen. Damit werden die in den verschiedenen Dimensionen zur Mitteilungs-Adäquanz entwickelten Kriterien zu aussagekräftigen Indikatoren für die Qualität der Berichterstattung.

objektivität im journalismus

– 175 –

Das Fachstichwort:

Objektivität im Journalismus von Hans Wagner

– 176 –

das fachstichwort

Es sei gar nicht so einfach, »über etwas schreiben zu müssen, das es nicht gibt«.1 So beginnt ein gestandener Fernsehmacher seinen Erfahrungsbericht über Objektivität im Journalismus. Über etwas, was – seinen Worten nach – »unmöglich« sei. Über einen »sinnlosen Anspruch«. Immerhin füllt er dann sieben Druckseiten über und gegen dieses Nichts. Das war Anfang der 80er Jahre. In dieser Zeit und auch in einem guten Jahrzehnt davor wurde über Objektivität im Journalismus viel geschrieben und noch mehr diskutiert. Dafür gab es Gründe. Nicht zuletzt den immer wieder ideologisch geschürten Generalverdacht der Manipulation durch ein kapitalistisch gesteuertes Mediensystem, das sich unter der Tarnkappe der Objektivität unsichtbar zu machen suchte. Oder auf der anderen Seite die Einforderung der Objektivität in Hörfunk und Fernsehen durch konservative Kreise, so dass betroffene Publizisten ›Objektivität‹ als einen »Kampfbegriff«2 oder als eine gegen sie gerichtete »bevorzugte Fernlenkwaffe«3 empfanden – ob als Ertappte oder als verfolgte Unschuld kann hier dahingestellt bleiben. Die letzteren Scharmützel erklären im übrigen auch, warum die Aversion gegen ›Objektivität‹ besonders häufig und besonders heftig in den publizistischen Stäben der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten anzutreffen war und ist, obwohl gerade dort die Verpflichtung zur Objektivität, weil in den meisten Rundfunkgesetzen verbindlich vorgegeben, gewissermaßen Bestandteil der Arbeitsverträge ist oder doch sein sollte. 1

Gordian Troeller: Objektivität: Ein sinnloser Anspruch. In: Günter Bentele / Robert Ruoff (Hrsg.): Wie objektiv sind unsere Medien? Frankfurt/M 1982, (S. 193-199), S. 193.

2

Gert Heidenreich: ›Objektiv‹ ist, wer die Macht hat. Subjektive Anmerkungen zu einem Kampfbegriff. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 248-256), S. 248.

3

Johann-Henrich Wichmann: Über die Schwierigkeiten der Wirklichkeitstreue. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 269-275), S. 269.

objektivität im journalismus

– 177 –

Inzwischen hat es den Anschein, als sei womöglich eingetroffen, was damals Franz Alt, selbst stets Überzeugungstäter, herbeisehnte. Mit dem Bulletin, »die Objektivität liegt in den letzten Zügen«, sei, so kolportiert er, ein Manuskript zu diesem Thema bei ihm angemahnt worden. Und er fährt fort: »Ich hoffe inständig nicht nur, dass der hier zitierte Satz ganz wörtlich stimmt, ich wünsche auch, dass die ›Objektivität‹ vollends hinübergeht. Wir hätten eine Schimäre los.«4 Von ›Objektivität‹ jedenfalls ist gegenwärtig in wissenschaftlichen ebenso wie in berufspraktischen Büchern nur mehr selten die Rede. Das neue Mode-Stichwort heißt ›journalistische Qualität‹. Von ›Akzeptanz‹ beim Publikum bis zur ›Vielfalt der Formate‹, von ›Akkuratesse‹ über ›Fairness‹ bis zur ›Verständlichkeit‹ wird es in vielen Varianten dekliniert – vieldeutig meist, oft kaum Konkretes sagend, fast immer mit Streicheleinheiten für den Status quo im Journalismus. Nicht wenigen Abhandlungen über journalistische Qualität ist ›Objektivität‹ ganz abhanden gekommen. Und in dicken Büchern über Journalismus ist alles, was mit Objektivität zu tun haben könnte, ausgedünnt oder unbekannt versickert. 1. Die Objektivitätsszenarien Dass derzeit über Objektivität kaum noch ein Wort verloren wird, könnte zwei Vermutungen provozieren, die indessen beide kein Fundament in der publizistischen Wirklichkeit haben. Objektivität im Journalismus ist ›out‹, wäre die eine; die andere: Objektivität im Journalismus ist als Handlungsnorm derart gefestigt, dass ihre Beachtung als Selbstverständlichkeit gilt, über die nicht mehr

4

Franz Alt: Es gibt keine Objektivität oder: Nur Gott ist objektiv. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 205-210), S. 205.

– 178 –

das fachstichwort

geredet werden braucht. In beiden Fällen wäre der vorliegende Band unzeitig, könnten die drei hier veröffentlichten Stücke allenfalls museales Interesse beanspruchen. Tatsächlich aber sind sie, obwohl vor Jahren und Jahrzehnten schon niedergeschrieben, immer noch von ganz erheblicher Brisanz. Die drei Beiträge von Ulrich Saxer, Philomen Schönhagen und Detlef Schröter sind bewusst mit der Titelklammer »Objektivität im Journalismus« zusammengehalten. Denn es geht hier nicht um irgendeinen beliebigen Objektivitätsbegriff, schon gar nicht um einen wissenschaftlichen im allgemeinen oder um einen philosophisch-erkenntnistheoretischen im besonderen. Zur Debatte steht ausschließlich die Frage, was im journalistischen Arbeitsalltag Objektivität ist und was sie nicht ist oder nicht sein kann, welche handwerklichen Anforderungen gestellt sind, wenn Objektivität in der journalistischen Berichterstattung konkret umgesetzt werden soll. Damit werfen diese Beiträge unnötigen Diskussionsballlast ab, der seit Jahrzehnten die Auseinandersetzungen um Objektivität hierzulande beschwert. Denn für alle drei Autoren ist Objektivität im Journalismus ein Problem der journalistischer Praxis, das eben deshalb auch praktisch gelöst werden muss. Die Entstehungszeit der hier versammelten drei Beiträge liegt relativ weit auseinander. Die Anlässe der Ausarbeitungen sind recht verschieden. Und es kommt hinzu, dass nicht nur die jeweiligen Fragestellungen, sondern auch die wissenschaftlichen Ansätze zu ihrer Beantwortung deutliche Unterschiede aufweisen. Entsprechend differieren die Formulierungen und teilweise auch die zentralen Begrifflichkeiten. Gleichwohl kommen die drei Autoren – von einigen relativierenden Einschränkungen einmal abgesehen – übereinstimmend zu dem positiven Ergebnis, dass Objektivität im Journalismus sowohl wünschenswert wie auch – zumindest grundsätzlich – möglich ist.

objektivität im journalismus

– 179 –

Objektivität: Positionen und Typen Der älteste Beitrag, dessen Manuskript 1973 abgeschlossen wurde, stammt von Ulrich Saxer; er ist ein Jahr später in dem von Wolfgang Langenbucher herausgegebenen Sammelband »Zur Theorie der politischen Kommunikation« erschienen.5 Politische Kommunikation ist damals von verschiedenen Sozialwissenschaften als ein lohnender Forschungsgegenstand gerade erst ›entdeckt‹ worden. Und dieser Kontext erklärt, warum Saxer in seiner Studie einen so starken Akzent auf die »politisch relevanten Dimensionen« der Objektivität sowie auf die Funktion dieser Norm für die Sicherung einer demokratischen Information legt. Auch wenn Saxer, marginal zwar, aber immerhin auch festhält, dass Objektivität nicht unbedingt ein demokratiespezifisches Prinzip der Publizistik ist (27 f),6 so hält er doch dafür, dass publizistische Objektivität als Maßgabe der Berichterstattung eine »demokratische Informationsgarantie« ist, die dem Rezipienten und Bürger »selbständige (...) Verhaltensentscheidungen« ermöglicht und damit die Voraussetzung für eine »optimale Teilnahme und Teilhabe am politischen Prozess« zu schaffen geeignet ist (29 f). Eben deshalb verteidigt Saxer das publizistische Objektivitäts-Postulat im wesentlichen gegen zwei Einwände. Zum einen gegen ein antiquiertes und inadäquates »erkenntnistheoretisches Dementi« (22): Im modernen Verständnis sei (publizistische) Objektivität als »eine konsensuelle Größe auf der Grundlage gemein5

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist 1977 unter dem Titel »Fernsehen und Objektivität« abgedruckt worden in: Dieter Prokop (Hrsg.): Massenkommunikationsforschung. 3: Produktionsanalysen. Frankfurt/Main, (S. 425-452).

6

Zahlen , die ohne weitere Angaben in Klammern direkt in den Text eingefügt sind, verweisen stets auf Fundstellen im vorliegenden Band.

– 180 –

das fachstichwort

samer Wirklichkeits- und Sinnvorstellungen zu interpretieren«, deren Bewährungsinstanz letztlich die Rezipienten seien (23 sowie 26 f). Zum anderen argumentiert er gegen den Vorwurf, Objektivität bedeute in Wirklichkeit Kritiklosigkeit, verfestige den Status quo, sei mithin Ausdruck von Konservatismus; demgegenüber stellt Saxer das »kritische Potential« des Objektivitäts-Postulats heraus (28). (Beide Argumentationslinien werden uns später noch beschäftigen.) Das bedeutet nun allerdings nicht, dass Saxer die praktische Umsetzung der Objektivität ohne Vorbehalte und Abstriche für möglich hält. Zur Frage der Wünschbarkeit und der Möglichkeit von Objektivität im Journalismus nimmt er unter dem Strich eine kritische Position ein. Sein Konzept wäre damit wohl in der von ihm selbst entworfenen Typologie irgendwo zwischen der »kritisch-positiven« und der »ambivalenten« Position anzusiedeln. Diese Typologie (siehe Tabelle) und vor allem die zugehörige wissenssoziologische Verortung der einzelnen Typen reflektiert recht gut den Diskussionsstand der frühen 70er Jahre und bedarf, verfolgt man die Objektivitätsdebatte der dann folgenden Zeit, lediglich unwesentlicher Ergänzungen.7 In diesen Abschnitten, aber auch in den Passagen, in denen Einwände mit Gegenargumenten konfrontiert sind, kann man zwischen den Zeilen immer noch den Debattendonner ahnen, der das Objektivitätsproblem in der damaligen Zeit begleitete. Ulrich 7

Kritisch zu dieser Typologie äußert sich Günter Bentele: Die Positionsgliederung sei, was ihre jeweilige Kriterienbegründung angehe, zu undifferenziert; mögliche Zwischenpositionen fehlten; und schließlich mache ein solcher Überblick nur Sinn, wenn unter ›Objektivität‹ durchgehend dasselbe verstanden werde, was indessen offensichtlich nicht der Fall sei. Siehe Günter Bentele: Objektivität in den Massenmedien. – Versuch einer historischen und systematischen Begriffsklärung. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 111-155), S. 130.

objektivität im journalismus

– 181 –

Typologie zum Problem der ›Objektivität im Journalismus‹ (nach Saxer) Position

Kriterien

hauptsächlich

Wünschbarkeit

Möglichkeit

vertreten von:

vorbehaltlos

vorbehaltlos

vorbehaltlos

positiv

Ja

Ja

vorwissenschaftlich naiver Einstellung

kritisch

kritisches

kritisches

positiv

Ja

Ja

grundsätzlich

bestritten /

Ja

bezweifelt

entschieden

entschieden

entschieden

ablehnend

Nein

Nein

ambivalent

Politologen, Juristen; in der Praxis: von ›Mediatoren‹ Publizistikwissenschaftlern; in der Praxis: von ›Kommunikatoren‹ Vertretern ›kritischer‹ (marxistischer bzw. totalitärer) Theorien

Saxer hat sich damals nämlich intensiv und mehrfach aktiv in diese Debatten eingeschaltet.8 So ist der vorliegende Beitrag gewissermaßen auch eine Resümee, in dem Positionen und Gegenpositionen deutlich markiert sind. Nicht zuletzt deshalb wurde und wird diese Studie viel beachtet und gehört zu den häufig zitierten, wenn es um Objektivität geht. Nun gibt es zur Objektivität im Journalismus aber keine Stellungnahme, ohne dass im Hintergrund eine mehr oder weniger klare Vorstellung von der Funktion des Journalismus in der und für die Gesellschaft dafür leitend wäre. Und natürlich ist eine solche Vorstellung von Journalismus unlösbar verbunden mit einer 8

So gab Saxer einen heute nur mehr schwer zugänglichen Sammel- und Debattenband zu diesem Thema heraus. Siehe Ulrich Saxer: Fernsehen: Stichwort Objektivität. Bd. I der Schriftenreihe der Pressestelle des Fernsehens der deutschen und rätoromanischen Schweiz. o.O. 1973. Für diesen Band leistete er selbst zwei Beiträge: Zum Stichwort ›Objektivität‹, S. 7-17, und: Fernsehen und Objektivität, S. 120-134.

– 182 –

das fachstichwort

Theorie der Massenkommunikation.9 Ulrich Saxer deutet diese Hintergründe in seinem Beitrag nur gelegentlich und vage an. Immerhin streut er eine ganze Serie von Hinweisen darauf ein, dass er den Journalisten nicht primär in der Rolle eines ›Mediators‹, sondern vorzugsweise in der Rolle eines ›Kommunikators‹ sieht. Das heißt: Für Saxer ist der Journalist derjenige, der in der Massenkommunikation das Sagen hat, der in den Medien die Meinungen, nicht zuletzt die kritischen Meinungen artikuliert, also die öffentliche Meinungsführung übernimmt und so auch eine genuine Kritikfunktion ausübt. Der Journalist avanciert zum Meinungsgeber für den Bürger, der hier als Rezipient auftritt, und er wird sozusagen durch das Medium hindurch dessen Gesprächspartner. Diese Journalismusvorstellung entspricht notwendig einem Theoriekonzept, das in der Massenkommunikation – von begrenzten Feedbackmöglichkeiten abgesehen – einen einseitigen Anspracheprozess vom Kommunikator zum Rezipienten annimmt.10 In seiner Grundstruktur ist ein solches Konzept identisch mit dem klassischen Publizistikmodell. Allerdings bleibt in dem Beitrag das zugrundeliegende Massenkommunikationsmodell durchweg implizit. Zudem verbirgt es sich samt seinen Konsequenzen hinter Formen und Formeln, die schon erkennbar angelehnt sind an die in der Entstehungszeit des Beitrags gerade aufkommende Systemtheorie Luhmannscher Prägung. Das gilt nicht zuletzt für die 9

Vgl. Detlef Schröter: Qualität im Journalismus. Testfall: Unternehmensberichterstattung in Printmedien. München 1992, S. 14.

10

Vgl. dazu Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg 1963. Ferner auch: Hans Wagner: Das Fachstichwort: Massenkommunikation. In: Otto Groth: Vermittelte Mitteilung. Ein journalistisches Modell der Massenkommunikation. (Hrsg. von Wolfgang R. Langenbucher.) München 1998, S. 187-240. (ex libris kommunikation, Bd. 7.)

objektivität im journalismus

– 183 –

beiden Typen von Objektivität, die Saxer namhaft macht und vorstellt, nämlich für eine »reduktive« und eine »additive« Objektivität. (Auf diese Erscheinungsformen der Objektivität wird weiter unten näher einzugehen sein.)

Mitteilungs-Adäquanz: Objektivität wird überprüfbar Was diese theoretischen Hintergründe betrifft, so haben die beiden anderen hier präsentierten Beiträge von Philomen Schönhagen und Detlef Schröter einen völlig andersartigen Zuschnitt. Beide Studien gehen davon aus, dass es sich bei der Massenkommunikation um eine hochrationalisierte Form vermittelter sozialer Kommunikation handelt. Wenn diese Art gesellschaftlicher Kommunikation funktionieren soll, muss der Journalist sich notwendig als ›Mediator‹, als Vermittler dieser Kommunikation begreifen. Die veränderten theoretischen Vorzeichen kehren in der Folge auch die Kriterien für journalistische Objektivität und mit ihnen den Objektivitätsbegriff selbst in eine ganz andere Richtung um. Den Kern journalistischer Objektivität bildet bei Schröter die »Mitteilungs-Adäquanz«. Das bedeutet, etwas pauschal, aber durchaus zutreffend gesagt, dass die in den Medien vermittelten Mitteilungen ihrem Sinn nach den ursprünglichen (Original-)Mitteilungen entsprechen müssen, die dem Journalisten in aller Regel als ›Quellen‹ seiner Berichte, seiner Nachrichtenerzählungen, dienen. Nur wenn diese Entsprechung gelingt, kann sich der Bürger ein (annähernd) zutreffendes Bild von Ereignissen, von gesellschaftlichen Prozessen und Entwicklungen machen und sich auf dieser Grundlage seine Meinungen bilden, informierte Entscheidungen treffen.

– 184 –

das fachstichwort

Dabei zeigt Schröter, dass, warum und wie die Mehrzahl der in den Journalistenlehr- und -handbüchern statuierten Handwerksregeln unerlässliche Instrumente für die Realisierung der Objektivität im Sinne der Mitteilungs-Adäquanz sind. Nachrichten- und Berichtelemente, die mithilfe dieser Handwerksregeln gesichert werden, fasst Schröter daher als Dimensionen der MitteilungsAdäquanz im weiteren Sinne (159) auf, die sich gewissermaßen um den Kern der Entsprechung von Mitteilungen und vermittelten Mitteilungen herum legen. Die grundsätzlichen Überlegungen zu diesem Problemkreis, die in diesem Band dokumentiert werden, sind Teil eines größeren Beitrags, den Detlef Schröter 1988 verfasst hat.11 Tatsächlich aber reicht die Auseinandersetzung mit diesen Fragen bis an den Beginn der 80er Jahre zurück, als die harten öffentlichen Debatten über journalistische Objektivität noch einmal aufbrachen, dann aber allmählich abzuflauen begannen. Statt dessen drängte sich, etwas modisch sicherlich, das neue Stichwort ›journalistische Qualität‹ in den Vordergrund. Schröter war damals Mitglied der Forschungsgruppe ›Via‹ (Vergleichende Inhaltsanalysen) am Münchener Institut für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft). Sie beschäftigte sich mit der inhaltsanalytischen Rekonstruktion der in der Berichterstattung manifestierten gesellschaftlichen Kommunikation sowie mit den dabei aus unabdingbaren Vermittlungseingriffen resultierenden Verschiebungen, Störungen und auch Verzerrungen. In diesem Forschungsumfeld entwickelte Schröter sein Promotionsprojekt. »Den Ausgangspunkt bildetete die Suche nach den Kriterien für ›Objektivität und

11

Detlef Schröter: Mitteilungs-Adäquanz. Studien zum Fundament eines realitätsgerechten journalistischen Handelns. In: Hans Wagner (Hrsg.): Idee und Wirklichkeit des Journalismus.. München 1988, S. 175-216.

objektivität im journalismus

– 185 –

Ausgewogenheit im Journalismus‹«.12 Analysegegenstand seiner Arbeit war die Unternehmensberichterstattung in deutschen Qualitätszeitungen sowie in Nachrichten- und Wirtschaftsmagazinen. Dieser Gegenstand war im Hinblick auf die Fragestellung ganz bewusst gewählt worden. Die Wirtschaftsberichterstattung, im allgemeinen auf harte Fakten verwiesen, müsste besonderen Wert auf »Präzision und Seriosität« legen13 – schon um der Rezipienten willen, die sich nach diesen Berichten richten müssen. So jedenfalls die Annahmen, welche die Wirtschaftsberichterstattung als besonders geeignetes Untersuchungsobjekt zur Überprüfung journalistischer Qualität erscheinen ließen. Die Dissertation wurde 1986 abgeschlossen.14 Sie erschien als Buch allerdings erst 1992.15 Teilergebnisse, aber auch Resümees wurden zwischenzeitlich und später in mehreren Aufsätzen vorgestellt. 16 Man kann ohne Übertreibung festhalten, dass es sich bei dieser Schröterschen Untersuchung um eine Pionierarbeit im deutschsprachigen Raum handelt. Diese Einschätzung hängt sich vornehmlich an das Verfahren, das Schröter zur empirischen Klärung 12

So Schröter im Vorwort zur Buchveröffentlichung seiner Dissertation. Siehe Schröter, Qualität, (Fn 9), S. 13.

13

Schröter, Qualität, (Fn 9), S. 71 f.

14

Detlef Schröter: Die Qualität massemedialer Vermittlungsleistungen. Phil. Diss. München 1986. Manuskriptdruck.

15

Schröter, Qualität, (Fn 9). Unveränderte Neuauflage unter dem Titel: Qualität und Journalismus. Theoretische und praktische Grundlagen journalistischen Handelns. München 1995.

16

Neben dem hier dokumentierten Beitrag siehe auch: Detlef Schröter: Journalistische Objektivität. In: Guido Knopp / Siegfried Quandt (Hrsg.): Geschichte im Fernsehen. Ein Handbuch. Darmstadt 1988, S. 168-174. Ferner: Detlef Schröter: Unnötige Defizite. Zur Qualität der Unternehmensberichte in Printmedien. In: Gero Kalt (Hrsg.): Wirtschaft in den Medien. Defizite, Chancen und Grenzen. Eine kritische Bestandaufnahme. Frankfurt/M 1990, S. 251-262.

– 186 –

das fachstichwort

der Objektivitätsfrage eingeschlagen hat. Wenn nämlich das entscheidende Kernstück journalistischer Objektivität in der Mitteilungs-Adäquanz (im engeren Sinne) fixiert wird, so eröffnen sich tatsächlich neue gangbare Wege, um herauszufinden, ob und gegebenenfalls mit welchen Näherungswerten in der Berichterstattung solche Mitteilungs-Adäquanz erreicht worden ist. Die elegante Lösung besteht darin, die in der Berichterstattung vermittelten Mitteilungen mit den Originalmitteilungen der Primärquellen (›original sources‹) oder Aussageträger zu vergleichen. Dabei kommt es nicht auf eine Entsprechung der äußeren Form, also etwa auf die Übernahme des Originalwortlautes an, sondern auf die Entsprechung des Aussagesinns, genauer: des Sinnkerns einer Mitteilung. Auf diese Weise also wird Objektivität, verstanden als Mitteilungs-Adäquanz, überprüfbar. Schröter hat zu diesem Zweck in Kenntnis der Befunde der Inhaltsanalyse eine Befragung der in den Berichten direkt oder indirekt zitierten Aussageträger durchgeführt, ihnen dabei jeweils auch die Fassung der relevanten vermittelten Mitteilung vorgelegt mit der Bitte, diese – soweit noch verfügbar – mit der Originalaussage zu vergleichen.17 Die mit dieser Methode gewonnenen Erkenntnisse sind für den Qualitätsstatus im Journalismus nicht gerade schmeichelhaft: »Aus keinem einzigen der untersuchten Medien« können die auf Wirtschaftsinformationen angewiesenen oder an ihnen interessierten 17

Diese Befragung wurde 1984/85 für die im ersten Quartal 1984 veröffentlichten einschlägigen Unternehmensberichte durchgeführt. Es handelt sich dabei m.W. um die erste Befragung dieser Art und mit diesem Design. Frühere Primärquellen-Befragungen sind, allerdings mit einer wesentlich einfacheren Untersuchungsanlage, nur aus den USA bekannt. Als Pionierleistung gilt dort eine Pilotstudie von Charnley aus dem Jahr 1936. Siehe Mitchell V. Charnley: Preliminary Notes on a Study of Newspaper Accuracy. In: Journalism Quarterly, 13. Jg. (1936), S. 394-401. Vgl. dazu neuerdings: Colin Porlezza / Stephan Russ-Mohl / Marta Zanichelli: Fehler über Fehler. In: JournalistikJournal, 13. Jg. (2010), Nummer. 2, S. 16-17.

objektivität im journalismus

– 187 –

Bürger »den notwendigen Gesamtüberblick für eine sichere Orientierung gewinnen«,18 resümiert Schröter. Unparteilichkeit: das Ende der Legenden Während nun Schröter journalistische Handwerksregeln und deren praktische Umsetzung zum Ausgangspunkt seiner Konzeption von Objektivität im Journalismus nimmt, geht die Forschungsarbeit von Philomen Schönhagen gewissermaßen den umgekehrten Weg: Sie verfolgt in minutiöser Kleinarbeit die Spuren des Unparteilichkeitsprinzips seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts in verschiedenen Pressetypen. Dabei deckt sie auf, wie Verleger, wie Journalisten und wie die frühen Redakteure recht bald Handwerksregeln entwickeln und festigen, um diesem Unparteilichkeitsprinzip in der Praxis gerecht zu werden. Die Studie von Schönhagen ist die zeitlich jüngste der drei in diesem Band versammelten Beiträge. Es handelt sich um eine historische Forschung, die 1996 in München als Dissertation eingereicht und angenommen wurde.19 Ihre Forschungsergebnisse hat die Autorin zwischenzeitlich ebenfalls teils im Überblick, teils mit speziellen Problemakzenten in mehreren Aufsätzen zur Diskussion gestellt.20 Der Sachlogik nach sind diese historischen 18

Schröter, Defizite, (Fn 16), S. 262.

19

Philomen Schönhagen: Unparteilichkeit. Traditionen einer journalistischen Berufsnorm in der deutschen Pressegeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung der lokalen Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Phil. Diss. München 1996. Als Buch erschienen unter dem Titel: Unparteilichkeit im Journalismus. Tradition einer Qualitätsnorm. Tübingen 1998. (Medien in Forschung + Unterricht Bd. 46.)

20

Philomen Schönhagen: Der Journalist als unbeteiligter Beobachter. In: Publizistik, 44. Jg. (1999), Heft 3, S. 271-287; dies.: Zur Entwicklung der

– 188 –

das fachstichwort

Funde und Befunde ganz bewusst in der Mitte der vorliegenden Dreier-Sammlung angeordnet. Nach dem Überblick über den Diskussionsstand der 60er und 70er Jahre von Ulrich Saxer soll gezeigt werden, wie in und mit der Orientierung am Prinzip der Unparteilichkeit bereits in den frühen Erscheinungsformen eines meist noch nebenberuflichen Journalismus ein Set von Handwerksregeln und mit ihnen ein ausgeprägt professionelles Standesethos im Journalismus etabliert wurde, das sich bewährt und seine Gültigkeit bis heute bewahrt hat. Denn die Handwerksregeln, deren Beachtung Detlef Schröter dann im letzten Beitrag dieses Bandes als unverzichtbare Dimensionen eines objektiv arbeitenden Qualitätsjournalismus ausmacht und einfordert, decken sich auf jeden Fall im Grundsätzlichen mit den historischen Funden von Philomen Schönhagen. Aber die Mittel-Stellung des Schönhagen-Beitrags signalisiert über die Sachlogik hinaus, andeutungsweise wenigstens, noch anderes: Er füllt nämlich mehr oder weniger buchstäblich, eine Lücke, besser und genauer: eine Leerstelle zwischen dem ersten und dem dritten Beitrag. Betrachtet man nämlich auch die zeitliche Folge der Beiträge, so wird man den fatalen Eindruck nicht mehr los, dass da in den 60er und 70er Jahren öffentlich in Praxis und Wissenschaft um Objektivität gestritten wurde, ohne dass die Vertreter der verschiedenen Lager auf den Boden der historisch sicheren Fakten zu stehen kamen. Was die einschlägige Publizistikwissenschaft anlangt, so gab es allenfalls ein paar sporadisch zufäl-

parteilichkeitsmaxime im deutschen Journalismus. In: Medien & Zeit, 16. Jg. (2001), Heft 4, S. 9-18; dies.: Das Problem der sinntreuen Vermittlung im Journalismus. In: Universitas Friburgensis, Le magazine de l'Université de Fribourg / Das Magazin der Universität Freiburg, 62. Jg. (2003), Heft 1, S. 30 f; dies.: Die Wiedergabe fremder Aussagen – eine alltägliche Herausforderung für den Journalismus. In: Publizistik, 51. Jg. (2006), Heft 4, S. 498-512.

objektivität im journalismus

– 189 –

lige Treffer in der älteren Literatur, so etwa in einer am Münchener Institut für Zeitungswissenschaft angefertigten Dissertation von Heinz Bäuerlein,21 die später immer wieder von den bedächtigeren Fachautoren übernommen wurden.22 Aber eine systematische Expedition in die Geschichte des journalistischen Berufs- und Standesethos hat es, so erstaunlich das auch sein mag, bis zu Schönhagens Unternehmen im Fach nicht gegeben. Daher räumt diese Arbeit über die Tradition der Unparteilichkeitsnorm ebenso unerbittlich wie gründlich mit Legendenbildungen im Journalismus und über den Journalismus auf. Eine dieser Legenden will glauben machen, der Journalistenberuf sei im 19. Jahrhundert entstanden.23 Richtig daran ist im Großen und Ganzen lediglich, dass im 19. Jahrhundert die journalistischredaktionelle Tätigkeit im Regelfalle – die Ausnahmen sind zahlreich! – zu einem Hauptberuf wurde. Unter vielen Aspekten aber fragwürdig ist es, wenn Jörg Requate als »Kern« des (neuen) journalistischen Selbstverständnisses die »Überzeugungstreue« bei der Berufsausübung ansieht sowie im Anspruch, eine ›Vierte Gewalt‹ 21

Heinz Bäuerlein: Die Problematik der Objektivität in der Presse-Berichterstattung. Phil. Diss. München 1956 (maschr.)

22

Vgl. u.a. etwa Bentele, (Fn 7), S. 114 f.

23

Typisch für diese mehr und mehr in die wissenschaftliche Journalismusliteratur eindringende Legende ist schon die Kombination von Titel und Untertitel der Berliner Dissertation von Jörg Requate: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Göttingen 1995. - Requates Behauptung von der Entstehung des Journalismus im 19. Jahrhundert, die sowohl erhebliche historische Fakten wie journalismustheoretische Befunde negiert, wurde – zum Teil völlig unkritisch – von der fachwissenschaftlichen Literatur übernommen. Neuerdings folgt ihm dabei mit Berufung auf zahlreiche solche Literaturbelege etwa Thomas Birkner: Genese, Formierung, Ausdifferenzierung und Durchbruch des Journalismus in Deutschland. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 59. Jg. (2011), Heft 3, S. 345-359.

– 190 –

das fachstichwort

zu verkörpern, den genuinen Ausdruck der Professionalität herauszulesen versucht. Aber gerade damit hat Requate nicht einen Journalisten im Visier, sondern einen »politischen Schriftsteller« und dessen publizistisches »Bekenntnis zu seinen [eigenen] Grundsätzen«.24 Durch diesen Sehschlitz wirkt dann das viel ältere und ursprüngliche Unparteilichkeitsethos unbedeutend klein, wobei zudem der Zirkelschluss befördert wird, die Unparteilichkeitsmaxime der frühen Zeitungsschreiber könne schon deshalb nichts mit einem journalistischen Selbstverständnis zu tun haben, weil es »eben keine Journalisten« waren.25 Legenden dieser Art müssen bis heute vielfach eine wirkliche Sozial- und Berufsgeschichte des Journalismus ersetzen; eine solche hat erstmals und bislang auch als Letzter Dieter Paul Baumert in einem ersten Entwurf 1928 vorgelegt.26 Sachlich völlig im Einklang mit den historischen Befunden konstatiert er nämlich, dass Journalismus dort und dann sich zu entwickeln beginnt, wo ein allgemeiner Nachrichtenbedarf zwischen räumlich weit voneinander entfernten Nachrichtengebern und Nachrichtenempfängern befriedigt werden musste. Von diesem Ansatz aus würde man auch der Tatsache ansichtig, dass sich Journalismus keineswegs irgendwann aus irgendwelchen Strukturen der Massenkommunikation herausmendelte, sondern dass Journalismus 24

Vgl. Requate, Journalismus, (Fn 23), S. 264 ff. – Siehe dazu auch die knappe und treffende Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Thesen von Requate bei Philomen Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 6 f u. S. 292 f.

25

Requate, Journalismus, (Fn 23), S. 266.

26

Dieter Paul Baumert: Die Entstehung des deutschen Journalismus. Eine sozialgeschichtliche Studie. München/Leipzig 1928. – Diese Arbeit von Baumert, die nur mehr schwer erreichbar ist, wird in der Reihe ›ex libris kommunikation‹ als Band 11, herausgegeben von Walter Hömberg, publiziert und wieder zugänglich gemacht werden.

objektivität im journalismus

– 191 –

schon deshalb (viel) früher als jede Massenkommunikation auf den Plan trat, weil ein funktionsfähiger Journalismus überhaupt die Bedingung der Möglichkeit von Massenkommunikation ist.27 Zu einer wirklichen Berufsgeschichte gehört unverzichtbar eine Geschichte der journalistischen Handlungsnormen und Handwerksregeln. Philomen Schönhagen hat hierzu ein zentrales Kapitel geschrieben. Sie stellt darin zu Recht fest, dass man in der Fixierung und Differenzierung solcher Berufsnormen die »Ausprägung eines genuinen journalistischen Berufsverständnisses« zu registrieren habe; denn in der soziologischen Berufsforschung wird die Herausbildung eines ausgeprägten Standesethos allemal als entscheidendes Kriterium für Professionalität angesehen. 28 Eine weitere dieser unausrottbaren, hartnäckigen Legenden erzählt, ein objektiv operierender Nachrichten- und Informationsjournalismus sei deutschen Medien erst nach dem Zweiten Weltkrieg von den angelsächsischen Besatzern aufgezwungen worden, »nicht selten gegen den erbitterten Widerstand demokratisch engagierter Journalisten und Redakteure; meist stießen diese Bemühungen«, die professionellen Regeln des Nachrichtenjournalismus durchzusetzen, »hierzulande auf verständnisloses Kopfschütteln«.29 Solches »Kopfschütteln« hatte einen angeblich durchschlagenden Grund und tatsächliche Folgen. Der angebliche Grund in aller

27

Vgl. dazu Hans Wagner: Das Unwandelbare im Journalismus. In: Wolfgang Duchkowitsch u.a. (Hrsg.): Journalismus als Kultur. Opladen/Wiesbaden 1998, (S. 95 -111), S. 103.

28

Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 292. (Hervorh. i. Original.)

29

So Lutz Erbring: Nachrichten zwischen Professionalität und Manipulation. Journalistische Berufsnormen und politische Kultur. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Köln 1989, (S. 301-313), S. 308. (KZfSS Sonderheft 30.)

– 192 –

das fachstichwort

Kürze: »Vor allem die Norm der Trennung von Nachricht und Meinung sowie das Prinzip der objektiven Berichterstattung (..) widersprach deutschen Traditionen, die sich als ziemlich resistent erweisen sollten.«30 Mit anderen Worten: Die der ›Umerziehung‹ unterworfenen deutschen Journalisten empfanden das Objektivitätspostulat samt den damit verbundenen Arbeitsregeln als eine Art Fremdimplantat. Und sie zeigten als Folge entsprechende Abstoßreaktionen. Kurt Koszyk berichtet in seiner Pressegeschichte, dass von den amerikanischen Besatzungsbehörden zwischen 1. Dezember 1945 bis 9. November 1947 insgesamt 273 Monita an die Adresse der Lizenzzeitungen ausgesprochen wurden. »Meistens handelte es sich um Verstöße gegen die vorgeschriebene Trennung von Nachricht und Meinung oder um das Fehlen der Quellenangaben.«31 In der Fach- und Verbands-Zeitschrift Der Journalist sind Eindrücke amerikanischer Wissenschaftler festgehalten, die 1953, also rund vier Jahre nach Aufhebung des Lizenzzwanges, die Bundesrepublik bereisten und sich dabei auch von den Fortschritten der deutschen Presse ein Bild machen wollten. Es habe sich herausgestellt, so heißt es da, »dass die alte deutsche Praxis, die seit dem Kriege unter amerikanischem Einfluss nicht mehr ›in so penetranter Weise‹ geübt wurde, (...) wieder mehr an Boden gewinne.« Mit der »alten deutschen Praxis« ist das »Einschmuggeln« von Meinung in die Nachricht gemeint.32 Und Siegfried Weischenberg 30

Jürgen Wilke: Überblick und Phasengliederung. In: ders. (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1999, (S. 15-27), S. 17. (Bundeszentrale für Politische Bildung Bd. 361.)

31

Kurt Koszyk: Pressepolitik für Deutsche 1945 - 1949. Geschichte der deutschen Presse. Teil iv. Berlin 1986, S. 69.

32

A. Schiefer: Deutsche Tageszeitung – mit amerikanischen Augen gesehen. In: Der Journalist, 6. Jg. (1956), Heft 6, (S. 3-8), S. 5 f. Zit. nach: Klaus Schönbach:

objektivität im journalismus

– 193 –

hält dafür, dass vor dem Hintergrund des Oktroi der Objektivitätsregeln durch die Alliierten die objektive Berichterstattung »nicht zufällig (...) seit den sechziger Jahren in die Krise geraten« sei.33 Es gibt viele derartige Belege für die Aversion und den Widerstand in der redaktionellen Praxis gegen die Objektivitätsregeln. Aber sie alle machen aus der Behauptung, es gebe keine deutsche Tradition dieser Regeln, noch keine historische oder aktuelle Wahrheit. Wie die Untersuchungen von Philomen Schönhagen zweifelsfrei demonstrieren, ist das Gegenteil richtig: Die Trennung von Nachricht und Kommentar34 oder die Kennzeichnung der ›Quellen‹ gehören zu den ältesten und nachdrücklich vertretenen Handwerksregeln im deutschen Journalismus. Natürlich ist es richtig, dass ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts über die Gründung des deutschen Reiches und die Weimarer Republik sowie erst recht bis hinein in das Naziregime die Partei- und Gesinnungspresse den journalistischen Mainstream mit sämtlichen damit konsequent verknüpften Führungs-, Erziehungs- oder Kritik- und Kontrollansprüchen der Publizistik prägte. Aber es gab – von der totalitären Medienlenkung abgesehen – auch in all diesen Phasen immer Pressetypen und teils renommierte Qualitätsblätter, welche die Regeln objektiver Bericht-

Trennung von Nachricht und Meinung. Empirische Untersuchung eines journalistischen Qualitätskriteriums. Freiburg/München 1977, S. 23. 33

Siegfried Weischenberg: Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation. Band 2: Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure. Opladen 1995, S.113.

34

Die Formulierung ›Trennung von Nachricht und Kommentar‹ wir hier bewusst verwendet, weil sie den entscheidenden Tatbestand verdeutlicht, während die häufig gebrauchte Formel ›Trennung von Nachricht und Meinung‹ ihn verschleiert. Dazu später mehr.

– 194 –

das fachstichwort

erstattung hochhielten. Aber diese Typen und Blätter wurden häufig pauschal als minderwertig abgestempelt, als dürre Nachrichtenchroniken oder als schnöde ›Geschäftspresse‹ desavouiert. Richtig ist auch, dass vor allem in den USA die Entwicklung umgekehrt verlief, nämlich von einer exzessiv parteilich-polemischen Presse zur Nachrichtenpresse nach Maßgabe der Objektivitätsforderungen, die gegen und ab Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr an Boden gewann.35 Gewiss, demgegenüber liegt die deutsche Tradition der Unparteilichkeitsregeln also weiter zurück. Verständlich zumindest ist dabei, dass in einem Berufsstand, dessen Mitglieder als Journalisten primär auf das Heute und Morgen geeicht sind, die Erinnerungskultur, vor allem in eigener Sache, nicht sonderlich lebendig ist. Vergangenheit ist, soweit nicht in Redaktionsarchiven abrufbar, der blinde Fleck dieser Profession. Höchst merkwürdig aber ist diesbezüglich das Gebaren der einschlägigen Wissenschaft. Die Mär, es habe eine Tradition der Objektivitätsnorm und der für sie konstitutiven Handwerksregeln im deutschen Journalismus nicht gegeben, solches sei der völlig andersartigen oder gar entgegengesetzten ›deutschen Tradition‹ fremd, wurde von Wissenschaftlern in zahlreichen Varianten und Schriften kolportiert und damit sozusagen als ein wissenschaftlich bestätigtes Faktum abgesegnet. Gerade im weiteren Rahmen der Objektivitätsdiskussion begegnet man genau

35

Zum Vergleich der amerikanischen und deutschen Presse- und Journalismusentwicklung siehe Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 5676. – Vgl. damit Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 162 f. Unter der Überschrift »Zur Geschichte ›objektiver Nachrichten‹« skizziert Weischenberg an dieser Stelle außerordentlich lückenhaft lediglich die amerikanische Entwicklung. Und da er nur auf diese abstellt, spricht er von einer »rund hundertjährigen Geschichte des modernen Nachrichtenjournalismus« (ebd. S. 159). Die mehr als zwei- bis dreihundertjährige deutsche Tradition des Nachrichtenjournalismus negiert er – oder er scheint sie nicht zu kennen.

objektivität im journalismus

– 195 –

diesem Bestätigungsmuster mehrfach. Wissenschaft bekräftigt quasi gutachtlich, was sie als Status quo in der publizistischen Praxis vorfindet. So manifestiert sich Bewusstsein ohne Wissen. Für Philomen Schönhagen war dies der Anstoß, auf dem Weg in die Geschichte möglichst viel Wissen über die Unparteilichkeitsnorm aufzusammeln (63 f). Der vorliegende Band bietet also eine Art Triptychon der Objektivität. Die drei Szenarien – die Objektivitätsdebatte, die Unparteilichkeitstradition und das journalistische Handwerk – zeigen Objektivität jeweils in anderer Beleuchtung und aus unterschiedlicher Perspektive. Eine erste Beobachtung der drei Stücke vermittelt zwar durchaus aufschlussreiche Einblicke, ersetzt aber noch nicht deren Deutung. Eine solche erscheint aber schon deshalb erforderlich, weil die thematische Klammer zwar ›Objektivität im Journalismus‹ ankündigt, aber nur der erste der drei Autoren diesen zentralen Begriff gebraucht, während die beiden anderen von ›Unparteilichkeit‹ bzw. von ›Mitteilungs-Adäquanz‹ sprechen. Man kann bei dieser Sachlage der Frage nicht ausweichen, ob wirklich durchgehend der nämliche Gegenstand im Blick und gemeint ist. Und wenn wirklich in allen drei Stücken journalistische Objektivität in Rede steht, wenn dreifach Objektivität als Richtgröße im Journalismus wünschenswert erscheint, und alle drei Autoren sich insoweit als ›Objektivisten‹ zu erkennen geben, dann fragt sich auch, ob es hinreichende Gründe gibt, die eine Orientierung an der Objektivitätsnorm im Journalismus notwendig machen.

– 196 –

das fachstichwort

2. Die Objektivitätsabwehr Was also heißt und ist Objektivität im Journalismus? Es gibt mehrere mögliche Antworten auf diese Frage. Und es hängt von der Antwort ab, ob Objektivität im Journalismus akzeptabel und realisierbar ist oder nicht. Verlangt Objektivität die Abbildung der Wirklichkeit? Zielt Objektivität auf eine gültige Erkenntnis der Realität? Ist Objektivität identisch mit Wahrheit? Oder ist Objektivität eine distanziert-unbeteiligte Einstellung zu Menschen und Dingen? Meint Objektivität im Journalismus eben Unparteilichkeit – oder noch irgend anderes? Haben wir es, anders gesagt, im Journalismus mit einem Erkenntnisproblem zu tun oder mit einer Haltungsfrage oder mit einer Arbeitsmethode? Vor Jahren schon versuchte Gerd Bacher Fernsehjournalisten diesbezüglich zu einem differenzierten Denken zu animieren – vergeblich übrigens, wie er später berichtete.36 Zweifach nämlich werde in jeder Enzyklopädie mit philosophischem Anspruch Objektivität definiert, referierte er seinerzeit: Zum einen »als philosophischer Streitgegenstand an sich«, zum anderen »als Methode des Denkens, des geistigen Verhaltens«.37 Diese noch etwas grob geschnittene Unterscheidung ist wichtig. Denn im wesentlichen folgen ihr die Grundpositionen zur Objektivität, die man – in zulässiger Vereinfachung der Saxerschen Typologie – auf

36

Vgl. Gerd Bacher: Wer sich mit einem unabhängigen Rundfunk nicht abzufinden vermag, der hat ein gestörtes Verhältnis zur kontrollierenden Öffentlichkeit überhaupt. [1976.] In: Michael Schmolke (Hrsg.): Der Generalintendant. Gerd Bachers Reden, Vorträge, Stellungnahmen aus den Jahren 1967 - 1994. Wien/Köln/Weimar 2000, (S. 159-169), S. 165.

37

Gerd Bacher: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht die Freiheit zur Objektivität und nicht die Freiheit von der Objektivität. (Vortrag bei den Mainzer Tagen der Fernsehkritik, 1974.) In: Schmolke (Hrsg.), Generalintendant, (Fn 36), (143-151), S. 148.

objektivität im journalismus

– 197 –

›Subjektivisten‹ und ›Objektivisten‹ reduzieren kann.38 Letztere anerkennen die Berufsnorm der Objektivität – zumindest als eine Zielvorgabe, erstere dagegen lehnen sie ab. Abwehrformeln aus der publizistischen Praxis Um herauszufinden, was es mit journalistischer Objektivität auf sich hat, ist es wohl angebracht, auf die Stimmen aus der Praxis zu hören, die sich gegen jeden Objektivitätsanspruch wehren. Von diesen ›Subjektivisten‹ ist auf jeden Fall zu erfahren, welche Probleme man vor Ort mit der Objektivität hat. Die Ablehnung der Objektivität erfolgt von Journalistenseite nicht selten rigoros und apodiktisch. Objektivität sei »ein Ding der Unmöglichkeit«,39 eine »Chimäre«,40 also ein widernatürliches Ungetüm. »Jeder, der erzählt, er berichte objektiv, ist entweder dumm oder ein schamloser Lügner«, erklärt der Spiegel-Autor Jürgen Leinemann und fährt fort: »Ich bin verantwortlich für das, was ich schreibe, und für das, was ich weglasse. Ich setze meinen Namen unter den Artikel, damit jeder sehen kann, dass es sich dabei um meine Sicht der Dinge handelt.«41 In dieser Positionsbestimmung ist eine der beiden Argumentationslinien schon einigermaßen deutlich markiert, die im all38

Siehe dazu Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 239 f sowie Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 159 und 161.

39

So Uwe Kammann: Kritik und Objektivität: Ritt auf einer Chimäre. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 290-301), S. 295.

40

Kammann, Kritik, (Fn 39), S. 290; auch Alt, Objektivität, (Fn 4), S. 205.

41

Maria Kirady / Hanne Detel: Der Insider. In: Jens Bergmann / Bernhard Pörksen (Hrsg.): Medienmenschen. Münster 2007, (S. 167-178), S. 171 f. – Sinngleich Jürgen Leinemann im Interview mit Herlinde Koelbl. In: Herlinde Koelbl: Die Meute. München 2001, S. 36.

– 198 –

das fachstichwort

gemeinen gegen Objektivität eingezogen werden: Das Bekenntnis zur eigenen Subjektivität oder – als eine Variante – die Beschwörung der Subjektivitäts-Barrieren im alltäglichen journalistischen Handwerk, die eine objektive Berichterstattung vermeintlich unmöglich, in einem ganz buchstäblichen Sinne geradezu widernatürlich und un-menschlich machen. Zeitlos typisch liest sich das dann so: Es gehe »um den alte[n] journalistische[n] Streit, ob es so etwas wie absolute Objektivität gibt. Die gibt es natürlich nicht. (...) Wie jeder Mensch haben auch Journalisten eine eigene Meinung, und die sollten sie nicht unterdrücken«, meint der ehemalige Herausgeber der Berliner Zeitung, Dieter Schröder.42 Herbert Riehl-Heyse, seinerzeit zu den ›Edelfedern‹ der Süddeutschen Zeitung gerechnet, urteilt über seine Reportagen: »Ich fände es total unehrlich, jetzt so zu tun, als sei das die objektive Wahrheit. Es ist eben nur meine Wahrheit – aber die muss man, hoffentlich, nachvollziehen können.«43 Der Journalist also »lügt sich in die Tasche, wenn er vorgibt, ganz aus [seinem eigenen] Wertsystem heraustreten zu können«.44 Und weil so gut wie alle redaktionellen Entscheidungen in dieser Perspektive subjektiv sind, muss Objektivität »in der gewissenhaften Handhabung der Subjektivität« bestehen.45 Ein redlicher Journalist gibt sich deshalb »nicht den Anstrich dessen, was kein Journalist sein kann: objektiv«.46 Denn es ist geradezu »ein Irrglaube, zu 42

Interview mit Dieter Schröder in: Koelbl, Meute, (Fn 41), S. 154.

43

Interview mit Herbert Riehl-Heyse in: Koelbl, Meute, (Fn 41), S. 74.

44

Michael Abend: »Hast Du sie zittern sehen?« Das Objektivitäts-Problem in der Nachrichtenpraxis. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 168-187), S. 169.

45

Dietrich Schwarzkopf (damals Programmdirektor des Deutschen Fernsehens), zit. bei Abend, Objektivitäts-Problem, (Fn 44), S. 169.

46

Gordian Troeller, Objektivität, (Fn 1), S. 194.

objektivität im journalismus

– 199 –

denken, es gäbe objektive Berichterstattung«. Und selbst der hehre Vorsatz, sich um die unerreichbare Objektivität wenigstens nach Kräften bemühen zu wollen, um so die Vorstellung eines objektiven Journalismus zu retten, gerät unter diesen Vorzeichen zu nichts anderem, als zur »Umschreibung für die Subjektivität journalistischen Handelns«.47 Weil aber Objektivität (insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk) verlangt wird, verlegen sich »viele Macher« auf ein Täuschungsmanöver, »um Objektivität zu simulieren«; was dabei »aber in Wirklichkeit verschleiert wird, ist der eigene Standpunkt«. Woraus folgt: »Die objektivste Objektivität ist die zugegebene Subjektivität.« 48 Forsch im Angriff auf die ›Objektivisten‹ vorgetragen, entbehrt das Subjektivitäts-Bekenntnis nicht einer gewissen Portion mimosenhaften Selbstmitleids, wenn und wo es in Lamentationen darüber einmündet, dass und wie Objektivität Journalisten in eine Ecke treibt und sie ihrer (privilegierten) Freiheit beraubt. Denn die »vermeintliche Objektivität« sei nur »die Magd eines vordergründigen Interesses«, sei nur die »Fessel« für »uneingeschränkte Freiheit der Kritik«, einer Kritik, die als genuine Journalistenfunktion, als »zersetzend und heilend« zugleich, ausgegeben wird.49 ›Objektivität‹ sei wie ›Ausgewogenheit‹ zu einem Kampfbegriff für »platte machtpolitische Interessen« heruntergekommen. Mit seiner Hilfe werde »ein Netz aus Verhaltensvorschriften 47

Alt, Objektivität, (Fn 4), S. 207

48

Jan Künzler: Standpunkt: Subjektives Erleben und Handeln. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 211-215), S. 215 und ähnlich S. 211. – Wenn auf diese oder ähnliche Weise Objektivität gewissermaßen »als die Summe aller Subjektivitäten« betrachtet werde, bemerkt Gerd Bacher mit einigem Zynismus, werde ein Sophist uns demnächst erklären, »Anstand wäre die Summe aller Niedertracht, Wahrheit die Summe aller Lügen.« Bacher, Objektivität, (Fn 37), S. 148.

49

Kammann, Kritik, (Fn 39), S. 297 und S. 301.

– 200 –

das fachstichwort

geknüpft, das den Publizisten äußerst wirksam davon abhält, zu sein, was er sein sollte: unbestechlich, nur seiner kritischen Vernunft und seinem Gewissen verantwortlich.«50 Objektivität führe zu einem ganz »unverantwortlichen Verzicht auf Wertung«.51 Und äußerst empört habe ihn »eine sehr prominente Dame der westdeutschen Rundfunkszene« bei einer Diskussion zum Objektivitätspostulat einst gefragt: »Ja, wollen Sie mir das Recht auf politische Selbstverwirklichung in meinem Beruf nehmen?« Erzählt Gerd Bacher.52 Und auch der eher vorsichtig kritisch argumentierende Fernsehprogrammdirektor Dietrich Schwarzkopf bestätigt den unter Nachrichtenleuten kursierenden »Erfahrungssatz«, der da lautet: »Meinung profiliert, Objektivität profiliert nicht.«53 Das Subjektivitäts-Argument nun ist in vielen Fällen nahezu unentwirrbar verknäuelt mit dem zweiten Argumentationsfaden, mit dem Erkenntnisproblem nämlich. Jedes von beiden, das Subjektivitätsproblem und das Erkenntnisproblem, muss unabhängig vom jeweils anderen betrachtet, und jedes muss am Ende wohl auch unterschiedlich bewertet werden. Im Streit um die journalistische Objektivität gewinnt man allerdings den Eindruck, dass das Erkenntnisproblem oft nur zur Stütze des Subjektivitätsarguments dient. Im Groben besagt es, Objektivität sei unmöglich, weil kein Mensch eine vollumfängliche Wirklichkeitserkenntnis haben könne; es sei ja schließlich kein Mensch im Besitz der absoluten Wahrheit; und daher könne auch niemand eine wirklichkeitsentsprechende, also objektive Auskunft über die Realität 50

Heidenreich, ›Objektiv‹, (Fn 2), S. 248 f.

51

Vgl. Troeller, Objektivität, (Fn 1), S. 193.

52

Bacher, Gestörtes Verhältnis, (Fn 36), S. 165.

53

Dietrich Schwarzkopf: Zehn Hindernisse für die gebotene Objektivität. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 2oo-204), S. 203.

objektivität im journalismus

– 201 –

geben. Dies ist, um mit Ulrich Saxer zu sprechen, das »erkenntnistheoretische Dementi« (22) der Objektivität. Eine ausgedehnte Schnittfläche mit dem Subjektivitäts-Argument ist evident: Die Sicht des Menschen auf die Welt, auf die Gesellschaft und auf Ereignisse in ihr ist ja doch ganz massiv beschränkt und begrenzt durch individuelle und soziale Blickverengungen und Deutungsmuster. Daher produziert jeder Beobachter der Welt, der Journalist nicht ausgenommen, möglicherweise vielgestaltige Zerr- und Trugbilder, aber nicht ein Abbild oder gar eine zutreffend objektive Spiegelung der Realität. In der Theorie und in der Praxis habe sich gezeigt, doziert der Mitbegründer der ›tageszeitung‹ (taz), Thomas Simeon, »dass es eine logisch begründbare, in sich evidente objektive Berichterstattung nur als Fetisch geben kann. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit bleibt journalistische Erkenntnis an Interessen gebunden, die niemals neutral, eindeutig richtig und sachlich sein können.«54 Das Objektivitäts-Postulat wird selbstredend vor diesem Hintergrund fragwürdig: »Der Journalist als Wesen, das seine Umgebung objektiver sehen kann als andere Erdenbewohner, der Journalist als neutraler Nachrichtensammler – aus welchem Jahrhundert stammt dieser Mist?«55 So begehrt ein anderer Publizist gegen die von ihm empfundene Zumutung auf. Wo das Erkenntnisproblem als Einwand gegen journalistische Objektivität ins Feld geführt wird, liegt dem Argument regelmäßig eine Wirklichkeitsvorstellung und die Annahme einer Subjekt-Wirklichkeits-Beziehung zugrunde, die journalistisch

54

Thomas Simeon: Fetisch Objektivität. Die schillernden Wahrheiten der ›tageszeitung‹. In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 276-289), S. 287.

55

Cordt Schnibben: Wir Journalisten-Schweine. In: Medium-Magazin, Heft 10, 1994, (S. 40-43), S. 40. Zit. nach Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 247.

– 202 –

das fachstichwort

irrelevant ist. Objektivität wird dabei nämlich stilisiert zu einer »wirklichen Wiedergabe der Wirklichkeit«. Objektivität wird zum Synonym für Wahrheit, und zwar für eine einzige, tendenziell absolute Wahrheit. Im Besitz einer solchen Wahrheit glauben sich indessen nur totalitäre oder autoritäre Despoten, Regime und Parteien zu wissen. »Objektiv« kann demnach nur ein Journalist berichten, der sich in den Dienst dieses einen maßgeblichen Wahrheitsanspruchs stellt, behauptet Franz Alt und folgert: Objektivität sei ein »vordemokratisches« Prinzip; es verlange notwendig nach Zensur im Interesse der Wahrheit. Mithin schließen sich »journalistische Freiheit und journalistische Objektivität gegenseitig aus, sind ein Widerspruch in sich.«56 Die Volte ist gekonnt; sie entbehrt nicht einer frappierenden Logik. Diese entpuppt sich jedoch bei näherem Zusehen als Scheinlogik: Sie gilt nur, wenn man die Voraussetzung akzeptiert, dass nämlich Objektivität und (absolute)Wahrheit ein und dasselbe sei. Dafür lassen sich überzeugende Gründe oder Belege nicht beibringen. Journalismus als Meinungslenkung Ganz bewusst und absichtsvoll sind in diesem Abschnitt bislang nur Praktiker mit ihren Einwänden gegen Objektivität zu Wort gekommen. Hört man da genauer hin, so merkt man, dass sich unter der Oberfläche der Ablehnungs- und Abwehrformeln üppig eine Art Subtext ausbreitet. Der handelt indessen nicht von Objektivität, sondern vom Journalismus selbst. Journalisten äußern sich darüber, wie sie ihren Beruf sehen und verstehen, welche Rolle und Funktion sie sich selbst zuschreiben. Es sind rund ein halbes Dutzend Einzelaspekte, die sich zu einem besonderen 56

Alt, Objektivität, (Fn 4) S. 205 und S. 208.

objektivität im journalismus

– 203 –

Berufsbild derer zusammenfügen, die mit Objektivität im Journalismus nichts anfangen können: · Der Journalist ist unmittelbar mit der Wirklichkeit (an sich) konfrontiert, die er irgendwie darstellen, über die er berichten soll. · Dabei geht er (wie jeder andere Mensch auch) notwendig von seinem eigenen Standpunkt aus, den er in der Berichterstattung nicht verschleiern darf. · Bei seiner Beobachtung der Realität ist er somit geleitet von seiner eigenen Überzeugung, von seinem Wertsystem. · Unter dieser Voraussetzung präsentiert er stets seine Sicht der Dinge. · Diese ist unlösbar gekoppelt an die uneingeschränkte Freiheit zur Kritik. · Der Journalist kann somit letzten Endes nie neutral sein. · Insoweit hat der Journalist das Recht auf (politische) Selbstverwirklichung in seiner Berufsarbeit. Auf diese Weise profiliert sich ein berufliches Selbstverständnis, das im Journalisten den (von wem?) berufenen Welterklärer und Weltinterpreten vorstellt, den Wortführer in der Gesellschaft. In der Massenkommunikation spielt er so die Rolle des regulären Aussageproduzenten, der mit seiner Darstellung der Dinge und nicht zuletzt mit seiner Kritik an den Handelnden in Staat und Gesellschaft die Meinungen des Publikums zu leiten sowie die Verhältnisse zu ändern beansprucht. Der Hintergrund dieses Berufsverständnisses ist geprägt von einem Prozessmodell der Massenkommunikation, in dem publizistische Aussagen einseitig als Ansprache an das Publikum transportiert werden. Der Journalist versteht sich da im Wortsinne gewissermaßen als der geborene ›Kommunikator‹. Bei ihm, der ›publizistischen Persönlichkeit‹,

– 204 –

das fachstichwort

haben alle öffentlichen Aussagen ihren Ursprung. Kommunikation ist sein Beruf – exakt wie es publizistische und psychologische Konstruktionen modellieren. Zunächst einmal heißt das: Die Ablehnung und die Abwehr einer wie immer gearteten Objektivitätsnorm korrespondiert zwangsläufig mit einer Berufsauffassung, nach der es Sache des Journalisten sein soll, mit Aussagen nach Maßgabe der eigenen Überzeugung die öffentliche Meinungsbildung zu leiten und zu lenken sowie das Publikum zu entsprechendem Tun und Handeln zu bewegen.57 ›Wissenschaftliche‹ Zertifikate: Objektivität gibt es nicht! Genau diese Auffassung war und ist, mit Modifikationen und teils euphemistischen Reformulierungen im Detail, in den einschlägigen Fachwissenschaften damals wie heute weit verbreitet. Schon vor ziemlich genau einem halben Jahrhundert hat deshalb Otto Groth, selbst renommierter Praktiker, aber zugleich einer der besten Kenner der Presse- und Journalismusgeschichte, festgehalten, es sei wissenschaftliche Mode geworden, »die Nachricht ihres objektiven Sinnes zu berauben und mit der Unmöglichkeit einer ›wahren‹ Nachricht zu operieren«. Aufgabe der Wissenschaft müsse es demgegenüber sein, bei aller Anerkennung widriger Begrenztheiten, dem Journalismus die Verpflichtung zu Objektivität zu verdeutlichen, »statt durch schwache und laxe Thesen den Mißbrauch des journalistischen Nachrichtendienstes auch noch ›wissenschaftlich‹ zu begründen und zu sanktionieren«.58 57

Vgl. dazu Emil Dovifat: »Der Publizist führt die Öffentlichkeit im Dienste der Gemeinschaft mit Gesinnungskräften durch Überzeugung zur Tat.« (Zeitungslehre i, Leipzig 1937, S. 23.)

58

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 118. (Hervorhebung H.W.)

objektivität im journalismus

– 205 –

Diese Kritik war damals höchstwahrscheinlich direkt auf Emil Dovifat gemünzt, der von Anfang der 30er bis weit in die 60er Jahre hinein kategorisch verkündet hatte: »Die von den verschiedensten Seiten an die Presse immer wieder gerichtete Aufforderung, ›objektiv-sachlich‹ zu berichten, ist eine Unmöglichkeit. Die Zeitung ist auch in ihrem Nachrichtenteil ein durch und durch subjektives Unternehmen. Auch der ehrlichste und beste Wille, objektiv zu sein, läßt sie günstigenfalls subjektiv-wahrhaftig sein.«59 Im Gefolge von Dovifat statuiert dann etwa das dtv-Wörterbuch zur Publizistik: »Da die öffentliche Kommunikation stets von den Gefühlen und Haltungen des Berichtenden abhängt, ist Objektivität im Bereich der Publizistik ausgeschlossen.«60 Auch wenn die Publizistiktheorie in ihrer klassischen Fassung kaum noch vertreten wird, so hat doch die Wissenschaftsschelte von Groth keineswegs an Aktualität verloren. Das Zertifikat ›Objektivität im Journalismus ist unmöglich!‹ wird gegenwärtig unter recht modisch noblen Firmierungen ausgefertigt.61 59

Emil Dovifat. Zeitungslehre. Leipzig 1931. Band i: Allgemeine Zeitungslehre, S. 24 f. (Hervorhebung H.W.) Diese Behauptung findet sich dann mit zum Teil unwesentlichen Formulierungsvarianten in sämtlichen späteren Folgeausgaben: Zeitungslehre i, Leipzig 1937 [2. Aufl.], S. 63 f; Zeitungslehre i, Berlin 41962, S. 61. (Dort etwas abgeschwächt: »Nicht ›objektiv-wahr‹ kann die Zeitung sein, wohl aber subjektiv-wahrhaftig.«) Ebenso in Zeitungslehre i, Berlin/New York 61976, S. 83. (Postum herausgegeben und bearbeitet von Jürgen Wilke.) Vgl. auch Emil Dovifat: Handbuch der Publizistik. Bd. 1: Allgemeine Publizistik. Berlin 1968, S. 86. Dort übernimmt Dovifat die durch sämtliche Auflagen der ›Zeitungslehre‹ wiederholte Metaphorik: »›Objektivität‹ wäre, streng genommen, nur möglich, wenn die Tatsache in Ziffern, Zahlen und Maßen wiedergegeben werden könnte.« Zur Kritik an dieser von Dovifat gewählten Metapher: Bentele, Objektivität, (Fn 7), S. 116.

60

Kurt Koszyk / Karl Hugo Pruys: dtv-Wörterbuch zur Publizistik. München 1969, S. 263. (Stichwort: ›Objektivität‹.)

61

Die im Folgenden zitierten Autoren stehen lediglich exemplarisch für weit verbreitete Tendenzen in den deutschen Kommunikationswissenschaften.

– 206 –

das fachstichwort

Nicht weniger als eine »kopernikanische Wende« im Verhältnis von Journalismus und Realität proklamiert etwa Winfried Schulz: Realität sei nicht länger mehr »Gegenstand und Voraussetzung« von Kommunikation im allgemeinen und von Berichterstattung im besonderen, sondern deren »Ergebnis«. Medien präsentieren demnach journalistische »Wirklichkeitskonstrukte«, die an keiner vorgegebenen objektiven Realität messbar oder überprüfbar sind. So besteht auch keinerlei Gewissheit darüber, ob solche Wirklichkeitskonstrukte »falsch« oder »richtig« sind; sie müssen nur als »plausibel« anerkannt sowie als »Handlungsbasis« für tauglich befunden werden. Diese »pragmatische Sichtweise« schließt die Möglichkeit ein, »dass in einer Gesellschaft auch ›falsche‹ Vorstellungen von Wirklichkeit akzeptiert und zur Grundlage kollektiven Handelns gemacht werden.«62 Wenn aber die Medien, so folgert Siegfried Weischenberg ganz ›kopernikanisch‹ konsequent, »eine eigene Wirklichkeit schaffen, dann erweist sich das Festhalten an der ›journalistischen Objektivität‹ als Berufsideologie; (...) und dann können wir den Journalismus nicht an kategorischen Wahrheitsmaßstäben messen«.63 Ganz wesentlich inspiriert sind solche Konzepte zweifellos von einem radikalen Konstruktivismus in Verbindung mit systemtheo-

62

Winfried Schulz: Massenmedien und Realität. Die ›ptolemäische‹ und die ›kopernikanische‹ Auffassung. In: Kaase / Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation, (Fn 29), (S. 135-149), S. 142 f.

63

Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 162. – Weischenberg orientiert sich, was die Objektivitätsfrage angeht, häufig an den Praktikerbedenken, die er als Stütze seiner wissenschaftlichen Thesen heranzieht, und er attestiert zirkulär mit ebensolchen Thesen, dass Objektivität lediglich einer leeren Ideologie entspreche. Dieses Argumentationsmuster findet sich etwa in: Siegfried J. Schmidt / Siegfried Weischenberg: Mediengattungen, Berichterstattungsmuster, Darstellungsformen. In: Klaus Merten u.a. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Opladen 1994, (S. 212-236), S. 226 f.

objektivität im journalismus

– 207 –

retischen Schemata.64 Konstruktivistisch gefasst, gibt es »keine ›realen Ereignisse‹, aus denen die Journalisten Nachrichten machen, sondern nur konstruierte soziale Wirklichkeit, in deren Rahmen die Journalisten (..) selektieren und produzieren«. 65 Die journalistischen Produkte der sogenannten Berichterstattung bestehen dann wiederum in einer mehr oder weniger autonomen Konstruktion von Realität. Dabei wird »der Autonomieanspruch des Journalismus (..) derart verabsolutiert, dass neben (..) vagen Formulierungen zur Nützlichkeit letztlich eine sinnvolle Funktionsbestimmung des Journalismus nur noch im Rückgriff auf den Selbstbezug – im Sinne von Systemerhalt oder Autopoiesis – möglich ist.«66 Was aber, so fragt man sich, soll ein Rezipient, ein Bürger des Staates, ein Zeitgenosse unter Zeitgenossen eigentlich anfangen mit derartigen Wirklichkeitskonstruktionen, die Journalisten ihm angeblich ohne irgendeine Entsprechung zu nachprüfbaren Realitäten anbieten? Welchen Sinn soll diese Art Berichterstattung für den Einzelnen und die Gesellschaft haben? Der Konstruktivismus weiß auch auf solche Fragen scheinbar Rat. Denn natürlich kann und muss das konstruktivistische Prinzip auch für den Rezipienten gelten. Das heißt: Der souveräne und »aktive« Rezipient formt 64

Siehe dazu Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 106 ff. – Es ist kaum eine Übertreibung, wenn Ulrich Saxer festhält: »Der radikale Konstruktivismus ist eine Sekte, die die Wissenschaft per Definitionem aufhebt.« Ulrich Saxer: Ich habe dieses Fach erfunden. In: Michael Meyen / Maria Löblich (Hrsg.): »Ich habe dieses Fach erfunden«. Wie die Kommunikationswissenschaft an die deutschsprachigen Universitäten kam. Köln 2007, (S. 59-75), S. 73 f.

65

Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 178 f.

66

Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 250. – Bei Philomen Schönhagen findet sich eine instruktiv zusammengefasste Auseinandersetzung mit den ›kopernikanischen‹ und ›konstruktivistischen‹ Thesen zur Objektivitätsfrage (ebd. S. 240-254).

– 208 –

das fachstichwort

aus den ihm angebotenen Medieninhalten jeweils seine eigene Realitätskonstruktion.67 So jedenfalls will es Werner Früh mit seinem gut ›kopernikanisch‹ ausgerichteten, »dynamisch-transaktionalen Ansatz« herausgefunden haben.68 Im Ergebnis führt das dann zu zahllosen »Publikumsrealitäten«. Die mit dem Objektivitätspostulat seiner Ansicht nach verbundene Forderung »nach einem unverzerrten Abbild der Realität« würde nur »unter der Prämisse Sinn machen, dass dieses ›weitgehend unverändert in das Bewusstsein des Rezipienten transferiert wird‹. Dies ist aber keineswegs der Fall.« Wenn also der Rezipient den ›medialen Realitätsvorschlag‹ »ohnehin noch einmal drastisch modifiziert«, so Früh, »ist es zwar immer noch von Interesse, aber nicht mehr von zentraler Bedeutung, wie stark und in welcher Weise die Medienrealität ›verzerrt‹ ist.«69 Sobald man also »die Frage nach der ›Objektivität‹ von Berichten in den Medien« stellt, »erklären die ›radikalen‹« Konstruktivisten, in welchem Theoriekleid sie auch auftreten, ganz »unumwunden: Da wir von der ›objektiven‹ Realität grundsätzlich nichts wissen können, erweist sich die Frage nach einer objektiven Berichterstattung von vornherein als sinnund gegenstandslos«.70

67

Gelegentlich tendieren auch Praktikerbedenken gegen die Objektivitätsforderung in diese Richtung: »Beim Rezipienten schließlich ist das Feld der Subjektivität mindestens ebenso groß [wie beim Journalisten; H.W.] und kaum kalkulierbar.« So etwa Heidenreich, Objektiv, (Fn 2), S. 249.

68

Siehe dazu Werner Früh: Realitätsvermittlung durch Massenmedien: die permanente Transformation der Wirklichkeit. Opladen 1994. Auch ders.: Medienwirkungen: Das dynamisch-transaktionale Modell. Opladen 1991.

69

Früh, Realitätsvermittlung, (Fn 67), S. 28; zit. nach Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 251.

70

Gerhard Maletzke: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Opladen/Wiesbaden 1998, S. 130 f.

objektivität im journalismus

– 209 –

Objektivität als Zubehör Das alles klingt irgendwie abstrus. Und es ist abstrus.71 Am Beginn steht die Behauptung, es gebe eine erkennbare oder jedenfalls eine in Berichten korrekt darstellbare (soziale) Realität nicht. Als ob wir nicht auf Schritt und Tritt mit sozialen Realitäten konfrontiert wären, die existent sind und existent bleiben ganz unabhängig davon, ob und wie wir oder andere sie wahrnehmen; auf jeden Fall aber können wir sie beschreiben: soziale Institutionen, Parteien, Verbände Gruppen, eine Familie, meine Nachbarn ... Soziale Realitäten unabhängig von jeder Interpretation und vor jedem Bericht darüber sind auch die Entscheidungen, die in solchen Institutionen oder Organisationen getroffen werden, sind die Standpunkte und Meinungen, die von ihren Vertretern geäußert und von Journalisten berichtet werden (können). Aber es wird trotz alledem sodann behauptet, derart als soziale Realität in Erscheinung tretendes Tun und Lassen oder Mitteilungen darüber seien gar nicht Gegenstand oder Voraussetzung einer Berichterstattung, könnten es aus unerfindlichen Gründen nicht sein, weil die Realität durch Berichterstattung sich als deren Ergebnis erst bilde. Anlass und Folge der Berichterstattung werden auf diese Weise einfach ausgetauscht: der journalistische Bericht hängt sich nicht mehr an eine soziale Realität, die soziale Realität soll sich angeblich an den Bericht hängen – wobei natürlich nicht in Abrede gestellt werden soll, dass jeder Bericht in irgendeiner Weise soziale Realitäten auch beeinflusst. Am Ende steht dann die 71

Nicht wenige dieser Einlassungen erinnern fatal an die seinerzeit aufregende Sokal-Parodie, die sich nicht zuletzt am kognitiven oder epistemischen Relativismus mancher sozialwissenschaftlichen Strömungen entzündete, an den Behauptungen darüber nämlich, was existiert oder angeblich nicht existieren soll. Siehe dazu: Alan Sokal / Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen. München 1999.

– 210 –

das fachstichwort

Absurdität, es sei letztlich ganz egal, ob und wie die Berichterstattung Realität abbilde oder verzerre, weil der Leser, der Zuhörer oder Zuschauer damit und daraus ohnehin mache, was er wolle. Ebenso gut könnte man Kartographen zu freiem künstlerischen Schaffen animieren; denn künftig bräuchten sie gar nicht mehr darauf zu achten, ob ihre Karten die Gegenden, Straßen und Orte in zuverlässigen Relationen zur Wirklichkeit abbilden, weil ja jeder Nutzer seine eigenen Wege suche und gehe. Gesteigert wird diese kommunikationswissenschaftliche Realitätsund Erkenntnisrabulistik durch eine bemerkenswerte Paradoxie. Obwohl nämlich die selbstbewussten ›Kopernikaner‹ ebenso wie die Konstruktivisten mit der Leugnung einer erkennbaren und darstellbaren (sozialen) Realität einer sachlich bestimmten Objektivität im Journalismus das Fundament entziehen, verzichten sie durchweg nicht auf Objektivität als ein journalistisches Accessoire. Werner Früh setzt den Begriff ›Objektivität‹ in Anführungszeichen und versteht darunter eine »angemessene Berichterstattung«, die keine Fiktion und keine absichtliche Manipulation sein dürfe.72 Fragt sich natürlich, wonach eine Fiktion oder eine Manipulation sich bemisst, wenn es ein Realitätsmaß dafür nicht gibt. Für Siegfried Weischenberg ist ›Objektivität‹ (ebenfalls in Anführungszeichen) nichts weiter als eine »intersubjektive Vereinbarung [im Journalismus; H. W.] über die Art der Wirklichkeitskonstruktion, die vom System Journalismus erwartet werden 72

Früh, Realitätsvermittlung (Fn 68), S. 404; zit. nach Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn S. 19), 251 f, dort Fußnote 101. – In diesem Punkt ist Klaus Merten allerdings konsequenter. Er betrachtet schon Wertungen und Meinungen als »fiktionale Konstrukte« oder Strukturelemente der Kommunikation, die »nicht wahrheitsfähig sind« und es ermöglichen, Kommunikationsprozesse »noch flexibler« zu handhaben. Klaus Merten: Evolution der Kommunikation. In: Ders. u.a. (Hrsg.), Wirklichkeit der Medien, (Fn 63), (S. 141-162), S. 160.

objektivität im journalismus

– 211 –

kann«. Diese weitet sich aus zu einer »intersubjektiven Vereinbarung über Muster und Formen der Berichterstattung« zwischen Kommunikatoren und Rezipienten.73 Winfried Schulz schließlich hält an Objektivität im Sinne einer »methodischen Objektivität« nach dem Prinzip überprüfbarer Erkenntnisgewinnung fest; in seinem Verständnis wird Objektivität so zu einem »abstrakten Ziel« des Journalismus, zu einem »Ideal«, dessen »Steuerungsfunktion« im Journalismus »durchaus funktional« sein könne, weil es die Journalisten an die Einhaltung von Berufsnormen gemahnt.74 Welche Berufsnormen das sind, bleibt indessen offen. So oder so aber ist völlig unklar, was der sachliche Gehalt dieses verkümmerten Objektivitätszubehörs sein soll, welche konkrete handwerkliche Ausformung es in der Praxis gewinnt; und man erfährt erst recht nichts über seine Bedeutung für die Vermittlung sozialer Kommunikation.75 ›Objektivität‹ gerät zur inhaltsarmen oder leeren Worthülse. In ihr und mit ihr lässt sich nur dürftig kaschieren, dass überall, wo der Objektivität ihre Berechtigung als leitendes Prinzip journalistischer Arbeit abgesprochen wird, die Berichterstattung voll und ganz der Subjektivität des Journalisten überantwortet wird. Da könnte dann »die Information im Terror des Unsachlichen untergehen, die Meinungsbildung zur Meinungsmache« verkommen.76 Wo mit dem Segen der Wissenschaft Objektivität marginalisiert, in Frage gestellt oder überhaupt eliminiert wird, wird »Journalismus vor allem eine Sache der Gesinnung, und zwar der richtigen«. Gesinnungsjournalisten aber »haben ein Projekt, das über das Sammeln und Sichten, Analysie73

Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 167. Parallel Schmidt / Weischenberg, Mediengattungen, (Fn 63), S. 228 f.

74

Schulz, Massenmedien, (Fn 62), S. 145.

75

Vgl. dazu Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 253.

76

Bacher, Objektivität, (Fn 37), S. 148.

– 212 –

das fachstichwort

ren und Ausformulieren von Neuigkeiten weit hinausgeht: Sie wollen Betroffenheit zeigen und Betroffenheit erzeugen; sie wollen Überzeugungsarbeit leisten. Die Nachrichten müssen sich halt danach richten.«77 In einer international vergleichenden Journalistenumfrage erklärten in Deutschland nahezu drei Viertel der Befragten, es sei wichtig, dass sie sich in ihrer Berufsarbeit für Werte engagieren könnten. Natürlich ist es »zunächst nichts Negatives, wenn man sich für Werte und Ideale einsetzten will. Aber es macht einen Unterschied, ob man dies als Privatbürger (...) oder ob man es in der Rolle eines Journalisten tut, der sozusagen ein Monopol hat für den Zugang von Informationen und Argumenten in die Öffentlichkeit.«78 Vor allem jedoch stellen die Postulate, Deklarationen und Zertifikate zugunsten einer mehr oder weniger uneingeschränkten Subjektivität im Journalismus dessen Professionalität von Grund auf in Frage. Ein Journalist, der sich darauf beruft, dass er nur seinen Standpunkt vertreten, nur seine ureigene Sicht der Dinge darstellen, nur die von seiner Überzeugung abhängige Welt- und Ereignisinterpretation liefern könne, ein solcher Journalist tut und kann nichts anderes als das, was Jedermann zu jeder Zeit und zu allen Vorgängen, die für ihn von Bedeutung sind, auch tut: Auch Jedermann sieht die Welt mit seinen Augen und durch seine Brille; auch Jedermann verarbeitet das, was er wahrnimmt, nach Maßgabe seiner subjektiven Einstellungen und Vorstellungen. Es gibt dann keine Differenz mehr zwischen dem subjektiven Journalisten und dem ebenso subjektiven Jedermann. Denn Jeder77

Burkhard Müller-Ullrich: Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus. München 1996, S. 19.

78

Wolfgang Donsbach: Das Verhältnis von Journalismus und Politik im internationalen Vergleich. In: Bürger fragen Journalisten e.V. (Hrsg.): Medien in Europa. Erlangen 1993, (S. 67-82), S. 78.

objektivität im journalismus

– 213 –

mann »ist grundsätzlich Publizist seiner eigenen Interessen«79 – nur dass er eben nicht die Chance hat, seine Meinung über Medien gesellschaftsweit hinauszuposaunen. Genau diese Einebnung der professionellen Differenz zu Jedermann verletze seinen Berufsstolz, erklärt Gerd Bacher; denn dies sei der erbärmlichste Aspekt der Denunzierung der Objektivität: »Journalismus nicht als ein Handwerk mit Bildung, Fachkenntnissen und unentwegtem Lernen verstanden, sondern als eine Stammtischrunde, die sich um das sogenannte ›gesunde Volksempfinden‹ unseligen Angedenkens und fröhlicher Urstände geschwätzig niederläßt.«80 3. Der Objektivitätsrahmen Nun sind bekanntermaßen ›Realität‹, ›Erkenntnis‹ und ›Wahrheit‹ große, prominente Themen der Philosophie, die sich seit einigen tausend Jahren damit abmüht – mit unterschiedlichem Erfolg. Kommunikationswissenschaftler haben für den Umgang mit diesen Themen in der Regel weder Ausbildung noch wissenschaftliche Kompetenz. Daher könnte man den Mantel der Barmherzigkeit um sie legen, wenn sie auf diesen Gebieten dilettieren81 – wären da nicht die fatalen Folgen, die daraus für die journalistische Praxis und nicht zuletzt für die Gesellschaft und ihre Kom79

Heinz Starkulla: Publizistik und Kommunikation. In: Festschrift für Hanns Braun. Bremen 1963, (S. 158-167), S. 162.

80

Bacher, Objektivität, (Fn 37), S. 148.

81

Ein neueres und besonders beredtes Beispiel dafür ist die Leipziger Dissertation von Liriam Sponholz: Die Möglichkeit journalistischer Erkenntnis. Objektivität zwischen Recherche und Rekonstruktion der Realität. Marburg 2009. – Die Verfasserin präsentiert darin den Journalismus als eigenartigen Typus eines Erkenntnisprozesses; dieser wird bestimmt durch Arbeitsmethoden (u.a. Bildung überprüfbarer Hypothesen, Recherche und Gegenrecherche, Falsifizierungsverfahren), die sich ihrerseits eng an den kritischen Rationalismus von Karl Popper anlehnen sollen.

– 214 –

das fachstichwort

munikation resultieren. Ganz anders dagegen verhält es sich mit den fundamentalen Sach- und Fachfragen, die sich im Objektivitätsproblem wie in einem Brennpunkt bündeln: mit der Frage nach den Medien, mit der Frage nach der Massenkommunikation und nicht zuletzt mit der Frage nach der Funktion des Journalismus. Diese Fragen fallen allesamt in die Kompetenz der Kommunikationswissenschaften. Das Objektivitätsproblem wird so zu einem Prüfstein für die Antworten, welche die einschlägige Fachdisziplin oder eine ihrer Denominationen auf diese Fragen parat hat. Die Antworten auf die drei Grundfragen hängen miteinander zusammen und voneinander ab. Jeder Begriff, der Auskunft darüber gibt, was ein Medium ist oder was es leistet, ist zugleich auch ein Vorgriff auf eine theoretische Aussage über Massenkommunikation – und umgekehrt. Und davon wieder lässt sich die Vorstellung nicht lösen, was man unter Journalismus zu verstehen hat und welche Rolle Objektivität in der journalistischen Praxis spielt. Das publizistische Dispositiv: Objektivität deplatziert Mit derartigen Antwortelementen lassen sich in einer Art Leichtbauweise Theoriegebäude errichten, in denen weder Platz noch Bedarf für Objektivität ist. Das erste Fertigteil hierzu ist ein reduktionistischer Begriff des Mediums. Medien werden dabei marginalisiert als pure »technische Instrumente oder Apparaturen, mit denen Aussagen öffentlich, indirekt und einseitig einem dispersen Publikum vermittelt werden«.82 So die vorherrschende MedienDefinition von Gerhard Maletzke, »die in der Kommunikationsund Publizistikwissenschaft als ›klassisch‹ gilt«.83 Jahre später 82

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 76.

83

So Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs. Hamburg 2002, S. 149.

objektivität im journalismus

– 215 –

spitzt Maletzke diese Definition rückblickend eher noch zu: »In der Kommunikationswissenschaft bezeichnete man damit die technischen Mittel oder Instrumente, die der Verbreitung von Aussagen dienen.« Heute, so fügt er hinzu, fasse man den Begriff weiter; jedoch gebe es keinen Konsens darüber, wie weit er reichen solle. Als Beleg dafür zitiert Maletzke sieben Bedeutungsvarianten, die Manfred Rühl aufgelistet hat.84 Die entscheidende ursprüngliche Bedeutung des Wortes ›Medium‹, welche die Intension auch des Begriffes leiten müsste, wird indessen weder von Maletzke noch von Rühl aufgegriffen oder begriffen: ›Medium‹ heißt die ›Mitte‹, das ›Mittlere‹, das ›Mittelstück‹. Verengt auf den technischen Aspekt, sind Medien lediglich Vehikel oder Kanäle, durch die Botschaften geschickt werden. Für das Kommunikationsgeschehen spielen sie keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle. Diese Fixierung auf Medien als Transportinstrumente ist inzwischen nahezu unangefochten popularisiert.85 Das bedeutet zunächst, dass wissenschaftlich ebenso wie umgangssprachlich ›Medien‹ im wesentlichen assoziiert werden mit konkreten technischen Artefakten der Massenkommunikation, also etwa mit Presse, Radio oder Fernsehen. Eine Folge davon, angesiedelt irgendwo zwischen Sprachschlamperei und Denkverweigerung, ist die Wahl der Bezeichnung ›unvermittelte Kommunikation‹, wenn man über das Reden von Angesicht zu Angesicht redet, also die alltäglich direkte, interpersonale Kommunikation meint. Als ob eine Kommunikation ohne Medium wissenschaftlich überhaupt nachvollziehbar wäre! Solche Leichtfertigkeit findet sich auch in der kommunikationswissenschaftlichen Fach84

Maletzke, Kommunikationswissenschaft, (Fn 70), S. 51.

85

Ein Exempel dafür statuiert das Heft Nr. 309 ›Massenmedien‹ der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Informationen zur politischen Bildung, Bonn 2010, hier insbesondere S. 4.

– 216 –

das fachstichwort

literatur,86 hinter deren Medienbegriff keine tragfähige Medientheorie steht, die sich vielmehr mit dem Blick auf das »technische Substrat« begnügt, wie Ulrich Saxer zu Recht beklagt.87 Wirklich gravierende Konsequenzen hat der instrumentalistische Medienbegriff jedoch für die Bestimmung dessen, was Massenkommunikation ist oder sein soll. Maletzke hat dies unmittelbar in seine oben zitierte Mediendefinition schon eingeschrieben: Demnach ist Massenkommunikation ein unidirektionaler Prozess, bei dem Aussagen vom Kommunikator zum Rezipienten, vom Sender zum Empfänger geleitet werden. Damit dies funktioniert, braucht man Medien als ein Kanalsystem für Aussagen oder Botschaften, als Transportanlage gewissermaßen für den Versand der Informationspakete. Abgesehen davon, dass die jeweils genutzte Medientechnik unterschiedlich hohe Anpassungsansprüche stellt und einen größeren oder kleineren Aufwand erfordert, ist sie für den Prozess der Massenkommunikation ziemlich unbedeutend und insoweit zu vernachlässigen. Auch dieses reduktionistisch simple Transfermodell von Massenkommunikation, nicht zu Unrecht immer wieder mit der Analogie einer ›Einbahnstraße‹ charakterisiert, ist in der Kommunikationswissenschaft gängig und bis in die Medienaufklärung der Grundschulen hinein popularisiert.88 86

So etwa auch Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 21. Exemplarisch dafür ist sodann etwa der Berichtband der 1991 in Bamberg ausgerichteten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Siehe Günter Bentele / Manfred Rühl (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. Konstanz 1993.

87

Ulrich Saxer: Grenzen der Publizistikwissenschaft. Wissenschaftswissenschaftliche Reflexionen zur Zeitungs- / Publizistik- / Kommunikationswissenschaft seit 1945. In: Publizistik, 25. Jg., 4/1980, (S. 525-543), S. 532.

88

Ein instruktives Beispiel solcher Popularisierung stellt das sehr anspruchsvoll aufgemachte Werk von Werner Hadorn / Mario Cortesi: Mensch und

objektivität im journalismus

– 217 –

Nahtlos fügt sich da hinein der dritte Baustein des Modells: das zugehörige Journalismuskonzept. Das journalistische Personal des Medienunternehmens, das erforderlich ist, »damit eine Verbreitung von Aussagen durch technische Mittel zustande kommt«, darf, so Maletzke, nicht dem Faktor ›Medium‹ zugeschlagen werden; dies wäre »von der Sache her nicht zu vertreten«. Hier nämlich handle es sich um ›Kommunikatoren‹ und entsprechend seien sie der die gesamte Massenkommunikation tragende Eckfaktor in der ›Faktoren‹-Reihe: ›Kommunikator – Aussage – Medium – Rezipient‹.89 Der ›Kommunikator‹ ist in dieser Modellvorstellung mehrfach charakterisiert. Er ist einer der »Partner in der Massenkommunikation«.90 Allerdings will der Partner-Begriff hier nicht allzuviel besagen; denn er bleibt ohne Substanz. Zwar kann der Kommunikator von seinem Gegenpol, dem Rezipienten, gelegentlich als ›Partner‹ empfunden werden,91 aber solche ›Partnerschaft‹ ist durch eine ausgesprochene Asymmetrie ausgezeichnet: In der Massenkommunikation ist »ein Partner ständig Kommunikator, der andere ständig Rezipient«; der Kommunikator ist »stets Gebender und der Rezipient Nehmender«.92 Der Kommunikator gibt die Aussagen, der Rezipient nimmt sie. Mit der Zu-

dien. Die Geschichte der Massenkommunikation dar. Aarau/ Stuttgart 1985, 2 Bde. Was Massenkommunikation ist, wird dort in plausibler Konsequenz mit einer ›Reduktion nach unten‹, nämlich auf den Rhetorikprozess, so erklärt: »Einer sendet Signale aus, viele empfangen sie. Einer redet, und er muss seine Rede so gestalten, dass die anderen sie verstehen, auch wenn sie keine Fragen stellen können. Die ›Vielen‹ – das Publikum – schweigen hörend, ihre Aufmerksamkeit ist auf den einen gerichtet, der da vorne oder da oben steht und zu ihnen spricht.« (Bd. i, S. 106.) 89

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 76.

90

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 101.

91

Vgl. Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 138.

92

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 101. (Hervorh. im Original.)

– 218 –

das fachstichwort

schreibung der ständigen Kommunikatorrolle auf den Journalisten wird dieser zum »Urheber, Autor, Produzent« aller Aussagen in der Massenkommunikation, und zwar zum alleinigen und autonomen Aussageproduzenten.93 »Eigenart und Richtung« dieser Aussagen werden »determiniert« von der Persönlichkeit des Kommunikators sowie mitbestimmt durch eine Vielzahl sozialer Bezüge und Einflüsse, die auf ihn wirken.94 Der »Stoff«, auf den solche Aussagen sich beziehen, ist nur pauschal umschrieben: Die Aufgabe der Massenkommunikation bestehe darin, »über Welt und Menschen, Leben und Geschehnisse zu berichten«.95 Das alles heißt zusammengefasst: Als Persönlichkeit, als aktiv wählendes, entscheidendes und gestaltendes Subjekt ist der Journalist mit der Realität der Welt unmittelbar konfrontiert. Es gibt keine Kommunikationsinstanzen, die dem Kommunikator vorgelagert wären, auch keinerlei ›Quellen‹, aus denen er den Stoff für seine Berichterstattung schöpfen könnte. Seine ureigene Wahrnehmung und Einschätzung der Realität objektiviert der Journalist in Aussagen und wird so zum Wirklichkeitskonstrukteur und -produzenten einer nur von ihm abhängigen Medienrealität. So wird der Journalist oder Kommunikator in diesem Modell aufgebläht zum demiurgischen Apriori 96 der Massenkommunikation. Diese exzessive Übersteigerung des Journalisten als Kommunikator korrespondiert auffällig mit der Marginalisierung des Mediums, der auch das Faktum zuzurechnen ist, dass über Vermittlung oder über Vermittler in der Massenkommunikation kein Wort verloren wird: das Medium ist ein Nichts, der ›Kommu93

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 89.

94

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 44 ff.

95

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 92.

96

Vgl. hierzu Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt/M 2008, S. 345.

objektivität im journalismus

– 219 –

nikator‹ ist alles in diesem Modell. Und es wäre in einem ganz buchstäblichen Sinn deplatziert, wollte man einen ganz auf seine Subjektivität verwiesenen publizistischen Demiurgen mit der Objektivitätsnorm traktieren. Tatsächlich findet sich in der gesamten Modellkonstruktion von Maletzke nur ein einziger Satz zu diesem Stichwort: »Eine objektive Berichterstattung [ist] auch beim besten Willen des Kommunikators ein nie zu erreichendes Ideal.«97 Das ist konsequent. Denn wo immer im Rahmen der Massenkommunikation der Journalist als Kommunikator installiert wird, ist Objektivität weder möglich noch erwünscht. Objektivitätsforderungen verkommen da aus dem Blickwinkel eines Kommunikators zu funktionswidrigen Fesselungsversuchen publizistischer Autonomie und Freiheit. Ein vorläufiges Resümee an dieser Stelle muss festhalten: Wenn Medien lediglich als technische Mittel verstanden werden, um unidirektional Aussagen zu verbreiten, deren Urheber ausschließlich oder doch überwiegend der Journalist als ›Kommunikator‹ sein soll, so liegt – unabhängig von allen Ziselierungen oder Modifikationen im Detail – ein ›publizistisches‹ Dispositiv vor. Das ist die Summe aller wesentlichen Festlegungen, die den Bedeutungskomplex ›Massenkommunikation‹ bestimmen (sollen). In diesem Dispositiv erscheint und wirkt jede Form von Objektivität durchweg deplatziert und prozessstörend. Freilich gab es zu allen Zeiten, in denen Massenkommunikation sich entwickelte oder vollendet in Erscheinung trat, Konstellationen in den Mediensystemen und journalistische Selbstverständnisse, die dem von Maletzke entworfenen Modell nahe kamen. Die Gegenwart macht davon keine Ausnahme, wie schon die verschiedenen Abwehrformeln gegen die Objektivität demon97

Maletzke, Massenkommunikation, (Fn 10), S. 94.

– 220 –

das fachstichwort

strieren, die oben zitiert wurden. Der Regelfall dessen, was wir als Massenkommunikation zu bezeichnen gewöhnt sind, ist solche auf die Rhetorik eines Kommunikators reduzierte Ansprache an Viele oder an die Massen keineswegs – erst recht nicht ein Ausschließlichkeitsfall. Objektivität: konstitutiv für vermittelte Mitteilung Von den Anfängen ihrer Entwicklung an ist Massenkommunikation primär und vor allem anderen Nachrichtenarbeit zur »allgemeinen und aktuellen Nachrichtenbedarfsbefriedigung«.98 Der Leitsatz der Nachrichtenarbeiter lautete daher: »Relata refero.« In etwas freier Übersetzung: ›Die mir zugegangenen Berichte berichte ich weiter.‹ Das war und blieb ihre offen deklarierte und stillschweigend konsentierte Arbeits- und Selbstverständnisformel über eine Zeitspanne von rund zweihundert Jahren durch alle Entwicklungsphasen des Zeitungswesens und durch sämtliche Wandlungen des journalistischen Handwerks – bis Joseph Görres damit begann, den Ruf und die Bedeutung der Nachrichtenblätter als den »mageren, geist- und kraftlosen Index dessen, was gewesen«,99 zu untergraben. Die spätere Kampf-, Partei- und Gesinnungspresse griff das Verdikt zu ihrer Selbstrechtfertigung eifrig auf. Verdrängen oder gar ersetzen konnten diese publizistischen Spielarten den klassischen Nachrichtenjournalismus niemals. Bezieht man die historischen und die sachlichen Dimensionen der Nachrichtenarbeit ein, so gewinnen die Antworten auf die Grund98

Baumert, Journalismus, (Fn 26), S. 1.

99

Zit. nach Ludwig Salomon: Geschichte des Deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches. Bd. 3. Oldenburg und Leipzig 1906, S. 70. [Neudruck Aalen 1973.]

objektivität im journalismus

– 221 –

fragen eine gänzlich andere Kontur. Otto Groth, der gelehrte und kenntnisreiche Außenseiter des Faches, zugleich aber renommierter Praktiker, kommt so zu dem Ergebnis, der »Sinn des Periodikums« – der Begriff schließt alle Medien der Massenkommunikation, Presse, Hörfunk und Fernsehen ein – sei »nicht die Mitteilung, sondern vermittelte Mitteilung, Vermittlung von Mitteilungen«.100 Dazu präzisiert er: »Vermitteln heißt, eine Person oder eine Sache als Mittelstück zwischen getrennte Personen oder Sachen einschieben, überhaupt durch Einschieben eines Mittelstücks Auseinanderliegendes einigen, zugänglich machen.« Ein solches Mittelstück sei im Pressewesen »das Werk«, also die Zeitung oder die Zeitschrift. Das Werk vermittle zunächst und vor allem und sei mithin und insoweit ›Medium‹.101 Die Sinndeutung des Mediums als eines »Werkzeuges der Vermittlung« sei bislang »nur von wenigen Schriftstellern klar und konsequent vertreten worden«, bemerkt Groth.102 Er selbst reißt so den Bedeutungsraum des Medienbegriffs weit auf, den ansonsten die meisten Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler versperren. Denn für diese, so registriert Stefan Hoffmann, hätten Bedeutungen des Terminus ›Medium‹ wie ›Mitte‹, ›Mittelstück‹, ›Mittler‹ oder gar ›Bote‹ nur den Charakter störender Verwässerungen, gegen die massive »Abwehrreflexe« mobilisiert würden.103 Wenn nun der Medienbegriff nicht etwa ausgeweitet, sondern auf seine eigentliche und ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt, auf die ›Mitte‹ oder das ›Mittlere‹ fokussiert wird, verändert dies den Blick auf den (Massen-)Kommunikationsprozess und ermöglicht

100

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 90. (Hervorh. i. Original.)

101

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 96. (Hervorh. i. Original.)

102

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 99.

103

Hoffmann, Medienbegriff, (Fn 83), S. 9 ff.

– 222 –

das fachstichwort

dessen völlig andersartige Modellierung. »Ein solches Kommunikationsmodell kann nicht mit einem technisch-instrumentellen Medienbegriff arbeiten, weil es auf die Vermittlung zwischen Kommunikationsteilnehmern ankommt und nicht auf die Vermittlung von Botschaften.«104 Entsprechend klärt Groth darüber auf, dass die (Massen-)Medien zumindest »zwei Beziehungspunkte« brauchen, »zwischen denen das Vermitteln eine Beziehung knüpfen soll – wir können sie in unserem Fall Partner nennen, und je nach der Richtung, in der sich die Vermittlung vollzieht, Ausgangspartner und Zielpartner unterscheiden.«105 Ausgangspartner sind in diesem Prozess diejenigen, die etwas mitteilen (wollen), Zielpartner diejenigen, an die solche Mitteilungen gerichtet sind oder die sich dafür interessieren. In beiden Partnerrollen können auch und gerade in der sogenannten Massenkommunikation Einzelpersonen, aber ebenso Sozialgebilde aller Art auftreten, lose verbundene Interessengruppen, Organisationen, Vereine und Verbände, Parteien und Institutionen, Regierung und Bürgerinitiativen. Dabei werden sich Sozialgebilde in aller Regel durch ihre (meist förmlich legitimierten) Repräsentanten verlauten lassen.106 Weil und insofern also Massenmedien zwischen den Partnern einer unaufhörlich in der Gesellschaft selbst sich vollziehenden Kommunikation vermitteln, manifestieren sie das »Zeitgespräch der Gesellschaft«,107 das heißt die Soziale Kommunikation zu allen 104

Hoffmann, Medienbegriff, (Fn 83), S. 158. (Hervorh. i. Original.)

105

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 100. (Hervorh. i. Original.)

106

Vgl. Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 119-134. Auch Hans Wagner: Kommunikation im Plural. In ders.: Journalismus i: Auftrag. Gesammelte Beiträge zur Journalismustheorie. Erlangen 1995, S. 235-262.

107

Siehe dazu Bernd M. Aswerus: Vom Zeitgespräch der Gesellschaft. (Hrsg. von Hans Wagner.) München 1993. (ex libris kommunikation Bd. 3.)

objektivität im journalismus

– 223 –

Themen, welche die Zeitgenossen hier und heute bewegen. Den Kommunikationsinteressenten in der Gesellschaft kommen und stehen also die Partnerrollen zu. Sie sind die wirklichen, regulären Urheber der (allermeisten) Aussagen in der Massenkommunikation, nicht der Journalist. Jede einigermaßen sauber formulierte Nachricht einer Zeitung oder eines Informationsprogramms in Hörfunk und Fernsehen ist dafür ein einleuchtendes Paradigma.108 Der Journalist ist eben nicht der ›Kommunikator‹, als der er im publizistischen Register fungiert, erst recht nicht der bevorzugte oder gar der alleinige, monolog agierende Aussageträger. »Die Grundfunktion des Journalisten (...) ist die des Vermittlers«, erklärt Groth, den praxiserfahrenen Zeitungskundler Erich Everth zitierend.109 Zu vermitteln hat er die Kommunikationsbeiträge aus der Gesellschaft für die Gesellschaft. Er ist der »Gesprächsanwalt der Gesellschaft« (Aswerus), verantwortlich dafür, dass gesellschaftliche Kommunikation in Gang kommt und in Gang bleibt, dass allen Gesprächspositionen und -interessen gleichberechtigt Chancen auf öffentliche Artikulation und Vernehmbarkeit eingeräumt werden im Medium, welches als ›Mitte‹, als »runder Tisch«110 oder als ›Forum‹ allen zugänglich sein muss. Als ›aktiver Vermittler‹ ist er jedoch nicht einfach eine Art Transportroboter gesellschaftlicher Kommunikationsbeiträge. Vielmehr – um wenigstens die Oberfläche zu skizzieren – beobachtet er die Gesprächspositionen, sucht sie auf, animiert und provoziert sie

108

Vgl. dazu Hans Wagner: Das Fachstichwort: Massenkommunikation. In: Groth, Vermittelte Mitteilung (Fn 10), (S. 187-240), S. 236 ff.

109

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 99.

110

Die Metapher des ›runden Tisches‹ für die Medien der Massenkommunikation verwendet die von einer Päpstlichen Fachkommission erarbeitete »Pastoralinstruktion Communio et Progressio über die Instrumente der sozialen Kommunikation« von 1971. (Deutsche Ausgabe Trier 1971, Nr. 19.)

– 224 –

das fachstichwort

gegebenenfalls; er trägt die Kommunikationsbeiträge zusammen, er wählt sie aus, er transformiert sie mediengerecht und greift so massiv in das gesellschaftliche Kommunikationsgeschehen ein. Analyse der Vermittlung: die Neutralität der Mitte Tatsächlich ist der Vermittlungsvorgang nicht nur komplex. Er ist zudem außerordentlich anspruchsvoll – nicht zuletzt für den Vermittler selbst. Weil das Vermitteln als eine der bedeutsamsten Funktionen der modernen Kulturgesellschaft bis dahin kaum geklärt worden ist, macht Groth sich selbst an eine Analyse des Phänomens. Dabei arbeitet er alle wesentlichen Aspekte heraus, die erst neuerdings Sybille Krämer in ihrem scharfsinnig entwickelten Konzept eines ›Botenmodells‹ expliziert hat.111 Botengang und Botenfigur bilden gewissermaßen ein prototypisches Koordinatensystem, in das auch die Modalitäten der Vermittlung in der Massenkommunikation eingetragen werden können. Es sind fünf Dimensionen, die das ›Botenmodell‹ und damit die Vermittlung bestimmen. (1.) Die erste »unentbehrliche Bedingung des Vermittelns« ist »ein Zwischenraum oder ein Unterschied, eine Distanz oder eine Spannung körperlicher oder geistiger Art zwischen den Partnern«, die überbrückt werden muss.112 (2.) Vermittlung steht immer im Dienst der Kommunikationspartner, deren Mitteilungen sie gemäß der Formel ›relata refero‹ aufnimmt und weitergibt.113 Inso111

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 108-119. – Die folgende Darstellung orientiert sich in der Reihenfolge der einzelnen konstitutiven Elemente an diesem Botenmodell.

112

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 101. (Hervorh. i. Original.)

113

Vgl. Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 100 et passim.

objektivität im journalismus

– 225 –

fern ist der Vermittler vom Gesprächsinteresse der Partner, also »von außen gesteuert«, ist »heteronom«, handelt er »im Auftrag«;114 nach Groth einerseits im Auftrag der Ausgangspartner, andererseits stets mit Blick auf die Bedürfnisse der Zielpartner. So wird der Bote zugleich auch eine »Extension des Körpers seines Auftraggebers, der im Boten nicht nur repräsentiert wird, sondern ein Stück weit auch anwesend und gegenwärtig gemacht wird«.115 Groth stimmt zu: »Die Vermittlung schließt in sich die Vertretung, die Repräsentanz. Jeder Vermittler vertritt – mit oder ohne [ausdrücklichen; H.W.] Auftrag – eine Person, ein Kollektiv, ein Werk, eine Anstalt, in dem doppelten Sinne, dass er an die Stelle dieser tritt und zugleich ihre Interessen vertritt.«116 (3.) Vermittlung ist sodann eine »Keimzelle der Sozialität«,117 in ihr liegt eine »gemeinschaftsbildende Kraft«,118 sofern und weil sie kommunikatives Geben und Nehmen ermöglicht, die Auseinandersetzung der Überzeugungen und Meinungen fördert, so auch das Wissen voneinander und übereinander, weil sie so den Boden bereitet für die Zusammenarbeit und das Zusammenleben aller. (4.) Ganz lapidar fixiert Groth die vierte Dimension: Vermittlung bedarf der Gegenstände, die zu vermitteln sind.119 Tatsächlich handelt es sich bei diesen Gegenständen um die Mitteilungen der Kommunikationspartner zu Themen aller Lebensbereiche, also um den ›Stoff‹ des Medieninhalts. Um diese Mitteilungen zu vermitteln, müssen sie mediengerecht ›verkörpert‹ werden; nur so können sie verbreitet und für andere wahrnehmbar gemacht werden. Dabei hat der 114

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 112. (Hervorh. H.W.)

115

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 113.

116

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 145. (Hervorh. i. Original.)

117

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 114.

118

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 98 sowie S. 101 f. (Hervorh. H.W.)

119

Siehe Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 100.

– 226 –

das fachstichwort

Vermittler »die Botschaft nicht nur zu überbringen, sondern sie zugleich zu bewahren«.120 (5.) Die letzte Dimension kennzeichnet Sybille Krämer mit dem Stichwort »Indifferenz als Selbstneutralisierung«. Der Bote, so erklärt sie, »nimmt die Mitte ein, und das heißt: Er ist nicht Partei. Die Neutralität der Mitte ist die Wurzel des Mittleramtes. Diese indifferente Position wird sinnfällig in der Tendenz des Boten zurückzutreten, sich zurückzunehmen zugunsten dessen, was er zu übertragen und zu sagen hat.«121 Die Grothsche Parallele lautet: »Einseitigkeit zerstört jede Mittlerfunktion. Der Makler muss zwischen den Partnern stehen, Neutralität prästieren, auch wenn seine [private; H.W.] Neigung und Absicht dem einen Partner gehören.«122 Mit den Begriffen ›Neutralität‹, ›Unparteilichkeit‹, sachbezogene ›Indifferenz‹, welche diese Dimension beschreiben, stoßen wir unmittelbar und direkt auf das für die Vermittlung von Kommunikation relevante Objektivitätsphänomen. Aber man kann und darf diese Dimension nicht von den anderen Dimensionen trennen und isolieren. Alle genannten Dimensionen bilden zusammen das Maß kommunikativer Vermittlung. Das heißt aber auch: Objektivität in der Gestalt von Unparteilichkeit oder Neutralität oder Unbeteiligtsein, soweit es um den Gehalt der zu vermittelnden Gegenstände geht, ist konstitutiv für journalistische Vermittlung. Das gilt ebenso für die vierte Dimension, die ja besagt, dass in allen Prozeduren der ›Verkörperung‹ von Mitteilungen deren Gehalt bewahrt werden muss. Denn damit ist ein Kernelement journalistischer Objektivität, die Sinntreue, in ersten Umrissen angedeutet. 120

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 116.

121

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 117 und 118. (Hervorh. i. Original.)

122

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 102. (Hervorh. H. W.)

objektivität im journalismus

– 227 –

Wenn man auch für dieses Konzept die Einzelelemente zusammenfasst, so hat man es hier mit einem ›journalistischen‹ Dispositiv für Massenkommunikation zu tun; darin sind folgende Festlegungen an- und einander zugeordnet: Das Medium, das – als Mitte und Mittelstück verstanden – die Kommunikationspartnerschaften aus der Gesellschaft miteinander verbindet; der Journalist, der als Vermittler und Anwalt der ganzen gesellschaftlichen Kommunikation fungiert; ein Massenkommunikationsprozess, der über komplexe Prozeduren des Vermittelns als ein Prozess vermittelter Mitteilungen in Erscheinung tritt, als eine »Reduktion der Komplexität« gesellschaftlicher Kommunikationswirklichkeit. In diesem ›journalistischen‹ Dispositiv ist Objektivität eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass Massenkommunikation überhaupt und sodann auch angemessen funktioniert. Hält man nun die beiden Dispositive für Massenkommunikation, das ›publizistische‹ und das ›journalistische‹, gegeneinander, so gewinnt man den Eindruck, es handle sich dabei letztlich um unvereinbare Gegensätze. Dieser Eindruck ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist er dann, wenn man die Dispositive auf der Makroebene zur Globalerklärung der Massenkommunikation einsetzt. In diesem Fall schließen sich die beiden Erklärmodelle gegenseitig aus, weil Massenkommunikation als Gesamterscheinung nicht Massenansprache oder Massenbeeinflussung durch Kommunikatoren und zugleich journalistisch vermittelter Austausch gesellschaftlicher Kommunikationsinteressenten in einem sein kann; und Objektivität vermag sich nicht im nämlichen Kommunikationsprozess einmal als fehl am Platz und das andere Mal als prozesskonstitutiv zu erweisen. Der Eindruck eines unüberbrückbaren Gegensatzes täuscht jedoch, wenn man auf der Mikroebene Teilphänomene der Massenkommunikation visitiert, etwa die Urheber der in den Medien vermittelten Aussagen überprüft. Dann findet man selbstredend in unterschiedlichen Medien

– 228 –

das fachstichwort

in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen neben Aussagen, die von gesellschaftlichen Urhebern stammen, auch Aussagen von Berufspublizisten oder ›Kommunikatoren‹ – und letztere nicht nur in Kommentaren, Glossen oder Reportagen. Gleichwohl können in den Medien der Grundversorgung die Aussagen aus publizistischer Urheberschaft die Dominanz der vermittelten Mitteilungen aus der Gesellschaft nicht brechen. Allein dadurch wird evident, dass das ›publizistische‹ Dispositiv zur Erklärung der Massenkommunikation als ganzer nicht taugt: Es verabsolutiert eine Teilerscheinung in der Massenkommunikation und gibt diese für das Ganze aus. Was die Objektivitätsnorm betrifft, so ist unter diesen Vorzeichen zumindest verständlich, wenn die als Aussagen-Urheber sich verstehenden Publizisten eine solche Norm für ihre Arbeit als Zumutung empfinden und sie daher ablehnen. Indessen kann daraus eine generelle Ablehnung der Objektivität in der Massenkommunikation überhaupt nicht begründet werden. Die Typen ›Journalist‹ und ›Publizist‹ und das Unparteilichkeitsprinzip Genau dies aber geschieht in den allermeisten Fällen. Praktiker und Wissenschaftler lehnen ein Objektivitätspostulat für den Journalismus entweder pauschal ab oder sie fordern auf der anderen Seite Objektivität für alles, was alltagssprachlich unter Journalismus firmiert, ein. Diese Verallgemeinerung unterschlägt jedoch eine entscheidende Differenzierung, die das Schlüsselstück der beiden Dispositive für Massenkommunikation betrifft: die Rollen und das Rollenverständnis des in der Massenkommunikation tätigen journalistischen Personals. Otto Groth merkt als ein Ergebnis seiner umfassenden Praxisbeobachtungen an, dass wir »zwei Arten von journalistischer Tätigkeit klar auseinanderhalten« müssen: »die in der Hauptsache vermittelnde (...) und die

objektivität im journalismus

– 229 –

vornehmlich produzierende, die den Stoff, der noch zu vermitteln ist, selbst erzeugt und dem Vermittler zu Verfügung stellt«.123 Diese Unterscheidung hat nicht nur eine sachliche, sondern eine erhebliche historische Dimension, die bis in die frühesten Zeiten der Nachrichtenarbeit zurückreicht. Da kannte man schon ›Zeitunger‹ von zweierlei Statur: die einen, die von Kriegs- und Friedensläufen neutral berichteten, andere sodann, die offen tendenziöse Parteinahme demonstrierten. Auch ihre Produkte waren kaum zu verwechseln: Die Berichte der einen füllten die Avisen, die Postzeitungen und sonstige Nachrichtenblätter; die anderen präsentierten ihre Sicht der Dinge in Pamphleten, Pasquillen oder Flugschriften aller Art. Und 1726 trennte Paul Jacob Marperger, ein früher Nationalökonom und gelehrter Schriftsteller, die Presseerzeugnisse seiner Zeit danach, ob sie »entweder aufrichtig, zuverläßig, unparteyisch« oder »zum Theil erdichtet« und »parteyisch« angefertigt wurden.124 Fast genau zweihundert Jahre später legte Wilhelm Spael125 auf der Grundlage dieser und weiterer Kriterien die Konstruktion der Idealtypen ›Journalist‹ und ›Publizist‹126 vor. Der ›Journalist‹ ist 123

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 110.

124

Siehe Hans Wagner: Der Ur-Journalist. In ders., Journalismus, (Fn 106) (S. 69-124), S. 113 f.

125

Wilhelm Spael: Publizistik und Journalistik und ihre Erscheinungsformen bei Joseph Görres (1798-1814). Ein Beitrag zur Methode der publizistischen Wissenschaft. Köln 1928.

126

Vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass Idealtypen nichts mit Idealen zu tun haben. Es handelt sich dabei vielmehr um gedankliche, d.h. um ideelle Konstruktionen, die als Maßbegriffe eingesetzt werden können, um herauszufinden, ob eine in der Wirklichkeit gegebene Erscheinung dem Typus entspricht oder wie nahe sie ihm kommt. – Wenn im Folgenden, abweichend von der alltagssprachlichen Verwendung der Berufsbezeichnungen von ›Journalisten‹ oder ›Publizisten‹ im Sinne der Typenkonstruktion die Rede ist, werden die Bezeichnungen in einfache Anführungszeichen gesetzt.

– 230 –

das fachstichwort

nach Spael derjenige, »der die Geschehnisse ins Publikum leitet, ohne irgendwie zu färben, nur mit der Absicht, sie mitzuteilen, zu ›referieren‹«; der ›Publizist sei ganz wesentlich »Agitator«, der »immer in der Farbe seiner Tendenz« schildert, wie er die Geschehnisse sieht, der »Kritik an Zeit und Gesellschaft« übt und dazu »die Masse des Neuen nach gewissen Gesichtspunkten ordnet und klärt und so das Verlangen der Leserschaft nach Führung, Entscheidung und Urteil befriedigt«.127 Das konstitutive Konstruktionskriterium dieser Typenbildung lässt sich also recht einfach bestimmen: ›Journalist‹ ist einer, der Nachrichtenarbeit nach dem Unparteilichkeitsprinzip leistet, ›Publizist‹ dagegen derjenige, der Nachrichtenarbeit an Parteilichkeit ausrichtet.128 Das bedeutet, dass der ›Journalist‹ unabhängig von einzelnen Kommunikationsinteressen, auch und vor allem unabhängig von den eigenen, die Sach- und Meinungsmitteilungen Dritter möglichst umfassend und ihrem Sinnkern adäquat in referierenden, jeweils mediengerecht bearbeiteten und konzentrierten Berichten vermittelt. Der ›Publizist‹ ist demgegenüber entweder den eigenen Kommunikationsinteressen oder denen Dritter verpflichtet; als kommunikativer Anwalt solcher Interessen gibt er weiter oder verlautbart er, was einer, das heißt immer auch: was seiner Kommunikationspartei entspricht. Die Konsequenz im Blick auf das

127

Spael, Publizistik, (Fn 124), S. 22 f.

128

Diese Typik entspricht ebenfalls einer langen ideengeschichtlichen Tradition. So definiert etwa Carl Theodor Welcker in dem von ihm und Carl W. v. Rotteck herausgegebenen Staatslexikon (13. Bd., Altona 1842, S. 321) ›Publicisten‹ wie folgt: »Dieses sind Schriftsteller oder Lehrer im Fache des jus publicum oder im Staats- oder Völkerrecht. Früher setzte man wohl bei diesem Namen stets studirte Juristen voraus. In neuerer Zeit (...) gibt man diesen Namen gewöhnlich auch allen politischen Schriftstellern und insbesondere auch den Zeitungsschreibern, sobald sie über politische Verhältnisse Grundsätze und Meinungen aufstellen und vertheidigen.«

objektivität im journalismus

– 231 –

Publikum hat Otto Groth geradezu aphoristisch zugespitzt: Der ›Publizist‹ (...) will ein Publikum in seinen Dienst stellen, der ›Journalist‹ stellt sich in den Dienst seines Publikums.« 129 Diese Typenbildung mit ihrer prägnanten Doppelgestalt der Nachrichtenarbeit ist in der deutschsprachigen und amerikanischen Kommunikationsforschung von teils ganz verschiedenen Zugängen aus mit einigen begrifflichen Variationen, jedoch ohne Änderung der Kriteriensubstanz originär gefasst oder wieder aufgenommen worden,130 ohne dass daraus nennenswerte Konsequenzen für die Journalismustheorie und noch weniger für die journalistische Praxis gezogen worden wären. Aber gerade dann, wenn man der journalistischen Praxis gerecht werden will, wenn man nicht überzogene Objektivitätsforderungen an die falsche Adresse ausfertigen will, muss diese Typik mit ihrer Differenzierung der Nachrichtenarbeit sorgfältig beachtet werden. Das ergibt sich auch aus einer vollkommen konvergenten Unterscheidung, die Helmut Schelsky unter soziologischen Aspekten vorschlägt. Er hält strikt »Informationspublizistik« und »Integrationspublizistik« auseinander. Erstere charakterisiert er so: »Als Informant« hat der Journalist die Aufgabe, die Urteilsfähigkeit des Publikums »durch übermittelte Tatsachen, Beziehungen und Gesichtspunkte zu bereichern und zu stützen«. Dazu muss der »Informator« sich »sozusagen allen politischen Wirkwillens entledigen und nur unterrichten wollen. Sein Berufsethos der Sachlichkeit besteht also darin, möglichst nur über ›die Natur der Sache‹ selbst oder (...) über die Vielzahl der sie erfassenden Gesichtspunkte und Zusammenhänge in Kenntnis zu setzen.« Auf der anderen Seite ist 129

Otto Groth: Die unerkannte Kulturmacht. Bd. 4: Das Werden des Werkes. Berlin 1962, S. 201.

130

Einige Literaturbelege hierzu finden sich im Beitrag von Detlef Schröter in diesem Band S. 146, Fußnote 8.

– 232 –

das fachstichwort

»Integrationspublizistik« die »Kunst der Willensführung und Meinungsbeeinflussung«. Mit diesem Ziel »ist der Publizist immer der Gehilfe einer sozialen oder gar institutionellen Machtausübung«. Diese geht nicht nur vom Staat, von Parteien oder von der Wirtschaft, sondern ebenso von den »lockerer organisierten Gesinnungsgruppen« aus. Die Wirkweise solcher Publizistik ist keineswegs nur in der offenen Propaganda zu suchen, sondern vor allem in »ausgewählten Informationen«, das heißt »in der Beschränkung der mitgeteilten Tatsachen auf die für die eigene Absicht wirkungsgünstigsten und in der Überzeugungskraft der eigenen Meinung als der einzig richtigen«. »Daher liegt das Berufsethos dieses Publizisten in seiner politischen Überzeugung begründet, mit der er sich in den Dienst der ›Sache‹ stellt, für die er eintritt.«131 Kein Zweifel also, dass ›Integrationspublizistik‹ sich mit der Position des ›Publizisten‹ deckt, wie andererseits »Informationspublizistik« alle Kriterien enthält, welche die Position des ›Journalisten‹ ausmachen. Darüber hinaus verweist der Soziologe auf zwei nicht unwesentliche Rahmenbedingungen dieser Typik, die weiterführen können. Komplementäre Rollen, sozial notwendige Funktionen Zum einen hält er fest, dass ›Journalist‹ und ›Publizist‹ sich »der gleichen Techniken und der gleichen Medien« bedienen, also beim Sammeln, Bearbeiten und Weitergeben der Nachrichten auf die nämliche Weise verfahren. Nicht das Handwerk der Nachrichtenarbeiter gibt mithin die Unterscheidungsmerkmale her, 131

Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen 1975, S. 331 f. (Hervorh. H.W.)

objektivität im journalismus

– 233 –

sondern der Zweck, den sie mit solcher Nachrichtenarbeit verfolgen. Ihre Motive sind grundverschieden; und diese werden bestimmt von einer »sich gegenseitig ausschließenden moralischen Berufsauffassung«.132 Gleichwohl und zum anderen muss auch unterstrichen werden, dass beide, ›Journalist‹ und ›Publizist‹, eine »in jeder modernen, insbesondere demokratischen Gesellschaft (...) lebensnotwendige gesellschaftliche Aufgabe« erfüllen.133 Entbehrlich für die soziale Kommunikation ist keiner von beiden. ›Publizisten‹ ergreifen an ihren Funktionsplätzen häufig die Initiative, um die Einzel- und Sonderinteressen der verschiedenen Kommunikationsparteien in der Gesellschaft zu artikulieren und öffentlich zu machen. So schaffen sie die Voraussetzung dafür, dass eine Konfrontation der vielen Interessen miteinander sowie im Fortgang eine öffentliche Auseinandersetzung hierzu stattfinden kann.134 Eine solch öffentliche Auseinandersetzung, die Suche nach den je besten Lösungen im Gesellschaftsgespräch kann jedoch nur gelingen, wenn die artikulierten Einzelinteressen in geeigneten Medien ge- und versammelt werden, wenn sie ohne parteiliche Rücksichtnahme dargestellt und allen vernehmbar präsentiert werden. Dies aber ist nicht Sache der kommunikativen Parteianwälte, der ›Publizisten‹ also. Dies ist genuin Sache des unparteilichen ›Journalisten‹. ›Journalist‹ und ›Publizist‹ nehmen für die gesellschaftliche Kommunikation mithin komplementäre Funktionen wahr. Die beiden Idealtypen markieren nicht einen konträren Gegensatz, sondern die Extrempositionen auf einem Rollen- und Einstellungskontinuum. In der Berufs- und Medienwirklichkeit prägen sich daher 132

Schelsky, Arbeit, (Fn 131), S. 331.

133

Schelsky, Arbeit, (Fn 131), S. 332.

134

Vgl. hierzu Franz Ronneberger: Legitimation durch Information. Düsseldorf/ Wien 1977, S. 10 ff.

– 234 –

das fachstichwort

ganz verschiedenartige Mischformen aus, die einmal mehr nach der einen, und dann wieder mehr nach der anderen Seite ausschlagen. Solche Rollen- und Funktionsmixturen beginnen schon damit, dass im Rahmen der hierzulande üblichen Redaktionsorganisation die gleichen Leute recherchieren, berichten und kommentieren. Die Mischkonstellationen schlagen insbesondere im Rollenselbstverständnis zu Buch. Nach den abgefragten Selbstauskünften deutscher Journalisten bestimmt »politischer Journalismus« als Hauptfaktor journalistisches Tun, was einschließt, den Gegenpart zu Politik und Wirtschaft zu spielen, die politische Agenda zu beeinflussen sowie Kritik an Mißständen zu üben. Zu hohen Prozentsätzen bekunden indessen die gleichen Journalisten die Absicht, sie wollten das Publikum neutral und realitätsentsprechend informieren, nur bestätigte Fakten weitergeben und Nachrichten schnellstmöglich liefern.135 Da haben also offenbar viele deutsche Journalisten zwei Seelen in ihrer Brust, eine ›publizistische‹ und eine ›journalistische‹. Doch jede der beiden Seelen strebt in eine andere Richtung: die ›publizistische‹ zur überzeugungstreuen Subjektivität, die ›journalistische‹ zur unparteilichen Sachlichkeit, zur Objektivität – jedenfalls sollte sie dahin streben. Problematisch nämlich ist und wird diese zwielichtige Berufsauffassung immer dann, wenn ein ›Publizist‹ mit seiner parteilichen Gesinnung einen Funktionsplatz einnimmt (in des Wortes mehrfacher Bedeutung), an dem zwingend eine unparteilich ›journalistische‹ Vermittlung geboten wäre. Schelsky hatte schon bemerkt, es sei »das verführerische Dilemma der modernen Publizistik«, »eine Aufgabe unter dem Anschein der anderen zu erfüllen«. Denn dabei komme es zu einer »Verfälschung der Informa-

135

Vgl. dazu Armin Scholl / Siegfried Weischenberg: Journalismus in der Gesellschaft. Opladen/Wiesbaden 1998, S. 167 ff.

objektivität im journalismus

– 235 –

tion« aufgrund der »Absage an die Sachlichkeit«; dies werde begründet und gerechtfertigt mit dem »›Engagement‹ für irgendwelche politischen oder sozialen Überzeugungen, zu denen sich der betreffende Journalist oder Publizist subjektiv entschlossen hat.«136 Der »Publizist am falschen Platz« ersetzt auf diese Weise das ›journalistische‹ Vermittlungsprogramm durch ein ›publizistisches‹ Überzeugungs- und Führungsprogramm.137 Besonders gravierend wirkt sich das in den Medien der Grundversorgung aus, zu denen – entgegen weit verbreiteter Fehlinterpretation – nicht nur die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, sondern auch die (Abonnement-)Tageszeitungen zählen, alle jene Medien zumal, die für ihre Nutzer eine mehr oder weniger ausgeprägte Monopolstellung haben und zugleich verpflichtet sind oder als Selbstverpflichtung versichern, über sämtliche Welt- und Lebensbereiche schnell und vollständig zu informieren. Medien der Grundversorgung sind für eine freie und demokratische Gesellschaft »unentbehrliche Massenkommunikationsmittel«, erklärt das Bundesverfassungsgericht in völliger Übereinstimmung mit dem hier vorgelegten Konzept von Massenkommunikation; denn sie »verschaffen dem Bürger die erforderliche umfassende Information über das Zeitgeschehen und über Entwicklungen im Staatswesen und im gesellschaftlichen Leben. Sie ermöglichen die öffentliche Diskussion und halten sie in Gang, indem sie Kenntnis von den verschiedenen Meinungen vermitteln, dem einzelnen und den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Gelegenheit geben, meinungsbildend zu wirken, und sie stellen selbst einen entscheidenden Faktor in dem permanenten Prozess der öffentli-

136

Schelsky, Arbeit, (Fn 131), S. 332.

137

Siehe dazu Hans Wagner: Medien-Tabus und Kommunikationsverbote. Die manipulierbare Wirklichkeit. München 1991, S. 61 ff.

– 236 –

das fachstichwort

chen Meinungs- und Willensbildung dar.«138 Wenn hier das Bundesverfassungsgericht die ›Medium‹-Funktion von Hörfunk, Fernsehen und Presse für die gesellschaftliche Kommunikation relativ ausführlich und konkret beschreibt und dann noch ausdrücklich auf die Bedeutung der ›Faktor‹-Funktion eben dieser Medien hinweist, so übernimmt auch die höchstrichterliche Rechtsprechung die Unterscheidung zwischen einer ›journalistischen‹ und einer ›publizistischen‹ Leistung.139 Ganz offensichtlich betrachtet das Gericht die beiden Funktionen komplementär einander zugeordnet, ohne eine eindeutige Priorisierung vorzunehmen. Nicht selten führt das dann in einschlägigen Kommentaren und vor allem in der publizistischen Praxis zu einer Überbewertung der ›publizistischen‹ Faktor-Funktion. Von der Sache her allerdings kommt man nicht umhin, der ›journalistischen‹ Medium-Funktion Priorität einzuräumen, weil von ihr abhängt, ob die für die öffentliche Meinungsbildung und für die Integration der Gemeinschaft konstitutiven gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse einigermaßen zureichend und zuverlässig ablaufen. Insoweit hat in den Medien der Grundversorgung der vermittelnde Journalist eindeutig Vorrang vor dem produzierenden,140 der ›Journalist‹ vor dem ›Publizisten‹, der

138

Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Das Lebach-Urteil (vom 5. Juni 1973). In: Archiv für Presserecht (AfP), 2/1973, (S. 423-432), S. 427.

139

Die Kurzformel »Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung« zur Funktionsbestimmung insbesondere der Medien der Grundversorgung taucht erstmals im sogenannten ›Fernsehurteil‹ des Bundesverfassungsgerichts (vom 28. Februar 1961) auf, in dem das ›Adenauer‹-Fernsehen für verfassungswidrig erklärt wurde. In der Folge wird die Kurzformel in verschiedenen Medien-Urteilen immer wieder aufgenommen. Vgl. dazu für die Anwendung auf den Rundfunk Albrecht Hesse: Rundfunkrecht. München 2 1999, S. 60 ff.

140

Siehe dazu Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 110.

objektivität im journalismus

– 237 –

Bericht vor dem Kommentar.141 Auf dem gesamtgesellschaftlich offenen Forum, das die Medien der Grundversorgung vorhalten und das vom ›Journalisten‹ verantwortlich verwaltet und gestaltet wird, haben selbstverständlich auch ›Publizisten‹ Zugang und Rederecht. Das Metaprinzip der Objektivität Es gibt also insgesamt gute Gründe, wenn Philomen Schönhagen (127 f) und Detlef Schröter (146 f) auf die Idealtypen ›Publizist‹ und ›Journalist‹ in ihren Konzeptionen zur Objektivitätsfrage ausdrücklich Bezug nehmen. Objektivität nämlich ist unlösbar an die Rolle des ›Journalisten‹ und an ein dieser Rolle angenähertes Selbstverständnis des redaktionell tätigen Personals gebunden. Das Berufsverständnis des ›Journalisten‹, als »neutraler Vermittler im Dienste der Kommunikations- und Orientierungsinteressen von jedermann zu stehen«, bezeichnet Schönhagen daher zu Recht als das »Metaprinzip« der Objektivität (128). Es ist Fundament und unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung und für die Einhaltung der Objektivitätsnorm. Von Seiten des Mediennutzers kann umgekehrt eine Objektivitätserwartung nur an den ›Journalisten‹ gerichtet werden – oder präziser: an jenen Teil des journalistischen Personals, der redaktionelle Funktionsplätze in den Medien der Grundversorgung innehat. Die Konstruktion des Idealtypenpaars ›Publizist‹ und ›Journalist‹ ist also grundlegend für die Klärung des Objektivitätsproblems im Journalismus. (Einen zusammenfassenden Überblick über alle wesentlichen Elemente dieser Konstruktion bietet die schematische Darstellung auf Seite 239.) Trifft man aus welchen Gründen auch 141

Vgl. Heinz Starkulla: Presse, Fernsehen und Demokratie. Der ›Wettbewerb‹ der Medien als kommunikationspolitisches Problem. In: Festschrift für Otto Groth. Bremen 1965, (S. 198-206), S. 201.

– 238 –

das fachstichwort

immer die Unterscheidung von ›Journalist‹ und ›Publizist‹ nicht, so gerät man unweigerlich in die bekannten Kalamitäten: Pauschal und generell für alle Medienleute erhoben, provoziert die Objektivitätsforderung meist eine ebenso pauschale Ablehnung. Mit einer gewissen Berechtigung versteifen sich dabei im Namen ihrer subjektiven (Meinungs-)Freiheit all jene auf die Zurückweisung der Objektivitätsforderung, die ›publizistisch‹ in der Öffentlichkeit oder in Medien tätig sind. Doch hinter den Ablehnungsargumenten verstecken sich eben nicht selten auch ›Publizisten‹, die am Funktionsplatz eines ›Journalisten‹ agieren. Von diesen werden dann die Maßstäbe für journalistisches Handeln auf möglichst kleine und vieldeutige Nenner wie etwa ›Fairness‹, ›Vielfalt‹, ›Verständlichkeit‹ oder auch ›Wahrhaftigkeit‹ heruntergebrochen, und Objektivität schrumpft zu einer fragwürdigen Berufsideologie. Zwischenbilanz: Objektivität und Professionalität Es war eine weite Wegstrecke bis zu diesem Punkt. Aber Abkürzungen, wie sie in den Debatten um das Objektivitätsproblem meist gegangen werden, empfehlen sich nicht. Dabei nämlich werden in aller Regel die entscheidenden Abzweigungen verfehlt. Man kann eben Objektivität nicht als eine möglicherweise variable Eigenschaft eines journalistischen Produkts isolieren und zugleich die gesellschaftliche Kommunikation im allgemeinen und deren besonderen Modus der Massenkommunikation, in deren Rahmen journalistische Objektivität eingebunden ist, im Auge behalten. Bevor nun im Detail näher bestimmt wird, was Objektivität im Journalismus positiv bedeutet, lohnt es, sich des erreichten Standorts zu vergewissern und die Einsichten zu bilanzieren, die bisher gewonnen werden konnten:

objektivität im journalismus

– 239 –

– 240 –

das fachstichwort

· Es gibt ganz offenkundig nicht nur ein erkenntnistheoretisches, sondern auch ein massenkommunikationstheoretisches Dementi journalistischer Objektivität, das zugleich immer auch einem Vermittlungsdementi gleichkommt. · In diesem Erklärmuster wird der Journalist zum ›Kommunikator‹ stilisiert, der als autonomer Urheber aller massenmedialen Aussagen agiert. Als Demiurg der Medienrealität ist er, so die Konsequenz, unmittelbar mit dem Ereignis, mit der Welt und also mit der Realität (›an sich‹) konfrontiert. · Da es fraglich ist, ob er diese Realität überhaupt zu erkennen und in seiner eigenen, subjektiven Realitätskonstruktion irgendwie zuverlässig abzubilden oder darzustellen vermag, mündet dieses Erklärmuster mit logischer Notwendigkeit in das erkenntnistheoretische Dilemma einerseits sowie in das Subjektivismus-Dilemma andererseits. · Damit ist unter den Vorzeichen dieses reduktionistischen Verständnisses von Massenkommunikation jeder Objektivitätsforderung oder -erwartung der Boden entzogen. Ein solches Fundament kann auch durch methodische, an wissenschaftliche Verfahren angelehnte journalistische Handwerks-Finessen nicht ersetzt werden. · Historische und aktuell empirische Befunde zeigen jedoch, dass Massenkommunikation eine hochrationalisierte Form konzentrierter Vermittlung sozialer Kommunikation ist. Diese kann nur funktionieren, wenn und wo der Journalist sich als Vermittler des ›Zeitgesprächs der Gesellschaft‹ versteht. · Unter diesen Bedingungen ist der Journalist nicht mehr (oder allenfalls ausnahmsweise) mit Ereignissen oder mit der Realität ›an sich‹ konfrontiert, sondern primär und in aller Regel mit Mitteilungen aller Art über Ereignisse und Realitäten, die von gesellschaftlichen Kommunikationsinteressenten als den

objektivität im journalismus

– 241 –

märquellen stammen, deren Realitätssichten und Realitätsinterpretationen sie manifestieren. · Um solche Vermittlungsdienste zu erbringen, kann und darf der Journalist nicht Kommunikationspartei, nicht selbst (womöglich gar privilegierter) Kommunikationspartner sein. Vielmehr steht er als Vermittler zwischen den Kommunikationsparteien, muss sich selbst zurücknehmen, Neutralität und Unparteilichkeit wahren. Objektivität im Sinne von Unparteilichkeit ist für die journalistische Vermittlerrolle konstitutiv. · Aber nicht alle Medienleute oder Nachrichtenarbeiter, also keineswegs alle, die umgangssprachlich als Journalisten firmieren, leisten die nämlichen Vermittlungsdienste. Vielmehr muss man zwischen ›publizistischen‹ und ›journalistischen‹ Funktionen, zwischen ›Publizisten‹ und ›Journalisten‹ unterscheiden. · Der ›Publizist‹ artikuliert und vertritt in der sozialen Kommunikation ebenso wie in den Massenmedien kommunikative Einzel- und Sonderinteressen, geleitet von seiner Überzeugung oder vom Engagement zugunsten der Ziele, denen er sich verschrieben hat. Des ›Publizisten‹ Beruf ist es, sich aktiv in die gesellschaftliche Kommunikation, in den öffentlichen Meinungskampf einzumischen. Dabei geht er notwendig parteilich zu Werke. · Im Unterschied dazu ist es des ›Journalisten‹ Beruf, vornehmlich in den Medien der informationellen Grundversorgung die Kommunikationsbeiträge und mithin auch jene der ›Publizisten‹ aus allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen zu vermitteln. Seine Sache ist es nicht, sich als möglicher Partner in die gesellschaftliche Kommunikation einzumischen, sondern sie überhaupt erst zu ermöglichen. · Der fundamentale Unterschied zwischen ›Journalist‹ und ›Publizist‹ verbietet es, die gleiche Objektivitätsforderung an beide zu

– 242 –

das fachstichwort

stellen. Lediglich die Rolle des ›Journalisten‹ ist unlösbar an die Einhaltung der Objektivitätsnorm gebunden. · Das Berufsverständnis des neutralen Vermittlers im Dienst der gesellschaftlichen Kommunikationsinteressen wirkt umgekehrt als das Metaprinzip der Objektivitätsnorm und all ihrer Dimensionen. Es begründet journalistische Professionalität und sichert die Qualität journalistischer Nachrichtenarbeit. Damit ist der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen Objektivitätsforderungen im Journalismus nur erhoben werden können und allerdings dann auch erhoben werden müssen. Die Lösung des Objektivitätsproblems kann sachadäquat nur gefunden werden, wenn sie innerhalb dieses Rahmens gesucht wird. Um dieses Ziel zu erreichen, muss klar sein, was Massenkommunikation ist und welche Rolle in ihr und für sie der Journalismus spielt. An den grundlegenden Unterscheidungen, die den Rahmen der Objektivitätsnorm prägen, kommt man dabei nicht vorbei: Nicht an der Differenz von ›publizistischem‹ und ›journalistischem‹ Dispositiv für Massenkommunikation, in deren ersterem kein Platz ist für Objektivität; und nicht an der Differenz von ›Publizist‹ und ›Journalist‹, weil es unsachlich und unbillig wäre, von ersterem Objektivität zu fordern. Aus diesen Unterscheidungen, die zwar einander entsprechen, aber keineswegs miteinander deckungsgleich sind, leiten sich einige weitere Unterschiede ab, die für die Bestimmung von Objektivität unmittelbar relevant sind. Unterschiede, die einen Unterschied für das Objektivitätsgebot machen Da ist zunächst und vor allem der Unterschied der Objekte, mit denen der Journalist hauptsächlich zu tun hat. Man darf und kann nicht davon absehen, ob der Journalist beobachtend

objektivität im journalismus

– 243 –

nächst und dann berichtend primär mit irgendeiner ›Realität an sich‹ oder primär mit Aussagen über eine solche Realität, also mit Darstellungen oder Interpretationen der Realität seitens Dritter konfrontiert ist.142 Der Unterschied der journalistischen Objekte, auf den wir bereits mehrfach gestoßen sind, bedingt nämlich, ob und wie Objektivität als ein Bezug des Journalisten zu seinem Objekt möglich und realisierbar ist. Daran schließt sich mehr oder weniger direkt ein weiterer Unterschied an, der banal aussieht, es aber weder in der Fachwissenschaft noch in der journalistischen Praxis zu sein scheint: der Unterschied nämlich zwischen Kommentar und Meinung. Dieser Unterschied wird häufig negiert und einfach vom Tisch gewischt, wo es um die sogenannte Trennregel von Nachricht und Kommentar geht – wie es präzise heißen müsste. Meist unbedacht, gelegentlich wohl auch absichtsvoll verfälschend redet und schreibt man dann von einer Trennung zwischen ›Nachricht und Meinung‹. Das aber ist etwas gänzlich anderes. Die meisten Nachrichten nämlich enthalten Meinungen, und zwar die Meinungen Dritter, 142

Obwohl für die Lösung des Objektivitätsproblems daraus kaum Konsequenzen gezogen werden, ist dieser Unterschied in der journalistischen Praxis in anderen Zusammenhängen wohlbekannt und bewusst. Das demonstriert der jüngste Eklat um den Henri-Nannen-Preis 2011 treffend. Dem ursprünglich ausgezeichneten Preisträger für die beste Reportage entzog die Jury durch Mehrheitsentscheidung den Preis nachträglich wieder mit folgender Begründung: »Die Glaubwürdigkeit einer Reportage erfordert, dass erkennbar ist, ob die Schilderungen durch die eigene Beobachtung des Verfassers zustande gekommen sind, oder sich auf eine andere Quelle stützen, die dann benannt werden muss.« Dagegen habe der Preisträger in diesem Fall verstoßen. (Siehe Interview mit dem SPIEGEL-Chef Georg Mascolo in Süddeutsche Zeitung, Nr. 108 vom 11. 05. 2011, S. 15; Hervorh. H.W.) Es ist demnach nicht dasselbe, ob ein Sachverhalt oder ein Ereignis durch Autopsie oder über ›Hörensagen‹ wahrgenommen wird, unabhängig davon, ob am Ende der Bericht ›faktentreu‹ und somit realitätsentsprechend ausfällt, was im vorliegenden Fall unbestritten war.

– 244 –

das fachstichwort

die Meinungen etwa von Akteuren aus der Politik, aus der Wirtschaft oder aus der Gesellschaft, die in ihren Rollen auch als Kommunikationspartner aktiv sind und öffentlich erklären, was sie denken, was sie vorhaben, was sie vom Tun und Lassen ihrer Kontrahenten halten; es kann sich aber auch um Meinungen von Primärbeobachtern handeln, die dem Journalisten für seine Berichte als Quellen verfügbar sind. Für den Journalisten sind derartige Meinungsäußerungen Dritter stets Fakten, die im Bericht oder in der Nachricht zu behandeln sind wie alle anderen Fakten. Im Unterschied dazu geben Kommentare (in welcher Form auch immer) die Meinungen oder Einschätzungen des Journalisten wieder. Während er mit Bezug auf die Meinungen Dritter als Vermittler agiert und damit unter der Objektivitätsforderung steht, wechselt er mit der Kundgabe seiner eigenen Meinung in die Rolle eines ›Publizisten‹, der in diesem Falle ohne Einschränkung seiner Subjektivität freien Lauf lässt und lassen kann. Eine dritte unaufgebbare Unterscheidung betrifft die Art und Weise, wie Medien mit dem Wissens-, Perspektiven- und Meinungspluralismus in der Gesellschaft umgehen. Es geht dabei um den Unterschied zwischen Außenpluralismus und Binnenpluralismus. Diese Differenz scheint zunächst etwas weit hergeholt, weil nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, was diese beiden unterschiedlichen Medienstrategien mit dem Objektivitätsproblem zu tun haben sollen. Der Zusammenhang wird indessen sofort deutlich, wenn man beide Strategien näher betrachtet. Im Falle des Außenpluralismus soll die in der Gesellschaft bestehende Meinungs- und Positionsvielfalt durch die Summe aller angebotenen Titel oder Programme der Medien oder einer Medienklasse, also etwa durch die Gesamtheit aller Tageszeitungen oder aller privaten Rundfunkprogramme, abgebildet werden. Das setzt voraus, dass jedes einzelne dieser publizistischen Angebote eine eigene Tendenz nicht nur in der Kommentierung der

objektivität im journalismus

– 245 –

ereignisse, sondern auch und vor allem in der Berichterstattung verfolgt, sich also nur für eine einzige oder nur für eine bestimmte Menge eingrenzbarer politischer, wirtschaftlicher oder allgemein gesellschaftlicher Standpunkte und Interessen stark macht. Und es wird ferner vorausgesetzt, dass die Summe all dieser publizistischen Tendenzen tatsächlich deckungsgleich ist mit der Pluralität der Interessen und Meinungen in der Gesellschaft, was allerdings mit guten Gründen zu bezweifeln ist. Diese Voraussetzungen unterstellen also jedem Medienangebot eine klare Präferenz für eine oder für mehrere (miteinander zu vereinbarende) Interessenoder Meinungspositionen, die in den Angeboten ›publizistisch‹, das heißt nach Maßgabe eben dieser präferierten Überzeugungen und Gesinnungen ›parteilich‹ umgesetzt werden. Im Falle eines konsequent realisierten außenpluralistischen Mediensystems kann somit eine Objektivitätsforderung nicht greifen, soweit diese die Vielfalt der Meinungen und Standpunkte in der Berichterstattung jedes einzelnen dieser Medienangebote betrifft. Völlig anders stellt sich die Objektivitätsfrage und muss auch anders beantwortet werden im Falle eines binnenpluralistischen Mediensystems. Dabei nämlich ist es erklärtes Ziel, allen Kommunikationsinteressen, allen Meinungen und Wertüberzeugungen, allen Wissenspositionen und Standpunkten gleichwertige, faire Artikulationschancen in einem Medium, in einer Zeitung also oder in einem Rundfunkprogramm, einzuräumen. Die Vielfalt des Wissens und Meinens einer Gesellschaft muss in ein und demselben Medium sichtbar werden und sichtbar sein. Auf diese Weise erst wird das Medium zu einem Forum der sozialen Kommunikation, des gesellschaftlich-aktuellen Meinungsaustausches und auch der Meinungsauseinandersetzung. Realisierbar ist solche Binnenpluralität eines Medienangebots aber nur dann, wenn dessen Redaktion als Ganze und wenn jeder einzelne Redakteur sich als ›Vermittler‹ dieser Kommunikation

– 246 –

das fachstichwort

versteht und betätigt, also professionell ›journalistisch‹ nach Maßgabe des Unparteilichkeits- oder Objektivitätsprinzips agiert. Binnenpluralität ist ohne Beachtung des Ethos der Objektivität und der sie stützenden Handwerksregeln nicht zu haben. Binnenpluralität im Programmangebot herzustellen, schreibt den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihre Rechtsverfassung zwingend vor – jedenfalls auf dem Papier; die Realisierung steht auf einem anderen Blatt. Es ist daher nicht Willkür, wenn nahezu alle Rundfunkgesetze von diesen Rundfunkanstalten explizit eine objektive und ausgewogene Berichterstattung verlangen oder, in einigen Ausnahmefällen, andere »heikle Begriffe« wie Wahrheitstreue oder Sachlichkeit dafür statuieren. ›Publizistische‹ Einseitigkeit oder Parteilichkeit sollte sich da verbieten. Binnenpluralität, gewährleistet durch das Objektivitätsgebot, ist das Herzstück der Medienfunktion, die das Bundesverfassungsgericht als »Grundversorgung« bezeichnet. Diese Verknüpfung unterstreicht, dass die Orientierung des Bürgers in seiner Gesellschaft sowie über die Vorgänge in der Gesellschaft, in Kultur, Wirtschaft und Politik nur über binnenplural ausgelegte Informationsangebote überhaupt möglich ist. Außenpluralismus ist für soziale Orientierung prinzipiell und generell untauglich. Denn unter außenpluralistischen Vorzeichen müsste der Normalmensch Dutzende von Zeitungen und ebensoviele Hörfunk- und Fernsehprogramme verfolgen, um den Überblick über das Gesellschaftsund Zeitgeschehen zu erhalten und zu behalten – nicht nur eine Illusion, sondern eine glatte Utopie! Außenpluralismus bietet letzten Endes eine Meinungsvielfalt allenfalls für Archivare oder andere professionelle Medienbeobachter. Um der Information und Orientierung der Bürger willen, die zugleich ihre Leser und ihre Kunden sind, können daher auch Tageszeitungen ihrer Grundversorgungsverpflichtung nicht entraten. Den Zeitungen ist sie zwar nicht gesetzlich, aber durch

objektivität im journalismus

– 247 –

Marktzwänge auferlegt. Ob diese ausreichen, um die Binnenpluralität der Zeitung in jedem Falle zu sichern, ist eine ganz andere Frage, die hier nicht weiter verfolgt werden kann. Immerhin ist die Tendenz zur Binnenpluralität der Berichterstattung, verbunden zumeist mit der ausdrücklichen Bekundung der Überparteilichkeit, im Tagespressewesen durchaus üblich und innerhalb bestimmter Grenzen in der Regel auch feststellbar. Und eben deshalb kann auch der Zeitungsjournalismus von der Objektivitätsverpflichtung nicht dispensiert werden. 4. Die Objektivitätsnorm Nun gibt es jedoch auch Versuche, in der Theorie ernsthaft erwogen, in der Praxis immer wieder zumindest ansatzweise ins Spiel gebracht, die darauf abzielen, den publizistischen Außenpluralismus in eine Art ›Binnenpluralismus‹ zu verwandeln. Anders gesagt: Die intermediale publizistische Meinungs- und Stimmenvielfalt soll zu einer intramedialen Vielstimmigkeit versammelt werden. Untaugliches Surrogat: Pluralität der Parteibücher Die Realisierung dieses Konzepts tendiert in der Regel dazu, eine Redaktion so zu besetzen, dass in ihr ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Meinungs-, Weltanschauungs- oder Parteipositionen repräsentiert ist. Der Versuch läuft also auf einen Redakteurspluralismus oder allgemeiner: auf einen Personalpluralismus hinaus. Es könnte sich etwa auch um einen Herausgeberpluralismus handeln, wie ihn die amerikanischen Besatzer bei ihrer Lizenzvergabe nach 1945 mit dem Konzept der sogenannten ›Gruppenzeitungen‹ praktizierten. In diesem Falle wird auch eine Erwartung sichtbar, die mit dem Personalpluralismus verbunden

– 248 –

das fachstichwort

sein kann. »Die Überparteilichkeit der Lizenzzeitungen sollte gewährleistet werden durch parteipolitisch gemischte, wenn man will ›ausgewogene‹ Teams von Lizenzträgern«, die sich, so die Absicht, »in dieser Konstellation gegenseitig kontrollieren« und so eine tendenziell vollständige, plural angelegte Berichterstattung und Kommentierung sichern sollten.143 Eine ganz ähnliche Erwartungshaltung äußert sich in dem vom Chef der Nachrichtenabteilung des früheren, vielgerühmten Senders Rias Berlin, Bernhard Müßig, überlieferten Bekenntnis: »Die Ausgewogenheit in den Nachrichten ist durch die unterschiedliche Parteizugehörigkeit meiner Redakteure gesichert.«144 Mit der Auffassung, man könne ›Binnenpluralität‹ mit Hilfe eines ausbalancierten Stellenplans erreichen, steht er gewiss nicht allein. Auf der anderen Seite werden von gesellschaftlichen Gruppen, nicht immer, aber häufig von Minderheiten, die ihre Kommunikationsinteressen in den Medien vernachlässigt finden, Forderungen nach Ergänzung der Redaktionen durch Journalisten aus ihren eigenen Reihen laut: Frauen wollen aus diesem Grund mehr Frauen in den Redaktionen, Latinos und Schwarze in den USA kämpfen seit langem um angemessene Quoten ihrer Vertreter unter den Redakteuren. Und erst kürzlich sprachen sich hier-

143

Hans Wagner: Zeitungsland Bayern. In: Hans Wagner u.a. (Hrsg.): Enzyklopädie der Bayerischen Tagespresse. München 1990, (S. 17-71), S. 58.

144

Zit. nach Dietrich v. Thadden: Sind Rundfunknachrichten objektiv? In: Bentele / Ruoff (Hrsg.), Objektivität, (Fn 1), (S. 188-192), S. 192. – Eine ganz ähnliche Einstellung schreibt Wolf von Lojewski dem früheren Intendanten des NDR, Friedrich-Wilhelm Räuker, zu. Dieser sei »von der Mission erfüllt« gewesen, »politische Ansichten und das zugehörige Personal auf seinem Stellenplan ›auszutarieren‹« Wolf von Lojewski: Der schöne Schein der Wahrheit. Politiker, Journalisten und der Umgang mit den Medien. Bergisch Gladbach 2007, S. 32. – Die beiden genannten Rundfunk-Chefs sind mit Sicherheit repräsentativ für eine ganze Reihe anderer in diesem Metier.

objektivität im journalismus

– 249 –

zulande die Integrationsbeauftragten von Bund, Ländern und Gemeinden für »mehr Journalisten aus Zuwandererfamilien« aus, um das »Zerrbild« von Migranten in den Medien zu überwinden.145 In solchen und ähnlichen Fällen sind also die Versuche mit einem intramedialen Pluralismus oder die Forderungen danach stets verknüpft mit Objektivitätsaspekten: Schweigezonen sollen aufgebrochen, Einseitigkeiten aufgehoben, Zerrbilder geradegerückt werden, mehr Ausgewogenheit soll erreicht, das Kommunikationsinteresse benachteiligter Gruppen berücksichtigt, Vielstimmigkeit garantiert und so überhaupt eine realitätsnähere Berichterstattung befördert werden. Für all das setzt man die Hoffnung auf Journalisten, welche die eigenen Kommunikationsinteressen teilen, die mit den eigenen Welt- und Wertvorstellungen konform gehen und sich publizistisch dafür engagieren. Man spekuliert also darauf, dass durch den Redakteurspluralismus irgendwie, und sei es auch nur partiell, das Objektivitätsprinzip sich durchsetzen könne. Doch diese Aussicht bleibt in der Tat leere Spekulation. Denn in Wirklichkeit bedeutet ein solch intramedialer Personalpluralismus ebenso wie der klassische Außenpluralismus die radikale Suspendierung aller Objektivitätsnormen und zugleich die Suspendierung journalistischer Professionalität.146 Während ein außenpluralistisches Mediensystem in letzter Konsequenz nach dem Leitsatz gebaut ist: jedem gesellschaftlichen Kommunikationsinteresse sein eigenes Medium, verfährt der Redakteurspluralismus nach der Maxime: Jeder gesellschaftlichen oder politi145

Vgl. Süddeutsche Zeitung, Nr. 108 v. 11. 5. 2011, S. 6: ›Zerrbild‹ in den Medien.

146

Der Kommunikationswissenschaftler Georg Ruhrmann hielt der Forderung der Integrationsbeauftragten nach Zuwanderer-Journalisten zu Recht entgegen, über Migranten könnten auch einheimische Journalisten berichten; denn es komme auf »Kompetenz, nicht auf Herkunft« an. Siehe Fn 145.

– 250 –

das fachstichwort

schen Meinungsposition ihren eigenen Redakteur! Eine anrüchige Abart davon ist das parteipolitische Proporz-Geschacher bei der Besetzung redaktioneller Leitungspositionen in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – vor dem indessen auch andere Medien nicht gefeit sein sollen. Bei all dem wird unterstellt, ein Journalist könne nur einigermaßen zutreffend und realitätsgerecht berichten und erst recht nur fair urteilen oder kommentieren, wenn seine Couleur sich mit der Couleur des jeweiligen Kommunikationsinteressenten deckt. Diese Unterstellung impliziert andere: So etwas wie Objektivität lasse sich nur als Addition und Summe eines vielstimmigen Redaktionschors, in dem jeder seine eigene subjektive Melodie pfeift, komponieren. Oder: Objektivität sei, weil unmöglich, von einem einzelnen Journalisten nicht zu erwarten.147 Die »Pluralität der Parteibücher«148 schafft aber letzten Endes nicht Objektivität, sondern tritt als untaugliches Surrogat an deren Stelle. Additive Objektivität: die Summe aller Kommentare Umso bemerkenswerter ist es, dass Ulrich Saxer einen der beiden von ihm benannten Objektivitäts-Typen, nämlich die ›additive Objektivität‹ genau hier ansiedelt. Gewiss, die Erklärungen zu 147

Entsprechend berichtet Wolf von Lojewski, nichts sei dem »leutseligen Medienkommissar« Räuker suspekter gewesen »als die Behauptung, es gebe einen unabhängigen Journalismus. Hinter derartigen Floskeln vermutete er einen Trick der Linken, die damit sein wohlgeordnetes Proporzgefüge durcheinander bringen wollten«. v. Lojewski, Wahrheit, (Fn 144), S. 32.

148

Weil es Objektivität seiner Meinung nach nicht geben kann, plädiert Franz Alt für eine »Pluralität der Parteibücher« als Möglichkeit, seitens einer Redaktion kritische Äquidistanz zu wahren, weil ein einzelner »engagierter Journalist (...) doch nicht zum Beispiel zu allen Parteien die gleiche Distanz haben« kann. Alt, Objektivität, (Fn 4), S. 209. (Hervorh. im Original.)

objektivität im journalismus

– 251 –

diesem Typus sind mehrdeutig. Zum einen wird die ›additive‹ Auffassung appliziert auf einen »pluralistischen Mediensektor« (37) sowie – erweitert – auf das »mediale Gesamtsystem einer Gesellschaft« (39) und speziell auf das »Presse-Gesamtsystem« (40), also auf klassische Formen des Außenpluralismus. Ebenso aber liegt sie dem Vielfaltsmodus zugrunde, »der in gemäßigter Form bei der pluralistischen Besetzung von Redaktionen und Aufsichtsgremien von demokratisch kontrollierten Monopolmedien Anwendung findet« (36 f) und sodann »durch ein pluralistisch zusammengesetztes Interpretationsteam von Publizisten« realisiert wird (58). Dabei erkennt Saxer die grundsätzliche Strukturgleichheit der ›additiven Objektivität‹ in beiden Fällen: Man versuche dabei »publizistische Objektivität gewissermaßen durch Addition von subjektiven oder immerhin gruppenspezifischen Standpunkten zu erreichen«, so dass »auf diese Weise so etwas wie ein überindividuelles und übergruppenhaftes Gesamtbild der Realität zustande kommt« (36). Sicher scheint auch, dass ›additive Objektivität‹ auf eine ausgewogene Darstellung und Präsentation der verschiedenen Standpunkte und Perspektiven hinausläuft (42, 57, 58, 59 f), so dass der Rezipient jedenfalls »mit einer Fülle von Perspektiven konfrontiert« wird (62). Unklar aber bleibt dann schon wieder, um wessen Meinungen, Standpunkte und Perspektiven es geht, die da ausgewogen in den Medien vorkommen sollen. Es ist die Rede davon, ›additive Objektivität‹ beziehe sich auf das »System der (möglichen) Kommunikanten« (38). Aber wer sind diese? Die Kommunikationsinteressenten in der Gesellschaft? Experten, die mit ihren Aussagen in das Spektrum der pluralen Perspektiven aufgenommen werden (58)? In diesem Falle und auch bei einer »ausgewogenen Quellenberücksichtigung« (57) ginge es zweifellos um eine »ausgewogene Zitation verschiedener Standpunkte« (58). Einer solchen Interpretation widerspricht aber der Hinweis auf die

– 252 –

das fachstichwort

pflogenheit der BBC, »die lieber andere Leute zu Wort kommen lässt, als selber die Sachverhalte zu formulieren« (37); denn dieses Exempel statuiert Saxer für den Typus der ›reduktiven Objektivität‹: Die Welt wird reduziert auf das Zitat (37). Sucht man nach einem Grund für diesen Widerspruch, so stößt man auf die wiederholte Bemerkung, objektive Publizistik sei nicht nur »re-produktiv«, sondern »unweigerlich auch produktiv« (20, ähnlich 37). Während das re-produktive Element der Publizistik in der Wirklichkeitsdarstellung nach dem Prinzip der ›reduktiven Objektivität‹ Ausdruck findet, wird das produktive Element der ›additiven Objektivität‹ zugeordnet. Da also wäre dann die Publizistik, wäre der Publizist selbst produktiv. Das kann kaum anders geschehen als in subjektiven, meinungs- und wertungshaltigen Aussagen der Publizisten, die dann, ausgewogen vorgetragen und präsentiert, zu einer vielstimmigen Summe addiert werden. Aber auch dazu tritt nochmals eine Widersprüchlichkeit auf den Plan. Saxer nämlich führt eine weitere Unterscheidung zwischen einer »referierenden« und einer »engagierenden« Publizistik ein (37, 39, 42, 56). Doch diese deckt sich nicht, wie man zunächst vermuten könnte, mit der re-produktiven und produktiven Publizistik. Vielmehr wird offenbar jede objektive publizistische Information gleich welchen Typs und welcher Typenkombination im wesentlichen der referierenden Publizistik zugeschlagen. Denn, so Saxer, objektive publizistische Information allein verbürgt »noch keine optimale demokratische Teilnahme«, weil sie kaum »aktiviert« (38). Entsprechend ist dann »engagierende Publizistik« eine zusätzliche, über objektive Angebote und Programme hinausgehende Leistung: durch sie erst soll der Bürger zum Handeln bewegt werden – ganz im Sinne der Definitionen klassischer Publizistiklehren. »Engagierende Publizistik« bedeutet ganz unabhängig von allen Objektivitätsforderungen, dass der

objektivität im journalismus

– 253 –

Publizist Position bezieht, einseitig, für die nach seiner Ansicht richtige Seite eintretend, kritisch allemal, wenn es sein muss. Demgegenüber steht ›produktive Publizistik‹ unter dem Objektivitätsgebot. Weil dabei publizistische Stellungnahmen ›ausgewogen‹ sein müssen, »neutralisieren« sich die möglichen Handlungsaufforderungen (38). Auch wenn man sich mit diesem Gedanken schwertut: ›Additive Objektivität‹ wird in diesem Konzept nicht ausschließlich, aber doch wohl primär als ausgewogene Kommentarsammlung verstanden, die als Produkt aus einer pluralistisch zusammengesetzten Redaktion hervorgeht. Saxer selbst bringt die hier zusammengetragenen Indizien am Ende auf einen ziemlich klaren Nenner: »Objektive Präsentation erfolgt somit, aufs letzte vereinfacht, reduktiv bei demjenigen, was als Nachricht definiert wird, und additiv bei demjenigen, was von den Publizisten als Kommentarmaterie aufgefasst wird« (60). Es gibt dazu eine spätere, recht auffällige Parallele beim damaligen Programmdirektor des deutschen Fernsehens, Dietrich Schwarzkopf; dieser schreibt: »Der Unterscheidung von Objektivität und Ausgewogenheit entspricht (...) die Trennung von Nachricht und Kommentar.«149 Gemeinsam ist beiden Erklärungen die Zuordnung der »Ausgewogenheit« zu den Kommentarangeboten; doch da ein einzelner Kommentar, sofern es wirklich einer ist, nicht ausgewogen sein kann, muss sich die Zuschreibung wohl jeweils auf eine pluralistische Kommentarreihe beziehen. Ob eine solche der weiteren und ganz berechtigten Saxerschen Forderung an eine »systemnotwendige Objektivität« entsprechen kann, dass nämlich »allen wesentlichen Bevölkerungsgruppen publizistische Repräsentation« (35) zuteil und garantiert wird, bleibt eine offene Frage. Nach Saxer ist die auf 149

Schwarzkopf, Objektivität, (Fn 53), S. 201.

– 254 –

das fachstichwort

Ausgewogenheit zielende ›additive Objektivität‹ ohnehin nicht die bessere, sondern nur die leichtere Objektivitäts-Übung (62). Die schwierigere oder vielleicht auch die ›eigentliche‹ Objektivität wird bei ihm und bei Schwarzkopf von Nachrichten und Berichten verlangt und erwartet. Saxer spricht hier vom Typus der ›reduktiven Objektivität‹. Die reduktive Objektivität und ihre Bewährungsinstanzen Auch bezüglich dieses Typs ist man mit Unschärfen konfrontiert. Was, wie und mit welchem Ziel, so fragt sich, wird bei der ›reduktiven Objektivität‹ reduziert. Am häufigsten taucht dazu die berühmte, multivalente Luhmann-Formel von einer »Reduktion von (Umwelt-)Komplexität« auf (24, 26, 27, 37, 44).150 Diese Art der Reduktion erfolgt »unvermeidlich selektiv« (21). Publizistische Selektion der Ereignisse und Ereignisdetails und auch der hierzu vorgetragenen Meinungen sowie die Selektion der Meinungsträger selbst muss als »spezifischer publizistischer Modus von Komplexitätsreduktion« die »nackte Faktizität« bei der Wirklichkeitswiedergabe anstreben und garantieren (37, 58). Dabei geht es um eine »maßstabsgerechte Verkürzung der Realität« (59, auch 62). Um diese zu erreichen, braucht der Publizist eine Einstellung, die sich um eine »Reduktion von Subjektivität« müht (37, 58). Ziel ist es, eine »möglichst unverkürzte und daher allgemein annehmbare publizistische Beschreibung der Wirklichkeit« zu liefern; oder anders: Ziel ist eine »Aussagenproduktion, die nach allgemeinem Konsens als wirklichkeitstreu gilt« (20). Hier sind die 150

Vgl. dazu Niklas Luhmann: Reduktion von Komplexität. In: Joachim Ritter / Karlfried Grunder (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1992, Band 8, S. 377.

objektivität im journalismus

– 255 –

beiden Bewährungsinstanzen, vor denen objektive Publizistik bestehen muss, angedeutet. Da sind zum einen die Rezipienten: Der »Glaube des breiten Publikums an die Zuverlässigkeit seiner Medien« (23, Fn 24) macht Objektivität zu einer »konsensuellen Größe« (33). Als zweite Bewährungsinstanz fungiert die Wirklichkeit selbst (26): Publizistik hat zu zeigen, »was der Fall ist« (28). Alle diese Elemente des Konstrukts einer ›reduktiven Objektivität‹ provozieren mehr Fragen, als sie beantworten können. Von welchen Maßgaben werden die verschiedenen Modi einer publizistischen Reduktion von Komplexität bestimmt? Was hat man sich unter »nackter Faktizität« vorzustellen, zumal dabei am Ende doch nur eine »oberflächliche Faktizität« (62) herauskommt? Wie kann diese sich dann tatsächlich vor der Publikumsinstanz als konsensfähige Wirklichkeitsbeschreibung bewähren? In der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind ja solche Fakten, die von allen Seiten und Positionen akzeptiert werden (können), die in diesem Sinne gänzlich unbestritten sind, vermutlich in der Minderzahl. Oder ist objektive Publizistik darauf beschränkt, die »Normalperspektive« (38) aufzunehmen, die, weil sie auf unbefragten Selbstverständlichkeiten aufruht, nicht und schon gar nicht kontrovers diskutiert werden muss? Und weiter: Soll allein der Glaube des Publikums an die Zuverlässigkeit der Berichterstattung die Berge möglicherweise defizitärer Informationen oder manipulierter Realitätssichten in Richtung Objektivität versetzen? Und wie hat man sich ein Publikum als Bewährungsinstanz von Objektivität vorzustellen, dem gleichzeitig attestiert wird, ihm fehle »Kompetenz und Bereitschaft, aufgrund bloßer Fakten selbst zu kommentieren und zu entscheiden« (39). Wie kann einer Publikumsklientel die Rolle einer Bewährungsinstanz für Objektivität überantwortet werden, der »keine sachlichen und differenzierten Wirklichkeitsschilderungen« zugemutet werden können (50)? Schließlich und endlich: Anhand welcher Kriterien und mit welchen

– 256 –

das fachstichwort

Maßstäben kann oder soll die Übereinstimmung von publizistischer Wirklichkeitsbeschreibung und vorgegebener Wirklichkeit gemessen werden sowie für den Rezipienten womöglich auch überprüfbar sein? Denn »meßbar sollte diese Qualität journalistischer Arbeit in der Tat auch sein«, fordert Ulrich Saxer (11).151 So wichtig und richtig viele Generalaussagen und Detailerkenntnisse zur Objektivität im Journalismus, insbesondere zu deren Bedeutung für das demokratische Gemeinwesen bei Ulrich Saxer sind, so problematisch bleibt der Versuch, Objektivität mit Hilfe der aufgeführten Objektivitätstypen konkret und positiv zu bestimmen. Solche Probleme resultieren aus der Vernachlässigung der Rahmendifferenzierungen;152 insbesondere wird die Unterscheidung der journalistischen Objekte sowie die Differenzierung von ›Journalist‹ und ›Publizist‹ in diesen Konstruktionen nicht beachtet. Die Kategorie der Vermittlung, die für die Bestimmung von Journalismus wesentlich und der Schlüssel zur Lösung des Objektivitätsproblems ist, fällt in diesem Konzept völlig aus. Statt dessen wird die Grundfunktion des Journalisten als eine »umfassend unbestechliche Augenzeugenschaft« (20) oder als »stellvertretende Augenzeugenschaft« (50) beschrieben; der »Verzicht auf die Richter- zugunsten der Zeugenrolle« ermögliche es erst, so Saxer, der Objektivitätsnorm zu genügen (28). Solche Zuschreibungen legen die Annahme nahe, dass Journalisten (im allgemeinen) berichten, was sie mit eigenen Augen sehen und beobachten. Eine solche Annahme aber geht weit an der Realität vorbei. Das meiste, was berichtet wird, haben die Berichterstatter nicht selbst gesehen. Bestenfalls waren sie Augenzeugen 151

Zur Kritik an den Objektivitätstypen von Ulrich Saxer siehe auch Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 241 ff.

152

Siehe Kapitel 3: Der Objektivitätsrahmen, S. 213 - 248 in diesem Band.

objektivität im journalismus

– 257 –

einzelner (oft zufälliger) Ablaufphasen eines Geschehens. Vielmehr haben sie, was sie berichten, in aller Regel von Menschen gehört, die tatsächlich dabei waren, die Augen- und Ohrenzeugen eines Ereignisses gewesen sind, die mit berichtenswerten Vorgängen unmittelbar konfrontiert waren und ihre Erfahrungen damit gemacht haben. Journalisten, soweit sie überhaupt an Orten des Geschehens anwesend sind oder dahin reisen, reden dort mit den Leuten, sammeln zwangsläufig eine Menge solcher Aussagen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Kurzum: Die allermeisten Berichte basieren auf Aussagen sogenannter ›Primärquellen‹ oder ›Aussageträger‹. Der Leitsatz der frühen Nachrichtenarbeiter, nämlich ›relata refero‹, ist unter den neuzeitlichen Arbeitsbedingungen des Journalismus aktueller denn je. Dies ist nicht zuletzt das Ergebnis von Anstrengungen der Kommunikationsinteressenten selbst, die mit Hilfe aller möglichen Public-Relations-Maßnahmen versuchen, ihre Artikulationschancen in den Massenmedien zu optimieren.153 Obwohl unübersehbar ist, dass die ganz reguläre und routinemäßige Nachrichtenarbeit des Journalisten auf die Vermittlung von Mitteilungen zurückgeht, sieht Ulrich Saxer in den Strategien gesellschaftlicher und vor allem politischer Kommunikationsinteressenten, sich durch entsprechende »Inszenierungen« an die Publikations- und Präsentationsbedingungen der Medien anzupassen, tendenziell eine systematische Gefährdung der Publizistik heraufziehen, schlimmstenfalls eine mit dem Objektivitätspostulat nicht zu vereinbarende Einflussnahme (57). Auf jeden Fall aber führe die Verlagerung der Nachrichtenentstehung weg von der Publizistik und hin zu den gesellschaftlichen und politi153

Siehe dazu neuerdings Denise Bieler: Public Relations und Massenkommunikation. Einführung von Pressestellen um die Wende zum 20 Jahrhundert. Baden-Baden 2010.

– 258 –

das fachstichwort

schen Kommunikationsinstitutionen zu einem unzulänglichen Ersatz der journalistischen Eigenrecherche sowie zu einer Schwächung des »Faktors ›Publizist‹« (44 f). Solche Einschätzungen verkennen die für jede Art Massenkommunikation konstitutiv vorgegebene gesellschaftliche Kommunikation. Letztlich sind sie ein untrügliches Indiz dafür, dass das damit verknüpfte Konzept der Objektivität an einem klar ›publizistischen‹ Dispositiv der Massenkommunikation hängt. Unter diesen Rahmenbedingungen kann in der Tat die Manifestation eines pluralen Meinungsspektrums nur gedacht werden als Vielstimmigkeit ›publizistischer‹ Meinungsäußerungen. Doch kann man auch unter ›publizistischen‹ Vorzeichen nicht darauf verzichten, dass Berichte des ›Publizisten‹ über Realitäten in der Welt und in der Gesellschaft sich durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Realitätsentsprechung auszeichnen, dass sie also insoweit ›stimmen‹, auch wenn das Maß solcher Stimmigkeit unbestimmt bleibt. Daher wird die Bewährungsinstanz für diese Stimmigkeit auf einen stillschweigenden Konsens, besser wohl: auf duldende Akzeptanz des Publikums verlagert. Oder anders: Es gibt auch für ausgesprochen ›publizistische‹ Produkte gewisse Maßgaben der Objektivität, die aus der Beziehung des ›publizistisch‹ agierenden Subjekts zum Objekt seiner berichtenden Aussagen ableitbar sind. In diesem Sinne wären dann Vielstimmigkeit und Stimmigkeit Komponenten eines ›publizistischen‹ Objektivitätsmaßes. Genau diese möglichen Objektivitätskomponenten des ›Publizisten‹ versucht Ulrich Saxer mit seinen beiden Objektivitätstypen zu fassen. Zur Klärung der Objektivitätsanforderungen an die Vermittlung sozialer Kommunikation, also an die in und von der Massenkommunikation zu erbringenden ›journalistischen‹ Leistungen, greifen diese Dimensionen und Charakteristika publizistischer Objektivität aber deutlich zu kurz.

objektivität im journalismus

– 259 –

Unparteilichkeit: die Objektivität im Journalismus Genau an dieser Stelle trennen sich die Denk- und Erklärwege der Autoren Schönhagen und Schröter von der Saxerschen Spur. Erstere binden ihre Versuche, Objektivität im Journalismus positiv zu bestimmen, in einen völlig anderen Rahmen ein. Explizit verankern beide die Klärung der Objektivitätsforderung in einem Konzept von Massenkommunikation, das fokussiert ist auf die Vermittlung sozialer Kommunikation (128 u.a. sowie 141 f, 149, 156 f u.a.). In beiden Fällen bildet entsprechend die Unterscheidung von ›Journalist‹ und ›Publizist‹ die Basis der Argumentation (64 ff, 109 f, 127 f u.a. sowie 146 f u.a.). Eine erste unumgängliche Konsequenz dieser ganz anderen Perspektive betrifft den Gehalt des Begriffes ›Objektivität‹ selbst. Zwei Aspekte bestimmen diesen Gehalt. Zum einen und vor allem anderen kommt ins Blickfeld die Subjekt-Objekt-Beziehung, hier ganz konkret die Beziehung des Journalisten zum Objekt seines professionellen Handelns; und sodann die genaue Sicherung des Phänomens, welches das Objekt journalistischen Handelns ist, auf das also Objektivität sich bezieht. Unter dem erstgenannten Aspekt kann Objektivität als eine Eigenschaft, oder präziser: als Einstellung oder Haltung des Subjekts in Bezug auf das fragliche Objekt gefasst werden. Sie findet ihren Ausdruck in der Art und Weise, wie das Subjekt mit dem Objekt umgeht, wie es mit ihm verfährt. Dann ist »Objektivität die geistige Haltung, die in unparteiischer Weise untersucht, prüft und urteilt, oder sich wenigstens bewusst in diese Richtung bemüht«, heißt es im wissenschaftlich anerkannten Dictionnaire analogique de la langue française von Paul Robert.154 Entsprechend statuiert 154

Zit. nach Bacher, Objektivität, (Fn 37), S. 150.

– 260 –

das fachstichwort

das »größte wissenschaftliche Wörterbuch der Welt«, das Dictionnaire de l'Académie française, Objektivität meine »einen Gegenstand in und für sich zu prüfen und zu betrachten«. Und weiter: »Objektivität bedeutet die Unterordnung des Geistes unter den Gegenstand der Betrachtung.«155 Man könne von Objektivität sprechen, hält Meyers Lexikon von 1928 fest, »wenn die Behandlungsweise eines Gegenstandes überhaupt objektiv ist, d.h. unbeeinflusst durch Vorurteile, Gefühle, Neigungen«.156 Man kann also Objektivität akzentuieren als Gegenstandsorientierung, als Sachgemäßheit oder generell als Sachlichkeit, wenn man das Objekt im Blick hat; ebenso gut aber auch als Unvoreingenommenheit, als Vorurteilslosigkeit, als Neutralität oder eben als Unparteilichkeit, wenn man die Haltung des Subjekts unterstreichen will. Philomen Schönhagen schlägt nicht ohne Seitenblick auf diesen Begriffshintergrund vor, »im Interesse einer Klärung dieser journalistischen Berufsnorm sowie der Anschaulichkeit und Praxisnähe den (erkenntnistheoretisch irreführenden) Begriff der Objektivität durch Unparteilichkeit zu ersetzen.«157 Für diesen Vorschlag spricht eine Reihe guter Gründe. Zunächst und noch an der Oberfläche ist darauf hinzuweisen, dass ›Objektivität‹ und ›Unparteilichkeit‹ sowie entsprechend ›objektiv‹ und ›unparteilich‹ in mehreren Sprachen, so beispielshalber im Englischen oder im Italienischen, synonym gebraucht werden.158 Auch im Deutschen können beide Bezeichnungen 155

Zit. nach Bacher, Objektivität, (Fn 37), S. 150.

156

Zit. nach Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 261, Fn 122.

157

Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 261. (Hervorhebung im Original.)

158

Vgl. dazu die Nachweise aus diversen Wörterbüchern bei Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 261, Fn 122. Gerade wenn man, wie etwa Siegfried Weischenberg (Journalistik, [Fn 33], S. 162 f) und andere der

objektivität im journalismus

– 261 –

synonym füreinander stehen.159 Das heißt nur, dass sprachlich oder begrifflich ernsthafte Einwände gegen den Austausch des Begriffes ›Objektivität‹ durch ›Unparteilichkeit‹ kaum erhoben werden können. Aber es geht hier nicht um ein einfaches sprachliches oder begriffliches Problem. Ein Stück tiefer, aber noch in direkter Verbindung mit der Begriffsbildung liegt als Grund das Potential zur Irreführung, das im Begriff ›Objektivität‹ steckt. Da ein philosophisch unbedarfter Gebrauch der Stichwörter ›Objektivität‹ oder ›objektiv‹ unterstellt, mit diesen Wörtern sei etwas ›wirklich Seiendes‹, etwas ›Reales‹ und womöglich die ›Realität an sich‹ bezeichnet,160 führt in der Folge der Begriff ›Objektivität‹, eh man sich versieht, auf den erkenntnistheoretischen Holzweg: Objektivität verlange die Spiegelung oder Wiedergabe der Realität, was zumindest fragwürdig, vermutlich aber unmöglich sei. Ganz ohne Zweifel wird dieser Holzweg vom Lager der Subjektivisten aus gern beschritten, weil man glaubt, Objektivität auf diese Weise einigermaßen radikal und elegant zugleich vom publizistischen Tisch zu bringen. Auch Detlef Schröter bemerkt und benennt dieses Problem (148). nung ist, journalistische ›Objektivität‹ sei eine amerikanische Erfindung, sollte man sich wenigstens auch die Frage stellen, was es bedeutet und wohin es führt, dass ›Objektivität‹ sowohl mit ›objectivity‹ wie mit ›impartiality‹ übersetzt werden kann. 159

Vgl. hierzu: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hrsg.): Sinn- und sachverwandte Wörter und Wendungen. Duden Bd. 8, Mannheim/Wien/ Zürich 1972. Stichwort ›Objektivität‹, S. 496.

160

Ein philosophisches Wörterbuch warnt ausdrücklich vor solcher Begriffsverknüpfung: »Da ›Objekt‹ keineswegs sinngleich ist mit ›wirklich Seiendes‹, ist auch die Verwendung von objektiv (obj) im Sinn von ›wirklich‹, ›real‹, im Ggs zu subj = unwirklich, nur gedacht, nur vorgestellt – trotz ihrer Gebräuchlichkeit – in einer phil. Sprache, die auf saubere Unterscheidungen hält, abzulehnen ...« Josef de Vries: Stichwort ›Objektivität‹. In: Walter Brugger (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Freiburg 51953, S. 216 f.

– 262 –

das fachstichwort

Der Begriff ›Unparteilichkeit‹ enthält ein derartiges Irreführungspotenzial nicht. Ganz im Gegenteil muss zugunsten des Begriffs ›Unparteilichkeit‹ geltend gemacht werden, dass er im Journalismus selbst zur Kennzeichnung einer objektgemäßen Verhaltens- und Verfahrensmaxime entwickelt und durch mehr als drei Jahrhunderte unter jeweils extrem wechselnden äußeren Bedingungen festgehalten wurde. Vor allem aber ist diese das journalistische Berufsethos begründende und prägende Unparteilichkeitsmaxime in einem ganzen Satz von Handwerksregeln praxisnah und praxisbewährt von Journalisten selbst entfaltet worden. Genau diese Entwicklung zeichnet Philomen Schönhagen in ihrer professionshistorischen Untersuchung überprüfbar nach. Sie kommt bei detailgenauer Beobachtung der einzelnen Konventionen und Handwerksregeln zu dem Ergebnis, dass diese »als Dimensionen von Unparteilichkeit konkreter und anschaulicher gefasst werden, als es im Rahmen der Objektivitätsproblematik« gelingen kann.161 Die beiden zuletzt genannten Gründe weisen bereits unübersehbar auf den Hauptgrund eines Plädoyers für den Unparteilichkeitsbegriff: auf die Bestimmung des Objekts journalistischen Handelns. Das ›Objekt‹ journalistischer Berichterstattung, so schreibt Detlef Schröter, ist eben gerade »nicht ein ›Ereignis an sich‹ oder eine ›Realität an sich‹ (...), sondern in aller Regel eine kommunikative Vorgabe zu irgendwelchen Wirklichkeitsbereichen. (...) Objektive Vermittlung heißt dann zunächst nichts anderes, als dass eben diese Interpretationsvorgaben in Gestalt von Mitteilungen über und zu Ereignissen aufzunehmen und darzustellen sind.« (149; ähnlich 156 f). In historischer und grundsätzlicher Perspektive bedeutet das: »Während journalistische 161

Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 261.

objektivität im journalismus

– 263 –

Objektivität heute vor allem als erkenntnistheoretisches Problem, bezogen auf das Verhältnis des Journalisten zur Realität, angesehen und diskutiert wird, wurde früher die Unparteilichkeitsmaxime auf das Verhältnis des Journalisten zu Äußerungen und Ansichten anderer über die Realität bezogen, also nicht als Problem der Erkenntnis, sondern der Vermittlung begriffen. (...) Mit anderen Worten, die Unparteilichkeitsnorm bezog sich eindeutig auf die Vermittlung all der Hypothesen oder Konstruktionen von Realität, die in der Gesellschaft formuliert und diskutiert werden, nicht auf eigene Hypothesen der Journalisten. Indem sich die Frage objektiver Berichterstattung aus dieser Perspektive auf eine ganz andere als die erkenntnistheoretische Ebene verlagert, erlangen die auch für die Objektivität geltenden Kriterien eine präzisere, zum Teil auch andere Bedeutung.«162 Wenn es aber das Ziel des Journalisten nur sein kann, »durch die Vermittlung aller geglaubten, gelebten und aktuell mitgeteilten ›Wahrheiten‹ aus der Mitte der Gesellschaft die Voraussetzung für soziale Orientierung (...) zu schaffen«, so folgt daraus auch, dass »›Wahrheiten‹ im wissenschaftlichen Sinn und eine angemessene Darstellung gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse (...) ganz verschiedene Dinge sind« (Schröter, 151). Die Verschiedenheit dieser ›Wahrheiten‹ lässt sich unschwer auch deduktiv ableiten aus der bekannten Korrespondenztheorie der Wahrheit,163 die mehr oder weniger ausdrücklich den üblichen 162

Schönhagen, Unparteilichkeit, 1998, (Fn 19), S. 254.

163

Ein kritischer Überblick zur Korrespondenztheorie der Wahrheit findet sich bei L. Bruno Puntel: Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Darmstadt 1978 (insbes. S. 26-40). Einleitend schreibt Puntel: »Die Korrespondenztheorie der Wahrheit ist nicht nur die älteste und bekannteste, sondern auch die sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart verbreitetste Theorie der Wahrheit.«

– 264 –

das fachstichwort

Objektivitätsannahmen zugrunde liegt. Denn immer geht es dabei schließlich um eine - wenngleich selten näher bestimmte Entsprechung von Berichterstattung und ›Realität‹. Tatsächlich zeigt eine solche Ableitung (siehe tabellarisches Schema auf der nächsten Seite), dass der Weg von der Wirklichkeitserkenntnis bis zur Berichterstattung drei Stufen der Entsprechung und also Stufen der Wahrheit Adäquanz-Schritte 1. adaequatio* rei et intellectus Übereinstimmung von Wirklichkeit und Erkenntnis 2. adaequatio intellectus et communicationis Übereinstimmung von Erkenntnis und Mitteilung 3. adaequatio communicationis et mediationis Übereinstimmung von Mitteilung und Vermittlung

Maxime Richtwert

Erwartung

Anwendungsbereiche

treue

Wissenschaft (Common sense)

Wahrhaftigkeit

Erkenntnistreue Überzeugungstreue

Augen- und Ohrenzeuge (Jedermann) ›Publizist‹

›Objektivität‹ Unparteilichkeit

Sinntreue

›Journalist‹ (Vermittler, Bote)

Wahrheit

Wirklichkeits-

* Für den Relationsbegriff sind verschiedene Übersetzungen und Interpretationen üblich: Übereinstimmung, Entsprechung, Angleichung, Konformität, Übereinkunft

auch drei abgestufte Wahrheitsdimensionen umfasst. Springt man, wozu in den Objektivitätsdebatten immer wieder angesetzt wird, von der ersten Stufe der Realitätserkenntnis unmittelbar auf die dritte Stufe eines Berichts über die Realität, ohne Rücksicht darauf, was dazwischen geschieht und sich vollziehen muss, so kommt dies buchstäblich einem Kurzschluss gleich. Das Schema der Wahrheitsstufen erzwingt des weiteren geradezu die Einsicht, dass man, um das Objektivitätsproblem im Journalismus zu

objektivität im journalismus

– 265 –

ren, die Frage, ob eine realitätsadäquate Erkenntnis überhaupt möglich ist, einklammern darf. Im phänomenologischen Sinn handelt es sich dabei um eine methodisch gebotene epoché,164 das heißt um den Verzicht auf ein Urteil in dieser Sache, um Fehlaussagen zu vermeiden und Holzwegen auszuweichen. Die Kommunikationswissenschaften können die Klärung dieser Frage getrost den Philosophen überlassen, die dafür zuständig sind. Wie immer diese glauben, das Problem lösen zu können, zur Lösung des Objektivitätsproblems im Journalismus trägt es nichts bei. Das »erkenntnistheoretische Dementi« der journalistischen Objektivität, wie Ulrich Saxer es nennt, entpuppt sich als (denk)faule Ausrede. Das Erkenntnisproblem einzuklammern, bedeutet nicht, Wirklichkeitserkenntnis – in welcher Form auch immer – zu leugnen. Solche kann zweierlei Gestalt annehmen. Die Gestalt der Wissenschaft zum einen, die mit Hilfe formalisierter, nachprüfbarer Verfahren Erkenntnis zu gewinnen und Wahrheit zu finden sucht. Die Entfernung dieser Wahrheitsstufe von der Stufe journalistischer ›Wahrheit‹ zeigt ganz nebenbei auch, dass es wohl fragwürdig ist, wissenschaftliche Verfahren unverändert in das journalistische Handwerk implementieren zu wollen, die an ganz anderen Richtwerten orientiert und mit ganz anderen Erwartungen verbunden sind. In seiner zweiten Gestalt kommt Wirklichkeitserkenntnis im Common-sense-Denken daher. Auch Jedermann nimmt unentwegt Welt und Gesellschaft, nimmt Naturereignisse und Menschenhandeln wahr und geht – im allgemeinen zu Recht – davon aus, dass solche Wirklichkeitserkenntnis zuverlässig, gewiss und insoweit ›wahr‹ ist. Solche Erkenntnis erhebt keinen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch; aber die mit dem 164

Vgl. hierzu: Hans Wagner u.a.: Qualitative Methoden in der Kommunikationswissenschaft. München 2008, S. 105

– 266 –

das fachstichwort

gesunden Menschenverstand erreichte Wirklichkeitstreue ist für lebens- und alltagspraktische Zwecke in der Regel ausreichend – Beobachtungsfehler und Täuschungen eingeschlossen. Diese zweite, ›normale‹ Gestalt der Wirklichkeitserkenntnis ist für die Folgestufen der Kommunikation und ihrer Vermittlung insofern relevant, als sie Grundlage und Ausgang aller Mitteilungen, aller Diskussionen und Auseinandersetzungen über Welt und Gesellschaft ist. Denn auf der zweiten Stufe geht es zum die Übereinstimmung zwischen dem, was jemand ›wahrgenommen‹, was er also beobachtet, gehört oder gesehen hat, und dem, was er davon erzählt, berichtet, mitteilt. Erwartet wird also von Augenund Ohrenzeugen Erkenntnistreue. Und wenn jemand auch noch seine Meinung zu den fraglichen Wirklichkeiten äußert, so muss erwartet werden, dass solche Meinungen und Urteile dem entsprechen, was er ›wirklich‹ denkt. Auf Überzeugungstreue sollte man in diesem Fall bauen können. Der Richtwert dieser Stufe ist demnach ›Wahrhaftigkeit‹ in allen ihren möglichen Variationen. Wahrhaftigkeit ist, wenn man so will, die ›Objektivität‹ des ›Publizisten‹, deren Realisierungsmöglichkeiten Ulrich Saxer mit seinen Objektivitätstypen zureichend aufgeklärt und beschrieben hat. Da aber, wie früher schon vermerkt, jedermann ›Publizist‹ in eigener Sache ist, sind die Erwartungen dieser Wahrheitsstufe selbstverständlich an alle zu richten, die in irgendeiner Form, professionell oder nicht professionell, ihre Mitteilungen in die gesellschaftliche Kommunikation einbringen. Ebenso selbstverständlich ist es allerdings auch, dass in und mit solchen Mitteilungen die wahrgenommene Wirklichkeit entstellt, verfälscht oder geschönt wird, dass man in Meinungsäußerungen die wahren Absichten verschleiert, kurzum: dass in vielen Variationen öffentlich gelogen wird. Derartige Abweichungen vom Richtwert der Wahrhaftigkeit stellen natürlich ein Problem für die gesellschaftliche Kommunikation dar. Und sie sind ein Problem für den

objektivität im journalismus

– 267 –

nalismus. Aber die ›Wahrheit‹ des Journalisten können sie prinzipiell nicht gefährden. Sinntreue: die Wahrheit des ›Journalisten‹ Es sind die ganz normalen, alltäglichen Arbeitsbedingungen, die für den Journalisten Probleme mit unwahren Mitteilungen machen. Wie weiter oben schon bemerkt, entzieht sich das meiste, was er berichtet, der eigenen Beobachtung, der man am ehesten zu trauen geneigt ist. In der Praxis nämlich »ist es schlechterdings unmöglich«, spitzt der langgediente Redakteur und Auslandskorrespondent Rudolf Walter Leonhardt zu, »dass immer ein Reporter dabei ist, wenn ein Präsident ermordet oder ein Politiker entführt wird«, ganz zu schweigen von Unglücksfällen oder Naturkatastrophen aller Art, von Vorgängen und Ereignissen auch, die nicht von langer Hand angekündigt werden. »Wir leben alle von und mit sinnlichen Wahrnehmungen aus zweiter und dritter Hand«.165 Und genau damit verschärft sich das Problem des Journalisten mit der Wahrheit: Er ist angewiesen auf die Beobachtungen und Mitteilungen von Beteiligten und Zeugen. In vielen Fällen aber vermag der Journalist nur schwer oder überhaupt nicht einzuschätzen, wie genau und zuverlässig deren Beobachtungen und Erfahrungen sind, wie vollständig und zutreffend deren Mitteilungen darüber formuliert werden. Das Problem steigert sich noch einmal, wenn der Journalist meint, er stehe »alltäglich unter dem Zwang, eine Antwort [auf die Frage] zu finden«, was die Wahrheit sei.166 Wo er sich höchstselbst nämlich als ›Wahrheits-

165

Rudolf Walter Leonhardt: Journalismus und Wahrheit. München/Zürich 1976, S. 12.

166

Leonhardt, Wahrheit, (Fn 165), S. 8.

– 268 –

das fachstichwort

sucher‹ geriert, steht der Journalist zumeist auf verlorenem Posten, weil sich weder durch Fakten noch durch Indizien unabweisbar erhärten läßt, welche von mehreren einander widersprechenden Aussagen wahr ist, ob überhaupt eine von all diesen Aussagen die volle Wahrheit enthält. Dies gilt nicht nur für den Extremfall kriegerischer Auseinandersetzungen, in denen bekanntlich die Wahrheit zuerst stirbt, aufgerieben in den propagandistischen Über- und Untertreibungen der Kriegsparteien, die ihren Vorteil ungeniert mit Lügen suchen. Die Wahrheit bleibt häufig auch auf der Strecke oder wird verdeckt, wo immer konkurrierende Kommunikationsparteien ihre eigenen, partikularen Interessen durchzusetzen versuchen und entsprechend ihre je eigenen ›Wahrheiten‹ vortragen, sei es auf politischem, wirtschaftlichem oder auch auf dem kulturellen Feld. In all diesen Situationen hat der Journalist weder die Aufgabe noch die Legitimation, gewissermaßen letztinstanzlich zu entscheiden, was die gültige Wahrheit ist oder sein soll. Das Dilemma ist alt. In all den Zeitungsberichten, die ungewissem Gerede folgen, »scheint Wahrheit suchen wollen nichts anderes zu sein, als in der Dämmerung den Mittag zu suchen«. Bemerkte der Gymnasialprofessor Christian Weise in der Vorrede zu seinem »Schediasma curiosum de lectione Novellarum« schon 1685.167 Er wendet sich damit primär an die Zeitungsleser. Aber der Journalist befindet sich in keiner besseren Position, wo es um die Wahrheit geht. 167

Christian Weise: Schediasma cusriosum de lectione Novellarum (Interessanter Abriß über das Lesen von Zeitungen). [Frankfurt/Leipzig 1685.] In: Karl Kurth (Hrsg.): Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. Brünn/ München/Wien 1944, (S. 45-85), S. 49. – Kaspar von Stieler übernimmt zehn Jahre später das Diktum nahezu im Wortlaut. (In: Zeitungs Lust und Nutz. Neudruck der Originalausgabe von 1695. Hrsg. von Gert Hagelweide. Bremen 1969, S. 58.) - Siehe auch Schönhagen, S. 97, (Fn 92 in diesem Band).

objektivität im journalismus

– 269 –

Der journalistische Umgang mit allen denkbaren und möglichen Nuancen der Unwahrheit, die sich in den Mitteilungsprozessen der sozialen Kommunikation breit machen, erfordert demnach eine andere Lösung. Diese Lösung kann nur gefunden werden, wenn man ganz konsequent davon ausgeht, dass der ›Journalist‹ Vermittler gesellschaftlicher Kommunikation ist. Unter diesen Vorzeichen ist eine Lösung bereits in den letzten Dezennien des 17. Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen um Gebrauch und Missbrauch des damals neuartigen Mediums ›Zeitung‹ ausformuliert worden. Gegen den pauschalen Vorwurf, was in den Zeitungen stehe, sei häufig »erstunken und erlogen«, wofür man nicht nur die Urheber solcher Berichte, sondern auch deren Verbreiter, also die Journalisten, haftbar machen müsse,168 operieren die Befürworter der Zeitung mit differenzierenden Argumenten: Es sei etwas anderes zu lügen und wieder etwas anderes, Lügen nachzureden, schreibt 1688 Daniel Hartnack. Ein ehrlicher Mann könne, ohne Schmach auf sich zu laden, wohl nachreden, was erlogen ist, indem er es einfach weitererzählt, weil er nicht weiß oder vermutet, dass es sich um Lügen handelt. Und er fährt fort: »Nun pflegt aber der Nouvellisten Symbolum [zu] seyn: Relata refero: Wie mirs verkaufft ist / so geb ichs wieder. Sie geben ja nicht vor / daß sie selbst an dem oder dem Ort gewesen / und die Sachen mit [eigenen] Augen gesehen: sondern melden jedesmahl / es werde von dem oder jenem Ort her also ihnen zugeschrieben. Hat es nun der Correspondent wieder von einem andern Ort / und trifft es endlich bey der endlichen Nachfrage nicht allerdings zu / was kan der letzte dafür / daß der erste es so mild berichtet?« Wenn also dem ›Nouvellisten‹, dem Journalisten, von seinen 168

So etwa Ahasver Fritsch: Diskurs über den heutigen Gebrauch und Missbrauch der ›Neuen Nachrichten‹ die man ›Neue Zeitungen‹ nennt. [Jena 1676.] In: Kurth, Schriften, (Fn 167), (S. 33-44), S. 42 f.

– 270 –

das fachstichwort

Korrespondenten oder Zuträgern eine Unwahrheit aufgebunden wird, so ist er entschuldigt, sofern »er die Sache nicht bemäntelt noch schmincket«; »denn er referiret, wie ers hat /und überlässet dem Leser das Urtheil.«169 Gleich dreimal wiederholt Hartnack in diesem kurzen Stück die Kernaussage, auf die es ankommt, in verschiedenen Fassungen: »relata refero«, »wie mirs verkaufft ist / so geb ichs wieder« und schließlich: der Journalist »referiret, wie ers hat«. Nur wenige Jahre später nimmt Kaspar von Stieler diesen Gedankengang auf, reichert ihn mit Quellenexempeln an und variiert die entscheidende Formel noch einmal: Der ›Zeitungsschreiber‹ salviere sich hinreichend, »indem er es ausgiebt, wie er es empfangen hat«.170 Rund einhundert Jahre später hält der Aufklärer August Ludwig Schlözer fest, die Zeitungen berichteten allesamt nach der Devise: »Relata refero«, weshalb man dem Zeitungsschreiber eine Schuld nicht anlasten könne, »wenn er etwas Falsches debitieret«.171 Der Schüler Schlözers, Joachim von Schwarzkopf, folgt in dieser Sache seinem Lehrer: Es sei, so schrieb er 1795, »unmöglich, daß eine Zeitung für alles Gewähr leisten könne«, weil ihre Berichterstattung eben von der Glaubwürdigkeit der Quellen abhängt; einen Maßstab für die Beurteilung solcher Nachrichtenarbeit setze daher nicht die Wahrheit, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass eine Nachricht wahr sei, weil die Quelle als glaubwürdig gilt.172 169

Daniel Hartnack [Hartnaccius]: Erachten von Einrichtung der Alten Teutschen und neuen Europäischen Historien. Hamburg 1688, S. 89 f.

170

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 167), S. 57.

171

Zitiert nach Schönhagen, S. 100 in diesem Band.

172

Joachim von Schwarzkopf: Ueber Zeitungen (und ihre Wirkung). [Frankfurt/M 1795.] Faksimile-Nachdruck München 1993, S. 92 ff. – So auch Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 167), S. 32: Es könne nicht »allezeit so genau abgehen / daß nicht ein erdichtetes wesen mit unterlaufe / und dann ist nur darauff zu sehen / ob die Relation wahrscheinlich sei oder nicht.« (Hervorhebung H.W.)

objektivität im journalismus

– 271 –

Philomen Schönhagen zeichnet in ihren Untersuchungen zur Unparteilichkeitsmaxime nicht nur diese Expertendebatten im Detail nach (97-101); sie belegt an vielen Exempeln vor allem auch, dass über Jahrhunderte hin das »relata refero« unaufgebbare, substanzielle Regel journalistischer Berichterstattung war und geblieben ist. Entsprechend kräftig markiert die zeitgenössische Fachdebatte diese Regel: Sie sei die »Devise« der Zeitungen und geradezu das »Symbol« für die Nachrichtenarbeit der Journalisten. Folgt man der Fachdebatte und den Praxisdeklarationen, so umfasst diese Regel mehrere Arbeitsschritte und -perspektiven: · Die intensive Suche nach geeigneten Primärquellen (Beteiligte, Betroffene, Augen- und Ohrenzeugen, Experten etc.), also eine umfassend gründliche Quellen-Recherche. · Sorgfältige Quellenarbeit, insbesondere Prüfung der Quellen auf ihre Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit sowie – soweit möglich – Vergleich der Auskünfte aus verschiedenen Quellen. · Vermittlung der so geprüften Quellen-Aussagen, gegebenenfalls mit Hinweisen auf Befunde der Quellenprüfung. · Bei dieser Vermittlung der Quellenaussagen ist, ungeachtet aller erforderlichen Bearbeitung, deren Gehalt möglichst exakt zu bewahren. Die Vermittlung muß sinntreu erfolgen. · Das Gebot der sinntreuen Vermittlung gilt auch für solche Quellen-Aussagen und Mitteilungen, die – in welcher Form auch immer – eine Unwahrheit enthalten, sofern der vermittelnde Journalist dies weder weiß noch vermuten kann. · Die Übereinstimmung des Gehalts der empfangenen und der vermittelten (Quellen-)Mitteilung, also die Sinntreue der Vermittlung, ist die ›Wahrheit‹ des Journalisten. Mit deren Darstellung erfüllt er zugleich das Postulat der Objektivität.173 173

Siehe die schematische Darstellung der Wahrheitsstufen S. 264 i. d. Band.

– 272 –

das fachstichwort

Generell liegt hier also eine zentrale Maßgabe für das Problem der Vermittlung von Kommunikation vor. Speziell enthält diese Maßgabe auch die Lösung des Problems, wie der Journalist mit Nachrichtenerzählungen und sonstigen Mitteilungen umzugehen hat, bei denen er möglicherweise mit Lügen, mit Schönungen oder allerlei anderen Entstellungen der Realität konfrontiert ist. Immer wird erwartet, dass die Sinntreue bei der Vermittlung solcher Mitteilungen gewahrt wird. In allen Fällen jedoch ist sinntreue Vermittlung gebunden an eine ebenso sorgfältige wie umfassende Quellenarbeit.174 Nur unter dieser Voraussetzung ist der Journalist von dem Vorwurf entlastet, er verbreite Unwahrheiten. Diese Lösung des Problems ist nicht nur durch eine lange Tradition ausgezeichnet, die sich in der journalistischen Praxis selbst entfaltet und bewährt hat; sie wurde im Rahmen dieser Tradition in den frühen fachlichen Auseinandersetzungen um das Ethos des Journalisten bekräftigt, nicht zuletzt gegen ungerechtfertige Angriffe der »Zeitungsstürmer« (Stieler) vorgetragen und schließlich auch gegen absolutistische Willkür, gegen unsachliches und praxisfernes Zensurgebaren ins Feld geführt. Ausgezeichnet ist diese Problemlösung und das entsprechende journalistische Verfahren auch durch eine Konvergenz von Erkenntnissen, die von ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen sowie von je besonderen methodischen Prämissen zum Problem einer Kommunikation über Distanz gewonnen wurden. Solche Erkenntnisse wiegen umso schwerer, weil sie nicht unmittelbar von journalistischen Erfahrungen abgenommen, nicht direkt auf das journalistische Ethos gemünzt sind. Vielmehr handelt es sich um Antworten auf die Frage, wie überhaupt eine Kommunikation über Distanz möglich wird. Die urtümliche 174

Siehe dazu auch Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 167), S. 31 ff.

objektivität im journalismus

– 273 –

Form solcher Kommunikation über Distanz ist der Botengang.175 Die kulturgeschichtliche Forschung hat dafür eine womöglich ins 2. Jahrtausend vor Christus zurückreichende ›Botenformel‹ aufgefunden, die dem Boten (mit mündlichem Auftrag) »die sach- und sinngetreue Wiedergabe einer Botschaft« auferlegt. Sie ist Bestandteil einer sogenannten »Kanonformel«, die für verschiedene Funktionsbereiche kommunikativen und sozialen Handelns mit hoher Verbindlichkeit eine sichere Weitergabe von Informationen bezweckt. Die Basismaxime der Kanonformel besagt, dass einer Botschaft »nichts hinzugefügt« und »nichts weggenommen«, »nichts verändert werden« darf.176 Die Botenformel relativiert wohl mit Blick auf die besonderen Bedingungen eines mündlichen Auftrags diesen Grundsatz insoweit, als hierbei – im Unterschied zur ›Kopisten- oder Tradentenformel‹ – der Verbindlichkeitsakzent nicht auf der Formtreue, sondern auf der Sinntreue der Mitteilungsvermittlung liegt. Zahlreiche Exempel für die Vorkehrungen, solche Sinntreue und damit die Zuverlässigkeit von Nachrichten unter den Bedingungen des Botengangs zu gewährleisten, präsentiert Wolfgang Riepl in seiner bis heute maßgeblichen Untersuchung über das Nachrichtenwesen des Altertums.177 Am Botengang als einem allgemeinen Übertragungsmodell knüpft neuerdings Sybille Krämer an; jedoch erschließt sie die Problematik mit medienphilosophischen Methoden und Kriterien. Der Bote wird so zur prototypischen Figur jeder Art von Informationsweitergabe, von Vermittlung. Eine zentrale Markierung des so entworfenen Botemodells ist auch hier Sinntreue, die »authen175

Vgl. S. 225 ff in diesem Band.

176

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 21999, S. 103 f.

177

Siehe Wolfgang Riepl: Das Nachrichtenwesen des Altertums. Mit besonderer Rücksicht auf die Römer. Leipzig/Berlin 1913.

– 274 –

das fachstichwort

tische Reproduktion« der Botschaft: »Der Bote hat die Botschaft nicht nur zu überbringen, sondern sie dabei zugleich zu bewahren«, ihren »Gehalt möglichst immobil zu halten«.178 Es spielt dabei keine entscheidende Rolle, was die Botschaft enthält, auch nicht, ob der Auftraggeber in diese Botschaft die Wahrheit oder die Unwahrheit oder eine Teilwahrheit eingebracht hat. Denn der »Bote steht nicht in der Verantwortung für den Inhalt dessen, was ihm zu sagen aufgetragen ist«.179 Und um hier dem generellen das spezielle Vermittlungsverhältnis im Journalismus hinzuzufügen: Journalisten müssen, um der Forderung nach Sinntreue gerecht zu werden, »an ihrer Arbeit innerlich unbeteiligt, neutral gegen deren Inhalte« bleiben.180 Die damit unlösbar verbundene Wahrheitsfrage nimmt Bernhard Waldenfels in seiner phänomenologischen Analyse der vermittelten Dialogs direkt auf. Eine mögliche Erscheinungsform des vermittelten Dialogs ist die Verbindung eines »Hauptdialogs«, der zwischen den eigentlichen Kommunikationspartnern über innere oder äußere Distanzen hinweg geführt werden soll, mit einem »Nebendialog«, bei dem die Partner einen Übermittler in Dienst nehmen, um die Abstände zu überbrücken. In diesem Fall hört der Vermittler »primär im fremden Namen« zu und spricht im fremden Namen.181 Dabei wird dem Vermittler »etwas anvertraut, und er liefert etwas aus. Zu verantworten hat er nicht, ob das Übermittelte wahr ist, wohl aber, dass er es getreu weitergibt.«182 Als Ver178

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 116 f. – Siehe auch S. 265 ff in diesem Band.

179

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 119.

180

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 112.

181

Vgl. dazu S. 225 in diesem Band.

182

Bernhard Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen in Anschluss an Edmund Husserl. Den Haag 1971, S. 211. (Hervorhebung H.W.)

objektivität im journalismus

– 275 –

bindung zweier Diskurse betrachtet schließlich auch Veikko Pietilä in seinem diskurstheoretisch konstruierten Erzählmodell die Struktur von Medienberichten. Der zwischen Journalist und Rezipient stattfindende Diskurs vermittelt die (Haupt-)Diskurse, die zwischen gesellschaftlichen Akteuren ablaufen.183 Auch Pietilä leitet so die zentrale Verantwortung des Vermittlers für eine getreue Weitergabe der Botschaften des Hauptdiskurses ab.184 Diese Erkenntnisse lassen zwei Schlussfolgerungen sicher zu: · Kommunikation über Distanz (welcher Art auch immer) ist nur möglich durch Vermittlung. Und: · Vermittlung erfüllt diese Funktion nur dann, wenn dabei die Sinntreue der vermittelten Botschaften ohne Rücksicht auf deren Inhalt und Wahrheitsgehalt zuverlässig gesichert ist, was wiederum die Unparteilichkeit oder Neutralität des Vermittlers voraussetzt. Damit wird Sinntreue zum Kernstück des Objektivitäts- oder Unparteilichkeitskonzepts. Eine derart zentrale Position wird dem Kriterium der Sinntreue in den beiden Objektivitätsentwürfen von Philomen Schönhagen und Detlef Schröter zugewiesen. Zwar verzichtet erstere auf eine förmliche Rangordnung der vier von ihr namhaft gemachten journalistischen Handwerksregeln, welche die Unparteilichkeitsmaxime tragen. Immer dort aber, wo der Regelkomplex der »treulichen Vermittlung« zur Debatte steht (z.B. 77, 97, 103, 117, 121 f), greift dieser auf die anderen Handwerksregeln aus, oder diese weisen zurück auf das Gebot der Sinn183

Veikko Pietilä: Beyond the News Story: News as Discoursive Composition. In: European Journal of Communication. 1992, 7. Jg., (S. 37-67), S. 37. Siehe auch Cornelia Steinle: Sinntreue im Journalismus. Eine explorative Studie zur Relevanz journalistischer Vermittlungseingriffe für den Rezipienten. (Unveröffentlichte Magisterarbeit.) München 2003, S. 19.

184

Zit. nach Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 500.

– 276 –

das fachstichwort

treue. Anders Detlef Schröter: Er signiert geradezu provokativ sein Konzept von journalistischer Objektivität mit Sinntreue: »Mitteilungs-Adäquanz« lautet der Titel seines Beitrags. ›MitteilungsAdäquanz‹ und ›Objektivität‹ werden praktisch als identische Qualitäten vorgestellt. Im »engeren Sinne« meint der Begriff ›Mitteilungs-Adäquanz‹ die »inhaltlich-sachliche Entsprechung von ursprünglicher Mitteilung [seitens gesellschaftlicher Aussageträger] und [journalistisch] vermittelter Mitteilung« (169).185 Im weiteren Sinn umfasst jedoch ›Mitteilungs-Adäquanz‹ sämtliche Regeln oder Dimensionen journalistischer Alltagsarbeit, weil sie allesamt »mittelbar und unmittelbar mit dem Problem der Mitteilungs-Adäquanz verwoben« sind (158). Entlang der Maßgaben, die als eiserne Regeln des normalen journalistischen Handwerks in einer Vielzahl von Praxishandbüchern präsentiert werden (158 f), demonstriert Schröter diesen Zusammenhang. Die Beachtung all dieser Regeln dient in der Summe der Sicherung von Mitteilungs-Adäquanz als »einem mit Vorrang zu lösenden Hauptproblem der Massenkommunikation« (158).186

Das Problem: Sinnüberlagerungen Dieses Problem baut sich deshalb in der Massenkommunikation ganz besonders auf, weil bei der journalistischen Vermittlung von Mitteilungen aus dem gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehen von der Formtreue der vermittelten Botschaften abgesehen werden muss. Formtreue Vermittlung, also die unverkürzte Wiedergabe von Reden oder anderen Dokumenten in der Presse oder 185

Dies entspricht dem Schema der Wahrheitsstufen S. 264 in diesem Band.

186

Siehe dazu auch Hans Wagner: Kommunikation und Gesellschaft. München 1978, Bd. 1, S. 53.

objektivität im journalismus

– 277 –

eben die Live-Übertragung im Rundfunk, ist in der Massenkommunikation Ausnahme. Daran ändert auch die Etablierung eines Dokumentationskanals wie Phoenix oder der gegenwärtige Boom etwa von Talkshow-Formaten im Fernsehen nichts. Denn beim Inhalt der Massenmedien handelt es sich prinzipiell um eine Konzentration des gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens sowie aller darin verwobenen Mitteilungen.187 Diese Konzentration ist entsprechend durch eine doppelte ›Verkürzung‹ bestimmt: Einerseits durch die ›Verkürzung‹ der einzelnen Mitteilungen, die in der Regel auf Aussageträger bzw. Primärquellen in der Gesellschaft zurückgehen; diese müssen von ihrer ursprünglichen Form in je mediengerechte Form gebracht, das heißt: ›transformiert‹ werden. Andererseits durch eine ›Verkürzung‹ des gesamten Kommunikationsgeschehens. Diese wird möglich durch die Reduktion des je themenrelevanten gesellschaftlichen Meinungsspektrums auf die prägnant voneinander unterscheidbaren Meinungspositionen. Deren Artikulation durch vermutlich ungezählte, im großen und ganzen übereinstimmende Einzelstimmen wird reduziert auf die Äußerung von Meinungsrepräsentanten, die zumeist förmlich legitimiert sind, verbindlich für die Vielen zu sprechen.188 187

Siehe dazu Schwarzkopf, Zeitungen, (Fn 172), S. 81 f. – Schwarzkopf statuiert hier bezüglich der Zeitungen des 18. Jahrhunderts: »Die Einrückung ausführlicher Abhandlungen oder Urkunden, welche immer weiter um sich greift, ist unstrittig eine Abweichung vom Hauptzwecke der Zeitungen. Dieser geht nur auf abgekürzte Nachrichten und zweckmäßige Auszüge, auf Decocte und Quintessenzen.« Immerhin präsentiert dann auch Schwarzkopf eine Reihe von zeitgenössisch relevanten Fällen, in denen von diesem »Hauptzwecke der Zeitungen« abgewichen werden darf, insbesondere bei ›Urkunden‹, deren vollständige Kenntnis für das ganze Publikum nützlich ist.

188

Siehe dazu Hans Wagner: Kommunikation im Plural. In ders., Journalismus, (Fn 106), S. 235 - 262. Grundlegendes hierzu auch bei Waldenfels, Zwischenreich, (Fn 182), dort insbes. »Die offene Gesprächsrunde«, S. 194 - 200.

– 278 –

das fachstichwort

Diese Reduktionsschritte zielen auf Pluralismus- und Positionstreue des in den Medien konzentrierten gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens.189 Jeder einzelne dieser Reduktionsschritte beruht auf Selektionsentscheidungen, die der schließlichen Transformation der Einzelaussagen notwendig vorausgehen. Bei dieser gesamten Konzentrationsprozedur kommt unweigerlich die Subjektivität des Journalisten ins Spiel, auch wenn sich dieser noch so sehr um Objektivität, also auch um Distanz und Neutralität gegenüber den zu vermittelnden Inhalten bemüht.190 Dies braucht und darf gerade dann nicht geleugnet werden, wenn man unverrückbar an der Forderung nach journalistischer Objektivität festhält. Allerdings ist die in die Konzentrationsprozeduren einschießende Subjektivität gewissermaßen gezähmt durch Maßgaben des journalistischen Handelns, die nirgendwo explizit statuiert, die nur schwer rationalisierbar und allenfalls indirekt über die Analyse journalistischer Produkte nachweisbar sind. Es handelt sich dabei um Entscheidungsmarken dafür, was ›wichtig‹ und ›relevant‹ ist, was das Publikum interessiert. In der kommunikationswissenschaftlichen Literatur wird das Gros dieser Maßgaben als Nachrichtenfaktoren behandelt.191 Diese sind indessen nichts weniger als vorgegebene Eigenschaften von Ereignissen. Vielmehr beruhen sie und die daraus abzuleiten189

Auf die Reduktion des Kommunikationsgeschehens komm ich in dem Abschnitt »Von sozialer Orientierung und ihrem Preis« noch einmal zurück.

190

Otto Groth, der sich resolut gegen die Preisgabe des Objektivitätsprinzips zur Wehr gesetzt hat (siehe S. 204 f in diesem Band), anerkennt gleichzeitig die unaufhebbaren Begrenztheiten der Objektivitätsbemühungen, die aus »der ›Konstitution‹ des erkennenden Subjekts« herrühren. Siehe Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 113 ff.

191

Einen immer noch instruktiven Überblick über die Nachrichtenwert-Forschung gibt Friedrich Staab: Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg/München 1990.

objektivität im journalismus

– 279 –

den Nachrichtenwerte auf Zuschreibungen durch Journalisten. Diese Zuschreibungen entspringen jedoch nicht subjektiv-willkürlicher Einschätzung. Über den Gehalt und das Gewicht von Nachrichtenfaktoren herrscht innerhalb des Berufsstandes eine deutliche Konformität, die zurückzuführen ist auf das ›learning by doing‹ während der journalistischen Lehrjahre, später dann auf die vielfach nachgewiesene Kollegenorientierung, nicht zuletzt auch auf die Orientierung an einigen wenigen Leitmedien. Abzulesen ist die Wirkung dieser Maßgaben an den hohen Konsonanzwerten der Berichterstattung, soweit sie die Kernstücke der jeweiligen Nachrichtenlage in den nämlichen Ereigniszonen in Medien mit gleicher Zwecksetzung betrifft. Die angedeutete Limitierung der Subjektivität durch professionell intersubjektive Maßgaben greift hauptsächlich in den Selektionsprozessen, auch in solchen, von denen die mediengerechte Transformation der ausgewählten Einzelmitteilungen immer und notwendig begleitet ist. Hier schneiden die Auswahlprozesse in die Details einer Aussage: Welche Teile einer Aussage dürfen übersehen und weggelassen werden, welche anderen müssen in jedem Fall beachtet werden, wenn das Ziel einer unverfälschten Vermittlung der Botschaft, wenn also Sinntreue erreicht werden soll? Dies hängt selbstredend auch davon ab, ob und wie der Journalist eine Aussage wahrgenommen und verstanden hat. Auch wenn man dieses perspektivische Verzerrungspotenzial in Rechnung stellt, darf nicht übergangen werden, dass das Ziel der Sinntreue ausdrücklich in der verbindlichen Berufsordnung für Journalisten verankert ist. Als zweiten Grundsatz statuiert der deutsche Pressekodex:192 Zur Verbreitung bestimmte Informatio-

192

Publizistische Grundätze (Pressekodex), beschlossen vom Deutschen Presserat. Ziff. 2 in der Fassung vom 14. Februar 1990. [Hervorhebungen H.W.]

– 280 –

das fachstichwort

nen und Nachrichten seien mit Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. »Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Dokumente müssen sinngetreu wiedergegeben werden.« Auf den ersten Blick scheint mithin die Wahrung der Sinntreue eine eher selbstverständliche und nicht sonderlich schwierige Objektivitätsübung zu sein. Dies mag für plakativ pauschale und entsprechend simple Beispielfälle zutreffen. Das ›Ja‹ eines Aussageträgers oder Informanten darf eben nicht zu einem ›Nein‹ gebogen werden, die Zustimmung einer Primärquelle zu einer beliebigen Meinungsposition darf nicht in deren Ablehnung verdreht werden. So weit, so gut. Die Schwierigkeiten springen den Journalisten aber geradezu an, wo komplexe Aussagen reduziert werden müssen, weit ausgreifende Interviews etwa, lange, womöglich multithematische Reden oder vielköpfige und entsprechend vielstimmige Debatten. In diesen arbeitsalltäglichen Fällen stellt sich nämlich sofort die Frage, was denn eigentlich »nun der ›Sinnkern‹ einer Mitteilung sei, wie man ihn entdecken könne, wie man zu verfahren habe«, um ihn adäquat zu präparieren und zu vermitteln (Schröter, 170). Zutreffend hält Detlef Schröter fest, dass sich konkrete Handwerksregeln dazu nirgends fänden; der Journalist müsse sich hier auf ›Routine‹, auf ›Fingerspitzengefühl‹, auf seinen ›Riecher‹ oder eben auf ein ›intuitives Gefühl‹ verlassen (170). Auch die einschlägigen Kommunikationswissenschaften haben keine Antworten auf diese Frage. Grundlagenforschung zu dieser zentral praxisrelevanten Problematik ist mit bloßem Auge nicht erkennbar. Der Forschungsstand insgesamt zur sinntreuen journalistischen Wiedergabe der Mitteilungen von Primärquellen aus der Gesellschaft ist spärlich und dünn.193 Dieses Defizit erklärt 193

Zum Forschungsstand siehe Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), 502 - 507.

objektivität im journalismus

– 281 –

sich im wesentlichen daraus, dass sich – wie Schröter richtig bemerkt – »unter den Prämissen der üblichen Massenkommunikationstheorien« die Frage nach der Mitteilungs-Adäquanz oder Sinntreue »ganz einfach gar nicht stellen lässt« (171).194 Annäherungen an das Problem finden sich allenfalls in den sogenannten Accuracy-Studien, die generell nach »Vermittlungsmängeln oder Ungenauigkeiten massenmedialer Berichterstattung« fragen. Empirische Untersuchungen dieses Typs sind in großer Zahl in den USA durchgeführt worden.195 Im weitesten Sinn ist dazu auch die Dortmunder Dissertation von Alexander Marinos zu rechnen, die sich mit der »Authentizität der Redewiedergabe im nachrichtlichen Zeitungstext« beschäftigt.196 Allerdings schlägt er dabei wenigstens eine Schneise zu einem doch weiter gesteckten Ziel, wo er versucht, die Gretchenfrage zu beantworten, nach welchen Kriterien die journalistische »Reformulierung« der Aussage oder Rede eines Sprechers als »wahrheitsgetreu« gelten könne. Dafür gibt er zwei Kriterien an: Die journalistische Wiedergabe müsse ›richtig‹ und ›vollständig‹ sein. Richtig sei sie, wenn »ein weiterer Beobachter die Redewiedergabe in Kenntnis der Ausgangsrede als zulässig, gültig, als faktentreu ansehen könnte«; vollständig sei sie, wenn sie eine »maßstabsgetreue Konzentration« aller relevanten »zum Ereigniskontext gehörenden Formulierungshandlungen des Sprechers« sei, ohne in Einseitigkeit abzugleiten.197 So einsichtig diese Kriterien auch sind, in der journalistischen Praxis sind sie kaum anwendbar. 194

Siehe dazu auch S. 214 - 219 in diesem Band.

195

Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 502.

196

Alexander Marinos: »So habe ich das nicht gesagt!« Die Authentizität der Redewiedergabe im nachrichtlichen Zeitungstext. Berlin 2001.

197

Marinos, Authentizität, (Fn 196), S. 28 f. Zit. nach Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 502.

– 282 –

das fachstichwort

Von erheblicher Praxisrelevanz sind jedoch Befunde von Marinos ebenso wie die von anderen Untersuchungen zu journalistischen Fehlleistungen, die allesamt mittelbar oder unmittelbar die geforderte Sinntreue verletzen. Besonders häufig, aber nicht als sehr schwerwiegend eingeschätzt, werden zu starke Kürzungen moniert, vor allem dann, wenn sie mit massiven Vereinfachungen verbunden sind oder mit aufgebauschten bzw. heruntergespielten Aspekten der Aussagewiedergabe. Die Streichung von begründenden Argumenten oder verständnisrelevanten Kontexten, die Präsentation von zerstückelten, aus dem Zusammenhang gerissenen Teilaussagen, unberechtigte Verallgemeinerungen, irreführende Überschriften und Einseitigkeiten in der Aussagewiedergabe: das sind Mängel, die von betroffenen Aussageträgern schon als ziemlich schwerwiegend eingestuft werden. Als besonders schwerwiegend schlagen schließlich Mängel zu Buche wie die falsche Wiedergabe von Fakten, sinnentstellende Zitate oder gar Aussagen, die frei erfunden sind.198 Die Summe solcher Mängel betrifft häufig bis zu 40 oder 50 Prozent der Beiträge, selten weniger. Das Mängel-Muster bleibt quer über Medientypen und Ressorts stets ähnlich. Eine jüngste Studie spricht gar von einer »Fehlertypologie«, die sich »über die Kulturgrenzen hinweg« ähnelt und ein »generelles Problem« im Journalismus bloßlege.199 Diese Fest-

198

Siehe dazu die resümierenden Überblicke bei Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 530 f; bei Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 11), S. 205. Ferner Klaus Eckardt: »Das habe ich aber so nicht gesagt.« Eine empirische Untersuchung über die Zufriedenheit von Informanten einer lokalen Tageszeitung mit der Wiedergabe ihrer Äußerungen und Positionen. (Abschlussarbeit FU Berlin.) Berlin 1999, S. 43 - 46. Daniela Stoll: Die Mitteilungsadäquanz. Ein journalistisches Qualitätskriterium und dessen Umsetzung im Lokalteil von drei Münchner Tageszeitungen. (Unveröffentl. Diplomarbeit.) München 2001, Band 1, S. 73 ff.

199

Porlezza u.a., Fehler, (Fn 17), S. 17

objektivität im journalismus

– 283 –

stellung bezieht sich im wesentlichen auf fehlerhafte Faktendarstellung in der Berichterstattung von (regionalen) Tageszeitungen der USA, der Schweiz und in Italien. Im Zentrum stehen dabei die Quoten falsch wiedergegebener Zitate. Wörtliche Zitate sind empfindliche Indikatoren für die Wahrung oder Verletzung der Sinntreue. Schließlich ist die in Anführungszeichen gesetzte wörtliche Aussage eine Zusicherung besonderer Zuverlässigkeit und Genauigkeit eines Berichtteils, der damit als ausnehmend wichtig, als hervorgehoben oder gelegentlich auch als auffällig und ausgefallen markiert wird. Es handelt sich um Mitteilungsbruchstücke, für die nicht nur Sinntreue, sondern auch Formtreue versprochen und in Anspruch genommen wird. Trotz dieser formalen Betonung fördern die einschlägigen Untersuchungen regelmäßig überraschend hohe Anteile verfälschter oder frei erfundener Zitate zutage. Detlef Schröter hat in der Unternehmensberichterstattung von Tageszeitungen und Magazinen insgesamt einen Anteil von 23 Prozent aller überprüfbaren Zitate ausgemacht, die falsch, ungenau oder erfunden waren.200 In der »bisher größten« amerikanischen Studie zur Berichterstattung von Tageszeitungen kommt Scott R. Maier von der University of Oregon auf 21 Prozent falsch wiedergegebene Zitate. Eine den Untersuchungskriterien der letzteren Studie folgende Analyse von fünf Regionalzeitungen aus der deutschen Schweiz und aus Italien erbrachte für die Schweiz 26,5 Prozent sowie für Italien 22,1 Prozent falscher oder gefälschter Zitate.201 Beschränkt man sich auf die Lokalberichterstattung, so sinken in diesem Ressort zwar die 200

Schröter, Mitteilungs-Adäquanz, (Fn 11), S. 208. – Der hier vorgestellte Wert weicht von Schröters Angaben ab, der 20 Prozent ermittelt haben will. Auf der Grundlage der dokumentierten Daten ist der hier angegebene Prozentsatz neu berechnet worden.

201

Sämtliche Daten und Angaben aus Porlezza u.a., Fehler, (Fn 17), S. 16.

– 284 –

das fachstichwort

ermittelten Werte deutlich, sie sind aber immer noch gravierend. Klaus Eckardt hat in einer Lokalzeitung 13 Prozent,202 Daniela Stoll im Lokalteil dreier Münchener Tageszeitungen 16 Prozent fehlerhaft wiedergegebene Zitate aufdecken müssen.203 Möglicherweise lässt sich der Rückgang mit der besseren Überprüfbarkeit von Fakten und Äußerungen im lokalen Kommunikationsraum erklären. Noch frappierender als die nackten Zahlenbefunde zur Verletzung der Zitattreue sind die Einstellungen und Motive der Journalisten, die sie zu verantworten haben. Alexander Marinos hat betroffene Journalisten befragt und in diesen Fallstudien nachgewiesen, dass die meisten von ihnen sich ihrer sinnentstellenden Vermittlungseingriffe wohl bewusst sind und sich dazu auch bekennen. Typisch dafür ist die Auskunft einer Journalistin, dass sie »nicht wertfrei« zitiere, sondern für ihre eigenen Aussageintentionen jemanden suche, den sie zitieren könne.204 Eine solche Zitationsstrategie, die eine grobe Verletzung der Objektivitätsverpflichtung darstellt, scheint in manchen Bereichen, nicht zuletzt in der politischen Berichterstattung, durchaus häufig vorzukommen. Jedenfalls vermerken Politiker in diversen Erfahrungsberichten mit Journalisten, es gebe – als Gegenbild zum seriösen Journalisten – einen Typus von Publizisten, der im Büro anrufe und das Gespräch mit den wenig vertrauenerweckenden Worten beginne: »Könnten Sie sich vorstellen, folgenden Satz zu sagen?« Er »ist an meinen eigenen Überlegungen gar nicht interessiert. Der Artikel 202

Eckardt, Zufriedenheit, (Fn 198), S. 43.

203

Stoll, Mitteilungsadäquanz, (Fn 198), S. 78 f.

204

Marinos, Authentizität , (Fn 196), S. 226. Zit. nach Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 506. An der angegebenen Stelle bringt Schönhagen weitere Belege für Zitatstrategien, mit deren Hilfe derartige publizistische Intentionen realisiert werden sollen.

objektivität im journalismus

– 285 –

ist schon längst geschrieben. Jetzt bedarf es nur noch eines Stichwortgebers, der das Spiel mitzumachen bereit ist.«205 Oder als eine etwas tiefer in den Nachrichtenfluss reichende Form: Ein seriöser Journalist plane niemals einen Überfall, »indem er eine Agenturmeldung zückt, in der man mit Worten zitiert wird, die man selbst noch nicht kennt«.206 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtete der frühere saarländische Ministerpräsident Peter Müller von einem »Gespräch mit einem Verleger oder mit einem Chefredakteur«, bei dem ihm dieser sagte, »er müsse als Politiker wissen, dass es nicht darauf ankommt, was er sagt; es käme vielmehr darauf an, was man aus dem machen könne, was er sagt«. Peer Steinbrück, der diese Episode aufgreift, fügt hinzu, er selbst kenne Journalisten, die ihm nahelegten: »Wir sagen Ihnen, Herr Steinbrück, wie Sie das, was Sie sagen, gefälligst auch zu meinen haben.«207 Die wenigen Exempel stehen für eine Vielzahl von Varianten des klassischen Falls, über den schon 1695 Kaspar von Stieler berichtet:208 Es wird nicht vermittelt, was XY über ein Ereignis, zu einem 205

Michael Roth (MdB, SPD) in: Mabritt Illner / Hajo Schumacher: Schmierfinken. Politiker über Journalisten. München 2009, S. 95. – Ähnliches berichtet Julia Klöckner (MdB, CDU, »gelernte Journalistin«): »Er braucht unbedingt einen Sprecher für das Zitat, das er sich ausgedacht hat. ›Könnten Sie nicht fordern, dass der Pfleger von Knut heilig gesprochen wird?‹ – mit solchen oder noch absurderen Anfragen schlägt man sich dann herum.« (Ebenda S. 65.) – Im übrigen ist auch der Titel des angegebenen Buches eine grobe Irreführung. Keiner der 25 Politiker, die darin über einzelne Journalisten schreiben, beschimpft ›seinen‹ Journalisten, schon gar nicht in einer so rüden Tonart, wie sie der Titel suggeriert.

206

Karl-Theodor zu Guttenberg (MdB, CSU) in: Illner / Schumacher, Schmierfinken, (Fn 205), S. 22.

207

Peer Steinbrück: Die Verantwortung der Medien in der Krise. 4. Berliner Medienrede am 23. November 2009, (S. 9, Mskr.).

208

Stieler, Zeitungs Lust, (Fn 167), S. 49; vgl. Schönhagen, 94 f i. d. Band.

– 286 –

das fachstichwort

Vorgang oder zu einem Vorhaben gesagt hat, sondern das, was er nach Meinung des Journalisten tunlich hätte sagen sollen oder gesagt haben könnte. Auf diese Weise unterschiebt der Journalist seinen ›Eigensinn‹ dem Sinn einer Mitteilung Dritter. Tatsächlich wird dabei, was der Journalist im Sinn hat, zur perspektivischen Sinnvorgabe für die Berichterstattung. So wird der eigentlich zu vermittelnde Sinn der Gesprächsbeiträge aus der Gesellschaft überlagert von publizistischen Intentionen, von diesen unter Umständen bis zur Unkenntlichkeit überformt.209 Das kann sehr versteckt und sublim geschehen, ebenso aber auch im Rahmen einer offenen Vermischung von Kommentar und Nachricht. So hat etwa Schröter nachweisen können, dass längere Beiträge, vornehmlich in Magazinen, nicht etwa eine ausführlichere Wiedergabe von Mitteilungen gesellschaftlicher Aussageträger begünstigen, dass sich in solchen Fällen vielmehr Publizisten für eigene Einlassungen Platz einräumen. Vor allem aber: In solch längeren Beiträgen werden von den betroffenen Aussageträgern verstärkt Vermittlungsmängel, nicht zuletzt vermehrt Verstöße gegen Sinnund Zitattreue beklagt.210 Die Gründe für Sinnüberlagerungen sind recht verschiedenartig und von unterschiedlichem Gewicht. Sie reichen von schlampigen Arbeitsweisen, bei denen auf Notizen und Aufzeichnungen verzichtet und später aus dem Gedächtnis zitiert wird,211 bis zu der Absicht, die Attraktivität von Berichten zu steigern und so Anschlussdebatten zu provozieren,212 von der Überforderung durch 209

Siehe dazu Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 501, 505 und 506 f.

210

Schröter, Qualität, (Fn 9), S. 160 und S. 218.

211

Vgl. Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 506.

212

Einige Exempel für Zitatentstellungen aus solchen Gründen liefert Thymian Bussemer: Die erregte Republik. Wutbürger und die Macht der Medien. Stuttgart 2011, S. 68 und S. 78 f. Vgl. auch Ole v. Beust: »Betonen«, »

objektivität im journalismus

– 287 –

komplexe Sachverhalte, die nicht durchschaut oder verstanden werden, insbesondere wo es um hochspezialisierte politische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Zusammenhänge geht,213 bis hin zu professioneller Besserwisserei,214 von der hintergründigen Arglist, Interviewpartner sich um Kopf und Kragen reden zu lassen, bis hin zu dem Bestreben, die eigenen Überzeugungen zu »objektivieren«, indem man sie anderen in den Mund legt. 215 Was immer die Gründe im einzelnen sein mögen, Verstöße gegen die Sinntreue im allgemeinen sowie gegen Zitattreue im besonderen sind stets Verfehlungen gegen die Vermittler-Funktion des Journalisten nach zwei Seiten. Sie nehmen zum einen den Auftrag nicht ernst, den der Journalist für die Aussageträger aus der Gesellschaft zu erfüllen hat. Insoweit dokumentieren sie Respektlosigkeit gegenüber Mitteilungen und deren Sinn, die in der Gesellschaft, in deren Organisationen und Institutionen als für alle oder für viele bedeutsam artikuliert werden, aber eben nur dann gesellschaftsweit vernehmbar sind, wenn sie journalistisch-professionell vermittelt werden. Auf der anderen Seite sind die genannten ßen«, »bekräftigen«. Die Sprache von Politikern ist für den Wähler kaum noch zu verstehen. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 156, v. 9. 7. 2012, S. 2: »Journalisten verkürzen und spitzen zu – manchmal, um ein Thema besser verständlich zu machen, oft aber auch, weil es sich so besser verkauft, auch wenn der Sinn auf der Strecke bleibt.« 213

Siehe dazu Heike Faller: Musste das sein? Nur wenige Journalisten haben vor der Finanzkrise gewarnt. Viele wussten vieles, aber es fehlte der Blick aufs Ganze. Eine Blattkritik. In: Zeitmagazin Nr. 16 v. 14. 4. 2011, S. 10 -14

214

Nachzulesen etwa in dem Selbstbekenntnis von Wolf v. Lojewski, Wahrheit, (Fn 144), S. 30: »Es kann auf die Dauer sogar frustrierend sein, sich immer wieder Fragen [für Interviews mit Politikern] auszudenken, wenn man die Antworten eigentlich schon kennt.« (Hervorh. H.W.)

215

So Siegfried Weischenberg über den »gezielten Einsatz von Anführungszeichen« in: Journalistik, (Fn 33), S. 166; auch S. 118; ähnlich Sponholz, Erkenntnis, (Fn 81), S. 41.

– 288 –

das fachstichwort

Regelverletzungen ein eklatanter Betrug am Publikum. Wer wissen will und wissen muss, welche Meinungsposition Parteien oder Interessenorganisationen zu Vorhaben oder Entscheidungen vertreten, von denen er, der Rezipient als Bürger, betroffen ist, muss sich darauf verlassen können, dass auch verkürzte und in Nachrichten transformierte Mitteilungen zuverlässig den Sinn der Originalaussagen treffen. Nur dann kann der Rezipient sich als Bürger und Zeitgenosse darnach richten. So ist es letztlich auch nicht die absolute Höhe der Quote fragwürdiger Sinn- und Zitattreue, welche die prekäre Situation des Rezipienten ausmacht, sondern die »Defizit-Tatsache« als solche: »Denn kaum ein Rezipient hat eine reelle Chance, überhaupt festzustellen, welche der vermittelten Mitteilungen ihm inhaltlich adäquat angeboten werden und welche anderen nicht. Und keiner vermag daher im Einzelfall auszuschließen, dass eine sinnentstellende, verbogene, aus dem [verständnisermöglichenden] Zusammenhang gerissene vermittelte Mitteilung gerade für ihn (...) von ganz besonderer Relevanz ist«.216 Da er nicht herauszufinden vermag, welches die vierte, fünfte oder sechste sinnlädierte Nachricht ist, könnte es jede sein. Daher verfängt der Beschwichtigungsversuch nicht, die Mehrzahl der Nachrichten stimme ja doch und sei in Ordnung. Er entpuppt sich als eine Milchmädchenrechnung, die weder der Informations- noch der Orientierungspraxis des Normalmenschen gerecht wird. Wenn andererseits verantwortliche Journalisten bei Befragungen sich damit herausreden, dass sich die gesellschaftlichen Aussageträger nur selten über sinnentstellende Meldungen beschwerten,217 so ist dies 216

Schröter, Qualität, (Fn 9), S. 219.

217

So Schönhagen, Wiedergabe, (Fn 20), S. 506 mit Verweis auf Befunde von Marinos (Fn 196) und Eckardt (Fn 198). DieBereitschaft, sich im Fall fehlerhafter Vermittlung zu beschweren, ist nur bei Wissenschaftlern festgestellt

objektivität im journalismus

– 289 –

ein fadenscheiniges Alibi. Die betroffenen Aussageträger nämlich wissen – und jeder Journalist weiß, dass sie es wissen! –, dass sie über kurz oder lang wieder auf die Vermittlung ihrer Mitteilungen angewiesen sind; daher empfiehlt sich eher zähneknirschendes Dulden als eine Beschwerde, die ohnehin nichts mehr bringt. Kaum eine andere Handwerksregel stellt den Journalisten so abrupt in die Mitte zwischen alle Kommunikationspartner in der Gesellschaft wie die Anforderung sinntreuer Vermittlung. Und bei kaum einer anderen Regelverletzung wird so unabweisbar evident, dass der journalistische Vermittler seine Position in der Mitte aufgibt, seine Unparteilichkeitsverpflichtung ruiniert und mit seiner Funktion zugleich seine Reputation verspielt, wenn er das Gebot der Sinntreue missachtet. Genau hier wird deshalb auch die Ambivalenz der Vermittlerrolle sichtbar. Sybille Krämer spricht davon, dass Vermittler in jeder ihrer Erscheinungsformen »auf der Folie einer Kippfigur« agieren, zwischen »Selbstneutralisierung« und »Selbststilisierung« pendeln können.218 Auch Bernhard Waldenfels hat darauf ausdrücklich aufmerksam gemacht: »Die Einschaltung eines lebendigen Mittlers wirkt ebenso sinnbelebend wie sinnverengend, der Möglichkeit nach auch sinnentstellend.«219 Genau das also, was soziale Kommunikation über Distanzen ermöglicht, gefährdet sie auch: die Vermittlung. Die unaufgebbare Bedingung ihrer Möglichkeit ist zugleich auch die Bedingung ihrer möglichen Störung oder gar Zerstörung: der menschliche Vermittler.220 Solche »Fragilität« ist

worden. Dazu Hans-Peter Peters / J. Krüger: Der Transfer wissenschaftlichen Wissens in die Öffentlichkeit aus Sicht von Wissenschaftlern. Jülich 1985. 218

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 343 f.

219

Waldenfels, Zwischenreich, (Fn 182), S. 211.

220

Vgl. Wagner, Medientabus, (Fn 137), S. 60 f.

– 290 –

das fachstichwort

der Vermittlerrolle notwendig eingeschrieben. Es kommt alles darauf an, ob der Vermittler die in seinem Status »angelegte Neutralität wahrt oder ob er sich doch als Souverän und Manipulator ›seiner‹ Nachrichten ›geriert‹, mithin weglässt, verzerrt, erfindet«.221 Anders gesagt: Wann und wo immer der Journalist sich nicht mehr an das Objektivitätsgebot hält, kippt er von der Funktion des ›Journalisten‹ in die Funktion eines ›Publizisten‹. 222 Der oberflächliche Vorwurf der Oberflächlichkeit Wenn nun aber Sinntreue ein stringenter Indikator für die Wahrung der Unparteilichkeit ist, und wenn unparteiliche Vermittlung die zwingende Voraussetzung dafür ist, dass soziale Kommunikation (über Distanz) möglich ist und möglich bleibt, ist der »Vorwurf«, der immer wieder gegen das Unparteilichkeitsgebot erhoben wird, nur schwer verständlich. »Oberflächlichkeit« wird einem Berichterstattungsmuster attestiert, das sich auf Unparteilichkeit oder Neutralität stützt. Was ist damit gemeint? Siegfried Weischenberg, Kommunikationswissenschaftler in Münster und langjähriger Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes, stellt sich hinter diesen Vorwurf. Er übernimmt ihn von dem amerikanischen Journalistik-Dozenten Philip Meyer, den er so zitiert: »Dieses Muster vereinfacht den journalistischen Entscheidungsprozess. Man berichtet über öffentliche Vorkommnisse wie ein losgelöster, unpersönlicher, vorurteilsloser Beobachter, ganz wie der sprichwörtliche Marsmensch. Diese altmodische objektive Berichterstattung brauchte keinen Anker. Sie schaukelte

221

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 115 f.

222

Siehe zu den beiden Idealtypen S. 228 - 240 in diesem Band.

objektivität im journalismus

– 291 –

auf der Oberfläche der Nachrichten wie ein Tennisball, der einen Fluss runtertreibt.«223 Das so charakterisierte Berichterstattungsmuster wird wechselnd unter der Bezeichnung ›Informationsjournalismus‹ oder ›Objektive Berichterstattung‹ vorgestellt. Um das metaphernreiche Verdikt wenigstens halbwegs tragfähig zu machen, wird schlicht behauptet, das Berichterstattungsmuster »klammere Hintergründe, Ursachen und Interpretationen aus; beschrieben würde nur die Oberfläche. (...) Bis heute richtet sich die Kritik insbesondere gegen das stark vergröbernde Wirklichkeitsmodell, das auf diese Weise zustandekommt.«224 Die journalistische Rollenwahrnehmung wird mit den Attributen »neutralpassiv, unparteilich« versehen.225 Es kommt auf den kleinen, scheinbar harmlosen Zusatz »passiv« an. Denn gleich daneben steht der Gegenentwurf eines sogenannten »Präzisionsjournalismus«, für den sich die Rolleneigenschaften des Journalisten lediglich in einem einzigen kleinen Wort unterscheiden: »neutralaktiv, unparteilich«.226 Ein solcher Präzisionsjournalismus wurde in den usa von eben jenem Journalistik-Dozenten Meyer in einem »weitverbreiteten Lehrbuch« (so Weischenberg) nachdrücklich propagiert.227 »Aktiv« soll hier bedeuten, dass der Journalist investigativ tätig wird und dass er bei seinen Recherchen auf sozialwissenschaftliche Methoden zugreifen soll. Der Unterschied 223

Philip Meyer: Precision Journalism: A Reporter's Introduction to Social Science Methods. Bloomington/London 1973, S. 6 f. (Übers. Weischenberg.) Zit. nach Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 114.

224

Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 113.

225

Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 114. (Hervorhebung H.W.)

226

Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 114. (Hervorhebung H.W.)

227

Das in Fn 222 vorgestellte Lehrbuch von Meyer erschien 1991 in einer Neuausgabe unter dem Titel: »The New Precision Journalism.« Die Abwertung des »altmodischen« Informationsjournalismus könnte somit nicht zuletzt einer geschickten Marketingstrategie geschuldet sein.

– 292 –

das fachstichwort

der beiden Journalismuskonzepte wird ergänzend durch Funktionsbezeichnungen unterstrichen: Im Informationsjournalismus ist der Journalist ›Vermittler‹, im Präzisionsjournalismus ist er der ›Forscher‹.228 Eine ähnliche Verbalsophistik wird seit langem auch im kommunikationswissenschaftlichen Mainstream hierzulande betrieben. Da wird der »eher passive« Nachrichtenvermittler weit abgerückt von dem »eher aktiven«, den politischen Prozess beeinflussenden Journalisten.229 Aktiv, produktiv, schöpferisch ist demnach ein Journalist, der die Welt interpretiert und dafür »Instrumente und Validitätskriterien« der empirischen Sozialforschung einsetzt und nutzt. »Passiv« aber ist der »Vermittler«, der angeblich seine individuellen Vorurteile und Parteilichkeiten hinter Frage- und Interpretationsschemata versteckt, der ›nur‹ weitergibt, was ihm genehme Informanten sagen, der die näheren Umstände eines Ereignisses ebenso vernachlässigt wie die Warum-Frage nach dessen Gründen, der nichts überprüft – und das alles dann als ›objektiven Bericht‹ verkauft.230 Dies wird einfach unterstellt. Von da aus versteigt man sich dann zu der Behauptung, unter dem Anspruch der Unparteilichkeitsmaxime werde »Recherche, das heißt: Beobachtung der Realität« überhaupt »verzichtbar«; man verbreite »unparteilich« »die Meinung der etablierten politischen Akteure«, während die, »die kein Gehör in den Medien finden«, »durch dieses Prinzip weiterhin nicht gehört werden«.231 228

Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 114 f.

229

Vgl. z.B. Wolfgang Donsbach: Stichwort ›Journalist‹. In: Elisabeth NoelleNeumann / Winfried Schulz / Jürgen Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon: Publizistik, Massenkommunikation. Frankfurt/M 1989, (S. 50 - 69), S. 63.

230

Siehe dazu Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 112 - 119; auch S. 165 - 168.

231

Sponholz, Erkenntnis, (Fn 81), S. 38 f. – Liriam Sponholz will empirisch u. a. herausgefunden haben: »Das Vertreten der Neutralität führt zu Passivität, da die Befürworter dieses Verständnisses zugänglichere Quellen bevorzugen.«

objektivität im journalismus

– 293 –

Gelegentlich werden die skizzierten Behauptungen mit einzelnen Exempeln unterfüttert, die in der Regel aus amerikanischen Quellen entnommen sind. Falls es sich dabei überhaupt um ›Berichte‹ handelt, ist mit Händen zu greifen, dass da – orientiert man sich an den gängigen journalistischen Handwerksregeln – publizistische Krüppelprodukte herangezogen werden:232 Defizitäre, unzureichende Recherchen, Mängel bei der Quellentransparenz oder fragwürdige Sinntreue fallen selbst in den verkürzten Darstellungen auf. Wie es angeht, derartige Produkte der ›Objektiven Berichterstattung‹ oder dem ›Informationsjournalismus‹ zuzurechnen sowie die Ursache solcher Deformationen in der Unparteilichkeitseinstellung der Journalisten festzumachen, ist wirklich schleierhaft. Ebenso könnte man gepanschten Wein als Qualitätswein auftischen – und auf dieser Grundlage dann Qualitätsweine generell zur Winzer-Ideologie erklären – wie man Unparteilichkeit als Berufsideologie von Journalisten deklariert. Aus der so angezettelten Debatte bleibt mithin festzuhalten: · Ganz offensichtlich soll hier ohne Kenntnis der professionsgeschichtlichen Tatsachen,233 ohne auch nur den Ansatz eines

Ebenda S. 374. Diese ›Erkenntnis‹ entspricht bereits dem S. 34 ohne Begründung formulierten Vorausurteil: »Neutralität kann zur Passivität des Journalisten führen (vgl. Meyer, 1991; Mindich 1998; Lane, 2001). Die Beobachtung der Realität, d.h. die Recherche, kann beeinträchtigt werden, da der Journalist die Initiative bei der Suche nach Informationen nicht ergreift. Statt Erkenntnis durch Realitätsvermittlung zu produzieren, begrenzt sich der Journalismus auf Mitteilungen von statements.« (Hervorh. im Original.) 232

Solche Exempel resümierend etwa Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 113; Sponholz, Erkenntnis, (Fn 81), S. 34 f, 39 und 41.

233

Nicht nur in den herangezogenen Beispielfällen wird Unparteilichkeit, und überhaupt jede Form des Objektivitätsprinzips als eine Erfindung amerikanischer Journalisten ausgegeben; so etwa Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 112 f und S. 162 f; auch Sponholz, Erkenntnis, (Fn 81), S. 382.

– 294 –

das fachstichwort

Versuchs, seine theoretische Substanz und seine praktischen Implikationen zu klären, das Unparteilichkeitsprinzip als Ursache einer journalistischen Fehlentwicklung verworfen werden. · Hand in Hand damit geht die Abwertung der Funktion und der Rolle des ›Vermittlers‹ für den Massenkommunikationsprozess: Als passive, recherchefaule Figur wird er generell in ein schiefes Licht gestellt. · Vor allem aber: Sämtliche Negativmerkmale, die den journalistischen Arbeitsweisen und Produkten als angebliche Folgen einer unparteilichen Einstellung zugeschrieben werden, können unschwer als eklatante Verstöße gegen die Unparteilichkeitsmaxime sowie gegen die zugehörigen Handwerksregeln demaskiert werden. So sehr Unparteilichkeit als Fundament einer objektiven Berichterstattung eine Haltung oder Einstellung des journalistischen Vermittlers verlangt, die Haltung allein und als solche macht noch keinen objektiven Bericht. Keinesfalls darf man also – wie es bei der Denunziation der Unparteilichkeit üblich zu sein scheint – das Postulat der Unparteilichkeit isolieren, es aus den Regelkontexten herausbrechen, in denen und mit denen es sich professionsgeschichtlich entwickelte und mit denen es nur praktiziert werden kann. Die gute Absicht, unparteilich sein und vermitteln zu wollen, nutzt wenig oder nichts, wenn man nicht weiß, wie das im praktischen Vollzug der Nachrichtenarbeit geht. Unparteilichkeit lässt sich nicht gewissermaßen mit einem ›großen Sprung‹ erreichen, sondern nur in kleinen praktischen Schritten. Damit diese kleinen, alltäglichen Arbeitsschritte zielgerichtet auf Unparteilichkeit hin gelingen, müssen sie geleitet sein durch Regelwerke; erst deren Einhaltung gewährleistet in der Summe jeweils Objektivität oder Unparteilichkeit. Dies ist ein Aspekt, der in den allermeisten

objektivität im journalismus

– 295 –

wissenschaftlichen und praktischen Objektivitätsdebatten fast völlig ausgeblendet ist. Das ist ebenso merkwürdig wie problematisch. Denn ohne die zugehörigen Regeln für die praktische Nachrichtenarbeit verliert das Objektivitäts- oder Unparteilichkeitspostulat seine Realisierungsbasis und wird zu einer freischwebenden Idee, die man – ganz nach Gusto – zum Ideal verklären oder zur Ideologie vernebeln, mit der man indessen nicht arbeiten kann. Die Objektivitätskonzepte von Philomen Schönhagen und Detlef Schröter tragen dem Rechnung und leuchten im Unterschied zu anderen Objektivitätsdoktrinen eben diese Regeln bis ins Detail aus. Beide Autoren wählen dafür einen jeweils anderen Ansatz. Dieser führt zwar teilweise dann zu unterschiedlichen Regelformulierungen. Jedoch decken sich in der Sache die Ergebnisse zu allen entscheidenden Aspekten. Schönhagen ermittelt im historischen Material ein Set von vier Handwerksregeln: Das Gebot der allseitigen Vermittlung (109 - 114), die Regel zur Trennung von Nachricht und Kommentar (114 - 117), die Regel der Quellentransparenz (117 - 121) sowie die Regel der ›getreuen Vermittlung‹ oder der Sinntreue (121 - 126). Was diese Regeln bedeuten, muß hier nicht weiter vertieft werden; das wird an Ort und Stelle zur Genüge dargetan. Unterstrichen sei aber, dass bei näherem Zusehen sich die genannten Handwerksregeln weiter entfalten und ausdifferenzieren lassen, im Detail meist mehrere konkrete Arbeitsvorgaben und -hinweise enthalten. Daher sollte man wohl eher von Regelkomplexen sprechen, um Missverständnisse auszuschließen. Schröter auf der anderen Seite gibt fünf Regelkomplexe an (159): die Vermittlung des Kommunikationskontextes, die Transparenz des Vermittlungskontextes, die Kennzeichnung der Mitteilungsherkunft (Quellentransparenz), die Entsprechung von Mitteilung und vermittelter Mitteilung (Sinntreue) sowie die Trennung von Kommentar und Nachricht. Die Praxisrelevanz dieser

– 296 –

das fachstichwort

plexe interpretiert er anhand der aus Journalistenhandbüchern wohlbekannten W-Fragen. Diese gliedert er in zwei Gruppen: in die »elementaren W-Fragen« (wer, was, wo, wann) einerseits, die Auskunft geben über mehr oder weniger »leicht und problemlos nachprüfbare Fakten«, sowie in die »weiterführenden W-Fragen« (wie, warum), deren Beantwortung »Auskunft gibt über die umgebenden Kontexte, in denen vermittelte Mitteilungen über Sachverhalte stehen und zu verstehen sind« (160). Die Anforderungen, die Schröter an die Beantwortung all dieser Fragevorgaben stellt, sind wesentlich komplexer, als die Mehrzahl der Handbücher dies darstellt. Vor allem kann keine Rede davon sein, dass eine ›objektive Berichterstattung‹ im Schröterschen Sinn auf die Klärung von Hintergründen und Ursachen eines Ereignisses, erst recht nicht auf umfassende Recherche verzichten könnte oder dürfte. Als einen besonders sensiblen Bereich markiert Schröter die Darstellung der Kontexte einer Mitteilung oder eines mitgeteilten Ereignisses. Weil dabei Absichten und Motive der Aussageträger und der Akteure zur Sprache kommen, gibt es auf die Fragen nach dem ›Wie‹ und dem ›Warum‹ sowie nach den Zielen »je nach Interessenlage« meist mehrere Antwortmöglichkeiten. Entsprechend muss die Berichterstattung die unterschiedlichen Versionen berücksichtigen. Geschieht dies nicht und spielt dabei statt dessen der Journalist seine eigenen Interpretationen in den Vordergrund, werden die Antworten auf die Kontextfrage zur Einbruchstelle für subjektive Einfärbungen, Auslassungen und Einseitigkeiten durch den Journalisten. Dies hat erhebliche Folgen für eine sinntreue Vermittlung. Vor allem schmälern solche subjektiven Einschüsse in die Kontexte die Chance des Rezipienten, aus der Berichterstattung den ursprünglichen Sinn einer Mitteilung zuverlässig zu rekonstruieren – was ja im Fall einer seriösen, objektiven Berichterstattung der Normalfall sein sollte.

objektivität im journalismus

– 297 –

Eine der ganz seltenen Studien zu der Frage, was die sachentsprechende Rekonstruktion des Aussagesinns aus einer gegebenen Nachricht begünstigt und was eine Rekonstruktion erschwert oder unmöglich macht, hat solche Befürchtungen bestätigt. In ihren Experimenten mit Nachrichtenvarianten konnte Cornelia Steinle zeigen, »dass insbesondere jene Verstöße gegen die Maxime der Sinntreue deutliche Ergebnisse bewirken, die mit der Modifikation des Kontextes zu tun haben«. »Werden Kontextinformationen, die kausale Zusammenhänge zum Hintergrund einer Mitteilung beinhalten, ausgelassen, so können die Rezipienten auch die Zielsetzung des in der Mitteilung vermittelten Sachverhaltes nicht mehr rekonstruieren.« Werden umgekehrt Kontextzusätze eingefügt, die mit dem Inhalt einer Mitteilung nicht unmittelbar zu tun haben, aber mit Bewertungen belegt sind, schlagen diese Bewertungen bei der Sinnrekonstruktion direkt auf die fragliche Mitteilung durch.234 Letztlich also nur dann, wenn der Rezipient »alle wichtigen Bezugsangaben zur Situation des Kommunikationsvorgangs«, zu dessen Hintergründen und Zielen angemessen richtig erhält, kann er die Information einer vermittelten Mitteilung zureichend erfassen und beurteilen. Die Orientierung am Unparteilichkeitsprinzip zwingt den Journalisten geradezu, die Kontextfragen nach dem Wie und Warum sowie nach den Zielen der Mitteilung und des Handelns zu stellen und für den Rezipienten auch zu beantworten. Vom Preis der sozialen Orientierung Während Sinntreue die zentrale Objektivitätsmaßgabe bei der Reduktion von Einzelmitteilungen ist, spielt diese Rolle für die 234

Steinle, Sinntreue, (Fn 183), S. 116 und S. 118.

– 298 –

das fachstichwort

Reduktion des gesamten gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens der Regelkomplex der ›allseitigen Vermittlung‹. Geht es bei der Sinntreue um die Adäquanz von Originalmitteilung und vermittelter Mitteilung, so bei der allseitigen Vermittlung um eine Entsprechung von Sozialer Kommunikation und der Manifestation dieser Kommunikation in den Medien. Die offensichtliche Adäquanz-Verwandtschaft veranlasst Detlef Schröter dazu, die allseitige Vermittlung als eine besondere Dimension der Mitteilungsadäquanz vorzustellen, wenn diese sich nicht auf eine Einzelmitteilung, sondern »auf die Vermittlung eines ganzen Spektrums von Wissens- und Meinungsmitteilungen zu einem Sachverhalt« bezieht und dann eben »konsequenterweise dessen zureichend adäquate Darstellung von allen Seiten und unter allen relevanten Aspekten« bedeutet (169). Allseitige Vermittlung oder Ausgewogenheit, wie der vielfach gängige und ebenso oft missverstandene Begriff dafür auch lautet, wird damit zu einem »Spezialfall der Objektivität« (151) unter der Voraussetzung, dass der journalistischen Vermittlung die Aufgabe zufällt, die Soziale Kommunikation insgesamt sichtbar zu machen. Auf den ersten Blick zu Recht hat Philomen Schönhagen gegen diesen Schröterschen Vorschlag sachliche und durchsetzungstaktische Bedenken erhoben (113 f). Zudem verweist sie darauf, dass Schröter selbst in seiner erst verspätet als Buch erschienenen Dissertation den von ihm namhaft gemachten (fünf) Handwerksregeln zur Realisierung der journalistischen Objektivität235 eine letzte (und sechste) Regel angefügt hat, nämlich die »tendenziell umfassende Berücksichtigung aller relevanten Themen- und Meinungsdimensionen«236 zu den Kommunikationsgegenständen,

235

Siehe oben S. 295 f.

236

Schröter, Qualität, (Fn 9), S. 65.

objektivität im journalismus

– 299 –

deren Vermittlung zum Auftrag des jeweiligen Mediums gehört. In der Sache kann auf dieser Basis Deckungsgleichheit des Regelwerks bei Schröter und Schönhagen konstatiert werden. Zu fragen ist, was ›allseitige Vermittlung‹ bedeutet und warum sie auch für den Rezipienten unerlässlich ist. Zunächst muss man möglichen Fehlinterpretationen ausweichen. So sollte man sich von einer naiv-wörtlichen Übersetzung der lateinischen Version dieses Grundsatzes frei machen: ›Audiatur et altera pars.‹ Das heißt im Zusammenhang der Objektivitätsforderung nicht, man müsse stets und in allen Fällen zwei Seiten hören oder zu Wort kommen lassen, den Einen und den Anderen, Part und Gegenpart, Spruch und Widerspruch. Manchmal kann das genügen, wenn sich Meinungsverschiedenheiten oder fachlich-sachliche Standpunkte im Verlauf einer Debatte auf Entscheidungsalternativen zu bewegen und verdichten. Auch dann reicht dies aus, wenn überhaupt nur binäre Positionen in Erscheinung treten, Ja und Nein, Pro und Contra. In vielen öffentlich diskutierten Angelegenheiten, in die zahlreiche unterschiedliche Interessen involviert sind, ist indessen eine schematische Reduzierung auf Rede und Gegenrede sicher zu dürftig. Grundsätzlich falsch wäre es jedoch, allseitige Vermittlung mit vielstimmiger Vermittlung gleichzusetzen. Eine mehr oder weniger große Anzahl von Stimmen sagt nämlich überhaupt nichts aus über die Qualität der Berichterstattung. Im Gegenteil: Man kann, indem man viele Stimmen zu Wort kommen lässt, Pluralismus leicht vortäuschen und so verschleiern, dass für die jeweilige Angelegenheit relevante, gewichtige Stimmen fehlen und unverzichtbare Positionen eliminiert sind. Am allerwenigsten ist die Regel einer allseitigen Vermittlung aber erfüllt, wenn der Journalist sich darauf beschränkte, die Äußerungen jener meist wohlorganisierten und etablierten Akteure aller gesellschaftlichen und politischen Bereiche zu vermitteln, die sich selbst – im Normalfall über

– 300 –

das fachstichwort

Presse- und Informationsstellen – zu Wort melden, während Positionen anderer Richtung und Denkweisen, die – aus welchen Gründen auch immer – solche Artikulationschancen nicht wahrnehmen können oder wollen, keine Vermittlungschancen eingeräumt werden. Selbst wenn auf solche Weise ein mehrstimmiges Kommunikationsgebilde wahrnehmbar würde, so handelte es sich dabei stets um eine gravierende Verletzung der Regel allseitiger Vermittlung. Pluralistische Arrangements der einen oder anderen Art kommen samt möglichen Modifikationen in der publizistischen Praxis nicht eben selten vor. Wenn aber bloße Vielstimmigkeit unzureichend und wenn ein disproportionaler Vermittlungsbonus für die Wortmächtigen in der Gesellschaft geradezu regelverletzend ist, worauf zielt dann allseitige Vermittlung positiv? Auf die Spur einer Antwort bringt Schröters Anregung, allseitige Vermittlung als eine Dimension von Mitteilungsadäquanz zu betrachten. Auf welche Entsprechung ist also dann zu achten, wenn allseitige Vermittlung gefordert ist? Bekanntlich zeichnen sich pluralistische Gesellschaften nicht einfach nur durch eine Mehrzahl von Überzeugungen, Meinungen und Wissenspositionen aus, die durch Kommunikation wahrnehmbar und erfahrbar werden. Je nach Thema und Gegenstand formieren und organisieren sich diese disjunkten, einander ausschließenden Positionen zu Meinungsgruppen, die einmal größer und ein andermal kleiner sind, die als Mehrheiten oder Minderheiten in Erscheinung treten. Ihr Gewicht in der öffentlichen Debatte hängt indessen nicht nur von der Zahl der Köpfe ab, die sich in solchen Gruppen vereinigen, sondern von zahlreichen weiteren Faktoren, die auf je besondere Weise Bedeutung, Renommee und Einflussstärke signalisieren. Pluralismus, so lässt sich festhalten, ist durch wenigstens drei Kennmarken bestimmt: (1.) durch ein Spektrum von Wissens- und Meinungspositionen, das

objektivität im journalismus

– 301 –

je nach Debattengegenstand und Interessenlagen enger oder weiter angelegt, nur grob oder gelegentlich bis ins feinste ausdifferenziert sein kann; (2.) durch ein je gegenstandsspezifisches Profil der Positions- oder Meinungsverteilung; (3.) schließlich durch die Meinungsträger, durch die Menschen also, die in Meinungsgruppen vereinigt sind, insbesondere aber durch die Repräsentanten dieser Gruppen, die sich als deren Sprecher in die öffentliche Debatte einmischen und dazu meist förmlich legitimiert sind.237 Während sich die beiden erstgenannten Kennmarken mit geeigneten Methoden statistisch annähernd genau erfassen und darstellen lassen, zeigt sich die dritte Kennmarke überhaupt nur in Kommunikationsprozessen, durch die allerdings auch die beiden anderen Strukturen sichtbar gemacht werden. Setzt man dies alles voraus, so muss von allseitiger Vermittlung erwartet werden, das sie das je themenbezogene Meinungsspektrum, das Profil der zugehörigen Meinungsverteilung sowie die Meinungsgruppen selbst und deren Repräsentanten wahrnehmbar macht. Die vermittelten Meinungspositionen müssen demnach den im gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehen vorgegebenen Meinungspositionen entsprechen. Allseitige Vermittlung verfolgt also ein doppeltes Ziel: Sie muss zum einen – tendenziell zumindest – das je themen- oder gegenstandsbezogene Meinungs- und Wissensspektrum der gesellschaftlichen Kommunikation abdecken und sie muss dabei Positionstreue wahren. Das erste Teilziel, soviel ist unabweisbar, ist überhaupt nur durch eine ebenso umfassende wie intensive Rechercheleistung zu erreichen. Nur so können nämlich vor allem jene Positionen und Kommunikationspartner aufgespürt werden, die von sich aus keinerlei Anstalten machen, sich in der Öffentlichkeit zu äußern. 237

Vgl. dazu Wagner, Kommunikation, (Fn 186), S. 67.

– 302 –

das fachstichwort

Dafür kann es zahlreiche Gründe geben. Wenn sich jedoch der journalistische Vermittler nicht recherchierend umtut, um auch solche »latenten Partner« (vgl. 111 f) in die fraglichen Kommunikationsprozesse hineinzuziehen, besteht die Gefahr, dass die Mitteilungschancen der ohnehin Chancenreichen immer größer, die der ohnehin Chancenlosen noch geringer werden, sich selbst, ihre Interessen, ihre Wissensbestände oder Meinungspositionen vernehmbar zu machen. Würden »latente Partner« stumm bleiben, weil sie von der journalistischen Vermittlung ausgeschlossen sind, bedeutete dies immer auch für alle anderen Kommunikationsinteressenten einen Verlust an Orientierungsmöglichkeiten. Dies gilt auch für die Fälle, in denen – nicht selten aus ehrenwerten Gründen – das Meinungsspektrum vornehmlich an seinen extremen Rändern beschnitten wird. Die dort vertretenen Wissensbestände nämlich gelten als abwegig oder unmöglich; die Meinungspositionen schätzt man ein als abstrus, als sektiererisch, möglicherweise als gefährlich. Natürlich ist das der brisante Fall, der häufig gegen die Forderung einer allseitigen Vermittlung ins Feld geführt wird: Soll man berichten, was rechts- oder linksextreme Gruppen zu aktuellen Fragen daherreden? Soll man die Atomkraftbefürworter, die Energiewendegegner, die Klimawandelleugner zu Wort kommen lassen oder all die anderen Stimmen derer, die dem Mainstream oder, schlimmer, der politischen Korrektheit trotzen? Sicher ist, dass ein Verschweigen derartiger Positionen diese der öffentlichen Auseinandersetzung entzieht. So wird auch verhindert, dass nicht nur diese Positionen selbst, sondern in der Folge ebenso alle anderen (scheinbar) mehrheitlich vertretenen Positionen argumentationspflichtig werden. Störungen des gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens sowie Orientierungsdefizite werden auf diese Weise programmiert. So problematisch und fragwürdig die Verkürzung des Meinungsspektrums im aktuellen Kommunikationsgeschehen ist, es lässt

objektivität im journalismus

– 303 –

sich auf der anderen Seite kaum vermeiden, dass solche Meinungsspektren in der Berichterstattung um der notwendigen Reduktion des Kommunikationsgeschehens willen vereinfacht und gewissermaßen ausgedünnt werden müssen. Zwischenpositionen des Spektrums, die sich nur in Nuancen von anderen, benachbarten unterscheiden, werden dabei häufig ausfallen. Nur auf die wirklich disjunkten und prägnant fixierten Standpunkte fällt dann schließlich die Wahl zur Vermittlung. Und in vielen eher alltäglichen Normalfällen wird die Wiedergabe des Meinungsspektrums auf konträre Alternativen zulaufen. Wesentlich für allseitige Vermittlung ist eben nur die nachvollziehbare Entsprechung von Berichterstattung und vorgegebenem Meinungsspektrum. Wenn man diese Bedingung mitdenkt und einschließt und nicht auf das Missverständnis einer beliebigen Vielstimmigkeit hereinfällt, so könnte man dieses Teilziel allseitiger Vermittlung auch als Pluralismustreue charakterisieren. Ein am Meinungsspektrum orientierter Pluralismus ist jedoch nur die Hälfte wert, wenn dabei die Positionstreue nicht gewahrt wird. Die bloße Aneinanderreihung oder Auflistung purer Meinungsund Wissensaussagen (wie man sie bei Umfragen in den Fragebogen gelegentlich vorgegeben findet) würde in der Berichterstattung nichts als Verwirrung stiften. Positionstreue muss als die zweite Zielmarke einer allseitigen Vermittlung das gesamte orientierungsrelevante Merkmalsset von Meinungspositionen sichtbar machen und sichern. Jede einzelne Meinungsposition im sozialen Kommunikationsgeschehen kann genau bestimmt werden durch ihren (logischen) Platz in einem Meinungsspektrum, der zugleich die Nähe oder die Ferne zu anderen dort platzierten Positionen erkennen lässt; ferner durch eine angebbare Stellung in der zugehörigen Meinungsverteilung; schließlich durch die Art und Weise, wie und durch wen sie im Kommunikationsprozess repräsentiert wird.

– 304 –

das fachstichwort

So ungewöhnlich diese Angaben klingen mögen, in der alltäglichen journalistischen Praxis ist eine solche Positionsbestimmung eine regelgeleitete Routine. Maßgebend dafür ist die Handwerksregel der Quellentransparenz. Das heißt zunächst: Die volle Erfüllung des Gebots allseitiger Vermittlung ist nur in Verbindung mit der Quellentransparenz überhaupt realisierbar. Selbstverständlich müssen alle zur Herstellung der Quellentransparenz erforderlichen Daten gründlich recherchiert und zuverlässig dargestellt werden. Denn eine Transparenz der Primärquellen als Voraussetzung für Positionstreue ist noch längst nicht gegeben, wenn lediglich die Identität einer Quelle bekannt ist, der Name also, wenn ein einzelner Aussageträger auftritt, der Name einer Gruppe, einer Organisation oder einer Institution, wenn als Aussageträger ein Kollektiv agiert.238 Zu den unverzichtbaren Basisinformationen über die Quellen zählen auch Angaben über Gruppenzugehörigkeiten, über die Funktionen eines Aussageträgers, die in aller Regel zugleich dessen Repräsentanzqualitäten markieren, ferner über die gegenstandsbezogene Meinung der Quelle (soweit diese nicht aus der vermittelten Mitteilung hervorgeht); dazu kommen gegebenenfalls Hinweise auf die Zuverlässigkeit und die Glaubwürdigkeit der Quelle (insbesondere, wenn daran Zweifel bestehen sollten); schließlich kann, vor allem, wenn brisante oder emotionsgeladene Kommunikationsvorgänge zu berichten sind, auf Informationen darüber nicht verzichtet werden, ob und von welcher Seite die Position einer Quelle gebilligt oder abgelehnt wird.239 Quellentransparenz, so scheint es, ist ein aufwändiges Verfahren. 238

Siehe dazu Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 121 f.

239

Alle wesentlichen Hinweise auf die für Quellentransparenz erforderlichen Informationen finden sich bei Schönhagen S. 118 f und bei Schröter S. 166 ff in diesem Band.

objektivität im journalismus

– 305 –

Tatsächlich aber sind die meisten der geforderten Daten in der Berichtpraxis mit wenigen Stichworten und mit ein paar Sätzen zu liefern. Im allgemeinen erfolgt die Realisierung der Quellentransparenz stark schematisiert. Das ist deshalb möglich, weil der Rezipient als Bürger und Zeitgenosse quellenbezogene Schematisierungen aus dem Fundus der Selbstverständlichkeitskontexte seiner Lebenswelt zu ergänzen und zu vervollständigen vermag. So genügt etwa die Angabe der Zugehörigkeit eines Aussageträgers zu einer bestimmten politischen Partei, um dem Rezipienten eine zwar grobe, aber für seine praktischen Orientierungszwecke ausreichende Schlussfolgerung über die ungefähre Größe und über das Einflussgewicht der so vertretenen Position zu erlauben. Auf der anderen Seite lassen eben diese Selbstverständlichkeitskontexte den Rezipienten auch irreführende Schematisierungen bei der Positionsbestimmung in Meinungsverteilungen unschwer erkennen. Das passiert beispielsweise in den bei Boulevardmedien recht beliebten Verallgemeinerungen: »Ganz München ist empört ...« Der Rezipient, der solches liest, spürt möglicherweise bei sich selbst nichts von einer Empörung, und er kennt aus seiner Nachbarschaft oder in seinem Bekanntenkreis eine Menge Leute, die ebenfalls keinen einzigen Laut der Empörung geäußert haben. Die möglichen Schematisierungen bei der Quellenkennzeichnung dürfen jedoch nicht dazu verleiten, die Sorgfalt bei der Quellendarstellung schleifen zu lassen, zumal mit Komplettierungseffekten bei den Rezipienten umso weniger zu rechnen ist, je größer die räumlichen und sachlichen Distanzen zu einem Kommunikationsgeschehen und je fremder die vermittelten Meinungsträger sind. Insgesamt ist Quellentransparenz für eine objektive, unparteiliche Berichterstattung aus mehreren Gründen unerlässlich: · Mit Hilfe der Quellentransparenz wird jede Primärquelle, also jeder Aussageträger mit seiner Realitätssicht, mit seiner

– 306 –

das fachstichwort

nung und seinem Wissen im Meinungsgefüge eines aktuellen Kommunikationsgeschehens verortet. · Quellentransparenz wird damit zum Fundament der Positionstreue in der Berichterstattung und ermöglicht so erst die volle Realisierung einer allseitigen Vermittlung. · Unabhängig davon, ob über langfristig verlaufende oder über punktuelle Ereignisse berichtet wird, ob ein komplexes Kommunikationsgeschehen oder nur eine einzelne Wortmeldung journalistisch vermittelt wird, die Summe aller Quellenpositionen stellt die Transparenz des gesellschaftlichen Kommunikationsraumes her, das heißt: Öffentlichkeit. · Erst ein transparenter gesellschaftlicher Kommunikationsraum eröffnet dem Einzelnen die Chance, sich in seiner Zeitgenossenschaft zu orientieren, sich in den je aktuellen Auseinandersetzungen zurechtzufinden und seinen eigenen Standort zu bestimmen. Seit den grundlegenden Studien über die soziale Verteilung des Wissens von Alfred Schütz 240 ist bekannt, dass umfassendes Quellenwissen für die soziale Orientierung des Durchschnittsbürgers, »der gut informiert sein will«, unverzichtbar ist. Um nämlich »zu vernünftig begründeten Meinungen« auf all jenen Gebieten zu kommen, mit denen er durch seine sozialen Rollen und durch den Zwang seiner Lebensumstände konfrontiert ist, genügen diesem Normalbürger die nackten Sach- und Fakteninformationen nicht. Denn er besitzt, anders als ein Experte allerdings auf einem recht engen Fachgebiet, im eigenen Wissensvorrat jene Sachkriterien gerade nicht, die es ihm erlauben würden, selb-

240

Hier insbesondere Alfred Schütz: Der gut informierte Bürger. Ein Versuch über die soziale Verteilung des Wissens. [1946]. In ders.: Gesammelte Aufsätze. Band 2: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag 1972, S. 85 - 101.

objektivität im journalismus

– 307 –

ständig zu entscheiden, ob die angebotenen Sachinformationen zuverlässig sind oder nicht, ob er sich danach richten kann oder dies besser lässt. Überall dort, wo das vertraute Gebiet des sicheren Wissens verlassen wird, bedarf der Bürger, der gut informiert sein will, daher anderer Kriterien, die ihm sagen, ob ein ihm vermitteltes Fakten- und Fallwissen oder die Einschätzungen und Meinungen hierzu akzeptable Grundlagen für eine vernünftige Meinungsbildung bieten. Der Bürger braucht sozusagen Informationen darüber, ob eine Information gut ist, ob er ihr trauen kann. Solche Informationen über die Information müssen in der Medienberichterstattung selbst mitgeliefert werden. Das heißt: Damit Tatsachenwissen als zuverlässiges Wissen für den Informationssucher annehmbar wird, muss es irgendwie beglaubigt sein. Solche Beglaubigung geschieht mit Hilfe der Informationen darüber, von wem eine Wissens- oder Meinungsmitteilung stammt. Der Bürger, der gut informiert sein will, aber kein Experte ist, orientiert sich also am Quellenwissen der Berichterstattung.241 Auf Informationen aus Zeitungen, aus dem Fernsehen oder aus welchen (Massen-)Medien auch immer muss sich der Bürger verlassen können. Dabei bildet »nicht die Wahrheit des Satzes, vielmehr die Wahrhaftigkeit der Person«, von der die Information stammt, den Angelpunkt der sozialen Orientierung. »In gewisser Weise folgen wir ›blind‹ der Wahrheit des Satzes, sofern wir von der Vertrauenswürdigkeit der Informationsquelle überzeugt sind.242 Der Einfluss der Informationen über die Quelle einer Mitteilung auf die Wahrnehmung und die Wirkung von Medienbericht-

241

Vgl. dazu Wagner, Medientabus, (Fn 137), S. 69 f; ferner Hans Wagner: Journalismus mit beschränkter Haftung? Gesammelte Beiträge zur Journalismus- und Medienkritik. München 2003. Darin: Der schlecht informierte Bürger, S. 91 - 155.

242

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 253 f.

– 308 –

das fachstichwort

erstattung ist zwischenzeitlich vielfach auch empirisch untersucht, festgestellt und bestätigt worden.243 Wenn also der Normalbürger anhand der Informationen über die Quellen eine Wissens- oder Meinungsposition prüft und schließlich entscheidet, ob er die fragliche Realitätssicht, die darin Ausdruck findet, annimmt oder verwirft, so unternimmt er damit eine soziale Standortbestimmung. Unter der Bedingung einer pluralistischen Gesellschaft und ihrer freien, vielstimmigen Kommunikation ist jedem Bürger Recht und Chance einzuräumen, zu allen aktuellen Fragen und Vorgängen sozusagen je ›sein eigenes Lager‹ ausfindig zu machen, es mit Hilfe der Quelleninformationen zu identifizieren und sich, falls nichts entgegensteht, dort mit Herz und Verstand niederzulassen. Soziale Orientierung allerdings erschöpft sich in solcher Standortbestimmung keineswegs. Vielmehr muss der eigene soziale Standort auch in Bezug zu anderen sozialen Standorten gesehen und vermessen werden können, muss soziale Nähe oder Ferne, Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der eigenen Position mit anderen Positionen erfahrbar werden, müssen die eigenen Realitätssichten mit komplementären oder konträren Realitätssichten vergleichbar sein. Erst mit der Möglichkeit, die Relationen des eigenen sozialen Standorts zu anderen sozialen Standorten zu bestimmen, ist dem Bürger wirklich die Chance gegeben, gut informiert zu sein. Dazu muss er die verschiedenen, tatsächlich vertretenen und geäußerten Realitätssichten prüfen und sich ein aus mehreren Realitätssichten zusammengesetztes Bild von der Gemengelage der Meinungen und von der zur Debatte stehenden Sache machen kön243

Einen ebenso umfassenden wie kritischen Überblick über die einschlägigen (überwiegend amerikanischen) Studien zur Bedeutung von Quellen für den Rezipienten gibt Ute Nawratil: Glaubwürdigkeit in der sozialen Kommunikation. Opladen/Wiesbaden 1997.

objektivität im journalismus

– 309 –

nen. Auf dieser Basis erst kann er dann seine Wahl zwischen möglichen Alternativen treffen. Das setzt aber voraus, dass dem Bürger als dem Rezipienten der Medienberichterstattung nicht nur die Quelleninformationen sowie die zugehörigen Fakten- und Meinungsdarstellungen des ›eigenen Lagers‹ vermittelt werden, sondern dass ihm diese Grundlageninformationen stets auch für alle anderen ›Lager‹ angeboten werden. Oder anders: Soziale Orientierung in pluralistischen Gesellschaften ist nur gewährleistet, wenn die Medien der Grundversorgung das je aktuelle Kommunikationsgeschehen allseitig vermitteln und dabei zugleich immer auch umfassende Quellentransparenz herstellen. An dieser Stelle nun drängt sich geradezu ein Vergleich der sozialen Orientierung mit der geographischen Weltorientierung, der Medienberichterstattung mit der Kartografie auf. Orientierung im einen und anderen Bereich ist nur möglich, wo ein Überblick über das jeweilige Ganze gewonnen und geboten wird. Das gilt für Karten ebenso wie für die Medienberichterstattung. Aus dieser Funktion für die soziale Orientierung »resultiert die kommunikative Vogelperspektive der Zeitung, die den Leser gleichsam mit einem Blick die gesamte aktuelle Kommunikationslandschaft seiner Gesellschaft erfassen lässt«, bemerkt Heinz Starkulla; und insoweit lässt sich diese Bemerkung auf alle Medien und Medienangebote ausdehnen, die der informationellen Grundversorgung der Bürger verpflichtet sind. Für diese alle nämlich trifft zu: »Ohne diesen Blick ›von hoher Warte‹, dem zwangsläufig viele Details verborgen und manche Zusammenhänge allzu einfach dargestellt erscheinen mögen, wäre er [der Leser, der Bürger] außerstande, sich im sozialkulturellen Insgesamt zurechtzufinden.«244 An anderer Stelle fasst er den Gedanken kompakt zusammen: Medien der 244

Heinz Starkulla: Marktplätze sozialer Kommunikation. Bausteine einer Medientheorie. (Ex libris kommunikation, Band 4.) München 1993, S. 130.

– 310 –

das fachstichwort

Grundversorgung realisieren eine »repräsentative Konzentration der Sozialen Zeit-Kommunikation«.245 Nicht anders verfahren Karten zur Weltorientierung.246 Ohne Übersicht also gibt es keine Orientierung. Aber damit sind, wie die Bemerkung von Starkulla unterstreicht, zwei Bedingungen statuiert: Zum einen ist Übersicht nur möglich, wenn man etwas übersehen darf; alles das nämlich, was für den Blick ›von weit oben‹ eine bestimmte Mindestgröße oder Mindestbedeutung nicht erreicht, was also von fern als irrelevant erscheint. Zum anderen muss im Interesse der Übersicht alles das sichtbar bleiben und sich zeigen, was orientierungsrelevant und -notwendig ist. In der Kartografie entscheidet darüber der Maßstab einer Karte. Maßstäbe im übertragenen Sinn kennt auch die Medienberichterstattung. Sie sind nicht in mathematischen Größen angebbar, aber man kann sie leicht beobachten. All die alltäglichen, oft kleinen und kleinlichen Vorkommnisse, die im Lokalteil einer Zeitung noch eine Notiz wert sind, werden schon in einem Regionalteil nicht mehr registriert. Von der Höhe des nationalen Teils einer Zeitung sind sie erst recht nicht mehr sichtbar; hier aber werden politische, wirtschaftliche, kulturelle oder sportliche Ereignisse noch wahrgenommen, die in den Seiten und Spalten für 245

Starkulla, Marktplätze, (Fn 244), S. 51. (Hervorhebung im Original.)

246

Bei der Verwendung von Karten, schreibt Sybille Krämer, sehen wir »auf das Territorium von oben, je nachdem, wie groß der kartierte Ausschnitt ist, sogar von ganz, ganz weit oben«. Denn »Karten zeigen territoriale Oberflächen unter einem Menschenaugen gewöhnlich unzugänglichen Blickwinkel«, nämlich vom »Standpunkt des ›apollinischen Auges‹« aus, »mit dem wir die Welt wie ›von außerhalb‹ betrachten«. Krämer, Bote, (Fn 96), S. 312. – Unter dem Titel »Karten, Kartieren, Kartografie« erprobt und erweitert Sybille Krämer hier die im Botenmodell gewonnenen Erkenntnisse über Medien, indem sie die Medialität von Karten analysiert. Hier finden sich außerordentlich lehrreiche und weiterführende Anregungen auch für eine kommunikationswissenschaftliche Medientheorie.

objektivität im journalismus

– 311 –

die Weltberichterstattung mit keinem Wort mehr erwähnenswert erscheinen. Somit operiert eine ganz normale Tageszeitung mit sehr verschiedenen Maßstäben. Diese bestimmen die Enge oder Weite des jeweiligen Selektionsrasters. Deshalb haben manch häufig kolportieren Sätze schon ihre Berechtigung: Das meiste, was täglich in der kleinen oder großen Welt geschieht und von Menschen beredet wird, wird nicht berichtet. Und: Ein Krieg, über den nicht berichtet wird, findet (für uns) nicht statt; Katastrophen, Hungersnöte, aber ebenso auch Feste und Feiern, über die Medien wegsehen, existieren (für uns) nicht. Schon aufgrund solcher ›Vogelperspektiven‹ allein entstehen unabwendbar notwendig Disproportionalitäten in der Darstellung menschlicher Lebenswelten, je nachdem, wie nah oder wie fern sie uns sind. Selbstverständlich sind diese Disproportionalitäten Verzerrungen – völlig unabhängig davon, ob und wie massiv die Subjektivität eines journalistischen Vermittlers sie (zusätzlich) beeinflusst. Das ist der eine Teil des Preises, den die Nutzer der Grundversorgungsmedien für ihre Orientierungschancen zu bezahlen haben. Maßstäbe legen nicht nur fest, was übersehen, sondern auch was gesehen werden darf oder muss, was dargestellt werden soll. Auch darin ist Medienberichterstattung vergleichbar mit Karten. Für solche Darstellungen bedient sich die Kartografie einer Projektionsmethode, geometrisch ausgeklügelt, mit berechenbaren Effekten. Mit einigen Vorbehalten kann man die Analogie trotzdem weitertreiben, wenn man unter einer Projektionsmethode ein Verfahren versteht, das bestimmt, wie alles, was als vermittlungsrelevant die maßstabsbedingte Auswahl passiert hat, wahrnehmbar gemacht wird und welche Art Relationstreue eingehalten werden soll. Die dem Anspruch auf soziale Orientierung jedes Bürgers angemessene ›Projektionsmethode‹ der Berichterstattung ist die unparteiliche ›journalistische‹ Vermittlung. Das fragliche

– 312 –

das fachstichwort

Verfahren besteht in der Realisierung sämtlicher die Unparteilichkeitsmaxime konstituierender Handwerksregeln.247 Ein solches regelgeleitete Verfahren sichert, wie gezeigt wurde, · die Sinntreue bei der Vermittlung jeder einzelnen Fakten- und Meinungsmitteilung aus der Gesellschaft; · die Positionstreue bei der Präsentation der Primärquellen und ihrer Realitätssichten; · die Pluralismustreue als je am gegenstandsrelevanten Meinungsspektrum orientierte allseitige Vermittlung. Die Regeln der Unparteilichkeit haben nicht den Zweck, eine mediale ›Abbildung‹ der Kommunikationswirklichkeit oder gar deren ›Spiegelung‹ zu garantieren. Sie gewährleisten nur, dass bei allem Zwang der Berichterstattung zur Konzentration der Mitteilungen sowie zur Konzentration des Kommunikationsgeschehens als ganzem jene Relationen erhalten bleiben, die als Orientierungsmarken für den Bürger, ›der gut informiert sein will‹, unverzichtbar sind. Die Konzentrationszwänge münden in Reduktionsprozesse, von denen jede Berichterstattung beeinflusst, oft geprägt wird. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Reduktionen erfolgt, wie oben dargetan, in den jeder journalistischen Vermittlung vorgängigen Selektionen. Doch damit endet die Reduktion des Kommunika247

Sybille Krämer (Bote, [Fn 96], S. 314) verweist ausdrücklich auf eine Pluralität von Projektionsmethoden in der Kartografie, die sich danach unterscheiden, welche Art von Relationstreue sie gewährleisten. Für die Medienberichterstattung kann auf jeden Fall neben der ›journalistischen‹ auch eine ›publizistische‹ ›Projektionsmethode‹ identifiziert werden. Wenn Krämer dann ausführlich die Orientierungsvorzüge der Mercator-Projektion den Aufklärungsambitionen der Peters-Projektion gegenüberstellt (ebd. S. 315 ff), drängen sich analoge Folgerungen für eine Abwägung der Leistungen ›journalistischer‹ und ›publizistischer‹ Vermittlungsprojektionen geradezu auf.

objektivität im journalismus

– 313 –

tionsgeschehens und der in ihm sich artikulierenden Wortmeldungen nicht. Sie setzt sich fort in allen Transformations- und Darstellungsschritten der Berichterstattung. Da werden dann konkrete Sachinformationen übergeführt auf und womöglich ganz abgelöst von Abstraktionen in Gestalt von semidiffusen oder diffusen Informationskonzentrationen, das heißt verkürzt auf stereotype Aussagen und affektive Attributionen.248 ›Verweisungssymbole‹, das »Kleingeld der politischen Sprache«, mit dem sich Sachverhalte nachprüfbar beschreiben lassen, werden ausgetauscht gegen »Verdichtungssymbole«, Schlüsselbegriffe, die Zusammenhänge und Fakten mit einem einzigen (Schlag-)Wort in kompakte Sinnstrukturen übersetzen und dem affektiven Bedürfnis des Menschen entgegenkommen.249 Zu solchen Abstraktionen kommen sodann Sach- und Positionstypifikationen, die zugleich typisierende Wertmarkierungen setzen. Schematisierungen, Vereinfachungen, (resümierende) Verkürzungen, Stilisierungen, Glättungen und Generalisierungen finden sich als Instrumente in diesem Reduktionsarsenal. Was in Fachgesprächen von Experten oder von besonders kundigen und interessierten Liebhabern en détail verhandelt wird, muss in den Medien der Grundversorgung en gros abgehandelt werden. Realitätssichten, seien es Faktenaussagen oder Meinungsbekundungen verlieren damit ihren Nuancenreichtum und ihre Tiefenschärfe, muten nicht selten eingeebnet und flach an. Insoweit ist Ulrich Saxer uneingeschränkt beizupflichten, wenn er mit Blick 248

Siehe dazu Gerhard Schmidtchen: Der Mensch – die Orientierungswaise. Probleme individueller und kollektiver Verhaltenssteuerung aus sozialpsychologischer Sicht. In: Hermann Lübbe u.a.: Der Mensch als Orientierungswaise? Ein interdisziplinärer Erkundungsgang. Freiburg/München 1982, (S. 169 - 216), S. 185 ff.

249

Siehe Wolfgang Bergsdorf: Herrschaft und Sprache. Pfullingen 1983, S. 31 ff.

– 314 –

das fachstichwort

auf Resultate der »reduktiven Objektivität« bemerkt, dass hier die Komplexität der Perspektiven auf »oberflächliche Faktizität vereinfacht« wird (62; ähnlich 58).250 Grundsätzlich kann bei der journalistischen Darstellung des gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens von derartigen Vereinfachungen und Abkürzungen nicht abgesehen werden. Sie sind um der sozialen Orientierung des Normalbürgers willen angezeigt. Ob sie durchweg orientierungsfreundlich sind, oder mit diesem Ziel gehandhabt werden, kann offen bleiben. Festzuhalten ist jedoch, dass gerade unter diesen Reduktionsbedingungen die durch Quellentransparenz gesicherte Positionstreue als Orientierungsmarke unverzichtbar ist. So gilt mutatis mutandis für die Medienberichterstattung, was jedes Kartierungsverfahren der geografischen Weltorientierung in Kauf nehmen muss: »nur abbilden zu können, wenn auch verzerrt wird.«251 Journalistische Erfahrung bestätigt das: »Entstellungen der Wahrheit durch drastische Verkürzungen sind im Journalismus unvermeidbar.«252 In ihrer Summe sind die reduktiven Verzerrungen der Berichterstattung der andere Teil des Preises für soziale Orientierung. Er muss akzeptiert werden, solange er nicht überzogen wird. Das wäre der Fall, wenn und wo Verzerrungen 250

Vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass die Art Oberflächlichkeit, von der Saxer spricht, nichts, aber auch gar nichts mit dem weiter oben (S. 290 ff) diskutierten Vorwurf zu tun hat, der »Oberflächlichkeit« generell der journalistischen Unparteilichkeit zur Last legt.

251

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 316. – Sybille Krämer spricht hier vom »kartografischen Paradox«. Analog wäre der Satz hier als »journalistisches Paradox« zu kennzeichnen, welches auch verdeutlicht, dass letztlich journalistische Subjektivität samt ihren möglichen Verzerrungseffekten nicht gegen die Objektivität ins Feld geführt werden kann mit dem Ziel, letztere als fragwürdige Ideologie in Verruf zu bringen.

252

Leonhardt, Wahrheit, (Fn 165), S. 153.

objektivität im journalismus

– 315 –

eine Folge der bewussten oder leichtfertigen Verletzung der Unparteilichkeitsmaxime und ihrer Handwerksregeln sind. Realität und Wahrheit: an Kommunikation gebunden Es bleiben zwei miteinander verknüpfte Fragen, auf welche die Beschäftigung mit Objektivität unentwegt direkt und indirekt stößt: Was hat journalistische Objektivität oder Unparteilichkeit mit der Realität und was vor allem mit der Wahrheit zu tun? Was des Fragens wert ist, wird gelegentlich in eine fraglose Behauptung umgemünzt: Die journalistischen Strategien, die dem Objektivitätsverständnis der Unparteilichkeit folgen, können »das Bedürfnis einer realitätsgerechten Berichterstattung nicht erfüllen«.253 Wie also verhält sich das? Hier können nur Annäherungen an mögliche Antworten gesucht werden. Dazu ziehen wir noch einmal die Kartografie zu Rate. Bei der Interpretation der Kartografie, schreibt Sybille Krämer, muss ein Leitsatz stets respektiert werden: »Die Karte ist nicht das Territorium.«254 Auf die journalistische Berichterstattung übertragen, heißt das: »Das Medium ist nicht die Soziale Kommunikation.« Die verschiedenen Medien samt ihren inhaltlichen Angeboten sind vielmehr ›nur‹ Manifestationen der gesellschaftlichen Kommunikation.255 Oder eben »technische Mediatisierungen«, technisch ermöglichte »Räume indirekten geistigen Verkehrs unter Zeitgenossen«.256 Nicht trotz, sondern nur mit Hilfe der

253

So Sponholz, Erkenntnis, (Fn 81), S. 40.

254

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 311.

255

Vgl. hierzu Aswerus, Zeitgespräch, (Fn 107).

256

Starkulla, Marktplätze, (Fn 244), S. 132 f.

– 316 –

das fachstichwort

Reduktionen und Abstraktionen, der Stilisierungen und Schematisierungen, welche eine journalistische Berichterstattung völlig durchdringen, gelingt es, gesellschaftliche Kommunikation vor die Augen oder vor die Ohren der Zeitgenossen zu bringen, sie sinnlich wahrnehmbar zu machen. Was Medien sinnlich fassbar manifestieren, ist »prinzipiell (...) etwas, das von niemandem in dieser Form überhaupt gesehen werden kann«.257 Ein »wesentlich ungegenständliches Phänomen« nämlich sei die gesellschaftliche Kommunikation, ungegenständlich wie der Gedanke, betonte Bernd M. Aswerus. Um es erscheinen zu lassen, bedürfe es der materiellen Stützen und Verkörperungen. Aber diese sind eben nicht mit der gesellschaftlichen Kommunikation »identisch«.258 Medien, insonderheit (Tages-)Zeitungen, fördern jene »unsichtbare Versammlung« zutage, in welcher »alle Rechtsgenossen eines Staatsverbandes zur wirkenden und wirksamen Anwesenheit« im Staat sich einfinden, um in einem unaufhörlichen Austausch zu artikulieren, was alle angeht, erklärt der Staats- und Rechtsphilosoph René Marcic259 mit Blick auf die politische Kommunikation.

257

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 324. (Hervorhebung im Original.) – Krämer stellt dies für Karten fest. Aber der Satz gilt ebenso allgemein und unumstößlich für die Medienberichterstattung.

258

Aswerus, Zeitgespräch, (Fn 107), S. 102 f. Und an anderer Stelle spricht Aswerus von Sozialer Zeit-Kommunikation als einem »geistigen Phänomen« oder einem »Sinngebilde« (ebd. S. 40), das als solches und insgesamt mit den Sinnen nicht fassbar sei: »Zeitung ist die Summe dessen, was in einer Menschengemeinschaft von Mund zu Mund geht, was in dieser Gemeinschaft in Gesprächen im weitesten Sinn laut wird. Zeitung ist das Insgesamt der geistigen Geräusche, welche die betreffende Gemeinschaft oder Organisation überschweben wie die Arbeits- und Verkehrsgeräusche eine in einem Tal gelegene Stadt.« (Ebd. S. 78; Hervorhebung im Original.)

259

René Marcic: Öffentlichkeit als staatsrechtlicher Begriff. In: Günther Nenning (Hrsg.): Richter und Journalisten. Wien/Frankfurt/Zürich 1965, (S. 153 228), S. 200 und S. 205. (Hervorhebung H.W.)

objektivität im journalismus

– 317 –

Unsichtbar ist indessen nicht einfach der gesamtgesellschaftliche oder der gesamtpolitische Kommunikationsraum, der ohne Konkretisierung und Verkörperung in den Medien nicht zu überblicken und nicht zu erfahren wäre. Einer unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung entzogen ist auch die Totalität der in diesem Kommunikationsraum immerfort und ununterbrochen stattfindenden Kommunikationsprozesse. Diese folgen den ebenso permanenten Ereignisabläufen, die buchstäblich an allen Ecken und Enden der Lebenswelt ständige Veränderungen bewirken. Das Wissen um diese ereignisabhängigen Veränderungen vergegenständlicht sich in abstrakten Worten und Bildern der Medien. Aber diese Vergegenständlichung kommt niemals an ein Ende, ist so wenig jemals abgeschlossen wie die fortdauernde Kette von Ereignissen und Veränderungen. Dies ist eine Besonderheit, auf die hin das Konkretisierungspotenzial der Medien angepasst sein muss. Das fortlaufende Erscheinen von Medien (ihre Periodizität) ist die notwendige Konsequenz. Eine weitere Dimension der Nicht-Wahrnehmbarkeit dessen, was sich erst in und über Medien zeigt, hängt eng damit zusammen: Alles, was Medien erfahrbar machen, ist zum Zeitpunkt, in dem sie dies leisten, unwiderruflich vergangen, oder es entschwindet – im Fall etwa von LiveSendungen – im Augenblick der medialen Vergegenständlichung aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Was berichtet wird, ist dann nicht mehr da, nicht mehr zu sehen, zu hören oder zu greifen – außer in jenen zugleich konkreten und abstrakten Gestalten, welche Medien und Journalismus dem endgültig Vergangenen geben. Informationen sind es, die solche Gestalt in Medien annehmen. »In unendlich vielen Schattierungen bilden Informationen aus erster, zweiter, dritter ... Hand, auch Büchern, Bildern, Fernsehen, Filmen, Zeitungen (...) ein Wissen über etwas, das wir schlechterdings niemals durch eigene Erfahrung erwerben könnten. Es ist

– 318 –

das fachstichwort

ein Wissen, bei dem wir uns auf ganz selbstverständliche Weise auf andere verlassen (müssen).«260 Denn die Zeiten sind längst vorbei, in denen die Mehrheit der Menschen noch eine »erfahrungsgesättigte Vertrautheit mit der übergroßen Mehrzahl der realen Bedingungen ihres Daseins« besaß. »Den Schwund dieser Vertrautheit kompensieren wir heute in der Erfahrung unserer überwältigenden Abhängigkeit von der Erfahrung anderer, durch Vertrauen in eben diese Erfahrung anderer«, das sich in der Regel durchaus als gerechtfertigt erweist.261 Gerade die Erfahrung anderer, wie sie uns Medien vermitteln, betrifft immer ein Wissen über die Realität, über die Realität der natürlichen Welt sowie – in weitestem Ausmaß – über die Realität der intersubjektiven sozialen Lebenswelt. Realitätswissen gelangt dabei über mehrere Stufen zu uns, den Rezipienten, die wir zugleich realitätsinteressiert und realitätsbedürftig sind. Am Ausgangspunkt einer jeden massenmedial übertragenen und verteilten Realitätserfahrung stoßen wir immer auf einen Beobachter, der ein Ereignis – welcher Art auch immer – mit eigenen Augen sieht oder mit eigenen Ohren hört, es jedenfalls mit seinen eigenen fünf Sinnen wahrnimmt. Wissen von Ereignissen ist ebenso wie deren Wahrnehmung oder irgendeine Erfahrung davon ein (unsichtbarer) Bewusstseinsinhalt. Der Zeitungswissenschaftler Heinz Starkulla hat es deshalb als eine »Tatsache von fundamentaler Bedeutung« unterstrichen, »dass Bewusstsein als solches realiter nie ›ausgetauscht‹, von Mensch zu Mensch nie unmittelbar ›übertragen‹, sondern immer nur über das letztlich physische Medium ›vermittelt‹ werden kann«, über ein »rein 260

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 253.

261

Hermann Lübbe: Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philosophischen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt. In: Lübbe u.a., Orientierungswaise, (Fn 248), (S. 145 - 168), S. 150.

objektivität im journalismus

– 319 –

äußerliches Gebilde also in der Mitte zwischen Mensch und Mensch«.262 Deshalb muss die Erfahrung oder das Wissen von Realität in Sprache, in Schriftzeichen oder – seltener – in Bilder gefasst und transformiert werden. Anders als über derartige Medien ist Realität nicht zu haben. Falls der körperlich präsente Beobachter eines Ereignisses der Journalist selbst ist, so kann die Realitätsvermittlung von der Wahrnehmung bis zum Bericht auf kurzem Weg erfolgen. Der Regelfall ist dies jedoch nicht. Zumeist nämlich sind es ganz ›gewöhnliche‹ Menschen, das heißt: Nicht-Journalisten, die ein Ereignis beobachten oder auch setzen und es unter vielerlei Perspektiven wahrnehmen. Wenn sie, gefragt oder ungefragt, ihre Wahrnehmung einem Journalisten mitteilen, so ist dieser mit einer komplexen Realitätsstruktur konfrontiert: zum ersten mit der Realerscheinung des Ereigniszeugen selbst, der als solcher als Primärquelle fungiert; sodann mit dessen Wahrnehmung des fraglichen Ereignisses; und schließlich mit einem Kommunikationsereignis, eben der Mitteilung des Zeugen. Sämtliche dieser Elemente gehen in die Wahrnehmung des Journalisten und möglicherweise in den späteren Bericht ein. Zwischen der Erstwahrnehmung eines Ereignisses und der schlussendlichen Wahrnehmung all dieser Wahrnehmungen durch den Journalisten können indessen beliebig viele Wahrnehmungs- und Erzählstationen liegen. Daher kann die ursprüngliche Realitätswahrnehmung auf diesen Übertragungswegen vielfach gebrochen werden. Eine annähernd zutreffende Rekonstruktion der Realität eines Ereignisses ist und bleibt unter diesen Umständen nur möglich, wenn man von Station zu Station auf die Wahrhaftigkeit der Zeugen bauen kann, wenn im Bericht die Sinntreue der Mitteilungen gewahrt 262

Starkulla, Marktplätze, (Fn 244), S. 19.

– 320 –

das fachstichwort

wird und wenn das Bild des Ereignisses aus einer Mehrzahl möglichst unterschiedlicher und voneinander unabhängiger Wahrnehmungen zusammengesetzt werden kann. Wie immer die Übertragungswege angelegt sind, sie sind im allgemeinen eingebunden in ein Geflecht von Kommunikationsprozessen. Diese werden einerseits angestoßen von natürlichen oder sozialen Ereignissen. Andererseits sind sie selbst reale Kommunikationsereignisse; vor allem generieren sie auch wieder Realitätskonstruktionen. René Marcic hat auf diese Zusammenhänge mit Rückgriff auf die Etymologie nachdrücklich hingewiesen. Das althochdeutsche Wort ›thing‹ bezeichnet sowohl die Zusammenkunft zur Klärung und Verhandlung einer Sache, die in Rede steht, aber auch diese selbst; das ›Ding‹ kommt dabei zum Vorschein. Das gleiche Wort deckt beide Elemente, die Verhandlung und die Sache, die da erörtert wird.263 »Von der ›res‹ (Sache)«, so Marcic weiter, »kommt nicht nur wortgeschichtlich, sondern zumal ideengeschichtlich die ›Realität‹. Wirklichkeit ist das, was den Menschen in irgend einer Weise angeht, ihm anliegt, was infolgedessen in Rede steht und zur Sprache kommt.«264 Ganz ähnlich denkt Bernd M. Aswerus, nur streckt er den Gedanken von der Gegenwart in die Geschichte aus. In einer Vorlesung im Sommersemester 1959 sagt er: »Das Zeitgespräch der Gesellschaft etabliert das Geschehen«, also die soziale Realität. »Gesellschaftliches und jegliches andere Geschehen, das (...) nicht zum Wort-

263

Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. (Nachdruck.) München 1984. Band 2: Stichwort ›Ding‹, insbes. Ziff. 13 (Sp. 1165). Ferner ebenda, Band 14: Stichwort ›Sache‹, Ziff. 6 (Sp. 1597 - 1600). Dort wird einleitend bemerkt: »die bedeutung 2 wird ausgedehnt, indem das wort anwendung findet auf alles, was anlasz zu irgend einer verhandlung, erörterung bietet, was gegenstand derselben ist oder werden kann.«

264

Marcic, Öffentlichkeit, (Fn 259), S. 164 f.

objektivität im journalismus

– 321 –

Leben kommt und daher der Gesellschaft nicht bewusst wird, wird auch nicht Geschichte.«265 Die hier aufgerissenen Einsichten sind wissenschaftlich prominent fixiert im sogenannten ThomasTheorem, benannt nach dem amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas. Es besagt: »Wenn Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real.«266 Die Voraussetzung für eine derart realitätssetzende Situationsdefinition ist die Kenntnis aller standpunktabhängigen Sachinformationen zum fraglichen Gegenstand und die Kenntnis aller Einstellungen, Wertüberzeugungen und Interessen derer, die diese Standpunkte vertreten.267 Die Formel der Situationsdefinition ist samt ihren Bedingungen von beträchtlicher Bedeutung für die Klärung der Frage, was mit der Realität geschieht, wenn soziale Kommunikation gemäß den Regeln der Unparteilichkeit vermittelt wird. Häufig nämlich wird unterstellt, eine solche Vermittlung konserviere, ja zementiere geradezu den Status quo der sozialen Realität. Richtig daran ist nur soviel, dass sich in der sozialen Zeit-Kommunikation prinzipiell nur artikulieren kann, was irgendwie zum Status quo des gesellschaftlichen Bewusstseins, größerer oder kleinerer Gesellschaftssegmente, aber auch einzelner Gesellschaftsmitglieder gehört. Sobald jedoch das Spektrum dieses gegebenen Bewusstseins für die ganze Gesellschaft oder für einzelne ihrer Teile vernehmbar gemacht wird, was Aufgabe der Medien der Grundversorgung ist, so ist schon der Folgezustand des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht mehr identisch mit dem Status quo am Beginn des

265

Zit. nach Hans Wagner: Das Fach-Stichwort: Zeitungswissenschaft – eine Wissenschaft vom Menschen. In: Aswerus, Zeitgespräch, (Fn 107), (S. 121 197), S. 166.

266

William I[saac] Thomas: Person und Sozialverhalten. [1928.] (Hrsg. von Edmund H. Volkart.) Neuwied 1965, S. 114.

267

Siehe Thomas, Sozialverhalten, (Fn 266), S. 84 f.

– 322 –

das fachstichwort

Kommunikationsprozesses. Gleichgültig aus welcher Höhe einer ›Vogelperspektive‹ der vereinfachte Überblick über die soziale Kommunikation gewonnen sein mag, seine journalistische Vermittlung schafft je und je die Voraussetzung für die Generierung neuer, veränderter Realitätsssichten und Realitäten. Wahrnehmung, Interpretation und Konstruktion von Wirklichkeit finden notwendig und permanent in der Gesellschaft statt, treten durch und in Kommunikation in Erscheinung und können, weil und insofern diese Wirklichkeit alle angeht, nur über eine adäquate Vermittlung dieser Kommunikation gesellschaftsweit fassbar gemacht werden. Journalismus hat diese Vermittlung zu leisten, nicht aber selbst subjektiv beliebige und willkürliche Realitätskonstruktionen anzubieten. »Zwischen der Wirklichkeit und ihrer medial vermittelten Wahrnehmung entsteht [nämlich dann] eine Kluft«, wenn »Medien nicht mehr sorgfältig berichten, die Wirklichkeit nicht abbilden (...), Interessen und Interessenten nicht mehr kenntlich machen«,268 also die Regeln der Unparteilichkeit gröblich verletzen. Wolfgang Thierse, der damalige Bundestagspräsident hat dies völlig richtig gesehen und als Gefahr eines Wirklichkeitsverlusts für den demokratischen Kommunikationsprozess ausgemacht. Im Extremfall nämlich brauchen »die Medien keine Wirklichkeit mehr. Sie sind durchaus in der Lage, ein System der Wirklichkeit zu inszenieren, auf das sie sich fortan beziehen«.269 Nur: Medien, die sich lediglich in ihrer eigenen Medienrealität außerhalb und neben der sozialen Wirklichkeit tummeln, braucht die Gesellschaft nicht.

268

Wolfgang Thierse: Rede beim ›Mainzer Mediendisput‹ am 4. November 2003. Mskr. S. 3.

269

So zitiert Thierse, Mediendisput, (Fn 268), Mskr. S. 1, eine nicht näher genannte Berliner Obdachlosenzeitung.

objektivität im journalismus

– 323 –

Die Überlegungen zu den vielschichtigen und facettenreichen Zusammenhänge von Realität, sozialer Kommunikation und journalistischer Vermittlung können, wie folgt, bilanziert werden: · Das notwendige Wissen von den Wirklichkeiten der natürlichen Welt und der sozialen Lebenswelt ist nur durch soziale Kommunikation erfahrbar. Deren Manifestation in Medien macht jene Wirklichkeiten erst wahrnehmbar, die wir durch eigene Beobachtung und Erfahrung niemals erfassen könnten. · Die soziale Zeit-Kommunikation bezeugt und erzeugt fortwährend zugleich gesellschaftliche Wirklichkeit. Indem journalistische Vermittlung, konzentriert zwar, aber adäquat diese Kommunikation vermittelt, konserviert sie nicht etwa den Status quo der Realität, sondern ermöglicht erst eine fortdauernde Definition und Konstruktion von Wirklichkeit in der Gesellschaft. · Ein annähernd zutreffendes und umfassendes Bild der für das menschliche und gesellschaftliche Dasein relevanten Wirklichkeit kann von den Medien der Grundversorgung nur erwartet werden, wenn die journalistische Vermittlung sich strikt an die Regeln der Objektivität bzw. der Unparteilichkeit hält. Das Unparteilichkeitsprinzip verbürgt die stimmige Wirklichkeitsdarstellung auf dem Weg über eine adäquate Kommunikationsmanifestation. · Jede Verletzung der Unparteilichkeitsregeln hat Kommunikationsdefizite und damit notwendig Wirklichkeitsverluste zur Folge. Auch wenn die Wendung, jemand lüge wie [in der Zeitung] gedruckt, weithin leicht über die Lippen kommt, so erwartet der normale Zeitungsleser, der Radiohörer und der Fernsehzuschauer für gewöhnlich doch das schiere Gegenteil. Er geht ganz selbstverständlich davon aus, dass ›stimmt‹, was ihm da in den Medien als

– 324 –

das fachstichwort

Information angeboten wird. Der Erwartungssatz, eine Nachricht solle ›stimmen‹, kann zwei verschiedene Tönungen annehmen. Er kann zunächst bedeuten, dass, was berichtet wird, mit der Realität übereinstimmt und diese zutreffend wiedergibt: Dass also das Unwetter wirklich gewütet hat, dass der Minister wirklich zurückgetreten ist, dass eine Facebook-Party wirklich von der Polizei aufgelöst wurde, wenn dies und vieles mehr in Berichten steht, oder dass – davon wurde oben ausführlich gehandelt – der Regierungssprecher oder der Vorsitzende des Mieterbundes oder wer immer sonst wirklich genau das gesagt hat, was da nachrichtlich notiert wird. Die Erwartung, dass schon ›stimmen‹ sollte, wovon die Medien Nachricht geben, kann sodann in einem ganz fundamentalen Sinn bedeuten, dass wahr sei, was verbreitet wird. Damit weitet sich die Erwartung aus. Jetzt zielt sie darauf, dass kein Verschweigen, keine Täuschung, keine tendenziöse Vernebelung und keine andere Wahrheitsbeugung im Spiel sei. Jetzt rechnet der Rezipient damit, dass der Bericht in jeder Hinsicht vollständig und zuverlässig sei, dass er nicht nur stimmt, sondern auch gilt. Wahrheit in der Kommunikation und in deren journalistischer Vermittlung tritt in einer Doppelgestalt auf. Einer davon sind wir oben schon mehrfach begegnet: Das ist die Wahrheit der Zeugen, das heißt der Informanten oder Primärquellen, auf deren Realitätswahrnehmung und Realitätssicht der Journalist nahezu immer angewiesen ist. Die Einsichten, die wir in diesen früheren Begegnungen gewonnen haben,270 brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Aber sie sind gewissermaßen aus der Perspektive des Rezipienten zu ergänzen. Dieser nämlich kommt mit seiner Er270

Siehe dazu vor allem den Abschnitt »Sinntreue: die Wahrheit des ›Journalisten‹«, S. 267 - 276 in diesem Band.

objektivität im journalismus

– 325 –

wartung, dass ein Bericht wahr sei, »nicht aus ohne den Glauben an die Solidität der Quelle der Information«, zumal er auch noch damit rechnet, dass der vermittelnde ›Journalist‹ alles getan hat, um die Zuverlässigkeit dieser Quelle zu prüfen. So stoßen wir an dieser Stelle auf das für jede Art »Zeugnisgeben unabdingbare Phänomen der Vertrauenswürdigkeit. Nicht die Wahrheit des Satzes, vielmehr die Wahrhaftigkeit der Person bildet den Angelpunkt beim Bezeugen. Denn dieses Zugleich von Aussage und Wahrsein zehrt von der Aufrichtigkeit, die wir Personen, oder der Zuverlässigkeit, die wir Institutionen zusprechen, welche uns informieren. In gewisser Weise folgen wir ›blind‹ der Wahrheit des Satzes, sofern wir von der Vertrauenswürdigkeit der Informationsquelle überzeugt sind.« Anders, so resümiert Sybille Krämer, »könnten wir uns in unserer Welt nicht orientieren«. 271 Die Verbindung von Aussage und Wahrheit, die fast unauflösbar erscheint, solange sie nicht in Zweifeln erodiert oder vom erwiesenen Gegenteil aufgesprengt wird, macht die auffällige Besonderheit eines Berichts aus, der auf Mitteilungen von Primärquellen zurückgeht. Sie unterscheidet den Bericht grundsätzlich von einer »gewöhnlichen Behauptung« (Krämer), wie sie etwa auch in Urteilen und Meinungsäußerungen Ausdruck findet. Denn »das 271

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 254 f. (Hervorhebung im Original.) – Die ›blinde‹ Annahme der Wahrheit, wo und sobald die Vertrauenswürdigkeit der Quelle gesichert erscheint, leitet nicht nur (notwendig) das Rezipientenverhalten, sondern nicht selten auch die Entscheidung des Journalisten, wo dieser seine professionelle Unparteilichkeit aufgibt. Unprofessionelle ›Vertrauensseligkeit‹ wird für den Journalisten dann zur Falle, mit der er leicht getäuscht und hereingelegt werden kann, wie das die Konstruktion der Grubenhund-Experimente von Arthur Schütz mit mehr als nur kuriosen Effekten gezeigt hat. Siehe dazu Hans Wagner: Das Grubenhund-Gesetz: Die Rationalität der sozialen Orientierung. In: Arthur Schütz: Der Grubenhund. Experimente mit der Wahrheit. (Hrsg. Von Walter Hömberg.) (ex libris kommunikation Band 5.) München 1996, (S. 119 - 192), hier insbesondere S. 130 ff.

– 326 –

das fachstichwort

Behaupten ist mit dem Geltungsanspruch verbunden, dass der Sprecher das, was er sagt, für wahr hält.« Man kann, sofern man Gründe dafür hat, solche Geltungsansprüche zurückweisen oder bezweifeln und so den Sprecher zwingen, den Beweis für die Wahrheit seiner Behauptung anzutreten.272 Damit wird unter dem Aspekt der Wahrheit und ihres Geltungsanspruchs der Unterschied zwischen einem (journalistischen) Kommentar und einer Nachricht aufs neue und nachdrücklich markiert. Die Wahrheit eines Kommentars wird vom Kommentator lediglich behauptet. Jedermann steht es frei, solchen Geltungsanspruch anzuerkennen oder abzulehnen oder darüber in eine Debatte einzutreten. Ganz anders der Bericht: Ein Bericht erzählt, was ein Zeuge erzählt oder was ein beliebiger Sprecher behauptet hat. Insoweit stellt der Bericht eine Metakommunikation dar, eine Mitteilung über eine Mitteilung. Er bleibt wahr, solange an der Glaubwürdigkeit der Quelle kein Zweifel besteht. Und er ist wahr, wenn bei der Vermittlung die Sinntreue gewahrt wird. Selbstverständlich kann man von der Metaebene einer berichteten Behauptung auf die einfache Kommunikationsebene der Behauptung selbst hinabsteigen und auf dieser Basis dann die Wahrheit des Sprechers oder Aussageträgers in Frage stellen. Das geschieht tatsächlich in der gesellschaftlichen und zumal in der politischen Kommunikation ständig. Der Politiker X ficht die Behauptung des Politikers Y an, von der er aus Medienberichten erfahren hat. Angefochten indessen wird dabei nicht die Wahrheit des Berichts. Im Gegenteil: die unangezweifelte Wahrheit des Berichts ist geradezu das Fundament, auf dem die Anschlussdebatte überhaupt erst Sinn macht. Damit sind die auffälligen und wichtigen Kennzeichen der ersten relevanten Gestalt der Wahrheit skizziert: 272

Vgl. Krämer, Bote, (Fn 96), S. 254.

objektivität im journalismus

– 327 –

· Die bis zum Erweis des Gegenteils angenommene Einheit von (vermittelter) Aussage und Wahrheit ist das herausragende Merkmal des Medienberichts. · Die Wahrheit eines Berichts ist primär gebunden an die Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit der Quellen, deren Mitteilungen im Bericht vermittelt werden. · Die Annahme, dass ein Bericht wahr sei, gründet sodann in der Vermutung, dass der Journalist die Zuverlässigkeit der Quellen überprüft, die Sinntreue der Quellen-Mitteilungen gewahrt und so die Regeln der Unparteilichkeit eingehalten hat. · Die Wahrheit eines Berichts besteht und gilt unabhängig von der Wahrheit der im Bericht vermittelten (Tatsachen-)Behauptungen, Urteile oder Meinungsäußerungen. · Die Wahrheit des Berichts ist die genuine Gestalt der Wahrheit der Medien. Die zweite Gestalt der Wahrheit ist die Wahrheit der Kommunikation. Ihre Kontur lässt sich nicht ohne weiteres in aller Schärfe präparieren, weil hier die Wahrheit untrennbar mit dem Kommunikationsgeschehen verschmolzen ist. »Wahrheit zeigt sich nur in Erscheinungen«, schreibt Karl Jaspers, »die unlösbar von Kommunikation sind. Der Sinn von Wahrheit ist wesentlich in Kommunikation und nie ohne sie.«273 Und ferner: »Gemeinsam ist aller Wahrheit, die für uns Wahrheit ist, dass sie in der Mitteilung sich vollzieht.«274 Dieser Zusammenhang muss erschlossen werden. Das gelingt, wenn wir uns den Gegenständen der permanent ablaufenden aktuellen Kommunikation in der Gesellschaft zuwenden. Worü273

Karl Jaspers: Von der Wahrheit. [1947.] München 1958, S. 587.

274

Jaspers, Wahrheit, (Fn 273), S. 546.

– 328 –

das fachstichwort

ber redet man unaufhörlich in den Gruppen und zwischen den Gruppen einer Gesellschaft? Was bespricht die »unsichtbare Versammlung der Rechtsgenossen« (Marcic) Tag für Tag im Staat? Schon Aristoteles hat sich vor mehr als 2300 Jahren mit diesen Fragen herumgeschlagen und darauf eine umfassend gültige Antwort gefunden. Man erwäge in den Bürger- und Ratsversammlungen, so schreibt er in seiner Rhetorik, nur solche Dinge, die sich so oder anders verhalten können; man spreche nur über Angelegenheiten, die ebenso gut kommen wie nicht kommen können. Die Gegenstände menschlichen Handelns gehörten allesamt in diese Gattung. Und wenn man berate, was zu tun sei, befasse man sich eben nicht mit Notwendigkeiten, sondern stets mit offenen Möglichkeiten.275 Im »Zeitgespräch der Gesellschaft« (Aswerus) wird demnach erörtert, was hier und heute passiert. Mit neuen Situationen muss man sich auseinandersetzen, sie zu definieren suchen, Probleme klären und Lösungsvorschläge entwickeln, Handlungsmöglichkeiten sondieren, alle relevanten Tatsachen prüfen, herausfinden, was unter den gegebenen Umständen falsch und richtig ist, Entscheidungen vorbereiten und je und je die Bedingungen für einvernehmliches, gemeinsames Handeln schaffen. Kurzum: das »Zeitgespräch der Gesellschaft« ist der Weg, auf dem Menschen Wahrheit suchen, Wahrheit finden und Wahrheit mitteilen zu Sachverhalten und Wirklichkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, zu denen es jedoch gültige und sichere Erkenntnisse (noch) nicht gibt, die das Handeln leiten könnten. Solche Wahrheiten lassen sich nicht wie reife Früchte von den Realitäten pflücken. Niemand in dieser gesellschaftlichen Kommunikation, kein einzelner, hat die Wahrheit. Man muss »die Wahrheit gemeinsam 275

Vgl. Aristoteles: Rhetorik. (Hrsg. u. übers. von Paul Gohlke.) Paderborn 1959, i.2, 57a (S. 36 f) in Verbindung mit i.4, 59a (S. 44).

objektivität im journalismus

– 329 –

finden. Das gelingt nur, wenn keiner den Anspruch des Wahrheitsbesitzes für sich erhebt«. Und es kommt darauf an, »das Ziel einer Einstimmung für ein gemeinsames Tun zu erreichen«.276 Unstimmigkeit ist in solcher Kommunikation keine verderbte Abweichung, sondern ist in »der unaufhebbaren Offenheit und Unabgeschlossenheit« des »menschlichen Erkennens und Handelns begründet«. Deshalb »ist der Konflikt, in dem die Gegensätze ausgetragen, und die Korrektur, in der sie ausgeglichen werden, etwas, was aus dem menschlichen Zusammenleben nicht fortzudenken ist.«277 So der Phänomenologe Bernhard Waldenfels. Bei Jaspers findet sich die Ergänzung: Der Kompromiss sei »die Weisheit, die sich sagt, dass jeder noch so sachgemäße Standpunkt darauf vorbereitet sein sollte, eines Tages doch widerlegt zu werden. Das Gute bedarf der Ergänzung durch das weniger Gute. Damit dies alles gelinge, ist notwendig die fortdauernde Kunst, miteinander zu reden.«278 Ganz offensichtlich geht es also in der Sozialen Kommunikation nicht um wissenschaftliche, sondern um konkrete, praktische Wahrheiten, die es erlauben, in einer gegebenen Situation das jeweils Richtige zu tun. Entscheidend aber ist dabei, dass, was im Gespräch als Wahrheit gefunden wird, Zustimmung findet, um darauf Entscheidungen stützen zu können. Natürlich ist sofort einsichtig, dass es kein absolut zuverlässiges Wahrheitskriterium sein kann, wenn eine Mehrheit zustimmt. Es kann Einer gegen Viele, eine Minderheit gegen die Mehrheit wesentlich näher an der Wahrheit sein. Aber weil die Handlungsmöglichkeit und die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft oder einzelner ihrer Gruppen

276

Jaspers, Wahrheit, (Fn 273), S. 579.

277

Waldenfels, Zwischenreich, (Fn 182), S. 179.

278

Jaspers, Wahrheit, (Fn 273), S. 581.

– 330 –

das fachstichwort

auf dem Spiel steht, ist es unerlässlich, dass die unterschiedlichen Interessen zu einer Verständigung darüber kommen, was (als Wahrheit) gelten soll. Daher hat Bernhard Waldenfels sicher recht, wenn er festhält, das Ziel der Kommunikation sei stets das Einverständnis. »Menschliches Einverständnis besagt, dass wir uns von einem gemeinsamen Boden aus auf gemeinsame Ziele zubewegen.« »Das Einverständnis ist freilich kein Endzustand und kein fertiges Werk (...), es bleibt eine vorgegebene und aufzugreifendes Tendenz.« Trotz alledem aber: »Im Einverständnis hat die Wahrheit ihre soziale Gestalt.«279 Nun zeigt allerdings die Antwort des Aristoteles auch in die Gegenrichtung. Sie gibt nicht nur Auskunft, worüber gesprochen werden muss, sondern sagt auch, worüber nicht gesprochen wird oder nicht gesprochen werden kann: Über das, was mit Notwendigkeit ist, wie es ist, lässt sich nicht diskutieren. Reden also wäre müßig über all das, was selbstverständlich ist, was unveränderlich ist, was fraglos gilt. Doch auch in dieser Richtung kann ein Zweifel nicht unterdrückt werden: Ist alles wirklich Wahrheit, was in einer Gesellschaft gilt? Auch wenn alle Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft auf Einverständnis gebaut wären, beruhen sie auch auf wahren, richtigen Einsichten? Der durchaus streitbare Philosoph Robert Spaemann beklagt jedenfalls mit guten Gründen, »dass wir heute, was die Meinungsfreiheit betrifft, weniger frei sind als in den fünfziger Jahren. Das hängt eng damit zusammen, dass der Begriff des Richtigen und des Wahren im fortschreitenden Pluralismus dahinschwindet. An seine Stelle tritt der Mainstream, die herrschende Meinung. Und wer sich ihr nicht fügt, dem kann es übel ergehen. Die Begründung dafür lautet

279

Waldenfels, Zwischenreich, (Fn 182); in der Reihenfolge der Zitate: S. 175, S. 180 und S. 181. (Hervorhebung H.W.)

objektivität im journalismus

– 331 –

nicht, man meine etwas Falsches, sondern man weiche von den herrschenden Werten ab.«280 Auch wenn es hierzu bei Andeutungen bleiben muss, soviel machen sie doch augenfällig: Soziale Kommunikation fördert nicht nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zutage. Und wo, statt zu reden, geschwiegen wird, geschieht dies keineswegs (nur) um der Wahrheit willen. Es scheint so, als sei Unwahrheit unausweichlich, wo Menschen, Gruppen und Gesellschaften sich auf den Weg zur Wahrheit machen. Karl Jaspers, der sich mit dem Problem der Unwahrheit in der Kommunikation in all Ihren Erscheinungsformen und Typiken intensiv auseinandergesetzt hat, kommt am Ende zu folgenden Schlüssen: »Weil Wahrheit für uns nicht vollendet ist, bedarf sie der Bewegung der Kommunikation, um offenbar zu werden. Weil Kommunikation in Bewegung ist, ist in ihr stets noch Unwahrheit gegenwärtig. Weil trotz gegenwärtiger, jeweiliger Erfüllung die Wahrheit stets noch offen ist, ist Wahrheit auf dem Weg über die Unwahrheit zu ergreifen. Der Weg der Wahrheit geht durch Unwahrheit hindurch.«281 Man muss, so Jaspers an anderer Stelle, »die Unwahrheit in Kauf nehmen«. Man muss damit »fertig werden in der Realität und kann sie nicht überwinden durch Ausschluss«.282 In der Realität die Unwahrheit überwinden heißt demnach, sie in der Bewegung der Kommunikation überwinden, durch Rede und Gegenrede, in der die Positionen beweis- und argumentationspflichtig werden, in der man sich um die Sache bemüht, in der Widersprüche nicht unbefragt hingenommen werden, in der die Möglichkeit eröffnet wird, sich wechselseitig zu korrigieren. 280

Robert Spaemann: Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen. Stuttgart 2012, S. 273.

281

Jaspers, Wahrheit, (Fn 273), S. 588.

282

Jaspers, Wahrheit, (Fn 273), S. 575.

– 332 –

das fachstichwort

Dies wäre zu bedenken, wenn die frühere Feststellung, der Journalist habe nicht zu verantworten, ob eine von ihm vermittelte Mitteilung wahr ist, sondern dass er sie getreu weitergibt,283 Unverständnis, Unmut oder gar Empörung ausgelöst haben sollte. Dies ist indessen nur der besondere Fall eines allgemeinen Grundsatzes, der sich aus den Überlegungen zur Wahrheit der Kommunikation ableiten lässt: · Der Journalist ist nicht Herr der gesellschaftlichen Zeit-Kommunikation; er steht vielmehr als deren Vermittler in ihrem Dienst. Was im »Zeitgespräch der Gesellschaft« geschieht und nur in ihm geschehen kann, nämlich die unablässige Suche nach dem Einverständnis bei der Lösung aller aktuellen Probleme oder bei der Entscheidung für Handlungsalternativen, das ist nicht Sache des Journalisten und der Medien. Der Journalist ist nicht legitimiert, vermeintlich unvollendete Wahrheiten, die aus und in der gesellschaftlichen Kommunikation laut werden, zu vollenden; die seiner Meinung nach falschen Entscheidungen zu verbessern und zu korrigieren oder im Falle von Unstimmigkeiten zu dekretieren, welche Position die wirklich ›wahre‹ und welche andere die klar ›falsche‹ ist. Der Journalist ist nicht legitimiert, Regierungen wegoder herbeizuschreiben oder sich sonstwie an die Stelle des Souveräns zu setzen. Auch ist der Journalist nicht etwa der Oberaufseher darüber, was man sagen darf und was man nicht sagen darf; er ist nicht der Wächter über den Mainstream der herrschenden Meinung, über Political Correctness oder über andere scheinbar konsentierte Sprach-, Kommunikations- und Schweigeregeln. All das ist Kommunikations-Sache der Gesellschaft sowie der Gruppen und Interessenten in ihr. 283

Siehe dazu S. 273 ff in diesem Band.

objektivität im journalismus

– 333 –

Damit die ›Wahrheit der Kommunikation‹ im je geforderten Einverständnis Gestalt annehmen kann, muss in der Gesellschaft die Kommunikation funktionieren. Sie kann nur funktionieren, wenn allen zumindest die Chance eröffnet wird, an den Debatten über Sachverhalte zu partizipieren, die alle angehen. Dies ist nur möglich, wenn das »unsichtbare« Zeitgespräch der Gesellschaft für Jedermann wahrnehmbar und vernehmbar gemacht wird. Dies aber kann ohne die journalistische Vermittlung der sozialen Kommunikation nicht realisiert werden. Daraus folgen zwei weitere Grundsätze: · Nur ein funktionierender Journalismus sichert eine funktionierende soziale Kommunikation, in der Verständigung und Einverständnis in der Gesellschaft gelingen. · Seine gesellschaftswichtige Funktion für die Wahrheit der Kommunikation erfüllt der Journalist jedoch nur, wenn und solange er die Vermittlung der sozialen Zeit-Kommunikation am Objektivitäts- oder Unparteilichkeitsprinzip ausrichtet und dabei die Handwerksregeln strikt einhält, die seine Realisierung verbürgen. Genau so und in diesem Zusammenhang hat schon Georg Cotta, der Sohn des Gründers der ›Allgemeinen Zeitung‹, 1847 sein unbeirrtes Festhalten am Unparteilichkeitskonzept seiner Zeitung begründet und verteidigt (vgl. 91 f): Wenn die Zeitung auf den Leitartikel eines Redakteurs setze, lege sie sich auf eine Ansicht fest, die sehr irren könne. Außerdem nehme sie möglicherweise den gesellschaftlichen Gesprächsparteien die Lust, sich in der Zeitung auszusprechen. Er lasse deshalb die unterschiedlichen Meinungen in seiner Zeitung zu Wort kommen, »weil jedenfalls nur aus dem Kampf aller und der verschiedensten Meinungen die Wahrheit hervorgehen kann.«

– 334 –

das fachstichwort

5. Die Objektivitätsgewinne Man weiß, dass Georg Cotta das Unparteilichkeitsprinzip nicht aus Geschäftssinn hochhielt. Aber es ist ebenso bekannt und unumstritten, dass das Unparteilichkeitsprinzip sich schon früh auch deshalb etablierte, um mit einer objektiven Berichterstattung größere Marktanteile zu erobern und so den ökonomischen Erfolg der Nachrichtenblätter zu sichern. Unparteilichkeit war (und ist) – nicht immer, aber oft – ein Mittel, um wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen (vgl. 129 ff). Über das ökonomische Kalkül setzt sich auf diese Weise ein journalistisches Arbeitsprinzip durch, das zumindest seiner Potenz nach eine umfassende informationelle Grundversorgung des Bürgers gewährleisten kann. Selbst wenn man die Verknüpfung von Ideal und Wirtschaftsgewinn für suspekt hielte, wäre doch immerhin zu bedenken, dass dabei »der Vermittlung des Wollens der Leser [und überhaupt der Rezipienten] durch die ökonomischen Überlegungen des Herausgebers [oder Verlegers] ein beträchtlicher demokratischer Wert« zukommt.284 Dass die Rezipienten an einer objektiven, unparteilichen Berichterstattung interessiert sind, müssen selbst jene Kreise eingestehen, die Objektivität bloß für eine Ideologie oder für ein sinnloses Ritual und den unparteilichen Informationsjournalismus für antiquiert halten. Das Konzept der ›Objektiven Berichterstattung‹ nämlich sei, trotz aller Gegenentwürfe, bis heute im internationalen Nachrichtensystem und in den meisten nationalen Mediensystemen dominierend geblieben und beim Publikum weitgehend konsentiert, räumt Siegfried Weischenberg ein. 285 Das Phänomen einer Ökonomie der Unparteilichkeit soll hier nicht weiter ausgeleuchtet werden. Hier geht es abschließend um 284

Joseph H. Kaiser: Presseplanung. Frankfurt/M 1972, S. 50.

285

Siehe Weischenberg, Journalistik, (Fn 33), S. 119.

objektivität im journalismus

– 335 –

ganz andere Objektivitätsgewinne. Was außer Marktvorteile und Bilanzgewinne bringt unparteiliche Berichterstattung noch? Und: Wer hat etwas von solcher Objektivität? Auf fünf mögliche Gewinnzonen soll hier ein notgedrungen knapper Blick geworfen werden. Manche dieser Zonen sind in aktuellen Debatten zwar häufig frequentiert – aber kaum vom Objektivitätszugang aus begangen; einige andere sind eher abgelegen, obwohl in ihnen Fundamente des gesellschaftlichen Daseins aufscheinen. Journalistische Reputation (1) Die ersten Gewinner einer um Unparteilichkeit bemühten Berichterstattung könnten die Journalisten selbst sein. Seit Jahrzehnten ist regelmäßig aus Umfragen bekannt, dass es um das Ansehen der Journalisten nicht sonderlich gut bestellt ist.286 Nur für acht Prozent der Bevölkerung gehören Journalisten zu den Berufsgruppen oder Institutionen, denen man zutraut, »dass sie unsere Gesellschaft voranbringen«. Als Hoffnungsträger also gelten Journalisten gewiss nicht.287 Wolfgang Donsbach und Mitarbeiter bilanzieren diese sowie Befunde, die sie selbst erhoben haben, so: »Aus Sicht der Bürger wird der Journalismus seiner gesellschaftlichen Rolle nicht hinreichend gerecht und enttäuscht die Bevölkerung in ihren Erwartungen erheblich.«288 Wenn man nach den 286

Die Frage nach dem Ansehen verschiedener Berufe stellt das Institut für Demoskopie in Allensbach seit den 1960er Jahren. Journalisten kommen in dieser Rangliste über das untere Viertel nicht hinaus.

287

Vgl. Wolfgang Donsbach / Mathias Rentsch /Anna-Maria Schielicke / Sandra Degen: Entzauberung eines Berufs. Was die Deutschen vom Journalismus erwarten und wie sie enttäuscht werden. (Hrsg. vom Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses.) Konstanz 2009, S. 40 ff.

288

Donsbach u.a., Entzauberung, (Fn 287), S. 66. Die repräsentative Umfrage, auf die sich diese Bilanz bezieht, wurde im Dezember 2007 und im Januar 2008 durchgeführt.

– 336 –

das fachstichwort

Erwartungen des Publikums genauer fragt, so stellt sich heraus, dass es vor allem ausführliche Hintergrundinformationen, eine neutrale Fakten-Berichterstattung, die Präsentation gegensätzlicher Meinungen sowie Beiträge wünscht, die gesellschaftliche Ereignisse verstehen helfen; mit einem Wort: ein objektives Angebot. Und exakt daran fehlt es. Dazu ein weiteres Resümee von Donsbach und Mitarbeitern: »Den Bürgern sind die Journalisten viel zu sehr auf ihre eigenen Interessen aus – sowohl was die Meinungen (Intoleranz) als auch die materiellen Bedürfnisse angeht. Zudem sind sie ihnen eine zu große Macht im Staat. Bei den Nachrichteninhalten fühlt sich das Publikum unterversorgt. Die Bürger fordern eine Berichterstattung ein, die neutraler und weniger subjektiv eingefärbt ist, sich auf die Fakten, in der Gesellschaft widerstreitende Meinungen und [auf] Hintergründe konzentriert.«289 Oder anders: Große Teile der Gesellschaft trauen Journalisten Vieles, vor allem viel Schlechtes zu, aber sie trauen ihnen nicht (mehr). Nicht erst diese neueren Befragungen belegen dabei den klaren Zusammenhang zwischen Ansehens- und Vertrauensverlust des Journalismus beim Publikum und der ständigen Verletzung der Unparteilichkeitsregeln. Das ist ein unumstößliches Faktum. Eine Folge davon ist der schleichende Glaubwürdigkeitsverlust der Medien, der sich auch in einem allmählichen Auflagenschwund der Tageszeitungen oder in rückläufigen Einschaltquoten bei Informationsangeboten im Rundfunk bemerkbar macht. Auch wenn dafür noch andere Faktoren eine Rolle spielen, die Erfahrung der Unterversorgung und der Regelverletzung liest das Publikum an den journalistischen Produkten ab – und wendet sich dann lieber gleich dem Boulevardesken zu, weil man da wenigstens weiß, was man nicht bekommt!

289

Donsbach u.a., Entzauberung, (Fn 287), S. 75.

objektivität im journalismus

– 337 –

Man sollte sich ferner nicht darüber hinwegtäuschen, dass zumindest der aufgewecktere Teil der Gesellschaft die fragwürdige Einstellung mancher, vielleicht vieler (sicher nicht aller) Journalisten zum Ethos und zur Ethik ihres Berufs kritisch verfolgt – heutzutage aufgrund der neuen technischen Kommunikationswege wohl noch schneller und nachhaltiger als früher. Schon vor nahezu 20 Jahren erzählte Elisabeth Noelle-Neumann im Rahmen eines wissenschaftlichen Gesprächs, ein prominenter Journalist habe, bei einer Podiumsdiskussion nach seiner Vorstellung zur Ethik des Journalismus befragt, zur Antwort gegeben: Ethik, das sei ihm zu hochgestochen, zwei Stockwerke zu hoch sogar. Er bleibe da lieber im Parterre. Noelle-Neumann kommentierte, ein solcher Ausspruch zeige, das etwas im beruflichen Selbstverständnis von Journalisten nicht in Ordnung sei. »Man kann sich kaum vorstellen, dass die Angehörigen irgendeines Berufes mit großer Verantwortung (...) unbekümmert erklären würden, über Ethik nachzudenken sei keine Sache für sie.«290 Seither scheint sich nicht viel geändert zu haben. Es gibt immer wieder Exempel dafür, dass auch grobe Verstöße gegen die Unparteilichkeitsregeln verharmlost und verniedlicht werden, ganz zu schweigen von der permanenten Verletzung der Regel, Nachricht und Kommentar säuberlich zu trennen, wodurch Informationen eine subjektive Färbung annehmen, welche ganz offensichtlich inzwischen selbst das breite Publikum verstimmt. Dazu wird man den Eindruck nicht los, dass die Verhaltenskodizes und die Handwerksregeln generell nicht sonderlich ernst genommen werden, dass man Unparteilichkeit oder Objek290

Elisabeth Noelle-Neumann: »Wer sagt Ihnen, dass die Journalisten nicht recht haben?« In: Walter A. Mahle (Hrsg.) Journalisten in Deutschland. Nationale und internationale Vergleiche und Perspektiven. München 1993, (S. 195 - 199), S. 195.

– 338 –

das fachstichwort

tivität als Arbeitsprinzip diskreditiert. Wo gelegentlich Kritik aus den eigenen Reihen an einem fragwürdigem Gebaren laut wird, geschieht es schon, dass irgendein Oberkritiker die Kritiker der »Empörungsakrobatik« oder einer »Moralhypertrophie« zeiht und sie als »Sittenwächter« lächerlich zu machen sucht, die »ständig mit Moral hantier[en], wie andere Leute mit Kartoffeln.« 291 Gleichgültig, ob man Einzelbeobachtungen dieser oder ähnlicher Art für gravierend hält oder nicht, sicher ist, dass das Ansehen und die Glaubwürdigkeit von Journalisten generell beschädigt ist. Zurückgewinnen kann der Journalismus seinen guten Ruf nicht mit Lippenbekenntnissen oder mit Statements, wie sie in Befragungen zum Selbstverständnis vorgegeben sind, in denen man dann halt ankreuzt, man wolle sich gern als »neutraler Vermittler« verstehen. Rufgewinne kann der Journalismus nur erzielen, wenn die Informationsangebote in jeder Hinsicht den Unparteilichkeitsregeln gerecht werden. (2) Ansehensverluste und Ansehensgewinne zeigen sich gewissermaßen an der Außenseite des Journalismus. Demgegenüber liegt 291

So Jan Fleischhauer: Aufregung um Voßkuhle-Porträt. ›Prantl-Gate‹. In: SpiegelOnline v. 2. 8. 2012. (www.spiegel.de/politik/deutschland/vosskuhleportraet-der-sz...; abgerufen am 7. 8. 2012.) Fleischhauer kritisiert hier die Kritik an einem Verstoß gegen die Quellentransparenz, den sich Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 10. 7. 2012 geleistet hatte. In dieser Ausgabe erschien auf S. 3 von Prantl ein großes Porträt des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Darin erweckte Prantl den Eindruck, er selbst sei (als Gast) beim Küchentreiben zur Vorbereitung eines Gästeessens im Haus Voßkuhle dabei gewesen. Tatsächlich aber bezog er alle fraglichen Informationen vom Hörensagen, was Prantl indessen zu vermerken unterließ. Zudem stimmten einige Details der Schilderung nicht. Die Süddeutsche Zeitung entschuldigte sich am 31. 7. 2012 für das Fehlverhalten Prantls. Nach Fleischhauer war das alles jedoch ein »Versehen« Immerhin wurde für nahezu denselben Verstoß gegen die Quellentransparenz der Journalist René Pfister 2011 mit der Aberkennung des renommierten HenriNannen-Preises bestraft. (Vgl. Fn 142 in diesem Band.)

objektivität im journalismus

– 339 –

die zweite Zone, für die mit der Unparteilichkeitsmaxime etwas zu gewinnen ist, in seinem Kernbereich. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Professionalität und die Legitimation des Journalisten. Seit einigen Jahren bricht, in der Praxis sowohl wie in der Wissenschaft, immer wieder eine Debatte auf, die sich genau um diesen Kernbereich fokussiert. Angestoßen wird sie von den internetbasierten Kommunikationsmöglichkeiten. Diese äußern sich in zahllosen, schillernden Formaten wie Blogs, Wikis, Twitter-News, Chats und anderen mehr. Teilweise werden diese Erscheinungen als Medien- und Kommunikationsrevolutionen euphorisch gefeiert, weil dabei Jedermann nicht nur seine Meinungsfreiheit, sondern auch die Pressefreiheit als barrierefreie Publikationsfreiheit realisieren kann. Weil viele Artikulationen im ›Netz‹ also irgendwie ähnlich ausschauen wie journalistische Auftritte, wie Berichte oder Kommentare, sehen manche da schon einen ganz neuen Journalismus heraufziehen, genannt ›Bürgerjournalismus‹ oder auch ›Graswurzeljournalismus‹, was bedeuten könnte, dass so die ›Urform‹ des Journalismus ans Licht käme. Zwangsläufig schließt sich die Frage an, ob dadurch der professionelle Journalismus peu à peu abgelöst werden könnte. Die übergroße Mehrzahl einschlägiger Untersuchungsbefunde, die auf diese Frage antworten, klingt beruhigend: Den meisten Bloggern und WikiPublizisten gehe es »nicht darum, gesellschaftlich relevante Informationen ins Netz zu stellen, sondern vielmehr Dinge von persönlicher Relevanz zu artikulieren«.292 Um Selbstdarstellungen handle 292

Jan Schmidt / Klaus Schönberger / Christian Stegbauer: Erkundungen von Weblog-Nutzungen. In: Sonderausgabe von kommunikation@gesellschaft, 2005. Unter http://www.soz.uni-frankfurt.de, (S. 1-20), S. 5. Zit. nach Philomen Schönhagen / Mirjam Kopp: ›Bürgerjournalismus‹ - eine publizistische Revolution? In: Zeitschrift für Politik, 54. Jg., 3/2007, (S. 296 - 323), S. 311.

– 340 –

das fachstichwort

es sich überwiegend, um eigene Erfahrungen und Erlebnisse. Was da angeboten werde, sei hochgradig subjektiv. Oder kurz und scheinbar gut: Die empirischen Ergebnisse »legen nahe, dass die (...) Onlineangebote der Laienpublizistik sowie die Bürgerbeteiligung am Journalismus weder den professionellen Journalismus neu erfinden noch ihn ersetzen können«.293 Entscheidend für diese Antworttendenz ist jedoch der dabei angelegte Maßstab. Gemessen nämlich werden hier die verschiedenen Netzformate an einem mehr oder weniger idealen Journalismus, der sich um eine neutrale, unparteiliche Vermittlung bemüht. Die meisten dieser Untersuchungen würden indessen Brisanz gewinnen, wenn man die Meßlatte umdrehte, also die Produkte des professionellen Journalismus an die Blogs hielte. Dann würde sich die Leitfrage andersherum stellen: Warum nur ähneln journalistische Produkte den Blogs? Warum verschwimmen angeblich die Grenzen zwischen Bloggern und Journalisten? Bei einer solchen Kehrtwendung kommt der Schnittpunkt beider Produkte direkt zum Vorschein: In beiden Fällen artikuliert sich Subjektivität. Was den Blogs in vielen Untersuchungen bescheinigt wird, nimmt ein Großteil des Publikums, wie oben gezeigt, an den professionell präsentierten Journalismusprodukten mit Enttäuschung ebenfalls wahr: die subjektive Einfärbung sowie eine Propaganda zugunsten der höchsteigenen Publizistenmeinung. Es kann demnach kaum verwundern, dass immerhin 28 Prozent der Bevölkerung auch Blogger für Journalisten halten.294 Das heißt aber zugleich auch, dass sich jedenfalls ein Teil des deutschen Journalismus von professionellen Standards weit entfernt hat und mit dem Bekenntnis zur Subjektivität auf das Niveau der Blogger hinabgestiegen ist.

293

Schönhagen / Kopp, Bürgerjournalismus, (Fn 292), S. 320.

294

Donsbach u.a., Entzauberung, (Fn 287), S. 120.

objektivität im journalismus

– 341 –

Professionelles Handeln braucht auch im Journalismus ein Richtmaß, welches über das angeborene Kommunikationsverhalten sowie über die durch Anstand und Sitte gebotenen Kommunikationsregeln hinausgeht. Ein solches Richtmaß muss der Tatsache gerecht werden, dass des Journalisten Beruf eben nicht Kommunikation, sondern Vermittlung von Kommunikation ist. Das Richtmaß dafür ist das Unparteilichkeitsprinzip samt seinen Handwerksregeln. Wird dieses Richtmaß außer Kraft gesetzt, schrumpft Professionalität im besten Fall auf ein ›Naturtalent‹, und umgekehrt: In der Orientierung am Unparteilichkeitsprinzip wächst dem Journalisten seine professionelle Kompetenz zu. Das Richtmaß der Unparteilichkeit kann ebenso wie das mit ihr verknüpfte Regelwerk gelehrt, gelernt und eingeübt werden. Für Journalisten sollte dies der unverzichtbare Mindeststandard der Ausbildung sein. Diese Bedingung zur Sicherung der Professionalität wird jedoch unterlaufen durch das diskussionsbedürftige Postulat des ›freien Berufszugangs‹, das suggeriert, potenziell sei Jedermann ein geborener Journalist, der keine Ausbildung brauche – womit sich der Kreis der verschwimmenden Grenzen zwischen Bloggern und Journalisten ein weiteres Mal schließt. Das Problem der professionellen Identität im Journalismus verschärft sich noch, wenn man unter diesen Vorzeichen die Kritik einbezieht, Journalisten seien zu sehr auf die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen versessen, vor allem aber hätten sie viel zu viel Macht. Hinter dieser Kritik verbirgt sich die Gretchenfrage, wer oder was Journalisten zu privilegierter Interessenartikulation sowie zu derartiger Machtausübung legitimiere, wenn sie doch nur ihr subjektives Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen – wie Jedermann. Richtig ist: Subjektivität legitimiert den Journalisten keinesfalls. Legitimation für seine Position und für sein Tun kann er nur gewinnen in seiner Rolle als Vermittler sozialer Kommunikation. In dieser Rolle muss er dann gerade absehen von

– 342 –

das fachstichwort

chen Motiven und Einstellungen. Seine Recherche-, Selektionsoder Transformationsentscheidungen sind in dieser Rolle nicht mehr abhängig von anderen Rollen, die er im Leben auch spielt, also nicht mehr von all dem, was ihm vielleicht als Parteisympathisant, als Konsument von Bioware, als Fan eines Fußballvereins, als Aktienbesitzer oder was ihm sonst noch wichtig und richtig erscheint. Als Vermittler von Kommunikation unterliegen seine Entscheidungen den Regeln der Unparteilichkeitsnorm. Nur wenn er sich deren Bedingungen stellt, gewinnt der Journalist ›Legitimation durch Verfahren‹.295 Unparteilichkeit oder Objektivität nützt also dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit des Journalismus, begründet die professionelle Identität des Journalisten und sichert seinen Entscheidungen und seinem Tun erst Legitimation. Dass der Journalistenberuf auf diese Weise aus der Beachtung und Realisierung des Unparteilichkeitsprinzips gewinnt, muss im Interesse der ganzen Gesellschaft liegen. Denn in mehrfacher Hinsicht zählt auch sie und gerade sie zu den Gewinnern journalistischer Unparteilichkeit. Journalistischer Orientierungsdienst (3) Es ist nicht eine beliebige Dienstleistung, die der Journalist für die Gesellschaft erbringt. Aus einer Vogelperspektive »konstruiert der Journalist [vielmehr] ein verkleinertes ›Modell‹ der sozialen Kommunikationsrealität«,296 eine Art ›Generalkarte‹ des aktuellen Kommunikations- und Gesellschaftsgeschehens für die soziale Orientierung.297 Auch wenn die Konstruktionselemente dieses 295

Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Darmstadt/Neuwied 2 1975, hier insbes. S. 34 und S. 48.

296

Schönhagen, Beobachter, (Fn 20), S. 281.

297

Vgl. S. 309 ff in diesem Band.

objektivität im journalismus

– 343 –

journalistischen Orientierungsmodells noch keineswegs ganz aufgeklärt oder voll durchschaut sind, soviel ist gewiss: Über eine andere oder gar über eine bessere Möglichkeit, das aktuelle Kommunikationsgeschehen von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag übersichtlich wahrnehmbar zu machen, verfügen wir bis heute nicht. Gewiss ist auch, dass ein solches Modell der Kommunikations- und Sozialwelt nur dann einigermaßen zuverlässige Orientierung ermöglicht, wenn es nach den Regeln der Unparteilichkeitsnorm gebaut ist, wenn es die Komplexität der sozialen Kommunikation nach diesen Regeln reduziert. Davon also profitiert die ganze Gesellschaft, jede ihrer Gruppen und ebenso der einzelne Mensch, der sich in seiner Lebenswelt immer wieder neu zurechtfinden muss. Dieser Orientierungsdienst ist die unverwechselbare Leistung des Journalismus für die Gesellschaft. Deshalb kann der ›Journalist‹ nicht ersetzt werden. Würde der Journalist lediglich ›publizistisch‹ agieren, nur seine eigene Meinungsfreiheit verwirklichen oder verwirklichen wollen, er wäre austauschbar durch Jedermann, er wäre ersetzbar und letzten Endes angesichts und dank der neuen Kommunikationstechnologien überflüssig. Würde des Journalisten Dienst nur darin bestehen, dass er mehr oder weniger systematisch Materialbausteine sammelt und daraus verschieden formatierte Texte, Nachrichten, Berichte, Reportagen usw. zusammenbaut, so könnte er über kurz oder lang von intelligenten Computerprogrammen abgelöst werden. Auch von der fachlichen Öffentlichkeit nämlich kaum beachtet, gibt es solche bereits. Zwei oder drei Firmen in den USA operieren damit höchst erfolgreich und bieten seit einigen Jahren Computerberichte an. 2011 soll eine dieser Firmen bereits 400.000 Artikel geliefert haben, 2012 sollen es rund 1,5 Millionen werden. Sport war das erste und bevorzugte Ressort, für das solche ›Robojournalisten‹ arbeiteten, dann folgten Wirtschaftsnachrichten, und inzwischen gibt es erste Versuche

– 344 –

das fachstichwort

und Projekte, Berichte über den amerikanischen Wahlkampf zu fertigen. Das ›Futter‹ für die ›Schreibmaschine‹ sind rohe Textbausteine im Netz, die mit immer ausgeklügelteren Algorithmen durchkämmt und zu Berichten zusammengestrickt werden. Aus Millionen von Twitter-Mitteilungen versucht man so zu destillieren, was die Bevölkerung denkt. Überall, wo große Datenmengen verfügbar sind, die kein Mensch mehr überblicken kann, ist der Einsatz der Text-Maschine sinnvoll, meint einer der Robojournalismus-Unternehmer.298 Mag also schon sein, dass diverse Textbausteine demnächst von Computern kommen. Die wirkliche Arbeit eines Journalisten werden sie nicht übernehmen können. Als Redakteure eines Mediums der informationellen Grundversorgung sind Robojournalisten nämlich untauglich und werden es voraussichtlich auch bleiben. Denn dabei geht es nicht um einzelne Texte und auch nicht nur um sinntreue Wiedergabe von Mitteilungen, sondern um eine annähernd maßstabgerechte Reduktion des gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens als Orientierungsbasis für die Mediennutzer. Weil und solange sie diesen journalistischen Orientierungsdienst bereitstellen, sind deshalb auch Medien oder Programmangebote der informationellen Grundversorgung unverzichtbar. Zwar ist es unbestreitbar, dass für die Alterskohorte der 18- bis 24-Jährigen die Tageszeitung kaum noch eine Rolle spielt; auch Nachrichten und Berichte in Radio und Fernsehen lässt diese Altersgruppe eher links liegen. Dafür surft sie intensiv im Internet und informiert sich angeblich auch über Aktualitäten auf diesem Weg. Nur ist mit solchen Erscheinungen des Medienwechsels und der Me298

Alle Informationen zum ›Robojournalismus‹ sind entnommen aus: Christoph Behrens: Schreibmaschinen. Sie verfassen Texte über Sport und Finanzen: Erste Computerprogramme übernehmen die Arbeit von Journalisten. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 141 vom 21. 6. 2012.

objektivität im journalismus

– 345 –

diennutzung das Schicksal der klassischen Medien keineswegs besiegelt. Prinzipiell nämlich sind alle jene Angebote, die auf der Plattform der neuen Kommunikationstechnik die besondere Attraktivität gerade für die jüngeren Altersgruppen ausmachen, als Mittel der sozialen Orientierung völlig ungeeignet. Dabei nämlich handelt es sich um »Echtzeitkommunikation«. Auf diesem Weg soziale Orientierung erreichen zu wollen, gleicht dem absurden Unterfangen, für ein Territorium eine Karte anzulegen, welche die Landschaft 1 : 1 wiedergibt. Damit würde »eine externe Realität, in der wir uns nicht auskennen, tatsächlich noch einmal verdoppelt, so dass wir uns zweifach nicht auskennen«. 299 Gesellschaftliche Orientierung ist und bleibt nur denkbar und realisierbar mit Hilfe einer repräsentativen Konzentration sozialer Kommunikation. Diese gelingt als journalistische Leistung nur unter Anwendung der Unparteilichkeitsregeln. Solchen Orientierungsdienst vorzuhalten, ist das wirkliche ›Kerngeschäft‹ aller Medien der informationellen Grundversorgung. Und nur wenn sie sich darauf ohne Abstriche einlassen sowie an der Unparteilichkeitsnorm festhalten, sichern sie für die Zukunft auch ihre eigene Existenz. Die Gesellschaft aber, als letztliche Gewinnerin sozialer Orientierung, hat allen Grund auf der Einhaltung dieser Regeln unnachgiebig zu bestehen. Journalistische Kulturleistung (4) Dafür gibt es noch ein weiteres Motiv. Es knüpft unmittelbar an das konstitutive Attribut des Vermittlers an, dass er nämlich »die Keimzelle der Sozialität« bilde, indem er eine Beziehung stiftet, eine Verbindung herstellt zwischen Menschen und Gruppen 299

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 311. (Hervorhebung H. W.)

– 346 –

das fachstichwort

in der Gesellschaft, die voneinander entfernt sind.300 Von der »gemeinschaftsbildenden Kraft« des journalistischen Vermittlers und seines Produkts spricht auch Otto Groth.301 Das Medium der Grundversorgung, die Tageszeitung im besonderen, charakterisiert er als ein »sozifizierendes Instrument«.302 Diese Erkenntnis dämmert gelegentlich auch in der journalistischen Praxis. So apostrophierte der renommierte, oft recht selbstkritische Publizist Herbert Riehl-Heyse die Zeitung als »eine der letzten Klammern einer immer weiter auseinanderdriftenden Gesellschaft« – auch wenn man mit Fug und Recht bezweifeln darf, dass die Voraussetzung, an die diese ›Klammerfunktion‹ notwendig gebunden ist, rundum durchschaut und anerkannt wird.303 Scheinbar funktioniert die kommunikative Verklammerung der Gesellschaft durch ein Medium ganz einfach: Diejenigen, die etwas wissen oder etwas zu sagen haben, und jene anderen, die davon wissen wollen oder wissen müssen, verbindet der journalistische Vermittler. So entsteht ein permanenter Austausch, in dem sich die Wissensbestände anreichern; das Gemeinsamwissen kann in die gemeinsame Beratung überführt, in die gemeinsame Suche nach der Lösung für Probleme des Zusammenlebens eingebracht und für die Zusammenarbeit im Gemeinwesen genutzt werden. Die »Mittlerstellung« des Vermittlers konfiguriert so

300

Vgl. Krämer, Bote, (Fn 96), S. 114; siehe dazu auch S. 225 in diesem Band.

301

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 98, ähnlich S. 38.

302

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 37.

303

Zit. nach Wolfgang Schäuble (Bundesminister der Finanzen): Rede anlässlich der 4. Verleihung des Herbert-Riehl-Heyse-Preises am 4. 5. 2011, (Mskr. S. 4). Vgl. dazu das Gespräch zwischen Herbert Riehl-Heyse und Petra E. Dorsch: Objektivität durch Subjektivität? In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Journalismus & Journalismus. München 1980, (S. 97 - 107), hier insbesondere S. 100 f.

objektivität im journalismus

– 347 –

»eine elementare Kommunikationsgemeinschaft«.304 Sie fundamentiert auf diese Weise ganz buchstäblich die Kommunikationskultur des Gemeinwesens und damit das Gemeinwesen selbst, die Gesellschaft ebenso wie den Staat. Aber auch und gerade die Erfüllung dieser Sozialfunktion setzt voraus, dass der journalistische Vermittler die Neutralität der Mitte unbedingt wahrt, die Distanz zu allen partikularen Kommunikationsinteressen einhält, also unparteilich verfährt. Auf diesen Gewinn an Festigung seines Kommunikations- und Gemeinsamkeitsfundaments ist unter den gegenwärtigen Medienund Kommunikationskonstellationen das demokratische Staatswesen in besonderem Maße angewiesen. Nicht nur Politiker stellen inzwischen fest, dass »die Fülle der Informationen und der rasante Wechsel in den Kommunikationstechnologien (...) auch noch zu einer stärkeren Segmentierung der Gesellschaft führt«. Diese Segmentierung unserer Gesellschaft »bleibt natürlich nicht ohne Wirkung auf unsere politischen Strukturen. Denn wenn wir an Gemeinschaftszugehörigkeit als Voraussetzung für die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips glauben, wird es natürlich kompliziert, wenn wir gar keine gemeinsame öffentliche Debatte mehr haben«. Jedenfalls wird es dann zunehmend »schwieriger, alle Teile dieser segmentierten Öffentlichkeit zu informieren und bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen«. Und noch schwieriger wird es, »für die Entscheidung eine notwendige Bindungswirkung für möglichst alle Teile dieser segmentierten Öffentlichkeit zu erreichen. Und so wird die Gefahr der Lockerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts größer.«305 Eine demokratische Kommunikationskultur, die eine solche Gefahr zumindest mini-

304

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 114.

305

Schäuble, Rede, (Fn 303), (Mskr. S. 4 f).

– 348 –

das fachstichwort

mieren könnte, lässt sich nur entwickeln und konsolidieren mit Hilfe eines Journalismus, der seine Sozialfunktion unparteilich und handwerklich sauber erfüllt. (5) Nun hat sich aber der Journalismus in Deutschland auf kaum einem Sektor so weit von seiner Vermittlerrolle und von der Unparteilichkeitsnorm entfernt wie in der politischen Berichterstattung. Auf die Frage, was ihm am deutschen Journalismus auffalle, antwortete der Schweizer Publizist Frank A. Meyer vor einigen Jahren lapidar: »Die Politikfeindlichkeit der Medien.«306 Als eine Art politische Gegenmacht geriert sich die Publizistik. Dazu gehört, dass die »Protagonisten der ›Vierten Gewalt‹« den Politikern, »die sie so scharf kritisieren«, immer ähnlicher werden: »Die Rollen werden unklar. (...) Journalisten treten nicht als Beobachter, sondern als ›Experten‹ und Schiedsrichter« in den politischen Auseinandersetzungen auf.307 Politische Publizistik verwandelt sich unversehens in publizistische Politik. Der nicht gewählte, der nicht rechenschaftspflichtige, der dazu nicht legitimierte Publizist versucht, sich ›auf Augenhöhe‹ mit dem gewählten, zur Verantwortung gezogenen und legitimierten Politiker zu messen, wohl in der Erwartung, auf diese Weise Bekanntheit, Ansehen und womöglich auch parasitäre Legitimation für sein Geschäft zu gewinnen.308 Insbesondere in Wahlkämpfen tritt dann eine nicht selten konsonante Publizistikmacht an und versucht, Politik und

306

Frank A. Meyer: Zur Verleihung des Otto Brenner Preises 2006 für kritischen Journalismus. In: Otto Brenner Stiftung (Hrsg.): Wissen, Haltung, Werte. Kritischer Journalismus – Gründliche Recherche statt bestellte Wahrheiten. Frankfurt/M 2006, S. 21.

307

Tissy Bruns: Republik der Wichtigtuer. Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 35 f.

308

Siehe dazu Hans Wagner: Deutschland – eine Mediokratie? In: Peter-Cornelius Mayer-Tasch / Heinrich Oberreuter (Hrsg.): Deutschlands Rolle in der Welt des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden 2009, (S. 85 -109).

objektivität im journalismus

– 349 –

– wenn irgend möglich – auch schon die Regierung zu machen. Kommt dann ein Wahlergebnis zustande, das nicht, wie publizistisch erwünscht, ausfällt, dann hat sich nicht die Publizistik geirrt: »Die Wähler haben sich geirrt!«309 Wenn nicht gar, wie 2002 in einem Zeitungskommentar, das Wahlergebnis als »Machtmissbrauch des Volkes« angeprangert wird! 310 Da fragt der erwähnte Schweizer Frank A. Meyer wohl ganz zu Recht: »Suchen sich die Journalisten künftig ein anderes Volk, wenn sie mit dem eigenen unzufrieden sind?«311 Mit einer Vermittlung der Kommunikation zwischen dem Volk und der politischen Elite, wie sie unter den strengen Vorzeichen der Unparteilichkeit demokratiekonstitutiv wäre, hat dies alles nichts mehr zu tun. Seit Tissy Bruns 2007 einen Teil ihrer journalistischen Kollegen als »Wichtigtuer« charakterisierte, ist diese Art »Verwahrlosung des Hauptstadtjournalismus« in mehr als einer Handvoll Insider-Dokumentationen eindrucksvoll und genugsam belegt worden.312 Die Beobachtungen und Untersuchungen lassen keinen Zweifel an der Diagnose: chronische Unparteilichkeitsschwäche an Funktionsplätzen, an denen journalistische Neutralität gefordert wäre. 309

So der Spiegel-Publizist Gabor Steingart im Gespräch mit Lutz Hachmeister. In: Lutz Hachmeister: Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik. München 2007, S. 129.

310

Das wörtliche Zitat überliefert ohne Nennung der Zeitung der damalige Bundesinnenminister Otto Schily: Wieviel Staat braucht die Presse? Rede beim Zeitungskongress am 26. 9. 2005 in Berlin. (Mskr. S. 8.)

311

Laut Süddeutsche Zeitung, zit. nach Gerhard Hofmann: Die Verschwörung der Journaille zu Berlin. Bonn 22007, S. 414.

312

Zu diesem Literatur-Genre gehören Bruns, Wichtigtuer, (Fn 307); Hachmeister, Nervöse Zone, (Fn 309); Hofmann, Verschwörung, (Fn 311) sowie Bussemer, Wutbürger, (Fn 212); und ferner: Leif Kramp / Stephan Weichert: Die Meinungsmacher. Über die Verwahrlosung des Hauptstadtjournalismus. Hamburg 2008; Tom Schimmeck: Am besten nichts Neues. Medien, Macht und Meinungsmache. Frankfurt/M 22010.

– 350 –

das fachstichwort

Die Symptome dieses Befundes sind mit Stichworten wie publizistische »Wichtigtuer« oder »Alphajournalisten« treffend eingekreist: Denn »das Merkmal der ›Alphajournalisten‹ ist die Übernahme einer Prominentenrolle in der Öffentlichkeit, die sie als Personen zum Objekt des öffentlichen Interesses macht. Nicht anders als die Politiker unterliegt das Spitzenpersonal der Medien den Gesetzen der öffentlichen Selbstdarstellung.«313 Ganz gewiss folgen Selbstdarstellung und Selbststilisierung einem Funktionsgesetz der Massenmedien. Aber der Funktionslogik des vermittelnden Journalisten ist ein anderes Gesetz eingeschrieben, das zugleich das Ethos seines Mittleramtes ausmacht: »Fremdvergegenwärtigung durch Selbstneutralisierung.« Dies ist seine spezifisch professionelle »Form von Selbst-losigkeit«: »Die Verkörperung einer fremden Stimme ist nur möglich durch das Aufgeben der eigenen Stimme.«314 Das Zurücktreten des Vermittlers ist Voraussetzung dafür, dass »die Botschaft sich zeigen kann«; oder: Das »Sich-nicht-Zeigen« des Mediums oder auch des personalen Vermittlers »wird zur Bedingung des Etwas-Zeigens«.315 Auch der journalistische Vermittler darf sich also nicht in den Vordergrund spielen, muss sich selbst zurücknehmen zugunsten dessen, was er zu vermitteln hat. Diesbezüglich also hat Wolfgang Clement, vor seinem Wechsel in die Politik selbst gelernter Journalist, seinen Kollegen den Spiegel 313

Bruns, Wichtigtuer, (Fn 307), S. 60.

314

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 118. – Bei Otto Groth, dem Journalismuspraktiker und -theoretiker findet sich übrigens eine interessante Parallele. Groth sieht in der frühen Ausprägung der journalistischen Anonymität (im 19. Jahrhundert) das Bestreben, »die Freiheit und die Objektivität [und] die Selbstlosigkeit« der Presse zu verbürgen. Otto Groth: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde. 4 Bde., Mannheim/Berlin/Leipzig 1928-1930. Hier Band 4, 1930, S. 196, auch S. 180 und S. 193.

315

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 353.

objektivität im journalismus

– 351 –

schon richtig vorgehalten: »Nicht der Bote, sondern endlich wieder die Botschaft« müsse in den Mittelpunkt der politischen Berichterstattung rücken.316 Philosophisch betrachtet, so schreibt Sybille Krämer, sei der Bote oder Vermittler deshalb eine »anstößige Figur«, weil er alles konterkariert, »womit wir das Sprechen in einer theoretisch ambitionierten Perspektive gewöhnlich verbinden«; er erscheine geradezu als das »Gegenmodell« zu dem, »was wir gemeinhin unter ›Kommunizieren‹ verstehen«. Sie konkretisiert dies exemplarisch: der Vermittler »spricht nicht in eigenem, sondern in fremdem Namen. Er denkt und meint nicht [notwendig; H.W.], was er sagt. Er darf, was er sagt, nicht selbst produzieren. Er muss es noch nicht einmal verstehen.«317 Das alles und manches mehr schließt die Unparteilichkeit des Vermittlers ein. Aber darin steckt zugleich eine Ambivalenz von Ohnmacht und Macht. Der idealtypische Bote, auch der ›journalistische‹ Vermittler, ist »diskursiv ohnmächtig«; aber, so fügt Sybille Krämer hinzu, dies sei die Voraussetzung »für die in ihm verkörperte ›Telekommunikation‹ der Macht«.318 Denn durch ihn hindurch und in der Erfüllung seines Mittleramtes wird auch das Wort eines fernen Mächtigen vernehmbar, wir verbreitet und öffentlich. Dem Boten wächst damit Autorität und Geltung zu. Es ist schon bedenkenswert, dass sich hierzu bei Otto Groth eine deutliche Parallele findet, die unmittelbar auf den Journalisten bezogen ist: In der Vermittlungsfunktion komme ein »Dualismus von Macht und Ohnmacht« zum Ausdruck: Ohnmacht, weil der journalistische Vermittler von den Kommunikationsinteressenten als seinen ›Auftraggebern‹ abhän316

Wolfgang Clement in einer Rede zum 25jährigen Bestehen des Wirtschaftsmagazins Impulse ; zit. nach Hofmann, Verschwörung, (Fn 311), S.421.

317

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 119 f.

318

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 119.

– 352 –

das fachstichwort

gig ist und im Dienst ihrer Kommunikation steht; Macht aber, weil er seiner »Unentbehrlichkeit und Unersetzbarkeit« wegen in der heutigen Kulturgesellschaft »einflussreich und gebieterisch« sein könne.319 Beide Male klingt hier, verhalten noch, ein Ton an, den aufzunehmen entscheidend ist: Auch Vermittlung ist eine Macht. Im Ethos der ›Selbstlosigkeit‹, der ›Selbstneutralisierung‹ wird ein besonderes Vermögen manifest, auf das eine fortgeschrittene und fortschrittliche Kulturgesellschaft nicht verzichten kann. Groth beschreibt das wieder im Blick auf den Journalismus sehr pragmatisch: Das Vermitteln hat seine große, allgemeine Kulturbedeutung »dadurch erlangt, dass der Mensch der Neuzeit, weder in der Vereinzelung noch in der Vereinigung, imstande ist, sich unmittelbar alle die sozialen Verbindungen und Beziehungen, alle die Güter und Genüsse, die er braucht oder wünscht, zu verschaffen. Er hat die eigene Übersicht, die eigene Verfügung über die Güter und Mitmenschen verloren.« Daher bedarf er »der Vermittlung geistiger Güter, von Wissen im weitesten Sinne«.320 Sybille Krämer andererseits findet »eine entscheidende Springquelle unserer Kreativität« in dem Vermögen, »an der Stelle eines anderen zu agieren«, »nicht nur im eigenen, sondern auch im fremden Namen zu sprechen«, was auch einschließt, Botschaften so zu verkörpern, dass sie über Raum und Zeit hinweg übertragen werden können und so Intersubjektivität fundieren.321 Wir treffen in den Vermittlungs- und Übertragungsverhältnissen »auf ein Netz kulturfundierender Aktivitäten (...), in denen das Absehen von der eigenen Persönlichkeit nicht als Verfall und Verlust, sondern als eine Art von Produktivität erscheint.«322 319

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 140 f.

320

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 144.

321

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 348 ff.

322

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 342. (Hervorhebung im Original.)

objektivität im journalismus

– 353 –

Sicher sind hier die Akzente unterschiedlich gesetzt. Bezüglich der Konsequenz jedoch herrscht völlige Übereinstimmung zwischen dem, was vor einem halben Jahrhundert der Journalismustheoretiker Groth gefunden hat und den Gedankengängen, die Sybille Krämer unter ganz anderen Vorzeichen in ihrer Medienphilosophie gegenwärtig unternimmt. Dabei geht es um die Balance von (journalistischer) Produktion und (journalistischer) Vermittlung, von Autonomie und Heteronomie, von Selbstdarstellung und Selbstlosigkeit. Groth knüpft an ein »kühnes Wort« des um die Mitte des 19. Jahrhunderts einflussreichen Philosophen Franz v. Baader an und zitiert: »Der Satz, dass die vermittelnde Aktion oder der Vermittler höher steht als die Zuvermittelnden, gilt allgemein.« Jedenfalls, so Groth im Anschluss, darf das Vermitteln »nicht geringer als Erzeugen und Gebrauchen eingeschätzt werden«. »Die Minderbewertung des Vermittlers im allgemeinen« und des (periodisch erscheinendenden) Mediums im besonderen »als eines der an Größe und Aufgabe bedeutsamsten Werkzeuge geistiger Vermittlung muss in der modernen Kulturgesellschaft, insbesondere der Ausschluss alles Vermittelns aus dem Wertbereich des ›Schöpferischen‹, von Grund auf revidiert werden.«323 Sybille Krämer teilt diese Position, erweitert aber deren Geltungsbereich: »Die Rehabilitierung der Heteronomie als eine kulturnotwendige und auch kulturschöpferische Figuration – in diesem Falle in Gestalt der tausendfachen Übertragungsleistungen der Mittlerfiguren – ist (...) zur Relativierung des Absolutismus der Autonomie zweifellos sinnvoll und wichtig.« 324 Die beiden Plädoyers für eine gerechtere Wertschätzung der Unparteilichkeit und für einen Wechsel der Perspektiven dürfen

323

Groth, Vermittelte Mitteilung, (Fn 10), S. 144.

324

Krämer, Bote, (Fn 96), S. 347 f.

– 354 –

das fachstichwort

keinesfalls dahin verstanden werden, dass nun der Absolutismus des demiurgischen Kommunikators durch den Absolutismus des neutralen Vermittlers abgelöst werden soll. Es geht vielmehr darum, ›publizistische‹ Subjektivität und ›journalistische‹ Objektivität je dort und immer dann in ihr Recht zu setzen, wo sie am Platz sind. Eine funktionierende soziale Kommunikation bedarf sowohl des ›Publizisten‹ wie des ›Journalisten‹.325 Jedoch gebührt dem ›Journalisten‹ mit seinem Ethos der Unparteilichkeit ganz sicher ein Vorrang. Denn wenn der unparteiliche Journalist die publizistischen Wortmeldungen und Beeinflussungsversuche nicht versammelt, wenn er sie nicht zu einem kommunikativen Austausch zusammenführt, zerfällt die Gesellschaft »in vor sich hin monologisierende Einzelne und Gruppen, die durch kein Gespräch zueinander finden (...), sondern – einseitig informiert oder zwangsläufig nur an den eigenen Interessen orientiert – zur politischen Tat schreiten«.326

325

Siehe dazu den Abschnitt »Komplementäre Rollen, sozial notwendige Funktionen« S. 232 - 237 in diesem Band.

326

Starkulla, Publizistik, (Fn 79), S. 161 f.

autoren

– 355 –

Die Autoren Ulrich Saxer, 1931 bis 2012; Prof. em., Dr. phil.; Studium der Jurisprudenz, Germanistik und Anglistik in Zürich und in Großbritannien. Promotion 1957 mit einer Arbeit über Gottfried Keller. Danach zunächst Deutschlehrer am Kantonalen Gymnasium Freudenberg. 1966 erster Lehrauftrag am damaligen Journalistischen Seminar der Universität Zürich. 1970 Habilitation an der Philosophischen Fakultät i in Zürich. 1973 ebendort Ernennung zum Assistenzprofessor für »Publizistik mit Berücksichtigung der Kunstsoziologie«. Nach dem Tod von Christian Padrutt, dem Leiter des Züricher Seminars, wurde Saxer 1975 Vorstand des Instituts und blieb es bis zu seiner Emeritierung 1996, ab 1977 als Extraordinarius, ab 1983 als Ordentlicher Professor. Nach der Emeritierung wirkte Saxer von 1996 bis 2001 als Ordinarius für Kommunikationssoziologie an der Università della Svizzera Italiana in Lugano sowie ab 1997 als Honorarprofessor für Publizistik-und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Am 8. Juni 2012 starb Saxer während einer Reise nach München, wo er letzte Absprachen für die Veröffentlichung seines Werkes »Mediengesellschaft« traf, das demnächst erscheint. Saxer war Mitglied zahlreicher medienpolitischer Kommissionen in der Schweiz und in Deutschland. Im Jahr 2000 errichtete er die Ulrich-Saxer-Stiftung zur Nachwuchsförderung in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.

Philomen Schönhagen 1966; Prof., Dr. phil.; 1985 bis 1987 Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Kunstgeschichte und Romanistik an der RuhrUniversität in Bochum; von 1987 bis 1992 in München, zusätzlich mit dem Nebenfach Markt- und Werbepsychologie. 1992 Magisterprüfung. 1993 bis 2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin, 2001 bis 2002 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotion 1997. 2001 Verleihung des »Preises für gute Lehre 2000« des Bayerischen Staatsministers für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Habilitation 2002 an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität München mit einer Arbeit über »Soziale Kommunikation im Internet«. Zum 1. 10. 2002 Berufung auf eine assoziierte Professur für Medien- und Kommunikationswissenschaft (mit den Schwerpunkten

– 356 –

autoren

Kommunikations- und Journalismustheorie, Kommunikations- und Journalismusgeschichte) an der Universität Fribourg/Schweiz. 2006 Ernennung zur Ordentlichen Professorin. 2003 bis 2005 Präsidentin des Departements für Gesellschaftswissenschaften der Universität Fribourg. 2007 bis 2010 Vizedekanin der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg. Seit 2003 Gutachterin für den Schweizerischen Nationalfonds.

Detlef Schröter, 1952; Dr. phil.; nach dem Abitur zunächst Zimmermannslehre. Ab 1974 Studium der Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft), Soziologie, Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre in München. 1978 Magisterprüfung. Anschließend Auslandsaufenthalte und Projektmitarbeit. 1980 bis 1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, von 1985 bis 1988 Geschäftsführer am Institut für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft) der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1986 Promotion. 1991 Gründung des ›Transferzentrums Publizistik und Kommunikation – Institut für Medien- und Marktforschung‹ in München. Lehraufträge an der Universität München sowie an der TU Dresden für Medien- und Wirkungsforschung. Ab 2000 Kooperation mit ›Trend Census. Marktforschung.‹, Essen. 2006 Übersiedelung nach Essen. Seit 2008 Mitglied der Geschäftsführung bei Trend Census.

Hans Wagner, 1937; Prof. em., Dr. phil.; 1954 bis 1960 Studium der Philosophie, der Psychologie und der Zeitungswissenschaft in Dillingen/Do und München. Von 1962 bis 1972 Aufbau und Leitung der Pressestelle der Erzdiözese München und Freising sowie der Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz. Promotion 1965. Ab 1966/67 wiss. Assistent am Institut für Zeitungswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1967 und 1968 Vertretung eines Lehrstuhls für Publizistikwissenschaft an der Universität Salzburg. 1975 Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universität München. 1980 Berufung und Ernennung zum Professor. 1990 bis 1996 Prodekan, 1996 bis 2001 Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Seit 1971 Mitglied des Lehrkörpers sowie von 1981 bis 2005 auch Mitglied des Senats der Hochschule für Politik in München. Seit Ende des Wintersemesters 2001/02 im Ruhestand.