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German Pages [254] Year 2020
Smail Rapic
Normativität und Geschichte Zur Auseinandersetzung zwischen Apel und Habermas
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495820582
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B
Smail Rapic Normativität und Geschichte
ALBER PHILOSOPHIE
A
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Smail Rapic
Normativität und Geschichte Zur Auseinandersetzung zwischen Apel und Habermas
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Smail Rapic Normativity and History On the Debate between Apel and Habermas Together Karl-Otto Apel and Jürgen Habermas conceptualised discourse ethics as the new paradigm of practical philosophy. But it remained a work in progress. From the beginning both authors put their emphasis on different aspects and objected to the discourse theoretical approaches of the other. Habermas believes that Apel’s claim to ultimate justification of ethical fundamental norms is eventually impossible. Against Apel’s strong »apriorism« Habermas introduces his conception of the »detranscendentalised« reason situated in historical-cultural ways of life. Until the late 1980s Habermas was convinced that species history follows a normative logic of development that leads to the Enlightenment’s understanding of morality and of the law. Apel supported this position. Habermas, however, problematised this position further in his main discourse theoretical work Between Facts and Norms (1992) where he points out that his initial theory is precariously close to historico-philosophical speculation. In Between Facts and Norms Habermas introduces a discourse ethical theory of law that is to be understood as the »explication of meaning« of the institutions and forms of discourse of modern democracies. Yet, according to Apel the main problem with this position is that it betrays the universalistic claims of discourse ethics. The present book portrays the complex debate between Apel and Habermas with the aim to flesh out a mediating position that rehabilitates the idea of a normative logic of development and reconstructs this logic from the perspective of the historical genesis of normative legitimacy. About the Author: Smail Rapic, born 1958, is Professor of Philosophy at the Bergische Universität Wuppertal. His main areas of research are Enlightenment, classical German philosophy and 19th century post-Hegelian philosophy, phenomenology and critical social theory. In 2014 he edited the volume »Habermas und der Historische Materialismus« (Habermas and Historical Materialism), and in 2018 »Die Entwicklungslogik der Normativität« (The Developmental Logic of Normativity).
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Smail Rapic Normativität und Geschichte Zur Auseinandersetzung zwischen Apel und Habermas Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas haben die Diskursethik gemeinsam als neues Paradigma der praktischen Philosophie konzipiert. Es blieb work in progress. Beide Autoren setzten von Anfang an unterschiedliche Akzente und erhoben gegen die diskursethischen Entwürfe des jeweils anderen weitreichende Einwände. Habermas hält Apels Anspruch auf Letztbegründung ethischer Grundnormen für uneinlösbar. Er stellt Apels starkem Apriorismus seineonzeption der »detranszendentalisierten« Vernunft gegenüber, die in historischkulturellen Lebensformen situiert ist. Habermas vertrat bis zum Ende der 1980er Jahre die These, dass in der Gattungsgeschichte eine Entwicklungslogik der Normativität wirksam sei, die zum Moral- und Rechtsverständnis der neuzeitlichen Aufklärung hinführe. Apel hat sich dieser Position angeschlossen. Habermas selbst problematisiert sie jedoch in seinem diskursethischen Hauptwerk Faktizität und Geltung (1992) mit dem Argument, sie gerate in die Nähe geschichtsphilosophischer Spekulation. Seine diskursethische Rechtstheorie in Faktizität und Geltung versteht sich als »Bedeutungsexplikation« der Institutionen und Diskursformen moderner Demokratien. Nach Apel läuft dies auf die Preisgabe universalistischer Begründungsansprüche der Diskursethik hinaus. Die Monographie zeichnet die vielschichtige Auseinandersetzung zwischen Apel und Habermas mit dem Ziel nach, eine vermittelnde Position herauszuarbeiten, die die Idee einer normativen Entwicklungslogik rehabilitiert und in dieser Perspektive die historische Genese normativer Geltung rekonstruiert. Der Autor: Smail Rapic promovierte (1997) und habilitierte (2004) am Philosophischen Seminar der Universität Köln. 2005–07 Gastdozent in Kopenhagen, 2007/08 Forschungsaufenthalt an der Karls-Universität Prag. Seit 2010 ist er Professor für Philosophie an der Universität Wuppertal.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49019-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82058-2
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Inhalt
I. 1.
2.
II. 1. 2. 3.
III. 1. 2.
IV. 1. 2. 3.
Einleitung: Apriorität und geschichtliche Faktizität in der Diskursethik Apels und Habermas’ . . . . . . . . . . . . Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen versus Detranszendentalisierung der kommunikativen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufgabe einer Vermittlung der diskursethischen Positionen Apels und Habermas’ . . . . . . . . . . . . . Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns und seine Rekonstruktion der Rationalisierung der Lebenswelt . . . »Lebenswelt« als Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . Die weltgeschichtliche Rationalisierung der Lebenswelt . Apels Anspruch auf Letztbegründung der universalpragmatischen Aussagen über die Geltungsbasis der Rede Die Diskussion zwischen Apel und Habermas über die Möglichkeit ethischer Letztbegründung . . . . . . . . . . Apels diskursethischer Argumentationsansatz . . . . . . Habermas’ Kritik an Apels diskursethischem Letztbegründungs-Anspruch in Transformation der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik seit den späten 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apels Unterscheidung zwischen den Teilen A und B seiner Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die theoretisch-praktische Doppelfunktion von Apels Selbsteinholungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . Habermas’ Kritik an der modifizierten Gestalt der Diskursethik Apels . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 26
36 36 39 41
47 47
50
56 56 58 67 7
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Inhalt
V.
Habermas’ Analyse der Rolle des Rechts im weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozess . . . . . . .
70
VI. Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht in Faktizität und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
VII. Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption in Faktizität und Geltung . . . . . . . 1. Michelmans Zirkel-Einwand gegen Habermas’ Theorem der Fundierung von Legitimität in Legalität . . . . . . 2. Habermas’ Entgegnung auf Michelman . . . . . . . . 3. Die Argumentationslücke in Habermas’ Entgegnung . 4. K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen und ihr systematischer Ort in Faktizität und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . 6. Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem in Faktizität und Geltung . . . . . . . VIII. Die historische Genese normativer Geltung . . . . . . . 1. Das Programm einer dialektischen Vermittlung des Diskurs- und Faktizitätsapriori in Apels Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung . . . . 2. Die Leitthesen der zwischen Apel und Habermas vermittelnden diskursethischen Position . . . . . . . . 3. Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« . . . . . . . . . . . . . . 4. Das ethische Prinzip in Platons Kriton . . . . . . . . . 5. Ciceros Naturrechts-Konzeption . . . . . . . . . . . . 6. Naturrecht und Staat bei Locke . . . . . . . . . . . . 7. Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht .
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85
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86 89 90
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96
. 111 . 119 . 132 . 132 . 139 . . . . .
147 160 188 200 214
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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251
I. Einleitung: Apriorität und geschichtliche Faktizität in der Diskursethik Apels und Habermas’
1.
Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen versus Detranszendentalisierung der kommunikativen Vernunft
Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas haben die Diskursethik gemeinsam als neues Paradigma der praktischen Philosophie konzipiert. Es blieb work in progress. Beide Autoren setzten von Anfang an unterschiedliche Akzente und erhoben gegen die diskursethischen Entwürfe des jeweils anderen Einwände, die zum Teil theoriearchitektonische Grundentscheidungen betreffen. Apel und Habermas haben sich trotz aller Offenheit für Anregungen und Kritik in ihrer freundschaftlich-agonalen Diskussion zunehmend voneinander entfernt. Habermas konstatierte 2003 in seiner Erwiderung auf Apels kritische Auseinandersetzung mit seinem diskursethischen Hauptwerk Faktizität und Geltung (1992), »die Schere zwischen Apels starkem transzendentalen Anspruch« und seinem eigenen »detranszendentalisierten Vorgehen« habe sich in den vorangegangenen Jahrzehnten »weiter geöffnet«. 1 Apels »transzendentale Pragmatik« untersucht die notwendigen Bedingungen der argumentativen Verständigung über Wahrheitsund praktisch-ethische Geltungsansprüche. 2 Apel gewinnt seinen Begriff der »Letztbegründung« durch die Einsicht, dass jeder Verständigungsprozess, der zu konsensfähigen Ergebnissen führen soll, unJürgen Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«. In: D. Böhler/ M. Kettner/G. Skirbekk (Hrsg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. 2003. S. 44–64, hier: 44. Wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005. S. 84–105, hier: 84. 2 Karl-Otto Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998. S. 221–280, hier: 235 f. 1
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Einleitung
hintergehbare Präsuppositionen einschließt: Wer diese bestreitet, gerät in einen »performativen Selbstwiderspruch«, d. h. der Inhalt seiner Behauptungen steht in Widerspruch zu impliziten Voraussetzungen der Tatsache, dass sie geäußert werden. 3 Dies ist z. B. dann der Fall, wenn man sich an einen Gesprächspartner mit dem Satz wendet: »Du existierst nicht« oder für »Dissens als Ziel der Diskurse« plädiert – mit diesem Plädoyer will man ja einen Konsens darüber herbeiführen, dass der Dissens erstrebenswert ist. 4 Das »Apriori der Verständigungsgemeinschaft« im Apel’schen Sinne besteht in denjenigen Argumentationsvoraussetzungen, die nur um den Preis des performativen Selbstwiderspruchs bestritten werden können und zugleich aus keinen höheren Prinzipien ableitbar sind. 5 Zu diesen Argumentationsvoraussetzungen gehört nach Apel ein Inbegriff ethischer Pflichten und Rechte (s. u. Kap. III 1). Er bezeichnet das »Faktum der Argumentation« in seiner Abhandlung »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« (1973), mit der er die Diskursethik auf den Weg gebracht hat, als einen »nicht zu hintergehenden quasi-kartesischen Ansatzpunkt« der philosophischen Reflexion. 6 Hiermit erhebt er den Anspruch auf Letztbegründung ethischer Grundnormen. Habermas stimmt Apel darin zu, dass die konsensorientierte Argumentationspraxis eine ethische Dimension einschließt. 7 Eine diskursethische Letztbegründung im Apel’schen Sinne ist jedoch nach Habermas »weder möglich noch nötig«. 8 Er zieht die Durchführbarkeit von Apels Projekt mit dem Argument in Zweifel, dass der Rekurs auf die notwendigen Bedingungen zielführender Argumentation nicht ausreicht, um die Allgemeinverbindlichkeit ethischer Normen Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 81–193, hier: 159 f. 4 Ebd. 5 Apel: »Einleitung«. In: ders.: Transformation der Philosophie. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1973. Bd. 1, S. 9–76, hier: 61 f.; »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 33–79, hier: 67. 6 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«. In: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2. S. 358–435, hier: 411. 7 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«. In: ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1983. S. 127–206, hier: 140. 8 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«. In: ders: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991. S. 119–226, hier: 195. 3
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
in Bezug auf unsere Lebenspraxis im Ganzen nachzuweisen. 9 Dieser Kritikpunkt ist m. E. berechtigt (s. u. Kap. III 2). Apels Vorhaben ist nach Habermas darüber hinaus insofern entbehrlich, als wir uns »in einer sittlich gleichsam imprägnierten Lebenswelt« bewegen, deren normativer Gehalt ohne Letztbegründungs-Ansprüche expliziert werden könne. 10 Habermas plädiert bereits in seiner ersten Stellungnahme zu Apels Diskursethik dafür, »die Kommunikationsgemeinschaft zunächst als Interaktions- und nicht als Argumentationsgemeinschaft, als Handeln und nicht als Diskurs« aufzufassen. 11 Apel gibt Habermas zwar darin Recht, dass »gesellschaftliches Leben zusammenbrechen« müsste, wenn jeder ethische Normierungen beständig seinen eigenen Interessen unterordnete; Apel insistiert aber darauf, dass der Hinweis auf den faktischen Einfluss sozialer Normenkodices auf unser Handeln nicht an die Stelle einer philosophischen Ethik-Begründung treten könne, wie Habermas gelegentlich suggeriert. 12 Habermas’ programmatische Forderung, die Kommunikationsgemeinschaft zunächst als Interaktions- und nicht als Argumentationsgemeinschaft aufzufassen, entspricht seinem »detranszendentalisierten« Vorgehen, das die »Situierung der Vernunft« in historischkulturellen Lebensformen hervorhebt. 13 In seinem Verständnis der »detranszendentalisierte[n] Vernunft« weicht der »starke Apriorismus« Kantischer Provenienz, den Apel fortschreibt, einer »schwächeHabermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«. In: ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, S. 53–125, hier: 96. 10 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 186 f. Zu Habermas’ Begriff der Lebenswelt und seinen normativen Implikationen s. u. S. 19 f., 36–40. 11 Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1983. S. 153, Anm. 160 (Hervorh. im Text). 12 Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 649–699, hier: 661 f.; »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 243 f. – Habermas erläutert in »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm« seinen Standpunkt, dass das philosophische Ziel der Letztbegründung ethischer Normen für die Lebenspraxis keine Relevanz habe, folgendermaßen: »Die moralischen Alltagsintuitionen bedürfen der Aufklärung des Philosophen nicht. […] Die philosophische Ethik hat eine aufklärende Funktion allenfalls gegenüber den Verwirrungen, die sie selbst im Bewusstsein der Gebildeten angerichtet hat« (in: Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, S. 53–126, hier: 108). 13 Habermas: »Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft«. In: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M. 2005. S. 27–83, hier: 28. 9
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Einleitung
ren Version«: Durch die Anbindung der Vernunft an die Faktizität historisch-kultureller Lebensformen verliert die Abgrenzung von »apriorischem und aposteriorischem Wissen« ihre Trennschärfe. 14 Der Begriff des Apriori wird durch diese Relativierung nicht hinfällig. Habermas sieht die Kernaufgabe der Philosophie in der Bestimmung »allgemeiner und notwendiger Präsuppositionen des verständigungsorientierten Handelns, der argumentativen Rede, der Erfahrung und des objektivierenden Denkens, des moralischen Urteils und der ästhetischen Kritik«. 15 Die Philosophie soll durch die Freilegung dieser Präsuppositionen Kriterien dafür gewinnen, ob Behauptungen als wahr, Selbstcharakterisierungen als authentisch, Handlungsintentionen oder soziale Normierungen als ethisch legitim, Kunstwerke als gelungen anzusehen sind. Die Ausgangsbasis dieses weit gefächerten Programms bildet Habermas’ Analyse der »universale[n] Geltungsbasis der Rede«, worin sein Begriff der kommunikativen Vernunft fundiert ist. 16 Wer »an einem Verständigungsprozess teilnehmen« will, kommt »nicht umhin«, die Geltungsansprüche der Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normativen Richtigkeit zu erheben; 17 den Maßstab der normativen Richtigkeit bildet im Normalfall der gesellschaftlich akzeptierte Normenkodex, er wird nur in gravierenden Konfliktsituationen unter Berufung auf eine höhere Normierung in Frage gestellt. 18 Dass diese vier Geltungsansprüche in allen unseren Sprechakten implizit im Spiel sind, wird daran sichtbar, dass stets vier Formen kritischer Rückfragen bzw. Einwände vorgebracht werden können: Man kann dem jeweiligen Gesprächspartner entgegenhalten, (1) er drücke sich unklar bzw. unverständlich aus, (2) ihm sei ein Irrtum unterlaufen, (3) seine Äußerung sei unaufrichtig, (4) unangeHabermas: »Was heißt Universalpragmatik?« (1976). In: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1984. S. 353– 440, hier: 380, 384; »Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft«, S. 32. – Apel stellt seinen Begriff des Apriori ausdrücklich in die Kantische Tradition (»Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion«. In: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 311–329. 15 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1981. Bd. 2, S. 587. 16 Habermas: »Was heißt Universalpragmatik?«, S. 357. 17 A. a. O., S. 354 f. 18 Vgl. a. a. O., S. 422; Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 108 f.; Thomas McCarthy: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1989, S. 355. 14
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
bracht bzw. normativ inakzeptabel (beleidigend, arrogant, peinlich usw.). Solche Reaktionen indizieren Störungen des Kommunikationsflusses; im Normalfall wird somit die Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normative Richtigkeit unserer Sprechakte unterstellt. 19 Ein Sprecher handelt im Habermas’schen Sinne kommunikativ rational, wenn er bereit ist, auf kritische Anfragen bzw. Einwände gegen die in seinen Sprechakten erhobenen Geltungsansprüche einzugehen. 20 Von der Wahrheit und normativen Richtigkeit seiner Äußerungen muss er seine Gesprächspartner durch das Beibringen von Gründen überzeugen, von seiner Wahrhaftigkeit durch »konsistentes« – verbales wie auch nonverbales – Verhalten. 21 Habermas spricht den genannten Geltungsansprüchen den Status von »allgemeinen und unvermeidlichen« Voraussetzungen der »argumentativen Rede« zu: im Sinne seiner abgeschwächten Version des Begriffs des Apriori. 22 Er vertritt in »Was heißt Universalpragmatik?« die These, dass die philosophische Analyse der Geltungsansprüche sprachlicher Verständigung die Existenz von universalen Kommunikationsvoraussetzungen nicht aus eigener Kraft nachweisen könne und daher der empirischen Überprüfung durch die Linguistik, kognitivistische Entwicklungspsychologie usw. bedürfe. 23 Laut Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns muss sich die philosophische Rationalitätstheorie vom »fallibilistischen Bewusstsein« ihrer Korrigierbarkeit durch empirische Wissenschaften leiten lassen. 24 Mit der Wahl des Titels »Universalpragmatik« grenzt sich Habermas von der Transzendentalpragmatik Apels ab, deren Letztbegründungs-Anspruch zunächst mit der strikten Abgrenzung des philosophischen Aufweises unhintergehbarer und damit apriorischer Habermas: »Was heißt Universalpragmatik?«, S. 355. Irrtümer können auch bei Fragen, Bitten, Absichtserklärungen usw. auftreten. Eine Bitte schließt die Annahme ein, dass sie erfüllbar, eine Absichtserklärung, dass sie realisierbar ist, eine Frage, dass der Angesprochene sie beantworten kann. In analoger Weise kann die Authentizität jeder Äußerung in Frage gestellt werden. Der Sprecher könnte ein ironisches Spiel betreiben, Fangfragen stellen u. ä. 20 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 149, 410. 21 Habermas: »Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns«. In: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 571– 606, hier: 597. 22 Habermas: »Was heißt Universalpragmatik?«, S. 380, 382. 23 A. a. O., S. 384 f. 24 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 587 f. 19
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Einleitung
Präsuppositionen des Argumentierens von empirischen Untersuchungen einhergeht. 25 Apel ist hiervon erst in seiner Stellungnahme zu Habermas’ Faktizität und Geltung implizit abgerückt (s. u. S. 30, 135 ff.). Apel gibt Habermas darin Recht, dass die Geltungsansprüche der Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normativen Richtigkeit zu den notwendigen Präsuppositionen des Argumentierens gehören. 26 Er hält Habermas’ programmatische Forderung nach einer empirischen Überprüfung der universalpragmatischen Aussagen über die notwendigen Voraussetzungen des argumentativen Diskurses allerdings für verfehlt: Eine Letztbegründung der universalpragmatischen Aussagen sei insofern möglich, als auch derjenige, der diese bestreitet, nicht umhin könne, die genannten Geltungsansprüche implizit zu erheben, so dass er in einen performativen Selbstwiderspruch gerate. 27 Habermas nähert sich in seinen »Erläuterungen zur Diskursethik« dieser Auffassung Apels an, indem er den in der Theorie des kommunikativen Handelns formulierten Fallibilismus-Vorbehalt gegenüber der philosophischen Rationalitätstheorie in Hinblick auf seine Analyse der Geltungsbasis der Rede einschränkt: Deren Falsifikation sei im Rahmen der »soziokulturellen Lebensform«, in der »rationale Diskurse« geführt werden können, ausgeschlossen. 28 Ein fundamentaler Wandel dieser Lebensform, an der die Adressaten seiner Theorie faktisch partizipieren, sei zwar grundsätzlich denkbar, hierbei handle es sich jedoch um eine »leere Alternative«, die wir uns nur als »science fiction« ausmalen könnten. 29 In diesem Sinne spricht er seinen universalpragmatischen Kernaussagen den Status der »faktischen Nichtverwerfbarkeit« zu. 30 Er will hierfür allerdings nicht den Titel »Letztbegründung« in Anspruch nehmen, mit dem Apel diejenigen philosophischen Aussagen auszeichnet, »die A. a. O., S. 382 ff.; Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 156 ff.; »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 681. 26 Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 157; »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«. In: Simone Dietz (Hrsg.): Sich im Denken orientieren. Frankfurt a. M. 1996. S. 19– 31, hier: 26 f. 27 »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 655 f. Anm. 7. S. u. Kap. II 3. 28 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 194. 29 Ebd. 30 Ebd. 25
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
deshalb prinzipiell nicht empirisch falsifiziert werden können, weil sie – als Präsuppositionen – im Begriff der empirischen Falsifikation vorausgesetzt sind«. 31 Nach Habermas reklamiert Apel für die Philosophie zu Unrecht einen Bereich infallibler Erkenntnis. 32 Aufgrund der impliziten Modifikation von Apels Letztbegründungs-Anspruch in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung (s. u. S. 136 ff.) lassen sich allerdings ihre unterschiedlichen Einschätzungen des Geltungsstatus der universalpragmatischen Kernaussagen m. E. miteinander in Einklang bringen (s. u. Kap. II 3). Habermas hebt in seinen ersten beiden Aufsatzsammlungen zur Diskursethik trotz seiner Kritik an Apels Letztbegründungs-Anspruch die Gemeinsamkeit ihrer Anliegen hervor: In Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1983) spricht er von der »von Apel und mir vertretene[n] Position«; in den Erläuterungen zur Diskursethik (1991) bekräftigt er, dass der diskurethische Ansatz »in wesentlichen Zügen« von ihnen beiden »gemeinsam vertreten« werde. 33 Er bringt Apels Letztbegründungs-Programm auf die Formel, dass hiermit eine »›steil von oben‹ vorgenommene Geltungsbegründung« intendiert wird: in dem Sinne, dass durch den Aufweis von Präsuppositionen des Argumentierens der Anspruch ethischer Grundnormen auf Allgemeinverbindlichkeit »sozusagen mit einem Schlage« gerechtfertigt werden soll. 34 Nach Habermas kann das Begründungsdefizit dieses Vorgehens nur im Rekurs auf die Verankerung argumentativer Diskurse in »unserer soziokulturellen Lebensform« behoben werden – um den Preis, dass der Begründungsanspruch der Diskursethik herabgestuft wird. 35 Habermas’ Charakterisierung der rationalen Argumentation als einer Praxis, die mit unserer modernen Lebensform »intern« verschränkt ist, entspricht dem zeitgeschichtlichen Anknüpfungspunkt der Diskursethik Apels: 36 Diese soll »das Grundprinzip der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft« eruieren. 37 A. a. O., S. 192; Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 156. Vgl. Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 192. 32 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 192 f. 33 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 131; »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 119. 34 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 192. 35 A. a. O., S. 194. 36 Ebd. 37 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 395. 31
15 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Einleitung
Habermas macht geltend, dass es in den modernen Gesellschaften, deren materielle Reproduktion nur mit Hilfe der Naturwissenschaft und Technik sichergestellt werden kann und deren Rechtsordnungen sich von religiösen Legitimationsmustern abgelöst haben, »für rationale Diskurse keine funktionalen Äquivalente« gibt. 38 In dem Maße, wie wir von unseren soziokulturellen Lebensumständen dazu angehalten werden, uns auf rationale Diskurse einzulassen, können deren ethische Präsuppositionen für unsere Lebenspraxis Verbindlichkeit beanspruchen. Habermas betont in Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln und den Erläuterungen zur Diskursethik, dass sein kritischer Vorbehalt gegen Apels Letztbegründungs-Anspruch nicht auf eine »Preisgabe des moralischen Universalismus« hinauslaufe: Er halte »mit Apel« an einem »für alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte verbindlichen Geltungsanspruch« moralischer Normen fest. 39 Den »Begriff der universalistischen Moral«, die »historisch verschiedene Gestalten annehmen« könne, verankert er im Anschluss an Apel in den »allgemeinen Voraussetzungen von Argumentation überhaupt«. 40 Wie kann Habermas in diesen beiden Aufsatzsammlungen trotz seiner Rückbindung diskursethischer Normierungen an die Faktizität moderner Lebensformen den Begriff einer universalistischen Moral aufrechterhalten? Für die diskursethische Position, die er in dieser Phase seines Denkens vertritt, ist seine Rezeption der Moralpsychologie Lawrence Kohlbergs von zentraler Bedeutung. 41 Kohlberg rekonstruiert die Entwicklung der normativen Urteilskompetenz von Heranwachsenden in modernen Gesellschaften als Abfolge von Lernschritten, deren Zielperspektive eine prinzipiengeleitete Moral sei; zu deren paradigmatischen Vertretern zählt er Kant. 42 Apel und HaberHabermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 194. A. a. O., S. 194 f.; vgl. Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 127 ff. und Apel: »Der postkantische Universalismus in der Ethik im Lichte seiner aktuellen Missverständnisse«. In: ders.: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988. S. 154–178. 40 Habermas: »Was macht eine Lebensform rational?«. In: ders.: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 31–48, hier: 40; »Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Diskussion über ›Stufe 6‹«. In: ders.: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 49–76, hier: 71. 41 Vgl. Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, »Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Diskussion über ›Stufe 6‹«, »Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus«. In: ders: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 77–99. 42 Lawrence Kohlberg: »From Is to Ought«. In: Th. Mishel (Hrsg.): Cognitive Deve38 39
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
mas verstehen ihre Diskursethik als Reformulierung der kantischen Moraltheorie mit kommunikationstheoretischen Mitteln. 43 Laut Habermas’ Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus ist in der Gattungsgeschichte eine zu Kohlbergs ontogenetischer Stufenfolge analoge »Entwicklungslogik« der Normativität erkennbar. 44 Habermas bettet diese These in seiner Theorie des kommunikativen Handelns in die Rekonstruktion eines weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses ein, der zu den modernen aufgeklärten Gesellschaften hinführe (s. u. Kap. II 2). Auf dieser Basis weist er den Verdacht zurück, dass sich im diskursethischen Begriff der Moral »nur kultur- oder schichtspezifische Wertorientierungen« von Mitgliedern zeitgenössischer westlicher Gesellschaften niederschlagen. 45 Die Schranken partikularer Lebensformen werden – so Habermas – in den rationalen Diskursen, die »in modernen Gesellschaften institutionalisiert sind«, insofern »durchbrochen«, als in solchen Diskursen die Reflexionsdefizite vor-aufklärerischer Weltbilder ausgeräumt werden und jeder, der bereit ist zu argumentieren, zur Mitwirkung eingeladen ist. 46 Demzufolge kann die Diskursethik ihren Universalismus damit begründen, dass ihr Moralbegriff die Zielperspektive der »Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit« bilde. 47 Indem Habermas diesen Moralbegriff mit Apel in den allgemeinen Voraussetzungen der Argumentation fundiert, gibt er zu verstehen, dass seine methodische Forderung, die Kommunikationsgemeinschaft zunächst als Interaktions- und nicht als Argumentationsgemeinschaft aufzufassen, nicht darauf hinausläuft, Apels »›steil von oben‹ vorgenommene Geltungsbegründung« pauschal zu verwerfen; Haberlopment and Epistemology. New York 1971. S. 151–236; Kohlberg: »Moralstufen und Moralerwerb: Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz« (1976). In: ders.: Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M. 1994. S. 123–174. S. u. S. 39 f. 43 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 417 ff.; »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht«. In: ders.: Diskurs und Verantwortung, S. 69–102; Habermas: »Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?«. In: ders.: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 9–30, hier: 9. Die Bezüge der Diskursethik zur praktischen Philosophie Kants sollen im Folgenden außer Betracht bleiben. 44 Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976. S. 12 f., 74 ff. 45 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 185. 46 Habermas: »Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Diskussion über ›Stufe 6‹«, S. 71. 47 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 128; »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 185.
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Einleitung
mas verlangt vielmehr, den Rekurs auf die Präsuppositionen des Argumentierens an eine empirisch fundierte Rekonstruktion onto- und phylogenetischer Lernprozesse anzubinden – metaphorisch gesprochen: einen solchen faktenbezogenen ›Weg von unten‹ mit dem Apel’schen ›Weg von oben‹ zusammenzuführen. Diese Aufgabenstellung entspricht Habermas’ detranszendentalisiertem Vorgehen: Die Situierung der Vernunft in historisch-kulturellen Lebensformen soll durch die Kooperation der philosophischen Rationalitätstheorie mit »rekonstruktiv verfahrenden Wissenschaften«, die die Genese von Rationalitätsstrukturen in der Gattungsgeschichte und der Individualentwicklung erforschen, aufgewiesen werden. 48 Es liegt auf der Linie von Habermas’ detranszendentalisiertem Vernunftbegriff, dass er die Annahme einer normativen Entwicklungslogik in der Gattungsgeschichte in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus in die marxistische Deutung der Kultur als eines »Überbauphänomen[s]« integriert: Er fasst die postulierte Entwicklungslogik als ein integrales Moment der »Entwicklungsdynamik« historischer Gesellschaftsformationen auf. 49 Zukunftsweisende gesellschaftliche Umbrüche kommen nach Habermas dadurch zustande, dass Fortschrittstendenzen in der normativen Sphäre unter dem Druck ungelöster sozioökonomischer Konflikte vorangetrieben und für die Reorganisation der Gesellschaft fruchtbar gemacht werden. 50 In diesem Sinne spricht er der normativen Entwicklungslogik eine »Schrittmacherfunktion« in der sozialen Evolution zu. 51 Er intendiert hiermit die Korrektur der reduktionistischen Lesart des marxistischen Basis/Überbau-Theorems, an dem er noch in der Theorie des kommunikativen Handelns grundsätzlich festhält. 52 Gemäß der reduktionistischen Version dieses Theorems, die durch eine Reihe plakativer Aussagen von Marx und Engels nahegelegt wird, determiniert die ökonomische Sphäre alle übrigen Bereiche der GesellHabermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 587 f. Als paradigmatische Beispiele »rekonstruktiv« angelegter Einzelwissenschaften führt Habermas u. a. die Soziologie Max Webers, die genetische Erkenntnistheorie Jean Piagets und die Entwicklungspsychologie Kohlbergs an (ebd.; Habermas: »Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften«. In: ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, S. 29–52, hier: 42 ff.). 49 Habermas: S. 12, 154 f. 50 A. a. O., S. 36 f. 51 A. a. O., S. 176. 52 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 265. 48
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
schaft. 53 Ökonomische Entwicklungen können jedoch von ihren normativen Rahmenbedingungen befördert oder gehemmt werden; dies wird in exemplarischer Weise am unterschiedlichen Tempo der kapitalistischen Modernisierung in den protestantischen und katholischen Ländern deutlich. 54 Habermas weist darauf hin, dass Marx und Engels eine solche ›nicht-reduktionistische‹ Version des Basis/ Überbau-Theorems selber ins Auge gefasst haben. 55 Habermas ordnet die Unterscheidung zwischen der normativen Entwicklungslogik und der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen in seiner Theorie des kommunikativen Handelns der methodischen Doppelperspektive von »System« und »Lebenswelt« zu. 56 Sein Begriff der Lebenswelt bezieht sich in der Perspektive sozialer Akteure in erster Linie auf die Gesellschaft, im erweiterten Sinne auch auf die Natur; der hierzu komplementäre Begriff des Systems ist an den wissenschaftlichen Beobachter-Standpunkt angeMarx schreibt im Vorwort zu seiner Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859): »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt« (Marx/Engels: Werke. 39 Bde., 1 Erg.-Bd. Berlin 1956 ff. Bd. 13, S. 8 f.). Ähnlich: Marx/Engels: Die Deutsche Ideologie (1845/46), Marx/ Engels: Werke, Bd. 3, S. 26 f.; Engels: Anti-Dühring (31894), Marx/Engels: Werke, Bd. 20, S. 248 f. 54 Max Weber: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. In: Max Weber-Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang Schluchter u. a. Tübingen 1984 ff. Abt. I, Bd. 18, S. 123–148; Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 307 ff.; Bd. 2, S. 465 ff. 55 Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 157 f. Engels erkennt in seinem Brief an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890 der politischen Sphäre eine »Eigenbewegung« zu, die in »Wechselwirkung« mit der »ökonomischen Bewegung« stehe (Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 490). Marx und Engels teilen die Überzeugung der Aufklärung, dass die gattungsgeschichtlichen »Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes« zu einer »wirklich menschliche[n] Moral« hinleiten (Marx: »Zur Judenfrage« (1843/44). In: Marx/Engels: Werke, Bd. 1, S. 349; Engels: Anti-Dühring, Marx/Engels: Werke, Bd. 20, S. 88). Der Gedanke einer normativen Entwicklungslogik wird im Historischen Materialismus allerdings nicht systematisch ausgearbeitet. 56 Vgl. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 218, 231 f. 53
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Einleitung
bunden. 57 Habermas’ Begriff der kommunikativen Vernunft gibt den Leitfaden seiner Rekonstruktion der weltgeschichtlichen Rationalisierung grundlegender Weltbildstrukturen vor, in die die jeweils dominierenden sozialen Normenkodices eingebunden sind: Der Zuwachs an kommunikativer Rationalität besteht in der fortschreitenden Erhöhung der Anforderungen an die Ausweisung der Geltungsansprüche, die mit unseren Sprechakten verbunden sind (s. u. S. 39 f.). Da wir einander in Kommunikationsprozessen als handelnde Personen begegnen, siedelt Habermas dieses Rekonstruktionsprogramm in der lebensweltlichen Perspektive an. 58 Demgegenüber soll die Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen gemäß der Architektonik der Theorie des kommunikativen Handelns vom systemfunktional orientierten Beobachter erforscht werden. Er untersucht die systemischen Effekte der kommunikativen Rationalisierung von Weltbildstrukturen und Normenkodices. Die von Talcott Parsons begründete soziologische Systemtheorie bildet einen zentralen Anknüpfungspunkt von Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus. 59 Habermas wendet sich mit seinem detranszendentalisierten Vernunftbegriff nicht bloß gegen Apels Letztbegründungs-Programm, er hält darüber hinaus jeden Versuch für aussichtslos, den Anspruch ethischer Pflichten auf Allgemeinverbindlichkeit für unsere Lebenspraxis im Ganzen mit rein philosophischen Mitteln zu begründen. 60 Habermas und Apel sind sich darin einig, dass die für metaphysische Ethik-Konzeptionen zentrale Ableitung von Sollens-Forderungen aus Seins-Aussagen von Hume entkräftet wurde. 61 Die kommunikative Vernunft, deren Explikation das philosophische Kernanliegen Habermas’ und Apels bildet, ist nach ihrem Verständnis eine nachmetaphysische. Während Apel – wie Habermas es prägnant formuliert – »die kommunikative Vernunft in ihrem Kern als moralischpraktische Vernunft begreift«, vertritt er selbst den Standpunkt, dass sie nicht »per se eine Quelle für Normen des richtigen Handelns« sei: Wer ihr folge, begegne nirgends »dem präskriptiven ›Muss‹ einer A. a. O., Bd. 2, S. 179, 588; Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 146 f. 58 A. a. O., Bd. 2, S. 118 ff. 59 Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 40, 186 ff. 60 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 190 f. 61 Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 140; Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 378. 57
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
Handlungsregel« – »ob sich dieses nun deontologisch auf die Sollgeltung eines moralischen Gebots, axiologisch auf eine Konstellation bevorzugter Werte oder empirisch auf die Wirksamkeit eines technischen Imperativs zurückführen lässt«. 62 Die Geltung der moralischen Normen, die die Diskursethik in den Präsuppositionen des Argumentierens verankert, ist nach Habermas ebenso wie die von individuellen oder kollektiven Wertorientierungen mit der Faktizität soziokultureller Lebensformen verwoben und daher nur insoweit verbindlich, als die Argumentationspraxis für uns »unausweichlich« ist: in dem Sinne, dass die Verweigerung argumentativer Diskurse dem Ausstieg aus der Lebensform, in der wir sozialisiert worden sind, gleichkäme – und damit einem Bruch mit der eigenen kulturellen Identität. 63 Habermas’ Standpunkt, dass moralischen Normen nicht der Status eines präskriptiven »Muss« in einem starken deontologischen Sinne zukommt, schließt die These ein, dass es keine »Supernorm« gibt, die uns dazu verpflichtet, diskursethische Einsichten in die Tat umzusetzen. 64 Habermas unterstellt Apel in seinen »Erläuterungen zur Diskursethik«, eine »Supernorm« zu postulieren: »Apel stattet die praktische Vernunft nicht nur mit einem epistemischen Anspruch, sondern mit einer weitergehenden existentiellen Verbindlichkeit aus«. 65 Apel führt Habermas’ Einschätzung allerdings auf ein
Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 190 f. Habermas versteht unter »Werten« kulturspezifische Maßstäbe für ein erfülltes Leben (»Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft«. In: ders.: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 100–118). 63 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 194. Vgl. Habermas: »Lawrence Kohlberg und der Neoaristotelismus«, S. 97 f. 64 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 187 f. Gemäß dem starken deontologischen Verständnis ethischer Pflichten ist ihre Geltung eine unbedingte. Kant vertritt eine solche Deontologie in paradigmatischer Weise in seiner Moralphilosophie. Habermas wendet die Termini »deontologisch« bzw. »deontisch« allerdings auch in einem schwachen Sinne auf seine eigene Diskursethik an (Faktizität und Geltung, S. 190, 310 f.; Habermas: »Einleitung«. In: ders.: Diskursethik (= Philosophische Texte. Studienausgabe. Bd. 3). Frankfurt a. M. 2009. S. 9–30, hier: 18). Hiermit grenzt er seine gemeinsame diskursethische Ausgangsbasis mit Apel – die Verankerung moralischer Normen in den Präsuppositionen des Argumentierens – von teleologischen Ethik-Konzeptionen ab, die normative Vorschriften mit ihrer Tauglichkeit zur Erlangung vorgängiger Zwecke rechtfertigen (Habermas: Faktizität und Geltung, S. 190). Im Folgenden soll der Begriff der Deontologie im starken Sinne verwendet werden. 65 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 187 f. 62
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Einleitung
Missverständnis zurück. 66 Er räumt in seinem Artikel »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, der ein Jahr vor Habermas’ »Erläuterungen zur Diskursethik« veröffentlicht wurde, ein, dass »der gute Wille zur praktischen Umsetzung der transzendental-reflexiven Einsicht« in diskursethische Normierungen niemandem »andemonstriert« werden kann. 67 Die entscheidende Differenz zwischen den diskursethischen Positionen Apels und Habermas’ betrifft nicht die Motivationskraft ethischer Einsichten, sondern den Geltungsstatus diskursethischer Normierungen: Habermas wendet gegen Apels Vorhaben, deren Allgemeinverbindlichkeit unmittelbar in der kommunikativen Vernunft zu verankern, m. E. zu Recht ein, dass die Geltung der normativen Präsuppositionen des Argumentierens nicht per se über die Diskurssituation hinausreicht. Habermas’ Zielsetzung in Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln und den Erläuterungen zur Diskursethik, den Begriff der universalistischen Moral gegen den Relativismus mit Hilfe des Theorems einer onto- und phylogenetischen Entwicklungslogik der Normativität zu verteidigen, blieb weitgehend programmatisch. In »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« – seiner wichtigsten entwicklungslogischen Abhandlung – fehlt eine zureichende Begründung der Kernthese, dass der entwicklungslogische Fortschritt zu einer »Moralisierung« der sozialen Welt im Ganzen führe. 68 Habermas hat diese These in Faktizität und Geltung revidiert und hiermit seine diskursethische Position tiefgreifend verändert. Der moralische Universalismus, den er in Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln und den Erläuterungen zur Diskursethik gemeinsam mit Apel vertritt, erkennt der Moral eine Begründungsfunktion für das positive Recht zu. In Faktizität und Geltung verwirft Habermas jedoch den Standpunkt, dass die Moral dem Recht »im Sinne einer Normenhierarchie« übergeordnet ist. 69 Er fundiert den diskursethischen Moralbegriff und das ethisch legitime Recht Apel: »Auflösung der Diskursethik?«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 727–837, hier: 766 f. 67 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung«. In: Apel/R. Pozzo (Hrsg.): Zur Rekonstruktion der praktischen Vernunft. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. S. 62–123. Wieder abgedruckt in: Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 221–280, hier: 236. 68 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 179. S. u. S. 157 f. 69 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 137. 66
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
nun »gleichursprünglich« in einem »Diskursprinzip«, das gegenüber der Differenz von Moral und positivem Recht »noch neutral ist«. 70 Wie weit die Abstriche am moralischen Universalismus in Faktizität und Geltung reichen, zeigt sich daran, dass die Menschenrechte dort im »Demokratieprinzip«, das auf Partikularstaaten bezogen ist, verankert werden. 71 Dies geht mit einer Reduzierung des Begründunganspruchs der Diskursethik einher. In Faktizität und Geltung behält das »überlieferte Konzept der praktischen Vernunft« lediglich »einen gewissermaßen heuristischen Stellenwert. Es dient nicht mehr unmittelbar der Anleitung zu einer normativen Theorie des Rechts und der Moral. Einen Leitfaden bildet es vielmehr für die Rekonstruktion jenes Geflechts meinungsbildender und entscheidungsvorbereitender Diskurse, in das die rechtsförmig ausgeübte demokratische Herrschaft eingebettet ist«. 72 Die Theorie der Menschenrechte in Faktizität und Geltung versteht sich dementsprechend als »Bedeutungsexplikation« der demokratischen Willensbildung von Staatsbürgern, die »sich nicht auf Gründe metaphysischer oder religiöser Art stützen« dürfen, in Hinblick auf ihre »Präsuppositionen«. 73 Habermas’ Abkehr vom moralischen Universalismus in Faktizität und Geltung ist – wenn ich recht sehe – dadurch motiviert, dass er den Geltungsstatus des Theorems einer Entwicklungslogik der Normativität in diesem Buch problematisiert, ohne eine Lösung anzubieten. Man kann die postulierte Entwicklungslogik weder in der Teleologie einer überzeitlichen Menschheitsvernunft verankern noch »dem zufälligen Fundus gelungener Überlieferungen« entnehmen. 74 Im ersten Fall läge der Vorwurf des geschichtsphilosophischen Dogmatismus auf der Hand, im zweiten Fall wäre der Einwand unabweisbar, dass kontingente Fakten keine innere Logik enthalten können. In Faktizität und Geltung schlägt sich der skeptische Vorbehalt gegenüber der Idee einer normativen Entwicklungslogik in einer Modifikation der Architektonik einer rationalitätstheoretisch verankerten, in Kooperation mit rekonstruktiv verfahrenden Einzelwissenschaften auszuarbeitenden kritischen Gesellschaftstheorie nieder, die
70 71 72 73 74
A. a. O., S. 138. S. u. S. 81 f. A. a. O., S. 135 f., 154 ff. A. a. O., S. 19. A. a. O., S. 166. A. a. O., S. 17.
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Einleitung
Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns entworfen hat. Die Doppelung von lebensweltlicher Teilnehmer- und systemischer Beobachterperspektive kehrt in Faktizität und Geltung wieder. 75 Habermas hat darauf hingewiesen, dass seine programmatischen »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts« in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus – längere Passagen dieses Textes werden in der Theorie des kommunikativen Handelns übernommen 76 – bereits den »Grundgedanken von Faktizität und Geltung« enthalten: 77 Er besteht in der These, dass die Rationalisierungsgewinne, die das Recht in der europäisch geprägten Neuzeit erzielt hat, ambivalent bleiben und daher auf der theoretischen Ebene diskursethisch fundiert und auf der praktischen an die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit angebunden bleiben müssen, wenn die Rechtsentwicklung zu einem nachhaltigen Freiheitsgewinn der Staatsbürger führen soll. 78 Sowohl in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus als auch in der Theorie des kommunikativen Handelns bildet die Konzeption der normativen Entwicklungslogik als eines integralen Momentes der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen den theoriearchitektonischen Rahmen für die Analyse der Evolution des Rechts. 79 Habermas rekapituliert im Anfangsteil von Faktizität und Geltung in summarischer Form seine Rekonstruktion der Rationalisierung der Lebenswelt in der Theorie des kommunikativen Handelns. 80 Hiermit soll allerdings nur die faktische Genese der modernen demokratischen Rechtsstaaten skizziert werden. Habermas reduziert das Theorem einer normativen Logik der Gattungsgeschichte in Faktizität und Geltung und Die Einbe-
A. a. O., S. 19 ff., 40, 77 f. S. u. Kap. V. Habermas: »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«. In: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 260–267; Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 351 ff. 77 Habermas: »Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch«. In: Smail Rapic (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus. Freiburg/München 2014. S. 295. 78 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 59, 105 ff., 187 ff. Vgl. Habermas: »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«, S. 266 f. S. u. S. 72 f., 83 f. 79 Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 266, 267 Anm. 1.; ders.: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 350 f.; Bd. 2, S. 463 ff. 80 A. a. O., S. 20, 39–44. 75 76
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Letztbegründung transzendentaler Argumentationsvoraussetzungen
ziehung des Anderen 81 auf die Tatsachenfeststellung, dass die signifikanten Wandlungen der gesellschaftlich dominierenden Normenkodices in der Weltgeschichte als fortschreitende Annäherung an das Moral- und Rechtsverständnis moderner aufgeklärter Gesellschaften begriffen werden können. In Faktizität und Geltung werden somit an der Programmatik der Theorie des kommunikativen Handelns Abstriche gemacht. Sie knüpft an die Konzeption einer »Selbstreflexion der Gattungsgeschichte« im Historischen Materialismus an. 82 Habermas zitiert in der Theorie des kommunikativen Handelns seine Erläuterung dieser Konzeption in der Einleitung zur Neuausgabe von Theorie und Praxis (1971): »Der Historische Materialismus will eine Erklärung der sozialen Evolution leisten, die so umfassend ist, dass sie sich auch noch sowohl auf den Entstehungs- wie auf den Verwendungszusammenhang der Theorie selber erstreckt. Die Theorie gibt die Bedingungen an, unter denen eine Selbstreflexion der Gattungsgeschichte objektiv möglich geworden ist; und sie nennt zugleich den Adressaten, der sich mit Hilfe der Theorie über sich und seine potentiell emanzipative Rolle im Geschichtsprozess aufklären kann. Mit der Reflexion ihres Entstehungs- und der Antizipation ihres Verwendungszusammenhangs begreift sich die Theorie selbst als ein notwendiges katalysatorisches Moment desselben gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, den sie analysiert, und zwar analysiert sie ihn als einen integralen Zwangszusammenhang unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen Aufhebung.« 83
Diese Beschreibung der selbstreflexiven Struktur des Historischen Materialismus lässt sich insofern auf Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns applizieren, als die dort vorgenommene Rekonstruktion der weltgeschichtlichen Rationalisierung von Weltbildstrukturen und sozialen Normenkodices im Kontext der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen den Entstehungszusammenhang der Theorie des kommunikativen Handelns aufhellen soll, während Habermas’ Anspruch, dass die Formulierung eines adäquaten Begriffs kommunikativer Rationalität der Auszehrung öffentlicher Diskurse durch die Eigendynamik ökonomischer Mechanismen und politischer Machtstrukturen entgegenwirken könne, Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«. In: ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a. M. 1996. S. 11–64. 82 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 590 f. 83 A. a. O., S. 591, Anm. 139. Vgl. Habermas: Theorie und Praxis. Neuausgabe. Frankfurt a. M. 1971. S. 9. 81
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Einleitung
den Verwendungszusammenhang der Theorie betrifft. 84 Habermas hat das Programm einer Selbstreflexion der Gattungsgeschichte kurz nach der Veröffentlichung der Theorie des kommunikativen Handelns aufgegeben. 85 Die Zweifel an seiner Realisierbarkeit schlagen sich in Faktizität und Geltung in der Abkehr von jeder »Geschichtsphilosophie« und der Herabstufung des theoretischen Anspruchs der Konzeption einer gattungsgeschichtlich wirksamen Entwicklungslogik der Normativität nieder. 86 Mit der skizzenhaften Beschreibung der »Rationalisierung der Lebenswelten moderner Gesellschaften« in Faktizität und Geltung sollen lediglich die Rechtsordnungen der zeitgenössischen, »weitgehend profanisierten« demokratischen Staaten vom religiös fundierten Rechtsverständnis traditionaler Gesellschaften abgegrenzt werden. 87 Dieser Abriss des Entstehungszusammenhangs von Habermas’ Diskurstheorie des Rechts fokussiert die gegenwärtige »Situation«, auf die die Theorie in kritisch-emanzipatorischer Absicht reflektiert, und erhebt keinen umfassenden gattungsgeschichtlichen Erklärungsanspruch. 88
2.
Die Aufgabe einer Vermittlung der diskursethischen Positionen Apels und Habermas’
Mit Habermas’ programmatischer Leitthese in Faktizität und Geltung, dass die diskursethische Funktion der kommunikativen Vernunft in der Rekonstruktion »jenes Geflechts meinungsbildender und entscheidungsvorbereitender Diskurse« besteht, in das die rechtsförmig ausgeübte Herrschaft in modernen Demokratien eingebettet ist, 89 hat sich die Schere zwischen seinem detranszendentalisierten Vorgehen und dem Begründungsprogramm Apels weiter geöffnet. Vgl. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 590 f. Habermas: »Entgegnung auf Manfred Baum«. In: Rapic (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus, S. 65. 86 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 16 f. Das Programm einer Selbstreflexion der Gattungsgeschichte trägt hegelianische Züge (Habermas: »Entgegnung auf Manfred Baum«, S, 65). In Faktizität und Geltung bringt Habermas seine »Scheu« vor Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie zum Ausdruck, die »für uns unerreichbare Maßstäbe gesetzt« habe (S. 9). 87 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 20, 42 f., 95 f. 88 A. a. O., S. 42 f. 89 A. a. O., S. 19. 84 85
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Die Aufgabe einer Vermittlung der diskursethischen Positionen
Nach Apel laufen die Abstriche am moralischen Universalismus in Faktizität und Geltung auf die Preisgabe »echter normativer Begründungsargumente« hinaus. 90 Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im partikularstaatlichen Demokratieprinzip ist m. E. berechtigt. 91 Hiervon ist Habermas’ These der fundamentalen Ambivalenz des modernen Rechts, die er als den Grundgedanken von Faktizität und Geltung bezeichnet (s. o. S. 24), allerdings nicht betroffen. Dass Apel seinen Vorwurf, das Projekt der Diskursethik drohe sich in Faktizität und Geltung »definitiv aufzulösen«, so zugespitzt vorbringt, hat nicht den Charakter einer rein immanenten Habermas-Kritik; Apel legt vielmehr seine eigenen Begründungsforderungen als Maßstab an Faktizität und Geltung an. 92 Die Zielsetzung der vorliegenden Abhandlung, die diskursethischen Positionen Apels und Habermas’ miteinander zu vermitteln, ist dadurch motiviert, dass auf der einen Seite Apels ethischer Letztbegründungs-Anspruch uneinlösbar ist und auf der anderen Seite Habermas’ programmatische These in Faktizität und Geltung, dem überlieferten Konzept praktischer Vernunft komme nur noch die heuristische Funktion einer Bedeutungsexplikation von Diskursen in modernen demokratischen Rechtsstaaten zu, problematische Konsequenzen für die Theorie der Menschenrechte hat. Apel insistiert m. E. zu Recht darauf, dass der Universalitätsanspruch der Menschenrechte einer moralischen Fundierung bedarf. 93 Den Ausgangspunkt des Vermittlungsprogramms dieser Abhandlung bildet Habermas’ Vorhaben in den 1980er Jahren, Apels diskursethische Geltungsbegründung ›von oben‹, d. h. den Rekurs auf die Präsuppositionen des Argumentierens, mit einem Weg ›von unten‹ – der empirisch fundierten Rekonstruktion normativer Lernprozesse in der Gattungsgeschichte und Individualentwicklung – zusammenzuführen. Dieses Vorhaben steht und fällt mit dem Theorem einer Entwicklungslogik der Normativität. In der neueren Forschung sind grundsätzliche Zweifel an der Erklärungskraft der moralpsychologischen Forschungen Kohlbergs, an die Habermas anknüpft, ge-
Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 751. Habermas: Faktizität und Geltung, 3. Kap.: »Zur Rekonstruktion des Rechts (1): Das System der Rechte«, S. 109–165; Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 747 ff., 818 ff. S. u. Kap. VII 5. 92 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 733. 93 A. a. O., S. 818 ff. 90 91
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Einleitung
äußert worden. 94 Ich möchte versuchen zu zeigen, dass eine gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik der Normativität ohne theoretische Anleihen bei der Moralpsychologie Kohlbergs rekonstruiert werden kann und das von Habermas in Faktizität und Geltung aufgeworfene Problem, wie kontingente Fakten in eine normative Entwicklungslogik integriert werden können, ohne dass man in einen geschichtsphilosophischen Dogmatismus verfällt, im Rekurs auf die Diskursethik Apels lösbar ist. Apel greift mit seinem – in der Aufsatzsammlung Diskurs und Verantwortung (1988) eingeführten – »Selbsteinholungsprinzip der rekonstruktiven Wissenschaften« Habermas’ Theorem der Rationalisierung der Lebenswelt auf. 95 Apel reserviert den Terminus »rekonstruktive Wissenschaften« nicht – wie Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns 96 – für diejenigen empirischen Disziplinen, die die Herausbildung von Rationalitäts-Maßstäben in individual- und gattungsgeschichtlichen Lernprozessen untersuchen, sondern subsumiert darunter auch die philosophische Analyse der impliziten Voraussetzungen der argumentativen Rede, was sich mit Habermas’ Sprachgebrauch in »Was heißt Universalpragmatik?« und »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« berührt. 97 Das Selbsteinholungsprinzip besteht in methodischer Hinsicht in der Forderung, »die eigene Rationalität als Ergebnis eines geschichtlichen Lernprozesses zu verstehen«, d. h. die historische Genese der eigenen Rationalitätsmaßstäbe zu rekonstruieren; in inhaltlicher Hinsicht schließt das Selbsteinholungsprinzip die These ein, dass »der argumentative Diskurs und seine Präsuppositionen« als »schon erreichtes und der Möglichkeit nach erreichbares Telos des RationalisierungsVgl. die Artikel von Gertrud Nunner-Winkler »Zur Reichweite des ontogenetischen Konzepts der Entwicklungslogik« und Matthias Kettner »Ohne Entwicklungslogik. Diskursethik und moralische Normativität diesseits von Kohlberg« in: Smail Rapic (Hrsg.): Die Entwicklungslogik der Normativität. Probleme und Perspektiven. Freiburg/München 2018. 95 Apel: »Zurück zur Normalität?«. In: ders.: Diskurs und Verantwortung, S. 370– 474, hier: 471. 96 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 587 f. S. o. S. 18. 97 Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 658 f.; ders.: »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«, S. 19–31, hier: 28 f.; Habermas: »Was heißt Universalpragmatik?«, S. 363, 382. In »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« zählt Habermas auch die Diskursethik zu den »rekonstruktive[n] Wissenschaften« (»Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 127). 94
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Die Aufgabe einer Vermittlung der diskursethischen Positionen
prozesses der Lebenswelt unterstellt werden muss«. 98 Apel knüpft mit der konkreten Ausgestaltung dieses Prinzips an die Architektonik von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und zugleich an die Idee einer Selbstreflexion der Gattungsgeschichte im Historischen Materialismus an (s. u. Kap. IV 2). Der genuin Apel’sche Aspekt des Selbsteinholungsprinzips besteht in der These, dass die Diskursethik durch die Reflexion auf ihre eigenen geschichtlichen Voraussetzungen eine über die Gegenwart hinausreichende moralische Fortschrittsperspektive gewinnt, die allgemeinverbindliche normative Forderungen vorzeichnet. 99 Apels Selbsteinholungsprinzip schließt das Theorem einer gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität als eines integralen Moments der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen ein. 100 Das Selbsteinholungsprinzip ermöglicht die Auflösung der in Habermas’ Faktizität und Geltung benannten drohenden Aporie dieses Theorems, wobei allerdings Habermas’ Einwände gegen die Apel’sche Diskursethik zu einer Modifikation ihrer Architektonik zwingen (s. u. Kap. VIII 2, 7). Apel gliedert seine Diskursethik seit den späten 1970er Jahren in einen »Teil A«, worin die Präsuppositionen des Argumentierens »geschichtsabstraktiv« formuliert werden, und einen »Teil B«, in dem er die »Begründung bzw. Rekonstruktion konkreter, situationsbezogener« Normen und zugleich das Selbsteinholungsprinzip verortet. 101 Habermas weist m. E. zu Recht darauf hin, dass Apels Unterscheidung der Teile »A« und »B« seiner Diskursethik revidiert werden Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 471; »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?« In: ders: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 649–699, hier: 688; ders.: »Die Konflikte unserer Zeit und das Erfordernis einer ethisch-politischen Grundorientierung. In: ders.: Diskurs und Verantwortung, S. 15–41, hier: 50. 99 Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 470 f. 100 Vgl. Apel: »Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«. In: ders.: Diskurs und Verantwortung, S. 306–369, hier: 307 f., 312; ders.: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 281–412, hier: 403–408. S. u. S. 60–64. 101 Apel: »Kann der postkantische Standpunkt der Moralität noch einmal in substantielle Sittlichkeit ›aufgehoben‹ werden?«, S. 134; »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 250, 260; »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 680. S. u. Kap. IV 1–2. 98
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Einleitung
muss. 102 Apel favorisiert eine lineare Begründungsstruktur dieser beiden Teile, der gemäß B aus A »hergeleitet« werden kann. 103 Er relativiert diese Konzeption allerdings in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung, indem er die historischen Voraussetzungen des Teils A berücksichtigt und dem Selbsteinholungsprinzip eine Fundierungsfunktion für den Anspruch der dort formulierten Normen auf Allgemeingültigkeit zuspricht (s. u. Kap. VIII 1). Hiermit schwächt er seinen ethischen Letztbegründungs-Anspruch unter der Hand ab. Dessen ursprüngliche Fassung in »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« zielt im Ausgang vom »apriorischen Faktum der Argumentation« als einem »nicht zu hintergehenden quasi-kartesischen Ansatzpunkt« auf eine unbezweifelbar gewisse Normenbegründung ab.104 Demgegenüber schließt das Selbsteinholungsprinzip den Begriff des »Faktizitäts-Apriori« unserer »geschichtlich-kontingenten Lebensform«, das Apel auch als »Kontingenz-Apriori« bezeichnet, ein. 105 Apel trägt hiermit der Einbindung des »Faktum[s] der Argumentation« in den von kontingenten Fakten durchzogenen Verlauf der Weltgeschichte Rechnung. Der Begriff des Kontingenz-Apriori bricht die von Apel zunächst postulierte Dichotomie von apriorischen und aposteriorischen Aussagen auf. 106 Mit der Rückbindung des Teils A seiner Diskursethik an geschichtliche Faktizität in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung rückt Apel implizit vom kartesischen Duktus seines ursprünglichen Letztbegründungs-Programms ab (s. u. S. 136 f.). Die Position, die er hiermit bezieht, wird in Kap. VIII 2 in der Weise modifiziert, dass die Normen und Prinzipien der Teile A und B seiner Diskursethik in ein wechselseitiges Fundierungsverhältnis treten. Dies entspricht im Kern Habermas’ Standpunkt in Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln und den Erläuterungen zur Diskursethik, dass die Diskursethik durch Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 185–199. S. u. Kap. IV 3. Apel: »Das Spannungsverhältnis zwischen Ethik, Völkerrecht und politisch-militärischer Strategie in der Gegenwart«. In: Marcel Niquet u. a.: Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg 2001. S. 205–218, hier: 215. 104 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 411. 105 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 794 f. Vgl. Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 688. 106 Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 156 ff. 102 103
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Die Aufgabe einer Vermittlung der diskursethischen Positionen
die Verknüpfung des Apel’schen Begründungswegs ›von oben‹ mit einem Weg ›von unten‹ den Nachweis der faktischen Nichtverwerfbarkeit ihrer basalen Normierungen im Rahmen unserer soziokulturellen Lebensform führen soll, wobei es das Theorem einer gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität der Diskursethik erlaubt, einen über die gegenwärtige Epoche hinausreichenden Geltungsanspruch zu erheben (s. u. S. 141, 240 ff.); dieser wird von Habermas in Faktizität und Geltung aufgegeben. Das Theorem einer normativen Entwicklungslogik in der Gattungsgeschichte wird in der vorliegenden Abhandlung allerdings gegenüber seiner Fassung in Habermas’ Schriften bis zu den Erläuterungen zur Diskursethik und bei Apel umakzentuiert. Dort liegt der Fokus auf einer Entwicklungslogik des »moralischen Bewusstseins«. 107 Habermas und Apel weisen jedoch selber darauf hin, dass sich die Unterscheidung zwischen einer universalistischen Vernunftmoral und dem durch Sanktionen abgestützten Recht erst in der Neuzeit herausgebildet hat. 108 In der klassischen griechischen Antike sind die aus heutiger Sicht getrennten Bereiche von Moral und Recht noch ungeschieden. 109 Ihre Ausdifferenzierung steht im Zentrum der normativen Entwicklungslogik, die in Kap. VIII rekonstruiert werden soll. Apel spricht dem »Übergang« von der klassischen griechischen »Polis-Ethik« zum »kosmopolitischen« Naturrechts-Verständnis der »stoischen Philosophen und ihre[r] römisch-humanistischen Nachfolger« und der Weiterführung dieser Traditionslinie in der »Dogmatik der christlichen Weltreligion« und den neuzeitlichen Menschenrechts-Konzeptionen m. E. zu Recht paradigmatische Bedeutung für die gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik der Normativität zu. 110 Er hat diese normative Fortschrittsgeschichte allerdings nur in seinen Beiträgen zum Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik in einer primär didaktischen Perspektive mit rudimentären Textbezügen dar107 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 128; Apel: »Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«. 108 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 111, 137; Apel: The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially Today. Leuven 2001. S. 106. 109 Sokrates identifiziert die »menschliche Tugend« mit der »politischen« (Platon: Apologie des Sokrates 20 b). Platon formuliert seine Lehre von der Gerechtigkeit als dem Einheitsprinzip der Tugenden in der Politeia. Aristoteles zählt seine Nikomachische Ethik zur »Wissenschaft vom Staat« (1094 b 11). 110 Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 472 f.
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Einleitung
gestellt. 111 Im Kap. VIII soll der Versuch unternommen werden, die gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik, die Apel im Blick hat, im Rekurs auf Habermas’ – ein Jahrzehnt vor Faktizität und Geltung veröffentlichte – Abhandlung »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« aufzuschlüsseln. Die entwicklungslogische Argumentation dieser Abhandlung ist nicht an die ontogenetische Perspektive, die Habermas dort im Anschluss an Kohlberg bezieht, gebunden und lässt sich auf die Gattungsgeschichte übertragen (s. u. Kap. VIII 3–7). Da die historische Genese der universalistischen Vernunftmoral – wie ich zeigen möchte – an die Rationalisierung des Rechts angebunden ist, kann die normative Entwicklungslogik in der Gattungsgeschichte nicht im Ganzen dem moralischen Bewusstsein zugeordnet werden. Der Weg von der griechischen Polis-Ethik über die NaturrechtsKonzeption der Stoa und ihrer römischen Nachfolger zur neuzeitlichen Menschenrechts-Idee ist für die systematische Kernfrage dieser Abhandlung, wie die Menschenrechte diskursethisch begründet werden können, insofern relevant, als Apel im tradierten »Postulat« ihrer naturrechtlichen Fundierung einen berechtigten Vorbehalt gegen ihre Subsumierung unter das positive Recht sieht, während Habermas in Faktizität und Geltung den Standpunkt vertritt, dass die Menschenrechte »von vornherein als Rechte im juridischen Sinne begriffen« werden müssen. 112 Nach Habermas lebt in ihrer naturrechtlichen Begründung ein »platonisches Erbe« fort, das unter nachmetaphysischen Bedingungen aufgegeben werden müsse, nämlich die Vorstellung, dass überzeitliche Normierungen »über das Medium des Rechts in die Grenzen der historischen Zeit und des sozialen Raums« eintreten. 113 Die Überzeugung von der überzeitlichen Geltung basaler Normen ist ein Kennzeichen der tradierten Deontologie im starken Sinne. Habermas wendet gegen sie ein, dass sie unter nach-metaphysischen Vorzeichen dogmatisch wird. Er kann in Faktizität und Geltung die Diskursethik Apels in die Nachfolge einer platonisierenden Zwei-Reiche-Lehre stellen, der zufolge das ethisch legitime Recht Apel: »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie«. In: ders./Dietrich Böhler/Karlheinz Rebel: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Studientexte 1. Weinheim/Basel 1984. S. 66–130. 112 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 820; Habermas: Faktizität und Geltung, S. 136. 113 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 136 f. Vgl. Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 45. Wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 85. 111
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Die Aufgabe einer Vermittlung der diskursethischen Positionen
eine »intellegible« normative Ordnung »in der phänomenalen Welt zugleich abbildet und konkretisiert«, 114 da Apel erst in seiner Auseinandersetzung mit Faktizität und Geltung seine Auffassung relativiert hat, dass die moralischen Normen des geschichtsabstraktiv entwickelten Teils A seiner Diskursethik die Geltungsbasis des Teils B bilden, wo er das Recht ansiedelt. Ich möchte an Apels Intention anknüpfen, die traditionelle Verankerung der Menschenrechte im Naturrecht diskursethisch in der Weise zu reformulieren, dass der moralische Universalismus die Fundierungsfunktion für die Menschenrechte behält, die ihm Habermas in Faktizität und Geltung abspricht. Da sich Habermas aber m. E. zu Recht darauf beruft, dass die Geltung aller diskursethisch zu begründenden Normierungen über Diskurssituationen hinaus an lebensweltliche Faktizität zurückgebunden ist, kann der moralische Universalismus die Menschenrechte nur dann allgemeinverbindlich fundieren, wenn er nicht geschichtsabstraktiv auftritt, sondern seine Einbindung in die historische Evolution von Gesellschaften reflektiert. In Kap. VIII soll die Entwicklungslogik seiner Genese in der von der griechischen PolisEthik zur neuzeitlichen Menschenrechts-Idee hinführenden Traditionslinie in ihrer Verschränkung mit der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen rekonstruiert werden. Hierbei kommt der Evolution des Rechts, die mit kontingenten Wandlungen materieller Lebensbedingungen verwoben ist, eine Schlüsselrolle zu. Durch die entwicklungslogische Rekonstruktion des moralischen Universalismus soll gezeigt werden, dass seine historische Situierung keineswegs zur Preisgabe seines kulturübergreifenden Anspruchs zwingt. Sobald er sich als eine mit sozialer Faktizität verschränkte Position herausgebildet hat, kann seine Missachtung als Rückfall hinter die erreichte Stufe des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses, der in neuzeitliche Rechtsordnungen eingegangen ist, normativ kritisiert werden. Zugleich erlaubt es die entwicklungslogische Rekonstruktion des moralischen Universalismus, ihn – zumindest in abgeschwächter Form – retrospektiv als normativen Maßstab an frühere Epochen, die ihn in nuce bereits in sich enthielten, anzulegen. In diesem Sinne kann ein moralischer Universalismus, der sich als historisch generierte Position begreift, an seinem kulturübergreifenden Anspruch festhalten. Den methodischen Anknüpfungspunkt dieser Konzeption bei Apel bildet sein Selbsteinholungsprinzip, mit dem er das Programm einer 114
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 136 f.
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Einleitung
Selbstreflexion der Gattungsgeschichte im Historischen Materialismus fortschreibt (s. u. S. 64, 215 ff.). Im Folgenden wird zunächst Habermas’ Bestimmung der Lebenswelt als des Komplementärbegriffs zum kommunikativen Handelns erläutert, sodann seine Rekonstruktion der Rationalisierung der Lebenswelt skizziert (Kap. II 1–2). Anschließend möchte ich versuchen zu zeigen, dass Apels – m. E. zutreffende – These, eine Letztbegründung der von Habermas analysierten Geltungsansprüche sprachlicher Verständigung sei möglich, mit dessen Auffassung, dass sich die Universalpragmatik mit dem Nachweis der faktischen Nichtverwerfbarkeit dieser Geltungsansprüche im Rahmen unserer soziokulturellen Lebensform begnügen müsse, 115 in Einklang gebracht werden kann, wenn man im Auge behält, dass Apel mit seinem Begriff des Kontingenz-Apriori die Dichotomie von apriorischen und aposteriorischen Aussagen selber aufbricht (Kap. II 3). In Kap. III wird Apels diskursethische Ausgangsthese, dass jeder argumentative Verständigungsprozess ethische Implikationen hat, von seinem ethischen Letztbegründungs-Anspruch abgegrenzt. Das Thema von Kap. IV sind die Modifikation der Diskursethik Apels seit den späten 1970er Jahren und die Kritik, die Habermas daran übt. Das Programm einer dialektischen Verschränkung des Diskurs- und KontingenzApriori, das Apel in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung entwickelt, kommt allerdings erst in Kap. VIII 1 zu Sprache, da dieses Programm die Theoriestruktur der zwischen Apel und Habermas vermittelnden diskursethischen Position vorzeichnet, die in Kap. VIII umrissen werden soll. Kap. V behandelt Habermas’ Rekonstruktion der weltgeschichtlichen Rationalisierung des Rechts in der Doppelperspektive von System und Lebenswelt; dieses Theoriestück geht in die anvisierte vermittelnde Position ohne Abstriche ein. In Kap. VI wird Habermas’ diskursethische Begründung von Moral und Recht in Faktizität und Geltung dargestellt, in Kap. VII die m. E. berechtigte Kritik Apels und Frank Michelmans an der dort formulierten Theorie der Menschenrechte. In Kap. VIII möchte ich durch die Übertragung von Habermas’ entwicklungslogischer Argumentation in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« auf die Traditionslinie, die von der griechischen Polis-Ethik über die Naturrechts-Lehre der Stoa und ihrer Rezeption durch
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Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 194.
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Die Aufgabe einer Vermittlung der diskursethischen Positionen
Cicero zu Lockes Menschenrechts-Konzeption führt, versuchen zu zeigen, dass die entwicklungslogische Genese des moralischen Universalismus in ihrer Verschränkung mit der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen die Geltungsbasis der Menschenrechte bildet.
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II. Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns und seine Rekonstruktion der Rationalisierung der Lebenswelt
1.
»Lebenswelt« als Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln
Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns verknüpft zwei Bedeutungsmomente miteinander: (1) Wer im Habermas’schen Sinne kommunikativ handelt, ist bereit, auf kritische Vorbehalte bzw. Einwände gegen die in seinen Äußerungen erhobenen Geltungsansprüche einzugehen; hiermit wird das »Rationalitätspotential« der sprachlichen Verständigung aktualisiert. 1 (2) Habermas setzt das kommunikative Handeln dem »strategischen« entgegen, welches von den Partikularinteressen von Individuen oder sozialen Gruppen geleitet ist. 2 Ein konsequenter Egoist ist somit nach Habermas nicht in der Lage, die mit seinen Sprechakten verbundenen Geltungsansprüche adäquat einzulösen. Diese These kann sich – da einem Egoisten nicht zwangsläufig Irrtümer unterlaufen – offensichtlich nur auf die Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit und normativen Richtigkeit beziehen. Habermas begründet seine These damit, dass sich »Interaktionszusammenhänge, wie ich mit Durkheim und Parson annehme, nicht allein aus der gegenseitigen Einwirkung erfolgsorientiert eingestellter Aktoren zu stabilen Ordnungen verstetigen lassen«. 3 Wer ausschließlich seinen persönlichen Nutzen anstrebt, wird – wie Parsons betont –, vor »Gewalt oder Betrug« nicht zurückschrecken, wenn er sich hiervon Vorteile verspricht; würde jeder so handeln, zerfiele die Gesellschaft im ›Krieg aller gegen alle‹. 4 Jeder soziale Akteur ist auf eine zumindest rudimentäre Kooperation mit anderen angewiesen – niemand kann im Zusammenleben seine 1 2 3 4
Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 148 f. A. a. O., S. 385. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 43. Talcott Parsons: The Structure of Social Action. New York 21949. S. 90.
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»Lebenswelt« als Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln
Handlungsziele völlig unabhängig von ihnen erreichen. Will ein konsequenter Egoist in der Gesellschaft erfolgreich agieren, darf er seine wahren Absichten nicht offen legen: Er muss mit seinen Selbstbeschreibungen den Eindruck erwecken, er nehme auf die Interessen anderer durchaus Rücksicht und erkenne in diesem Sinne soziale Normen an; andernfalls provozierte er das Misstrauen aller seiner Mitmenschen bis hin zu sozialer Ächtung. Ein rein egozentrisches Handeln ist demnach nur als verschleierte Ausnahme von einer sozialen Praxis, worin diese Normen tatsächlich befolgt werden – zumindest in dem Maße, dass die Gesellschaft nicht zerfällt –, realisierbar. 5 Parsons zieht hieraus den Schluss, dass jedes soziale System eines institutionell verankerten »Wertekonsenses« bedürfe, dem seine Mitglieder »ernsthaft verpflichtet« sind. 6 Dies deckt sich mit der Auffassung Durkheims, dass sich arbeitsteilige Gesellschaften nur durch »soziale Solidarität« im »Gleichgewicht halten« können. 7 Die Lebenswelt im Habermas’schen Sinne bildet den »Horizont«, d. h. »intuitiv vorverstandenen Kontext«, der Verständigungsprozesse sozialer Akteure und ist damit ein »Komplementärbegriff« zum kommunikativen Handeln. 8 Jedes Zusammenleben ist daran gebunden, dass sich das Verhalten der Akteure im Normalfall innerhalb eines vorhersehbaren Spektrums bewegt. Dies gilt erst recht für die Arbeitsteilung: Sie setzt gemeinsame Hintergrundüberzeugungen über die Realisierbarkeit der jeweiligen Handlungsziele, die Tauglichkeit der eingesetzten Mittel und soziale Normierungen, die durch Sanktionen abgesichert werden, voraus. 9 Habermas’ Bestimmung der Gesellschaft als des Inbegriffs von »legitimen Ordnungen«, die »Solidarität sichern«, und seine Charakterisierung der »sozial eingelebten« Normierungen als eines »Hintergrundkonsens[es]«, der einen »Fels« von »Loyalitäten« bilde, erwecken den Eindruck, dass er Vgl. Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 26 f. 6 »Social Systems […] can only live by a system of institutionalized values, to which the members must be seriously committed« (Talcott Parsons/Edward Shils: »Values, Motives and Systems of Action«. In: dies. (Hrsg.): Toward a General Theory of Action. New York 1951. S. 47–275, hier: 179). 7 Émile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung (1930). Frankfurt a. M. 1977. S. 109 f. 8 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 182; Faktizität und Geltung, S. 38; »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 146 f. 9 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 191, 203–205. 5
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Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns
sich dem Standpunkt Durkheims und Parsons’ ohne Abstriche anschließt. 10 Apel hält Habermas eine »Verklärung der Lebenswelt« vor: Dessen Verständnis des lebensweltlichen Hintergrundkonsenses verharmlose die »ideologisch-strategischen Interessen sozialer Selbstbehauptungssysteme«. 11 Habermas räumt in seiner Entgegnung auf die ähnlich gelagerte Kritik Johannes Bergers, Günter Dux’ und Johannes Weiß’ an seiner Theorie des kommunikativen Handelns ein, dass »gewaltsublimierende Herrschaftsformen und eine Konsensbildung, die die Bedingungen latent strategischen Handelns erfüllt«, der historische Regelfall sind. 12 In Faktizität und Geltung relativiert er den Rekurs auf Durkheim und Parsons, indem er sein Verständnis des lebensweltlichen Hintergrundkonsenses in Bezug auf soziale Normen an Max Webers Begriff des »Einverständnishandeln[s]« anbindet: Ein solches Handeln liegt dann vor, wenn soziale Akteure faktisch die Erwartungen erfüllen, die ihre Mitmenschen an sie richten. 13 Ob dies bloß aus Furcht vor Sanktionen geschieht oder aus einem inneren Einverständnis mit den bestehenden sozialen Institutionen und Praktiken entspringt, ist für Weber zweitrangig. Liest man den Hinweis auf Webers Begriff des Einverständnishandelns in Faktizität und Geltung auf dem Hintergrund von Habermas’ Klarstellung in seiner »Entgegnung« im Sammelband Kommunikatives Handeln, dass die soziale Realität in der Regel von repressiven Strukturen durchsetzt ist, lässt sich der Vorwurf, er idealisiere die Lebenswelt, nicht aufrechterhalten. Der Rekurs auf Durkheim und Parsons in Faktizität und Geltung ist offenkundig nicht als ungeteilte Zustimmung zu ihren Positionen zu verstehen; Habermas ordnet vielmehr die für seine Gesellschaftstheorie grundlegende These, dass sich Interaktionszusammenhänge »nicht allein aus der gegenseitigen Einwirkung erfolgsorientiert eingestellter Aktoren zu stabilen Ordnun-
A. a. O., S. 205, 209; Habermas: Faktizität und Geltung, S. 38. Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 238 Anm. 28. 12 Vgl. die Aufsätze von Berger, Dux und Weiß im Sammelband Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«, hrsg. von A. Honneth und H. Joas. Frankfurt a. M. 32002 und Habermas’ Entgegnung a. a. O., S. 327–405, hier: 383. 13 Weber: »Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie«. In: ders.: Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von J. Winckelmann. Tübingen 51982. S. 427–474, hier: 456 f.; Habermas: Faktizität und Geltung, S. 92 f. 10 11
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Die weltgeschichtliche Rationalisierung der Lebenswelt
gen verstetigen lassen«, 14 in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext ein. Apel stimmt dieser These ohne Abstriche zu. 15
2.
Die weltgeschichtliche Rationalisierung der Lebenswelt
Der Fokus von Habermas’ Rekonstruktion der gattungsgeschichtlichen Rationalisierung der Lebenswelt liegt auf den Wandlungen des gesellschaftlichen Hintergrundkonsenses bei den Übergängen vom magisch-mythischen zum religiös-metaphysischen Weltbild und von diesem zur »modernen Denkweise«. 16 An beiden Epochenschwellen werden die Anforderungen an die zureichende Begründung der Geltungsansprüche sprachlicher Äußerungen heraufgesetzt. 17 Im magisch-mythischen Weltbild archaischer Stammesgesellschaften gibt es noch keinen Raum für argumentative Diskurse. Die Begründungsinstanz von Geltungsansprüchen bilden letztlich Autoritäten (die Ältesten, Schamanen usw.). Erst mit dem Aufkommen der Hochreligionen, die den Charakter »intellektuell bearbeitbarer Lehren« haben, und der metaphysischen Philosophie werden geschlossene Argumentationszusammenhänge entwickelt. 18 Diese bleiben in Antike und Mittelalter allerdings defizitär, da sie von Dogmen bzw. statuarisch gesetzten metaphysischen Axiomen ausgehen. 19 Die neuzeitliche Aufklärung verlangt demgegenüber die Ausweisung aller Geltungsansprüche vor dem »ideal erweiterte[n] Auditorium« der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft. 20 Die Rationalisierung der Weltbild-Strukturen im Habermas’schen Sinne besteht somit im Abbau argumentativer Defizite bei der Rechtfertigung der in unseren Sprechakten erhobenen Geltungsansprüche. Habermas stellt eine Parallele zwischen Kohlbergs Stufenfolge des »präkonventionellen«, »konventionellen« und »postkonventionellen« Niveaus der individuellen Moralentwicklung in modernen Gesellschaften und der gattungsgeschichtlichen Rationalisierung der Habermas: Faktizität und Geltung, S. 43. Apel: »Faktische Anerkennung oder transzendental notwendige Anerkennung?«, S. 243 f. 16 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 104. 17 Ebd. 18 A. a. O., Bd. 2, S. 280. 19 A. a. O., S. 282. 20 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 35. 14 15
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Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns
Weltbild-Strukturen her. 21 Das gattungsgeschichtliche Pendant zum präkonventionellen Moralbewusstsein von Kindern, die dasjenige »gut« nennen, was ihnen Freude bereitet, und die Rede von »bösen« Taten mit fühlbaren Strafen assoziieren, bildet die archaische, magisch-mythische Religiosität, wo »das Böse« mit dem »Schädlichen konzeptuell ebenso verwoben« ist »wie das Gute mit dem Gesunden und Vorteilhaften«. 22 Die konventionelle Ebene wird in der Individualentwicklung dadurch erreicht, dass sich die Heranwachsenden normative Erwartungen ihres sozialen Umfelds zu Eigen machen. Hierdurch gewinnen sie ein Verständnis für ethische Normen als Regeln des Zusammenlebens. Dies geht mit der Einsicht in die kategoriale Differenz von Natur und Kultur einher. In der Gattungsgeschichte entsteht das konventionelle Moralbewusstsein beim Übergang von den archaischen Stammesgesellschaften zu den staatlich organisierten frühen Hochkulturen, in denen das Recht kodifiziert wird. In der Individualentwicklung wie auch der Gattungsgeschichte wird der Übergang zum postkonventionellen Moralniveau, auf dem ethische Prinzipien mit universalem Geltungsanspruch aufgestellt werden, durch die kritische Überprüfung der gesellschaftlich vorgegebenen Normsysteme angestoßen. Das postkonventionelle Moralniveau gewinnt im Gefolge der neuzeitlichen Aufklärung weltgeschichtliche Relevanz; seine geistesgeschichtlichen Wurzeln liegen allerdings bereits in den »universalistischen Weltdeutungen der großen Religionsstifter« und ihrer philosophischen Zeitgenossen in der ›Achsenzeit‹ zwischen 800 und 300 v. u. Z. 23 Die Kohlberg’schen Moralstufen haben den Charakter einer »Hierarchie« von »Lernniveaus«. 24 Auf der konventionellen Ebene wird erstmals eine rationale Begründung ethischer Normen möglich, da deren Beitrag zur Aufrechterhaltung funktionsfähiger Sozialstrukturen in den Blick kommt. Auf der postkonventionellen Ebene werden die Begründungsansprüche an ethische Forderungen konsequent vorangetrieben, indem die Frage virulent wird, ob die sozial tradierten Normsysteme universale Gültigkeit beanspruchen können. Kohlberg: »Moralstufen und Moralerwerb: Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz« (1976). In: ders.: Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M. 1994. S. 123–174; Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 13, 67 ff., 171 ff. 22 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 80. 23 Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 13, 241. 24 Vgl. a. a. O., S. 154, 168. 21
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Apels Anspruch auf Letztbegründung der universalpragmatischen Aussagen
Apel stimmt Habermas darin zu, dass die Kohlberg’schen Moralniveaus auf die Gattungsgeschichte übertragen werden können. 25 Für den Aufweis einer weltgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität kann die Moralpsychologie Kohlbergs allerdings nur eine heuristische Funktion haben. Angesichts der Einwände, die in der neueren Forschung gegen Kohlbergs Interpretation seiner empirischen Befunde erhoben worden sind (s. o. S. 27), soll in der vorliegenden Abhandlung versucht werden, die Konzeption einer normativen Entwicklungslogik von ihrer Anbindung an die Moralpsychologie abzulösen und in der gattungsgeschichtlichen Perspektive von Habermas’ und Apels Theorem der Rationalisierung der Lebenswelt zu reformulieren. Kohlbergs Binnendifferenzierung des präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Moralniveaus soll hierbei außer Betracht bleiben. 26
3.
Apels Anspruch auf Letztbegründung der universalpragmatischen Aussagen über die Geltungsbasis der Rede
Apel trägt mit seinem Selbsteinholungsprinzip der Tatsache Rechnung, dass die Präsuppositionen argumentativer Diskurse im historischen Prozess der Rationalisierung der Lebenswelt ihre gegenwärtige Gestalt angenommen haben. Behält man im Auge, dass sein Begriff des Kontingenz-Apriori die Dichotomie von apriorischen und aposteriorischen Aussagen, die er zunächst postuliert, sprengt, lässt sich – wie ich zeigen möchte – der Anschein einer Diskrepanz zwischen Habermas’ These, dass seine Analyse der Geltungsbasis der Rede an unsere soziokulturelle Lebensform zurückgebunden ist, 27 und Apels Anspruch auf Letztbegründung der Habermas’schen Universalpragmatik im Rekurs auf dessen Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive auflösen.
Apel: »Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«, S. 306 ff. 26 Vgl. Kohlberg: »Moralstufen und Moralerwerb«, S. 131 f.; Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 134 ff.; Apel: »Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«, S. 317–357. 27 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 194. 25
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Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns
Habermas’ These, dass den in seiner Universalpragmatik genannten sprachlichen Geltungsansprüchen der Status »faktisch unausweichlicher Argumentationsvoraussetzungen« nur innerhalb der soziokulturellen Lebensform, in der rationale Diskurse geführt werden können, zugebilligt werden kann, 28 lässt sich anhand seiner Charakterisierung des magisch-mythischen Weltbildes konkretisieren. Auf dieser archaischen Stufe bewegt sich die sprachliche Kommunikation »unterhalb der Schwelle der grammatischen Rede«, da das Bewusstsein für die kategoriale Differenz von Naturgegenständen bzw. -prozessen und kulturellen Normen noch fehlt, so dass der Geltungsanspruch der Wahrheit, dem Habermas den Begriff der »objektiven Welt« zuordnet, und der Geltungsanspruch der normativen Richtigkeit ineinander fließen. 29 Die universalpragmatische Unterscheidung beider Geltungsansprüche muss somit einem Anhänger des magischmythischen Weltbildes entweder schlicht unverständlich bleiben oder abwegig erscheinen. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen – aber nur als »science fiction« vorstellbar –, dass die Menschheit zum magisch-mythischen Weltbild zurückkehrt, wenn die moderne Lebensform durch globale Katastrophen zerstört werden sollte. 30 In diesem Fall könnte die Universalpragmatik auf keine Zustimmung mehr rechnen. Habermas’ Feststellung, dass die in seiner Universalpragmatik vorausgesetzte kategoriale Differenz zwischen der objektiven Welt als der »Gesamtheit existierender Sachverhalte« und der normativen Sphäre dem magisch-mythischen Weltbild unbekannt ist, stützt sich auf ethnologische Untersuchungen und lässt sich damit dem Standpunkt des wissenschaftlichen Beobachters zuordnen. 31 Apel stellt mit seiner These, dass eine Letztbegründung der universalpragmatischen Aussagen möglich ist, die empirischen Befunde, die Habermas geltend macht, nicht in Abrede; seine These ist auf einer anderen Ebene angesiedelt: Es ist – so Apel – »witzlos, gegen den Versuch der Letztbegründung durch Rekurs auf notwendige Argumentationspräsuppositionen die Tatsache auszuspielen, dass es Kulturen ohne die Insti-
A. a. O., S. 195. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 114 f., Bd. 2, S. 74, 183 f., 238. 30 Vgl. Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 194. 31 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 146 f.; Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 79 f., Bd. 2, S. 237 f. 28 29
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Apels Anspruch auf Letztbegründung der universalpragmatischen Aussagen
tution des argumentativen Diskurses gibt oder geben kann«, da nur derjenige als »mögliche[r] Opponent« auftreten kann, »der mit dem Proponenten das Problem – die Frage nach den notwendigen Argumentationspräsuppositionen – zu teilen vermag«. 32 Apel vertritt hiermit die These, dass jeder, der die Bedeutung des Begriffs der Argumentation versteht, in einen performativen Selbstwiderspruch gerät, wenn er die universalpragmatischen Kernaussagen bestreitet. Wer argumentiert, führt Gründe für die Zustimmung zu sprachlichen Äußerungen bzw. den darin ausgedrückten Überzeugungen, Willensregungen usw. oder die Kritik an ihnen an. Der »Proponent« (Apel), der die in Habermas’ Universalpragmatik genannten Geltungsansprüche für unhintergehbar hält, kann einen Opponenten darauf hinweisen, (i) dass jede sinnvolle sprachliche Äußerung verständlich formuliert sein muss, (ii) der Geltungsanspruch der Wahrheit in jedem Gespräch insofern implizit vorausgesetzt ist, als die Gesprächspartner nur dann auf ihre Äußerungen sinnvoll Bezug nehmen können, wenn sie sich darüber einig sind, dass gerade bestimmte Äußerungen gemacht wurden, (iii) jedes Gespräch eine normative Dimension hat, da Vorwürfe wie: der Andere sei ein notorischer Lügner, aus eigener Schuld unzurechnungsfähig usw., zum Gesprächsabbruch zwingen, (iv) in jeder normativen Kritik an einer Äußerung die Tatsache, dass sie gemacht wurde, vorausgesetzt ist, was die Unterscheidung zwischen den Geltungsansprüchen der Wahrheit und der normativen Richtigkeit einschließt, (v) wir unseren Gesprächspartnern im Normalfall Wahrhaftigkeit zuerkennen, da man mit niemandem sinnvoll reden kann, dem man beständig Täuschungsabsichten unterstellt. Dass wir uns verständlich ausdrücken müssen und einander nicht permanent belügen dürfen, wenn wir keinen Gesprächsabbruch provozieren wollen, ist unmittelbar evident. Wenn jemand – z. B. ein Anhänger des magisch-mythischen Weltbildes – die universalpragmatische Unterscheidung zwischen den Geltungsansprüchen der Wahrheit und der normativen Richtigkeit in Zweifel zieht, kann ihm entgegengehalten werden, dass eine normative Kritik an anderen Personen auf die Änderung ihres Verhaltens abzielt – sei es auch in dem Sinne, dass sie sich bestimmte Gedanken verbieten sollen 33 –, woApel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 161. Ein orthodoxer Gläubiger kann es z. B. für sündig erklären, mit dem Gedanken an Ehebruch auch nur zu spielen.
32 33
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Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns
gegen die Kritik an Wahrheitsansprüchen den Adressaten Irrtümer vor Augen führen will. Wer beide Kritikformen vermischt, stellt hiermit seine »Diskursunfähigkeit« unter Beweis, 34 da ihm die Differenz von Wille und Einsicht unverständlich bleibt: Man kann seine Überzeugungen nicht willentlich ändern. Diese Tatsache liegt dem Begriff der Argumentation zugrunde: Argumente treten mit dem Anspruch auf, dass ihnen jeder zustimmen muss, der hinreichend kompetent ist, sie zu verstehen. Apel insistiert somit zu Recht darauf, dass Habermas’ Klassifikation der Geltungsansprüche sprachlicher Verständigung von jedem, der argumentiert, akzeptiert werden muss. Wer diese Klassifikation anerkennt, kann sich durch die Analyse der verschiedenen Typen von Sprechakten davon überzeugen, dass mit jeder Äußerung alle vier Geltungsansprüche erhoben werden (s. o. S. 12 f.). Indem Habermas diesen Geltungsansprüchen den Status der »faktischen Nichtverwerfbarkeit« innerhalb der Lebensform, in der rationale Diskurse geführt werden können, zuerkennt, stimmt er Apel implizit darin zu, dass jemand, der rational argumentieren kann, in einen performativen Selbstwiderspruch gerät, wenn er die universalpragmatischen Kernaussagen bestreitet. Die ethnologischen Untersuchungen, aus denen hervorgeht, dass Habermas’ Differenzierung der sprachlichen Geltungsansprüche nur eingeschränkt auf archaische Kommunikationsformen übertragbar ist, können nur von denjenigen nachvollzogen werden, die die Kompetenz zur Argumentation erworben haben. Wer auf der archaischen Stufe verharrt, kann an den wissenschaftlichen Diskursen, die Ethnologen mit den Adressaten ihrer Theorien führen, nicht mitwirken. Die Feststellung, dass die Universalpragmatik in archaischen Kulturen auf keine Zustimmung rechnen kann, hat demnach den Charakter einer reinen »quid facti?«-Aussage, die den auf der »quid juris?«-Ebene angesiedelten Anspruch, dass die Universalpragmatik von jedem, der argumentiert, akzeptiert werden muss, in keiner Weise schmälert. Dass die von Habermas genannten Geltungsansprüche sprachlicher Verständigung in der Teilnehmerperspektive argumentativer Diskurse unhintergehbar sind, ist eine genuin philosophische Aussage, die keiner empirischen Überprüfung bedarf, weil sie (in der Teilnehmerperspektive) nur um den Preis des
Vgl. Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 161.
34
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Apels Anspruch auf Letztbegründung der universalpragmatischen Aussagen
performativen Selbstwiderspruchs bestritten werden kann. Die Teilnehmer rationaler Diskurse können wiederum die kulturgeschichtliche Reichweite ihrer Kommunikationsform nur mit Hilfe empirischer Wissenschaften erforschen. Deren Beobachterperspektive geht somit in die – kommunikationstheoretisch fundierte und in diesem Sinne der Teilnehmerperspektive zugehörige – Rekonstruktion der Rationalisierung der Lebenswelt ein. Apel zieht in seiner – erstmals 1987 erschienenen – Abhandlung »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung« aus dem Nachweis, dass eine Letztbegründung von Habermas’ universalpragmatischen Kernaussagen im beschriebenen Sinne möglich ist, den Schluss, dass zwischen empirisch falsifizierbaren aposteriorischen Aussagen und denjenigen philosophischen Sätzen, die in rationalen Diskursen implizit vorausgesetzt, daher nicht falsifizierbar und in diesem Sinne a priori gültig sind, scharf unterschieden werden muss. 35 Der Kritik, die Apel in dieser Abhandlung an Habermas’ Auffassung übt, dass die Differenz von apriorischen und aposteriorischen Aussagen keine strikte Dichotomie ist, 36 lässt sich jedoch entgegenhalten, dass Apel der Habermas’schen Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive hierbei nicht zureichend Rechnung trägt. Wenn die Teilnehmer rationaler Diskurse auf deren implizite Voraussetzungen reflektieren, müssen sie zwar empirisch falsifizierbare Sätze von den nicht-falsifizierbaren Präsuppositionen empirischer Falsifikationsprozesse klar abgrenzen; dem Beobachter, der die historische Evolution sprachlicher Verständigungsprozesse erforscht, stellen sich argumentative Diskurse und ihre Präsuppositionen aber als empirische Fakten dar. Apel hat dies erst durch die Einführung des Begriffs des Kontingenz-Apriori in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung (1998) adäquat berücksichtigt. Hiermit verschwindet – wenn ich recht sehe – die prima facie theoriearchitektonisch signifikante Kluft zwischen Apels Anspruch auf Letztbegründung von Habermas’ universalpragmatischen Kernaussagen und dessen These in den »Erläuterungen zur Diskursethik«, dass sich die philosophische Kommunikationstheorie mit dem Aufweis faktisch unausweichlicher Argumentationsvoraussetzungen begnügen muss. 37 Die spezifische Bedeutung des Terminus Letzt35 36 37
Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 156 f. A. a. O., S. 157 ff. Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 195.
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Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns
begründung in Apels Stellungnahme zu Habermas’ Universalpragmatik muss allerdings von Apels ethischem Letztbegründungs-Anspruch unterschieden werden, gegen den Habermas – wie im Folgenden gezeigt werden soll – triftige Einwände erhoben hat.
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III. Die Diskussion zwischen Apel und Habermas über die Möglichkeit ethischer Letztbegründung
1.
Apels diskursethischer Argumentationsansatz
Der Ausgangspunkt der Diskursethik Apels besteht in der These, dass jeder Diskussionspartner grundlegende Pflichten und Rechte »als Bedingungen der Möglichkeit seines sinnvollen Argumentierens« notwendigerweise »schon anerkannt hat«. 1 Apel unterscheidet hierbei zwischen einem weiten und einem engen, spezifischen Begriff der Argumentation. Der weite Begriff umfasst alle Bemühungen, zu einem Konsens mit den jeweiligen Gesprächspartnern »durch Überzeugen« zu gelangen, d. h. durch das Anführen von Gründen für den eigenen Standpunkt. 2 In diesem weiten Sinne können »alle sprachlichen Äußerungen« als »virtuelle Argumente aufgefasst werden«: 3 Man kann jederzeit versuchen, die begründete Zustimmung eines Gesprächspartners dazu einzuholen, dass eine Behauptung, die man aufgestellt hat, richtig, eine Frage oder Bitte, die man an ihn gerichtet hat, zulässig, ein Befehl, den man ihm gegeben hat, legitim ist usw. Apel verankert diesen weiten Begriff des Argumentierens in Habermas’ universalpragmatischer Analyse der Geltungsansprüche sprachlicher Verständigung. 4 Der enge, spezifische Begriff der Argumentation schließt die Inanspruchnahme unausgewiesener Prämissen aus.
Apel: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 396 f.; vgl. Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 399 ff. 2 Apel: »Regulative Ideen oder Wahrheits-Geschehen? Zu Gadamers Versuch, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gültigen Verstehens zu beantworten«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 569–608, hier: 601. 3 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 400. 4 Apel: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 398 f. 1
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Die Möglichkeit ethischer Letztbegründung
Wer in diesem Sinne argumentiert, strebt einen »intersubjektiven Konsensus« in der »prinzipiell unbegrenzten« Kommunikationsgemeinschaft aller »Vernunftwesen« an. 5 In unsere alltäglichen Diskurse fließen in der Regel Basisannahmen ein, die von der jeweiligen »reale[n] Kommunikationsgemeinschaft« für plausibel gehalten werden, ohne allgemeinverbindlich zu sein. 6 Solche Annahmen sind häufig auch in wissenschaftlichen Diskursen im Spiel. Der spezifische Begriff der universal konsensfähigen Argumentation schließt die »Antizipation« einer »idealen Kommunikationsgemeinschaft« ein, in der die Begründungsdefizite realer Argumentationsprozesse ausgeräumt werden. 7 Habermas stimmt Apel darin zu, dass sich jeder, der »in irgendeine Argumentation eintritt«, also im weiten Sinne des Wortes argumentiert, »auf normativ gehaltvolle Voraussetzungen einlassen muss«; Habermas weist aber zugleich auf die Schwierigkeit hin, deren Reichweite präzise zu bestimmen. 8 Apel analysiert diese Voraussetzungen im Ausgang vom »idealen« Diskurs. 9 Nach Apel müssen die Teilnehmer solcher Diskurse einander als »Personen« anerkennen, die mit den Rechten auf freie Meinungsäußerung, Leben, physische Integrität und die Befriedigung basaler »Bedürfnisse« ausgestattet sind; dies geht mit der Verpflichtung einher, am Diskurs zielführend mitzuwirken. 10 Dass diese Rechte und Pflichten »innerhalb« einer idealen Diskurssituation respektiert werden müssen, ist unbestreitbar. 11 Universal konsensfähige Ergebnisse können nur erzielt werden, wenn jeder Gesprächspartner befugt und zugleich dazu bereit ist, seine Überzeugungen wahrheitsgemäß darzulegen. Da die Argumentationsteilnehmer leibliche und damit verletzliche und bedürftige Wesen sind, tritt zum Recht auf freie Meinungsäußerung das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hinzu. Hierunter fällt auch die Sicherung der materiellen Subsistenz, da sie für den Erwerb einer A. a. O., S. 399, 405. A. a. O., S. 429. 7 Ebd.; Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 794. 8 Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 95 f., »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 186 f. 9 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, hier: S. 278. 10 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 400, 425, 427. 11 Vgl. Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 96. 5 6
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Apels diskursethischer Argumentationsansatz
ausreichenden Urteilskompetenz unabdingbar ist. Wer behauptet, auf argumentativem Weg universal konsensfähige Ergebnisse erzielen zu wollen, ohne die genannten Rechte und Pflichten zumindest für die Dauer des Diskurses anzuerkennen, gerät in einen performativen Selbstwiderspruch: Er untergräbt die Voraussetzungen für das Erreichen des reklamierten Diskursziels. 12 Apels Anspruch, auf dieser Basis universal gültige ethische Normen begründen zu können, wird von Habermas allerdings mit dem Argument in Zweifel gezogen, dass man für die »Regeln, die innerhalb von Diskursen unausweichlich sind«, nicht ohne Weiteres auch Geltung »für die Regulierung von Handlungen außerhalb des Diskurses« reklamieren könne. 13 Wie kann Apel den »Widerstand eines konsequenten Skeptikers gegen jede Form einer Vernunftmoral brechen«? 14 Diese kritische Anfrage hat eine doppelte Stoßrichtung: (1) Gelten die im idealen Diskurs unhintergehbaren Normen für alle Gesprächssituationen, in denen im weiten Sinne des Wortes argumentiert wird? Orthodoxe Gläubige könnten z. B. darauf insistieren, dass in den Diskussionen, an denen sie teilnehmen, keine Äußerungen fallen dürfen, die im Rahmen ihrer Religion als Gotteslästerung zu werten sind. (2) Müssen die Teilnehmer an denjenigen Diskursen, in denen universal konsensfähige Ergebnisse erzielt werden sollen, die innerhalb der Gesprächssituation unhintergehbaren Rechte und Pflichten auch dann noch anerkennen, »wenn sie aus dem Kreis der Argumentation heraustreten«? 15 Kann man z. B. die Forderung nach einem staatlich sanktionierten Recht auf freie Meinungsäußerung dadurch rechtfertigen, dass man sich auf die normativen Implikationen idealer Diskurssituationen beruft? 16
Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 253. 13 Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 96 (Hervorh. im Text). 14 A. a. O., S. 54 f. 15 A. a. O., S. 96. 16 Vgl. ebd. 12
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Die Möglichkeit ethischer Letztbegründung
2.
Habermas’ Kritik an Apels diskursethischem Letztbegründungs-Anspruch in Transformation der Philosophie
Apel beruft sich in seiner Replik auf Habermas’ Einwand, er könne die universale Geltung der innerhalb idealer Diskurse unumgänglichen moralischen Regeln nicht nachweisen, auf seine – erstmals in Transformation der Philosophie vorgetragene – Auseinandersetzung mit der skeptischen Option, die Mitwirkung an argumentativen Diskursen zu verweigern: auch an denjenigen, in denen die skeptischen Vorbehalte gegen ethische Begründungsansprüche zur Debatte stehen – wobei der Skeptiker die Kompetenz zur Argumentation besitzen muss, um diese Begründungsansprüche auf die Probe stellen zu können. 17 Apels Entgegnung setzt in »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« dabei an, dass derjenige, der zwar die Fähigkeit zur Argumentation erworben hat, sich argumentativen Diskursen aber vollständig entzieht, die eigene Fähigkeit zu sinnvollem Handeln untergräbt. 18 Um Fehler bei der Auswahl von Handlungsalternativen zu entdecken und auszuräumen – was lebensnotwendig ist –, müssen wir die Gründe abwägen, die für oder gegen handlungsleitende Annahmen (etwa über Zweck-Mittel-Relationen) sprechen. Unser Zusammenleben ist an die – freiwillige oder durch Sanktionsmechanismen erzwungene – Koordination von Absichten und Handlungsplänen gebunden. Jeder sozial lebende Mensch, der sinnvoll, d. h. überlegt, handelt, muss daher bereit sein, über die Gründe für die Auswahl seiner Handlungsziele und der eingesetzten Mittel mit anderen zu kommunizieren. Der entscheidende Schritt der Entgegnung Apels auf den skeptischen Vorbehalt gegen sein Letztbegründungs-Programm in »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« besteht in der These, dass mit dem »Willen zur Argumentation«, der einen integralen Aspekt des sinnvollen Handelns derer bilApel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 237 Anm. 28. Vgl. Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 395 f., 415 f.; ders.: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 400; ders.: The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially Today. Leuven 2001. S. 82. 18 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 395 f., 411, 414 f. 17
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Habermas’ Kritik an Apels diskursethischem Letztbegründungs-Anspruch
det, die in der Lage sind zu argumentieren, zugleich die »Spielregeln« der »Wahrheitssuche« in einer »idealen Kommunikationsgemeinschaft« implizit anerkannt werden. 19 Kann Apel jedoch einen orthodoxen Gläubigen davon überzeugen, dass die »Bedingungen« einer auf universalen rationalen Konsens abzielenden »kritischen Kommunikation« auch von ihm respektiert werden müssen? 20 Der Gläubige kann argumentative Diskurse partiell verweigern, indem er bestimmte Überzeugungen, die auf rein rationalem Weg weder bewiesen noch widerlegt werden können – wie die Annahme, dass die Bibel Gottes Wort enthält – für sakrosankt erklärt und androht, das Gespräch abzubrechen, sobald seine Glaubensprinzipien in Zweifel gezogen werden. Fundamentalistische Monotheisten lassen nicht einmal die allgemein anerkannten Kriterien naturwissenschaftlicher Verifikation bzw. Falsifikation in Bezug auf Theorien gelten, die – wie die Darwin’sche Evolutionstheorie – den Schöpfungsberichten in Bibel und Koran zuwiderlaufen. Apel kann diejenigen, die argumentative Diskurse partiell verweigern, darauf aufmerksam machen, dass innerhalb der Diskurse, die sie zu führen bereit sind, die normativen Voraussetzungen idealer Gesprächssituationen partiell anerkannt werden müssen. Ein religiöser Fundamentalist muss seine Glaubensgenossen als Diskussionspartner akzeptieren, da er nicht ausschließen kann, dass er bestimmte Texte oder Lehren, auf die er sich beruft, missverstanden hat oder in inkonsistenter Weise auf seine Lebenspraxis anwendet. Er muss seinen Gesprächspartnern das Recht auf freie Meinungsäußerung zumindest in eingeschränktem Umfang sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zugestehen. Nach Apel bleibt eine solche partielle Anerkennung der normativen Implikationen idealer Diskurse insofern defizitär, als jede »Wahrheitssuche« einen »intersubjektiven Konsensus« und damit auch »die Moral einer idealen Kommunikationsgemeinschaft antizipieren« müsse. 21 Apel hält somit dem partiellen Diskursverweigerer entgegen, dass auch er sich als Mitglied einer »unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft« von Vernunftwesen begreifen müsse, wenn er »vom Willen zur Wahrheit« geleitet ist. 22 19 20 21 22
A. a. O., S. 405, 415. Vgl. a. a. O., S. 414. A. a. O., S. 405. Ebd.
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Die Möglichkeit ethischer Letztbegründung
Wer nicht oder nur in beschränktem Maße bereit ist, an Diskursen mitzuwirken, in denen nur rationale Argumente zählen, die ohne unausgewiesene Prämissen auskommen, erschwert die Suche nach universal konsensfähigen Ergebnissen – dies kann Apel zu Recht geltend machen. Hieraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass in jeder diskursiven Wahrheitssuche die Spielregeln einer streng rationalen Argumentationsgemeinschaft implizit antizipiert werden. Apel verwendet den Begriff der »Wahrheitssuche« in »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« im Sinne der »theoretischen Vernunft«, die nur dasjenige als wahr anerkennt, was allgemeinverbindlich »verifiziert« werden kann. 23 »Wahrheit« und »intersubjektive Verifizierbarkeit« fallen jedoch nicht zusammen. Die Überzeugung, dass es einen persönlichen Gott gibt, der sich in der Bibel oder im Koran offenbart, ist nicht allgemeinverbindlich verifizierbar, kann aber gleichwohl wahr sein. Indem Apel Argumentationsformen, die von Prämissen Gebrauch machen, deren Allgemeingültigkeit nicht erwiesen werden kann, als defizitäre Formen der Wahrheitssuche wertet, bezieht er die Perspektive der theoretischen Vernunft. Wer einer Offenbarungsreligion anhängt, kann hierauf entgegnen, dass auch er von einem Willen zur Wahrheit geleitet ist – nämlich der Bemühung um ein adäquates Verständnis des Wortes Gottes – und dass seine Wahrheitssuche keine niedrigere Form der theoretischen Erkenntnis als etwa die Naturwissenschaft bildet, sondern auf einer ganz anderen Ebene liegt, da es ja gerade das Spezifikum des Glaubens ausmacht, dass man etwas für wahr hält, das man nicht beweisen kann. Da der Diskursethiker einräumen muss, dass es religiöse Wahrheiten geben kann, die rational nicht rekonstruierbar sind, muss er den Standpunkt eines Gläubigen gelten lassen, dass die normativen Forderungen seiner Religion für sein Schicksal nach dem Tod und damit auch für sein irdisches Leben von essentieller Bedeutung sind. Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für Habermas’ kritische Anfrage an Apel, wie er den »Widerstand eines konsequenten Skeptikers gegen jede Form einer Vernunftmoral brechen« könne, woraus die beiden Teilfragen nach der Gültigkeit der normativen Voraussetzungen idealer Diskurse (1) für Argumentationsgemeinschaf-
23
Ebd.
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Habermas’ Kritik an Apels diskursethischem Letztbegründungs-Anspruch
ten im weiten Sinne des Wortes und (2) für unsere Lebenspraxis außerhalb von Argumentationsprozessen resultieren? 24 (Zu 1) Die in idealen Argumentationsgemeinschaften unumgänglichen normativen Regeln gelten nur mit Einschränkungen für Diskurse über religiöse Themen. In innerreligiösen Diskursen können sich kritische Einwände nicht gegen die Grundprinzipien des Glaubens richten. Gläubige sind befugt, eine Diskussion über religiöse Fragen mit Atheisten, die jede Religion für Aberglauben oder Priesterbetrug halten, zu verweigern, da eine Verständigung von vornherein ausgeschlossen ist. Zugleich zwingt die »konsistent[e]« Reflexion auf die notwendigen Bedingungen sinnvollen Handelns auch Gläubige zur Anerkennung der methodischen Standards der Natur- und der »hermeneutische[n]« Humanwissenschaften. 25 Bei der Auswahl geeigneter Mittel für einen bestimmten Zweck setzen wir die Existenz von Kausalrelationen voraus; die neuzeitliche Naturwissenschaft formuliert die methodischen Regeln für die intersubjektive Verifikation oder Falsifikation von Aussagen über Kausalstrukturen. Die hermeneutischen Humanwissenschaften entwickeln methodische Kriterien für gelingende Verständigungsprozesse, die für unser Zusammenleben basal sind. (Zu 2) In den normativen Implikationen der Wahrheitssuche in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft kann weder (i) ein staatlich zu sanktionierendes Recht auf freie Meinungsäußerung noch (ii) ein Recht auf Sicherung der materiellen Subsistenz aller Menschen (sofern genügend Ressourcen vorhanden sind) verankert werden. (i) Die Überzeugung eines orthodoxen Monotheisten, Atheismus führe in die ewige Verdammnis, so dass die weltanschauliche Neutralität des Staates der ewigen Seligkeit hinderlich sei, lässt sich weder intersubjektiv verifizieren noch falsifizieren. Eine Diskussion mit orthodoxen Monotheisten über die Frage, ob der Staat den Atheismus tolerieren soll, gehört somit nicht zu denjenigen Diskursen, durch die wir – mit Apel zu sprechen – »der Wahrheit teilhaftig werden« können. 26 Das Verbot einer Theokratie, die Existenz Gottes zu leugnen, behindert nicht die Wahrheitsfindung: Die Suche nach all-
Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«. In: ders.: Diskursethik. S. 31–115, hier: 54 f. S. o. S. 49. 25 Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 403 f., 413 f. 26 Vgl. a. a. O., S. 404. 24
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Die Möglichkeit ethischer Letztbegründung
gemeingültigen Erkenntnissen muss unentscheidbare Fragen ausklammern. Der Diskursethiker kann lediglich die Freiheit wissenschaftlicher Forschung einfordern, wozu auch die historisch-kritische, d. h. hermeneutische, Analyse der Texte der Offenbarungsreligionen gehört. Hiermit lässt sich die Überzeugung, dass bestimmte Texte (bzw. Textpartien) Worte Gottes wiedergeben, allerdings weder stützen noch widerlegen. Da die Frage nach der Existenz und der Offenbarung eines persönlichen Gottes kein Thema von argumentativen Diskursen sein kann, die universalen Konsens anstreben, ergeben sich aus den normativen Implikationen dieser Diskurse keine moralischen Anforderungen an eine Positionierung des Staates zu dieser Frage. (ii) Apel vertritt in »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« die These, dass die materielle Subsistenz jedes Menschen gesichert werden muss, da »die unbegrenzte Rechtfertigung des Denkens auf keinen Diskurspartner und auf keinen seiner virtuellen Diskussionsbeiträge verzichten kann«; »Denken« ist hierbei im Sinne der »logischen«, d. h. »konsistent[en], Argumentation« zu verstehen. 27 Apel betont, dass nur in wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen universal konsensfähige Ergebnisse erzielt werden können. 28 Er will »das Grundprinzip der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft« eruieren und ein »Bedingungsgefüge von Wissenschaft, Logik und Ethik« aufweisen, das nur »als Ganzes akzeptiert« oder »negiert« werden kann. 29 Da Apels Begründung des Rechts auf Befriedigung der basalen physischen Bedürfnisse der Teilnehmer idealer Diskursgemeinschaften daran festgemacht ist, dass die materielle Absicherung eine notwendige Bedingung für den Erwerb einer ausreichenden Urteilskompetenz bildet, lässt sich auf diesem Begründungsweg nicht nachweisen, dass auch diejenigen Menschen ein Recht auf Subsistenz haben, die aufgrund fehlender intellektueller Kapazitäten in wissenschaftliche oder philosophische Diskurse nicht eintreten können oder aufgrund des Verlusts dieser Kapazitäten infolge von Krankheit, Alter usw. aus ihnen ausscheiden müssen. Zwischen Habermas und Apel ist unstrittig, dass die im Rahmen idealer Diskurse unhintergehbaren Pflichten und Rechte innerhalb 27 28 29
A. a. O., S. 400, 413, 425 ff. A. a. O., S. 403. A. a. O., S. 395, 403.
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Habermas’ Kritik an Apels diskursethischem Letztbegründungs-Anspruch
jeder Gesprächssituation, in der im weiten Sinne des Wortes argumentiert wird, partiell anerkannt werden müssen, und dass eine totale Argumentationsverweigerung die Fähigkeit zu sinnvollem Handeln aushöhlt. In diesem Sinne kann man – wie Habermas einräumt – einen Skeptiker, der sich auf die explizite Leugnung jeder Möglichkeit einer rationalen Normenbegründung versteift, anstatt innerhalb argumentativer Diskurse kritische Anfragen zu stellen, auf seine »performativen Widersprüche« hinweisen. 30 Hiermit lässt sich allerdings der diskursethische Letztbegründungs-Anspruch, den Apel in »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« erhebt, nicht einlösen.
Vgl. Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 55 (wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 96).
30
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IV. Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik seit den späten 1970er Jahren
1.
Apels Unterscheidung zwischen den Teilen A und B seiner Diskursethik
Seit den späten 1970er Jahren verortet Apel die Moral einer idealen Kommunikationsgemeinschaft im »Teil A« seiner Diskursethik; »Teil B« enthält eine »geschichts- und institutionenbezogene Verantwortungsethik«, die die »ideale Diskursmoral« dahingehend relativiert, dass es »moralisch nicht zumutbar« sei, deren konsequente Umsetzung auch in denjenigen Situationen zu verlangen, in denen wir mit repressiven Machtstrukturen oder roher Gewalt konfrontiert sind. 1 Mittels des in Teil B aufgestellten »teleologischen Ergänzungsprinzips« zur idealen Diskursmoral sollen die »unter den Bedingungen der Lebenswelt menschlichen Akteuren zumutbaren Normen« ermittelt werden. 2 Das Ergänzungsprinzip fordert uns dazu auf, auf der ganzen Erde sukzessive die Bedingungen dafür herzustellen, dass alle »moralisch relevanten Interessenkonflikte« durch »praktische Diskurse« unter Ausschaltung von »Gewaltpraktiken« gelöst werden können, wobei wir auf dem Weg zu diesem Ziel den Forderungen der idealen Diskursmoral – wie der Pflicht zur Wahrhaftigkeit und Gewaltlosigkeit – in Konfliktsituationen zuwiderhandeln dürfen. 3 Die Rede von »praktischen Diskursen« nimmt hierbei sowohl auf ArApel: »Kann der postkantische Standpunkt der Moralität noch einmal in substantielle Sittlichkeit ›aufgehoben‹ werden?«, S. 134; »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 246–250, 262 f., 275; »Auflösung der Diskursethik?«, S. 811. Vgl. Apels Beiträge zu: W. Oelmüller (Hrsg.): Beiträge zur Normendiskussion. Bd. 1: Transzendentalphilosophische Normendiskussionen. Paderborn 1978. S. 160 ff. 2 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 268, 276. 3 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 754 f.; ders.: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 262 f., 272 ff.; ders.: »Zurück zur Normalität?«, S. 468 f. 1
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Apels Unterscheidung zwischen den Teilen A und B seiner Diskursethik
gumentationen im weiten als auch im engen, spezifischen Sinne des Wortes Bezug. Apel verknüpft beide Bedeutungsmomente durch den Hinweis auf die Schlüsselrolle einer durch Sanktionsmechanismen abgesicherten inner- wie zwischenstaatlichen Rechtsordnung für die Realisierung des Ergänzungsprinzips miteinander: 4 Die Gefahr einer gewalttätigen Eskalation von Interessenkonflikten zwischen Personen, Gruppen oder Staaten lässt sich nur dann dauerhaft abwenden, wenn (1) die Frage der angemessenen Verteilung der Ressourcen für die Befriedigung vitaler materieller Bedürfnisse im Rahmen universal konsensfähiger Argumentationsformen entscheidbar ist und die Resultate solcher Diskurse mittels eines rechtlich kontrollierten inner- und zwischenstaatlichen Gewaltmonopols durchgesetzt werden, (2) in Bezug auf existentielle und religiöse Fragen, über die kein universaler Konsens erzielt werden kann, eine Pluralität von Diskursen und Lebensformen rechtlich geschützt wird. Das Ergänzungsprinzip gibt allerdings, für sich genommen, keine konkreten Richtlinien für ethische Konfliktsituationen vor, die angesichts der Realität struktureller Repression und offener Gewalt unausweichlich sind. Die »Begründung bzw. Rekonstruktion konkreter, situationsbezogener und daher revidierbarer Normen« wird vom Ergänzungsprinzip an »praktische Diskurse verschiedensten Typs«, also an Argumentationsgemeinschaften im weiten Sinne des Wortes, delegiert: mit der Auflage, dass langfristig sämtliche Diskurse, in denen ethisch relevante Fragen verhandelt werden, innerhalb einer normativen Rahmenordnung geführt werden, deren konkrete Gestalt in universal konsensfähigen Argumentationsformen festgelegt wird. 5 Diese »regulative Idee für die – revidierbare – Begründung« situationsbezogener Normen in »praktischen Diskursen der Betroffenen (bzw. ersatzweise ihrer Vertreter)« 6 bleibt allerdings, für sich genommen, völlig abstrakt. Eine »inhaltliche Bedeutung« gewinnt Apels Ergänzungsprinzip – und damit der Teil B seiner Diskursethik im Ganzen – erst durch sein »Selbsteinholungsprinzip der rekonstruktiven Wissenschaften«, demzufolge »der argumentative Diskurs und seine Präsuppositionen« als »schon erreichtes und der Möglichkeit nach Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 754 f. Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 260; ders.: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 670. 6 Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 670. 4 5
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Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik
erreichbares Telos des Rationalisierungsprozesses der Lebenswelt unterstellt werden muss«. 7 Da Apel mit seinem Selbsteinholungsprinzip an Habermas’ Theorem der Rationalisierung der Lebenswelt anknüpft, ohne jedoch seinen Letztbegründungs-Anspruch preiszugeben, kann er die seit den späten 1970er Jahren neu gefasste Gestalt seiner Diskursethik unter das Motto stellen: »mit Habermas gegen Habermas denken«. 8 Mit dieser programmatischen Formel macht Apel auf die – im Folgenden zu explizierenden – strukturellen Bezüge seines Selbsteinholungsprinzips zur Architektonik der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns (s. o. S. 19 f., 28 f.) aufmerksam.
2.
Die theoretisch-praktische Doppelfunktion von Apels Selbsteinholungsprinzip
Gemäß Apels Selbsteinholungsprinzip müssen die rekonstruktiven Einzelwissenschaften und die philosophische Theorie kommunikativer Rationalität den »argumentative[n] Diskurs und seine Präsuppositionen« als »schon erreichtes und der Möglichkeit nach erreichbares Telos des Rationalisierungsprozesses der Lebenswelt« unterstellen, wenn sie ihre eigenen Rationalitätsmaßstäbe als »Ergebnis der Geschichte« verstehen wollen; 9 die Rede vom argumentativen Diskurs bezieht sich hierbei auf die von ihnen selber praktizierten Argumentationsformen, d. h. auf Argumentationsgemeinschaften im engen, spezifischen Wortsinn. Die laut dem Selbsteinholungsprinzip zu unterstellende Teleologie meint somit die teils schon erreichte, teils noch ausstehende Ausbildung und gesellschaftliche Gestaltungskraft universal konsensfähiger Argumentationsformen. Das Selbsteinholungsprinzip hat eine theoretisch-praktische Doppelfunktion. 10 Im Folgenden sollen zunächst (1) seine explanative und zugleich kritische theoretische Funktion in Bezug auf die Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie in ihrem gesellschaftlichen Kontext, soApel: »Zurück zur Normalität?«, S. 469 f.; ders.: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 688. 8 Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 649; ders.: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 727. 9 Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 470; »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 688. 10 Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 469 f. 7
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Die theoretisch-praktische Doppelfunktion von Apels Selbsteinholungsprinzip
dann (2) seine ethisch-praktische Bedeutung für die inhaltliche Konkretisierung von Apels Ergänzungsprinzip erläutert und auf die Architektonik der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns zurückbezogen werden. Anschließend (Kap. IV 3) skizziere ich Habermas’ Kritik an Apels Bestimmung des Verhältnisses der Teile A und B seiner Diskursethik. (1) Die Rekonstruktion der historischen Genese universal konsensfähiger Argumentationsformen in ihrer Verflechtung mit sozialen Interaktionszusammenhängen ist ein Kernthema der »Wissenschaftsgeschichte« (einschließlich der Philosophiegeschichte). 11 Apel grenzt das Selbsteinholungsprinzip von der »metaphysischen Annahme« ab, dass die Weltgeschichte »durch ein Telos gesteuert wird«. 12 Der Wissenschafts- und Philosophiehistoriker muss vielmehr die Herausbildung universal konsensfähiger Argumentationsformen in dem Sinne als »Quasi-Telos« deskriptiv erfassbarer historischer Entwicklungen unterstellen, dass er diese Argumentationsformen als »normativen Maßstab« an die Geschichte von Diskursen anlegt, woraus sich die Leitdifferenz eines gelingenden oder blockierten bzw. verlangsamten Fortschritts ergibt. 13 Diese »quid juris?«-Perspektive ist insofern unhintergehbar, als der Wissenschaftshistoriker den universal konsensfähigen Argumentationsformen, deren methodische Standards seine eigene Tätigkeit anleiten, eine höhere Dignität in Bezug auf Gegenstände, die der wissenschaftlichen oder philosophischen Analyse zugänglich sind, zusprechen muss als anderen Diskursarten. Die teleologische »quid juris?«-Perspektive ergibt sich somit »unmittelbar« daraus, dass der Wissenschaftshistoriker seine eigene Rationalität als ein »Faktum« der Geschichte zum Thema macht. 14 Apel stellt dem »intern-hermeneutischen« Zugang der »Geisteswissenschaften« zur Wissenschaftsgeschichte, für den diese »quid juris?«-Perspektive unabdingbar ist, die »kausalen und funktionalen«, d. h. systemisch orientierten, Erklärungsmodelle der »externen Geschichte der Menschheit« gegenüber. 15 In der intern-hermeneutischen Betrachtungsweise werden die Motive untersucht, von denen die Beiträge von Wissenschaftlern und Philosophen zu Apel: »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«, S. 22. 12 A. a. O., S. 29. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 A. a. O., S. 30 f. 11
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Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik
den zeitgenössischen Diskursen geleitet waren. Die hermeneutische Betrachtungsweise ist insofern an den Begriff der Lebenswelt angebunden, als sie die »Handlungsgründe« historischer Akteure nachvollziehen will. 16 Da die »quid juris?«-Perspektive für den hermeneutisch orientierten Wissenschaftshistoriker unhintergehbar ist, muss er zwischen »guten« und »schlechten Gründe[n]« für wissenschaftliche und philosophische Forschungs- und Diskursbeiträge unterscheiden und dementsprechend die deskriptiv erfassbaren Fortschritte in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte damit erklären, dass die Rationalitätsmaßstäbe, an denen sich seine eigene Tätigkeit orientiert, als handlungsleitende Motive historischer Akteure wirksam waren. 17 Er kann – bzw. muss – zugleich das faktische Verfehlen von Erkenntnisfortschritten, die auf der jeweiligen historischen Entwicklungsstufe erreichbar waren, auf die Macht von Vorurteilen, (wissenschafts-)politischen Interessen usw. zurückführen. Die intern-hermeneutische Geschichtsrekonstruktion schließt damit einen kritischen Zug ein. Die hermeneutische Betrachtungsweise muss durch eine kausale bzw. systemfunktionale Analyse der »externen Geschichte der Menschheit«, d. h. beobachtbarer historischer Entwicklungen, ergänzt werden, um die gesellschaftliche Einbindung wissenschaftlicher und philosophischer Diskurse adäquat berücksichtigen zu können. Die Analyse der »externen« Geschichte bleibt insofern an die quasi-teleologische Rekonstruktion historischer Diskursformen in der intern-hermeneutischen »quid juris?«-Perspektive angebunden, als sie die Unterstellung eines weltgeschichtlichen Rationalisierungsfortschritts nicht außer Kraft setzen kann; sie muss jedoch auf jede Bewertung des Verhaltens historischer Akteure verzichten. Die methodische Beschränkung auf die rein explanative »quid facti?«Perspektive darf die kausalen bzw. systemfunktionalen Erklärungsansätze nicht dazu verleiten, die intern-hermeneutische Betrachtungsweise als ›unwissenschaftlich‹ hinzustellen. Einem solchen »naturalistischen Reduktionismus« kann entgegengehalten werden, dass auch rein kausal bzw. systemfunktional forschende Wissenschaftler ihre Kollegen als Personen behandeln müssen, die die Verantwortung dafür tragen, ob sie die methodischen Standards ihrer Wissenschaft korrekt oder aber – etwa aufgrund ökonomischer oder wissen16 17
A. a. O., S. 20. Ebd.; Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 470 f.
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Die theoretisch-praktische Doppelfunktion von Apels Selbsteinholungsprinzip
schaftspolitischer Interessen – nachlässig handhaben. 18 Da Naturwissenschaftler und Systemtheoretiker in derselben Weise wie Geisteswissenschaftler davon ausgehen müssen, dass die wissenschaftliche Seriosität der Arbeiten ihrer jeweiligen Fachkollegen allgemeinverbindlich beurteilt werden kann, lässt sich die Dignität hermeneutischer Untersuchungen der Motivationen historischer Wissenschaftler unter der Leitfrage, ob die jeweils erreichbaren methodischen Standards konsequent umgesetzt wurden, nicht grundsätzlich bestreiten. Apels Charakterisierung der intern-hermeneutischen und der kausalen bzw. systemfunktionalen Geschichtsrekonstruktion als »komplementäre[r]« Disziplinen 19 bildet das Pendant zur methodischen Doppelperspektive von System und Lebenswelt in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. (2) Apel interpretiert das Theorem einer gattungsgeschichtlich wirksamen Entwicklungslogik der Normativität, das er aus Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus übernimmt, gemäß seinem Selbsteinholungsprinzip als eine quasi-teleologische Unterstellung: in dem Sinne, dass die gattungsgeschichtliche Herausbildung rationaler ethischer Argumentationsformen als »Approximation« an den Teil A seiner Diskursethik, der aus der Reflexion auf die impliziten Voraussetzungen argumentativer Diskurse entspringt, begriffen werden kann. 20 Apel verknüpft das Selbsteinholungsprinzip und das Ergänzungsprinzip des Teils B durch den kantischen Begriff der »reflektierenden Urteilskraft« miteinander. 21 Während die »bestimmende« Urteilskraft im Sinne Kants gegebene allgemeine Begriffe bzw. Regeln auf Einzelfälle appliziert, will die »reflektierende« Urteilskraft im Ausgang von gegebenen Einzelfällen »das Allgemeine« allererst »finden«. 22 Die Urteilskraft ist insofern ein ErkenntnisverApel: »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«, S. 30; ders.: »Zurück zur Normalität?«, S. 471. 19 Apel: »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«, S. 30; ders.: »Szientifik, Hermeneutik, Ideologiekritik«. In: ders: Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 96–127, hier: 111 f. 20 A. a. O., S. 29; Apel: »Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«, S. 307 f., 313. 21 Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 465 ff. 22 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Einleitung. In: Kant: Werke, Bd. 5. Hrsg. von W. Weischedel. 6 Bde. Darmstadt 1956–64, S. 251. Vgl. Apel: »Diskursethik als Verantwortungsethik und das Problem der ökonomischen Rationalität«. In: ders.: Diskurs und Verantwortung, S. 270–305, hier: 295. 18
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Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik
mögen, als bei der Zuordnung des Besonderen zum Allgemeinen Subsumptionsfehler auftreten können. Da die Rechte und Pflichten der Apel’schen idealen Diskursmoral in jeder Argumentationsgemeinschaft im weiten Sinne des Wortes zumindest partiell anerkannt werden müssen (s. o. S. 51), lassen sich sämtliche Diskurssituationen als Anwendungsfälle der idealen Diskursmoral – wenn auch z. T. unter Einschränkungen – begreifen. Hierbei muss der Diskursethiker die Etablierung von Argumentationsgemeinschaften im engen, spezifischen Wortsinn, in denen die ideale Diskursmoral zumindest für die Dauer der Diskussion unumschränkte Gültigkeit beanspruchen kann, als historischen Fortschritt werten und in diesem Sinne als Quasi-Telos der Geschichte derjenigen Diskurse, in denen ethisch relevante Fragen verhandelt werden, unterstellen. Ebenso wie der hermeneutisch orientierte Wissenschaftshistoriker die Forschungs- und Diskussionsbeiträge geschichtlicher Akteure danach bewerten kann, ob sie auf der Höhe der jeweils erreichbaren wissenschaftlichen Standards waren, ist der Diskursethiker im Apel’schen Sinne zu einer »kritischen Rekonstruktion« der »institutionellen Konventionen« und kommunikativen Praktiken historischer Gesellschaften in Hinblick darauf befugt, ob die institutionell etablierten bzw. tolerierten Diskurse als den »besonderen historischen Bedingungen« adäquate und in diesem Sinne »historisch legitimierbare Teilrealisierungen der universalen Regeln bzw. Normen« der Diskursethik anzusehen sind, ob also die zeitgenössischen Fortschritte bei der Durchsetzung universal konsensfähiger Argumentationsformen in der betreffenden Gesellschaft wirksam werden konnten oder aber behindert wurden. 23 Die Pointe der Argumentation Apels liegt darin, dass er die kritische Rekonstruktion ethisch relevanter historischer Diskursformen zur Aufgabe der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft erklärt. 24 Das Allgemeine, das mittels einer solchen Rekonstruktion gefunden werden soll, fällt demnach nicht mit der »geschichtsabstraktiv« gewonnenen idealen Diskursmoral zusammen – diese ist dem Diskursethiker ja bekannt: 25 Es besteht vielmehr in den geschichtsbezogenen Normierungen des Teils B der
Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 469; ders.: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 404. 24 Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 468 f. 25 Vgl. Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 250. 23
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Die theoretisch-praktische Doppelfunktion von Apels Selbsteinholungsprinzip
Apel’schen Diskursethik. Das Selbsteinholungsprinzip ist für die inhaltliche Konkretisierung des Ergänzungsprinzips insofern unverzichtbar, als dieses die Bestimmung von situationsbezogenen »inhaltlichen Normen« an Diskurse der Betroffenen delegiert: 26 Die Frage, ob faktisch akzeptierte bzw. durchgesetzte Normenkodices als »historisch legitimierbare Teilrealisierungen« der universalen diskursethischen Normen zu werten sind, lässt sich demzufolge nur durch die vom Selbsteinholungsprinzip geforderte Rekonstruktion der Diskurse, in denen diese Normenkodices zur Sprache kamen, klären – wobei der Diskursabbruch und die Diskursverweigerung als Grenzfälle zu den Diskursformen zählen. Das Selbsteinholungsprinzip verlangt eine kritische Überprüfung des Diskursverhaltens geschichtlicher Akteure unter der Leitperspektive, ob die Chancen einer konsensorientierten diskursiven Lösung von Interessenkonflikten hierdurch befördert oder blockiert wurden. Die Rekonstruktion ethisch relevanter historischer Diskurse muss ebenso wie die Wissenschaftsgeschichte eine intern-hermeneutische mit einer extern-erklärenden Erklärungsperspektive verknüpfen. In der hermeneutischen Betrachtungsweise erweist es sich als anachronistisch, den »Vor-Aufklärungs-Gesellschaften« pauschal vorzuwerfen, dass sie sich nicht um eine rationale Begründung sozialer Normenkodices bemüht haben. 27 Erst die Aufklärung hat diejenige »Stufe der moralischen Urteilskompetenz« erreicht, auf der ein solcher Begründungsversuch mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden kann. 28 Die kausale bzw. systemfunktionale Analyse des institutionellen Rahmens historischer Gesellschaften muss materiellen »Lebensnotwendigkeit[en]« eine basale Bedeutung zuerkennen. 29 Wenn eine Gesellschaft nicht über genügend Ressourcen für die Ernährung der gesamten Bevölkerung verfügt und ein allgemeiner Konsens darüber, welche Bevölkerungsgruppen bevorzugt werden sollen, ausgeschlossen ist, kann ein autoritäres staatliches Handeln (wozu auch die Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen auf Kosten einer Minderheit ohne Überlebenschancen gehört) das wirksamste Mittel gegen die Gefahr eines Bürgerkriegs bilden.
A. a. O., S. 246, 260. S. o. S. 57. A. a. O., S. 267. 28 Vgl. Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 459. 29 Apel: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 404. 26 27
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Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik
Der Diskursethiker muss diesem systemfunktionalen Argument Rechnung tragen. Apel stimmt Habermas darin zu, dass Marx das »klassische Modell« einer »Vermittlung« von »historischem Verstehen der Gattungsgeschichte« mit dem »quasi-kausalanalytische[n] Erklären« sozioökonomischer Strukturen bereit gestellt hat und dass die kausale Erklärungsperspektive des Marxismus systemtheoretisch reformuliert werden muss. 30 Apels Selbsteinholungsprinzip knüpft somit an die für Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus und seine Theorie des kommunikativen Handelns zentrale Bestimmung der gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität als eines integralen Moments der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen an (s. o. S. 18). Mit dem kritischen Impetus des Selbsteinholungsprinzips hält Apel am marxistischen Kernanliegen der Kritik von Ideologien fest, die konsensuellen Lösungen von Interessenkonflikten im Wege stehen. 31 Für Apel besteht – wie für Habermas – ein Manko des Marxismus darin, eine philosophische Ethik-Begründung für entbehrlich zu halten. 32 Mit dem Selbsteinholungsprinzip will Apel eine Leerstelle im marxistischen Programm der Selbstreflexion der Gattungsgeschichte (s. o. S. 25) füllen: Er erklärt es zur Aufgabe der Diskursethik, »das Problem der Vermittlung von Theorie und Praxis in der Form aufzulösen, dass ein allgemeinverbindliches normatives Prinzip« aufgestellt wird, »das zugleich die theoretische Rekonstruktion der geschichtlichen Situation anzuleiten und sich darin zu konkretisieren vermag«, wobei die Gegenwart als eine Etappe in der »gesellschaftlichen Formierung der Menschheit als Interpretations- und Interaktionsgemeinschaft« begriffen werden soll. 33 Für unsere gegenwärtige »Situation« und damit auch für die konkreten diskursethischen Normierungen für unser Handeln ›hier und jetzt‹ ist »die in der Gegenwart fortwirkende Geschichte« von konstitutiver Bedeu-
A. a. O., S. 408. Ebd. 32 Apel: »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht«. In: ders.: Diskurs und Verantwortung, S. 69–102, hier: 89. Vgl. Habermas: »Die Rolle der Philosophie im Marxismus«. In: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 49–59, hier: 50 ff. 33 Ebd.; Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 366. 30 31
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Die theoretisch-praktische Doppelfunktion von Apels Selbsteinholungsprinzip
tung. 34 Der vom Selbsteinholungsprinzip verlangten »normativen und empirischen Rekonstruktion der menschlichen Gattungsgeschichte« sollen Anhaltspunkte dafür entnommen werden, in welchem Maße die ideale Diskursmoral uns selbst und unseren Zeitgenossen zugemutet werden kann. 35 Hierbei muss insbesondere geklärt werden, inwieweit die bereits erzielten Fortschritte in Bezug auf die Möglichkeiten einer diskursiven Lösung von Interessenkonflikten in der Gegenwart vorangetrieben oder unterlaufen werden. So ist etwa die Errichtung einer Theokratie als ideologische »Regression auf eine bereits überholte Stufe« sozialer Normenkodices zu werten, da die Ausbildung universal konsensfähiger Argumentationsformen hierdurch erschwert und dies mit Argumenten gerechtfertigt wird, die nicht universal konsensfähig sind. 36 Wenn ein Staat die Meinungsfreiheit so weit einschränkt, dass selbst wissenschaftlich fundierte Aussagen zu gesellschaftlich relevanten Themen (wie z. B. den Umweltschutz oder gesundheitliche Risiken am Arbeitsplatz) unter Strafe gestellt werden, kann es gemäß dem Teil B der Diskursethik Apels legitim sein, beim Kampf gegen das Regime die Forderungen der idealen Diskursmoral nach Wahrhaftigkeit und Gewaltlosigkeit vorübergehend zu suspendieren – wobei die realpolitischen Konsequenzen eines solchen Handelns stets auch in der systemfunktionalen Perspektive abgewogen werden müssen. Habermas’ Charakterisierung des marxistischen Programms der Selbstreflexion der Gattungsgeschichte (s. o. S. 25) lässt sich insofern auf Apels Selbsteinholungsprinzip übertragen, als durch die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte argumentativer Diskurse der Entstehungszusammenhang der Diskursethik aufgehellt werden soll, während die vom Selbsteinholungsprinzip mittels der kritischen Überprüfung realer Diskursformen zu leistende Konkretisierung des Ergänzungsprinzips deren Verwendungszusammenhang betrifft. Inwiefern kann uns aber das Ergänzungsprinzip dazu verpflichten, einen über die Gegenwart hinausreichenden »moralischen Fortschritt praktisch anzustreben und seine geschichtliche Realisierung in Anknüpfung an die geschichtlichen Vorbedingungen für denkbar zu
Apel: »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht«, S. 102. 35 Apel: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 403 f. 36 Vgl. a. a. O., S. 406. 34
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Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik
halten«? 37 Das »Postulat der Pflichtannahme eines möglichen moralischen Fortschritts der Geschichte« 38 ist für den Teil B der Apel’schen Diskursethik insofern unverzichtbar, als darin die inhaltliche Bestimmung situationsbezogener Normierungen zur Sache der »Betroffenen (bzw. ersatzweise ihrer Vertreter)« erklärt wird, wobei alle Aussagen darüber, was ›hier und jetzt‹ ethisch geboten ist, den »Status von revidierbaren Vorschlägen« haben, die sich einer kritischen Überprüfung stellen müssen. 39 Wenn wir uns dazu entschließen, gegen die Urheber von Repression unter Einsatz von Betrug oder Gewalt vorzugehen, können wir von unseren Gegnern keine Zustimmung erwarten. In einer solchen Situation lässt sich die für die Diskursethik grundlegende Forderung nach universaler Konsensfähigkeit ethischer Normierungen bzw. ethisch motivierter Handlungsweisen nur in Gestalt der Erwartung aufrecht erhalten, dass der von uns angestrebte moralische Fortschritt die Chancen der diskursiven Konfliktlösung vergrößert und eine künftige erweiterte Argumentationsgemeinschaft zu dem Schluss kommen wird, dass unsere aktuellen Gegner unserer Handlungsweise hätten zustimmen können, wenn sie bereit gewesen wären, die von ihnen zu verantwortende Repression zu beenden. 40 Jemandem, der die Hoffnung auf künftige moralische Fortschritte für illusorisch erklärt, kann entgegengehalten werden, dass eine solche Skepsis zur self-fulfilling prophecy werden kann. Hiermit ist allerdings zunächst nur gezeigt, dass die moralische Fortschrittsperspektive unerlässlich ist, wenn das Vorhaben des Teils B der Apel’schen Diskursethik, konkrete, situationsbezogene Normierungen vermittels der kritischen Überprüfung der Diskurse der Betroffenen bzw. ersatzweise ihrer Vertreter inhaltlich zu bestimmen, sinnvoll sein soll.
Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 467. A. a. O., S. 466. 39 Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 670; ders.: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 246. 40 Vgl. Apel: »Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik«. In: ders./ Matthias Kettner (Hrsg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1992. S. 29–61, hier: 35 f. 37 38
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Habermas’ Kritik an der modifizierten Gestalt der Diskursethik Apels
3.
Habermas’ Kritik an der modifizierten Gestalt der Diskursethik Apels
Habermas unterzieht Apels These, der Teil B seiner Diskursethik könne aus Teil A »hergeleitet« werden, einer fundamentalen Kritik. 41 Apel kennzeichnet die ideale Diskursmoral des Teils A als eine »Deontologie«: 42 Aus ihr ergibt sich – so seine These – die moralische »Pflicht«, die »Hindernisse« für die »unmittelbare Anwendung« der idealen Diskursnormen zu beseitigen. 43 Apel begründet seinen Standpunkt, dass deren »Anwendungsbedingungen noch nicht realisiert« sind, damit, dass derjenige, der aus der idealen Diskursmoral die Forderung ableitet, der faktisch virulenten Gewalt und Repression mit unbeirrbarer Gewaltlosigkeit und Wahrhaftigkeit zu begegnen, keine kohärente Position vertritt: 44 Er nimmt die vollständige Unterdrückung von Diskursen, die auf universal konsensfähige Ergebnisse abzielen, in Kauf; diese müssen jedoch real geführt werden können, wenn die Diskursethik ihren idealen Normierungen Geltung verschaffen will. Aus dieser Inkonsistenz zieht Apel den Schluss, dass wir dazu verpflichtet seien, die Anwendungsbedingungen der idealen Diskursmoral weltweit sukzessive herzustellen. Apel vertritt hiermit allerdings – wie Habermas m. E. zu Recht einwendet – selber eine »widersprüchliche« Position. 45 Die für den Übergang von Teil A zu Teil B der Diskursethik Apels basale These, dass wir die idealen Diskursnormen situativ einschränken dürfen, um auf diese Weise deren Anwendungsbedingungen allererst weltweit herzustellen, »sprengt den konzeptionellen Rahmen einer deontologischen Theorie«. 46 Die Klassifizierung der idealen Diskursmoral Apel: »Das Spannungsverhältnis zwischen Ethik, Völkerrecht und politisch-militärischer Strategie in der Gegenwart«, S. 215; Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 196 ff. 42 »Das Spannungsverhältnis zwischen Ethik, Völkerrecht und politisch-militärischer Strategie in der Gegenwart«, S. 215. Vgl. Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 250. 43 Apel: »Kann der postkantische Standpunkt der Moralität noch einmal in substantielle Sittlichkeit ›aufgehoben‹ werden?«, S. 144 f., 148. Vgl. Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 250. 44 Apel: Vorwort zu Diskurs und Verantwortung, S. 10; »Das Spannungsverhältnis zwischen Ethik, Völkerrecht und politisch-militärischer Strategie in der Gegenwart«, S. 208. 45 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 197. 46 A. a. O., S. 196. 41
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Die Umakzentuierungen in Apels Diskursethik
als Deontologie besagt, dass diese jeden Einzelnen dazu verpflichtet, ihren Normierungen Folge zu leisten. Im Rahmen einer deontologischen Ethik ist es nicht zulässig, sich vom Gebot der Gewaltlosigkeit oder Wahrhaftigkeit mit dem Hinweis darauf zu entbinden, dass Andere Gewalt anwenden oder lügen. Apel schwächt dementsprechend die Charakterisierung der idealen Diskursmoral als Deontologie selber ab: mit dem Eingeständnis, dass ihre »Grundnormen« nicht »absolut befolgungspflichtig« seien: 47 »In der Lebenswelt (außerhalb des ›handlungsentlasteten‹ Diskurses der Philosophie) sind sie immer dann unbestreitbar gültig, wenn die in der Diskursethik geforderten praktischen Diskurse der moralischen Konfliktlösung mit den anderen Menschen geführt werden können. Ist dies etwa aus verantwortungsethischen Gründen nicht möglich, dann können selbst die angeführten Grundnormen nicht befolgungsgültig sein – sozusagen aus besonderen Gründen einer Verantwortungsethik.« 48
Da die idealen Diskursnormen – wie Apel hiermit einräumt – nicht den Charakter einer unbedingten Pflicht haben, lässt sich aus ihnen nicht die unbedingte Pflicht ableiten, auf die weltweite Herstellung der Rahmenbedingungen für die diskursive Lösung von Interessenkonflikten hinzuwirken. Ob eine solche Zielperspektive jemals realisierbar ist, bleibt ungewiss. Sobald uns die Verfolgung dieses Ziels Opfer abverlangt bzw. mit ernsthaften Risiken konfrontiert, kann man es uns daher nicht verwehren, am Ergänzungsprinzip in derselben Weise Abstriche zu machen, wie wir es nach Apel an der idealen Diskursmoral angesichts der Realität von Repression und Gewalt tun dürfen. Aus Apels These, Teil B seiner Diskursethik sei aus Teil A hergeleitet, ergibt sich demnach die Konsequenz, dass das Ergänzungsprinzip ebenso wenig »absolut befolgungspflichtig« ist wie die ideale Diskursmoral selber. Sein Verpflichtungscharakter bleibt damit insgesamt unklar. Dementsprechend kann auch die von Apel postulierte »Pflichtannahme« eines über die Gegenwart hinausreichenden »möglichen moralischen Fortschritts der Geschichte« keine unbedingte Gültigkeit beanspruchen. 49 So bleibt zu fragen, warum ein Apel: »Diskursethik als Antwort auf die Situation des Menschen in der Gegenwart«. In: Marcel Niquet: Diskursethik und Diskursanthropologie. Freiburg/München 2002. S. 13–94, hier: 75. 48 A. a. O., S. 76. 49 Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 466. Vgl. Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 196. 47
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künftiger Fortgang der Rationalisierung der Lebenswelt im Sinne der zunehmenden Relevanz universal konsensfähiger Argumentationsformen von uns unterstellt werden »muss«, wie Apel mit seinem Selbsteinholungsprinzip behauptet. 50 Habermas zieht aus diesen systematischen Schwierigkeiten den Schluss, Apel stelle mit der Unterscheidung der Teile A und B seiner Diskursethik »die Weichen falsch«. 51 Die systematische Relevanz, die Apel dieser Unterscheidung beimisst, wird in der zwischen Apel und Habermas vermittelnden diskursethischen Position, die in Kap. VIII umrissen werden soll, herabgestuft (s. u. S. 140). Habermas’ Rekonstruktion der weltgeschichtlichen Rationalisierung des Rechts (Kap. V) bildet einen integralen Teil der anvisierten vermittelnden Position.
Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 688. 51 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 197. 50
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V. Habermas’ Analyse der Rolle des Rechts im weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozess
Habermas rekonstruiert in seiner Theorie des kommunikativen Handelns auf der Basis einer systemfunktionalen Analyse historischer Gesellschaftsformationen die gattungsgeschichtliche Rationalisierung ihres lebensweltlichen Hintergrundkonsenses (s. o. S. 37– 41). In der knappen Rekapitulation dieser Untersuchungen in Faktizität und Geltung steht die »Scharnierfunktion« des Rechts »zwischen System und Lebenswelt« im Vordergrund. 1 Der erste weltgeschichtliche Rationalisierungsschub führt von den archaischen Stammesgesellschaften zu den staatlich organisierten frühen Hochkulturen, die erstmals eine Rechtsordnung etablieren, der zweite besteht in der Säkularisierung des Rechts in der europäisch geprägten Neuzeit. Den institutionellen Kern archaischer Stammesgesellschaften bilden Clan-Strukturen. Strategische Nutzenkalküle sind gegenüber Familienmitgliedern bzw. Angehörigen des eigenen Stammes verpönt und nur gegenüber denjenigen Fremden erlaubt, mit denen keine dauerhafte Interaktion angestrebt wird. 2 Diese basale Normierung wird durch das magisch-mythische Weltbild mit seinen starken Tabuisierungen aufrechterhalten. 3 In der Beobachterperspektive wird deren systemfunktionale Effizienz hervorgehoben: Sie halten die Individuen zur Erfüllung ihrer sozialen Pflichten an und beugen hiermit Konflikten innerhalb der Clans vor. In der geltungstheoretisch orientierten Teilnehmerperspektive ist das magisch-mythische Weltbild mit seinen präkonventionellen Normierungen als Vorstufe des weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses anzusehen, da es »unterhalb der Schwelle der grammatischen Rede« lokalisiert ist. 4 1 2 3 4
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 39–52, 77. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 235 f. A. a. O., S. 237; Habermas: Faktizität und Geltung, S. 39 f. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 74.
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Habermas’ Analyse der Rolle des Rechts
In den frühen Hochkulturen bildet sich die staatliche Rechtsordnung als ein soziales Subsystem aus, das mit Hilfe seines Gewaltmonopols soziale Stabilität sichern soll. Dies ist systemfunktional notwendig, da die Entfaltung der Tauschwirtschaft zu wachsender sozialer Ungleichheit führt und das hieraus resultierende Konfliktpotential die Integrationskapazität archaischer Clan-Strukturen überfordert. 5 Die Besitzenden machen die staatstragende Schicht aus; die ökonomisch Deklassierten – die Sklaven bzw. Leibeigenen, Tagelöhner, landlosen Bauern usw. – sind auch rechtlich unterprivilegiert. In der lebensweltlichen Teilnehmerperspektive stellt sich die Rechtsordnung der frühen Hochkulturen als institutionelle Implementierung des konventionellen Moralniveaus dar (s. o. S. 39 f.). Habermas erkennt den Hochreligionen und der metaphysischen Philosophie eine unentbehrliche Rolle bei dessen Herausbildung zu. 6 Er betont zugleich, dass die religiös-metaphysische Legitimation der staatlichen Rechtsordnungen ideologisch durchtränkt war: Sie lässt die »Selbsttäuschung« der Führungseliten und »Täuschung« der Beherrschten über das Verhältnis der reklamierten religiös-metaphysischen Ideale der Gerechtigkeit, Brüderlichkeit usw. zu den realen Machtstrukturen erkennen. 7 Der bürgerliche Rechtsstaat, der in der Neuzeit zunächst in Westeuropa und den USA errichtet wird, verschafft den auf dem postkonventionellen Moralniveau angesiedelten aufklärerischen Ideen der Menschenrechte und Volkssouveränität institutionelle Geltung. Die Abschaffung der Sklaverei und Leibeigenschaft und die parlamentarische Regierungsform machen der staatsrechtlichen Ausgrenzung der ökonomisch Unterprivilegierten ein Ende. Das moderne Recht bleibt dennoch zutiefst ambivalent, da es »Imperative unterschiedlicher Herkunft« verarbeitet: einerseits systemische »Funktionsimperative einer ausdifferenzierten Wirtschaftsgesellschaft«, andererseits die lebensweltlichen Ansprüche der Individuen auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. 8 Habermas entwickelt diesen »Grundgedanken« von Faktizität und Geltung, den er bereits 5 Habermas: »Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus«. In: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 144–199, hier: 177 f.; Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 280. 6 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 127. 7 A. a. O., S. 281; Habermas: »Entgegnung«. In: Honneth/Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln, S. 383. 8 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 59.
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in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus skizziert, im Ausgang vom historischen Faktum, dass die »subjektiven Privatrechte«, die Locke auf die Formel »Leben, Freiheit und Eigentum« bringt, »den Kern des modernen Rechts« bilden: Sie umgrenzen »legitime Spielräume individueller Handlungsfreiheiten« und sind in diesem Sinne »auf die strategische Verfolgung privater Interessen zugeschnitten«. 9 Habermas schließt sich der Auffassung Marx’, Engels’ und Webers an, dass die neuzeitliche kapitalistische Wirtschaft auf die rechtsstaatliche Garantie eines freien Arbeitsmarkts und privatwirtschaftlicher Verträge angewiesen ist. 10 Der systemische Imperativ an das Recht, Freiräume für die Verfolgung marktwirtschaftlicher Interessen zu schaffen, weist eine Strukturparallele zu dem aus der Erosion religiös-metaphysischer Traditionen resultierenden lebensweltlichen Anspruch der Individuen auf, ihr Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten. Der bürgerliche Rechtsstaat erfüllt diesen Anspruch durch die Beschränkung seiner normativen Vorgaben auf die Ebene demokratischer Verfahrensregeln. Der doppelte Imperativ, der in das moderne Recht eingeht, schlägt sich in dessen Grundbestimmungen der »Positivität«, des »Legalismus« und der »Formalität« nieder: »Positivität. Das moderne Recht gilt als positiv gesetztes Recht. Es wird nicht durch Interpretation anerkannter und geheiligter Traditionen fortgebildet […] Legalismus. Das moderne Recht unterstellt den Rechtspersonen außer einem generellen Rechtsgehorsam keine sittlichen Motive; es schützt ihre privaten Neigungen innerhalb sanktionierter Grenzen. Sanktioniert werden nicht böse Gesinnungen, sondern normabweichende Handlungen […] Formalität. Das moderne Recht definiert Bereiche der legitimen Willkür von Privatpersonen.« 11
Das bürgerliche Recht fängt das aus dem Schwund verbindender religiös-metaphysischer Traditionen entspringende »Dissensrisiko« auf, indem es den institutionellen Rahmen für eigendynamisch operierende soziale Subsysteme – die geldgesteuerte kapitalistische Wirtschaft und die von Verfahrensregeln und Sachkriterien geleitete staatliche Administration – schafft, deren Effizienz soziale Konflikte A. a. O., S. 45; Habermas: »Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch«. In: Rapic (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus, S. 295. 10 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1. S. 341 ff. 11 A. a. O., S. 351 f. Nahezu gleichlautend in Habermas: »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«, S. 264. 9
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im Zaum hält. 12 Hiermit erfüllt der moderne Rechtsstaat eine gesellschaftsstabilisierende Funktion. Die Kehrseite dieser Entwicklung besteht darin, dass die lebensweltlichen Interaktionsprozesse der Individuen angesichts der Wirkungsmacht von Ökonomie und Staatsapparat zusehends einflusslos werden. 13 Das bürgerliche Recht droht somit durch seine systemstabilisierende Funktion genau die Freiheitsspielräume der Individuen auszuhöhlen, deren verfassungsmäßige Garantie seine emanzipatorische Fortschrittsleistung ausmacht. Habermas’ Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats soll der Abkoppelung formal-demokratischer Entscheidungsmechanismen von lebensweltlichen Verständigungsprozessen entgegenwirken. Auf Habermas’ Konzeption der »kommunikativen Macht« der Zivilgesellschaft, der hierbei eine Schlüsselrolle zukommt, 14 wird allerdings im Folgenden nur am Rande eingegangen (s. u. S. 84), da die Auseinandersetzung zwischen Apel und Habermas über die Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung ein anderes Thema fokussiert: ob moralischen Prinzipien eine diskursethische Begründungsfunktion für das positive Recht zuzuerkennen ist. 15
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 42, 58 f., Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2. S. 272 ff., 488. 14 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 187–239. 15 Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 45 (wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 85). Vgl. Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 735. 12 13
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VI. Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht in Faktizität und Geltung
Die faktische Etablierung einer weitgehend säkularisierten demokratischen Rechtsordnung in den modernen westlichen Gesellschaften liegt den diskursethischen »quid juris?«-Analysen von Faktizität und Geltung zugrunde. 1 Sie intendieren eine »Bedeutungsexplikation« der Diskurse und institutionellen Bindungen demokratischer Staatsbürger in Hinblick auf ihre »Präsuppositionen«. 2 In dieser Zielsetzung kommt die diskursethische Begründungsfunktion, die Habermas dem Lebenswelt-Begriff zuerkennt, zum Ausdruck: Habermas’ Rekurs auf die lebensweltliche »Binnenperspektive« demokratischer Akteure schließt die Absage an den Anspruch Apels ein, die Diskursethik könne ihre basalen Normierungen im starken deontologischen Sinne eines »präskriptive[n] ›Muss‹« vorbringen. 3 Die »quid juris?«-Argumentation von Faktizität und Geltung setzt beim »Diskursprinzip« (»D«) an; Habermas gewinnt aus ihm einerseits den moralischen »Universalisierungsgrundsatz« (»U«), andererseits das Demokratieprinzip, das er mit dem Prinzip des ethisch legitimen Rechts gleichsetzt. 4 Im Folgenden soll zunächst auf seinen Aufsatz »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral« in Die Einbeziehung des Anderen eingegangen werden, wo die Explikation von D und U in Faktizität und Geltung weitergeführt und z. T. neu akzentuiert wird. »D« besagt: »nur die Normen dürfen Gültigkeit beanspruchen, die in praktischen Diskursen die Zustimmung aller Betroffenen finden könnten«. 5 »D« identifiziert somit Habermas: Faktizität und Geltung, S. 42 f. A. a. O., S. 166. 3 Habermas: »Replik auf Beiträge zu einem Symposium der Cardozo Law School« [zu Faktizität und Geltung]. In: ders.: Die Einbeziehung des Anderen, S. 309–398, hier: 387; ders.: Faktizität und Geltung, S. 18. 4 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 138 ff. 5 Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 59. Vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 138. Habermas definiert »Hand1 2
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
die Gültigkeit einer Norm mit ihrer universalen Konsensfähigkeit in argumentativen Diskursen. Die durch »epistemische Gründe« motivierte »Zustimmung«, um die es hier geht, muss von einer »aus der egozentrischen Sicht einer jeden rational motivierte[n] Vereinbarung« unterschieden werden, da ethische Normen nicht in egozentrischen Nutzenkalkülen verankert werden können. 6 Habermas führt das Diskursprinzip D hypothetisch ein: »›D‹ gibt die Bedingung an, die gültige Normen erfüllen würden, wenn sie begründet werden könnten«. 7 Die beiden nächsten Argumentationsschritte, die von D zum moralischen Universalisierungsgrundsatz U und zum Demokratieprinzip führen, resultieren aus der »selbstreferentielle[n] Bezugnahme« auf die in D angesprochene Argumentationspraxis. 8 (1) Es gehört zum »impliziten Gehalt allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen«, dass jeder, der einen relevanten Beitrag zum jeweiligen Diskursthema machen kann, angehört werden muss, jeder zur Aufrichtigkeit verpflichtet ist und die Kommunikation keinen Zwängen außer dem der Überzeugungskraft des besseren Arguments unterliegen darf. 9 Da die Auffassung darüber, »was als gutes oder schlechtes Argument zählt«, historischen Wandlungen unterliegt, ist D an die Rekonstruktion der Rationalisierung der Lebenswelt angebunden. 10 Die Diskursethik eröffnet mit der Formulierung von D einen philosophischen Meta-Diskurs als »philosophischen Nachvollzug« der faktisch vorgegebenen »lebensweltlichen Begründungspraxis«, wodurch deren »kritisches Verständnis« gefördert werden soll. 11 Den Maßstab für die Beurteilung und Kritik der lebensweltlichen Diskurse bilden hierbei die nachmetaphysisch spezifizierten aufklärerischen Anforderungen an die Begründung von Geltungsansprüchen. 12 Habermas bringt in Faktizität und Geltung und »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral« den Univerlungsnormen« als »zeitlich, sozial und sachlich generalisierte Verhaltenserwartungen« (ebd.). 6 Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 59. S. o. S. 36 f. 7 A. a. O., S. 59. 8 Ebd. 9 A. a. O., S. 60 f. 10 A. a. O., S. 60; Habermas: Faktizität und Geltung, S. 127. 11 Vgl. Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 13. 12 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 138.
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
salisierungsgrundsatz U als eine »Argumentationsregel«, die das Diskursprinzip D »operationalisiert«, in Ansatz. 13 Aus der generellen Diskursvoraussetzung, dass jeder, der einen relevanten Beitrag zum fraglichen Thema machen kann, dies auch tun darf, folgt in Bezug auf praktische Diskurse, dass alle Teilnehmer ihre Interessen und Wertorientierungen artikulieren dürfen – diese sind für praktische Diskurse per se relevant. U besagt, »dass eine Norm genau dann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden können«. 14 Aus D ergibt sich aber zugleich die Konsequenz, dass nicht alle Interessenlagen und Wertorientierungen der Betroffenen berücksichtigt werden müssen. 15 Wenn z. B. ein religiöser Fundamentalist die Trennung von Kirche und Staat mit der Begründung verwirft, dass das vordringliche Interesse der Rechtgläubigen ihrer ewigen Seligkeit gelte und die Theokratie der Königsweg zu einem gottgefälligen Leben sei, kann ihm entgegenhalten werden, dass in einem Diskurs, worin allgemeingültige Normen ermittelt werden sollen, sein Standpunkt außer Betracht bleiben muss, da ihm Andersgläubige und Atheisten nicht zustimmen können. Die kritische »Intervention in das Selbst- und Weltverständnis der Beteiligten«, zu der uns das Diskursprinzip D ermächtigt, 16 kann unter nachmetaphysischen Bedingungen nicht so weit gehen, dass einem Diskurspartner grundsätzlich das Recht abgesprochen wird, eigene Interessen geltend zu machen. Dagegen könnte man z. B. im Rahmen einer metaphysischen Fundierung der Sklaverei in der Ordnung des Kosmos bzw. der Natur des Menschen von Kriegsgefangenen verlangen zu akzeptieren, dass sie als Gegenleistung für die Verschonung ihres Lebens zu lebenslangem Sklavendienst verpflichtet sind. 17 Für Habermas – und Apel – steht jedoch fest, dass die für metaphysische Ethik-Konzeptionen zentrale Ableitung von Sollens-
Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 59 f., 64. Vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 140. 14 Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 60 (Hervorh. im Text). 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. Aristoteles: Politik, II. Buch, Kap. 5–6. 13
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
Forderungen aus Seins-Aussagen von Hume entkräftet wurde. 18 Unter nachmetaphysischen Bedingungen ist die Auffassung, dass bestimmte Personen nur Pflichten, aber keinerlei Rechte haben, nicht konsensfähig. Die Reziprozität von Rechten und Pflichten aller Diskursteilnehmer schließt ein, dass niemand eine privilegierte Ausnahmestellung für sich beanspruchen darf. Daher muss jeder seine Handlungsintentionen stets daraufhin prüfen, welche Konsequenzen es für Interessen und Wertorientierungen seiner Mitmenschen hätte, wenn alle anderen genauso agierten wie er selbst. Auf der Basis von D erweist sich demnach eine Handlungsnorm in einem praktischen Diskurs genau dann als gültig, wenn die »voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden könnten«. 19 Der Universalisierungsgrundsatz U definiert in Habermas’ Diskursethik den »moralischen« Standpunkt, dessen »Bezugssystem« letztlich die Menschheit im Ganzen bildet. 20 Nach Habermas ist U aus mehreren Gründen eine bloße Argumentationsregel, die D »auf der Ebene der internen Verfassung« nachmetaphysischer praktischer Diskurse spezifiziert: 21 (i) U gibt, für sich genommen, »keine inhaltlichen Orientierungen an«. 22 »Alle Inhalte, auch wenn sie noch so fundamentale Handlungsnormen betreffen, müssen« – so Habermas – »von realen oder (ersatzweise vorgenommenen, advokatorisch geführten) Diskursen abhängig ge-
Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S. 140; Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 378. 19 Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 60. 20 A. a. O., S. 64; Faktizität und Geltung, S. 139. 21 A. a. O., S. 142. Habermas korrigiert in Faktizität und Geltung seine Bestimmung des Verhältnisses von D und U in seinem programmatischen Aufsatz »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«. Dort wird U als eine Argumentationsregel eingeführt, die D implizit in sich enthalte (Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 73, 76). Gemäß Habermas’ Selbstkritik wird bei diesem Vorgehen »zwischen Diskurs- und Moralprinzip nicht hinreichend differenziert« (Habermas: Faktizität und Geltung, S. 140). Da Habermas das Verhältnis von D und U in Faktizität und Geltung neu bestimmt, wird auf seinen Aufsatz »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm« in dieser Abhandlung nur am Rande eingegangen. 22 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 132. 18
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
macht werden«. 23 Der Status von U als Verfahrensregel diskursiver Willensbildung schließt eine »monologische Anwendung« dieses Grundsatzes aus. 24 (ii) Man kann niemanden normativ dazu verpflichten, in rein rationale praktische Diskurse einzutreten. 25 (iii) Der Anspruch ist nicht einlösbar, dass Normen, die in praktischen Diskursen konsensfähig sind, außerhalb der Diskurssituation konsequent umgesetzt werden müssen. 26 Die konkrete Bedeutung von Habermas’ zunächst befremdlicher These, dass man moralische Normen, die die Rücksichtnahme auf alle von einer Handlungsweise Betroffenen verlangen, zwar in nachmetaphysischen rationalen Diskursen akzeptieren muss, außerhalb von Diskursen aber Abstriche an ihnen machen darf, tritt auf dem Hintergrund des für Faktizität und Geltung basalen Theorems der gleichursprünglichen Fundierung von moralischer und »ethisch-politischer« Legitimität im Diskursprinzip D zutage. (2) Habermas’ Begriff »ethisch-politischer« Legitimität bezieht sich auf »die Lebensform ›je unseres‹ politischen Gemeinwesens«. 27 Hiermit integriert Habermas die »quid facti?«-Dimension seines Lebenswelt-Begriffs in die »quid juris?«-Argumentation seiner Diskursethik. Er verweist an dieser Schnittstelle von Faktizität und Geltung auf die empirischen Tatsachen, dass eine staatliche Rechtsordnung für die Funktionsfähigkeit aller Gesellschaften, die das archaische Niveau von Stammesverbänden mit einem magischmythischen Weltbild überschritten haben, unentbehrlich ist und es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass die Vielzahl von Einzelstaaten früher oder später einem Weltstaat Platz machen wird. Die für das Moralprinzip U irrelevante Unterscheidung von Staatsbürgern und Fremden ist demnach ein konstitutives Moment der Rechtsordnungen, auf die Habermas’ Begriff ethisch-politischer Legitimität Bezug nimmt. 28 Einen konkreten Inhalt gewinnt dieser Begriff durch das Demokratieprinzip, demgemäß das kodifizierte Recht eines Staates genau dann normativ gültig ist, wenn es aus einem Prozess diskursiver WilA. a. O., S. 133. Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 76. 25 Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 135. 26 Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 50 (wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 90 f.). 27 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 139. 28 A. a. O., S. 158. 23 24
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
lensbildung hervorgegangen ist, an dem jeder Staatsbürger gleichberechtigt mitwirken kann. 29 Das Demokratieprinzip ist keine normative Vorschrift: Es konstatiert vielmehr, dass eine »postkonventionelle« Konsensbildung über Normen im Sinne von D nur in Gestalt demokratischer Institutionen faktisch bindenden Einfluss auf die Interaktionsprozesse entwickelter Gesellschaften erlangen kann. 30 Das Moralprinzip U und das Demokratieprinzip sind nach Habermas in dem Sinne »gleichursprünglich«, dass jenes das Diskursprinzip D in Hinblick auf die interne Verfassung praktischer Diskurse auf dem »postkonventionelle[n] Begründungsniveau« operationalisiert, dieses in Hinblick auf die »äußeren« Funktionsbedingungen komplexer Gesellschaften. 31 Apel integriert D und U in seine Diskursethik, wendet sich jedoch gegen Habermas’ Auffassung, dass U und das Demokratieprinzip gleichursprünglich in D verankert sind (s. u. Kap. VIII 1). Die Frage nach der Legitimität des faktischen Rechts kann nach Apel nur im Rekurs auf U beantwortet werden. In diesem Sinne spricht er U einen Vorrang vor dem Demokratieprinzip zu. Dieser Differenzpunkt ist für den Status der Menschenrechte von zentraler Bedeutung: Sie bedürfen nach Apel eines moralischen Fundaments; Habermas ordnet sie demgegenüber dem Demokratieprinzip zu (s. u. S. 81 f., 111 f.). Habermas kritisiert die von Apel – wie bereits von Kant – behauptete Fundierungsfunktion universalistischer Moralprinzipien für das Recht in doppelter Hinsicht: (1) Die Rechtsform ist »überhaupt kein Prinzip«, »das sich, sei es epistemisch oder normativ, ›begründen‹ ließe«: 32 Dass Gesellschaften diesseits der Stufe archaischer Stammesverbände ohne eine Rechtsordnung, die durch das staatliche Gewaltmonopol abgesichert wird, zerfielen und die Auflösung aller Partikularstaaten in einem Weltstaat kein realistisches Szenario bildet, ist ein factum brutum, das von der Soziologie, Ethnologie, Psychologie usw. erklärt, aber nicht philosophisch ›begründet‹ werden kann. (2) Die juristische Implementierung moralisch begründeter Menschenrechte lässt sich nur dann einfordern, wenn wir normativ dazu verpflichtet sind, in rein rationale Diskurse einzutreten und die
29 30 31 32
A. a. O., S, 141. A. a. O., S. 138. A. a. O., S. 138, 142. A. a. O., S. 137.
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
Prinzipien, die dort konsensfähig sind, in der Lebenspraxis konsequent zu befolgen; beides ist nach Habermas jedoch nicht der Fall. Habermas gewinnt das Demokratieprinzip in Faktizität und Geltung durch eine Bedeutungsexplikation der Präsuppositionen demokratischer Entscheidungsprozesse und Institutionen, indem er die demokratischen Staatsbürger auf zweierlei aufmerksam macht: (1) Sie orientieren sich implizit am Diskursprinzip D, wenn sie ihre Rolle als demokratischer Souverän ernst nehmen. (2) D ist der einzige Kandidat für den Ausgangspunkt einer rationalen Normenbegründung unter nachmetaphysischen Vorzeichen, wobei die Diskursethik im Habermas’schen Sinne D nur hypothetisch einführen und dessen Allgemeinverbindlichkeit mit rein philosophischen Mitteln nicht erweisen kann. Nach Habermas wird dieses Begründungsdefizit der diskursethischen »quid juris?«-Argumentation dadurch behoben, dass D in den Entscheidungsprozessen demokratischer Institutionen faktisch bereits implementiert ist – wenn auch z. T. mit Abstrichen (s. u. S. 81 f.). Habermas bringt dies auf die Formel der »paradoxen« – d. h. paradox anmutenden – »Entstehung von Legitimität aus Legalität«. 33 Mit dieser Bedeutungsexplikation der »vernünftige[n] politische[n] Meinungs- und Willensbildung« demokratischer Staatsbürger will Habermas zu deren adäquatem Selbstverständnis beitragen. 34 Seine Formel der Entstehung ethisch-politischer Legitimität aus demokratischer Legalität bezieht sich sowohl auf die konkreten Entscheidungsprozesse staatlicher Institutionen als auch auf »die Erzeugung des Rechtsmediums selber«: 35 Die konkreten institutionellen Entscheidungsprozesse sind demzufolge genau dann ethisch-politisch legitim, wenn sie auf der Basis einer demokratischen Verfassung getroffen wurden, an deren Genese alle Bürger gleichberechtigt mitwirken konnten – sei es direkt oder durch Repräsentanten. Der Eindruck des Paradoxen, den Habermas’ Formel der »Entstehung von Legitimität aus Legalität« erweckt, resultiert – wie Frank Michelman hervorgehoben hat – aus einer zirkulären Begründungsstruktur: 36 Auf der einen Seite werden mit dieser Formel diejenigen politischen Entscheidungen für ethisch legitim erklärt, die im legalen Rahmen demokra-
A. a. O., S. 110. A. a. O., S. 142, 166. 35 A. a. O., S. 143. 36 Vgl. Michelmans Rezension der engl. Übersetzung von Faktizität und Geltung in The Journal of Philosophy 93 (1996), S. 307–319, hier: 308 f., 312 f. 33 34
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
tischer Institutionen getroffen wurden, auf der anderen Seite kann die demokratische Legalität nur deshalb als Quelle ethisch-politischer Legitimität fungieren, weil sie als Implementierung des – von Habermas hypothetisch eingeführten – Diskursprinzips D begriffen werden kann. 37 Habermas stellt mit seiner Verankerung der Menschenrechte im Demokratieprinzip 38 deren »interne[n] Zusammenhang« mit dem Prinzip der »Volkssouveränität« ins Zentrum. 39 Er spricht dem »Recht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheiten« den Status des »ursprünglichen Menschenrechts« zu und verwirft die Auffassung, dieses sei ein »moralisch begründetes, vom politischen Gesetzgeber nur noch zu positivierendes Recht«. 40 In Habermas’ Rechtstheorie resultieren sowohl der systematische Zusammenhang der einzelnen Menschenrechte als auch ihre jeweilige Reichweite daraus, dass sie »ungeachtet ihres moralischen Gehalts, von vornherein als Rechte im juridischen Sinne begriffen werden«. 41 Habermas siedelt sie – entsprechend der zirkulären Begründungsstruktur seiner Diskurstheorie des Rechts – in einem doppelten Sinne im Procedere demokratischer Willensbildung an: Auf der einen Seite fundiert er den systematischen Zusammenhang der Menschenrechte darin, dass die bürgerlich-politischen »Grundrechte auf die chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungs- und Willensbildung« und die sozialen Menschenrechte, mit denen die materiellen Voraussetzungen für die »chancengleiche Nutzung« der politischen Partizipationsrechte durch alle Bürger bereitgestellt werden sollen, die grundlegenden Bedingungen für die »Selbstbestimmungspraxis« in einer Demokratie benennen – hierin kommt die Verankerung des Habermas’schen Rechtsprinzips im Diskursprinzip zum Ausdruck –, 42 auf der anderen Seite zieht Habermas aus seinem Theorem der Entstehung von Legitimität aus Legalität den Schluss, dass jedes einzelne Menschenrecht vom Gesetzgeber »je nach Umständen«, d. h. in Hinblick auf real-
Nach Michelman resultiert aus diesem »Kreisprozess« (Habermas: Faktizität und Geltung, S. 155) ein Begründungsdefizit von Habermas’ Theorie des demokratischen Rechtsstaats. Zur Reichweite dieses Einwands s. u. Kapitel VII 1–3. 38 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 136, 154 ff. 39 A. a. O., S. 134. 40 A. a. O., S. 133 f. 41 A. a. O., S. 136. 42 A. a. O., S. 136, 153 f., 156. 37
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
politische Sachzwänge, eingeschränkt werden dürfe. 43 »›Das‹ System der Rechte gibt es nicht in transzendentaler Reinheit«. 44 So kann etwa in gravierenden Krisen eines demokratischen Staates die Restriktion der Grundrechte auf chancengleiche Meinungs- und politische Willensbildung durch das Verbot verfassungsfeindlicher Parteien unabdingbar sein, um dessen Selbstzerstörung abzuwenden. Dies zeigt ex negativo das Schicksal der Weimarer Republik, die in ihrer Endphase aufgrund der Mehrheit verfassungsfeindlicher Parteien im Reichstag nicht mehr demokratisch regierbar war. Entsprechendes gilt für die sozialen Menschenrechte: Falls sozialstaatliche Maßnahmen die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates überfordern, kann ihr Abbau pragmatisch geboten sein, um einer fiskalischen Staatskrise mit unvorhersehbaren Konsequenzen für die demokratische Rechtsform vorzubeugen. Habermas folgert aus seinem Theorem der Gleichursprünglichkeit von moralischer und ethisch-politischer Legitimität, dass die Ergebnisse politischer Willensbildung »mit moralischen Grundsätzen wenigstens kompatibel« sein müssen: 45 Beide Legitimitätsformen können aufgrund ihrer gemeinsamen Verankerung in D nicht in Widerspruch zueinander treten. Der methodische Status der Habermas’schen Rechtstheorie als Bedeutungsexplikation der Präsuppositionen, »von denen die Mitglieder einer modernen Rechtsgemeinschaft ausgehen müssen«, 46 schließt ein, dass der moralische Standpunkt in Faktizität und Geltung an die demokratische Konsensbildung angebunden ist: Die Bürger einer Demokratie fällen ihre moralischen Urteile – so Habermas in seiner Replik auf Apels kritische Auseinandersetzung mit Faktizität und Geltung – »nicht im außerrechtlichen Kontext der Lebenswelt natürlicher Personen, sondern in ihrer rechtlich konstruierten Rolle von Staatsbürgern, die zur Ausübung demokratischer Rechte autorisiert sind«. 47 Auf diesem Hintergrund lässt sich der konkrete Gehalt von Habermas’ These explizieren, dass aus der Allgemeingültigkeit von U innerhalb nachmetaphysischer rationaler Diskurse nicht die Forderung abgeleitet werden kann, U in unserer Lebenspraxis konsequent A. a. O., S. 159. A. a. O., S. 163. 45 A. a. O., S. 206. 46 A. a. O., S. 166. 47 Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 46 (wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 86). 43 44
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
umzusetzen. Habermas greift mit der Abgrenzung der ethisch-politischen von der moralischen Legitimität in Faktizität und Geltung die in seinen Erläuterungen zur Diskursethik eingeführte Unterscheidung von ethischen »Werten« und moralischen Normen auf: Während die letzteren insgesamt in U fundiert sind, bilden die ersteren Orientierungspunkte eines »guten Lebens«, die »als Ausdruck eines bewussten kollektiven Selbstverständnisses gelten« können und damit kulturspezifische Präferenzen einschließen. 48 Dass der Begriff ethisch-politischer Legitimität das Diskursprinzip in Hinblick auf »die Lebensform ›je unseres‹ politischen Gemeinwesens« spezifiziert, ist gleichbedeutend damit, dass in politischen Entscheidungsprozessen »die ausschlaggebenden Gründe« im Prinzip für alle »Angehörigen, die ›unsere‹ Traditionen und starken Wertungen teilen«, akzeptabel sein müssen. 49 Da das Recht das »Medium für die Selbstorganisation von Rechtsgemeinschaften« bildet, »die sich unter bestimmten historischen Bedingungen in ihrer sozialen Umwelt behaupten«, gesteht das Habermas’sche Demokratieprinzip auch »pragmatischen« Motiven eine legitime Rolle in politischen Entscheidungsprozesse zu: »Pragmatische«, d. h. »technische und strategische«, Handlungsintentionen sind für die Selbstbehauptung von Individuen und Gesellschaften unverzichtbar. 50 Aus der für Faktizität und Geltung zentralen These, dass die Ergebnisse politischer Willensbildung zwar mit moralischen Grundsätzen kompatibel sein müssen, diesen aber kein Vorrang vor der ethisch-politischen Legitimität zukommt, 51 ergibt sich demnach die Konsequenz, dass es zulässig ist, an moralischen Forderungen aus »ethischen« und pragmatischen Gründen Abstriche zu machen. Die Geltung von U wird hierbei nicht grundsätzlich bestritten, sondern situativ eingeschränkt. Die »Idee des Rechtsstaates« in Faktizität und Geltung beruht auf der Applikation des Demokratieprinzips und der Forderung nach Kompatibilität der ethisch-politischen Willensbildung mit moralischen Grundsätzen auf die moderne gesellschaftliche Grundstruktur; diese ist durch das geldgesteuerte kapitalistische WirtschaftssysHabermas: »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft«, S. 103, 106 f., 109; ders.: Faktizität und Geltung, S. 139. 49 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 139. 50 A. a. O., S. 139, 188 f.; Habermas: »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft«, S. 109. 51 Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 48 (wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 88). 48
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Habermas’ diskursethische Fundierung von Moral und Recht
tem und die damit verschränkte staatliche Administration, die die Rahmenbedingungen effizienten Wirtschaftens herstellen soll, geprägt. 52 Gemäß dem Demokratieprinzip und der Kompatibilitätsforderung muss der »rechtsförmig konstituierten Macht der staatlichen Administration« eine »rechtsetzende kommunikative Macht zugrunde liegen«: in dem Sinne, dass sich die Verständigung über gesellschaftliche Handlungsziele in einem öffentlichen Diskurs, worin ethisch-politische, moralische und pragmatische Argumente gleichermaßen zählen, in der Gesetzgebung niederschlägt. 53 Die »kommunikative Macht« kann sich nur in »nicht-deformierten Öffentlichkeiten bilden«, worin der Zugang zu relevanten Informationen allen Bürgern offen steht und Manipulationsversuche von wirtschaftlichen Interessenverbänden, politischen Machtträgern oder Medienkonzernen abgewehrt werden können. 54 Die Idee des Rechtsstaates lässt sich demnach »als die Forderung interpretieren«, das administrative System durch die »rechtsetzende kommunikative Macht« von den »Einwirkungen der sozialen Macht, also der faktischen Durchsetzungskraft privilegierter Interessen, freizuhalten«. 55 Auf diese Weise soll eine »Balance« zwischen dem geldgesteuerten Wirtschaftssystem, der administrativen Macht und der gesellschaftlichen »Solidarität«, die sich in der demokratischen Konsensbildung artikuliert, hergestellt werden. 56
A. a. O., S. 166 ff., 187. S. o. S. 72 f. A. a. O., S. 183, 187. 54 A. a. O., S. 184, 524, 533. Zu Habermas’ Verständnis der kommunikativen Macht vgl. Regina Kreide: »Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit«. In: Peter Koller/Christian Hiebaum: Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. (Klassiker auslegen, Bd. 62). Berlin/Boston 2016. S. 135–152. 55 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 187. 56 A. a. O., S. 187. 52 53
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VII. Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption in Faktizität und Geltung
Michelman leitet aus der zirkulären Begründungsstruktur des Theorems der »Entstehung von Legitimität aus Legalität« in Faktizität und Geltung, auf die er aufmerksam macht, einen Einwand gegen Habermas’ Versuch ab, »die Idee der Menschenrechte mit dem Prinzip der Volkssouveränität in Einklang zu bringen«. 1 Dies berührt sich mit der Kritik Apels an Habermas’ Zielsetzung, die Menschenrechte im Demokratieprinzip zu verankern. 2 Michelman fokussiert auf den innerstaatlichen, Apel den supranationalen Geltungsstatus der Menschenrechte. Habermas erhebt in seiner Erwiderung auf Michelman nicht den Anspruch, dessen Einwand definitiv ausräumen zu können; er formuliert einen Lösungsvorschlag, mit dem man den Kritikpunkt »vielleicht entkräften« könne. 3 Ich möchte im Folgenden versuchen zu zeigen, dass Habermas’ Entgegnung auf Michelman, für sich genommen, unzulänglich bleibt, jedoch in einer Weise umformuliert werden kann, dass das von Michelman aufgeworfene Problem lösbar wird, wobei allerdings die Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung im Rekurs auf die Diskursethik Apels modifiziert werden muss. Hierin besteht der Anknüpfungspunkt der zwischen Habermas und Apel vermittelnden diskursethischen Position, die in dieser Abhandlung skizziert werden soll, in Faktizität und Geltung.
Habermas: »Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«. In: ders.: Zeit der Übergänge (Kleine politische Schriften IX). Frankfurt a. M. 2001. S. 133–154, hier: 142; Frank Michelman: »Constitutional Authorship«. In: L. Alexander (Hrsg.): Constitutionalism: Philosophical Foundations. Cambridge 1998. S. 64–98, hier: 86 ff. 2 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 818, 827 ff. 3 A. a. O., S. 143 f., 146. 1
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
1.
Michelmans Zirkel-Einwand gegen Habermas’ Theorem der Fundierung von Legitimität in Legalität
Habermas’ Theorem der Fundierung ethisch-politischer Legitimität in demokratischer Legalität droht – wie Michelman hervorhebt – in einen »unendlichen Regress« zu führen. 4 Gemäß diesem Theorem ist die inhaltliche Spezifikation und partielle Einschränkung der Menschenrechte durch den demokratischen Gesetzgeber genau dann legitim, wenn sie im Rahmen einer Verfassung erfolgt, deren Ausarbeitung vom Demokratieprinzip geleitet war. 5 Wie lässt sich entscheiden, ob dieses Prinzip, »welches jedermann die gleiche Teilnahme« am »Prozess der Rechtsetzung« zubilligt, bei der »Erzeugung des Rechtsmediums«, d. h. des Verfassungsrahmens, adäquat umgesetzt wurde? 6 Michelman weist darauf hin, dass es zu »begründeten Meinungsverschiedenheiten« darüber kommen kann, ob der Verfassungsrahmen eines Staates, der demokratische Legitimität beansprucht, unter »fairen« Bedingungen verabschiedet wurde. 7 Diese Frage stellt sich in doppelter Hinsicht. (1) Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass sich sämtliche Bürger eines Staates auf demokratische Verfassungsprinzipien und deren konkrete Ausgestaltung einigen. Faktisch sympathisieren in allen Gesellschaften zumindest einzelne Gruppen mit autoritären Staatsformen. Wer die Demokratie ablehnt, kann an der Ausarbeitung eines demokratischen Rechtsmediums offenkundig nicht gleichberechtigt mitwirken; sein StandMichelman: Rezension zu Habermas: Between Facts and Norms, S. 308, 311 f. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 142 f., 154 ff. 6 A. a. O., S. 142 f. 7 Habermas zitiert in »Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?« (S. 143) folgende Passage aus Michelmans Artikel: »Constitutional Authorship«: »A ›truly democratic‹ process is itself inescapably a legally conditioned and constituted process. It is constituted, for example, by laws regarding political representation and elections, civil associations, families, freedom of speech, property, access to media, and so on. Thus, in order, to confer legitimacy on a set of laws issuing from an actual set of discursive institutions and practices in a country, those institutions and practices would themselves have to be legally constituted in the right way. The laws regarding elections, representations, associations, families, speech, property, and so on would have to be such as to constitute a process of more or less ›fair‹ or ›undistorted‹ democratic political communication, not only in the formal areas of legislation and adjudication, but in civil society at large. The problem is that whether they do or not may itself at any time become a matter of contentious but reasonable disagreement […]« (Michelman: »Constitutional Authorship«, S. 91). 4 5
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Michelmans Zirkel-Einwand gegen Habermas’ Theorem
punkt muss aus den Beratungen ausgeschlossen werden. Welche politischen Zielsetzungen undemokratisch sind, lässt sich nicht trennscharf festlegen. Es ist z. B. nicht eindeutig entscheidbar, welches Ausmaß an verfassungsmäßiger Privilegierung bestimmter Religionsgemeinschaften als Diskriminierung von Andersgläubigen und Atheisten und damit als undemokratisch zu werten ist. So können hartnäckige Kontroversen in Bezug darauf auftreten, welche politischen oder religiösen Gesinnungen die demokratische Willensbildung beeinträchtigen. (2) Die Bürger eines Staates haben aufgrund ihrer unterschiedlichen sozialen Position nicht den gleichen Einfluss auf die Beschlüsse einer verfassunggebenden Versammlung. Dies ist auf der einen Seite zwar unumgänglich, da die fachliche Expertise – etwa von Juristen – in relevanten Sachfragen berücksichtigt werden muss, kann auf der anderen Seite aber dazu führen, dass die faktische Ungleichheit der Bildungschancen von der verfassunggebenden Versammlung als selbstverständlich hingenommen und verfassungsmäßig zementiert wird. Hieran können sich Kontroversen darüber entzünden, inwieweit die Tatsache, dass die Stimmen der einzelnen Bürger bei der Gestaltung des Verfassungsrahmens unterschiedliches Gewicht haben, der demokratischen Grundforderung nach gleicher Teilnahme am Prozess der Rechtsetzung Abbruch tut. Die Gefahr eines unendlichen Regresses, auf die Michelman aufmerksam macht, ergibt sich daraus, dass bei der Konstitution des demokratischen Rechtsmediums dem legalen Procedere offensichtlich keine verlässliche Auskunft darüber zu entnehmen ist, ob das Demokratieprinzip in diesem Procedere fair angewandt wird: Wenn das nicht der Fall ist, werden die Gremien, die für die Beurteilung von Meinungsverschiedenheiten rechtlich zuständig sind, zu verzerrten Einschätzungen gelangen. Will man dieses Problem dadurch lösen, dass man der Konstitution des Verfassungsrahmens eine weitere demokratische Institution vorschaltet, die für faire Ausgangsbedingungen sorgen soll, ergibt sich der unendliche Regress. Habermas gibt Michelman darin Recht, dass sich der Zirkel zwischen demokratischer Legalität und ethisch-politischer Legitimität in seiner diskursethischen Rechtstheorie nicht schließt. 8 Michelman folgert aus diesem Zirkel, dass Habermas keine zureichenden Anwendungskriterien für die »abstrakten praktischen Normen« seiner Habermas: »Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«, S. 143.
8
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
Rechtstheorie angeben könne. 9 Michelmans Kritik berührt den Nukleus der Menschenrechts-Konzeption in Faktizität und Geltung, da Habermas hervorhebt, dass das »System« der Grundrechte nicht »in transzendentaler Reinheit« festgeschrieben werden kann, sondern vom demokratischen Gesetzgeber »je nach Umständen interpretiert und ausgestaltet« werden müsse. 10 Michelman veranschaulicht das Problem der Applikation demokratischer Grundnormen auf konkrete gesellschaftspolitische Fragen anhand einer Reihe von Beispielen, von denen hier die folgenden genannt werden sollen: 11 Sind staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft demokratisch geboten oder als unzulässige Einschränkung der Freiheit ökonomischer Akteure zu werten? Dies betrifft die Reichweite sozialer Menschenrechte. Soll der demokratische Gesetzgeber, dem es an erster Stelle obliegt, das Recht auf Leben zu schützen, den Waffenbesitz reglementieren? Stehen Beschränkungen der Artikulationsmöglichkeiten religiöser Bekenntnisse im öffentlichen Erziehungssystem in Widerspruch zum Recht auf freie Meinungsäußerung, oder sind sie vielmehr für die Sicherung des demokratischen Pluralismus unabdingbar? 12 Nach Michelman bleibt es in Habermas’ Rechtstheorie letztlich unentscheidbar, wo die Grenze zwischen einer legitimen bzw. gebotenen Spezifikation und einer illegitimen Beschneidung von Menschenrechten seitens des demokratischen Gesetzgebers liegt. Hiermit wird die Konzeption legitimen Rechts in Faktizität und Geltung grundsätzlich in Frage gestellt. Auf dem »posttraditionalen«, d. h. nachmetaphysischen, Rechtfertigungsniveau gilt – so Habermas – »nur das Recht als legitim, das in einer diskursiven Meinungs- und Willensbildung von allen Rechtsgenossen rational akzeptiert werden könnte«. 13 Wenn Michelmans Einwand zutrifft, dass der Habermas’schen Rechtstheorie keine zureichenden Entscheidungskriterien für Kontroversen über die Konstitutionsbedingungen einer dem Anspruch nach demokratiMichelman: »Constitutional Authorship«, S. 90 f. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 159, 163. 11 Michelman: »Constitutional Authorship«, S. 91. 12 Die übrigen Beispielfälle Michelmans sollen außer Betracht bleiben. Sie betreffen teils Organisationsprinzipien des demokratischen Staates, die keinen direkten Bezug zu den Menschenrechten haben – so etwa das Wahlrecht (»cumulative voting or proportional representation?«, ebd.) –, teils liegen sie außerhalb der Reichweite philosophischer Theorien. Diese können sich z. B. nicht dazu äußern, wann menschliches Leben im Mutterleib beginnt, wovon die Reichweite der »reproduktiven Autonomie« von Frauen abhängt (ebd.). 13 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 169. 9
10
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Habermas’ Entgegnung auf Michelman
schen Verfassung entnommen werden können, lässt sich nicht ausschließen, dass Habermas’ Begriff des legitimen Rechts auf keine einzige Gesellschaft passt.
2.
Habermas’ Entgegnung auf Michelman
Um Michelmans Einwand die kritische Schärfe zu nehmen, plädiert Habermas dafür, den Zirkel, auf den sein Theorem der Fundierung ethisch-politischer Legitimität in demokratischer Legalität führt, als Anstoß für die Weiterentwicklung des Verfassungsrahmens aufzufassen – mit dem Ziel, eventuelle Mängel seiner Anfangsgestalt zu beheben: »Gemäß diesem dynamischen Verfassungsverständnis schreibt die laufende Gesetzgebung das System der Rechte unter Anpassung an die aktuellen Umstände fort (und ebnet insofern die Grenze zwischen Verfassungsnormen und einfachen Gesetzen ein). Freilich kann diese fehlbare Kontinuierung des Gründungsgeschehens nur dann aus dem Zirkel der bodenlos diskursiven Selbstkonstituierung eines Gemeinwesens ausbrechen, wenn dieser Prozess, der ja gegen kontingente Unterbrechungen und historische Rückfälle nicht gefeit ist, auf längere Sicht als ein sich selbst korrigierender Lernprozess verstanden werden kann.« 14
Habermas antwortet somit auf Michelmans Einwand mit der Formulierung eines Bedingungsverhältnisses: Ein fataler Zirkel bei der Konstitution des demokratischen Verfassungsrahmens lasse sich »nur dann« vermeiden, »wenn« dessen Fortschreibung »als ein sich selbst korrigierender Lernprozess verstanden werden« kann (s. o.). Inwieweit schlagen sich aber in der Rechtsgeschichte demokratischer Staaten solche Lernprozesse nieder? Habermas gibt mit der vorsichtigen Bemerkung, sein dynamisches Verfassungsverständnis könne die Kritik Michelmans »vielleicht entkräften«, 15 zu verstehen, dass die Behauptung uneinlösbar ist, die Verfassungsgeschichte aller demokratischen Staaten werde in the long run durch sich selbst korrigierende Lernprozesse geprägt: Selbst wenn dies bislang der Fall gewesen sein sollte, gibt es keinerlei Gewähr dafür, dass es auch in Zukunft so bleiben wird. Habermas muss sich daher auf die These Habermas: »Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«, S. 144. 15 A. a. O., S. 146. 14
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
beschränken, dass die vergangene und gegenwärtige Verfassungsentwicklung demokratischer Staaten im Wesentlichen als Fortschrittsgeschichte begriffen werden könne, so dass der Einwand Michelmans angesichts der faktischen Verhältnisse nicht durchschlagend sei. Um die Plausibilität dieser These einschätzen zu können, soll das von Habermas angeführte Beispiel für Lernprozesse beim Fortschreiben eines Verfassungsrahmens, womit Demokratiedefizite – zumindest partiell – ausgeräumt wurden, herangezogen werden: der New Deal in den USA unter Roosevelt. 16 Die zunächst umstrittenen sozialstaatlichen Reformen des New Deal wurden, nachdem die »Interpretationskämpfe abgeklungen« waren, retrospektiv allgemein als Errungenschaften anerkannt. 17 Habermas’ Demokratieprinzip verlangt, dass in rechtlichen und politischen Entscheidungsprozessen moralische, »ethisch-politische« und pragmatische Gründe gleichermaßen berücksichtigt werden. 18 Der New Deal war unter allen drei Gesichtspunkten ein Gewinn. Seine moralische Bedeutung besteht darin, dass »bislang diskriminierte Gruppen eine eigene Stimme« erhielten. 19 In pragmatischer Hinsicht waren die Maßnahmen zur Bekämpfung der verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in den USA zumindest teilweise zielführend. Das »einigende Band« ethisch-politischer Wertorientierungen der US-amerikanischen Gesellschaft wurde dadurch gestärkt, dass die Roosevelt-Administration und die große Mehrheit der Wähler, die sie unterstützte, aus den »Fehlern der Vergangenheit« lernten, die in der Weltwirtschaftskrise zutage getreten waren. 20
3.
Die Argumentationslücke in Habermas’ Entgegnung
Da Michelman aus seinem Zirkel-Einwand folgert, dass Habermas’ Rechtstheorie keine zureichenden Anwendungskriterien für ihre abstrakten praktischen Normen an die Hand gebe, spielen für die Beurteilung der Reichweite dieser Kritik Beispiele eine Schlüsselrolle. Die verfassungsrechtliche Entwicklung osteuropäischer Staaten seit A. a. O., S. 144. Ebd. 18 Habermas: »Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«, S. 144. 19 Ebd. 20 Vgl. a. a. O., S. 144 f. 16 17
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Die Argumentationslücke in Habermas’ Entgegnung
dem demokratischen Umbruch am Ende der 1980er Jahre zeigt, dass Habermas’ Versuch, den Einwand Michelmans mit dem Hinweis auf faktische Lernprozesse, die durch Kontroversen in Bezug auf die Fairness eines demokratischen Verfassungsrahmens angestoßen werden, zu entkräften, unzureichend bleibt. Dies soll anhand des Status russischstämmiger »Nichtbürger« in Lettland veranschaulicht werden. 21 Nach dem Ausscheiden des Landes aus der Sowjetunion wurde 1991 das Staatsbürgerrecht nur Personen, die bereits im Juni 1940 in Lettland lebten, und ihren Nachkommen zuerkannt. Die ehemaligen Sowjetbürger, die nach diesem Zeitpunkt nach Lettland gezogen waren, und ihre Familienangehörigen wurden zu »Nichtbürgern« ohne aktives und passives Wahlrecht erklärt. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden die Einbürgerungschancen der »Nichtbürger«, die 1991 ca. 27 % der Bevölkerung ausmachten, ausgeweitet: Lettische Sprachund Geschichtstests bilden inzwischen das entscheidende Kriterium für das Erlangen des Staatsangehörigkeit. Diese Tests stellen allerdings für zahlreiche Russischstämmige – vor allem für ältere mit geringem Bildungsstand – eine schwer überwindbare Hürde dar. Da sich Habermas’ Demokratieprinzip auf ein »geographisch abgegrenztes Rechtsgebiet« und »sozial abgrenzbares Kollektiv« bezieht, schließt seine Vorgabe, »jedermann die gleiche Teilnahme« am Prozess der Rechtssetzung zuzubilligen, die »Fremden«, die auf dem Territorium eines Staates wohnen, nicht ein. 22 Das Demokratieprinzip gibt keine präzisen Kriterien für die staatsrechtliche Abgrenzung von »Bürgern und Fremden« an die Hand: 23 Es ist eine Ermessensfrage, wie lange Immigranten in ihrer neuen Heimat gelebt haben, wie gut sie die Landessprache beherrschen und sich in die jeweiligen Traditionen integriert haben müssen, um nicht länger als ›Gäste‹ zu gelten. Ob es als eine Menschenrechtsverletzung anzusehen ist, dass das Parlament Lettlands 1991 den russischstämmigen »Nichtbürgern« basale politische Partizipationsrechte verweigerte – die Vereinten Nationen zählen das aktive und passive Wahlrecht zu den Menschenrechten 24 –, kann ebenso Anlass zu Kontroversen geben wie die Neuregelung des Staatsbürgerrechts in den Folgejahren. Das lettische Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtbürger (Lettland) und den Artikel von Marie-Astrid Langer: »Russischstämmige Nichtbürger: Der Graben durch Lettlands Gesellschaft«. In: Neue Zürcher Zeitung, 27. 7. 2015. 22 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 142, 157 f. 23 Ebd. 24 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, Artikel 21. 21
91 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
Staatsbürgergesetz von 1991 könnte von den Russischstämmigen, denen die Staatsangehörigkeit vorenthalten wurde, auf der Basis des Habermas’schen Demokratieprinzips mit dem Argument für illegitim erklärt werden, dass sie als Bürger der Sowjetunion auf dem Territorium Lettlands gelebt haben und das Demokratieprinzip »vor der einseitigen Aberkennung der Angehörigkeitsrechte« schützt. 25 Die Bevölkerungsmehrheit Lettlands könnte hierauf entgegnen, dass mit der Unabhängigkeit des Landes sowjetische Staatsbürgerrechte per se erloschen sind und somit keinen Anspruch auf die lettische Staatsbürgerschaft begründen. Um diese gegensätzlichen Standpunkte gegeneinander abwägen zu können, muss Habermas’ inhaltliche Konkretisierung des Demokratieprinzips herangezogen werden. Gemäß dem ethisch-politischen Grundzug dieses Prinzips müssen in demokratischen Entscheidungsprozessen »die ausschlaggebenden Gründe« für alle, »die ›unsere‹ Traditionen und starken Wertungen teilen«, grundsätzlich akzeptabel sein, wobei nach Habermas zugleich pragmatische Aspekte zu berücksichtigen sind und die Beschlüsse darüber hinaus mit moralischen Grundsätzen kompatibel sein müssen. 26 In Bezug auf das lettische Staatsbürgergesetz von 1991 können sich die Bevölkerungsmehrheit und die russische Minderheit in ethisch-politischer Hinsicht auf unterschiedliche Traditionen und Wertungen berufen. Die Russischstämmigen können geltend machen, dass die ethnisch motivierte Einführung des Status der »Nichtbürger« in Lettland mit fortschrittlichen Wertorientierungen in der Geschichte der Sowjetunion bricht und daher für sie nicht zustimmungsfähig ist. Die Ersetzung des zaristischen Staatsnamens »Russland« durch »Union der sozialistischen Sowjetrepubliken« brachte die programmatische angestrebte Gleichberechtigung aller Völker im Staatsgebiet zum Ausdruck. Dass dies kein reines Lippenbekenntnis war, wird daran deutlich, dass die Verfassung der UdSSR den Teilrepubliken das Recht auf Austritt aus der Union einräumte – wovon die baltischen Staaten 1990/91 Gebrauch machten. Die Bevölkerungsmehrheit Lettlands könnte wiederum bestreiten, dass der Föderalismus eine ethisch-politisch wirksame Wertorientierung der Sowjetunion war; deren diktatorische Regierungsform habe vielmehr den Zentralismus des Zarenregimes fortgeführt. Erst die Auflösung der Sowjetunion habe den Freiraum für die Wiederbelebung der genuinen Traditionen 25 26
Vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 158. A. a. O., S. 139.
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Die Argumentationslücke in Habermas’ Entgegnung
der Völker geschaffen, die erst vom Zarenregime, später vom sowjetischen Machtapparat beherrscht wurden. In ethisch-politischer Hinsicht führt die Meinungsverschiedenheit zwischen der Bevölkerungsmehrheit Lettlands und der russischen Minderheit somit in eine Pattsituation. In moralischer Hinsicht können die Russischstämmigen das Staatsbürgergesetz von 1991 als diskriminierend werten, da der Universalisierungsgrundsatz U verlangt, auf die Interessen aller Betroffenen gleichermaßen Rücksicht zu nehmen. Dieser Vorwurf ist insofern triftig, als das Gesetz von 1991 den Russischstämmigen, die bzw. deren Vorfahren nicht bereits seit Juni 1940 in Lettland lebten, keinerlei Möglichkeit einräumte, die Staatsbürgerschaft durch eigene Anstrengungen zu erlangen. Daher lässt sich die Liberalisierung des lettischen Staatsbürgerrechts seit Mitte der 1990er Jahre als eine Korrektur von »Fehlern der Vergangenheit« – um eine Formulierung aus Habermas’ Antwort auf Michelman aufzugreifen – und damit als Lernprozess werten (s. o. S. 90). Sind mit der neuen Regelung, die die lettische Staatsbürgerschaft für diejenigen öffnet, die ihre Assimilation an die Bevölkerungsmehrheit in Sprach- und Geschichtstests unter Beweis stellen, die Demokratiedefizite des Gesetzes von 1991 behoben? Die lettische Bevölkerungsmehrheit kann dies auf der Basis des Habermas’schen Demokratieprinzips behaupten und ihren Standpunkt mit einer Verknüpfung ethisch-politischer, pragmatischer und moralischer Argumente begründen. In ethisch-politischer Hinsicht kann sie sich darauf berufen, dass in den meisten Staaten Osteuropas – auch in Russland – nationalistisch agierende Politiker und Parteien Wahlerfolge erhielt haben, was belege, dass die von der sowjetischen Führung propagierte Idee eines multiethnischen Staates in der Bevölkerung keinen Rückhalt gehabt habe; das Beharren auf der eigenen nationalen Identität und damit auch die Forderung nach der Assimilation ethnischer Minderheiten sei eine ethisch-politische Wertorientierung, die in den gewachsenen, zwischenzeitlich verschütteten, aber niemals ausgelöschten Traditionen Osteuropas verwurzelt sei. In pragmatischer Hinsicht kann die lettische Bevölkerungsmehrheit die gewalttätige Eskalation ethnischer Konflikte im ehemaligen Jugoslawien als Indiz dafür anführen, dass multiethnische Gesellschaften Konfliktpotentiale in sich bergen, die aus dem Ruder laufen können. Auf diesem Hintergrund können diejenigen, die die Neuregelung des lettischen Staatsbürgerrechts seit Mitte der 1990er Jahre für demokratisch legitim halten, der Behauptung, auch sie laufe dem Universalisierungsgrundsatz U 93 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
zuwider, widersprechen: mit dem Argument, dass es nicht im Interesse derjenigen Russischstämmigen, die zur Assimilation an die lettische Kultur nicht fähig oder nicht willens sind, liegen könne, sich in Lettland in eine Parallelwelt einzukapseln, da durch eine solche Segmentierung der Gesellschaft deren innerer Zusammenhalt gefährdet werde; es sei vielmehr ratsam, dass die betreffenden Angehörigen der Minderheit nach Russland übersiedeln, um dort Anschluss an ihre angestammte Kultur zu finden. Hierauf können die Russischstämmigen, die in Lettland weiterhin als »Nichtbürger« gelten, wiederum entgegnen, das lettische Staatsbürgerrecht sei auch in seiner revidierten Fassung deshalb mit dem Universalisierungsgrundsatz U unvereinbar, weil es jedem freigestellt werden müsse, über seine wahren Interessen selber zu befinden. Das Argument, mit dem die Kompatibilität der Neufassung des lettischen Staatsbürgerrechts mit U erwiesen werden soll, laufe auf eine Bevormundung der russischstämmigen »Nichtbürger« hinaus, die darüber belehrt werden, worin ihr ›wohlverstandenes Selbstinteresse‹ liege. Da das betreffende Argument der lettischen Bevölkerungsmehrheit allerdings einen pragmatischen Anhaltspunkt in dem empirischen Faktum hat, dass die Ausbildung von Parallelgesellschaften das soziale Gefüge destabilisieren kann – ohne dass dies jedoch zwangsläufig eintreten muss –, ist nicht erkennbar, wie der Dissens zwischen der Mehrheitsposition und den »Nichtbürgern« auf der Basis des Habermas’schen Demokratieprinzips aufgelöst werden soll. Die streitenden Parteien können sich lediglich darauf einigen, dass die Neufassung des lettischen Staatsbürgergesetzes einen normativen Fortschritt gegenüber seiner ursprünglichen Gestalt darstellt. Es bleibt aber umstritten, ob die vom lettischen Parlament 1991 eingeführte Kategorie der »Nichtbürger« per se eine illegitime Einschränkung demokratischer Partizipationsrechte bildet und damit als Menschenrechtsverletzung anzusehen ist. Hierin besteht die entscheidende Differenz zu Habermas’ Beispiel des New Deal: Während die Interpretationskämpfe hinsichtlich der ethisch-politischen und moralischen Notwendigkeit des New Deal abgeklungen sind, nachdem er seine Wirksamkeit bei der Bekämpfung der sozialen Not bewiesen hatte, können im Fall des lettischen Staatsbürgerrechts »begründete Meinungsverschiedenheiten« (Michelman) hinsichtlich seiner normativen Legitimität auf der Basis des Habermas’schen Demokratieprinzips nicht aufgelöst werden. Der Einwand Michelmans gegen das für Faktizität und Geltung basale Theorem der Fundierung ethisch-politischer Legitimität in de94 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die Argumentationslücke in Habermas’ Entgegnung
mokratischer Legalität lässt sich somit nicht mit dem Hinweis auf bestimmte faktische Lernprozesse bei der Fortentwicklung eines Verfassungsrahmens, wodurch Kontroversen in Bezug auf seine normative Dignität beigelegt wurden, abwehren, da ein solcher Konsens nicht in jedem Fall, sondern nur unter glücklichen Umständen erzielt werden kann. Am Beispiel des lettischen Staatsbürgerrechts tritt das grundsätzliche Defizit von Habermas’ Entgegnung auf Michelmans Einwand zutage. Er zielt auf die »quid juris?«-Ebene von Faktizität und Geltung; Habermas’ Erwiderung bewegt sich jedoch auf der »quid facti?«-Ebene. Der defensive Tonfall der Erwiderung (s. o. S. 89 f.) lässt sich als Eingeständnis interpretieren, dass das von Michelman aufgeworfene »quid juris?«-Problem hiermit nicht ausgeräumt ist. Ein m. E. gangbarer Ausweg aus dieser systematischen Schwierigkeit, der allerdings zu einer Revision der Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung nötigt, setzt bei einer Argumentationslücke in Habermas’ Entgegnung an. Er leitet seinen Lösungsvorschlag für das Zirkel-Problem in seiner Rechtstheorie mit der Bemerkung ein, er wolle Michelmans Einwand »nicht mit dem Rekurs auf die fadenscheinige Objektivität letzter moralischer Einsichten begegnen, die den Regress zum Stillstand bringen sollen«. 27 Diese Bemerkung erweckt den Eindruck, dass die dogmatische Berufung auf letzte, d. h. unkorrigierbare, moralische Einsichten in konkrete, situationsbezogene Normierungen, womit argumentative Diskurse über deren Allgemeingültigkeit blockiert würden, und der Hinweis auf den faktischen Erfolg »sich selbst korrigierender Lernprozess[e]« beim Fortschreiben einer Verfassung die beiden einzig möglichen Erwiderungen auf Michelmans Einwand seien. Die für den kritischen Impetus von Faktizität und Geltung zentrale Verschränkung von Beobachterund Teilnehmerperspektive im Theorieaufbau des Buches (s. o. Kap. V) legt jedoch eine dritte Möglichkeit, auf Michelmans Kritik zu antworten, nahe, womit Habermas’ Lösungsvorschlag modifiziert wird: Man kann einräumen, dass der von Michelman aufgewiesene Zirkel unhintergehbar ist, und diesen mit Habermas als Anstoß für die zukunftsoffene Weiterentwicklung demokratischer Verfassungsrahmen auffassen, es hierbei jedoch zur Aufgabe des Diskursethikers erklären, sich nicht mit der Rolle des Beobachters »sich selbst korHabermas: »Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«, S. 143.
27
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
rigierender Lernprozess[e]« zu begnügen, sondern die faktischen Diskurse über die normative Legitimität verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen kritisch zu überprüfen und als Teilnehmer in sie einzugreifen. Diese Rolle kann der Diskursethiker allerdings nur dann einnehmen, wenn er über Anwendungskriterien normativer Prinzipien verfügt, mittels derer geklärt werden kann, ob durch die Weiterentwicklung eines Verfassungsrahmens normative Defizite tatsächlich oder bloß vermeintlich ausgeräumt worden sind. In Faktizität und Geltung fungieren die Idee des Rechtsstaates und die Forderung nach Kompatibilität ethisch-politischer Entscheidungen mit moralischen Grundsätzen als Anwendungskriterien des Demokratieprinzips (s. u. S. 102). Im Folgenden möchte ich zunächst im Ausgang vom Begriff des »Anwendungsdiskurses«, den Klaus Günther auf der Basis von Habermas’ diskursethischen Arbeiten der 1980er Jahre formuliert hat und den Habermas aufgreift, versuchen zu zeigen, dass im IX. Kap. »Paradigmen des Rechts« von Faktizität und Geltung die angedeutete dritte Möglichkeit der Erwiderung auf Michelman zwar implizit vorweggenommen wird, Habermas’ diesbezügliche Ausführungen aber gerade belegen, dass das Anwendungsproblem der abstrakten praktischen Prinzipien seiner Rechtstheorie mit ihren eigenen systematischen Mitteln nicht zureichend gelöst werden kann (Abschnitt 4). Die anvisierte dritte Option, auf Michelmans Einwand zu antworten, lässt sich nur im Rekurs auf Apels kritische Auseinandersetzung mit Faktizität und Geltung stringent ausgestalten (Abschnitte 5–6).
4.
K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen und ihr systematischer Ort in Faktizität und Geltung
In Faktizität und Geltung setzt Habermas Günthers Unterscheidung von diskursethischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen als bekannt voraus; er hat sie in seinen »Erläuterungen zur Diskursethik« referiert und kommentiert. 28 Ihren Ausgangspunkt bildet eine Spezifikation des moralischen Universalisierungsgrundsatzes U, die Günther: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht. Frankfurt a. M. 1988; Habermas: Faktizität und Geltung, S. 140, 200, 266 ff., »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 138–142.
28
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K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
Günther mit Habermas’ Zustimmung vornimmt. 29 Die Teilnehmer eines Diskurses, die U auf eine Norm applizieren, also ermitteln wollen, ob die »Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert« werden können, 30 müssen sich dessen bewusst bleiben, dass sie hierüber nur im Rahmen ihres derzeitigen Wissensstandes befinden können. 31 So wird z. B. bei der Überprüfung der Norm, dass man in Notwehr töten darf, der Begriff der Notwehr anhand vergangener und gegenwärtiger Erfahrungen konkretisiert: mit dem Ergebnis, dass sich die betreffende Norm mit U rechtfertigen lässt. 32 Dieses Resultat bleibt insofern an den aktuellen Erkenntnisstand gebunden, als neue Situationen auftreten können, in denen zunächst unklar ist, inwieweit die Norm darauf passt. Im angeführten Beispiel ergeben sich solche Situationen insbes. aus Fortschritten der Waffentechnik. Lässt sich etwa der Einsatz von Kampfrobotern, die nicht von Menschen gesteuert werden und daher möglicherweise Zivilisten von Soldaten nicht immer unterscheiden oder einen Gegner, der sich ergeben will, nicht verlässlich identifizieren können, in einem Verteidigungskrieg damit rechtfertigen, dass die Tötung in Notwehr legitim ist? Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die diskursive Verständigung über die Geltung einer Norm nach Maßgabe von U an den aktuellen Wissensstand zurückgebunden ist, plädiert Günther dafür, U folgendermaßen zu spezifizieren: »Eine Norm ist gültig, wenn die Folgen und Nebenwirkungen einer allgemeinen Normbefolgung unter gleichbleibenden Umständen«, d. h. in den Situationstypen, die zur Zeit bekannt bzw. vorhersehbar sind, »für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiert werden können«. 33 Günther bezeichnet die kommunikative Verständigung über die Geltung einer Norm anhand dieser spezifizierten Fassung von U als »Begründungsdiskurs«. 34 Beim Auftreten unvorhergesehener Situationen muss ein Günther wirkte während der Abfassung seiner Dissertation Der Sinn für Angemessenheit in einer von Habermas geleiteten rechtstheoretischen Arbeitsgruppe mit (vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 14). 30 Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 75 f. 31 Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 52 f. Vgl. Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 138 f. 32 Vgl. Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 170. 33 Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 53. 34 A. a. O., S. 63. 29
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
Diskurs darüber eröffnet werden, ob die »prima facie« naheliegende Applikation einer nach Maßgabe von U legitimen Norm auf die betreffende Situation mit anderen Normen, die ebenfalls mit U gerechtfertigt werden können und in der Situation relevant sind, kollidiert. 35 Wenn dies der Fall ist, müssen die betreffenden Normen in einem »Anwendungsdiskurs« in Hinblick auf die jeweiligen Situationsmerkmale in eine Rangordnung gebracht werden. 36 In einem solchen Diskurs geht es nicht um die Geltung der Normen – sie sind ja bereits mit U gerechtfertigt worden –, sondern um ihren »angemessenen Situationsbezug«. 37 Eine Norm ist einer bestimmten Situation im Günther’schen Sinne »angemessen«, wenn konkurrierende Normen in der fraglichen Situation dahinter zurücktreten müssen. Die Auflösung einer Normkollision in einem Anwendungsdiskurs setzt voraus, »dass es Regeln gibt«, die zwischen den betreffenden Normen »eine Art Berücksichtigungszusammenhang herstellen«. 38 Günther folgert aus der gemeinsamen Verankerung der konkurrierenden Normen in U, dass auch der »Maßstab« für ihre Rangordnung in einer Handlungssituation in U fundiert sein muss. 39 Da Habermas U als formale Argumentationsregel einführt, die keine inhaltlichen Handlungsorientierungen vorzeichnet, darf der gesuchte Maßstab nach Günther »nicht seinerseits eine materiale Vorgabe enthalten«; er muss demnach ein »formale[s] Kriterium« sein. 40 Günther findet dieses in der »Kohärenz« der betreffenden Norm »mit allen anderen in der Situation anwendbaren Normen«: Die Priorisierung der Norm, die für angemessen erachtet wird, muss durch eine »kohärente Interpretation« des Situationsbezugs der konkurrierenden Normen gerechtfertigt werden. 41 Habermas stimmt Günther darin zu, dass der in Anwendungsdiskursen leitende »Grundsatz der Angemessenheit« im Kohärenz-Kriterium besteht. 42
A. a. O., S. 261 ff., Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«. In: Rechtstheorie 20 (1989), S. 163–190, hier: 171 f. 36 Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 172. 37 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 267. Vgl. Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 175. 38 Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 258. 39 Vgl. Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 301. 40 A. a. O., S. 301, 304. 41 A. a. O., S. 304, Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 178. 42 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 140, 267 f. Vgl. Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 303 f. 35
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K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
Günthers Kohärenz-Kriterium lässt es zunächst offen, »woraufhin wir denn ein kohärentes Verhältnis innerhalb einer Menge anwendbarer Normen konstruieren sollen«. 43 Hier gelingt es – wie Günther selber hervorhebt – »kaum noch, das Kriterium der Angemessenheit mit ausschließlich formalen Mitteln zu spezifizieren«. 44 Da U verlangt, die Interessen aller von einer Normanwendung zu berücksichtigen, gibt dieser Grundsatz, für sich genommen, keine Orientierungshilfe für Konfliktfälle an die Hand. Im angeführten Beispiel des Einsatzes von Kampfrobotern in einem Verteidigungskrieg kollidiert etwa das legitime Interesse des angegriffenen Staates, das Leben seiner Bürger zu schützen, mit dem ebenso legitimen Interesse der Zivilisten des gegnerischen Staates wie auch derjenigen seiner Soldaten, die den Kampf einstellen wollen, auf Verschonung ihres Lebens. U darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass hiermit eine quantitative Interessenabwägung – etwa die Unterordnung der Interessen einer Minderheit unter die der Mehrheit – legitimiert werden kann. 45 Eine solche Lesart ist damit unvereinbar, dass U die Geltung einer Norm davon abhängig macht, dass alle Betroffenen ihrer allgemeinen Befolgung zustimmen können. Wie lassen sich die materialen Gesichtspunkte, die für die konkrete Anwendung des Günther’schen Kohärenz-Kriteriums unerlässlich sind, im Ausgang von U gewinnen, wo U doch eine formale Argumentationsregel ist? Günthers Lösungsvorschlag für dieses Problem setzt dabei an, dass U die inhaltliche Bestimmung legitimer Normen an reale Diskurse der Betroffenen (bzw. ihrer ›Advokaten‹) delegiert 46 und diese Diskurse in der »Lebensform« geführt werden, »in der wir uns jeweils befinden«. 47 Anwendungsdiskurse können nur dann in Gang kommen, wenn sich die Teilnehmer über die Geltung der fraglichen Normen einig sind. 48 Günthers Begriff der Lebensform deckt sich mit Habermas’ Lebenswelt-Begriff: Soziale Ordnungen können auch nach Günther nur »auf der Grundlage eines Einverständnisses der Beteiligten« stabilisiert werden. 49 Die Voraussetzung für Anwendungsdiskurse – die gemeinsame Anerkennung 43 44 45 46 47 48 49
Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 307. Ebd. A. a. O., S. 48, Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 179. Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 133 (s. o. S. 77 f.). Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 182. A. a. O., S. 175. Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 11 f.
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
eines Normenkodex – ist demzufolge in der Lebenswelt in signifikantem Ausmaß erfüllt. In lebensweltlichen Anwendungsdiskursen werden die Regeln für die Ermittlung der jeweils angemessenen Normen faktisch durch tradierte »Paradigmen« für den Umgang mit Kollisionsfällen vorgezeichnet. 50 Solche Paradigmen enthalten »generalisierte Beschreibungen von Situationen einer bestimmten Art«. 51 Hierdurch kommen materiale Gesichtspunkte für die situative Priorisierung einzelner Normen ins Spiel. Die Paradigmen, an denen sich die Teilnehmer lebensweltlicher Anwendungsdiskurse orientieren, prägen ihr Verständnis der Kohärenz von Norminterpretationen. Die Paradigmen sind »freilich auch eine Quelle von Vorurteilen, verzerrten Situationseinschätzungen und entsprechend parteilicher oder einseitiger Anwendung gültiger Normen«. 52 Die herkömmliche Auffassung dessen, was als kohärente Norminterpretation gelten kann, lässt sich somit jederzeit in Zweifel ziehen. Dies geht mit dem Anspruch einher, durch die Ausräumung verdeckter Inkohärenzen tradierter Paradigmen zu kohärenteren Interpretationen zu gelangen. 53 Da die Paradigmen materiale Handlungsorientierungen einschließen, erstrecken sich Kontroversen darüber, ob eine Norminterpretation, die für kohärent gehalten wird, es auch tatsächlich ist, stets auch auf diese materialen Gesichtspunkte. Die Diskursethik im Günther’schen Sinne kann den streitenden Parteien keine Beurteilungskriterien für ihr divergierendes Verständnis der Kohärenz von Norminterpretationen an die Hand geben; hierzu müsste sie selber materiale Handlungspräferenzen formulieren können, was ihr verwehrt bleibt. Günther kann daher seine Forderung, Paradigmen stets der »öffentliche[n] Kritik« auszusetzen und »Deutungsmonopolen« entgegenzuwirken, nicht näher spezifizieren. 54 Er begnügt sich mit der Feststellung, dass Kontroversen über die Angemessenheit einer Norm nur durch Lernprozesse in einer der streitenden Parteien – oder in beiden – gelöst werden können. 55 Nach Günther lässt die Geschichte lebensweltlicher Paradigmen eine Fortschrittstendenz erkennen. Er Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 182. Ebd. 52 A. a. O., S. 183. 53 Günther: »Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral«. In: M. Herberger, U. Neumann, H. Rüssmann (Hrsg.): Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken. Stuttgart 1998. S. 36–76, hier: 64. 54 A. a. O., S. 66. 55 Vgl. Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 277. 50 51
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K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
beruft sich hierbei auf das Theorem einer Entwicklungslogik der Normativität, wie es Habermas in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus und seinen diskursethischen Arbeiten der 1980er Jahre entwickelt hat. 56 Günther gibt Habermas darin Recht, dass dessen Universalisierungsgrundsatz U das postkonventionelle Moralbewusstsein auf den Begriff bringt. 57 Nur auf dieser Basis kann Günther seinen Begriff des Anwendungsdiskurses, den er im Ausgang von U formuliert, mit den Norminterpretationen, die in den »modernen Lebensformen« faktisch ausgebildet worden sind, kurzschließen. 58 Habermas greift in Faktizität und Geltung Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen zunächst in seiner Explikation der Idee des Rechtsstaates auf – in diesem Zusammenhang stellt er die Forderung nach Kompatibilität der ethisch-politischen Willensbildung mit moralischen Grundsätzen auf –, sodann in seiner Theorie des juristischen Diskurses. 59 Günthers These, dass die »juristische Argumentation ein Sonderfall des moralischen Anwendungsdiskurses ist«, berührt sich mit Habermas’ Auffassung in den 1986 gehaltenen »Tanner Lectures«. 60 In Faktizität und Geltung revidiert Habermas seinen Standpunkt und lehnt Günthers These nun unter Berufung auf sein Theorem der Gleichursprünglichkeit von ethisch-politischer und moralischer Legitimität ab. 61 Hiermit öffnet er das Günther’sche Begriffspaar »Begründungs-/Anwendungsdiskurs« für den ethisch-politischen und pragmatischen Gebrauch der praktischen Vernunft. 62 Günther unterscheidet zwischen der »Anwendung des Moralprinzips« U auf eine Norm, wodurch über deren Geltungsanspruch entschieden werden soll, und der »Anwendung einer durch das Moralprinzip begründbaren Norm« auf konkrete Handlungssituationen. 63 Sein Begriff des Begründungsdiskurses bezieht sich auf die erste Ebene; den Begriff des Anwendungsdiskurses reserviert er für Vgl. a. a. O., S. 101–215. Zu Habermas’ Begründung dieses Anspruchs s. u. Kap. VIII 3. 58 Vgl. Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 182 f. 59 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 190, 200 f., 206, 266–272, 285 f. 60 Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 166. Habermas’ »Tanner Lectures« wurden im Anhang zu Faktizität und Geltung abgedruckt (S. 541–599, hier: 566). 61 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 285 f. 62 A. a. O., S. 191. 63 Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 26. 56 57
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
die zweite. Michelmans kritische Anfrage an Habermas, welche Anwendungskriterien er für die abstrakten praktischen Prinzipien seiner Rechtstheorie, d. h. das Demokratieprinzip und den Universalisierungsgrundsatz U, bereit stellt, 64 betrifft sowohl die Ebene der Begründungsdiskurse in Faktizität und Geltung, auf der diese Prinzipien auf Werte und Normen appliziert werden, als auch die Ebene der Anwendungsdiskurse. In Faktizität und Geltung steckt die im Demokratieprinzip fundierte Idee des Rechtsstaates den Rahmen juristischer Anwendungsdiskurse ab und fungiert somit als Anwendungskriterium des Demokratieprinzips. 65 Dies schließt die Forderung nach Kompatibilität von ethisch-politischer und moralischer Argumentation ein – was daran deutlich wird, dass Habermas Günthers »Grundsatz der Angemessenheit«, auf dessen Verankerung in U er explizit hinweist, in seine Theorie juristischer Anwendungsdiskurse integriert. 66 Die Idee des Rechtsstaates muss in Anwendungsdiskursen mittels des Kohärenz-Kriteriums konkretisiert werden. 67 Habermas schließt sich Günthers Auffassung an, dass das Kohärenz-Kriterium in Anwendungsdiskursen unterbestimmt bleibt und daher seinerseits anhand lebensweltlicher Paradigmen spezifiziert werden muss, woraus das Problem entspringt, dass »kohärente Fallinterpretationen« innerhalb eines Paradigmas mit »ebenso kohärenten« – oder zumindest kohärent erscheinenden – Interpretationen in alternativen Paradigmen konkurrieren. 68 »Paradigmen verfestigen sich zu Ideologien in dem Maße, wie sie sich systematisch gegen neue Situationsdeutungen und andere, im Lichte neuer historischen Erfahrungen fällige Interpretationen von Rechten und Prinzipien abschließen«. 69 Anders als Günther bleibt Habermas nicht bei der abstrakten Forderung stehen, Paradigmen gegen Kritik nicht zu immunisieren; er erhebt den Anspruch, dass seine Rechtstheorie Beurteilungskriterien für material gefüllte »Rechtsparadigmen« enthält, womit sich deren ideologische Verfestigung aufbrechen lässt, so dass Kontroversen einer EntscheiMichelman: »Constitutional Authorship«, S. 90. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 287. S. u. S. 105 ff. 66 A. a. O., S. 140, 201, 266 ff. 67 A. a. O., S. 265 ff. 68 A. a. O., S. 272. Vgl. Günther: »Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral«, S. 64 ff. 69 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 271. Vgl. Günther: »Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral«, S. 66. 64 65
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K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
dung zugeführt werden können. 70 Unter »Rechtsparadigmen« versteht Habermas »exemplarische Auffassungen einer Rechtsgemeinschaft hinsichtlich der Frage, wie das System der Rechte und die Prinzipien des Rechtsstaates im wahrgenommenen Kontext der jeweiligen Gesellschaft verwirklicht werden können«. 71 Habermas bindet seinen Begriff des Rechtsparadigmas zwar an Günthers Paradigmen-Begriff an, 72 beide sind aber unterschiedlich akzentuiert. Bei Günther liegt der Fokus auf der Funktion von Paradigmen, in konkreten Handlungssituationen eine Rangordnung unter den prima facie anwendbaren Normen herzustellen. 73 Habermas erörtert demgegenüber die Konkurrenz von Rechtsparadigmen am Beispiel der Ablösung des »Formalrechts« des bürgerlichen Liberalismus durch ein auf »sozialstaatliche Gerechtigkeitsvorstellungen« bezogenes Rechtsverständnis im Laufe des 20. Jahrhunderts in Deutschland und den USA; 74 beide Paradigmen bilden ein »recht globales« (E. Holzleithner), »hochabstrakt[es]« (R. Alexy) Hintergrundverständnis der Rechtsordnung. 75 Der Staat soll gemäß dem formalrechtlichen Paradigma in erster Linie den Rechtsschutz jedes Bürgers als eines »privatautonomen Marktteilnehmers« gewährleisten, gemäß dem sozialstaatlichen Rechtsverständnis fällt ihm darüber hinaus die Aufgabe zu, die »Inhaber schwächerer Marktpositionen« vor einer dauerhaften sozialen Benachteiligung zu bewahren. 76 Beide Paradigmen eröffnen »Deutungsperspektiven« für konkrete rechtliche Regelungen des Arbeitsschutzes, Schul- und Gesundheitssystems, der Steuererhebung usw.; 77 sie reichen allerdings aufgrund ihrer Abstraktheit in vielen Einzelfällen zur »Festlegung einer definitiven Entscheidung« nicht aus. 78 Habermas sieht in der Ablösung des bürgerlichen Formalrechts Habermas: Faktizität und Geltung, S. 271, 536. A. a. O., S. 238. 72 A. a. O., S. 271 f. 73 Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 182. 74 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 238 f., 469 f., 488. 75 Elisabeth Holzleithner: »Paradigmen des Rechts«. In: Koller/Hiebaum (Hrsg.): Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, S. 153–168, hier: 153; Robert Alexy: »Jürgen Habermas’ Theorie des juristischen Diskurses«. In: ders.: Recht, Vernunft, Diskurs. Frankfurt a. M. 1995. S. 165–174, hier: 171. 76 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 487, 530. 77 A. a. O., S. 527, vgl. 204. 78 Alexy: »Jürgen Habermas’ Theorie des juristischen Diskurses«, S. 171. Vgl. Holzleithner: »Paradigmen des Rechts«, S. 153 f. 70 71
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
durch das Sozialstaatsmodell einen Fortschritt, der sich der Einsicht in die Defizite des ersteren verdanke. 79 Er hält allerdings auch das Sozialstaatsmodell für unzulänglich und erhebt den Anspruch, die Konkurrenz beider Paradigmen durch das »prozeduralistische« Rechtsverständnis von Faktizität und Geltung auflösen zu können. 80 Habermas beruft sich hierbei auf seine Explikation des »ursprünglichen Sinn[s] des Systems der Rechte« in Faktizität und Geltung, d. h. auf seine Verankerung der Menschenrechte im Demokratieprinzip, womit die »private und öffentliche Autonomie« der Bürger »uno actu« gesichert werden soll. 81 Die demokratischen Staatsbürger gestehen einander dadurch »private Autonomie« zu, dass sie sich gegenseitig als »Adressaten« einklagbarer Grundrechte auf individuelle Handlungsfreiheiten anerkennen. 82 Ihre öffentliche, »politische« Autonomie realisieren sie als »Autoren ihrer Rechtsordnung«: durch die Errichtung und Bewahrung eines demokratischen Rechtsstaates. 83 Sie sichern ihre politische und private Autonomie »uno actu«, indem sie sich über die konkrete Ausgestaltung der Menschenrechte und der demokratischen Institutionen ihres Staates in Hinblick auf ihre jeweiligen Lebensumstände argumentativ verständigen. Nach Habermas tragen weder das formalrechtliche noch das sozialstaatliche Paradigma dem »reziproken Verweisungszusammenhang« von politischer und privater Autonomie adäquat Rechnung: 84 Das Formalrecht schränke die politische Autonomie ein, das Sozialstaatsmodell die private. Die Vertreter des Sozialstaatsmodells erheben gegen das Formalrecht des bürgerlichen Liberalismus den Vorwurf der »sozialen Blindheit«. 85 Die bürgerlich-politischen Menschenrechte auf Meinungsfreiheit, Mitwirkung an der politischen Willensbildung usw., die das Formalrecht in den Vordergrund rückt, können nur dann effektiv genutzt werden, wenn die sozialen Menschenrechte auf Sicherung der materiellen Subsistenz, Bildung usw. garantiert sind. Im formalrechtlichen Paradigma wird aus der Tatsache, dass der »Marktmechanismus« sozioökonomische Ungleichheit produziert, nicht der Schluss gezogen, dass die sozialen Men79 80 81 82 83 84 85
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 482 f. A. a. O., S. 239. A. a. O., S. 494. A. a. O., S. 155 f. A. a. O., S. 156. A. a. O., S. 479. A. a. O., S. 470.
104 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
schenrechte der Benachteiligten, damit auch deren politische Partizipationsmöglichkeiten, durch staatliche Eingriffe gesichert werden sollen – hierauf zielt der Vorwurf der sozialen Blindheit. 86 Das Sozialstaatsmodell macht wiederum Abstriche an der privaten Autonomie, da es die Empfänger von Sozialleistungen einer bürokratischen Kontrolle unterwirft; es hat damit einen »paternalistisch[en]« Zug. 87 Den »Kern des prozeduralistischen Rechtsparadigmas« in Faktizität und Geltung, das nach Habermas das Formalrecht und das Sozialstaatsmodell »in sich aufhebt«, bilden die mit der Idee des Rechtsstaates verknüpften »Kommunikationsformen«: Sie gehen »aus Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit« hervor und wirken über demokratische Verfahren auf die staatliche Administration ein. 88 Während das formalrechtliche und das sozialstaatliche Paradigma materiale Richtlinien für die staatliche Garantie von Grundrechten enthalten, fokussiert das prozeduralistische auf die kommunikative Macht der Bürger, die den reziproken Verweisungszusammenhang von politischer und privater Autonomie und damit ihre »materiale Rechtsstellung« selber konkret ausgestalten sollen. 89 Habermas wendet sich gegen den Verdacht, sein prozeduralistisches Rechtsverständnis sei »formal« im Sinne von »leer« oder »inhaltsarm«, mit dem Argument, dass er mit der Idee des Rechtsstaates ein Beurteilungskriterium für material gefüllte Rechtsparadigmen bereit stellt: Die Wahl der jeweiligen Rechtsform muss nach Habermas »auf den ursprünglichen Sinn des Systems der Rechte« – die Verschränkung von öffentlicher und privater Autonomie – dadurch bezogen bleiben, dass »jeder Rechtsakt zugleich als Beitrag zur politisch-autonomen Ausgestaltung der Grundrechte, also als Element eines auf Dauer gestellten verfassunggebenden Prozesses« begriffen werden kann. 90 Dieses Verfassungsverständnis, demzufolge »die laufende Gesetzgebung das System der Rechte unter Anpassung an die aktuellen Umstände interpretierend fort[schreibt]«, ermöglicht laut Habermas’ Entgegnung auf Michelman die Lösung des Zirkel-Problems seiner Rechtstheorie. 91 Während er in seiner Erwiderung auf A. a. O., S. 482 f. A. a. O., S. 470, 490, 503. 88 A. a. O., S. 239, 492 f., 532 f. 89 A. a. O., S. 156, 493. 90 A. a. O., S. 494, 536. 91 Habermas: »Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«, S. 144 (s. o. S. 89 f.). 86 87
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
Michelman dem diskursethischen Rechtstheoretiker die Rolle des bloßen Beobachters »sich selbst korrigierender Lernprozess[e]« zeitgenössischer Gesellschaften zuweist, 92 zeichnet seine Erörterung der Rechtparadigmen in Faktizität und Geltung diejenige Option, auf Michelmans Einwand zu antworten, implizit vor, die durch die Verknüpfung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in der Theoriearchitektur des Buches zwar nahe gelegt, von Habermas selber aber gegenüber Michelman nicht explizit angesprochen wird (s. o. S. 95 f.): Habermas rekonstruiert die Ablösung des Formalrechts durch das Sozialstaatsmodell als einen Lernprozess, der noch defizitär bleibt, und erhebt den Anspruch, ihn dadurch vorantreiben zu können, dass er mit seinem prozeduralistischen Paradigma in die gegenwärtige rechtstheoretische Diskussion eingreift. Habermas’ Erörterung der Rechtsparadigmen ist daher für die Klärung der Frage, ob seine Idee des Rechtsstaates ein zureichendes Anwendungskriterium des Demokratieprinzips bildet, von ausschlaggebender Bedeutung. 93 Ebd. Die Kontroverse zwischen dem Formalrecht des bürgerlichen Liberalismus und dem Sozialstaatsmodell in Deutschland und den USA lässt sich zwar an die Frage Michelmans, ob Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Fairness der Konstitutionsbedingungen einer demokratischen Verfassung im Rahmen von Faktizität und Geltung entscheidbar sind, nicht direkt anbinden, ist aber für die Beurteilung von Habermas’ Lösungsansatz relevant, demzufolge die laufende Gesetzgebung die Aufgabe hat, die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte in Hinblick auf die aktuellen Umstände interpretierend fortzuschreiben. Mit seiner Erörterung jener Kontroverse nimmt Habermas zu dem Problem Stellung, ob »Korrekturen der marktbasierten Verteilung ökonomischer Güter durch staatliche Behörden« demokratisch geboten oder aber einer »wahrhaft demokratischen Regierungsform« abträglich sind (Michelman: »Constitutional Authorship«, S. 91, s. o. S. 88).- Die Verfassung der USA ist vom bürgerlichen Formalrecht in der Locke’schen Version geprägt, das den Schutz von Leben, Freiheit und Besitz der Individuen ins Zentrum rückt (Habermas: »Naturrecht und Revolution«. In: ders.: Theorie und Praxis. Erw. Neuausgabe. Frankfurt a. M. 1971. S. 89–127, hier: 90 f., 94). Die sozialen Menschenrechte bleiben in Lockes »bürgerlichem Besitzindividualismus« (C. B. Macpherson) im Hintergrund (s. u. S. 213 f.). Im 19. Jahrhundert wurde der Streit darüber, ob die Verfassung der USA einen diskriminierenden Zug hat, innerhalb des formalrechtlichen Paradigmas geführt: Er entzündete sich am Status der Sklaven, die als Sachen behandelt wurden. Signifikante Fortschritte bei der Durchsetzung sozialer Menschenrechte erzielte erst Roosevelts New Deal. Indem Habermas in Faktizität und Geltung der Rechtsprechung in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg – neben der in der Bundesrepublik Deutschland – exemplarische Bedeutung für die Ablösung des Formalrechts durch das Sozialstaatsmodell beimisst, gibt er implizit zu verstehen, dass die mit dem New Deal einhergehenden normativen Lernprozesse noch unabgegoltene Potentiale in sich bargen.Der Menschenrechts-Katalog des deutschen Grundgesetzes enthält sowohl die
92 93
106 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
Habermas’ Beurteilungskriterium für die Konkurrenz zwischen dem Formalrecht und dem Sozialstaatsmodell ergibt sich aus der Applikation seines Theorems des reziproken Verweisungszusammenhangs von privater und öffentlicher Autonomie auf den GleichheitsBegriff des Demokratieprinzips mittels der Idee des Rechtsstaates. Das Demokratieprinzip erkennt allen Bürgern das politische Grundrecht auf die »chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungsund Willensbildung« und das soziale Grundrecht auf »die chancengleiche Nutzung« der politischen Rechte zu. 94 Habermas konkretisiert diese abstrakten Gleichheits-Forderungen mittels der Formel von der »Dialektik zwischen rechtlicher und faktischer Gleichheit«. 95 Dies besagt in Bezug auf das Formalrecht, dass dessen Verständnis rechtlicher Gleichheit die faktische sozioökonomische Ungleichheit der Individuen zementieren kann, und in Bezug auf das Sozialstaatsmodell, dass der von diesem festgeschriebene Rechtsanspruch auf Sozialleistungen eine neue Form der sozialen Ungleichheit hervorrufen kann, da von der bürokratischen Aufsicht über die Lebensführung der Bezieher von Sozialleistungen diejenigen Bürger verschont bleiben, die keine staatlichen Hilfen in Anspruch nehmen müssen. Die konkrete Ausgestaltung der »normative[n] Intuition, dass sich private und öffentliche Autonomie wechselseitig voraussetzen«, in Faktizität und Geltung »informiert« – so Habermas – »den öffentlichen Streit über die Kriterien für die jeweils notwendigen faktischen Voraussetzungen rechtlicher Gleichheit«: 96 »An diesen Kriterien bemisst sich auch, wann sich eine Regelung als formalrechtliche Diskriminierung oder als sozialstaatlicher Paternalismus auswirkt. Ein Rechtsprogramm erweist sich als diskriminierend, wenn es gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen faktischer Ungleichheiten, als paternalistisch, wenn es gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen der staatlichen Kompensation dieser Ungleichheiten unempfindlich ist.« 97 Locke’schen Grundrechte als auch soziale Aspekte; zu den letzteren gehören der Grundsatz »Eigentum verpflichtet« und die Erlaubnis zur Enteignung von Privatbesitz (gegen eine Entschädigung) »zum Wohle der Allgemeinheit« (Artikel 14). Die Kontroverse zwischen dem formalrechtlichen und dem sozialstaatlichen Paradigma in der Bundesrepublik Deutschland betraf dementsprechend nicht in erster Linie die Genese des Grundgesetzes, sondern die konkrete Ausgestaltung seines GrundrechtsKatalogs in der laufenden Gesetzgebung. 94 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 156 f. 95 A. a. O., S. 500 f. 96 A. a. O., S. 503. 97 Ebd.
107 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
Die Schlüsselrolle der kommunikativen Macht der Bürger im prozeduralistischen Rechtsparadigma verbietet es dem diskurethischen Rechtstheoretiker im Habermas’schen Sinne, inhaltliche Aussagen darüber zu machen, welche rechtlichen Regelungen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen sowohl des Formalrechts als auch des Sozialstaatsmodells beheben können. Die Bürger bleiben vielmehr dazu aufgefordert, in »politischen Diskursen« an der »Bildung von Maßstäben« für künftige Gesetzesvorhaben mitzuwirken. 98 Der Habermas’sche Rechtstheoretiker muss sich somit auf das Ansinnen beschränken, das Formalrecht und das Sozialstaatsmodell durch den Hinweis auf ihre jeweiligen Defizite »füreinander [zu] öffnen«. 99 Habermas subsumiert beide konkurrierenden Rechtsparadigmen unter Günthers Feststellung, dass die in Anwendungsdiskursen leitenden Paradigmen zusammen »mit anderem kulturellen Orientierungswissen« zu der »Lebensform« gehören, »in der wir uns jeweils befinden«. 100 Politische Diskurse werden in Faktizität und Geltung dadurch von moralischen abgegrenzt, dass die ersteren an die »Kontingenz« unserer jeweiligen Lebensform angebunden sind, während die letzteren »das Zurücktreten von allen kontingenterweise bestehenden normativen Kontexten« verlangen. 101 Ethische Wertorientierungen spielen in politischen Diskursen eine zentrale Rolle. »Werte konkurrieren stets mit anderen Werten. Sie sagen, welche Güter bestimmte Personen oder Kollektive unter bestimmten Umständen erstreben oder vorziehen«. 102 Der Streit zwischen dem formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigma entspringt aus gegenläufigen und zugleich miteinander verwandten Wertorientierungen: Beide Paradigmen fassen die »rechtliche Konstituierung der Freiheit« in entgegengesetztem Sinne als »Distribution« auf. 103 Der basale Wert des formalrechtlichen Paradigmas besteht in der »privatautonome[n] Lebensgestaltung« der Individuen, die in erster Linie als Marktteilnehmer aufgefasst werden, d. h. in deren eigenverantwortlichem Umgang mit ihren jeweiligen Lebensumständen. 104 Dieses Paradigma identifiziert die »GleichA. a. O., S. 530. A. a. O., S. 272. 100 A. a. O., S. 271; Günther: »Ein normativer Begriff der Kohärenz«, S. 182. 101 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 195, 202. 102 A. a. O., S. 190. 103 A. a. O., S. 505. 104 A. a. O., S. 483. 98 99
108 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
K. Günthers Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen
verteilung« des Rechts auf Selbstbestimmung mit der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. 105 Demgegenüber bildet die soziale Solidarität, die mit Gerechtigkeit im Sinne der gleichmäßigen Verteilung von Lebenschancen gleichgesetzt wird, die leitende Wertorientierung des Sozialstaatsmodells. Habermas stützt seinen Anspruch, dass mit seinem prozeduralistischen Paradigma ein materiales Rechtsprogramm entwickelt werden kann, das dem Formalrecht und Sozialstaatsmodell überlegen ist, auf die These, dass das Verständnis der rechtlichen Konstitution der Freiheit nach dem Modell der Distribution von Gütern den »gemeinsamen Fehler« dieser beiden Paradigmen bilde. 106 Das Sozialstaatsmodell blende aus, das die »Verteilung sozialer Entschädigungen« an Benachteiligte mit einem »Freiheitsentzug« durch bürokratische Kontrolle einher geht, dass also Lebenschancen nicht wie vorhandene Güter ohne freiheitsbeschränkende Nebenfolgen ausgeteilt werden können. 107 Habermas stimmt zugleich der Kritik des sozialstaatlichen Paradigmas am formalrechtlichen zu, der zufolge die formale Gleichheit vor dem Gesetz den rechtlichen Ordnungsrahmen sozioökonomischer Unterdrückung bilden könne. 108 Die Anhänger des Formalrechts können jedoch den Hinweis des Sozialstaatsmodells auf die Ungleichheit produzierende Eigendynamik ökonomischer Mechanismen gegen den Vorwurf seitens des Sozialstaatsmodells wenden, dass das Formalrecht der Aushöhlung der – als höchstes Rechtsgut deklarierten – individuellen Handlungsfreiheit durch gesellschaftliche Machtstrukturen Vorschub leiste. In allen entwickelten Gesellschaften fungieren materielle Belohnungen als Leistungsanreiz. Die Vorteile, die man sich durch besondere Qualifikation und Tatkraft erarbeiten kann, verbessern die Bildungs- und Berufschancen der eigenen Kinder und bringen sie somit in eine privilegierte Startposition. Ein Anhänger des Formalrechts kann sich gegen den Vorwurf, sein Rechtsverständnis sei »diskriminierend«, da es »gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen faktischer Ungleichheiten« unempfindlich sei, 109 mit dem Argument verwahren, dass der Staat die Freiheit der schlechter Gestellten nicht einschränkt, wenn er Ungleichheiten hinnimmt, die aus dem Streben
105 106 107 108 109
A. a. O., S. 483 f. A. a. O., S. 505. A. a. O., S. 502, 504 f. A. a. O., S. 505, vgl. 482. A. a. O., S. 400.
109 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
nach ökonomischer Effizienz entspringen; der Staat verzichtet vielmehr darauf, die Freiheitsspielräume der Benachteiligung zu erweitern. Ein Anhänger des Sozialstaatsmodells, der dies als diskriminierend wertet, erklärt die Kompensation faktischer Ungleichheiten durch staatliche Hilfen zu einem Gebot sozialer Gerechtigkeit. Dieses Gerechtigkeits-Verständnis muss ein Anhänger des Formalrechts nicht akzeptieren. Für ihn ist die staatliche Akzeptanz von Ungleichheiten, die aus ökonomischer Logik entspringen, ebenso wenig als ungerecht zu werten wie die Hinnahme natürlicher Ungleichheiten, etwa die fehlende Förderung lernschwacher Kinder. Aus seiner Perspektive kann jemand, der aufgrund seiner natürlichen Ausstattung benachteiligt ist, keinen normativen Anspruch auf Kompensation durch die Gesellschaft erheben; dasselbe gelte für diejenigen, die sich aufgrund ökonomischer Sachzwänge in schwächeren Marktpositionen befinden. »Gravierende Wertentscheidungen ergeben sich aus und verändern sich mit dem politisch-kulturellen Selbstverständnis einer historischen Gesellschaft«. 110 Die Einbindung des sozialstaatlichen und formalrechtlichen Paradigmas in historisch-kontingente Lebensformen zeigt sich u. a. daran, dass in Europa eine allgemeine Krankenversicherung seit langem selbstverständlich ist, während sie in den USA bis zur Präsidentschaft Obamas mehrheitlich abgelehnt wurde. Die Kontroverse zwischen dem Formalrecht und dem Sozialstaatsmodell lässt sich mit Hilfe von Habermas’ prozeduralistischem Rechtsparadigma nicht auflösen. Die heterogenen Wertorientierungen des formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigmas schließen ein unterschiedliches Verständnis der Freiheit ein. Wenn der Staat diejenigen, die aufgrund ökonomischer Sachzwänge benachteiligt sind, sich selbst überlässt, enthält er ihnen laut dem sozialstaatlichen Paradigma ihre Freiheit vor. Dies wird vom formalrechtlichen Paradigma bestritten. Aus seiner Perspektive realisieren die Benachteiligten ihre Freiheit dadurch, dass sie aus ihrer Situation das Beste machen. Solange die Vertreter beider Paradigmen an ihren gegenläufigen Werten festhalten, reicht Habermas’ Konkretisierung seines Theorems des wechselseitigen Bezugs von privater und öffentlicher Autonomie mittels seiner Idee des Rechtsstaates für die Eröffnung eines konsensorientierten Dialogs nicht aus, da die streitenden Parteien unter den »freiheitseinschränkenden Nebenfolgen« rechtlicher 110
A. a. O., S. 198.
110 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte
Regelungen jeweils etwas anderes verstehen. Sie können sich allenfalls darauf einigen, dass auf der einen Seite eine radikale laisser faire-Politik gegenüber ökonomischen Mechanismen, die soziale Not produzieren, die Benachteiligten in Unfreiheit belässt, und auf der anderen Seite eine umfassende staatliche Reglementierung der Wirtschaft die Freiheit der ökonomischen Akteure beschneidet. Dieser Minimalkonsens ist geradezu trivial. Habermas’ prozeduralistisches Paradigma enthält keine argumentativen Mittel, um die Wertorientierungen des Formalrechts und Sozialstaatsmodells so weit zu korrigieren, dass ein gehaltvolles Rechtprogramm entwickelt werden kann, das ihrer Kontroverse ein Ende setzt. Habermas’ Anspruch, dass sein prozeduralistisches Paradigma das Formalrecht und Sozialstaatsmodell »in sich aufhebt«, 111 lässt sich daher nicht einlösen. Dies stützt Michelmans These, dass Faktizität und Geltung keine zureichenden Anwendungskriterien für das Demokratieprinzip entnommen werden können.
5.
Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im Demokratieprinzip
Für die von Apel intendierte Revision der Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung ist seine These, dass den Menschenrechten eine »Zwischenstellung« zwischen »Moral und positivem Recht« zukommt, von zentraler Bedeutung. 112 Er hält auf der einen Seite daran fest, dass die Menschenrechte eines moralischen Fundaments bedürfen, so dass ihre »Begründung und Geltendmachung« in »prinzipieller Distanz zur konstitutionellen Begründung der bürgerlichen Grundrechte in einer Demokratie« erfolgen müsse. 113 Auf der anderen Seite stimmt er Habermas darin zu, dass »die Realisierung der Menschenrechte« auf ihre »Positivierung durch reale Gesetzgebungsdiskurse im Sinne einer demokratischen Praktizierung der Volkssouveränität« angewiesen ist und dass in diesen Diskursen sowohl ethisch-politische als auch moralische und pragmatische Gründe zählen. 114 Wie für Habermas gibt es auch für Apel bei der inhalt111 112 113 114
A. a. O., S. 239. Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 795, 820. A. a. O., S. 818. A. a. O., S. 822, 772 ff.
111 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
lichen Konkretisierung der Menschenrechte in Hinblick auf die jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Umstände »einen Spielraum für delikate Entscheidungen«, d. h. für zumindest temporäre Einschränkungen einzelner Rechte. 115 Anders als Habermas spricht er jedoch den moralischen den Primat gegenüber ethisch-politischen und pragmatischen zu. 116 Er vertritt die These, in der »Differenzierungsarchitektonik« von Faktizität und Geltung drohe dadurch ein »Widerspruch« aufzutreten, dass Habermas die Forderung nach Kompatibilität ethisch-politischer Entscheidungen mit dem Moralprinzip erhebt und zugleich das Rechts- und Moralprinzip auf eine Stufe stellt, indem er sie für gleichursprünglich erklärt, was die Auffassung einschließt, dass ethisch-politische und pragmatische Gründe nicht in jedem Fall moralischen untergeordnet werden müssen. 117 Habermas’ Kompatibilitätsforderung droht somit nach Apel inhaltslos zu werden, wenn es zulässig ist, moralische Bedenken in ethischpolitischen Diskursen zurückzustellen. Dieser Einwand ist m. E. allerdings in der dezidierten Form, in der er vorgebracht wird, insofern unplausibel, als es Apel selber als legitim ansieht, die ideale Diskursmoral situativ einzuschränken, um ihre Anwendungsbedingungen allererst herzustellen (s. o. S. 56). Auf dem Hintergrund der Kritik Michelmans an Habermas’ Zielsetzung, die Menschenrechte mit dem Prinzip der Volkssouveränität in Einklang zu bringen, lässt sich Apels Einwand jedoch in der Weise umformulieren, dass seine Intention, die Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung durch die Aufwertung des Moralprinzips zu modifizieren, an Überzeugungskraft gewinnt. Dass Habermas ethisch-politische, moralische und pragmatische Gründe als gleichermaßen relevante Aspekte demokratischer Entscheidungsprozesse betrachtet und keine Hierarchie unter ihnen herstellt, trägt zu dem von Michelman angesprochenen Problem bei, dass begründete Meinungsverschiedenheiten über die normative Legitimität der Spezifikation bzw. Einschränkung von Menschenrechten durch formal-demokratisch gefasste Beschlüsse im Rahmen seiner Rechtstheorie unauflösbar bleiben können – da Habermas keine Kriterien dafür angibt, welche Gründe im Einzelfall zu priorisieren sind, so dass die Diskursteilnehmer hierüber zu widerstreitenden Auffassungen gelangen können. 115 116 117
Vgl. Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 468. Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 734. A. a. O., S. 735.
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Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte
In diesem Zusammenhang ist eine Inkonsistenz in Habermas’ Erörterung sozialer Menschenrechte in Faktizität und Geltung aufschlussreich. Bei der Gegenüberstellung von moralischen und ethisch-politischen Diskursen im V. Kap. verweist er »Fragen der Sozialpolitik«, des »Gesundheitssystems«, der »Distribution des gesellschaftlichen Reichtums, der Lebens- und Überlebenschancen überhaupt« an die ersteren; im IX. Kap. »Paradigmen des Rechts« erklärt er demgegenüber politische Diskurse zum Forum für die Entscheidung der Kontroverse zwischen dem Sozialstaatsmodell und dem Formalrecht. 118 Diese Zuordnung ist der Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung angemessener, da die Menschenrechte dort im Demokratieprinzip als dem Prinzip ethisch-politischer Legitimität verankert werden. Der am Schluss von Abschnitt 4 formulierte Einwand gegen Habermas’ Anspruch, dass sein prozeduralistisches Rechtsparadigma das formalrechtliche und sozialstaatliche in sich aufhebt, ist an der unverzichtbaren Rolle ethischer Wertorientierungen in politischen Diskursen festgemacht. Der auf der Ebene ethischer Werte angesiedelte Dissens zwischen dem formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigma über den Freiheitsbegriff lässt sich mit Hilfe von Habermas’ Kompatibilitätsforderung in ihrer originären Gestalt nicht auflösen, da die streitenden Parteien jeweils der Auffassung sind, den wohlverstandenen Interessen aller Betroffenen Rechnung zu tragen. Wenn man dagegen die Kompatibilitätsforderung im Sinne Apels dahingehend umformuliert, dass moralische Gründe gewichtiger sind als ethische, kann die Diskussion dadurch in Fluss geraten, dass die heterogenen Freiheitsbegriffe an Relevanz verlieren (s. u. S. 129 f.). Im Folgenden soll die These, dass durch die Priorisierung moralischer Gründe Kontroversen entscheidbar werden, die auf der Basis der ursprünglichen Version von Habermas’ Kompatibilitätsforderung unentscheidbar sind, zunächst in Bezug auf den supranationalen Menschenrechts-Schutz plausibel gemacht werden; diesem kommt eine Schlüsselrolle für Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im partikularstaatlichen Demokratieprinzip zu. 119 Auch demokratisch verfasste Staaten sind »Teil eines Machtsystems«; sie müssen sich in der Auseinandersetzung mit anderen Staaten behaupten, unter Umständen mit Hilfe militärischer Ge118 119
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 204, 530. Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 744 f., 754 f., 828 f.
113 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
walt. 120 Apel zieht in Zweifel, dass in solchen Konflikten demokratische Entscheidungsprozesse in den beteiligten Staaten in Bezug auf die menschenrechtlichen Ansprüche an politisches und militärisches Handeln zu universal konsensfähigen Ergebnissen führen können, wenn Habermas’ Kompatilitätsforderung nicht durch die Priorisierung moralischer Gründe umakzentuiert wird. 121 Das Gewicht von Apels Einwand soll am Beispiel des Krieges, den Großbritannien und Frankreich gegen das nationalsozialistische Deutschland führten, veranschaulicht werden. Formaljuristisch gesehen, handelte es sich um einen Angriffskrieg, da sich die beiden – demokratisch regierten – Westmächte nicht gegen einen deutschen Überfall zur Wehr setzten, sondern dem Deutschen Reich den Krieg erklärten, als sich die nationalsozialistische Führung weigerte, die Invasion Polens zu beenden. Die Kriegserklärung der Westmächte lässt sich mit ethisch-politischen, pragmatischen und moralischen Gründen legitimieren. In ethisch-politischer Hinsicht konnten sich die beiden Westalliierten darauf berufen, dass ihre Bemühungen, nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs in Europa eine Friedensordnung mit Hilfe des (1920 gegründeten) Völkerbunds aufrechtzuerhalten, durch die ungezügelte Expansionspolitik des nationalsozialistischen Deutschland untergraben wurden. Dass hierin ein unabsehbares Gefahrenpotential lag, wird durch das pragmatische Argument bekräftigt, dass sich die nationalsozialistische Führung mit dem Bruch des Münchner Abkommens als unberechenbar erwiesen hatte. In moralischer Hinsicht konnten die Westalliierten geltend machen, dass das Ende der nationalsozialistischen Diktatur im Fall der Niederlage Deutschlands im eigenen Interesse der deutschen Bevölkerung liege. Sind die Flächenbombardements deutscher Städte durch die alliierte Luftwaffe als legitimes Mittel der Kriegführung oder als Menschenrechtsverletzung zu werten? Die Alliierten rechtfertigten die Bombardements damit, dass die Zerstörung der deutschen Infrastruktur den Krieg abkürzen werde. Da in jedem Krieg zivile Opfer unvermeidlich sind, ist es grundsätzlich zulässig, die moralische Rücksichtnahme auf die Interessen der betroffenen Zivilbevölkerung im Einzelfall strategischen Maßnahmen, die die Siegeschancen erhöhen, unterzuordnen. In den Diskussionen in einem kriegführenden Land über die moralische Legitimität konkreter militärischer Vorhaben 120 121
A. a. O., S. 828 f. A. a. O., S. 748, 828 f., vgl. 735.
114 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte
kann die Bevölkerung eines gegnerischen Staates ihre Interessen allerdings nicht artikulieren. Und selbst wenn einzelne Diskussionsteilnehmer als Advokaten der Zivilbevölkerung des gegnerischen Staates auftreten, kollidiert ihre Berufung auf den moralischen Universalisierungsgrundsatz U mit den »macht- und wirtschaftspolitischen Lebensinteressen« des Landes, das über seine Kriegspolitik berät und möglichst effektive Strategien auswählen muss, da es weder seine eigene Niederlage noch den Verschleiß seiner Ressourcen durch die unabsehbare Fortdauer des Krieges wollen kann. 122 So konnten z. B. die Westalliierten denjenigen, die die Flächenbombardements deutscher Städte mit dem moralischen Argument kritisierten, dass nicht nur ein Übermaß an zivilen Todesopfern in Kauf genommen werde, sondern auch die Lebensperspektiven der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg durch die Zerstörung der Infrastruktur tiefgreifend beschädigt würden, entgegenhalten, dass ein rascher Sieg unabdingbar sei, damit das wirtschaftliche und militärische Potential der Alliierten nicht so weit erschöpft werde, dass ihnen die Fähigkeit genommen würde, die Nachkriegsordnung Mitteleuropas wirksam mitzugestalten, was die Gefahr eines Rückfalls Deutschlands in den Totalitarismus heraufbeschwören könne. Die macht- und wirtschaftspolitischen Lebensinteressen Großbritanniens und Frankreichs konnten allerdings von Völkern, deren Interessen von diesen beiden Staaten beschädigt worden waren – etwa der nach Unabhängigkeit strebenden Bevölkerung in den britischen und französischen Kolonien –, anders eingeschätzt werden, was eine abweichende Bewertung des Anspruchs der Alliierten auf eine dominierende Rolle bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung und damit auch des Verhältnisses von ethisch-politischen, pragmatischen und moralischen Gründen bei der Festlegung der militärische Strategie nach sich zieht. Das von Michelman benannte Problem, dass ein Dissens über die Legitimität der Spezifizierung bzw. Einschränkung von Menschenrechten auf der Basis von Habermas’ Demokratieprinzip unauflöslich sein kann, spitzt sich demnach in Bezug auf den Menschenrechts-Schutz in einem Krieg insofern zu, als Diskussionen über die menschenrechtliche Dimension der Kriegspolitik eines Staates in verschiedenen Ländern aufgrund ihrer unterschiedlichen Einbindung in globale Machtkonstellationen wie auch der Diversität ethischer Wertorientierungen zu heterogenen Ergebnissen führen können, wenn man 122
Vgl. a. a. O., S. 836.
115 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
Habermas’ Kompatibilitätsforderung in ihrer ursprünglichen Gestalt belässt. Daher kann ein universaler Konsens über den MenschenrechtsSchutz in Kriegen erst dann erzielt werden, »wenn das Gewaltmonopol des Rechtsstaats nicht mehr in partikularen politischen Machtsystemen zentriert ist«, sondern supranationalen Institutionen – in erster Linie der UNO – übertragen wird, die der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet sind. 123 Wenn eine »weltbürgerliche Rechtsordnung«, die den Einzelstaaten die eigenmächtige Kriegführung verbietet, durchgesetzt werden kann, verlieren pragmatische Argumente bei der Rechtfertigung militärischer Gewalt, mit denen macht- und wirtschaftspolitische Lebensinteressen einzelner Staaten geltend gemacht werden sollen, gegenüber moralischen an Gewicht. 124 Zugleich tritt die kulturelle bzw. regionale Verschiedenheit ethischer Wertungen in den Hintergrund. In einer »weltbürgerlichen Rechts- und Friedensordnung« 125 schwinden somit aufgrund der Priorisierung moralischer Gründe die Dissensrisiken, die auf der Ebene der Einzelstaaten unvermeidlich sind. Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im partikularstaatlichen Demokratieprinzip in Faktizität und Geltung erschwert somit in Konfliktsituationen, in denen es um die »Selbstbehauptung« von Staaten geht, einen universalen Konsens über menschenrechtlich relevante Fragen. 126 Apel bezeichnet die »Problematik der Menschenrechte« als die »Schlüsselproblematik des Rechts überhaupt«. 127 Er erklärt Habermas’ Identifikation des Demokratieprinzips mit dem Prinzip diskursethisch legitimen Rechts für kurzschlüssig. 128 Hierbei verknüpft er eine externe Kritik an Faktizität und Geltung vom Standpunkt seiner eigenen Diskursethik aus mit einem immanenten Einwand. Die externe Kritik wird in der weltgeschichtlichen Perspektive des Teils B seiner Diskursethik vorgebracht. Die Herausbildung demokratischer Staatsformen ist ein »historisch-kontingentes Phänomen«, das in den weltgeschichtlichen Aufklärungsprozess eingebunden ist. 129 Da die Mitglieder von Vor-Aufklärungs-Gesellschaften 123 124 125 126 127 128 129
A. a. O., S. 755, 835 f. A. a. O., S. 755. A. a. O., S. 746. A. a. O., S. 748. A. a. O., S. 819. A. a. O., S. 742 ff., 818. A. a. O., S. 744.
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Apels Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte
kein adäquates Verständnis rationaler Argumentation und damit auch politischer Autonomie haben, wäre es anachronistisch, die autoritären Machtstrukturen, die in solchen Gesellschaften vorherrschen, pauschal für illegitim zu erklären: Die demokratische Staatsform ist auf demokratische Gesinnungen der Bürger und ihre Fähigkeit zu rationaler Argumentation angewiesen. Die Etablierung demokratischer Rechtsstaaten in der Neuzeit ging mit der Kodifizierung völkerrechtlicher Normen einher. Apels Diskursethik trägt dieser Tatsache dadurch Rechnung, dass das teleologische Ergänzungsprinzip zur idealen Diskursmoral als der gemeinsame Legitimationsgrund und Beurteilungsmaßstab von inner- und zwischenstaatlichen Rechtsverhältnissen eingeführt wird (s. o. S. 57). Bei der Realisierung der Aufgabe, die das Ergänzungsprinzip dem Recht zuweist: die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen »für die Lösung aller moralisch relevanten Interessenkonflikte durch praktische Diskurse über Geltungsansprüche unter Ausschaltung strategischer Gewaltpraktiken« herzustellen, bildet die Errichtung demokratischer Rechtsordnungen in Einzelstaaten eine notwendige, aber noch unvollkommene Etappe auf dem Weg zu einem »weltbürgerlichen« Rechtszustand; dieser schränkt die Souveränität der Einzelstaaten und damit auch ihren Spielraum für die Spezifikation bzw. Einschränkung der Menschenrechte ein. 130 Die Anbindung des Teils B der Diskursethik Apels an die ideale Diskursmoral des Teils A zwingt zur Priorisierung moralischer Gründe gegenüber ethischen und pragmatischen. Apels immanente Kritik an Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im partikularstaatlichen Demokratieprinzip und damit zugleich an der originären Version seiner Kompatibilitätsforderung ist an dessen »Postscript« zu Faktizität und Geltung festgemacht: Habermas räumt dort ein, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erst dann weltweit in die Tat umgesetzt werden kann, wenn die Vereinten Nationen und ihre Gerichtsbarkeit in die Lage versetzt werden, ihre Beschlüsse auch gegen den Widerstand von Einzelstaaten durchzusetzen, womit »die Ära einzelstaatlicher Souveränität endet«. 131 Habermas äußert bereits am Schluss von Faktizität und Geltung die Hoffnung, dass die gegenwärtigen »Tendenzen zur Auflösung der nationalstaatlichen Souveränität« durch die StärApel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 754 f., 833. Habermas: »Postscript to Faktizität und Geltung«. In: Philosophy & Social Criticism 20 (1994), S. 135–150, hier: 143 f.; Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 836 f.
130 131
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
kung internationaler Rechtsinstitutionen »im Horizont einer entstehenden Weltöffentlichkeit den Anfang einer neuen universalistischen Weltordnung signalisieren«; er hat hierbei insbes. das Mandat der Vereinten Nationen zur normativen Beurteilung von Kriegshandlungen im Blick. 132 Wie lässt sich Habermas’ menschenrechtliche Begründung der Forderung, die Souveränität von Einzelstaaten durch globale Rechtsinstitutionen einzuschränken, langfristig sogar aufzulösen, damit in Einklang bringen, dass er die Menschenrechte im partikularstaatlichen Demokratieprinzip verankert? Er sieht offenbar – wie Apel m. E. zu Recht vermerkt – »die Realisierung der weltbürgerlichen Rechtsordnung als eine Aufgabe der im Demokratieprinzip schon in Anspruch genommenen Prozeduren der Diskursrationalität« an. 133 Apels Deutung des menschenrechtlichen Universalismus, den Habermas am Schluss von Faktizität und Geltung und im »Postscript« vertritt, wird durch seine Feststellung im »Postscript« gestützt, dass die »Gesetzgebung unter den Bedingungen« des modernen »sozialen und ideologischen Pluralismus« ihre »Legitimationskraft« nur aus solchen »Bestimmungen und Handlungsweisen« beziehen kann, denen »alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer rationaler Diskurse zustimmen können«. 134 Habermas beruft sich hiermit zunächst darauf, dass das Diskursprinzips D eine implizite Voraussetzung praktischer Diskurse unter nachmetaphysischen Vorzeichen bildet (s. o. S. 74 f.). Die zitierte Feststellung im »Postscript« gewinnt allerdings durch ihren Kontext – Habermas trifft sie unmittelbar im Anschluss an seine Forderung nach der Beschränkung einzelstaatlicher Souveränität – eine Bedeutungsdimension, die der gleichursprünglichen Fundierung des Moral- und Demokratieprinzips im Diskursprinzip und der Verankerung der Menschenrechte im Demokratieprinzip in Faktizität und Geltung zuwiderläuft. Die Rede von der »Gesetzgebung unter den Bedingungen des sozialen und ideologischen Pluralismus« im »Postscript« ist sowohl auf Einzelstaaten als auch supranationale Rechtsformen gemünzt. Die Stärkung globaler Rechtsinstitutionen zu Lasten der Souveränität der Einzelstaaten schließt eine Einschränkung der politischen Autonomie der Bürger im Sinne von Faktizität und Geltung ein: Für die Konzeption politischer Autonomie in Habermas’ Rechtstheorie ist die Befugnis 132 133 134
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 535. Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 836. Habermas: »Postscript to Faktizität und Geltung«, S. 144.
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Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem
der Staatsbürger von zentraler Bedeutung, das System der Grundrechte auf der Basis von Diskursen, in denen moralische, ethisch-politische und pragmatische Gründe gleichermaßen zählen, zu spezifizieren. In Habermas’ Rechtstheorie lässt sich die Forderung, dass die Bürger einen signifikanten Teil ihrer nationalstaatlichen politischen Autonomie an die Weltöffentlichkeit und die globalen Rechtsinstitutionen, deren Beschlüsse von dieser vorbereitet und kritisch begleitet werden, abtreten, nur mit dem moralischen Universalisierungsgrundsatz U rechtfertigen, der an eine »Republik von Weltbürgern« adressiert ist. 135 Habermas tritt somit am Schluss von Faktizität und Geltung und im »Postscript« selber für die Priorisierung moralischer Gründe gegenüber ethischen und pragmatischen ein. Dieser Standpunkt kann jedoch im Theorierahmen von Faktizität und Geltung nicht stringent begründet werden, solange man an der Fundierung der Menschenrechte im partikularstaatlichen Demokratieprinzip und der originären Gestalt von Habermas’ Kompatibilitätsforderung festhält. Hierauf zielt Apels immanente Kritik an der Theorie der Menschenrechte in Faktizität und Geltung.
6.
Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem in Habermas’ Faktizität und Geltung
Den gemeinsamen Bezugspunkt der Einwände, die Michelman in einer innerstaatlichen und Apel in einer globalen Perspektive gegen Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im Demokratieprinzip in Faktizität und Geltung erheben, bildet das Problem, ob Kontroversen darüber entscheidbar sind, wo die Grenze zwischen legitimen Spezifikationen und einer illegitimen Beschneidung von Menschenrechten durch die demokratische Gesetzgebung in Einzelstaaten liegt. Beide Autoren sehen in der Tatsache, dass Faktizität und Geltung keine zureichenden Anwendungskriterien des Demokratieprinzips für die Auflösung solcher Kontroversen an die Hand gibt, m. E. zu Recht einen Beleg dafür, dass die Menschenrechte einer moralischen Fundierung bedürfen. 136 Den Anknüpfungspunkt der Zielsetzung Apels, Habermas: Faktizität und Geltung, S. 144. Michelman: »Bedürfen Menschenrechte demokratischer Legitimation?«. In: Hauke Brunkhorst/Wolfgang R. Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.): Recht auf Menschenrechte? Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik. Frankfurt 135 136
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
das Verhältnis von »Faktizität« und »Geltung« durch die Einbettung des Habermas’schen Demokratieprinzips in das teleologische Ergänzungsprinzip seiner eigenen Diskursethik adäquat zu fassen, bildet Habermas’ Plädoyer für die fortschreitende Einschränkung nationalstaatlicher Souveränität am Schluss von Faktizität und Geltung und im »Postscript«. 137 Das Spannungsverhältnis in Habermas’ Rechtstheorie, das aus diesem Plädoyer resultiert, bringt ihn in folgendes Dilemma: Er muss sein Plädoyer entweder zurücknehmen – in diesem Fall kann er Apels Einwand nicht abwehren, dass bei gravierenden Konflikten zwischen Einzelstaaten Kontroversen über menschenrechtliche Fragen im Theorierahmen von Faktizität und Geltung unentscheidbar bleiben können – oder aber die Forderung nach Priorisierung moralischer Gründe gegenüber ethisch-politischen und pragmatischen, die er mit seinem Plädoyer implizit erhebt, konsequent vertreten, womit er gezwungen ist, der Moral eine Begründungsfunktion für die Menschenrechte und das positive Recht zuzuerkennen. Die von Apel vorgeschlagene Revision der Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung ermöglicht es m. E., die Argumentationslücke in Habermas’ Entgegnung auf Michelmans Zirkel-Einwand, auf den Apel selber nicht eingegangen ist, stringent zu beheben, d. h. die »quid facti?«-Ebene, auf der sich Habermas’ Erwiderung bewegt, mit der »quid juris?«-Ebene von Faktizität und Geltung, auf die Michelmans Kritik zielt, stimmig zu verknüpfen (s. o. S. 95 f.). Auf der »quid facti?«-Ebene muss es Habermas offen lassen, ob in allen demokratischen Staaten Lernprozesse stattfinden, mit denen Kontroversen über die demokratische Dignität der jeweiligen Verfassung ausgeräumt werden können. Sein Hinweis auf faktische rechtliche Fortschritte kann nur in einer modifizierten Fassung Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen: Die Etablierung demokratischer Staatsformen ist ein epochaler Schritt der Rationalisierung der Lebenswelt und damit eine Implementierung normativer Lernprozesse (s. o. Kap. V). Die anvisierte adäquate Erwiderung auf Michelmans Zirkel-Einwand lässt sich nur dann konkret ausgestalten, wenn durch die Rekonstruktion faktischer historischer Rationalisierungsprozesse die – auf der »quid juris?«-Ebene angesiedelten – Anwendungskriterien des Demokratiea. M. 1999. S. 52–65, hier: S. 52 f., 64 f.; Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 735 (s. o. S. 117 f.). 137 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 795, 835 f.
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Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem
prinzips und der diskursethischen Moralprinzipien so weit spezifiziert werden können, dass die kritische Begleitung von Kontroversen in Bezug auf die normative Bewertung dem Anspruch nach demokratischer Verfassungen durch den Diskursethiker einen signifikanten Beitrag zur Lösung der Streitfragen leisten kann. Günther ordnet seinen Begriff des Anwendungsdiskurses in eine solche weltgeschichtliche Perspektive ein, indem er die Konzeption einer normativen Entwicklungslogik in Habermas’ Schriften der 1970er und -80er Jahre aufgreift. 138 Der Diskursethiker im Sinne Günthers kann allerdings in lebensweltliche Anwendungsdiskurse nicht eingreifen, sondern nur die abstrakte Forderung aufstellen, Paradigmen der kritischen Überprüfung auszusetzen, da sein KohärenzKriterium rein formal bleibt (s. o. S. 99 f.). Habermas’ Anspruch, Kontroversen zwischen material gefüllten Rechtsparadigmen mit dem prozeduralistischen Paradigma von Faktizität und Geltung entscheiden zu können, lässt sich aufgrund der postulierten Gleichrangigkeit von ethisch-politischen und moralischen Gründen in den Diskursen demokratischer Staatsbürger nicht einlösen (s. o. S. 110 f.). Die Schlüsselrolle, die der von Apel intendierten Revision der Theoriestruktur von Faktizität und Geltung bei der Konkretisierung der anvisierten Antwort auf Michelmans Einwand m. E. zukommt, kann an dieser Stelle nur vorläufig umrissen werden. Apels Zielsetzung, Habermas’ Diskursprinzip D und seinen Universalisierungsgrundsatz U in seine eigene Diskursethik zu integrieren, verlangt ebenso wie seine Umformulierung des Habermas’schen Theorems der Gleichursprünglichkeit von Moral und Recht eine ausführliche Darstellung (s. u. Kap. VIII 1). Zudem muss Habermas’ berechtigter Kritik an Apels Fundierung des Teils B seiner Diskursethik im Teil A Rechnung getragen werden (s. u. S. 140 f.). Zunächst soll lediglich auf die Strukturparallele zwischen der anvisierten adäquaten Antwort auf Michelman und Apels Selbsteinholungsprinzip (s. o. Kap. IV 2) hingewiesen werden. Dessen »quid facti?«-Aspekt besteht in der »Nachkonstruktion geschichtlicher Lernprozesse«. 139 Sein »quid juris?«-Aspekt kommt in diskursethischer Hinsicht dadurch ins Spiel, dass es als Anwendungskriterium von Apels teleologischem Ergänzungsprinzips fungiert, das die Bestimmung konkreter, situations-
138 139
Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 101–215. Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 470.
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
bezogener Normen an praktische Diskurse der Betroffenen (bzw. ersatzweise ihrer Vertreter) delegiert; Apel ordnet das Selbsteinholungsprinzip in diesem Sinne der reflektierenden praktischen Urteilskraft zu (s. o. S. 57 f., 61 f.). Es fordert uns dazu, die in Geschichte und Gegenwart geführten Diskurse daraufhin zu überprüfen, ob weltgeschichtliche Fortschrittstendenzen darin befördert oder aber – durch die institutionellen Rahmenbedingungen der Diskurse, Vorurteile, manipulative Verhaltensweisen einflussreicher Akteure usw. – behindert werden. Auf diese Weise soll geklärt werden, ob die faktisch akzeptierten bzw. durchgesetzten sozialen Normierungen als den jeweiligen historischen Bedingungen angemessene »Teilrealisierungen der universalen Regeln bzw. Normen« der Diskursethik anzusehen sind. 140 Apel verortet diese Regelungen in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung nicht vollständig in der Moral, sondern bezieht auch ethisch-politische Normen ein. 141 Indem er Habermas darin Recht gibt, dass die Spezifizierung der Menschenrechte »reale Gesetzgebungsdiskurse der nicht nur moralisch, sondern auch politisch-autonomen Bürger erfordert«, 142 stimmt er dessen Theorem der Fundierung ethisch-politischer Legitimität in demokratischer Legalität partiell zu; er relativiert das systematische Gewicht, das ihm in Faktizität und Geltung zukommt, mit seiner Rückbindung des Rechts an die Moral. Apel erhebt den Anspruch, dass sein teleologisches Ergänzungsprinzip den adäquaten diskursethischen Rahmen für Günthers Begriff des Anwendungsdiskurses bildet. 143 Er stimmt Günther darin zu, dass Normen kohärent auf konkrete Situationen appliziert werden müssen. 144 Während Günther die Entscheidung darüber, »woraufhin wir denn ein kohärentes Verhältnis innerhalb einer Menge anwendbarer Normen konstruieren sollen«, den Teilnehmern lebensweltlicher Anwendungsdiskurse überlässt, 145 schließt Apels Selbsteinholungsprinzip, dessen »quid juris?«-Aspekt dem Ergänzungsprinzip entstammt, ein materiales Beurteilungskriterium für lebensApel: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 404. 141 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 772 f. 142 A. a. O., S. 822. 143 Vgl. Apel: The Response of Discourse Ethics, S. 85 f. 144 A. a. O., S. 84. 145 Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 307; »Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral«, S. 63 ff. S. o. S. 99 f. 140
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Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem
weltliche Paradigmen ein: Sie sind nach Apel kritikwürdig, wenn sie die zeitgenössischen Diskurse in eine Richtung lenken, die den Aufbau einer weltbürgerlichen Rechts- und Friedensordnung erschwert bzw. blockiert. Gemäß Apels Selbstverständnis ist dieser materiale Beurteilungsmaßstab im Fundierungsverhältnis zwischen den Teilen A und B seiner Diskursethik verankert. Da Habermas’ Kritik an diesem Fundierungsverhältnis m. E. unabweisbar ist, möchte ich in Kap. VIII versuchen zu zeigen, dass Apels Beurteilungsmaßstab für lebensweltliche Paradigmen hiervon abgelöst werden kann. Unter den modernen Lebensbedingungen führt die Berufung auf Paradigmen, die einer weltbürgerlichen Rechts- und Friedensordnung im Wege stehen, zu argumentativen Inkohärenzen; dies möchte ich durch eine Rekonstruktion des Theorems einer normativen Entwicklungslogik als eines integralen Moments der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen plausibel machen (s. u. Kap. VIII 7). Im Folgenden soll die Fruchtbarkeit der weltgeschichtlichen Perspektive von Apels Selbsteinholungsprinzip zunächst anhand der Kontroverse um das lettische Staatsbürgerrecht (s. o. Abschnitt 3) veranschaulicht werden (1). Anschließend werden die in Abschnitt 1 angeführten Beispielfälle Michelmans aufgegriffen (s. o. S. 88): mit dem Fokus auf Habermas’ Stellungnahme zur Auseinandersetzung zwischen dem formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigma (2). (1) In Europa wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Errichtung demokratischer Rechtsordnungen in zuvor diktatorisch regierten Staaten und der Gründung und Erweiterung der Europäischen Union, die sich auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet und die Gefahr von Kriegen zwischen den Mitgliedstaaten minimiert hat, signifikante historische Fortschritte erzielt. Das Recht jedes EU-Bürgers, seinen Wohnsitz im Unionsgebiet frei zu wählen und sich in allen Staaten auf Arbeitsplätze zu bewerben, hat eine menschenrechtliche Dimension. 146 Die Freizügigkeit innerhalb der EU trug dazu bei, dass sich in vielen Mitgliedstaaten der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund und damit auch die kulturelle Diversität beträchtlich vergrößerten.
146 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stellt es jedem frei, »jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.« (Artikel 13 (2)).
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
In Lettland bildet die Forderung der Bevölkerungsmehrheit nach kultureller Assimilation der russischstämmigen Minderheit den Hauptgrund dafür, dass der »Nichtbürger«-Status trotz der Liberalisierung seit Mitte der 1990er Jahre nicht aufgehoben wurde. Dies macht eine Volksabstimmung aus dem Jahre 2012 deutlich, in der sich die lettische Bevölkerungsmehrheit nahezu einhellig dagegen aussprach, Russisch als zweite Amtssprache anzuerkennen, womit der »Nichtbürger«-Status Russischstämmiger hinfällig geworden wäre. 147 Dass Staaten mit mehreren Amtssprachen – auch bei temporären Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen – langfristig stabil bleiben können, belegen u. a. die Beispiele Belgiens und der Schweiz. Will sich die lettische Bevölkerungsmehrheit nicht auf den menschenrechtlich problematischen Standpunkt zurückziehen, dass die Majorität befugt sei, die Bedingungen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft eigenmächtig festzulegen – was gegenüber der russischen Minderheit auf einen Diskursabbruch hinausliefe –, muss sie sich darauf berufen, dass für den Zusammenhalt einer Gesellschaft kulturelle Homogenität unverzichtbar sei. Diese Auffassung hat den Charakter eines normativen Paradigmas im Sinne Günthers. Hierauf lässt sich jedoch entgegnen, dass weder die kulturelle Vielfalt in den EU-Staaten mit einem beträchtlichen Bevölkerungsanteil von Migranten noch die Existenz mehrerer Amtssprachen in Belgien und der Schweiz das soziale Gefüge destabilisiert haben. Die lettische Bevölkerungsmehrheit befestigt mit ihrer entschiedenen Ablehnung der Forderung, Russisch als zweite Amtssprache anzuerkennen, die Kluft zu den »Nichtbürgern«, die sie für prinzipiell unüberwindbar erklärt, sofern sich diese nicht assimilieren können oder wollen. Wenn sie den Hinweis auf die Stabilität westeuropäischer Staaten mit einem signifikanten Anteil von Migranten bzw. mit mehreren Amtssprachen mit der Behauptung abtut, in Osteuropa herrschten andere Verhältnisse als im Westen, nimmt das Paradigma, auf das sie sich beruft, den ideologischen Charakter der zirkulären Selbstimmunisierung eines Vorurteils an: Denn die lettische Bevölkerungsmehrheit macht, wenn sie auf ihrem Standpunkt be147 Es ist allgemein üblich, bei der Einbürgerung von Migranten die Beherrschung der Landessprache (bzw. einer der Landessprachen) zu verlangen. Als Lettland seine Unabhängigkeit erklärte, hatten die meisten Russischstämmigen dort schon viele Jahre verbracht und waren demnach nicht als Migranten anzusehen. Da ihr Bevölkerungsanteil fast 30 % beträgt, ist ihre Forderung, Russisch als zweite Amtssprache gelten zu lassen, naheliegend.
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Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem
harrt, gar nicht erst den Versuch, die positiven Erfahrungen in Westeuropa im eigenen Land zu reproduzieren, und sie begründet diese Weigerung damit, dass ein solcher Versuch aussichtslos sei, was sie aber nur dadurch in Erfahrung bringen könnte, dass sie den Versuch unternähme. Das Erstarken ethnisch-nationaler Traditionen in Osteuropa nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts läuft den menschenrechtlich relevanten Fortschrittstendenzen in Westeuropa zuwider. Dies führt in einer Reihe osteuropäischer Staaten, die in die EU eingetreten sind, zu Spannungen und Brüchen innerhalb ihrer ethisch-politischen Wertorientierungen: Auf der einen Seite haben sich diese Staaten zu den menschenrechtlichen Normen der EU bekannt, auf der anderen Seite sehen sie in der kulturellen Diversität, die sich durch Migration auf natürliche Weise vergrößert, eine Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Mit diesem Bedrohungsszenario rechtfertigten mehrere osteuropäische Regierungen ihre Weigerung, sich an der Verteilung Asylsuchender in der EU, deren Zahl seit 2015 deutlich gestiegen ist, zu beteiligen. Dass die EU Verfolgten Asyl gewährt, ist eine menschenrechtliche Verpflichtung. 148 Der Behauptung einiger osteuropäischer Regierungen, sie könnten dieser Verpflichtung nicht nachkommen, weil die Aufnahme von Menschen aus anderen Kulturkreisen das soziale Gefüge in ihren Ländern beschädige, liegen keine gescheiterten Bemühungen um die Integration Geflüchteter zugrunde: In den vergangenen Jahrzehnten haben in Westeuropa weit mehr Menschen Asyl beantragt als in Osteuropa. Die betreffenden Regierungen verhindern vielmehr alle Versuche, in Erfahrung zu bringen, ob sich Geflüchtete in ihren Ländern nicht ebenso gut integrieren können wie in einigen westeuropäischen Staaten. Mit der Warnung vor den Gefahren der Aufnahme Asylsuchender verstärken diese Regierungen genau die Abwehrhaltung in der Bevölkerung, die sie als den maßgeblichen Grund dafür anführen, dass ihre Länder keinen Beitrag zum Flüchtlingsschutz der EU leisten könnten. Mit dieser zirkulären Immunisierungsstrategie beschädigen die betreffenden Regierungen und die Wähler, die sie unterstützen, das menschenrechtliche Fundament der EU, auf das sich ihre Länder mit dem Eintritt in die EU verpflichtet haben. Die moralische Kritik an den xenophoben Zügen der ethnisch-nationalen Traditionen Osteuropas auf der Basis des Universalisierungsgrundsatzes 148
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 14 (1).
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
U lässt sich somit durch eine Ideologiekritik erhärten, »die es sich« – mit Apel zu sprechen – »zutrauen muss, auch ganze Lebensformen und öffentliche Sprachspiele zu hinterfragen«. 149 Die lettische Regierung hat sich trotz Vorbehalten in der Bevölkerung bereit erklärt, an der Verteilung Asylsuchender in der EU mitzuwirken. Zwischen der Einstellung gegenüber Geflüchteten in Osteuropa und dem »Nichtbürger«-Status Russischstämmiger in Lettland besteht kein direkter Zusammenhang; die in vielen osteuropäischen Staaten verbreitete Abwehrhaltung gegenüber Asylsuchenden und die Forderung der lettischen Bevölkerungsmehrheit nach der kulturellen Assimilation der Russischstämmigen haben allerdings ihre gemeinsame Wurzel in den ethnisch-nationalen Traditionen, die während der kommunistischen Herrschaft niedergehalten wurden. Die moralische Kritik, die in beiden Fällen am Insistieren auf kulturelle Homogenität geübt werden kann, lässt sich nur mittels zirkulärer Immunisierungsstrategien abwehren. Diese sind blinde Flecken – mit Apel zu sprechen: »Pathologien« – der Lernprozesse, die die osteuropäischen Staaten seit dem demokratischen Umbruch am Ende der 1980er Jahre durchlaufen haben. 150 (2) Habermas’ Stellungnahme zur Kontroverse zwischen dem formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigma in Deutschland und den USA, womit er sich zu der später von Michelman an Faktizität und Geltung adressierten Frage nach dem Verhältnis von Staat und Markt in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft positioniert, ist für die Beurteilung der Fruchtbarkeit der Intention Apels, die Architektonik von Habermas’ Rechtstheorie zu modifizieren, von besonderer Bedeutung; Apel ist selber allerdings auf Habermas’ Erörterung jener Kontroverse nicht eingegangen. Sie zeichnet zwar die adäquate Antwort auf Michelmans Zirkel-Einwand vor; die Schlüsselrolle, die Habermas hierbei ethisch-politischen Wertorientierungen zuspricht, steht jedoch seinem Anspruch im Wege, dass sein prozeduralistisches Paradigma das formalrechtliche und sozialstaatliche in sich aufhebt (s. o. S. 103 f., 110 f.). Er hat 2014 auf einer Tagung zu seiner Rechtstheorie eingeräumt, dass seine Darstellung der fraglichen Kontroverse in Faktizität und Geltung revidiert werden muss, 149 Apel: »Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Geisteswissenschaften«. In: ders.: Transformation der Philosophie Bd. 2, S. 220–263, hier: 247. 150 Vgl. Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 470.
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Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem
nachdem der Neoliberalismus den Sozialstaat zurückgebaut hat. 151 Der zeitgeschichtliche Hintergrund von Habermas’ Diskussion der Rechtsparadigmen wird in der weltgeschichtlichen Perspektive von Apels teleologischem Ergänzungs- und Selbsteinholungsprinzip dahingehend erweitert, dass die historische Rolle der kapitalistischen Marktwirtschaft insgesamt zur Debatte steht – was insofern nahe liegt, als gravierende Wertentscheidungen mit den historischen Transformationen des politisch-kulturellen Selbstverständnisses von Gesellschaften verwoben sind. 152 Das Formalrecht des bürgerlichen Liberalismus und seine basale Wertorientierung der privatautonomen Lebensgestaltung bildeten sich im Zuge der Etablierung der kapitalistischen Marktwirtschaft in Europa aus. Diese ging mit dem europäischen Kolonialismus Hand in Hand. Die Expansion der Kolonialmächte trug wesentlich zu ihrem Wirtschaftswachstum bei, das für das kapitalistische System essentiell ist. Die ökonomischen Verhältnisse in den eroberten Ländern wurden mit repressiven Mitteln massiv umgestaltet, um Ressourcen zu extrahieren und neue Absatzmärkte auf Kosten einheimischer Produzenten zu gewinnen. Die Rolle des privatautonomen Marktteilnehmers, die das bürgerliche Formalrecht seinen Adressaten zuerkennt, war für die Mitglieder europäischer Gesellschaften und die weißen Auswanderer reserviert. Die einheimische Bevölkerung in den Kolonien verfügte über keine eigenständigen Wirtschaftsformen, mit denen sie an einem ›freien Warentausch‹ auf dem Weltmarkt auf der Basis formaler Rechtsgleichheit hätte partizipieren können. Auch nach der Auflösung der Kolonialreiche haben die kapitalistischen Staaten den Marktmechanismus durch die »imperialistische Sicherung der internationalen Schichtung« von Industrie- und Entwicklungsländern manipuliert, wie Habermas 1973 in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus konstatiert. 153 Demnach war die ›freie Marktwirtschaft‹ in den westlichen Ländern noch in den 1970er Jahren mit einem globalen machtpolitischen Gefälle, das der Bevölkerung in den Entwicklungsländern den Status privatautonomer Marktteilnehmer vorenthielt, strukturell verknüpft.
151 Vgl. Elisabeth Holzleithners Wiedergabe von Habermas’ Diskussionsbemerkung nach ihrem Referat auf der genannten Tagung in: Koller/Hiebaum: Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, S. 157 f. 152 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 198. 153 Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 53.
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich im globalen Handel Marktmechanismen zunehmend etabliert: aufgrund des wirtschaftlichen Aufstiegs der Schwellenländer, des Abbaus von Handelsschranken und des weltpolitischen Bedeutungsverlusts der ehemaligen Kolonialmächte. Die ökonomische Gewichtsverlagerung zugunsten der Schwellenländer ging mit der Abschwächung der Wachstumsdynamik im globalen Norden einher. Hierauf reagierten die kapitalistischen Staaten seit den 1980er Jahren mit der neoliberalen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik, die 2008 in die Weltfinanzkrise einmündete. 154 In offenem Widerspruch zur neoliberalen Doktrin der Freisetzung der Marktkräfte und der konsequenten Trennung von Markt und Staat verhalf die neoliberale Wirtschaftspolitik den multinationalen Konzernen in den kapitalistischen Ländern zu Monopolstellungen, die Marktmechanismen beschneiden, und zu einem dominierenden Einfluss auf staatliche Institutionen, womit demokratische Entscheidungsprozesse untergraben werden. 155 Habermas charakterisiert die 2008 ausgebrochene Weltfinanzkrise als ein »Systemversagen« der kapitalistischen Marktwirtschaft: Sie konnte sich »nicht mehr aus eigener Kraft reproduzieren«. 156 Der drohende Kollaps des Weltfinanzsystems wurde durch staatliche Rettungsprogramme auf Kosten der Steuerzahler abgewendet. Hiermit wurde die Abhängigkeit des Kapitalismus vom Staat offenkundig. 157 Die Weltwirtschaft wurde zu keinem Zeitpunkt konsequent von Marktmechanismen gesteuert. Das ›freie Spiel der Marktkräfte‹ innerhalb von Staaten und in internationalen Beziehungen ist vielmehr seit jeher mit staatlichen Interventionen systemisch verknüpft, die Marktmechanismen dort eindämmen oder gar außer Kraft setzen, wo dies der Wachstumsdynamik im eigenen Land, seiner politischen Stabilität oder den Interessen einflussreicher Schichten zugutekommt. Es gibt somit Grund zu der Annahme, dass im Kapitalismus Marktmechanismen eine begrenzte Reichweite haben. Wenn diese Annahme zutrifft, ist es aus systemischen Gründen unmöglich, jedem Menschen den Status des privatautonomen Marktteilnehmers Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011. S. 143–169. 155 A. a. O., S. 120–137, 186 f.; Crouch: Postdemokratie. Frankfurt a. M. 2008. S. 10 f. 156 Habermas: »Am Euro entscheidet sich das Schicksal der europäischen Union«. In: ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011. S. 112–119, hier: 117. 157 Crouch: Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit. Wien 2013. S. 15. 154
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Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem
zuzuerkennen. Der basale Wert des bürgerlichen Formalrechts – die privatautonome Lebensgestaltung der Individuen – bleibt unter diesen Umständen privilegierten Bevölkerungen oder Schichten vorbehalten. Die Grundüberzeugung des formalrechtlichen Paradigmas, dass staatliche Eingriffe in Marktmechanismen per se das Recht auf eine privatautonome Lebensführung einschränken, ist demzufolge ideologieträchtig: Sie blendet aus, dass der Kapitalismus nur mit Hilfe staatlicher Interventionen auf Dauer funktionsfähig ist. Hiermit verschiebt sich der Fokus der Kontroverse zwischen dem Formalrecht und dem Sozialstaatsmodell. Die Frage stellt sich nicht mehr, ob der Staat in die Marktmechanismen eingreifen soll – dies ist gemäß der gemachten Annahme unabdingbar –, es geht vielmehr darum, wie die Staaten agieren sollen. Sie stehen vor der Alternative, entweder das Wohl der eigenen Bevölkerung bzw. bestimmter sozialer Klassen zu befördern oder aber die Interessen jedes Menschen zu berücksichtigen. Hiermit ist die Ebene der moralischen Beurteilung politischer Entscheidungen erreicht: Aus moralischer Perspektive ist die zweite Alternative normativ geboten. Die divergierenden Wertorientierungen des formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigmas (s. o. S. 108–111) verlieren hierdurch ihr systematisches Gewicht. Die Kritik am Formalrecht kann vom moralischen Standpunkt aus geführt werden; sie muss sich nicht auf den ethischen Wert der sozialen Solidarität berufen. Der zentrale Einwand, den Habermas gegen das Sozialstaatsmodell vorbringt: dass die »Steuerung« des Marktes »durch Recht die Privatautonomie, die sie wiederherstellen soll, zugleich gefährdet«, 158 muss dahingehend revidiert werden, dass es nicht das Ziel sozialstaatlicher Maßnahmen sein kann, die Privatautonomie von Marktteilnehmern wiederherzustellen, da der Wert der privatautonomen Lebensführung im Sinne des bürgerlichen Liberalismus an die kapitalistische Marktwirtschaft gebunden ist, die die Realisierung der privaten Autonomie aus systemischen Gründen auf privilegierte Bevölkerungen oder soziale Klassen restringiert. Zugleich muss der Blickwinkel des Sozialstaatsmodells – wenn man Apels Einbettung des Habermas’schen Demokratieprinzips in sein teleologisches Ergänzungsprinzip und das Selbsteinholungsprinzip akzeptiert – auf internationale Beziehungen und supranationale Institutionen ausgeweitet werden. Die Zielperspektive des sozialstaatlichen Paradigmas besteht dann in der univer158
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 493.
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Michelmans und Apels Kritik an Habermas’ Menschenrechts-Konzeption
salen Realisierung sozialer Menschenrechte im Rahmen einer weltbürgerlichen Rechts- und Friedensordnung. Auf dem Weg zu diesem Ziel sind demokratische Entscheidungsprozesse in Einzelstaaten und Staatenverbänden wie der Europäischen Union unverzichtbar – ein demokratischer Weltstaat ist nicht in Sicht. Damit bleiben ethisch-politische Wertorientierungen für die demokratische Rechtssetzung relevant; sie müssen jedoch in der Apel’schen Perspektive moralischen Gründen untergeordnet werden. Das Ziel der ›Globalisierung‹ des Sozialstaatsmodells bleibt zugegebenermaßen inhaltlich unbestimmt. Es ist auch bis auf Weiteres offen, ob dieses Ziel durch eine »soziale Marktwirtschaft« im »globalen Maßstab« realisiert werden kann – wie Apel annimmt – oder aber den Entwurf einer nachkapitalistischen Gesellschaftsformation verlangt. 159 Mit den vorangegangenen Ausführungen sollte lediglich plausibel gemacht werden, dass die Kontroverse zwischen dem formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigma, die in Faktizität und Geltung m. E. in eine Pattsituation führt, in der Apel’schen Perspektive entscheidbar ist – wenn auch nur auf einer abstrakten Ebene. Auf die beiden anderen Beispielfälle Michelmans, die in Abschnitt 1 angeführt wurden (s. o. S. 88), soll nur summarisch eingegangen werden. Orientiert man sich an Apels teleologischem Ergänzungs- und Selbsteinholungsprinzip, kann man die staatliche Reglementierung des privaten Waffenbesitzes nicht allein unter Berufung auf tradierte Lebensformen und deren legalen Rahmen für undemokratisch erklären, wie es z. B. die »National Rifle Association« in den USA tut. Die normative Legitimität einer Reglementierung bemisst sich unter dem moralischen Blickwinkel, der für das Ergänzungs- und Selbsteinholungsprinzip konstitutiv ist, vielmehr danach, ob die Zahl der Gewalttaten hierdurch verringert wird oder steigt; das Letztere ist dann der Fall, wenn der Staat von seinem Gewaltmonopol nicht wirksam Gebrauch macht, was als Staatsversagen zu werten ist. Die Begrenzung des Einflusses der Religionen auf das öffentliche Erziehungssystem erleichtert den Aufbau einer weltbürgerlichen Rechtsordnung und wird damit von Apels teleologischem Ergänzungs- und Selbsteinholungsprinzip gefordert, wobei allerdings einer religiös geprägten Bevölkerung nicht verwehrt werden kann, Glaubensbekenntnissen eine institutionelle Rolle in Erziehung und Bildung zuzuerkennen. 159
Vgl. Apel: The Response of Discourse Ethics, S. 115.
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Das Lösungspotential der Diskursethik Apels für das Zirkel-Problem
Aus Michelmans und Apels Einwänden gegen Habermas’ Fundierung der Menschenrechte im partikularstaatlichen Demokratieprinzip in Faktizität und Geltung folgt nicht, dass dieser Begründungsweg grundsätzlich verfehlt ist. Die Quintessenz der Einwände lautet, dass Habermas keine zureichenden Kriterien für die Abgrenzung legitimer Spezifikationen von illegitimen Einschränkungen der Menschenrechte bereitstellt. Diese systematische Schwierigkeit zwingt nicht dazu, die Theorie zu verwerfen. Habermas betont in seiner Replik auf Apels kritische Stellungnahme zu Faktizität und Geltung, dass sich »die Anlage von Theorien« an der »Fruchtbarkeit ihrer Konsequenzen bewähren muss«. 160 Als Resultat von Kap. VII soll festgehalten werden, dass durch die von Apel intendierte Einbettung des Habermas’schen Demokratieprinzips in sein teleologisches Ergänzungsprinzip, das die Priorisierung moralischer Gründe in politischen Entscheidungsprozessen verlangt, Kontroversen entscheidbar werden, die innerhalb von Faktizität und Geltung unentscheidbar sind. Apels Korrekturen an Habermas’ Rechtstheorie sind somit unter dem Gesichtspunkt der Fruchtbarkeit einer Theorieanlage zielführend, wenn es gelingt, sie zu einem Theorierahmen auszugestalten, der Habermas’ berechtigte Einwände gegen seine eigene Diskursethik einbezieht. Eine solche zwischen Habermas und Apel vermittelnde Position soll in Kap. VIII im Rekurs auf das Theorem einer Entwicklungslogik der Normativität entworfen werden. 161
160 Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 44 (wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. S. 84). 161 Habermas nähert sich in seinem Artikel »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte« Apels Verständnis der Menschenrechte an, indem er diese als »genau den Teil einer aufgeklärten Moral« bezeichnet, »der ins Medium des zwingenden Rechts übersetzt […] werden kann«; er fügt jedoch hinzu, dass er hierdurch nicht zu einer Revision der »Einführung des Systems der Rechte« in Faktizität und Geltung genötigt sei (Habermas: »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte«. In: ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011. S. 13–38, hier: 22). M. E. ist aber die von Apel intendierte Revision der Theoriearchitektur von Faktizität und Geltung zielführend, da auf diese Weise die adäquate Antwort auf Michelmans Zirkel-Einwand stringent ausgestaltet werden kann.
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VIII. Die historische Genese normativer Geltung
1.
Das Programm einer dialektischen Vermittlung des Diskurs- und Faktizitätsapriori in Apels Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung
Apel integriert Habermas’ Diskursprinzip D und seinen Universalisierungsgrundsatz U in modifizierter Gestalt in seinen Begriff des »Diskursapriori«, der die »notwendigen Präsuppositionen« argumentativer Diskurse umfasst. 1 Während Habermas D »konditional«, d. h. hypothetisch, einführt – D bringt laut Faktizität und Geltung »lediglich den Sinn postkonventioneller Begründungsforderungen zum Ausdruck« – und ihm einen gegenüber der Differenzierung von Moral und Recht »noch neutral[en]« Status zuspricht, 2 betont Apel, dass die transzendentalpragmatisch fundierte ideale Diskursmoral die Anforderungen erfüllt, die D an die Begründung von Normen stellt, so dass die ideale Diskursmoral unter D zu subsumieren ist und D damit einen moralischen Gehalt hat, der nicht bloß hypothetisch gilt. 3 Dies ist mit Habermas’ Position kompatibel, da er anerkennt, dass die idealen Diskursnormen innerhalb von Diskursen, die auf schlechthin konsensfähige Ergebnisse abzielen, unhintergehbar sind. 4 Habermas bezeichnet in seiner Replik auf Apels Stellungnahme zu Faktizität und Geltung das Verhältnis von Moral und Recht als den Kernpunkt ihrer Kontroverse. 5 Eine Schlüsselrolle kommt hierbei dem UniverApel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 757, 771, 794 f.; »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«, S. 28. 2 Habermas: »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 59; Faktizität und Geltung, S. 138. S. o. S. 75 f. 3 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, 738 f., 759 f., 793. 4 Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 95 f.; »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 192. 5 Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 48 (wieder abgedruckt in: Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 88). 1
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Das Programm einer dialektischen Vermittlung des Diskurs- und Faktizitätsa-
salisierungsgrundsatz U zu. Habermas charakterisiert die Gemeinsamkeit und Differenz der jeweiligen Bedeutung von U in Apels und seiner eigenen diskursethischen Konzeption folgendermaßen: »Die posttraditional entschlackte Idee der Gerechtigkeit inspiriert zu dem zunächst nur hypothetisch eingeführten Universalisierungsgrundsatz ›U‹, der, wenn er allgemeine, transkulturelle Verbindlichkeit beanspruchen dürfte, erklären könnte, wie moralische Fragen überhaupt rational entschieden werden können. Die allgemeine Gültigkeit von ›U‹ selbst wird dann im Lichte des schon mitgeführten Wissens, was es überhaupt heißt, Handlungsnormen zu begründen, aus dem Gehalt transzendental nötigender Argumentationsvoraussetzungen ›hergeleitet‹. Hiermit folge ich dem von Apel herausgearbeiteten Muster einer nicht-deduktiven Begründung durch Aufdeckung der performativen Widersprüche eines Skeptikers, der die Möglichkeit bestreitet, moralische Aussagen zu begründen. […] Was zwischen Apel und mir kontrovers ist, ist nicht dieser Begründungszug, sondern dessen Stellenwert in einem nicht-fundamentalistischen Begründungsspiel.« 6
Habermas bezeichnet Apels Anspruch auf Letztbegründung als fundamentalistisch. 7 Indem er das Wort »hergeleitet« im oben zitierten, von Apel inspirierten Satz: die »allgemeine Gültigkeit von ›U‹ selbst wird […] aus dem Gehalt transzendental nötigender Argumentationsvoraussetzungen ›hergeleitet‹«, in Anführungszeichen setzt, weist er darauf hin, dass der Begründungsstatus dieser Voraussetzungen in seiner eigenen, »nicht-fundamentalistischen«, Diskursethik ein anderer ist als bei Apel. Habermas’ diskursethische Rechtstheorie, die ihre Normierungen nicht im Sinne eines »präskriptiven ›Muss‹« vorbringt, setzt an dem historischen Faktum an, dass in den »weitgehend profanisierten« modernen Demokratien ein signifikanter Anteil der gesellschaftlich relevanten praktischen Diskurse auf einer »posttraditionalen«, d. h. nachmetaphysischen, Basis geführt wird. 8 In posttraditionalen praktischen Diskursen kann U Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen, wobei man jedoch nach Habermas niemanden mit moralischen Argumenten davon überzeugen kann, dass er an solchen Diskursen mitwirken soll (s. o. S. 78). Habermas insis-
6 A. a. O., S. 55 (wieder abgedruckt in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 95 f.). Der Bezug von U zur Idee der Gerechtigkeit soll zunächst ausgeklammert werden. S. u. S. 156 f. 7 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 129. 8 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 18, 42.
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Die historische Genese normativer Geltung
tiert darauf, dass »das Demokratieprinzip, das die Staatsbürger zur Erzeugung legitimen Rechts ermächtigt, dem Moralprinzip nicht, wie Apel vermutet, untergeordnet« werden dürfe. 9 Apel weist in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung dem Universalisierungsgrundsatz U eine Brückenfunktion zwischen den Teilen A und B seiner Diskursethik zu: Im »moralisch-normativen Gehalt« des Diskursprinzips D sei »außer dem kontrafaktisch orientierten Idealprinzip (U) auch die Verantwortung für die Herstellung der Anwendungsbedingungen der Diskursmoral im Sinne von (U) und für die verantwortliche Kompensation der Nichtanwendbarkeit von (U) in der Wirklichkeit« inbegriffen; eine solche Kompensation ist nach Apel in dem Sinne geboten, dass wir die situativen Einschränkungen der idealen Diskursmoral, zu denen uns das Ergänzungsprinzip ermächtigt, als Übernahme einer Hypothek auffassen sollen, die wir durch den konsequenten Einsatz für dessen Zielperspektive abarbeiten müssen. 10 Apel wendet sich gegen Habermas’ Bestimmung von U in Faktizität und Geltung als einer »Argumentationsregel«, die das hypothetisch eingeführte Diskursprinzip in dem Sinne »operationalisiert«, dass sie spezifiziert, wie Normen beschaffen sein müssen, deren Geltungsanspruch in den rationalen Diskursen einer prinzipiell unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft konsensfähig sein soll, wobei U nach Habermas, für sich genommen, nicht die Behauptung einschließt, dass solche Normen tatsächlich gültig sind. 11 Apels These, dass U »nicht bloß als ›Argumentationsregel‹, sondern auch als Prinzip oder Grundnorm der idealen Diskursmoral« aufzufassen sei, 12 ist daran festgemacht, dass die Rechte, die die ideale Diskursmoral (d. h. der Inbegriff der innerhalb von Diskurssituationen im engen, spezifischen Wortsinn unhintergehbaren Normierungen) den Kommunikationspartnern zuerkennt (s. o. S. Kap. III 1), allen gleichermaßen die Verfolgung ihrer für das jeweilige Diskursziel relevanten Interessen ermöglichen. Gegen Apels Einbettung von U in
Habermas: »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung«, S. 56 f. (wieder abgedruckt in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 97). 10 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 736, 794 f. S. o. S. 56 f. 11 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 140; »Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral«, S. 59 f. (s. o. S. 78); Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 771. 12 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 771. 9
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Das Programm einer dialektischen Vermittlung des Diskurs- und Faktizitätsa-
die ideale Diskursmoral kann jedoch eingewendet werden, dass der Gesamtbereich der Interessen der Kommunikationspartner, auf den U Bezug nimmt, nicht für jedes Diskursziel relevant ist. Wenn z. B. ein diktatorisches Regime der naturwissenschaftlichen Forschung freien Lauf lässt, weil es sich hiervon strategische Vorteile verspricht, steht das Interesse von Wissenschaftlern an einer demokratischen Staatsform in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem Forschungsdiskurs und lässt sich daher nicht unter Berufung auf die ideale Diskursmoral in ihm geltend machen. Demgegenüber sind U und die Zielperspektive von Apels Ergänzungsprinzip: die diskursive »Lösung aller moralisch relevanten Interessenkonflikte« unter »Ausschaltung strategischer Gewaltpraktiken«, 13 direkt miteinander verknüpft; denn die gewaltfreie Lösung sämtlicher moralisch relevanten Konflikte setzt voraus, dass wir alle unsere Interessen in Diskurse einbringen können (was die Befugnis einschließt, den Anspruch auf die privilegierte Durchsetzung eigener Interessen zu kritisieren). Selbst wenn man for the sake of argument Apels zweifelhafte These akzeptiert, dass U ein integrales Moment der idealen Diskursmoral bildet, muss Habermas’ Einwand Rechnung getragen werden, dass die von Apel postulierte Fundierung des Teils B seiner Diskursethik im Teil A aporetisch bleibt (s. o. S. Kap. IV 3). Dieser Einwand trifft – wie im Folgenden gezeigt werden soll – auch das Programm einer dialektischen Verschränkung des Diskursapriori mit dem »Faktizitätsapriori« unserer »geschichtlich-kontingenten Lebensform« in Apels kritischer Stellungnahme zu Habermas’ Faktizität und Geltung. 14 Der Ausdruck »Faktizitätsapriori« bezieht sich auf den »lebensweltlichen Hintergrund« des »Einverständnisses mit anderen« über soziale Normierungen auf der Basis der jeweiligen »Gemeinschaftstradition«. 15 Apels Begriff der Dialektik knüpft an Hegels reflexionslogische Figur des ›Setzens als Voraussetzen‹ an. 16 Nach Apel wird das Faktizitätsapriori somit vom
A. a. O., S. 754 (s. o. S. 56). A. a. O., S. 794 f. 15 Apel: »Kants ›Philosophischer Entwurf: Zum ewigen Frieden‹ als geschichtsphilosophische Quasi-Prognose aus moralischer Pflicht«. In: Reinhard Merkel/Roland Wittmann (Hrsg.): »Zum ewigen Frieden«. Grundlagen, Aussichten und Aktualität einer Idee Immanuel Kants. Frankfurt a. M. 1996. S. 91–124, hier: 120. 16 Apel: »Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie«. In: Rapic (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus, S. 87–103, hier: 102 f. 13 14
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Die historische Genese normativer Geltung
Diskursapriori ›gesetzt‹ und zugleich ›vorausgesetzt‹. Der Voraussetzungs-Charakter, den Apel der Faktizität geschichtlich-kontingenter Lebensformen in Bezug auf das Diskursapriori zuspricht, erschöpft sich nicht in der unmittelbar evidenten Feststellung, dass die Präsuppositionen argumentativer Diskurse erst dann zutage treten können, wenn sich die Kommunikationsform des argumentativen Diskurses historisch herausgebildet hat; geschichtliche Faktizität bildet nach Apel auch auf der »quid juris?«-Ebene eine Voraussetzung des Diskursapriori. Hiermit erkennt Apel dem Selbsteinholungsprinzip, das in Teil B seiner Diskursethik verortet ist, eine Begründungsfunktion für ihren Teil A zu. Er konkretisiert seine Zielsetzung, das Verhältnis von »Faktizität und Geltung« in die adäquate theoriearchitektonische Form zu bringen, dahingehend, dass er der »berechtigten Intention von Habermas gerecht« werden wolle, »die Selbständigkeit des Rechts und seine Verschiedenheit von der (erst unter der Voraussetzung des Rechts möglichen) Moral im Sinne von (U) als normativ legitim zu begründen«. 17 Das Recht macht nach Apel die Moral in dem Sinne erst möglich, dass »überall da, wo der Rechtsstaat, der strategisches Verhalten durch sanktionsbewehrte Spielregeln eingrenzt, noch nicht realisiert ist oder nicht funktioniert«, »die Anwendungsbedingungen einer universalistischen Prinzipienethik in der sozialen Realität nicht gegeben sind«. 18 In einer solchen Situation ist es nach Apel nicht zumutbar, die konsequente Umsetzung der idealen Diskursmoral und des Universalisierungsgrundsatzes U zu verlangen. 19 Das Recht bildet demzufolge insofern eine normative Basis der idealen Diskursmoral und des Universalisierungsgrundsatzes, als deren »Befolgungsgültigkeit« in Bezug auf unsere Lebenspraxis im Ganzen nach Apel das historische Faktum der Etablierung von Rechtsstaaten voraussetzt. 20 Apel spricht den moralischen Normen des Diskursapriori und dem Universalisierungsgrundsatz hiermit eine überzeitliche Allgemeinverbindlichkeit für unsere gesamte Lebenspraxis ab. Er betont, dass man in »Vor-Aufklärungs-Gesellschaften« keine konsequente Realisierung der idealen Diskursnormen erwarten darf. 21 Diese gewinnen demnach erst im Zuge des weltApel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 741, 795. Apel: »Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik«, S. 35. 19 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 735. 20 Vgl. a. a. O., S. 739, 790. 21 Apel: »Faktische Anerkennung oder transzendental notwendige Anerkennung?«, S. 267. 17 18
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Das Programm einer dialektischen Vermittlung des Diskurs- und Faktizitätsa-
geschichtlichen Prozesses, in dem sich auf der Ebene diskursiver Verständigung aufklärerische Maßstäbe etablieren und auf der Ebene des Staatsrechts demokratische Verfassungen durchsetzen, eine normative Allgemeinverbindlichkeit (im Sinne der »Befolgungsgültigkeit«), die in dem Maße, wie dieser Prozess voranschreitet, immer weitere Lebensbereiche umfasst. Apel nähert sich mit der für sein Programm der dialektischen Verschränkung von Diskurs- und Faktizitätsapriori zentralen These der historischen Genese der normativen Geltung der idealen Diskursmoral und des Universalisierungsgrundsatzes U für unsere Lebenspraxis auch außerhalb von Diskurssituationen dem Ausgangspunkt von Habermas’ Rechtstheorie an, die beim historischen Faktum der Errichtung demokratischer Rechtsstaaten ansetzt. 22 Obwohl Apel gegen Habermas’ Faktizität und Geltung einwendet, dass das Recht eines moralischen Fundaments bedürfe, räumt er ein, dass sich die normative Notwendigkeit eines rechtlich kontrollierten Gewaltmonopols nicht aus der idealen Diskursmoral deduzieren lässt: 23 Es ist ein empirisches Faktum, dass demokratische Rechtsverhältnisse für die gewaltfreie diskursive Lösung aller moralisch relevanten Interessenkonflikte unabdingbar sind. In diesem Sinne hebt auch Apel die »Selbständigkeit des Rechts« und seine »Verschiedenheit« von der Moral hervor. 24 Er reformuliert Habermas’ These ihrer Gleichursprünglichkeit mit seinem Programm der dialektischen Verschränkung von Diskurs- und Faktizitätsapriori. Das Faktizitätsapriori wird nach Apel vom Diskursapriori in dem Sinne ›gesetzt‹, dass aus der vom Selbsteinholungsprinzip geforderten Rekonstruktion des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses und der historischen Genese neuzeitlicher Rechtsstaaten im Lichte der idealen Diskursmoral und des Universalisierungsgrundsatzes U – so Apels These – die normativ verbindliche Unterstellung entspringt, dass die »in der Gegenwart fortwirkende Geschichte« das Ziel der weltweiten Durchsetzung demokratischer Rechtsverhältnisse auf innerstaatlicher wie supranationaler Ebene ansteuert. 25 Durch diese Zukunftsdimension des Selbsteinholungsprinzips gewinnen die empirischen Befunde, auf die sich
Habermas: Faktizität und Geltung, S. 42 f. Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 739. 24 A. a. O., S. 741. 25 Apel: »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht«, S. 102. 22 23
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Die historische Genese normativer Geltung
die Analyse der welthistorischen Rationalisierung der Lebenswelt stützt, nach Apel in dem Sinne den Charakter eines Faktizitätsapriori, dass sie auf die Weltgeschichte im Ganzen in einer normativ verbindlichen Perspektive Bezug nehmen. Das so verstandene Faktizitätsapriori ist keine vorgegebene Entität, sondern ein integrales Moment der selbstreflexiven diskursethischen Begründungsstruktur, die Apel mit dem Programm der dialektischen Verschränkung von Diskursund Faktizitätsapriori ins Auge fasst. Er trägt mit der Gleichsetzung von »Faktizitäts-« und »Kontingenz-Apriori« 26 der Tatsache Rechnung, dass es keinen Grund für die Annahme einer Determination des bisherigen Geschichtsverlaufs gibt, und er betont zugleich, dass wir stets vor einem offenen Horizont geschichtlicher Möglichkeiten stehen und dafür verantwortlich gemacht werden können, wie wir mit unseren Gestaltungsspielräumen umgehen. Apel relativiert mit seinem Programm der dialektischen Verschränkung von Diskurs- und Kontingenz-Apriori seine These der »einseitige[n] normative[n] Abhängigkeit« des Rechts von der Moral 27 dahingehend, dass dem historischen Faktum der Etablierung demokratischer Rechtsverhältnisse einerseits eine unentbehrliche Fundierungsfunktion für die »Befolgungsgültigkeit« der moralischen Normen des Diskursapriori zukommt und diese andererseits seit der historischen Zeitspanne, in der sie eine Allgemeinverbindlichkeit erlangt haben, die über bestimmte Diskurssituationen hinausreicht, als kritischer Maßstab an faktische Rechtsordnungen angelegt werden können: in dem Sinne, dass diese daraufhin zu überprüfen sind, ob sie auf einer »bereits überholten Stufe« des weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses verharren oder das Ziel erkennen lassen, den institutionellen Rahmen für die gewaltfreie diskursive Lösung aller moralisch relevanten Interessenkonflikte zu schaffen. 28 Apel hält in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung am »deontischen« Verpflichtungscharakter der idealen Diskursmoral fest und subsumiert hierunter den Universalisierungsgrundsatz U. 29 Da seine Konzeption einer dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori die These einschließt,
Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 794 f. A. a. O., S. 735. 28 Vgl. Apel: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 406. 29 Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 765. 26 27
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Die Leitthesen der vermittelnden diskursethischen Position
dass die Geltung der idealen Diskursmoral und des Universalisierungsgrundsatzes außerhalb von Diskurssituationen an das historische Faktum der Etablierung von Rechtsstaaten gebunden ist, lässt sich auch diese Variante seiner Diskursethik nicht gegen Habermas’ Einwand verteidigen, dass seine Verknüpfung des deontologischen Teils A mit dem teleologischen Teil B selbstwidersprüchlich ist (s. o. Kap. IV 3). Empirische Faktizität kann keine notwendige Bedingung der Allgemeinverbindlichkeit deontologischer Forderungen sein, wie Apel mit der Rede von der »erst unter der Voraussetzung des Rechts möglichen« Moral behauptet: 30 Eine deontologische Ethik erhebt den Anspruch, dass die Pflichten, die sie formuliert, unbedingt, d. h. nicht bloß unter kontingenten Umständen, gelten.
2.
Die Leitthesen der zwischen Apel und Habermas vermittelnden diskursethischen Position
Apel bringt in seinem – acht Jahre vor seiner kritischen Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung veröffentlichten – Artikel »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, worin er zu Habermas’ diskursethischen Arbeiten der 1980er Jahre Stellung nimmt, das Verhältnis der Teile A und B seiner Diskursethik auf die Formel: »transzendentalpragmatische Letztbegründung plus Selbsteinholungsprinzip«. 31 Demzufolge bildet der Teil A, der eine ethische Letztbegründung leisten soll, die Geltungsbasis des Teils B. Apel wendet sich hiermit gegen Habermas’ Kernthese, dass der Anspruch aller diskursethischen Normierungen auf Allgemeinverbindlichkeit in der Lebenswelt verankert werden muss, so dass es einer »gegenseitigen Stützung« von »philosophische[r] und empirisch überprüfbare[r] Theoriebildung« bedarf. 32 Lässt sich Apels Programm einer dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori in »Auflösung der Diskursethik?« unter seine Formel »transzendentalpragmatische Letztbegründung plus Selbsteinholungsprinzip« subsumieren? Dies ist zwar insofern A. a. O., S. 741. Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 680. Dieser Artikel erschien 1990, Apels Abhandlung »Auflösung der Diskursethik?« 1998. 32 Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 681. 30 31
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Die historische Genese normativer Geltung
möglich, als er in diesem Artikel die These aufrecht erhält, dass die Diskursethik einen »deontischen« Teil A, der eine »Letzteinsicht« in die »Grundnormen der Moral« vermittle, mit einem teleologischen Teil B verknüpfen solle, wobei die Rekonstruktion des Faktizitätsapriori Sache des Selbsteinholungsprinzip ist, dem hiermit eine Schlüsselrolle für den Teil B zukommt; 33 Apel rückt jedoch in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung von seiner zuvor vertretenen Auffassung, Teil B könne aus A hergeleitet werden, ab, indem er die Allgemeinverbindlichkeit der idealen Diskursmoral und des Universalisierungsgrundsatzes U für unsere Lebenspraxis im Ganzen auf rechtsstaatliche Verhältnisse einschränkt. Er schwächt hiermit seinen Letztbegründungs-Anspruch gegenüber dessen ursprünglicher, quasi-kartesischer Version in Transformation der Philosophie (s. o. S. 10) implizit ab: Der weltgeschichtliche Prozess, der zur Herausbildung demokratischer Rechtsstaaten geführt hat, ist von kontingenten Fakten durchsetzt – worauf Apel mit dem Titel »Kontingenz-Apriori« hinweist. Habermas’ unabweisbare Kritik an Apels Verankerung des teleologischen Teils B seiner Diskursethik in einem deontologisch verstandenen Teil A zwingt zu einer Modifikation des Programms einer dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori in »Auflösung der Diskursethik?«. Apels Formel »transzendentalpragmatische Letztbegründung plus Selbsteinholungsprinzip« muss insofern revidiert werden, als sich der über Diskurssituationen hinausreichende Anspruch der Normen des Teils A auf Allgemeinverbindlichkeit nur mit Hilfe des Selbsteinholungsprinzips rechtfertigen lässt. Da das Faktizitätsapriori des Teils B wiederum nur im Rekurs auf die ideale Diskursmoral des Teils A formuliert werden kann, resultiert hieraus ein wechselseitiges Begründungsverhältnis der Teile A und B. Apels Programm einer dialektischen Vermittlung des Diskurs- und Faktizitätsapriori lässt sich in dieser modifizierten Fassung an Habermas’ Vorhaben in den 1980er Jahren anschließen, den Apel’schen Begründungsweg ›von oben‹ mit der ›von unten‹ voranschreitenden Rekonstruktion normativer Lernprozesse in der Gattungsgeschichte und Individualentwicklung zusammenzuführen (s. o. S. 17 f.). Hiermit ist der Ausgangspunkt der zwischen Apel und Habermas vermittelnden diskursethischen Position, die in dieser Abhand33
Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 765 f., 801.
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Die Leitthesen der vermittelnden diskursethischen Position
lung entworfen werden soll, gewonnen. Sie hält mit Apel an der Fundierungsfunktion eines moralischen Universalismus für die Menschenrechte fest, versteht diesen aber als einen historisch generierten Standpunkt und verankert ihn damit im Anschluss an Habermas in sozialer Faktizität. Die Kernthese der anvisierten Position knüpft an Apels Stellungnahme zu Habermas’ Faktizität und Geltung an: Sie lautet, dass durch die Rekonstruktion von Rationalisierungsprozessen in der Gattungsgeschichte im Lichte der Apel’schen idealen Diskursmoral und des Habermas’schen Universalisierungsgrundsatzes U die normativ verbindliche Zukunftsperspektive einer weltbürgerlichen Rechts- und Friedensordnung vorgezeichnet wird (s. o. S. 116–119). Aus der Verschränkung des »quid facti?«-Aspekts von Apels Selbsteinholungsprinzip, der sich auf Rationalisierungsschritte in der Vergangenheit und Gegenwart bezieht, mit der idealen Diskursmoral und dem Universalisierungsgrundsatz U resultiert demzufolge die Zielsetzung von Apels Ergänzungsprinzip: die Forderung nach der gewaltfreien diskursiven Lösung aller normativ relevanten Interessenkonflikte, wobei der »quid juris?«-Aspekt des Selbsteinholungsprinzips in ethischer Hinsicht als Anwendungskriterium des Ergänzungsprinzips fungiert: Durch die Applikation des Selbsteinholungsprinzips auf zeitgenössische Diskurse über praktisch relevante Fragen sollen die der gegenwärtigen geschichtlichen Situationen adäquaten Realisierungsformen der diskursethischen Grundnormen ermittelt werden. Der Geltungsanspruch des anvisierten historisch generierten moralischen Universalismus ist auf der einen Seite gegenüber Apels abgeschwächtem Verständnis ethischer Letztbegründung in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Faktizität und Geltung nochmals herabgestuft, da er an kontingente Fakten zurückgebunden ist; dies liegt auf der Linie von Habermas’ These in den »Erläuterungen zur Diskursethik«, dass sich diese mit dem Aufweis faktisch unbestreitbarer Argumentationsvoraussetzungen begnügen muss. 34 Auf der anderen Seite ist der fragliche Geltungsanspruch aufgrund seiner Verankerung im Theorem einer gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität stärker als derjenige der Habermas’schen Rechtstheorie in Faktizität und Geltung, die als Bedeutungsexplikation der Institutionen und Diskursformen moderner Demokratien konzipiert ist. 34
Habermas: »Erläuterungen zur Diskursethik«, S. 194.
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Die historische Genese normativer Geltung
Ich möchte versuchen zu zeigen, dass das von Habermas in Faktizität und Geltung aufgeworfene theoriearchitektonische Problem, wie die Annahme einer inneren Logik gattungsgeschichtlicher normativer Lernprozesse mit deren Anbindung an kontingente Fakten in Einklang zu bringen ist (s. o. S. 23), mit Hilfe der These Apels, dass das Faktizitätsapriori vom Diskursapriori ›gesetzt‹ und zugleich ›vorausgesetzt‹ wird, gelöst werden kann (s. u. Kap. VIII 7). In inhaltlicher Hinsicht orientiert sich die folgende Darstellung der normativen Entwicklungslogik an Habermas’ Abhandlung »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«: Deren ontogenetische Argumentationslinie wird in Kap. VIII 4–7 auf die Gattungsgeschichte übertragen. Habermas verbindet in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« Apels transzendentalpragmatischen Begründungsweg ›von oben‹ mit einem empirisch untermauerten Weg ›von unten‹ (s. u. S. 150 f.). Das Thema des Wegs ›von unten‹ ist die Herausbildung des »moralischen Gesichtspunkts«: Habermas und Apel greifen den Kohlberg’schen Ausdruck »moral point of view« auf; er bezieht sich auf die postkonventionelle Moral als den Ausgangspunkt der Rekonstruktion ihrer entwicklungslogischen Genese. 35 Habermas und Apel stimmen Kohlberg darin zu, dass die Stufenfolge des präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Moralniveaus durch eine »fortschreitende Bewegung hin zu einer Verankerung des moralischen Urteils in Gerechtigkeitsbegriffen« gekennzeichnet ist, wobei die Grundbestimmung der Gerechtigkeit in der prinzipiellen »Gleichheit« aller Menschen und damit in der »Reziprozität« von Rechten und Pflichten besteht. 36 Die Handlungsorientierungen auf der präkonventionellen Stufe, auf der das Gute mit dem Nützlichen und das Böse mit dem Schädlichen konzeptionell verwoben sind, haben noch keinen spezifisch moralischen Charakter. 37 Die Rede von einer Stufenfolge des moralischen Bewusstseins bei Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 130, 142; Apel: »Die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«, S. 321 36 Kohlberg: »Moralische Entwicklung« (1968), in: ders.: Die Psychologie der Moralentwicklung, S. 7–40, hier: 30; Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 128, 132; Apel: »Die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«, S. 313, 317. 37 Kohlberg: »Moralische Entwicklung«, S. 29. 35
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Die Leitthesen der vermittelnden diskursethischen Position
Kohlberg, Habermas und Apel ist demnach so zu verstehen, dass aus der Perspektive des postkonventionellen Moralniveaus die niedrigeren Stufen insofern der Moral zuzuordnen sind, als sie seine entwicklungsgeschichtlichen Vorformen bilden; das Theorem einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins besagt ja, dass das postkonventionelle Niveau in den vorangehenden in nuce enthalten ist. Während Apel den moralischen Gesichtspunkt in Diskurssituationen direkt verankert, wird er von Habermas an lebensweltliche Interaktionen zurückgebunden. 38 Der Begriff des moralischen Gesichts- (bzw. Stand-)punkts soll im Folgenden im Habermas’schen Sinne verwendet werden, da Habermas m. E. zu Recht darauf insistiert, dass die Apel’sche ideale Diskursmoral mit sozialer Faktizität verschränkt sein muss, um Allgemeinverbindlichkeit über Diskurssituationen hinaus beanspruchen zu können. Habermas vertritt in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« die These, dass der moralische Gesichtspunkt aus dem Übergang vom kommunikativen Handeln – dem Komplementärbegriff zur Lebenswelt – zum argumentativen Diskurs im engen, spezifischen Wortsinn unmittelbar hervorgeht. 39 Diese These wird dort allerdings nicht stringent eingelöst und in Faktizität und Geltung durch das Theorem der gleichursprünglichen Fundierung des Moralund Demokratieprinzip im Diskursprinzip D revidiert (s. u. S. 157 f.). Die genannte These geht in den folgenden Versuch nicht ein, die gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik der Normativität im Ausgang von Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« zu rekonstruieren. Dieser Versuch nähert sich Faktizität und Geltung insofern an, als gezeigt werden soll, dass die Genese des moralischen Gesichtspunkts mit der Rationalisierung des Rechts verzahnt ist. Von zentraler Bedeutung ist hierbei der Begriff der Gerechtigkeit. Da Rationalisierungsschritte in der Rechtssphäre der gattungsgeschichtlichen Herausbildung der universalistischen Vernunftmoral vorangehen – diese hat sich erst in der Neuzeit vom Recht abgelöst –, kann die normative Entwicklungslogik nicht vollständig im moralischen Bewusstsein lokalisiert werden, wie es bei Kohlberg, Apel und in Habermas’ Schriften bis einschließlich seiner Erläuterungen zur Diskursethik geschieht. Vgl. Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 737; Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 130. 39 »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 142, 169. 38
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Die historische Genese normativer Geltung
Der moralische Universalismus, dessen historische Genese im Folgenden rekonstruiert werden soll, konstituiert sich durch die Verschränkung der Apel’schen idealen Diskursmoral mit der gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität; er ist in diesem Sinne historisch generiert (s. u. Kap. VIII 7). In ihm ist Habermas’ Universalisierungsgrundsatz U, der keinen integralen Teil der Apel’schen idealen Diskursmoral bildet, am Kreuzungspunkt des transzendentalpragmatischen Wegs ›von oben‹ mit der Rekonstruktion normativer Lernprozesse in der Gattungsgeschichte verortet (s. u. S. 236 f.). Die anvisierte Position greift Apels Konzeption einer dialektischen Verschränkung von Moral und Recht mit dem geltungstheoretischen Primat der Moral – womit er das Habermas’sche Theorem der gleichursprünglichen Fundierung von Moral und Recht im Diskursprinzip D reformuliert – in der Weise auf, dass auf der einen Seite die Herausbildung des moralischen Gesichtspunkt einen Rationalisierungsprozess des Rechts voraussetzt und er auf der anderen Seite – seitdem er sich geschichtlich etabliert hat – das normativ legitime Recht ›setzt‹, indem er einen Maßstab für seine Bewertung bildet. Dieser Maßstab kann aufgrund seiner entwicklungslogischen Genese auch auf Rechtsformen, die seiner expliziten Herausbildung vorangingen, appliziert werden (s. u. S. 240 ff.). Die Zwischenstellung zwischen Moral und positivem Recht, die Apel den Menschenrechten zuspricht, 40 wird von der anvisierten Position so gefasst, dass der universalistischen Moral nur aufgrund ihrer Verwurzelung in einer Rationalisierung des Rechts eine Fundierungsfunktion für die Menschenrechte zukommt. Diese Reformulierung von Apels Konzeption einer dialektischen Verschränkung von Moral und Recht, mit der er sein Programm einer dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori konkretisiert, bildet m. E. den adäquaten theoriearchitektonischen Rahmen für die von ihm intendierte Anbindung des Habermas’schen Demokratieprinzips an sein teleologisches Ergänzungsprinzip, womit eine Lösungsmöglichkeit für das Zirkel-Problem in Faktizität und Geltung eröffnet wird (s. o. Kap. VII 6). Die Rationalisierung des Rechts ist mit historischen Wandlungen in der sozioökonomischen Sphäre untrennbar verknüpft (s. o. Kap. V). Die diskursethische Position, die ich skizzieren möchte, hält
40
A. a. O., S. 891.
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Die Leitthesen der vermittelnden diskursethischen Position
daher an Habermas’ Einbettung der gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität in die Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus fest (s. o. S. 18). Apel greift diese Habermas’sche Konzeption mit der Verschränkung der intern-hermeneutischen und extern-erklärenden Betrachtungsweise seines Selbsteinholungsprinzips auf (s. o. S. 59 f., 64 f.). Auf dem Hintergrund von Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« tritt – wie ich im Folgenden zeigen möchte – die repräsentative Bedeutung der von Apel im Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik umrissenen Entwicklungslinie von der griechischen Polis-Ethik über die Naturrechts-Lehre der Stoa und ihrer römischen Nachfolger bis zur neuzeitlichen Menschenrechts-Idee (s. o. S. 31 f.) zutage. Aus Sicht der Diskursethik ist der paradigmatische Vertreter der Polis-Ethik Sokrates, da er die Basis des Philosophierens in der »dialogbezogenen Argumentation in Rede und Gegenrede« sah. 41 Da Sokrates selber nichts Schriftliches hinterlassen hat, ist seine Leitmaxime, stets dem »Satze« (logos) zu gehorchen, der sich »bei der Untersuchung als der beste zeigt« (Platon: Kriton 46 b), gleichbedeutend damit, dass er nur das als »wahr und gut« anerkennen will, »was der kritischen Prüfung im Dialog standhält«. 42 Sokrates betont, dass er kein eigenes Wissen von der »Tugend« hat, so dass er die »menschliche Weisheit«, d. h. das ethische Wissen, das er sucht, nur durch die Überprüfung der »Meinungen« seiner Gesprächspartner erlangen kann (Apologie 20 b – 21 b, Kriton 47 c – 48 d). Er setzt sich in seinen Dialogen mit gängigen Ansichten über ethische Normierungen auseinander. Der aporetische Gesprächsverlauf führt seinen Zeitgenossen vor Augen, dass sie ihre Auffassungen nicht kohärent begründen können. Sokrates will somit ein allgemeingültiges ethisches Wissen durch die kritische Reflexion auf Gesprächssituationen gewinnen, die sich zunächst im Bereich der bloßen Meinung bewegen. Seine maieutische Methode zielt demnach auf die Transformation von Diskursen im weiten Sinne des Wortes in argu-
Apel: »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, S. 33–79, hier: 68; »Zurück zur Normalität?«, S. 432. 42 Apel: »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie«, S. 87. 41
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Die historische Genese normativer Geltung
mentative Diskurse im engen, spezifischen Sinne ab. Hiermit »bahnte er den Weg« vom konventionellen zum postkonventionellen Niveau ethischer Normierungen. 43 Den Ausgangspunkt der im Folgenden versuchten Ausgestaltung von Apels entwicklungslogischem Programm im Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik im Rekurs auf Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« bildet das in Platons Frühdialog Kriton eingeführte ethische Prinzip, das auf soziale Normierungen fokussiert, die durch Sanktionsmechanismen abgesichert werden (s. u. S. 164 f.). Die systematische Einbettung dieses Prinzips, auf das Apel nicht eingeht, in die Auseinandersetzung des platonischen Sokrates mit der Sophistik lässt sich als philosophische Rekonstruktion der Doppelbedeutung des griechischen Wortes »to dikaion« interpretieren, das sowohl »das Rechtmäßige« im Sinne des rechtlich Geforderten als auch »das Gerechte« meint (s. u. S. 163). 44 Der Anstoß zu den normativen Fortschritten auf dem Weg von der griechischen Polis-Ethik zur neuzeitlichen Menschenrechtsidee ging von der Rechtssphäre aus (s. u. S. 195 ff., 212 f.). Erst mit Lockes Konzeption der Grundrechte auf Leben, Freiheit und – durch Arbeit legitimierten – Besitz als einem Richtmaß staatlichen Handelns hat sich die postkonventionelle Moral so weit herauskristallisiert, dass die aufklärerische ›Moralität‹ von der ›Legalität‹ als Grundbestimmung des modernen Rechts abgegrenzt werden kann (s. u. S. 205). Ich möchte versuchen zu zeigen, dass aus der Transformation des ethischen Prinzips in Platons Kriton in der hellenistisch-römischen Naturrechts-Konzeption und der Menschenrechtsidee Lockes einerseits der moralische Universalisierungsgrundsatz U, andererseits die modernen Rechtsbestimmungen der Positivität, Legalität und Formalität (s. o. S. 72 f.) entspringen, womit die weltgeschichtliche Fortschrittsperspektive der globalen Durchsetzung der Menschenrechte vorgezeichnet wird. 45 Ebd. Apels Überzeugung, dass Platons Frühdialoge Aufschluss über den »authentische[n] Sokrates« geben (a. a. O., S. 86), erscheint mir problematisch. Da die Figur des Sokrates bereits in Platons Frühdialogen von den Erinnerungen Xenophons erheblich abweicht, bleibt es letztlich unentscheidbar, ob sich Platon zunächst auf die Wiedergabe realer Dialogszenen beschränkt oder von Anfang an sokratische Gedanken eigenständig weitergeführt hat. 45 Auf den Beitrag der Religion zur Herausbildung der Menschenrechts-Idee soll nur am Rande eingegangen werden (s. u. S. 241 f.), da er kein integrales Moment der normativen Entwicklungslogik ist, die von der griechischen Polis-Ethik zum Moral- und 43 44
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Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts
3.
Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«
Habermas geht in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« den »Zusammenhängen von sozialer Kognition und Moral« nach. 46 Er verankert den »moral point of view« mit einer entwicklungslogischen Argumentation in den lebensweltlichen Voraussetzungen argumentativer Diskurse. Habermas will zeigen, dass die Übergänge vom präkonventionellen zum konventionellen und sodann zum postkonventionellen Moralniveau auf der fortschreitenden Ausdifferenzierung und »Dezentrierung« der »Perspektivenstruktur« des sozialen Handelns beruhen. 47 Den Bezugspunkt dieser Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts bildet der Begriff des kommunikativen Handelns. 48 Den sprachlichen Geltungsansprüchen der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normativen Richtigkeit entsprechen drei »Weltbezüge« von Sprechakten: Ein Wahrheitsanspruch bezieht sich »auf etwas in der objektiven Welt«, der Anspruch auf Wahrhaftigkeit auf die »Innenwelt« des Sprechers, der Anspruch auf »Richtigkeit« auf die normative Regelung der »sozialen Welt«. 49 In »konstativen« Sprechakten stehen Wahrheitsansprüche im Vordergrund, in »expressiven« die eigene Innenwelt, in »regulativen« (Bitten, Aufforderungen usw.) soziale Normierungen. 50 Die »Dezentrierung des Weltverständnisses« beruht darauf, dass man auf die objektive Welt, die subjektive Innenwelt und den Bereich sozialer Normierungen sowohl mit konRechtsverständnis der neuzeitlichen Aufklärung hinführt. Will man allerdings den universalen Anspruch der Menschenrechts-Idee, die im neuzeitlichen Europa formuliert wurde, dadurch untermauern – und zugleich den Verdacht des Eurozentrismus abwehren –, dass man sie zu normativen Konzeptionen außereuropäischer Kulturen in Beziehung setzt, müssen deren religiöse Traditionen berücksichtigt werden. Die Ablösung der Philosophie von der Religion ist ein Spezifikum der griechischen und neuzeitlichen westlichen Aufklärung. Die systematischen Bezüge der neuzeitlichen westlichen Menschenrechts-Idee zu universalistischen Tendenzen in den Normenkodices außereuropäischer Kulturen liegen außerhalb der Reichweite dieser Abhandlung. 46 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 142. 47 A. a. O., S. 143, 149 f. 48 A. a. O., S. 143. 49 A. a. O., S. 147, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 83, 149. 50 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 148.
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Die historische Genese normativer Geltung
stativen als auch mit expressiven und regulativen Sprechakten Bezug nehmen kann. 51 So bringen etwa expressive Aussagen über Naturphänomene deren Wirkung auf unsere Gefühle zum Ausdruck. Der Protest gegen die grausame Behandlung von Tieren artikuliert sich in »regulativen« Aussagen über unser Verhältnis zu Naturwesen. Ein Gesellschaftswissenschaftler kann vorgegebene soziale Normenkodices mit »konstativen« Aussagen objektiv beschreiben usw. Die Herausbildung eines dezentrierten Weltverständnisses ist mit der Ausdifferenzierung von »Sprecherperspektiven«, d. h. den »Kommunikationsrollen der ersten, zweiten und dritten Person«, verschränkt; hierin besteht – so Habermas – der »Schlüssel für die angestrebte entwicklungslogische Begründung der Moralstufen«. 52 Auf dem präkonventionellen Niveau der Individualentwicklung sind ethische Normierungen in »Autoritäts- und Freundschaftsbeziehungen« zu Eltern, Erziehern, Spielkameraden usw. und damit in »IchDu-Perspektiven« eingebettet. 53 Beim Überschritt zum konventionellen Niveau eignet sich das Kind die »Perspektive einer dritten Person« an, die sich wiederum in die Beobachter- und eine Teilnehmerperspektive aufgliedert. 54 Die Beobachterperspektive bildet sich dadurch aus, dass das Kind die Erfahrung macht, den »wahrnehmend-manipulierenden Umgang mit seiner physischen Umwelt«, den es inzwischen eingeübt hat, auf andere Personen ausdehnen zu können; eine Schlüsselrolle kommt hierbei der »Täuschung« zu. 55 Das Kind lernt, dass Lügen das Verhalten anderer Personen in vorhersehbarer Weise beeinflussen können und zugleich das Risiko in sich bergen, aufgedeckt und sanktioniert zu werden. Indem das Kind das Für und Wider einer Täuschungsabsicht gegeneinander abwägt, betrachtet es diese Handlungsalternativen in Hinblick darauf, in welchem Maße ihre längerfristigen Folgen prognostizierbar sind. Die Applikation der Kategorie von Ursache und Wirkung, die dem Kind durch den Umgang mit physischen Gegenständen vertraut ist, auf Interaktionszusammenhänge bildet den ontogenetischen Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erforschung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Beobachterperspektive, in der soziale Beziehungen »vergegenständ-
51 52 53 54 55
A. a. O., S. 143, 148. A. a. O., S. 146, 149 f. A. a. O., S. 150, 164. A. a. O., S. 150, 157. A. a. O., S. 150, 158.
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Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts
licht«, d. h. als kausal bzw. systemfunktional strukturierte Erkenntnisobjekte behandelt werden. 56 Wenn es einem Kind gelingt, seine Wünsche durch die geschickte Einflussnahme auf seine Bezugspersonen regelmäßig durchzusetzen, kann sich »ein Typ rein erfolgsorientierten Handelns« herausbilden. 57 Ein ichbezogenes strategisches Handeln führt jedoch auf lange Sicht zu Konflikten. Um sie vermeiden bzw. lösen zu können, muss das Kind lernen, sich in die Handlungsperspektive anderer Personen hineinzuversetzen. 58 Das »konventionelle« Verständnis ethischer Normierungen als sozialer Ordnungsstrukturen bildet sich dadurch aus, dass die »reziproke Verschränkung der Handlungsorientierungen der ersten und der zweiten Person« aus der Teilnehmerperspektive einer dritten Person verstanden wird: in dem Sinne, dass Interaktionen im Lichte der herrschenden Normierungen von einer sozialen Gruppe, den Vertretern von Institutionen usw. bewertet werden. 59 Für die Teilnehmerperspektive der dritten Person ist der lebensweltliche normative Hintergrundkonsens, d. h. das »Einverständnishandeln« (s. o. S. 37 f.), essentiell. Die Normen, die das Kind auf der konventionellen Ebene kennen lernt, werden »in der Form der sozialen Kontrolle wirksam« und haben insofern einen »repressiven« Zug, als sie auf dieser Ebene noch nicht in universal konsensfähigen ethischen Prinzipien verankert sind. 60 Sie beruhen aber »nicht allein auf Repression«, da sie einen Ordnungsrahmen für die Verfolgung gemeinsamer Interessen bilden. 61 Die Übergänge vom präkonventionellen zum konventionellen und postkonventionellen Niveau sind »das Ergebnis einer schöpferischen Reorganisation eines vorhandenen kognitiven Inventars«. 62 Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Genese und Transformation von »Gerechtigkeitsvorstellungen« durch die Ausdifferenzierung und Dezentrierung der Perspektivenstruktur des sozialen Handelns. 63 Auf der konventionellen Ebene wird dem Kind bewusst, dass man sich sozial isoliert, wenn man ein rein ichbezogenes Verhalten an 56 57 58 59 60 61 62 63
A. a. O., S. 146. A. a. O., S. 151. A. a. O., S. 156. A. a. O., S. 157. A. a. O., S. 167, vgl. 173. A. a. O., S. 167. A. a. O., S. 136. A. a. O., S. 142.
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Die historische Genese normativer Geltung
den Tag legt. Wer gewillt ist, mit anderen zu kooperieren, eignet sich ein basales Gerechtigkeitsverständnis an: Er gesteht den Anderen das Recht zu, ihre Interessen in derselben Weise zu verfolgen wie er und ihren Anteil am Ertrag der Kooperation zu reklamieren. Die entwicklungsgeschichtliche Vorform dieses Gerechtigkeitsverständnisses bildet das Tauschverhältnis ›Wohlverhalten gegen Belohnung‹, das die präkonventionellen Autoritäts- und Freundschaftsbeziehungen aus der Perspektive des Kindes kennzeichnet. 64 Die für den Gerechtigkeitsbegriff basale Idee der »Symmetrie von Rechten und Pflichten« von Kooperationspartnern entwickelt sich aus dieser Keimzelle, indem sich das Kind die Teilnehmerperspektive der dritten Person aneignet, die das lebensweltliche »Einverständnishandeln« repräsentiert. 65 Der Übergang zum postkonventionellen Niveau bahnt sich durch die Infragestellung vorgegebener sozialer Normierungen an. In der Adoleszenzkrise wird sich der Heranwachsende der Differenz zwischen »faktisch anerkannten und anerkennungswürdigen« Normen bewusst. 66 Sollen die Alternativen zum Bestehenden, die er ins Auge fasst, nicht den Charakter privater Wunschvorstellungen haben – was auf einen Rückfall hinter das konventionelle »Einverständnishandeln« hinausliefe –, muss die angestrebte Umgestaltung der herrschenden Normenkodices mittels der »diskursive[n] Willensbildung« einer Gemeinschaft erfolgen. 67 Soziale Akteure, die universal gültige, postkonventionelle ethische Prinzipien ermitteln wollen, finden hierfür einen »der Kontroverse entzogenen« Ausgangspunkt in den »normativ gehaltvollen« Voraussetzungen des »Argumentationsspiel[s]«, die seit der weltgeschichtlichen Herausbildung des konventionellen Niveaus »faktisch unausweichlich« sind. 68 Habermas bezeichnet den Aufweis dieser Voraussetzungen als einen »transzendentalpragmatische[n]«. 69 An diesem Punkt seiner entwicklungslogischen Argumentation führt er die ›von unten‹ voranschreitende ontogenetische Rekonstruktion von Gerechtigkeitsvorstellungen mit dem Apel’schen Begründungsweg ›von oben‹ zusammen. Hiermit will er die »von Apel und mir vertretene« diskursethische Position in die adäquate 64 65 66 67 68 69
A. a. O., S. 164 f., 179. A. a. O., S. 178 ff. A. a. O., S. 137. A. a. O., S. 136. A. a. O., S. 140, 174. A. a. O., S. 140.
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Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts
Form bringen. 70 Das Begründungsdefizit der in Apels Schriften dominierenden, erst in seiner Auseinandersetzung mit Faktizität und Geltung problematisierten Gestalt seiner Diskursethik, welches darin besteht, dass Apel den Präsuppositionen argumentativer Diskurse »unmittelbar ethische Grundnormen« entnimmt, die auch außerhalb von Diskurssituationen gelten sollen, 71 lässt sich nach Habermas im Rekurs auf den Doppelsinn seines Begriffs des kommunikativen Handelns beheben: Dieses ist auf der einen Seite ein Gegenbegriff zum strategischen Handeln, auf der anderen Seite ist es dadurch gekennzeichnet, dass der kommunikativ Handelnde gewillt ist, die mit seinen Sprechakten verbundenen Geltungsansprüche einzulösen; Habermas weist mit der Verknüpfung dieser beiden Bedeutungsmomente darauf hin, dass ein konsequenter Egoist seine wahren Handlungsmotive verschleiern muss, da soziale Ordnungsstrukturen nur durch das »Einverständnishandeln« aufrechterhalten werden können (s. o. S. 36 ff.). Habermas vertritt in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« die These, dass der »Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs« im engen, spezifischen Wortsinn im Hinblick auf die soziale Welt zu einer postkonventionellen »Moralisierung der jeweils bestehenden Normen« führe. 72 Die Apel’sche ideale Diskursmoral, deren Gültigkeit innerhalb von Diskurssituationen im engen Wortsinn Habermas anerkennt, zeichnet in methodischer wie auch inhaltlicher Hinsicht Leitkriterien für die postkonventionelle Umgestaltung des konventionellen »Einverständnishandelns« vor. Der transzendentalpragmatische Aufweis normativ gehaltvoller Voraussetzungen der Argumentationspraxis zeigt, dass eine allgemeinverbindliche Normenbegründung möglich ist; dieser Nachweis reicht zwar zunächst über Diskurssituationen nicht hinaus, er gibt aber in methodischer Hinsicht einen Maßstab für die gesuchten postkonventionellen Normierungen vor: Diese müssen für jeden zustimmungsfähig sein, der bereit ist zu argumentieren. In inhaltlicher Hinsicht entspringt aus der idealen Diskursmoral die postkonventionelle »Idee der Gerechtigkeit«: Ein argumentativer Diskurs, in dem allgemeingültige Ergebnisse angestrebt werden, ist ein kooperativer Prozess, worin alle Partner dieselben Pflichten und A. a. O., S. 131. Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, S. 96. S. o. Kap. III 2, IV 3. 72 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 169. 70 71
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Die historische Genese normativer Geltung
Rechte haben. 73 Habermas’ These, dass der »Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs« eine »Umformung der sozialkognitiven Ausstattung der konventionellen Stufe« in postkonventionelle Moralbegriffe »erzwingt«, 74 lässt sich in zwei Teilsätze aufgliedern: (1) Mit dieser These wird zunächst ein Implikationszusammenhang formuliert: Die in den Präsuppositionen argumentativer Diskurse verankerte postkonventionelle Idee der Gerechtigkeit ist genau dann im lebensweltlichen »Einverständnishandeln« implementiert, wenn alle sozialen Interaktionen den Charakter der Kooperation prinzipiell gleichberechtigter Partner annehmen, so dass soziale Kontrollmechanismen – in Form beruflicher Hierarchien, des Gewaltmonopols des Staates usw. – lediglich dazu dienen, faktisch unerlässliche Rahmenbedingungen für die Verfolgung gemeinsamer Interessen abzusichern. Mit der Umstellung sämtlicher Interaktionen auf eine kooperative Grundlage verlieren partikulare Lebensformen ihren ausgrenzenden Charakter: Das lebensweltliche »Einverständnishandeln« wird auf alle sozialen Akteure, die bereit sind zu argumentieren, ausgeweitet, die Teilnehmerperspektive der dritten Person also vollständig dezentriert. 75 Habermas gewinnt den moralischen Universalisierungsgrundsatz U in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« aus dem Implikationszusammenhang, der den Inhalt des ersten Teilsatzes der zitierten These ausmacht: »›U‹ funktioniert im Sinne einer Regel, die alle konkreten, mit dem Ganzen einer partikularen Lebensform oder einer individuellen Lebensgeschichte verwobenen Wertorientierungen als nicht verallgemeinerungsfähige Inhalte eliminiert und […] nur die streng normativen Fragen der Gerechtigkeit als argumentativ entscheidbare Fragen zurückbehält.« 76 (2) Der zweite Teilsatz von Habermas’ These lautet, dass der Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs zu einer »unvermeidlichen Moralisierung« der jeweils bestehenden Normen führt. 77 Hieraus resultiert laut »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« die Allgemeingültigkeit von U im Rahmen unserer
73 74 75 76 77
A. a. O., S. 179. A. a. O., S. 169. A. a. O., S. 173 ff. A. a. O., S. 132, vgl. S. 127. A. a. O., S. 131 f.,169, 179.
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Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts
faktischen soziokulturellen Lebensform, in der argumentative Diskurse geführt werden können. Habermas will den »ethischen Relativismus« somit durch die Verknüpfung des »transzendentalpragmatische[n]« Rekurses auf faktisch unausweichliche Argumentationsvoraussetzungen mit der Rekonstruktion der Lernprozesse auf dem Weg vom prä- zum postkonventionellen Niveau entkräften. 78 Die »diskursethisch begründete Moral« stützt sich – so Habermas – »auf ein Muster, das dem Unternehmen sprachlicher Verständigung von Anfang an innewohnt«: Erst auf der postkonventionellen Stufe, auf der »die Idee der Gerechtigkeit allein der idealisierten Form einer im Diskurs unterstellten Reziprozität entnommen« wird, kommt nach Habermas »sozusagen die Wahrheit der präkonventionellen Vorstellungswelt« ans Licht. 79 Er gibt mit der Einfügung des Wortes »sozusagen« zu verstehen, dass die Rede von »Wahrheit« hier nicht mit dem Wahrheitsgehalt konstativer Sprechakte, der auf die »objektive Welt« bezogen ist, zusammenfällt – wobei sie hiervon aber auch nicht völlig losgelöst sein kann, da der Wahrheitsbegriff andernfalls zweideutig würde. Aufschluss über die spezifische Bedeutung, in der Habermas den Wahrheitsbegriff auf die Einbettung der postkonventionellen Gerechtigkeitsidee in ein »Muster«, das der sprachlichen Verständigung von Anfang an innewohne, appliziert, gibt seine Gegenüberstellung des in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« intendierten entwicklungslogischen Aufweises der Zusammenhänge von sozialer Kognition und Moral mit der Vernunftkritik Kants. Habermas’ Begründungsprogramm hat zwar nicht den »apriorische[n] Sinn einer transzendentalen Deduktion« kantischen Typs, da es auf empirische Faktizität rekurriert; 80 Habermas hält aber daran fest, dass die angestrebte Verankerung des Geltungsanspruchs von U in einer Stufenfolge der sozialen Kognition ein Äquivalent zur transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in Kants Kritik der reinen Vernunft bildet; dies wird daran deutlich, dass Habermas die Analyse der faktisch unausweichlichen Präsuppositionen argumentativer Diskurse mit Apel als eine »transzendentalpragmatische« bezeichnet – Apels »transzendentale Pragmatik« versteht sich als eine Transfor-
78 79 80
A. a. O., S. 127 f., 131 f. A. a. O., S. 175, 179. A. a. O., S. 127 f., 142.
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Die historische Genese normativer Geltung
mation der kantischen Erkenntnistheorie. 81 Kant will in der transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft nachweisen, dass die reinen Verstandesbegriffe, die er aus den Urteilsformen gewinnt, in Bezug auf alle Erfahrungsgegenstände objektiv gültig, d. h. für deren zutreffende Erkenntnis unabdingbar, sind. 82 Er setzt die »objektive Realität«, d. h. Allgemeingültigkeit, der reinen Verstandesbegriffe mit ihrer »transzendentale[n] Wahrheit« gleich. 83 Diese bildet gemäß der Kritik der reinen Vernunft die Voraussetzung der »empirischen Wahrheit« von Aussagen über Erfahrungsgegenstände: 84 Empirische Urteile, die stets mittels allgemeiner Begriffe gebildet werden, sind nach Kant nur dann wahrheitsfähig, wenn die in den Urteilsformen implizit enthaltenen reinen Verstandesbegriffe objektiv gültig sind. Die spezifische Bedeutung, in der Habermas den Wahrheitsbegriff in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« auf die Einbettung der postkonventionellen Gerechtigkeitsidee in ein Muster, das der sprachlichen Verständigung von Anfang an innewohne, appliziert, resultiert aus einer Modifikation von Kants Begriff der transzendentalen Wahrheit. Die transzendentale Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft und die transzendentalpragmatische Analyse faktisch unausweichlicher Argumentationsvoraussetzungen, worin Habermas U verankern will, stimmen in der Hinsicht miteinander überein, dass beide Male notwendige Bedingungen von etwas Unbestreitbarem aufgewiesen werden sollen; die kantische und die transzendentalpragmatische Begründungsstruktur unterscheiden sich aber in doppelter Hinsicht: (i) Kant will nachweisen, dass die Einheit des Selbstbewusstseins, derer sich jeder im Reflexionsakt »ich denke« vergewissern kann, die objektive Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe voraussetzt. An die Stelle dieses »höchste[n] Punkt[es]« der kantischen Transzendentalphilosophie 85 tritt bei Apel und Habermas der Prozess der Argumentation, der ein geschichtliches Faktum ist: Auf der archaischen, magisch-mythischen Kulturstufe können noch keine A. a. O., S. 140; Apel: »Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion«. In: ders: Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 312–329, hier: 314; ders.: »Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache«. In: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 330–357, hier: 354. 82 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 89 f., B 122. 83 A. a. O., A 221 f., B 269. 84 A. a. O., A 202, B 247. 85 A. a. O., B 134 Anm. 81
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Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts
argumentativen Diskurse geführt werden. (ii) Während Kant den reinen Verstandesbegriffen einen überzeitlichen Status zuspricht, tragen Habermas und Apel der gattungsgeschichtlichen Evolution unseres Sprachgebrauchs Rechnung. 86 Beide Differenzpunkte führen auf die Frage, inwiefern Habermas’ und Apels Analyse »allgemeiner und notwendiger Präsuppositionen« argumentativer Verständigung einen »apriorischen« Charakter reklamieren kann, der anders als bei Kant nicht in schroffem Gegensatz zu empirischer Faktizität steht. 87 Habermas unterscheidet mit seiner These, dass auf der postkonventionellen Stufe »sozusagen die Wahrheit der präkonventionellen Vorstellungswelt« ans Licht kommt, deren Binnenperspektive von der Perspektive der universalbzw. transzendentalpragmatisch fundierten Diskursethik. Er fasst die Tatsache, dass auf der präkonventionellen Ebene Gut und Böse mit dem Gesunden bzw. Vorteilhaften und Schädlichen konzeptionell verwoben sind, als Ausdruck eines Erkenntnisdefizits auf. Apel untermauert diese Sichtweise durch den Nachweis, dass der Wahrheitsanspruch von Habermas’ universalpragmatischen Kernaussagen von jedem akzeptiert werden muss, der sie versteht, so dass sie apriorische Geltung beanspruchen können, obwohl sie denjenigen, die auf der präkonventionellen Stufe verharren, nicht nachvollziehbar sind (s. o. S. 42–45). Die präkonventionelle Vorstellungswelt hat demnach ein inadäquates Selbstverständnis: Man muss ihre Binnenperspektive hinter sich lassen, um sich die von der Universalpragmatik formulierten kategorialen Mittel für die adäquate Beschreibung von Kommunikationsprozessen aneignen zu können. Die spezifische Bedeutung des Wahrheitsbegriffs in Habermas’ These, dass die Wahrheit der präkonventionellen Vorstellungswelt erst auf der postkonventionellen Stufe zutage tritt, ist somit an der – auf der präkonventionellen Stufe noch verborgenen – objektiven Gültigkeit eines grundbegrifflichen Rahmens von Kommunikations- und Interaktionsprozessen festgemacht, der von der Universal- bzw. Transzendentalpragmatik und Diskursethik freigelegt wird. Kants Bestimmung des Verhältnisses von transzendentaler und empirischer Wahrheit lässt sich in dem Sinne auf die universalpragmatische Analyse der »Geltungsbasis der Rede« übertragen, dass die Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 587 f.; Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, S. 161 f. 87 Vgl. Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 129 f. 86
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Die historische Genese normativer Geltung
Einsicht in die kategoriale Differenz der Geltungsansprüche der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normativen Richtigkeit eine notwendige Bedingung der kompetenten Mitwirkung an argumentativen Diskursen bildet. 88 Habermas bezieht mit der in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« formulierten These, dass die »Wahrheit« der präkonventionellen Stufe erst durch die postkonventionelle »Moralisierung« der sozialen Welt zutage tritt, den Begriff der Gerechtigkeit in den faktisch unhintergehbaren grundbegrifflichen Rahmen lebensweltlicher Argumentationsprozesse ein. Da die Unterscheidung von Naturgegenständen und Normen auf der präkonventionellen Stufe unbekannt ist, hat sich auch die Alternative von rein selbstbezüglichem und normengeleitetem Handeln noch nicht ausgebildet. Die für diese Stufe in der Onto- wie auch Phylogenese basale Überzeugung, dass man sich durch Wohlverhalten Belohnung verdient, darf dementsprechend nicht als egoistisches Kalkül gewertet werden. Habermas hebt in seiner Analyse der präkonventionellen Stufe in der Gattungsgeschichte hervor, dass die Verhaltensregeln, die von magisch-mythischen Weltbildern vorgegeben werden, die Kooperationsstrukturen archaischer Stammesgesellschaften absichern. 89 Beim Übergang zur konventionellen Stufe kann die »Reorganisation« des »kognitiven Inventars« dazu führen, dass die Erfolgsorientierung des präkonventionellen Tauschverhältnisses ›Wohlverhalten gegen Belohnung‹ von sozial vorgegebenen Verhaltensregeln abgekoppelt und in ein rein selbstbezügliches Nutzenkalkül verwandelt wird – dieses darf jedoch nicht offen gelegt werden. 90 Wer bereit ist, die mit seinen Sprechakten verbundenen Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit und normativen Richtigkeit einzulösen, muss soziale Normierungen anerkennen, die zumindest innerhalb einzelner Gruppen bzw. Schichten die Reziprozität von Rechten und Pflichten und die prinzipielle Gleichberechtigung von Kooperationspartnern festschreiben. Hiermit wird ein basaler Gerechtigkeits-Begriff etabliert. Er gehört zum grundbegrifflichen Rahmen lebensweltlicher Argumentationsprozesse diesseits der präkonventionellen Stufe. Da soziale Ordnungsstrukturen nicht in strategischen Nutzenkalkülen verankert werden können, ist diejenige Weiterentwicklung des erfolgsorientierten präkonventionellen Tauschverhält88 89 90
Vgl. Habermas: »Was heißt Universalpragmatik?«, S. 353, 380 ff. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 237, 245 S. o. S. 40, 70. Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 136, 150 f., 164.
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Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts
nisses ›Wohlverhalten gegen Belohnung‹, die zum GerechtigkeitsBegriff der konventionellen Stufe führt, als kognitiver und ethischer Reifungsprozess zu werten. Habermas erhebt den Anspruch, dass der Universalisierungsgrundsatz U die Quintessenz des GerechtigkeitsBegriffs enthält. Dieser bleibt auf der konventionellen NormenEbene unvollkommen, da sie einen repressiven Zug aufweist, der den Akteuren aber insofern verborgen bleiben kann, als sie noch keinen Begriff universal konsensfähiger Normen haben. Habermas’ These, dass die diskursethische Idee der Gerechtigkeit in ein Muster eingebettet ist, das der sprachlichen Verständigung von Beginn an innewohnt, so dass die »Wahrheit« der präkonventionellen Vorstellungswelt erst auf der postkonventionellen Ebene zutage tritt, besagt somit, dass der grundbegriffliche Rahmen von Kommunikationsund Interaktionsprozessen, der in nuce bereits auf der präkonventionellen Ebene aufweisbar ist, erst auf der postkonventionellen durch die Ausräumung kognitiver und ethischer Defizite in seine adäquate Gestalt gebracht werden kann. Der fortschreitende Abbau dieser Defizite durch die Ausdifferenzierung und Dezentrierung der Perspektivenstruktur von Kommunikations- und Interaktionsprozessen macht laut Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« die Entwicklungslogik des inneren Zusammenhangs von sozialer Kognition und Moral aus. Die Binnenperspektive lebensweltlicher Akteure nähert sich durch die Lernprozesse, die von der präkonventionellen Stufe zu den höheren führen, der Perspektive des universal- bzw. transzendentalpragmatisch argumentierenden Diskursethikers an. In Habermas’ Darstellung des Übergangs von der konventionellen zur postkonventionellen Stufe in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« tritt allerdings eine Argumentationslücke auf, durch die das Programm einer »entwicklungslogische[n] Begründung der Moralstufen« 91 in dieser Abhandlung brüchig wird. Dort bildet der Hinweis auf die »allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen der Argumentation überhaupt« das entscheidende Argument für die These, dass der Schritt vom kommunikativen Handeln zum Diskurs im engen Wortsinn zu einer »unvermeidlichen Moralisierung« der sozialen Welt führt. 92 Dass die Präsuppositionen argumentativer Diskurse eine postkonventionelle Gerechtigkeitsidee (im Sinne der 91 92
A. a. O., S. 150. A. a. O., S. 169, 174, 179.
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Die historische Genese normativer Geltung
durchgängigen Symmetrie der Rechte und Pflichten aller Diskursteilnehmer) in sich bergen, ist zwar unbestreitbar; indem Habermas in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« den Standpunkt vertritt, dass die Einsicht in diese Gerechtigkeitsidee eine Moralisierung der sozialen Welt »erzwingt«, 93 spricht er allerdings den innerhalb von Diskursen unhintergehbaren Normen per se eine über Diskurssituationen hinausreichende Geltung zu. Eine solche unmittelbare Ausweitung der Diskursmoral stellt Habermas in seiner Auseinandersetzung mit Apel selber in Frage. Diese Inkonsistenz hat ihn vermutlich dazu bewogen, die für »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« zentrale These, dass der Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs eine »Umformung der sozialkognitiven Ausstattung der konventionellen Stufe« in postkonventionelle Moralbegriffe erzwingt, in Faktizität und Geltung zu revidieren. Habermas hält in diesem Buch nur am ersten Teilsatz dieser These fest, d. h. am Implikationsverhältnis zwischen der lebensweltlichen Implementierung der postkonventionellen Moral und der Umstellung aller Interaktionen auf eine kooperative Grundlage, womit sich unsere partikularen Lebensformen für die moralische Zielperspektive einer »Republik von Weltbürgern« öffnen. 94 Der zweite Teilsatz, demzufolge die Allgemeingültigkeit von U in einer »unvermeidlichen« Moralisierung der sozialen Welt beim Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs verwurzelt ist, 95 wird in Faktizität und Geltung in doppelter Weise abgeschwächt: (i) Die Problematisierung des Theorems einer normativen Entwicklungslogik in diesem Buch schlägt sich in einer Herabstufung des Begründungsanspruchs der Habermas’schen Diskursethik nieder, die dort als bloße »Bedeutungsexplikation« faktisch realisierter Lebensformen auftritt. (ii) In Faktizität und Geltung verliert der moralische Gesichtspunkt durch die Konzeption der Gleichursprünglichkeit von Moral und Recht und die Fundierung der Menschenrechte im Demokratieprinzip die herausgehobene Bedeutung, die ihm in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« zukommt. Mit der im Folgenden intendierten Übertragung des entwicklungslogischen Programms in Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, dass er in Faktizität und Geltung nicht 93 94 95
A. a. O., S. 169. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 139. S. o. S. 77. A. a. O., S. 179.
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Habermas’ ontogenetische Rekonstruktion des moralischen Gesichtspunkts
weiter verfolgt hat, auf die Gattungsgeschichte soll Apels Konzeption eines wechselseitigen Fundierungsverhältnisses von Moral und Recht mit dem geltungstheoretischen Primat der Moral entwicklungslogisch rekonstruiert werden. Das Vorhaben der onto- und phylogenetischen Rekonstruktion der eigenen Rationalitätsmaßstäbe, das den methodischen Aspekt des Selbsteinholungsprinzips ausmacht, bezieht die »Begrifflichkeit« ein, die von der Transzendental- bzw. Universalpragmatik und Diskursethik aufgegriffen und reformuliert wird. 96 Der in Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« erörterte grundbegriffliche Rahmen – er umfasst die Geltungsansprüche sprachlicher Verständigung, die Perspektivenstruktur von Kommunikations- und Interaktionsprozessen und den Begriff der Gerechtigkeit – gehört zu den unhintergehbaren Voraussetzungen der lebensweltlichen Argumentationspraxis. Während Apel seinen Begriff des »Diskursapriori« aus der Binnenstruktur argumentativer Diskurse gewinnt und den Gerechtigkeits-Begriff hierin fundieren will, 97 wird dieser von Habermas in lebensweltlichen Kommunikations- und Interaktionsstrukturen verankert. Habermas’ Analyse des grundbegrifflichen Rahmens lebensweltlicher Verständigungsprozesse lässt sich allerdings an den inhaltlichen Aspekt von Apels Selbsteinholungsprinzip, demzufolge der argumentative Diskurs im engen Wortsinn das Quasi-Telos der Rationalisierung der Lebenswelt bildet, bruchlos anschließen. Für die Begründung des inhaltlichen Aspekts von Apels Selbsteinholungsprinzip ist der in Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« intendierte Nachweis, dass der bereits auf der präkonventionellen Stufe vorgebildete Gerechtigkeits-Begriff erst auf der postkonventionellen im Rekurs auf die »idealisierte Form« einer »im Diskurs unterstellten Reziprozität« adäquat expliziert werden kann, von zentraler Bedeutung. 98 Im Folgenden soll Habermas’ These in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, dass der Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs zu einer Moralisierung der konventionellen Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 470 f., Funkkolleg Praktische Philosophie/ Ethik. Studientexte 1, S. 83. 97 Apel: »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«, S. 28; »Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins«, S. 313, 317. 98 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 175, 179. 96
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Die historische Genese normativer Geltung
Normen führt, in Hinblick auf die Gattungsgeschichte dahingehend umakzentuiert werden, dass die Evolution des Rechts das Bindeglied zwischen den Fortschritten der sozialen Kognition und der Herausbildung des moralischen Gesichtspunkts bildet. Die Doppelperspektive von System und Lebenswelt auf die Rechtsgeschichte, die Habermas in seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus entwickelt und die Apel in sein Selbsteinholungsprinzip integriert (s. o. S. 18 f., 63 f.), geht auch in die diskursethische Position ein, die im vorliegenden Beitrag anvisiert wird. Sie kann die normative Entwicklungslogik, deren Explikation in Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« die Ausgangsbasis der folgenden Ausführungen bildet, nicht unmittelbar an die Grundstrukturen lebensweltlicher Verständigungsprozesse anbinden, da die Evolution des Rechts, mit der die Genese des moralischen Gesichtspunkts verschränkt ist, von den kontingenten Veränderungen materieller Lebensumstände maßgebliche Impulse empfängt.
4.
Das ethische Prinzip in Platons Kriton
Habermas’ Programm der entwicklungslogischen Begründung des Universalisierungsgrundsatzes U in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« soll im Folgenden im Rekurs auf das ethische Prinzip in Platons Kriton auf die Gattungsgeschichte übertragen werden. Es soll gezeigt werden, dass (1) dieses Prinzip, das einen Gerechtigkeits-Begriff einschließt, zum grundbegrifflichen Rahmen lebensweltlicher Verständigungsprozesse auf der konventionellen Stufe gehört, die in der Gattungsgeschichte durch die systemfunktional erklärbare Etablierung staatlicher Rechtsordnungen erreicht wird, und (2) die Transformation des ethischen Prinzips im Kriton in der – mit der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen verzahnten – Traditionslinie, die über die kosmopolitische Naturrechts-Idee der Stoa und ihrer Nachfolger zu Lockes Menschenrechts-Konzeption führt, in ein wechselseitiges Fundierungsverhältnis zwischen U und dem postkonventionellen Recht einmündet. Um das ethische Prinzip in Platons Kriton in Habermas’ und Apels Konzeption der Rationalisierung der Lebenswelt integrieren zu können, muss Sokrates’ zentraler Einwand gegen die Auffassung des Thrasymachos im I. Buch von Platons Politeia, konsequenter Egoismus sei der Schlüssel zum Lebenserfolg, herangezogen wer160 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Das ethische Prinzip in Platons Kriton
den. 99 Thrasymachos wendet sich – wie Kallikles in Platons Gorgias – gegen die verbreitete Überzeugung, es sei ein Gebot der Gerechtigkeit, auf die Interessen anderer Rücksicht zu nehmen (Politeia 338 c, Gorgias 482 e – 484 b). 100 Nach Kallikles sind nur die »Schwachen«, die von Thrasymachos mit Schafen verglichen werden, dieser Ansicht, wogegen die in beider Augen »kräftigere[n] Menschen« erfolgreich danach »streben, mehr zu haben als die anderen« (Gorg. 483 b– c, Pol. 343 a–c, 349 b–c). Ethische Vorschriften wie das Verbot der Lüge oder des Raubes beruhen nach Kallikles und Thrasymachos auf bloßer Konvention. Beide zählen es in derselben Weise zum »Recht der Natur« bzw. zur »natürlichen Gerechtigkeit« (physeōs dikaion), dass solche Vorschriften von den Starken bei ihrem »Streben, mehr zu haben«, missachtet werden, wie es zur Naturordnung gehört, dass Raubtiere ihre Beute reißen (Gorg. 483 c, 484 b, Pol. 344 a–c, 349 b). Thrasymachos erklärt den Tyrannen, der »außer dem Vermögen seiner Mitbürger auch noch sie selbst in seine Gewalt bringt und zu Knechten macht«, zum Inbegriff des starken ›Ausnahmemenschen‹ (Pol. 344 a–c). Sokrates entgegnet in der Politeia auf diesen Angriff auf das verbreitete Verständnis der Gerechtigkeit, dass jeder sozial lebende Mensch seine Handlungsziele nur erreichen kann, wenn er in der Lage ist, mit anderen zu kooperieren. Die – im gewöhnlichen Verständnis – »vollkommen Ungerechten«, d. h. radikalen Egoisten, sind demnach »vollkommen unvermögend«, in sozialen Kontexten »etwas auszurichten« (Pol. 352 c–d). Sokrates veranschaulicht dies am Beispiel einer Räuberbande: Ihre Mitglieder müssen, wenn ihre Unternehmungen auf Dauer zielführend sein sollen, noch so viel »Gerechtigkeit« im geläufigen Wortsinn in sich tragen, dass sie ihre Beute nach nachvollziehbaren Kriterien unter sich aufteilen (Pol. 351 c–d). Falls ihr Egoismus so weit geht, dass sie einander übervorteilen oder gar verraten oder ermorden wollen, werden ihre Aktivitäten durch gegenseitiges Misstrauen, das sich zu »Zwietracht« und »Hass« auswachsen kann, gelähmt (ebd.).
Vermutlich war das I. Buch der Politeia ursprünglich ein selbständiger Dialog mit dem Titel Thrasymachos (Hans Friedrich August von Arnim: Platons Dialog »Thrasymachos«. Amsterdam 1927; Paul Friedländer: Platon. Bd. II. Berlin 31964. S. 45 f.). 100 Platons Politeia, Gorgias und Kriton werden im Folgenden mit den Kürzeln Pol., Gorg. und Kr. nach der – an wenigen Stellen modifizierten – Übersetzung Schleiermachers zitiert. 99
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Die historische Genese normativer Geltung
Sokrates spielt mit dem Beispielfall der Räuberbande auf Thrasymachos’ Charakterisierung des Tyrannen als eines Räubers im großen Stil an (Pol. 344 a–c). Thrasymachos’ Aussage, dass der Tyrann seine Mitbürger »in seine Gewalt bringt und zu Knechten macht«, suggeriert, ein einzelner Mensch könne eine ganze Gesellschaft beherrschen. Tatsächlich ist aber auch ein Diktator auf Verbündete und Unterstützer angewiesen, deren Interessen er Rechnung tragen muss. Thrasymachos räumt dies implizit selber mit der Bemerkung ein, dass ein Tyrann »preiswürdig (makarios) genannt« wird, sobald er seine Macht zementiert hat (Pol. 344 b): Die soziale Akzeptanz, auf die er nach Thrasymachos zählen kann, speist sich aus der Erwartung, von der Kollaboration mit den Machthabern profitieren zu können. Durch Sokrates’ Kritik an Thrasymachos wird zugleich Kallikles’ Behauptung entkräftet, dass die verbreitete Überzeugung, es sei ungerecht, »mehr haben zu wollen« als die anderen (pleonektein), zu verwerfen ist, da sie dem »Recht der Natur« zuwiderlaufe (Gorg. 483 c, 484 b). Nach Kallikles ist das gewöhnliche Verständnis der Gerechtigkeit nur deshalb in die staatlichen Rechtsordnungen eingegangen, weil die »Schwachen und der große Haufe« die »Gesetze geben« (Gorg. 483 b–c). Sokrates betont demgegenüber, dass in jeder Gesellschaft – selbst in einer Tyrannei – eine signifikante Anzahl von Akteuren gewillt sein muss, gemeinsame Interessen kooperativ zu verfolgen. Der geläufige Begriff der Gerechtigkeit ist somit nicht Sache bloßer Konvention, sondern für die Funktionsfähigkeit arbeitsteiliger Gesellschaften unentbehrlich. Alle sozialen Normenkodices müssen daher der Pleonexia, d. h. dem egoistischen Streben, »mehr zu haben als die anderen« (Gorg. 483 c), Grenzen setzen. In hierarchischen Gesellschaften kann sich allerdings die von den faktisch geltenden Normenkodices geforderte Kooperation von Akteuren, die ihre Interessen gleichermaßen geltend machen dürfen, auf staatstragende Schichten beschränken, falls es gelingt, die Benachteiligten durch Repression zur Erfüllung vorgegebener Funktionen zu zwingen. Sokrates kritisiert somit Thrasymachos’ und Kallikles’ Entgegensetzung von ›natürlicher‹ und ›konventioneller‹ Gerechtigkeit mit dem – für Habermas’ und Apels Lebenswelt-Begriff zentralen – Argument, dass soziale Ordnungsstrukturen nicht in den strategischen Nutzenkalkülen von Akteuren, die ausschließlich ihre eigenen Interessen verfolgen, fundiert sein können. Hierbei muss allerdings – wie Apel hervorhebt – eingeräumt werden, dass es einzelnen konsequenten Egoisten gelingen mag, ihre realen Handlungsmotive zeit162 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Das ethische Prinzip in Platons Kriton
lebens zu verschleiern, wenn auch stets damit zu rechnen ist, dass die Widersprüche zwischen ihren Selbstbeschreibungen und ihrem faktischen Verhalten aufgedeckt werden und die soziale Ächtung nach sich ziehen. 101 Der geläufige Begriff der Gerechtigkeit, den Sokrates gegen Thrasymachos und Kallikles verteidigt, entspricht insofern dem »konventionellen« Gerechtigkeits-Begriff in Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, als beide an Kooperationsstrukturen festgemacht sind (s. o. S. 149 f., 156 f.). Da ein solcher Begriff der Gerechtigkeit in jeder Gesellschaft zumindest in rudimentärer Form realisiert sein muss, reicht er, für sich genommen, für die Kritik tyrannischer Staatsformen nicht aus: Deren Funktionsfähigkeit ist gesichert, wenn – um in dem von Sokrates gebrauchten Bild zu bleiben – eine Räuberbande an der Staatsspitze eine ausreichende Rückendeckung durch Kollaborateure in der Bevölkerung findet. Platon entwirft im IV. Buch der Politeia einen metaphysischen Begriff der Gerechtigkeit, den er der Tyrannei entgegengesetzt. Auf die metaphysische Staatskonzeption der Politeia soll im Folgenden nur am Rande eingegangen werden. Ich möchte stattdessen versuchen zu zeigen, dass das ethische Prinzip in Platons Kriton den konventionellen Gerechtigkeits-Begriff in der Weise konkretisiert und mit der Funktionsfähigkeit staatlicher Rechtsordnungen verklammert, dass ein entwicklungslogischer Übergang zur postkonventionellen Stufe im Sinne von Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« angebahnt wird. Das ethische Prinzip im Kriton wird im Kontext einer konkreten Handlungssituation eingeführt. Sokrates wartet im Gefängnis auf seine Hinrichtung. Sein Freund Kriton hat die Wärter bestochen und drängt ihn dazu, die Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. Sokrates will die Entscheidung darüber, ob dies »recht« bzw. »gerecht« (dikaion) wäre, nicht auf der Basis bloßer »Meinungen« treffen, sondern am Leitfaden der »Vernunft« (nous; Kr. 46 b–e, 48 b–c). Das Prinzip, mit dem die »Wahrheit« über »das Rechte und Unrechte« bzw. »Gerechte und Ungerechte« (peri tōn dikaiōn kai adikōn) ermittelt werden soll (Kr. 48 a), wird in Sokrates’ fiktivem Gespräch mit den »Gesetzen und dem Gemeinsamen (koinon)« seiner Heimatstadt
101 Apel: »Faktische Anerkennung oder transzendental notwendige Anerkennung?«, S. 243.
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Die historische Genese normativer Geltung
in Ansatz gebracht. Die Gesetze halten ihm darin für den Fall, dass er fliehen will, vor: »Ist es nicht so, dass du durch diese Tat, welche du unternimmst, uns den Gesetzen und also der ganzen Polis den Untergang zu bereiten gedenkst, soviel an dir ist? Oder dünkt es dich möglich, dass jene Polis noch bestehe und nicht in gänzliche Zerrüttung gerate, in dem die abgetanen Rechtssachen keine Kraft haben, sondern von Einzelpersonen können ungültig gemacht werden?« (Kr. 50 a–b) 102
In der Argumentation der Gesetze lässt sich eine ethische Begründungsebene von einer Anwendungsebene unterscheiden. Auf der Begründungsebene machen die Gesetze ein Universalisierungsprinzip geltend, das auf die Stabilität und Funktionsfähigkeit der eigenen Polis bezogen ist: Die Bürger sollen sich fragen, ob ihre Polis »nicht in gänzliche Zerrüttung« geriete, wenn jeder andere genauso handelte, wie sie selbst es intendieren. Auf der Anwendungsebene berufen sich die Gesetze darauf, dass die Rechtsprechung untergraben würde, falls jeder den Versuch unternähme, sich der Vollstreckung eines Urteils, das er für verfehlt hält, durch Korruption u. ä. zu entziehen. Ob hieraus folgt, dass Sokrates den Schuldspruch seiner Richter hinnehmen soll – was er selber zugesteht –, lässt Raum für unterschiedliche Deutungen (s. u. S. 175 f.). Die Gesetze, mit denen Sokrates einen fiktiven Dialog führt, erstrecken sich auf die Familie, die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen und staatliche Funktionen wie die Rechtsprechung und Kriegsführung (Kr. 50 d – 51 c). Familiäre Strukturen sind für die Aufzucht der Kinder unentbehrlich; alle Gesellschaften diesseits archaischer Stammesverbände basieren auf der Arbeitsteilung, die den Erwerb beruflicher Qualifikationen verlangt, und bedürfen einer Rechtsordnung, die durch ein staatliches Gewaltmonopol abgesichert werden muss. Das Universalisierungsprinzip im Kriton fordert somit – am Beispiel der Polis Athen – die Individuen dazu auf, ihre Handlungsintentionen stets daraufhin zu prüfen, welche Konsequenzen es für die grundlegenden Ordnungsstrukturen der Gesellschaft, in der sie
102 Schleiermacher übersetzt »Polis« mit »Staat«. Im obigen Zitat ist das griechische Wort stehen gelassen worden, da sich die Gesetze, die Sokrates im Blick hat, nicht bloß auf staatliche Institutionen beziehen, sondern das »Gemeinsame« der Polis schlechthin regeln (s. u.).
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Das ethische Prinzip in Platons Kriton
leben, hätte, wenn alle anderer Mitglieder dieser Gesellschaft genauso handelten. Sokrates zählt zum »(Ge-)Rechten« allgemeine Grundsätze wie das Verbot, gegenüber seinen Mitmenschen gewalttätig zu werden (Kr. 49 c–d), und zugleich spezifische Einschränkungen dieser Grundsätze: Er stimmt den Gesetzen seiner Heimatstadt darin zu, dass ein Vater seine Kinder als Erziehungsmaßnahme schlagen darf, und betont, dass man nur diejenigen Versprechen halten muss, mit denen man etwas »(Ge-)Rechtes« zugesagt hat (Kr. 50 e – 51 a, 50 a). So muss man sich etwa nicht an die erpresste Zusage gebunden fühlen, einem Gewalttäter bei seinen Unternehmungen zu helfen. In der Politeia wird als Beispiel für den zulässigen Bruch eines Versprechens der Fall eines wahnsinnig gewordenen Freundes genannt, der seine Waffen zurückverlangt, die er ausgeliehen bzw. bei jemandem deponiert hat; Sokrates fügt hinzu, dass man dem Freund in einem solchen Zustand nicht »von allen Dingen die Wahrheit sagen« darf (Pol. 331 c). Das Universalisierungsprinzip im Kriton ist somit eine Überprüfungs- bzw. Rechtfertigungsinstanz sowohl für allgemeine Grundsätze als auch für spezifische Ausnahmeregelungen. Für ein geordnetes Zusammenleben ist es unabdingbar, dass die Verbote der gewalttätigen Aggression gegenüber Mitbürgern, der Lüge, des Diebstahls usw. im Allgemeinen respektiert werden. 103 Welche Ausnahmeregelungen mit dem Universalisierungsprinzip im Kriton legitimiert werden können, bleibt zu klären. Wie ist dieses Prinzip begründet? Die Gesetze Athens berufen sich in ihrem fiktiven Gespräch mit Sokrates auf eine Übereinkunft, die er mit ihnen getroffen habe: »Sokrates, ist nicht zwischen dir und uns vereinbart worden (hōmologēto), dass es in Rechtsfragen dabei bleibt, wie die Polis entscheidet?« (Kr. 50 c). Der Hinweis der Gesetze auf eine solche Übereinkunft ist allerdings in mehrfacher Hinsicht klärungsbedürftig. Die zitierte rhetorische Frage ist auf der Anwendungsebene des Universalisierungsprinzips verortet, was Anlass zu der Rückfrage gibt, inwiefern ihm Sokrates implizit bereits grundsätzlich zugestimmt hat, bevor es ihm von den Gesetzen explizit als
103 Der Diebstahl gehört insofern in diese Reihe, als in jeder arbeitsteiligen Gesellschaft die Institution des Eigentums im Sinne der Verfügungsgewalt über Gegenstände etabliert und geschützt werden muss, allerdings nicht notwendigerweise der Privatbesitz.
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ethischer Maßstab vor Augen geführt wurde. Zudem lässt sich der Begriff der Übereinkunft in einem weiten und einem engen Sinne verstehen. Die weite Bedeutung ergibt sich aus der Behauptung der Gesetze, dass ihnen jeder, der von der Möglichkeit auszuwandern nicht Gebrauch macht, »durch die Tat« Gehorsam »angelobt« habe (Kr. 51 e). Die enge Bedeutung kommt durch die Frage der Gesetze ins Spiel, ob Sokrates »Beschwerden« gegen sie vorbringen wolle – was er verneint (Kr. 50 d–e). Hiermit weisen sie ihn auf seine demokratischen Partizipationsrechte als Bürger Athens hin, so dass sich die Frage stellt, ob ihr ethisches Prinzip bei der Errichtung einer Tyrannei hinfällig würde – es könnte ethisch geboten sein, auf die Destabilisierung einer repressiven Gesellschaftsordnung hinzuwirken. Schließlich liegt der Einwand der Zirkularität in der Argumentation der Gesetze nahe. Da ihr Universalisierungsprinzip als Überprüfungsinstanz des Handelns der Bürger fungieren soll, muss die generelle Pflicht, Versprechen einzuhalten, in ihm fundiert werden – was insofern möglich ist, als die Funktionsfähigkeit arbeitsteiliger Gesellschaften daran gebunden ist, dass Zusagen nicht permanent gebrochen werden –; das Universalisierungsprinzip im Kriton kann dann aber nicht darin verankert werden, dass man zu »Verträgen und Übereinkünften« (synthēkas te kai homologias), stehen solle (Kr. 52 c–d), da die Pflicht, Zusagen einzuhalten, durch das Universalisierungsprinzip allererst begründet werden muss. Das Begründungs- wie auch das Anwendungsproblem dieses Prinzips können nur anhand der diskursiven Struktur des Kriton weiter expliziert werden, wobei der Text durch die Fragen, die seine immanente Interpretation offen lassen muss, über sich hinausweist. Der von Platon niedergeschriebene Dialog verknüpft zwei Diskursebenen miteinander: (1) Sokrates schildert in seinem Gespräch mit Kriton eine fiktive Unterredung mit den Gesetzen Athens; (2) der Rezipientenkreis der schriftlichen Fixierung des Dialogs erstreckt sich auf den gesamten griechischen Sprachraum, wenngleich das darin eingeführte ethische Prinzip auf die Polis der Dialogpartner bezogen ist. Kriton begründet seinen Appell, Sokrates solle die Gelegenheit zur Flucht ergreifen, mit dessen Verantwortung für seine Familie und gibt zugleich zu bedenken, dass im Fall seiner Hinrichtung seine Freunde um ihren »Ruf« fürchten müssten, da der Eindruck entstehen werde, sie seien zu geizig gewesen, um das Geld für den durchaus erfolgversprechenden Versuch der Bestechung der Gefängnis166 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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wärter aufzubringen (Kr. 44 b–c, 45 c–e). Sokrates leitet die Schilderung seines fiktiven Gesprächs mit den Gesetzen mit der Bemerkung ein, dass in der »gemeinschaftlichen Beratschlagung« (koinē boulē) über das (Ge-)Rechte, die er mit Kriton führen will, die Gesprächspartner ihre Meinungen wahrheitsgemäß vorbringen müssen und ihre Positionen nicht nach Gutdünken wechseln dürfen, d. h. konsistent argumentieren müssen (Kr. 49 c–e). Die geläufige Ansicht, dass Bestechung – weil sie nicht unüblich ist – statthaft und sogar geboten sein könne, um seine Angehörigen und Freunde oder einen selbst vor Nachteilen zu bewahren, ist in einem öffentlichen Diskurs aller Beteiligten nicht konsensfähig: Wer Bestechungsgelder annimmt, muss dies öffentlich leugnen, da es keine Institution hinnehmen kann, dass ihre Mitarbeiter deklarieren, sie setzten sich um des eigenen Vorteils willen über ihre Pflichten hinweg. Kriton kann dementsprechend nur einem vertrauten Kreis mitteilen, dass er die Gefängniswärter bestochen hat, muss dies jedoch bestreiten, wenn er öffentlich hierauf angesprochen wird. Die Praxis der Korruption geht demnach mit der beständigen Reproduktion der Doxa einher, d. h. einer Gemengelage von Vermutungen und Täuschungen. Sokrates betont in seiner Apologie, dass er »gewohnt« ist, »auch auf dem Markt zu reden« (17 c). Seine Feststellung im Kriton, er »gehorche« stets »dem Satze« (logos), der sich »bei der Untersuchung als der beste zeigt« (Kr. 46 b), bezieht sich somit auf Erörterungen, die in der Öffentlichkeit stattfinden bzw. publik gemacht werden können. Die Forderungen, die Sokrates an die Teilnehmer einer »gemeinschaftlichen Beratschlagung« stellt: die eigene Meinung authentisch zu äußern und konsistent zu argumentieren, bilden notwendige Bedingungen dafür, dass in einem solchen Diskurs die »Wahrheit« allgemeinverbindlich ermittelt werden kann (Kr. 48 a). Sokrates will durch öffentliche Untersuchungen ergründen, welche »von den Meinungen«, »die Menschen hegen«, man »hoch achten müsse« und welche nicht (Kr. 46 c–e). Obwohl außer Frage steht, dass die Praxis der Korruption in einem öffentlichen Diskurs verworfen werden muss, gelangt Sokrates erst durch sein fiktives Gespräch mit den Gesetzen Athens zu dem Schluss, dass sich der Rückgriff auf das Mittel der Bestechung auch in seiner spezifischen Situation verbietet. Indem er die Reflexion auf die impliziten Voraussetzungen einer »gemeinschaftlichen Beratschlagung«, die auf allgemeingültige Ergebnisse abzielt, mit der kritischen Überprüfung tradierter normativer Überzeugungen verbindet, wird er zum Urheber der »Institution des argu167 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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mentativen Diskurses« im engen, spezifischen Wortsinn als »MetaInstitution« faktischer Kommunikationsprozesse. 104 Der Anspruch des Kriton, zur Erkenntnis des »in Wahrheit« (Ge-)Rechten beizutragen (Kr. 48 a, d) – wodurch der Dialog für Leser außerhalb des zeitgenössischen Athen allererst von Interesse ist –, lässt sich nur dann aufrechterhalten, wenn das Universalisierungsprinzip, das dort in Ansatz gebracht wird, einen Kernaspekt enthält, der für alle Gesellschaften diesseits archaischer Stammesverbände relevant ist. Zugleich bleibt zu fragen, ob es einen intrinsischen Bezug zwischen diesem Kernaspekt und öffentlichen philosophischen Diskussionen gibt, wie sie Sokrates in paradigmatischer Weise führt. Die diskursive Struktur des Kriton lässt sich im Rekurs auf Habermas’ entwicklungslogische Argumentation in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« für die Klärung der aufgeworfenen Fragen fruchtbar machen. Indem Sokrates in sein Zwiegespräch mit Kriton eine fiktive Unterredung mit den Gesetzen und dem »Gemeinsamen« seiner Heimatstadt einflicht, worin die Entscheidungssituation des vertraulichen Zwiegesprächs kommentiert wird, bringt er den Blickwinkel einer »dritten Person« auf die aktuelle »Ich-DuBeziehung« in Ansatz, der sich – wenn auch mit charakteristischen Modifikationen gegenüber Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« – in eine Beobachter- und eine Teilnehmerperspektive differenzieren lässt. 105 Im Kriton kommt die systemische Erklärungsperspektive des theoretischen Beobachters dadurch ins Spiel, dass die Gesetze und das »Gemeinsame« einer staatlich organisierten Gesellschaft ein Universalisierungsprinzip vorbringen, dessen Orientierungspunkt die Stabilität und Funktionsfähigkeit dieser Gesellschaft bilden. Dies lässt sich als metaphorische Umschreibung der Tatsache lesen, dass in allen öffentlich etablierten sozialen Normenkodices und insbesondere in jeder Rechtsordnung kollektive Handlungsintentionen zum Ausdruck kommen, die implizit von einem solchen Universalisierungsprinzip geleitet sind. Hierin besteht dessen Kernaspekt. 106 Der Gesetzescharakter des Rechts schließt per se ein Universalisierungsprinzip ein: Jedes Gesetz muss der basalen Anforderung genügen, dass seine allgemeine Befolgung durch diejenigen, 104 Apel: »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie«, S. 87. 105 Vgl. Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 146. 106 Zur Rolle der Teilnehmerperspektive im Kriton s. u. S. 173.
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an die es sich richtet, zur Stabilität und Funktionsfähigkeit sozialer Ordnungsstrukturen beiträgt. Dasselbe gilt für gesellschaftliche Normierungen außerhalb des staatlichen Rechts, deren Respektierung öffentlich eingefordert wird. Die Feststellung, dass jede Gesellschaft, die nicht in die Anarchie abgleiten will, sozialer und rechtlicher Normen bedarf, deren allgemeine Befolgung ihre Funktionsfähigkeit sichert, ist, für sich genommen, eine Tautologie. Sie gewinnt aber in Hinblick auf die empirischen Sachverhalte, dass alle Menschen verletzliche und bedürftige Wesen sind, die Arbeitsteilung eine Eigentumsordnung verlangt, sprachliche Verständigung ohne ein Grundvertrauen unmöglich ist usw., einen konkreten Inhalt: Jede Gesellschaft muss dafür Sorge tragen, dass die Verbote der Gewalttätigkeit gegenüber Mitbürgern, des Diebstahls, der Lüge usw. in der Regel beachtet werden, und sie muss zugleich Ausnahmen von solchen generellen Normen in spezifischen Situationen zulassen. Eine solche systemfunktional notwendige Ausnahmeregelung ist z. B. das Gewaltmonopol des Staates in höher entwickelten arbeitsteiligen Gesellschaften. Durch den Kernaspekt des Universalisierungsprinzips im Kriton wird Sokrates’ Explikation des inneren Zusammenhangs des konventionellen Gerechtigkeits-Begriffs mit dem Recht, der im griechischen Wort »to dikaion« zum Ausdruck kommt, im I. Buch der Politeia erweitert und zugleich befestigt. Jede arbeitsteilige Gesellschaft muss den hemmungslosen Egoismus sanktionieren und dementsprechend von ihren Mitgliedern verlangen, Ausnahmen von den Verboten des Mordes, Diebstahls, der Lüge usw. mit Gründen zu rechtfertigen, die auf legitime Interessen anderer bzw. auf allgemein akzeptierte Normen Bezug nehmen. Solche gesellschaftlich anerkannten Ausnahmeregelungen sind teils kulturübergreifend (so muss es z. B. jede Gesellschaft – wenn sie nicht ihren Ruin riskieren will – für zulässig erklären, Gewalttäter, die sie schädigen wollen, zu belügen und zu verfolgen), teils kulturspezifisch, wobei Ermessensspielräume und Grauzonen auftreten. 107
107 Vom heutigen Standpunkt ist etwa die von Sokrates geteilte Auffassung, dass Schläge für die Disziplinierung von Kindern notwendig sind, mehr als zweifelhaft. Man könnte allerdings darüber diskutieren, ob ein rigoroses staatliches Verbot jeder physischen Sanktion nicht kontraproduktiv ist, da es zum verstärkten Einsatz psychischer Disziplinierungsmaßnahmen in der Erziehung verleiten kann und Kinder, die es gewohnt sind, sich mit Gleichaltrigen zu rangeln, eine physische Affekthand-
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In der Politeia macht Sokrates geltend, dass jeder sozial lebende Mensch den Interessen der Kooperationspartner, auf die er angewiesen ist, Rechnung tragen muss. Dieser enge Begriff sozialer Kooperation wird im Kriton – nicht terminologisch, aber der Sache nach – durch einen weiten ergänzt, der auf staatlich verfasste arbeitsteilige Gesellschaften im Ganzen gemünzt ist: Deren Mitglieder kooperieren in einem formalen Sinne miteinander, wenn sie die Aufgaben erfüllen, die sie freiwillig oder unter Zwang übernommen haben. Dieser weite Begriff der Kooperation wird im Kriton mit dem weiten Begriff der Übereinkunft zwischen den Gesetzen und dem »Gemeinsamen« der Polis und ihren Mitgliedern ins Spiel gebracht (s. o. S. 166). Wer die Gesellschaft, in der er lebt, nicht verlässt, erklärt »durch die Tat« seine Zustimmung zum Kernaspekt des Universalisierungsprinzips (Kr. 51 e): Niemand kann öffentlich deklarieren, er setze sich um des eigenen Vorteils willen über diejenigen Regeln hinweg, die allgemein befolgt werden müssen, wenn arbeitsteilige Gesellschaften funktionsfähig bleiben sollen. In diesem Sinne wird der konventionelle Gerechtigkeits-Begriff, den Sokrates im I. Buch der Politeia verteidigt, im Kriton mit den basalen Ordnungsstrukturen staatlich verfasster arbeitsteiliger Gesellschaften verklammert. Hiermit lässt sich der Verdacht zerstreuen, die Begründung des Universalisierungsprinzips im Kriton sei zirkulär (s. o. S. 166). Der Anspruch dieses Prinzips auf Allgemeingültigkeit wird nicht darin verankert, dass jeder zur Einhaltung von Übereinkünften und Versprechen verpflichtet sei (vgl. Kr. 54 c–d). Die Begründung des Universalisierungsprinzips setzt vielmehr bei der Tatsache an, dass jedes Mitglied höher entwickelter Gesellschaften dessen Kernaspekt in seinen öffentlichen Selbstbeschreibungen anerkennen muss, da es andernfalls die soziale Ächtung provoziert. Der weite Begriff der Übereinkunft im Kriton, der dieses unbestreitbare Faktum zum Ausdruck bringt, entspricht somit Habermas’ (und Apels) Begriff des lebensweltlichen Einverständnishandelns (s. o. S. 37 ff.). Der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips im Kriton gehört zum grundbegrifflichen Rahmen lebensweltlicher Verständigungsprozesse in allen staatlich verfassten Gesellschaften. Da dieser Kernaspekt im Kriton nicht für sich thematisiert, sondern nur implizit in Sokrates’ fiktivem Gespräch mit den Gesetzen lung der Erwachsenen u. U. eher wegstecken können als eine verbale Maßregelung oder missbilligendes Schweigen.
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und dem »Gemeinsamen« der athenischen Demokratie in Ansatz gebracht wird, stellt sich die Frage, ob es einen inneren Bezug zwischen dem Kernaspekt, der auch in einer Tyrannei realisiert sein muss, und der demokratischen Staatsform gibt. 108 Für die Klärung dieser Frage ist Habermas’ entwicklungslogische Argumentation in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« aufschlussreich. Beim Übergang von der präkonventionellen zur konventionellen Stufe bricht – wie Habermas gezeigt hat – die Differenz von strategischem und kommunikativem Handeln durch die Einführung der Beobachter- und der Teilnehmerperspektive der dritten Person auf (s. o. S. 149 f.). Die ontogenetische Wurzel des strategischen Handelns ist die Verfolgung eigener Wünsche mit manipulativen Mitteln. 109 Ein Kind ist hierzu befähigt, sobald es erkennt, dass es das Verhalten von Personen in ähnlicher Weise kausal beeinflussen kann wie die Beschaffenheit physischer Dinge. Hiermit baut sich die Beobachterperspektive auf, in der sich auf einem höheren Erkenntnisniveau die objektiven Erklärungen der Wissenschaften bewegen. In Sokrates’ Gespräch mit den Gesetzen und dem »Gemeinsamen« seiner Heimatstadt im Kriton wird in der systemfunktionalen Beobachterperspektive der dritten Person konstatiert, dass jedes Mitglied höher staatlich verfasster Gesellschaften »versprechen« (hōmologein), d. h. in seinen Selbstbeschreibungen explizit deklarieren oder implizit zu verstehen geben muss, dass es den Kernaspekt des Universalisierungsprinzips und damit zugleich den konventionellen Gerechtigkeits-Begriff respektiert (Kr. 50 a–b). Der auf Thrasymachos’ und Kallikles’ Rechtfertigung der Pleonexia gemünzte kritische Impetus des weiten Begriffs der Übereinkunft im Kriton bildet das Pendant zu Habermas’ Entgegensetzung des kommunikativen und des von Partikularinteressen geleiteten strategischen Handeln. Beim Übergang von der präkonventionellen zur konventionellen Stufe in der Ontogenese konstituiert sich die Teilnehmerperspektive der dritten Person durch die Einsicht, dass man sich sozial isoliert, wenn man die Normenkodices seines Umfelds offen missachtet. Der Heranwachsende steht damit vor der Wahl, entweder unter Einsatz von Täuschungen seine eigenen Interessen konsequent strategisch zu verfolgen oder sich dem kom108 Die Demokratiedefizite Athens – das Bürgerrecht wurde den Frauen und Sklaven vorenthalten, den Zugereisten (Metöken) nur in beschränktem Umfang gewährt – sollen zunächst außer Betracht bleiben. S. u. S. 177 f. 109 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 150 f.
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munikativen »Einverständnishandeln« seines Umfelds anzuschließen. Im Dialogverlauf des Kriton spiegelt sich der gattungsgeschichtliche Schritt von der präkonventionellen zur konventionellen Stufe wider, wobei zugleich der Übergang zur postkonventionellen angebahnt wird. 110 Der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips im Kriton ist ein integrales Moment des lebensweltlichen Einverständnishandelns auf der konventionellen Stufe. In der von Kriton geteilten Auffassung, es sei legitim, ja sogar geboten, sich über Rechtsnormen hinwegzusetzen, um Nahestehenden in Notlagen zu helfen, wirkt die präkonventionelle Vorstellungswelt archaischer Gemeinschaften nach: Auf dieser Stufe erstrecken sich Solidaritätspflichten primär auf Angehörige des eigenen Klans bzw. Stamms. 111 Kritons Einsatz für Sokrates’ Rettung verkörpert eine Mischform von strategischem und kommunikativem Handeln. Der kommunikative Aspekt besteht darin, dass Kriton Sokrates von der Legitimität der Flucht aus dem Gefängnis mit dem Hinweis auf Normierungen überzeugen will, denen in vertraulichen Gesprächen viele zustimmen. Zugleich handelt Kriton insofern strategisch, als die Praxis der Korruption, die er sich zunutze macht, den ökonomisch besser Gestellten in der Rechtssphäre und Staatsverwaltung Vorteile verschafft, die nicht öffentlich gerechtfertigt werden können. Man kann Kriton zwar nicht vorwerfen, rein egoistisch zu agieren – er will ja Sokrates einen Freundschaftsdienst erweisen –; in den Normierungen, von denen er geleitet ist, schlägt sich jedoch eine abgeschwächte Form der Pleonexia nieder. Wer sich als verlässliches Mitglied eines sozialen Netzwerks erweist, das seine Gruppensolidarität rechtlichen Vorschriften überordnet, kann in der Regel darauf zählen dass seine ›Kooperationspartner‹ ihre Einflussmöglichkeiten nutzen werden, falls er selbst in Not gerät. Da für Sokrates nichts über »Tugend und Gerechtigkeit« geht (Kr. 53 c), wäre er mit Kriton sicherlich nicht befreundet, wenn dieser die Praxis der Korruption insgesamt guthieße. Es liegt daher nahe, Kritons Appell, Sokrates solle mit Rücksicht auf seine Familie und seine Freunde fliehen, als Ausdruck einer Lebenshaltung zu interpretieren, der zufolge die ethischen Defizite der herrschenden gesell-
110 Der historische Ursprung von Staaten wird in Platons Protagoras erörtert. Dort wird – in mythologischer Einkleidung – die Etablierung des Rechts als normative Grundlage für den Zusammenschluss archaischer Familienverbände zu staatlich organisierten Gesellschaften dargestellt (322 a–d). 111 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 235 f.
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Das ethische Prinzip in Platons Kriton
schaftlichen Verhältnisse zu Handlungen ermächtigen, die man öffentlich abstreiten muss. Diese Deutung von Kritons Motivation wird dadurch gestützt, dass seine Lebenshaltung von Sokrates als repräsentativ für die »Meinung der Vielen« gewertet wird (Kr. 47 c): Nach allgemeiner Auffassung ist es verfehlt, in einer unvollkommenen Welt ethische Perfektion anzustreben. Sokrates setzt dem Erbe präkonventioneller Normierungen, auf das sich Kriton beruft, durch seinen fiktiven Dialog mit den Gesetzen Athens die Teilnehmerperspektive der dritten Person einer staatlich verfassten Gesellschaft, d. h. deren öffentlich deklariertes Einverständnishandeln, entgegen. In einem abgeschwächten Sinne bringt auch Kriton die Teilnehmerperspektive einer dritten Person ins Spiel. Der schlechte »Ruf«, in den er zu geraten droht, wenn der Eindruck entsteht, dass er »das Geld höher achte als die Freunde« (Kr. 44 c), entspringt aus unterschwellig tradierten Normierungen sozialer Netzwerke. Habermas schränkt in seiner Rekonstruktion des ontogenetischen Übergangs von der präkonventionellen zur konventionellen Stufe in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« den Begriff des strategischen Handelns auf die manipulative Umsetzung von »egozentrischen Nutzenkalküle[n]« ein und grenzt ihn dementsprechend von der »normengeleitete[n] Interaktion« ab.112 In Sokrates’ Auseinandersetzung mit dem Standpunkt Kritons stehen demgegenüber Normierungen zur Debatte, denen zufolge es zulässig ist, die Partikularinteressen von Gruppen bzw. sozialen Netzwerken mit Mitteln durchzusetzen, die nicht publik gemacht werden dürfen. Hierin besteht die gesellschaftlich relevante Form des strategischen Handelns. Der radikale Egoismus bleibt insofern marginal, als er sich dem unkalkulierbaren Risiko der sozialen Ächtung aussetzt. Angesichts der Wertschätzung, die Kriton Sokrates entgegenbringt, kann man davon ausgehen, dass er seine Mitwirkung an der Reproduktion der Doxa, die mit der Praxis der Korruption einhergeht, als notwendiges Übel betrachtet. Da in den Normierungen, an denen er sich orientiert, Gruppeninteressen zum Ausdruck kommen, die in der Öffentlichkeit verschleiert werden müssen, unterscheidet sich allerdings sein strategischer Umgang mit der Doxa in einem demokratischen Staat nur graduell von der Rolle der Doxa in einer Tyrannei, die Thrasymachos im Blick hat. Dass ein Tyrann darauf hof112
Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 144, 151.
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Die historische Genese normativer Geltung
fen kann, von einem signifikanten Anteil seiner Mitbürger »preiswürdig« genannt zu werden, sobald er seine Macht befestigt hat, wird von Thrasymachos damit erklärt, dass die allgemeine Empörung über gewöhnliche Räuber und Gewalttäter nicht konsequent auf staatliche Machthaber übertragen wird (Pol. 344 a–c). Will ein Tyrann keinen Volksaufstand provozieren, muss er den Eindruck vermitteln, dass er die Interessen von Bevölkerungsschichten außerhalb seines Führungszirkels im Auge behält. Während sich die »Einfältigen« hiervon täuschen lassen (Pol. 343 d), nehmen die Hellsichtigeren darin das Angebot wahr, Kollaborateure zu belohnen. Die Doxa in einer Tyrannei wie auch in einer Demokratie ist eine Mischung von naiven Irrtümern, bewussten Täuschungen, einem Rollenspiel, über dessen strategische Funktion man sich im vertrauten Kreis kommunikativ verständigen kann, und zweckdienlichen Selbsttäuschungen. Die von Habermas in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« beschriebene Ausweitung der Beobachterperspektive, die ein Kind »im wahrnehmend-manipulativen Umgang mit seiner physischen Umwelt erwirbt«, auf das Verhalten gegenüber anderen Menschen beim Übergang von der präkonventionellen zur konventionellen Stufe 113 findet in Platons Kriton und der Politeia insofern ein Pendant, als den erfolgreichen Formen der Pleonexia, d. h. des von Partikularinteressen geleiteten strategischen Handelns, die in der Adoleszenz erlernte Fähigkeit zugrunde liegt, das Spiel der Doxa mitzuspielen. Sokrates spricht seinem fiktiven Dialog mit den Gesetzen Athens exemplarische Bedeutung für die Überprüfung tradierter Meinungen über das (Ge)Rechte am Maßstab des »in Wahrheit« (Ge)Rechten zu (Kr. 46 c–e, 48 a–d). Er betont, dass ein Gespräch über normative Fragen nur dann zu konsensfähigen Ergebnissen führen kann, wenn man von gemeinsamen Voraussetzungen ausgeht (Kr. 49 d). Die basale Voraussetzung von Sokrates’ Gesprächsführung ist der Entschluss, sich ausschließlich an der Vernunft zu orientieren (Kr. 47 a, 48 c–d). Da Sokrates kein eigenes ethisches Wissen für sich beansprucht, sondern das wahrhaft (Ge)Rechte gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern ergründen will, vollzieht sich in seinen Dialogen der Übergang vom kommunikativen Handeln seiner Zeitgenossen zum Diskurs im engen, spezifischen Wortsinn, womit die postkonventionelle Ebene betreten wird, durch das – mit Habermas zu spre113
A. a. O., S. 150 f.
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chen – »Reflexivwerden der konventionellen Rollenstruktur«. 114 Während Habermas in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« in der »schöpferischen Reorganisation eines vorhandenen kognitiven Inventars« beim Schritt vom kommunikativen Handeln zum Diskurs den »moral point of view« unmittelbar verankert 115 – was er in Faktizität und Geltung revidiert –, wird im Kriton der gesuchte Maßstab des wahrhaft (Ge)Rechten durch Sokrates’ fiktives Gespräch mit den personifizierten öffentlichen und insbesondere rechtlichen Normierungen seiner Heimatstadt in Ansatz gebracht. Die Gesetze Athens machen die ethische Legitimität der Flucht, zu der Kriton Sokrates überreden will, davon abhängig, ob Sokrates berechtigte »Beschwerden« gegen sie vorzubringen hat, für die er unter den faktischen Verhältnissen der athenischen Demokratie kein Gehör fand (Kr. 50 d–e). Hiermit gehen die Gesetze über den Kernaspekt ihres Universalisierungsprinzips, der in jeder staatlich verfassten Gesellschaft realisiert sein muss, hinaus. Während der Orientierungspunkt des Kernaspekts in der Stabilität und Funktionsfähigkeit der vorgegebenen Gesellschaftsordnung besteht, werfen die Gesetze Athens nun die Frage nach deren ethischer Legitimität auf. Die Gesetze sind somit bereit, Sokrates’ Flucht aus dem Gefängnis als legitime Ausnahme von der generellen Forderung nach korrekter Umsetzung rechtlicher Vorschriften zu akzeptieren, wenn er hiermit ethisch inakzeptable Rechtsverhältnisse beschädigen will (vgl. Kr. 50 d). Solche Ausnahmeregelungen sind demnach erst recht im Kampf gegen eine Tyrannei zulässig. Sokrates gelangt zu dem Schluss, dass er Kritons Rettungsangebot ablehnen muss, weil er an der faktischen Rechtsordnung Athens nichts zu tadeln hat (Kr. 50 d– e). Der Versuch, sich einer Strafe, die in einem formal korrekten Gerichtsverfahren unter ethisch legitimen rechtlichen Rahmenbedingungen verhängt wurde, durch Bestechung zu entziehen, ist in einem vernunftgeleiteten Diskurs nicht konsensfähig (vgl. Kr. 53 b – 54 a). Kriton lässt am Ende des Dialogs Sokrates’ Bereitschaft, das Todesurteil hinzunehmen, gelten, da auch er keine grundsätzlichen Einwände gegen die Rechtsverhältnisse in seiner Heimatstadt hat. Demgegenüber vertritt Platon im 7. Brief den Standpunkt, dass sich der athenische Staat bereits zu Sokrates’ Lebzeiten in einem »fast heil-
114 115
Vgl. a. a. O., S. 142. A. a. O., S. 136, 142.
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Die historische Genese normativer Geltung
losen Zustande« befand (326 a). Wäre auch Sokrates dieser Auffassung gewesen, hätte er auf der Basis der Argumentation der Gesetze im Kriton die Flucht aus dem Gefängnis damit rechtfertigen können, dass er damit zum Umsturz des gegenwärtigen »schlechten Regimente[s]« beitragen wolle (vgl. Platon: 7. Brief, 325 a). Indem Sokrates im Kriton die Gesetze Athens in dem vernunftgeleiteten Diskurs, den er mit seinem Freund führen will, auftreten lässt, verknüpft er diese Diskursform mit der demokratischen Staatsverfassung. Als Grundbestimmung der Demokratie fungiert im Kriton der enge Begriff der Übereinkunft: Er meint die Bereitschaft der Bürger, bei der Gesetzgebung miteinander zu kooperieren (s. o. S. 166). Die Gesetze Athens konkretisieren ihre Frage, ob Sokrates etwas an ihnen auszusetzen hat, anhand der rechtlichen Bestimmungen über die Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen (Kr. 50 d–e). Der gesetzlichen Verpflichtung der Eltern und Erzieher, den Heranwachsenden die Qualifikationen zu vermitteln, die sie für eine berufliche Tätigkeit und die kompetente Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen benötigen, korrespondiert das Recht der nachfolgenden Generation auf ein selbständiges »Bürgerleben« (Kr. 52 c) nach der Volljährigkeit. Die kooperative Gestaltung des Gemeinwesens in einer Demokratie wird ausgehöhlt, wenn sich in den »Gesetzen über des Geborenen Auferziehung und Unterricht« (Kr. 50 d) Partikularinteressen – sei es auch der Bevölkerungsmehrheit – niederschlagen, durch die einzelne Gruppen bzw. Schichten diskriminiert werden. Sokrates gibt allerdings den Standpunkt der Gesetze Athens zustimmend wieder, dass soziale Hierarchien ethisch legitim sein können (Kr. 50 e – 51 a). Ein Sklave hat – so die athenischen Gesetze – nicht »gleiches Recht« wie sein Herr (ebd.). Dies führt auf die Frage, welche Rechtsnormen als Formen der Pleonexia, d. h. als illegitime Befestigung von Partikularinteressen, zu werten sind. Das Beurteilungskriterium hierfür bildet offensichtlich der gesuchte Begriff des wahrhaft (Ge)Rechten. Die Gesetze stellen Sokrates gleich im Anschluss an die Einführung ihres Universalisierungsprinzips die Frage, ob er an ihnen etwas zu tadeln hat. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass der Begriff des wahrhaft (Ge)Rechten dem Universalisierungsprinzip im Kriton in seiner vollen Bedeutung entnommen werden kann. Die explanatorische Funktion des Kernaspekts dieses Prinzips gibt in dem vernunftgeleiteten Diskurs, der durch seine Explikation eröffnet wird, einen Maßstab für die kritische Überprüfung tradierter Normierungen vor. 176 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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Mittels des Kernaspekts lässt sich die Tatsache erklären, dass die generellen Verbote des Mordes, Diebstahls, der Lüge usw. in die Normenkodices aller Gesellschaften eingegangen sind und mit Ausnahmeregelungen verknüpft werden, die in Bezug auf den Umgang mit Mitbürgern und Angehörigen anderer Staaten völlig unterschiedlicher Art sind: Im Krieg wird das Verhalten gegenüber den Gegnern von diesen Verboten in beträchtlichem Umfang ausgenommen (vgl. Kr. 51 b). Dass der Erklärungsperspektive, in der das Universalisierungsprinzip im Kriton eingeführt wird, ein Beurteilungskriterium für tradierte normative Überzeugungen entnommen werden kann, wird anhand der Auffassung Kritons deutlich, es sei legitim, legale Vorschriften den Solidaritätspflichten sozialer Netzwerke unterzuordnen: Diese Auffassung ist in einer öffentlichen Unterredung nicht zustimmungsfähig, da die Rechtsordnung zusammenbräche, wenn sie von allen geteilt würde. Der Schritt vom Kernaspekt des Universalisierungsprinzips zur kritischen Überprüfung öffentlicher und insbesondere rechtlicher Normierungen, den die Gesetze Athens mit ihrer Frage vollziehen, ob Sokrates Beschwerden gegen sie vorzubringen hat, lässt sich in der Weise rekonstruieren, dass die systemfunktionale Erklärungsperspektive des Kernaspekts ein normatives Beurteilungskriterium sozialer Hierarchien – einschließlich des Gewaltmonopols des Staates – vorzeichnet: in dem Sinne, dass Hierarchien nur insoweit legitim sind, als ihre Abschaffung in die Anarchie führt. Legt man diesen normativen Maßstab an Diktaturen an, können sie nur dann zu den »wohlgeordneten Staaten« gezählt werden, wenn sich zeigen lässt, dass in der gegenwärtigen Situation repressive Maßnahmen zur Abwendung von »Unordnung und Zuchtlosigkeit« unabdingbar sind (vgl. Kr. 52 e – 53 a, 53 d). Dies schließt die normative Verpflichtung der Führungsschicht ein, argumentative Diskurse mit Sachverständigen über die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu führen: mit dem Ziel, diese so umzugestalten, dass die Repression abgebaut werden kann. Sokrates’ uneingeschränkte Zustimmung zu den Gesetzen Athens zeigt, dass er die Sklaverei als notwendig ansah und die politische Ohnmacht der Frauen für selbstverständlich hielt. Hierin kommen Vorurteile zum Ausdruck, die noch in der Neuzeit wirksam waren. Die Sklaverei war ein Pfeiler der griechischen Wirtschaft, jedoch bereits in der Antike keine notwendige Bedingung der gesellschaftlichen Subsistenzsicherung. Der weitgehende Ausschluss der Frauen aus politischen Entscheidungsprozessen wurde bis ins 20. Jahrhun177 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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dert damit gerechtfertigt, dass Frauen aufgrund ihrer natürlichen Bestimmung für die Familie politisch inkompetent seien. Sokrates ist der Frage, welche sozialen Hierarchien funktional notwendig sind, nirgends ausdrücklich nachgegangen. Obwohl er ein entschiedener Anhänger der demokratischen Staatsform war, 116 hat er sie nicht näher erörtert. Platon kritisiert sie im VIII. Buch der Politeia mit dem Argument, sie verleite dazu, immer größere Freiheitsspielräume für sich zu beanspruchen, woraus die Gefahr der gesellschaftlichen Zerrüttung resultiere, so dass dem verunsicherten und aufgeputschten Volk die Errichtung einer Tyrannei als letzte Rettung erscheinen könne (Pol. 562 a – 566 e). Der Begriff des wahrhaft (Ge)Rechten im Kriton kann von seiner defizitären Konkretisierung abgelöst werden. Er verknüpft die Forderung, dass jeder seine Handlungsintentionen daraufhin prüfen soll, ob die Gesellschaft, der er angehört, stabil und funktionsfähig bliebe, wenn jeder andere genauso handelte wie er selbst, mit dem funktionalen Beurteilungskriterium sozialer Hierarchien und Machtverhältnisse. Demzufolge sind individuelle Handlungsorientierungen und soziale Normierungen dann ethisch legitim bzw. verpflichtend, wenn ihre allgemeine Befolgung zur Etablierung und Aufrechterhaltung einer Gesellschaftsordnung beiträgt, die Hierarchien nur in dem Maße zulässt, wie sie für ein geordnetes Zusammenleben unabdingbar sind, so dass ihnen jedes Mitglied der Gesellschaft zustimmen kann. Der Begriff des wahrhaft (Ge)Rechten im Kriton lässt sich insofern der postkonventionellen Stufe zuordnen, als er ein Unterscheidungskriterium von faktisch anerkannten und anerkennungswürdigen Normen bildet, das auf jede Gesellschaft anwendbar ist. 117 Das Universalisierungsprinzip des Kriton in seiner vollen Bedeutung, die diesen Begriff in sich birgt, ist wie Habermas’ Universalisierungsgrundsatz U 118 ein abstrakter Maßstab für die Bestimmung konkreter, situationsbezogener Normierungen in argumentativen Diskursen. Es unterscheidet sich dadurch von U, dass es (1) nicht die Interessen aller von einer Handlungsweise Betroffenen berücksichtigt, sondern Vgl. Diogenes Laërtius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg 1990. II. Buch, 5. Kap., S. 85. 117 Vgl. Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 137. 118 »Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können« (a. a. O., S. 131). 116 3
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nur diejenigen der Mitglieder einer partikularen Gesellschaft und (2) auf die Interessen der jeweiligen Mitbürger nicht unmittelbar Bezug nimmt, sondern eine allgemein zustimmungsfähige Gesellschaftsordnung als deren Koordinationsrahmen ins Spiel bringt. Während das Universalisierungsprinzip im Kriton ein materiales Handlungsziel einschließt, fungiert U bei Habermas als rein prozedurale Metanorm, der keine inhaltlichen Handlungsorientierungen entnommen werden: »Alle Inhalte, auch wenn sie noch so fundamentale Handlungsnormen betreffen, müssen« nach Habermas’ Verständnis »von realen oder (ersatzweise vorgenommenen, advokatorisch geführten) Diskursen abhängig gemacht werden«. 119 Die – für die antike Polis-Ethik repräsentative – Beschränkung des Universalisierungsprinzips im Kriton auf die Gesellschaft, der man angehört, wird mit dem Kosmopolis-Gedanken der Stoa aufgebrochen. Die ethische Orientierungsfunktion partikularer Gesellschaftsordnungen in der Polis-Ethik wird in der antiken kosmopolitischen Naturrechts-Tradition allerdings nur herabgestuft, nicht völlig aufgegeben. 120 Nur auf dieser Basis können sich die postkonventionelle Moralität und das moderne positive Recht in der Aufklärung aus dem Naturrecht ausdifferenzieren. Der Schritt von der Erklärungs-, d. h. Beobachterperspektive, in der der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips im Kriton eingeführt wird, zum funktionalen Beurteilungskriterium sozialer Hierarchien wird im Kriton nicht eigens begründet. Hiermit wird dem Rezipienten des Dialogs zu verstehen gegeben, dass sich dieser Schritt aus der fiktiven Rede der Gesetze unmittelbar ergibt. Sie steht metaphorisch für die Explikation der immanenten Konsequenzen der Übereinkunft, die alle Mitglieder einer staatlich verfassten Gesellschaft in ihren öffentlichen Selbstbeschreibungen miteinander treffen, in einem vernunftgeleiteten Diskurs. Da Sokrates kein eigenes Wissen für sich beansprucht, kann der Begriff des wahrhaft (Ge)Rechten im Kriton nur mittels der – mit Habermas zu sprechen – »schöpferischen Reorganisation eines vorhandenen kognitiven Inventars« durch das »Reflexivwerden der konventionellen Rollenstruktur« im Diskurs gewonnen werden. 121 Der im Kriton umstandsA. a. O., S. 133. Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 41970, S. 135–139 s. u. S. 193. 121 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 136, 142. 119 120
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los vollzogene Schritt vom Kernaspekt des Universalisierungsprinzips zu dessen voller Bedeutung, die der demokratischen Staatsform zugeordnet wird, ist in theoriearchitektonischer Hinsicht ein Pendant zu Habermas’ These in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, dass der Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs »eine Umformung der sozialkognitiven Ausstattung der konventionellen Stufe« in postkonventionelle Begriffe »erzwingt«. 122 Habermas’ Konzeption einer entwicklungslogischen Begründung diskursethischer Prinzipien in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« lässt sich auf den Kriton übertragen, da laut beiden Texten die Darstellung der – aus Fortschritten der sozialen Kognition resultierenden – Genese von Grundbegriffen der philosophischen Ethik unmittelbar geltungstheoretisch relevant ist. Dieser entwicklungslogische Begründungsanspruch kommt in beiden Texten in der spezifischen Verwendung des Begriffs der Wahrheit zum Ausdruck. Sokrates’ Vorhaben, das »in Wahrheit« (Ge)Rechte durch die diskursive Überprüfung tradierter Meinungen zu ermitteln, liegt auf derselben Linie wie Habermas’ These, dass der postkonventionelle Gerechtigkeits-Begriff die »Wahrheit« der präkonventionellen Vorstellungswelt wie auch des konventionellen Gerechtigkeits-Verständnisses in sich enthält: 123 Allgemeingültige ethische Prinzipien sollen jeweils durch die adäquate Explikation des grundbegrifflichen Rahmens lebensweltlicher Verständigungsprozesse gewonnen werden. Für die von Apels Selbsteinholungsprinzip geforderte Rekonstruktion der historischen Genese der diskursethischen Rationalitätsmaßstäbe kommt somit den sokratischen Dialogen nicht nur insofern eine Schlüsselrolle zu, als darin die »Begrifflichkeit« ansatzweise antizipiert wird, »deren wir uns heute bei der Rekonstruktion einer Entwicklungslogik bedienen können«, 124 im Kriton findet sich bereits eine entwicklungslogische Argumentationsfigur. Sokrates nimmt mit seinem Hinweis auf die Verpflichtungen, die jeder Teilnehmer eines argumentativen Diskurses anerkennen muss, wenn darin konsensfähige Ergebnisse erzielt werden sollen (Kr. 49 b–e, s. o. S. 167), den Begriff des Diskursapriori vorweg. 125 Die Einbettung des Univer-
A. a. O., S. 169. A. a. O., S. 179. S. o. S. 153 ff. 124 Apel: »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie«, S. 83. 125 Apel: A. a. O., S. 88. 122 123
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salisierungsprinzips im Kriton in Sokrates’ fiktives Gespräch mit den Gesetzen seiner Heimatstadt lässt sich unter Apels Theorem der dialektischen Verschränkung des Diskurs- mit dem Faktizitätsapriori subsumieren: Das lebensweltliche Einverständnishandeln, auf das sich der Begriff des Faktizitätsapriori bezieht – im Kriton kommt es durch den Kernaspekt des Universalisierungsprinzips ins Spiel –, nimmt erst durch seine philosophische Explikation den Charakter eines Apriori an, das eine geschichtliche Fortschrittsperspektive einschließt (s. o. S. 137 f.). Diese ist in den sokratischen Dialogen insofern angelegt, als die diskursive Überprüfung tradierter Normen und die Kritik der Doxa zur Veränderung der gesellschaftlichen Praxis beitragen sollen. Dass im Kriton der funktionalen Erklärungsperspektive des Kernaspekts des Universalisierungsprinzips ein normatives Beurteilungskriterium für die Abgrenzung »wohlgeordneter« von kritikwürdigen Gesellschaften unmittelbar entnommen wird (Kr. 52 e, 53 d), beruht auf der Voraussetzung, dass in einem vernunftgeleiteten Diskurs nur diejenigen Sozialordnungen allgemeine Zustimmung finden können, die eine kooperative Grundstruktur aufweisen: in dem Sinne, dass Hierarchien und Machtverhältnisse nur in dem Maße ausgebildet sind, wie es für die Abwendung der Anarchie unerlässlich ist. Indem Sokrates Thrasymachos und Kallikles entgegenhält, dass jeder soziale Akteur auf Kooperationspartner angewiesen ist, weist er darauf hin, dass die Koordination von Einzelinteressen ein integrales Moment des konventionellen Gerechtigkeits-Begriffs bildet. Der Gegensatz von Einzel- und Allgemeininteressen, wobei die letzteren als koordinierte Einzelinteressen verstanden werden, bildet den kategorialen Rahmen seiner Kritik an der Pleonexia in ihren unterschiedlichen Abstufungen und damit zugleich seines Verständnisses der Gerechtigkeit als des Gegenbegriffs zur Pleonexia. In dem Beispielfall der Räuberbande, den er in seiner Auseinandersetzung mit Thrasymachos als Metapher für die Führungsclique einer Tyrannei heranzieht (s. o. S. 162), fungiert zunächst das Gruppeninteresse der Räuber als Allgemeininteresse; in Bezug auf die Gesellschaft im Ganzen nimmt es wiederum den Charakter eines Einzel-, d. h. Partikularinteresses an. Sokrates hebt in seiner Stellungnahme zu Kritons Rettungsplan hervor, dass in jeder Gesellschaft diesseits archaischer Familienverbände ein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung einer Rechtsordnung besteht. Im Kriton wird aus der Tatsache, dass jede Gesellschaft mit dem Begriff des Allgemeininteresses operieren und 181 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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ihn in ihrem jeweiligen Gerechtigkeits-Verständnis implementieren muss, unmittelbar gefolgert, dass in einem vernunftgeleiteten Diskurs nur diejenigen Gesellschaftsformen allgemeine Zustimmung finden können, in denen die Allgemeininteressen ihrer Mitglieder in dem Maße realisiert sind, wie es die jeweiligen Lebensumstände zulassen – andernfalls werde die betreffende Gesellschaft als ungerecht betrachtet. Sokrates’ zentrales Argument gegen Thrasymachos – dass sich alle sozialen Akteure um Kooperationspartner bemühen müssen – könnte zu der Schlussfolgerung verleiten, er wolle den Begriff der Gerechtigkeit im ›wohlverstandenen Selbstinteresse‹ der Individuen fundieren. Ein solcher Schluss verbietet sich aber insofern, als man der Forderung, den Interessen seiner Mitmenschen tatsächlich Rechnung zu tragen, dies also nicht bloß vorzutäuschen, nicht mit dem Appell an das eigene Interesse Geltung verschaffen kann: Ein radikaler Egoist kann ja durchaus Erfolg haben, wenn er geschickt genug ist, seine wahren Absichten permanent zu verschleiern. Lässt sich mit den argumentativen Mitteln des Kriton zeigen, dass es ethisch illegitim ist, Partikularinteressen mit Hilfe trügerischen Scheins durchzusetzen? Hierfür reicht der Hinweis auf die Tatsache nicht aus, dass jeder soziale Akteur den Kernaspekt des Universalisierungsprinzips, somit auch das generelle Täuschungsverbot in seinen Selbstbeschreibungen zumindest implizit akzeptieren muss und Verstöße gegen dieses Verbot, die durch den Egoismus von Individuen oder Gruppen motiviert sind, sanktioniert werden müssen, sobald sie aufgedeckt werden, wenn die Gesellschaft ihre Funktionsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen will. Mit dieser Tatsachenfeststellung ist die »quid juris?«-Frage nicht beantwortet, ob es eine normative Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit im Sinne eines – mit Habermas zu sprechen – »präskriptiven ›Muss‹« gibt. 126 Die Rede der Gesetze in Platons Kriton enthält einen schwer deutbaren Einschub, mit dem die normative Unzulässigkeit von Handlungen, die nicht allgemein zustimmungsfähig sind, aufgewiesen werden soll (Kr. 50 e – 51 b–c): Die Gesetze machen geltend, dass Sokrates ihr »Abkömmling« ist, da sie seine Erziehung angeleitet haben; hieraus folgern sie, er sei in dem Sinne ihr »Knecht«, dass er der Polis gehorchen müsse, wenn es ihm nicht gelingt, sie von seiner eigenen Ansicht darüber, »was eigentlich (ge)recht sei«, zu überzeugen (Kr. 50 e, 51 c). Die Gesetze repräsen126
Vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 18.
182 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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tieren an dieser Stelle die athenische Demokratie: Die Alternative ›erfolgreiche Überzeugungsarbeit oder Gehorsam‹, vor die sie Sokrates stellen, passt nicht auf Diktaturen, da diese öffentliche politische Diskussionen verbieten. Die Schlussfolgerung der Gesetze, Sokrates sei als ihr Abkömmling zugleich ihr Knecht, ist insofern als Einschub zu werten, als sie einen ganz anderen Tenor hat als ihre zentrale Argumentationslinie, die bei der »Übereinkunft« zwischen einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern ansetzt. Mit dem Hinweis auf eine solche Übereinkunft geben die Gesetze zu verstehen, dass alle Menschen, die das Zusammenleben dem Alleinsein vorziehen, ein gemeinsames Interesse an der Aufrechterhaltung funktionsfähiger Sozialstrukturen haben. Das Verständnis der Gesellschaft als einer Interessengemeinschaft schlägt sich in der Rede der Gesetze darin nieder, dass sie die Übereinkunft mit den Bürgern als einen Vertrag kennzeichnen und es Sokrates frei stellen, ihn durch Auswanderung zu ›kündigen‹ (Kr. 52 d–e). Demgegenüber schließt die Charakterisierung der Bürger als Knechte des »Vaterland[s]« (Kr. 50 e – 51 a) eine mit unbedingtem Anspruch vorgetragene normative Forderung ein, die aus einer Seins-Aussage – dass sich die spezifisch menschlichen Vermögen nur in der Gemeinschaft ausbilden können – abgeleitet wird. Gegen diesen Einschub in der Rede der Gesetze lassen sich zwei kritische Vorbehalte vorbringen: (1) Da jeder sozial lebende Mensch ein »Abkömmling« der Gemeinschaft ist, in der er aufgewachsen ist, ist nicht einzusehen, dass der von den Gesetzen umstandslos vollzogene Schluss, die Abkömmlinge des Vaterlands seien seine Knechte, nur für Bürger demokratischer Staaten gelten soll. Wendet man diesen Schluss auf diejenigen an, die in einer Tyrannei sozialisiert wurden, müsste man von ihnen verlangen, die bestehenden Verhältnisse hinzunehmen, da sie nicht durch argumentative Überzeugungsarbeit verändert werden können. Eine solche Applikation der Schlussfolgerung der Gesetze auf Diktaturen steht jedoch in Widerspruch dazu, dass die Gesetze mit ihrer Anfrage an Sokrates, ob er Beschwerden gegen sie vorzubringen hat, den Widerstand gegen eine Tyrannei implizit für zulässig erklären. Da im Kriton ein Argument für die Einschränkung der fraglichen Schlussfolgerung auf Demokratien fehlt, führt der Einschub zu einer Unstimmigkeit in der Rede der Gesetze. (2) Angesichts der Diskrepanz zwischen Sokrates’ uneingeschränktem Einverständnis mit der Rechtsordnung Athens im Kriton 183 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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und der scharfen Kritik, die der Autor Platon im 7. Brief an ihr übt (s. o. S. 175), stellt sich die Frage, ob Sokrates’ Zustimmung zu seiner Apostrophierung als eines Knechts der Gesetze auf das idealisierte Athen gemünzt ist, das in seinem fiktiven Diskurs mit ihnen anvisiert wird, oder auf das reale Athen, in dem sein Todesurteil damit gerechtfertigt wurde, dass er »die Götter, welche die Polis annimmt, nicht annehme«, und »die Jugend verderbe« (Apologie 24 b–c). Diese Frage lässt sich nicht stringent beantworten. Da Sokrates im Kriton seinem fiktiven Gespräch mit den Gesetzen das methodische Bekenntnis zur Vernunft als der Instanz der Wahrheitsfindung vorausschickt, lässt sich die Forderung der Gesetze, Sokrates solle in dem Fall, dass er mit einer Entscheidung der Polis nicht einverstanden ist, sie davon zu »überzeugen, was eigentlich (ge)recht ist« (Kr. 48 c–d, 51 b–c), dahingehend interpretieren, dass dies in einem rationalen Diskurs geschehen soll. Sokrates’ Ankläger werfen ihm jedoch vor, er »frevle« gerade dadurch, dass er auch an die überlieferte Religion rationale Maßstäbe anlegt (Apologie 18 b, 24 b). Er wendet im Dialog Euthyphron, der unmittelbar vor seinem Gerichtsprozess spielt, gegen die tradierte religiöse Überzeugung, dass man die Gunst der Götter durch Gebete und Opfer erwerben müsse, ein, eine so verstandene »Frömmigkeit« laufe auf eine Geschäftsbeziehung (emporikē´, wörtl.: »Großhandel«) zwischen Menschen und Göttern hinaus (14 e). Wer daran glaubt, dass der Mensch göttlichen Beistands bedarf, um elementare Bedrohungen abwenden zu können, muss Sokrates’ Kritik am herkömmlichen Verständnis von Gebet und Opfer als eine Missachtung der Götter werten, die ihren Zorn heraufbeschwöre, so dass sich ein Staat, in dem diese Kritik Anklang findet, selbst ins Unglück stürze. Sokrates hält demgegenüber die Anklage, er sei gottlos, für einen Vorwand. Er führt sie auf die Weigerung eines signifikanten Anteils seiner Mitbürger zurück, sich der Einsicht zu stellen, die der aporetische Verlauf seiner Dialoge vermittelt: dass es keinem seiner Gesprächspartner gelingt, sein Handeln im Rekurs auf ethische Prinzipien stimmig zu begründen, womit sich der verbreitete Anspruch auf eine ethisch korrekte Lebensweise als fragwürdig erweist (vgl. Apologie 17 a – 23 a). Sokrates sieht somit in dem Vorhaben, ihn durch einen Gerichtsprozess zum Schweigen zu bringen, eine Selbstimmunisierung der Doxa gegen das kritische Potential vernunftgeleiteter Diskurse. Er betont in seinem Gespräch mit Kriton, dass diejenigen, die sich nicht auf eine gemeinsame Diskussionsbasis verständigen können, »notwendig einander gering achten« müssen, 184 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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»wenn einer des anderen Entschließungen sieht« (Kr. 49 d). Ein solcher Dissens bricht in Sokrates’ Gerichtsprozess auf. Für seine Ankläger gibt die tradierte Religion den Maßstab des wahrhaft (Ge)Rechten vor. Sokrates unterstreicht demgegenüber mit seinem Vorwurf, seine Ankläger seien Heuchler (Apologie 17 a–b), seine Kritik am herkömmlichen Verständnis gottesfürchtigen Verhaltens als einer Form der Doxa: der Verschleierung eines interessegeleiteten Kalküls. In seinem Gerichtsprozess beharrt er auf seinem Kernanliegen, die geläufigen Auffassungen über Recht und Unrecht in vernunftgeleiteten Diskursen kritisch zu überprüfen (Apologie 29 c – 30 a). Er agiert also nicht als »Knecht« der realen Gesetze Athens, die Vorbehalte gegen die Staatsreligion unter Strafe stellen. Der vernunftgeleitete Diskurs, auf den er insistiert, ist gerade nicht die Kommunikationsform, in der seine Richter davon überzeugt werden können, dass er zu Unrecht angeklagt wurde. Das fiktive Gespräch mit den Gesetzen Athens im Kriton ist demgegenüber ein rein rationaler Diskurs. Die Interpretationshypothese, dass die Behauptung der Gesetze, Sokrates sei ihr Knecht, auf das reale Athen gemünzt ist, lässt sich daher nicht mit seiner Apologie in Einklang bringen. Gegen die alternative Auffassung, dass ein ideales Athen gemeint ist, dessen Gesetzgebung auf der Vernunft beruht, lässt sich wiederum einwenden, dass Sokrates in einem solchen Staat nicht angeklagt worden wäre, so dass es keinen Anlass für das fiktive Gespräch im Kriton gegeben hätte. Zudem wird in einem idealen Gemeinwesen, das mit Sokrates’ ethischen Prinzipien in Einklang steht, die Rede von seiner Knechtschaft der Bürger zu einer Leerformel. Dem Einschub in der Rede der Gesetze lässt sich demnach kein stimmiges Resultat entnehmen – und insbesondere keine schlüssige Begründung der Auffassung, dass es normativ unzulässig ist, Partikularinteressen mit betrügerischen Mitteln durchzusetzen. Platon hat die Begründungsfigur des Einschubs – die Ableitung normativer Verpflichtungen aus Seins-Aussagen – im IV. Buch der Politeia zu einer metaphysischen Idee der Gerechtigkeit ausgestaltet und hierin die Herrschaftsform eines »naturgemäß eingerichteten« Staates verankert (Pol. 428 e, 432 b – 435 a). Diese Konzeption beruht auf der Prämisse einer Strukturparallele zwischen den Vermögen der menschlichen Seele – der Vernunft, den sinnlichen Begierden und dem »Mut« (thymos) als der Entscheidungsinstanz bei widerstreitenden Handlungsimpulsen – und der Ständeordnung eines solchen Staates: Platon betrachtet die Philosophen als die berufenen Reprä185 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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sentanten der Vernunft; dem begehrenden Seelenteil ordnet er die Berufsgruppen zu, die mit der Sicherung unseres Lebensunterhalts befasst sind, und den »Mut« den Soldaten, die das Machtpotential für die Entscheidung inner- und zwischenstaatlicher Konflikte innehaben (Pol. 428 a – 429 a, 433 a – 444 a). Platon sieht die Grundbestimmung der Gerechtigkeit darin, dass jeder »das Seinige« tut; er konkretisiert dies in Hinblick auf die Staatsordnung dahingehend, dass die einzelnen Stände das Ihrige »in Absicht auf Herrschen und Beherrschtwerden« verrichten sollen (Pol. 433 b – 434 d, 443 b). Im Leben jedes Einzelnen ist eine Steuerung sinnlicher Antriebe durch die Vernunft unverzichtbar: Jedem Triebimpuls ungehemmt nachzugeben, hätte chaotische Folgen. Platon folgert dementsprechend aus der Analogie, die er zwischen Seelenvermögen und gesellschaftlichen Ständen herstellt, dass in einem »naturgemäß eingerichteten« Staat die Philosophen regieren und die Soldaten ihre Entscheidungen durchsetzen. Platons metaphysische Fundierung normativer Verpflichtungen in der Seins-Aussage, dass soziale Klassenunterschiede naturgegeben sind, in der Politeia kommt in seiner Bestimmung der Ungerechtigkeit als »naturwidriges« und damit verwerfliches »Herrschen und Beherrschtwerden« formelhaft zum Ausdruck (Pol. 444 d). Diese Gerechtigkeits-Konzeption lässt sich als Antwort auf die im Kriton ungelöste Frage interpretieren, ob bzw. wie ethische Normen mit unbedingtem Anspruch begründet werden können. Platon distanziert sich mit der metaphysischen Staatstheorie der Politeia von Sokrates’ Rekurs auf eine gesellschaftliche Übereinkunft, der gemeinsame Interessen zugrunde liegen. Hiermit wendet er sich retrospektiv gegen die im Kriton implizit formulierte Auffassung, dass nur die funktionale Rechtfertigung sozialer Hierarchien in einem vernunftgeleiteten Diskurs Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen kann. Aus der nachmetaphysischen Perspektive der Diskursethik stellt sich die Staatstheorie der Politeia allerdings als ein »Rückfall« hinter das »im Sokratischen Dialog zumindest angelegte Prinzip« dar, »die gerechte Ordnung der Gesellschaft auf Verfahren der Konsensbildung zwischen den Beteiligten zu gründen«. 127 Die bereits im Kriton zu konstatierende Spannung zwischen dem Rekurs auf die gemeinsamen Interessen sozialer Akteure und
127 Apel: »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie«, S. 89, 92.
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Das ethische Prinzip in Platons Kriton
einer metaphysischen Begründungsfigur durchzieht die kosmopolitische Naturrechts-Tradition und führt dort zu theoriearchitektonischen Brüchen (s. u. Abschnitte 5–6). Einen Ausweg eröffnet erst die Diskursethik, die die kommunikative Vernunft an die Stelle der metaphysischen setzt (Abschnitt 7). Im Folgenden soll die Transformation des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton, das aufgrund seiner Beschränkung auf den eigenen Staat über sich hinausweist, im antiken Kosmopolis-Gedanken mit dem Fokus auf Cicero und der Menschenrechts-Konzeption Lockes in der Perspektive von Apels Selbsteinholungsprinzip rekonstruiert werden. Hierbei soll die Fortbildung des sokratischen Ansatzes, in der sich eine normative Entwicklungslogik niederschlägt, von den metaphysischen Zügen der Naturrechts-Tradition abgegrenzt werden. Dieser – mit Apel zu sprechen – intern-hermeneutische Zugang muss mit einem extern-erklärenden verknüpft werden: 128 Die normative Entwicklungslogik ist mit den historischen Wandlungen der materiellen Lebensumstände verschränkt; zugleich lassen sich Vorurteile in den Naturrechts-Theorien Ciceros und Lockes auf systemische Interessen zeitgenössischer Gesellschaften zurückführen (s. u. S. 193 ff., 198 f., 213 f.). Im Schlussabschnitt (7) wird der entwicklungslogische Ertrag der folgenden Ausführungen für die Diskursethik systematisch zusammengefasst. Hierbei müssen die offenen Fragen geklärt werden, die sich bei der Interpretation von Platons Kriton stellen: (1) ob bzw. wie unter nachmetaphysischen Bedingungen die Durchsetzung von Partikularinteressen normativ kritisiert werden kann, (2) was vom philosophischen Standpunkt aus auf die religiöse Behauptung, über die maßgeblichen Normierungen unseres Lebens könne nicht in rein rationalen Diskursen entschieden werden, zu erwidern ist, (3) ob der im Kriton intendierte aber nicht zureichend begründete Überschritt vom Kernaspekt des Universalisierungsprinzips zur demokratischen Staatsform mit diskursethischen Mitteln stringent rekonstruiert werden kann.
128 Apel: »Das Selbsteinholungsprinzip der kritisch-rekonstruktiven Geisteswissenschaften«, S. 30. S. o. S. 59 f.
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5.
Ciceros Naturrechts-Konzeption
Für die Rezeption der kosmopolitischen Naturrechts-Konzeption der Stoa spielt aufgrund des Verlustes des Großteils der Originaltexte Ciceros insbesondere sein Dialog De legibus bereits in der Spätantike eine Schlüsselrolle. 129 Er ordnet die Stoiker, die er die »größten Gelehrten« nennt, 130 in einen Traditionszusammenhang ein, der von Sokrates und Platon initiiert wurde. Cicero bezeichnet Sokrates als den Begründer der philosophischen Ethik und Platon als den »bedeutendste[n] aller Philosophen«. 131 Seine Erörterung des »Ursprung[s] der Gesetze und des Rechts« 132 beruht auf einer Verknüpfung sokratischer, platonischer und stoischer Ansätze. Laut De legibus besteht die »Richtschnur für Recht und Unrecht« in einem »höchsten Gesetz«, welches mit der »höchste[n] Vernunft« identisch sei und daher »im Geist des Menschen ihren festen Platz hat«. 133 »Wer dieses Gesetz nicht kennt, ist« – so Cicero – »ungerecht«. 134 Er knüpft mit seiner Zielsetzung, den »Ursprung des Rechts vom Gesetz herzuleiten«, explizit an die Stoa an, 135 grenzt sich jedoch vom stoischen Verständnis ethischer Pflichten mit der These ab, dass Sokrates zurecht denjenigen verwünscht habe, »der als erster die Nützlichkeit (utilitas) vom Recht getrennt hatte«. 136 Cicero greift mit der Bestimmung des Staates, die er im Dialog De re publica Scipio d. J. vortragen lässt, den sokratischen Grundbegriff der Übereinkunft der Mitglieder einer Gesellschaft auf der Basis gemeinsamer Interessen auf: »der Staat ist Sache des Volkes; Volk aber ist nicht jede be129 Vgl. Stoicorum veterum fragmenta. Hrsg. von Johannes von Arnim. Bd. III. Leipzig 1903. S. 76–85; Gerard Watson: »The Natural Law and Stoicism«. In: Problems in Stoicism. Hrsg. von A. A. Long. London/Atlantic Highlands 1971. S. 216–238, hier: 217 f. 130 Cicero: De legibus. Paradoxa Stoicorum. Lat.-dt. Hrsg., übers. und erl. von Rainer Nickel. München/Zürich 32004. I. Buch, § 18, S. 23. Vgl. hierzu die Anm. von R. Nickel, a. a. O., S. 250. 131 Cicero: De re publica. Lat.-dt. Übers. und hrsg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2013. III. Buch, § 5, S. 169; De legibus, II, 14, S. 85. 132 Cicero: De legibus, I, 16, S. 21. 133 A. a. O., I, 18, S. 23/25. 134 A. a. O., I, 42, S. 47. 135 A. a. O., I, 18, S. 23/25. Vgl. Andrew Dyck: A Commentary on Cicero. De Legibus. Ann Arbor 2004. S. 108 f. 136 Cicero: De legibus, I, 33, S. 38 f. Zum Pflichtbegriff der Stoa, der in Gegenwendung zu Nützlichkeitserwägungen formuliert wird, vgl. Max Pohlenz: Die Stoa, S. 132 ff.
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Ciceros Naturrechts-Konzeption
liebige Ansammlung von Menschen, sondern der Zusammenschluss einer Menge, die einvernehmlich (consensu) eine Rechtsgemeinschaft bildet und durch gemeinsamen Nutzen verbunden ist.« 137 Cicero betont allerdings, dass die Gerechtigkeit nicht ausschließlich in der Nützlichkeit verankert werden kann: Sie würde in diesem Fall »durch eben jene Nützlichkeit« wiederum »zunichte gemacht«. 138 Es gibt nach Cicero »überhaupt keine Gerechtigkeit, wenn sie nicht von Natur aus vorhanden ist«. 139 Er will mit seinem Begriff der ›natürlichen Gerechtigkeit‹, der sokratische, platonische und stoische Züge in sich vereint, die notwendige, aber nicht hinreichende Fundierungsfunktion der Nützlichkeit für das Recht aufweisen. Der Bezug dieses Begriffs der Gerechtigkeit zu dem der gesellschaftlichen Übereinkunft in Sokrates’ fiktivem Gespräch mit den Gesetzen Athens im Kriton tritt anhand von Ciceros Charakterisierung des radikalen Egoisten zutage: Dieser verstoße gegen das grundlegende Gesetz, »dem die menschliche Gemeinschaft verpflichtet« sei, so dass er »im Dunklen« agieren müsse, wenn er der Bestrafung entgehen will. 140 Die »Weisungen« dieses »höchsten Gesetzes«, dessen Missachtung gleichbedeutend mit »ungerecht[em]« Handeln sei – als Beispiel führt Cicero einen Raubmord an –, müssten von jeder »Bürgerschaft« respektiert und durch Sanktionen abgesichert werden, da sie andernfalls nicht auf Dauer »bestehen« könne. 141 Das »höchste Gesetz« schließt somit ethische Grundregeln (wie das generelle Verbot des Mordes, Diebstahls, Betrugs usw.) ein, die in jeder Rechtsordnung festgeschrieben werden müssen. Cicero greift hiermit den Kernaspekt des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton auf, der dort mit dem weiten Begriff der gesellschaftlichen Übereinkunft verknüpft ist (s. o. S. 165 f.). Cicero verankert das »höchste Gesetz«, das mit der »richtige[n] Vernunft im Bereich des Befehlens und Verbietens« zusammenfalle, 142 in der Natur: »Das, was ich Recht nenne, ist […] von Natur aus vorhanden«. 143 Sein Naturbegriff hat stoische
Cicero: De re publica, I, 39, S. 54 f. Zum argumentativen Status dieser Definition s. u. S. 196. 138 Cicero: De legibus, I, 42, S. 49. 139 Ebd. 140 A. a. O., I, 41–42, S. 47. 141 Ebd.; A. a. O., III, 2, S. 151. 142 A. a. O., I, 42, S. 47. 143 A. a. O., I, 33, S. 39. 137
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Die historische Genese normativer Geltung
Wurzeln: Die Stoa setzt den Logos in dem Sinne mit der Physis gleich, dass er als das gestaltende Prinzip des Urstoffs die Naturordnung hervorbringe. 144 In analoger Weise ist die Steuerung der Handlungsimpulse der Individuen durch die »richtige Vernunft im Bereich des Befehlens und Verbietens« für ein geordnetes Zusammenleben unabdingbar – und in diesem Sinne gleichsam naturnotwendig. Der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton geht somit in Ciceros Begriff der ›natürlichen Gerechtigkeit‹ ein. Analog zu Platons Kriton, wo aus dem explanativen Zug dieses Kernaspekts ein normatives Beurteilungskriterium für Herrschaftsverhältnisse gewonnen wird – hierin besteht der Schritt vom weiten zum engen Begriff der gesellschaftlichen Übereinkunft –, überträgt Cicero den Begriff des Allgemeininteresses, der für seine Definition des Staatsvolks zentral ist, auf dessen interne Struktur: Die »Leitung« des Staates müsse »ständig auf die Ursache bezogen sein«, die ihn »hervorgebracht hat«. 145 Cicero rechtfertigt soziale Hierarchien allerdings nicht konsequent funktional und äußert Vorbehalte gegen die Demokratie. Die Forderung nach »Gleichheit« der Bürger enthält in seinen Augen »ein Element der Ungerechtigkeit, da sie keine Rangabstufungen kennt«. 146 Er schließt sich hiermit Platons Auffassung in der Politeia an, dass es eine natürliche soziale Rangordnung gebe, in der sich die Hierarchie der Seelenvermögen widerspiegele: Den vernunftgeleiteten »Besten« sei »von Natur die Herrschaft gegeben zum größten Nutzen der Schwachen«, die dazu angeleitet werden müssten, ihre Begierden im Zaum zu halten. 147 Laut De re publica vereinigt die optimale Staatsform aristokratische, demokratische und monarchische Elemente in sich. 148 Als Paradigma wird die römische Republik angeführt: 149 Der Senat wurde von den Patriziern dominiert; die Plebejer konnten durch die Volkstribunen politischen Einfluss nehmen; in Notzeiten wurden einem Diktator monarchische Befugnisse übertragen.
Pohlenz: Die Stoa, S. 67 f. Cicero: De re publica, I, 41, S. 57. 146 A. a. O., I, 43, S. 59. 147 A. a. O., III, 36, S. 203. Platons Kritik an der Demokratie, die der Zügellosigkeit Vorschub leiste und daher in die Tyrannei umzukippen drohe (Pol. 562c–564b), wird in De re publica ausführlich zitiert (a. a. O., I, 66, 87/89). 148 A. a. O., I, 46, S. 61; II, 41, S. 131. 149 A. a. O., II, 1, S. 95/97. 144 145
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Ciceros Naturrechts-Konzeption
In Ciceros Verständnis der »Wurzeln des Rechts« 150 tritt zum sokratischen Grundbegriff der in gemeinsamen Interessen fundierten gesellschaftlichen Übereinkunft eine metaphysische Begründung ethischer Normen hinzu. Cicero knüpft hiermit an den Einschub in der Rede der Gesetze in Platons Kriton (s. o. S. 182 f.) und die Staatstheorie der Politeia an. Er verankert in der Seins-Aussage, dass es eine »natürliche Gemeinschaft« unter den Menschen gibt – in dem Sinne, dass die spezifisch menschlichen Vermögen nur durch die Sozialisation ausgebildet werden können –, unmittelbar ethische »Pflichten« und bringt dies auf die Formel, »dass wir Menschen zur Gerechtigkeit geboren sind«. 151 Mit seiner Zustimmung zur Auffassung Platons in der Politeia, dass die berufenen Repräsentanten der Vernunft herrschen sollen, nimmt er dessen metaphysische Gerechtigkeits-Idee in seinen eigenen Begriff der ›natürlichen Gerechtigkeit‹ auf. 152 Während in Platons Kriton der enge Begriff der gesellschaftlichen Übereinkunft der Demokratie zugeordnet ist (s. o. S. 166), folgert Cicero aus seiner These, die Herrschaft der »Besten« nütze den »Schwachen«, dass ein vernunftgeleitetes Staatsvolk die Mischverfassung einvernehmlich präferiert, die in De re publica ins Auge gefasst wird. Cicero will durch die Verknüpfung seines Rekurses auf den sokratischen Begriff der gesellschaftlichen Übereinkunft mit einer metaphysischen Ethik-Begründung offensichtlich das Problem lösen, das sich aus seiner ambivalenten Bestimmung des Verhältnisses von Nützlichkeit und Recht ergibt: Auf der einen Seite beruht laut seiner Definition des Staatsvolks eine konsensfähige Rechtsordnung auf dem gemeinsamen Nutzen der Bürger, auf der anderen Seite betont er, dass die Gerechtigkeit zunichte gemacht wird, wenn man ausschließlich Nützlichkeitserwägungen folgt. Das ethische Begründungsproblem, das sich hieraus ergibt, lässt sich anhand seiner Charakterisierung eines radikalen Egoisten, der »nur klug und nicht rechtschaffen« ist und erfolgreich »im Dunklen« agiert, konkretisieren. 153 Dessen spezifische Klugheit besteht darin, dass er den natürlichen Antrieb jedes Menschen, eigene Interessen durchzusetzen, geschickt und konsequent auslebt und sich durch gesellschaftliche oder religiöse Autoritäten hiervon nicht abbringen lässt. Er verkörpert so150 151 152 153
Cicero: De legibus, I, 20, 25/27. A. a. O., I, 16, S. 21; I, 28, S. 35. Vgl. a. a. O., I, 18, S 23/25. A. a. O., I, 41, S. 45/47.
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Die historische Genese normativer Geltung
mit die strategische Rationalität in Reinform. Die ethischen Regeln, die Ciceros Begriff des höchsten Gesetzes in sich befasst, haben zwar auch in seinem Geist ihren »festen Platz« 154 – er ist sich ja dessen bewusst, dass die Gesellschaft sein Handeln sanktionieren muss, sobald es offen zutage liegt –, er gesteht diesen Regeln jedoch keine normative Verbindlichkeit zu. Kann man ihn argumentativ davon überzeugen, dass er seine Lebenshaltung ändern soll? Ciceros Definition des Staatsvolks bildet hierfür keine ausreichende Basis. In der Perspektive der strategischen Rationalität stellt sich der »Konsens« einer Rechtsgemeinschaft, die »durch gemeinsamen Nutzen verbunden ist«, 155 als das Ergebnis von Nützlichkeitserwägungen dar, d. h. der Einsicht, dass unsere Lebenschancen in einer rechtlich abgesicherten Gesellschaftsordnung größer sind als in der völligen Isolation oder in archaischen Kleingruppen, die sich gegen gewalttätige Übergriffe alleine zur Wehr setzen müssen. Die Auffassung, dass das Recht in individuellen Nutzenkalkülen fundiert ist, macht die Gerechtigkeit aber insofern »zunichte«, als man niemanden durch den Appell an sein Selbstinteresse dazu motivieren kann, sich tatsächlich und nicht bloß vermeintlich für Allgemeininteressen einzusetzen. Wenn »alles an seinem Nutzen zu messen ist, dann wird jeder die Gesetze missachten und brechen«, sobald »ihm dieses Verhalten Gewinn bringen« kann und er keine »Zeugen« und »Richter« fürchten muss. 156 Die für einen glaubwürdigen Konsens über das Recht erforderliche »Unparteilichkeit« und »Verlässlichkeit« der Akteure lässt sich also nicht »auf Nützlichkeitserwägungen zurückführen«. 157 Cicero folgert hieraus, dass man den radikalen Egoisten von der ethischen Unzulässigkeit seines Handelns nicht überzeugen kann, wenn man spezifische Klugheit als einzige Gestalt der Rationalität akzeptiert. Um ihn auf den »richtigen Weg« zu führen, müsse man ihm die Augen für die – metaphysisch verstandene – »vollkommene Vernunft« öffnen, die die »Tugend« unmittelbar in der »Natur des Menschen« verankert. 158 Cicero benennt mit seiner Feststellung, dass eine Gerechtigkeit, die allein »auf der Nützlichkeit beruht«, »durch eben jene Nützlich-
154 155 156 157 158
Vgl. a. a. O., I, 18, S. 23. Cicero: De re publica, I, 39, S. 54 f. Cicero: De legibus, I, 41–42, S. 47/49. Cicero: De re publica, III, 38, S. 205. Cicero: De legibus, I, 18, S. 23; I, 41, S. 47; I, 45, S. 51.
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Ciceros Naturrechts-Konzeption
keit zunichte gemacht« wird, das zentrale Begründungsproblem einer philosophischen Ethik sokratischer Provenienz, deren kategorialer Rahmen die Entgegensetzung von Partikularinteressen und konsensuell ermittelter Allgemeininteressen bildet. Er hält es für unmöglich, innerhalb dieses kategorialen Rahmens das rein strategische Handeln als normativ illegitim zu erweisen. Dies wird daran deutlich, dass er als entscheidendes Argument gegen den radikalen Egoismus die metaphysische These anführt, dass »wir Menschen zur Gerechtigkeit geboren sind«. 159 Cicero bettet den stoischen Kosmopolis-Gedanken in sein Programm einer Synthese des sokratischen Begriffs der gesellschaftlichen Übereinkunft mit einer metaphysischen Ethik-Begründung ein. Der Kosmopolis-Gedanke besagt, dass man zum »Bürger der ganzen Welt« wird, »die als eine einzige Stadt erscheint«, wenn man »die Wurzeln des Rechts in der Natur« erkennt. 160 Cicero verknüpft diesen Gedanken in De legibus mit einer weltgeschichtlichen Fortschrittsperspektive. Er vertritt die These, dass sich die menschliche »Natur […] von sich aus weiterentwickelt« und die »Vernunft« kontinuierlich »stärkt«, »wobei sie von den Gegebenheiten ausgeht« und diese »zur Vollendung« bringe. 161 Zu Beginn von De legibus gibt Cicero der Erwartung seines Freundes Atticus Recht, dass die nachfolgenden Erörterungen an das Staatsverständnis von De re publica anknüpfen. 162 Die Existenz von Einzelstaaten gehört zu den »Gegebenheiten«, an denen die unterstellte natürliche Teleologie der Vernunft festgemacht ist. Ethische Normierungen, deren Bezugsrahmen partikulare Gemeinschaften bilden, erweisen sich als unzulänglich, sobald verschiedene Staaten bzw. Völker Verträge abschließen, um Handelsbeziehungen abzusichern, Streitigkeiten beizulegen usw. Für die Rekonstruktion von Ciceros – ohne nähere Begründung eingeführtem – Theorem einer weltgeschichtlichen Teleologie der Vernunft ist die Anbindung der Definition des Staatsvolks in De re publica an Platons Kriton in doppeltem Sinne aufschlussreich: (1) An Sokrates’ Stellungnahme zum Krieg im Kriton tritt in exemplarischer Weise ein fundamentales Defizit nicht nur der klassi159 160 161 162
A. a. O., I, 28, S. 35. A. a. O., I, 20, 25/27; I, 60, S. 67. Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 135 f. A. a. O., I, 27, S. 33. A. a. O., I, 15, S. 21.
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Die historische Genese normativer Geltung
schen griechischen Polis-Ethik, sondern aller partikularen sozialen Normenkodices zutage. Nach Sokrates sind die Polis-Bürger verpflichtet, Kriegsdienst zu leisten, wenn die Staatsführung dies verlangt, wobei er zwischen Verteidigungs- und Angriffskriegen nicht unterscheidet (Krit. 51 b). Dies ist für Normenkodices, die an partikulare Gemeinschaften adressiert sind, repräsentativ: Sie stellen die gewalttätige Aggression gegen Angehörige des eigenen Staates, Volkes oder Religionsverbands und gegen Fremde nicht auf dieselbe Stufe. Wenn verschiedene Staaten bzw. Volksgemeinschaften Verträge abschließen, müssen sie sich jedoch dazu bereit erklären, auf militärische Gewalt zu verzichten, sofern die andere Seite nicht vertragsbrüchig wird. Hiermit verpflichten sie sich – zumindest in ihren Selbstbeschreibungen – auf eine gemeinsame normative Basis. Cicero öffnet in De re publica seine Bestimmung des Staatsvolks für zwischenstaatliche Rechtsverhältnisse, indem er verlangt, dass Kriege nur zur Selbstverteidigung oder aufgrund von Bündnisverpflichtungen geführt werden. 163 (2) Für die Frage nach dem normativen Fundament von Verträgen zwischen verschiedenen Staaten kommt Platons Kriton trotz der Beschränkung seines Blickwinkels auf die eigene Polis eine Schlüsselrolle zu. Der Kernaspekt seines Universalisierungsprinzips bildet eine – wenn auch rudimentäre – ethische Verständigungsbasis aller sozial lebenden Menschen. Cicero kann nur auf dieser Grundlage »ein einziges, ewiges, unveränderliches Gesetz« postulieren, das »alle Völker […] zusammenhalten« könne: 164 Dieses Gesetz weitet den Bezugsrahmen des Universalisierungsprinzips im Kriton auf die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern aus. Die Verträge, die diese abschließen, lassen sich unter den Begriff der in gemeinsamen Interessen fundierten Übereinkunft subsumieren, den Cicero vom platonischen Sokrates übernimmt. Wenn Verträgen ausschließlich Nutzenkalküle zugrunde liegen, bleibt allerdings – da sie gekündigt oder gebrochen werden können – das Problem der »Rechtssicherheit« (fides) stets virulent. 165 Daher kann sich die Ausweitung des Universalisierungsprinzips des Kriton nicht darin erschöpfen, seiner ursprünglichen Fassung die Forderung hinzuzufügen, die eigenen Handlungsintentionen stets daraufhin zu prüfen, ob vertraglich ge163 164 165
Cicero: De re publica, III, 34, S. 201. A. a. O., III, 33, S. 201. A. a. O., II, 34, S. 108 f.
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Ciceros Naturrechts-Konzeption
regelte Beziehungen zu bestimmten anderen Staaten oder Völkern aufrecht erhalten werden können, wenn alle so handeln wie man selbst: Verträge, die lediglich den Interessen der Vertragspartner dienen, verlieren ihre bindende Kraft, wenn sich die Interessenkonstellationen ändern. Cicero formuliert innerhalb des kategorialen Rahmens der sokratischen Ethik einen Lösungsansatz für dieses Problem, der allerdings, für sich genommen, unzureichend bleibt. Mit der Feststellung, dass die »Natur« die Vernunft stärkt, indem sie »von den Gegebenheiten ausgeht« und diese »weiterentwickelt«, 166 stellt er einen Zusammenhang zwischen den Nützlichkeitserwägungen, die faktisch ein zentrales Motiv für den Abschluss von Verträgen zwischen Staaten oder Völkern bilden, und der sokratischen Kernforderung nach Konsistenz normativer Selbstbeschreibungen her. 167 Durch die Ausweitung der generellen ethischen Regeln, die der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton in sich befasst, auf das Verhalten gegenüber den Angehörigen der Staaten oder Völker, mit denen man Verträge abgeschlossen hat, erhöht sich die Kohärenz sozialer Normenkodices, da die Beschränkung ihres Geltungsbereichs auf partikulare Gesellschaften mit deren systemfunktionalem Interesse an ihrer Selbstbehauptung erklärbar ist – was Cicero dadurch zum Ausdruck bringt, dass er den »gemeinsamen Nutzen« in die Definition des Staatsvolks in De re publica aufnimmt – und normative Forderungen nicht rein funktional begründet werden können. In der historischen Situation, die durch den Abschluss von Verträgen zwischen Staaten oder Völkern geschaffen wird, kann die Forderung nach Konsistenz normativer Selbstbeschreibungen letztlich nur durch die kosmopolitische Dezentrierung des Kernaspekts des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton eingelöst werden. Ob die Vertragspartner verlässlich sind oder rein strategisch handeln – im letzteren Fall haben die Verträge, die sie abschließen, einen prekären Status –, lässt sich daraus erschließen, ob sie grundsätzlich bereit sind, ihre Beziehungen zu allen anderen Staaten und Völkern vertraglich zu regeln, ohne hierbei die Vertragsbedingungen durch die Androhung oder den Einsatz militärischer Gewalt zu diktieren. Wenn ein Staat gegenüber anderen Staaten oder Völkern, mit denen er bislang keine A. a. O., I, 27, S. 33. Die Vernunft verlangt – wie Cicero im Anschluss an Sokrates konstatiert – »Folgerichtiges« (a. a. O., I, 45, S. 51). 166 167
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Die historische Genese normativer Geltung
Verträge abgeschlossen hat, bedenkenlos Gewalt anwendet, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass er die bestehenden Verträge nur aufgrund von strategischen Nutzenkalkülen einhält – und dementsprechend nur solange, wie ihm dies Vorteile bringt. Cicero erklärt es in De legibus zu einem Gebot der »Natur«, »das Recht miteinander zu teilen« und es auch »allen anderen zu gewähren«. 168 Aus der Anbindung der Naturrechts-Konzeption in De legibus an das Staatsverständnis von De de publica geht hervor, dass es bei Cicero keine »Dichotomie zwischen natürlichem und positivem Recht« gibt: 169 Das Naturrecht in Ciceros Sinne verwirklicht sich in einer kosmopolitischen Teleologie des positiven Rechts. Diese Teleologie schließt eine innerstaatliche Rationalisierung des Rechts ein. Ihr Ziel wird durch die Definition des Staatsvolks in De re publica benannt. Mit dieser Definition wird im Ausgang von der Tatsachenfeststellung, dass jeder Mensch, der der Gesellschaft nicht den Rücken kehren will, an ihrem Fortbestand interessiert ist (was dem weiten Begriff der Übereinkunft in Platons Kriton entspricht), der normative Anspruch an das Recht formuliert, die Interessen jedes Bürgers zu berücksichtigen. Das Gegenbild hierzu ist die Tyrannei. 170 Während Sokrates’ fiktives Gespräch mit den Gesetzen Athens im Kriton von der Überzeugung getragen ist, dass sich der entwicklungslogische Schritt vom weiten zum engem Begriff der gesellschaftlichen Übereinkunft aus dem Entschluss zu rein rationaler Argumentation unmittelbar ergibt (s. o. S. 181 f.), stellt Cicero in De legibus einen intrinsischen Bezug zwischen der historischen Evolution der »vollkommene[n] Erscheinungsform eines Staates« im Sinne von De re publica und der rechtlichen Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen her: Er charakterisiert die Teleologie des Naturrechts als eine fortschreitende Zivilisierung der Völker. 171 Das Scharnier zwischen der inner- und zwischenstaatlichen Rationalisierung des Rechts bildet das sokratische Konsistenzkriterium: Auf der einen Seite können zwischenstaatliche Verträge nur dann als verlässlich gelten, wenn die Vertragspartner zur kosmopolitischen Dezentrierung des Kernaspekts des im Kriton formulierten Universalisierungsprinzips, der in ihren jeweiligen Rechtsordnungen implementiert ist, bereit sind; 168 169 170 171
A. a. O., I, 34, S. 37. Dyck: A Commentary on Cicero’s De legibus, S. 103. Cicero: De re publica, III, 43, S. 213. Vgl. De legibus, I, 42, S. 47. Cicero: De legibus, II, 23. S. 97; II, 35, S. 111.
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Ciceros Naturrechts-Konzeption
auf der anderen Seite gibt die Verständigung vertragsschließender Staaten über ihre gemeinsamen Interessen einen Maßstab für die kritische Überprüfung des innerstaatlichen Rechts vor, sofern man sich die sokratische Konsistenzforderung zu eigen macht: Dieser Maßstab besteht im Begriff des Allgemeininteresses im Sinne der koordinierten Einzelinteressen der sozialen Akteure. Im kategorialen Rahmen der sokratischen Ethik gelangt man allerdings über Bedingungsverhältnisse nicht hinaus: Wenn die Verträge, die Staaten oder Völker miteinander abschließen, verlässlich sein sollen, müssen diese alle anderen als potentielle Vertragspartner anerkennen; wenn ihr normatives Selbstverständnis konsistent sein soll, müssen ihre inneren Rechtsverhältnisse in derselben Weise wie ihre Verträge untereinander den Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen. Cicero fundiert den unbedingten Anspruch seiner Naturrechts-Konzeption, der mit sokratischen Mitteln nicht einlösbar ist, im metaphysischen Zug seiner Gleichsetzung von Natur und Vernunft, wobei er diese personalisiert: Das »wahre und ursprüngliche Gesetz, das geeignet ist zu befehlen und zu verbieten«, ist – so Cicero – »die richtige Vernunft des Jupiter, des höchsten Gottes.« 172 Cicero gibt mit seiner – aus der Stoa übernommenen – These, nichts sei »göttlicher als die Vernunft«, zu verstehen, dass die religiöse Wendung seiner Naturrechts-Konzeption auf eine Rationalisierung tradierter Glaubensinhalte abzielt. 173 Er kritisiert dementsprechend archaische Religionsformen; in De re publica werden als abschreckendes Beispiel Menschenopfer genannt. 174 Die von Cicero angestrebte Synthese des sokratischen Grundbegriffs der gesellschaftlichen Übereinkunft, die aus gemeinsamen Interessen entspringt, mit einer metaphysischen Ethik-Begründung bleibt allerdings zweideutig, letztlich inkonsistent. 175 Wenn die metaphysisch verstandene »höchste Vernunft« von uns verlangt, die Gerechtigkeit »um ihrer selbst willen« zu verwirklichen, 176 muss der Verständigung sozialer Akteure über ihren »gemeinsamen Nutzen« die normative Begründungsfunktion aberkannt werden, die ihr Cice-
172 173 174 175 176
A. a. O., II, 10, S. 81. A. a. O., I, 22, S. 27. Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 132 f., 135. Cicero: De re publica, III, 15, S. 181. Vgl. Dyck: A Commentary on Cicero’s De legibus, S. 269. Cicero: De legibus, I, 18, S. 23; I, 48, S. 53.
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Die historische Genese normativer Geltung
ro mit seiner Bestimmung des Staatsvolks in De re publica – zumindest implizit – zuspricht. Darüber hinaus läuft Ciceros Zuordnung der metaphysischen Vernunft zum höchsten Gott der griechisch-römischen Religion seinem Anspruch zuwider, das »Wesen des Rechts« aus dem »Wesen des Menschen her[zu]leiten« und hiermit eine universale Verständigungsbasis aller Menschen aufzuweisen. 177 Er lässt zeitgenössische Religionsformen außer Betracht, die nicht auf die Stufe irrationaler Barbarei gestellt werden können und im Römischen Reich, dessen Handelsbeziehungen bis nach Indien und China reichten, bekannt waren. Dies geht damit einher, dass die Anbindung seiner Naturrechts-Konzeption an die Staatstheorie von De re publica einen politischen Zug enthält, der weder aus der Polis-Ethik noch dem Kosmopolis-Gedanken der Stoa hergeleitet werden kann. Cicero lässt in De re publica den Lobpreis der republikanischen Verfassung Roms als einer gelungenen Verbindung demokratischer, aristokratischer und monarchischer Elemente einen Feldherrn und Politiker vortragen, der durch die endgültige Niederwerfung von ›Erbfeinden‹ des Römischen Reiches dessen Hegemonieanspruch befestigt hat. Dieser bildet den realpolitischen Hintergrund von Ciceros Aussage in De legibus – er tritt dort selber als Gesprächspartner auf –, seine Explikation des Naturrechts ziele darauf ab, »für alle zivilisierten Völker Gesetze« zu schaffen. 178 Da er die römische Republik als die fortgeschrittenste zeitgenössische Staatsform ansieht, kann er die Expansion des Römischen Reiches, das den kriegerischen Auseinandersetzungen der unterworfenen Völker ein Ende setzte, indem es sich diese einverleibte, als wegweisenden Beitrag zur Teleologie des positiven Rechts werten und damit naturrechtlich legitimieren. Aus dem Gesichtspunkt von Apels Selbsteinholungsprinzip stellt sich Ciceros Naturrechts-Konzeption somit ambivalent dar. Auf der einen Seite markiert dessen kosmopolitische Ausweitung des Kernaspekts des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton einen entwicklungslogischen Fortschritt: Staaten und Völker, die Verträge abschließen, müssen aus ihren partikularen Normenkodices einen Kernbereich herausheben, der sie verbindet. In dem Maße, wie sie die Konsistenz normativer Selbstbeschreibungen anstreben, geht
177 178
A. a. O., I, 17, S. 23; vgl. I, 16, 21. A. a. O., II, 35, S. 111.
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Ciceros Naturrechts-Konzeption
die vertragliche Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen mit der innerstaatlichen Rationalisierung des Rechts einher. Dieser entwicklungslogische Fortschritt ist mit den ökonomischen Lebensbedingungen verzahnt und damit ein integrales Moment der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen: Den Anstoß zu Vertragsschlüssen zwischen Staaten und Völkern gaben der Fernhandel und das Interesse an der Eindämmung kriegerischer Auseinandersetzung, die häufig, wenn nicht in der Regel, aus Ressourcenkonflikten entspringen. Auf der anderen Seite lassen sich in der internhermeneutischen Perspektive des Apel’schen Selbsteinholungsprinzips zwei Einwände gegen Ciceros Naturrechts-Verständnis vorbringen, wobei in der extern-erklärenden Perspektive ein systemfunktionales Motiv für das Vorurteil angegeben werden kann, auf das der zweite Einwand zielt: (1) Platons metaphysischer »Rückfall« (Apel) im Hauptteil der Politeia hinter Sokrates’ Rekurs auf die impliziten Voraussetzungen der argumentativen Konsensbildung sozialer Akteure gewinnt durch Cicero bestimmenden Einfluss auf die Naturrechts-Tradition. (2) Die Anbindung von Ciceros Naturrechts-Konzeption in De legibus an das Staatsverständnis in De re publica schließt das Vorurteil ein, dass die Expansion des Römischen Reiches der Königsweg zur Realisierung des Naturrechts ist. Der politische Einfluss, den die stoische Naturrechts-Lehre im Römischen Reich seit der Zementierung seines Hegemonieanspruchs um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., gewann, lässt sich systemfunktional erklären: Die rechtliche Regelung der Integration unterworfener Völker in den römischen Staatsverband und dessen Vertragsschlüsse mit Bündnispartnern bedurften eines normativen Rahmens, auf den sich Angehörige unterschiedlicher Kulturen einigen konnten: Ihn stellte das stoische Naturrecht bereit. 179 Seine systemstabilisierende Funktion für den Vielvölkerstaat, zu dem sich das Römische Reich entwickelt hatte, kommt bei Cicero dadurch zum Ausdruck, dass er dessen Weltmachts-Anspruch naturrechtlich untermauert.
179
Watson: »The Natural Law and Stoicism«, S. 224 f.
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Die historische Genese normativer Geltung
6.
Naturrecht und Staat bei Locke
Locke knüpft in seinen Essays on the Law of Nature (1663/64) an den metaphysischen Zug der Naturrechts-Tradition in der von Cicero maßgeblich beeinflussten Gestalt an. 180 Er bezeichnet das »Gesetz der Natur« als eine »feste und ewige Regel der Sitten«, die »aus seiner angeborenen Verfassung entspringt«. 181 Aus der Seins-Aussage, dass »alle Menschen vernünftige Wesen sind«, zieht er den Schluss, dass alle »dieses Gesetz befolgen müssen«. 182 Als den Urheber des Naturrechts sieht Locke in allen seinen Schriften den Schöpfergott an, dessen Existenz er im Essay concerning Human Understanding (1689) zu beweisen versucht. 183 Zu diesem metaphysischen Argumentationsansatz steht allerdings Lockes Zustimmung zur Auffassung Hobbes’, dass unser Handeln in erster Linie durch Lebensinteressen motiviert ist, in einem Spannungsverhältnis. 184 Locke ist es nicht gelungen, diese beiden heterogenen Ansätze zu einer stimmigen Theorie zu verknüpfen (s. u. S. 210 f.). Die Begründungsdefizite seiner Menschenrechts- und Staatskonzeption motivieren den Versuch ihrer diskursethischen Reformulierung (s. u. S. 220, 235). Locke führt den Menschenrechts-Begriff in seinem ethisch-politischen Hauptwerk, dem Second Treatise of Government (1689), mit seiner Beschreibung des »Zustand[s]« ein, in dem sich die Menschen »von Natur aus befinden«: »Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.
180 Vgl. Walter Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke. Frankfurt a. M. 1979. S. 30, 37 f. 181 John Locke: Essays on the Law of Nature. The Latin Text with a Translation, Annotation and Notes. Hrsg. v. W. von Leyden. Oxford 1954. S. 198. 182 Ebd. 183 Locke: An Essay concerning Human Understanding, Book III, Chap. X; Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 45–51, 173. 184 Im Nachlass-Manuskript »Of Ethic in General« schreibt Locke, dass der Mensch »von Natur aus dem folgt, was ihm Lust verschafft, und das flieht, was Schmerz verursacht« (zitiert nach Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 188). Vgl. die Einleitung des Hrsg. in Locke: Two Treatises of Government. A Critical Edition. Hrsg. v. Peter Laslett. Cambridge 1960. S. 82.
200 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Naturrecht und Staat bei Locke
Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer: Nichts ist einleuchtender, als dass Geschöpfe von gleicher Gattung und gleichem Rang, die ohne Unterschied zum Genuss derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch derselben Fähigkeiten geboren sind, ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollen, es sei denn, ihr Herr und Meister würde durch eine deutliche Willensäußerung den einen über den anderen stellen.« 185
Lockes Begriff des Naturzustands ist doppeldeutig: Er meint auf der »quid facti?«-Ebene die Lebensverhältnisse vor der Staatsgründung, 186 auf der »quid juris?«-Ebene die ›Natur‹ des Menschen als Ursprung normativer Verpflichtungen im Sinne der traditionellen Naturrechts-Lehre. 187 Unter »Freiheit« versteht Locke im obigen Zitat das Vermögen, Handlungsziele nach eigenem Ermessen zu verfolgen; von basaler Bedeutung ist hierbei die Befriedigung vitaler Interessen. 188 Ein »Zustand vollkommener Freiheit« bestand vor der Staatsgründung in der Hinsicht, dass die Individuen ihre Familienbzw. Stammesverbände jederzeit verlassen und sich damit vom »Willen eines anderen« unabhängig machen konnten. Auf dieser archaischen Stufe herrschte eine größere Gleichheit als in späteren Zeiten, da sich signifikante Besitzunterschiede erst durch die Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung und die Tauschwirtschaft herausbildeten und die Machtmittel gesellschaftlicher Führungspersönlichkeiten und -schichten durch die Errichtung des staatlichen Gewaltmonopols erheblich erweitert wurden. 189 Auf der »quid juris?«-Ebene besteht die natürliche Gleichheit aller Menschen in ihrer prinzipiellen Gleichberechtigung. Das Gesetz der Natur verlangt nach Locke, niemanden bei der Verfolgung der eigenen Interessen zu »benachteiligen«, die eigenen Freiheitsspielräume also nur so weit auszuschöpfen, dass alle anderen im selben Maße über »ihren Besitz und ihre Persönlichkeit« verfügen können. 190
Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung. Aus dem Engl. von Hans Jörn Hoffmann. Kommentar von Ludwig Siep. Frankfurt a. M. 22013. § 4, S. 13. 186 A. a. O., §§ 123 f., S. 103 f. 187 »Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet.« (A. a. O., § 6, S. 14). 188 A. a. O., § 6, S. 14 f. 189 A. a. O., § 93, S. 7 f.; § 107 f., S. 90–92; § 111, S. 94. 190 A. a. O., § 4, S. 13; § 7, S. 15. 185
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Die historische Genese normativer Geltung
Die Verfügungsgewalt über die eigene Persönlichkeit und die Gegenstände, die einem gehören, macht nach Locke das grundlegende Menschenrecht auf »Eigentum« (property) aus: Es gliedert sich in die Rechte auf »Leben«, »Freiheit« und (Sachen-)»Besitz« (estate). 191 Die Formulierung im oben wiedergegebenen Zitat aus § 4 des Second Treatise, dass im Naturzustand »alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind«, besagt auf der »quid facti?«-Ebene, dass jeder Mensch vor der Staatsgründung Selbstjustiz üben kann; auf der »quid juris?«-Ebene kommt darin die These zum Ausdruck, dass jeder eine naturrechtliche Strafbefugnis hat, d. h. dazu berechtigt ist, die »Übertreter« des »natürlichen Gesetzes« in einem »Maße zu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzung zu verhindern«. 192 Nach Locke wäre das Naturrecht »nichtig« (in vain), wenn diejenigen, die es befolgen, dabei stehen blieben, selber Leben, Freiheit und Besitz ihrer Mitmenschen zu respektieren. 193 Das »Gesetz der Natur« wird nach seinem Verständnis vielmehr erst dadurch »vollstreckt« (execute), dass seine Verletzung geahndet wird. 194 Das Naturrecht in Lockes Sinne enthält demnach einen funktionalen Aspekt: Es zielt auf den »Frieden und die Erhaltung der ganzen Menschheit« ab. 195 Der innere Zusammenhang zwischen Lockes MenschenrechtsBegriff und der naturrechtlichen Strafbefugnis, die er annimmt, erschließt sich auf dem Hintergrund von Ciceros kosmopolitischer Erweiterung des Kernaspekts des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton. Wer dem »Gesetz der Natur« zuwiderhandelt, »lockert und zerreißt« – so Locke – das »Band« zwischen den Menschen, an dem »Frieden« und »Sicherheit« befestigt sind, indem er »erklärt, nach A. a. O., § 87, S. 53. Locke: Two Treatises of Government, S. 341.- Locke verwendet den Begriff der Freiheit somit einerseits als Oberbegriff für die genannten Grundrechte, andererseits schränkt er ihn mit der Trias »Leben, Freiheit, Besitz« auf die Verfügungsgewalt über die eigene Persönlichkeit ein und grenzt davon die Verfügungsgewalt über Sachen ab.- Der Ausdruck »Menschenrechte«, den Locke selber noch nicht benutzt, kann insofern auf sein Naturrechts-Verständnis appliziert werden, als dieses der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen der Französischen Revolution (1789) zugrunde liegt. Vgl. den Artikel »Rechte des Menschen, Menschenrechte« von G. Birtsch im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 8. Basel 1992. Sp. 244. 192 Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 7, S. 15. 193 A. a. O., § 7, S. 15; vgl. Locke: Two Treatises of Government, S. 289. 194 Ebd. 195 Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 7, S 15. 191
202 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Naturrecht und Staat bei Locke
einer anderen Vorschrift (Rule) als der der Vernunft und allgemeinen Gleichheit zu leben«. 196 Es ist demnach das Kennzeichen aller Verstöße gegen das »Gesetz der Natur«, dass sie ein geordnetes und friedliches Zusammenleben unmöglich machen, wenn sie generell praktiziert werden. Sie sind als »eine Art Schwarzfahrertum bzw. Selbstprivilegierung« zu werten. 197 Lockes Gesetz der Natur verlangt somit, eine Handlungsmaxime (Rule) stets daraufhin zu überprüfen, ob es den Frieden und die Erhaltung der Menschheit bedroht, wenn sie allgemein befolgt wird. Aus dieser Grundnorm – sie soll im Folgenden als »Locke’sches Universalisierungsprinzip« bezeichnet werden – entspringen unmittelbar die generellen Verbote des Mordes, der Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Dass das Überleben der Menschheit gefährdet wäre, wenn niemand vor Totschlag und Körperverletzung zurückschreckte, liegt auf der Hand. Ein allgemeiner »Kriegszustand«, der zur Selbstvernichtung der Menschheit führen könnte, droht auch dann, wenn jeder danach trachtete, »einen anderen Menschen in seine absolute Gewalt zu bekommen«, über ihn also nach Gutdünken zu verfügen. 198 Die Opfer solcher Übergriffe müssen damit rechnen, misshandelt oder getötet zu werden, wenn sie den Gehorsam verweigern, so dass aus ihrem natürlichen Lebenswillen der Impuls entspringt, sich bei passender Gelegenheit gewaltsam zu befreien. Der naturrechtlichen Verpflichtung, die generellen Verbote des Mordes, der Körperverletzung und Freiheitsberaubung einzuhalten, entsprechen die Menschenrechte auf Leben (einschließlich der körperlichen Unversehrtheit) und Freiheit. Locke kann mit seinem Universalisierungsprinzip zugleich seine These begründen, dass aus der Arbeit ein Grundrecht auf Sachenbesitz entspringt. 199 Wer anderen die Früchte ihrer Arbeit entwenden will, gefährdet ihr Überleben. Würde dies generell praktiziert, wäre der ›Krieg aller gegen alle‹ unausweichlich. 200 A. a. O., § 8, S. 16; Locke: Two Treatises of Government, S. 290. Siep: Kommentar zu Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, S. 222. 198 Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 17, S. 23. 199 A. a. O., § 28, S. 31; § 34, S. 34 f. 200 Lockes Second Treatise enthält eine weitere Begründungsfigur für das Recht auf Sachenbesitz, der zufolge bei der körperlichen Arbeit äußere Gegenstände mit ihr »gemischt« werden, so dass sich das Recht auf körperliche Unversehrtheit auch auf diese erstrecke (§ 27, S. 30). Locke fasst hierbei die Arbeit als eine »reale, aus dem Menschen fließende, von ihm abtrennbare Substanz« auf (Euchner: Naturrecht und 196 197
203 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die historische Genese normativer Geltung
Im Locke’schen Universalisierungsprinzip ist darüber hinaus die naturrechtliche Strafbefugnis fundiert. Ein allgemeiner Verzicht auf die Ahndung von Verletzungen des Naturrechts brächte eine »Gefahr für die Menschheit« mit sich, da Nachahmungs- und Wiederholungstäter freie Bahn hätten. 201 Da die Strafbefugnis zum Einsatz von Gewalt ermächtigt, hat sie den Charakter einer spezifischen Ausnahmeregelung von der generellen Forderung nach der Verfügungsgewalt jedes Menschen über sich selbst, die im Locke’schen Universalisierungsprinzip verankert ist. 202 Locke verknüpft das »Gesetz der Natur« mit der Idee einer kosmopolitischen Gemeinschaft; er spricht dieser jedoch – anders als Cicero – keinen intrinsischen Bezug zum positiven Recht zu, wenngleich seine Naturrechts-Konzeption mit der Strafbefugnis einen gleichsam proto-juridischen Aspekt enthält. Durch das »allen gemeinsame Gesetz« der Natur bilden alle Menschen nach Locke »eine einzige Gemeinschaft und formen eine Gesellschaft, die sich deutlich von allen anderen Lebewesen abhebt. Und gäbe es nicht die Verderbtheit und Schlechtigkeit entarteter Menschen, so würde man auch kein Verlangen nach einer anderen Gesellschaft haben; es läge keinerlei Notwendigkeit vor, dass sich die Menschen von dieser großen und natürlichen Gemeinschaft trennen sollten und sich durch positive Vereinbarungen (agreements) zu kleineren oder Teilgemeinschaften vereinigten«. 203
Nach Locke gibt es keine naturrechtliche Verpflichtung zur Gründung von Staaten bzw. zum Eintritt in sie: Niemand dürfe »ohne seine Einwilligung« (consent) aus dem vorstaatlichen Naturzustand »verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden«. 204 Die Errichtung und Aufrechterhaltung staatlicher Gewaltmonopole wäre nur dann naturrechtlich geboten, wenn nichtstaatliche Lebensformen per se in einen allgemeinen Kriegszustand einmündeten, so dass das Überleben der Menschheit auf dem Spiel
Politik bei John Locke, S. 82). Da diese Begründungsfigur aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar und im Argumentationsgang des Second Treatise entbehrlich ist, soll auf sie nicht näher eingegangen werden. 201 Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 8, S. 16. 202 Lockes naturrechtliche Strafbefugnis schließt ein Kriterium dafür ein, welche Zwangsmaßnahmen verhängt werden dürfen: Sie sind nur in dem Ausmaß legitim, wie es für die »Wiedergutmachung« und »Abschreckung« unabdingbar ist (ebd.). 203 A. a. O., § 128, S. 105; Locke: Two Treatises of Government, S. 370. 204 A. a. O., § 95, S. 82.
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stünde. Das ist jedoch nicht der Fall. 205 In der Frühzeit der Menschheitsgeschichte gab es aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte wenig Anlass zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Noch heute können indigene Völker ohne staatliche Institutionen überleben. Ressourcenkonflikte und Verteilungskämpfe spitzten sich erst im Zuge des zivilisatorischen Fortschritts, der mit einem Bevölkerungswachstum einher ging, so weit zu, dass es ratsam erschien, sie durch die Etablierung partikularstaatlicher Gewaltmonopole unter Kontrolle zu bringen. 206 Die Kehrseite dieser Entwicklung besteht darin, dass das staatliche Gewaltmonopol für die Errichtung von Tyranneien und für Angriffskriege missbraucht werden kann. 207 Da es von kontingenten Fakten abhängt, ob die Machtstrukturen eines Partikularstaats den Grundrechten der Individuen auf Leben, Freiheit und Besitz zu- oder abträglich ist, lässt sich die staatliche Rechtsform als solche nicht aus Lockes »Gesetz der Natur« herleiten. In der Perspektive dieses Gesetzes ist die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols daher an »positive Vereinbarungen« seiner Bürger gebunden (s. o.). Ein solcher »Vertrag« (Compact), mit dem die Individuen ihre naturrechtliche Strafbefugnis an den Staat delegieren, kann implizit oder explizit abgeschlossen werden: Man gibt seine »stillschweigende Zustimmung« (tacit Concent) zur Existenz eines bestimmten Staates bereits dadurch, dass man freiwillig auf seinem Territorium lebt oder darin Besitztümer hat; die »ausdrückliche Zustimmung« (express Consent) besteht im öffentlich deklarierten Einverständnis mit der jeweiligen Staatsform. 208 Mit der Idee einer »natürlichen Gemeinschaft« aller Menschen löst sich im Second Treatise die universalistische Vernunftmoral – sie wird dort durch das »Gesetz der Natur« definiert – vom positiven Recht ab. 209 Lockes Universalisierungsprinzip kommt Habermas’ Universalisierungsgrundsatz U (s. o. S. 178, Anm. 118) dadurch nahe, dass (1) das Locke’sche Leitkriterium des allgemeinen Friedens und der Erhaltung der Menschheit, für sich genommen, zu unbestimmt A. a. O., § 19, S. 24. A. a. O., § 36, S. 36 f.; § 48, S. 45 f.; § 51, S. 47 f.; § 127, S. 105. 207 A. a. O., § 175 f., S. 142 f.; § 199, S. 158 f. 208 A. a. O., § 87, S. 73 f.; § 97, S. 83; § 119, S. 100; Locke: Two Treatises of Government, S. 342, 350, 365 f. 209 Diese Unterscheidung wird von Kant, der das Begriffspaar »Moralität/Legalität« eingeführt hat, radikalisiert: Er trennt die Strafbefugnis vom moralischen Gesetz ab und ordnet sie dem Rechtsprinzip zu. 205 206
205 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die historische Genese normativer Geltung
bleibt, um als Prüfinstanz konkreter Handlungsmaximen fungieren zu können, so dass es auf die Frage heruntergebrochen werden muss, welche Folgen es für die jeweils Betroffenen hätte, wenn die fragliche Maxime bzw. Handlungsnorm allgemein befolgt würde; 210 (2) die Rede vom Frieden und der Selbsterhaltung aller Menschen nicht den vollen Sinn von Lockes Begriff der natürlichen Freiheit wiedergibt: Dessen zentrale Bestimmung besteht im Vermögen, nach eigenem Ermessen ein Spektrum von Handlungszielen und Interessen zu verfolgen. Im Unterschied zu U ist Lockes Gesetz der Natur kein rein formales Prinzip: Das Ziel des allgemeinen Friedens und der Erhaltung der Menschheit bildet bei aller Abstraktheit einen materialen Gehalt, aus dem generelle ethische Regeln und die Strafbefugnis als spezifische Ausnahmeregelung abgeleitet werden können. Eine weitere, tiefgreifende Differenz zwischen U und Lockes Gesetz der Natur besteht darin, dass die allgemeine Zustimmungsfähigkeit zu einer Handlungsnorm bei Habermas, nicht aber bei Locke für deren Legitimität konstitutiv ist. Locke vertritt den Standpunkt, dass das Grundrecht auf Inbesitznahme der Früchte der eigenen Arbeit seine Allgemeinverbindlichkeit nicht der »Zustimmung der gesamten Menschheit« verdankt. 211 Dies lässt sich auf das »Gesetz der Natur« im Ganzen übertragen. Sein Geltungsanspruch ist nach Locke nicht auf Prozesse der Konsensbildung angewiesen, da er in einer metaphysisch verstandenen Vernunft, die Gott dem Menschen verliehen habe, verankert sei. 212 Lockes Forderung, dass die »staatlichen Gesetze« auf dem »Gesetz der Natur beruhen« sollen, 213 ist nicht so zu verstehen, dass dieDie Formulierung im Second Treatise, dass derjenige, der dem »natürlichen Gesetz« zuwiderhandelt, erklärt, »nach einer anderen Vorschrift (Rule) als der der Vernunft und allgemeinen Gleichheit zu leben« (s. o. S. 202 f.), erlaubt es, die von U verlangte Überprüfung von Handlungsnormen, d. h. »generalisierte[n] Verhaltenserwartungen« (Habermas: Faktizität und Geltung, S. 138), mit der von Maximen (Rule) im Locke’schen Sinne auf eine Stufe zu stellen. 211 Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 28, S. 31. 212 Die »Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden« (a. a. O., § 6, S. 14). 213 A. a. O., § 12, S. 19. 210
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ses ihr Fundament bildet – die staatliche Rechtsform kann aus ihm ja nicht abgeleitet werden –; das »Gesetz der Natur« fungiert vielmehr als Richtmaß der staatlichen Gesetze, indem es die Respektierung der Grundrechte jedes einzelnen auf Leben, Freiheit und Besitz verlangt. Hieraus entspringt allerdings das Problem, dass der vom »Gesetz der Natur« garantierte individuelle »Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit […] in Gleichheit mit jedem anderen Menschen« durch das staatliche Gewaltmonopol zwangsläufig eingeschränkt wird. 214 Dieses Problem lässt sich nach Locke nur so lösen, dass die Einschränkung der ›natürlichen Rechte‹ der Individuen durch faktische Freiheitsgewinne kompensiert wird. Wenn das Konfliktpotential im vorstaatlichen Zustand so weit eskaliert, dass beständig gewalttätige Übergriffe drohen, bildet die Errichtung des staatlichen Gewaltmonopols ein Bollwerk gegen den völligen Verlust der eigenen Freiheitsspielräume. Nach Locke ist die »Absicht jedes einzelnen«, »sich selbst, seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten«, nicht bloß ein zulässiges, sondern das einzig adäquate Motiv für die – naturrechtlich geforderte – Zustimmung der Individuen zur Gründung und Fortdauer eines Staates. 215 In politischer Hinsicht besteht die Aufgabe des Locke’schen Gesetzes der Natur in der »Leitung eines frei und einsichtig Handelnden in seinem eigenen Interesse«. 216 Hierin besteht der Hobbes’sche Zug der Naturrechts-Theorie Lockes. 217 Ebenso wie die Gewaltmonopole der Partikularstaaten lassen sich auf naturrechtlicher Basis auch deren interne politische Machtstrukturen nach Locke nur funktional legitimieren: in dem Sinne, dass sie ihre Nützlichkeit für das »öffentliche Wohl« (publick good) der Bürger, d. h. konkret: für die bestmögliche Realisierung ihrer Grundrechte auf Leben, Freiheit und Besitz unter den jeweiligen historischen Umständen, unter Beweis stellen müssen. 218 Wenn ein Staat diese Anforderung nicht erfüllt, kann er nicht die Zustimmung der Menschen, die er als seine Bürger oder Untertanen ansieht, zur A. a. O., § 87, S. 73 f. A. a. O., § 131, S. 106 f. 216 A. a. O., § 57, S. 51. 217 Nach Leo Strauss folgt Locke »der von Hobbes vorgezeichneten Richtung« (Strauss: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956. S. 230). Straus vernachlässigt allerdings das metaphysische Erbe der Locke’schen Naturrechts-Theorie (vgl. Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 4, 8 f.). 218 Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, §§ 106–108, S. 89–92; § 131, S. 106 f. 214 215
207 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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Ausübung seines Gewaltmonopols für sich reklamieren. Die aus dem Gewaltmonopol resultierenden Beschränkungen ihrer Freiheit und Gleichheit sind in diesem Fall als illegitim zu werten, so dass die Bürger ihre naturrechtliche Strafbefugnis behalten. Sie sind demnach zum gewaltsamen Widerstand gegen die Staatsorgane befugt, wenn diese Partikularinteressen von Personen oder Gruppen – sei es auch der Bevölkerungsmehrheit – mit repressiven Mitteln durchsetzen wollen. 219 Dasselbe gilt bei Angriffskriegen, mit denen die Menschenrechte per se verletzt werden. 220 Locke weist darauf hin, dass die Demokratie nicht unter allen Umständen für das öffentliche Wohl eines Volkes optimal ist. 221 Wenn ein Staat beständig mit Invasionen rechnen muss, kann die autoritäre Herrschaft kompetenter Militärführer die effektivste Überlebensstrategie bilden. In der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, als Friedensverträge noch unüblich waren, konnten die »Klügsten und Tapfersten«, die in den »Kriegen die Führung übernahmen«, häufig mit der Zustimmung ihres Volkes zu ihrer Machtstellung rechnen. 222 Nach Locke wäre es verfehlt, den betreffenden Völkern vorzuhalten, sie hätten sich hiermit ihrer natürlichen Rechte entäußert. Er begründet seinen Standpunkt nicht nur mit dem Nutzen der Herrschaft fähiger Führungspersönlichkeiten in der damaligen Situation, sondern erklärt – und entschuldigt – zugleich auch das geringe politische Freiheitsbedürfnis archaischer Völker mit deren intellektueller Unreife. 223 Wer »seine Vernunft noch nicht richtig gebrauchen kann«, ist dem Gesetz der Natur – so Locke – noch nicht »unterworfen«. 224 Als im Zuge des zivilisatorischen Fortschritts der staatliche Machtapparat ausgebaut wurde und zugleich Besitztümer angehäuft werden konnten, »sahen die Menschen sich genötigt, den Ursprung und die Rechte der Regierungen sorgsamer zu untersuchen und Wege zu finden«, den »Missbräuchen« der Staatsmacht durch Führungsschichten, die in erster Linie ihre eigene Interessen verfolgen, »vorzubeugen«. 225 Die wirksamste Vorsorge gegen den Machtmissbrauch 219 220 221 222 223 224 225
A. a. O., § 199, S. 158 f.; § 201, S. 160; § 204, S. 162. A. a. O., § 176, S. 142 f. A. a. O., §§ 105–112, S. 88–95. A. a. O., § 107, S. 91. A. a. O., §§ 107, S. 90 f.; § 111, S. 95. A. a. O., § 57, S. 51. A. a. O., § 111. S. 95.
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ist die Gewaltenteilung. 226 Obwohl es den Bürgern frei steht, ihre Zustimmung zu Monarchien, in denen das Staatsoberhaupt über politische Macht verfügt, oder Oligarchien zu geben, wenn sie sich hiervon Vorteile für das öffentliche Wohl versprechen, 227 ist auf dem weltgeschichtlichen Entwicklungsstand, auf dem sich zwischenstaatliche Verträge zur Friedenssicherung eingebürgert haben und öffentliche Reflexionen über den normativen Rahmen der Politik angestellt werden, die Demokratie am ehesten dazu geeignet, die vom Naturrecht verlangte Freiheit und Gleichheit der Individuen zu garantieren. Locke spezifiziert seine Forderung nach Zustimmung der Bürger zur Existenz eines Staates dahingehend, dass die Mehrheit befugt sei, über die Staatsform zu entscheiden. 228 Er rechtfertigt diese Relativierung des Konsens-Prinzips pragmatisch: Eine völlige Einstimmigkeit lässt sich faktisch so gut wie nie herbeiführen. 229 In der Demokratie behält die Mehrheit auf Dauer die legislative Gewalt; mit der Wahl einer monarchischen oder oligarchischen Staatsform schränken die Bürger dagegen die Reichweite von Mehrheitsentscheidungen selber ein. Die von Cicero aufgegriffene metaphysische Gerechtigkeits-Idee in Platons Politeia spielt bei Locke keine Rolle. Zwischen seiner metaphysischen Fundierung des Naturrechts und seiner – von Hobbes beeinflussten – Aussage, das »Gesetz der Vernunft« (d. h. der »Natur«) realisiere sich in der »Leitung eines frei und einsichtig Handelnden in seinem eigenen Interesse«, 230 besteht nur deshalb kein offener Widerspruch, weil sich der metaphysische Zug des Locke’schen Naturrechts auf den Geltungsanspruch der Forderung beschränkt, allen anderen dieselben Freiräume für die Verfolgung ihrer jeweiligen Handlungsziele und Interessen zuzubilligen, die man für sich selbst reklamiert. Aus Lockes Naturrechts-Verständnis entspringen in Bezug auf die staatlichen Gesetze die Bestimmungen der Positivität, des Legalismus und der Formalität, die Habermas zum Spezifikum des modernen Rechts erklärt (s. o. S. 72): Nach Locke müssen den staatlichen Gesetzen »positive Vereinbarungen« der Bürger zugrunde liegen; den Individuen muss zugebilligt werden, in ers-
226 227 228 229 230
A. a. O., § 143, S. 119. A. a. O., § 132 f., S. 107 f. A. a. O., § 95, S. 82. A. a. O., § 98, S. 83 f. A. a. O., § 57, S. 51.
209 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die historische Genese normativer Geltung
ter Linie dasjenige anzustreben, was ihnen »Lust verschafft«, solange sie ihre Mitbürger als prinzipiell gleichberechtigt anerkennen; das staatliche Recht soll dementsprechend sicherstellen, dass alle Bürger über »ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so verfügen können«, »wie es ihnen am besten erscheint« (s. o. S. 200, 204). Locke betont, dass die von ihm formulierten naturrechtlichen Anforderungen an den Staat erst auf einem fortgeschrittenen weltgeschichtlichen Entwicklungsstand, auf dem unsere Reflexionsfähigkeit ausgebildet ist und Eroberungskriege eingedämmt worden sind, vollständig realisiert werden können (s. o. S. 208 f.). Durch Humes Kritik an der Ableitung von Sollens-Forderungen aus Seins-Sätzen wird der Anspruch der Naturrechts-Theorie Lockes auf Allgemeingültigkeit hinfällig. Darüber hinaus ist Lockes Fundierung der naturrechtlich legitimen Staatsgewalt in einem Vertrag der Bürger inkonsistent. Wer seine Zustimmung zur Existenz eines bestimmten Staates gibt, »ermächtigt« nach Locke »die Gesellschaft, oder, was dasselbe ist, ihre Legislative, ihm Gesetze zu geben, wie sie das öffentliche Wohl der Gesellschaft erfordert, zu deren Vollziehung er mit seiner eigenen Mitwirkung verpflichtet ist (als ob es seine eigenen Beschlüsse seien)«. 231 Locke bringt hiermit ein partikularstaatliches Universalisierungsprinzip in Ansatz, das demjenigen in Platons Kriton ähnelt: Wenn die allgemeine Befolgung eines Gesetzes das öffentliche Wohl eines Staates befördert, sind nach Locke diejenigen Bürger, die seiner Existenz (stillschweigend oder ausdrücklich) zugestimmt haben, zu seiner Respektierung verpflichtet. Sie sollen also Handlungen unterlassen, die das Wohl der jeweiligen Gesellschaft beeinträchtigen, wenn sie generell praktiziert werden. Lockes Naturrechts- und Staatstheorie enthält jedoch keine argumentativen Mittel für die Begründung eines partikularstaatlichen Universalisierungsprinzips. Da er keine naturrechtliche Verpflichtung zu staatlichen Lebensformen postuliert, lässt sich aus seinem naturrechtlichen Universalisierungsprinzip, das auf die Menschheit im Ganzen bezogen ist, kein partikularstaatliches Universalisierungsprinzip ableiten. Dieses kann ebenso wenig im ›wohlverstandenen Selbstinteresse‹ der einzelnen Bürger verankert werden. Entscheidungen der Legislative, mit denen das öffentliche Wohl gesichert werden soll, können den Individuen Opfer abverlangen; das gravierendste Beispiel ist die Einberufung zum Kriegsdienst. Locke begründet seinen Stand231
A. a. O., § 89, S. 75.
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Naturrecht und Staat bei Locke
punkt, dass in einem (naturrechtlich legitimen, d. h. Verteidigungs-) Krieg die Soldaten zum Gehorsam verpflichtet sind, damit, dass militärische Disziplin für die »Erhaltung des Heeres und damit des gesamten Staates« unabdingbar ist. 232 Er beruft sich also darauf, dass der Staat im Kriegsfall zerstört würde, wenn die Soldaten den Gehorsam generell verweigerten. Da Locke die »Absicht jedes einzelnen«, »sich selbst, seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten« als im Naturzustand, zum einzig angemessenen Motiv für die Zustimmung zu einem Partikularstaat erklärt, 233 kann er von den Bürgern jedoch nicht verlangen, in einer Notlage ihres Staates ihr eigenes Schicksal auf Gedeih und Verderb an das seine zu binden. Wenn sie sich auch in solchen Situation für ihn aufopfern, in denen sein Zusammenbruch ihre Überlebenschancen nicht zwangsläufig zunichtemacht, handeln sie der Absicht zuwider, die Locke zur rationalen Motivationsbasis des Staates erklärt. Man könnte versuchen, das Dilemma der Locke’schen Staatskonzeption, das an diesem Beispiel zutage tritt, mit Hilfe seiner These zu lösen, dass die Wahrhaftigkeit ein naturrechtliches Gebot ist. 234 Jeder Staatsbürger muss sich – zumindest auf Nachfrage – bereit erklären, um des allgemeinen Wohls willen an den eigenen Interessen Abstriche zu machen; andernfalls gibt er sich als radikaler Egoist zu erkennen und provoziert damit die Ächtung durch seine Mitbürger. Wenn die Wahrhaftigkeit naturrechtlich geboten ist, kann man daher von ihm verlangen, dass er sein faktisch unumgängliches öffentliches Bekenntnis zum allgemeinen Wohl konsequent umsetzt. Humes Kritik an der metaphysischen Ethik-Begründung entzieht jedoch Lockes Annahme einer naturrechtlichen Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit den Boden. Darüber hinaus lässt sich gegen diese Annahme ein theorie-immanenter Einwand vorbringen. Locke formuliert sie folgendermaßen: »Wahrheit und Vertrauen gebührt dem Menschen als Menschen und nicht als Glied der Gesellschaft«. 235 Im Theorierahmen des Second Treatise ließe sich die Pflicht zur Wahrhaftigkeit nur dann im naturrechtlichen Universalprinzip fundieren, wenn man zeigen könnte, dass beständige Täuschungsversuche den Frieden und die Erhaltung der Menschheit bedrohten. Dass soziale Beziehungen 232 233 234 235
A. a. O., § 139, S. 116. A. a. O., § 131, S. 106 f. Vgl. a. a. O., § 14, S. 21. Ebd.
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Die historische Genese normativer Geltung
durch eine allgemeine Unwahrhaftigkeit irreparabel beschädigt würden, ist unbestreitbar. Locke nimmt jedoch keine naturrechtliche Verpflichtung zu einem sozialen Leben an; seine Charakterisierung der Freiheit im Naturzustand als völliger Unabhängigkeit vom »Willen eines andern« schließt vielmehr die These ein, dass ein Leben als Einzelgänger eine naturrechtlich legitime Option ist. 236 Es ist demnach zulässig, seinen Mitmenschen aus dem Wege zu gehen, wenn man jedes Vertrauen zu ihnen verloren hat, so dass es keinen Anlass zu einem ›Krieg aller gegen alle‹ gibt. Aus der Zielsetzung des Naturrechts, die Menschheit zu erhalten, folgt lediglich, dass Familienstrukturen so lange aufrechterhalten werden müssen, bis die Kinder selbständig leben können, und die Familienmitglieder einander in dieser Zeit nicht permanent hintergehen dürfen. Hiermit lässt sich aber Lockes These, dass Wahrheit und Vertrauen dem Menschen als Menschen gebühren, nicht begründen. In der intern-hermeneutischen Perspektive von Apels Selbsteinholungsprinzip hat Locke einen entwicklungslogischen Fortschritt in der Naturrechts-Tradition durch zwei miteinander verknüpfte Aspekte seiner Theorie erzielt: (1) Sein naturrechtliches Universalisierungsprinzip, worin er die Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Besitz wie auch die proto-juridische Strafbefugnis jedes Einzelnen verankert, ergibt sich konsequent aus Ciceros Anbindung des Kosmopolis-Gedankens der Stoa an den Kernaspekt des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton (s. o. S. 193 ff.): Lockes ethische Leitfrage, ob der allgemeine Friede herbeigeführt und die ganze Menschheit erhalten werden kann, wenn alle so handeln wie ich, enthält eine begriffliche Reformulierung von Ciceros metaphorischer Aussage, dass die ganze Welt »als eine einzige Stadt erscheint«, wenn das »höchste Gesetz« der Natur verwirklicht wird. 237 Lockes Verankerung der Menschenrechte in seinem naturrechtlichen Universalisierungsprinzip antizipiert deren Zwischenstellung zwischen der Moral und dem positivem Recht bei Apel. (2) Locke nähert sich mit der Abkehr von einer – paradigmatisch in Platons Politeia konzipierten – metaphysischen Gerechtigkeitsidee, mit der eine hierarchische Ständeordnung gerechtfertigt werden kann, dem kategorialen Rahmen der sokratischen Ethik, d. h. der Entgegensetzung von Partikular- und Allgemeininteressen an, woran die Diskursethik anknüpft. Politische 236 237
A. a. O., § 4, S. 13. S. o. S. 204 f. Cicero: De legibus, I, 20, 25/27; I, 60, S. 67. Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 135 f.
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Naturrecht und Staat bei Locke
Herrschaft ist nach Locke illegitim, wenn die Machthaber »anders geartete Interessen als das Volk« verfolgen. 238 Der »Rückfall« (Apel) der Ethik-Begründung in Platons Politeia und der nachfolgenden metaphysischen Tradition hinter die im sokratischen Dialog angelegte Zielsetzung, eine »gerechte Ordnung der Gesellschaft« in »Verfahren der Konsensbildung zwischen den Beteiligten« zu verankern, 239 wird in Lockes Naturrechts- und Staatstheorie dadurch partiell revidiert, dass sich deren metaphysischer Begründungsanspruch auf das naturrechtliche Universalisierungsprinzip beschränkt, während normativ legitime Staatsordnungen an Vereinbarungen der Bürger zurückgebunden werden. In der extern-erklärenden Perspektive von Apels Selbsteinholungsprinzip stellt sich eine Inkonsistenz in Lockes Bestimmung des Rechts auf Sachenbesitz als ideologische Verschleierung der ökonomischen Interessen der Wegbereiter der kapitalistischen Gesellschaftsformation dar. Locke folgert aus seiner Fundierung des legitimen Sachenbesitzes in der Arbeit, dieser sei »notwendigerweise Privatbesitz«. 240 Hierbei lässt er die gemeinschaftliche Arbeit außer Acht, die in archaischen Gesellschaften dominierte und in Großbritannien noch im 17. Jahrhundert auf dem Gemeindeland von Dorfbewohnern praktiziert wurde: Aus ihr entspringt unter Locke’schen Voraussetzungen ein Gemeinschaftsbesitz. 241 Lockes Second Treatise war eine Programmschrift der liberalen Whig-Partei im britischen Parlament im Kampf gegen absolutistische Bestrebungen der StuartKönige. 242 Die Whig-Partei vertrat die Interessen der sozialen »Klasse, die an der Spitze des industriellen und kommerziellen Fortschritts stand«. 243 In der »Glorious Revolution« von 1689 brach sie die Macht der Krone, die die Herausbildung und Durchsetzung des Kapitalismus behindert hatte. Für ihn ist das Privateigentum an Produktionsmitteln von konstitutiver Bedeutung. Lockes voreilige Einschränkung des normativ legitimen Sachenbesitzes auf das Privateigentum Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 111, S. 95. Apel: »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie«, S. 89. 92. 240 Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 35, S. 35 f. 241 Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus, S. 228. Vgl. Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. M. 1978. S. 60. 242 Siep: Kommentar zu Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, S. 207 f. 243 Polanyi: The Great Transformation, S. 66. 238 239
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Die historische Genese normativer Geltung
lässt sich in der extern-erklärenden Betrachtungsweise des Apel’schen Selbsteinholungsprinzips als ideologisch werten, da hiermit die kapitalistische Eigentumsform zur einzig zulässigen erklärt wird; dies konnte von den Protagonisten des aufstrebenden Kapitalismus in politischen Debatten geltend gemacht werden. Die Inbesitznahme vom dörflichen Gemeindeeigentum durch Adlige, die die Ackerflächen in Schafweiden für die expandierende Wollindustrie umwandelten, wurde vom britischen Parlament gegen den Widerstand der Monarchen unterstützt. 244 Die Locke’sche Trias life – liberty – estate wurde aufgrund der Gleichsetzung des legitimen Sachenbesitzes mit dem Privateigentum zum Inbegriff der subjektiven Privatrechte, die den Kern des formalrechtlichen Paradigmas bilden und damit für das moderne Recht insgesamt von zentraler Bedeutung sind. 245 Der entwicklungslogische Fortschritt, den Locke mit der Ablösung der universalistischen Vernunftmoral vom positiven Recht erzielt hat, ist daran gebunden, dass dieses als Ordnungsrahmen für die Verfolgung individueller Interessen konzipiert wird. In Lockes Anbindung der legitimen Staatsordnung an Vereinbarungen der Bürger, die vom ›wohlverstandenen Selbstinteresse‹ sind, schlägt sich die Funktion des bürgerlichen Rechts bei der Etablierung des Kapitalismus nieder. Der entwicklungslogische Fortschritt der Locke’schen Naturrechts- und Staatstheorie ist somit in die Entwicklungsdynamik der Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus eingebettet, die ökonomische Wachstumskräfte entfesselte.
7.
Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht
Die Traditionslinie, die von der sokratischen und platonischen Ethik über Ciceros Rezeption des Kosmopolis-Gedankens der Stoa zu Lockes Menschenrechts- und Staatskonzeption führt, ist für die von Apels Selbsteinholungsprinzip geforderte Rekonstruktion der Genese der diskursethischen Grundbegriffe und Rationalitätsmaßstäbe unentbehrlich. Sokrates unternimmt erstmals den Versuch, die impliziten Voraussetzungen argumentativer Diskurse für die Begründung ethischer Normen fruchtbar zu machen. Locke gewinnt im Ausgang 244 245
Polanyi: The Great Transformation, S. 62, 65. Vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 45, 238 f., 481.
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von Ciceros Naturrechts-Lehre einen philosophischen Begriff der Menschenrechte. 246 Mit seinem Entwurf einer universalistischen Vernunftmoral, aus der das positive Recht nicht abgeleitet werden kann, bringt er implizit die Unterscheidung von Moralität und Legalität in Ansatz; sie gehört seit ihrer expliziten Formulierung durch Kant zum Grundgerüst der praktischen Philosophie. Die paradigmatische Bedeutung dieser Traditionslinie für die gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik der Normativität tritt auf dem Hintergrund von Habermas’ Leitthese in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« zutage, dass die Ausdifferenzierung und Dezentrierung der Perspektivenstruktur des sozialen Handelns das Movens der normativen Entwicklung vom prä- zum postkonventionellen Niveau bildet. Habermas will in dieser Abhandlung durch die Verknüpfung von Apels transzendentalpragmatischem Begründungsweg ›von oben‹ mit der ›von unten‹ voranschreitenden Rekonstruktion normativer Lernprozesse in der Individualentwicklung nachweisen, dass der moralische Universalisierungsgrundsatz U den Zielpunkt der entwicklungslogischen Transformation des Verständnisses der Gerechtigkeit bildet, das auf dem präkonventionellen Niveau präformiert ist und auf dem konventionellen und postkonventionellen Niveau zum grundbegrifflichen Rahmen lebensweltlicher Verständigungsprozesse gehört (s. o. S. 150 f., 156 f.). Habermas hat jedoch in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« nicht plausibel gemacht, dass die Binnenstrukturen sprachlicher Verständigung als Erklärungsgrund der normativen Entwicklungslogik ausreichen und der entwicklungslogische Fortschritt auf dem postkonventionellen Niveau eine Moralisierung der jeweils bestehenden Normen erzwingt. 247 In Faktizität und Geltung verwirft er diese Annahmen. Sie werden auch im vorliegenden Versuch, Habermas’ ontogenetische Argumentation in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« für die Rekonstruktion einer gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität fruchtbar zu machen, fallen gelassen. Hiermit wird aber – wie im Folgenden gezeigt werden soll – Habermas’ Ziel der »entwicklungslogische[n] Begründung« von U 248 durch
246 Zu den theologischen Wurzeln der neuzeitlichen Menschenrechts-Idee in der Schule von Salamanca s. u. S. 241 f. 247 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 169, 175, 179. S. o. S. 157 f. 248 A. a. O., S. 131, 169.
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Die historische Genese normativer Geltung
die Zusammenführung des Apel’schen Wegs ›von oben‹ mit der ›unten‹, d. h. am präkonventionellen Niveau, ansetzenden Rekonstruktion der faktischen Genese der postkonventionellen Moral mit dem Fokus auf der Perspektivenstruktur des sozialen Handelns nicht hinfällig. Diese Zielsetzung lässt sich in das Selbsteinholungsprinzip integrieren, mit dem Apel das Programm einer Selbstreflexion der Gattungsgeschichte aufgreift, das Habermas im Rekurs auf den Historischen Materialismus formuliert (s. o. S. 25, 65). Die Doppelung von intern-hermeneutischer und extern-erklärender Betrachtungsweise, in der sich gemäß dem Selbsteinholungsprinzip die ›von unten‹ voranschreitende Darstellung des Entstehungszusammenhangs der Diskursethik bewegen muss, bildet das Pendant zur Verschränkung der normativen Entwicklungslogik in der Gattungsgeschichte mit der Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen in Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus. In der internhermeneutischen Betrachtungsweise werden die philosophischen Positionen, die zur Herausbildung der Begrifflichkeit und der Rationalitätsmaßstäbe der Diskursethik maßgeblich beigetragen haben, daraufhin untersucht, wie sie durch die Reflexion auf die vorgegebene soziale Realität zukunftsweisende normative Rationalisierungsprozesse initiierten bzw. weiterführten. In der extern-erklärenden Betrachtungsweise werden diese Positionen in weltgeschichtliche Entwicklungszusammenhänge eingeordnet, die von den Zeitgenossen nur partiell durchschaut werden konnten. Mittels dieser Doppelperspektive soll der rationale Gehalt der vergangenheits- und gegenwartsbezogenen Dimension des Faktizitätsapriori, d. h. des lebensweltlichen Einverständnishandelns, von Reflexionsdefiziten und der ideologischen Verschleierung von Partikularinteressen abgehoben werden. Die Evolution des Rechts bildet das Scharnier zwischen der systemfunktional rekonstruierbaren Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen und der normativen Rationalisierung der Lebenswelt. Das für die vorliegende Abhandlung grundlegende Apel’sche Programm einer dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori und damit zugleich von Moral und Recht steht und fällt mit der These, dass die Diskursethik durch die Rekonstruktion ihres Entstehungszusammenhangs in die Lage versetzt wird, sich selbst – um eine Habermas’sche Formulierung aufzugreifen – als »katalysatorisches Moment« des »gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs,
216 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht
den sie analysiert«, zu begreifen, 249 und zwar in dem Sinne, dass sie unabgegoltene Potentiale der Rationalisierung der Lebenswelt freilegt, wodurch die normativ verbindliche Zukunftsperspektive einer weltumspannenden, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsund Friedensordnung vorgezeichnet wird. Die Reflexion der Diskursethik auf ihren Verwendungszusammenhang lässt sich insofern als ›Weg von oben‹ charakterisieren, als hiermit der Anspruch gerechtfertigt werden soll, dass die ideale Diskursmoral auch außerhalb von Diskurssituationen gültig ist. Im Folgenden wird zunächst die entwicklungslogische Relevanz von Sokrates’ maieutischer Ethik und der Naturrechts-Theorien Ciceros und Lockes rekapituliert; hierbei bleiben metaphysische Begründungsfiguren außer Betracht, da sie im Entstehungszusammenhang der Diskursethik als ›retardierende‹ Momente zu werten sind (1). Anschließend soll eine Strukturparallele zwischen dem Universalisierungsprinzip in Platons Kriton, das Cicero auf zwischenstaatliche Beziehungen ausweitet, und der Apel’schen idealen Diskursmoral anhand seiner Darstellung des Entstehungs- und Verwendungszusammenhangs seiner Diskursethik in seiner Entgegnung auf die Kritik Karl-Heinz Iltings an seinem Letztbegründungs-Programm aufgewiesen werden (2). Diese Strukturparallele ermöglicht es, Apels Replik auf Ilting im Rekurs auf Habermas’ Konzeption einer entwicklungslogischen Begründung der postkonventionellen Moral in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« in der Weise zu reformulieren, dass Apels Letztbegründungs-Anspruch preisgegeben wird, an seinem »Postulat« der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte 250 jedoch festgehalten werden kann (3). Abschließend möchte ich versuchen zu zeigen, dass der moralische Universalismus, der sich in der Neuzeit herausbildet, als kritischer Maßstab an die Normenkodices früherer Epochen angelegt werden kann, und zwar in Hinblick darauf, ob diese seine entwicklungslogische Genese vorantrieben oder ihr im Wege standen (4). (1) Sokrates geht davon aus, dass uns die normativen Orientierungspunkte unseres faktischen Handelns nicht klar vor Augen stehen und durch ihre Explikation und kritische Überprüfung im rationalen Diskurs gesichertes Wissen gewonnen werden kann, womit die Habermas: Theorie und Praxis, S. 9 (s. o. S. x). Vgl. Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 256. 249 250
217 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die historische Genese normativer Geltung
Doxa überwunden wird. Die paradigmatische Bedeutung der Dialogsituation in Platons Kriton lässt sich anhand von Habermas’ Analyse der entwicklungslogischen Rolle der Beobachter- und Teilnehmerperspektive der dritten Person in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« erschließen. Die Beobachter- und die Teilnehmerperspektive kommen im Kriton jeweils in doppeltem Sinne ins Spiel. Der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips wird in einer wissenschaftlichen (bzw. philosophischen) Beobachterperspektive eingeführt (s. o. S. 168). Die Gesetze Athens weisen exemplarisch darauf hin, dass jener Kernaspekt in die Rechtsordnungen und öffentlich sanktionierten Normenkodices staatlich organisierter Gesellschaften eingehen muss. Hierbei ist es unerheblich, ob die Akteure ausdrücklich auf die Sicherung funktionsfähiger Sozialstrukturen hinwirken oder religiösen Geboten folgen, den hergebrachten Sitten treu bleiben wollen u. ä. Auch wenn sie sich nicht explizit am rationalen Gehalt des Universalisierungsprinzips, das im Kriton genannt wird, orientieren, kommen sie nicht umhin, seinem funktionalen Blickwinkel Rechnung zu tragen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn die Umsetzung radikaler religiöser Forderungen oder das Beharren auf tradierten Normierungen unter gewandelten historischen Umständen dysfunktionale Folgen für eine Gesellschaft hat. Der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips im Kriton gehört somit zum Faktizitätsapriori staatlich organisierter Gesellschaften. Dieses kann den historischen Lebenswelten nicht direkt entnommen werden; es gewinnt erst in der wissenschaftlichen bzw. philosophischen Reflexion den Charakter eines Apriori. Kritons Plan, Sokrates’ Hinrichtung mit Hilfe von Korruption zu verhindern, macht sich die in der lebensweltlichen Beobachterperspektive gewonnene Einsicht in Optionen des strategischen Handelns zunutze. Kritons Appell, Sokrates solle mit Rücksicht auf seine Familie und seine Freunde die Gelegenheit zur Flucht ergreifen, ist in der Teilnehmerperspektive sozialer Netzwerke verortet, deren Normierungen die Solidaritätspflichten archaischer Familienund Stammesverbände unter den Rahmenbedingungen staatlich organisierter Gesellschaften abseits der Öffentlichkeit fortführen. Sokrates’ fiktives Gespräch mit den Gesetzen Athens steht metaphorisch für die öffentliche Teilnehmerperspektive, die mit der Staatsgründung etabliert wird. Sokrates macht gegenüber Kriton geltend, dass jeder Bürger dem Kernaspekt des Universalisierungsprinzips öffentlich zustimmen muss – zumindest implizit. Habermas’ Feststellung, dass auf dem konventionellen Niveau erstmals Gerech218 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht
tigkeitsvorstellungen auf der Basis der »Komplementarität von Verhaltenserwartungen« explizit formuliert werden, 251 gewinnt durch den Kernaspekt des Universalisierungsprinzips im Kriton einen materialen Gehalt, der in allen staatlich organisierten Gesellschaften unverzichtbar ist. Sokrates’ maieutische Methode ist von der Überzeugung geleitet, dass soziale Akteure, die Partikularinteressen strategisch verfolgen, nicht in der Lage sind, ihr faktisches Handeln in öffentlichen Diskursen konsistent zu erklären. Seine Zielsetzung, das »in Wahrheit« (Ge)Rechte durch die Ausräumung solcher Inkohärenzen freizulegen, bleibt allerdings weitgehend programmatisch. Die demokratische Staatsform, die er als den adäquaten institutionellen Rahmen für die Realisierung des wahrhaft (Ge)Rechten ansieht, lässt sich an den im Kriton intendierten Überschritt vom Kernaspekt des Universalisierungsprinzips zur funktionalen Rechtfertigung sozialer Hierarchien nur rudimentär anschließen (s. o. S. 176 ff.). Zudem kann Sokrates keine allgemeinverbindlichen Kriterien für die Beurteilung der Stimmigkeit normativer Selbstbeschreibungen angeben. Dies macht seine Kritik an der überlieferten Religion deutlich. Er wendet gegen das herkömmliche Verständnis der Frömmigkeit ein, es laufe auf eine Geschäftsbeziehung zwischen Menschen und Göttern hinaus und eigne sich damit zur Bemäntelung eines rein interessegeleiteten Handelns (s. o. S. 184). Diese Kritik hat ihm den Vorwurf eingebracht, er missachte die Götter. Wie sein Gerichtsprozess zeigt, gibt es zwischen ihm und den Anhängern der überlieferten Religion keine Gesprächsbasis für die Klärung der Frage, inwieweit die Religion der Doxa Vorschub leistet. Da sich der Glaube an die Existenz göttlicher Wesen nicht philosophisch widerlegen lässt, kann Sokrates die Behauptung nicht allgemeinverbindlich entkräften, er halte das überlieferte Verständnis der Frömmigkeit nur deshalb für inkohärent, weil er es aus einer Außenperspektive betrachte, der die Quintessenz der Religion verborgen bleibe. Der entwicklungslogische Fortschritt der stoischen Idee der Kosmopolis, die Cicero in ihre für die Folgezeit klassische Gestalt brachte, besteht in der »universalistische[n]« Ausweitung des Blickwinkels der Polis-Ethik. 252 In Ciceros Naturrechts-Lehre lässt sich aufgrund ihrer expliziten Anknüpfung an Sokrates und Platon die vollständige 251 252
Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 178 f. Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 472.
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Dezentrierung der Teilnehmerperspektive einer dritten Person, die in Platons Kriton der Sache nach in Ansatz gebracht wird, konstatieren (s. o. S. 193). Den historischen Hintergrund des KosmopolisGedankens bilden der Aufbau eines Netzes von Verträgen zwischen Staaten bzw. Völkern und die Absorption der Stadtstaaten durch Großreiche in der Epoche des Hellenismus und des Aufstiegs Roms. Im Römischen Reich gewann die Idee der Kosmopolis Einfluss auf das positive Recht. 253 Sie mündet bei Locke in die universalistische Vernunftmoral ein, die als Beurteilungskriterium des durch Positivität, Legalismus und Formalität charakterisierten neuzeitlichen staatlichen Rechts fungiert. Den Ausgangspunkt für die diskursethische Reformulierung der Locke’schen Menschenrechts-Konzeption bildet seine Idee einer im Naturrecht fundierten Gemeinschaft aller Menschen (s. o. S. 204). Nach Locke ist das Naturrecht für diejenigen nicht verbindlich, die ihre »Vernunft noch nicht richtig gebrauchen« können. 254 Das Naturrecht kann demzufolge nur durch rationale Argumentation adäquat erkannt werden. Unter der »natürlichen Gemeinschaft« aller Menschen im Second Treatise 255 ist somit eine Diskursgemeinschaft zu verstehen. Das Postulat, dass alle Menschen »eine einzige Gemeinschaft« bilden, 256 kann unter nachmetaphysischen Bedingungen nicht in einem mit unbedingtem Anspruch auftretenden Naturrecht verankert werden. Die Diskursethik im Apel’schen Sinne dreht das Fundierungsverhältnis zwischen den Menschenrechten und der »natürlichen Gemeinschaft« aller Menschen im Second Treatise um, indem sie die universale Diskursgemeinschaft als Begründungsinstanz der Menschenrechte in Ansatz bringt. (2) Die Strukturparallele zwischen der idealen Diskursmoral und dem Universalisierungsprinzip in Platons Kriton, das Apel selber nicht thematisiert, tritt anhand seiner Erwiderung auf die Kritik Iltings an seiner Diskursethik zutage. Ilting zieht aus der Tatsache, dass die impliziten Voraussetzungen der Konsensbildung in rationalen Diskursen (im engen, spezifischen Wortsinn) in der »Bemühung um ein gemeinsames Handlungsziel begründet« sind, den Schluss, dass sie »keine moralisch verbindlichen Normen«, sondern »lediglich 253 254 255 256
Watson: »The Natural Law and Stoicism«, S. 224 f. Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, § 57, S. 51. A. a. O., § 128, S. 105. Ebd.
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zweckrational bedingte« Imperative enthalten. 257 Apel verkenne, dass die Regeln, die in jedem rationalen Diskurs beachtet werden müssen, wenn ein allgemeingültiges Resultat erzielt werden soll, aufgrund ihrer Anbindung an Zweckrationalität von ganz anderer Art seien als jene Normen mit unbedingtem Geltungsanspruch, »die anzuerkennen wir genötigt sind, wenn anders wir miteinander in moralisch und rechtlich geordneten Verhältnissen leben wollen«. 258 Apel entgegnet auf diese Kritik, dass Ilting die Pointe des transzendentalpragmatischen Ansatzes verfehlt, da er den Begriff der Zweckrationalität undifferenziert verwendet: Ilting stellt die Verfolgung eigener und gemeinsamer Interessen auf dieselbe Stufe. 259 Apel gibt Ilting nur in der Hinsicht Recht, dass jeder, der in einen rationalen Diskurs eintritt, ein Interesse an der Ermittlung allgemeinverbindlicher Resultate hat und in diesem Sinne zweckrational handelt. Ilting ignoriert jedoch die »Notwendigkeit der analytischen Trennung des konsensuellkommunikativen und des strategischen Selbstinteresses« in argumentativen Diskursen: Er blendet die »Einschränkungen« der individuellen »Interessenrealisierung« aus, die mit der diskursiven Überprüfung der Geltungsansprüche unserer Überzeugungen einhergehen. 260 Die Diskursteilnehmer geraten in einen performativen Selbstwiderspruch, wenn sie für sich das Recht reklamieren, aus dem Diskurs auszusteigen, sobald sie die auf dem aktuellen Diskussionsstand erzielten Ergebnisse für befriedigend halten: Wer in einen rationalen Diskurs eintritt, verpflichtet sich dazu, allgemeinverbindliche Ergebnisse anzustreben; die Entscheidung darüber, welche Ergebnisse als allgemeinverbindlich akzeptiert werden können, wann eine Diskussion also ans Ziel gekommen ist, muss konsensuell getroffen werden, da andernfalls der Diskurs insgesamt seinen Sinn verlöre. Die Mitwirkung an ihm schließt somit die Selbstverpflichtung ein, ihn auch dann weiterzuführen, wenn vermeintliche Gewissheiten, an denen man hängt, untergraben werden. Dem Diskurs wird demnach die Grundlage entzogen, wenn man ihn für eigene Interessen nutzbar machen will. Der »universalen Mitverantwortung« aller Dis257 Ilting: »Der Geltungsgrund moralischer Normen«. In: Wolfgang Kuhlmann/Dietrich Böhler (Hrsg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M. 1982. S. 612–648, hier: 626. 258 A. a. O., S. 612, 614. 259 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 277, 269. 260 A. a. O., S. 269.
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kursteilnehmer bei der argumentativen »Problemlösung« im Diskurs, die man nur um den Preis des performativen Selbstwiderspruchs leugnen kann, korrespondiert das Recht, aus ihm nicht ausgeschlossen zu werden, solange man die ideale Diskursmoral respektiert. 261 Auf dieser Basis setzt Apel Iltings Behauptung, die Präsuppositionen argumentativer Diskurse seien auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt als die moralischen und rechtlichen Normierungen unserer Lebenspraxis, die These entgegen, dass zwischen dem rationalen Diskurs und der lebensweltlichen Kommunikation und Interaktion sowohl eine »Kontinuität« als auch eine »qualitative Differenz« besteht. 262 Auf der einen Seite ist »die Möglichkeit und das Bedürfnis nach einer Lösung von Konflikten durch Verständigung über Geltungsansprüche schon in der lebensweltlichen Kommunikation angelegt«; Apel beruft sich hierbei auf Habermas’ universalpragmatische Analyse der Geltungsbasis der Rede. 263 Auf der anderen Seite sind die »strategische und die konsensualkommunikative Motivation« nach Apel in der lebensweltlichen Kommunikation und Interaktion – anders als im argumentativen Diskurs – »nicht getrennt«. 264 Apel begründet dies damit, dass sich die Lebenswelt »immer schon im Sinne verschiedener Lebensformen differenziert« und die faktisch etablierten Normenkodices partikularer Lebensformen, die die Ausgangsbasis der lebensweltlichen Verständigung über den Geltungsanspruch der normativen Richtigkeit bilden, mit den »ideologischstrategischen Interessen sozialer Selbstbehauptungssysteme« verwoben sind. 265 Die Kontinuität wie auch die qualitative Differenz zwischen dem argumentativen Diskurs und der lebensweltlichen Kommunikation und Interaktion lässt sich anhand von Apels Stellungnahme zu utilitaristischen Kooperationstheorien weiter konkretisieren. 266 Man muss die »plausiblen Argumente« solcher Theorien »im nichtegoistischen Sinne verstehen«, um sie als Beitrag zur Klärung der »rationale[n] Motivation« kooperierender Akteure »würdigen« zu können. 267 Der 261 262 263 264 265 266 267
A. a. O., S. 253. A. a. O., S. 277. Ebd., a. a. O., S. 238 f. Anm. 28. A. a. O., S. 278. A. a. O., S. 238 Anm. 28, 278. A. a. O., S. 243 f. A. a. O., S. 244.
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Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht
Utilitarismus fasst zu Recht die gemeinsamen Interessen, die in jeder Kooperation verfolgt werden, als Summe bzw. Schnittmenge von Einzelinteressen auf, wobei er zugleich von den Beteiligten verlangt, eigene Belange in Konfliktfällen dem größeren Nutzen anderer unterzuordnen. Falls niemand hierzu bereit ist, wird die Kooperation beim Auftreten von Interessenkollisionen gelähmt. Sie kann somit auf Dauer nur funktionieren, wenn ein »Universalisierungsprinzip der Gerechtigkeit oder Fairness« allgemein akzeptiert wird, das die Beteiligten dazu auffordert, ihre Handlungsintentionen stets daraufhin zu prüfen, welche Konsequenzen sich für das jeweilige Kooperationsziel ergeben, wenn alle anderen genauso agieren wie man selbst. 268 Hierbei wird die Gerechtigkeit im Sinne der Fairness insofern in Ansatz gebracht, als sich alle Kooperationspartner diese Frage stellen sollen. 269 Es wäre daher verfehlt, das individuelle Selbstinteresse zur genuinen Gestalt der rationalen Motivation kooperierender Akteure zu erklären. Ein konsequenter Egoist ist auf einen »parasitären Surplus-Vorteil« aus: Er nimmt die Früchte der Kooperation für sich in Anspruch und ist zugleich entschlossen, die Regeln, die allgemein beachtet werden müssen, wenn die Kooperation auf Dauer zielführend sei soll, bei passender Gelegenheit zu brechen, sofern »keine Sanktionen zu befürchten sind«. 270 Er muss jedoch den Anschein erwecken, dass er das für die Kooperation unerlässliche Universalisierungsprinzip respektiert. Wer sich die »post-Aufklärungs-Frage: ›Warum moralisch sein?‹« stellt, gelangt nach Apel zu der Einsicht, dass er sowohl im rationalen Diskurs als auch in der Interaktion im Rahmen gemeinsamer Lebensformen ein Universalisierungsprinzip, das auf das jeweilige Kooperationsziel bezogen ist, als ein »deontisches« bereits anerkannt hat. 271 Die Teilnehmer eines rationalen Diskurses kooperieren im ursprünglichen Wortsinn miteinander. Alle, »die argumentieren können«, sind eingeladen, an ihm mitzuwirken; die Diskurspartner sind prinzipiell gleichberechtigt. 272 Mit dem Universalisierungsprinzip: »Jeder soll am Diskurs in der Weise mitwirken Ebd. Die Bezugnahme auf konkrete Kooperationsziele unterscheidet die Universalisierungsprinzipien, die Apel hier im Blick hat, vom Universalisierungsgrundsatz U. 270 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 243. 271 A. a. O., S. 244, 277 f. 272 A. a. O., S. 253, 256. 268 269
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(können), dass allgemeingültige Ergebnisse erzielt werden können, wenn alle anderen Diskurspartner genauso agieren« lassen sich alle Pflichten und Rechte der idealen Diskursmoral (s. o. S. 48 f.) begründen. Aus ihm resultiert zugleich die Befugnis, diejenigen auszuschließen, die die Diskursregeln brechen; dies ist für einen zielführenden Fortgang des Diskurses unerlässlich. Das Universalisierungsprinzip rationaler Diskurse ist insofern ein deontisches, als sich jeder Diskurspartner selber zu seiner Beachtung verpflichtet – andernfalls gerät er in einen performativen Selbstwiderspruch. Die sozialen Interaktionen innerhalb geteilter Lebensformen haben bloß partiell den Charakter der Kooperation im ursprünglichen Wortsinn, der die Freiwilligkeit und die prinzipielle Gleichberechtigung der Akteure einschließt. Der Begriff der Kooperation lässt sich auf die Lebenswelt im Ganzen nur im weiten Sinne der Arbeitsteilung anwenden: Diese ist bereits für archaische Stammesgesellschaften basal. Der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips in Platons Kriton ist ein ›Kooperationsprinzip‹ im weiten Wortsinn, das allen Rechtsordnungen und öffentlichen sozialen Normenkodices staatlich organisierter Gesellschaften zugrunde liegt (s. o. S. 168 ff.). Die Kontinuität zwischen den Interaktionsstrukturen geteilter Lebensformen und der idealen Diskursmoral wird daran sichtbar, dass aus jenem Kernaspekt die generellen Verbote des Mordes, der Körperverletzung, Freiheitsberaubung und der Lüge entspringen, denen die ideale Diskursmoral unumschränkte Gültigkeit innerhalb von Diskursen zuerkennt (s. o. S. 48); 273 zugleich lässt sich mit jenem Kernaspekt die Verhängung von Sanktionen gegen rücksichtslose Egoisten legitimieren. Während das Universalisierungsprinzip rationaler Diskurse alle potentiellen Gesprächspartner einbezieht, sind die Universalisierungsprinzipien partikularer Lebensformen an Gruppeninteressen angebunden – sei es auch an das Wohl eines Partikularstaats im Ganzen. Solche Universalisierungsprinzipien stellen es ihren Adressaten frei, gegenüber denjenigen, die nicht zu ihrem Bezugsrahmen gehören, strategisch zu agieren. Die Verflechtung partikularer Normenkodices mit den »ideologisch-strategischen Interessen sozialer Selbstbehauptungssysteme« 274 tritt nicht nur an zwischenstaatlichen Beziehungen zu273 Zum Recht auf Sicherung der materiellen Subsistenz, das die ideale Diskursmoral einschließt, s. u. S. 230 f. 274 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 238 Anm. 28.
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tage – für die strategische Verfolgung nationaler Interessen werden in der Regel normative Gründe angeführt, die auf die eigenen Belange zugeschnitten sind –; auch innerstaatliche Herrschaftsverhältnisse werden fast durchgängig normativ legitimiert. Gegen die ideologische Verschleierung von Partikularinteressen richten sich die philosophischen »Aufklärungsbewegungen«, die Anstöße zur Rationalisierung des Rechts gaben. 275 In Platons Kriton wird mit dem Überschritt vom Kernaspekt des Universalisierungsprinzips zur demokratischen Staatsform die rationale Konsensbildung zum Maßstab der Gesellschaftsordnung erhoben (s. o. S. 179 f.). Die kosmopolitische Ausweitung des Universalisierungsprinzips im Kriton in der Naturrechts-Tradition bereitete dem modernen Völkerrecht den Boden. Durch diese Rationalisierungsprozesse wurde die qualitative Differenz zwischen dem rationalen Diskurs und der lebensweltlichen Kommunikation und Interaktion schrittweise reduziert. Die diskursethischen Rationalitätsmaßstäbe sind somit nicht bloß in Hinblick auf die philosophische Tradition, sondern auch in Hinblick auf die Evolution der Gesellschaft ein »Ergebnis der Geschichte«. 276 Das Diskursapriori ist im Faktizitätsapriori moderner Lebenswelten gleichsam präformiert. Apel hält in seiner Auseinandersetzung mit Ilting an seinem Letztbegründungs-Anspruch in der ursprünglichen Version fest. Er weist Habermas’ – m. E. berechtigte – Einwände ab, dass man niemanden zum Eintritt in rationale Diskurse verpflichten, für die ideale Diskursmoral also erst recht keine Geltung außerhalb von Diskursen reklamieren kann. 277 Apel ist sich zwar mit Habermas darin einig, dass die Diskursethik die »Aufgabe einer Begründung bzw. Legitimation und kritischen Rekonstruktion der bestehenden und weiterzuentwickelnden Normensysteme« hat, er lehnt dessen »Begründungs-Rekurs auf die Lebenswelt« jedoch in »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?« grundsätzlich ab; 278 erst in seiner Stellungnahme zu Habermas’ Faktizität und Geltung erkennt er lebensweltlicher Faktizität eine diskursethische Begründungsfunktion zu (s. o. S. 135–138).
Ebd. Vgl. Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 470. 277 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 237–239 Anm. 28, S. 266. 278 A. a. O., S. 259 f., 238 Anm. 28. 275 276
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Apel konkretisiert seinen Letztbegründungs-Anspruch dahingehend, dass die lebensweltlichen Universalisierungsprinzipien insoweit einen deontischen Geltungsstatus haben, wie sie als Stationen der »progressiv[en]« Realisierung der »normativen Kommunikations- und Interaktionsbedingungen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft« und damit als »historisch legitimierbare Teilrealisierungen« des diskursethischen Universalisierungsprinzips begriffen werden können. 279 Hierin besteht das Apel’sche Leitkriterium für die Legitimation bzw. kritische Rekonstruktion der »bestehenden und weiterzuentwickelnden Normensysteme«, wobei als Indiz für weltgeschichtliche Rationalisierungsprozesse die Erweiterung des Bezugsrahmens der lebensweltlichen Universalisierungsprinzipien fungiert. Dies ist das Apel’sche Pendant zur entwicklungslogischen Schlüsselrolle der Dezentrierung der Teilnehmerperspektive einer dritten Person in Habermas’ »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«. Die Rekonstruktion des lebensweltlichen Entstehungszusammenhangs der Diskursethik ist die Ausgangsbasis ihres Verwendungszusammenhangs, d. h. der Begründung bzw. kritischen Rekonstruktion der bestehenden und weiterzuentwickelnden Normensysteme. Hierbei muss die Diskursethik die »geschichtlich vorgegebene Moral- und Rechtsordnung« daraufhin überprüfen, ob sie Rationalisierungstendenzen der Lebenswelt befördert oder behindert. 280 Apel stellt den »Willen zur selbstkonsistenten Argumentation« ins Zentrum des Verwendungszusammenhangs der Diskursethik, und zwar in doppeltem Sinne: 281 (i) Er bringt seinen Letztbegründungs-Anspruch mit einer terminologischen Anspielung auf die Ethik Kants auf die Formel, dass jeder, der »mit dem Willen zur Selbstkonsistenz argumentiert«, das transzendentalpragmatisch verstandene »Sittengesetz«, also die diskursethischen Grundprinzipien, anerkennen muss. 282 Apel setzt hierbei voraus, dass nicht bloß die ideale Diskursmoral, sondern auch sein teleologisches Ergänzungsprinzip, das den Aufbau einer globalen Rechtsordnung auf der Basis der Menschenrechte verlangt, nur um
279 A. a. O., S. 244, 256, 277 f., Apel: »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, S. 404. 280 A. a. O., S. 246, 256. 281 A. a. O., S. 231, vgl. 238 Anm. 28. 282 A. a. O., S. 231.
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den Preis des performativen Selbstwiderspruchs missachtet werden können. 283 (ii) Die Kritik der Aufklärungsbewegungen an den ideologischstrategischen Interessen sozialer Selbstbehauptungssysteme ist durch den Willen zur selbstkonsistenten Argumentation motiviert. In der intern-hermeneutischen Betrachtungsweise von Apels Selbsteinholungsprinzip lässt sich der Einfluss der Aufklärungsbewegungen auf die Weiterentwicklung sozialer Normenkodices und des Rechts mit dem »Interesse der argumentativen Vernunft an ihrer Selbstkonsistenz« erklären, d. h. mit der Motivationskraft argumentativer Kohärenz-Kriterien. 284 In dieser Betrachtungsweise stellt sich die analytische Trennung des konsensuellkommunikativen und des strategischen Selbstinteresses im rationalen Diskurs (s. o. S. 221) als das Telos der historischen Evolution lebensweltlicher Universalisierungsprinzipien dar. Dies deckt sich im Kern mit Habermas’ Leitthese in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, dass diejenige »Idee der Gerechtigkeit«, die der »im Diskurs unterstellten Reziprozität entnommen« werden kann, die »Wahrheit« ihrer entwicklungslogischen Vorstufen ans Licht bringt. 285 Apel ergänzt Habermas’ entwicklungslogische Argumentation um eine ideologiekritische Dimension. Bei der kritischen Rekonstruktion der Normenkodices historischer Gesellschaften muss geklärt werden, inwieweit inkonsistente Vermischungen von konsensuellkommunikativen und strategischen Interessen auf dem jeweiligen Stand des weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses für die Akteure durchschaubar waren und dementsprechend als Indiz für Täuschungen bzw. Selbsttäuschungen gewertet werden können. 286 Wenn es solche Indizien gibt, ist es die Aufgabe der extern-erklärenden Betrachtungsweise, die strategische Funktion der ideologischen Verzerrungen aufzuweisen. Der ideologiekritische Zug von Apels Programm einer kritischen Rekonstruktion der bestehenden und weiterzuentwickelnden Normensysteme knüpft an Sokrates’ Zielsetzung an, die Doxa mittels argumentativer Konsistenzkriterien in öffentlichen Diskursen aufzudecken. A. a. O., S. 253, 256, 276 f. A. a. O., S. 238 Anm. 28, 240 f. 285 Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 179. S. o. S. 153. 286 Apel: »Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?«, S. 267. 283 284
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(iii) Gibt man Apels ethischen Letztbegründungs-Anspruch preis – wozu Habermas’ Einwände m. E. zwingen –, muss man es jedem anheimstellen, ob er in einen rationalen Diskurs (im engen, spezifischen Wortsinn) über normative Fragen eintreten will. Man kann den lebensweltlichen Universalisierungsprinzipien nicht länger einen deontischen Zug im Sinne einer unbedingten Verpflichtung zuschreiben und niemanden mit normativen Gründen davon abhalten, rein strategisch zu agieren. Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass sich auch unter diesen Umständen die These aufrecht erhalten lässt, die für Apels Programm einer dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori und damit zugleich von Moral und Recht essentiell ist: dass aus dem Verwendungszusammenhang der Diskursethik, dem die Rekonstruktion ihres Entstehungszusammenhangs zugrunde liegt, die normativ verbindliche Zukunftsperspektive einer weltumspannenden, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsordnung entspringt, wobei allerdings »normative Verbindlichkeit« hier nicht im Sinne eines präskriptiven »Muss« zu verstehen ist (s. u. S. 237 f.). Die genannte These soll dadurch begründet werden, dass das Kriterium der argumentativen Selbstkonsistenz auf die Erörterung des Geltungsstatus der Universalisierungsprinzipien moderner Lebensformen in einem rationalen Diskurs appliziert wird. Die Ergebnisse der argumentativen Verständigung über dieses Thema berechtigen dazu, die Respektierung der Menschenrechte auch von denen zu verlangen, die den Diskurs verweigern (s. u. S. 234 f.). Im Entstehungszusammenhang der Diskursethik kommt der Ausweitung des Bezugsrahmens lebensweltlicher Universalisierungsprinzipien durch zwischenstaatliche Verträge eine Schlüsselrolle zu. Die Verhandlungen, die diesen Verträgen vorangehen, bewegen sich aufgrund des neuzeitlichen Säkularisierungsprozesses zunehmend in einem profanen, rationalen Rahmen. Die Vertragsbeziehungen innerhalb der modernen, westlich geprägten Rechtsstaaten haben fast durchgängig einen rein säkularen Charakter. Die Forderung, Verträge einzuhalten, lässt sich nicht im ›wohlverstandenen Selbstinteresse‹ der Individuen fundieren: Wer einen Vertrag ausschließlich aus eigennützigen Motiven abschließt, tut dies mit dem geheimen Vorbehalt, ihn zu brechen, wenn er sich hiervon Vorteile verspricht und Sanktionen umgehen kann. 287 So stellt sich die Frage nach dem normativen Fundament säkularer Vertragsverhältnisse. 287
A. a. O., S. 243.
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In einem rationalen Diskurs kann man den Abschluss zwischenstaatlicher Verträge ebenso wenig zu einer normativen Pflicht erklären wie die Errichtung partikularstaatlicher Gewaltmonopole. Zwischenstaatliche Verträge haben in dem Sinne einen kooperativen Grundzug, dass sie freiwillig abgeschlossen werden. Dies gilt auch dann, wenn einer der Staaten aufgrund eines politischen oder wirtschaftlichen Machtgefälles Vertragsbedingungen diktieren kann, da sich der schwächere Staat dazu entscheidet, diese Bedingungen anzunehmen, um Risiken abzuwenden. Die Vertragspartner müssen sich in ihren Verhandlungen zu einem Universalisierungsprinzip bekennen, das alle Verhaltensweisen verbietet, die den Vertragsabschluss verhindern oder ihn im Nachhinein zunichtemachen, wenn sie allgemein praktiziert werden. Die Partner müssen einander versichern, dass sie ihre Absichten wahrheitsgemäß vorbringen, die Vertragsbestimmungen einhalten wollen usw. Die Motive für die Anerkennung eines solchen Universalisierungsprinzips können allerdings nicht konsistent formuliert werden, so lange sein Bezugspunkt lediglich ein einzelner Vertrag ist, so lange es also lautet: »Handle so, dass dieser Vertrag abgeschlossen und aufrechterhalten werden kann, wenn alle Beteiligten so agieren wie du«. Denn die Partner streben den Vertragsabschluss jeweils im eigenen Interesse an; er verdankt sich einer Überlappung ihrer Interessen unter kontingenten Umständen. Solange es ausschließlich um diesen einen Vertrag geht, können die Parteien somit keine plausiblen Gründe dafür anführen, dass sie ihn auch dann als bindend betrachten wollen, wenn ihnen der Ausstieg aus ihm langfristig Vorteile verspricht. Ihre Vertragstreue bleibt demnach grundsätzlich zweifelhaft. Dieses Dilemma kann durch den Aufbau eines Netzes zwischenstaatlicher Verträge entschärft werden – aber nicht gelöst, solange die Vertragspartner ausschließlich von ihrem ›wohlverstandenen Selbstinteresse‹ geleitet sind. Bei der Etablierung eines Vertragsnetzes wird der Bezugsrahmen der Universalisierungsprinzipien, die in jedem einzelnen Vertrag im Spiel sind, erweitert. Da das Vertragsnetz nur Bestand haben kann, wenn der Vertragsbruch eine Ausnahme bleibt, müssen sich die Staaten in ihren Selbstbeschreibungen auf ein Universalisierungsprinzip des Typs verpflichten: »Welche Konsequenzen hätte es für das Vertragsnetz im Ganzen, wenn alle anderen genauso handeln wie man selbst?« Die Hemmschwelle für Vertragsbrüche wird hierdurch erhöht: Die zu erwartenden Sanktionen können auf breite Zustimmung rechnen; die Beschädigung der eigenen Glaub229 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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würdigkeit erschwert künftige Vertragsabschlüsse. Die Vertragstreue bleibt jedoch prekär, solange ihr lediglich eine Kosten/Nutzen-Rechnung zugrunde liegt. Dies ändert sich erst dann, wenn die Staaten grundsätzlich bereit sind, auf Angriffskriege zur Durchsetzung eigener Interessen zu verzichten und damit alle anderen Staaten als potentielle Vertragspartner anzuerkennen. Wenn sich ein Staat durch militärische Aggression Vorteile verschaffen will, kann er den Verdacht nicht entkräften, dass er bei den Verträgen, die er abgeschlossen hat, lediglich seine eigenen Belange im Blick hat. Die normative Basis des Verzichts auf interessengeleitete Angriffskriege und damit der Vertragstreue in zwischenstaatlichen Beziehungen im Ganzen kann die Diskursethik aufweisen. Sie kann diejenigen Vertragspartner, die bereit sind, rationale Diskurse zu führen, darauf aufmerksam machen, dass sie in ihren Verhandlungen einander die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und selbstbestimmtes Handeln, die die ideale Diskursmoral in sich befasst, zuerkennen und einander versichern müssen, dass sie sich auch nach dem Abschluss der Verhandlungen hieran halten werden. Wenn man Apels ethischen Letztbegründungs-Anspruch als uneinlösbar betrachtet, kann man zwar keine normative Verpflichtung postulieren, Zusagen einzuhalten; man kann aber ein rationales Motiv für den Entschluss benennen, die Rechte und Pflichten der idealen Diskursmoral, die die Verhandlungspartner in ihren Gesprächen anerkennen müssen, da sie andernfalls in einen performativen Selbstwiderspruchs geraten, auch außerhalb der Gesprächssituation zu respektieren: Das fragliche Motiv besteht im Willen zur Wahrhaftigkeit und damit zur Konsistenz des eigenen verbalen und non-verbalen Verhaltens. Die ideale Diskursmoral erkennt jedem potentiellen Diskurspartner Grundrechte zu. Staatliche Repräsentanten, die zwar Verträge abschließen, sich aber weigern, alle anderen Staaten als potentielle Vertragspartner anzuerkennen und auf interessengeleitete Angriffskriege zu verzichten, können nicht konsistent erklären, warum sie Grundrechte ihrer Verhandlungspartner respektieren wollen – wie sie behaupten –, dieselben Grundrechte aber nicht auch den Bürgern aller anderen Staaten zugestehen. Da sich diese Ungleichbehandlung offenkundig nicht normativ rechtfertigen lässt, kommt als Erklärungsgrund nur die Tatsache in Frage, dass im einen Fall die Zusage, Grundrechte der Verhandlungspartner konsequent zu beachten, für den Vertragsabschluss unverzichtbar ist, während sich im anderen 230 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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Fall eine solche Zusage erübrigt. Die betreffenden Akteure können aber nicht als Motiv für die konsequente Respektierung von Grundrechten ihrer Verhandlungspartner die faktische Notwendigkeit anführen, dies in den Verhandlungen zuzusagen. Da sie dem Verbot der gewalttätigen Aggression, das zur idealen Diskursmoral gehört, keine universale Geltung zubilligen, ist nicht einzusehen, dass sie sich an das Verbot der Lüge gebunden fühlen sollten. Sie können somit die Position, die sie für sich reklamieren, in einem rationalen Diskurs nicht konsistent vertreten. Diejenigen Verhandlungspartner, die vom Willen zur argumentativen Selbstkonsistenz geleitet sind, müssen dem Universalisierungsprinzip zwischenstaatlicher Vertragsnetze daher folgende Gestalt geben: »Können Interessengegensätze zwischen Staaten durch Verhandlungen unter Verzicht auf Gewaltpraktiken beigelegt werden, wenn alle so agieren wie man selbst?« Die staatlichen Repräsentanten, die dieses Universalisierungsprinzip anerkennen, können durch die Forderung nach argumentativer Selbstkonsistenz, die in rationalen Diskursen unhintergehbar ist, dazu verpflichtet werden, die demokratische Staatsform als die im Grundsatz einzig legitime zu betrachten. In autoritär regierten Staaten wird die Möglichkeit der Konfliktlösung durch Verständigungsprozesse beschnitten; Kritik an den bestehenden Machtstrukturen wird mit repressiven Mitteln niedergehalten. Man kann nicht konsistent dafür argumentieren, dass die Forderung nach der Verständigung über Interessengegensätze unter Absehung von Gewaltpraktiken nur in das Universalisierungsprinzip zwischenstaatlicher Vertragsverhältnisse eingehen soll, nicht aber in die partikularstaatlichen Universalisierungsprinzipien, die in jeder staatlichen Rechtsordnung implizit im Spiel sind. Der in Platons Kriton anvisierte Überschritt vom Kernaspekt partikularstaatlicher Universalisierungsprinzipien zur demokratischen Staatsform lässt sich somit in einem rationalen Diskurs über die normativen Grundlagen der Rechts- und Vertragsverhältnisse moderner Lebensformen mittels des Kriteriums argumentativer Selbstkonsistenz begründen. Die Forderung, die jeder Staat an seine Bürger stellen muss: sich stets die Frage vorzulegen, ob staatliche Ordnungsstrukturen aufrechterhalten werden können, wenn alle anderen genauso handeln wie man selbst, kann nur dann konsistent vertreten werden, wenn er jedem das Recht auf Sicherung der materiellen Subsistenz einräumt. Da es keine normative Verpflichtung zur Etablierung partikularstaatlicher Gewaltmonopole gibt, können diese in einem rationalen Dis231 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
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kurs unter nachmetaphysischen Bedingungen nur mit ihrem Nutzen für die Befriedigung vitaler Interessen der Bürger gerechtfertigt werden. Diese Legitimationsbasis wird beschädigt, wenn der Staat diejenigen, die sich in den Arbeitsprozess nicht – oder nicht länger – eingliedern und ebenso wenig auf familiäre oder karitative Unterstützung zählen können, ihrem Schicksal überlässt, obwohl ihm Ressourcen für die Finanzierung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung stünden. In diesem Fall kann der Staat nicht konsistent dafür argumentieren, dass die Betroffenen auf Diebstahl zur Subsistenzsicherung verzichten sollen – was er insofern verlangen muss, als jede arbeitsteilige Gesellschaft auf die Institution des Eigentums angewiesen ist. Das Recht auf Sicherung des eigenen Lebensunterhalts, das jeder säkulare Staat seinen Bürgern zuerkennen muss, verlangt, dass jeder als Eigentümer seiner Arbeitskraft rechtlich anerkannt wird und einen Anspruch darauf hat, von ihren Resultaten zu profitieren: Andernfalls gibt es keinerlei Garantie dafür, dass man von seiner Arbeit leben kann. 288 In einem rationalen Diskurs über die normativen Grundlagen moderner Vertragsverhältnisse verpflichtet der Wille zur Selbstkonsistenz des eigenen Redens und Handelns die Repräsentanten der Staaten, die am supranationalen Vertragsnetz partizipieren, somit dazu, jedem Menschen die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, selbstbestimmtes Handeln, Eigentum an der eigenen Arbeitskraft und Subsistenzsicherung zuzuerkennen. Dasselbe gilt für die Bürger der betreffenden Staaten, die dem Aufbau des Vertragsnetzes zustimmen. Wenn ein Diskurspartner den Willen zur Selbstkonsistenz vermissen lässt, gibt es Grund zu der Annahme, dass er Vertragsverhandlungen aus rein strategischen Gründen führt. In diesem Fall sind die anderen Diskurspartner befugt, ihren Verständigungsprozess ohne ihn weiterzuführen und in der Beobachterperspektive nach Erklärungsgründen für die Inkonsistenzen seines Verhaltens zu suchen. Um die These einlösen zu können, dass die Diskursethik den Aufbau einer weltumspannenden, den Menschenrechten verpflichte-
288 Das Recht auf Subsistenzsicherung ist allerdings nur die Minimalgestalt der sozialen Menschenrechte. Der in Kapitel VII 6 unternommene Versuch, die Kontroverse zwischen dem formalrechtlichen und sozialstaatlichen Paradigma zugunsten des Letzteren zu entscheiden (s. o. 126–130), bleibt abstrakt und vorläufig. Eine Klärung des Problems sozialer Gerechtigkeit liegt außerhalb der Reichweite dieser Abhandlung.
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ten Rechtsordnung für normativ verbindlich erklären kann, indem sie in rationalen Diskursen über das Faktizitätsapriori moderner Lebensformen das Diskursapriori geltend macht, sollen die voranstehenden Ausführungen im Rekurs auf Habermas’ Konzeption einer entwicklungslogischen Begründung der postkonventionellen Moral in »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln« in die gattungsgeschichtliche Perspektive des Apel’schen Selbsteinholungsprinzips eingebettet werden; hierbei muss zugleich der Begriff der historisch generierten normativen Verbindlichkeit, der für diese Abhandlung grundlegend ist, geklärt werden. Beim Übergang von der präkonventionellen zur konventionellen Ebene tritt die kategoriale Differenz von Naturgegenständen und Normen zutage. Seitdem die konventionelle Ebene in der Gattungsgeschichte mit der Staatsgründung erreicht ist, kann in der wissenschaftlichen (bzw. philosophischen) Beobachterperspektive aufgewiesen werden, dass jeder Staat von seinen Bürgern verlangen muss, den Kernaspekt des in Platons Kriton erörterten Universalisierungsprinzips zu respektieren, und die Bürger sich in ihren öffentlichen Selbstbeschreibungen hierzu bereit erklären müssen; in diesem Sinne verpflichten sie sich selber zu seiner Beachtung. Dementsprechend enthält die öffentliche Teilnehmerperspektive einer dritten Person aller staatlich organisierten Gesellschaften einen gemeinsamen Kernbereich. Er schließt den konventionellen Begriff der Gerechtigkeit ein (s. o. S. 170). Hieraus lassen sich allerdings keine rationalen Beurteilungskriterien für staatliche Machtstrukturen und die faktisch etablierten sozialen Normenkodices gewinnen, die spezifische Ausnahmen von den ethischen Grundregeln, die der Kernaspekt des Universalisierungsprinzips im Kriton umfasst, für zulässig erklären. Die Frage nach rationalen Normierungen des sozialen und staatlichen Handelns wird beim Aufbau zwischenstaatlicher Vertragsnetze angesichts der Heterogenität religiöser Traditionen und in verstärktem Maße im Zuge des neuzeitlichen Säkularisierungsprozesses virulent. In die genannte Frage mündet die Rekonstruktion der entwicklungslogischen Genese der postkonventionellen Normierungen, d. h. des Entstehungszusammenhangs der Diskursethik, ein. 289 Die ›von unten‹ voranschreitende genetische Rekonstruktion postkonventioneller Normierungen wird in Habermas’ Konzeption ihrer entwicklungslogischen Begründung in »Moralbewusstsein und 289
Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 174.
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kommunikatives Handeln« mit Apels transzendentalpragmatischem Weg ›von oben‹ zusammengeführt. Soziale Akteure, die Verträge auf inner- oder zwischenstaatlicher Ebene auf säkularer Grundlage eingehen und bereit sind, rationale Diskurse über deren normativen Status zu führen, finden einen »der Kontroverse entzogenen Gesichtspunkt« für seine Klärung in den »allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen« rationaler Argumentation. 290 Sie können – wie die voranstehenden Ausführungen zeigen sollten – unter den modernen Lebensbedingungen, für die supranationale Vertragsverhältnisse essentiell sind, nicht glaubhaft versichern, dass sie Verträge einhalten wollen, wenn sie zugleich bestreiten, dass die Rechte und Pflichten der idealen Diskursmoral auch außerhalb von Diskurssituationen gültig sind. Anders ausgedrückt: Sie können in rationalen Diskursen nicht konsistent gegen die universale Geltung der Menschenrechte argumentieren. In diesem Sinne müssen sie sich zur Anerkennung der Menschenrechte verpflichten. Indem die Diskursethik hierauf aufmerksam macht, kann sie als »katalysatorisches Moment« (Habermas) der Rationalisierung der Lebenswelt wirksam werden. Dies macht ihren Verwendungszusammenhang aus. Mit der Selbstverpflichtung derjenigen sozialen Akteure, die säkulare Vertragsbeziehungen eingegangen sind und bereit sind, rationale Diskurse zu führen, auf universale Menschenrechte ist ein Beurteilungsmaßstab für staatliche Rechtsordnungen und zwischenstaatliche Verträge gewonnen. Legt man ihn an partikularstaatliche Universalisierungsprinzipien an, nehmen sie folgende Gestalt an: »Welche Konsequenzen hätte es für die Aufrechterhaltung einer menschenrechts-orientierten Staatsordnung, wenn alle Bürger meines Staates genau so handeln wie ich?« In analoger Weise führt seine Applikation auf die Universalisierungsprinzipien zwischenstaatlicher Vertragsnetze zu folgendem Resultat: »Lassen sich supranationale Vertragsverhältnisse, die den Menschenrechten verpflichtet sind, aufrechterhalten und ausbauen, wenn alle Beteiligten genauso handeln wie man selbst?« Die partikularstaatlichen Universalisierungsprinzipien, dessen Kernaspekt alle Staatsbürger in ihren öffentlichen Selbstbeschreibungen zustimmen müssen, schließen die Befugnis ein, Sanktionen gegen Rechtsbrecher zu verhängen. Wer sich zur Anerkennung der Menschenrechte selber verpflichtet, muss sein faktisch unabdingbares Einverständnis mit Sanktionsmechanismen auf 290
Ebd.
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Menschenrechtsverletzungen ausweiten. Man kann niemanden von der Geltung der Menschenrechte überzeugen, der sich – etwa aus religiösen Gründen – weigert, in rationale Diskurse einzutreten. Diejenigen, die solche Diskurse führen, müssen jedoch die Sanktionierung seines Verhaltens verlangen, wenn er Menschenrechte verletzt. Die Idee der Menschenrechte schließt daher die Forderung nach ihrer rechtlichen »Positivierung« ein. 291 Die Menschenrechte machen »genau den Teil einer aufgeklärten Moral« aus, der »ins Medium des zwingenden Rechts« zu übersetzen ist. 292 Für den weltweiten Schutz der Menschenrechte reichen partikularstaatliche Gewaltmonopole nicht aus: nicht nur aufgrund der begrenzten Einflussmöglichkeiten von Einzelstaaten – auch von Großmächten, die in der Regel miteinander konkurrieren –, sondern auch – und vor allem – aufgrund der Tatsache, dass Staaten menschenrechtliche Anliegen nicht unparteiisch verfolgen können, sondern mit ihren nationalen Interessen als Selbstbehauptungssysteme in Einklang bringen müssen. Daher verlangt der konsequente Schutz der Menschenrechte den Aufbau weltumspannender, mit Sanktionsgewalt ausgestatteter Rechtsinstitutionen und die Kompetenzverlagerung in menschenrechtlichen Fragen von der partikularstaatlichen auf die globale Ebene. Dies ist die Kernforderung von Apels teleologischem Ergänzungsprinzip zur idealen Diskursmoral, das er als Rechtsprinzip versteht. Es bildet den übergreifenden Rahmen für die partikularstaatlichen Universalisierungsprinzipien und die Universalisierungsprinzipien zwischenstaatlicher Vertragsverhältnisse, deren normative Ansprüche ihm damit unterzuordnen sind. Apels teleologisches Ergänzungsprinzip ist das diskursethische Pendant zu Lockes naturrechtlichem Universalisierungsprinzip, das die Sanktionsbefugnis einschließt (s. o. S. 202 f.). Die entwicklungslogische Begründung des Ergänzungsprinzips, die in den voranstehenden Ausführungen (im Sinne eines Diskussionsvorschlags) unternommen wurde, beruht auf der Verknüpfung dreier Formen der Selbstverpflichtung auf Universalisierungsprinzipien: (i) der Staatsbürger auf den Kernaspekt des partikularstaatlichen Universalisierungsprinzips, das in Platons Kriton genannt Apel: »Auflösung der Diskursethik«, S. 822. Habermas: »Das Konzept der Menschenrechte und die realistische Utopie der Menschenwürde«, S. 22. 291 292
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wird, (ii) der Partner säkularer Vertragsverhältnisse moderner Lebensformen, die zwischenstaatliche Vereinbarungen einschließen, auf supranationale Universalisierungsprinzipien, (iii) der Teilnehmer rationaler Diskurse auf das in der idealen Diskursmoral implizit enthaltene Universalisierungsprinzip (s. o. S. 224). Die ersten beiden Formen der Selbstverpflichtung gehören zum Faktizitätsapriori, die dritte resultiert aus dem Eintritt in rationale Diskurse. Alle genannten Universalisierungsprinzipien sind auf Kooperationsziele – im weiten oder engen Sinne des Wortes – bezogen und schließen einen Gerechtigkeitsbegriff ein (s. o. S. 224 f.). Den entwicklungslogischen Ursprung des konventionellen Gerechtigkeitsverständnisses partikularstaatlicher Universalisierungsprinzipien bildet die Konstitution der Teilnehmerperspektive einer dritten Person. Dieses Gerechtigkeitsverständnis bleibt auf den eigenen Staat beschränkt. Der Kernaspekt partikularstaatlicher Universalisierungsprinzipien ist mit innerstaatlichen Herrschaftsstrukturen und Ausbeutungsverhältnissen kompatibel. Der Abschluss zwischenstaatlicher Verträge schließt einen entwicklungslogischen Fortschritt des konventionellen Gerechtigkeitsverständnisses ein, da er freiwillig erfolgt und mit der Dezentrierung der Teilnehmerperspektive einer dritten Person einhergeht. Der Anstoß hierzu ging von den Wandlungen der materiellen Lebensbedingungen historischer Gesellschaften aus. Solange Einzelstaaten über die Gestaltung ihrer vertraglichen Beziehungen souverän entscheiden, sind die Universalisierungsprinzipien ihrer Vertragsverhältnisse mit den Partikularinteressen verwoben, die sie als Selbstbehauptungssysteme verfolgen müssen. Die konventionellen Gerechtigkeitsbegriffe, die diese Universalisierungsprinzipien einschließen, erweisen sich – ebenso wie die der partikularstaatlichen Universalisierungsprinzipien – in rationalen Diskursen über die normativen Grundlagen säkularer Verträge als defizitär. Sie berücksichtigen nur die Interessen derjenigen Bürger, die zu ihrem Bezugsrahmen gehören, nicht aber die Interessen aller von einer Handlungsweise Betroffenen. Für diese Ungleichbehandlung kann man in rationalen Diskursen nicht konsistent argumentieren. Die Selbstverpflichtung aller Diskursteilnehmer auf universale Menschenrechte verlangt daher die vollständige Dezentrierung der lebensweltlichen Universalisierungsprinzipien, d. h. der Teilnehmerperspektive einer dritten Person. Dies führt auf Habermas’ Universalisierungsgrundsatz U, demzufolge »jede gültige Norm der Bedingung genügen« muss, »dass die Folgen und Nebenfolgen, die sich auf 236 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht
ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können«. 293 Wird der Universalisierungsgrundsatz U in dieser Weise entwicklungslogisch begründet, kann er nicht als rein formales Prinzip verstanden werden, somit auch nicht als bloße Argumentationsregel. Sein materialer Gehalt entspringt aus seiner entwicklungslogischen Fundierung in lebensweltlichen Universalisierungsprinzipien, bei denen es sich um Kooperationsprinzipien – im weiten oder engen Wortsinn – handelt. U schließt die Forderung ein, die lebensweltlichen Universalisierungsprinzipien von den strategischen Interessen sozialer Selbstbehauptungssysteme abzulösen. Auf diese Weise sollen alle Interaktionen auf eine kooperative Grundlage im engen Wortsinn gestellt werden. Hiermit wird die postkonventionelle Idee der Gerechtigkeit, die »allein der idealisierten Form einer im Diskurs unterstellten Reziprozität entnommen werden kann«, 294 auf die Lebenswelt im Ganzen ausgeweitet. Da es keine realistische Aussicht auf einen Weltstaat gibt, ist der vom teleologischen Ergänzungsprinzip verlangte Aufbau globaler, mit Sanktionsgewalt ausgestatteter Rechtsinstitutionen eine ›unendliche Aufgabe‹. Der moralische Universalisierungsgrundsatz U fungiert hierbei als kritischer Maßstab der faktischen Rechtsentwicklung. Die vom moralischen Universalismus, der die ideale Diskursmoral und U umfasst, verlangte vollständige Eliminierung der strategischen Interessen sozialer Selbstbehauptungssysteme aus positivrechtlichen Entscheidungen über menschenrechtlich relevante Fragen ist ein prinzipiell unerreichbarer Zielpunkt der Rechtsevolution. In diesem Sinne wird das diskursethisch legitime Recht von der Moral ›gesetzt‹, deren entwicklungslogische Genese wiederum, die weltgeschichtliche Rationalisierung des Rechts, ›voraussetzt‹. Die zwischen Apel und Habermas vermittelnde Position, für die ich plädiere, verankert den postkonventionellen Begriff der Gültigkeit von Normen in der dialektischen Verschränkung des Diskursapriori, das die ideale Diskursmoral und die Forderung nach Selbstkonsistenz des eigenen Redens und Handelns umfasst, mit der Selbstverpflichtung auf lebensweltliche Universalisierungsprinzipien. Den Ausgangspunkt dieser Begriffsbestimmung bilden rationale Diskurse 293 294
Habermas: »Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln«, S. 131. A. a. O., S. 179.
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Die historische Genese normativer Geltung
über die normativen Grundlagen moderner, säkularer Verträge. Die über Diskurssituationen hinausreichende Gültigkeit der idealen Diskursmoral und des Universalisierungsgrundsatzes U setzt die vergangenheits- und gegenwartsbezogene Dimension des Faktizitätsapriori voraus und ist damit an den »quid facti?«-Aspekt des Apel’schen Selbsteinholungsprinzips gebunden. Sie wird zugleich von der Diskursethik ›gesetzt‹, indem diese die Teilnehmer rationaler Diskurse über die normativen Grundlagen säkularer Verträge auf ihre Selbstverpflichtung auf das Diskursapriori aufmerksam macht. Daraus entspringt auf der einen Seite die Forderung nach dem Aufbau einer globalen, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsordnung und auf der anderen Seite der moralische Universalisierungsgrundsatz U, der als Beurteilungsmaßstab des faktischen Standes der Rechtsevolution fungiert. Hierdurch wird die Zukunftsdimension des Faktizitätsapriori vom Diskursapriori ›gesetzt‹ : Sie verlangt die Weiterentwicklung der bestehenden Rechtsinstitutionen mit der Zielperspektive der gewaltfreien Lösung aller normativ relevanten Interessenkonflikte, was eine ›unendliche Aufgabe‹ bleibt. In diesem Sinne wird das Faktizitätsapriori vom Diskursapriori ›gesetzt‹, dessen über Diskurssituationen hinausreichende normative Gültigkeit wiederum das Faktizitätsapriori ›voraussetzt‹. Die dialektische Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori schließt die dialektische Verschränkung des lebensweltlich fundierten, historisch generierten moralischen Universalismus, für den U von konstitutiver Bedeutung ist, mit dem Recht ein, in dem lebensweltliche Universalisierungsprinzipien implementiert sind. Diese Verschränkung bildet in der zwischen Apel und Habermas vermittelnden Position der vorliegenden Abhandlung das Pendant zu Habermas’ gleichursprünglicher Fundierung von Moral und Recht im Diskursprinzip D in Faktizität und Geltung (s. o. S. 75–79). Der Begriff der Selbstverpflichtung konkretisiert die »Zustimmungsfähigkeit«, die D zum maßgeblichen Kriterium der Gültigkeit von Normen erklärt. Wie in Faktizität und Geltung wird auch in der vorliegenden Abhandlung die Gültigkeit von Normen nicht als ein präskriptives »Muss« aufgefasst. Im Zentrum der dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori, worin die Geltung postkonventioneller Normierungen m. E. fundiert ist, steht vielmehr die Selbstverpflichtung der sozialen Akteure, die in rationale Diskurse über die normativen Grundlagen säkularer Verträge eintreten, auf Selbstkonsistenz des eigenen Redens und Handelns. 238 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht
Apels teleologisches Ergänzungsprinzip, dessen Geltungsanspruch die Teilnehmer dieser Diskurse anerkennen müssen, zeichnet die Zukunftsdimension des Selbsteinholungsprinzips vor; ihm zufolge muss der argumentative Diskurs »als schon erreichtes und der Möglichkeit nach erreichbares Telos des Rationalisierungsprozesses der Lebenswelt unterstellt werden«. 295 Das Selbsteinholungsprinzip ordnet die deskriptiv aufweisbaren Fortschritte der Rationalisierung der Lebenswelt in der Vergangenheit und Gegenwart durch seine Zukunftsdimension in eine weltgeschichtliche Gesamtperspektive ein. Die Konzeption einer gattungsgeschichtlichen Entwicklungslogik der Normativität schließt die Annahme ein, dass die bisherigen lebensweltlichen Rationalisierungsprozesse als Etappen auf dem Weg zur vollständigen Dezentrierung der Teilnehmerperspektive einer dritten Person und damit zur umfassenden Realisierung der postkonventionellen Idee der Gerechtigkeit begriffen werden können. Die Diskursethik spricht der Rationalisierung der Lebenswelt keine immanente Notwendigkeit zu; sie versteht sich selber als katalysatorisches Moment künftiger Fortschritte. In diesem Sinne unterstellt sie, dass die Beilegung aller normativ relevanten Interessenkonflikte durch argumentative Diskurse das Telos der Rationalisierung der Lebenswelt bildet. Die normative Entwicklungslogik, für die die Zielperspektive der umfassenden Realisierung der postkonventionellen Gerechtigkeits-Idee von konstitutiver Bedeutung ist, wird somit von der Diskursethik ›gesetzt‹ und zugleich ›vorausgesetzt‹. Hiermit kann das in Habermas’ Faktizität und Geltung benannte Problem gelöst werden, dass sich die normative Entwicklungslogik weder in der immanenten Teleologie einer zeitenthobenen Vernunft noch in kontingenten Fakten verankern lässt (s. o. S. 23). Das Selbsteinholungsprinzip fungiert als Anwendungskriterium des teleologischen Ergänzungsprinzips zur idealen Diskursmoral. Der von ihm verlangten Rekonstruktion der Fortschritte und Hindernisse bei der Rationalisierung der Lebenswelt lassen sich Anhaltspunkte für die Konkretisierung, gegebenenfalls auch Einschränkung der Menschenrechte in Hinblick auf die gegenwärtigen historischen Umstände entnehmen. Eine autoritäre Staatsform kann vorübergehend legitim sein, wenn nur sie eine Gesellschaft vor der Anarchie bewahren kann. Der Sturz einer Tyrannei durch einen bewaffneten Auf295 Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, S. 688.
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Die historische Genese normativer Geltung
stand oder einen Angriffskrieg kann menschenrechtlich zulässig oder sogar geboten sein. Solche Rechtfertigungsmuster von Repression oder Gewalt können aber auch für die ideologische Verschleierung machtpolitischer Interessen missbraucht werden. Da ein Weltstaat nicht in Sicht ist, bleiben lebensweltliche Universalisierungsprinzipien, die mit den strategischen Interessen sozialer Selbstbehauptungssysteme verwoben sind, in Anwendungsdiskursen über menschenrechtlich relevante Fragen relevant, somit auch die kulturspezifischen Paradigmen (im Sinne K. Günthers), die in Anwendungsdiskursen eine Schlüsselrolle spielen (s. o. S. 100). Apel stimmt Habermas darin zu, dass bei der Konkretisierung und rechtlichen Positivierung der Menschenrechte nicht nur moralische, sondern auch ethisch-politische und pragmatische Gründe zählen, wobei er den moralischen – anders als Habermas – den Primat zuspricht. 296 Da Günthers Kohärenz-Kriterium für Anwendungsdiskurse rein formal bleibt, reicht es für die Kritik an lebensweltlichen Paradigmen, die sich zu Ideologien verfestigen, nicht aus. Bettet man Habermas’ Universalisierungsgrundsatz U – wie oben vorgeschlagen – in die Apel’sche Figur der dialektischen Verschränkung des Diskurs- und Faktizitätsapriori ein, womit er eine materiale Dimension gewinnt, kann man auf die von Günther aufgeworfene Frage, »woraufhin wir denn ein kohärentes Verhältnis innerhalb einer Menge von anwendbaren Normen konstruieren sollen«, 297 eine inhaltliche Antwort geben: Paradigmen nehmen in Anwendungsdiskursen einen ideologischen Charakter an, wenn sie die Unterordnung lebensweltlicher Universalisierungsprinzipien, die mit Partikularinteressen verflochten sind, unter die moralische Zielsetzung der umfassenden Realisierung der postkonventionellen Gerechtigkeits-Idee behindern. (4) Der moralische Universalismus, auf den sich die Teilnehmer rationaler Diskurse über die normativen Grundlagen säkularer Verträge selber verpflichten, kann in der Moderne insofern einen kulturübergreifenden Geltungsanspruch erheben, als seine dialektische Verschränkung mit der Rechtsevolution zur Sanktionierung von Verletzungen der Menschenrechte – die ein moralisches Fundament haben – berechtigt. Die Rekonstruktion der Rationalisierung der Lebenswelt erlaubt es darüber hinaus, ihn als kritischen Maßstab an die Normenkodices früherer Epochen in Hinblick darauf anzulegen, ob 296 297
Apel: »Auflösung der Diskursethik?«, S. 772 ff., 822 (s. o. S. 111 f.). Günther: Der Sinn für Angemessenheit, S. 307 (s. o. S. 99).
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Die dialektische Verschränkung von Moral und Recht
sie seine entwicklungslogische Genese befördert oder behindert haben. Apel betont, dass der »Triumph der christlichen Weltkirche« in der Spätantike mit einer »Regression« der »säkularen Kultur«, die sich im Gefolge der griechischen Aufklärung und der Idee der Kosmopolis herausgebildet hatte, einherging, d. h. mit einem Rückfall hinter das bereits erreichte Niveau der normativen Entwicklungslogik. 298 Die Regression hinter die kosmopolitische Naturrechts-Konzeption der Stoa und ihrer Nachfolger, worin die postkonventionelle Moral präformiert ist, durch die von der Amtskirche propagierte »Scheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen« und deren machtpolitische Konsequenzen kann in der Perspektive des Selbsteinholungsprinzips kritisiert werden. 299 Dass dies nicht auf einen Anachronismus hinausläuft, wird an der Schule von Salamanca deutlich, die im 16. Jahrhundert das »Anliegen der Menschenrechte« in einem theologischen Kontext im Rekurs auf die Naturrechts-Tradition erstmals formulierte. 300 Francisco de Vitoria erklärt die Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents und die Versklavung seiner Bewohner mit dem naturrechtlichen Argument für illegitim, dass die »Ungläubigen« ebenso wie die Christen »Herren« ihrer selbst und ihres Eigentums seien. 301 Die stoisch-ciceronianische NaturrechtsKonzeption wurde bereits in der Patristik in die christliche Theologie integriert. 302 Während des gesamten Mittelalters versuchten progressive Theologen, restriktive Züge des kirchlich sanktionierten
Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 473. Ebd. 300 Ebd.; Apel: »Das Spannungsverhältnis zwischen Ethik, Völkerrecht und politischmilitärischer Strategie in der Gegenwart«, S. 210. 301 »Herrschaftsrechte gründen auf dem natürlichen oder auf dem menschlichen Recht. Also werden Herrschaftsrechte durch das Fehlen des Glaubens nicht aufgehoben. […] Daraus geht hervor, dass man weder den Sarazenen noch den Juden noch den übrigen Ungläubigen selbstredend, d. h. weil sie ungläubig sind, ihr Eigentum wegnehmen darf. Vielmehr handelt es sich dann um Diebstahl oder Raub«. (Francisco de Vitoria: »De indis/Über die Indianer«. In: ders: Vorlesungen II (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche. Lat.-dt. Hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben. Stuttgart/Berlin/Köln 1997. S. 393) »Es bleibt also nach alledem, dass die Barbaren ohne Zweifel sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich ebenso wie die Christen echte Herren waren« (a. a. O., S. 405). Sie dürfen – so Vitoria – nicht »in kriegerischer Absicht angegriffen oder mit irgendeinem Übel geschlagen werden« (a. a. O., S. 425). 302 Vgl. den Artikel »Naturrecht« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 6. Basel 1984. Sp. 571 ff. 298 299
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Die historische Genese normativer Geltung
Glaubensverständnisses zu überwinden. 303 Francisco de Vitoria wendet sich gegen die Auffassung, »dass der Papst als oberster Herr im zeitlichen Bereich in freier Entscheidung die Könige Spaniens als Herrscher über die Barbaren habe einsetzen können«. 304 Vitoria beruft sich darauf, dass Christus »keine zeitliche Herrschaftsgewalt« besaß, so dass sie auch der Papst als sein »Stellvertreter« nicht für sich reklamieren könne. 305 Machtpolitische Ansprüche der Amtskirche können somit auf der Basis des Evangeliums als inkonsistent kritisiert werden. Auf die Konflikte progressiver Theologen mit kirchlichen Autoritäten, die die Naturrechts-Tradition in den Hintergrund drängten, lässt sich daher die Unterscheidung »gelungener und pathologischer« normativer Lernprozesse applizieren. 306 In diesem Sinne kann die Präformation des moralischen Universalismus im kosmopolitischen Naturrecht als kritischer Maßstab an die im mittelalterlichen Europa faktisch durchgesetzten Normenkodices angelegt werden. Das Kriterium der Selbstkonsistenz des eigenen Redens und Handelns verklammert die Begründung der Menschenrechte in den Selbstverpflichtungen der Teilnehmer rationaler Diskurse über die normativen Grundlagen moderner, säkularer Verträge mit der kritischen Rekonstruktion der sozialen Normenkodices früherer Epochen und bezieht zugleich das Kohärenz-Kriterium für Anwendungsdiskurse ein. Hiermit knüpft die zwischen Apel und Habermas vermittelnde Position dieser Abhandlung an Sokrates’ Überzeugung an, dass das wahrhaft (Ge)Rechte durch die Ausräumung von Inkonsistenzen normativer Selbstbeschreibungen, d. h. durch die Kritik der Doxa, gefunden werden kann. Der Versuch dieser Abhandlung, die gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik der Normativität im Anschluss an Habermas und Apel zu rekonstruieren, beschränkt sich auf die europäische Tradition. Seine Stimmigkeit und Fruchtbarkeit muss daher in einer interkulturellen Perspektive auf den Prüfstand gestellt werden, was hier nicht geleistet werden kann. Die Einschränkung des Blickwinkels auf den europäischen Kulturkreis lässt sich aber nicht per se als Argument gegen die Zielsetzung anführen, den Universalitätsanspruch der Menschenrechte entwicklungslogisch zu begründen. 303 304 305 306
Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 473. Vitoria: De indis/Über die Indianer, S. 423. Ebd. Apel: »Zurück zur Normalität?«, S. 473.
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Personenregister
Alexy, Robert 103 Aristoteles 31, 76 Arnim, Hans von 161, 188 Birtsch, Günter 202 Cicero 35, 187–200, 202, 204, 209, 212, 214 f., 217, 219, 241 Crouch, Colin 128 Diogenes Laërtius 178 Durkheim, Émile 36–38 Dyck, Andrew 188, 196 f. Engels, Friedrich 18 f., 72 Euchner, Walter 200, 203, 207
Kohlberg, Lawrence 16–18, 27 f., 32, 39–41, 142 f. Koller, Peter 84, 103, 127 Kreide, Regina 84 Kriton 163, 166–168, 172 f., 175, 177, 181, 184, 218 Langer, Marie-Astrid 91 Locke, John 35, 72, 106 f., 146, 160, 187, 200–214, 217, 220, 235 Marx, Karl 18 f., 64, 72 Macpherson, Crawford B. 106, 213 McCarthy, Thomas 12 Michelman, Frank 34, 80 f., 85–91, 93–96, 102, 105 f., 111 f., 115, 119– 121, 123, 126, 130 f.
Friedländer, Paul 161 Nunner-Winkler, Gertrud 27 Günther, Klaus 96–103, 108, 121 f., 124, 240 Hiebaum, Christian 84, 103, 127 Hobbes, Thomas 200, 207, 209 Holzleithner, Elisabeth 103, 127 Honneth, Axel 38, 71 Hume, David 20, 77, 210 f. Ilting, Karl-Heinz 217, 220–222, 225
Obama, Barack 110 Parsons, Talcott 20, 36–38 Platon 31 f., 145 f., 160 f., 163, 166, 172, 174–176, 178, 182, 184–191, 193–196, 198 f., 202, 209 f., 212 f., 217–220, 224 f., 231, 233, 235 Polanyi, Karl 213 f. Pohlenz, Max 179, 188, 190, 193, 197, 212
Joas, Hans 38, 71 Roosevelt, Franklin D. 90, 106 Kallikles 161–163, 171, 181 Kant, Immanuel 16 f., 21, 61, 79, 153– 155, 205, 215, 226 Kettner, Matthias 9, 27, 66
Scipio d. J. 188 Shils, Edward 37 Siep, Ludwig 201, 203, 213
249 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Personenregister Sokrates 31, 145 f., 160–186, 188 f., 193–196, 199, 214, 217–219, 227, 242 Strauss, Leo 207
Vitoria, Francisco de 241 f. Watson, Gerard 188, 199, 220 Weber, Max 18 f., 38, 72 Xenophon 146
Thrasymachos 160–163, 171, 173 f., 181 f.
250 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Stichwortverzeichnis
Apriori 10, 12 f., 30, 34, 41, 45, 155, 181, 218 Arbeitsteilung 37, 164, 169, 201, 224 Argumentationsgemeinschaft 11, 17, 51–53, 57 f., 62, 66 Argumentations–, -formen 52, 57–59, 61 f., 65, 69 –, -praxis 10, 21, 75, 151, 159 –, -regeln 76 f., 98 f., 134, 237 –, -voraussetzungen/-präsuppositionen 10, 42 f., 45, 75, 133, 141, 153 f. Aufklärung, aufklärerisch 11, 17, 19, 33, 39 f., 63, 71, 75, 116, 137, 146 f.
Diskursapriori 34, 132, 135–140, 142, 144, 159, 180 f., 216, 225, 228, 233 Diskursmoral 56, 62, 65, 67 f., 112, 117, 132, 134–141, 143 f., 151, 158, 217, 220, 222, 224–226, 230 f., 234– 239 Diskursprinzip (D) 22, 74–76, 78–81, 83, 118, 121, 132, 134, 143 f., 238 Dogmatismus, dogmatisch 23, 28, 31 f., 95 Doxa 167, 173 f., 184 f., 218 f., 227, 242
Beobachterperspektive 24, 45, 70, 148, 171, 174, 179, 218, 232 f.
Ergänzungsprinzip 56 f., 59, 61, 63, 65, 68, 117, 120–122, 129, 131, 134 f., 141, 144, 226, 235, 237, 239 Ethik 11, 15, 20 f., 32–34, 54, 64, 68, 76, 139, 145 f., 179 f., 188, 193–195, 197 f., 212, 214, 217, 219, 226 Evolution –, gattungsgeschichtliche 33, 155, 225 –, rechtliche 24, 33, 160, 216 –, soziale 18, 25
Demokratie, demokratisch 23 f., 26 f., 72–74, 79–82, 84, 86–95, 104, 106, 111–114, 116 f., 119–123, 126, 128, 130, 133, 135, 137 f., 140 f., 166, 171, 173–176, 178, 180, 183, 187, 190 f., 198, 208 f., 219, 225, 231 Demokratieprinzip 23, 27, 75, 78–81, 83–87, 90–94, 96, 102, 104, 106 f., 111, 113, 115–120, 129, 131, 134, 143 f., 158 Deontologie, deontologisch 21, 32, 67 f., 74, 139 f. Dialektik, dialektisch 34, 107, 132, 135, 137–140, 144, 181, 214, 216, 228, 237 f., 240 Diskurs –, Anwendungs- 96, 98–102, 108, 121 f., 240, 242 –, Begründungs- 97, 101 f.
Faktizität 9, 12, 16, 21, 30, 33, 78, 120, 136, 138 f., 141 143, 153, 155, 225 Faktizitätsapriori 30, 132, 135–140, 142, 144, 181, 216, 218, 225, 228, 233, 236, 238, 240 Formalrecht, formalrechtlich 130– 111, 113, 123, 126 f., 129 f., 214, 232 Fortschritt –, entwicklungslogischer 22, 198 f., 212, 214 f., 219, 236
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Stichwortverzeichnis –, moralischer/normativer 18, 29, 31, 65 f., 68, 94, 100 f., 106, 146 Fortschrittsperspektive 29, 66, 146, 181, 193 Freiheit 54, 72, 88, 106, 108–111, 146, 200–203, 205–209, 211 f. Gattungsgeschichte, gattungsgeschichtlich 17–19, 24–29, 31 f., 34, 39–41, 61, 64 f., 70, 140–144, 155 f., 159 f., 172, 215 f., 233, 239, 242 Geltung 21 f., 32 f., 49 f., 67, 71, 83, 97–99, 120, 136 f., 139, 155, 158, 182, 225, 231, 234 f., 238 Geltungs–, -anspruch 5, 12 f., 14, 16, 20, 31, 34, 36, 39 f., 42–44, 47, 75, 101, 117, 134, 141, 147, 151, 153, 156, 159, 206, 209, 221 f., 239 f. –, -basis 12, 14, 33, 35, 41, 139, 155, 222 –, -status 15, 22 f., 85, 226, 228 Genese –, entwicklungslogische 33, 35, 142 f., 144, 149, 160, 180, 214, 217, 233, 237, 241 –, historische 28, 32, 59, 137, 144, 180 Gerechtigkeit 31, 71, 109 f., 133, 142 f., 149–154, 156 f., 159, 161– 163, 172, 181 f., 185 f., 189–193, 197, 215, 223, 227, 232 f., 237, 239 Gewaltmonopol 29, 71, 79, 116, 130, 137, 152, 164, 169, 177, 201, 204 f., 207 f., 229, 231, 235 Handeln –, kommunikatives 20, 34, 36 f., 143, 151 f., 157–159, 171 f., 174 f., 180 –, soziales 147, 149, 215 f., 233 –, strategisches 38, 149, 151, 171– 174, 193, 195, 218 Hermeneutik, hermeneutisch 53 f., 59–63, 145, 187, 199, 212, 216, 227
Historischer Materialismus 19 f., 25, 29, 34, 160, 216 Individualentwicklung 18, 27, 40, 140, 148, 215 Kapitalismus, kapitalistisch 19, 72, 83, 127–130, 213 f. Kohärenz 98, 100, 195 Kohärenzkriterium 98 f., 102, 121, 227, 240, 242 Kommunikationsgemeinschaft 11, 17, 39, 48, 51, 53, 56, 134, 226 Kompatibilitätsforderung 84, 112 f., 116 f., 119 Kontingenz-Apriori 30, 34, 41, 45, 138, 140 Lebenspraxis 11, 16, 20, 51, 53, 80, 82, 136, 140, 222 Lernprozesse 18, 27 f., 89–91, 95, 100, 106, 120 f., 126, 140, 142, 144, 153, 157, 215, 242 Letztbegründung, LetztbegründungsAnspruch 9–11, 13–16, 20, 27, 30, 34, 41 f., 45 f., 50, 55, 58, 113, 139– 141, 217, 225 f., 228, 230 Liberalismus 103 f., 106, 127, 129 Marktwirtschaft 72, 88, 127–130 Metaphysik, metaphysisch 20, 23, 32, 39, 59, 71 f., 76, 163, 185–187, 191– 193, 197–200, 206 f., 209, 211–213, 217 Moralniveau 40 f., 71, 142 f., 147 Moralprinzip 77–79,101, 112, 121, 134 Moralpsychologie 16, 227 f., 41 nachmetaphysisch 20, 32, 75–78, 80, 82, 88, 118, 133, 186 f., 220, 232 Naturrecht, naturrechtlich 32 f., 197, 196, 198–200, 202–205, 207–213, 220, 225, 235, 241 f. Naturrechts-Konzeption 31 f., 34, 145 f., 160, 187 f., 196–199, 201 f., 204, 210, 213, 217, 219
252 https://doi.org/10.5771/9783495820582 .
Stichwortverzeichnis Naturzustand 201 f., 204, 211 f. normative Richtigkeit 12–14, 36, 42 f., 147, 156, 222 Normenkodices 11, 20, 25, 63, 65, 147 f., 150, 162, 168, 171, 177, 194 f., 198, 217 f., 222, 224, 227, 233, 240, 242 Ontogenese, ontogenetisch 17, 32, 142, 148, 150, 171, 173, 215 performativer (Selbst)Widerspruch 10, 14, 43–45, 49, 55, 133, 221 f., 224, 227, 230 Phylogenese, phylogenetisch 18, 22, 156, 159 Rationalisierungsprozess 17, 28, 58, 60, 70, 120, 138, 141, 143 f., 216, 225–227, 239 Rationalitätstheorie 13 f., 18, 23 Rechtsstaat, rechtsstaatlich 24, 27, 71–73, 83 f., 96, 101–107, 110, 116 f., 136 f., 139 f., 238 Rechtstheorie 81 f., 87 f., 90, 95 f., 102, 105, 112, 118–120, 126, 131, 133, 137, 141 Selbsteinholungsprinzip 28–30, 33, 41, 57–59, 61, 63–65, 69, 121–123, 127, 129 f., 136 f., 139–141, 145, 159 f., 180, 187, 198 f., 212–214, 216, 227, 233 238 f., 241 Sozialstaatsmodell 104–111, 113, 129 f. Sprechakt 12 f., 20, 36, 39, 44, 147 f., 151, 153, 156 System 19, 24, 34, 60 f., 70, 160, 168, 171 Systemtheorie, systemtheoretisch 20, 61, 64
Teilnehmerperspektive 41, 44 f., 70 f., 95, 106, 148–150, 152, 168, 171, 193, 218, 220, 226, 233, 236, 239 Teleologie, teleologisch 21, 23, 56, 58–61, 117, 120–122, 127, 129–131, 139 f., 144, 193, 196, 198, 226, 235, 237, 239 Transzendentalpragmatik, transzendentalpragmatisch 13, 132, 139 f., 142, 144, 150 f., 153–155, 157, 159, 215, 221, 226, 234 Universalisierungsgrundsatz (U) 74 f., 77, 93 f., 96, 101 f., 115, 119, 121, 125, 132–134, 136–141, 144, 146, 152, 157, 160, 178, 205, 215, 223, 236–238, 240 Universalisierungsprinzip 164–166, 168–172, 175–182, 187, 189 f., 194– 196, 198, 202–210, 212 f., 217, 220, 223–229, 231, 233–238, 240 Universalismus, universalistisch 16 f., 22 f., 26, 31–33, 35, 40, 79, 118, 136, 141, 143 f., 147, 205, 214 f., 219 f., 237 f., 240–242 Universalpragmatik 13, 34, 42–44, 46, 155, 159 Vernunft –, detranszendentalisierte 11, 18, 20 –, kommunikative 12, 20, 22, 26, 187 –, praktische 20–23, 27, 101 Vernunftmoral 31 f., 49, 52, 143, 205, 214 f., 220 Verständigungsprozesse 34, 37, 45, 53, 73, 159 f., 170, 180, 215, 231 Wahrhaftigkeit 12–14, 36, 43, 56, 65, 67 f., 147, 156, 182, 211 f., 230 Wahrheit 9, 12–14, 42 f., 51–53, 147, 153–157, 163, 165, 167 f., 174, 180, 211 f., 219, 227
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