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German Pages 332 Year 2020
Thomas Hanke Normativität als Metaphysik
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 146
Thomas Hanke
Normativität als Metaphysik Brandom und die Performanz der Philosophiegeschichte
ISBN 978-3-11-070747-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070752-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070760-1 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2020942049 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeite Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2018 durch den Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. Für die Druckfassung wurde eine Reihe neuerer Publikationen eingearbeitet. Zudem habe ich meine Methode bzw. den methodologischen Ertrag stärker profiliert. Herzlich danken möchte ich Thomas M. Schmidt, der das Thema dieser Arbeit angeregt hat, sowie Matthias Lutz-Bachmann, Christoph Menke, Martin Seel und Gunnar Hindrichs, den weiteren Gutachtern im Habilitationsverfahren. Lehrreich waren die vom Forschungskolleg Analytic German Idealism der Universität Leipzig durchgeführte Graduate Summerschool mit Robert Brandom zu A Spirit of Trust im Jahr 2016 sowie die von John Marenbon am Trinity College Cambridge veranstalteten Workshops zur Theorie der Philosophiegeschichte in den Jahren 2017 bis 2019. Für ihr Interesse an meiner Arbeit und für wertvolle Hinweise danke ich Georg Bergner, Dina Emundts, Heidrun Gunkel, Toumi Hamadi, Stephan Herzberg, Andrea Kern, Christian Kern, Karen Koch, Katharina Kraus, Annette Langner-Pitschmann, Laura Lanwert, Gesche Linde, Klaus Müller, Tobias Müller, Sarah Rosenhauer, Georg Sans, Thomas Schärtl-Trendel, Kathrin Stepanow, Achim Vesper, Åke Wahlberg, Heinrich Watzka, Hartmut Westermann, Oliver Wiertz und Marcus Willaschek. Für die freundliche Unterstützung bei der Durchführung des Habilitationsverfahrens danke ich Manuela Rausch und Tanja Friedrich vom Dekanat des Fachbereichs. Ein besonderer Dank gilt den Herausgebern Dominik Perler und Michael Quante für die Aufnahme meiner Arbeit in die „Quellen und Studien zur Philosophie“ sowie Marcus Böhm und Anett Rehner für die vorbildliche Betreuung seitens des Verlags De Gruyter. Für ihre Unterstützung bei der letzten Überarbeitungsstufe mitsamt Formatierung danke ich herzlich Julian Beck, Monika Epping und Anna Puzio. Einige Erkenntnisse dieser Arbeit sind bereits in separaten Aufsätzen publiziert: Brandoms Geist-Metaphysik basiert auf den Ergebnissen von Teil 1. Eine soziale Theorie des Selbstbewusstseins in der Wissenschaft der Logik? dokumentiert die frühe Grundintuition von Kapitel 5, Lust an der „rectitudo“. Erkenntnis, praktische Vernunft und Emotionen bei Anselm von Canterbury diejenige von Kapitel 6. Spätere Zugriffe auf Hegel sind erschienen als Das Wesen im Begriff und „Subjektivität“ bei Hegel. Die exakten Literaturangaben finden sich am Ende dieser Arbeit. Frankfurt am Main, im Juni 2020 https://doi.org/10.1515/9783110707526-001
Thomas Hanke
Inhalt Siglen
XI
Einleitung
1 Performativer Anti-Naturalismus 1 3 Die Hegel-Renaissance als Kontext Brandoms Weg in die Metaphysik: von Making It Explicit zu den historisch-rekonstruktiven Studien 8 Der Umgang mit der Philosophiegeschichte 13 18 Aufbau und Vorgehensweise der Arbeit
Teil : Brandoms Aneignung von Kant und Hegel . . . .. .. . .. .. .. .. .
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Metaphysik statt naturalistischer Entfremdung 27 Verheißung und Problematik deflationärer IdealismusLesarten 27 34 Entfremdende und befreiende Genealogie Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“ 40 40 Kant, der Rationalist Eine andere Theorie der Moderne 40 Kants Verhältnis zu Descartes: die Fähigkeit des Rationalismus zur 46 Selbstkritik Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen? Brandoms Kant-Interpretation als rationale Rekonstruktion 52 Das „Vermögen zu urteilen“ und der Primat theoretischer Normativität 52 Brandoms frühe retractationes zu Kant 56 Die normative Auszeichnung der Proposition 64 Integration in die Einheit der Apperzeption und Gegenstandsbezug 69 Die Rückbindung des Autonomiebegriffs an die „Analytik der Begriffe“ 101 Hegel auf dem Fundament von Kants Deduktion 106 Die „soziale“ Erzählung 107 Woher die Normen? Kants Problem und Hegels Lösung
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VIII
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Inhalt
Anerkennung – praktisch und theoretisch 113 126 Die metaphysische Erzählung Die Wiedergewinnung der Erfahrung 126 Die Revision der Wirklichkeit 137 Normativitätsmonismus 152 162 Die Frage nach dem System Zusammenschau: Brandoms Metaphysik
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Teil : Anwendung und Variation: zwei Fallstudien zu einem systematischen Einsatz philosophiegeschichtlicher Positionen . .. .. .. .
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Irreduzible Normativität? Auftakt zu einer Lektüre von Hegels subjektiver Logik 187 187 Der kritische Ausgangspunkt Methodischer Übergang von Teil 1 zu Teil 2 187 Ein Einwand gegen Brandom: Reduktion von Normativität auf Sozialität 188 191 Eine Lösungsperspektive: noch einmal von Kant zu Hegel Objektivität kraft Subjektivität: Hegels logischer Anschluss an Kant (Kommentar zur Passage „Vom Begriff im 194 allgemeinen“) Die Funktion der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ im Rahmen des Projekts der Wissenschaft der Logik 194 Die Generierung des terminus technicus des Subjekts aus dem der Substanz 196 Hegels Affirmation und Zuspitzung von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 208 Subjekt in Logik und Realphilosophie 220 Die Wahrheit der Logik: Movens, Ziel und Neuanfang 228 Zwischenfazit: von Brandom zu Hegel und zurück 235 Absolute Normativität? Eine Intervention mit Anselm von 240 Canterbury Warum Anselm? 240 Raum der Gründe, diachron durchschritten 240 Anselms eingeschränkte Aristoteles-Kenntnis als Manko und Pluspunkt 242
Inhalt
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Sprachspiel im Kreuzgang: der performative Einsatz der Dialog244 Form Eine pragmatistische Sprach- und Erkenntnistheorie und ihre Prämissen und Konsequenzen (Kommentar zum Dialog De veritate) 248 249 Der Ausgangspunkt und die Methode von De veritate Anselms normativ-pragmatistische Theorie des Sprechens und Erkennens 255 Universale Normativität 269 Absolute Normativität 278 Zusammenschau: Deduktion statt Reduktion
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Literaturverzeichnis 299 Primärtexte 299 Literatur zur Theorie der Philosophiegeschichte 301 301 Literatur zum Brandom-Kant-Hegel-Komplex Literatur zur mittelalterlichen Philosophie 310 Personenregister Sachregister
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Siglen AA Kant, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), mit Angabe von Band und Seitenzahl GW Hegel, Gesammelte Werke, mit Angabe von Band und Seitenzahl KrV Kant, Kritik der reinen Vernunft, mit Angabe der Originalpaginierung (Text nach Bd. 3 bzw. 4 der Akademie-Ausgabe) Op. Anselm von Canterbury, Opera Omnia, mit Angabe von Band und Seitenzahl Vollständige Angaben im Literaturverzeichnis
https://doi.org/10.1515/9783110707526-002
Einleitung Performativer Anti-Naturalismus Diese Arbeit wendet sich gegen einen reduktiven Naturalismus in der Erkenntnistheorie und in der Ontologie. Meine Überzeugung ist, dass die Analyse der inneren Normativität unserer Erkenntnispraxis sowie des Nadelöhrs der Subjektivität, durch das allein ein Weg zu einem Wissen über die Welt führt, das Objektivität beanspruchen darf, entscheidende Argumente gegen den Naturalismus zur Verfügung stellen. Zugleich verbindet die vorliegende Arbeit diese epistemologische und metaphysische Überzeugung mit einer methodologischen Versuchsanordnung bezüglich der Rolle, die die Rezeption von Positionen aus der Philosophiegeschichte für eine systematische Philosophie spielen kann. Daher gehe ich in Teil 1 der Arbeit auf einen Autor der Gegenwart ein, der sich seinerseits ausführlich auf eine Entwicklung innerhalb der klassischen deutschen Philosophie um 1800 bezieht, und forciere in Teil 2 die Auseinandersetzung sowohl mit dieser Entwicklung als auch mit einer prominenten Figur des lateinischen Mittelalters. Robert Brandom hat seine Rezeption klassischer Autoren aus der Philosophiegeschichte, die er seit der Jahrtausendwende intensiviert hat, unter die Überschrift einer „rekonstruktiven Metaphysik“ gestellt.¹ Mit seinem normativinferentiellen Pragmatismus, den er zuvor in seinem Hauptwerk Making It Explicit vorgestellt hat, erklärt Brandom die Bezugnahme von Subjekten auf Sachverhalte in der Welt mittels der Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen.² Pragmatismus meint dabei in erster Linie, dass die Bedeutung von Begriffen durch ihren Gebrauch bestimmt wird und Wissen-dass nur durch die Auslegung von Wissenwie zu erlangen ist.³ Unter der Überschrift „rekonstruktive Metaphysik“ verfolgt Brandom das Ziel, diesen normativ-inferentiellen Pragmatismus insbesondere
Vgl. Brandom, Robert B., Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge (MA), London 2002, 111– 118. Vgl. Brandom, Robert B., Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt am Main 2000. Beide Seiten der Medaille sind wichtig: Im ersten Teil des Buches erläutert Brandom vor allem die Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen, die im zweiten Teil des Buches zur Erklärung der Möglichkeit des Repräsentierens von Sachverhalten eingesetzt wird. Vgl. dazu beispielsweise Brandom, Robert B., Perspectives on Pragmatism. Classical, Recent and Contemporary, Cambridge (MA), London 2011, 56 – 82, wo auch eine Verhältnisbestimmung zu anderen pragmatistischen Strömungen und Theorien vorgenommen wird. https://doi.org/10.1515/9783110707526-003
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Einleitung
mit Hilfe des Weges „von Kant zu Hegel“ zu erläutern und zu ergänzen. Die Metaphysik, um die es ihm geht, soll zum einen aus den Werken jener Autoren rekonstruiert werden können (oder, wo der „Buchstabe“ nicht hinreicht, zumindest aus ihrem „Geist“). Zum anderen versteht Brandom diese Metaphysik als Konsequenz seines normativ-inferentiellen Pragmatismus, d. h. als rekonstruierbar aus der Analyse der Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen. Man könnte sagen, dass sie den zunächst verborgenen Unterboden darstellt, den wir im Rahmen einer solchen Praxis implizit in Anspruch nehmen und der nun explizit zum Thema gemacht wird. Im Medium der Rezeption der Klassiker entwickelt Brandom seine eigene systematische Position, mit der er beansprucht, eine wesentliche, ja die entscheidende Antwort auf die philosophischen Herausforderungen der Gegenwart zu geben. Seine Metaphysik soll also nicht nur eine nach ihrem vermeintlichen Tode im 20. Jahrhundert für das Museum rekonstruierte, sondern eben eine rekonstruktive, d. h. wieder aufbauende und in einem gewissen Sinne sogar „erbauliche“ Metaphysik sein.⁴ Denn es geht dabei um die Verteidigung von uns Menschen als Gründe gebenden und nehmenden bzw. als Begriffe verwendenden Wesen gegen die Bestreitung dieser Auszeichnung durch einen reduktiven Naturalismus. Es ist die erste These der vorliegenden Arbeit, dass Brandom seine Metaphysik aus dieser Frontstellung gegen den Naturalismus heraus entwickelt und damit in der Tat einen wichtigen systematischen Beitrag leistet. Ergänzt wird sie durch die zweite These, dass Brandoms Rezeption von Texten aus der Philosophiegeschichte sowohl strategisch auf dieses Ziel ausgerichtet ist als auch im Vollzug bereits performativ zeigt, dass viel für die Erreichbarkeit dieses Zieles spricht. Die Philosophie hat eine Geschichte, weil Menschen eine Geschichte haben und nicht bloß eine Vergangenheit wie andere natürliche Dinge. Der zweite Teil dieses Satzes ist eine seiner anti-naturalistischen Formulierungen, die Brandom besonders lieb ist.⁵ Meines Erachtens handelt es sich dabei um einen wichtigen Schlüssel zu seinem Verständnis von Philosophie wie von Philosophiegeschichte. Womöglich ist er auch über Brandom hinaus wirksam einsetzbar: Die Würdigung der Philosophiegeschichte ist die Würdigung von uns Menschen als geschichtlich-begrifflichen Wesen und damit ipso facto ein anti-naturalistischer Akt. Selbst wenn sich Brandom als miserabler Philosophiehistoriker er-
Zur Rede vom Erbaulichen – „a morally edifying semantics“ – in Verbindung mit einer „metaphysics of Geist“ vgl. Brandom, Robert B., A Spirit of Trust. A Reading of Hegel’s Phenomenology, Cambridge (MA), London 2019, 636 – 642. Vgl. beispielsweise Brandom, Robert B., Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt am Main 2001, 42; Ders., A Spirit of Trust, 236.
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weisen sollte, liefert er ein gutes philosophisches Argument dafür, warum wir überhaupt die Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte suchen sollten. Die genannten beiden Thesen liegen allen weiter ins Detail gehenden Ausführungen dieser Arbeit zugrunde. In Teil 1 werde ich sie bei Brandom selbst belegen und profilieren, indem ich vieles von dem explizit mache, was in seinen Texten „unter der Hand“ geschieht. Dabei beziehe ich mich vor allem auf seine historisch-rekonstruktiven Studien.⁶ In Teil 2 sind beide Thesen erkenntnisleitend, insofern einerseits die mit Brandoms Zugang verbundenen Potentiale weiterführend ausgeschöpft, andererseits blinde Flecken in seiner Theorie aufgespürt und bearbeitet werden. Dieser Teil darf mithin auch als Einladung verstanden werden, sich von jenen Studien wieder zu lösen und – um nochmals diese Formulierung zu verwenden – im „Geiste“ Brandoms über seinen „Buchstaben“ hinauszugehen.
Die Hegel-Renaissance als Kontext Erscheinungsbild und Terminologie der vorliegenden Arbeit sind durch ihre Verortung in einer bestimmten Debattenlandschaft geprägt. Das betrifft insbesondere die Art und Weise, wie von Normativität und Metaphysik die Rede ist, samt der dadurch anvisierten Abgrenzung zu einem reduktiven Naturalismus. Diese Debattenlandschaft kann beschrieben werden als Überlappung einer (zumindest aus angelsächsischer Perspektive) sogenannten Renaissance der HegelForschung mit einem aus der analytischen Tradition hervorgehenden Interesse an kantianischen und hegelianischen Argumenten. Als Initialzündung der angelsächsischen Hegel-Renaissance wird Robert Pippins Hegel’s Idealism von 1989 angesehen. Pippin nannte seine Interpretation
Darunter verstehe ich vor allem die Texte, die in Brandom, Tales of the Mighty Dead; Ders., A Spirit of Trust; Ders., Wiedererinnerter Idealismus, Berlin 2015 kumuliert sind. Die ersten drei Kapitel des letztgenannten Werkes – unter der Überschrift Eine semantische Sonate über Themen von Kant und Hegel – sind die Übersetzung von Ders., Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge (MA), London 2009, 25 – 108. Die folgenden drei Kapitel über Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes entsprechen Ders., A Spirit of Trust, 35 – 106. Zwei der drei Aufsätze zu Hegel, die Wiedererinnerter Idealismus beschließen, finden sich in Ders., Tales of the Mighty Dead, 178 – 234. Eine Vorstufe der Sonate ist erschienen als Ders., Kantische Lehren über Geist, Bedeutung und Rationalität, in: Barth, Christian, Sturm, Holger (Hg.), Robert Brandoms expressive Vernunft. Historische und systematische Untersuchungen, Paderborn 2011, 27– 59. Einen kurzen Überblick über seine Hegel-Lektüre bietet Brandom, Robert B., Some Hegelian Ideas of Note for Contemporary Analytic Philosophy, in: Hegel Bulletin 35 (2014), 1– 15.
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damals ausdrücklich „nonmetaphysical“⁷. In ihr wurde Hegel nicht, wie sonst oft üblich, durch seinen Gegensatz zu Kant definiert, sondern als dessen konsequenter Nachfolger inszeniert, d. h. als Vollender des erkenntniskritischen Projekts. Anstatt in der Phänomenologie des Geistes oder der Wissenschaft der Logik die Restauration einer vor-kantischen Metaphysik zu entdecken, las Pippin diese Werke im Endeffekt als Beiträge zu Problemen, wie sie aus der zeitgenössischen Epistemologie vertraut waren. Eine solche „deflationäre“ Lesart hatte offensichtlich eine inspirierende und erfrischende Wirkung auf die englischsprachige Hegel-Forschung.⁸ Neben Pippins Buch ist Terry Pinkards The Sociality of Reason für diese Phase maßgeblich.⁹ Auch Brandom beruft sich gerne auf beide als Wegbereiter.¹⁰ Entsprechend wird er häufig als prominenter Vertreter des deflationären Lagers behandelt, z. B. in dem von Allegra de Laurentiis herausgegebenem Sammelband Hegel and Metaphysics. ¹¹ Zu beachten ist allerdings, was in solchen nicht-metaphysischen Lesarten unter „Metaphysik“ verstanden wird. Pippin z. B. hatte 1989 eine ganz bestimmte Metaphysik vor Augen, die er ablehnt. Sein Buch wendet sich plakativ gegen solche Interpreten, „who treat Hegel as an idiosyncratic Christian, romantic metaphysician, a ‚world-soul‘ or a ‚cosmic spirit‘ theologian“¹². Pippin bezieht damit Stellung gegen die große Hegel-Monographie von Charles Taylor¹³ und sicherlich gegen manche andere „klassische“ Hegel-Deutung nicht zuletzt aus dem deutschsprachigen Raum. Ob aber eine solche „nicht-metaphysische“ Interpretation wirklich jede Metaphysik ausschließen muss, nur weil sie die ontotheologische Version ablehnt, ist alles andere als ausgemacht. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Bezeichnung „Metaphysik“ in der besagten Debattenlandschaft Pippin, Robert B., Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness, Cambridge 1989, 5 f. Für eine eingängige Darstellung der genannten Entwicklung vgl. Redding, Paul, Analytic Philosophy and the Return of Hegelian Thought, Cambridge 2007, 1– 20; ferner die Einführungen bei Deligiorgi, Katerina (Hg.), Hegel: New Directions, Chesham 2006, und Nuzzo, Angelica (Hg.), Hegel and the Analytic Tradition, London, New York 2010. – Ein Verriss dieser Entwicklung findet sich hingegen bei Beiser, Frederick, Dark Days. Anglophone Scholarship since the 1960s, in: Hammer, Espen (Hg.), German Idealism. Contemporary Perspectives, London, New York 2007, 70 – 90, unschön übertroffen durch die Beurteilung als „pervers“ bei Rinaldi, Giacomo, Absoluter Idealismus und zeitgenössische Philosophie. Bedeutung und Aktualität von Hegels Denken, Frankfurt am Main u. a. 2012, 13. Vgl. Pinkard, Terry, Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason, Cambridge 1994. Vgl. beispielsweise Brandom, A Spirit of Trust, 769. Vgl. de Laurentiis, Allegra (Hg.), Hegel and Metaphysics. On Logic and Ontology in the System, Berlin, Boston 2016, 9 f., 14 f., 20 – 24, 36, 150. Pippin, Hegel’s Idealism, 3 f. Vgl. Taylor, Charles, Hegel, Frankfurt am Main 1978.
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zunächst unheimliche Assoziationen hervorrufen kann, findet sich bei John McDowell. Der Titel Metaphysik markiert hier diejenige Theorie, die im Gegensatz zum Naturalismus übernatürliche Entitäten ins Spiel bringt – und die deshalb mit weit mehr Nachdruck zu meiden sei als der Naturalismus. Wenn man eine gangbare Alternative zum „unverblümten Naturalismus“ etablieren wolle, dann könne das zwar ein Naturalismus der zweiten Natur sein, so McDowells prominenter Vorschlag. Keinesfalls aber dürfe man einem „zügellosen Platonismus“ oder eben einer Metaphysik das Wort reden.¹⁴ Bei Brandom taucht Metaphysik hingegen nicht nur im Modus ihrer Ablehnung auf. Er kritisiert vielmehr diese pauschale Ablehnung, wie beispielsweise folgendes Zitat belegt: „McDowell reads Kant and Hegel as already engaged in enterprises with this diagnostic-therapeutical, anti-metaphysical shape. […] I think this is an anti-metaphysical attitude, and a template for arguing against metaphysical programs, rather than an argument as such“¹⁵. Das Mindestmaß einer Metaphysik, die für Brandom möglich ist, könnte man also darin erblicken, nicht von vornherein auf eine „anti-metaphysische“ Grundhaltung festgelegt zu sein. In eine im kantischen Sinne unkritische Metaphysik oder gar eine supranaturalistische Ontotheologie ist man damit lange noch nicht abgedriftet. Zwar handelt es sich lediglich um einen Hinweis, dass das Wort „Metaphysik“ für Brandom kein Schreckgespenst darstellt. Wichtig ist allerdings, dass er in dieser Frage einen Dissens zumindest zwischen sich selbst und McDowell ausmacht. Die Tragweite dieses Dissenses (der nicht nur Brandom und McDowell, sondern weitere Personen bzw. Theorien betrifft) wird im Lauf der vorliegenden Arbeit herauspräpariert werden. Brandom sollte nicht in undifferenzierter Weise, wie es häufig geschieht, der Seite der Deflationisten zugeschlagen werden. Die Situation ist komplexer. Wenn man die ontotheologische bzw. die von McDowell pauschal als „platonisch“ bezeichnete Metaphysik zum Maßstab nehmen wollte, könnte man demgegenüber von Graden von Deflationismus sprechen. Oder, wenn man die heute verbreitete Definition von Metaphysik als Theorie über die allgemeinsten und grundlegendsten Strukturen der Wirklichkeit verwenden möchte, dann könnte das unter Umständen bedeuten, dass auch die als nicht-metaphysisch apostrophierten Hegel-Lesarten eine solche Theorie in Anspruch nehmen, und sei es implizit.
Vgl. McDowell, John, Geist und Welt, Frankfurt am Main 2001, insbesondere 16 – 20 und 102– 111; Ders., Zwei Arten von Naturalismus, in: Ders., Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie, Frankfurt am Main 2009, 30 – 73. Brandom, Robert B., Between Saying and Doing. Towards an Analytic Pragmatism, Oxford, New York 2008, 223.
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Angesichts solcher Beobachtungen verwundert es nicht, dass sich die Debattenlandschaft weiter aufgefächert hat bzw. dass die Renaissance der HegelForschung mittlerweile differenzierter beschrieben wird. Paul Redding unterscheidet im Eintrag der Stanford Encyclopedia of Philosophy drei paradigmatische Weisen der Interpretation von Hegels Philosophie: eine „traditionelle metaphysische Sichtweise“, die dem entspricht, was hier bisher ontotheologisch genannt wurde – eine „post-kantische“ oder „post-metaphysische“, für die u. a. Pippin Pate steht – und schließlich eine „revidierte metaphysische Sichtweise“, die zwar mit den Kantianern die traditionelle Sichtweise ablehnt, sich aber weit mehr traut, metaphysische Themen im Sinne der eben genannten Definition bei Hegel auszubuchstabieren.¹⁶ Komplementär zu diesen drei Interpretationsparadigmen wird die Hegel-Renaissance im neuen Oxford Handbook of Hegel als Prozess der personellen Erweiterung und Vernetzung beschrieben: Nach der zunächst deutschsprachig geprägten Phase der 1970er und 1980er Jahre und dem Neuanfang im englischsprachigen Raum seit Pippins Buch von 1989 sei in den letzten Jahren eine „dritte Welle“ unterwegs, in der eine wachsende Anzahl von Forscherinnen und Forschern international vernetzt an dem gemeinsamen Projekt arbeite, dem Werk Hegels philologisch und zugleich nach heutigen systematischen Standards gerecht zu werden.¹⁷ Das Handbuch versteht sich selbst als Produkt dieser dritten Welle und belegt ihre Breite, wobei es zugleich anzeigt, dass in dieser Debatte durchaus verschiedene Stimmen Gewicht haben. Zwischen der post-metaphysischen und der revidiert-metaphysischen Lesart befindet sich manches im Fluss. Ein wichtiger Kristallisationspunkt ist dabei immer noch die Frage nach dem Verhältnis Hegels zu Kant – bzw. zu den diversen Teilen von Kants Werk – sowie zu seinen anderen wichtigen Quellen Aristoteles und Spinoza.¹⁸ Während für Pippin – und auch, wie ich herausarbeiten werde, für Brandom – Hegels Auseinandersetzung mit der transzendentalen Analytik der Kritik der rei-
Vgl. Redding, Paul, Art. „Georg Wilhelm Friedrich Hegel“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2018 Edition), URL = https://plato.stanford.edu/archives/sum2018/entries/ hegel/, aufgerufen am 12.09. 2019. Diese „revidierte metaphysische Sichtweise“ wurde erst im Herbst 2010 als Ergänzung zur Alternative von ontotheologischer und kantianischer Lesart in den Artikel eingefügt. Die diversen Versionen des Artikels sind abrufbar unter https://plato.stanford. edu/cgi-bin/encyclopedia/archinfo.cgi?entry=hegel. Vgl. Moyar, Dean, Introduction, in: Ders. (Hg.), The Oxford Handbook of Hegel, Oxford, New York 2017, xxvii – xlix, besonders xxviii – xxxiv. Die Diskussion Platons bzw. der platonischen Tradition als weitere wichtige Quelle Hegels spielen in dem genannten Handbuch wie in der von ihm dokumentierten Debattenlandschaft eine geringe Rolle. Vgl. demgegenüber Halfwassen, Jens, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Hamburg 22005 und die daran anschließenden Studien.
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nen Vernunft entscheidend ist, beharrt z. B. James Kreines als Vertreter einer markanten metaphysischen Interpretation auf Hegels Überwinden der transzendentalen Dialektik der ersten Kritik sowie auf dem Wiedererstarken des Aristotelismus im Finale von Hegels Wissenschaft der Logik. ¹⁹ Hegels aristotelisches Erbe ist natürlich schon seit längerer Zeit in die Debatte eingebracht worden, z. B. durch Robert Stern,²⁰ und wird neuerdings auch von Pippin berücksichtigt.²¹ Stephen Houlgate oder Brady Bowman akzentuieren das spinozistische Element in Hegels Philosophie.²² Schließlich könnte auch die Frage nach Hegels Kantianismus und seinem Verhältnis zur Metaphysik bzw. zu ihrer Kritik komplexer sein als ursprünglich von Pippin vermutet, wie Sally Sedgwick und Béatrice Longuenesse darlegen.²³ In der vorliegenden Arbeit setze ich generell auf eine kantianische Lesart Hegels, die ich auch bei Brandom wiedererkenne. Zugleich bin ich der Auffassung, dass Hegels Kantianismus der Möglichkeit einer kritisch erneuerten Metaphysik nicht widersprechen muss, sondern sie sogar begünstigt (und entdecke diese Kombination wiederum bei Brandom). Damit stelle ich mich gegen das Entweder/Oder von Kantianismus und Metaphysik, das auf dem europäischen Kontinent eine lange Tradition hat und in der aktuellen Hegel-Renaissance immer noch virulent ist. Oben ist gesagt worden, dass Erscheinungsbild und Terminologie dieser Arbeit durch ihre Verortung in einer bestimmten Debattenlandschaft geprägt seien. Jetzt kann betont werden, dass dies auch für ihren Titel gilt: „Normativität als Metaphysik“ sehe ich in einer Linie mit Kants Diktum, dass „der stolze Name einer Ontologie […] dem bescheidenen einer bloßen Analytik des Vgl. Kreines, James, Reason in the World, Hegel’s Metaphysics and Its Philosophical Appeal, Oxford, New York 2015; Ders., From Objectivity to the Absolute Idea in Hegel’s Logic, in: Moyar, The Oxford Handbook of Hegel, 310 – 336. Vgl. Stern, Robert, Hegelian Metaphysics, Oxford, New York 2009. Vgl. Pippin, Robert B., Hegel on Logic as Metaphysics, in: Moyar, The Oxford Handbook of Hegel, 199 – 218; Pippin, Robert B., Hegel’s Realm of Shadows. Logic as Metaphysics in The Science of Logic, Chicago, London 2019, z. B. dort das Statement: „Hegel […] is most certainly a metaphysician in the Aristotelian sense“ (35). Gemeint ist damit, dass Hegel zwar eine Metaphysik des Übernatürlichen ablehne, aber durchaus, ähnlich wie Aristoteles, an einer Alltagsontologie sinnlich gegebener Dinge bzw. Lebewesen interessiert sei. Vgl. Houlgate, Stephen, The Opening of Hegel’s Logic. From Being to Infinity, Lafayette (IN) 2005; Bowman, Brady, Hegel and the Metaphysics of Absolute Negativity, Cambridge 2013; Ders., Self-Determination and Ideality in Hegel’s Logic of Being, in: Moyar, The Oxford Handbook of Hegel, 219 – 241. Vgl. Longuenesse, Béatrice, Hegel’s Critique of Metaphysics, Cambridge 2007 (der erste Teil dieses Buches wurde bereits 1981 auf Französisch publiziert, also deutlich vor Pippins Buch von 1989); Sedgwick, Sally, Hegel’s Critique of Kant. From Dichotomy to Identity, Oxford, New York 2012.
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reinen Verstandes Platz machen“²⁴ solle, sowie mit Hegels Perspektive, dass die Metaphysik fürderhin in dem aufgehe, was er Logik nennt.²⁵
Brandoms Weg in die Metaphysik: von Making It Explicit zu den historisch-rekonstruktiven Studien Die metaphysische Frage ist bei Brandom schon lange präsent, allerdings eher verdeckt. In Making It Explicit steht die Normativität unseres Begriffsgebrauchs im Vordergrund. Davon ist und bleibt der Metaphysik-Begriff abhängig. Auf diese Weise wird ihm zugleich eine anti-naturalistische Stoßrichtung gegeben. Bereits der erste systematische Schritt, den Brandom geht, kann das verdeutlichen. Was uns Menschen als vernünftige Wesen ausmacht, ist für Brandom die Teilnahme am „Spiel des Gebens und Nehmens vom Gründen“. Wir ziehen uns gegenseitig zur Verantwortung für das, was wir behaupten, und für das, was wir tun. Gründe binden uns mit einer Kraft, wie sie in der empiristisch beschriebenen Natur nicht vorkommt: Diese Kraft ist eine normative, ein rationales ‚Sollen‘. Vernünftig sein heißt diesen Normen, der Autorität von Gründen unterworfen sein. In diesem Sinne ‚wir‘ zu sagen heißt, uns gemeinsam in den Raum der Gründe zu stellen, indem wir Gründe für unsere Einstellungen und Verhaltensweisen geben und verlangen. Diese praktische Haltung einzunehmen heißt, uns selbst als Subjekte von Erkennen und Handeln zu betrachten oder zu behandeln.²⁶
Menschliches Bewusstsein ist in dieser Sicht nicht etwas bloß „Sinnliches“, Empfindungsfähigkeit, Gewahrsein, Wachheit (sentience).²⁷ Es ist sapience, d. h. Verstandesfähigkeit (so die offizielle Übersetzung), Vernünftigkeit, Umsicht und Orientierungsfähigkeit im normativen Raum der Gründe. Später wird dafür das nicht ganz so hübsche Bild der deontischen Kontoführung verwendet, zu der kompetente sprachliche Akteure fähig sind.²⁸ Die Argumentation von Making It Explicit beginnt also mit dem Blick auf uns Menschen als Verwendern von Begriffen. Wenn wir das Wesen des Begrifflichen verstehen wollen, müssen wir untersuchen, wie wir Begriffe verwenden. Und indem wir untersuchen, wie wir Begriffe verwenden, stellen wir fest, dass es gerade dieses normativ geregelte Verwenden von Begriffen ist, anhand dessen wir uns
KrV B 303 / A 247. Vgl. GW 11,32 bzw. GW 21,48 f. Brandom, Expressive Vernunft, 37. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 38. Eingeführt Brandom, Expressive Vernunft, 220.
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von anderen Wesen unterscheiden – auch wenn wir möglicherweise vieles andere mit ihnen gemeinsam haben. Brandom will eine Geschichte erzählen, die diese Differenz stark macht.²⁹ Bereits der erste Schritt in seinem systematischen Projekt ist ein Zug gegen den Empirismus und gegen einen reduktiven Naturalismus: Die Normativität des Begriffsgebrauchs soll eine Dimension aufschließen, die nicht auf Natur im Sinne des Naturalismus zu reduzieren ist. Zugleich möchte Brandom durchweg vermeiden, dass seine Theorie so verstanden wird, als würde sie einem ontologischen Dualismus das Wort reden (jenem „zügellosen Platonismus“, von dem McDowell sprach). Entsprechend hält er – in einer Formulierung, deren Diskussion noch eine Rolle spielen wird – im Abschlusskapitel von Making It Explicit fest: Die Unterscheidung zwischen normativen und nichtnormativen Ausdrücken, Behauptungen und Tatsachen wird selbst in normativer Sprache getroffen. In diesem Sinne wird hier also eine Geschichte erzählt, in der es durch und durch, bis auf den Grund, um Normen geht […]. Das Reich der Tatsachen und das der Normen sind keineswegs einander entgegengesetzt, sondern umfassen sich gegenseitig: Die Rede von Tatsachenfeststellungen wird in normativen Begriffen erklärt, und normative Tatsachen stellen sich als eine Art von Tatsachen neben anderen heraus.³⁰
Das Konzept der Normativität soll also einen Weg bahnen, der zwischen zwei verschiedenen Theorien über den Aufbau der Wirklichkeit – mithin zwei metaphysischen Theorien – hindurchführt: zwischen der Theorie, dass alles, was es gibt, naturwissenschaftlich beschreibbare Natur ist, und der Theorie, die die Welt aufteilt in eine naturwissenschaftlich beschreibbare Natur und ein zweites ontologisches Reich jenseits dieser Natur.³¹ Was aber sagt dieser eingeschlagene Mittelweg seinerseits positiv aus über die Struktur der Wirklichkeit? Welchen metaphysischen Status hat das Reich der Normen, das dem Reich der Tatsachen nicht prinzipiell entgegengesetzt sein soll?
Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 35 – 39; Ders., Begründen und Begreifen, 12. Brandom, Expressive Vernunft, 866. Brandom richtet sich also gegen einen methodologischen Naturalismus, der in den Naturwissenschaften den einzigen Weg zur Wahrheit über die Welt sieht, sowie gegen einen semantischen Naturalismus, der alle Aussagen in Sätze der Naturwissenschaft überführen will. Gegen einen ontologischen Naturalismus, der besagt, dass alles, was es gibt, Natur ist, ist diese Theorie gerichtet, sofern Natur als das definiert wird, was einzig die Naturwissenschaften beschreiben (das wäre die Kombination von ontologischem und methodologischem Naturalismus). Mit der Ablehnung dieser Form von ontologischem Naturalismus geht aber gerade nicht die Stellungnahme für die Existenz übernatürlicher Entitäten einher, wie von naturalistischer Seite teils insinuiert wird.
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Aus dem Gesagten lässt sich zunächst eine metaphysische Minimalbestimmung entnehmen, die für Making It Explicit fundamental ist. Brandom vertritt die Auffassung, dass die Welt so strukturiert ist, dass es in ihr einige Entitäten gibt, die in irreduzibler Weise Begriffe verwenden, ohne dualistisch vom Rest der Welt getrennt zu sein. Diese Pointe spricht er im letzten Absatz seines Buches aus, wenn er festhält, dass seine gesamte dort entwickelte Theorie auch als „eine Analyse der Art von Ding, das sich selbst als ein expressives Wesen konstituiert“³², bezeichnet werden könne. Die metaphysische Minimalbestimmung von Making It Explicit besteht also in der Skizze einer Beschreibung der Wirklichkeit, in der solche sich-selbst-konstituierende Wesen – klassischerweise Subjekte genannt – vorkommen. Darüber hinaus bietet Making It Explicit lediglich einen allgemeinen Hinweis auf einen möglichen weiteren Weg. Dieses Buch ist eine normativ-pragmatistische Analyse der Begriffsverwendung im Hinblick auf Wissensansprüche. Brandom wiederholt immer wieder, dass die über Hunderte von Seiten ausgebreiteten und ineinander verschlungenen sprachphilosophischen Überlegungen ein Ziel haben, das in Kapitel 8 schließlich erreicht wird: die Begründung der Möglichkeit der Objektivität unseres Wissens. Das inferentiell gegliederte Netz unserer Begriffe kann Dinge und Sachverhalte repräsentieren. Dies ist zunächst eine epistemologische Behauptung – bei der es freilich zugleich in einer noch näher zu bestimmenden Weise um „die Welt da draußen“ geht. Wie muss die Wirklichkeit beschaffen bzw. strukturiert sein, damit sie im inferentiell gegliederten Netz unserer Begriffe repräsentierbar ist? Das ist die Frage, die sich am Ende von Making It Explicit stellt, dort aber nicht beantwortet wird. Der Bearbeitung dieser zunächst offengebliebenen Frage widmet sich Brandom in seinen historisch-rekonstruktiven Studien zu Kant und Hegel. In einem Interview, das Susanna Schellenberg 1999 mit Brandom geführt hat – bezeichnenderweise unter dem Titel Von der Begriffsanalyse zu einer systematischen Metaphysik veröffentlicht –, zeichnet sich dieser Weg bereits ab. Brandom bekennt sich dazu, in einer wichtigen Hinsicht seinem Vorbild Sellars und nicht seinem direkten Lehrer Rorty folgen zu wollen. Sellars sei „ein systematischer Metaphysiker mit einem ernsthaften Interesse an der Geschichte der Philosophie“³³ gewesen. Und Brandom fährt fort: „Diese Orientierung teile ich mit ihm. Darin unterscheiden wir uns beide von Rorty, der natürlich systematische Metaphysik für das letzte hält, was das ausgehende 20. Jahrhundert von den
Brandom, Expressive Vernunft, 901. Brandom, Robert B.,Von der Begriffsanalyse zu einer systematischen Metaphysik. Interviewt von Susanna Schellenberg, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), 1005 – 1020, 1007.
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Philosophen braucht“³⁴. Ganz am Ende des Interviews gibt er schließlich zu bedenken, ob sich nicht durch die Auseinandersetzung insbesondere mit Hegel eine Ergänzung, ja eine Revision seines eigenen Projektes nahelegen werde: Es ist eine gute Frage, ob man nach Abschluß einer Untersuchung über die Rolle der Entwicklung des begrifflichen Gehalts in einer Hegelschen Perspektive auf Making It Explicit zurückblicken sollte, um zu schauen, was darin nicht berücksichtigt wurde. […] Ich denke, es wird durch die Hegelsche historische Untersuchung eine weitere Annäherung an ‚Objektivität‘ geben, die sich von dem sozial inferentiellen Verständnis in Making It Explicit unterscheidet. Aber ob diese beiden Herangehensweisen miteinander konkurrieren oder ob sie sich ergänzen, weiß ich noch nicht.³⁵
Dieses Interview markiert eine wichtige Distanzierung von Rorty. Brandom hat zwar dessen Kompliment gern angenommen, dass er es sei, der die analytische Philosophie von ihrer kantianischen in ihre hegelianische Ära führen werde.³⁶ Aber er verweigert sich der Vereinnahmung für Rortys post-metaphysische Agenda.³⁷ Je weiter er seine Position mittels der historisch-rekonstruktiven Studien zu Kant und Hegel in den vergangenen Jahren entfaltet hat, desto stärker tritt diese Abgrenzung hervor. In der obigen Interview-Äußerung überlegte Brandom noch, ob die hegelianische Vertiefung des Themas „Objektivität“ eine Ergänzung des Projekts von Making It Explicit darstellen oder in Konkurrenz zu ihm treten würde. Inzwischen fällt die Antwort eindeutig zugunsten der ersten Variante aus. Daher würde ich auch nicht sagen, dass die historisch-rekonstruktiven Studien lediglich eine „Propädeutik“³⁸ zu Making It Explicit darstellen. Sie sorgen vielmehr für eine Vertiefung der früheren Position. Mit Making It Explicit hat Brandom dafür argumentiert, dass wir als Begriffsverwender in der Welt in wechselseitiger Verantwortung Wissensansprüche erheben, mit Dingen in der Welt umgehen und uns
Brandom interviewt von Schellenberg, 1007. Brandom interviewt von Schellenberg, 1020. – Dass „die Frage nach einem angemessenen Verständnis von Objektivität“ die „Schicksalsfrage für die Brandomsche Theorie“ sei, betonen auch Haag, Johannes, Sturm, Holger, Sprechen über die Welt. Zu Robert Brandoms „Making It Explicit“, in: Philosophisches Jahrbuch 109 (2002), 323 – 342, 338. Für das Kompliment vgl. Rorty, Richard, Introduction, in: Sellars, Wilfrid, Empiricism and the Philosophy of Mind, hg. von Richard Rorty und Robert B. Brandom, Cambridge (MA), London 1997, 1– 12, 8 f., für dessen Annahme vgl. beispielsweise Brandom, Begründen und Begreifen, 49 f. Als Beispiel für die Vereinnahmung vgl. Rorty, Richard, Some American Uses of Hegel, in: Welsch, Wolfgang, Vieweg, Klaus (Hg.), Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht, München 2007, 33 – 46. Thein, Christian, Subjekt und Synthesis. Eine kritische Studie zum Idealismus und seiner Rezeption bei Adorno, Habermas und Brandom, Würzburg 2013, 26.
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auf sie so beziehen können, dass ein gewisser Grad von Objektivität erzielt wird. Mit Brandoms Texten zu Kant und Hegel tritt nun neu hervor, dass damit zugleich Aussagen über die Struktur dieser Welt getroffen werden bzw. werden sollten.³⁹ Am ausführlichsten hat bisher Franz Knappik die metaphysische Dimension von Brandoms Philosophie gewürdigt. Treffend hält er fest, dass es bei Brandom wie bei McDowell um die Frage gehe, „welche metaphysische Verfasstheit die Wirklichkeit als ganze haben muss, damit wir uns in ihr als vernünftige und freie Wesen bewegen und uns auf sie beziehen können. Teil ihrer Antwort ist, dass die natürliche Wirklichkeit selbst eine Struktur besitzt, die in rein naturwissenschaftlichen Beschreibungen nicht restlos aufgeht“⁴⁰. Während McDowell die Rede von Metaphysik jedoch sogleich abgelehnt und den deflationären Pfad eingeschlagen habe, sei Brandom deutlich weiter gegangen. Wer dessen „HegelInterpretation […] als rein semantisch oder anti-metaphysisch“ einstufe, dem unterlaufe eine „Fehleinschätzung“⁴¹. Nach den bisherigen Ausführungen liegt auf der Hand, dass ich dieser Beschreibung zustimme. Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings in der Bewertung von Brandoms Pragmatismus. Für Knappik ergibt sich nämlich ein Widerspruch zwischen dem unbestreitbar normativ-pragmatistischen Ansatz Brandoms und der Ausformulierung seiner metaphysischen Konsequenzen. Am Ende schlage doch der anti-metaphysische Affekt der pragmatistischen Tradition durch und Brandom bekomme sozusagen Angst vor seiner eigenen metaphysischen Courage.Weil er davon ausgehe, dass es generell keine letztgültigen Festlegungen geben könne, kollabiere auch seine idealistische Metaphysik zu einem bloßen Gedankenspiel.⁴² Um diesen Kollaps zu vermeiden und die metaphysische Tiefe zu würdigen, in die man mit Hegel tatsächlich geführt werde, schlägt Knappik hingegen die Entkopplung von Idealismus und Pragmatismus vor.⁴³ Darin besteht trotz des gemeinsamen Interesses die
Dass so etwas zu passieren drohte, hatte Habermas, in Fragen der Metaphysik bekanntermaßen sensibel, kongenial vorhergesehen: „Wir dürfen gespannt darauf sein, ob er [sc. Brandom; T.H.] in seinem nächsten Buch über Hegel auf dem pragmatistischen Boden bleibt – oder ob er sich von seinem metaphysischen Impuls beflügeln und forttragen lässt“ (Habermas, Jürgen, Robert Brandom: Making it Explicit, in: Ders., Zeit der Übergänge, Frankfurt am Main 2001, 166 – 170, 170). Ausführlicher diskutiert bei Habermas, Jürgen, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze (Erweiterte Ausgabe), Frankfurt am Main 2004, 138 – 185. Knappik, Franz, Im Reich der Freiheit. Hegels Theorie autonomer Vernunft, Berlin, Boston 2013, 6. Knappik, Reich der Freiheit, 10. Vgl. die Darlegung von Brandoms Metaphysikkritik und die kritische Stellungnahme bei Knappik, Reich der Freiheit, 270 – 287. Weitere Bemerkungen zum pragmatistischen Erbe bei Knappik, Reich der Freiheit, 36 f., 132 f. Vgl. das explizite Statement bei Knappik, Reich der Freiheit, 504.
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Differenz zwischen seiner und meiner Studie. Meine These ist, dass uns Brandom gerade durch seinen normativen Pragmatismus den Weg in eine Metaphysik bahnt, welche sowohl von Hegel gelernt hat als auch zu Hegel (und über ihn hinaus) etwas beizutragen weiß.⁴⁴
Der Umgang mit der Philosophiegeschichte Bisher habe ich angefangen, für die These zu werben, dass Brandom im Medium der Auseinandersetzung mit Kant und Hegel die Etablierung einer anti-naturalistischen Metaphysik verfolgt. Nun ist seine eigentümliche Methode im Umgang mit diesen Klassikern genauer in den Blick zu nehmen. Wie gesagt verweist der Titel „rekonstruktive Metaphysik“ auf beides, auf das intendierte Ziel wie auf den Weg, um dorthin zu gelangen. Durch die Interpretation von Texten aus der Philosophiegeschichte sollen Argumente für aktuelle systematische Zwecke rekonstruiert und geschärft werden.⁴⁵ Brandom nennt dies eine Lektüre de re, unterschieden von einer solchen de dicto. Im ersten Fall gehe es um die Rekonstruktion von Argumenten, denen man selbst zustimmen könne, im zweiten Falle darum, zu verstehen, was ein Autor oder eine Autorin in einem bestimmten historischen Kontext sagen wollte. Eine derartige Unterscheidung ist in der analytischen Philosophietradition nichts Ungewöhnliches. Ein Paradebeispiel für Brandoms erste Variante ist Peter Strawsons Kant-Buch The Bounds of Sense von 1966.⁴⁶ Strawson bietet eine Interpretation der Kritik der reinen Vernunft, die deren „große Einsichten“ unterstreichen möchte, während sie ihre „große[n] Irreführungen“⁴⁷ zu neutralisieren sucht. Es gehe um „eine klare, geordnete und einheitliche Interpretation des Systems von Gedanken“, das in Kants erster Kritik enthalten sei, und die „vom
Mit Blick auf die Vereinbarkeit von Pragmatismus und (kantianisch-kritischer) Metaphysik bei Hegel sehe ich Übereinstimmungen mit Emundts, Dina, Hegel as a Pragmatist, in: British Journal for the History of Philosophy 23 (2015), 611– 631. Mehr zu Emundts’ und Knappiks diesbezüglichen Positionen in Abschnitt 3.2.4. Für die Darlegung der Methodik vgl. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 90 – 118. Später scheint er vorauszusetzen, dass seine Art des Zugriffs auf die Philosophiegeschichte allseits bekannt ist. In A Spirit of Trust verzichtet er auf eine entsprechende Hinführung, es findet sich lediglich ein (im Inhaltsverzeichnis nicht ausgewiesenes) Nachwort zu Kapitel 9, das methodologischen Charakter hat: vgl. Ders., A Spirit of Trust, 307– 312. Brandom nennt Strawson als Vorbild für einen de re-Zugang: vgl. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 104. Strawson, Peter F., Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt am Main 1992, 9.
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Text, wie er dasteht, zumindest stark unterstützt“⁴⁸ werde. Für eine solche Art der Interpretation hat sich der Terminus „rationale Rekonstruktion“ eingebürgert.⁴⁹ Viele halten sie für die einzig relevante Weise, wie man sich mit Texten von „toten Philosophen“, wenn überhaupt, auseinandersetzen sollte. Demgegenüber hat Rorty angemahnt, dem Versuch einer rationalen Rekonstruktion eine „historische Rekonstruktion“ beizugesellen, also eine Erläuterung dessen, was jene toten Philosophen tatsächlich gesagt haben bzw. was sie – in Übereinstimmung mit dem, was sie tatsächlich gesagt haben – gesagt haben könnten.⁵⁰ Dies kommt dem nahe, was Brandom eine Lektüre de dicto nennt. Ist aber mit der Strawson-Variante bereits alles abgedeckt, was man unter einer Lektüre de re verstehen kann? Die Situation scheint mir komplexer zu sein. Deshalb möchte ich die Beschreibung von Brandoms Methode mit entsprechenden Überlegungen von Dina Emundts in Beziehung setzen. Anstelle des bisher vorgestellten zweistufigen Bildes hat sie ein dreistufiges Szenario vorgeschlagen.⁵¹ Es wird helfen, Brandoms Umgang mit den Texten von Kant und Hegel, aber auch meinen Zugriff darauf in den unterschiedlichen Teilen dieser Arbeit präziser einzuordnen. Emundts unterscheidet drei Weisen des Umgangs mit Texten aus der Philosophiegeschichte, die sie „historisch“, „synthetisch“ und „systematisch“ nennt. Die erste Variante wird nur en passant als eine Erforschung der Denkentwicklung einer Autorin in einem historischen Kontext mit seinen besonderen Einflüssen gekennzeichnet.⁵² Im Fokus stehen indes die zwei anderen Varianten, in denen es jeweils darum geht, Argumente aus einer historischen Konstellation in eine aktuelle Debatte einzuspeisen. In Emundts’ Darstellung unterscheiden sie sich dem Umfang und der Blickrichtung nach. Die synthetische Methode hat eine aktuelle Debatte zum Ausgangspunkt und blickt von dort aus zurück in die Philosophie-
Strawson, Grenzen des Sinns, 9. Ihre Wurzeln hat sie im Neukantianismus, später hat sie die Geschichte der analytischen Philosophie begleitet. Der Terminus wurde von Carnap eingeführt. Vgl. dazu Beaney, Michael, Analytic Philosophy and History of Philosophy. The Development of the Idea of Rational Reconstruction, in: Reck, Erich H. (Hg.), The Historical Turn in Analytic Philosophy, Basingstoke, New York 2013, 231– 260. Vgl. Rorty, Richard, The Historiography of Philosophy: Four Genres, in: Ders., Schneewind, J.B., Skinner, Quentin (Hg.), Philosophy in History. Essays on the Historiography of Philosophy, Cambridge 1984, 49 – 75, 49 – 56. Vgl. Emundts, Dina, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte am Beispiel von Kant und Hegel, in: Quante, Michael (Hg.), Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kolloquienbeiträge, Hamburg 2016, 875 – 889. Vgl. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 878 f.
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geschichte, um einzelne Argumente aufzuspüren, die in die aktuelle Debatte eingepasst werden können. Sie ist synthetisch, weil sie Altes und Neues zusammensetzt, und zugleich eklektisch, weil sie aus dem Alten nur wenige Bausteine herausgreift, die als nützlich erscheinen. Diese Methode ist laut Emundts weit verbreitet und auch durchaus legitim („eklektisch“ also nicht pejorativ zu verstehen).⁵³ Die systematische Methode hingegen geht von dem ursprünglichen Text in dessen Zusammenhang aus, würdigt seine Argumente und verdichtet sie zu einer konsistenten Position, in der Hoffnung, diese schließlich in einer aktuellen Debatte zur Geltung bringen zu können. Dabei ist wichtig, „dass die Rekonstruktion sich an dem orientiert, was die rekonstruierte Position selbst angenommen hat oder annehmen könnte oder sollte – also quasi in Verbindung mit allen anderen ihren Behauptungen und in diesem Sinn systematisch“⁵⁴. Das ist ein anspruchsvolles Projekt, mit Blick auf die Rekonstruktion selbst, die historisch und hermeneutisch gut informiert sein muss, aber auch mit Blick auf die Einspeisung in die aktuelle Debatte. Denn die Distanz zwischen historischer Position und aktueller Debatte kann sehr groß sein, was die begrifflichen Möglichkeiten wie die teils unterschwelligen Voraussetzungen und Hintergrundannahmen betrifft. Daher müsse man „beide Perspektiven einnehmen können und sich sowohl in der Position in der Geschichte der Philosophie als auch in der aktuellen Debatte verorten können“⁵⁵. Neben der Mühe, die eine solche Arbeit kostet, erweist sich darin nach Emundts aber auch ihre Attraktivität – im Falle des Gelingens und selbst im Falle des Scheiterns: Nach getaner Arbeit hat man nämlich sowohl über die historische Position als auch über die aktuelle Debatte etwas Neues gelernt, unausgesprochene „Vorentscheidungen und Zielsetzungen“⁵⁶ ans Tageslicht gefördert und ausdifferenziert, so dass man sich gegebenenfalls sogar in die Lage versetzt sehen kann, Ausrichtung und Design der aktuellen Debatte zu verändern. Wo ist in diesem (zunächst) dreistufigen Schema die rationale Rekonstruktion zu verorten? Emundts legt sich diesbezüglich nicht fest und deutet an, dass es sich eventuell um eine Zwischenstufe handeln könnte.⁵⁷ Nach Emundts’ Beschreibung hat die synthethische Methode ein instrumentelles Verhältnis zur Philosophiegeschichte. Mit Blick auf Strawsons Kant-Buch kann man das nicht ohne weiteres sagen. Strawson greift nicht einzelne Argumente heraus, um sie in einen anderen Kontext zu überführen, sondern er bemüht sich darum, die Kritik der reinen
Vgl. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 876 f. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 878. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 880 f. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 883. Vgl. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 877 f.
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Vernunft zu verstehen bzw. verständlich zu machen. Insofern geht er von der historischen Position aus. Allerdings ist der angelegte Maßstab ohne Frage die aktuelle Situation: Strawson meint, dass er letztlich nur das an der Kritik der reinen Vernunft verständlich machen kann, was heute auch inhaltlich zu vertreten ist. Man könnte Emundts’ Raster also ergänzen, indem man zwischen einem synthetisch-instrumentellen Umgang mit der Philosophiegeschichte (einzelne alte Argumente werden mit der neuen Situation synthetisiert) und einem synthetisch-interessierten Umgang (ein altes Werk wird gewürdigt, indem ein neuer und als hilfreich angesehener Maßstab an es angelegt wird) unterscheidet.⁵⁸ Wenn also das, was Brandom de dicto-Lektüre nennt, mit Rortys und Emundts’ historischer Rekonstruktion gleichgesetzt wird, stehen nun drei Optionen zur Verfügung, um seine de re-Lektüre einzuordnen. Dass die systematische Variante dafür nicht in Frage kommt, dürfte sich aufdrängen: Brandom beschreibt sein Vorgehen u. a. als „highly selective engagement“⁵⁹ mit den Klassikern bzw. als „method of selection, supplementation, and approximation“⁶⁰. Eklektisch sind Brandoms historisch-rekonstruktive Studien allemal.Wie erwähnt muss diese Einschätzung nach Emundts’ Schema keine prinzipielle Abwertung bedeuten, es könnte sich um eine legitime Art der Vergegenwärtigung klassischer Argumente handeln. In diesem Zusammenhang ist es also kein Vorwurf, wenn Emundts lakonisch bemerkt, dass es Brandom „letztlich egal sein“⁶¹ könne, ob er z. B. Hegel immer gerecht werde. Es handelt sich lediglich um die Bestätigung der Zuweisung zur synthetischen Variante. Handelt es sich dabei eher um die synthetisch-instrumentelle oder die synthetisch-interessierte Stufe? Die Antwort fällt unterschiedlich aus, je nachdem, welche von Brandoms Texten man heranzieht. Im Falle von Making It Explicit kann man sicherlich von einem instrumentellen Einsatz von Argumenten sprechen, wenn z. B. Kant und Wittgenstein über die Problematik des Regelfolgens zitiert werden – der Rückgriff auf diese Argumente dient ganz und gar der Entwicklung der eigenen systematischen Position. Bei den historisch-rekonstruktiven Studien ist das schwieriger zu beurteilen. Einerseits kann man sagen, dass auch
Die rationale Rekonstruktion bzw. die synthetisch-interessierte Variante kann somit eine biographisch-existentielle Note bekommen. Rationale Rekonstruktionen nimmt man nicht in allen möglichen Fällen vor, sondern dann, wenn man von Texten aus der Geschichte persönlich angetan ist, und sei es im Modus der Irritation. Vgl. in diesem Sinne Strawson, Peter F., A Bit of Intellectual Autobiography, in: Glock, Hans-Johann (Hg.), Strawson and Kant, Oxford, New York 2003, 7– 14, 7– 9. Brandom, Reason in Philosophy, 107. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 111. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 885.
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hier z. B. auf Kants Auszeichnung der Normativität des Verstandesgebrauchs und auf Hegels Theorie der Anerkennung nur deshalb zurückgegriffen wird, um schlagkräftige Argumente für die aktuelle Debatte zu produzieren. Andererseits spricht der Umstand, dass Brandom Hunderte von Seiten über Kant und Hegel schreibt und insbesondere A Spirit of Trust als Kommentar zur Phänomenologie des Geistes angelegt hat, für die synthetisch-interessierte Variante. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass Brandom von einem hermeneutischen Zirkel spricht, in dem er sich zwischen seinen „more narrowly focused historical studies“ und dem „emerging grand narrative“⁶² seiner eigenen Philosophie bewege.⁶³ Ähnlich wie Strawson, der sich mit dem Kant, den er sich plausibel machen kann, identifiziert, tut Brandom es mit seinen Referenzautoren. Durch das, was Brandom mit Kant und Hegel tut – manchmal auch in dem, was er nicht mit ihnen tut –, lässt er sein eigenes Denken durch kantianische und hegelianische Motive bestimmen und geht entsprechende Verpflichtungen ein. Eine der Aufgaben, die ich mir in dieser Arbeit stelle, besteht darin, Brandoms Umgang mit Kant und Hegel aus dem synthetisch-instrumentellen in das synthetisch-interessierte Lager herüberzuziehen. Zu diesem Zweck werde ich seine Interpretation der Kritik der reinen Vernunft zu einer konsistenten rationalen Rekonstruktion ausbauen. Darauf werde ich darlegen, wie seine Hegel-Interpretation in erster Linie, wenn auch teils unausgesprochen und verdeckt, als eine Fortsetzung des Ergebnisses dieser Rekonstruktion zu verstehen ist. Eine rationale Rekonstruktion darf – dem obigen Raster zufolge – immer noch selektiv sein. Sie muss allerdings aus dieser Not eine Tugend machen, sonst ist sie nicht als das erkennbar, was sie sein will. Sie hat – zumindest hier und da – deutlich zu machen, was sie an Positionen links liegen lässt, welche Argumente, die für die rezipierte Autorin (vermutlich) selbst wichtig waren, gerade nicht unterschrieben werden. Bei Strawsons Kant-Interpretation sind das beispielsweise der transzendentale Idealismus und die von ihm so apostrophierte „transzendentale Psychologie“.⁶⁴ Mit Blick auf Brandom möchte ich diese „Aufräumarbeit“ nachliefern, d. h. explizit machen, was er bei seinem strategischen Einsatz von Kant und Hegel bei der Lektüre übergeht und was er damit stillschweigend in Kauf nimmt. Auf diese Weise ist die vorliegende Arbeit allerdings zugleich eine Studie, die über Brandom selbst hinausführt – dies zu verdeutlichen ist die andere Aufgabe, Brandom, Tales of the Mighty Dead, 34. So kann man auch das Ineinandergreifen der Ausführungen verstehen, die in Brandom, Begründen und Begreifen, 9 – 54, mit „strategischer“ und „historischer Kontext“ überschrieben sind. Vgl. einführend Strawson, Grenzen des Sinns, 15 – 17.
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der ich mich stellen werde. Gemäß dem von Emundts übernommenen und adaptierten Raster lässt sich an dem speziellen Fall der Diskussion Brandoms etwas Grundsätzliches über den Umgang mit Texten aus der Philosophiegeschichte lernen bzw. vorführen: was eine rationale Rekonstruktion ist und worin ihre Grenzen bestehen – aber auch, was im Unterschied dazu eine systematische Rekonstruktion ausmacht.
Aufbau und Vorgehensweise der Arbeit Die vorliegende Arbeit besteht entsprechend aus zwei Teilen. Teil 1 profiliert Brandoms Kant-Lektüre zu einer rationalen Rekonstruktion und sattelt seine Hegel-Interpretation darauf auf. Schritt für Schritt tritt dabei Brandoms inhaltliches Ziel zutage, eine anti-naturalistische Metaphysik als Konsequenz seines normativpragmatistischen Projekts zu etablieren. Teil 2 nimmt einen Methodenwechsel vor und führt zwei Fallstudien für eine systematische Rekonstruktion klassischer Texte aus der Philosophiegeschichte durch, mit der die durch Brandom markierte aktuelle Debatte bereichert werden soll. Der erste Teil beginnt in Kapitel 1 damit, die beiden bereits eingeführten Leitmotive variierend zu vertiefen: den strategisch-performativen Einsatz der Philosophiegeschichte und die angezielte anti-naturalistische Metaphysik. Bei Brandom handelt es sich um ein ineinander verschlungenes Zwillingsunternehmen. Um das Prekäre an diesem Projekt zu verdeutlichen, benenne ich zunächst die Herausforderung durch einen reduktiven Naturalismus und charakterisiere die sogenannte Hegel-Renaissance als Versuch, das Verhältnis der sich in kulturellen Praxen und Institutionen manifestierenden Realität des menschlichen Geistes zur Natur auf eine nicht-reduktive Weise zu bestimmen. Dabei wird sich die Frage stellen, welche Fassung der Anti-Reduktionismus annehmen kann: Ist ein „schwacher Naturalismus“ ohne erklärte reduktionistische Absichten ausreichend? Wie geht man auf der anderen Seite des Spektrums mit der Gefahr um, aus Angst vor dem Naturalismus in einen Supranaturalismus zu flüchten? Anschließend stelle ich dar, wie Brandom den heutigen mainstream des reduktiven Naturalismus als eine Situation der Entfremdung deutet, der er eine angemessene Fassung genealogischen Denkens – und damit auch die Würdigung der Philosophiegeschichte – entgegensetzen möchte. Dies wird mir Gelegenheit geben, die eingangs genannte performative These weiter zu erläutern. In Kapitel 2 erfolgt die angekündigte Ausarbeitung von Brandoms Kant-Interpretation zu einer rationalen Rekonstruktion. Zu diesem Zweck ist es nötig zu verdeutlichen, dass Brandom nicht beliebig von hier und da aus dem Werk seines Referenzautors zitiert, sondern sich tatsächlich auf bestimmte Abschnitte daraus
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einlässt und versucht, sich deren zusammenhängende Gedankengänge plausibel und so zu eigen zu machen. Im Falle Kants ist das allein (!) die Lehre vom Verstand als dem „Ve r m ö g e n z u u r t h e i l e n“⁶⁵ aus der Kritik der reinen Vernunft und insbesondere die Argumentation der „Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ (hauptsächlich nach der B-Auflage von 1787, in einem entscheidenden Punkt auch nach der A-Auflage von 1781). Es ist gerade die Interpretation dieses – für Kants theoretische Philosophie ohne Frage zentralen – Abschnitts, mit dem Brandom im Ausgang von einer normativ-pragmatistischen Erkenntnistheorie in eine entsprechende Metaphysik hineinsteuert.⁶⁶ Brandoms Hegel-Interpretation lese ich in Kapitel 3 als Verlängerung der Auseinandersetzung mit Kants Deduktion.⁶⁷ Mit seinem kantianischen Hegel erarbeitet sich Brandom vollends eine Metaphysik mit revisionärem Anspruch: die Welt nicht zuerst als etwas natürlich Gegebenes zu verstehen, in dem es nur hier und da zu normativen Abzweigungen kommt, sondern als ganz und gar von Normativität umfasst und durchdrungen. Kapitel 2 und 3 gehen nahe an Brandoms Texten entlang. Dabei arrangiere ich den Stoff vor allem im Anschluss an die Semantische Sonate über Themen von Kant und Hegel, weil Brandom dort am ausführlichsten und eindringlichsten den Weg beschreibt, der von Kant zu Hegel führt. In die dortige Erzählung füge ich weitere Texte Brandoms ein, in denen er wichtige Punkte im Anschluss an Hegel ausbaut. Auf jedem der bei Brandom belegten Interpretationsschritte kreiere ich eine Versuchsanordnung mit anderen Positionen (teils von ihm gar nicht erwähnten), durch die seine Strategie verdeutlicht werden soll.⁶⁸ Mit Blick auf Hegel stellt meine Textauswahl eine selbstgewählte Beschränkung dar. Ein Grund für sie ist der schiere Umfang von Brandoms Texten zu Hegel, insbesondere seit dem Erscheinen von A Spirit of Trust. Es ist nicht meine Absicht, zu diesem Kommentar zur Phänomenologie des Geistes meinerseits einen Kommentar zu schreiben. Allerdings gibt es weitere, positive Gründe. Erstens erlaubt es die besagte Konzentration auf den an Kants transzendentaler Deduktion ori-
KrV B 94 / A 69. Kant verwendet den Begriff der Deduktion an mehreren Stellen in unterschiedlichen Schriften. Wenn ich in dieser Arbeit von „transzendentaler Deduktion“ oder nur von „Deduktion“ spreche, beziehe ich mich immer auf die „transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ in der Kritik der reinen Vernunft (und verzichte im Folgenden auf die Anführungsstriche). Die Verbindung mehrerer Autorinnen und Autoren in einer zusammenhängenden rationalen Rekonstruktion wird angedacht bei Kühn, Wilfried, Ein Plädoyer für rationale Rekonstruktionen, in: Studia philosophica – Schweizerische Zeitschrift für Philosophie 76 (2017), 171– 186, 177 f. Selbstverständlich benenne ich, wenn es Brandom selbst ist, der auf andere Autorinnen und Autoren verweist. Wenn ich es nicht tue, handelt es sich um Ergänzungen meinerseits.
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entierten Hegel präzise nachzuverfolgen, wie Brandom auf diese Weise seine eigene metaphysische Position entwickelt – aufgrund der breit angelegten mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Ausführungen könnte A Spirit of Trust in dieser Frage eher vom Wege abbringen. Der zweite Grund verweist bereits über Brandom hinaus (und damit vorweg in Teil 2 dieser Arbeit). Wenn es nämlich gelingt, Brandoms Hegel-Interpretation als konsequente Verlängerung seiner Kant-Interpretation zu verstehen, dann haben wir womöglich zugleich etwas über Hegels Kant-Interpretation gelernt. Wir haben dann eine Möglichkeit durchgespielt, Hegel als Kantianer auszuweisen, der gerade als Kantianer – als ein Freund der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – eine Metaphysik verfolgt. Dies wäre eine markante Position innerhalb der aktuellen Phase der oben beschriebenen Hegel-Renaissance, weil sie weder das Junktim von Kantianismus und Post-Metaphysik akzeptiert, wie es von Pippin ausgegeben worden war, noch zu metaphysischen Zwecken verstärkt auf Aristoteles zurückgreift, wie es beispielsweise Kreines tut. Zum Abschluss des ersten Teils bietet Kapitel 4 eine Zusammenschau, die den Ertrag der vorigen Kapitel mit Blick auf Brandoms eigenen Standpunkt sichert. In Teil 2 nehme ich den Wechsel zu der Methode vor, die Emundts systematische Rekonstruktion genannt hat. Auch mit dieser soll eine Beziehung zwischen Positionen aus der Philosophiegeschichte und einer aktuellen Debatte hergestellt werden. Sie geht aber nicht so vor, dass sie selektiv herausgreift, was an alten Argumenten für heutige Fragestellungen relevant sein könnte, und das andere erklärtermaßen außen vor lässt. Vielmehr ist sie „an dem orientiert, was die rekonstruierte Position selbst angenommen hat oder annehmen könnte oder sollte“ und versucht, dies – unter Würdigung der Fremdheit zwischen den Jahrhunderten – in die aktuelle Debatte einzubringen. Mit dieser methodischen Vorgabe möchte ich im zweiten Teil meiner Arbeit zwei Fallstudien vornehmen. Sie sind nicht beliebig ausgewählt, sondern so, dass sich eine Beziehung zu der Debatte herstellen lässt, die in dieser Einleitung angerissen worden ist und die Teil 1 prägen wird: die Hegel-Renaissance mit ihren anti-reduktionistischen Intentionen und in ihr Brandom als Referenzpunkt. Umgedreht wird jedoch die Perspektive: Während in Teil 1 nachvollzogen worden ist, wie Brandom auf Autoren aus der Philosophiegeschichte schaut und sie rezipiert, wird in Teil 2 der Versuch unternommen, in die Gedankenwelt von zwei Autoren aus der Philosophiegeschichte einzusteigen und gewissermaßen von ihnen aus auf Brandom und die aktuelle Debatte zu schauen. Die Verzahnung zwischen einst und heute wird dadurch hergestellt, dass es in beiden Fällen um bestimmte Probleme geht, die sich bei Brandom mehr oder weniger deutlich ergeben und eine weitere Diskussion erfordern. Es handelt sich dabei um das Problem einer drohenden Reduktion von Normativität auf Sozialität (dazu Kapitel 5) sowie um die Frage, wie nach der
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Abgrenzung gegenüber dem reduktiven Naturalismus auch die Abgrenzung gegenüber dem Supranaturalismus in Worte gefasst werden kann (dazu Kapitel 6). Das erste Problem und mein Antwortversuch darauf sind dabei relativ naheliegend, während die Weise, wie ich das zweite Problem behandle, einen experimentelleren Charakter hat. Der Ausgangspunkt von Kapitel 5 ergibt sich aus einer Kritik, die bereits von anderer Seite gegenüber Brandoms Interpretation des Weges von Kant zu Hegel vorgebracht worden ist. Während Kant in Brandoms Erzählung derjenige ist, der als Erster die entscheidende Einsicht in die Normativität unserer Erkenntnispraxis formuliert, besteht Hegels Beitrag nicht zuletzt darin, diese Normativität mittels Sozialisierung und Historisierung vom transzendentalen Himmel auf die Erde zu holen. Ein Einwand gegen diese Fortschrittsgeschichte besteht darin, dass durch sie Normativität nicht nur erklärt, sondern am Ende wegerklärt würde. Reduziert Brandom Normativität auf soziale und geschichtliche Prozesse? Anfragen dieser Art sind z. B. von Andrea Kern und Markus Gabriel erhoben worden.⁶⁹ Gabriel votiert dafür, den Weg von Kant zu Hegel gar nicht zu gehen, Kern dafür, ihn anders zu gehen, als Brandom es tut. In Kapitel 5 werde ich diesen Komplex untersuchen. Ich bin der Auffassung, dass sich der Einwand tatsächlich nicht von der Hand weisen lässt, zumindest solange nicht, bis Brandom an einer entscheidenden Stelle korrigiert wird. Denn er vermischt, was Hegel selbst unterscheidet: die Logik der „Subjektivität“ und das Phänomen der „Subjektivität“. Meine Antwort auf dieses Problem besteht in einem ausführlichen Kommentar zur Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ aus der Wissenschaft der Logik. Hegel eröffnet damit den Systemteil der subjektiven Logik. Er antwortet in diesem wichtigen Text durchaus auf Kant, allerdings in anderer Weise, als Brandom es vermutet. Die systematische Rekonstruktion besagter Passage aus Hegels Logik verstehe ich zum einen als Kritik an Brandoms konkretem Vorgehen, zum anderen als von seinem Ansatz inspirierte Interpretation eines klar umrissenen HegelTextes, die wiederum als Auftakt zu einer Lektüre der gesamten subjektiven Logik verstanden werden kann. Somit soll schließlich Brandoms eigentliches Anliegen, mit Hegel eine Metaphysik post und secundum Kant zu etablieren, verteidigt werden. Mit Kapitel 6 möchte ich die Frage nach der Abgrenzung einer normativpragmatistischen und somit anti-naturalistischen von einer supranaturalistischen Metaphysik thematisieren. Wie die eingangs angeführten Zitate von Pippin
Vgl. Kern, Andrea, Review of Brandom, Tales of the Mighty Dead, in: European Journal of Philosophy 13 (2005), 301– 306; Gabriel, Markus, Die Erkenntnis der Welt – Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg im Breisgau, München 2012, 280 – 311.
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und McDowell belegen, spukt der Supranaturalismus – manchmal unter dem Namen eines ontologischen Dualismus – als eine Art Schreckgespenst in der aktuellen Debatte umher. Allerdings wird er kaum ausdrücklich diskutiert. Es scheint ausgemachte Sache zu sein, dass er eine in keiner Weise ernstzunehmende Alternative darstellt. Wie ich aber bereits in 1.1 zeigen werde, ist das eine voreilige Annahme. Kapitel 6 darf also als eine Intervention verstanden werden, die sich das zunutze macht, was Emundts als das Herausfordernde, aber eben auch das Reizvolle an einer systematischen Rekonstruktion klassischer Texte für aktuelle Debatten unterstrichen hat: den Effekt der Fremdheit zwischen den Epochen. Mit Anselm von Canterbury rufe ich einen Autor aus dem Mittelalter auf – aus einer Phase, so möchte man heute meinen, in der der Supranaturalismus gang und gäbe war. Allerdings nimmt Anselm eine interessante Sonderstellung ein. Es lässt sich nämlich eine Verwandtschaft seiner Sprach- und Erkenntnislehre mit Brandoms normativem Pragmatismus ausmachen. Marker für Anselms ebenfalls normativ-pragmatistische Theorie ist das Konzept der „rectitudo“, mit dessen Hilfe er im Dialog De veritate den Wahrheitsbegriff bestimmt. Der Kontext der vorliegenden Arbeit bietet einen passenden heuristischen Rahmen, der es erlaubt, Anselms Theorie auf neue Weise philosophisch zu würdigen.⁷⁰ Zugleich stellt Anselm einen heuristischen Rahmen bereit, um in der gegenwärtigen Diskussion einen Aspekt neu zu sehen. Die normativ-pragmatistische Theorie von De veritate führt ebenfalls in eine Metaphysik. Umstritten ist dabei jedoch der Status der metaphysischen Abschlussfigur, nämlich die Rolle, die Gott als der absoluten Wahrheit bzw. „rectitudo“ zugewiesen wird. Ist dieser Gott eine Instanz, die unserer Welt von außen eine absolute Normativität vorgeschrieben hat? Oder ist die mit dem Gottestitel ausgezeichnete absolute Normativität eine innere, der Welt immanente – und wenn ja, wie steht sie dann im Verhältnis zu ihren endlichen Instantiierungen? Das sind offensichtlich zunächst Fragen der Interpretation von Anselms Textvorlage. Eine eklektische synthetischinstrumentelle Rezeption würde dabei wenig Sinn ergeben, weil nicht klar wäre, warum man überhaupt die Gottesfrage aus De veritate diskutieren sollte. Ausgehend von einer systematischen Rekonstruktion lassen sich die Ergebnisse indes
Die Zentralität des „rectitudo“-Begriffs für Anselms Denken – auch über De veritate hinaus – ist schon früh gesehen worden. Pouchet, Robert, La rectitudo chez Saint Anselme. Un itinéraire augustinien de l’âme à Dieu, Paris 1964, ist daran vor allem spirituell interessiert. Zwei Arbeiten bilden die Basis für die jüngere Diskussion: Enders, Markus, Wahrheit und Notwendigkeit. Die Theorie der Wahrheit bei Anselm von Canterbury im Gesamtzusammenhang seines Denkens und unter besonderer Berücksichtigung seiner antiken Quellen (Aristoteles, Cicero, Augustinus, Boethius), Leiden, Boston, Köln 1999; Goebel, Bernd, Rectitudo. Wahrheit und Freiheit bei Anselm von Canterbury. Eine philosophische Untersuchung seines Denkansatzes, Münster 2001.
Einleitung
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ins Heute zurückspiegeln. Solche Fragen können sich stellen, und womöglich sollten sie es auch, wenn man anfängt, Brandoms Weg in die Metaphysik mitzugehen. Das bedeutet nicht, dass die Auflösung, die Anselm am Ende seines normativ-pragmatistisch angelegten Dialogs findet, einfach so als die beste Lösung des in der heutigen Debatte virulenten Problems der Abgrenzung zum Supranaturalismus präsentiert werden könnte. Vielmehr wird uns der gesamte Dialog samt seines Ergebnisses aller Voraussicht nach fremd bleiben. Er bietet aber ein Kontrastmittel, das im Sinne Emundts’ hilft, unausgesprochene Vorentscheidungen und Tabus aufzudecken. Mit der Konfrontation von Brandom und Anselm wird eine Situation geschaffen, durch die wir über beide etwas lernen können. Kapitel 7 zieht ein Fazit, das hier natürlich nicht vorweggenommen werden kann. Es sollte bisher einerseits klar geworden sein, dass ich Brandoms strategisch-performativen und somit anti-naturalistischen Umgang mit der Philosophiegeschichte grundsätzlich unterstütze. Andererseits habe ich meine Kritik an gewissen Aspekten seines Vorgehens angekündigt. Mit den beiden Versuchen einer systematischen Rekonstruktion von wichtigen Werkteilen Hegels und Anselms gehe ich, von Brandom inspiriert, über Brandom hinaus. Die Tatsache, dass es sich um die systematische Rekonstruktion der Theorien von Autoren aus unterschiedlichen Epochen handelt, impliziert ebenfalls eine gewisse Distanzierung: Ich behaupte nicht, dass Brandom, Hegel und Anselm alle dasselbe sagen; ich behaupte allerdings schon, dass jeder von ihnen aus seiner Perspektive mit ihren jeweiligen Potentialen und Grenzen etwas für dieselbe Diskussion beitragen kann. Am Ende der vorliegenden Arbeit werde ich, so meine Hoffnung, gezeigt haben, dass es prinzipiell – und teils konkret verbunden mit Brandom, einem kantianischen Hegel und dem Wahrheitsdialog Anselms von Canterbury – gelingen kann, für eine normativ-pragmatistisch induzierte, anti-naturalistische Metaphysik sowie für einen philosophisch beherzten und methodologisch variablen Umgang mit der Philosophiegeschichte zu werben.
Teil 1: Brandoms Aneignung von Kant und Hegel
1 Metaphysik statt naturalistischer Entfremdung 1.1 Verheißung und Problematik deflationärer Idealismus-Lesarten In Kapitel 1 wird die Bühne für die in Kapitel 2 und 3 folgende Rekonstruktion von Brandoms Einsatz von Kant und Hegel bereitet. Dieser Einsatz zielt auf eine antinaturalistische Metaphysik. Daher soll zunächst das Verhältnis von Metaphysik und Naturalismus genauer bestimmt werden. Zu diesem Zweck diskutiere ich in 1.1 die Verheißung und die Problematik deflationärer Lesarten der idealistischen Klassiker. In 1.2 stelle ich Brandoms Charakterisierung des Naturalismus als Zustand einer metaphysischen Entfremdung vor, gegen die er eine bestimmte Form genealogischen Denkens in Stellung bringen möchte. In dem Sammelband German Idealism. Contemporary Perspectives beschreibt der Herausgeber Espen Hammer die aktuellen Rückgriffe auf Kant und seine Nachfolger vor allem als Versuche, dem Siegeszug des Naturalismus eine Alternative entgegenzusetzen. „[M]uch of today’s resurgence of this older tradition may be seen as representing a battle-cry against current variations of naturalism“¹, so Hammer. Aussicht auf Erfolg schreibt er solchen Rückgriffen auf die Tradition aber nur in einer dezidiert post-metaphysischen, deflationären Variante zu, „downplaying the metaphysical commitments“²: „If purged of its speculative metaphysical aspirations, German idealism can inspire the formulation of views that show nature and freedom to be compatible with one another“³. Dies scheint mir in der Tat eine zutreffende Beschreibung zu sein, wie z. B. Pinkard vorgeht.⁴ Eine davon abweichende Auffassung vertritt in demselben Sammelband Sebastian Gardner, der solch einem Deflationismus kritischer gegenübersteht.⁵ Dabei skizziert er ein Szenario, das mir hilfreich zu sein scheint, die systematische Problemlage, von der meine Auseinandersetzung mit Brandom ihren Ausgang nimmt, weiter zu verdeutlichen. Nachdem Gardner zunächst den Siegeszug des „harten“, reduktiven Naturalismus dargestellt hat, wendet er sich Theorien zu, die unter dem Titel eines „schwachen“ oder „weichen“ Naturalismus versuchen, re-
Hammer, Espen, Introduction, in: Ders., German Idealism, 1– 15, 3. Hammer, Introduction, 5. Hammer, Introduction, 3. Vgl. Pinkard, Terry, Hegel’s Naturalism. Mind, Nature, and the Final Ends of Life, Oxford, New York 2012. Vgl. Gardner, Sebastian, The Limits of Naturalism and the Metaphysics of German Idealism, in: Hammer, German Idealism, 19 – 49. https://doi.org/10.1515/9783110707526-004
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1 Metaphysik statt naturalistischer Entfremdung
duktionistische Folgerungen abzuwehren und unsere lebensweltlichen Intuitionen und Wertvorstellungen zu bewahren. Einerseits will ein solcher weicher Naturalismus die moderne Entzauberung der Natur akzeptieren und den Naturwissenschaften ihre alleinige Kompetenz in der Beschreibung der Natur nicht streitig machen. Andererseits beansprucht er, dass es andere Perspektiven auf das menschliche Leben und Zusammenleben geben kann, die nicht allein mit den Mitteln der Naturwissenschaften beschrieben werden können. Gardner bezweifelt allerdings, dass eine solche Lösung gelingen kann. Das Hauptproblem sieht er dabei im reaktiven Charakter des weichen Naturalismus. Der „harte“ Naturalismus ist aus einem Guss gefertigt: Er geht vom Erkenntnisvorsprung der modernen Naturwissenschaften aus und folgert daraus eine Theorie über alles, was ist. Auf diese Weise hat er das Erbe der alten Metaphysik angetreten und sie restlos abgelöst. Dabei muss er noch nicht einmal behaupten, dass irgendwann eine Super-Naturwissenschaft kreiert werden könne. Ihm genügt die regulative Idee, dass alle Naturwissenschaften zusammen zu einer kohärenten Beschreibung von allem, was ist, führen.⁶ Der „weiche“ Naturalismus sei hingegen ein hybrides Gebilde, so Gardner. Indem er darauf beharre, ein Naturalismus, wenn auch mit sympathischem Antlitz, zu bleiben, setze er die Grundüberzeugungen des harten Naturalismus voraus. Lediglich in einem zweiten Schritt sollten einige Punkte korrigiert und unseren Alltagsintuitionen angepasst werden. Der weiche Naturalismus teile also die generelle naturalistische Überzeugung, dass die Natur, so wie sie die Naturwissenschaft beschreibt, den Ausgangspunkt und das Kriterium darstelle, wenn man den Aufbau der Welt erklären wolle.⁷ Daraus entstehe freilich ein verkompliziertes Weltbild. Gardner sagt über den weichen Naturalismus: [I]t grants that the austere concept of nature comprises a totality complete in itself, and its departure from this picture consists in adding items not implied by the hard physical totality. This means that what it calls ‘nature’ cannot amount to a totality of the same, non-aggregative sort as that of the hard naturalist.⁸
Damit verzichte der weiche Naturalismus auf die systematische Einheit und Vollständigkeit der Erklärung, was wissenschaftstheoretisch ein bemerkenswertes Manko darstelle. Er müsse eine Extra-Erklärung erbringen, „for why the unitary natural order should be such as to exhibit a split, between the entities that natural
Vgl. Gardner, Limits of Naturalism, 30 f. Vgl. Gardner, Limits of Naturalism, 28. Gardner, Limits of Naturalism, 31.
1.1 Verheißung und Problematik deflationärer Idealismus-Lesarten
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science can get hold of and those that it cannot“⁹. Dies geschehe häufig schlicht mit dem Verweis auf unsere Alltagsüberzeugungen. Dem könne die harte Naturalistin entgegenhalten, dass sie unsere Alltagsüberzeugungen kritisch befrage. Sie biete naturwissenschaftlich fundierte Erklärungen an, warum uns etwas so und so erscheine. Notfalls müsse sie die Aufgabe zwar liebgewonnener, aber eben falscher Überzeugungen verlangen. Weil sich der weiche Naturalist in diesem Streit krampfhaft bemühen müsse, nicht als idealistischer Supranaturalist aufzutreten, müsse er letztlich klein beigeben. Nach Gardner reichen die Argumente des schwachen Naturalismus nicht aus, um gegen den harten Naturalismus zu gewinnen: So it seems that, although soft naturalism is axiologically motivated, it cannot represent itself as being motivated in its engagement with hard naturalism. Again, this goes back to its originally reactive character: the soft naturalist began with a conception of the natural order shaped by natural science, and then tried to expand it to include value; he did not work from a prior, rich conception of nature, to the reality of value.¹⁰
Jetzt schlägt die Stunde derer, die sich zum Idealismus bekennen. Denn diese müssen nichts nachträglich hinzufügen, sondern haben von Anfang an mit offenen Karten gespielt: Sie haben von Anfang an gesagt, dass sie die naturalistische Voraussetzung nicht akzeptieren, die Naturwissenschaften stellten die einzige Methode dar, um das Gesamt der Wirklichkeit zu beschreiben. Im Gegenzug bieten sie ihrerseits eine einheitliche Theorie des Ganzen an, womit der methodologische Vorteil des harten gegenüber dem weichen Naturalismus wettgemacht werde: [I]dealism is able to meet hard naturalism on its own terms in exactly the way soft naturalism cannot: idealism can meet the traditional demand to conceive complete totality, offer a theory of subjectivity and objectivity that explains why perspective bestows ‘real’ reality on its objects, translate axiological motives into philosophical reasons, and so on.¹¹
Nun stellt sich in Gardners Setting allerdings noch einmal die Frage, welchen Idealismus genau man hier zum Einsatz bringen solle: einen deflationären, nachmetaphysischen – oder einen, der zu seinem metaphysischen Gewicht steht. Sein Votum fällt eindeutig zugunsten des Letzteren aus, denn die deflationäre Variante droht, die Schwächen des schwachen Naturalismus zu wiederholen und so den
Gardner, Limits of Naturalism, 31. Gardner, Limits of Naturalism, 35. Gardner, Limits of Naturalism, 35.
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Sieg über den harten Naturalismus zu verspielen. Gardner geht in drei Schritten vor, um seine These darzulegen. Der erste Schritt besteht in der Beobachtung, dass sich eine gemeinsame Überzeugung durch die heutigen deflationären Lesarten zieht. Sie besteht darin, dass der entscheidende Beitrag der um 1800 lebenden Idealisten gewesen sei, den Begriff der Normativität (in theoretischer wie praktischer Hinsicht) in den Mittelpunkt gestellt zu haben. Diese Normativität sei nicht naturalistisch zu erklären bzw. zu reduzieren. Zugleich hätten sie diese Normativität in einer nicht-dualistischen Weise verstanden: Sie bilde keine eigene ontologische Ebene neben oder über der Natur. Man brauche also auch keine metaphysischen Emergenztheorien zum Einsatz zu bringen, um sie zu erklären. Ihr Ursprung seien vielmehr geschichtliche und soziale Prozesse, „a self-instituted liberation from nature“¹², so z. B. Pinkards Übertragung von dem, was Hegel „Geist“ nannte. Gardners Einwand gegen diesen Vorschlag der Interpretation stützt sich auf die harte Naturalistin: Sie wird nicht nachgeben in dem Anspruch, dass diese Prozesse vermeintlicher Selbsterzeugung am Ende doch mit den Mitteln der Naturwissenschaft – z. B. evolutionstheoretisch und soziobiologisch – beschrieben werden können. Unser normatives Gehabe gehe nur auf der illusorischen Erscheinungsebene vonstatten, in einer objektiven Beschreibung der Wirklichkeit habe es aber keinen Platz. Jemand wie Hegel, so Gardners zweiter Schritt, hätte darauf womöglich eine Antwort. Aus seiner Naturphilosophie gehe hervor, dass der „Geist“, von dem er redet, nicht erst nachträglich zur Natur hinzukomme, sondern in ihr immer schon präsent und wirksam gewesen sei. Die Natur müsse als Natur zerbrechen, um in sich den Geist zu entdecken. So erst erreiche sie ihre eigene Bestimmung.¹³ Das sei nun allerdings eine unumwunden metaphysische Erklärung, die die Deflationisten nicht ohne weiteres akzeptieren würden. Gardner ist jedoch der Ansicht, dass wir hier eine Erklärung hätten, die weniger Voraussetzungen mache und daher wissenschaftstheoretisch ansehnlicher sei als die deflationäre. Daher brauche sie sich auch nicht vor dem harten Naturalismus zu verstecken. Den logischen und genetischen Vorrang des Geistes vor der Natur zu behaupten sei weniger anspruchsvoll, als ein Sich-Selbst-Erzeugen des Geistes in einer zuvor gänzlich natürlichen Welt anzunehmen. So sei nämlich von Anfang an ein innerer Zusammenhang gegeben. Die Deflationisten hingegen hätten ohne Ende am Riss zwischen Natur und Normativität zu laborieren.¹⁴ Selbstverständlich, so ist sich
als
Gardner, Limits of Naturalism, 37. Vgl. Gardner, Limits of Naturalism, 38. Vgl. Gardner, Limits of Naturalism, 39 f., mit Verweis auf Halbig, Christoph, Das ‚Erkennen solches‘. Überlegungen zur Grundstruktur von Hegels Epistemologie, in: Ders., Quante,
1.1 Verheißung und Problematik deflationärer Idealismus-Lesarten
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Gardner bewusst, bedeutet eine solche Theorie eine Revolution und Umkehrung („inversion“¹⁵) des naturalistisch geprägten common sense. An dieser Stelle hält Gardner inne und fragt sich drittens, ob nicht doch eine Versöhnung zwischen den starken metaphysischen Behauptungen, die sich bei Hegel finden, und einer deflationären Lesart denkbar sei. Unter Verweis auf einen Text von Brandom hält Gardner fest: „A crucial idea found in deflationary interpretation […] is that the distinction between the normative and the natural/nonnormative should be regarded as itself a normative distinction“¹⁶. Dies sei eine möglicherweise bessere Formulierung der oben inkriminierten Behauptung, dass „Geist“ bzw. Normativität „self-instituting“ sei. Man könnte diese neue Formulierung als Versuch werten, die Lücke zu schließen, den Vorrang des Geistes vor der Natur geltend zu machen und somit die zwischenzeitlichen Anfragen an den Zuschnitt der Theorie auszuräumen. Gardner gesteht zu, dass die Deflationisten sich hier um eine „root explanation“¹⁷ bemühten, also erklären wollten, dass die Unterscheidung von Normativität und Natur wirklich existiert, nicht nur eine von uns gedachte oder eingebildete sei: „[T]he non-metaphysical account continues to maintain that the existence of Geist/normativity is real and its distinction from nature a distinction within reality, not merely a congenial representation of our situation, a tale that we tell ourselves“¹⁸. Dabei gehe es nicht darum, eine Welt übernatürlicher Entitäten zu etablieren, die Geltung der Naturgesetze außer Kraft zu setzen oder gegen die naturwissenschaftliche Beschreibung der Natur etwas einwenden zu wollen. Wohl aber werde dem harten Naturalismus vorgeworfen, sein Konto zu überziehen, nämlich mit naturwissenschaftlichen Mitteln etwas erklären zu wollen, was mit diesen Mitteln nicht erklärt werden könne. Gegen diese Strategie der Deflationisten wendet Gardner nun ein, dass in ihr das Problem wiederkehre, das er beim weichen Naturalismus ausgemacht habe. Es werde eine zweite Perspektive hinzugefügt, die normative werde neben die – an sich für ihren Bereich akzeptierte – naturalistische gesetzt. Zugleich müssen die Deflationisten auf der Eigenständigkeit und der logisch-begrifflichen Priorität ihres normativen Standpunkts beharren, denn sonst gelangen sie nie zu einer
Michael, Siep, Ludwig (Hg.), Hegels Erbe, Frankfurt am Main 2004, 138 – 163, 160, der dies speziell gegenüber Pinkard reklamiert. Gardner, Limits of Naturalism, 40. Gardner, Limits of Naturalism, 40, mit Verweis auf Brandom, Robert B., Freedom and Constraint by Norms, in: American Philosophical Quarterly 16 (1979), 187– 196, 193. Eine Variante ist oben aus Brandom, Expressive Vernunft, 866 zitiert worden. Gardner, Limits of Naturalism, 41. Gardner, Limits of Naturalism, 41.
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nicht-naturalistischen Erklärung. Das ist eine durchaus starke These, die impliziert, „that there is a sense in which, on the deflationary account, there is a normative explanation of nature, which is in a good sense its real explanation: nature is, in reality, that which stands under and answers to the normatively selfinstituted distinction of nature and norm“¹⁹. Allerdings werden nun die harte Naturalistin und die metaphysische Idealistin in ungewohnter Eintracht einwenden, dass dies doch nichts anderes als eine metaphysische – Gardner sagt auch: platonische – Position sei, die davon ausgehe, dass der Geist immer schon da war. Die deflationäre Betonung der geschichtlich-sozialen Entwicklung und Etablierung des Geistes beziehe sich nur auf die Erkenntnis- bzw. Aneignungsordnung, nicht auf die Seinsordnung, die ihrerseits hinterrücks als idealistische untergeschoben werde. Angesichts dieses Vorwurfs der Unterlauterkeit müssen die Deflationisten ihren letzten vermeintlichen Trumpf ausspielen. Es liege eine Verwechslung vor: Über die Seinsordnung hätten sie gar nichts sagen wollen. Wenn sie vom Primat des Normativen redeten, dann nur, um damit die Existenz des Normativen zu erklären – aber nicht etwa die Existenz der Natur. Der Vorrang des Geistes sei nicht in ontologischer Weise gemeint. Dies ist allerdings eine petitio principii. Die Behauptung besteht nun darin zu sagen: Wir wollen eine naturalistisch nicht reduzierbare Normativität verteidigen – und deshalb muss es eine naturalistisch nicht reduzierbare Normativität geben. Diese Wendung ins Tautologische ist offensichtlich Gardners Absicht gewesen. Er wollte zeigen, dass die Deflationisten für ihre Position, die sie als Mittelweg verkaufen, eigentlich kein Argument in der Hand haben – weder ein Argument gegen den harten Naturalismus noch ein Argument gegen den metaphysischen Idealismus. Damit lässt uns Gardner am Ende seines Beitrags jedoch ebenfalls in einer wenn nicht absurden, so doch vorerst aporetischen Situation zurück. Denn seine Antwort besteht darin, dass wir es mit einem Entweder/Oder von zwei „extremen“ Positionen aushalten müssen, mit dem harten Naturalismus auf der einen und dem metaphysischen Idealismus auf der anderen Seite des Grabens. Wenn wir „Geist“ bzw. Normativität verteidigen wollten, dann werde das nur durch den Letzteren geschehen, nicht aber durch seinen kleinen postmetaphysisch-deflationären Abkömmling. Ob wir das wollen oder wollen sollten, das scheint Gardner zu meinen.²⁰ Er argumentiert aber in dem besprochenen Aufsatz nicht in diese Richtung. Wenn es in den Kapiteln 2 und 3 um Brandoms anti-naturalistischen Einsatz von Kant und Hegel geht – und in Kapitel 5 um eine abermalige Hegel-Lektüre –,
Gardner, Limits of Naturalism, 42. Vgl. Gardner, Limits of Naturalism, 44 f.
1.1 Verheißung und Problematik deflationärer Idealismus-Lesarten
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möchte ich einen Weg anbieten, der aus der beschriebenen aporetischen Situation hinausführt. Dabei greife ich den Gedanken auf, dass in einer deflationären Lesart des Idealismus, so wie Gardner sie beschreibt, etwas fehlt. Allerdings lässt sich gegen ihn zweierlei einwenden: zum einen, dass er Autoren wie Pippin, Pinkard und Brandom allesamt unter einer Position subsumiert; zum anderen, dass sich auch bei „den Idealisten“ sehr verschiedene Konzepte von und Stellungnahmen zur Metaphysik finden. Es ist beispielsweise nicht so, dass Hegel die explizite Regieanweisung gegeben hätte, dass man ihn „metaphysisch“ lesen solle. Der Befund ist weitaus disparater und die Bewertungen – z. B. seiner teils theologisierenden Sprache – sind umstritten. Zumindest wird man sagen können, dass Hegel sich bewusst war, welche Zäsur durch Kants Kritik der klassischen Metaphysik vollzogen worden war.²¹ So unmittelbar und eindeutig, wie Gardner behauptet,²² legen uns die Texte der sogenannten „Deutschen Idealisten“ keineswegs auf eine (ganz bestimmte) metaphysische Lesart fest. Zudem bringt sich Gardner selbst in Not, wenn er eine idealistische Metaphysik kurzum als Platonismus apostrophiert – was ja bei McDowell die Chiffre für einen Supranaturalismus war –, oder wenn er in einer Weise von der Priorität des Geistes spricht, die dazu verleiten könnte, sie – wie von Pippin befürchtet – ontotheologisch zu verstehen, so als ob der Geist die Natur im wörtlichen Sinne erschaffen würde. Ich bin hingegen der Auffassung, dass es bei einer idealistischen Metaphysik im Fahrwasser Hegels um etwas ganz anderes geht: Es geht um die Frage der Struktur der Wirklichkeit und es geht – von Gardner am Ende wenigstens angedeutet²³ – um die Aufhebung des Dualismus von Begrifflichem und Seiendem. Wenn eine Position, die vorgibt, eine Lesart des Idealismus zu sein, diese Inversion nicht mitmacht, dann fehlt ihr in der Tat das Entscheidende.
Vgl. z. B. Hegels Bemerkung zu Beginn der Logik, Kant habe die Metaphysik „mit Stumpf und Styl“ (GW 11,5) ausgerissen, also sowohl radikal als auch stilvoll, wie Walter Jaeschke unterstreicht. Er insistiert daher darauf, dass Hegel bewusst auf den Titel „Metaphysik“ verzichte, weil davon nach Kant nur noch in der Vergangenheitsform die Rede sein könne: vgl. Jaeschke, Walter, Ein Plädoyer für einen historischen Metaphysik-Begriff, in: Gerhard, Myriam, Sell, Annette, De Vos, Lu (Hg.), Metaphysik und Metaphysikkritik in der Klassischen Deutschen Philosophie, Hamburg 2012, 11– 21; Jaeschke, Walter, Hegels Philosophie, Hamburg 2020, 99 – 152. Freilich bleibt die Frage, ob und, wenn ja, in welcher Weise, Hegels Logik als Erbin der vergangenen Metaphysik ihrerseits metaphysisch zu verstehen sei. Zur Problematik vgl. auch Emundts, Hegel as a Pragmatist; Gerhard, Myriam, Logik als Metaphysikkritik, in: Gerhard / Sell / De Vos, Metaphysik und Metaphysikkritik, 161– 170, Longuenesse, Hegel’s Critique of Metaphysics. Vgl. Gardner, Limits of Naturalism, 42 f. Vgl. Gardner, Limits of Naturalism, 43.
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1.2 Entfremdende und befreiende Genealogie Dem Gardner-Szenario zufolge kann der Deflationismus nicht einlösen, was er verspricht: Seine Verheißung besteht darin, einen Mittelweg zwischen reduktivem Naturalismus und Supranaturalismus zu bahnen, aber dieser Versuch bricht zusammen, so dass man entweder auf den Naturalismus zurückgeworfen wird oder in den Supranaturalismus springen muss. Leitgedanke der vorliegenden Arbeit ist, dass Brandom mit seiner Rezeption von Kant und Hegel ebenfalls einen entsprechenden Mittelweg verheißt, der aber nicht kollabiert. In einem ersten Schritt soll nun dargelegt werden, wie Brandom den Naturalismus charakterisiert und kritisiert. Brandom beschreibt den Naturalismus als eine starre Metaphysik, die ihr logisches Konto überzieht, sowie als performativen Selbstwiderspruch. Dem wird er seinen strategisch-performativen Umgang mit der Philosophiegeschichte zugunsten einer dynamischen Metaphysik entgegensetzen. In der Einleitung ist bereits bemerkt worden, dass Brandom als Mindestmaß einer Metaphysik veranschlagt, nicht von vornherein auf eine anti-metaphysische Grundhaltung festgelegt zu sein. Zugleich fordert er eine Transformation der Metaphysik. Sie besteht für ihn darin, auf herkömmliche ontologische Begrifflichkeiten zu verzichten und stattdessen einen epistemologisch-semantischen Zugang zu wählen, oder, wie er es auch nennt, eine materiale durch eine formale Vorgehensweise zu ersetzen.²⁴ Brandom wendet sich dagegen, ein bestimmtes feststehendes Vokabular als dasjenige anzusehen, in dem „alles“ zu beschreiben sei. Stattdessen sei ein Schritt zur Seite gefordert, um das metaphysische Projekt in einer neuen metalinguistischen Version vorzutragen. Das bedeutet freilich nicht, dass der metaphysische Anspruch völlig über den Haufen geworfen würde.²⁵ Diese metaphysikkritischen Ausführungen sind pikanterweise vielmehr gegen eine ganz bestimmte Form von Metaphysik gerichtet. In dem Kontext, in dem sie stehen, sollen sie nämlich verdeutlichen, wie es sein kann, dass Brandom sein Projekt nach wie vor der analytischen Philosophie zugeordnet wissen will, obwohl er weitverbreitete Grundannahmen dieser Tradition nicht teilt bzw. sogar bekämpft, nämlich ihren Empirismus und Naturalismus. Diesen Ausprägungen der analytischen Philosophie wirft er vor, sie seien metaphysisch in dem Sinne, dass sie ein einziges Vokabular privilegierten.²⁶ Beim Empirismus handle es sich um ein Vokabular, das vorgibt, anderen Erklärungsweisen in epistemologischer bzw. semantischer Hinsicht überlegen zu sein, beim Naturalismus um eines, für das
Vgl. Brandom, Between Saying and Doing, 230. Gegen Knappik, Reich der Freiheit, 285 – 287, 315, 503 f. Vgl. Brandom, Between Saying and Doing, 219.
1.2 Entfremdende und befreiende Genealogie
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dies in ontologischer Hinsicht gelte. Damit seien Empirismus und Naturalismus zwar universal in dem Sinne, dass sie behaupteten, „that everything that can be known, said, thought, every fact, must in principle be expressible in the base vocabulary in question“²⁷. Sie seien so aber auch totalitär, weil sie dekretierten, was alles „nicht sein“ dürfe: „What it [i. e. the privileged vocabulary; T.H.] cannot express is fatally defective: unknowable, unintelligible, or unreal“²⁸. Es ist diese Art von Metaphysik, von der Brandom sich abgrenzen möchte. Mit Nachdruck weist er darauf hin, dass es sich um die Metaphysik derer handele, die oftmals beteuerten, wie anti-metaphysisch sie seien. Brandom nennt das die „delicious irony“²⁹ in der Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.³⁰ Wenn Brandom also der formalen vor der materialen Metaphysik den Vorzug gibt bzw. die Transformation ontologischer Begrifflichkeiten mittels eines semantischen Schlüssels fordert, ist diese Vorgeschichte mitzuhören. Es handelt sich in erster Linie um einen Protest gegen Formen von Dogmatismus, die er sowohl in einer empiristischen Methode als auch in einer naturalistischen Ontologie entdeckt. Gegen sie richtet sich Brandoms pragmatistischer Vorschlag, kein feststehendes Vokabular von vornherein zu privilegieren. Damit tritt er für eine Offenheit des Verfahrens ein, nicht aber für dessen Beliebigkeit. Auch predigt er keine rabiate Enthaltsamkeit gegenüber metaphysischen Festlegungen, sondern lediglich eine neue Zugangsweise zu ihnen. Sein Pragmatismus soll beiden Seiten der Medaille – „objective-ontological and subjective-practical sides of the coin of discursiveness“³¹ – Rechnung tragen. In Between Saying and Doing, in dem diese Statements zu finden sind, geht es nicht um Kant- oder Hegel-Interpretation, sondern um eine Einmischung in aktuelle Debatten der analytischen Philosophie. Dennoch belegen sie in ungeschminkter Weise Brandoms Kantianismus in Sa-
Brandom, Between Saying and Doing, 219. Brandom, Between Saying and Doing, 219. Brandom, Between Saying and Doing, 221. Brandom inszeniert sich also als Gegner derer, die in der Frühphase der analytischen Philosophie die beherrschenden Rollen spielten: Russell und Moore, Carnap und andere Angehörige des Wiener Kreises sowie der Wittgenstein des Tractatus – ihre Erben eingeschlossen. Sich selbst reiht er in die Generation der Selbstkritik der analytischen Philosophie ein, die sich aus internen Gründen für pragmatistische und holistische Erklärungsstrategien öffnet, wie bei Quine, Sellars und dem späten Wittgenstein. Diese selbstkritische Öffnung bedeutet für ihn die Rettung der analytischen Philosophie. Vgl. dazu u. a. Brandom, Between Saying and Doing, 1– 8; Ders., Perspectives on Pragmatism, 1– 32, 56 – 82, 158 – 165. Offensichtlich liest Brandom seine analytisch-pragmatistischen Verbündeten wiederum selektiv: Weder Quines Engagement für den Naturalismus noch Wittgensteins Mantra vom Ausstieg aus dem akademisch-systematischen Philosophieren spielen für ihn eine Rolle. Brandom, Between Saying and Doing, 231.
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1 Metaphysik statt naturalistischer Entfremdung
chen Metaphysik. Er wolle nicht ausschließen, dass man über alles etwas sagen könne, sondern nur, dass man alles festschreiben könne. Noch kantianischer gesagt: „understanding the ‚everything‘ regulatively, rather than constitutively“³². Brandoms Fazit: „I think metaphysics in this sense is a perfectly reasonable undertaking“³³. Brandom lehnt also ausgerechnet den Naturalismus als eine Metaphysik ab. Dieser habe sein logisches Konto überzogen, weil er so tut, als hätten Begriffe unabhängig von ihrem Gebrauch eine starr feststehende Bedeutung. Die Metaphysik, die Brandom dem starren Naturalismus entgegensetzen möchte, ist eine Konsequenz seines normativen Pragmatismus, der das dynamische Aushandeln von Begriffen in den Mittelpunkt stellt. Diese logische Kritik an der falschen Metaphysik des Naturalismus wird in A Spirit of Trust um eine praktisch-existentielle Note ergänzt. Dort nennt Brandom den reduktiven Naturalismus das Non plus ultra der Entfremdung des Menschen.³⁴ Der Naturalist sei wie der „Kammerdiener“ in Hegels Phänomenologie. „Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener“, heißt es dort, weil der Kammerdiener seinen Herrn darauf reduziert, bloß ein „essender, trinkender, sich kleidender“ zu sein. Der Held wird also nicht als jemand gesehen, der sich mit dem, was er sagt und tut, für etwas Großes einsetzt, sondern lediglich als biologisches Bedürfniswesen. Dies aber, so Hegel über den Kammerdiener und Brandom über den Naturalisten, sei „n i e d e r t r ä c h t i g“³⁵. Zweifellos ist diese Wortwahl auch als Polemik gedacht. Allerdings verbirgt sich darin ein wichtiges Argument. Durch sein behauptendes Reden nimmt der Naturalismus selbst seine Einbettung in eine umfassende normativ geregelte Praxis der Begriffsverwendung in Anspruch. Natürliche Beschreibungen setzen die Fähigkeit voraus, propositional gegliederte Urteile zu fällen. Insofern, so Brandom, seien Naturalismus und normativer Pragmatismus keine gleichwertigen Alternativen, zwischen denen von einem Nullpunkt aus gewählt werden könne, sondern der Naturalismus müsse mit jeder seiner Aussagen die implizite Vorordnung des normativen Pragmatismus anerkennen.³⁶ Er verwickelt sich also in einen performativen Selbstwiderspruch. Dieses Argument ist letztlich das einzige, das Brandom gegen den Naturalismus ins Feld führt. Auf dem performativen Selbstwiderspruch des Naturalismus und dem impliziten Vorrang der normativ-begrifflichen Praxis ruht seine
Brandom, Between Saying and Doing, 228. Brandom, Between Saying and Doing, 228. Für diese Formulierung vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 590, 665. Alle Zitate aus GW 9,358 f. Vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 577.
1.2 Entfremdende und befreiende Genealogie
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ganze Konstruktion auf.³⁷ Was hier ansatzweise wissenschaftstheoretisch formuliert ist, die Forderung nach der Revision einer Blickrichtung, die man für ausgemacht hielt, wird in Sachen Metaphysik ausführlich in den historisch-rekonstruktiven Studien behandelt. Dieser metaphysischen Revision werde ich in den Kapiteln 2 und 3 nachgehen. Vorab lassen sich die bisherigen Überlegungen dieses Abschnitts nochmals mit der methodologischen These aus der Einleitung in Beziehung setzen, der zufolge die Auseinandersetzung mit Autoren aus der Philosophiegeschichte bereits selbst einen Zug gegen den Naturalismus darstellt. Diese These kann jetzt verstärkend unterstrichen werden: Während der Naturalismus, der keine Geschichte kennt, ein performativer Selbstwiderspruch ist, ist die Einbeziehung von Positionen aus der Philosophiegeschichte – aus der Geschichte lebendigen Gebens und Nehmens von Gründen – ein performativer Akt des Anti-Naturalismus. Brandom bezeichnet diesen Einbezug der Philosophiegeschichte auch als ein „genealogisches“ Vorgehen.³⁸ Dabei ist zu beachten, dass er sich zugleich von dem „Genre“ der Genealogie vehement abgrenzt: Marx, Nietzsche, Freud, Foucault und die anderen „Demaskierer“ des 20. Jahrhunderts täten nämlich das gleiche wie der Naturalismus. Sie würden nur „niederträchtige“ Erklärungen anbieten, weil sie versuchten, die begrifflichen Gründe, die ein Mensch für seine Überzeugungen und Behauptungen anführen kann, auf verborgene nicht-begriffliche Ursachen zurückzuführen.³⁹ Das Ziel ihrer Genealogie sei die Delegitimierung des heutigen Spiels des Gebens und Nehmens von Gründen und so letztlich die Entfremdung des Menschen von seinem eigenen begrifflichen Wesen. Brandoms Absicht bei seiner Art der Genealogie zielt hingegen auf die Legitimierung eben dieser Praxis und somit der Befreiung des Menschen zu sich selbst.⁴⁰ Die Verbindung von Genealogie und Legitimation wird in der Tat bei der Interpretation von Kant und Hegel eine wichtige Rolle spielen, wenn nämlich deren Verständnis von „Deduktion“ bzw. im Falle des Letzteren zusätzlich von der
Die Selbstwidersprüchlichkeiten des reduktiven Naturalismus sollten daher direkter und ausführlicher angegangen werden, als es bei Brandom geschieht. Dies ist wiederum ein Punkt, an dem man von ihm lernen kann und doch über ihn hinausgehen sollte. Für diese Stoßrichtung vgl. Tetens, Holm, Das Labor als Grenze der exakten Naturforschung, in: Philosophia naturalis 43 (2006), 31– 48; Müller, Tobias, Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis, in: Ders., Schmidt, Thomas M. (Hg.), Abschied von der Lebenswelt? Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze, Freiburg im Breisgau, München 2015, 31– 52. Vgl. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 14. Vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 560 – 565; Ders., Den Abgrund reflektieren. Vernunft, Genealogie und die Hermeneutik des Edelmuts, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 12 (2015), 3 – 26. Vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 656 f.
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1 Metaphysik statt naturalistischer Entfremdung
„Genesis des Begriffs“ in den Fokus rückt (vgl. dazu den Abschnitt 2.2.4 sowie die Kapitel 5 und 7). In dieser Arbeit geht es mir um die Würdigung von Brandoms performativem Anti-Naturalismus und mithin um die von ihm so charakterisierte befreiende, nicht entfremdende Genealogie. Entsprechend betrachte ich Brandoms Vorgehen in wohlwollender Weise. Es sei aber auch eine kritische Distanzierung von bestimmten Aspekten seiner Theorie benannt, die ich mit einer Reihe von Autorinnen und Autoren teile. Brandom verkauft seine Genealogie nämlich zu sehr als eine Erfolgsgeschichte. Er selbst spricht von einer „Whiggish“ Konzeption der Geschichte.⁴¹ Darunter versteht er den „Marsch der Vernunft durch die Geschichte“ in einer „heitere[n], optimistische[n] und fortschrittsgläubige[n] Perspektive“⁴², die gern auch „triumphal“⁴³ sein darf. Zudem betrachtet er niemand anderen als sich selbst als den Zielpunkt dieser Fortschrittsgeschichte.⁴⁴ Beides ist offensichtlich problematisch. Ich halte den von Dina Emundts und Andrea Kern erhobenen Einwand für berechtigt, dass sich Brandom durch seine teleologische Konzeption der Philosophiegeschichte und seine Selbststilisierung darin als zu wenig lernbereit angesichts der Fremdheit anderer Positionen zeigt.⁴⁵ Das schadet freilich seinem eigenen Projekt: Katia Saporiti hat darauf hingewiesen, dass es gerade die Fremdheit von Positionen aus der Philosophiegeschichte ist, die zur subversiven Kritik des aktuell herrschenden mainstream motiviert und befähigt.⁴⁶ Und es ist ja nichts anderes als der mainstream des Naturalismus, der alle Fremdheit gleichmacht, gegen den sich Brandom auflehnen möchte. Darüber hinaus paart sich Brandoms Fortschrittspathos auf eigentümliche Weise mit einer Tendenz zum Bewahrenden. Robert Pippin hat schon vor einigen
Vgl. Brandom, Reason in Philosophy, 91, 102. Die Verwendung dieser Bezeichnung mit einer geschichtsphilosophischen Bedeutung – allerdings in kritischer Absicht – geht zurück auf Butterfield, Herbert, The Whig Interpretation of History, London 1931. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 112 („fortschrittsgläubig“ ist hier die Übersetzung von „Whiggish“). Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 97. Oder kontrafaktisch und mit viel Vertrauen in die eigene Leistung gesagt: „It is fascinating to wonder what nineteenth-century philosophy (and indeed American pragmatism, and subsequent analytic philosophy – if there would have been such movements at all) would have looked like if Hegel’s readers then had understood both his theories and their explanatory targets, in anything like the terms in which they are presented here“ (Brandom, A Spirit of Trust, 765). Für diese Kritik vgl. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 886 – 888; Kern, Review of Tales of the Mighty Dead, 303. Vgl. Saporiti, Katia, Wozu überhaupt Geschichte der Philosophie? Die Kontingenz philosophischer Probleme und der Nutzen der Philosophiegeschichte für die Philosophie, in: Studia Philosophica – Schweizerische Zeitschrift für Philosophie 76 (2017), 115 – 136, 118 f.
1.2 Entfremdende und befreiende Genealogie
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Jahren darauf hingewiesen, dass Brandoms Modell durch die Betonung der austarierenden, kontrollierenden Sprachgemeinschaft und ihrer Tradition bei gleichzeitigem Fehlen einer Theorie gesellschaftlicher Institutionen und ihrer Macht zu wenig sozialkritisch, vielmehr strukturell konservativ sei.⁴⁷ Neuerdings bestätigt der dritte Teil von A Spirit of Trust diesen Vorwurf auf irritierende Weise, wenn Brandom beim Kommentieren des Geist-Kapitels von Hegels Phänomenologie immer wieder betont, dass es nach der Kritik der Aufklärung, die in den Individualismus treibe, darum gehen müsse, die soziale Bindekraft vormoderner Gesellschaften zu restituieren.⁴⁸ Bezeichnend ist auch seine eigentümliche Liste zeitgenössischer Entfremdungssituationen bzw. der Umstand, dass auf ihr manches fehlen dürfte.⁴⁹ Dass er den Naturalismus dazuzählt, steht durchaus in einer Linie mit der Kritischen Theorie. Dass er aber wenig Gespür für durch versagte Anerkennung hervorgerufene und verfestigte gesellschaftlichen Pathologien zu haben scheint, stimmt nachdenklich. Hier wünschte man sich mehr von dem zeitdiagnostischen und eben auch befreienden Blick der verworfenen „Demaskierer“. Diese Problematik wird weiter unten durch einen Vergleich von Brandoms und Honneths Interpretation des hegelschen Anerkennungstheorems behandelt werden (vgl. 3.1.2).
Vgl. die eindringlichen Einwände bei Pippin, Robert B., Brandom’s Hegel, in: European Journal of Philosophy 13 (2005), 381– 408, 390 – 398. Eingeführt wird dieser Gedanke bei Brandom, A Spirit of Trust, 534. Vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 648 – 666.
2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“ Brandoms Rückgriff auf Kant wird nun im Detail untersucht und eingeordnet werden. Das Unterkapitel 2.1 behandelt Kants Stellung innerhalb der neuzeitlichen Philosophie. Das Unterkapitel 2.2 ist Brandoms Umgang mit zentralen Lehren der Kritik der reinen Vernunft gewidmet. Darin haben die Abschnitte 2.2.1 und 2.2.2 vorbereitenden Charakter für den in den Abschnitten 2.2.3 und 2.2.4 erfolgenden angekündigten Ausbau von Brandoms Kant-Interpretation zu einer zusammenhängenden rationalen Rekonstruktion. In 2.3 gerät mit dem Stichwort der Autonomie schließlich ein Zentralbegriff der praktischen Philosophie Kants in den Fokus, den Brandom freilich für sein theoretisches Projekt in Anspruch nimmt. Es wird sich zeigen, dass in den ersten Etappen noch viele Überschneidungen zwischen Making It Explicit und den späteren historisch-rekonstruktiven Studien bestehen. Teilweise hat Brandom Passagen übernommen und ausgebaut. Aber je weiter es vorangeht, desto deutlicher wird hervortreten, dass die historisch-rekonstruktiven Studien nicht bloß eine Dopplung zu Making It Explicit darstellen. Sie fungieren vielmehr als eine veritable Absicherung, Ergänzung und Fortführung.
2.1 Kant, der Rationalist 2.1.1 Eine andere Theorie der Moderne (1) In vielen Darstellungen beginnt die moderne Philosophie mit Descartes. Auch in Brandoms Erzählung nimmt Descartes diese Rolle ein. Antike und Mittelalter seien an einer Ontologie der Einzeldinge und ihrer Eigenschaften orientiert gewesen. Die Epistemologie hätten die damaligen Denker von diesem Vorverständnis der Struktur der Wirklichkeit abhängig gemacht. Von geglückter Erkenntnis sei gesprochen worden, wenn man glaubte, dass das Erkenntnisbild im Geist eines Menschen einem Ding in der Außenwelt möglichst ähnlich sei. Diese Theorie der Ähnlichkeit sei davon ausgegangen, dass die Erkenntnisbilder mit den Dingen zumindest einige Eigenschaften gemein hätten: dass z. B. mein Bild
https://doi.org/10.1515/9783110707526-005
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von der Rose ebenso rot ist wie die Rose selbst.¹ Mit der Revolution des Weltbildes durch Kopernikus und Galilei und der Etablierung von Physik und Mathematik als Leitwissenschaften sei diese naive Vorstellung zerbrochen. Descartes habe daraus die erkenntnistheoretischen Konsequenzen gezogen. Ein physikalisches Gesetz oder eine mathematische Formel haben keine Ähnlichkeit mit den Dingen und Ereignissen, die durch sie beschrieben werden. Die Kategorie der Ähnlichkeit führe also eher in die Irre, wenn wir verstehen wollen, wie Erkenntnis funktioniert. Das Problem müsse grundsätzlicher angegangen werden: „Descartes erkennt […], dass ein abstrakterer Begriff von Repräsentation benötigt wird – und diese Idee lässt uns seither nicht mehr los“². Der Schritt, den Descartes geht, besteht darin, nicht nur nach dem einzelnen Erkenntnisakt zu fragen, sondern nach dem Wesen des Rationalen überhaupt. Was sind Vorstellungen von Gegenständen, wenn sie nicht Abbilder sind? Und was folgt daraus für die Natur der Gegenstände? Descartes bietet uns eine Lösung an, die in einer „epochemachenden Abgrenzungsgeschichte“³ besteht. Für ihn gibt es Subjekte als „Repräsentierende – Erzeuger und Verwender von Repräsentationen – gegenüber einer Welt bloß repräsentierter und repräsentierbarer Dinge“⁴. Diese Dualität von Repräsentierenden und Repräsentiertem – von res cogitans und res extensa – wird zum Strukturmerkmal der cartesischen Philosophie. Obwohl Descartes die richtige Frage gestellt habe, bleibt seine Antwort in Brandoms Augen unzulänglich. Descartes „scheiterte ganz offensichtlich“⁵ an der von ihm etablierten Aufspaltung in zwei Reiche. Einzusehen, dass zwischen den Dingen und den Vorstellungen nicht einfach eine Ähnlichkeit besteht, ist das eine. Etwas anderes ist es, die Relation positiv beschreiben zu können. Dies habe Descartes nicht getan. Er habe einfach vorausgesetzt, dass es beide Reiche gebe. Trotzdem habe Descartes einen Schritt in die richtige Richtung getan, so erkennt Brandom an. Das Unternehmen, dem Empirismus und seinen naturalistischen Implikationen zu entkommen, die Konzentration auf das, was Denken, was Rationalität ausmacht, müsse nur weiter vorangetrieben werden. Im alten Modell, in dem Ähnlichkeiten überprüft wurden, ging es atomistisch zu. Man fragte nach einzelnen isolierten Gegenständen und ihren Eigenschaften, die in einem ebenso isolierten Erkenntnisakt zugänglich gemacht werden sollten. Mit der Frage da-
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 17 f. – Brandom sagt tatsächlich nicht mehr über die mittelalterliche Philosophie. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 18. Brandom, Expressive Vernunft, 39. Brandom, Expressive Vernunft, 39. Brandom, Expressive Vernunft, 40.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
nach, was überhaupt Repräsentationen ausmache, hatte Descartes den einzelnen Erkenntnisakt in einen größeren Kontext gestellt. Es ging nicht mehr nur um die jeweilige Relation zwischen Vorstellung und Gegenstand, sondern um den Zusammenhang des Reiches der Vorstellungen insgesamt. Mit Descartes sei eine entscheidende Einsicht in die Welt gekommen, die in Brandoms Worten lautet: „The vertical relations between thoughts and things depend crucially on the horizontal relations between thoughts and thoughts“⁶. Descartes’ Versuch, den Begriff der Repräsentation zu klären, habe somit von Anfang an eine holistische Perspektive beinhaltet und die Anleihe an einem weiteren Begriff gemacht, nämlich dem der Inferenz. Auch dies könne aus der Verwandtschaft mit Galileis Einsichten heraus erklärt werden, anhand des „globale[n] Isomorphismus“⁷ zwischen dem System der Formeln und der Welt der geometrischen Gegenstände: Wer mag, kann von der Formel und der von ihr repräsentierten Figur weiterhin denken, dass sie etwas gemeinsam haben bzw. einander gewissermaßen ähnlich sind. Was sie aber gemeinsam haben, muss von der Rolle her verstanden werden, die jede von ihnen in dem System spielt, dessen Teil sie ist, also von der Weise her, in welcher die Beziehungen einer Formel zu anderen Formeln auf die Beziehungen einer Figur zu anderen Figuren so abgebildet werden können, dass die Struktur erhalten bleibt.⁸
Diese Rolle ist schlechthin entscheidend. Wenn wir sie nicht verstehen, verstehen wir nichts: „Anders als die horizontalen Beziehungen des Repräsentierenden untereinander sind die vertikalen semantischen Beziehungen zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem unerkennbar und unverständlich“⁹. Der Repräsentationalist Descartes ist in Brandoms Augen mithin derjenige, der zugleich den Weg bahnt, der zum Inferentialismus führen wird. Brandoms systematische These, dass der Begriff der Repräsentation den der Inferenz voraussetzt und nicht etwa umgekehrt Inferenz erst nachträglich aus der Zusammensetzung einzelner Repräsentationen erklärt werden kann, sei bei Descartes in statu nascendi zu beobachten. In der auf ihn folgenden Phase, bei Spinoza und Leibniz, sei sie weiter ausgebildet worden: „[T]hey were much more concerned than Descartes to offer explicit, detailed metaphysical accounts of what it is for one thing to represent another“¹⁰. Dabei seien sie zu Lösungen gekommen, die bei aller Verschiedenheit den Inferentialismus gemeinsam hätten:
Brandom, Tales of the Mighty Dead, 26. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 18. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 18 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 19. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 28.
2.1 Kant, der Rationalist
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Ihre Idee bestand darin, daß die Art und Weise, wie Repräsentationen über sich selbst hinaus auf etwas weisen, was repräsentiert wird, anhand inferentieller Relationen zwischen Repräsentationen zu verstehen sei. Zustände und Handlungen erlangen dadurch Gehalt, daß sie – als Prämissen und Konklusionen – in Folgerungen, in Inferenzen eingebunden sind.¹¹
Descartes, Spinoza, Leibniz: Das ist eine Reihe, die in den Lehrbüchern der Philosophiegeschichte unter der Überschrift Rationalismus steht. Für Brandoms Deutung – sowie für seine eigene systematische Position – ist wichtig, dass er ihren Rationalismus mit Vorstufen des Inferentialismus identifiziert. Der Inferentialismus ist das, was ihren Rationalismus eigentlich ausmacht. Den Widerpart in dieser Geschichte spielt der atomistische Repräsentationalismus der britischen Empiristen. Diese sind laut Brandom „der immer noch dominierenden Tradition zuzurechnen, die die inferentiellen Richtigkeiten aus den repräsentationalistischen Richtigkeiten herausliest, welche als vorgängig verstehbar aufgefaßt werden“¹². Brandom erblickt in diesen beiden erkenntnistheoretischen Erklärungsrichtungen die „tiefe Kluft“¹³, welche die Philosophie der frühen Neuzeit durchzieht: „Ich denke tatsächlich, daß die Einteilung vorkantischer Philosophen in Repräsentationalisten und Inferentialisten aufgrund tieferer Prinzipien ihres Denkens greift, als es ihre nahezu koextensionalen [sic] Einteilung in Empiristen und Rationalisten tut“¹⁴. (2) Was hat Brandom hier getan? Er lässt Descartes auftreten und mit seinem Vorgriff auf den Inferentialismus die Moderne eröffnen, und er lässt Spinoza und Leibniz den eingeschlagenen Weg fortsetzen. Die britischen Empiristen hingegen haben in diesem Zuschnitt sozusagen nichts dazugelernt. Sie mögen sich selbst ebenfalls als Erben der kopernikanisch-galileischen Revolution betrachtet haben, als deren rechtmäßige und treue Erben zumal.¹⁵ Aber in Brandoms Erzählung sind sie im Mittelalter stehengeblieben. Die via moderna besteht hier gerade nicht darin, aus dem Fortschritt der Naturwissenschaften nahtlos einen Empirismus abzuleiten, der ähnlich atomistisch operiert, wie es die Jahrhunderte zuvor getan haben. Vielmehr zeichnet sie sich dadurch aus, angesichts des Fortschritts der Naturwissenschaften eine neue und umfassende Theorie des Rationalen zu erarbeiten.
Brandom, Begründen und Begreifen, 68. Brandom, Begründen und Begreifen, 69. Brandom, Begründen und Begreifen, 69. Brandom, Begründen und Begreifen, 69. Vgl. dazu Redding, Analytic Philosophy and the Return of Hegelian Thought, 18.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
Brandom bürstet hier ein verbreitetes Narrativ der Moderne gegen den Strich. Damit greift er zugleich in die Philosophie der Gegenwart ein. Denn zu der erwähnten „immer noch dominierenden Tradition“ werden sich nicht wenige zeitgenössische Vertreter der analytischen Philosophie zählen. Auch von ihnen würde also gelten, dass sie im Mittelalter stehengeblieben sind. Hier ist deutlich zu sehen, wie Brandom Strömungen und Positionen aus der Philosophiegeschichte für einen Stellvertreterkrieg nutzt. Dabei bedient er sich einer eigenen Theorie der Moderne. An ihr ist klassisch, dass sie auf einer Kombination aus geistesgeschichtlichen Ereignissen und systematischen Entdeckungen beruht, die zusammengenommen als irreversibel erscheinen. Wer eines ihrer Elemente infrage stellt, tut dies auch mit den anderen, bei Strafe der Selbst-Desavouierung.Wer den Schritt zum Inferentialismus nicht mitgehen möchte, so Brandoms originelle wie ungnädige Pointe, entlarvt sich selbst als ewiggestrig. Bemerkenswert ist, dass sich Brandom mit diesem Vorgehen implizit ins Verhältnis zum klassischen amerikanischen Pragmatismus setzt. Denn seine Herkunftsgeschichte modernen Denkens ist derjenigen diametral entgegengesetzt, die William James in seinen Pragmatismus-Vorlesungen von 1906/07 gibt. James beginnt dort mit der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher philosophischer Mentalitäten, die sich in den Strömungen des Empirismus und des Rationalismus Ausdruck verschafft hätten. Empiristische Philosophen verfügten über eine robuste Mentalität, sie seien als „tough-minded“¹⁶ zu charakterisieren. Rationalistische Philosophen seien hingegen empfindsam, „tender-minded“¹⁷, was nicht als Lob gemeint ist. Als schlimmes Beispiel eines empfindsamen Rationalisten, der über die Welt, wie sie wirklich ist, nichts auszusagen wisse und deshalb in artifizielle Gedankenreiche entschwinde, wird Leibniz angeführt.¹⁸ James möchte seinen Pragmatismus zwar als eine Alternative sowohl zum Empirismus wie zum Rationalismus präsentieren, nämlich als eine Methode der Problemlösung, die eine neue Dimension im sonst fruchtlosen Streit zwischen philosophischen Schulen erschließen soll. Allerdings wird immer wieder deutlich, dass die pragmatische Methode im Zweifelsfall eher empiristische als rationalistische Grundüberzeugungen begünstigt. Entsprechend erzählt James eine andere Herkunftsgeschichte, als Brandom es tut: Antike Vorläufer des Pragmatismus seien Sokrates und Aristoteles, und aus der Philosophie der Neuzeit seien Locke, Berkeley und Hume zu nennen.¹⁹ Das ist eine empiristische Geschichte. James,William, Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen. Übersetzt und mit einer Einleitung hg. von Klaus Schubert und Axel Spree, Darmstadt 2001, 45. James, Pragmatismus, 45. Vgl. James, Pragmatismus, 50 – 53. Vgl. James, Pragmatismus, 63.
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James sieht in dem Pragmatismus, den er selbst verfolgen möchte, eine Radikalisierung des bisherigen Empirismus und so zugleich den endgültigen Sieg über den Rationalismus. Ein Pragmatist in seinem Sinne „wendet sich von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten ab, von bloß verbalen Lösungen und falschen apriorischen Begründungen, von starren Prinzipien, geschlossenen Systemen und dem vermeintlich Absoluten und Ursprünglichen. Er wendet sich dem Konkreten und Angemessenen zu, den Tatsachen, den Handlungen und der Macht. Der Pragmatismus fordert also, den empiristischen Charakter herrschen zu lassen und den rationalistischen Charakter vollständig aufzugeben“²⁰. James’ Abrechnung mit dem Rationalismus im gesamten Verlauf der Vorlesungen ist äußerst plakativ. Er räumt selbst ein, dass seine Unterscheidung von robusten und empfindsamen Mentalitäten „ungeheuer simpel und unverschämt“²¹ sei. Ebenso möchte er seinen Pragmatismus von „der Überbewertung des Materialismus, an der der gewöhnliche Empirismus krankt“²², fernhalten. Dennoch ist James von der Richtigkeit seiner polemischen Abgrenzung von den Rationalisten durchweg überzeugt. Auch James geht in seinen PragmatismusVorlesungen strategisch vor. Das soll ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Es hilft nämlich zu verdeutlichen, was Brandom seinerseits tut, der vom Gestus her einiges von James übernommen hat (wenn auch nicht den zugänglichen sprachlichen Stil). Brandom dreht den Spieß von „tough-minded“ und „tenderminded“ einfach um. Bei ihm sind auf einmal die Empiristen die in der Vergangenheit lebenden Träumer, nicht mehr die Rationalisten. Wenn er die letztgenannte Tradition in der oben markierten Weise starkmacht – und auch, wie wir gleich sehen werden, Kant mit ihr in Verbindung bringt –, dann kappt er damit nolens volens die direkte Verbindung zu James. Es ist ein Schachzug um deutlich zu machen: Mein dezidiert rationalistischer Pragmatismus ist etwas anderes, hat einen anderen Anspruch und ein anderes Design, als der klassische amerikanische Pragmatismus, wie William James ihn vorstellte. Der Hauptkritikpunkt, den Brandom gegen James, aber auch gegen Dewey erhebt, besteht darin, dass sie keine hinreichende Reflexion auf das Wesen der Sprache geleistet hätten und stattdessen zu sehr auf die Kategorie der Erfahrung bzw. des Erlebnisses fixiert gewesen wären.²³
Vgl. James, Pragmatismus, 64. James, Pragmatismus, 56. James, Pragmatismus, 74. Zur Abgrenzung vom klassischen Pragmatismus vgl. Brandom, Robert B., Pragmatik und Pragmatismus, in: Sandbothe, Mike (Hg.), Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, Weilerswist 2000, 29 – 58; Brandom, Robert B., Wenn die Philosophie ihr Blau in Grau malt. Ironie und die pragmatische
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In ähnlicher Weise grenzt sich Brandom durch die Genealogie seines eigenen rationalistischen bzw. inferentialistischen Pragmatismus und der mit ihr verbundenen andersgelagerten Theorie der Moderne von der frühen analytischen Philosophie ab. Bertrand Russell hatte sich seinerzeit zwar entschieden gegen den aufkommenden Pragmatismus gewandt.²⁴ Jedoch fand er sich in einer geheimen Komplizenschaft mit James wieder, was die Ablehnung des Rationalismus betraf. Die Tradition von Leibniz über Spinoza und Hegel bis zu Francis Herbert Bradley – dem Lieblingsgegner sowohl von Russell als auch von James – bedeutete für Russell einen Kerker, aus dem er sich schließlich nur durch seine Wende zum naiven Realismus zu befreien wusste.²⁵ Brandom hingegen sieht in dieser Wende Russells keine Befreiung, sondern Regression. Mit Blick auf diese Ursprünge der analytischen Philosophie spricht er sogar von der „founding ideology of Bertrand Russell and G. E. Moore“²⁶, die in ihrer so gefeierten „Rebellion gegen Kant und Hegel“²⁷ bestanden habe, oder auch von dem „origin myth that Bertrand Russell concocted“²⁸. Abermals ist hier Brandoms Strategie ersichtlich, durch seine neue Erzählung über die Philosophiegeschichte der Moderne in die Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart einzugreifen und die Weichen neu zu stellen.
2.1.2 Kants Verhältnis zu Descartes: die Fähigkeit des Rationalismus zur Selbstkritik (1) In der Geschichte, die Brandom erzählt, ist es Kant, der nach der „neue[n] philosophische[n] Epoche“, die Descartes einleitete, diese wiederum in die nächste „neue philosophische Epoche“²⁹ überführte. Die Wende zur Epistemologie habe Kant weiter vorangetrieben, so dass sie zu einer Wende zur Semantik und zu einem normativen Verständnis von Erkennen und Sprechen geworden sei. Kant und Descartes gehören dieser Geschichte zufolge in dieselbe rationalistische, d. h. inferentialistische Tradition. Um den Fortschritt innerhalb dieser Tra-
Aufklärung, in: Fuhrmann, André, Olsson, Erik J. (Hg.), Pragmatisch denken, Frankfurt am Main u. a. 2004, 1– 31. Vgl. Russell, Bertrand, Der Pragmatismus, in: Ders., Philosophische und politische Aufsätze, Stuttgart 1971, 61– 98. Vgl. Russell, Bertrand, Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens, München 1973, 63. Brandom, Perspectives on Pragmatism, 1. Russell, Entwicklung meines Denkens, 55. Brandom, Some Hegelian Ideas, 1. Brandom, Expressive Vernunft, 44.
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dition zu verdeutlichen, bemüht sich Brandom zugleich um eine Abgrenzung zwischen Kant und Descartes. Fünf Punkte können dabei unterschieden werden. Erstens: Descartes habe, wie oben dargestellt, mit der Umstellung auf den Begriff der Repräsentation anstelle desjenigen der Ähnlichkeit die Problematisierung des Erkenntnisaktes in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt. Kant sei einen Schritt weiter gegangen und habe betont, dass dieses Projekt ohne die Aufklärung der eigentümlichen Diskursivität des Verstandes nicht an sein Ziel gelangen könne. Mit Kant rücke die Frage nach der Art und Weise in den Mittelpunkt, wie wir Begriffe verwenden und welche Bedeutung diese Begriffe aufgrund ihrer Verwendung annehmen. Die epistemologische Untersuchung müsse also zu einer semantisch-pragmatischen erweitert werden.³⁰ Zweitens könne man die Differenz zwischen Descartes und Kant daran erkennen, dass jener noch zu sehr an der Vorstellung von einem von außen vorgegebenen Inhalt des Wissens gehangen habe. Entscheidend für Descartes sei der „repräsentationale[ ] Erfolg[ ]“³¹ gewesen, der dann eintritt, wenn es sich mit einem Ding in Wirklichkeit so verhält, wie es uns erscheint. Dies sei freilich „einer der unglücklichsten Schwerpunkte, mit denen Descartes die repräsentationale Tradition belastet“³² habe, nämlich „die Privilegierung des Wissens und damit der erfolgreichen Repräsentation gegenüber dem Verstehen und damit der beabsichtigten Repräsentation“³³. Kant hingegen habe „die fundamentalere Frage nach dem Wesen repräsentationalen Anspruchs“³⁴ gestellt und bearbeitet: Wie funktioniert überhaupt unsere Bezugnahme auf Gegenstände, was muss sich auf der Ebene des Verstandes tun, damit am Ende so etwas wie Wissen herauskommen kann. Brandom beschreibt diese Differenz auch anhand des Intentionalitätsbegriffs: „Descartes faßt Intentionalität deskriptiv auf, Kant dagegen normativ oder präskriptiv – es geht nicht um bestimmte Eigenschaften, sondern um bestimmte praktische Richtigkeiten“³⁵. Descartes und Kant können drittens voneinander abgegrenzt werden, indem zwei Varianten von Skeptizismus unterschieden werden: „Descartes sorgt sich um eine Antwort auf die Bedrohung durch den epistemologischen Skeptizismus: Es könnte sein, dass die Dinge tatsächlich überhaupt nicht so sind, wie wir sie uns vorstellen“³⁶. Aus der Angst davor erkläre sich sein Streben nach einer letzten,
Vgl. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 22 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 19. Brandom, Expressive Vernunft, 130. Brandom, Expressive Vernunft, 130. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 19. Brandom, Expressive Vernunft, 43. Brandom, Kantische Lehren, 29.
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unumstößlichen Gewissheit, die unser Wissen fundieren kann.³⁷ Bei Kant sei dies anders. Er „sucht nach einer Antwort auf die Bedrohung durch einen tieferen und radikaleren semantischen Skeptizismus. Sie besteht in der Behauptung, dass die bloße Idee, unsere geistigen Zustände seien mit dem Anspruch versehen wiederzugeben, wie die Dinge tatsächlich sind, unverständlich ist“³⁸. Sein Ziel bestehe mithin nicht in der Erlangung einer dem Wissen letztlich externen Gewissheit, sondern darin, diesen internen Anspruch als gerechtfertigt auszuweisen. Deshalb frage Kant nach den notwendigen Regeln bzw. Gesetzen, die unsere Erkenntnispraxis und unser Handeln leiten.³⁹ Wenn aber auf diese Weise der repräsentationale Anspruch verteidigt werden könne, werde sich zeigen, dass auch der repräsentationale Erfolg nicht ausbleibe. Kant „ist der Ansicht, dass jede angemessene Antwort auf den semantischen Skeptiker auch eine angemessene Antwort auf den epistemologischen Skeptiker darstellt. Eine Beschreibung der Bedingungen, unter denen es überhaupt Repräsentierendes geben kann, wird zugleich darlegen, dass einige, tatsächlich sogar viele, von ihnen wahr sein müssen“⁴⁰. Kant steht Descartes also nicht einfach als Antipode gegenüber, sondern überbietet ihn in seinem eigenen Anliegen. Viertens beschreibt Brandom den Unterschied in der Auffassung von Erkenntnis auch mit Hilfe eines treffenden Wortspiels: „Die Cartesische deskriptive Vorstellung von Intentionalität, die auf Gewißheit ausgerichtet ist, faßt unseren Zugriff auf die beim Erkennen und Handeln verwendeten Begriffe als das Wesentliche auf; für Kants normative Vorstellung von Intentionalität, die auf Notwendigkeit ausgerichtet ist, ist deren Zugriff auf uns des Pudels Kern“⁴¹. Descartes frage, ob die Begriffe, auf die wir zugreifen, klar und distinkt seien. Kant frage stattdessen: „Ist diese Regel für uns bindend? Ist sie auf diesen Fall anwendbar?“⁴². Descartes meine, „dass man den Geist in autonomer Weise verständlich machen kann als einen solchen, der bloß verschiedene vollständig gehaltvolle Ideen oder Repräsentationen erwägt und erst dann den ‚Akt des Willens‘ betrachtet, der darin besteht, sich für einige von ihnen zu entscheiden oder sie zu billigen“⁴³. Für Kant hingegen ist der Verstand nichts anderes als das „Ve r m ö g e n z u u r t h e i l e n“⁴⁴. Es mache keinen Sinn, Begriffe unabhängig von Urteilen
Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 44. Brandom, Kantische Lehren, 29 f. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 44 f. Brandom, Kantische Lehren, 31. Brandom, Expressive Vernunft, 44. Brandom, Begründen und Begreifen, 106. Brandom, Kantische Lehren, 32 f. KrV B 94 / A 69.
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bestimmen zu wollen. Damit präsentiere Kant gegenüber Descartes „einen radikal verschiedenen Ansatz“⁴⁵. Die bisherigen Differenzen in erkenntnistheoretischer Hinsicht bilden sich fünftens auf metaphysischer Ebene ab. Descartes habe aus seiner epistemologischen Entdeckung fälschlicherweise eine dualistische Ontologie gefolgert: Für ihn gibt es einerseits Dinge, zu deren Natur es gehört, repräsentiert zu werden, andererseits ein Ding namens Geist, dessen Natur es ist zu repräsentieren.⁴⁶ Solche Konsequenzen habe Kant nicht ziehen müssen. Bei ihm verlaufe „die wichtige Grenzlinie nicht zwischen dem Mentalen und dem Körperlichen als zwei grundsätzlich verschiedenen Substanzen, sondern zwischen dem, was einer normativen Beurteilung zugänglich ist und was nicht“⁴⁷. Für diese Grenzziehung sei kein ontologischer Sprung vonnöten. (2) Eine solche schematische Entgegensetzung der beiden Philosophen bei gleichzeitiger Betonung ihrer gemeinsamen rationalistischen Grundüberzeugung muss mit kritischen Nachfragen rechnen.⁴⁸ Für die Zwecke dieser Arbeit erlaubt sie jedoch eine erste Markierung, wie Brandom Kant sieht und präsentieren möchte. Was Kant Descartes vorauszuhaben scheint, ist die Transformation der theoretischen Philosophie in eine Analyse der Erkenntnispraxis. Dennoch ist und bleibt es die theoretische Philosophie, die für Brandom im Mittelpunkt steht. Insbesondere sind es einige der Aspekte, die Kant in der „Analytik der Begriffe“ behandelt, die Brandom interessieren, nämlich Kants Aussagen über die Diskursivität und Normativität des Verstandes. Hingegen lässt Brandom erklärtermaßen viele der Punkte außen vor, die normalerweise nicht weniger mit Kants Philosophie verbunden werden. Die Liste dessen, was ihn nicht interessiert, ist lang: Anschauung; Sinnlichkeit; Rezeptivität; die Behauptung, Begriffe ohne Anschauungen seien leer; Raum und Zeit; die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung; synthetische Erkenntnisse a priori; die Unterscheidung zwischen Phaenomena und Noumena; der transzendentale Idealismus; die kopernikanische Wende – und vieles mehr.⁴⁹
Brandom, Kantische Lehren, 33. Vgl. beispielsweise Brandom, Expressive Vernunft, 39, oder Ders., Kantische Lehren, 29. Brandom, Expressive Vernunft, 43 (Hervorhebung T.H.). Dies ist ein entscheidender Punkt, den Brandom in immer neuen Varianten formuliert und der in dieser Arbeit wiederholt vorkommt. Daniel Dohrn z. B. argumentiert gegen die von Brandom aufgemachte Differenz, indem er Descartes selbst einer normativen und semantischen Deutung unterzieht: vgl. Dohrn, Daniel, Brandoms kantische Lehren, in: Barth / Sturm, Brandoms expressive Vernunft, 61– 90, 61– 68. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 46.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
Die ganze transzendentale Ästhetik und der durch sie etablierte transzendentale Idealismus bleiben also unberücksichtigt. Alles, was nach einem empiristischen Einfluss aussehen könnte, verweist Brandom des Feldes. „Erfahrung“ sei keines seiner Wörter, hat Brandom nonchalant in einer Fußnote zu Articulating Reasons gesagt.⁵⁰ Im Rahmen seiner Kant-Deutung hält er sich an dieses Statement.⁵¹ Brandom ist sich bewusst, dass sein Vorgehen, das sich tatsächlich wenig mit dem kantischen Buchstaben aufhält, als „kontrovers“ und „tendenziös“⁵² wahrgenommen werden mag. Aber er beansprucht dabei, dass dies der beste Weg sei, um der Gefahr zu entgehen, „den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, wenn man über Kants größte Beiträge zur Philosophie nachdenkt“⁵³. Dass Brandom mit seiner Kant-Deutung etwas anstrebt, das Strawsons rationaler Rekonstruktion der Lehren der Kritik der reinen Vernunft zumindest der Absicht nach nahekommt, belegt auch das folgende Zitat: Meine Überlegungen zu Begriffen, Urteilsakten, Apperzeption und Verstand, die ich hier entfaltet habe, sind intern kohärent, und wir können sie in Abstraktion von den anderen Elementen betrachten, mit denen Kant sie zusammenbringt. Ja, wir müssen sie sogar von diesen unterscheiden.⁵⁴
Brandoms Geschichte über Kant ist eine Geschichte über einen Teil von Kants transzendentaler Analytik aus der Kritik der reinen Vernunft, eine Geschichte über das Funktionieren des Verstandes, darüber, was es heißt, Begriffe zu verwenden. Selbst wenn Brandom unter dem Stichwort der Autonomie auch die Grundeinsicht der praktischen Philosophie Kants einzubeziehen sucht, bleibt dies von seiner Lesart der „Analytik der Begriffe“ abhängig (mehr dazu unter 2.3). Mit dem, was Brandom von Kants Lehren behandelt, und mit dem, was er von ihnen außen vor lässt, will er klarmachen: Kant ist ein Rationalist – eine Bezeichnung, die Kant für sich selbst abgelehnt hat.⁵⁵ Kant gehört für Brandom in die rationalistische Tradition seit Descartes, und damit gehört er in die Geschichte des Inferentialismus. Indem Brandom Kant dennoch in Abgrenzung zu Descartes einführt, dessen Mängel aufzählt und Kant als ihren Überwinder feiert, macht er deutlich: Die Geschichte des Inferentialismus ist eine Geschichte der Selbstkritik und auf diese
Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, 38. In seiner Hegel-Deutung wird der Erfahrungsbegriff hingegen zentral werden: vgl. unten 3.2.1. Brandom, Kantische Lehren, 58. Brandom, Kantische Lehren, 58. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 47. Er sah vielmehr den „k r i t i s c h e n Weg […] allein noch offen“ (KrV B 884 / A 856), um zwischen Empirismus und Rationalismus hindurch zu navigieren.
2.1 Kant, der Rationalist
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Weise eine Geschichte des begrifflichen Fortschritts – so sehr, dass man sagen darf, mit Kant habe bereits wieder eine neue Epoche begonnen. Wir sollen, wenn wir Brandoms Erzählung folgen, dabei zusehen können, was den Inferentialismus ausmacht und wie er funktioniert: als eine Praxis des Einforderns und des Gebens von Gründen. Begriffe werden durch die Rolle bestimmt, die sie in Begründungszusammenhängen spielen, und es zeigt sich im Laufe der inferentialistischen Entwicklung von Descartes zu Kant, welche Rollen nicht mehr stimmig sind, wo etwas im Netz dessen, was wir Wissen nennen, nicht mehr als Prämisse oder Konklusion hinreicht und daher ergänzt oder ersetzt werden muss. Was Brandom bietet – das zeigt sich hier mit Blick auf Kant und wird sich später mit Blick auf Hegel wiederholen –, ist die Anwendung des Inferentialismus auf sich selbst im Medium der Philosophiegeschichte. Dieser Zug stellt eine konkrete Bestätigung meiner These über den performativen Einsatz der Philosophiegeschichte dar. Diese Stellungnahme für Rationalismus und Inferentialismus bedeutet zugleich eine weitere Abgrenzung gegenüber dem kaum erwähnten Empirismus. Ihm mangelt es am Potential der Anwendung auf sich selbst, ihm fehlt das Bewusstsein seiner eigenen diskursiven Geschichtlichkeit – und damit auch die Fähigkeit, aus ihr Kapital zu schlagen. Die Profilierung des Rationalisten Kant gegenüber dem Rationalisten Descartes soll ihn für die Auseinandersetzung mit den Empiristen umso stärker machen. Gespiegelt in die Gegenwart, soll diese Erzählung natürlich Brandoms eigenen Standpunkt untermauern. Er stellt sich selbst mit Nachdruck in die rationalistische Tradition und sieht sich damit an der Spitze einer neuen Avantgarde, die die analytische Philosophie alter Prägung ebenso wie den frühen Pragmatismus hinter sich gelassen hat.⁵⁶ Ebenfalls wird dort angedeutet, wie das Rationale am Rationalismus zu verstehen ist. Wenn Brandom von „rational“ spricht, dann sollen wir dabei stets „reasonable“ mithören und damit den Eintritt in den lebendigen Zusammenhang des „space of reasons“. Im kalten und abstrakten Sinne rational zu sein könnte sich hingegen sogar als „unreasonable“ herausstellen.⁵⁷ Rationalismus ist also nichts anderes als ein Synonym für das Spiel des Gebens und Nehmens von
„Rationalism of this stripe was not much in favor in Anglophone circles during the last century or so. The predominant tendency in analytic philosophy has been strongly empiricist, at least since Ayer and Carnap. The American pragmatism of James and Dewey defined itself by opposition to a pernicious rationalistic intellectualism. […] The rationalism that is articulated, motivated, and explored in these pages looks back to Kant and Hegel as its forebears, and to Descartes, Spinoza, and Leibniz only as their deepest lessons came to be understood within that German Idealist tradition“ (Brandom, Reason in Philosophy, 1). Vgl. Brandom, Reason in Philosophy, 2 f.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
Gründen. Ähnlich sagt es Brandom in Articulating Reasons: „Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht sein Rationalismus, also der Vorrang, den er der spezifisch inferentiellen Gliederung, dem Spielen einer Rolle in Praktiken des Gebens und Verlangens von Gründen, einräumt“⁵⁸. Eine wichtige zusätzliche Einsicht freilich, die sich mittels des oben dargestellten Erzählens von der selbstkritischen rationalistisch-inferentialistischen Tradition ergibt, ist diese: Der „space of reasons“ ist nicht nur eine räumliche Metapher, sondern auch eine zeitliche. Er wird diachron durchschritten.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen? Brandoms Kant-Interpretation als rationale Rekonstruktion 2.2.1 Das „Vermögen zu urteilen“ und der Primat theoretischer Normativität (1) Für Brandom ist Kant derjenige gewesen, der als Erster den diskursiven Charakter unserer menschlichen Verstandestätigkeit ausgesprochen hat. „Kants tiefste und originellste Idee – das Zentrum […], um das herum alle Momente seines Denkens kreisen“⁵⁹, ist für Brandom das Beharren auf der Funktion des Urteilens. Kant bestimme das, was den Verstand ausmacht, nicht anhand einer privilegierten Zugangsweise. Er sei weder an Introspektion noch an der Einführung einer speziellen Sorte mentaler Vorgänge interessiert. Kant frage vielmehr danach, was wir Menschen tun, wenn wir Urteile fällen. Indem ich ein Urteil über einen Sachverhalt fälle, so unterstreicht Brandom, übernehme ich Verantwortung für die Behauptung dieses Sachverhalts.⁶⁰ Es lag in meiner Macht, ein Urteil zu fällen, aber mit ihm habe ich zugleich etwas gebilligt, etwas gutgeheißen und bekräftigt, von dem ich nicht mehr ohne weiteres loskomme. Ich habe mich festgelegt, dass etwas so und so ist. Und ich kann darauf angesprochen und gefragt werden, wie ich dazu gekommen bin, welche Gründe ich dafür habe, was daraus folgt, dass ich so und so geurteilt habe. Es geht also um Verantwortung im wörtlichen Sinne: darum, Rede und Antwort zu stehen. Die Macht, ein Urteil zu fällen, ist freilich keine willkürliche. Sie beruht darauf, dass sie nach Regeln ausgeübt wird. Es sind diese Regeln und ihre Anwendung, auf die hin mein Urteil befragt werden kann. Urteilen ist Anwenden von
Brandom, Begründen und Begreifen, 37. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 23. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 24.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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Regeln, oder, in Kants wie Brandoms Terminologie, von Begriffen. ⁶¹ Sie sind es, die ein Objekt bestimmen. Von ihnen hängt es grundsätzlich ab, ob ich Anspruch darauf erheben kann und darf, einen Sachverhalt angemessen beurteilt zu haben. Ohne Begriffe keine Angemessenheit, kein Inhalt also ohne die Anwendung von Regeln. Das bedeutet zugleich, dass Begriffe selbst gar nicht anders zu verstehen sind als in der Hinordnung auf ihren Gebrauch. Brandom postuliert keinen jenseitigen Begriffshimmel, der nur eins-zu-eins auf irdische Entitäten zu übertragen wäre. Gegen solch eine „platonistische Strategie“⁶² hat sich Brandom immer wieder abgegrenzt.⁶³ Mit seinen historisch-rekonstruktiven Studien beharrt er darauf, dass es Kant war, der diesen Perspektivenwechsel eingeleitet hat. Dass der menschliche Verstand diskursiv verfährt, heißt also, dass er Regeln folgt. Menschen urteilen, indem sie Begriffe verwenden. In ihrer erkennenden Praxis übernehmen sie Verantwortung für die Urteile, die sie fällen. In dieser Zuspitzung von Kants Erkenntnistheorie ist ein reichhaltiges normatives und praktisches Vokabular im Spiel. Kant ist derjenige in der Geschichte der Erkenntnistheorie, bei dem Brandom einen entscheidenden „normative turn“⁶⁴ vollzogen sieht. Der Begriff der Normativität selbst wird so verständlicher. Normativität bezeichnet zunächst einen Anspruch, ein Sollen, die aber gerade nach der Erfüllung dieses Anspruchs durch einen angemessenen Akt verlangen. Normativität markiert eine Leerstelle und zugleich die Möglichkeit, sie zu füllen. Brandom nennt die Verantwortung, die im Urteilen übernommen wird, sehr treffend „a task-responsibility, a commitment to do something“⁶⁵. Urteile liegen nicht fertig vor, sondern ihnen wird erst durch den Akt des Urteilens Kontur gegeben: Die Weise, wie Kant sich den Akt bzw. die Tätigkeit des Urteilens denkt, legt fest, wie er den Inhalt eines gefällten Urteils verstehen muss. Indem er die semantische Erklärung des Inhalts an die pragmatische Erklärung der Kraft (in Freges Sinne) knüpft – die Art und Weise, in der
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 24. Brandom, Begründen und Begreifen, 12. Eine der einprägsamsten Formulierungen lautet: „Der hier vertretene Pragmatismus möchte das Behauptete anhand des Behauptens erklären, das Beanspruchte in Begriffen des Beanspruchens, das Geurteilte anhand des Urteilens und schließlich das, wovon jemand überzeugt ist, durch die Rolle, die das Überzeugtsein spielt“ (Brandom, Begründen und Begreifen, 13). Brandom, Perspectives on Pragmatism, 1. Brandom, Reason in Philosophy, 38. Der Ausdruck „task-responsibility“ scheint mir stärker zu sein, als es die Übersetzungen mit „praktische Verantwortung“ (Ders., Wiedererinnerter Idealismus, 30) oder „Leistungs-Verantwortung“ (Ders., Expressive Vernunft, 260) ausdrücken. Er ist einem Aufsatz von Kurt Baier aus dem Jahr 1966 entnommen, wie in Brandom, Expressive Vernunft, 260 bzw. 926 ausgewiesen ist.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
seine Erläuterung dessen, worin der Akt des Bejahens besteht, seine Erläuterung des Bejahten formt – vertritt Kant eine Form des methodologischen Pragmatismus. ⁶⁶
Dabei haben wir es mit einem Motiv zu tun, das theoretische und praktische Philosophie umgreift und zusammenschließt. Brandom stellt klar, dass Kants normativer Pragmatismus kein „explanatorisches Primat der praktisch-diskursiven gegenüber der theoretisch-diskursiven Tätigkeit“ behaupte, „sondern vielmehr ein explanatorisches Primat des Akts gegenüber dem Inhalt, und das sowohl im theoretischen als auch im praktischen Bereich“⁶⁷. Wie Brandom wohl nicht zu Unrecht bemerkt, ist diese Betonung des Diskursiven und Normativen sowohl im Theoretischen wie im Praktischen die zusammenhängende Antwort Kants auf die doppelte Herausforderung durch den Skeptizismus David Humes in beiden genannten Domänen.⁶⁸ (2) Offensichtlich ist dieser pragmatische Primat, von dem Brandom im Rückgriff auf Kant spricht, nicht gleichbedeutend mit dem, was Kant selbst den Primat der praktischen Vernunft nannte. Kant meinte das im praktisch-moralischen Sinne, im Hinblick auf die letzten und höchsten Interessen der Vernunft.⁶⁹ Dieser Primat ist für Kant gerade dadurch möglich, dass das Vermögen der praktischen Vernunft auf Prinzipien sui generis gegründet ist, die unabhängig von den Prinzipien des theoretischen Vermögens sind.⁷⁰ Bei Brandom geht es hingegen um den Primat der Begriffsverwendung über den Begriffsgehalt sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie.⁷¹ Deren Trennung empfindet er als einen „Luxus“, den man sich nicht leisten könne.⁷² Ja, Brandom geht für seine Zwecke Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 32. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 33. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 50 f. Eine einschlägige Stelle aus der Kritik der praktischen Vernunft: „In der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das P r i m a t , vorausgesetzt nämlich, daß diese Verbindung nicht etwa z u f ä l l i g und beliebig, sondern a priori auf der Vernunft selbst gegründet, mithin n o t h w e n d i g sei. […] Der speculativen Vernunft aber untergeordnet zu sein und also die Ordnung umzukehren, kann man der reinen praktischen gar nicht zumuthen, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist“ (AA 5,121). Vgl. AA 5,120. Unglücklich sind daher Formulierungen, in denen Brandom Kants Ausdrucksweise und seine eigene zu sehr vermischt, wie z. B.: „Kants Festlegung auf den Primat des Praktischen besteht darin, daß er theoretisches und praktisches Bewußtsein, Denken und Handeln in diesem letzten Endes normativen Licht sieht“ (Brandom, Expressive Vernunft, 45). Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 69.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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sogar noch einen Schritt weiter. An einer dichten Stelle von Articulating Reasons, an der er wesentliche Positionen von Making It Explicit zusammenfasst, schreibt er: Das Geben und Verlangen von Gründen für Handlungen ist nur im Kontext von Praktiken des Gebens und Verlangens von Gründen im allgemeinen möglich, d. h. von Praktiken des Vorbringens und Verteidigens von Behauptungen und Urteilen. […] Ich behaupte, daß man die Rolle von Überzeugungen beim theoretischen Begründen (das von Behauptungen zu Behauptungen führt) erklären kann, ohne dabei auf praktisches Begründen rekurrieren zu müssen. Ich glaube aber nicht, daß der umgekehrte Weg offensteht.⁷³
Hier könnte man also durchaus von einem Primat der theoretischen Vernunft sprechen. Ich halte es für wichtig, diesen Aspekt hervorzuheben, weil er in einigen Darstellungen zu Brandoms Pragmatismus verwischt wird.⁷⁴ Nichtsdestoweniger geht es auch bei dieser Betonung des Theoretischen um Befreiung. Brandom führt das Thema der Verantwortung u. a. mit dem Verweis auf Kants Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? ein.⁷⁵ Das ist ein Text, der meistens nicht mit der theoretischen Philosophie in Verbindung gebracht wird. Kant stellt am Ende seiner Ausführungen selbst fest, dass er aus gegebenem Anlass „den Hauptpunkt der Aufklärung […] vorzüglich in R e l i g i o n s s a c h e n gesetzt“⁷⁶ habe, also in eine aus seiner Sicht praktisch induzierte Frage. Aber Brandom hat nicht Unrecht, wenn er betont, dass Kants Forderung nach dem „A u s g a n g d e s M e n s c h e n a u s s e i n e r s e l b s t v e r s c h u l d e t e n U n m ü n d i g k e i t“⁷⁷, nach einem „freien D e n k e n“⁷⁸ in Gestalt eines „ö f f e n t l i c h e n G e b r a u c h [ s ]“⁷⁹ der eigenen Vernunft in jeder Hinsicht Auswirkungen haben wird. Im Anschluss an die Reflexionen über Brandoms Vorgehen in Ab-
Brandom, Begründen und Begreifen, 108. Vgl. in diesem Sinne auch Ders., Expressive Vernunft, 259. So z. B. bei Gimmler, Antje, Pragmatische Aspekte im Denken Hegels, in: Sandbothe, Renaissance des Pragmatismus, 270 – 291, 273. Dort ist die Rede vom Primat der Praxis über die Theorie, was allerdings auch daran liegt, dass der Theoriebegriff bei Gimmler durchweg kontemplativ verstanden wird. Demgegenüber vgl. Hetzel, Andreas, Zum Vorrang der Praxis. Berührungspunkte zwischen Pragmatismus und kritischer Theorie, in: Ders., Kertscher, Jens, Rölli, Marc (Hg.), Pragmatismus – Philosophie der Zukunft?, Weilerswist 2008, 17– 57, der den Theoriebegriff mit Horkheimer und Adorno bestimmt. Vgl. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 22, oder auch Brandom, Expressive Vernunft, 45, 905. AA 8,41. AA 8,35. AA 8,41. AA 8,36.
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schnitt 2.1 lässt sich sein Moderne-Narrativ nun fortsetzen. Brandom betrachtet den Schritt zum Inferentialismus, der sich der Herausforderung stellt, Rede und Antwort zu stehen, Gründe zu fordern und zu geben, als den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Empirismus. Der Empirismus wird also von Brandom nicht nur als ewiggestrig, sondern auch als strukturell autoritär beschrieben. Mit dieser Kritik ist er nicht allein: Auch McDowell sieht die Unterwerfung unter den empiristischen „Mythos des Gegebenen“ aus dem Verlangen nach äußerer Kontrolle entspringen.⁸⁰ Wofür setzt Brandom Kant hier ein? Indem Elemente aus dessen praktischer Philosophie, insbesondere ein solcher Spitzentext wie Was ist Aufklärung? in Brandoms semantisch-erkenntnistheoretische Erzählung eingeholt werden, wird diese unterschwellig positiv besetzt. Sie soll als Freiheitsbotschaft verstanden werden. Dabei handelt es sich um eine Freiheit, die im Denken anfängt: mit der Konzeption einer Normativität des Begriffsgebrauchs, die zunächst in theoretischer und erst davon abgeleitet in praktischer Absicht ihre Wirksamkeit entfalten soll.⁸¹
2.2.2 Brandoms frühe retractationes zu Kant (1) In Brandoms Geschichte über Kant kommt es allerdings auch zu einer Irritation. Das geschieht bereits im ersten Kapitel von Making It Explicit, wo Kants Bestimmung des Verstandes als des Vermögens zu urteilen und von Begriffen als Regeln eingehend diskutiert werden.⁸² Brandoms Irritation besteht darin, dass Kants Theorie auf den ersten Blick einen intellektualistischen Zuschnitt hat. Seine Auffassung scheint zu sein, dass Begriffe als klar definierte, explizite Vorschriften und Gesetze zu verstehen sind. In diesem Fall drängt sich die Frage auf, wo die Regeln herkommen. Woher stammt die Vorschrift, dass jene Vorschriften gelten? Wir hätten es hier mit einem typischen „Kantischen Dualismus“⁸³ zu tun, der zwischen normativem Regel-Himmel und dem nicht-normativen Rest der Welt
Vgl. McDowell, Geist und Welt, 41 f. Die Verbindung des „Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ mit der Kritik am „Mythos des Gegebenen“ sieht auch Knappik, Reich der Freiheit, 88 f., mit Verweis auf McDowell, John, Die Welt im Blick. Aufsätze zu Kant, Hegel und Sellars, Berlin 2015, 133. Dieses Ineinanderfügen von Kants Ausführungen zur theoretischen und praktischen Philosophie bringt allerdings auch gewisse Probleme in der Darstellung mit sich: vgl. dazu 2.2.2 und 2.3. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 56 – 77. Brandom, Expressive Vernunft, 57.
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trenne. Kant sitze also doch, im Theoretischen wie im Praktischen, einem „intellektualistischen, platonistischen Verständnis von Normen“⁸⁴ auf. Brandom nennt diese Position im Anschluss an Sellars „Regulismus“⁸⁵. Die Kritik daran folgt auf dem Fuße in Gestalt von Wittgensteins Regelregress-Argument.⁸⁶ Dem Regulismus gelinge es nicht, die Lücke zwischen der explizit vorliegenden Regel und ihrer Anwendung zu überbrücken. Dazu müsste eine neue Regel her, die diese Anwendung regelt, und wieder eine neue Regel, die diese Anwendung regelt, und so weiter bis ins Unendliche. Um diesem Regelregress zu entkommen, setzt ihm Brandom die pragmatistische Erklärungsrichtung entgegen, Wissendass auf Wissen-wie aufzubauen: Als Regeln explizite Normen setzen in Praktiken implizite Normen voraus, weil eine Regel, die bestimmt, wie etwas richtig ausgeführt wird […], auf spezielle Verhältnisse angewendet werden muß, und das ist selbst wesentlich etwas, das richtig oder unrichtig getan werden kann. Eine Regel, ein Prinzip oder ein Befehl haben nur im Kontext von Praktiken, die festlegen, wie sie richtig angewendet werden, normative Signifikanz für Performanzen.⁸⁷
Allerdings kann auch ein Pragmatismus sein Blatt überreizen. Wiederum im Rückgriff auf Wittgenstein bedenkt Brandom eine solche Übertreibung: den Regularismus. ⁸⁸ Dieser versteht Normen als bloße Regelmäßigkeiten, die einfach nur beschrieben werden müssten. Der Vorteil daran ist, dass der bemängelte Regress vermieden werden kann: Es gibt kein Außen der Praxis, immer reicht die Antwort „So handle ich eben“⁸⁹ aus. Allerdings würde sich damit auch das auflösen, was Normativität eigentlich ausmacht, nämlich dass man einen Anspruch erfüllen soll und erfüllen kann, aber ihn gerade nicht erfüllen muss (weil man faktisch eben anders handeln kann). Im Regularismus ist eine Norm kein Anspruch mehr, sondern „nichts anderes als ein Verhaltensmuster“⁹⁰. Das Hauptproblem an dieser Sichtweise besteht laut Brandom in der Unmöglichkeit, etwas als einen Fehler bezeichnen zu können.⁹¹ Die vermeintliche Nichtbefolgung einer Norm wäre lediglich eine unerwartete Erweiterung des bisherigen Verhaltensmusters. Dies führt aber in eine unendliche Iteration der
Brandom, Expressive Vernunft, 58. Brandom, Expressive Vernunft, 58. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 58 – 63. Brandom, Expressive Vernunft, 59. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 66 – 71. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1984, 225 – 580, 350 | § 217. Brandom, Expressive Vernunft, 69. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 69 – 71.
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Ablösung einer Regelmäßigkeit durch eine andere, womit sich der Begriff der Regelmäßigkeit selbst ad absurdum führt. An der einen oder anderen Stelle eine Barriere einzuziehen, die diese Entwicklung aufhalten oder in bestimmter Weise eingrenzen würde, wäre indes willkürlich. Wittgenstein habe sowohl den Regulismus als auch den Regularismus als Problem erkannt. Seine Lösung besteht darin, das implizite Regelfolgen in einer Gepflogenheit, Praxis oder Institution zu verorten. Brandom gibt sich damit aber nicht zufrieden. Wittgenstein verweise zwar auf Praktiken als den Kontext von Normativität. Eine Erläuterung jedoch, wie das Verhältnis genauer zu bestimmen und seine Auffassung vom Regularismus zu unterscheiden sei, finde sich bei ihm nicht. Von Wittgenstein als einem „erklärte[n] theoretische[n] Quietist[en]“⁹² sei kein Aufschluss darüber zu erwarten, „was es für Normen heißt, implizit in Praktiken enthalten zu sein“⁹³. Unter Berücksichtigung der Einwände Wittgensteins möchte Brandom nun doch weiter in Kants Vorschlag investieren, um das Projekt von Making It Explicit voranzutreiben. Der nächste Schritt auf diesem Weg besteht darin, Kants Unterscheidung des Unterworfenseins unter Regeln bzw. Regularitäten einerseits und der Anerkennung von Regeln in einem normativen Sinne andererseits mitzumachen: „Als natürliche Wesen handeln wir nach Regeln. Als rationale Wesen handeln wir nach unseren Vorstellungen von Regeln“⁹⁴. Im letzteren Fall geht es also darum, eine Regel als eine Regel anzuerkennen, indem ich sie tatsächlich bejahe und meine Handlungen einer entsprechenden Beurteilung aussetze: Kants Grundsatz, daß wir nicht nur nach Regeln, sondern nach Regelvorstellungen handeln, bedeutet, daß wir Normen nicht nur unterworfen, sondern auch sensibel ihnen gegenüber sind. In der Sprache dieses Buches heißt das, daß wir uns nicht nur durch normative Status, sondern auch durch normative Einstellungen auszeichnen – daß unsere Performanzen nicht nur gemäß einer Vielzahl von Regeln richtig oder unrichtig sind, sondern auch, daß wir sie in unserer Praxis als richtig oder unrichtig behandeln können.⁹⁵
Erst mit dieser Rückkehr zu Kant sieht Brandom eine treffende Konzeption von regelgeleitetem Handeln (in Theorie wie Praxis) gewonnen. Zum einen binden wir uns an begriffliche Regeln, ohne dass uns diese jedes Mal explizit vor Augen stehen würden, d. h. vorgängig zu und unabhängig von unserem Tun schon ausformuliert vorhanden wären. Zum anderen binden wir uns an sie, indem wir
Brandom, Expressive Vernunft, 71. Brandom, Expressive Vernunft, 71. Brandom, Expressive Vernunft, 72. Brandom, Expressive Vernunft, 76.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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sie in unserem Tun tatsächlich als eine normative Bindung behandeln und anerkennen. Mittels dieser Erklärung bleibt die Differenz zu den bloßen Regelmäßigkeiten des Reiz-Reaktions-Schemas gewahrt, die bei fressenden Tieren und bei rostendem Eisen zum Zuge kommen.⁹⁶ (2) Was bringt es, diese anscheinend retardierende Diskussion über Regulismus und Regularismus aus Making It Explicit in die in den historisch-rekonstruktiven Studien so linear erzählte Geschichte über Kant einzublenden? Dazu möchte ich vier Punkte festhalten. (a) Brandom ist daran gelegen, Kants Bestimmung des Verstandes als des Vermögens zu urteilen zu verteidigen. Zu diesem Zweck hat er Kant aufgerufen und zu diesem Zweck will er an ihm festhalten. Wittgensteins gewichtigem Einwand des Regelregresses wird zwar in der Sache zugestimmt. Im Zuge der Darstellung erweist sich indes, dass Kants Ansatz so gelesen werden kann, dass es eben nicht zu einem infiniten Regelregress kommt. Anders als es zunächst schien, ist Kant kein Regulist. Die Verteidigung Kants gegen Wittgenstein bzw. die Versöhnung Kants mit Wittgenstein ist hier also die erste Absicht Brandoms gewesen. Es soll auch in unserem post-wittgensteinianischen Zeitalter möglich und legitim sein, Kant zu befragen und von ihm sinnvolle Antworten zu erwarten. Diese Verteidigung und Versöhnung gilt ein für alle Mal. Deswegen taucht diese Diskussion in Brandoms späteren Texten nicht mehr auf. Brandom scheint überzeugt zu sein, das Problem, das man mit Kant bezüglich des Regelregresses haben könnte, aus dem Weg geräumt zu haben. Indem er Kant seither in den historisch-rekonstruktiven Studien immer wieder affirmativ aufruft, gibt er zu, dass Kant seiner Ansicht nach gewonnen hat. Bereits in Making It Explicit sind Hinweise darauf zu entdecken, so z. B., wenn Brandom am Ende des Abschnitts über Wittgensteins Argument eine – wie es aussieht: nachträgliche – Fußnote setzt, in der er erklärt, „daß Kant, wenn man ins Detail geht, etwas besser dasteht als in dieser Skizze, denn ihm ist der Wittgensteinsche Gesichtspunkt keineswegs fremd“⁹⁷. Brandom verweist dazu ganz recht auf Kants eigene Formulierung des Regress-Einwandes in der Kritik der reinen Vernunft sowie auf die Rolle der Urteilskraft.⁹⁸ Weitere Übermalungen Brandoms in Bezug auf seine Kant-Darstellung finden sich im Schlusskapitel des Werkes.⁹⁹
Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 77. Brandom, Expressive Vernunft, 907. Vgl. KrV B 171 f. / A 132 f., zitiert bei Brandom, Expressive Vernunft, 907. Vgl. insbesondere Brandom, Expressive Vernunft, 864. Dazu mehr unter dem folgenden Punkt (d).
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(b) Brandom lässt nicht nur Kant durch Wittgenstein korrigieren, wobei sich herausstellt, dass man auf diese Weise zu einem besseren Verständnis von Kant selbst gelangt. Er setzt den nun richtig verstandenen Kant seinerseits dazu ein, Wittgenstein zu korrigieren. Brandom braucht Kant als Verbündeten gegen den theoretischen Quietismus. Denn das ist, neben dem Empirismus, ein weiteres Feindbild Brandoms: der erklärte Verzicht auf eine ausdifferenzierte Theorie der Rationalität. Brandom braucht Kant, um gegen den späten Wittgenstein und seine Nachfolger auf dem Rationalismus zu beharren. Er will verdeutlichen, dass er selbst mit seinem normativen, inferentiellen Pragmatismus im Anschluss an Kant einen guten Schritt über die Philosophischen Untersuchungen hinaus ist. Damit wird Brandoms Moderne-Erzählung, auch wenn sie plakativ bleibt, facettenreicher. Er erzählt sie, um sich von dem aus seiner Sicht „mittelalterlichen“ und „unaufgeklärten“ Empirismus abzugrenzen. Und er erzählt sie, um sich ebenfalls von einem Quietismus abzugrenzen, den man postmodern oder auch romantisch nennen könnte. (c) Ein Punkt, der genauer angeschaut werden sollte, ist die Frage nach der Verhältnisbestimmung von theoretischer und praktischer Philosophie in Brandoms Kant-Bild. Oben ist davon die Rede gewesen, dass eine strikte Trennung unhaltbarer „Luxus“ sei, sowie von einem dadurch begünstigten Primat der (in sich pragmatischen) theoretischen Vernunft. In Making It Explicit hat Brandom diesen Primat freilich noch mit Hilfe der praktischen Philosophie Kants belegen wollen.¹⁰⁰ In den historisch-rekonstruktiven Studien – im Aufsatz Kantische Lehren und insbesondere in der Semantischen Sonate – ist er zu einer klareren Gliederung gelangt. In der vorliegenden Arbeit wird dieser neuen Reihenfolge Rechnung getragen. Brandoms Klärung in dieser Angelegenheit halte ich für äußert wichtig. Problematisch daran bleibt, dass er sie vornimmt, ohne seine Gründe für die revidierte Fassung auf den Tisch zu legen. Ich möchte diese Problematik verdeutlichen, indem ich einen Einwand von Daniel Dohrn gegen Brandoms Kant-Interpretation diskutiere. Dohrn kritisiert die Vermischung theoretischer und praktischer Normen. In der Frage der Selbstbindung sollten wir zwei Varianten unterscheiden. Zum einen gebe es die Nötigung durch das moralische Gesetz, die wir frei anerkennen, der wir jedoch auch ausweichen können, zum anderen die Notwendigkeit, mit der wir in unseren Erkenntnisakten auf die reinen Verstandesbegriffe angewiesen sind. Wir sind nicht frei gegenüber den Kategorien, so Dohrn:
Vgl. die Verweise auf die Kritik der praktischen Vernunft in Brandom, Expressive Vernunft, 72– 75, 908, sowie die Behandlung Kants in der Nachfolge von Pufendorfs Naturrecht bei Brandom, Expressive Vernunft, 99 – 102.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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Diese Regeln sind im Gegensatz zu normalen Begriffen nicht nur in Auseinandersetzung mit Gegenständen gemacht, sondern auch Voraussetzung der Gegenstandserkenntnis. Man kann nicht einmal sagen, das Subjekt sei im Verhältnis zu diesen Regeln in der Weise autonom, in der es autonom gegenüber dem Sittengesetz ist.¹⁰¹
Daraus folge entweder, dass Brandoms Indienstnahme Kants gar nichts bringe, weil wir mit der Notwendigkeit der Kategorien wieder beim Regularismus herauskämen, oder aber, dass wir bestenfalls moralphilosophisch einen Schritt weiter seien. Gerade über den Verstandesgebrauch in Sachen Erkenntnis, um den es ja eigentlich gegangen sei, hätten wir nichts gelernt.¹⁰² Meines Erachtens spricht Dohrn ein Defizit an, das bei Brandom tatsächlich besteht. Ich stimme ihm zu, dass Kants Theorie über den Einsatz der Kategorien nicht als ein doxastischer Voluntarismus zu verstehen ist. Mir scheint aber Dohrns Reaktion in die falsche Richtung zu weisen. Brandoms Defizit – zumindest in Making It Explicit – besteht darin, dass er selbst mit Hilfe Kants ein theoretisches Ziel verfolgt, dabei aber Kants Erwägungen aus der Kritik der reinen Vernunft links liegen lässt und auf Bestimmungen aus der Kritik der praktischen Vernunft zurückgreift. Dohrn vertieft jedoch seinerseits die Trennung von theoretischer und praktischer Normativität, wenn er nur die letztere als aktiv und autonom, die erstgenannte aber als passiv im Sinne des Regularismus beschreibt. Auf diese Weise wird aber die Parallelität in Kants Konzeption verwischt. In beiden Fällen geht es um eine aktive Selbstgesetzgebung, nicht nur in der praktischen Philosophie (in beiden Fällen als Antwort auf die Herausforderung durch Hume). Trotz der eigentümlichen Art des Leitfadenkapitels, die Urteilsformen und mit ihnen die reinen Verstandesbegriffe recht plötzlich „aufzufinden“,¹⁰³ steht außer Frage, dass damit nicht die Passivität, sondern gerade die Spontaneität des Verstandes ausgewiesen werden soll. Der Verstand schreibt mittels seiner Begriffe vor, sie werden ihm nicht vorgeschrieben. Der Verstand bindet sich mittels dieser Begriffe – und bindet so die Mannigfaltigkeit der Sinnesdaten zu Gegenständen der Erfahrung. Weder das Moralgesetz noch die Verstandesbegriffe sind externe Vorschriften, sondern beide sind in bestimmten Verhaltensweisen implizit in Anspruch genommen.
Dohrn, Brandoms kantische Lehren, 79. Ähnlich die Kritik bei Lütterfels,Wilhelm, Kant in der gegenwärtigen Sprachphilosophie, in: Heidemann, Dietmar H., Engelhard, Kristina (Hg.), Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, Berlin, New York 2004, 150 – 176, 165. Vgl. Dohrn, Brandoms kantische Lehren, 79. Für die Formulierung vgl. KrV B 94 / A 69.
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Bei beiden besteht auch die Möglichkeit des Fehlgehens: Folgen wir dem Moralgesetz nicht, sind wir nicht moralisch, folgen wir den Verstandesbegriffen nicht, erwerben wir kein Wissen. Dohrn scheint hingegen die Auffassung zu vertreten, dass wir in der Anwendung der Kategorien, da wir ihnen automatisch folgten, nicht fehlgehen könnten. Auf diese Weise würde jeder Erkenntnisirrtum ganz der Seite der Sinnlichkeit angelastet. Dem hat sich Kant vehement verwehrt. Für ihn liegt die Verantwortlichkeit für den Erfolg wie den Misserfolg des Erkenntnisaktes ganz und gar auf der Seite des Verstandesurteils.¹⁰⁴ Auch bezüglich der praktischen Normativität dürfte sich Kant gegen Dohrns Interpretation sträuben. Die Formulierung, wir seien „autonom gegenüber dem Sittengesetz“, halte ich für unzutreffend. Vielmehr erlangen wir das Sittengesetz nur durch Autonomie, indem wir es nämlich selbst nach rein formalen Regeln entwerfen. Gegenüber dem Sittengesetz sind wir keineswegs autonom, sondern lediglich willkürlich, und das heißt: gesetzlos. Was sagt uns das mit Blick auf Brandom? Das Defizit seiner Darlegung ist von Dohrn richtig geortet worden. Es besteht darin, dass Brandom theoretische Normativität zunächst mit Kants praktischer Philosophie erklären möchte. Dabei projiziert Brandom die Unterscheidung von Handeln aus Freiheit einerseits und Unterworfensein unter Naturnotwendigkeit andererseits auf das gesamte Szenario. Auch die Natur sei Regeln unterworfen, das allein sei nicht das Besondere von diskursiven Subjekten. Vielmehr sei die (bereits zitierte) Präzisierung vonnöten: „Als natürliche Wesen handeln wir nach Regeln. Als rationale Wesen handeln wir nach unseren Vorstellungen von Regeln“¹⁰⁵. Dies gilt freilich nicht nur für die Kritik der praktischen Vernunft, auf die sich Brandom hier bezieht, sondern ebenso für die Kritik der reinen Vernunft. Sie will ja nicht schlicht erklären, dass wir als natürliche Wesen den Notwendigkeiten der Natur unterworfen sind, sondern es geht ihr, in theoretischer Absicht, um das Verständnis von uns Menschen als rationalen Wesen. Ihre Pointe besteht darin aufzuzeigen, dass Naturgesetze nicht einfach vorliegen, sondern dass wir der Natur Regeln vorschreiben, an die wir selbst uns zu halten haben. Es geht ihr um unsere Praxis als Erkennende und als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.¹⁰⁶ Darum ist es auch Brandom zu tun. Sein Sprung in Kants praktische Philosophie ist daher an dieser Stelle verfrüht. Bei der weiteren Ausarbeitung scheint Brandom die Zwiespältigkeit seiner Kant-Deutung aufgefallen zu sein. Zwar steht, anders als bei der Frage nach Kants Regulismus, eine ausdrückliche retractatio noch aus. Als Schritte dahin kann man
Vgl. KrV B 350 / A 293 f. sowie die „Apologie für die Sinnlichkeit“ in AA 7, 144– 146. Brandom, Expressive Vernunft, 72. Vgl. KrV B 159 f. und insbesondere KrV B 163 – 168.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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aber die erwähnte neue Gliederung betrachten, der er in Kantische Lehren und in der Semantischen Sonate folgt. Dort wird jeweils zuerst die theoretische Philosophie verhandelt und erst ganz am Ende die praktische. Dort wird deutlich gemacht: Die Geschichte über Kant ist zuerst eine Geschichte über die „Analytik der Begriffe“, in deren Rahmen das Wesentliche seiner Konzeption begrifflicher Normativität ausgewiesen wird. Im Zentrum steht die Analyse des Verstandes als des Vermögens zu urteilen, die nicht ohne die Analyse tatsächlichen Urteilens zu haben ist. (d) Noch eine letzte, weiterführende Reflexion: Man kann die Geschichte über die interne Normativität des menschlichen Geistes auch metaphysisch lesen. Mit seiner normativ-pragmatistischen Argumentation hat Brandom einen Weg gesucht, der zwischen intellektualistischem Regulismus und behavioristischen Regularismus hindurchführt. Damit ist zugleich auf metaphysischer Ebene ein Weg zwischen Dualismus und Naturalismus hindurch gebahnt. Kants Auszeichnung der Diskursivität des Verstandes bedeutet eine strategische Weichenstellung, die für Brandoms philosophische Absichten von unschätzbarem Wert ist. Denn sie erlaubt einen Zug gegen den naturalistisch-reduktionistischen mainstream, ohne in die zweifelhafte Alternative des metaphysischen Geist-KörperDualismus abzubiegen. Wie bereits in der Einleitung bemerkt, stellt diese Problematik den Ausgangspunkt dar, von dem aus Brandom sein Hauptwerk Making It Explicit entwirft, und ihre Auflösung ist sein Zielpunkt in dessen letztem Kapitel: Was und wer sind wir, die wir dieses Buch lesen, die philosophische Fragen stellen und miteinander diskutieren? Welche Rationalität, welche Logik liegen in dieser Praxis? Im Kontext solcher Fragen führt Brandom zu Beginn Kant ein und nennt zum Schluss seine ganze Geschichte eine kantianische.¹⁰⁷ Er spricht zwar auch vom „Kantischen Dualismus“¹⁰⁸ bzw. von „Kantischen Dualismen“¹⁰⁹. Letztendlich aber besteht seine Pointe darin, solche Klassifizierungen – ebenso wie die des Regulismus – als Missverständnisse zu entlarven.¹¹⁰ Vielmehr bietet Kant eine Unterscheidung von diskursiven, Begriffe verwendenden Wesen und solchen, die keine Begriffe verwenden. Dies ist eine Unterscheidung, die den ontologischen Sprung vermeidet: „Kant’s most basic idea is that minded creatures are to be distinguished from unminded ones not by a matter-of-fact ontological
Für die Rahmung vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 35 – 43 und 863 – 870. Die Formulierung „Diese Geschichte ist kantianisch“ findet sich bei Brandom, Expressive Vernunft, 867. Brandom, Expressive Vernunft, 57. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 851– 863. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 864.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
distinction (the presence of mind-stuff), but by a normative deontological one“¹¹¹. Für Brandom ist es daher nichts Geringeres als die „dringlichste philosophische Aufgabe […], das Wesen dieser Normativität […] zu verstehen“¹¹².
2.2.3 Die normative Auszeichnung der Proposition (1) Brandom hat also schon an einem frühen Punkt – in Making It Explicit – das regulistische Missverständnis von Kants Theorie des Verstandes ausgeräumt. In einer späteren Etappe hat er seine Geschichte über Kant ausführlicher und präziser gestaltet. Auf der Basis der besonderen Auszeichnung der Urteilstätigkeit des Verstandes nimmt er dann die Schritte vor, die nun in 2.2.3 und 2.2.4 dargelegt und als rationale Rekonstruktion profiliert werden. Mit einem Wortspiel benennt Brandom die zentrale Rolle des Urteilens in Kants Theorie auch so: „As we might say, judgment is for Kant the Ur-teil of discourse“¹¹³. Er meint damit: Das Urteil in Kants Theorie des Verstandes ist das kleinste Element, aus dem alles andere aufgebaut wird, die kleinste Einheit, das und der ursprüngliche Teil. Es ist, so schon in Making It Explicit, „das kleinste Begreifbare“¹¹⁴. Kleinere Teile, die Erkenntnis zustande bringen würden, gibt es
Brandom, Reason in Philosophy, 32 f. Hier ist die Originalversion spitzer formuliert, als es in der Übersetzung in Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 24 zur Geltung kommt. – Zur Klarstellung sei erwähnt, dass im Lauf der letzten 150 Jahre in verschiedenen Weisen vom „mindstuff“ die Rede war. Populär wurde sie zunächst durch William Kingdon Clifford, der zur Erklärung des menschlichen Geistes einen „mind-stuff“ annahm, der die grundlegende Substanz der Wirklichkeit ausmache – also als ein Konzept des Panpsychismus: vgl. Clifford, William Kingdon, On the Nature of Things-in-Themselves, in: Mind 3.9 (1878), 57– 67. Diese Theorie wurde 1890 von William James ausführlich diskutiert und verworfen: vgl. James, William, The Principles of Psychology, Bd. 1, hg. von Frederick H. Burkhardt, Cambridge (MA), London 1981, 148 – 182. – Die Quelle für Brandoms Verwendungsweise von „mind-stuff“ dürfte eher sein Lehrer Rorty sein, der darunter gerade kein panpsychistisches, sondern ein cartesianisch-dualistisches Konzept versteht, einen Nachfolger der res cogitans: vgl. Rorty, Richard, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton (NJ) 1979, 61– 68. Rorty möchte dort beschreiben, „how the notion of ‚nonspatial substance‘, and thus of ‚mind-stuff‘, entered philosophy“ (63), und er schlägt sich auf die Seite derer, die zufrieden damit sind, „to think of mental entities as states of persons rather than ‚bits of ghostly stuff‘, and to let nonlocatability be a sign of the adjectival status of states rather than of the peculiar makeup of certain particulars“ (66). Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 24. Brandom, Reason in Philosophy, 33; vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 25. Brandom, Expressive Vernunft, 139; im Original „the mininum graspable“ (Brandom, Robert B., Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge (MA), London 1994, 79).
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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für Kant nicht. Bedeutung kann nur über den Weg des Urteils erzeugt werden. Das ist Kants Statement gegen eine atomistische Erkenntnistheorie. Nicht isolierte Termini vermitteln Erkenntnis, sondern Urteile, und das heißt: Sätze tun es. Warum ist das so? Die Antwort lautet: „[W]eil Urteile minimale Einheiten der Verantwortung sind; sie sind die kleinsten semantischen Bestandteile, die eine Verpflichtung ausdrücken können“¹¹⁵. Die kantischen Urteile als propositionale Verantwortungseinheiten können von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden. Verantwortung und Verantworten ist pluridimensional. Zunächst unterscheidet Brandom zwei Perspektiven, die er mit Anhaltspunkten aus den beiden Versionen der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe versieht. Er spricht dabei von einer subjektiven und einer objektiven Form des Urteils.¹¹⁶ Die erstere finde sich in jenem „I c h d e n k e“, das „alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n“¹¹⁷ muss. Sie zeigt an, „wer für das Urteil verantwortlich ist“¹¹⁸. Mit einem einprägsamen Beispiel erläutert: „Wenn ich mich […] darauf verpflichte, dass dieses Tier hier ein Fuchs ist oder dass ich Sie morgen früh zum Flughafen fahre, dann verbietet mir das, mich darauf zu verpflichten, dass das Tier ein Hase ist oder dass ich morgen ausschlafe“¹¹⁹. Das ist die eine, die subjektive Seite der Verantwortung: Ich übernehme Verantwortung für die Urteile, die ich fälle, ich verpflichte mich, in der Folge entsprechend zu reden und zu handeln. Damit bin freilich zunächst nur ich selbst gebunden, andere sind es nicht. Andere dürften gegebenenfalls von dem Hasen erzählen, den sie gesehen haben, oder eben morgen ausschlafen. Die andere Seite der Verantwortung ist die objektive: „Die objektive Form des Urteils ist Kant zufolge ‚der Gegenstand = X‘, worauf sich Urteile, eben aufgrund ihrer Form als Urteile, immer in impliziter Weise beziehen“¹²⁰. Ich fälle Urteile über etwas. Urteile beziehen sich auf etwas. Urteile wollen objektiv sein. Sie besitzen „intentionale Gegenstände“, die sie „zu repräsentieren beanspruchen“¹²¹. Das ist allerdings nicht nur eine Frage des bloßen Vorliegens, sondern wiederum der Verantwortung: Das Verständnis der intentionalen Gerichtetheit von Urteilen – die Tatsache, dass sie etwas repräsentieren bzw. darauf Bezug nehmen – ist durch und durch normativ. Dasjenige, worauf
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 25. Vgl. in diesem Sinne bereits Brandom, Begründen und Begreifen, 208 f. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 25 f. KrV B 131. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 26. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 26. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 26. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 26.
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ein Urteil Bezug nimmt, ist der Gegenstand, welcher die Richtigkeit der Verpflichtung bestimmt.¹²²
Im Akt des Bezugnehmens verpflichte ich mich also gegenüber einem – zunächst noch unbestimmten – Gegenstand oder Sachverhalt, den ich im Prozess des Bezugnehmens bestimme und ihm so Objektivität zuspreche. Gerade deshalb muss ich bereit sein, mich von ihm richten zu lassen: Worauf man im Denken und Reden Bezug nimmt, spielt eine besondere Rolle, insofern es eine besondere Form von Autorität in solchen Bewertungen ausübt. Etwas zu repräsentieren, das heißt auf etwas im Reden Bezug zu nehmen oder an etwas zu denken, bedeutet, dessen semantische Autorität über die Richtigkeit jener Verpflichtung anzuerkennen, die man im Urteilen eingeht. Repräsentationaler Anspruch ist ein normatives Phänomen. Von ihm her muss […] auch der repräsentationale Inhalt verstanden werden.¹²³
Wir haben es also mit einer „Äquivalenzrelation zweiseitiger Verantwortung [coresponsibility]“¹²⁴ zu tun. Brandom verwendet dafür auch das Bild des Ein- und Ausatmens.¹²⁵ Darüber hinaus ist aber bereits ein dritter Aspekt angesprochen worden. Mit dem Anspruch der Repräsentation allein habe ich noch keine inhaltliche Bestimmung vorgenommen. Der Anspruch der Repräsentation ist rein formal, unbestimmt, ohne Inhalt. Deshalb ist nicht nur zu fragen, welchem Gegenstand oder Sachverhalt gegenüber ich verantwortlich bin, sondern auch, was ich eigentlich über ihn behaupte: „Wofür macht sich jemand verantwortlich, indem er urteilt?“¹²⁶. Eine andere Weise, den Anspruch der Repräsentation und den Gehalt der Repräsentation voneinander zu unterscheiden, besteht darin, von zwei Arten von Intentionalität zu sprechen. Die „‚Von‘-Intentionalität“¹²⁷ bezeichnet den Anspruch, die Gerichtetheit des erkennenden Subjekts auf einen Gegenstand, dem es verpflichtet ist, die Bezugnahme-auf-X, also das, was man oft meint, wenn von repräsentational die Rede ist. Demgegenüber ist die „‚Dass‘-Intentionalität“¹²⁸ expressiv, sie „betrifft den Inhalt unseres Denkens und Redens“¹²⁹. Ich denke und sage, dass es sich mit einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt so und so
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 26. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 26 f. Brandom, Begründen und Begreifen, 208 (Die Angabe in Klammern steht im Original). Vgl. Brandom, Perspectives on Pragmatism, 2. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 27. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 35. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 35. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 35.
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verhält. Repräsentation im ersten Sinne funktioniert mittels eines singulären Terms. Expression funktioniert mittels einer Aussage. Von-Intentionalität bezieht sich auf ein Objekt, so als ob es schon für sich genommen dastünde. Dass-Intentionalität beschreibt ein Objekt, sagt etwas über es aus, gibt ihm Inhalt. Beides gehört zusammen. Was Brandom nun bei Kant als überaus wichtig erachtet, ist, dass die so verstandene Repräsentation keineswegs einen Vorrang vor der Expression hat. Für Kant gibt es nicht bereits vorliegende, festumrissene Gegenstände, auf die in einem isolierten Akt Bezug genommen werden könnte, demgegenüber ihre inhaltliche Bestimmung ein nachträglicher und abkünftiger Schritt wäre. Vielmehr erfolgt die Gegenstandskonstitution einzig auf dem Wege der begrifflichen Bestimmung. Kant kehrt die Reihenfolge der Deutung von Intentionalität um. Repräsentation ist bei ihm von der Expression abhängig. Diese Umkehr „stellt einen wesentlichen Bestandteil von Kants semantischer Revolution dar“¹³⁰. Die Frage ist freilich, in welcher Weise die Repräsentation von der Expression abhängt. Was genau tue ich, wenn ich mich einem Gegenstand oder Sachverhalt gegenüber für seinen Inhalt verantwortlich mache? Brandom benennt daher einen vierten Aspekt, der mit Kants Auszeichnung des Urteilens notwendig verbunden ist. Die Verwendung propositionaler Verantwortungseinheiten weist auf diejenige zurück, die sie zu handhaben weiß. Urteilend bestimme ich mich selbst als diskursives Wesen, ich entwickle meinen diskursiven Status vor mir selbst und im Kreis der anderen, die solche sind wie ich. Diese Instanz wird benötigt, um das urteilende Tun zu erklären. Brandom spricht vom „Integrieren unterschiedlicher Verpflichtungen“¹³¹ in das, was Kant die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“¹³² nannte. Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt, beim „Ich denke“, allerdings in einer nochmals normativ und expressiv aufgeladenen Version. Auf die Analyse dieser Instanz wird Brandoms Kant-Interpretation hinauslaufen. (2) Die vier Aspekte, die Brandom an Kants Urteilslehre benannt hat, zeigen ein Wechselspiel zwischen Subjekt- und Objektseite an. Zur Veranschaulichung stelle ich sie in einem Raster dar, versehen mit den wichtigsten kantischen bzw. brandomschen Formeln. Es ist im Uhrzeigersinn zu lesen:
Brandom, Kantische Lehren, 40. Es handelt sich hier offensichtlich um Brandoms semantische Reformulierung von Kants „kopernikanischer Wende“, obwohl er diese, wie bereits weiter oben zitiert, unnötigerweise als nicht interessant abtut. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 29. So in der Überschrift des § 16: vgl. KrV B 131.
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Tabelle 1. Kants Urteilslehre nach Brandom . Wer ist verantwortlich? „Ich denke“
. Wem bin ich verantwortlich? dem „Gegenstand = X“ → Repräsentation, „Von-Intentionalität“
. Wie funktioniert Verantwortungsübernahme? durch Integration in die „synthetische Einheit der Apperzeption“
. Für was bin ich verantwortlich? für den Gehalt der Aussage → Expression, „Dass-Intentionalität“
Im nächsten Schritt wird Brandom den notwendigen Zusammenhang zwischen den vier Aspekten weiter erläutern. Es ist sinnvoll, erst im Anschluss daran eine ausführliche Kommentierung vorzunehmen. Ein erster Blick voraus soll hier genügen. Die umfangreiche Thematisierung der Urteilslehre aus der „Analytik der Begriffe“ der Kritik der reinen Vernunft ist ein gutes Beispiel dafür, wie Brandom seine Aufsätze zu klassischen Autoren einsetzt, um Lücken auszufüllen, die Making It Explicit offen gelassen hat. Erschienen dort die Verweise auf Kant verstreut und manches Mal pauschal, wird nun der Versuch unternommen, der Rechenschaftspflicht für ihren Einsatz nachzukommen. Es soll mittels der Interpretation des Originals ausgewiesen werden, dass und inwiefern Making It Explicit tatsächlich eine „kantianische Geschichte“¹³³ ist, und zwar eine zusammenhängende kantianische Geschichte.¹³⁴ Wenn man Making It Explicit und Brandoms Studien zu Kant und Hegel nebeneinanderlegt, dann sieht man, wie Letztere als Unterstützung und Ergänzung des Ersteren fungieren. Insbesondere die Ausführungen der Kapitel 1 bis 4 von Making It Explicit werden abgedeckt, aber auch die Anvisierung des Ziels in Kapitel 8. Was durch Kant-Interpretation und die Übernahme kantianischer Terminologie nun allerdings viel stärker in den Mittelpunkt rückt, ist die Subjekt-Instanz, in der die inferentiellen und repräsentationalen Fäden zusammenlaufen. Über sie wird im nächsten Abschnitt ausführlich zu reden sein. Der Weg von der Pragmatik zur Semantik hat zur Privilegierung des Satzes vor dem singulären Term geführt. Urteilen wird nicht als isolierte Prädikation ver-
Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 867. Dies kann gegen Bemerkungen McDowells festgehalten werden, der den Brandom von Making It Explicit meilenweit von Kant entfernt sieht: vgl. McDowell, Die Welt im Blick, 111.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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standen.¹³⁵ Der Zugang zur Welt, der hier offeriert wird, ist nicht deskriptiv, sondern normativ. Brandoms kantianische Welt setzt sich nicht mittels der Addition von Einzeldingen zusammen. Sie besteht vielmehr in einem inferentiellen Netz, in dem, wie gleich zu zeigen ist, Sätze und Dinge miteinander verwoben sind. Der Zug gegen den erkenntnistheoretischen Atomismus ist auch ein Zug gegen den metaphysischen Atomismus. Interessanterweise beharrt Brandom in Making It Explicit darauf, dass er in dieser Angelegenheit wirklich Kant braucht – und nicht etwa Hegel. Die Einsicht in die herausgehobene Rolle des Urteils und damit der Proposition „ging bei Kants Nachfolgern verloren“¹³⁶. Erst in größerem Abstand sei sie wieder formuliert worden, zunächst bei Frege, dann beim späten Wittgenstein. Hegel wird hier nicht genannt. Wenn sich Brandom in seinen historisch-rekonstruktiven Studien erneut Kant zuwendet und dann auch Hegel hinzubittet, nimmt er gegenüber Making It Explicit eine Vertiefung und Ergänzung vor. Bereits an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass das Gespräch mit Hegel vor dem Hintergrund der Kant-Interpretation geschieht. Es steht insbesondere unter dem Vorzeichen einer Interpretation der transzendentalen Deduktion. Um sie dreht sich alles. Wie Brandom in dieser Diskussion vorgeht, werde ich im weiteren Verlauf von Teil 1 herausarbeiten, zunächst mit Blick auf seine Interpretation von Kant selbst, im Anschluss daran auf seine Weiterverfolgung der durch Kant gewonnenen Einsichten mit hegelianischen Mitteln. In Teil 2 werde ich schließlich die direkte Auseinandersetzung mit Hegels Bekenntnis zur transzendentalen Deduktion suchen.
2.2.4 Integration in die Einheit der Apperzeption und Gegenstandsbezug Kant ist für Brandom derjenige, der als Erster die Diskursivität des Verstandes in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt und so endgültig mit dem atomistischen, repräsentationalistischen Schema in der Erkenntnistheorie bricht. Zur Objektivität gelangt man nicht durch vermeintliche Eins-zu-eins-Relationen zwischen Ding und Vorstellung. Vielmehr bedarf es des Zugangs über den Zusammenhang der Urteile, die wir fällen, um Objektivität herzustellen. Aufgrund
Brandoms Kant-Interpretation diametral entgegengesetzt ist diejenige von Stefanie Grüne. Für ihre Kritik an Brandom vgl. Grüne, Stefanie, Brandom über Kants Konzeption der Intentionalität, in: Barth / Sturm, Brandoms expressive Vernunft, 91– 115. Grüne selbst sieht Kants Urteilslehre in Nähe zu derjenigen Jerry Fodors und versteht sie ausdrücklich als atomistisch und klassifikatorisch: vgl. Grüne, Stefanie, Blinde Anschauung. Die Rolle von Begriffen in Kants Theorie sinnlicher Synthesis, Frankfurt am Main 2009, 95 f. Brandom, Expressive Vernunft, 140.
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welcher Argumente kann man sagen, dass die Konstitution von Objektivität von unseren Urteilen bzw. unserer Verwendung von Begriffen abhängt? Zur Beantwortung dieser Frage unternimmt Brandom eine Interpretation von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Sie ist das argumentative Rückgrat der „Analytik der Begriffe“. Wie ich zeigen werde, wird sie auch zum Rückgrat für Brandoms Projekt. Im Wesentlichen geht es bei dieser Interpretation um zwei große Schritte. Der erste Schritt betrifft die subjektive Seite: Wie ist das inferentielle Netz des Wissens, das eine Begriffsverwenderin unterhält, näher zu bestimmen? Im zweiten Schritt geht es um die objektive Seite: Wie ist zu rechtfertigen, dass wir kraft eines solchen inferentiellen Netzes tatsächlich Wissen über Gegenstände und Sachverhalte in der Welt gewinnen? Unter den Punkten (1) und (2) exponiere ich diese beiden Schritte, so wie Brandom sie darstellt. Mit den Punkten (3) bis (9) biete ich eine ausführliche Kontextualisierung, die Brandoms besondere Strategie im Umgang mit der transzendentalen Deduktion verdeutlicht und den Ausbau zu einer zusammenhängenden rationalen Rekonstruktion zum Abschluss bringt. (1) Kant definiert den Verstand als das Vermögen zu urteilen. Urteilen bedeutet, etwas zu tun. Die Verantwortung des Verstandes besteht, so hieß es oben bereits, in einer „task-responsibility“. Diese kann wie folgt präzisiert werden: Insbesondere handelt es sich bei ihr um die Verantwortung, das Urteil in eine Einheit der Apperzeption zu integrieren. Die Tätigkeit des Synthetisierens von etwas zu einer Einheit der Apperzeption liefert uns den Hintergrund und den Zusammenhang, vor bzw. in dem mentale Episoden die Bedeutung von Urteilsakten erhalten. Diese Tätigkeit zu vollziehen bringt eine synthetische Einheit der Apperzeption – ein Selbst bzw. Subjekt – hervor, erhält und entwickelt sie. Was muss man hierfür tun? Man muss neue Bejahungen in das Ganze seiner bisherigen Bejahungen integrieren.¹³⁷
Die einzelnen Urteile, die der Verstand fällt, stehen nicht isoliert nebeneinander. Ihre eigentliche Bedeutung erhalten sie vielmehr nur im Zusammenhang mit anderen Urteilen und Überzeugungen. Urteile werden nicht vom Nullpunkt aus gefällt, sondern vor dem Hintergrund eines komplexen Systems von Überzeugungen. Neue Urteile müssen die Frage aushalten, ob sie mit älteren Urteilen kompatibel sind. Sie stehen vor der Herausforderung, ob sie in das bisherige inferentiell gegliederte Überzeugungsgefüge integriert werden können. Wenn sie es können, hat dies wiederum Auswirkungen auf das gesamte Gefüge.
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 27 f.
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Brandom unterscheidet drei Tätigkeiten, die gemeinsam zu einer erfolgreichen Integration in das eigene Überzeugungssystem beitragen. Die erste von ihnen ist die Tätigkeit der Kritik. Sie untersucht die Verträglichkeit verschiedener Urteile miteinander. Dabei akzeptiert sie keine „material miteinander unvereinbare[n] Verpflichtungen“¹³⁸. Entweder wird einer neuen Überzeugung der Eintritt in das Überzeugungsganze verwehrt, oder ältere Überzeugungen müssen im Lichte des neuen Urteils revidiert bzw. aufgegeben werden. Dieses kritische Vorgehen zielt auf die Konsistenz des eigenen Überzeugungssystems.¹³⁹ Wenn die Schranke der Kritik überwunden worden ist, wird zweitens eine Erweiterung des Wissens möglich. Aus der Integration eines neuen Urteils können in Kombination mit bisherigen Überzeugungen weitere Urteile gefolgert werden, und es können die Prämissen aufgesucht werden, die gewissen Urteilen zugrunde liegen: „Jede Verpflichtung gibt einem einen Grund, andere Verpflichtungen zu akzeptieren, die man insofern akzeptieren soll, als man sich bereits durch das Anerkennen der Verpflichtung, aus der sie folgen, implizit auf sie verpflichtet hat“¹⁴⁰. Die Tätigkeit der Erweiterung hat die Vervollständigung des eigenen Wissens zum Ziel.¹⁴¹ Als Drittes besteht eine Verpflichtung zur nachträglichen Rechtfertigung dessen, was man getan hat. Hier wird nun sozusagen die Außenseite der eigenen Wissensansprüche thematisiert, die möglichen Berührungsflächen und Interaktionszonen mit den Wissensansprüchen anderer. Man muss „darauf vorbereitet […] sein, Gründe für die eigenen anerkannten (theoretischen wie praktischen) Verpflichtungen anzugeben. Zu diesem Zweck führt man frühere Verpflichtungen an (oder geht weitere Verpflichtungen ein), die einen inferentiell zu diesen neuen Verpflichtungen berechtigen“¹⁴². Erst wenn das gelingt, wird man seine Überzeugungen gerechtfertigt nennen können. Mit Hilfe dieser drei Tätigkeiten möchte Brandom die Instanz erläutern, der Kant den umständlichen Namen „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“ gegeben hat. Wichtig ist dabei, dass sie keine Instanz „hinter“ den zur Integration nötigen Tätigkeiten darstellt. Vielmehr ist sie nichts anderes als das Zusammenwirken dieser Tätigkeiten. Brandom schlägt folgende Übersetzung der kantischen Termini vor. Durch Kritik, Erweiterung und Rechtfertigung wird „eine
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 28. Das von Sellars übernommene Konzept „materialer Inferenzen“ spielt bereits in Making It Explicit eine entscheidende Rolle; für seine Einführung vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 163 – 171. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 29. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 28. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 29. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 28 f.
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Einheit hervorgebracht, erhalten und entwickelt“¹⁴³, die im oben beschriebenen Sinne normativ durchzogen ist. Diese Einheit ist eine synthetische, weil sie „durch die Tätigkeit des Synthetisierens, das heißt durch das Integrieren unterschiedlicher Verpflichtungen in eine solche Einheit, hervorgebracht wird“¹⁴⁴. Schließlich ist sie „eine ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil ein Akt bzw. eine mentale Episode dadurch zu einem Urteilsakt wird, dass er dem normativen Erfordernis unterliegt, in ein systematisch vereinigtes Ganzes dieser Art integriert zu werden“¹⁴⁵. Apperzeption meint in diesem kantischen Kontext deshalb nicht bloßes Gewahrsein in einem unbestimmten Sinne. Sie ist nicht eine Sache der sentience, sondern der sapience. ¹⁴⁶ So wie Kant den Begriff der Apperzeption verwendet, erfährt er eine Transformation gegenüber der wörtlichen Bedeutung, eine Transformation, die von Brandom kräftig unterstrichen wird: „Apperzipieren heißt Urteilen“¹⁴⁷. Durch diese Überlegungen lernen wir einiges über uns selbst. Die Betonung des dynamischen und holistischen Charakters der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption – was ja nur ein ausführlicher Name für das ist, was sonst Subjekt oder Selbst genannt wird –, macht deutlich, dass die traditionelle Kategorie einer statischen Substanz hier nicht gut angewendet werden kann. Ein solches Subjekt oder Selbst kann besser beschrieben werden als „die sich bewegende, lebendige Konstellation seiner ‚Affektionen‘, das heißt der parallel bestehenden Verpflichtungen, die es ausmachen und gliedern“¹⁴⁸. Mehr sind wir nicht, aber eben auch nicht weniger. Das Bewusstsein der besonderen Auszeichnung und die Anerkennung der eigenen Begrenztheit gehen Hand in Hand. Wenn wir uns nämlich auf diese Weise selbst verstehen, bedeutet das, […] dass wir als normative Lebewesen rationale Lebewesen sind. Damit ist nicht gemeint, dass wir immer oder auch nur in den meisten Fällen so denken und handeln, wie es unsere Gründe von uns verlangen, oder auch nur, dass wir gewöhnlich gute Gründe für das haben, was wir tun und denken. Gemeint ist vielmehr, dass wir in Hinblick auf unsere Gründe, so zu denken, wie wir denken, bzw. das zu tun, was wir tun […], immer für normative Bewertungen angreifbar sind.Wie empfänglich auch immer wir in Wirklichkeit in jeder einzelnen Situation für die normative Kraft von Gründen sein mögen […], wir sind allein dadurch die Art von
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 29. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 29. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 29. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 29 f., 165. Diese Unterscheidung ist grundlegend für Brandom, eingeführt in Ders., Making It Explicit, 5 (übersetzt als „Verstandesfähigkeit“ und „Empfindungsfähigkeit“: Brandom, Expressive Vernunft, 38). Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 30. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 34.
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Lebewesen, die wir sind – Erkenntnis- und Handlungssubjekte, Lebewesen, deren Welt durch die Verpflichtungen und Verantwortungen, die wir eingehen, strukturiert ist –, dass wir immer für normative Bewertungen unserer Gründe angreifbar sind.¹⁴⁹
Die Charakterisierung der grundlegenden Funktion der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption für eine normativ und inferentiell verstandene Erkenntnistheorie ist also zugleich eine Aussage über das Wesen derer, die sie in Anspruch nehmen: darüber, was sie sind und was sie können und sollen. (2) Bisher sind die normativ geregelten Tätigkeiten derer, die Begriffe verwenden, beschrieben worden. Was jetzt zu folgen hat, ist die Untersuchung dessen, worauf die Verwendung von Begriffen zielt. Bisher stand das Subjekt im Fokus. Jetzt ist die Gültigkeit seiner Bezugnahme auf Objekte nachzuweisen. Kant nennt die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption auch eine transzendentale Einheit, weil wir, so Brandom, „von ihr her die Beziehung zu den Gegenständen – die Repräsentation derselben – verstehen müssen“¹⁵⁰. Etwas präziser formuliert lautet die Fragestellung: Wie lässt sich die Referenz auf Gegenstände bzw. ihre Repräsentation (die repräsentationale ‚Von‘-Intentionalität) verständlich machen bzw. als ein notwendiger Unterbau der inferentiellen ‚Dass‘-Intentionalität ausweisen, wenn Letztere vom Urteilen als rationaler synthetisch-integrativer Tätigkeit her verstanden wird?¹⁵¹
Diese Aufgabe visiert das Ziel an, auf das Brandom in seinen Ausführungen über Kant hinauswill. Es ist der zweite Schritt in seiner Rekonstruktion der transzendentalen Deduktion, der aus dem ersten notwendig hervorgeht. Die richtige Antwort auf die offene Frage stellt er sogleich in Aussicht: Die zwischen möglichen Urteilsinhalten bestehenden Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und inferentieller Folgerung, die wir als notwendige Bedingung dafür erkannt haben, dass etwas zu einer rationalen Einheit der Apperzeption synthetisiert werden kann (was nichts anderes ist als zu urteilen), enthalten schon implizit Verpflichtungen bezüglich der Identität und Individuation von Gegenständen, die dementsprechend von diesen Inhalten repräsentiert werden bzw. auf die diese Inhalte Bezug nehmen. ¹⁵²
Wenn ich eine Behauptung aufstelle, in Gedanken oder ausgesprochen, dass es sich mit einem Gegenstand oder Sachverhalt so und so verhält, dann ist hier nicht
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 31. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 30. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 37. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 37.
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nur die gedankliche und sprachliche Ebene im Spiel. Denn es handelt sich um eine gedankliche und sprachliche Behauptung über diesen Gegenstand. Ich darf dann über diesen Gegenstand nichts behaupten, was meiner ersten Behauptung widersprechen würde. Mit Blick auf einen anderen Gegenstand können andere Behauptungen natürlich gestattet sein. Ich darf nicht, so Brandoms Beispiel, über A zugleich behaupten, dass es ein Hund und ein Fuchs sei, während ich durchaus behaupten darf, dass A ein Hund sei, B hingegen ein Fuchs.¹⁵³ Das heißt: Meine normative Bindung auf gedanklicher und sprachlicher Ebene ist nicht ohne den Anspruch und den Versuch einer Referenz auf einen Gegenstand oder Sachverhalt zu erklären. Ohne sie würde das inferentielle Netz in der Luft hängen. Die Frage nach der materialen Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Behauptungen würde zur bloßen Spielerei degenerieren, wollte man auf den repräsentationalen Anspruch verzichten. Gleiches gilt für die Folgerungen, die sich aus einer ersten Behauptung ergeben. Behauptungen legen uns fest für unsere weitere Begriffsverwendung, und sie tun dies stets mit Blick auf die Gegenstände. Wenn ich behaupte, dass A ein Hund ist, dann folgt für dieses A, dass es auch ein Säugetier ist. Dies folgt aber nicht für jede andere Entität: Wenn zwei Eigenschaften miteinander unvereinbar sind, dann ist es für ein und denselben Gegenstand unmöglich, beide zu besitzen, für zwei verschiedene Gegenstände hingegen nicht. Ferner, wenn aus dem Besitz der einen Eigenschaft der Besitz einer anderen folgt, dann wird jeder Gegenstand, der die erste Eigenschaft besitzt, auch die zweite besitzen. Es ist jedoch nicht notwendig, dass irgendein anderer Gegenstand dies tut.¹⁵⁴
So sind die Ebene des Denkens und Sprechens einerseits und die Ebene der Gegenstände und Sachverhalte andererseits notwendig aufeinander bezogen. Die „normative Forderung nach einer rationalen Einheit der Apperzeption“ macht „repräsentationalen Anspruch verständlich“¹⁵⁵. Repräsentationale „Von“-Intentionalität ist in expressiver „Dass“-Intentionalität immer schon impliziert. Brandom sieht darin die Erklärung der „sonst dunkle[n] Behauptung“¹⁵⁶ Kants, dass „die Einheit des Bewußtseins dasjenige [ist], was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objective Gültigkeit, […] ausmacht“¹⁵⁷.
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 37 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 39. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 39. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 39. KrV B 137, zitiert bei Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 39. Dieses Kant-Zitat wird in Kapitel 5 eine wichtige Rolle spielen.
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Mit einem letzten Dreh steuert Brandom diese an Kant anschließenden erkenntnistheoretischen Überlegungen noch weiter in metaphysische Gefilde hinein. Die transzendentale Deduktion hat nach der obigen Darstellung erstens die notwendige normativ-integrierende Funktion des Subjekts für die Formulierung von Urteilen ausgewiesen. Zweitens hat sie gezeigt, dass und wie darin ein Anspruch der Bezugnahme auf Objekte impliziert ist. In beiden Fällen war das Motiv der Gliederung anhand materialer Vereinbarkeiten und Unvereinbarkeiten entscheidend. Die Deduktion deckt also eine Verwandtschaft auf: die strukturelle Verwandtschaft von Subjekten und Objekten. Beide haben dieselbe Struktur, die sich allerdings mit unterschiedlicher Härte aufdrängt: Subjekte und Gegenstände sind einander darin ähnlich, dass sie materiale Unvereinbarkeiten ‚abstoßen‘ und materiale Folgen in sich aufnehmen. Aber sie unterscheiden sich auch voneinander: Für ein und denselben Gegenstand ist es unmöglich, zugleich zwei miteinander unvereinbare Eigenschaften aufzuweisen (oder in unvereinbaren Beziehungen zu stehen), und notwendig, all jene Eigenschaften zu haben, die aus den von ihm bereits besessenen Eigenschaften folgen. Für ein und dasselbe Subjekt ist es dagegen lediglich unangemessen, zugleich miteinander unvereinbare Verpflichtungen einzugehen, und verpflichtend, all jene Verpflichtungen anzuerkennen, die aus den von ihm bereits anerkannten Verpflichtungen folgen. Im Fall der Gegenstände sind die Beziehungen von Aus- und Einschluss alethischmodal – in ihnen geht es also darum, was möglich bzw. unmöglich ist und was notwendig bzw. nicht notwendig ist. Im Fall der Subjekte sind die Beziehungen von Aus- und Einschluss deontisch-normativ – hier geht es darum, wozu jemand berechtigt ist (oder nicht ist), mithin darum, für normative Bewertung und Kritik angreifbar zu sein.¹⁵⁸
Auf diese Weise bietet die Deduktion am Ende nicht weniger als ein metaphysisches Individuationskriterium. Was einen Gegenstand ausmacht und was ein Subjekt ausmacht – beides kann mittels des Konzepts materialer Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit erklärt werden. In einer chiastischen Figur formuliert Brandom: Ein einzelner Gegenstand ist gerade das, was (zur gleichen Zeit) keine miteinander unvereinbaren Eigenschaften haben kann. Es ist also ein wesentliches und individuierendes Merkmal des metaphysischen, kategorial-sortalen Metabegriffs Gegenstand, dass Gegenstände die Metaeigenschaft besitzen, Unvereinbarkeiten modal abzustoßen“; und es ist „ein wesentliches und individuierendes Merkmal des metaphysischen, kategorial-sortalen Metabegriffs Subjekt, dass Subjekte die Metaeigenschaft besitzen, Unvereinbarkeiten normativ abzustoßen. Ein einzelnes Subjekt ist gerade das, was (zur gleichen Zeit) keine unvereinbaren Verpflichtungen haben sollte. ¹⁵⁹
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 43 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 44.
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Für Brandom besteht in dem soeben Ausgeführten die metaphysische Schlusspointe seiner Kant-Interpretation. Er betont, dass dies tatsächlich eine Lehre aus Kant sei – freilich auch, dass sich von hier aus nahelegt, den Weg weiter in Richtung Hegel zu gehen.¹⁶⁰ (3) Nach dieser Exposition von Brandoms Umgang mit Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe soll nun der Ausbau zu einer rationalen Rekonstruktion zum Abschluss gebracht werden. Dabei werde ich wiederum Brandoms teils verborgene Strategie zutage fördern und seine metaphysischen Absichten aufdecken. Brandom hat mit Kant zwei argumentative Schritte vollzogen. Er hat die integrierende Funktion der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption als die Basis für die Unterhaltung eines inferentiell gegliederten Überzeugungssystems erläutert. Und er hat die repräsentationale Bezugnahme auf Gegenstände und Sachverhalte als ihr notwendiges Implikat ausgewiesen. Meine folgende Bearbeitung orientiert sich an diesen beiden Schritten, thematisiert also zunächst die subjektive Seite (Punkte 4 bis 6), darauf die objektive Seite (Punkte 7 bis 9). Es geht im Folgenden nicht darum, Brandoms selektivem Zugriff eine lückenlose Kant-Exegese entgegenzuhalten. Gleichwohl wird es nötig sein, eben um Brandoms Strategie profilieren zu können, sein Vorgehen sowohl mit Kants Text als auch mit weiteren Stimmen, die sich auf Kant berufen, in ein Kontrastverhältnis zu setzen. Eine wichtige Rolle wird dabei Peter F. Strawson spielen, dessen Buch The Bounds of Sense von 1966 bereits in der Einleitung als Paradebeispiel für eine rationale Rekonstruktion wichtiger Einsichten Kants benannt worden ist. Brandom erwähnt ihn zwar so gut wie nie.¹⁶¹ Zwei Gründe sprechen jedoch für die Kontrastierung mit Strawson. Der erste Grund besteht darin, dass er eine Schlüsselrolle in der Diskussion um die Kritik der reinen Vernunft und speziell die transzendentale Deduktion gespielt hat. Spätere Studien zu Kant haben sich häufig an Strawsons Interpretation abgearbeitet (z. B. im Falle Dieter Henrichs)¹⁶² Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 44– 47. In Making It Explicit und Wiedererinnerter Idealismus kommt Strawson nicht vor. Brandom verweist auf ihn andernorts lediglich als eine der großen Gestalten, die das „golden age of analytic readings of Kant“ eröffnet hätten (Brandom, Between Saying and Doing, 206; für eine ähnliche Formulierung vgl. Ders., Tales of the Mighty Dead, 104). Vgl. die autobiographisch gefärbte Passage bei Henrich, Dieter, Wie ist Subjektivität zu begreifen? Antwort auf Ulrich Barth, in: Langthaler, Rudolf, Hofer, Michael (Hg.), Selbstbewusstsein und Gottesgedanke. Ein Wiener Symposion mit Dieter Henrich über Philosophische Theologie, Wien 2010, 54– 80, besonders 55 – 69. Henrich hält bezüglich Strawsons fest: „Ich selbst habe in der Opposition zu ihm, die für mich eine große Herausforderung war, die Strategie entwickelt, dem ‚ichʻ des ‚ich denkeʻ einen Bezug auf ein Subjekt in Gedanken zuzuordnen. Des
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oder sie hymnisch begrüßt (so z. B. John McDowell in Mind and World)¹⁶³. Der zweite Grund ergibt sich aus der systematischen Konstellation. Auf den ersten Blick scheint eine enge Verwandtschaft zwischen dem zu bestehen, was Strawson beabsichtigt und tut, und dem, was ich bei Brandom unterstreichen möchte. In seinem Hauptwerk Individuals von 1959 unternahm es Strawson, „die allgemeinsten Grundzüge unserer begrifflichen Strukturen freizulegen“¹⁶⁴, und dies zum Zwecke einer, wie er es nannte, deskriptiven Metaphysik. Es ging ihm um die ontologischen Implikationen des Zusammenhangs der Begriffe, die wir verwenden. Die Interpretation Kants diente ihm zur Stützung seines Projekts. In all dem besteht eine Nähe zu Brandom bzw. zu der Fragestellung, die mich in dieser Arbeit beschäftigt. Allerdings offenbart sich gerade in den ontologischen Implikationen und Konsequenzen der Unterschied zwischen Strawson und Brandom. Aufgrund dieser Konstellation scheint mir ihr Vergleich attraktiv zu sein. (4) Das Raster zu Kants Urteilslehre, das ich oben angeführt habe, ist so angeordnet, dass es recht klassisch erscheinen mag: Ausgang von der Subjektseite hinein in die Welt der Objektivität und bereicherte Rückkehr aus ihr in die innere Welt des Subjekts. Dieser Vorgang ist allerdings auf eine ganz bestimmte Weise zu verstehen. Brandom hat das Urteilen als eine durch und durch normative Tätigkeit beschrieben, als Übernahme von Verantwortung. Es ist nun näher zu betrachten, wie er damit das involvierte Subjekt charakterisiert hat. Verschiedentlich ist nämlich der Vorwurf erhoben worden, dass Brandom das, was Kant mit Subjekt gemeint habe, nicht oder nur zum Teil treffe. Bei Brandom falle zugunsten der normativen Lesart der Aspekt des privilegierten Selbstzugangs aus.¹⁶⁵ Weiteren muss dessen Zusammenhang mit der Person, von der man sagen kann, dass sie in einem gewissen Sinne dies Subjekt sei, dann in seiner Besonderheit ausgewiesen werden. Strawson wollte zeigen, dass sich an seine Strategie eine schwache Form einer Kant nahen Deduktion anschließen lässt. Ich selbst denke dagegen, dass eine argumentanalytische Deduktion, die an Kants eigenen Intentionen festhält, wirklich nur mit der zweiten Strategie Erfolg haben kann“ (62). Systematisch ausgeführt sind Henrichs Argumente zuletzt in Henrich, Dieter, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007. Für das mehrfache Bekenntnis zu Strawson vgl. McDowell, Geist und Welt, 8, 68 f., 125 – 134. – Zu beachten ist, dass es bei McDowell eine Entwicklung der Kant-Deutung gegeben hat, durch die sie aus ihrer ausschließlichen Orientierung an Strawson herausgewachsen ist.Vgl. dazu Haag, Johannes, McDowells Kant und McDowells Sellars, in: Barth, Christian, Lauer, David (Hg.), Die Philosophie John McDowells. Ein Handbuch, Münster 2014, 179 – 202. Mit Blick auf die transzendentale Deduktion bleibt allerdings der Dissens zwischen McDowell und Brandom bestehen. Strawson, Peter F., Einzelding und logisches Subjekt (Individuals). Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik, Stuttgart 2003, 9. So z. B. die Kritik bei Dohrn, Brandoms kantische Lehren, 73.
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In der Tat ist Brandom nicht am privilegierten Selbstzugang interessiert. In seiner Konzeption geht es gerade nicht um die Rückkehr aus der äußeren in die innere Welt des Subjekts. Dieses Bild auf Brandom anzuwenden, wäre unglücklich. Es geht ihm auch nicht darum, den einmaligen Zugang zu den eigenen mentalen Zuständen besonders hervorzuheben. Vielmehr ist Brandom daran gelegen, mentale Zustände – seien sie, was sie wollen – als Wissen zu qualifizieren. Er beschreibt dies als einen Prozess. Den Ausgangspunkt benennt er mit dem kantischen Terminus des „Ich denke“. Eine mögliche Übersetzung dafür wäre: „Ich bin verantwortlich“. Hiermit ist der Eintritt in den Raum der Gründe markiert. Das Subjekt wird sich der Verpflichtung bewusst, dass es Rede und Antwort stehen muss, wenn es als ein wissendes anerkannt werden möchte. Es wird sich bewusst, worin seine Aufgabe besteht. Deren Zielpunkt wiederum wird markiert durch die oben beschriebene Integration verschiedener Überzeugungen in die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption. Brandom unterscheidet in seiner Redeweise konsequent zwischen diesen beiden kantischen Termini. Das ist stärker als bei Kant selbst.¹⁶⁶ Und Brandom beschreibt die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption in einer Weise, die sowohl ihren Voraussetzungscharakter in Bezug auf einzelne Urteile betont als auch ihren Ergebnischarakter deutlich herausstellt. Sie werde hervorgebracht, erhalten und entwickelt, hat es geheißen, sie sei die „sich bewegende, lebendige Konstellation“ ihrer Verpflichtungen. Wozu macht Brandom das? Worauf will er hinaus, wenn er die Rede vom „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, depotenziert und die (recht umständliche) Rede von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption aufwertet? Ich sehe darin den Versuch, alles fernzuhalten, was als Konzession an eine innere Erlebniswelt aussehen könnte. Brandom will weg vom „mind-stuff“. Kant wollte das auch. Sein Interesse war nicht Introspektion, sondern transzendentale Begründung.¹⁶⁷ Aber er musste doch sehr darum kämpfen,
Bei Kant ist es eher eine Zirkelformulierung: „Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine nothwendige Beziehung auf das: I c h d e n k e , in demselben Subject, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der S p o n t a n e i t ä t , d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die r e i n e A p p e r c e p t i o n , um sie von der e m p i r i s c h e n zu unterscheiden, oder auch die u r s p r ü n g l i c h e A p p e r c e p t i o n , weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung: I c h d e n k e , hervorbringt, die alle andere muß begleiten können und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann“ (KrV B 132). Sehr treffend formuliert Heiner Klemme: „Es gehört zu den Spezifika der ‚Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘, daß Kant die Frage, wie subjektive und objektive Einheit des Bewußtseins zusammenhängen, nicht detailliert verfolgt, weil sie für das Beweisziel des Deduktionskapitels, zu zeigen, daß Kategorien objektive Gültigkeit haben, nicht von Relevanz
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seinen Zeitgenossen die Differenz zwischen dem transzendentalen „Ich denke“ und dem empirischen „inneren Sinn“ auseinanderzulegen.¹⁶⁸ Brandom hat für sein philosophisches Projekt die innere Erlebniswelt von vornherein als nicht relevant verabschiedet. Der Weg zwischen ontologischem Dualismus und reduktivem Naturalismus hindurch führt für ihn einzig über die Normativität der Verstandestätigkeit. Er ist nicht interessiert an der Diskussion des Verhältnisses von reiner und empirischer Apperzeption, und deshalb spart er sie auch in seiner Kant-Lektüre ohne zu zögern aus.¹⁶⁹ Strawson hat gegen Kant den Vorwurf erhoben, er würde mit der Art und Weise, wie er seine Lehre vom Ich vortrage, „dem imaginären Fach der transzendentalen Psychologie“¹⁷⁰ frönen. Um dies zu vermeiden, solle auf die Unterscheidung der Vermögen von Sinnlichkeit und Verstand und auf Seiten des Letzteren insbesondere auf den Begriff der Synthesis verzichtet werden.¹⁷¹ Folgt man diesem Rat, geht freilich alle Normativität verloren. Strawson interpretiert die Einheit der Apperzeption allein im Sinne der Selbstzuschreibung mentaler Zustände. Dies ist sicherlich ein Aspekt an ihr. Getrennt vom Konzept der Synthesis bleibt es aber reiner Zufall, welche Zustände ich mir zuschreibe und in welchen Zusammenhang ich sie bringe.¹⁷² Strawsons empiristische Erklärung, mit ist: Psychologische Fragestellungen gehören nicht in den Bereich der Transzendentalphilosophie“ (Klemme, Heiner F., Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Hamburg 1996, 195). In der Kritik der reinen Vernunft tut er es mehrfach, in den §§ 24 und 25 der transzendentalen Deduktion der B-Auflage und dann im Paralogismen-Kapitel. Zur interessanten Vorgeschichte von Kants eigenem Ringen um eine Differenzierung vgl. Mohr, Georg, Kants Grundlegung der kritischen Philosophie.Werkkommentar und Stellenkommentar zur Kritik der reinen Vernunft, zu den Prolegomena und zu den Fortschritten der Metaphysik = Kant, Immanuel, Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar, hg. von Georg Mohr, Bd. 3, Frankfurt am Main 2004, 213 – 217. Möglicherweise verzichtet Brandom deshalb auch durchweg auf die Verwendung der Formel von der „transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins“, welche ja wenigstens etwas handlicher klingen würde als die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“. Wie der Begriff der „Erfahrung“, so wird auch der Begriff des „Selbstbewusstseins“ von Brandom erst mit Hilfe Hegels eingeführt: vgl. dazu unten 3.1.2. Strawson, Grenzen des Sinns, 26, 82. Vgl. Strawson, Grenzen des Sinns, 25 f., 79 – 98. Treffend wird dieser Schwachpunkt von Hansgeorg Hoppe benannt: „Bei Strawson […] ist das Problem des Zusammenhangs unserer Vorstellungen zwar nicht übergangen, aber es ist eben nicht als das zentrale Problem behandelt, von dem her allein sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung beantworten läßt“ (Hoppe, Hansgeorg, Synthesis bei Kant. Das Problem der Verbindung von Vorstellungen und ihrer Gegenstandsbeziehung in der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin, New York 1983, 16). Wenn Strawson als Minimalergebnis der transzendentalen Deduktion festhält, „daß jeder Verlauf der Erfahrung, von dem wir uns eine ko-
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der er den Anschein der transzendentalen Psychologie vermeiden will, verwandelt sich so auf der Stelle selbst in einen Fall von Mentalismus. Für Kant hingegen ist der entscheidende Punkt seiner Deduktion, Selbstzuschreibung als eine Tätigkeit zu verstehen, die nach Gesetzen erfolgt. Je-Meinigkeit ist nur im Sinne von je-mir-nach-Gesetzen-zugeschrieben-habend zu verstehen.¹⁷³ Brandom geht in dieser Frage im diametralen Gegensatz zu Strawson vor. Er sieht, dass wir den Mentalismus gerade dann vermeiden, wenn wir den normativen Begriff der Synthesis starkmachen. Ein Einwand könnte nun darin bestehen, dass sowohl Brandoms normative als auch Strawsons empiristische Lesart einen selektiven Umgang mit der Deduktion pflegen und für die Zwecke, die sie verfolgen, die eine der bei Kant vorhandenen Seiten zuungunsten der jeweils anderen überhöhen. Brandom würde darauf vermutlich antworten: Ja, das ist so – aber was wir nachhaltig von Kant lernen können, ist eben seine normative Theorie des Verstandes. Wenn wir Empirismus einstudieren wollten, bräuchten wir uns dafür nicht mehr auf Kant zu berufen. Mir scheint, dass das durchaus ein strategischer Punkt in systematischer Absicht ist, mit dem für Brandoms Kant-Interpretation geworben werden kann.¹⁷⁴ (5) Die Bewegung weg von der inneren Erlebniswelt kann auch positiv beschrieben werden als ein Weg hinein in die gemeinsame Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen. Das Subjekt, das Brandom mit Hilfe Kants beschreiben möchte, ist kein isoliertes, sondern es taucht im Plural auf, als Subjekt unter Subjekten, als Begriffsverwender unter Begriffsverwendern, im Kontext einer gemeinsam geteilten Praxis. Meines Erachtens ist das der weitaus größere Schritt, den Brandom über Kant bzw. dessen Text hinaus macht, nicht die Auszeichnung des Normativen vor dem Mentalen. Was Kant in der transzendentalen Deduktion als Apperzeption beschreibt, ist eine allgemeine Struktur, die als solche für alle einzelnen Subjekte gleich ist. Einzelne Subjekte nehmen diese allgemeine Struktur in ihren konkreten Erkenntnisvollzügen in Anspruch. Sie manifestiert härente Konzeption machen können, potentialiter die Erfahrung eines selbstbewußten Subjektes sein muß und als solche eine derartige interne, begrifflich strukturierte Verknüpftheit aufweisen muß, daß sie (zumindest teilweise) einen Erfahrungsverlauf von einer objektiven Welt darstellt, die so aufgefaßt wird, daß sie selber den Erfahrungsverlauf bestimmt“ (Strawson, Grenzen des Sinns, 98), darf man in der Tat nachfragen, was denn „interne, begrifflich strukturierte Verknüpftheit“ ohne den Begriff einer gesetzmäßigen Synthesis bedeuten soll. In diesem Sinne vgl. auch Allison, Henry E., Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense. Revised and Enlarged Edition, New Haven (CT), London 2004, 174– 176. Eine vergleichbare Intention, ebenfalls in Abgrenzung zu Strawson, verfolgt Longuenesse, Béatrice, Kant and the Capacity to Judge. Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason, Princeton (NJ), Oxford 1998.
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sich in diesen konkreten Vollzügen, ist ihnen als Bedingung der Möglichkeit aber logisch vorgelagert. Treffend hat es Günter Zöller formuliert: „Für den kritischen Kant ist Apperzeption keine psychische oder mentale Entität, sondern oberste Strukturbedingung des Wissens, die sich subjektiv manifestiert, aber intersubjektiv invariant vorliegt und insofern objektiv valide ist“¹⁷⁵. Kant hat in der Deduktion allerdings nicht eigens ausgesprochen, wie der Zusammenhang der einen allgemeinen Subjektstruktur mit den vielen einzelnen Subjekten zu bestimmen sei.¹⁷⁶ Brandom zieht diese beiden Seiten kurzerhand zusammen. Die Frage stellt sich für ihn gar nicht. In Brandoms Lesart gibt es bzw. ergibt sich die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption nicht anders als im Diskurs mehrerer Subjekte. Aus diesem Umstand erklärt sich die etwas heikle Formulierung Brandoms, Subjekte oder Selbste würden produziert.¹⁷⁷ Es sind immer endliche, empirische Subjekte, die jeweils ein in seiner Konsistenz, seinem Umfang und seiner Rechtfertigung begrenztes Gefüge von Überzeugungen unterhalten. Brandom vermeidet es also, von Kants Subjektbegriff zur inneren Erfahrung eines Individuums überzugehen. Hingegen verknüpft er ihn mit der äußeren Welt einer Gemeinschaft von sprachlich interagierenden Subjekten. Auch hier lohnt sich ein Vergleich mit Strawson. Dessen Anliegen war ebenfalls, Kants transzendentalen Subjektbegriff von seiner Abstraktheit zu befreien und an die Beschaffenheit endlicher Personen zurückzubinden. Nachdem Strawson die Erfordernis der Selbstzuschreibung als den Hauptpunkt der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption etabliert hat, macht er seinem Kant den hypothetischen Einwand, „daß die Zuschreibung verschiedener Zustände oder Bestimmungen an ein identisches Subjekt davon abhängt, daß irgendein Mittel existiert, das Subjekt solcher Zuschreibungen als ein Objekt unter anderen zu unterscheiden und zu identifizieren“¹⁷⁸. Es seien also „empirisch anwendbare Identitätskriterien“¹⁷⁹ vonnöten. Für den gesunden Menschenver-
Zöller, Günter, Art. „Apperzeption“, in: Willaschek, Marcus, Stolzenberg, Jürgen, Mohr, Georg, Bacin, Stefano (Hg.), Kant-Lexikon, Bd. 1, Berlin, Boston 2015, 145 – 150, 145. Erst in den Paralogismen thematisiert er das Verhältnis von mir zu anderen Subjekten, denen ich ihr Subjektsein in Analogie zu dem meinigen zuschreibe. Damit wird die Frage nach Allgemeinheit und Einzelheit der Subjektivität zumindest angerissen. Vgl. dazu die wichtigen Ausführungen bei Rosefeldt, Tobias, Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst, Berlin, Wien 2000, 22– 26. Darüber hinaus ist dies natürlich ein entscheidendes Motiv der praktischen Philosophie Kants. Vgl. die weiter oben bereits zitierte Stelle: „Diese Tätigkeit [des Synthetisierens bzw. Integrierens; T.H.] zu vollziehen bringt eine synthetische Einheit der Apperzeption – ein Selbst bzw. Subjekt – hervor, erhält und entwickelt sie“ (Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 28). Strawson, Grenzen des Sinns, 86. Strawson, Grenzen des Sinns, 86.
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stand stelle das natürlich kein Problem dar: „In der Praxis ist die Bedingung dadurch erfüllt, daß jeder von uns ein körperlicher Gegenstand unter anderen körperlichen Gegenständen ist, in der Tat ein Mensch unter Menschen ist“¹⁸⁰. Kants blutarmes Subjekt, so die Kritik, sei von diesen Einsichten des gesunden Menschenverstandes jedoch weit entfernt. Strawson begegnet dem Einwand, indem er ihm inhaltlich zustimmt, aber die Möglichkeit seiner Anwendung auf Kant zurückweist. Dessen Konzept des Subjekts sei eigentlich gar nicht so extravagant, wie es zunächst aussehe. Kant habe lediglich vertreten, dass die Selbstzuschreibung eine notwendige Bedingung ist, um von Subjekten zu sprechen. Ob es auch die hinreichende Bedingung sei, darüber habe er sich nicht geäußert. Daher sei es möglich, von seinen abstrakten Ausführungen wieder in die Erfahrungswelt umzuschwenken und den Begriff des Subjekts an den der Person bzw. des Menschen – des Menschen mit seinem individuellen Körper und mit seiner je eigenen Geschichte – zurückzubinden.¹⁸¹ Dies führt Strawson in der Rekonstruktion des Paralogismen-Kapitels durch.¹⁸² Kant habe zwar leider nur „im Vorbeigehen“¹⁸³ darauf angespielt, aber es sei doch in seiner „Position ganz klar impliziert, daß jeder Gebrauch des Begriffs eines numerisch identischen Subjekts von Erfahrungen, das in der Zeit dauert, empirisch anwendbare Identitätskriterien verlangt“¹⁸⁴. Das Argument dafür, das die Kritik der reinen Vernunft in der Form nicht bietet, um das sie aber ohne Widerstand ergänzt werden könne, besteht für Strawson darin, dass auch die scheinbar von ihrer Umwelt losgelöste unmittelbare Selbstzuschreibung von inneren Erfahrungen – wie „Ich habe Schmerzen“ – ein empirisches Identitätskriterium voraussetze, wie es ebenso in der Fremdzuschreibung zum Einsatz komme:
Strawson, Grenzen des Sinns, 86. Vgl. Strawson, Grenzen des Sinns, 87– 91. – Im Anschluss an Strawson bewegen McDowell ähnliche Probleme. Wenn man Kant wörtlich nehme, dann schrumpfe das Subjekt „zur Kontinuität eines bloßen Gesichtspunktes zusammen“ (McDowell, Geist und Welt, 126). Um der Sache Sinn abzugewinnen, müsse man einen weiteren Schritt tun: „Der breitere Kontext ermöglicht es zu verstehen, daß die erste Person – der kontinuierliche Bezugsgegenstand des ‚Ich‘ im ‚Ich denke‘, das ‚alle meine Vorstellungen begleiten können‘ muß – auch eine dritte Person ist, deren Weg durch die objektive Welt eine substantielle Kontinuität abgibt, so daß andere Formen des kontinuierlichen Denkens darüber tatsächlich erfordern würden, daß man es im Auge behält. […] Ich denke, etwas in dieser Richtung gibt den passenden Rahmen für den Kantischen Gedanken ab, daß das Selbstbewußtsein und das Bewußtsein von der Welt wechselseitig voneinander abhängen“ (128). Vgl. Strawson, Grenzen des Sinns, 140 – 150. Strawson, Grenzen des Sinns, 142. – Gegen Strawson hat Tobias Rosefeldt darauf hingewiesen, dass Kant das Problem durchaus explizit angehe: vgl. Rosefeldt, Das logische Ich, 106. Strawson, Grenzen des Sinns, 141.
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‚Ich‘ kann ohne Kriterien für Subjekt-Identität gebraucht werden und doch auf ein Subjekt Bezug nehmen. Es kann dies, weil es – vielleicht – öffentlich aus dem Mund eines Menschen kommt, der als die Person, die er ist, durch die Anwendung empirischer Kriterien für persönliche Identität erkennbar ist. […] ‚Ich‘ kann ohne Kriterien der Subjekt-Identität gebraucht werden und doch auf ein Subjekt bezugnehmen, weil sogar in einem derartigen Gebrauch die Verknüpfungen mit jenen Kriterien in der Praxis nicht zerschnitten sind.¹⁸⁵
Im Hintergrund stehen hier Strawsons Ausführungen zur Ontologie von Personen in Individuals. ¹⁸⁶ Was lässt sich sehen, wenn wir Brandoms Bild von Kants Subjekt gegen diese Folie halten? Zunächst können zwei Gemeinsamkeiten ausgemacht werden. Sowohl Brandom als auch Strawson fokussieren auf konkrete Erfahrungssubjekte. Ebenfalls spielt bei beiden eine Form der sprachlichen Gemeinschaft solcher Subjekte eine Rolle: bei Brandom durch das Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen, bei Strawson über den Gedanken, dass Selbstzuschreibung Fremdzuschreibung voraussetzt. Gerade in Bezug auf den zweiten Punkt ist aber auch eine eklatante Differenz festzustellen. Für Strawson geht es beim Konzept des Vorrangs der Fremdzuschreibung letztlich nicht um wechselseitige sprachliche Interaktion. Für ihn ist entscheidend, dass beim Ausdruck privater Selbstzuschreibungen auf einen Gegenstand referiert wird, der, wie alle anderen Gegenstände auch, vom Standpunkt der 3. Person aus nach empirischen Kriterien beschrieben werden kann. Die Methode, die Strawson anwendet, ist zwar eine Analyse des Begriffsgebrauchs. Eigentlich aber ist ihr eine Ontologie schon vorausgesetzt. Für ihn sind die Dinge das Kriterium der Begriffe. Strawson hat sich schon längst für den Atomismus entschieden.¹⁸⁷ Brandom hingegen hat an dieser Stelle noch gar nicht über Dinge gesprochen. Seine Analyse der Begriffsverwendung verschränkt die Perspektiven von 1., 2. und 3. Person. Wir sind erst noch auf dem Weg zu einer Metaphysik. Am Anfang steht der Raum der Gründe – erst am Ende die Beant-
Strawson, Grenzen des Sinns, 142 f. Für den Begriff der numerischen Identität von Einzeldingen vgl. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, 38 – 47; für die Privilegierung des empirischen Person- vor dem Subjekt- bzw. Bewusstseinsbegriff vgl. 130 – 133. Eine affirmierende Rekonstruktion von Strawsons Position bietet Mohr, Georg, Vom Ich zur Person. Die Identität des Subjekts bei Peter F. Strawson, in: Frank, Manfred, Raulet, Gérard, van Reijen, Willem (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt am Main 1988, 28 – 84. Die Opposition Henrichs zu dieser Position Strawsons ist bereits erwähnt worden. Für eine Kritik der von Henrich und anderen vorgetragenen Argumente vgl. wiederum Mohr, Vom Ich zur Person, 67– 76. Dies wird auch von Mohr konzediert: Strawson arbeite mit zwei Prämissen, die er nicht weiter in Frage stelle, nämlich dass empirische Erfahrung immer mit Einzeldingen bzw. einzelnen sinnlichen Daten operiere sowie dass sie immer eine zeitliche Ordnung habe (vgl. Mohr, Vom Ich zur Person, 35).
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wortung der Frage nach seiner ontologischen Verfasstheit. Auch bei Brandom muss „der stolze Name einer Ontologie […] dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen“¹⁸⁸. In dieser Hinsicht ist er weit radikaler an Kant orientiert, als Strawson es ist.¹⁸⁹ Abermals könnte man einwenden, dass Brandom in vielen anderen Hinsichten nicht an Kant orientiert ist. Insbesondere seine intersubjektive Lesart der ursprünglich-synthetischen Apperzeption scheint philologisch unbedarft und systematisch fragwürdig zu sein. Die Problematik des Verhältnisses von Subjekt und Gemeinschaft sowie von Subjekt und Individuum wird in Kapitel 5 ausführlich zum Thema werden. Wird hier zunächst Brandoms Strategie betrachtet, lässt sich festhalten, dass seine Kant-Lektüre offensichtlich dazu dienen soll, die These von der Unwichtigkeit der Frage nach dem „mind-stuff“ zu untermauern. Brandom will betonen, dass hinter der Tätigkeit des Synthetisierens nicht noch etwas Anderes steckt, nicht noch eine mysteriöse Entität verborgen ist. Das Subjekt ist für ihn nichts anderes als der besagte Prozess.¹⁹⁰ Es liegt nicht einfach am Anfang vor, sondern es muss immer wieder zum Resultat werden – zu einem Resultat freilich, das den Prozess seines Zustandekommens oder besser: seines aktiven Selbsthervorbringens umfasst. Das erinnert schon sehr an Hegels Ausführungen in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. ¹⁹¹ Der Umstand, dass Brandom diese Gedanken bereits bei Kant findet, fügt sich einmal mehr in sein Programm ein, gewisse Aspekte zu unterstreichen und andere beiseite zu lassen, um den Wald vor lauter Bäumen nicht zu übersehen. Er will profilieren, was Kant „Spontaneität“ nennt. Auf jeden Fall wird es dadurch umso leichter, Hegel als konsequenten Nachfolger Kants – und nicht etwa als dessen Widerpart – in die Erzählung einzufügen. (6) Aus den vorgenommenen Operationen ergibt sich ein neues Bild von Wissen. In Brandoms Darstellung ist mittels Kants Subjektbegriff immer schon Intersub-
KrV B 303 / A 247. In der Ablehnung der Anwendung von Strawsons Personen-Ontologie auf Kant folgt Brandom Sellars. Diesem zufolge habe Strawson Kants Absichten aus dem Paralogismen-Kapitel verdreht: vgl. Sellars, Wilfrid, „… this I or he or it (the thing) which thinks…“, in: Ders., In the Space of Reasons. Selected Essays, hg. von Kevin Sharp und Robert B. Brandom, Cambridge (MA), London 2007, 411– 436, 418. Vgl. in diesem Sinne wieder Sellars: Kant „tells us, in effect, that the conceptual burden of the ‚proposition ‘I think’‘ is carried by the verb ‘to think’“ (Sellars, this I or he or it, 415).Während man zwischen jedem materiellen Gegenstand und seiner Aktivität unterscheiden könne, sei es unmöglich, das Ich von der Tätigkeit des Denkens abzulösen. Das „Ich denke“ bedeute daher weit mehr als „Ich habe Gedanken“ (vgl. 418). Vgl. GW 9,19 f.
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jektivität mitgesagt und damit eine Gemeinschaft endlicher Subjekte. Ohne diesen Gemeinschaftsaspekt fiele das Element der Rechtfertigung des Wissens weg – das Darauf-vorbereitet-sein, Gründe für die eigenen Überzeugungen anzuführen –, das zur Kritik und zur Erweiterung hinzutreten muss. Mit dieser Verschränkung von Subjekt und Gemeinschaft scheint Kants „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“ als eine Art Kurzformel für das fungieren zu sollen, was Brandom in den Kapiteln 3 und 4 von Making It Explicit in aller Breite verhandelt hat. Insbesondere die gegen den Fundationalismus gerichteten Ausführungen über die Begriffe der Rechtfertigung und des Wissens spiegeln sich hier wider. Rechtfertigung wird nicht durch den Rückgang auf einen elementaren empirischen Grund erreicht, sondern innerhalb einer sozialen Praxis vollzogen. Wissen wird Personen zugewiesen: „Hält man jemanden für einen Wissenden, dann weist man ihm eine Festlegung sowie die Berechtigung zu ihr zu, und man erkennt für sich selbst die Festlegung auf denselben Inhalt an“¹⁹². Dies geschieht gemäß der inferentiellen Qualität dessen, was sie oder er behauptet. Dabei wird eine „Vorschuß- und Anfechtungsstruktur“¹⁹³ in Anspruch genommen: Anfechtung, insofern man sich dem Fordern von Gründen tatsächlich aussetzen muss, um ein ernstzunehmender Gesprächspartner zu bleiben; Vorschuss, weil im Diskurs (im Normalfall) zwar einige, aber nicht alle Behauptungen angefochten werden. Mit dieser Einschränkung soll der fundationalistischen Sorge begegnet werden, es müsse für das, was man Wissen nennt, eine perfekte, lückenlose Begründung gegeben werden können. Wenn man so weit gehe, dann komme es „schlicht zu keinem Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen“¹⁹⁴, weil man gar nicht wisse, wo man anfangen solle. Ebenfalls gilt die Einschränkung mit Blick auf die Anfechtung. Auch sie kann wiederum angefochten, auch für sie können Gründe verlangt werden. Die Anfechtende nimmt also ihrerseits einen Vorschuss in Anspruch.¹⁹⁵ So ergibt sich ein Netz des Vertrauens, das die einzelnen Behauptungen trägt. Es ist freilich alles andere als festgezurrt, sondern immer in Bewegung. Die Vorschuss- und Anfechtungsstruktur besteht in einem „dynamischen Prozeß des Erwerbs und Verlustes von Berechtigungen durch verschiedene Festlegungen seitens verschiedener Gesprächspartner […] und des Versagens solcher Ansprüche und Zuweisungen“¹⁹⁶. Brandoms Übernahme von Kants „ursprünglich-synthetischer Einheit der Apperzeption“ macht darüber hinaus eine Ausdifferenzierung möglich. Das wird
Brandom, Expressive Vernunft, 300. Brandom, Expressive Vernunft, 268, 304. Brandom, Expressive Vernunft, 267. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 267. Brandom, Expressive Vernunft, 304.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
übersehen, wenn man sich allein auf den Vorwurf beschränkt, Brandom biege die Rede vom Subjekt gegen den Text und gegen die Intention Kants in eine soziale Intersubjektivität um (und darin nur einen weiteren Beleg für die zum Gemeinplatz gewordene Subjektvergessenheit der analytischen Philosophie erblickt). Brandoms Beschäftigung mit Kant bringt nämlich „mehr Subjekt“ in seine Theorie hinein, als zuvor da war. An drei Punkten möchte ich das festmachen. Erstens leistet Brandom mit Hilfe Kants eine Erhellung des existentiellen Selbstbildes von Subjekten. Dies geschieht sowohl trotz als auch wegen der Kritik am „mind-stuff“ und des Desinteresses an innerer Erfahrung. Für die Grundlegung einer Philosophie entscheidend – für den Ausweis dessen, was Wissen ist –, ist die Qualifikation mentaler Episoden zu Urteilen, darin gibt Brandom nicht nach. Wichtig bleibt allerdings, dass diese normative Auszeichnung zugleich das Faktum der Endlichkeit unserer Praxis und damit auch unserer Existenz unterstreicht. Nochmals sei Brandoms Klarstellung zitiert, dass er mit seiner Lesart der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption nicht etwa vertrete, „dass wir immer oder auch nur in den meisten Fällen so denken und handeln, wie es unsere Gründe von uns verlangen, oder auch nur, dass wir gewöhnlich gute Gründe für das haben, was wir tun und denken“¹⁹⁷. Wir müssten lediglich damit rechnen, dass es sein könne, dass wir nach unseren Gründen gefragt und nach ihrer normativen Kraft beurteilt und behandelt werden. Nicht der hundertprozentige Erfolg unserer Behauptungen und unserer Rechtfertigungen definiere uns, sondern der Umstand, dass man uns überhaupt zutraut, eine Rechtfertigung zu liefern. Die normative Lesart vorausgesetzt, scheint mir das eine angemessene Weiterführung der Einsicht Kants zu sein, dass das „Ich denke“ alle meine Vorstellungen lediglich begleiten können muss. Für die Erkenntnis der Welt ist keine totale Selbsttransparenz vonnöten. Das urteilende Subjekt ist ein endliches Subjekt, dem Vieles dunkel bleibt, das sich selbst in Vielem dunkel bleibt. Dieses Selbst-Bild vertreten Kant wie Brandom.¹⁹⁸ Zweitens findet sich „mehr Subjekt“ auch in Brandoms Konzept der Intersubjektivität. Indem Kants „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“ zur Kurzformel für die dargelegte Verschränkung von Subjekt und Gemeinschaft avanciert, deutet Brandom etwas an, was wiederum als ein Vorgriff auf Hegel anmutet, was er aber explizit schon mit Kant vollführt: dass nämlich auch diese Gemeinschaft von Subjekten mit dem Titel „Subjekt“ angesprochen werden darf. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 31. Hier besteht also durchaus eine Öffnung zur Thematisierung kontingenter persönlicher Lebensgeschichten. Diesen Aspekt bei und mit Kant starkzumachen, ist auch eine wichtige Gemeinsamkeit in den sonst so entgegengesetzten Entwürfen von Strawson und Henrich.
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So wie Brandom das Wechselspiel des Gebens und Nehmens von Gründen darstellt, sind in „meiner“ Apperzeption immer schon „andere“ involviert, und „ich“ bin es bei „ihnen“. Ich bin auf andere verwiesen – auf andere, die zugleich in einer bestimmten Weise sind wie ich. Im Urteilen tue ich strukturell das gleiche, was wir alle tun, und wir alle tun im Urteilen strukturell das gleiche, was ich tue. Im Wechselspiel unter endlichen Subjekten ist zugleich eine Superstruktur präsent. Hegel wird sie „Geist“ nennen: „I c h , das W i r, und W i r, das I c h ist“¹⁹⁹. Bei Brandom entspringt dieser Begriff, auch wenn er ihn noch nicht beim Namen nennt, direkt aus Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Mit dieser Überkreuzung der systematischen Stränge von Normativität, Endlichkeit und strukturierter Gemeinschaft will Brandom schließlich drittens die anti-naturalistische Stoßrichtung seines Projekts unterstreichen. Die Betonung, dass mentale Episoden als solche noch nicht entscheidend sind, sondern erst zu Urteilen qualifiziert werden müssen, ebenso wie die Beobachtung, dass die Aufgabe dieser Qualifikation den Einzelnen wie die Gemeinschaft durchzieht, ist sowohl gegen einen cartesianischen Leib-Seele-Dualismus als auch gegen einen reduktiven Naturalismus gerichtet. Das Finale, in das Making It Explicit nicht ohne Pathos mündete,²⁰⁰ könnte im Anschluss an die hier besprochene Kant-Interpretation in etwa wie folgt um- und weitergeschrieben werden: Wer bin ich, die ich urteile? Ich bin eine Begriffsverwenderin, ein rationales, expressives, diskursives, logisches Wesen. Ich bin zugleich ein endliches Wesen. Ich bin eine Begriffsverwenderin in einem mit anderen Begriffsverwendern geteilten Raum der Gründe, der nichts anderes ist bzw. tut als das, was wir sind bzw. tun. Dieser Raum und ich in diesem Raum sind nicht naturalisierbar. (7) Nach der Fokussierung auf die Subjektseite soll nun diejenige auf die Objektseite erfolgen. Wolfgang Carl hat gegenüber Interpretationen der transzendentalen Deduktion durch einige Vertreter der analytischen Philosophie kritisch angemerkt, dass sie zwar Kants Destruktion des cartesianischen Dualismus gerne mitmachten, aber gerade nicht am eigentlichen Ich-Begriff Kants bzw. an dessen Funktion für die Gegenstandserkenntnis interessiert seien.²⁰¹ Dabei hat er na-
GW 9,108. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 901. Vgl. Carl, Wolfgang, Ich und Spontaneität, in: Stamm, Marcelo (Hg.), Philosophie in synthetischer Absicht, Stuttgart 1998, 105 – 122, 105 f.
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mentlich Strawson und McDowell vor Augen.²⁰² Brandom kann hier meines Erachtens als eine Alternative vorgestellt werden. Denn er ist mit großem Nachdruck an der Funktion der Einheit der Apperzeption für die Gegenstandserkenntnis interessiert. In diesem Sinne teilt er die Hauptintention von Kants transzendentaler Deduktion – bei Abweichungen bezüglich der zu gehenden Schritte, wie gleich darzulegen ist. Wie bei der Subjektseite, so kann auch mit Blick auf die Objektseite festgestellt werden, dass Brandoms neue Beschäftigung mit Kants Deduktion und sein Weg in Making It Explicit konvergieren. Die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption“ diente als Kurzformel für die Kapitel 3 und 4 von Making It Explicit – was jetzt folgt, ist eine Erläuterung und Fortführung dessen, was Brandom in seinem Kapitel 8 begründen wollte: die Erzeugung eines brauchbaren Begriffs der Repräsentation durch den Begriff der Inferenz. Brandom geht es mit Kant um die Frage, wie die Objektivität von Urteilen über Sachverhalte in der Welt gesichert werden kann. Dieses Ziel steuert er nun weitaus schneller und direkter an als in Making It Explicit. Brandom fällt mit der Tür ins Haus: Dass Kant die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption auch als transzendentale Einheit der Apperzeption bezeichnet, sei „aufschlussreich“²⁰³. Denn das Wort „transzendental“ bezeichne nichts anderes als die Bezugnahme auf Gegenstände. Für Brandom bedeutet „transzendental“ also soviel wie intentional (im Sinne der „Von“-Intentionalität) oder repräsentational.²⁰⁴ Der ursprünglich-synthetische (subjektive) und der transzendentale (objektive) Charakter der Apperzeption gehören notwendig zusammen. Die ursprünglich-synthetische Einheit wäre zwecklos, wenn sie nicht auch in besagter Weise transzendental wäre – die transzendentale Einheit ist nicht anders zu haben als mittels der ursprünglich-synthetischen Einheit. Expressive „Dass“-Aussagen, so war Brandoms Argument oben wiedergegeben
Vgl. Carl, Ich und Spontaneität, 119; Ders., Die transzendentale Deduktion in der zweiten Auflage, in: Mohr, Georg, Willaschek, Marcus (Hg.), Klassiker auslegen: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 189 – 216, 211– 214. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 30. Brandom entscheidet sich also für eine einzige Verwendungsweise von „transzendental“, während es bei Kant mehrere gibt: vgl. Dohrn, Daniel, Art. „transzendental“, in: Willaschek / Stolzenberg / Mohr / Bacin, Kant-Lexikon, Bd. 3, 2313 – 2319. Vgl. dazu auch Förster, Eckart, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt am Main 22012, 114– 116, der eine diachrone Verschiebung der Bedeutung von „transzendental“ von dem der Erfahrung Apriorischen zu dem der Erfahrung Immanenten annimmt, sowie kritisch dazu Schlösser, Ulrich, Kants Begriff des Transzendentalen und die Grenzen der intelligiblen und der sinnlichen Welt, in: Haag, Johannes, Wild, Markus (Hg.), Übergänge – diskursiv oder intuitiv? Essays zu Eckart Försters Die 25 Jahre der Philosophie, Frankfurt am Main 2013, 117– 139, besonders 120 – 132.
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worden, implizieren die Bezugnahme auf Gegenstände bzw. Sachverhalte, da sonst die Strafe inferentieller Sinnlosigkeit eintrete. Diese Gegenstände liegen aber nicht einfach vor. Sie werden erst durch die Bezugnahme bestimmt. Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption fungiert als Kriterium der Individuierung und inhaltlichen Bestimmung von Gegenständen in der Welt. Spätestens hier wird deutlich, dass wir in eine metaphysische Verhandlung über die Struktur der Wirklichkeit hineingeraten sind. Spätestens jetzt ist daher geboten, die Frage zu thematisieren, was es für die Interpretation der Deduktion bedeutet, wenn, wie Brandom es fordert, Kants transzendentaler Idealismus keine Rolle spielen soll. Welche Folgen zieht dieses Ausweichmanöver nach sich? Welche positiven Auswirkungen hofft er damit zu erzielen? Ein Grund, warum Brandom den transzendentalen Idealismus links liegen lässt, ist schon genannt worden: Er möchte die empiristischen Aspekte bei Kant übergehen, Begriffe wie Anschauung und Erfahrung (vorerst) aus seinem Repertoire tilgen. Hinzu kommt sicherlich, dass er sich nicht auf die leidige Zwei-Welten-/Zwei-Aspekte-Debatte einlassen möchte. Seine prinzipielle Ablehnung eines ontologischen Dualismus ist schon mehrfach erwähnt worden. Ganz um die Frage nach dem transzendentalen Idealismus herumkommen wird er allerdings nicht. Im Folgenden möchte ich Brandoms Strategie anhand einer doppelten Kontextualisierung verdeutlichen. Zuerst werde ich sein Vorgehen in die elaborierte Diskussion um die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe einbetten (Punkt 8). Daran schließt sich eine Nachfrage bezüglich der Interpretation dessen an, was Kant „transzendentalen Gegenstand“ nennt (Punkt 9). (8) Kant selbst hat in der neuen Version der transzendentalen Deduktion in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft Regieanweisungen gegeben, wie sie zu gliedern und zu lesen sei. In § 21 hält er fest, dass mit dem bisher Ausgeführten „der Anfang einer D e d u c t i o n der reinen Verstandesbegriffe gemacht“²⁰⁵ worden sei. Bis § 26 soll dann „die Absicht der Deduction allererst völlig erreicht werden“²⁰⁶; dieser Paragraph ist entsprechend überschrieben mit „Transzendentale Deduktion des allgemein möglichen Erfahrungsgebrauchs der reinen Verstandesbegriffe“. Der folgende § 27 trägt den Titel „Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe“, an den sich ein abschließender, nicht nummerierter Abschnitt „Kurzer Begriff dieser Deduktion“ anfügt. In der Forschung ist jedoch umstritten, wie genau diese Folge verstanden werden soll und was Kant über-
KrV B 144. KrV B 145.
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haupt erreichen wollte und tatsächlich erreicht hat. Konsens dürfte inzwischen darin bestehen, dass es sich um Schritte handelt, die aufeinander aufbauen. Dieter Henrich, der mit seinem 1968 in Yale gehaltenen Vortrag über die Beweisstruktur der Deduktion die Diskussion der vergangenen Jahrzehnte maßgeblich geprägt hat, sichtete noch Vorschläge, die – entgegen Kants Regieanweisung – zwei parallele Argumente für dasselbe Ergebnis vermuteten, um sie dann durch sein eigenes Stufenmodell zu ersetzen.²⁰⁷ Als Aufgabe formulierte er: „Es muß gelingen, die beiden Paragraphen 20 und 26 […] als zwei Argumente mit verschiedenem Resultat aufzufassen, die zusammen den einen Beweis der transzendentalen Deduktion ergeben.Wir werden diese Aufgabe das Problem der zwei Beweisschritte nennen“²⁰⁸. Henrichs Lösung sah zunächst so aus, dass sich der erste Schritt darauf beschränke, die Leistung der Verstandeskategorien für „alle diejenigen Anschauungen, die bereits Einheit enthalten“²⁰⁹, zu beweisen, also zu beweisen, dass überall dort, wo Einheit angetroffen wird, die Kategorien bereits wirksam seien. Im zweiten Schritt werde diese Leistung dann auf alle unsere Anschauungen ausgedehnt, er beweise, dass „die Kategorien gültig sind für alle Objekte unserer Sinne“²¹⁰. Nach Henrich besteht Kants Beweis in folgendem Syllogismus: Wo immer wir Einheit finden, da ist diese Einheit durch die Kategorien ermöglicht und in Beziehung auf sie determiniert. Nun haben wir aber im Falle unserer Vorstellungen von Raum und Zeit Anschauungen, die Einheit enthalten und zugleich alles in sich einschließen, was unseren Sinnen nur vorkommen kann. Denn sie haben ja ihren Grund in den Formen unserer Sinnlichkeit, außerhalb deren uns keine Vorstellungen gegeben werden können. Wir können also sicher sein, daß alles gegebene Mannigfaltige ausnahmslos den Kategorien unterworfen ist.²¹¹
Dieses Modell der Restriktion im ersten und ihrer Aufhebung im zweiten Schritt ist ausführlich diskutiert und auch bestritten worden.²¹² Henrich selbst hat seine
Vgl. Henrich, Dieter, The Proof-Structure of Kant’s Transcendental Deduction, in: The Review of Metaphysics 22 (1969), 640 – 659; für die deutsche Version vgl. Henrich, Dieter, Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: Prauss, Gerold (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, 90 – 104. Henrich, Beweisstruktur, 91. Henrich, Beweisstruktur, 93. Henrich, Beweisstruktur, 94. Henrich, Beweisstruktur, 94. Für einen Einblick in die Diskussion unter einigen der Protagonisten vgl. Henrich, Dieter u. a., Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – eine Diskussion mit Dieter Henrich, in: Tuschling, Burkhard (Hg.), Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“. Kant-Tagung Marburg 1981, Berlin, New York 1984, 34– 96. Für eine Zusammenfassung
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Position diversen Feinjustierungen und Revisionen unterzogen. Eine wichtige Entdeckung bestand darin, dass Kant mit dem Begriff der „Deduktion“ gar nicht „Herleitung“ im syllogistischen Sinne meint, sondern auf eine Gattung von Schriften anspielt, die in der juristischen Praxis des 18. Jahrhunderts verbreitet war.²¹³ Aufgabe einer „Deduktion“ war es, aus einer Vielzahl von Materialien heraus, z. B. alten Urkunden, Stammtafeln, Genealogien, die „Legitimität eines Anspruches darzutun“²¹⁴, etwas in seiner gewordenen Existenz zu rechtfertigen. Deduktion sei in der damaligen Zeit ein Synonym für eine „Geschichtserzählung“ gewesen, eine Geschichtserzählung allerdings, die „nicht die quaestio facti betrifft, sondern die quaestio juris“²¹⁵. Formal ist also ein anderer methodologischer Maßstab an die transzendentale Deduktion anzusetzen, als früher vermutet worden war.²¹⁶ Sie ist kein syllogistischer Beweis, sondern sie folgt dem „Modell einer Herleitung aus einem ersten Ursprung Schritt um Schritt, so daß – über den Erbgang, über die Transmission der Rechtstitel in der Vernunft, am Ende die uneingeschränkte Gültigkeit der Kategorie für den möglichen Bereich ihrer Legitimität deutlich gemacht und in diesem Sinne […] ‚erklärt‘ wird“²¹⁷. – Hier haben wir offensichtlich das positive Verständnis von Deduktion bzw. Genealogie vor
der gesamten Entwicklung im 20. Jahrhundert, die allerdings an vielen Stellen recht polemisch ist, vgl. Baumanns, Peter, Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der „Kritik der reinen Vernunft“, Würzburg 1997, 452– 522. Henrich enthüllt seine Forschungsergebnisse erstmals auf der gerade genannten Marburger Tagung: vgl. Henrich, Dieter u. a., Beweisstruktur – Diskussion, 84– 92. Für eine nähere Analyse mit den entsprechenden Belegen vgl. Henrich, Dieter, Kant’s Notion of a Deduction and the methodological background of the first Critique, in: Förster, Eckart (Hg.), Kant’s Transcendental Deductions, Stanford (CA) 1989, 29 – 46. Henrich u. a., Beweisstruktur – Diskussion, 87. Henrich u. a., Beweisstruktur – Diskussion, 87. Interessant ist, dass ausgerechnet Henrichs Kontrahent Strawson, wohl ohne Kenntnis der historischen Hintergründe, etwas Ähnliches über die Deduktion sagen konnte. In dem Kapitel, in dem Strawson nach ihrem Sinn und Zweck fragt, stellt er fest, „daß, obwohl die Transzendentale Deduktion tatsächlich ein Argument ist, sie nicht nur ein Argument ist. Sie ist auch eine Erklärung, eine Beschreibung, eine Geschichte“ (Strawson, Grenzen des Sinns, 73). Diese Geschichte beruht vor allem auf den – von Strawson freilich abgelehnten – Voraussetzungen der transzendentalen Ästhetik bzw. der Unterscheidung der Erkenntnisstämme; es geht in ihr darum, „etwas über die Quelle oder den Ursprung des entsprechenden Zuges der Erfahrung zu sagen. Unser Bewußtsein von Gegenständen muß raumzeitlichen Charakter haben, weil derart unser Vermögen der Sinnlichkeit verfaßt ist. Wir müssen über Gegenstände in Übereinstimmung mit den Kategorien denken, weil soviel von der Verfassung unseres Verstandesvermögens gefordert ist. Wenn das so ist, ist in der Tat richtig, daß kein weiterer Beweis dafür gefordert ist, daß nur vermittelst der Kategorien ein Gegenstand gedacht werden kann. Aber etwas anderes könnte gut erfordert zu sein scheinen – nämlich eine Erklärung“ (Strawson, Grenzen des Sinns, 73). Henrich u. a., Beweisstruktur – Diskussion, 91.
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uns, das Brandom von Kant übernimmt und das er zugleich gegen das delegitimierende „Genre“ der Genealogie in Stellung bringt. Für die transzendentale Deduktion folgt aus dieser formalen Entlastung ein inhaltlicher Perspektivenwechsel. Es geht nun laut Henrich darum, „wie der Geltungsbeweis, als Beweis der Geltung der Kategorien für alles Gegebene ohne Einschränkung, in den Aufweis der Herkunft ihrer Geltungsansprüche aus deren Ursprung, der synthetischen Einheit der Apperzeption und ihrer cartesianischen Gewißheit eingefügt ist“²¹⁸. Das kann man durchaus als eine Verschiebung der Schwerpunkte ansehen. Das Gewicht liegt nun am Anfang. Am Anfang besteht nicht eine Einschränkung, die aufgehoben, nicht ein Mangel, der beseitigt werden muss, sondern dort findet sich erst einmal die reiche Erbmasse der gesetzmäßigen Urteils- und Synthesistätigkeit des Verstandes.²¹⁹ Im zweiten Schritt ist dann zu klären, in welchem Umfang sie zum Zwecke der Gegenstandserkenntnis in den Erfahrungsprozess vererbt und übertragen werden kann. Anstatt also die beiden Beweisschritte der transzendentalen Deduktion mit Restriktion und Aufhebung der Restriktion zu überschreiben, wie Henrich es anfangs getan hat, sollte man es andersherum formulieren: Wir haben zuerst das weite Feld der Verstandestätigkeit und nehmen im zweiten Schritt seine Einschränkung auf das vor, was uns in der sinnlichen Anschauung gegeben wird.²²⁰ Die rechtmäßige Vererbung zum Zwecke der Erkenntnis erfolgt nur, wenn wir diese nachträgliche Steuer entrichten. Im Sinne dieses Perspektivenwechsels hat Georg Mohr eine meines Erachtens hilfreiche Sprachregelung gefunden: Die Deduktion hat ein Beweisziel, nämlich den Nachweis, dass „die Kategorien (reine Verstandesbegriffe) Bedingungen der Möglichkeit des Denkens und der Erkenntnis a priori eines Gegenstands der Erfahrung sind“²²¹; hinzu kommt die „ergänzende These“, dass „Kategorien nur für Gegenstände der Erfahrung objektive Gültigkeit haben“²²². Ich finde diese Sprachregelung hilfreich, weil sie, nochmals, die Quelle der Rechtmäßigkeit in den Vordergrund rückt. Allerdings bleibt auch eine Beschreibung möglich, die beide Aspekte als einander ebenbürtig anordnet; nochmals mit den Worten Mohrs: „Die transzendentale Deduktion hat insofern ein Beweisziel mit zwei Seiten: Kategorien haben objektive Gültigkeit (a) für alle Gegenstände möglicher
Henrich u. a., Beweisstruktur – Diskussion, 91. Dies scheint mir auch in weit besserem Einklang mit der Art und Weise zu stehen, wie Henrich, Dieter, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976, vorgeht. So lautet auch die Kritik an Henrich bei Allison, Kant’s Transcendental Idealism, 161 f. Mohr, Kants Grundlegung der kritischen Philosophie, 205. Mohr, Kants Grundlegung der kritischen Philosophie, 205.
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Erfahrung und (b) nur für Gegenstände möglicher Erfahrung“²²³. Diese Variante macht deutlich, dass die Restriktion (b) entscheidend ist, um nicht in einen transzendenten Gebrauch der Kategorien abzudriften.²²⁴ Wie lässt sich Brandom vor dem Hintergrund dieser klassischen Diskussion verorten? Wie hält er es mit den zwei Beweisschritten und ihrer Gewichtung? Die Antwort ist – auf den ersten Blick – leicht: Der zweite Schritt fällt aus. Brandom konzentriert sich auf die Rechtsquelle der Integration in die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption sowie auf die Funktion, die sie für die Gegenstandskonstitution spielt. Auf diese Weise vollzieht er den Zug nach, den Kant im ersten Beweisschritt der Deduktion gegen den Empirismus macht, nämlich den Nachweis, dass die reinen Verstandesbegriffe nicht aus der Erfahrung abgeleitet sind. Aber er ignoriert den Zug, den Kant im zweiten Beweisschritt gegen den Rationalismus seiner Zeit macht, indem er die Anwendung der Verstandesbegriffe zum Zwecke der Erkenntnis auf gegebene Anschauungen restringiert.²²⁵ Brandom verfolgt also nicht das gesamte Ziel Kants bzw. er verzichtet auf das, was Mohr die „ergänzende These“ genannt hat, die für Kant unabdingbar dazugehört. Wollte man Brandom nur als Sekundärliteratur zu Kant lesen, wäre an dieser Stelle eine verstörende Lücke festzustellen. Aber es handelt sich – so meine These – um Absicht im Rahmen einer bestimmten Strategie. Die Annahme, Brandom wolle einem transzendenten Gebrauch der Kategorien das Wort reden, ist allerdings irritierend. Soll diese Irritation ausgeräumt werden, dann muss erklärt werden, mit welchem Recht Brandom den zweiten Beweisschritt ignorieren darf. Eine vorläufige Antwort besteht darin, dass Brandom hier einer verbreiteten Lesart folgt, nach der eine Rekonstruktion der Deduktion nur gelingen kann, wenn sie um die Anteile, die der transzendentale Idealismus an ihr hat, bereinigt wird. Schon Strawson merkte an, dass der zweite Beweisschritt der Deduktion an „unserem Ort in der Entwicklung der Philosophie“ eigentlich als „unnötig erscheinen“²²⁶ müsse. Niemand komme mehr auf die schrille Idee, Begriffe unabhängig von ihrer empirischen Anwendung zum Einsatz zu bringen, um eine geheimnisvolle noumenale Hinterwelt erschließen zu wol-
Mohr, Kants Grundlegung der kritischen Philosophie, 205 f. Die Rede von dem einen Beweisziel und den zwei Beweisschritten hat sich mittlerweile eingebürgert: vgl. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, 161– 163; Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 437 f.; Carl, Die transzendentale Deduktion in der zweiten Auflage, 189; Longuenesse, Kant and the Capacity to Judge, 69 – 72; Mohr, Kants Grundlegung der kritischen Philosophie, 208. Insofern hat McDowell recht, wenn er an Brandoms Umgang mit der transzendentalen Deduktion die Eliminierung der Äußerlichkeit kritisiert: vgl. McDowell, Die Welt im Blick, 132. Strawson, Grenzen des Sinns, 96.
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len. Der Nachweis einer Beschränkung auf Gegenstände möglicher Erfahrung sei letztlich tautologisch. Kant habe sich selbst das Leben schwergemacht, wenn er neben dem in der Erfahrung zugänglichen Reich der Erscheinungen ein übersinnliches Reich der Dinge an sich angenommen habe.²²⁷ Man kann sagen, dass Brandom diese generelle Sichtweise teilt. Entsprechend fallen bei ihm die Themen aus, die mit der Differenz von Erscheinung und Ding an sich zu tun haben und die Kant im zweiten Beweisschritt verhandelt: das globale Thema der Angewiesenheit auf die Sinnlichkeit, die spezielle Frage nach dem Verhältnis von transzendentalem Selbstbewusstsein und empirischer Selbsterkenntnis sowie schließlich die Pointe, dass der Verstand der „Natur als dem Inbegriffe aller Erscheinungen“²²⁸ die Gesetze vorschreibt. Aus dieser Perspektive sieht es also so aus, dass Brandom den zweiten Beweisschritt ignoriert, weil er für ihn nichts Neues bringt, und er bringt nichts Neues, weil er nichts Neues bringen kann. Jedoch unterscheidet sich Brandoms Vorgehensweise von derjenigen Strawsons. Denn Brandom hat ein positives Argument in der Hand, mit dem er dem transzendenten Begriffsgebrauch einen Riegel vorschiebt. Es besteht in dem oben erläuterten Weg von der Inferenz zur Repräsentation. Sicher ist Strawson zuzustimmen, dass ein transzendenter Gebrauch der Kategorien in der Weise, wie ihn Kant fürchtete, heutzutage weniger als Gefahr angesehen wird. Aber die Frage kommt durchaus bezüglich der Repräsentationsabsicht unserer Behauptungen auf. Dieser Frage hat sich Brandom in seiner Interpretation der Deduktion gestellt, indem er gezeigt hat, dass das sprachliche Spiel des Gebens und Forderns von Gründen nicht konstruktivistisch in der Luft schwebt – auch das wäre eine Form transzendenten Begriffsgebrauchs –, sondern über den Gedanken materialer Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit die Bezugnahme auf Gegenstände in der Welt notwendig impliziert. Brandom kann diesen Zug machen, weil er, anders als Strawson, die zentrale Bedeutung des Synthesis-Begriffs gesehen hat und anhand seiner eine normative Geschichte über Kants Erkenntnistheorie zu erzählen weiß. In gewisser Weise deckt Brandom also doch das gesamte Beweisvorhaben der transzendentalen Deduktion ab. Dies geschieht, wenn man Kants Text danebenlegt, auf der Basis von dessen erstem Schritt. Seinerseits geht Brandom freilich ebenfalls zwei Schritte – oben unter (1) und (2) vorgestellt –, die Kants doppeltes Anliegen nachvollziehen: dass einerseits unsere Begriffe ihre Quelle im diskursiven Verstand haben und nicht aus einer empiristisch verstandenen Erfahrung abgeleitet werden; dass dies aber andererseits sehr wohl im Hinblick auf die Erkenntnis der Erfahrungswelt, in der wir leben, geschieht. Bei Strawson oder bei
Vgl. Strawson, Grenzen des Sinns, 94– 98. KrV B 163.
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dem McDowell von Mind and World sind wir auf ungeklärte Weise immer schon in ihr drin. Dem Faktum, dass dem so ist, wird niemand widersprechen wollen. Bei Brandom aber haben wir den tatsächlichen Versuch einer Deduktion – im kantischen Sinne einer genealogischen Rechtfertigung –, warum wir unsere Erfahrungen auch verstehen können. (9) Was bedeuten diese Überlegungen für die Bewertung des transzendentalen Idealismus? Einerseits hat Brandom die transzendentale Deduktion rekonstruiert, ohne ihn in Anspruch zu nehmen oder die ungeliebten Namen „Erscheinung“ und „Ding an sich“ auch nur zu erwähnen. Andererseits könnte es sein, dass Brandom, indem er das getan hat, unter der Hand sogar so etwas wie seine teilweise Restitution gelungen, vielleicht auch widerfahren ist. Die Möglichkeit, dass die beste Weise, den transzendentalen Idealismus zu verteidigen, darin bestehen könnte, seine Geschichte in einer unanstößigen Weise zu erzählen, ist ja durchaus schon erwogen worden.²²⁹ Auch dies ist eine der großen Fragen, die ich hier nicht generell zu entscheiden, sondern nur mit Blick auf Brandom zu stellen versuche.²³⁰ Einen Namen, der in diesen Zusammenhang gehört, verwendet er nämlich doch: den des transzendentalen Gegenstandes. Brandom hatte bei der Analyse der Urteilslehre folgende Interpretation gegeben: „Die objektive Form des Urteils ist Kant zufolge ‚der Gegenstand = X‘, worauf sich Urteile, eben aufgrund ihrer Form als Urteile, immer in impliziter Weise beziehen“²³¹. Damit sei die Instanz markiert, gegenüber der ich mich im Urteilen verantwortlich mache. Mit der Rede vom „Gegenstand = X“ bezieht sich Brandom auf Textstellen aus der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Fünf entsprechende Formulierungen finden sich in der
Vgl. z. B. Horstmann, Rolf-Peter, Was bedeutet Kants Lehre vom Ding an sich für seine transzendentale Ästhetik?, in: Ders., Bausteine kritischer Philosophie. Arbeiten zu Kant, Bodenheim 1997, 35 – 53. Horstmann bleibt allerdings skeptisch, ob das gelingen könne. Für eine elaborierte Verteidigung Kants in dieser Frage vgl. Allison, Kant’s Transcendental Idealism. Für eine differenzierte Stellungnahme zur Problematik vgl. Willaschek, Marcus, Phaenomena/Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, in: Mohr / Willaschek, Klassiker auslegen: Kritik der reinen Vernunft, 325 – 351; Willaschek, Marcus, Die Mehrdeutigkeit der kantischen Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen. Zur Debatte um Zwei-Aspekte- und Zwei-Welten-Interpretationen des transzendentalen Idealismus, in: Gerhardt, Volker, Horstmann, Rolf-Peter, Schumacher, Ralph (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 2: Sektionen I – V, Berlin, New York 2001, 679 – 690; Willaschek, Marcus, Affektion und Kontingenz in Kants transzendentalem Idealismus, in: Schumacher, Ralph (Hg.), Idealismus als Theorie der Repräsentation?, Paderborn 2001, 211– 231. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 26.
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ersten Fassung der transzendentalen Deduktion,²³² eine in derjenigen des Abschnitts über Phaenomena und Noumena am Ende der transzendentalen Analytik.²³³ Davon, dass er mit dem „Ich denke“ einerseits ein Stichwort aus der zweiten, mit dem „Gegenstand = X“ andererseits ein Stichwort aus der ersten Auflage aufgreift, macht Brandom kein Aufhebens. Das ist allerdings nicht ungewöhnlich, auch Allison betont beispielsweise, dass Kant das Theorem des transzendentalen Gegenstandes in der zweiten Auflage keinesfalls aufgegeben habe.²³⁴ Die Korrespondenz beider Stichwörter wird ferner von Johannes Haag hervorgehoben: Das transzendentale Subjekt, das der Sache nach in der B-Deduktion ebenfalls als = X auftrete (auch wenn diese Formulierung so erst im Paralogismenkapitel vorkommt)²³⁵, sei das „begriffliche Gegenstück“²³⁶ des transzendentalen Objekts = X. Beide seien „Denknotwendigkeiten“, die als unbestimmte „Projektionsflächen unserer empirischen Vorstellungen“²³⁷ zu dienen haben. Bei Kant selbst heißt es, wiederum nur in der ersten Auflage, wir hätten es mit einem „Correlatum der Einheit der Apperception zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung“²³⁸ zu tun. Für Brandom steht hinter der Formulierung vom „Gegenstand = X“ das Konzept von Gegenständlichkeit überhaupt. Im Urteilen treten wir mit dem allgemeinen Anspruch auf Repräsentation auf, vor aller inhaltlichen Füllung dieses Anspruchs. Letztere kommt wiederum erst durch die konkreten Urteilsakte zustande, d. h. anhand begrifflicher Gliederung. Brandom weigert sich, das Zusammenwirken von Verstand und Anschauung nach dem Form-Materie-Schema zu verstehen, trotz Kants Rede vom „Stoff“, den die Sinne liefern. Denn was als jeweilige Materie zu gelten hat, wird erst durch die Begriffsverwendung – durch materiale Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit – bestimmt. Die völlige Unbestimmtheit möglicher zukünftiger Gegenstände, die Angewiesenheit auf ein Bestimmtwerden, um überhaupt ein inhaltlich umrissener Gegenstand zu sein und
Vgl. KrV A 104 f. und A 109. Vgl. KrV A 250. Vgl. Allison, Kant’s Transcendental Idealism, 57– 64. Allison erwägt allerdings auch Gründe gegen diese harmonische Deutung: vgl. Ders., Kant’s Transcendental Idealism, 478 f. mit Verweis auf Zöller, Günter, Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant. Zur systematischen Bedeutung der Termini „objektive Realität“ und „objektive Gültigkeit“ in der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin, New York 1984, 148 f. Vgl. KrV A 346 wie B 404. Haag, Johannes, Erfahrung und Gegenstand. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, Frankfurt am Main 2007, 355. Haag, Erfahrung und Gegenstand, 355. KrV A 250.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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nicht nur eine schiere Masse, kommen in Kants Verwendung der Variablen X zum Ausdruck oder auch in Formulierungen wie den folgenden. So fragt Kant: Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntniß correspondirenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstande redet? Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntniß doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntniß als correspondirend gegenübersetzen könnten.²³⁹
Später sagt er vom transzendentalen Gegenstand, dass er „wirklich bei allen unsern Erkenntnissen immer einerlei = X ist“²⁴⁰. „Streng genommen“, so bemerkt Günter Zöller zu dieser Stelle, gibt es bei Kant also „nur einen Gegenstand aller empirischen Erkenntnisse“²⁴¹. Es geht einzig darum, dass da überhaupt etwas ist. Im Anschluss an Manfred Frank könnte man von der puren, unbestimmten Existenz sprechen, die jeder inhaltlich-begrifflichen Essenz vorausgeht.²⁴² So starke Formulierungen finden sich bei Brandom nicht. Zum Teil klingt es bei ihm eher so, als sei mit dem X ein beliebiger Gegenstand unter vielen anderen gemeint, auf den ich referieren will. Aber wie er selbst verdeutlicht hat, liegen diese beliebigen Gegenstände nicht einfach vor. Ihre Individualität wird erst nach und nach mittels des Einsatzes von Begriffen herausgeschält (z. B. der Hund, der zugleich ein Säugetier ist, der vier Beine hat, der stinkt, wenn er nass wird, der mich heute wiedererkannt hat…). Referenz vollzieht sich als Prozess der Inferenz. Formuliert in Termini der Verantwortung: Indem ich mich einzelnen Gegenstän-
KrV A 104. KrV A 109. Zöller, Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant, 128. Ähnlich Allison zu dieser Stelle: „So construed, the term transcendental object obviously cannot be used in the plural“ (Allison, Kant’s Transcendental Idealism, 61). – In einer weiteren Ausdifferenzierung unterscheidet Willaschek drei Bedeutungen des Begriffs „transzendentaler Gegenstand“: „(1) die durch die reinen (unschematisierten) Kategorien bestimmte Struktur eines ‚Gegenstandes überhaupt‘, (2) das für alle Erscheinungen identische ‚Etwas = x‘ und (3) den für unterschiedliche Erscheinungen jeweils spezifischen, uns aber unbekannten transzendentalen ‚Grund‘“ (Willaschek, Phaenomena/ Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, 334). Frank hat diese These vom existentiellen Sein unter Rückgriff auf Schelling und Sartre, aber auch auf Kant vorgetragen: vgl. beispielsweise Frank, Manfred, Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 2007, 170 – 182. Frank hebt an „Kants Grundgedanken“ zwei Aspekte hervor: zum einen, dass daraus die Annahme eines präreflexiven Selbstbewusstseins folgt, das seine Existenz nicht durch seine eigene gedankliche Aktivität erzeugen könne; zum anderen, das wir hier ein Bollwerk gegen die Theorie hätten, die er „Idealismus“ nennt und der gemäß Sein gänzlich in Gedanken aufgelöst werden könne bzw. solle. Ich halte das für eine authentische KantInterpretation. Allerdings folge ich Frank nicht darin, dass er dieses naive Verständnis von Idealismus gegen Hegel in Anschlag bringt.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
den gegenüber verantwortlich mache, bejahe ich das Konzept von Gegenständlichkeit überhaupt, bejahe ich, dass da etwas ist, das bestimmt werden kann, mache ich mich der gesamten Welt möglicher Gegenstände gegenüber verantwortlich. Und umgekehrt: Indem ich mich gegenüber diesem Ganzen verantwortlich mache, bin ich schon mittendrin in der Verantwortung für einzelne Individuationen. Wenn man eine solche Interpretation der Lehre vom transzendentalen Gegenstand als einen Teil, vielleicht sogar als den wesentlichen Teil, von Kants transzendentalem Idealismus akzeptieren möchte, dann kann man sagen, dass Brandom diesen aufgreift und in neuem Gewand präsentiert. Was Brandom offensichtlich nicht übernimmt ist eine Rede von Dingen an sich im Plural sowie die Erwägung, ob es Noumena in positiver Bedeutung geben könne. Ebenfalls lehnt er ein Verständnis von Erkenntnisakten ab, das in einer isolierten Eins-zu-einsPassung von Sinnesdaten und Kategorienanwendung bestünde. Selbstverständlich sind unsere Erfahrungen immer auch sinnlich, das hat Brandom nie abgestritten. Schon zu Beginn von Making It Explicit hat er betont, dass „wir“ über „uns“ auch eine Geschichte als „Sinneswesen“ erzählen könnten (mit der wir seiner Meinung nach in philosophischer Absicht allerdings nicht weit genug kämen).²⁴³ Und in seinem Kapitel 4 untersucht Brandom die aus der Wahrnehmung resultierenden nichtinferentiellen „Spracheingangszüge“²⁴⁴. Damit aus ihnen Wissen wird, muss freilich sprachlich auf sie reagiert werden, mit der Einnahme einer bestimmten Position im Sprachspiel. Oder hier nun mit Kant gesprochen: Damit aus Wahrnehmung inhaltlich bestimmtes Wissen wird, ist die begrifflich-inferentielle Tätigkeit des Verstandes vonnöten. Erst durch diese begriffliche Tätigkeit kommt es zu einer regelgeleiteten Differenzierung der Masse des „etwas überhaupt = X“. An dieser Stelle zeigt sich auch, inwieweit dem „Mythos des Gegebenen“ – zumindest bei und mit Kant – doch ein Körnchen Wahrheit zugestanden wird. Ohne jenen unbestimmten Rest des Etwas, ohne dass da etwas ist, kommt auch Brandoms verdeckte Reformulierung des transzendentalen Idealismus nicht aus. Es wäre ein Missverständnis, ja ihre Selbst-Mystifizierung, wenn die Kritik am Mythos des Gegebenen dazu eingesetzt würde, diesen Rest auflösen zu wollen.²⁴⁵
Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 40 f. Brandom, Expressive Vernunft, 345. Vgl. dazu ausführlich Ders., Expressive Vernunft, 316 – 338 sowie (im Kontext der Hegel-Interpretation) Ders., A Spirit of Trust, 107– 115. Das deckt sich mit dem oben genannten Einwand Manfred Franks. Brandom wird unter Einbezug Hegels davon sprechen, dass er einen Idealismus des Sinns, aber nicht der Referenz vertrete: vgl. dazu 3.2.2.
2.2 Was hat uns die „Analytik der Begriffe“ heute zu sagen?
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Meiner Rekonstruktion zufolge übernimmt Brandom implizit also zwei elementare Überzeugungen des transzendentalen Idealismus: diejenige von der Existenz einer unbestimmten Einheit von allem, was Gegenstand möglicher Erfahrung werden kann, sowie diejenige, dass die wesentlichen Ausdifferenzierungen dieser Einheit begriffliche Differenzierungen sind. Die Interpretation und der Einsatz der Rede vom „transzendentalen Gegenstand = X“ belegen aufs Neue, wie es Brandom, ohne eine ausgefeilte transzendentale Ästhetik zu liefern und ohne den zweiten Beweisschritt der transzendentalen Deduktion für sich genommen nachzuvollziehen, dennoch gelingt, das Ziel zu erreichen, das Kant mit diesem zweiten Schritt anstrebte, nämlich unsere begriffliche Praxis an die Welt der Erfahrung zurückzubinden und damit die Existenz der durch diese Praxis bestimmten Gegenstände zu verbürgen. Abermals darf festgehalten werden, dass hier kein transzendenter Gebrauch der Kategorien droht. Es sind bereits einige Unterschiede von Brandoms Umgang mit Kant zu demjenigen McDowells gestreift worden. Dies galt bisher mit Bezug auf Mind and World, in dem McDowell erklärtermaßen Strawson folgte. In den Texten, die mittlerweile in Having the World in View versammelt sind, hat McDowell seine Auseinandersetzung mit Kant vertieft und der transzendentalen Deduktion mehr abgewinnen können als zuvor.²⁴⁶ Es ist interessant zu sehen, worin auch in dieser neuen Variante ein Unterschied zu Brandom festzumachen ist. McDowell kommt zu einer anderen Einschätzung der Stabilität der Deduktion. Damit verbunden ist eine andere Charakterisierung des Übergangs von Kant zu Hegel. Der Grund dafür liege im zweiten Beweisschritt. An ihm zerbreche die Deduktion. Kant habe um das „Gleichgewicht des Subjektiven und des Objektiven, des Denkens und seines Gegenstands“²⁴⁷ gerungen, es aber durch die Implementierung der Lehren aus der transzendentalen Ästhetik verfehlt. Mit den Anschauungsformen von Raum und Zeit habe er etwas in die Argumentation eingeführt, was „den Charakter einer rohen Tatsache“²⁴⁸ habe und damit nur „eine subjektive Auflage“²⁴⁹ unseres spezifisch menschlichen Erkenntnisapparats, nicht aber die Bedingung für objektives Wissen darstellen könne: „Kants ganze Konstruktion wird durch den transzendentalen Idealismus des Raumes und der Zeit, der an ihrem Grund liegt, zu einem subjektiven Idealismus herabgezogen“²⁵⁰. Bei seiner Kritik weiß sich
Vgl. McDowell, Die Welt im Blick, insbesondere die Texte 4 und 5. McDowell, Die Welt im Blick, 114. McDowell, Die Welt im Blick, 116. McDowell, Die Welt im Blick, 118. McDowell, Die Welt im Blick, 118. Gegenüber der dortigen Übersetzung habe ich „an seinem Grund“ korrigiert zu „an ihrem Grund“, da hier „Konstruktion“ die Bezugsgröße ist. Für die
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McDowell mit Hegel einig. In der Tat gibt es dafür eine Reihe von Belegstellen in Hegels Werk.²⁵¹ McDowells Aufsatz trägt zwar den Titel Hegels Idealismus als Radikalisierung Kants – die Radikalisierung tritt in dieser konkreten Frage allerdings in Form eines dezidierten Nein zu Kant auf.²⁵² Bei Brandom, der Hegel ebenfalls als Radikalisierung Kants versteht, gestaltet sich die Angelegenheit weitaus harmonischer. Die oben angebotene Interpretation von Brandoms implizitem Umgang mit dem zweiten Beweisschritt der BDeduktion legt den Finger gerade nicht in die Wunde der transzendentalen Ästhetik. Sie sagt nichts über die spezifischen Bedingungen der menschlichen Sinnlichkeit, sondern versucht, in der Vorgabe der bloßen Existenz der inhaltlich zu bestimmenden Gegenstände das alleinige Thema einer solchen Ästhetik zu sehen. Während McDowell die Deduktion aufgrund des transzendentalen Idealismus scheitern lässt, möchte Brandom sie retten und bietet zu diesem Zweck besagte Reformulierung. Und während McDowell den Weg von Kant zu Hegel an dieser Stelle nur ex negativo anzeigen kann, steht für Brandom das Instrumentarium bereit, mit dem er im Verbund mit Hegel weiter operieren wird. Brandoms Auseinandersetzung mit der transzendentalen Deduktion führt zu dem Ergebnis der strukturellen Angleichung von Subjekten und Objekten anhand des Konzepts materialer Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit. Wie er die Deduktion auf dieses Ziel hin trimmt und dass er damit zugleich beanspruchen darf, als zwar interessengeleiteter, aber nichtsdestoweniger als legitimer Kant-Interpret neben anderen aufzutreten, ist durch die rationale Rekonstruktion in diesem Abschnitt offengelegt worden. Es sind insbesondere drei Fragestellungen, die Brandom im Zusammenhang von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe exponiert hat und die er zur weiteren Bearbeitung an Hegel weiterreicht. Wohin führt die behauptete Strukturgleichheit von Subjekten und Objekten? Was wird aus der Spannung zwischen existentiellem Sein und begrifflicher Gliederung? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität weiter aus? Vor
originale Fassung vgl. McDowell, John, Hegel’s Idealism as Radicalization of Kant, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5 (2007), 157– 175, 165. McDowell verweist auf Pippin, Hegel’s Idealism, 264, wo entsprechende Hegel-Stellen aufgelistet sind. In diesem Aufsatz scheint McDowell die Eliminierung der Äußerlichkeit durch Hegel gutzuheißen. Im folgenden Aufsatz versucht er indes, mit Kant die Äußerlichkeit wieder zu retten. Vgl. dazu die Diskussion der Problematik (unter Bezug auf den ersten Aufsatz) bei Rödl, Sebastian, Eliminating Externality, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5 (2007), 176 – 188.
2.3 Die Rückbindung des Autonomiebegriffs an die „Analytik der Begriffe“
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dem Übergang zu Hegel ist allerdings noch ein letzter Schritt zu Brandoms KantInterpretation einzufügen.
2.3 Die Rückbindung des Autonomiebegriffs an die „Analytik der Begriffe“ (1) Unter 2.2.2 habe ich darauf hingewiesen, dass Brandom in Making It Explicit noch nicht zwischen Kants Texten zur theoretischen und zur praktischen Philosophie unterscheidet bzw. dass er Texte aus der praktischen Philosophie heranzieht, um sein theoretisches Anliegen zu untermauern. Mit Kantische Lehren und schließlich mit der Semantischen Sonate ist er zu einer Gliederung gelangt, die den Schwerpunkt auf die theoretischen Texte legt und erst gegen Ende der Darstellung kurz auf die praktischen Texte Bezug nimmt. Auf diese Bezugnahme ist nun am Ende meiner Untersuchung von Brandoms Kant-Rezeption einzugehen. Im Rahmen der Diskussion von Regulismus und Regularismus in Making It Explicit hatte Brandom betont, dass nicht das blinde, sondern das bewusste Regelfolgen für seine Theorie entscheidend sei: die Anerkennung von Regeln als Regeln. Kant sei es gelungen, die Verbindlichkeit von Normen mit dem modernen Verlangen nach Freiheit, wie es in der Aufklärung und insbesondere bei Rousseau zum Ausdruck gekommen sei, in einen systematisch anspruchsvollen Einklang zu bringen: Kants praktische Philosophie, seine Theorie über uns als Handelnde, ist entscheidend geprägt durch eine doppelte Festlegung, uns zugleich als vernünftig und als frei zu verstehen. Vernünftig sein heißt für ihn an Regeln gebunden sein. Doch Kant möchte diese für uns wesentliche Normgebundenheit mit unserer radikalen Autonomie versöhnen. Er bringt das […] in der These zusammen, die Autorität dieser Regeln für uns beruhe darauf, daß wir sie als für uns verbindlich anerkennen. Unsere Würde als Vernunftwesen besteht gerade darin, daß wir uns nur Regeln unterwerfen, die wir billigen, die wir frei gewählt haben (wie Odysseus angesichts der Sirenen) uns selbst zu binden.²⁵³
In Kantische Lehren und der Semantischen Sonate bedenkt Brandom die Bedeutung und Tragweite von Kants Freiheitsbegriff jeweils am Ende seiner Ausführungen zu Kant und vor dem Übergang zu Hegel. Ich folge hier dem ausführlicheren zweiten Text. An ihm fällt auf, dass Brandom neben der klareren Gliederung auch eine inhaltliche Umstellung vorgenommen hat. Während er in Making It Explicit behauptete, wir bräuchten die Einsicht der Kritik der praktischen Vernunft in das Konzept der Autonomie, um die Begriffslehre der Kritik der reinen Brandom, Expressive Vernunft, 99.
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2 Der durchdachte Einsatz von Kants „Analytik der Begriffe“
Vernunft zu verstehen, ist er in der Semantischen Sonate der Auffassung, dass wir eigentlich nur Kants letztgenanntes Werk bräuchten. Mit den Überlegungen zur transzendentalen Deduktion, speziell zur regelgeleiteten Integration in die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption sowie zur Verwandtschaft von deontisch-normativen und alethisch-modalen Verknüpfungen, hätten wir bereits alles in der Hand, was wir dann gegebenenfalls auch auf Seiten der praktischen Philosophie zum Einsatz bringen könnten. Darin bestehe Kants zwei-eine Antwort auf Hume.²⁵⁴ Mit anderen Worten: Zum Verständnis von Normativität brauchen wir den Ausflug in die praktische Philosophie eigentlich gar nicht. Nochmals betont Brandom den Primat der theoretischen über die praktische Vernunft: Kants normative Erklärung theoretischer Urteile zeigt […], dass wir nicht einmal in den praktischen Bereich schauen müssen, um ein Argument dieser Form zu erhalten. Verantwortung für einen möglichen Urteilsinhalt zu übernehmen bzw. sich auf ihn zu verpflichten heißt, ihn in eine synthetische Einheit der Apperzeption zu integrieren. Indem wir dies tun, erkennen wir praktisch beide Arten von Pflichten an – die zur Kritik und die zur Erweiterung – und behandeln somit das Zusammenfassen miteinander unvereinbarer Inhalte wie auch die unterlassene Anerkennung inferentieller Folgerungen als nicht erlaubt. Indem wir folglich überhaupt irgendeiner Sache apperzeptiv gewahr sind, üben wir bereits alle erforderlichen Fähigkeiten aus, um zumindest einige grundlegende normative Begriffe kompetent zu verwenden. Auch diese sind ‚reine‘ Begriffe, die etwas explizit machen, was in der Verwendung jeglicher Begriffe implizit enthalten ist.²⁵⁵
Trotz dieser Behauptung, dass die Argumente der transzendentalen Deduktion hinreichend seien, um das Wesen des Begrifflichen zu verstehen, möchte Brandom auch in der Semantischen Sonate nicht auf den Zentralbegriff von Kants praktischer Philosophie, den Begriff der Freiheit, verzichten. Dessen „von Grund auf neuartige Konzeption“ sei ein „integrales Element der von Kant herbeigeführten normativen Wende“²⁵⁶. Statt einer negativen Freiheit-von-etwas stelle Kant die positive Freiheit-zu-etwas in den Mittelpunkt. Sie ist die „Fähigkeit, uns selbst zu verpflichten bzw. verantwortlich zu machen. Wir können sie als eine Art von Autorität auffassen, nämlich als die Autorität, sich durch begriffliche Normen zu binden“²⁵⁷. An dieser Stelle beruft sich Brandom abermals auf den Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, dessen Bild vom Ausgang aus der Unmündigkeit er als den Übergang eines Heranwachsenden zur Volljährigkeit versteht. Mit einem Mal ändert sich der ganze normative Status eines Menschen,
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 48 – 53. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 53. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 56. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 57.
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er oder sie kann nun Verträge schließen und andere Handlungen vollziehen, die einerseits eine Selbstverpflichtung darstellen, andererseits „einen gewaltigen Zuwachs an positiver Freiheit“²⁵⁸ bedeuten. Einmal mehr werde daran die Differenz zu solchen Tieren deutlich, die ihr Leben lang unmündig bleiben: „Der Unterschied zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Lebewesen lässt sich auf ähnliche Weise von dieser Form normativer positiver Freiheit her verstehen – einer Freiheit, die sich nur bei Wesen findet, die Begriffe verwenden“²⁵⁹. Brandom unterstreicht an diesem Freiheitsbegriff zweierlei. Zum einen sei er als Gegenentwurf zu einer losgelösten Willkürfreiheit zu betrachten: „Dieser Auffassung zufolge ist Freiheit weit davon entfernt, mit Beschränkung unvereinbar zu sein, vielmehr besteht sie in einer bestimmten Form von Beschränkung – einer Beschränkung durch Normen“²⁶⁰. Dies sei keine Heteronomie, sondern gerade das von Kant proklamierte Ziel und Verdienst der Aufklärung, der Ausgang aus der Bevormundung durch religiöse und politische Eliten. Dem alten Gehorsamsmodell, das „die Normen, welche festlegen, was im Bereich menschlichen Verhaltens ‚angemessen‘ ist, von den Eigenschaften der nichtmenschlichen Welt ablesen“²⁶¹ wollte, setzte Kant in der Nachfolge Rousseaus kämpferisch die These der Autonomie entgegen.²⁶² Das überkommene asymmetrische Verhältnis zwischen Autorität und Freiheit wurde in ein egalitäres überführt: „Das Vermögen, durch Normen gebunden zu sein, und das Vermögen, uns selbst durch Normen zu binden, sind ein und dasselbe“²⁶³. In dieser Autonomie-These ist zugleich ein intersubjektives Moment angedeutet, das darin besteht, nicht nur sich selbst, sondern auch andere als solche autonomen Wesen zu betrachten und zu behandeln. Zum anderen hält Brandom daran fest, dass sich dieser Freiheitsbegriff (auch) aus dem Rückgang in die transzendentale Deduktion ergebe: Freiheit als Selbstgesetzgebung ist das, was zuvor schon anhand der Integration in die Einheit der Apperzeption beschrieben wurde. Wie im Theoretischen, so gehe es auch im Praktischen um das Abwägen von Gründen: Erkenntnis- und Handlungssubjekte […] sind nämlich im Hinblick darauf für Bewertungen angreifbar, ob sie gute Gründe dafür haben, ihre Autorität in der Weise auszuüben, wie sie es tun, das heißt, gerade diese bestimmten Verpflichtungen und Verantwortungen zu übernehmen. Die Bewertung dieser Gründe ist eine Bewertung des Erfolgs, den diese Subjekte
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 57. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 57. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 58. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 59. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 58 – 62. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 62.
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darin haben, diese neuen Verpflichtungen zusammen mit anderen Verpflichtungen, die sie auf ähnliche Weise angenommen und anerkannt haben, in ein Ganzes zu integrieren.²⁶⁴
(2) Zum Abschluss des Kapitels über Brandoms Kant-Interpretation sei die Eigentümlichkeit dieses Umgangs mit den Texten zur praktischen Philosophie unterstrichen. Ich habe gezeigt, dass Brandom, auch wenn er den Freiheits- bzw. Autonomiebegriff mitten aus Kants Moralkonzeption herausgreift, die Fragen der eigentlichen Ethik lediglich streift. Gegenüber Making It Explicit ist die neue Gliederung der historisch-rekonstruktiven Studien zwar in der Hinsicht klarer, dass er zunächst die theoretische und dann die praktische Philosophie bearbeitet. Diese Bearbeitung erfolgt aber nach wie vor zu theoretischen Zwecken, zur Erläuterung begrifflicher Normativität schlechthin. Brandom versteht die Autonomie-These – oder auch das Bild vom Ausgang aus der Unmündigkeit – als Aussage über begriffliche Festlegung überhaupt. Damit kann nun genauer angegeben werden, bis zu welchem Punkt von Making It Explicit Brandom den Weg mit Kant noch einmal geht und wo er Halt macht. Es ist schon mehrfach gesagt worden, dass es die Kapitel 1 bis 4 sowie der Ausgriff auf Kapitel 8 jenes Buches sind, die Brandom zu flankieren und auszubauen sucht. Allerdings geht er nicht ganz bis zum Ende von Kapitel 4. Denn in den Abschnitten 4.4 bis 4.6 behandelt er dort den Übergang zur Ethik, d. h. die Grundlegung von praktischer Rationalität vor dem Hintergrund der Praktizität des Begrifflichen. Er spricht zwar davon, dass auch in praktischer Absicht sein „explanatorische[r] Rahmen […] der Kantische“²⁶⁵ bzw. die „vorgelegte Analyse des Handelns […] durch und durch kantianisch“²⁶⁶ seien. Diesen Ansatz zu einer Analyse des Handelns wiederholt er in den historischrekonstruktiven Studien aber nicht. Das muss nicht heißen, dass er ihn aufgegeben hätte. Zumindest aber hat er diese ethische Frage zunächst vertagt. In Making It Explicit werden Handlungen mit Sellars als Inferenzausgänge bestimmt,²⁶⁷ als Performanzen, die aus sprachlichen Festlegungen folgen, als solche jedoch über den Raum der Sprache hinausgreifen. Was indes im Zusammenhang der Autonomie-These der Semantischen Sonate ausgeführt wird, betrifft nicht jene Inferenzausgänge, sondern die Frage diskursiver Festlegung selbst. Von dem Beitrag, den Kant zur praktischen Philosophie geleistet hat, ist Brandom um Lichtjahre entfernt.²⁶⁸
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 58. Brandom, Expressive Vernunft, 358. Brandom, Expressive Vernunft, 393. Vgl. insbesondere Brandom, Expressive Vernunft, 343 – 346. Neben dem Verzicht auf eine Ethik dürfte ein weiterer Preis von Brandoms Vorgehen darin bestehen, sprachlich-kulturelle Praktiken, die nicht das Behaupten, sondern bildhaft-metapho-
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Wenn Brandom in seinen historisch-rekonstruktiven Studien mit der an Kant orientierten Autonomie-These nicht den Übergang in die Ethik in die Wege leitet, was tut er stattdessen? Für ihn führt die Autonomie-These zur ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption zurück. Deren einmalige Funktion soll mit Hilfe des kantischen Freiheitsbegriffs unterstrichen werden. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass Brandom gegen eine Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie und zugunsten ihrer Fundierung in einem einzigen Prinzip Stellung bezieht. Insofern entdeckt er bei Kant etwas, das dieser selbst nicht gesehen, ja wogegen er sich ausdrücklich verwahrt hat, was aber seine „Nachfolger“ zum Ansatzpunkt ihrer Systementwürfe machten. In Brandoms Worten: „Kants explanatorisches Primat der Tätigkeit des Synthetisierens von etwas zu einer Einheit der Apperzeption findet Nachklang im auf ihn folgenden Deutschen Idealismus und wird besonders von Fichte und Hegel aufgegriffen und weiterentwickelt“²⁶⁹. Für ein angemessenes Verständnis von Brandoms Umgang zunächst mit Kant und dann mit Hegel kommt alles darauf an, diese Konzentration auf das Prinzip der transzendentalen Deduktion festzuhalten. Wenn man allein beim praktischen Stichwort der Autonomie – und in der Folge dem der Anerkennung – stehen bleibt, ergibt sich die Gefahr, das eigentliche theoretische Ziel, das Brandom verfolgt, aus den Augen zu verlieren. Brandoms strategischer Einsatz von Kant und Hegel führt nicht in die praktische Philosophie, sondern in die Metaphysik.
rische und kreative Ausdrucksweisen in den Mittelpunkt stellen, nicht zu beachten. Für diese Kritik vgl. Seel, Martin, Das Potential der Sprache. Adorno – Habermas – Brandom, in: Hogh, Philip, Deines, Stefan (Hg.), Sprache und Kritische Theorie, Frankfurt am Main, New York 2016, 275 – 295. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 33.
3 Hegel auf dem Fundament von Kants Deduktion Für Brandom ist die Geschichte, die er mit Hilfe seiner rekonstruktiven Metaphysik erzählt, sowohl eine kantianische als auch eine hegelianische. In Making It Explicit stand – zumindest auf dem Papier – die Anregung durch und Auseinandersetzung mit Kant im Vordergrund, auf die Brandom im Verlauf des Buches mehrfach zurückkommt. Wichtige Stellen des Kant-Bezugs sind im vorherigen Kapitel erläutert worden. Hegel wurde in Making It Explicit nur en passant erwähnt. Auf seine Analyse der Struktur des animalischen Begehrens als anthropologische Hinführung zur Erkenntnisproblematik sowie auf die inferentielle Bedeutung der Begriffe der „Vermittlung“ und der „bestimmten Negation“ wird zwar kurz hingewiesen.¹ Mehr als diese „wenigen kryptischen Hinweise“² findet man in Making It Explicit jedoch nicht. Wie sehr dieses Werk dennoch von verschiedenen Seiten und auch von Brandom selbst als hegelianisch wahrgenommen wurde, ist bereits in der Einleitung erwähnt worden. In Articulating Reasons benennt Brandom in einer autobiographisch anmutenden Passage den Übergang von Kant zu Hegel als entscheidend für sein eigenes Vorgehen.³ Im weiteren Verlauf werde ich zunächst der sich von Kant zu Hegel entwickelnden Semantischen Sonate folgen, um sie an gebotenen Stellen um weitere Texte, die auf Hegel eingehen, zu ergänzen. Häufig werden Punkte aus der Sonate detaillierter entfaltet und zugespitzt. Die oben durchgeführte Rekonstruktion von Brandoms Umgang mit der transzendentalen Deduktion hat ergeben, dass es für ihn drei Fragen sind, die Kant angefangen hat zu bearbeiten, die aber zur weiteren Klärung an Hegel weitergereicht werden. Die erste Frage betrifft die begriffliche Gliederung der Wirklichkeit, die zweite die Spannung von existentiellem Sein und Begriff, die dritte die metaphysische Tiefe des Verhältnisses von Subjektivität und Intersubjektivität. Man könnte auch sagen, dass alle diese Fragen Facetten der Bedeutung des Labels „Idealismus“ thematisieren. Interessanterweise lässt Brandom diese Fragen aber zunächst beiseite. Der erste Schritt, den er in der Semantischen Sonate von Kant zu Hegel mitgehen möchte, ist der von der Autonomie-These zum Vollzug wechselseitiger Anerkennung. Man kann das seine „soziale“ Erzählung nennen. Brandom wird oft so wahrgenommen, als ob er allein an ihr interessiert wäre. Tatsächlich unterstreicht er diese Tendenz mit A Spirit of Trust auf massive Weise. In 3.1 wird daher zunächst diese Entwicklung in Augenschein genommen. Verwoben mit dieser „sozialen“ bleibt aber nach wie vor
Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 149, 156 f. Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 917. Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, 50 – 54. https://doi.org/10.1515/9783110707526-006
3.1 Die „soziale“ Erzählung
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die metaphysische Erzählung, zu der ich in 3.2 zurückkehren werde. Erst in ihrem Verlauf werden die Antworten auf die in Kapitel 2 herausgeschälten drei offenen Fragen thematisiert. Hegel wird so als treuer und kongenialer Leser von Kants transzendentaler Deduktion präsentiert.
3.1 Die „soziale“ Erzählung 3.1.1 Woher die Normen? Kants Problem und Hegels Lösung (1) Wie gesehen hat Brandom Kants Autonomie-These emphatisch begrüßt und übernommen. Allerdings macht er eine Einschränkung, die wiederum mit seiner Vermischung von Äußerungen zur praktischen und theoretischen Philosophie zu tun hat. Für Brandom droht in Kants Konzeption nämlich unklar zu werden, inwiefern der Inhalt von Behauptungen Kriterien unterliegt. Wenn, in Freges Terminologie, der Inhalt einer Behauptung allein abhängig wäre von der selbstverpflichtenden Kraft der Behauptung, bestünde die Gefahr, dass wir alles als richtig betrachten müssten, was behauptet wird.⁴ Um dies zu vermeiden, bedürfe der Inhalt einer Behauptung der „relativen Unabhängigkeit“⁵ von ihrer behauptenden Kraft. Mein autonomes Urteilen produziert Urteile, die ihrerseits eine Selbständigkeit aufweisen. Ich kann sie nicht beliebig umformen, ich kann aus ihnen nicht folgern, was ich will, sondern nur das, was begrifflichen Regeln folgt. Darin besteht meine Selbst-Bindung. Andernfalls würde Autonomie zu einer beliebigen Schein-Normativität degenerieren.⁶ Laut Brandom hat Kant diese Gefahr zwar gesehen, aber er sei ihr nicht hinreichend begegnet. Seine Lösung habe darin bestanden, jeder konkreten Erfahrung die Angewiesenheit auf reine Verstandesbegriffe vorzuordnen. Sie sollten das Gerüst bilden, das der kontingenten Erkenntnispraxis Stabilität verleiht. Durch ihren noumenalen Charakter rückten sie jedoch in eine verdächtige Nähe zu den „eingeborenen Ideen“ des vorkritischen Rationalismus.⁷ Kant habe letztlich keine Erklärung für das doppelte Problem geliefert, welches die Normen seien, die wir anzuwenden haben, und wie wir von ihnen wissen könnten. Dieses
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 63 verweist hier auf Wittgensteins Einwand: „Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ‚richtig‘ nicht geredet werden kann“ (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 362 | § 258). Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 62, 64. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 81 f. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 65 f.
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3 Hegel auf dem Fundament von Kants Deduktion
doppelte Problem stelle sich auch bei der Frage der konkreten Anwendung der Begriffe. Mit Blick auf Kants Unterscheidung von Verstand und Urteilskraft schreibt Brandom (in einem früheren Text): Kant gibt uns hier eine zweistufige Erläuterung, der zufolge durch eine Art von Tätigkeit begriffliche Normen instituiert werden und diese Begriffe dann durch eine Tätigkeit anderer Art angewandt werden. Zuerst erzeugen bzw. finden wir mit einem reflektierenden Urteil (irgendwie) die bestimmte Regel, durch die ein empirischer Begriff gegliedert ist. Und erst dann lässt sich dieser Begriff in bestimmten Urteilen und Maximen anwenden.⁸
Genau dieses zweistufige Modell ziehe den Vorwurf der Beliebigkeit auf sich. Kant sei hier „für seine Verhältnisse untypisch und schuldhaft unkritisch“⁹ vorgegangen. Brandoms Antwort darauf besteht darin, das Auffinden und die Anwendung der Begriffe in einen einzigen Vorgang zusammenzuziehen. Hegel sei es gewesen, der dies zuerst getan habe. In Weiterführung der Einsichten Kants in die dem menschlichen Geist eigene Normativität habe er korrigierend die soziale Aneignung und Justierung von Begriffen durch die Praxis wechselseitiger Anerkennung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt.¹⁰ Durch diesen Schritt soll die Gefahr der Beliebigkeit ausgeschlossen werden. Wenn der Inhalt meiner Behauptungen nicht in asymmetrischer Weise von ihrer Kraft abhängen soll, muss eine Symmetrie zwischen Inhalt und Kraft hergestellt werden. Dies geschieht nun durch die Erweiterung des Bildes zu einer Symmetrie zwischen mehreren beteiligten Subjekten. Normative Status sind zugleich soziale Status. Es sind andere Subjekte, die mich für die Behauptungen, die ich aufstelle, zur Verantwortung ziehen. Sie achten darauf, ob ich die Regeln, zu denen ich mich im ersten Schritt – mit einer einzelnen Behauptung – verpflichtet habe, auch bei den weiteren Schritten – der Darlegung von Voraussetzungen und Folgerungen, die sich aus dieser Behauptung ergeben – getreu anwende. Auf diese Weise verbürgen die mit mir interagierenden Subjekte die Eigenständigkeit des Inhalts meiner Behauptungen gegenüber ihrer Kraft. Mit einem Bild gesprochen: Es liegt in meiner Hand, welche Karte ich ausspiele, welchen Schachzug ich mache, welches Wort ich verwende. Aber es liegt nicht gleichermaßen in meiner Hand, welche Bedeutung diese Karte hat: welche anderen Züge ausgeschlossen oder notwendig sind, sobald ich sie ausspiele, was ich gesagt bzw. behauptet habe, indem ich dieses Wort verwende. Es liegt also nicht an mir, welche Beschränkungen mir auferlegt sind, um die von mir eingegangene
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 275. Vgl. auch die Kritik am Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft bei Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 276 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 66. Vgl. dazu z. B. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 66 – 76.
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Verpflichtung zusammen mit den übrigen von mir anerkannten Verpflichtungen erfolgreich in ein rationales Ganzes zu integrieren.¹¹
Ich binde mich mit meinen Behauptungen, gerade weil sie nicht isoliert dastehen, sondern in einen bereits gemeinsam geteilten Kontext eingestellt werden. Dies erst sichert ihren Gehalt ab. Kants Autonomie-These habe nur besagt, dass meine Akzeptanz einer Norm notwendig ist, um dieser Norm Autorität zuzuerkennen – das war sein wichtiger Schritt über das frühere Gehorsamsmodell hinaus. Hegels Theorie gehe weiter, indem sie zeige, „dass diese individuell notwendigen normativen Einstellungen gemeinsam hinreichend sind, um normative Status zu instituieren“¹². Brandom erläutert dies wie folgt: Wir werden nur dann verantwortlich, wenn andere uns zur Verantwortung ziehen, und wir werden nur dann Autorität ausüben, wenn andere diese Autorität akzeptieren. Wir haben die Autorität, andere um Anerkennung zu bitten, um dadurch verantwortlich und autoritativ zu werden. Dafür müssen wir aber die anderen als solche anerkennen, die uns zur Verantwortung ziehen bzw. unsere eigene Autorität akzeptieren können. Auf diese Weise erteilen wir ihnen eine gewisse Autorität. Und um solche Status zu erlangen, müssen wir wiederum von ihnen anerkannt werden. Wir machen uns also ihnen gegenüber gewissermaßen auch verantwortlich. Somit erweist sich der Prozess, in dem ein apperzipierendes normatives Subjekt synthetisiert wird, das sich selbst in Urteilen und Handlungen verpflichten, also erkennend und praktisch verantwortlich werden kann, als ein sozialer Prozess gegenseitiger Anerkennung. In diesem Prozess werden zugleich die Subjekte zu einer normativen Anerkennungsgemeinschaft synthetisiert.¹³
An der Klippe der Wechselseitigkeit entscheidet sich dabei die Frage der Wirklichkeit. Brandom führt das Beispiel eines Schachspielers an, der gern ein Großer seines Sports sein möchte.¹⁴ Dazu hilft ihm nicht, sich bloß für einen solchen zu halten und eine Gruppe von anderen mäßigen Schachspielern um sich zu scharen, die ihn als ihresgleichen anerkennen. Um wirklich ein Großer zu sein, muss er entsprechend spielen können und auf diese Weise die Anerkennung wirklicher Größen gewinnen. Nicht sein Maßstab ist entscheidend, sondern erst der Einklang mit dem ihrigen bringt ihn ans Ziel. Verallgemeinert: „Meine anerkennenden Einstellungen können eine virtuelle Gemeinschaft definieren, aber nur die gegenseitige Anerkennung der von mir so Anerkannten kann mich zu einem wirklichen Mitglied derselben machen“¹⁵.
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 74. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 71. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 71. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 72. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 72.
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Im Anschluss an Hegel nennt Brandom diese Gemeinschaft von anerkennenden und anerkannten Subjekten „soziale Substanz“¹⁶ oder auch „Geist“: Hegels Ausdruck für das gesamte normativ gegliederte Reich diskursiver Tätigkeit (Kants ‚Reich der Freiheit‘) ist ‚Geist‘. In seinem Zentrum liegt die Sprache – Sprache ist ‚das Dasein des Geistes‘, schreibt Hegel. Diese ist der Ort, an dem Begriffen (was für Hegel wie für Kant dasselbe ist wie Normen) tatsächliche, öffentliche Existenz zukommt.¹⁷
Auf diese Weise habe Hegel Kants Begriff der Autonomie bzw. der positiven Freiheit weiterbestimmt. Das Bild aus Was ist Aufklärung? aufgreifend, könnte man sagen: Volljährig zu werden ist nicht isoliert möglich, sondern nur im Kontext einer Gemeinschaft, die sich bereits zuvor über die Konsequenzen verständigt hat, die das Erreichen eines bestimmten Alters mit sich bringt.¹⁸ Brandom fasst den Weg von Kants Autonomie-These zu Hegels Theorie wechselseitiger Anerkennung in vier Punkten zusammen: Erstens plädiere Hegel wie Kant für eine „starke Variante der aufklärerischen Idee, dass normative Status von Einstellungen abhängig sind“¹⁹. Seine Korrektur bestehe darin, dass er diese Idee um die Unterscheidung ergänzt, dass individuelle Einstellungen als notwendige, die Akzeptanz durch die Gemeinschaft als hinreichende Bedingung für diese Status fungieren. Zweitens mache diese soziale Variante der AutonomieThese noch plausibler, was schon mit Kant gesagt worden war, dass nämlich zu einem Konzept positiver Freiheit die Angewiesenheit auf Selbstbeschränkung unabdingbar dazu gehöre. Drittens werde die relative Unabhängigkeit des Inhalts einer Behauptung von ihrer Kraft etabliert. Das mache es möglich, in normativen Status mehr zu sehen als individuelle normative Einstellungen. Mit Hegel werde also der Vorwurf der Beliebigkeit, der gegen Kant noch erhoben werden konnte, ausgeräumt. Viertens habe sich gezeigt, „dass Hegels spezifisch sprachliche Variante des sozialen Anerkennungsmodells von Normativität einen vielversprechenden und originellen Blick auf die Begriffe positiver expressiver Freiheit als auch normativen Selbst-Seins eröffnet“²⁰. In einer Fußnote hält Brandom nochmals fest, was bereits unter 2.3 betont worden ist und auch in diesem Abschnitt hervorsticht: Die Ausführungen über Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 73. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 74. Für das Hegel-Zitat vgl. GW 9,351. Vgl. Brandom,Wiedererinnerter Idealismus, 74 f. Brandom spricht an der Stelle nur allgemein von einem jungen Menschen, der in die Sprachgemeinschaft hineinwächst, aber im Hintergrund dürfte genau dieses Argument stehen, dass es nicht nur um eine Gewohnheit, sondern um eine normative Realität geht. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 79. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 79.
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Autonomie und soziale Anerkennung sollen keinesfalls so verstanden werden, als seien sie auf das Feld der praktischen Philosophie beschränkt.Vielmehr umfassen sie „den gesamten Bereich des Begrifflichen, die theoretischen und zur Erkenntnis gehörenden Anwendungen von Begriffen ebenso wie die praktischen“²¹. (2) In der Tat ist es wichtig, diesen letzten Hinweis zu beachten. Brandoms Kritik an Kants Autonomiekonzept hat letztlich wenig mit dessen Schriften zur Grundlegung der praktischen Philosophie zu tun. Wenn es um „den gesamten Bereich des Begrifflichen“ gehen soll, wie der bisherige Gedankengang der Semantischen Sonate nahelegt, müssen wir nach einem anderen Ort suchen, um das ursprüngliche Problem zu lokalisieren. Dieser Ort ist der „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ in der Kritik der reinen Vernunft. Es ist diese „Entdeckung“ bereits vorliegender Begriffe, die für Brandom den Stein des Anstoßes darstellt. Kant beansprucht, die Tafel der Kategorien – im Unterschied zu Aristoteles – „systematisch aus einem gemeinschaftlichen Princip, nämlich dem Vermögen z u u r t h e i l e n […], erzeugt“²² zu haben. Genau dieser Erfolg freilich ist auch immer wieder bestritten worden: Kant sei, um seine eigenen Worte gegen ihn zu wenden, nicht minder „rhapsodistisch“ und „auf gut Glück“²³ vorgegangen. Einer der Kritiker war hier natürlich Hegel.²⁴ Indem Brandom in diesen Chor der Kritik einstimmt, wendet er seinen anti-empiristischen Standardeinwand vom Mythos des Gegebenen nun auch auf Kants „Analytik der Begriffe“ an. Die reinen Verstandesbegriffe dürfen nicht als Gegebene aufgefunden werden, sondern sie selbst werden nur durch ihren Gebrauch bestimmt.²⁵ Welche Strategie verfolgt Brandom mit diesem ersten Schritt von Kant zu Hegel? Für sich betrachtet sieht dieser Übergang nach dem Musterbeispiel einer deflationären Lesart aus. Ähnlich wie bei Pippin, Pinkard oder auch Honneth wird das Wesentliche von Hegels philosophischem Beitrag darin gesehen, subjektive Vollzüge durch die Einbettung in soziale Praktiken wechselseitiger Anerkennung verständlich zu machen. Brandoms Zugriff auf Hegel ist oft (allein) in dieser deflationären Weise verstanden worden. In der vorliegenden Arbeit wird dieser erste
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 78. KrV B 106 / A 80 f. KrV B 106 / A 80. Vgl. beispielsweise § 42 der Enzyklopädie von 1830: GW 20,79 f. Der Diagnose einer Trennung der Instituierung der reinen Verstandesbegriffe von ihrer Anwendung könnte entgegengehalten werden, dass Kant die Tafeln der Urteilsformen und der Kategorien auf ihre Anwendung in der „Analytik der Grundsätze“ hin entworfen habe. Diese These geht auf Hermann Cohen zurück: vgl. dazu Mohr, Kants Grundlegung der kritischen Philosophie, 174 f.
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Schritt von Kant zu Hegel hingegen lediglich als Zwischenschritt im Rahmen einer größeren metaphysischen Agenda interpretiert. Dieser Schritt ist bestimmt durch seine Vorgeschichte, durch den Anweg über Kants transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Und er wird weiterbestimmt werden durch den noch ausstehenden Verlauf seiner Nachgeschichte. Brandom wird nämlich auch seine Hegel-Interpretation in entscheidender Weise auf Kants Deduktion aufbauen (vgl. 3.2). Zunächst aber ist es sinnvoll, den vordergründigen Übergang von Kant zu Hegel ausführlicher ins Auge zu fassen. Bisher ist das Anerkennungstheorem nämlich recht pauschal und noch nicht in direkter Auseinandersetzung mit Hegels entsprechenden Texten eingeführt worden. Brandom hat selbst davon gesprochen, dass der Begriff der Anerkennung so etwas wie ein „Blackbox-Ausdruck“²⁶ sei, der sich zwar in aller Munde befinde, dabei aber vielerlei Bedeutungen annehmen könne. In A Spirit of Trust will Brandom mittels einer ausführlichen Interpretation des Selbstbewusstsein-Kapitels der Phänomenologie des Geistes zur Klärung der Sache beitragen.²⁷ Dies wird Gegenstand des Abschnitts 3.1.2 sein. Vorab sei darauf hingewiesen, dass es in meiner Diskussion Brandoms nun zu einer Inversion der Reihenfolge kommt, sofern man die Kapitel der Phänomenologie – und entsprechend die Teile von A Spirit of Trust – als Raster zugrunde legt. Während es in 3.1.2 um das Selbstbewusstsein-Kapitel geht, macht das Unterkapitel 3.2 den Schritt zurück in die Einleitung der Phänomenologie. Das ist natürlich kein Lapsus, sondern meine Absicht. Diese Inversion gründet in der Entwicklung der systematischen Argumente der Semantischen Sonate. Dort wird zunächst (mit Kant) der Begriff der Autonomie dargelegt, der dann (mit Hegel) zum Begriff der Anerkennung erweitert wird. Und darauf fragt Brandom, wie sich diese Überlegungen zum Anerkennungsbegriff auf die vorherige Debatte um die transzendentale Deduktion zurückbeziehen ließen. Der Begriff der Anerkennung wird durch die Rückbindung an den Begriff der Synthesis fortbestimmt werden. Das ist die systematische Entwicklung der Semantischen Sonate. Indem ich dieser Entwicklung folge, wird deutlich werden, wie die zunächst deflationär erscheinende Hegel-Lesart Brandoms in die metaphysische Diskussion einschwenken wird, die oben aus seiner Kant-Lesart herausgearbeitet worden ist.
Brandom, Robert B., Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution. Die Struktur von Wünschen und Anerkennung, in: Halbig / Quante / Siep, Hegels Erbe, 46 – 77, 64. Dieser Artikel ist nahezu unverändert Grundlage von Brandom, A Spirit of Trust, 235 – 261. Über den zuvor genannten Abschnitt hinaus vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 262– 362.
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3.1.2 Anerkennung – praktisch und theoretisch (1) Um den „Blackbox-Ausdruck“ der Anerkennung begrifflich zu schärfen, wählt Brandom den Weg einer Interpretation der ersten Hälfte des SelbstbewusstseinKapitels der Phänomenologie des Geistes, d. h. der einleitenden Passage des Kapitels IV. Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst sowie des an sie anschließenden Abschnitts A. Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft. Mit Hegel sieht Brandom in der Dynamik der animalischen Begierde und im Prozess wechselseitigen Anerkennens die entscheidenden Elemente zu Erläuterung dessen, was Selbstbewusstsein ausmacht.²⁸ Bereits in Making It Explicit und Articulating Reasons wie in seinen Texten zu Kant hat Brandom darauf hingewiesen, dass er eine Abgrenzungsgeschichte darüber erzählen möchte, was (uns) geist-begabte Wesen von solchen Wesen unterscheidet, denen nicht in der gleichen Weise Geist zugesprochen wird. Des Rätsels Lösung liegt für ihn nicht im Vorhandensein eines eigentümlichen „mindstuff“, sondern in der Teilnahme an den normativen Praktiken des Gebens und Nehmens von Gründen. Auch in seiner nun zu besprechenden Hegel-Lektüre geht Brandom von der Frage der Abgrenzung aus, stellt sie jedoch mit anderen Worten und in leicht verschobener Versuchsanordnung. Nun geht es ihm um die „Definition eines wesentlich selbstbewussten Wesens“²⁹ – im Unterschied, aber auch in Verbindung zu Wesen, die nicht wesentlich selbstbewusst sind. Der Begriff des Selbstbewusstseins wird von Brandom mit dem der SelbstKonstitution verbunden. Ein selbstbewusstes Wesen ist demnach ein Wesen, das etwas aus sich zu machen weiß. Es übernimmt nicht einfach Fremdbeschreibungen, sondern gestaltet und versteht sich mittels Selbstzuschreibungen: „Man nennt ein Wesen ‚wesentlich selbstbewusst‘, wenn das, was es für sich ist, seine Selbst-Konzeption, ein wesentlicher Bestandteil dessen ist, was es an sich ist“³⁰. Das solle nicht bedeuten, dass es sich selbst immer vollständig durchschaut habe. Vielmehr werde mittels jener Definition die Möglichkeit der Intransparenz angesichts seiner selbst, die Möglichkeit einer Selbsttäuschung einbezogen. Eine solche Selbsttäuschung sei dann nämlich nichts anderes als ein Aspekt des Selbstbildes. Mit der Möglichkeit der Selbsttäuschung ist allerdings zugleich die Möglichkeit einer Korrektur dieser Selbsttäuschung gegeben, die zur Selbstkor-
Hier ist also der Punkt erreicht, an dem Brandom den Begriff des Selbstbewusstseins überhaupt erst einführt, während er seine Verwendung im Kontext der Kant-Interpretation noch vermieden hat. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 46. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 46.
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rektur und zur „Selbsttransformation“³¹ führen kann. Eine Selbst-Konzeption liegt nicht statisch ein für alle Mal vor, sondern entwickelt sich dynamisch. Daher, so Brandom, haben „wesentlich selbstbewusste Wesen keine Natur, sie haben eine Geschichte“, bzw. „es ist ihre Natur, nicht nur eine Vergangenheit zu haben, sondern eine Geschichte: eine Sequenz teilweise selbstkonstituierender Selbsttransformationen, die auf jeder Stufe durch ihre Selbst-Konzeptionen vermittelt sind und darin kulminieren, dass sie sind, was sie aktuell sind“³². Ein solches sich mittels transformierender Selbst-Konzeptionen transformierendes Selbst ist offensichtlich eine komplexe Entität. Vieles an ihr ist kontingent. Einige Aspekte an ihr wird man als wichtiger, andere als weniger wichtig ansehen. Und es kann sein, dass sie etwas an ihrer Selbst-Konzeption als so wichtig erachtet, dass sie darauf zu verzichten nicht bereit ist, dass es einen Kern gibt, mit dem sie sich voll und ganz „identifiziert“³³. Dieser Akt der Identifikation sei maßgeblich für die Prägung der Identität eines Selbst: „So gesagt, sind wesentlich selbstbewusste Wesen solche, deren Identität – ihr Status, das zu sein, was sie an sich sind – zum Teil von ihrer Haltung der Identifikation abhängt, ihrem Verhalten, sich mit herausragenden Elementen dessen zu identifizieren, was sie für sich sind“³⁴. Die Identität eines Selbst kristallisiere sich insbesondere dann heraus, wenn es hart auf hart kommt – weil man sich dann auf eine evaluative Hierarchie festlegen muss: auf das, was man unbedingt für sich bewahren will, und auf das, was man aufzugeben bereit ist. Dies ist Brandoms ebenso knappe wie aufschlussreiche Deutung von Hegels Geschichte über Herr und Knecht (zumindest ihres ersten Aufeinandertreffens). Der Herr, der den Tod im Kampf nicht fürchtet, macht deutlich, dass ihm etwas anderes wichtiger ist als das bloße Überleben. Die „Bereitschaft, sein biologisches Leben um einer Selbstverpflichtung willen zu riskieren“³⁵, markiert den Übergang von der Natur zum Geist: „Indem man bereit ist, sein Leben für etwas zu riskieren, zeigt man, dass das Leben, welches man riskiert, kein wesentliches Element des Selbst ist, das man durch diese Bereitschaft konstituiert, während das Leben, für das man sein Leben riskiert, gerade ein solches Element ist“³⁶. Die Frage, wer ich sein will, entscheidet nicht die Biologie. Brandom nennt, Hegel in der Drastik noch übertreffend, das Beispiel eines Samurais, der bei einer Verletzung seines Ehrenkodex vor der Entscheidung steht, entweder sich selbst zu töten und so ein Samurai zu bleiben,
Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 46. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 47. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 49. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 49. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 49. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 49.
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oder aber auf die Selbsttötung zu verzichten und damit deutlich zu machen, dass er „niemals ein Samurai gewesen ist, sondern nur ein Tier, das bisweilen danach strebte, einer zu sein“³⁷. Ein etwas näher liegendes Beispiel ist das Riskieren oder Opfern der Arbeitsstelle aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit den eigenen moralischen oder politischen Überzeugungen.³⁸ Den Weg zu einem solchen Verständnis von Selbstbewusstsein und Selbstkonstitution versteht Brandom nun auf der Basis des von ihm interpretierten Abschnitts aus der Phänomenologie nicht als einen Sprung, sondern als einen Übergang aus der Welt der Natur in die Welt des Geistes: mit Hilfe einer Analyse der animalischen Begierde.³⁹ Tiere können unterscheiden zwischen Dingen, die sie fressen, und Dingen, die sie nicht fressen. Sie behandeln etwas als Nahrung und anderes nicht. Entsprechend strukturieren sie ihre Welt. Diese Welt ist vielschichtig. Im Unterschied zum zweitstelligen Reiz-Reaktions-Schema, dem zufolge ein Stück Eisen auf den Reiz der Nässe mit Rosten reagiert, ist das animalische Begehren durch eine dreistellige Struktur gekennzeichnet. Die Reaktion erfolgt nicht automatisch, sondern bedarf einer vermittelnden Tätigkeit. Die animalische Begierde – auch „erotisches Bewusstsein“ oder „orectic awareness“ genannt⁴⁰ – „hat eine dreiteilige Struktur, die durch die Relationen zwischen Hunger, Essen und Nahrung ausgedrückt wird“⁴¹. Die Welt des Tieres ist auch deshalb komplexer als die Welt des Eisens, weil sich durch die benannte dreiteilige Struktur die Dimension einer aktiven Potentialität eröffnet. Aus Sicht des Tieres „werden Objekte klassifiziert, die den Hunger stillen würden, wenn man mit Essen auf sie reagierte, und solche Objekte, die diese Eigenschaft nicht haben“⁴². Wir haben es hier mit einer „Art primitiver Intentionalität“⁴³ zu tun, und das nicht nur im Sinne einer Gerichtetheit, sondern auch verstanden als eine Theorie der
Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 50. Vgl. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 51. Brandom gibt Hegels „Begierde“ mit „desire“ wieder; in der Rückübersetzung ist daraus „Wunsch“ geworden. Das mag sich auf den ersten Blick besser in die aktuellen Debattenterminologie einfügen, aber es nimmt Hegels Vorschlag nicht nur die rhetorische Kraft, sondern verwischt auch die eigentliche Pointe, dass es sich tatsächlich um körperliche Begierde, nicht etwa um intellektuell gesteuerte Wünsche handelt. Zunächst hat Brandom das Adjektiv „erotic“ verwendet, das er später in den meisten Fällen durch „orectic“ ersetzt hat: vgl. einerseits Brandom, Robert B., The Structure of Desire and Recognition. Self-consciousness and Self-constitution, in: Philosophy and Social Theory 33 (2007), 127– 150, andererseits Ders., A Spirit of Trust. Ein knapper Verweis auf die Thematik bereits bei Ders., Expressive Vernunft, 149. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 54. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 53. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 53.
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Bedeutung. Einige Objekte haben für ein bestimmtes Tier die Bedeutung, dass sie Nahrung für es sein können, andere Objekte haben diese Bedeutung nicht. Von seinem subjektiven Hunger gelangt das Tier mittels der Tätigkeit des Fressens bzw. seines Unterlassens zu einem Wissen über die Welt. Ein Tier merkt, dass sein Hunger nicht durch den Verzehr jedes beliebigen Dinges gestillt wird, dass es bestimmte Dinge nicht fressen kann. Es lernt also – per trial and error – etwas über die Dinge, so wie sie sind, und kann seine Verhaltensweisen entsprechend anpassen. Die subjektive Begierde erweist sich als Weg zur Objektivität, zu einer Vergewisserung über die Dinge.⁴⁴ Auf diese Weise ist „eine Geschichte über eine Art Protobewusstsein“ erzählt, „die noch immer in vollständig naturalistischen Begriffen verständlich ist und doch schon die grundlegenden praktischen Elemente liefert, anhand deren vielleicht verstanden werden könnte, wie dasjenige theoretische begriffliche Bewusstsein sich entwickelt, das in den ersten drei Kapiteln der Phänomenologie diskutiert wird“⁴⁵. Zugleich werden durch diese Geschichte die Elemente bereitgestellt, die sie über eine rein naturalistische Fassung hinaustreiben. Die animalische Begierde drängt aus sich selbst heraus in den Raum der Gründe vor. Indem nämlich Objektivität begehrt wird, wird auch begehrt, dieser Objektivität sicher zu sein. Und diese Vergewisserung erfolgt durch die Anerkennung seitens anderer. Die Begierde richtet sich zwar zunächst auf ein einzelnes Objekt. Begierde ist eine spezifische Form der Anerkennung, wie Brandom sagt: Ein Objekt wird anerkannt als mit einer bestimmten Bedeutung für mich versehen, z. B. als Nahrung. Indem die Begierde dies tut, verlangt sie aber auch nach einem weiteren, allgemeinen Rahmen der Anerkennung: Sie verlangt, „dass andere einen in der Praxis als ‚Auffassenden‘ ansehen oder behandeln, als etwas, für das Dinge etwas sein können, als Begründer von Bedeutungen“⁴⁶. Die subjektive Begierde verlangt nach einem intersubjektiven Kontext. Nahrung ist etwas, auf das die eine wie der andere mit Essen reagieren kann.⁴⁷ Somit zeigt sich, dass etwas an sich ist, was es zunächst nur für mich war, nämlich Nahrung. Dies geschieht in der Überkreuzung mit anderen Akteuren, die das gleiche tun wie ich – was einschließt, dass die Angelegenheit zunächst vor allem im Modus der Konkurrenz ausgetragen wird. Diese Praxis entscheidet über die Korrektheit und den Erfolg
Vgl. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 55. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 56. – Dieses Zitat ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Inversion der Reihenfolge der Themen aus der Phänomenologie, die ich am Ende von 3.1.1 angekündigt habe, für eine Verständigung über Brandom systematisch angemessen ist. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 63. Vgl. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 66.
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meiner Akte, und sie konstituiert eine bestimmte normative Form von Gemeinschaft: [S]pezifische Anerkennung [schließt] ein, dass man sich gegenseitig so akzeptiert, als wüsste man, wie Dinge sind […]. Wenn ich das tue, dann behandle ich dich als einen von uns, in einem primitiven normativen Sinn von ‚uns‘ – die wir denselben Normen, derselben Autorität unterliegen –, der durch solche Einstellungen konstituiert wird.⁴⁸
Der Schritt vom Reich der Tiere, die keine Begriffe verwenden, zum Reich derer, die es tun, besteht für Brandom nun darin, dass der besagte Prozess reflexiv wird: Der Rückblick auf die primitivste Art vorbegrifflicher Anerkennung anderer aus einer voll entwickelten, begrifflich artikulierten Perspektive bringt die entscheidende Grenze zum Vorschein, die zwischen dem bloß Natürlichen und dem beginnenden Normativen überschritten wird. Bei dem bloß erotisch bewussten Tier ist der Wunsch ein Zustand, der Reaktionen unmittelbar motiviert und reguliert. Er setzt verschiedene reaktive Dispositionen zu handeln kausal in Gang, und seine sachliche Befriedigung bringt das Geschöpf dazu, davon Abstand zu nehmen oder darauf zu beharren. Aber der Anerkennende, der sich dessen bewusst ist, dass das Wesen sich selber bestimmter Dinge bewusst ist, fühlt die Wünsche des Wesens nicht, sondern schreibt sie ihm nur implizit und praktisch zu, indem er es so behandelt, als hätte es sie.⁴⁹
Anerkennung wird so zu einer „distanziertere[n], vermitteltere[n] Haltung“⁵⁰, sie ist nicht mehr unmittelbare Begierde. Es geht nicht mehr nur um die Reglementierung und Verobjektivierung des Begehrens eines bestimmten Gegenstandes, sondern Anerkennung vollzieht sich auf dieser Ebene symmetrisch und wechselseitig zwischen den beteiligten Akteuren. Ich erkenne die andere Akteurin an als mich anerkennend. Ich verstehe mich selbst als anerkannt und anerkennend. Diese symmetrische und wechselseitige Form nennt Brandom „robuste Anerkennung“⁵¹. Und mit ihr sind wir zurück an den Ausgangspunkt gelangt, zu der Frage nämlich, wie sich Selbstbewusstsein als Selbst-Konstitution verstehen lässt: Die Verbindung zwischen robuster Anerkennung und Selbstbewusstsein ist ebenso unmittelbar wie die zwischen der dreiteiligen Struktur des erotischen Bewusstseins und dem Bewusstsein schlechthin. Denn ein Selbst, ein Subjekt, ein Bewusstsein zu sein – bei Hegel wie bei Kant – heißt, das Subjekt normativer Verfasstheiten zu sein: nicht nur von Wünschen, sondern auch von Verpflichtungen. Ein Subjekt muss fähig sein, Dingen gegenüber eine normative Haltung einzunehmen, sich zu verpflichten, Verantwortung zu übernehmen,
Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 67. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 67 f. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 68. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 69.
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Autorität auszuüben, Richtigkeit einzuschätzen. […] Selbstbewusstsein besteht dann in der Anwendung dieser praktischen Protokonzeption eines Selbst auf sich selbst: nicht nur andere, sondern sich selbst anzuerkennen. Dies ist Selbstbewusstsein, oder das Haben einer Selbst-Konzeption.⁵²
Zu dieser Selbst-Konzeption gehören mithin zwei Aspekte: Es gehört die oben dargelegte allgemeine Fähigkeit dazu, ein Gegenüber als eine Instanz des Anerkennens anzuerkennen – und die reflexive Anwendung dieser Fähigkeit auf sich selbst. Man entdeckt dabei, „dass zu denen, die man anerkennt, auch man selbst gehört“⁵³. Selbstbewusstsein als Selbst-Konstitution ist also in den Kontext einer Struktur und eines Prozesses gestellt, die über das Individuum hinausgreifen. Bei Hegel ist mit dem durchdachten Begriff des Selbstbewusstseins „schon der Begriff d e s G e i s t e s für uns vorhanden“⁵⁴, den er mit der Wendung vom „I c h , das W i r , und W i r , das I c h ist“⁵⁵ einführt, und so sieht es auch Brandom: Auf diese Weise ist robustes Selbstbewusstsein nur durch reziproke Anerkennung erreichbar: Es setzt voraus, von wenigstens einigen derer, die man robust anerkennt, robust anerkannt zu werden. Das bedeutet, dass eine Gemeinschaft (eine Art Allgemeines) implizit durch die eigene robuste Anerkennung konstituiert und tatsächlich erreicht wird, insofern sie erwidert wird. Das ist die Art reziprok anerkennender Gemeinschaft, innerhalb deren allein genuines (robustes) Selbstbewusstsein möglich ist: das ‚‚Ich‘, das ‚Wir‘ ist, und das ‚Wir‘, das ‚Ich‘ ist‘.⁵⁶
(2) In A Spirit of Trust, angelegt als Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der Phänomenologie des Geistes, verfolgt Brandom die Anerkennungsthematik weiter und erweitert sie – in Teil 3 jenes Buches, in dem er das Vernunft- und das GeistKapitel deutet – zu einer Theorie mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Fortschritts. Das Ziel ist eine Sprachgemeinschaft, in der sich alle Mitglieder wechselseitig als gleichberechtigte Teilnehmer am Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen anerkennen und darüber hinaus bereit sind, eigene Fehler in diesem Spiel – bzw. die je eigene Perspektive und die partikularen Interessen, von denen man im Endeffekt doch beeinträchtigt bleibt – einzugestehen und einander solche Fehler bzw. die jeweilige Endlichkeit zu „vergeben“. Liest man diese sehr umfangreichen Ausführungen, die mehr als die Hälfte der Seiten jenes Buches in Anspruch nehmen, so kann man den Eindruck gewinnen, dass Brandom seine
Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 74 f. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 75. GW 9,108. GW 9,108. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 76.
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metaphysische Agenda wieder aus den Augen verloren hat. Ich werde diesem Weg in der vorliegenden Arbeit daher nicht weiter folgen. Stattdessen möchte ich im weiteren Verlauf dieses Unterkapitels aufzeigen, wie Brandom den Begriff der Anerkennung an sein metaphysisches Projekt zurückbindet. Zunächst werde ich noch etwas genauer erläutern, was Brandom mit Hegels Text getan hat (Punkt 2), um darauf durch eine Kontrastierung mit der Anerkennungstheorie von Axel Honneth den Standort Brandoms festzuzurren (Punkt 3). Brandom konzentriert sich auf die Analyse der Struktur der Begierde. Dabei verfolgt er ein bestimmtes Ziel. Für ihn fügt sich der prägnante Vorschlag Hegels in sein eigenes metaphysisches Projekt ein: den Weg zu einer Begründung von Objektivität mittels eines normativen Pragmatismus, der sowohl anti-naturalistisch als auch anti-dualistisch zugeschnitten ist. Es geht hier nochmals um die Frage, die oben im Anschluss an Sebastian Gardner thematisiert worden ist, wie nämlich der Zusammenhang von Natur und Normativität zu konzipieren ist. Was kann es bedeuten zu behaupten, dass die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Normativen selbst eine normative Unterscheidung sei? Brandom möchte eine Antwort auf diese Frage geben, wenn er sagt, dass angesichts des begehrenden Protobewusstseins die „entscheidende Grenze zum Vorschein“ komme, „die zwischen dem bloß Natürlichen und dem beginnenden Normativen überschritten wird“. Es handelt sich dabei um eine Grenze, die nicht nur trennt, sondern die auch verbindet – über die man nicht springen muss, sondern über die man gehen kann. Ja, es gibt eine Differenz zwischen dem Natürlichen einerseits und dem Normativen, Geistigen, Geschichtlichen andererseits. Ausgehend von dieser Differenz hat Brandom seine Überlegungen begonnen. Diese Unterscheidung erfolgt allerdings in einem Kontinuum. Einmal mehr verschafft sich hier Brandoms Anti-Dualismus Ausdruck. Daran zeigt sich auch, wie der Weg von Kant zu Hegel aus der Semantischen Sonate ausgestaltet wird. Kants Konzept der Autonomie stand noch im Halbschatten eines DualismusVerdachts, auch wenn Brandom beteuerte, dass er eigentlich nicht zutreffe. Mit Hegel sieht Brandom diesen Verdacht nun endgültig ausgeräumt. Das bedeutet allerdings auch, dass der Autonomiebegriff nicht einfach durch den (bzw. irgendeinen) Anerkennungsbegriff ersetzt worden ist. Vielmehr ist der Autonomiebegriff zugleich erweitert und restringiert worden, nämlich mittels des präziseren Begriffs der Anerkennung, die aus Begierde hervorgeht. Damit wird dieser Begriff freilich metaphysisch aufgeladen. Was ist das Metaphysische am Begriff der Begierde – und mithin an dem der Anerkennung? So wie Brandom Hegels Ausführungen deutet, besteht das Entscheidende an der animalischen Begierde darin, dass das Tier durch sie seine Welt strukturiert und in einer bestimmten Weise ausdifferenziert. Durch Begierde kommt eine aktive Potentialität in die Welt. Man kann auch sagen: Durch Begierde
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kann Negativität als Negativität erfahren werden. Einem Eisenteil, das mangels Nässe nicht anfängt zu rosten, fehlt nichts. Einem Tier, das nicht die richtige Nahrung findet, fehlt sehr wohl etwas. Es kann den Mangel spüren. Und es weiß, wonach es suchen muss, was da sein müsste, damit sein Hunger gestillt würde. Aus der Analyse der animalischen Begierde ergibt sich das Bild einer Welt, die wesentlich durch das Erleben von Negativität geprägt ist, durch eine Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, sowie durch Aktivitäten, die diese Differenz zu überwinden suchen. Die Welt des Tieres besteht nicht im bloßen Vorliegen von Dingen, sondern sie besteht aus dieser Negativitätserfahrung und den durch sie provozierten Aktivitäten. Brandoms Analyse führt dann über den Drang der Begierde nach Objektivität zum Begriff der spezifischen Anerkennung, die ihrerseits robuste Anerkennung voraussetzt. Darin sieht er, auf kontinuierliche Weise, den Weg von der Natur zum „Geist“ geebnet.⁵⁷ Das ist ein Hinweis, wie Brandom den Slogan auflösen wird, der von Gardner kritisiert worden ist. Begierde fordert Anerkennung, wenn sie an ihr Ziel kommen möchte. Mit anderen Worten: Natur verlangt nach Normativität. Sie verweist von sich aus auf eine Art der Beschreibung, die mit einer bloß naturalistischen Terminologie nicht zu leisten ist. Auf diese Weise wird dem Normativen ein Vorrang vor dem Natürlichen eingeräumt. Die Unterscheidung zwischen Normativität und Natur ist selbst normativ. Das muss nicht heißen, in eine andere Welt zu springen, die der natürlichen Welt dualistisch gegenübersteht. Allerdings kann es heißen, die eine Welt, in der Begierde Anerkennung fordert, anders zu beschreiben, als es Empirismus und Naturalismus versuchen. Brandoms Hinwendung zu einer bestimmten Form von Idealismus, die im folgenden Unterkapitel nachvollzogen werden soll, wird das verdeutlichen.
Eine Unschärfe besteht meines Erachtens darin, wie Brandom die Abgrenzung von Wesen, die zwar begehren, aber keine Begriffe verwenden, und solchen, die zudem Begriffe verwenden, vornimmt. Er differenziert zwischen unmittelbarem Fühlen und distanziertem Zuschreiben und Behandeln. Jedoch hat er zuvor auch das Begehren dadurch ausgezeichnet, dass es zum Zuschreiben und zu entsprechendem Handeln führe (am Beispiel von Objekten, die als Nahrung fungieren können). – Mit Blick auf dieselbe Stelle aus der Phänomenologie, aber unter Einbezug der späteren Naturphilosophie, wird diese Frage diskutiert bei Pinkard, Hegel’s Naturalism, 26 f. Pinkards Lösung ist, dass zwar auch Pflanzen und Tiere Gründe haben können, sich so oder so zu verhalten (hier könnte man z. B. nennen: in Richtung der Lichtquelle wachsen; der Raubkatze aus dem Weg gehen), aber nicht Gründe als Gründe verstehen, nicht Inferenzen bilden können. – Dass die Konzeptualisierung der Befreiung des „Geistes“ von der Natur über den Gedanken der Selbstkonstitution des Lebendigen führt, und zwar so, dass diese Herkunft aus der Natur im Prozess der Befreiung nicht verloren geht, sondern präsent bleibt, ist zuletzt bei Khurana, Thomas, Das Leben der Freiheit. Form und Wirklichkeit der Autonomie, Berlin 2017, überzeugend dargelegt worden.
3.1 Die „soziale“ Erzählung
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Begierde fordert Anerkennung. Sie fordert robuste Anerkennung, um sich ihrer Objekte zu versichern. Wir haben es hier also in erster Linie nicht mit einem existentiellen oder praktischen Verständnis von Anerkennung zu tun, auch wenn diese Aspekte sicher dazugehören. Im Zentrum steht das theoretische Problem der Vergewisserung über Objektivität. Der Mensch ist ein Tier, das in seinen Urteilen über Objekte recht haben will. Zum Zwecke des Nachweises der Objektivität dessen, was Begriffsverwenderinnen behaupten, bedarf es wechselseitiger Anerkennung. Zu diesem Zweck setzt Brandom Hegels Anerkennungsbegriff ein. Man kann dies in Analogie zum Projekt von Making It Explicit verstehen, mit dem Brandom Referenz kraft Inferenz erklären wollte. (3) Auch Brandoms „soziale“ Erzählung hat mit ihrem Drang nach der Versicherung über Objektivität eine metaphysische Komponente. Diese Beobachtung soll unterstrichen werden, indem seine Interpretation von Begierde und Anerkennung mit derjenigen von Axel Honneth in ein kontrastierendes Verhältnis gesetzt wird. Honneth hat ebenfalls eine detaillierte Interpretation des Selbstbewusstsein-Kapitels angeboten, die den Übergang von der Begierde zur Anerkennung in den Mittelpunkt rückt.⁵⁸ Was sein Eingangsstatement betrifft, so kann zunächst eine Gemeinsamkeit mit Brandom hervorgehoben werden. Denn Honneth betont, versehen mit Spitzen gegen andere Deutungsansätze, dass Hegels Absichten von „viel grundsätzlicherer Art [waren], als es die historisierende oder soziologisierende Deutung wahrhaben wollte: Nicht an einem geschichtlichen Ereignis, nicht an einem Konfliktgeschehen war ihm primär gelegen, sondern an einem geradezu transzendentalen Faktum, das sich als Voraussetzung aller menschlichen Sozialität erweisen sollte“⁵⁹. Der Übergang von der Begierde zur Anerkennung sei der entscheidende argumentative Schritt, um auf ein Niveau zu gelangen, auf dem dann, und zwar erst in einem weiteren Schritt, die Diskussion geschichtlicher und gesellschaftlicher Zusammenhänge stattfinden könne. In dieser Gewichtung gibt es also eine gewisse Übereinstimmung zwischen Honneth und Brandom. Beide verstehen Hegel so, dass er einen Begriff der Anerkennung bereitstellt, der aus einer grundständigen Analyse animalischen Lebens gewonnen ist und dem deshalb der Nimbus der Unhintergehbarkeit eignet. Eine weitere Übereinstimmung ergibt sich daraus, dass beide der Vorgabe Hegels folgen, dass Begierde die Erfahrung von Negativität bedeutet und ihr auf diese Vgl. Honneth, Axel, Von der Begierde zur Anerkennung. Hegels Begründung von Selbstbewußtsein, in: Vieweg, Klaus, Welsch, Wolfgang (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt am Main 2008, 187– 204. Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung, 187 f.
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Weise eine entscheidende welterschließende Funktion zukommt. Honneths Erläuterungen zu diesem Punkt zeigen aber auch den Unterschied zu Brandom an. Er konzentriert sich auf Hegels Gedanken, dass das begehrende Wesen einerseits auf die Einverleibung, die Vernichtung seines Objektes zielt, andererseits genau dadurch die „Selbständigkeit seines Gegenstandes“⁶⁰ erfährt. Die Begierde wird nur unter der Voraussetzung befriedigt, dass ihr Objekt existiert. Das begehrende Wesen erfährt in seiner vermeintlichen alles verzehrenden Allmacht seine Begrenztheit sowie die Notwendigkeit dieser Begrenztheit für sein eigenes Gedeihen. Honneth illustriert die abstrakten Sätze Hegels mit Hilfe von Erkenntnissen aus der psychoanalytischen Erforschung frühkindlicher Entwicklung.⁶¹ In seiner „omnipotenten Phase“ meint der Säugling, dass er seine Umwelt ganz beherrschen und entsprechend Objekte nach Belieben zerstören könne. Er lernt aber nach und nach, „in seiner Mutter oder Bezugsperson ein Wesen zu entdecken, das auf seine zerstörerischen Akte mit intentionaler Differenziertheit reagiert“⁶², mal mit Nachsicht, mal mit sanftem Widerstand, manchmal seinerseits mit Aggression oder auch mit Nichtbeachtung. Durch diese Erfahrung der Negation innerhalb der fundamentalen Beziehung differenziert sich die Welt des Kindes immer weiter aus. Vor diesem Hintergrund spricht Honneth von einem „ontologischen Bedürfnis“⁶³, sowohl mit Blick auf die Entwicklungspsychologie als auch auf Hegels Text. Das Bedürfnis ist ontologisch, „weil es auf die Bestätigung einer bestimmten Vorstellung vom Seinscharakter der Wirklichkeit gerichtet ist“⁶⁴. Seine Erfüllung findet es, wenn die Kombination zweier Bedingungen eintritt: „Das von ihm erfüllte Subjekt muß einerseits auf ein Element der Wirklichkeit stoßen, welches von sich aus die zuvor geleistete Negation an ihm selbst ausübt, und umgekehrt muß jenes Subjekt andererseits eine derartige Negation an oder gegenüber sich selbst vollziehen“⁶⁵. Dies gelingt aber nur im Treffen auf ein anderes Subjekt, das seinerseits nicht passiv ist, sondern die besagte Negation aktiv vornimmt. Damit ist die „Wendung zur Intersubjektivität“⁶⁶ hin vollzogen. Was Hegel Begierde nannte, hat sich zur Struktur wechselseitiger Anerkennung hin GW 9,107. Vgl. Honneth,Von der Begierde zur Anerkennung, 198 – 202. Auf diese Illustration bzw. dieses Argument im Anschluss an Donald Winnicott kommt Honneth immer wieder zu sprechen. Ausführlich grundgelegt hat er diesen Zugang in Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt am Main 22003, 153– 172. Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung, 199. Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung, 199. Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung, 200. Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung, 200. Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung, 201.
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geöffnet. Allerdings betont Honneth gegen allzu harmonische Vorstellungen von Anerkennung, dass es nun tatsächlich zum Kampf der Akteure kommen werde: Für Hegel führt diese Vollendung des Prozesses des Selbstbewußtseins nun aber nicht etwa unmittelbar in eine Welt gemeinsam geteilter Vernunft; die Erzeugung eines solchen ‚Raums der Gründe‘ behält er vielmehr dem Ausgang jenes Kampfes vor, den die Subjekte nun anschließend aufgrund ihrer Einsicht in ihre wechselseitige Abhängigkeit erst führen müssen.⁶⁷
Der Unterschied zu Brandom kommt meines Erachtens insbesondere durch die von Honneth herangezogene Analogie zum Ausdruck. Das ontologische Bedürfnis des Säuglings zielt in der Tat auf eine Ausdifferenzierung des Weltverständnisses, auf Objektivität. Aber diese erreichte Objektivität scheint mir viel stärker existentiell aufgeladen zu sein, als es die Bewährung und Bewahrheitung von Geltungsansprüchen bei Brandom ist. Honneth fokussiert auf die Anerkennung von Personen, nicht auf die Anerkennung ihres Wissens. Wenn der Anerkennungsprozess zwischen dem Säugling und seinen Bezugspersonen scheitert, dann wird dies nicht (nur) eine Beeinträchtigung des epistemischen Kontostandes zur Folge haben, sondern es wird die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit belasten. Honneths kritische Analysen gesellschaftlicher Pathologien nehmen von solchen existentiellen Fällen verweigerter Anerkennung – Vergewaltigung, Entrechtung, Entwürdigung – ihren Ausgang.⁶⁸ Die Vorordnung des Existentiellen vor dem Theoretischen hat Honneth in weiteren Aufsätzen ausbuchstabiert.⁶⁹ Zu diesem Zweck grenzt er die Praxis des Anerkennens von der des Erkennens ab. Letzteres sei ein desinteressiertes theoretisches Identifizieren. Anerkennen vollziehe sich hingegen als expressives Bekunden einer Zuwendung von Person zu Person. Auch dies unterfüttert Honneth mit Beobachtungen der Entwicklungspsychologie, nämlich anhand der zwischen Säugling und Bezugsperson ausgetauschten Gesten, insbesondere des Lächelns. Diesen Überlegungen zufolge „scheint die bloß kognitive Identifikation eines Menschen ihren geradezu natürlichen Vorrang vor der Anerkennung zu verlieren; zumindest genetisch geht die Anerkennung dem Erkennen insofern voraus, als der Säugling im Gesichtsausdruck zunächst die werthaften Eigenschaften von Personen erschließt, bevor er zu einem desinteressierten Erfassen seiner Umwelt in der Lage ist.Was aber für das Kleinkind gilt, hat bei Erwachsenen nicht etwa an Honneth, Von der Begierde zur Anerkennung, 204. Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, 212– 225. Vgl. zunächst Honneth, Axel, Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von „Anerkennung“, in: Ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt am Main 2003, 10 – 27.
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grundlegender Bedeutung verloren“⁷⁰. Die Kontrastfolie, gegen die sich dieses positive Verständnis von Anerkennung abhebt, stellt eine Reduktion des Menschen auf das bloß Erkennbare dar, seine Verobjektivierung, seine Verdinglichung. ⁷¹ Gesellschaftliche Pathologien ergeben sich dort, wo die Vorordnung des Anerkennens vor dem Erkennen verloren geht. Honneth will sein Anerkennungsverständnis entsprechend zugespitzt sehen: „Inzwischen gehe ich daher davon aus, daß dieser ‚existentielle‘ Modus der Anerkennung allen anderen, gehaltvolleren Formen der Anerkennung zugrunde liegt, in denen es um die Bejahung von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten anderer Personen geht“⁷² – von der Bejahung von Wissensansprüchen gar nicht zu reden. Der Vergleich zwischen Brandom und Honneth ergibt also folgendes Bild. Ihre Vorgehensweisen sind einander darin verwandt, dass sie Hegels Vorschlag, Selbstbewusstsein über den Weg von der Begierde zur Anerkennung zu erläutern, in wohlwollender Weise aufnehmen. Beide sehen darin eine Möglichkeit, einen Übergang von der Natur zum „Geist“, zur menschlichen Kultur, zu finden, der sich aus der Natur selbst ergibt, mithin keinen Sprung in ein zweites ontologisches Reich fordert. Die Leistung von Hegels Begriff der Begierde wird dabei jeweils darin gesehen, die Erfahrung von Negativität zu artikulieren, mit deren Hilfe das begehrende Wesen zu einer Ausdifferenzierung und Strukturierung seiner Welt gelangt. Ebenso unterstreichen beide die konstitutive Rolle einer bestimmten Gemeinschaft im Übergang von der Natur zum „Geist“. Anerkannt zu werden heißt hier immer auch, in qualifizierter Weise „dazuzugehören“. Brandom und Honneth unterscheiden sich aber deutlich in den Zielen, die sie verfolgen, und das Ziel definiert offensichtlich schon den jeweiligen Ansatz. Brandom setzt seine Theorie der Anerkennung ein, um den Objektivitätsanspruch im Raum der Gründe ausgetauschter Behauptungen zu erklären. Honneth betont hingegen den existentiellen Kern des Anerkennens gerade in der Abgrenzung zu theoretischen Absichten und entwickelt so zugleich das Programm einer Aufdeckung und Kritik unfreier Lebensverhältnisse. Plakativ gesagt: Brandoms Ziel ist Objektivität, Honneths Ziel ist die Kritik an Verobjektivierungen. Aus diesem Grund hat Honneth eine viel größere Sensibilität für den Kampf um Anerkennung bzw. für die Möglichkeiten und Realitäten seines Scheiterns, als Brandom sie hat.⁷³
Honneth, Unsichtbarkeit, 27. Vgl. dazu Honneth, Axel, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main 2005. Honneth, Verdinglichung, 60. Honneth hat dies als Defizit der bisherigen angelsächsischen Hegel-Rezeption benannt: vgl. Honneth, Axel, Autonomie und Anerkennung. Zur Genealogie von Hegels Anerkennungslehre,
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Als positives Fazit im Rahmen dieser Arbeit lässt sich festhalten, dass Brandom den Begriff der Anerkennung in erster Linie theoretisch versteht und nutzen will. Ähnliches war oben zum Begriff der Autonomie festgehalten worden. Wie bereits zitiert betont Brandom nach der Sichtung von Begierde und Anerkennung in Hegels Text tatsächlich wieder das Gemeinsame von Kant und Hegel und kommt auf den im Rahmen der Semantischen Sonate entwickelten normativen Subjektbegriff zu sprechen: [E]in Selbst, ein Subjekt, ein Bewusstsein zu sein – bei Hegel wie bei Kant – heißt, das Subjekt normativer Verfasstheiten zu sein: nicht nur von Wünschen, sondern auch von Verpflichtungen. Ein Subjekt muss fähig sein, Dingen gegenüber eine normative Haltung einzunehmen, sich zu verpflichten, Verantwortung zu übernehmen, Autorität auszuüben, Richtigkeit einzuschätzen.⁷⁴
Diese Äußerung führt uns zurück in die Diskussion, die Brandom anhand seiner Interpretation von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe geführt hat. Gleiches gilt für die – sich natürlich von Hegels Text her aufdrängende – Rede vom „Geist“ als „die Art reziprok anerkennender Gemeinschaft, innerhalb deren allein genuines (robustes) Selbstbewusstsein möglich ist“⁷⁵. In Abschnitt 2.2.4 ist herausgearbeitet worden, wie Brandom bereits in Kants Deduktion eine Subjektstruktur angelegt sieht, die auf andere Subjekte ausgreift. Schließlich fügt sich auch die im Kontrast zu Honneth profilierte theoretische Zwecksetzung des Anerkennungsbegriffs, das Zielen auf Objektivität,
in: Hanke, Thomas, Viertbauer, Klaus (Hg.), Subjektivität denken. Anerkennungstheorie und Bewusstseinsanalyse, Hamburg 2017, 11– 28, 28. Brandom spricht zwar von der „existential identification“ (Brandom, A Spirit of Trust, 328), die seine Begriffslehre beinhalte – man denke an das Beispiel des Samurai –, aber seine Ausführungen dazu, die Deutung der Allegorie des Kampfes zwischen Herr und Knecht und seine Beispiele für gesellschaftliche Pathologien bleiben blass. Auch scheint sein Bild des Raums der Gründe recht harmonisch zu sein – dabei handelt es sich doch eher um einen Raum des Streites, in dem sich auch der zwanglose Zwang des besseren Arguments im Rahmen einer Auseinandersetzung beweisen muss, nicht zuletzt gegen getarnte Machtworte, die in diesen Raum einzudringen versuchen. Für eine solche Kritik vgl. Bertram, Georg W., Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011, 176 f. Brandom scheint zu meinen, dass die Sprache, wenn sie sich erst einmal zum Raum der Gründe hin geöffnet hat, diesem Kampf enthoben ist: „I think that this approach offers a way of privileging the ‚game of giving and asking for reasons‘ over other things one can do with words – both the use of them as weapons or instruments of power, that Foucault often wants to treat as generic – and the merely playful uses that Derrida and the post-moderns want to see as generic“ (Brandom, Robert B., Facts, Norms, and Normative Facts. A Reply to Habermas, in: European Journal of Philosophy 8 (2000), 356 – 374, 361). Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 74. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 76.
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in dieses Bild. Denn Objektivität kraft Subjektivität war das erklärte Ziel der transzendentalen Deduktion. Die „Blackbox“ des Anerkennungsbegriffs ist also von Brandom auf eine ganz bestimmte Weise gefüllt worden. Zum einen handelt es sich um eine Weiterbestimmung des Autonomiebegriffs unter Einbezug der natürlichen Seite der animalischen Begierde. Zum anderen bleibt der Anerkennungsbegriff zurückgebunden an die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption. Mit „Anerkennung“ ist dabei stärker die öffentliche Außenseite angesprochen, mit der „Einheit der Apperzeption“ die subjektive Innenseite.Wie ich in 2.2.4 gezeigt habe, impliziert die eine Seite jeweils die andere.Wenn in der „Blackbox“ Anerkennung aber wiederum Apperzeption steckt, dann sind wir zurück in der Erzählung der Semantischen Sonate bzw. haben sie nie verlassen.
3.2 Die metaphysische Erzählung 3.2.1 Die Wiedergewinnung der Erfahrung In der Tat fragt Brandom in der Semantischen Sonate sofort, nachdem er den Anerkennungsbegriff als Lösungsvorschlag für die Unklarheiten von Kants Autonomiekonzept eingeführt hat, in welchem Zusammenhang er mit den vorherigen Ausführungen über die transzendentale Deduktion stehe: „Wie verhält sich Hegels sozial-anerkennungstheoretische Variante des Autonomiemodells […] zu den vorherigen kantischen Ausführungen zur Synthesis einer ursprünglichen Einheit der Apperzeption […] durch rationale Integration?“⁷⁶. Die Antwort auf diese Frage wird einerseits weiter in die sozialen und geschichtlichen Dimensionen, die mit dem Anerkennungsbegriff verbunden sind, hineinführen. Andererseits wird mit ihr immer deutlicher werden, wie sehr Brandom im epistemologischen und metaphysischen Rahmen bleibt. Zentral wird dabei ein neuer Begriff von Erfahrung werden, den Brandom im Anschluss an Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes vertritt. Als Appendix zu diesem neuen Erfahrungsbegriff ergibt sich auch eine Klärung mit Blick auf den Begriff der Wahrheit. Diese beiden Schritte werde ich vorstellen (Punkte 1 und 2) und einordnen (Punkte 3 und 4). (1) Der Anerkennungsbegriff war eingeführt worden, um das Problem der Beliebigkeit im Festlegen auf Sachverhalte zu verhindern (vgl. 3.1.1). Allein die Tatsa-
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 83.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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che, dass ich mich auf den Gehalt einer Behauptung festlege, bedeutet noch nicht, dass es sich mit diesem Gehalt in Wirklichkeit so verhält. Letztlich handelte es sich nur um eine scheinbare Bindung – ich hätte mich gerade nicht gebunden, weil ich mich gleich wieder anders binden könnte. Bei der Festlegung auf Sachverhalte – bei der Repräsentation von Gegenständen –, so hatte Brandom gesagt, könne es also nicht nur um einen Ausfluss meiner individuellen Autorität gehen, sondern es bedürfe noch einer weiteren Autorität, die mich in meiner Selbstbindung bindet.⁷⁷ Die Einführung des Anerkennungsbegriffs soll Objektivität verbürgen (vgl. 3.1.2). Und der Weg zur Objektivität wird nun im Folgenden als Weg der Erfahrung beschrieben werden. In ihm verbinden sich Apperzeption und Anerkennung: Indem Hegel beide in eine größere geschichtliche Entwicklungslinie einordnet, verbindet er das Modell der Synthesis einer ursprünglichen Einheit der Apperzeption durch rationale Integration mit dem Modell der Synthesis apperzipierender Selbste (Träger normativer Status) und ihrer Gemeinschaften durch gegenseitige Anerkennung und versucht so die instituierten Verpflichtungen als solche verständlich zu machen, deren Gehalt bestimmt ist. Hegel nennt den Prozess der Veränderung und Entwicklung der Verpflichtungen, die von den Mitgliedern einer diskursiven Anerkennungsgemeinschaft eingegangen wurden – samt den Begriffen, welche gliedern und beschränken, was als erfolgreiches Integrieren dieser Verpflichtungen gilt –, ‚Erfahrung‘. Das, was in unserer Sinnlichkeit unmittelbar gegeben ist – also von den Praxisteilnehmern nicht inferentiell, sondern durch Beobachtung erworbene Verpflichtungen –, wird in diesem Prozess rational in ein sich stetig weiterentwickelndes Ganzes integriert, das durch den Ausschluss material-unvereinbarer Inhalte und den Einschluss material-inferentieller Folgerungen eine Einheit bildet.⁷⁸
Dieses Zitat gibt bereits vieles von dem wieder, was Brandom mit Hegel vorhat. Ähnlich wie bei seiner Interpretation der transzendentalen Deduktion (vgl. 2.2.4) unterscheidet er auch bei der Analyse des hegelschen Erfahrungsbegriffs eine subjektive und eine objektive Seite. Allerdings geht Brandom mit Blick auf Hegel weniger strukturiert vor. Im Falle Kants war es möglich, in Brandoms Vorgehen die Ansätze zu einer rationalen Rekonstruktion zu entdecken und diese entsprechend auszubauen. Für Brandoms Umgang mit Hegel gilt das nicht. Mit jener Kant-Rekonstruktion im Rücken ist es aber möglich, die beiden Pole auch bei Hegel stärker zu differenzieren und nacheinander zu untersuchen. Durch diesen Umstand wird meine These unterstrichen, dass Brandoms Hegel-Interpretation auf dem Verständnis von Kants Deduktion aufruht.
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 81 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 84 f.
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Während also der objektive Pol erst im folgenden Abschnitt (3.2.2) thematisiert wird, soll nun zunächst die subjektive Seite in den Blick kommen. Was muss man tun, um Erfahrung zu machen? Brandom versteht Erfahrung als einen langen, fortlaufenden Prozess.⁷⁹ Es geht darum, mehr und mehr zu erkennen, wie es um die Dinge steht, was und wie sie wirklich sind. Dies geschieht durch besagte Integration in das Ganze eines Wissens, nun kontextualisiert in einen sozialen Raum und eine spezifische Geschichte. Dabei ist wichtig, dass die Begriffe, die wir verwenden, nicht schon als bestimmte vorliegen und danach erst angewendet werden. Sie erhalten vielmehr ihre Bestimmtheit nicht anders als durch ihre Anwendung. Der Prozess der Erfahrung ist ein Prozess der Begriffsverwendung, damit aber auch ein Prozess der Begriffsveränderung und -präzisierung. Die Geschichte, die wir davon erzählen können, ist „expressiv fortschreitend“⁸⁰. Ein Beispiel, das Brandom gern heranzieht, um diese Theorie zu erläutern, ist das angelsächsische common law, in dem das Recht von Fall zu Fall und von Richter zu Richter weiterbestimmt wird: Für jeden neuen Fall muss der Richter entscheiden, sowohl was zu bejahen ist – ob man also annehmen muss, dass der Begriff auf die so beschriebene Situation Anwendung findet oder nicht – als auch welche materialen Ausschlüsse aufgrund von Unvereinbarkeiten und welche Einschlüsse aufgrund von Folgerungen den Inhalt des jeweiligen Begriffs gliedern. Und das einzige Ausgangsmaterial, das ihm für diese beiden Aufgaben zur Verfügung steht, stellen die Entscheidungen früherer Fälle dar.⁸¹
Brandom führt das Beispiel an diversen Stellen weiter aus.⁸² Die entscheidenden Punkte dabei sind jene Kombination von Begriffsbestimmung und -anwendung im Urteilen über Sachverhalte sowie die Gleichberechtigung zwischen den involvierten Akteuren. Denn jede Richterin ist der Autorität der Richterinnen in vorhergehenden Entscheidungen unterworfen, übt aber zugleich eine Autorität über die Richterinnen aus, die nach ihr in vergleichbaren Fällen zu entscheiden haben. Und jede Richterin ist gleichermaßen für den Inhalt der Begriffe verantwortlich, die sie anwendet und weiterbestimmt. So ergibt sich eine Geschichte wechselseitiger Anerkennung von Richterin zu Richterin und von Rechtsspruch
Antje Gimmler hatte im Jahr 2000 vollkommen recht, wenn sie diagnostizierte, dass Brandoms Hegel-Interpretation „eine der anti-repräsentationalistischen Pointen Hegels“ fehle, „nämlich Erkenntnis als Teil eines umfassenderen Erfahrungsprozesses zu verstehen“ (Gimmler, Pragmatische Aspekte im Denken Hegels, 289). In seinen späteren Schriften hat Brandom dieses Manko weggearbeitet. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 85. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 88. Zum Folgenden vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 88 – 95, 101, 306 – 311.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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zu Rechtsspruch. Für Brandoms epistemologische Zwecke verallgemeinert: Begriffsbestimmung verläuft rückblickend und wiedererinnernd und so zugleich als expressiv-machender Fortschritt. Der Sinn für diese wesentlich geschichtliche Dimension der Begriffsbestimmung – und damit von Rationalität, von „Vernunft“ – sei Hegels Zutat zu Kants ursprünglicher Einsicht gewesen.⁸³ Diese „Vernunft“ ist dynamisch, geschichtlich, damit aber auch prinzipiell unabgeschlossen, mit offener Zukunft. Begriffe sind nie vollständig bestimmt, aber auch nie völlig unbestimmt.⁸⁴ Im Rückblick erkennen wir, wie wir „graduell – Schritt für Schritt“⁸⁵ zu einem Netz von miteinander verwobenen Verpflichtungen gelangt sind – und dass es, wenn alles gut läuft, ebenso „graduell – Schritt für Schritt“ mit seiner Ausbesserung und Verfeinerung weitergehen wird. Einerseits klingt das nach einer vielversprechenden Fortschrittsgeschichte. Andererseits wissen Hegel wie Brandom, dass es sich zugleich um ein heikles Unterfangen handelt. Brandom greift das Szenario auf, das Hegel zu Beginn seiner Einleitung in die Phänomenologie zeichnet: die Versuchung, aus Angst, dass man sich irren könnte, jedes Zutrauen in den Erkenntnisprozess zu verlieren – ohne zu merken, „daß diese Furcht zu irren schon der Irrthum selbst ist“⁸⁶ bzw. „das, was sich Furcht vor dem Irrthume nennt, sich eher als Furcht vor der Wahrheit“⁸⁷ entpuppt. Die gesamte Phänomenologie ist gegen diese skeptizistische Versuchung geschrieben, und für Brandom bietet sich die günstige Gelegenheit, sein eigenes systematisches Projekt gemeinsam mit Hegel voranzutreiben. Brandom entdeckt bei Hegel die Kritik an einer unguten Vermischung von Semantik und Epistemologie. Es ist die Kritik daran, Erkenntnis als ein Werkzeug oder Mittel aufzufassen, durch das das Bewusstsein einen Zugang zur Wirklichkeit, wie sie an sich ist, zu gewinnen sucht – daran aber scheitert, weil durch den Werkzeugcharakter das Objekt bearbeitet und verändert wird, sein An sich als prinzipiell unerreichbar gilt.⁸⁸ Es handelt sich um die als endgültig hingenommene Unterscheidung zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem. Damit habe man sich immer schon auf einen Dualismus von Bewusstsein und Welt festgelegt. Demgegenüber sei es Hegels Einsicht gewesen, „dass die Schwachstelle epistemologischer Theorien in der Semantik liegt, die sie implizit enthalten
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 94– 99. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 99. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 99. GW 9,54. GW 9,54. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 123 – 125, im Ausgang von Hegels Einstieg in die Einleitung der Phänomenologie des Geistes: vgl. GW 9,53 f.
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und voraussetzen. Und er ist der Meinung, dass zweistufige Theorien der Repräsentation, die auf eine streng unterschiedene Verständlichkeit von Repräsentierendem und Repräsentiertem verpflichtet sind, eine genuine Erkenntnis des Repräsentierten semantisch ausschließen“⁸⁹. Hegels Forderung ist es hingegen, eine solche wirkliche Erkenntnis nicht von vornherein für unmöglich zu halten. Tut man es doch, ist man auf direktem Wege in den Skeptizismus. Brandom fasst zustimmend zusammen: Die ‚Einleitung‘ in die Phänomenologie eröffnet Hegel, indem er nachdrücklich betont, dass uns nicht bereits unsere Semantik zu einem epistemologischen Skeptizismus verdammen darf. Die Weise, in der wir diskursives Gehaltvollsein auffassen, muss zumindest die Möglichkeit offenlassen, dass wir durch das Eingehen begrifflich gehaltvoller Verpflichtungen (in einigen Fällen, wenn alles gut geht) die wirkliche Beschaffenheit der Dinge erkennen können.⁹⁰
Ebenso ist es nötig, einen Begriff der Erfahrung zu gewinnen, der die „Erfahrung des Irrtums“⁹¹ in sich zu integrieren weiß. Brandom spricht auch von der „Bedingung der Verständlichkeit des Irrtums“⁹², die eine Erkenntnistheorie zu erfüllen habe. Im dualistischen Repräsentationsmodell würden Irrtümer zunächst als „lokale Störungen in dem global definierten Isomorphismus zwischen den Systemen des Repräsentierenden und des Repräsentierten“⁹³ aufgefasst. Wenn aber die Wirklichkeit, wie sie an sich ist, ohnehin etwas anderes ist als das, was man von ihr wissen kann, wie kann es dann ein Kriterium dafür geben, etwas als Irrtum zu bewerten? Am Ende ist ja doch alles nicht wahr. Jener dualistischen Zuordnung setzt Brandom mit Hegel einen neuen Erfahrungsbegriff entgegen. Der fortlaufende Prozess der Erfahrung besteht darin, dass frühere Bilder der Wirklichkeit, auf die man sich festgelegt hatte, sich als teilweise fehlerhaft, als Erscheinungen erweisen.⁹⁴ Das lernt man, wenn man zurückblickt. Bis zu einem gewissen Punkt und zu einem gewissen Grad waren Behauptungen über bestimmte Gegenstände haltbar. Dann zeigte sich, dass einige der Prämissen oder Konsequenzen, die mit diesen Behauptungen verbunden waren, mit anderen Behauptungen, die man ebenfalls aufstellte, kollidierten. Dies führte zu einer Revision der bisherigen Behauptung und der eigenen Begriffsverwendung und
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 134. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 159. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 109. Zur Erfahrung des Irrtums vgl. weiter Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 175 – 181. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 135. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 135. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 109 – 111.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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somit zu einer neuen Konzeption des Gegenstandes, über den man etwas zu behaupten beanspruchte. Solche Revisionen nehmen wir dauernd vor. Diese Schritte sind das, was „Erfahrung“ ausmacht. Zu ihr gehört die „Erfahrung des Irrtums“ wesentlich hinzu.⁹⁵ Und nur dadurch wird sie zu einer Bewegung des semantischen und epistemischen Fortschritts: eines Fortschritts in der Schärfung unserer Begriffe sowie eines Fortschritts in dem, was wir über die Welt wissen. Das ist nicht einfach so zu haben, sondern dazu ist „harte und handfeste Arbeit zu leisten“⁹⁶, sowohl im Rückblick auf die Vorgeschichte, die es sich „wiedererinnernd“⁹⁷ anzueignen gilt, als auch für die Zukunft, in der „neue Verpflichtungen durch das Entfalten von Folgerungen und das Ausbessern von Unvereinbarkeiten zu integrieren“⁹⁸ sind. Es handelt sich um eine Geschichte des Fortschritts, unaufhaltbar, unabschließbar – die allerdings, indem sie den Irrtum kennt, auch um das Scheitern weiß: Der Prozess des Bestimmens begrifflicher Inhalte wird von frisch akzeptierten Verpflichtungen und Folgerungen wie vom Entstehen neuer Unvereinbarkeiten angetrieben und ist – aus der vorausblickenden Perspektive neuer Integrationen betrachtet – von Diskontinuitäten, Zäsuren, radikalen Neubewertungen alter Verpflichtungen und dem Zusammenbruch früheren Fortschritts geprägt.⁹⁹
Dies sei ein weiterer Punkt, in dem Hegel Kants ursprüngliche Lehre von der Integration in die Einheit der Apperzeption aufgreife und zugleich über sie hinausgehe, so Brandom. Er biete eine Theorie, die auch einen Sinn für das Fehlerhafte habe, ohne ihrerseits einem Skeptizismus das Wort zu reden.¹⁰⁰ Interessanterweise lässt Brandom seine Interpretation des Selbstbewusstsein-Kapitels ebenfalls in Reflexionen über die „Erfahrung des Irrtums“ münden und verweist dafür mehrfach auf die Einleitung zur Phänomenologie zurück: vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 347– 362. Der Knecht in Hegels Allegorie mache die praktische Version jener Erfahrung, während die von Hegel im Folgenden behandelten Figuren des Stoizismus, des Skeptizismus und des „unglücklichen Bewusstseins“ ihrerseits an der Semantik ihrer Erfahrungskonzeptionen scheiterten. – Dieser Umstand unterstreicht die eigentlich theoretische Absicht von Brandoms Erörterungen und kann als weiteres Argument dafür angeführt werden, dass mein Festhalten an der Reihenfolge der Semantischen Sonate nicht unberechtigt ist. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 110. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 110. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 111. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 112. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 113 f. – Die Abgrenzung gegen den Skeptizismus, der auf alle Wissensansprüche verzichtet, ist wesentliches Thema der Einleitung in die Phänomenologie. Hegel möchte sein Buch als einen „sich vollbringende[n] Skepticismus“ (GW 9,56) verkaufen, dem es am Ende gelingt, die Möglichkeit von Wissen zu verteidigen. Dies bedeute
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(2) Der Prozess der Erfahrung ist zugleich der Prozess der Wahrheit. Und wie der Irrtum zur Erfahrung gehört, so auch zur Wahrheit. Brandom zieht hier eine Passage aus der Vorrede der Phänomenologie heran, die im Bild von der Wahrheit als dem „bachantische[n] Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist“¹⁰¹, ihren Höhepunkt hat.¹⁰² Mit diesem Bild sei kein triumphales Abschlussbankett gemeint, bei dem man alle Fragen zuvor geklärt und einen letzten statischen Zustand erreicht hätte. Im Taumel sei vielmehr das Nicht-Festgestellte, Schwankende, Stürzende das wesentliche Element. Hegel hatte ja selbst zuvor geschrieben, dass die Bewegung der Wahrheit „ebensosehr das Negative in sich [schließt], dasjenige, was das Falsche genannt werden würde, wenn es als ein solches betrachtet werden könnte, von dem zu abstrahiren sey“¹⁰³. In der Linie der dargestellten expressiven Fortschrittsgeschichte deutet Brandom den Wahrheitsbegriff wie folgt: Wahrheit wird nicht als eine besondere, wünschenswerte Eigenschaft von Urteilen aufgefasst, sondern als eine spezifische Form des Prozesses der Umwandlung von Begriffen (und somit von Urteilen). Mit dieser Konzeption geht jener Übergang einher, durch den wir Erfahrung als eine Form von sich-selbst-berichtigendem Prozess auffassen und nicht als eine Form sich-selbst-bekundender Episode (als Erlebnis).¹⁰⁴
Es geht nicht darum, lediglich einzelne Urteile aufzugeben, weil man es plötzlich in diesem einen Punkt besser erkannt hat. In der hier vorgestellten Perspektive werden nicht nur einzelne Urteile aufgegeben, sondern es werden Begriffe transformiert – und das heißt, dass sich das gesamte System der miteinander zusammenhängenden Begriffe und der wiederum durch sie repräsentierten Gegenstände in Bewegung befindet. Oben war bereits gesagt worden, dass Irrtum nicht in „lokale[n] Störungen“ eines ansonsten statischen Gefüges bestehe. Die Erfahrung des Irrtums ist im Gegenteil der Antrieb einer dynamischen Entwicklung, der „Motor des Prozesses der Wahrheit“¹⁰⁵. Daraus folgt ein graduelles
durchaus, einen „Weg der Verzweiflung“ (GW 9,56) zurücklegen zu müssen, weil liebgewonnene Vorurteile aufzugeben seien. Brandom begeht offensichtlich einen Fehler, wenn er behauptet, die Phänomenologie sei kein „Weg der Verzweiflung“ (vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 114, 211, 251), zurecht kritisiert bei Gabriel, Markus, An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg im Breisgau, München 22014, 393. GW 9,35. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 215 f., 254– 256. GW 9,34. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 254 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 255. – Unabhängig von Brandom nimmt auch Emundts eine Interpretation von Hegels Phänomenologie vor, in der die Erfahrung des Irrtums als
3.2 Die metaphysische Erzählung
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Verständnis von Wahrheit: „Bei der Wahrheit geht es nicht darum, dass wir etwas (ein für alle Mal) richtig machen, sondern vielmehr darum, dass wir es (auf jeder Stufe) richtiger machen“¹⁰⁶. Wir haben Wahrheit nicht, sondern wir machen sie: „In erster Linie ist Wahrheit ein Merkmal dessen, was wir tun, und nur in abgeleiteter Weise dessen, was wir getan haben“¹⁰⁷. Indem Brandom semantischen und epistemischen Fortschritt in dieser Weise miteinander verbindet, macht er deutlich, dass es sich keineswegs nur um eine sprachliche bzw. sprachphilosophische Angelegenheit handelt. Wir sind hier nicht nur im wechselseitigen Gespräch über die Dinge, sondern wir sind ebenfalls in einem wechselseitigen Gespräch mit den Dingen. Die fortschreitende Erfahrung ereignet sich zwischen uns sprechenden, erkennenden Subjekten und den Objekten, über die wir etwas aussagen wollen und von denen wir etwas zu wissen beanspruchen. Der Prozess der Erfahrung hat Realitätsgehalt. Brandom spricht seine Verknüpfung von Sprachphilosophie und Metaphysik wie folgt aus: In einer erfolgreichen wiedererinnernden Rekonstruktion der Tradition wird somit gezeigt, dass Konstellationen von Verpflichtungen, die wir früher einmal bejaht haben, wegen interner Instabilitäten als Erscheinungen demaskiert wurden, welche die wirkliche Beschaffenheit der Dinge bloß unvollständig und teilweise falsch repräsentierten. In einer solchen Rekonstruktion wird aber auch gezeigt, dass jede solche Entdeckung gerade deshalb zur Ergänzung und Korrektur des in diesen Konstellationen vorgestellten Bilds der Wirklichkeit beigetragen hat, weil diese Wirklichkeit von ihnen bereits die ganze Zeit über repräsentiert wurde.¹⁰⁸
Andersherum heißt das: Die früheren Konstellationen waren folglich keine bloßen Erscheinungen, insofern in ihnen durchaus etwas von der wirklichen Beschaffenheit der Dinge enthüllt wird. […] Wie unangemessen auch immer, sie repräsentierten die wirkliche Beschaffenheit der Dinge.¹⁰⁹
(3) In diesen Ausführungen liegt zutage, dass Brandom im Rückgriff auf Hegels Erfahrungsbegriff eine Philosophie entwickelt, die nicht mehr strikt deflationär oder post-metaphysisch zu nennen ist. Vielmehr erhebt sie den Anspruch, im Ausgang von der Analyse unserer Erkenntnispraxis Wesentliches über die Struktur der Wirklichkeit sagen zu können. Brandom greift Davidsons Gedanken der Tri-
Motor im Prozess der Wahrheit fungiert. Dies sei einer der Punkte, aufgrund dessen Hegel in der Tat als Pragmatist bezeichnet werden könne: vgl. Emundts, Hegel as a Pragmatist, 618 – 620. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 255. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 255. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 110. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 110.
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angulation auf: dass ich mich mit anderen über etwas in der Welt verständige – dass wir durch unsere intersubjektive Praxis schon über den Begriff einer objektiven Welt verfügen.¹¹⁰ Allerdings macht er sich auch daran, das nachzuliefern, von dem Davidson eingestand, „keine Ahnung“¹¹¹ zu haben, nämlich die Erläuterung des Zusammenhangs der verschiedenen Seiten. Im Rahmen dieses Abschnitts möchte ich noch einige Bemerkungen zum subjektiven Pol von Brandoms Konstruktion machen, zunächst zum Begriff der Erfahrung, dann (Punkt 4) zu dem der Wahrheit. In Abschnitt 3.2.2 wird die den subjektiven und objektiven Pol umgreifende Metareflexion erfolgen. Brandom hatte gefragt, wie sich „Hegels sozial-anerkennungstheoretische Variante des Autonomiemodells […] zu den vorherigen kantischen Ausführungen zur Synthesis einer ursprünglichen Einheit der Apperzeption […] durch rationale Integration“ verhalte. Zur Beantwortung dieser Frage hatte er den Erfahrungsbegriff aus Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes in Stellung gebracht. Er erblickt in ihm Bestätigung und Korrektur dessen, was Kant vorgeschlagen hatte. Bestätigt wird Kants Einsicht in die Synthesis-Leistung des Verstandes und somit der Weg, die Bezugnahme auf Gegenstände anhand der Normativität des Verstandesgebrauchs zu erklären (die Repräsentation anhand der Inferenz). Korrigiert wird Kant insofern, als dass der Prozess der Begriffsverwendung nicht mehr prinzipiell zweistufig, sondern aus einem zusammenhängenden Zug erklärt wird. Kant unterscheidet noch zwischen reinen Verstandesbegriffen, die nicht verhandelbar sind, die aufgefunden werden, und empirischen Begriffen, die flexibel sind, die sich im Gebrauch bewähren müssen. Brandom zufolge gelingt es Hegel mittels Anerkennungstheorie und Erfahrungsbegriff, diese Trennung zu überwinden: Begriffsverwendung ist nicht Rückgriff auf etwas schon Vorliegendes, Bestimmung und Anwendung von Begriffen gehen vielmehr Hand in Hand. Im Vergleich zu Kant könnte man auch sagen: Was durch seine Unterscheidung von Leitfadenkapitel und transzendentaler Deduktion zu scheitern droht, kann gerettet werden, wenn sich ausschließlich auf ein richtiges Verständnis Letzterer konzentriert wird. An diesem Punkt wird ein weiteres Mal deutlich, dass die soziale Anerkennungstheorie, die eine Fortschreibung des kantischen Autonomiebegriffs sein sollte, an die transzendentale Deduktion rückgebunden bleibt. Sie bleibt eingespannt in Brandoms Gesamtentwurf, der Semantik, Epistemologie und Metaphysik miteinander verbindet.
Vgl. Davidson, Donald, Vernünftige Tiere, in: Ders., Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, Frankfurt am Main 2004, 167– 185, 182– 185. Davidson, Vernünftige Tiere, 184.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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Eine bemerkenswerte Entwicklung gegenüber seinen früheren Werken ist in Brandoms Rückgewinnung des Erfahrungsbegriffs zu sehen. Zwar hatte er in Making It Explicit eine Andeutung auf Hegels Erfahrungsbegriff gegeben, ohne dazu aber Substantielles auszuführen.¹¹² In Articulating Reasons hatte er mit Lust an der Zuspitzung behauptet, dass „Erfahrung“ nicht zu seinen Wörtern gehöre.¹¹³ In seinen Studien zu Hegel ist daraus ein Zentralbegriff geworden. Meine Rekonstruktion verdeutlicht nun, wie es dazu gekommen ist. Am Anfang steht eine Kant-Lesart, die ganz auf die Analyse der normativen Verstandestätigkeit setzt, während sie die für Kant selbst ebenfalls konstitutive Seite der Sinnlichkeit außen vor lässt. Auf diese Weise will Brandom alle Verbindungslinien zu empiristischen Strategien der Erklärung von Erkenntnis bzw. Erfahrung kappen. Dazu braucht Brandom Kant. Nachdem dies geschehen ist, nachdem er also ein für alle Mal klargestellt hat, dass er den Empirismus ablehnt, wird es für ihn möglich, mit Hegel einen anti-empiristischen Erfahrungsbegriff zu etablieren. Dazu braucht Brandom nun, über Kant hinaus, Hegel.¹¹⁴ (4) Entscheidend für den anti-empiristischen Erfahrungsbegriff ist die dargestellte Kombination von semantischer und epistemologischer Arbeit.¹¹⁵ Er hat somit ei Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 156. – Entsprechend wird der Ausfall eines echten Erfahrungsbegriffs noch zurecht kritisiert bei Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 166. Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, 38. Brandom spricht auch von Hegels „enriched empiricism“ in Abgrenzung zum „traditional empiricism (including its twentieth-century variants)“ (Brandom, A Spirit of Trust, 141). Ob Brandoms illustrierender Einsatz des common law bis ins Letzte glücklich ist, lasse ich offen. Für Kritiken vgl. Knappik, Reich der Freiheit, 125 – 132; Pippin, Brandom’s Hegel, 399 – 401; Seel, Potential der Sprache, 288.Vermutlich wird man (wie meistens) sagen können, dass an dem Bild nicht alles stimmig ist, aber immerhin entscheidende Aspekte. Folgende Beschreibung aus einem juristischen Standardwerk scheint mir gut zu verdeutlichen, warum Brandom das Beispiel attraktiv findet: „Im Common Law ist die Technik des Richters, mit der er an das Fallmaterial herangeht und ihm Regeln, Grundsätze, Prinzipien abzugewinnen sucht, durch die gewachsene handwerkliche Tradition eines ‚reasoning from case to case‘ bestimmt: der anglo-amerikanische Richter geht bei der Urteilsfindung von den einzelnen Vorentscheidungen (precedents) aus, die ihm meist von den Rechtsanwälten der Prozeßparteien als einschlägig genannt werden. In diesen Vorentscheidungen erkennt er jeweils bestimmte ‚rules‘, d. h.: Lösungen einzelner konkreter Lebensprobleme. Er beobachtet, wie diese ‚rules‘ im Laufe der Entwicklung durch andere ‚precedents‘ eingeschränkt, ausgedehnt und verfeinert worden sind, und entwickelt aus ihnen allmählich – stets gestützt auf die unmittelbare Anschauung praktischer Problemlösungen – übergreifende ‚Grundsätze‘, ‚principles‘, ‚standards‘, mit deren Hilfe der konkrete Fall zunächst gleichsam ‚versuchsweise‘ gelöst, die so gefundene Lösung sogleich wieder auf ihre Sachgerechtigkeit vor dem Hintergrund ähnlicher Fälle geprüft und schließlich die Entscheidung gefällt wird. Alle diese Schritte vollziehen sich im Diskurs, d. h.: das Pro und Contra werden in Rede und Gegenrede zwischen vorgestellten oder real vorhandenen Gesprächspartnern erörtert“ (Zweigert,
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nen starken konstruktivistischen Einschlag. Zugleich besitzt er eine anti-skeptizistische Stoßrichtung. Letzteres zeigt sich daran, dass – als eine Art Nebenprodukt – Brandom auch seinen Wahrheitsbegriff revidiert oder zumindest präzisiert. In einem früheren Aufsatz hatte er noch erklärt: Why Truth Is Not Important in Philosophy. ¹¹⁶ In Nähe zu einer Redundanztheorie bestritt Brandom dort die explanatorische Rolle des Wahrheitsbegriffs. Unter Wahrheit dürfe nicht eine Eigenschaft von Sätzen verstanden werden, die ihnen wie ein Gütesiegel anhänge oder nicht. Wahrheit sei vielmehr etwas, das wir tun, indem wir etwas als wahr behandeln und uns in der Lage sehen, dafür Gründe zu geben. Diese Rückbindung von Wahrheit an das Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen hat Brandom in der Auseinandersetzung mit Hegels Begriff der Erfahrung offensichtlich nicht aufgegeben. Aber er macht nun deutlich, woher dieses expressive, pragmatische Verständnis kommt, und zwar sowohl mit seinem kritischen Impetus als auch, und das ist das Neue, in seiner positiv-konstruktiven Wendung. Die hier skizzierte Einbettung einer Theorie der Wahrheit in eine anti-empiristische Theorie der Erfahrung ermöglicht es, unter einem expressiven Wahrheitsbegriff mehr zu verstehen als die unnötige Redundanz eines Behauptens mit besonderem Nachdruck. Gegen den Skeptizismus, der eine unüberbrückbare Kluft zwischen Subjekt- und Objektseite annimmt, ist vielmehr deren Verbindung angebahnt. Welche bemerkenswerten metaphysischen Konsequenzen das hat, wird gleich in Abschnitt 3.2.2 zutage treten. Wichtig bleibt vorab zu betonen, dass auf diese Weise Brandoms ursprüngliche Intention, dass Wahrheit etwas ist, das wir tun, erhalten bleibt. Nach wie vor ist der Wahrheitsbegriff abkünftig und zweitrangig. Mit Hegel wird nun aber das Prozesshafte dieses Tuns deutlicher: Wir erzeugen Wahrheit nicht ein für alle Mal, sondern können hoffen, dass wir je mehr und mehr Wahrheit erzeugen.¹¹⁷ Brandoms hegelianischer Wahrheitsbegriff ist graduell, nicht klassifikatorisch. Wäre er klassifikatorisch, würde das eine scheinbar unabhängige Überprüfungsinstanz voraussetzen, also eine Neuauflage des empiristischen Mythos des Gegebenen bedeuten.¹¹⁸
Konrad, Kötz, Hein, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Tübingen 31996, 257). Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Laura Lanwert. Vgl. Brandom, Reason in Philosophy, 156 – 176. Bezüglich des Wahrheitsbegriffs dürfte eine große Nähe zwischen Brandom und den klassischen Pragmatisten bestehen: vgl. James, Pragmatismus, 67– 70, 131– 151. Bei James folgt freilich aus einem pragmatistischen Wahrheitsbegriff die Ablehnung des Rationalismus, während Brandom mit Hegel deren Vereinigung vornimmt. Diese Option für ein graduelles und gegen ein klassifikatorisches Verständnis von Wahrheit wird auch eine entscheidende Rolle bei der Analyse von Anselms De veritate in Kapitel 6 dieser Arbeit spielen.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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3.2.2 Die Revision der Wirklichkeit (1) Brandoms Aufgreifen von Hegels Kritik an einem Modell, welches das Erkennen als ein Werkzeug versteht, mit dem ein Subjekt ein vorliegendes Objekt bearbeitet, ist bisher vor allem mit Blick auf die Seite des Subjekts untersucht worden. Sie betrifft aber nicht minder die Objektseite. Die Sorge, unsere Epistemologie an eine Semantik zu koppeln, die von vornherein die Waffen vor dem Skeptizismus gestreckt hat, kann nämlich auch anders formuliert werden als bisher. Dann lautet sie so: Die „eigentliche Ursache des Problems“ des Skeptizismus „ist die Idee, dass nur unsere Gedanken begrifflich gegliedert sind, nicht aber die Welt, auf die wir denkend Bezug nehmen“¹¹⁹. Hegels nicht-psychologische Konzeption des Begrifflichen, mittels derer Subjektivität als normative Tätigkeit und nicht als mentaler Bewusstseinsstrom verstanden wird, verändert auch die herkömmliche Vorstellung von Objektivität. Objektivität bedeutet etwas anderes als schlichtes faktisches Vorliegen. Indem Brandom mit Hegel ein neues Konzept von „Erfahrung“ erarbeitet, gewinnt er auch eine neue Konzeption der „Wirklichkeit“. Auf dieses Ziel hin finalisiert Brandom seine Semantische Sonate, und er erläutert seine Position insbesondere in seinen Kommentaren zu Hegels Einleitung in die Phänomenologie. Brandoms erster Schritt besteht darin, den Anti-Dualismus seiner antiskeptizistischen Strategie zu betonen. Descartes, Kant und Frege müssen hier gemeinsam als diejenigen herhalten, die zwar Innovatives zur Fragestellung beigetragen hätten, genau an diesem Punkt aber, um mit Hegel zu sprechen, aus „Furcht vor der Wahrheit“ davor zurückgeschreckt seien, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Am stärksten sei der Dualismus bei Descartes ausgeprägt. Er offeriere eine „zweistufige Theorie der Repräsentation, die scharf zwischen zwei Arten von Dingen unterscheidet, und zwar nach Maßgabe ihrer jeweiligen Verständlichkeit. Einige Dinge – paradigmatisch physische, materielle, ausgedehnte Dinge – lassen sich aufgrund ihrer Beschaffenheit nur durch Repräsentation erkennen. Andere Dinge – die Inhalte unseres eigenen Geistes – sind wesentlich etwas Repräsentierendes und werden auf vollkommen andere Weise erkannt. Sie werden unmittelbar erkannt, also nicht in dem sie repräsentiert werden, sondern allein indem man sie hat“¹²⁰. Kant unterbinde mit Hilfe seiner normativen Geschichte über die Tätigkeit des Verstandes immerhin diese mentalistische Auffassung, tappe aber durch die Behauptung, dass wir nur Erscheinungen erkennen
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 160. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 129.
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könnten, nicht aber Dinge an sich, aufs Neue in die dualistische Falle.¹²¹ Und so widerfährt es auch Frege, der nach Hegel die Zeit zurückdrehen will: „Frege versteht die Sinne, die wir im Denken fassen, und ihre in der Wirklichkeit angesiedelten Referenzgegenstände als zwei verschiedene Arten von Dingen – als Bewohner verschiedener ontologischer Reiche. Es ist dagegen ein zentraler Bestandteil von Hegels idealistischer Strategie, beide als Dinge ein und derselben Gattung zu betrachten“¹²². Nur auf diese Weise könnten der im vorherigen Abschnitt genannten „Bedingung genuiner Erkenntnis“ sowie der „Bedingung der Verständlichkeit des Irrtums“ Genüge geleistet werden. Demnach muss es möglich sein, Dinge zu erkennen, wie sie an sich sind. Diesem cetero censeo von Hegels Kant-Kritik pflichtet Brandom bei. Dinge dürfen dem Erkennen nichts gänzlich Fremdes bleiben. Repräsentiertes und Repräsentierendes dürfen nicht vollends voneinander verschieden sein. Daher ist es nötig, nicht nur die subjektive Tätigkeit des Verstandes, sondern auch die objektive Wirklichkeit genauer in den Blick zu nehmen. Trotz der soeben genannten Kritik an Kant arbeitet Brandom in dieser Frage vor allem mit einer Fortführung der Argumente, die bereits in seiner Interpretation der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe wirksam gewesen sind. Brandom liest Hegels Einleitung in die Phänomenologie als konsequente Fortführung der Grundgedanken aus Kants Deduktion und zieht daraus die metaphysischen Konsequenzen, die er unter den Titeln „Begriffsrealismus“, „objektiver Idealismus“ und „Begriffsidealismus“ exponiert. Was er mit den ersten beiden Bezeichnungen meint, wird in diesem Abschnitt 3.2.2, was er mit der dritten Bezeichnung meint, wird im folgenden Abschnitt 3.2.3 erläutert. Die Semantische Sonate deutet den Weg von Kants Deduktion zu Hegels Einleitung bereits früh an: Hegel blickt auf Kants Erklärung des Wesens des Subjekts zurück, der zufolge dieses als eine ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption gedeutet und durch die subjektive Form aller Urteile (‚Ich denke‘) gekennzeichnet wird. Ebenso kennt er Kants Erklärung der Gegenstände, denen gegenüber sich Subjekte durch ihr Urteilen verantwortlich machen und welche durch die objektive Form aller Urteile (‚Der Gegenstand = X‘) gekennzeichnet werden. Hegel fiel auf, dass wir beide Erklärungen von der synthetischen Tätigkeit des Integrierens von Urteilen her verstehen müssen, des Integrierens also durch kritischen Aus- und erweiternden Einschluss bzw. Ausbau. Erst diese Art von Akten macht sowohl den Begriff Subjekt als auch den Begriff Gegenstand verständlich: Ersterer bezeichnet das, was für Urteile verantwortlich ist, und der zweite das, gegenüber dem Urteile verantwortlich sind. Dies ist
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 132 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 105. Vgl. auch Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 133.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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einer der Kerngedanken, auf dessen Grundlage Hegel seinen Idealismus ausarbeitet: Bewusstsein im Sinne von Apperzeption zu haben – im Sinne einer Beziehung von Subjekten und Gegenständen – setzt den Prozess des Synthetisierens eines Selbst voraus und kann nur von diesem Prozess her erklärt werden. Dieser Prozess ist das, was ein Selbst-Bewusstsein ist. Wir müssen diese symmetrischen Subjekt- und Objekt-Pole des Bewusstseins (des intentionalen Nexus) so begreifen, dass sie zwei Aspekten der Tätigkeit des Synthetisierens von etwas zu einer Einheit der Apperzeption korrespondieren.¹²³
Sowohl die Subjekt- als auch die Objektseite sollen mittels der Tätigkeit des Synthetisierens erklärt werden. Diese Tätigkeit ist mit Kant als das Ausschließen materialer Inkompatibilitäten und das Einschließen materialer Prämissen und Konsequenzen erläutert worden. Mit Blick auf die Subjektseite wurde von deontisch-normativen Beziehungen des Aus- und Einschließens gesprochen, mit Blick auf die Objektseite von alethisch-modalen Beziehungen. Sie gelten mit unterschiedlicher Härte, aber nach demselben Prinzip. Brandom entdeckt diese Figur nun bei Hegel, der sie mit großer Folgerichtigkeit zugespitzt habe. Erstens habe er das Ausschließen materialer Inkompatibilitäten in Gestalt der „bestimmten Negation“ und das Einschließen materialer Prämissen und Konsequenzen in derjenigen der „Vermittlung“ operationalisiert und auf die gesamte Philosophie ausgedehnt.¹²⁴ Zweitens habe Hegel viel entschiedener als Kant die revolutionäre Konsequenz gezogen, die aus dem Gedanken folgt, sowohl Subjekte als auch Objekte nach dem Prinzip der Synthesis zu modellieren. Sie besteht nämlich in nichts weniger als der Behauptung, dass nicht nur unser Denken, sondern „auch die Welt, auf die das Denken Bezug nimmt, als begrifflich strukturiert“¹²⁵ verstanden werden müsse, eben weil objektive Sachverhalte immer gewisse Implikationen und Konsequenzen haben, die sie begrifflich einschließen, und weil sie unvereinbare Sachverhalte entsprechend ausschließen. Diese Position nennt Brandom „Begriffsrealismus“¹²⁶. Bei ihr handelt es sich, in Abgrenzung zu den oben genannten dualistischen Versuchen von Descartes, Kant und Frege, um eine „semantische[ ] Einklassenontologie“¹²⁷. In Hegels Konzeption der Erfahrung gibt es keinen unüberwindbaren Graben zwischen einem unbegrifflichen An-sich-Sein der Dinge auf der einen und be-
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 44 f. Diese Zusammenführung der Terminologie Hegels mit seiner eigenen nimmt Brandom an diversen Stellen vor: vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 105 f., 152– 154, 181– 183. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 106. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 106. An dieser Stelle identifiziert er den Begriffsrealismus auch als „Idealismus“ – eine Bezeichnung, die im Folgenden freilich in unterschiedlichen Nuancen verwendet werden wird. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 106.
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grifflich strukturierten Gedanken über die Dinge auf der anderen Seite. Sein Vorgehen, dem Brandom zustimmt, ist sowohl anti-skeptizistisch als auch antidogmatistisch: Erkenntnis der Wirklichkeit ist möglich, allerdings nur, wenn man sich auf den Prozess der Erfahrung einlässt, in dem verwendete Begriffe weiter geschärft werden. Der Prozess der Erfahrung gewinnt auf diese Weise eine metaphysische Tiefe, denn durch ihn wird deutlich, dass „folgende zwei Punkte als zwei Seiten einer Medaille“¹²⁸ zu begreifen sind: (1) Die begriffliche Form von Tatsachen und Gegenständen – sie ist es, die beide verständlich und so Erkenntnis von ihnen möglich macht; sie ist der Grund dafür, dass von ihnen ausgesagt werden kann, was sie sind. (2) Der objektive Inhalt von Behauptungen und Begriffen – er ist es, durch den sie sich gegenüber dem verantworten, was es gibt und wie es beschaffen ist; darin liegt der Maßstab ihrer Richtigkeit, der es ihnen erst ermöglicht, wenn alles gut geht, eine genuine Erkenntnis von etwas zum Ausdruck zu bringen.¹²⁹
In diesem Zitat ist der Anspruch auf Repräsentation ausgesprochen, der in unseren inferentiell gegliederten Aussagen enthalten ist. Repräsentiert werden soll dabei nicht nur ein unbestimmtes Etwas, sondern ein zumindest anfanghaft inhaltlich bestimmter Gegenstand oder Sachverhalt. Die „objektive Wirklichkeit“ wird von einem Begriffsverwender „in einem normativen Sinne als dasjenige aufgefasst, worauf seine Repräsentationen, sein Reden und Denken, Bezug nehmen“¹³⁰. Normativ bedeutet hier: Das Subjekt, das Begriffe verwendet, lässt sich in seinem Urteil über die objektive Wirklichkeit zugleich durch diese beurteilen. Sie tritt als „Maßstab“ auf – auch das eines der Schlüsselwörter aus Hegels Einleitung in die Phänomenologie. ¹³¹ Gerade aber der Umstand, dass die objektive Welt als Maßstab fungiert, beweist, dass sie dies nicht in einer gänzlich opaken Faktizität tun kann. Vielmehr umspannt der Raum der Gründe sowohl die subjektive als auch die objektive Seite: „Wie es sich mit dem jeweils Repräsentierten verhält, muss ein Grund dafür sein, dass das Repräsentierende so ist, wie es ist. Das, worauf wir im Sprechen (Denken) Bezug nehmen, muss Gründe für das von uns Gesagte (Gedachte) liefern können“¹³². Damit das funktioniert, „müssen beide Seiten der Repräsentationsbeziehung begrifflich gehaltvoll sein. Nur so wird
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 107. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 107 f. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 118. Vgl. GW 9,58 – 60. Brandom kommt an diversen Stellen darauf zu sprechen: vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 103, 136 – 138, 173 – 175. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 137.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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verständlich, wie das Repräsentierte dem Repräsentierenden eine rationale Beschränkung auferlegt, insofern es Gründe für die Bewertung seiner Richtigkeit oder Falschheit bereitstellt“¹³³. Die Rede vom Maßstab propagiert also gerade keine statische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Repräsentierendem und Repräsentiertem.Vielmehr spricht sie die gegenseitige Annäherung beider Seiten im Erfahrungsprozess aus.¹³⁴ Die Gegenstände und Sachverhalte, auf die ein Subjekt mit seinen Urteilsaktivitäten Bezug nimmt, werden in diesem Prozess somit selbst aktiv.¹³⁵ Anstatt als etwas angesehen zu werden, das bloß faktisch vorliegt, muss „auch die Wirklichkeit (die objektive Beschaffenheit der Dinge an sich) als etwas begrifflich Gegliedertes“¹³⁶ behandelt werden. Aufs Neue wird hier deutlich, dass „begrifflich“ nicht mit „bewusst“ oder „mental“ assoziiert werden darf. Mit Blick auf die Subjektseite ist das bereits mehrfach angesprochen worden. Selbstverständlich gilt es a fortiori für die Objektseite. Brandom wird nicht müde zu betonen: „Diese Konzeption des Begrifflichen ist in einem starken Sinn nichtpsychologisch“¹³⁷. In ihr bestehe das „Rückgrat“¹³⁸ von Hegels Entwurf. Entsprechend sei auch die Rede von „Begriffsrealismus“ dezidiert nichtpsychologisch zu verstehen.¹³⁹ Repräsentierendes und Repräsentiertes teilen sich in den begrifflichen Inhalt, oder andersherum: Der begriffliche Inhalt nimmt sowohl eine subjektive (deontisch-normative) als auch eine objektive (alethisch-modale) Form an.¹⁴⁰ Zusammengehalten werden beide Seiten durch die Figur der bestimmten Negation: Der zentrale metaphysische Begriff, in dem dieser Punkt [dass der begriffliche Inhalt eine subjektive und eine objektive Form annimmt; T.H.] theoretisch aufgegriffen […] wird, ist der Begriff bestimmte Negation. Denn er bringt deutlich den Sinn zum Ausdruck, in dem jegliches (Gedanken, Tatsachen, Eigenschaften, begriffliche Inhalte), etwas Bestimmtes sein kann – nämlich indem es sich von anderem so Bestimmten deutlich abhebt und es mithin ausschließt.¹⁴¹
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 141. In Hegels Text selbst liegt das auf der Hand. Bei Brandom ist es nicht immer deutlich genug formuliert. Am besten gelingt es Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 171, 175. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 170. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 135. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 151. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 158. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 161 f. Brandom nennt ihn deshalb auch „amphibisch“ (Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 183). Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 181.
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(2) Dies war der erste Schritt in Brandoms hegelianischer Konzeption der Wirklichkeit, der unter dem Titel „Begriffsrealismus“ erfolgt ist. Die These ist: Nicht nur die subjektive, sondern auch die objektive Seite der Erkenntnisrelation steht in Beziehungen des begrifflichen Aus- und Einschließens.¹⁴² Im nächsten Schritt führt Brandom ein Modell ein, das er „objektiven Idealismus“ nennt. Der objektive Idealismus basiert auf dem Grundgedanken des Begriffsrealismus und bestimmt ihn weiter. Während der Begriffsrealismus darauf Wert legt, eine Gleichberechtigung zwischen subjektiver und objektiver Seite zu etablieren, thematisiert der objektive Idealismus den bleibenden Vorrang der subjektiven Seite (was vom Namen her etwas überraschen mag).¹⁴³ Brandoms Argument für diesen Schritt besteht in nichts anderem als darin, den Weg zu rekapitulieren, den er bisher gegangen ist. Er wäre ja nicht zu der begriffsrealistischen These gelangt, dass die objektive Welt mittels Beziehungen des begrifflichen Aus- und Einschließens gegliedert sein muss, wenn er nicht zuvor die inferentielle Praxis des begrifflichen Aus- und Einschließens auf der subjektiven Seite untersucht hätte. Aus diesem Grund kann er nun davon sprechen, dass dem „deontisch-normativen Vokabular […] die expressive Funktion eines pragmatischen Metavokabulars für das alethisch-modale“¹⁴⁴ zukomme. Niemand könne „das alethisch-modale Vokabular verstehen, es verständig zum Einsatz bringen […], wenn er nicht die normativ strukturierten Praktiken beherrscht, die durch das deontische Vokabular explizit gemacht werden“¹⁴⁵. Nur mit Hilfe des Letzteren könne verständlich gemacht werden, was es heißt, den Anspruch auf objektive Erkenntnis zu erheben, Erscheinungen nicht nur als Schein, sondern als „Erscheinungen von einer Wirklichkeit“¹⁴⁶ aufzufassen und in der Erfahrung des Irrtums den Motor für den Prozess ihrer fortschreitenden Durchdringung zu erblicken. Das bedeutet natürlich nicht, dass alles, was man behauptet, der Fall sein müsse, bzw. dass nichts der Fall sein könne, wenn nicht behauptet würde, dass es der Fall sei. Es bedeutet freilich schon, dass wir als Wesen, die Begriffe verwenden, nicht verstehen kön-
Brandom bringt diese Position mit Hegels Diktum in Verbindung, dass die Welt denjenigen vernünftig anblicke, der sie vernünftig anblickt: vgl. Brandom, Some Hegelian Ideas, 12. Leicht verändert wird es an einigen neuen Stellen formuliert: vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 205 f., 365 f. Der objektive Idealismus stelle wie der Begriffsrealismus eine symmetrische Behauptung auf. Das widerspricht aber nicht meiner obigen Darstellung. Während der Begriffsrealismus entdeckt, dass nicht nur Subjekte, sondern auch Objekte begrifflichen Gliederungen unterworfen sind, entdeckt der objektive Idealismus, dass diese erste Entdeckung nur möglich war, weil eben Subjekte begrifflichen Gliederungen unterworfen sind. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 184. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 184. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 184.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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nen, was es heißt, einen Sachverhalt zu behaupten, wenn wir nicht verstehen, was es heißt, einen Sachverhalt zu behaupten. Es gibt unzählige Sachverhalte, über die niemals jemand eine Behauptung aufgestellt hat oder aufstellen wird. Aber es kann keinen Sachverhalt geben, über den eine Behauptung aufzustellen prinzipiell unmöglich wäre. In fregesche Terminologie gefasst, lautet Brandoms These, „dass das modale Vokabular seinem Sinn nach von dem abhängt, was durch das normative Vokabular ausgedrückt wird, nicht jedoch seiner Referenz nach“¹⁴⁷. Entsprechend nennt Brandom den Idealismus, den er mit Hegel vertritt, an mehreren Stellen einen Idealismus des Sinns, nicht der Referenz. Ein Idealismus der Referenz würde behaupten, dass „die objektive Wirklichkeit von unserem Geist kausal abhängig sei“¹⁴⁸. Einen solchen subjektivistischen Idealismus schreibt Brandom vor allem Berkeley zu.¹⁴⁹ Die Welt wäre darin nichts anderes als die Projektion eines vor sich hin denkenden endlichen Subjekts oder aber eines göttlichen Weltdenkers. Solche Konsequenzen will Brandom mit aller Macht vermeiden. Die mit Hegel dargebotene nicht-psychologische Konzeption des Begrifflichen leiste genau das.¹⁵⁰ Es geht also darum, weder die Existenz der Welt überhaupt noch die begrifflichen Strukturen in der Welt und damit ihre Verständlichkeit auf eine subjektive Projektion zu reduzieren. Brandom charakterisiert seinen sozusagen antiidealistischen Idealismus zusammenfassend wie folgt: Die objektive Welt würde selbst dann noch begrifflich strukturiert sein, das heißt aus Tatsachen (Gegenständen samt ihren Eigenschaften und Beziehungen) bestehen, die durch alethisch-modale Beziehungen der je gleichzeitigen Möglichkeit und Notwendigkeit gegliedert sind, wenn es in dieser Welt niemals erkennende und handelnde Subjekte gegeben hätte, die normativ gegliederte Begriffe anwenden, indem sie Verpflichtungen eingehen und verwerfen. Die Abhängigkeit der objektiven Welt von unserem menschlichen Geist, die der hegelsche Idealismus hier behauptet – nennen wir sie objektiven Idealismus –, ist nicht von jener anstößigen Art wie die von Berkeley behauptete Abhängigkeit hinsichtlich der Referenz; sie hat die weitaus plausiblere […] Form einer Abhängigkeit hinsichtlich des Sinns.¹⁵¹
(3) Durch Brandoms Ausführungen über Begriffsrealismus und objektiven Idealismus erhält meine Lesart, seinen Umgang mit Kant und Hegel als fortschreitenden strategischen Einsatz zugunsten einer Metaphysik zu deuten, entschei-
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 185. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 106. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 144 f., 148 f., 186. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 145 – 149. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 186.
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3 Hegel auf dem Fundament von Kants Deduktion
denden Auftrieb.Wie schon in Making It Explicit will Brandom eine Erklärung von Repräsentation mittels Inferenz liefern. Mit den Studien zu Kant und Hegel wird deutlich, dass zu diesem Zweck tatsächlich sowohl die subjektive als auch die objektive Seite zu betonen sind. Die Adaption von Hegels Konzeptionen von Erfahrung und Wirklichkeit, auf die hin Brandom seine Semantische Sonate finalisiert und die er in weiteren Texten ausfaltet, leistet dafür den entscheidenden Beitrag. Wir müssen Erfahrung machen, wir müssen etwas für sie tun. Sie ist normativ-inferentiell geregelt. Das ist Brandoms pragmatistische Erklärungsstrategie. Aber wenn wir sie machen, dann haben wir auch die Wirklichkeit, zumindest ein Stück von ihr. Sie entgleitet uns nicht, sie ist kein bloßes Jenseits zu unserm Denken und Sprechen. Das ist seine metaphysische These. In dem, was Brandom über Erfahrung und Wirklichkeit zu sagen hat, wird deutlich, wie er den Übergang von Kant zu Hegel sieht. Es geht ihm nicht in einer isolierten Weise um die Einbettung des subjektiven Autonomiegedankens in die intersubjektiven Praktiken wechselseitiger Anerkennung. Vielmehr handelt es sich bei den Überlegungen zu Autonomie und Anerkennung um einen Schritt im Rahmen einer weitaus größer angelegten epistemologisch-metaphysischen Argumentation. Diese besteht in der Entwicklung dessen, was Brandom als Grundeinsicht von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe herausgearbeitet hat: im Weiterdenken der Korrespondenz des subjektiven und objektiven Pols und ihrer deontisch-normativen bzw. alethisch-modalen begrifflichen Gliederungen. Hegels Aufgreifen dieser Einsicht Kants bildet in Brandoms Augen den Leitfaden für sein eigenes Projekt. Mit der Unterscheidung eines Idealismus des Sinns von einem solchen der Referenz bewahrt er die kantianische Einschränkung, dass zwar alle inhaltlich-begriffliche Bestimmung durch die Tätigkeit des Subjekts induziert ist, dass dies aber nicht bedeutet, die Existenz von Objekten von subjektiven Tätigkeiten abhängig zu machen. Alle drei offenen Fragen, die ich am Ende von 2.2.4 nach der Diskussion von Kants Deduktion benannt habe – Wohin führt die behauptete Strukturgleichheit von Subjekten und Objekten? Was wird aus der Spannung zwischen existentiellem Sein und begrifflicher Gliederung? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität weiter aus? –, möchte Brandom mit Hilfe Hegels einer Lösung zugeführt wissen. Mit den Titeln Begriffsrealismus und objektiver Idealismus werden die verschiedenen Aspekte der bisher gefundenen Lösung mit einem prägnanten Label versehen – ein dritter Aspekt samt entsprechendem Label wird noch folgen. Der Begriffsrealismus besagt, dass nicht nur die subjektive, sondern auch die objektive Welt begrifflich gegliedert ist. Der objektive Idealismus besagt, dass zugleich ein Vorrang des Subjektiven, Normativen, Pragmatischen bestehen bleibt, weil ohne den Anweg vom Subjektiven, Normativen, Pragmatischen her gar nicht zu
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einem Verständnis von begrifflicher Gliederung zu gelangen ist. Das deontischnormative Vokabular ist als Metavokabular für das alethisch-modale Vokabular anzusehen, so Brandoms Formulierung. Das beste Anzeichen dafür, dass Brandom mit seinen historisch-rekonstruktiven Studien eine Strategie verfolgt, die von Making It Explicit ihren Ausgang nimmt, aber in Sachen Metaphysik entschiedener und deutlicher auftreten will, ist die Verwendung jener beiden Titel. Denn Brandom hat sie sich nicht selbst ausgedacht, sondern sie sind ihm von einem anderen zugeschrieben worden. Es war zunächst Habermas, der Brandoms Position als Begriffsrealismus und objektiven Idealismus deklariert hat, freilich in kritischer Absicht.¹⁵² Laut Habermas habe sich Brandom bereits mit Making It Explicit auf die schiefe Bahn begeben, die ihn am Ende in Behauptungen über die objektive Welt hineinschlittern lassen werde. Brandom hat diese Zuschreibung zunächst zur Kenntnis genommen und nicht dementiert.¹⁵³ In seinen jüngeren historisch-rekonstruktiven Studien hat er sich die beiden Titel zu eigen gemacht und herausgearbeitet, was er selbst unter ihnen verstehen möchte.¹⁵⁴ (4) Um zu profilieren und auch zu verteidigen, was Brandom mit Hegel getan hat, kontrastiere ich die bisherigen Ausführungen mit der Kritik, die von Markus Gabriel gegen Brandoms Begriffsrealismus und objektiven Idealismus vorgebracht worden ist.¹⁵⁵ Brandom gebe sich, so Gabriel mit einem Hegel-Zitat, einer zu großen „Zärtlichkeit für die Dinge“ hin.¹⁵⁶ Sein Beharren darauf, dass sein angeblich hegelianischer Idealismus einer des Sinns, nicht der Referenz sei, lasse eine von der Praxis der Begriffsverwendung unberührte Welt übrig, etwas, das „unabhängig davon der Fall ist, daß es in einer Relation auf die sozialsemantische Dimension vorkommt“¹⁵⁷. Brandoms Statement, „that that world is always already there anyway“¹⁵⁸, sowie seine Rede von ihrer „brute thereness“¹⁵⁹ dienen Gabriel
Vgl. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 15, 154, 162, 166, 177 f., 182, 185. Vgl. Brandom, Facts, Norms, and Normative Facts, 357, 370. Bei Auinger, Thomas, Praxis und Objektivität. Anmerkungen zu Robert Brandoms postanalytischer Hegel-Interpretation, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 3 (2005), 162– 178, 174, und bei Haag / Sturm, Sprechen über die Welt, 338 – 340, ist das noch nicht gesehen worden, sie möchten Brandom vielmehr gegen Habermas’ Deklarierung in Schutz nehmen. Vgl. den abschließenden Paragraphen „Ein letzter Versuch, die Welt zu retten: Brandom mit Hegel“ in: Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 391– 405. Vgl. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 395 f. Das Zitat stammt aus GW 11,272. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 392. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 208. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 356. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 206. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 354.
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als evidente Belege.¹⁶⁰ Bei Brandom sei ein unzureichendes Verständnis der bestimmten Negation festzustellen, die allein auf der Seite der Praxis von Subjekten verortet, im Unterschied zu Hegel aber nicht zugleich als eine ontologische Struktur verstanden werde. Brandom führe „den Weltbegriff nur als Moment einer semantischen Triangulation sich widersprechender Subjekte bzw. widerstreitender Überzeugungen und der objektiven Welt ein[ ], die alle Widersprüche von sich weist, da sie keine widersprüchlichen Zustände annehmen kann“¹⁶¹. Der Dualismus zwischen subjektiver, sprachlicher Praxis auf der einen und objektiver Wirklichkeit auf der anderen Seite werde so zementiert. Mehr noch: In Brandoms Weltbegriff werde ein „Restnaturalismus“¹⁶² transportiert. Die als entscheidend präsentierte subjektive sprachliche Praxis entpuppe sich als ein vordergründiges Spiel, hinter dem sich der Zwang in eine Unterwerfung verberge. Zwar rede Brandom großzügig von einem objektiven Idealismus, der Geist und Welt versöhnen solle – in Wirklichkeit aber trete er unter diesem Deckmantel für nichts anderes als einen „pragmatistischen Adaptionismus“¹⁶³ ein: Brandom reduziere „Hegels Begriff der Erfahrung konsequent auf eine naturalisierte Anpassungsstrategie des sozialen Tiers ‚Mensch‘ an die unbarmherzig eindeutige Welt, die ‚brute thereness‘“¹⁶⁴. Diese Einwände Gabriels sind gewichtig – oder besser: Sie wären gewichtig, wenn sie zutreffen würden. Brandoms gesamtes Projekt wäre dann gescheitert. Ich glaube jedoch nicht, dass das der Fall ist. Die in dieser Arbeit unternommene Verständigung über Brandoms Vorgehensweise kann als konsequente Widerlegung von Gabriels Einwänden gelesen werden. Gabriel behauptet, in Brandoms Philosophie gebe es die Theorie einer vorab feststehenden Welt der Dinge an sich, an die der menschliche Geist sich zum Zwecke der Erkenntnis anzupassen habe, was ihm allerdings nie vollständig gelingen könne. Widersprüche seien allein auf Seiten des Geistes bzw. der sprachlichen Praxis zu verorten. Die Welt der Dinge werde von Widersprüchen ausgenommen. Die Dinge würden einfach faktisch nebeneinander stehen. Gabriel spricht tatsächlich von einer „Einzeldingontologie“¹⁶⁵, die Brandom vertrete und die er absurderweise ausgerechnet bei Hegel wiederfinden wolle. Wie wir gesehen haben, tut Brandom jedoch das Gegenteil davon. Er hat den Widerspruch bzw. die bestimmte Negation mittels der alethisch-
Vgl. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 395, 397 f. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 395. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 398. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 401. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 401. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 397.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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modalen Beziehungen des Aus- und Einschließens zum Herzstück seiner Konzeption von Dingen und Sachverhalten gemacht. Einzelne Dinge und Sachverhalte stoßen bestimmte Eigenschaften und Zustände ab, die material nicht vereinbar sind. Und einzelne Dinge und Sachverhalte stehen in einem größeren Zusammenhang mit anderen Dingen und Sachverhalten, mit denen sie deshalb nicht identisch sind, weil sie ihnen inhaltlich widersprechen.¹⁶⁶ Brandoms Bild von der Welt ist das Gegenmodell zum starren Nebeneinander einer Einzeldingontologie, es lebt von der Dynamik des Widerspruchs. Indem er zugleich auf dem Vorrang der deontisch-normativen Seite beharrt, unterstreicht er nochmals, dass es nicht um das Anpassen an eine schlicht an sich vorliegende Welt gehen kann.¹⁶⁷ Diese Variante nämlich würde geradewegs in den Skeptizismus führen, so Brandom mit Hegel. Unter den Überschriften Begriffsrealismus und objektiver Idealismus argumentiert Brandom also genau gegen die Position, die Gabriel ihm unterstellt. Man kann noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass Brandom nicht weniger zielstrebig für die Position eintritt, auf die Gabriel seinerseits hinauswill. Dessen Vorwurf gegen Brandom besteht darin, dass er eine objektive Welt unbefragt zur äußeren Voraussetzung seiner eigentlichen Theorie der Begriffsverwendung mache. Diese Position identifiziert Gabriel mit dem Standpunkt von Hegels Wesenslogik, der als solcher aporetisch bleibe. Sie hantiere noch mit einem zu starken Element der Unmittelbarkeit und erweise sich so als Hinnahme des Gegebenen. Gabriel schlägt hingegen eine „Transformation Brandoms (malgré lui) in einen absoluten Idealismus“¹⁶⁸ vor, d. h. die Überführung in den Standpunkt der Begriffslogik. Mit Anton Friedrich Koch versteht Gabriel unter „dem Begriff“ den explizit gemachten „logischen Raum“, der seine Voraussetzung als Teil seiner selbst setzt und so „ein veritables Bei-sich-selbst-im-Andern-Sein erreicht“¹⁶⁹. Die Reifizierung der als unmittelbar hingenommenen objektiven Welt „ließe sich vermeiden, wenn man das Gegebene zu einem selbst nicht gegebenen Theoriestück der Semantik erklärte, die immer schon als Metatheorie ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen rekonstruiert, womit sie das vermeintlich Gegebene aber konsequent zur Voraussetzung der sozialsemantischen Dimension er-
Brandom sieht darin Hegels Radikalisierung von „Leibniz’ Gesetz“ der Ununterscheidbarkeit des Identischen und der Identität des Ununterscheidbaren: vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 156 – 158. So Brandom bereits gegen Habermas’ Vorwurf einer epistemischen und semantischen Passivität: vgl. Brandom, Facts, Norms, and Normative Facts, 357– 362. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 399. Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 404.
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klärte“¹⁷⁰. Meines Erachtens hat Brandom genau das getan. Er deutet das Gegebene der objektiven Welt gerade nicht als bloßes Vorliegen, sondern bietet, ausgehend von der, wie Gabriel sagt, „sozialsemantischen Dimension“ des Begriffsgebrauchs eine Theorie über die ihrerseits begrifflich strukturierte Wirklichkeit. Im nächsten Schritt wird er zudem tatsächlich die Identifikation seiner Position mit dem Standpunkt von Hegels Begriffslogik vornehmen (vgl. 3.2.3). Wenn Gabriel Brandoms Rede von der „brute thereness“ kritisiert, dann hat er es versäumt, ihre Einbindung in den größeren Theorierahmen zu bedenken. Erkenntnis der Welt, wie sie ist, bedeutet laut Brandom gerade keine Preisgabe des Inferentialismus an den Mythos des Gegebenen. Der vollständige Satz, aus dem Gabriel zitiert, lautet dann auch entsprechend: Denn unsere subjektiv unmittelbaren Verpflichtungen, die wir nichtinferentiell durch die sinnliche Wahrnehmung erworben haben, fassen wir jetzt als etwas auf, das eine objektive Welt vorstellt, deren Unmittelbarkeit (ihr nacktes Dasein) lediglich ein Zeichen ist, eine Erscheinung, die eine Struktur ausdrückt, welche durch reiche Vermittlung bestimmt und daher holistisch ist.¹⁷¹
Gabriels Ausführungen, die er von Brandom inspiriert und doch malgré lui vortragen möchte, entpuppen sich also bei genauerem Hinsehen als Bestätigung von Brandoms Position.¹⁷² Dies ist mit Blick auf die Diagnose des vermeintlichen „Restnaturalismus“ noch einmal zu unterstreichen. In der Tat: Ein solcher Restnaturalismus wäre für Brandoms Theorie hochproblematisch – deshalb wird er durch sie auch explizit ausgeschlossen.¹⁷³ Gabriel, Grenzen der Erkenntnistheorie, 404. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 354. Vergleichbares gilt für Christian Thein, der Brandom vorwirft, in der Hegel-Auslegung an einem „empirischen Objektbegriff“ festzuhalten, wodurch „[z]wischen Begriff und Sache […] ein Dualismus bestehen“ bleibe (Thein, Subjekt und Synthesis, 545). Freilich untergräbt Thein seine eigene Argumentation, wenn er schreibt: „Sprache verschränkt sich mit einem Weltgeschehen, von dem es ontologisch aufgrund der Aufrechterhaltung des Dualismus getrennt bleibt. […] Der ontologische Dualismus wird zweiseitig aufgebrochen. Die Welt ist begrifflich strukturiert und die Unterscheidung von Sprachlichem und Nicht-Sprachlichem, Sozialem und Objektivem selbst wieder eine, die in der diskursiven Praxis getroffen wird“ (547 f.). Diese Sätze scheinen mir kein Attest für den Dualismus, sondern für seine Überwindung zu sein. Es dürfte eher ein Vorurteil sein, dass der „Sprachpragmatiker Brandom“ bestenfalls bei „ontologischen Seitensprünge[n]“ ertappt werden könne, wenn er „alle Bedingungen von Objektivität aus der Immanenz der Praxis selbst“ erkläre (548). Die These vom Restnaturalismus hat Gabriel häufiger vorgetragen, vgl. auch Gabriel, Markus, Absolute Identität und Reflexion. Kant, Hegel, McDowell, in: Danz, Christian, Stolzenberg, Jürgen (Hg.), System und Systemkritik um 1800, Hamburg 2011, 211– 226, 224 f. Auf diesen Text ist in demselben Band direkt reagiert worden: vgl. Auinger, Thomas, Kritik und
3.2 Die metaphysische Erzählung
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Von Markus Gabriel sind wir also in die Debatte um Idealismus und Naturalismus zurückgeführt worden, die oben im Anschluss an Gardner als systematisches Ausgangsproblem exponiert worden ist. Inzwischen lässt sich besser beurteilen, wie Brandom sich in dieser Frage verhält. Er hat eine elaborierte Theorie darüber, wie der Slogan, dass die Unterscheidung des Natürlichen vom Normativen selbst eine normative Unterscheidung sei, zu verstehen ist. Diese Theorie ist als metaphysisch und nicht als post-metaphysisch zu bezeichnen. Denn sie akzeptiert nicht die post-metaphysische Voraussetzung einer naturalistischen Ontologie, zu der eine normativ-soziale Dimension hinzuaddiert würde. Vielmehr beansprucht sie ihrerseits, Aussagen über den Gesamtzusammenhang und die Struktur der Wirklichkeit zu machen. Brandoms Konzeptionen von Begriffsrealismus und objektivem Idealismus zufolge ist auch die natürliche Welt begrifflich strukturiert, auch sie steht in nur normativ herzuleitenden Beziehungen materialen Aus- und Einschließens. Entscheidend ist dabei, was auf dem zurückgelegten Weg immer wieder zur Sprache gekommen ist: dass Brandom mit Blick auf Kant und Hegel und im Anschluss an sie eine nicht-psychologische Konzeption des Begrifflichen vertritt. Zugespitzt kann gesagt werden, dass diese nicht-psychologische Konzeption des Begrifflichen in den Idealismus führt, während eine psychologische oder mentalistische Konzeption des Begrifflichen droht, entweder dem Mythos des Gegebenen und damit dem Naturalismus nachzugeben – oder in einen Dualismus zu fliehen. In dem Umstand, dass Gardner dem Neo-Hegelianismus generell und damit fälschlicherweise auch Brandom eine psychologische Konzeption des Begrifflichen unterstellt, dürfte das Problem seiner Diagnose bestehen. (5) Brandom ist sich bewusst, dass sein systematischer Entwurf einerseits große Gemeinsamkeiten mit anderen Autoren aufweist, die für eine normativ-soziale Orientierung der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Geist und Welt plädieren. Andererseits ist er darum bemüht, die Radikalität, mit der er über sie Verteidigung der Normativitäts-Hegelianer. Anmerkungen zu Markus Gabriel, in: Danz / Stolzenberg, System und Systemkritik, 227– 237. Auinger unterzieht Gabriels Umgang mit Brandom einer ähnlichen Kritik, wie ich es oben getan habe. Mit Blick auf den vermeintlichen Restnaturalismus hält er fest, dass Gabriel „schlichtweg das Gegenteil von Brandoms […] Position“ (234) als Popanz aufgebaut habe. – Ein Vorwurf, der dem Gabriels vergleichbar ist und auf den entsprechend reagiert werden kann, findet sich bei Wandschneider, Dieter, ‚In-expressive Vernunft‘. Abschied vom ‚sich vollbringenden Skeptizismus‘ in Robert B. Brandoms pragmatischem Positivismus, in: Bowman, Brady, Vieweg, Klaus (Hg.), Die freie Seite der Philosophie. Skeptizismus in Hegelscher Perspektive, Würzburg 2006, 199 – 216; Wandschneider, Dieter, Robert B. Brandoms pragmatistische Hegel-Adaption, in: Neuser, Wolfgang (Hg.), Naturwissenschaft und Methode in Hegels Naturphilosophie, Würzburg 2009, 177– 193.
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hinausgeht, deutlich zu markieren. Ein Beispiel dafür ist sein strategischer Umgang mit seinem Kollegen McDowell. Mehrfach zitiert er dessen – ebenfalls vor dem Hintergrund einer Kant- und Hegel-Interpretation formuliertes – Diktum, dass das Reich des Begrifflichen keine äußere Grenze habe.¹⁷⁴ Brandom stimmt ihm zu. Zugleich verwandelt er, jeweils in einer Fußnote, das Zitat in eine herbe Kritik. McDowell habe letztlich nicht verstanden, was er gesagt habe. Denn er habe sich geweigert, „Hegels Konzeption des Begrifflichen, welche auf dem Begriff der bestimmten Negation basiert, zu bejahen“¹⁷⁵, und so die ganze Arbeit an der „Feinstruktur“¹⁷⁶ bzw. an den „Details“¹⁷⁷ einer nicht-psychologischen Konzeption des Begrifflichen ausgespart, mittels derer allein begriffliche Gliederung und Gehaltvollsein erläutert werden könne. In ähnlicher Weise nutzt Brandom die Diskussion mit Robert Pippin, um seine eigene Position als metaphysische Überbietung deflationärer Hegel-Lesarten darzustellen. Dies zeigt sich schon generell an der Verwendung der Bezeichnung „Idealismus“. Pippin führt sie ausdrücklich als Marker für eine post-metaphysische Lesart ein.¹⁷⁸ Darüber hinaus hat er in Reaktion auf die in Tales of the Mighty Dead publizierten Aufsätze Kritik gegenüber Brandoms spezifischem Einsatz dieses Begriffs erhoben.¹⁷⁹ Brandoms Option zugunsten eines Idealismus des Sinns bei Verwerfung eines Idealismus der Referenz stimmt Pippin zu. Er entdeckt darin allerdings lediglich die schwache kantianische Variante, dass wir nur Aussagen über Erscheinungen, nicht aber über Dinge an sich treffen können. Das hegelianische Element bestehe darin, dass er über Kant hinaus nicht nur den normativen Zugriff von Begriffen auf uns untersucht habe, sondern auch, wie diese Begriffe ihren Zugriff wieder verlieren können; erst auf diese Weise könne nämlich die Art ihres Zugriffs überhaupt richtig verstanden werden. Brandoms Einsatz des Idealismusbegriffs sei mithin alles andere als spektakulär. Auf diese Verkürzung seiner Position hat Brandom direkt reagiert.¹⁸⁰ Er weist darauf hin, dass er in den Tales nicht nur global vom Idealismus Hegels gesprochen, sondern drei voneinander zu differenzierende Aspekte bzw. Stufen vorgestellt habe. Pippin sei nur auf einen kleinen Teil davon eingegangen. Er habe nicht
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 143 f., 199, unter Verweis auf McDowell, Geist und Welt, 49 – 69. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 199. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 199. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 144. Vgl. Pippin, Hegel’s Idealism, 5. Vgl. Pippin, Brandom’s Hegel, 383 – 386. Vgl. Brandom, Robert B., Responses to Pippin, Macbeth and Haugeland, in: European Journal of Philosophy 13 (2005), 429 – 441, zum Idealismusbegriff insbesondere 430 f.
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den ersten Schritt gesehen, den Brandom „Begriffsrealismus“ genannt hat: dass die objektive Welt deshalb bestimmt sei, weil sie begrifflich gegliedert sei. Es handelt sich also um denselben Fehler, den Brandom schon bei McDowell festgestellt hat. Auch Pippin verabsäume es, sich auf die „Feinstruktur“ der Wirklichkeit anhand materialer Beziehungen des Aus- und Einschließens, der bestimmten Negation und der Vermittlung einzulassen. Einen Teil des zweiten Aspekts – genannt „objektiver Idealismus“, mit dem die Vorordnung der subjektiven vor der objektiven Seite zusammengefasst wird – habe Pippin dann wahrgenommen. Dies sei allerdings auch der Punkt, der am offensichtlichsten sei: „Of course it is trivial that we can’t say that the world comprises objects, facts, and laws without in fact using singular terms, sentences, and counterfactual conditionals. And that fact may be the source of Pippin’s concern“¹⁸¹. Aber seine eigene Lehre von der Sinn-Dependenz gehe weiter, denn sie erhebe durchaus ontologische Ansprüche: [T]hat what an object is is essentially, and not just accidentally, what can be picked out by a singular term, that what a fact is is essentially what supports counterfactual reasoning, those claims of constitutive conceptual relations between objective categorical and modal notions, on the one hand, and subjective normative practical notions on the other, are not trivial.¹⁸²
Pippins Charakterisierung, die die subjektive Seite auf Kosten der objektiven hervorhebe, verfehle also die eigentliche Pointe von Brandoms Position. Der objektive Idealismus dürfe nicht auf einen Subjektivismus reduziert werden. Brandom fügt noch eine weitere Klarstellung an. Sie trifft jedoch weniger Pippin, der dieses Thema gar nicht berührt hatte, sondern eher nochmals Gabriels Vorwurf des „Restnaturalismus“: [O]bjective idealism in this sense rules out an objective realism that plans first to explain how the world is, in terms of objects, facts, and laws, and then – and only then – by appeal to that objective structure to explain what it is to experience, think or talk about, gain knowledge of that objective structure.¹⁸³
Schließlich habe Pippin auch den dritten Aspekt des in den Tales of the Mighty Dead thematisierten Idealismus übersehen – und damit, so Brandom über sich selbst, die in der Tat bemerkenswerteste These, die er im Anschluss an Hegel
Brandom, Responses to Pippin etc., 431. Brandom, Responses to Pippin etc., 431. Brandom, Responses to Pippin etc., 431.
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vertrete. Dieser dritte Aspekt trägt den Namen „Begriffsidealismus“ und soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.
3.2.3 Normativitätsmonismus (1) Worin besteht nach Brandom der entscheidende letzte Schritt in der Interpretation und Aktualisierung von Hegels Idealismus? In Reaktion auf Pippin formuliert er: The third element of Absolute Idealism distinguished in Tales, conceptual idealism, is the further claim that the whole constellation of subjects engaging in concept-using practices and objects standing in conceptual relations should itself be understood on the model of the practical object-involving activities of subjects, not just on the model of objective relations between subjects and objects: we should construe it not just as Substance, but as Subject.¹⁸⁴
Es könne gut sein, dass einige ihn aufgrund einer solchen Auffassung für „crazy“ erklären würden – „though I think that if we read it in the light of Hegel’s understanding of subjectivity, it turns out to be quite interesting and possibly correct“¹⁸⁵. Erst, wenn man alle diese drei Stufen zusammennehme, Begriffsrealismus, objektiven Idealismus und Begriffsidealismus, erst dann habe man Hegels absoluten Idealismus wirklich verstanden und ausgeschöpft. Ein kurzer Hinweis auf diesen Begriffsidealismus findet sich in der Semantischen Sonate im Kontext der Untersuchung von Hegels Erfahrungsbegriff: Alle Erfahrungsschritte zusammengenommen, der gesamte Prozess der fortschreitenden, präzisierenden Bestimmung der Verwendung von Begriffen, könne laut Brandom als eine Einheit angesprochen werden, und diese Einheit dürfe man mit Hegel „den Begriff“¹⁸⁶ nennen. Ähnlich knapp erklärt Brandom am Ende seines Beitrags Holismus und Idealismus in Hegels Phänomenologie in einer Fußnote, dass er dort für den objektiven Idealismus argumentiert habe; diesem müsse nun aber noch der begriffliche Idealismus hinzugefügt werden, welcher sich in der Formel zusammenfassen lasse: „Die Einheit und Struktur des Begriffs ist dieselbe wie die Einheit und Struktur des selbstbewussten Selbst“¹⁸⁷. Zugleich verweist Brandom auf den Aufsatz Einige pragmatistische Themen in Hegels
Brandom, Responses to Pippin etc., 431. Brandom, Responses to Pippin etc., 431. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 100. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 358.
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Idealismus, in dem die entscheidenden diesbezüglichen Argumente zu finden seien. Ihnen gilt es nun zu folgen. Hegels Pragmatismus und sein Idealismus sind laut Brandom zwei Seiten einer Medaille. Im Titel des Aufsatzes könnten die Rollen auch vertauscht und entsprechend Einige idealistische Themen in Hegels Pragmatismus adressiert werden.¹⁸⁸ Unter Pragmatismus versteht Brandom bekanntermaßen, dass die Bedeutung von Begriffen durch ihren Gebrauch bestimmt wird. Dieser „Gemeinplatz […] in unserer von Wittgenstein geprägten philosophischen Welt“¹⁸⁹ solle nun mit der neuartigen „idealistische[n] These“¹⁹⁰ verknüpft werden, dass „die Struktur und Einheit des Begriffs die gleiche ist wie die Struktur und Einheit des Selbst“¹⁹¹ – ihrerseits alles andere als ein Gemeinplatz heutzutage. Brandom möchte die Kombination von pragmatistischer und idealistischer These in zweifacher Hinsicht verteidigen. Er möchte zeigen, dass Hegel so vorgeht, mit Hilfe der idealistischen These seine pragmatistische Grundausrichtung abzurunden und wasserdicht zu machen. Darüber hinaus ist Brandom der Auffassung, dass Hegels Vorgehen für die aktuelle Debatte bleibende philosophische Bedeutung beanspruchen darf. Was Hegel „den Begriff“ nennt, beschreibt Brandom ausführlicher als „das holistische inferentielle System von bestimmten Begriffen und Verpflichtungen, die durch Begriffe gegliedert sind“¹⁹². Dieses holistische System ist es, welches der idealistischen These zufolge mit dem „Selbst“, seiner Einheit und Struktur nach, gleichzusetzen sei. Die „abstrakte strukturelle Behauptung, die in der idealistischen These enthalten ist“, gelte dabei „sowohl für das System als auch seine Elemente“¹⁹³. Das heißt, dass jeder einzelne Begriff nach dem Modell des Subjekts zu verstehen sei ebenso wie alle Begriffe zusammen bzw. das System der Begriffe. Brandom verweist an dieser Stelle erneut auf den Schritt, den Hegel über Kant hinausgegangen sei, nämlich den Zug gegen eine – letztlich in der Luft hängende – zweistufige Erklärung der Bestimmtheit von Begriffen. Begriffe liegen nicht als bereits bestimmt vor, auch nicht die reinen Verstandesbegriffe, sondern sie sind nicht anders zu haben als durch die Bestimmung mittels ihrer Anwendung. Der komplexe hegelsche Begriff der „Erfahrung“ spielt hier die entscheidende Rolle. Genau an dieser Stelle, so unterstreicht Brandom, würden Hegels Idealismus und sein Pragmatismus Hand in Hand gehen. Mit Blick auf die Konzeption
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 271. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 271. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 271. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 271. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 273. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 273.
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von Erfahrung, die gegen Kants zweistufige Begriffstheorie gerichtet sei, zeige sich, dass Hegel „ein Pragmatist“ im „monistischen Sinne“¹⁹⁴ sei. Zugleich mache sein Idealismus „das Kernstück der Antwort […] zu ebendiesem Punkt“¹⁹⁵ aus. Um die Zusammenführung dieser beiden Perspektiven interpretativ in Hegels Werk zu verankern, beruft sich Brandom nicht mehr auf die Phänomenologie, sondern auf eine Stelle bzw. die Kombination zweier Stellen aus der Wissenschaft der Logik, mit denen sich Hegel als treuer Nachfolger Kants inszeniert. Er zitiert wie folgt: Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, daß die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des ‚Ich denke‘, oder des Selbstbewußtseins erkannt wird. Hiernach rechtfertigt es sich durch einen Hauptsatz der Kantischen Philosophie, daß, um das zu erkennen, was der Begriff sei, an die Natur des Ich erinnert wird. Umgekehrt aber ist hierzu notwendig, den Begriff des Ich aufgefaßt zu haben.¹⁹⁶
Für die Auslegung dieser Zeilen beruft sich Brandom auf Argumente, die er bereits in anderen Zusammenhängen erörtert hat – letztlich auf den gesamten Weg von Kant zu Hegel, der in dieser Arbeit ausführlich nachvollzogen worden ist und den er an dieser Stelle kurz einblendet. Wenn Hegel in der Nachfolge Kants vom „Ich“ bzw. vom „Ich denke“ spreche, dann meine er einen „Träger von Verpflichtungen“¹⁹⁷. Ferner sei das Ich als jemand, der einen normativen Status in Zusammenhängen des Erkennens und Handelns einnehme, eine wesentlich soziale Entität. Hier tauchen das Konzept der „Anerkennung“ sowie seine Herkunft aus demjenigen der „Begierde“ wieder auf. Hegels These sei es, dass „Selbste durch wechselseitige Anerkennung synthetisiert werden. […] Rein biologische Wesen sind Träger und Gegenstand von Trieben und werden erst zu geistigen Wesen, die Verpflichtungen eingehen (und zuschreiben), wenn sie Träger und Gegenstand von anerkennenden Einstellungen sind. […] Sowohl bei Selbsten als auch ihren Gemeinschaften handelt es sich um normative Strukturen, die durch gegenseitige
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 279. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 277. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 280 f. Ich zitiere hier die Version, wie sie in Wiedererinnerter Idealismus zu finden ist. Brandom selbst hat aus einer englischsprachigen Ausgabe der Logik zitiert (vgl. Brandom, Tales of the Mighty Dead, 216, 387). Wie korrekt vermerkt, stammt die letzte Hervorhebung („Ich“) von Brandom selbst. – Der Umgang mit diesen beiden Zitaten (in der kritischen Ausgabe finden sich die Stellen GW 12,17 f. und GW 12,19) wird eine wichtige Rolle in Kapitel 5 spielen. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 281.
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Anerkennung instituiert werden“¹⁹⁸. Auf diese Gedanken greife Hegel zurück, wenn er in der Wissenschaft der Logik vom Ich spreche bzw. wenn er seine idealistische These formuliere: Wenn wir folglich im hegelschen Sinne über die Einheit und Struktur des ‚Ich‘ bzw. des selbstbewussten Selbst sprechen, dann sprechen wir über eine Einheit und Struktur, die durch diesen Prozess gegenseitiger Anerkennung hervorgebracht wird – einen Prozess, in dem normative Gemeinschaften und Gemeinschaftsmitglieder zugleich instituiert werden. Dies soll der idealistischen These zufolge als ein Modell dienen, anhand dessen wir die Einheit und Struktur von Begriffen verständlich machen können.¹⁹⁹
Die Analogie zwischen Subjekten und Begriffen bestehe darin, dass das einzelne Subjekt an einer Gemeinschaft von Subjekten partizipiere und im Wechselspiel von Bestimmen und Bestimmtwerden es selbst sei, ebenso wie der einzelne Begriff an einem Kosmos von Begriffen partizipiere und ein solches Wechselspiel durchlaufe.²⁰⁰ Brandom sieht hier alle Fäden zusammenlaufen, die er auf dem bisherigen Weg untersucht hat. Sowohl Kants Synthesis-Lehre als auch seine AutonomieThese werden durch Hegels Anerkennungstheorie und seinen Erfahrungsbegriff weiterbestimmt, und sie verbinden sich endgültig in der idealistischen These.²⁰¹ Dabei ist wiederum zu betonen: Die Argumentation über die intersubjektive, soziale Schiene ist das, was von Brandom stark gemacht wird und ins Auge sticht – sie ist aber verbunden mit einem dezidiert metaphysischen Unterboden. Brandom spricht es aus, wenn er behauptet, er habe mit seiner Deutung den „Kerngedanke[n]“ aufgespürt, „der Hegels Metaphysik und Logik beseelt und strukturiert“²⁰². Am deutlichsten wird diese metaphysische Seite in einer kurzen Passage thematisiert, in der Brandom auf die Kategorien „Allgemeines“ – „Einzelnes“ – „Besonderes“ eingeht und sie für seine Lesart fruchtbar machen möchte. Der idealistischen These zufolge soll die Einheit und Struktur des Subjekts die Einheit und Struktur des Begriffs erläutern. Laut Brandom kann das auf zwei Ebenen gelingen: auf der Ebene von Begriffen im Plural wie auf der Ebene des Begriffs in der von Hegel propagierten und sozusagen großgeschriebenen Singularform. In beiden Fällen soll das „Modell […] gegenseitiger Anerkennung, durch die Selbste
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 282. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 283. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 284. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 284– 290. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 312.
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3 Hegel auf dem Fundament von Kants Deduktion
und ihre Gemeinschaften instituiert werden“²⁰³, zur Anwendung kommen können. Auf der ersten Ebene, derjenigen der Begriffe im Plural, funktioniert es wie folgt: Erstens beschreibt es die Beziehungen gegenseitiger Autorität zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, den bestimmten Begriffen also, unter die die besonderen Gegenstände (particulars) fallen. Es beschreibt folglich, auf welche Weise bestimmte Begriffe instituiert und Urteile gefällt werden, in denen ein so charakterisiertes Einzelnes (individual) vorgestellt wird. Das Einzelne, das heißt das begrifflich charakterisierte Besondere, und die bestimmten Begriffe werden zugleich instituiert bzw. synthetisiert – genau wie in dem Modell einzelne selbstbewusste Selbste als Mitglieder einer Gemeinschaft (als durch ein Allgemeines Charakterisierte) zugleich mit ihren Gemeinschaften (Allgemeines) instituiert bzw. synthetisiert werden.²⁰⁴
Wir haben es hier mit einer Konkretisierung von Fragen zu tun, die oben in den Abschnitten 3.2.1 und 3.2.2 diskutiert worden sind. Es geht um die Einbeziehung der Gegenstände in den Prozess der Erfahrung, welcher Begriffsverwendung und fortschreitende Begriffsbestimmung zugleich ist. Es geht um die Wirklichkeit, die durch diesen Prozess erschlossen wird. Beide Pole gehören notwendig zusammen. Auf einer zweiten Ebene kann – wiederum mittels der idealistischen These – dieser notwendige Zusammenhang beider Pole, der sich ja zunächst in unendlicher Vielfältigkeit vollzieht, zu einer Einheit zusammengebunden werden: Zweitens beschreibt das Modell die Beziehungen gegenseitiger Autorität, die zwischen den bestimmten Begriffen untereinander bestehen. Auf dieser Ebene werden die bestimmten Begriffe und das, was Hegel ‚den Begriff‘ nennt, zugleich instituiert bzw. synthetisiert. Letzterer ist das große holistische, inferentiell gegliederte System von bestimmten Begriffen und Urteilen, die durch diese Begriffe gegliedert sind; er ist gewissermaßen ein Allgemeines, eine Gemeinschaft, die alle diese Begriffe und Urteile umfasst.²⁰⁵
Mit dieser Aussage geht Brandom einen letzten entscheidenden Schritt. Denn er affirmiert Hegels Gedanken eines holistischen Systems, welches das Wesen des Begrifflichen sowohl in seiner Subjektivität als auch in seiner Objektivität umfasst. Mehrfach, wenn auch nur im Modus des Verweisens, kommt er darauf zu sprechen, immer dann nämlich, wenn er sich Hegels Rede von „dem Begriff“ und von „der Idee“, von der „Substanz“, die zugleich „Subjekt“ ist, oder auch von „wahrer Unendlichkeit“ zu eigen macht. So beschließt er seinen Aufsatz über die Kombination von Idealismus und Pragmatismus bei Hegel mit einer Fußnote, in
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 295. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 295. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 295.
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der er anmerkt, dass die „große Bewährungsprobe für diese Lesart“ darin bestehen werde, „in welchem Maße sie uns ein Verständnis von Hegels radikal neuer Deutung der Beziehung wechselseitiger Autorität (und mithin auch Verantwortung) zwischen Subjekt und Gegenstand (Gewissheit und Wahrheit, dem Sein der Dinge für das Bewusstsein und ihrem Sein an sich, Begriff und Sein) erlaubt, einer Beziehung, die zugleich das Bewusstsein (einschließlich der Beziehung von Spontanität und Rezeptivität, Erschaffen und Vorfinden) und die Idee strukturiert“²⁰⁶. Diese Formulierungen können verbunden werden mit dem Hinweis auf die „Konzeption des Begrifflichen als eines ‚Unendlichen‘“²⁰⁷, mittels dessen das atomistische Bild einer Welt, die nur das lose Aggregat aus einzelnen Dingen und Sachverhalten wäre, hinter sich gelassen wird. Mit der Auffassung des Begriffs als eines Unendlichen, das die Differenz in sich integriert hat, nimmt auch die „Welt […] die Struktur der Unendlichkeit“²⁰⁸ an: „Wir sollen das Ganze nun als etwas auffassen, das seine Unterschiede in sich hat, als eine sich gliedernde Struktur, die sowohl für den Aufbau des Ganzen als auch für den Aufbau seiner sich ‚selbst unterscheidenden‘ Bestandteile wesentlich ist“²⁰⁹. Selbst in Between Saying and Doing, wo er eigentlich gar nicht über Hegel habe reden wollen, kann es Brandom nicht lassen, seine Ausführungen über eine normativ-pragmatistische Konzeption von Intentionalität, die die objektive Welt nicht verfehlen will, mit dem Verweis auf die absolute Idee sowie auf die Substanz, die ebenso Subjekt ist, zu beschließen.²¹⁰ Da A Spirit of Trust dem Gang der Phänomenologie des Geistes folgt und, wie erwähnt, mehr als die Hälfte des Kommentars dem Vernunft- und Geist-Kapitel mit ihrer mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Fortschrittserzählung widmet, die Kapitel zur Religion und zum absoluten Wissen jedoch unbesprochen lässt, rücken dort die metaphysischen Aspekte nach und nach aus dem Fokus. Ausführungen zur konzeptuellen Fassung von Begriffsrealismus, objektivem Idealismus und Begriffsidealismus finden sich über unterschiedliche Kapitel verstreut.²¹¹ Nichtsdestotrotz kann festgehalten werden: Brandoms Fortschrittserzählung – die nebenbei bemerkt weitaus harmonischer daherkommt, als es bei Hegel selbst der Fall ist – überschneidet sich mit seiner metaphysischen Theorie. Zugespitzt kann man sagen: Die durch die Aufklärung hindurchgegangene und
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 312. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 323. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 324. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 324. Vgl. Brandom, Between Saying and Doing, 200. Über die Abschnitte zur Einleitung der Phänomenologie, die oben bereits angeführt worden sind, hinaus vgl. Brandom, A Spirit of Trust, 204– 217, 220 f., 363 – 374, 418 f., 464, 669 – 674, 716 f.
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konsolidierte Gesellschaft zeichnet sich Brandoms Ansatz zufolge dadurch aus, dass ihr theoretisches Selbstverständnis in der in dieser Arbeit dargelegten, erkenntnispraktisch und sprachpragmatisch induzierten Metaphysik besteht.²¹² (2) Auf einen solchen in sich differenzierten Monismus läuft die „idealistische These“ bzw. der „Begriffsidealismus“ hinaus – ein Monismus, der, weil er eine Theorie des Begrifflichen ist, zugleich eine metaphysische Theorie über den Aufbau der Welt darstellt. Es ist also ernst zu nehmen, wenn Brandom die zunächst so spielerisch klingende Aussage in den Raum stellt, ob man von pragmatistischen Themen in Hegels Idealismus oder von idealistischen Themen in Hegels Pragmatismus spreche, sei letztlich dasselbe. Denn es bedeutet nichts anderes als zu behaupten: kein Idealismus ohne Pragmatismus, kein Pragmatismus ohne Idealismus. Von dieser Kombination ist Brandom, der seine Ausführungen zu Hegel als systematisch relevante Aktualisierung verstanden wissen will, überzeugt. Er dürfte sich bewusst sein, dass er damit etwas ziemlich Einmaliges behauptet. Dabei ist geschenkt, dass nicht wenige, die Hegels Idealismus verteidigen wollen, der Auffassung sind, dass eine pragmatistische Interpretation auf jeden Fall zu kurz greife.²¹³ Dass aber ein zu Ende gedachter Pragmatismus notwendig in einen Idealismus führt, diese Position dürfte im pragmatistischen Lager etwas geradezu Unerhörtes sein.²¹⁴ Brandom nutzt für sie Argumente, die er über eine lange Strecke entwickelt hat. Die aufeinander folgenden Konzepte Begriffsrealismus, objektiver Idealismus und Begriffsidealismus markieren die letzten drei großen Schritte auf diesem Weg. Brandom gewinnt sie aus der – zunächst mit Kant, dann mit Hegel vorgenommenen – Analyse der Tätigkeit des Integrierens neuer Überzeugungen in ein holistisches Überzeugungssystem. Begriffsrealismus, objektiver Idealismus und Begriffsidealismus sind nichts anderes als
Hinzu kommt eine praktische Seite, die darin besteht, dass nach der individualistischen Kritik der Aufklärung die sozialen Bindekräfte aus der vormodernen Zeit restituiert werden. Für eine Darstellung und Kritik an den restaurativen Tendenzen dieses Gesellschaftsbildes, die sich nicht zuletzt in der inflationären Verwendung einstmals religiöser Terminologie erweisen, vgl. Hanke, Thomas, Brandoms Geist-Metaphysik. Erstphilosophische und religionstheoretische Konsequenzen des sprachanalytischen Neopragmatismus, in: Langenfeld, Aaron, Rosenhauer, Sarah, Steiner, Stephan (Hg.), Menschlicher Geist – Göttlicher Geist? Beiträge zur Philosophie und Theologie des Geistes, Münster (im Erscheinen). Diese ablehnende Auffassung findet sich z. B. bei Sebastian Gardner, Frederick Beiser, Franz Knappik, Antje Gimmler, Markus Gabriel. Eine wohltuende Ausnahme stellt Dina Emundts dar. Diametral entgegengesetzt äußert sich William James, für den die Wahl zwischen Monismus und Pluralismus „das wichtigste aller philosophischen Probleme“ darstellt (James, Pragmatismus, 100). Seine vierte Vorlesung kann als Gründungsdokument der pragmatistischen Abwendung vom idealistischen Monismus gelten.
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abschließende Konzeptualisierungen dieser Tätigkeit. Insofern ist und bleibt Brandoms Anweg ein dezidiert pragmatistischer. Begriffsrealismus, objektiver Idealismus und Begriffsidealismus sind nichts anderes als abschließende Konzeptualisierungen der Tätigkeit des Integrierens – aber das ist genug, um daraus eine Metaphysik zu zimmern. Die drei aufeinander aufbauenden Formen können als immer tiefere Einsicht in die Struktur der Wirklichkeit beschrieben werden. Der erste Schritt besteht in der Entdeckung, dass nicht nur Subjekte, sondern auch Objekte mittels begrifflicher Gliederung zu verstehen sind (Begriffsrealismus). Im zweiten Schritt wird der bleibende Vorrang des Subjektiv-Pragmatischen vor dem Objektiven unterstrichen (das deontisch-normative Vokabular als Metavokabular für das alethisch-modale Vokabular: objektiver Idealismus). Der dritte Schritt führt diese Thesen über begriffliche Gliederung in der in sich differenzierten Einheitsfigur des Begriffs zusammen (Begriffsidealismus). Im Begriff sind die gesamte Begriffsbestimmung und die gesamte Wirklichkeit umschlossen. Der Begriff ist die Gesamtkonstellation von ausgehandelten Begriffen und der durch sie repräsentierten Wirklichkeit. Schritt für Schritt wird bei Brandoms Vorgehen immer deutlicher, wie er anti-empiristisch und anti-skeptizistisch argumentiert, wie sich seine Theorie gegen eine naturalistische Auffassung der Welt richtet, ohne einen Dualismus von Geist und Natur zu propagieren, und schließlich, wie er damit eine bestimmte normative Spielart eines metaphysischen Monismus vertritt. Dieser Normativitätsmonismus ist eine revisionäre Metaphysik. Revisionäre Metaphysik ist hier durchaus so verstanden, wie Peter Strawson sie ablehnt und Dieter Henrich sie einfordert.²¹⁵ Sind die – durch eine empiristische Methodologie verbürgten – Einzeldinge die entscheidenden Bausteine für eine Beschreibung der Struktur der Welt, in der wir leben, oder ist es – entgegen unserer pluralistischen Alltagserfahrung – die Einheit der gesamten Struktur (die ihrerseits als in sich ausdifferenzierter Prozess zu fassen ist)? Brandom geht dezidiert den zweiten Weg. Er spricht von dem „Perspektivenwechsel“²¹⁶, den Hegels Idealismus erzwinge und den er sich zu eigen mache, weil er der einzige Ausweg aus der Verstrickung in den Mythos des Gegebenen sei. Diese revisionäre Metaphysik ist freilich alles andere als der Rückfall in eine vor-kritische Theorie über den Aufbau der Welt. Zwar wird hier in der Tat, wie Habermas schockiert feststellte, „die Architektonik des nachhegelschen, nachmetaphysischen Denkens überhaupt auf den Kopf“²¹⁷ gestellt. Das bedeutet aber nicht, dass ein „Gottesstandpunkt“²¹⁸
Vgl. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt; Henrich, Dieter, Denken und Selbstsein. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 319. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 167. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 171.
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3 Hegel auf dem Fundament von Kants Deduktion
eingenommen würde, der einen Blick von außen auf das Verhältnis von Sprache und Welt ermöglichte. Dies schließt Brandom gerade aus. Seine revisionäre Metaphysik ist vielmehr die Konsequenz seines normativen Pragmatismus. Mit ihr trägt er der Kritik Gardners am weichen Naturalismus und an deflationären Interpretationen des hegelschen Idealismus Rechnung, ohne jedoch Gardners eigener Neigung zu einer „platonischen“ Konzeption von Idealismus nachzugeben. Das neo-pragmatistische Motto „Die Unterscheidung zwischen der Natur und dem Normativen ist selbst normativ“ ist im Falle Brandoms metaphysisch, nicht postmetaphysisch zu verstehen. Sein Normativitätsmonismus – bei dem es also kein Außen zum Reich des Normativen gibt – bietet einen Vorrang des Normativen vor dem Natürlichen. Es wird nicht, wie Gardner bemängelte, ein fertiges naturalistisches Bild der Welt vorausgesetzt, das nachträglich um eine normative Komponente ergänzt würde. Nach Brandom ist vielmehr auch das Natürliche begrifflich gegliedert und steht in normativ hergeleiteten Zusammenhängen des Einund Ausschließens. Diese Zusammenhänge machen unsere Welt aus – bzw. es ist der Eine Zusammenhang des Ganzen, der dies tut.²¹⁹ Von einem Normativitätsmonismus hat mit Blick auf Hegel auch Terry Pinkard gesprochen.²²⁰ Pinkard geht in seinen Studien ausführlich und lehrreich auf Hegels Naturphilosophie und Anthropologie sowie deren Verhältnis zur Philosophie des objektiven Geistes ein. Für die Verhältnisbestimmung der Theorien von Pinkard und Brandom scheint mir Folgendes relevant zu sein. Entscheidend ist nicht der Punkt, dass Pinkard die Rede von Metaphysik eher vermeidet, denn er assoziiert damit einen ontologischen Dualismus, und diese Positionen lehnt auch Brandom ab. Der Unterschied zwischen beiden dürfte vielmehr darin liegen, dass Brandom tatsächlich mit dem Anspruch auftritt, mit Hilfe von Begriffsrealismus, objektivem Idealismus und Begriffsidealismus die Struktur der Wirklichkeit zu erläutern. Pinkard geht es hingegen allein um das Verständnis von Personen und ihres Zusammenlebens. An einem markanten Detail kann das verdeutlicht wer-
Auch die von Gardner herangezogene Formulierung, dass die Natur zerbricht und in sich den Geist entdeckt, der ihr voraus ist, ließe sich in dieser Weise interpretieren. Natur will beschrieben werden. Natur fordert ihre Beschreibung. Zu diesem Zweck sind die Naturwissenschaften da. Aber indem die Natur dies fordert, setzt sie Normativität voraus, setzt sie „Geist“ voraus. Naturwissenschaften liegen nicht vor, sondern sind selbst schon Manifestation dessen, was Hegel „Geist“ nannte. Insofern ist der Geist der Natur voraus. Er ist ihr nicht im Sinne einer „Schöpfungstheorie“ voraus, weder bezogen auf den individuellen noch einen göttlichen Geist (dazu mehr unter 3.2.4). Brandom bringt das zum Ausdruck, indem er Hegels bzw. seinen eigenen Idealismus einen Idealismus des Sinns, nicht der Referenz nennt. Vgl. Pinkard, Terry, Transcendental Philosophy, Naturalism, and Hegel’s Alternative, in: Dottori, Riccardo (Hg.), Autonomy of Reason? Proceedings of the V Meeting Italian-American Philosophy, Zürich, Berlin 2009, 77– 94, 92.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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den, nämlich am Umgang bzw. am Nicht-Umgang mit Hegels Referenz auf Spinoza. Gleich zu Beginn seines Buches Hegel’s Naturalism geht Pinkard auf die berühmte Wendung aus der Vorrede der Phänomenologie ein, dass alles darauf ankomme, die Substanz auch als Subjekt zu begreifen.²²¹ Pinkard nutzt diese Wendung, um sein Vorhaben prägnant zu charakterisieren: For Hegel, to be an agent is to not to be made of any particular stuff (say, ‘mental’ as distinct from ‘physical’ stuff), since agents are, after all, natural creatures. To be an agent is to be able to assume a position in a kind of normative space, which, so it will turn out, is a kind of social and historical space. […] In acquiring the ability to move within such a normative social space, each agent emerges as an organic animal ‘substance’ reshaped into a self-conscious ‘subject’ capable of guiding her actions by norms.²²²
Was Pinkard hier sagt, klingt einerseits inhaltlich durchaus plausibel und befindet sich auf einer Linie mit Brandom. Andererseits ist es frappierend, dass Pinkard jene Formulierung von der Substanz, die zugleich als Subjekt zu begreifen sei, allein auf endliche Substanzen und Subjekte hin deutet. Man kann das ein aristotelisches Verständnis von Substanz nennen.²²³ Es ist frappierend, weil Hegels Formulierung in der Vorrede offensichtlich nicht auf Aristoteles, sondern auf Spinoza und dessen Konzept der Einen Substanz anspielt. Das heißt: Mag es sich bei Pinkard auch um eine generell zutreffende Hegel-Interpretation handeln, was sein Verständnis geistiger Wesen betrifft – jedem Verweis auf einen metaphysischen Monismus wird hier absichtlich ausgewichen. Eine solche Sorge bewegt Brandom nicht. Er kokettiert lieber mit der Nähe zu Spinoza. Hegel und Spinoza verbinde der Grundgedanke einer „Metaphysik der Bestimmtheit“²²⁴. Am offensichtlichsten zeige sich das in der Verwendung der an Spinoza angelehnten Formel Omnis determinatio est negatio. ²²⁵ Die „andere zentrale spinozistische Lehre“²²⁶, die Hegel übernommen habe, sei der 7. Lehrsatz aus dem 2. Teil der Ethica: „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge“²²⁷. Dieser Satz Spinozas sei die Blaupause für Hegels Ausfaltung begrifflicher Gliederung in die deontisch-normative
Vgl. GW 9,18. Pinkard, Hegel’s Naturalism, 7. Das legt sich auch durch den Kontext nahe, da Pinkard Hegels Position in Abgrenzung zu einem augustinianischen Dualismus als einen „Disenchanted Aristotelian Naturalism“ vorstellt. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 194. Darauf weist Brandom häufig hin: vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 149, 181, 193, 209, 238, 315. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 209. Hier zitiert nach Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 209.
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und die alethisch-modale Seite. Der Gedanke der Normativität sei freilich erst von Kant in angemessener Weise starkgemacht worden. Hegel habe dann die „Synthese von Spinoza und Kant“²²⁸ vollzogen.²²⁹
3.2.4 Die Frage nach dem System (1) Brandom ist also durch seinen Einsatz von Kant und Hegel schließlich bis zu einem revisionären metaphysischen Monismus gelangt. Allerdings macht er einen Schritt, der diese Position wieder zu relativieren scheint. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um die Kritik, dass ein abgeschlossenes, privilegiertes Begriffssystem, wie es Hegel insbesondere in der Wissenschaft der Logik zu etablieren suche, mit einem normativ-inferentialistischen Pragmatismus unverträglich sei. Im Folgenden werde ich darlegen, in welchem Kontext Brandom diese Kritik einführt und was er mit ihr bezweckt. Meines Erachtens sollte man in ihr nicht die Rücknahme der zuvor erarbeiteten Position sehen, sondern ihre Präzisierung. Die Diskussion über den Systemcharakter von Hegels Philosophie gibt es schon lange. Eine markante Position nimmt darin Rolf-Peter Horstmann ein. Er vertritt die These, dass man aufgrund des holistischen Charakters entweder Hegels gesamtes System übernehmen müsse – was heutzutage niemand ernsthaft wollen könne – oder aber auf hegelianische Versatzstücke gänzlich zu verzichten habe.²³⁰ Brandom mischt sich in diese Diskussion ein, indem er sich ausdrücklich gegen Horstmann wendet.²³¹ Wie diese Arbeit dokumentiert, ist Brandom der Auffassung, dass es eine Weise geben kann, Hegels Vermächtnis anzutreten, indem einige seiner Argumente aufgegriffen und weiterentwickelt, andere aber über Bord geworfen werden. Er nennt dies eine kritische Lektüre, kritisch im Sinne von unterscheidend und auswählend. Ihr gehe es nicht – für uns Heutige selbstverständlich nicht, so würde Brandom Horstmann zustimmen – um die Apologie von Hegels System. Wohl aber gehe es ihr um eine „systematische Metaphysik“²³², nicht nur um realphilosophische Themen.
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 210. Deshalb trifft Beisers Kritik, die Neo-Hegelianer würden allein die kantianische, epistemologische Linie verfolgen und das spinozistische, metaphysische Erbe leugnen (vgl. Beiser, Dark Days, 82), möglicherweise auf Pinkard, nicht aber auf Brandom zu. Vgl. Horstmann, Rolf-Peter, What is Hegel’s Legacy and What Should We Do With It?, in: European Journal of Philosophy 7 (1999), 275 – 287. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 226 – 228. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 226.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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Für eine solche kritische Lektüre sei es allerdings nötig, das Verhältnis unseres alltäglichen Begriffsgebrauchs zu seiner logischen Explikation genauer zu bestimmen, d. h. das Verhältnis von empirischen und logischen Begriffen. Unter empirischen Begriffen versteht Brandom Wörter, die als Subjekte oder Prädikate in alltäglich geäußerten Sätzen vorkommen. Unter sie fällt alles, was wir über Gegenstände, aber auch über uns selbst aussagen.²³³ Demgegenüber bestehen Funktion und Leistung logischer Begriffe darin, „das explizit zu machen, was in unserer Begriffsverwendung implizit enthalten ist – das zu denken und zu sagen, was wir im Urteilen und Handeln die ganze Zeit über schon getan haben“²³⁴. Auf diese Art von logischen Begriffen hätten Kant in der Kritik der reinen Vernunft und Hegel sowohl in der Phänomenologie als auch in der Logik den Schwerpunkt gelegt. Über empirische Begriffe hätten wir von Hegel aber auch schon einiges gelernt, insbesondere anhand der entscheidenden Rolle, die die Erfahrung des Irrtums spielt.²³⁵ Empirische Urteile und mit ihnen empirische Begriffe stehen nicht ein für alle Mal fest. Im Gegenteil, nur ihre ständige Revision bringt uns voran, „Fülle und Fruchtbarkeit des Empirischen zeigt sich vielmehr dadurch, dass jede Menge bestimmter empirischer Begriffe notwendig instabil ist“²³⁶. Empirische Erkenntnis und empirische Begriffe sind für sich genommen endlich, dadurch freilich auch im Zuge des gesamten Prozesses ihrer Verwendung unerschöpflich. Es sei notwendig, dass „jede Menge bestimmter empirischer Urteile nicht nur unvollständig und fallibel, sondern garantiert auch falsch“²³⁷ sei. Damit sei Hegel „nicht nur ein epistemischer Fallibilist in Bezug auf die Wahrheit empirischer Urteile, sondern auch ein semantischer Pessimist in Bezug auf die Adäquatheit empirischer Begriffe“²³⁸. Brandom versteht diesen semantischen Pessimismus in einer starken Variante. Mit ihm sei nicht nur gesagt, dass es hin und wieder so sein könnte, dass wir unsere Begriffe revidieren müssten, wenn wir auf Fehlerhaftes stießen.²³⁹ Hegel vertrete hingegen eine weitaus stärkere These.²⁴⁰ Ihr zufolge würden wir uns nicht nur durch einen inadäquaten Begriffsgebrauch in Widersprüche verwickeln, die uns dann zu einer Revision antreiben. Vielmehr würden wir auch dann in Widersprüche geraten, wenn wir Begriffe richtig verwenden. Dies sei die vielbe-
Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 229. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 230. Vgl. dazu oben den Abschnitt 3.2.1. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 237. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 237. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 237. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 243 – 245. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 245 – 251.
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schworene Dialektik in Hegels Ansatz. Sie bestehe nicht nur in gelegentlichen Widersprüchen, sondern habe den Widerspruch zum Antrieb der gesamten begrifflichen Entwicklung gemacht. Dies betreffe alle empirischen Begriffe, und die logischen Begriffe würden diese „Form der kollektiven Instabilität“²⁴¹ explizit machen. Nachdem sich Brandom mit diesen Überlegungen in die, wie er meint, „unheimlichsten Regionen von Hegels Metaphysik vorgewagt“²⁴² hat und dabei einen Weg gegangen ist, den er als authentische, kritische Hegel-Lesart deklariert, wendet er sich abrupt um. Mit Blick auf die logischen Begriffe nämlich und ihr Verhältnis zu den empirischen Begriffen überziehe Hegel sein Konto. Er habe zwar richtig gesehen, dass die Aufgabe der Logik nicht darin bestehe, „die Beschaffenheit der Welt explizit zu machen (also einer Funktion des Bewusstseins dienlich zu sein), sondern vielmehr den Prozess explizit zu machen, in dem die Beschaffenheit der Welt von uns explizit gemacht wird (also eine Form des Selbstbewusstseins zu ermöglichen und darzustellen)“²⁴³. Hegels Fehler bestehe aber darin, dass er der Überzeugung sei, die Logik sei ihrerseits nicht offen, sondern abgeschlossen. Für Hegel gebe es „eine endgültige, vollständig expressiv adäquate Menge logischer Begriffe“²⁴⁴. In dieser Frage sei Hegel also ein „starker semantischer Optimist“²⁴⁵. Markantestes Anzeichen dafür sei seine Rede vom „absoluten Wissen“. Damit verspreche Hegel allerdings etwas, das er in der Durchführung der Logik nicht eingelöst habe und was auch prinzipiell nicht einzulösen sei.²⁴⁶ Während er also – relativ versteckt – eine faszinierende Theorie über empirische Begriffe geliefert habe, sei seine – offen vorgetragene – Theorie über logische Begriffe wenig erbaulich. Brandom diagnostiziert mithin eine fundamentale Differenz zwischen empirischen und logischen Begriffen bei Hegel: Die Ersteren sind prinzipiell unerschöpflich, die Letzteren gibt es nur als komplettes, fixes Set – eine abzulehnende Differenz. Hegel setze jedoch auch eine Verwandtschaft zwischen beiden Arten von Begriffen an, insofern sie nur so zu gewinnen seien, dass ihre jeweilige Genealogie rekonstruiert werde.²⁴⁷ Sowohl die Phänomenologie als auch die Logik – die beide „dasselbe System“²⁴⁸ darstellten – gingen in dieser Weise vor. Auch
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 250. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 251. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 263. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 264. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 264. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 269. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 265, 268. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 266.
3.2 Die metaphysische Erzählung
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diesbezüglich übt Brandom Kritik. Empirische Begriffe besäßen in der Tat ihre eigene semantische Genealogie. Für logische Begriffe sei es hingegen unnötig, eine solche anzugeben. Stattdessen könnten wir „von einer pragmatischen Metasprache aus beginnen, in welcher die Praktiken beschrieben werden, in denen wir begriffliche Inhalte übertragen und bestimmen“²⁴⁹. Logische Ausdrücke seien dann nichts anderes als Operationalisierungen der Verwendungsweise empirischer Begriffe. Dies sei die Methode, die Brandom selbst in Making It Explicit angewandt habe. Gegen diese Diagnose sind diverse Einwände vorgebracht worden. Brandoms Reaktion auf sie unterstreicht die Implikationen und Konsequenzen seiner Position. Die Einwände stellen infrage, dass Phänomenologie und Logik „dasselbe System“ darstellten, und zielen darauf, ob mit dieser Behauptung die Besonderheit der Logik, die eben auch eine ontologische Dimension habe, nicht verloren gehe.²⁵⁰ Brandoms Theorie des Begriffsgebrauchs drohe, nicht mehr zu sein als „a form of quietism in the sense that nothing can be said about the true nature of reality“²⁵¹. Das ist eine ähnliche Kritik an Brandom wie der unter 3.2.2 thematisierte Vorwurf des Restnaturalismus. In seiner Erwiderung räumt Brandom zunächst ein, dass es eine ungeschickte Formulierung war, Phänomenologie und Logik als „dasselbe System“ zu bezeichnen, sie seien zwei Teile von Hegels System.²⁵² Allerdings beharrt er darauf, dass beide Werke im Endeffekt sehr Ähnliches täten und mit dem absoluten Wissen bzw. der absoluten Idee dasselbe Ziel hätten. Beide versuchten, dieses Ziel mittels einer Genealogie zu erreichen. Insbesondere dieser stilisierte Weg von einseitigen zu komplexen Konzeptionen sei unnötig, da man viel einfacher medias in res gehen könne. Das kann man als eine erneute Werbung für Making It Explicit auffassen. Interessanter ist allerdings, wie Brandom den Vorwurf der Missachtung der ontologischen Dimension aufgreift. Er habe zwar nichts dagegen, wenn sich jemand mit Hegels Ontologie beschäftigen wolle, aber er stellt klar, was das Problem an einer Ontologie sein kann und was er als Problem bei Hegel sieht: Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 270. Vgl. Falkenroth, Jana Elisa, Karakus, Attila, Schweikard, David P., Comparing Brandom’s Critical Reading and Hegel’s Systematic Enterprise, in: Prien, Bernd, Schweikard, David P. (Hg.), Robert Brandom. Analytic Pragmatist, Frankfurt am Main u. a. 2008, 101– 113, insbesondere 109 – 112. Falkenroth / Karakus / Schweikard, Brandom’s Reading and Hegel’s Enterprise, 112. Vgl. Brandom, Robert B., Reply to „Comparing Brandom’s Critical Reading and Hegel’s Systematic Enterprise“ (Falkenroth, Karakus, Schweikard), in: Prien / Schweikard, Brandom Analytic Pragmatist, 179 – 183, 180 f. – Misslich ist, dass Brandom seine ungeschickte Formulierung für den Neuabdruck des verhandelten Textes in Wiedererinnerter Idealismus nicht verbessert hat.
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What sets off alarm bells for me in the ontological version is the notion of the true or ultimate structure of reality. I can understand that in semantic terms: Hegel thinks that there is one final set of logical concepts that will let us describe how it is possible to say everything that can be said. And this I deny. I think the set of concepts that make explicit different features of that is in principle open-ended and, indeed, is as open-ended as the determinate ground level empirical concepts are.²⁵³
Wer hingegen eine Ontologie betreibe, mit der die Struktur der Wirklichkeit auf eine letztgültige Weise fixiert werden solle, mache sich der unangemessenen Privilegierung eines einzigen Vokabulars schuldig. Wenn man die Ablehnung dieser Position einen Quietismus in Sachen Ontologie nennen wolle, dann könne er dies durchaus akzeptieren. Seine Ausführungen in Between Saying and Doing seien ein gutes Beispiel dafür: „[T]hey are precisely not privileging one vocabulary over another as cutting reality at the joints or getting things right in a sense that the other vocabulary does not“²⁵⁴. (2) Welche Strategie verfolgt Brandom, wenn er sich in der Frage der logischen Begriffe von Hegel distanziert? Und welche Folgen hat diese Distanzierung für die Einschätzung der von mir bisher verteidigten These, dass Brandom mittels seines Einsatzes von Kant und Hegel eine monistische Metaphysik vorantreibe? Brandom verbindet in dieser Diskussion von Anfang an zwei Punkte miteinander, die für sich genommen unterschiedlich gelagert sind. Zum einen ist das die Frage nach der Aufklärung des Verhältnisses von logischen und empirischen Begriffen bzw. nach der Abgeschlossenheit des Systems. Zum anderen ist es das Statement, dass eine kritische, und das heißt: eine selektive Hegel-Lektüre de re möglich sei. Das sind zwei unterschiedliche Typen von Problemen, ein inhaltliches und ein formales. Ihre gleichzeitige Thematisierung ist jedoch alles andere als akzidentell. Vielmehr ist es so, dass Brandoms methodologische Grundüberzeugung von der Legitimität einer Lektüre de re – also von der Legitimität der Methode, die er bereits die ganze Zeit in seiner Auseinandersetzung mit den Klassikern angewendet hat – mit jener inhaltlichen These über die Unerschöpflichkeit logischer Begriffe steht und fällt. Wenn man behaupten würde, dass Hegels System geschlossen sei, dann dürfte man keine selektive Lektüre de re praktizieren. In dem Fall bliebe nur die Alternative übrig, vor die Horstmann gestellt hat, Hegels Philosophie entweder ganz oder gar nicht haben zu können. Um der HorstmannAlternative zu entgehen und sein eigenes Projekt einer rekonstruktiven Meta-
Brandom, Reply to Falkenroth, Karakus, Schweikard, 182. Brandom, Reply to Falkenroth, Karakus, Schweikard, 182.
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physik durchhalten zu können, muss Brandom die dargelegte Kritik an Hegel üben. Ist das ein Schritt zurück, mit dem Brandom revoziert, was er zuvor in Sachen Metaphysik mit Hegel erreicht hat? Auf diese Weise deutet es Franz Knappik. Brandoms Idealismen, mit denen er die begriffliche Bestimmtheit unseres Denkens und Sprechens wie der Welt um uns herum garantieren wollte, fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, wenn sie nicht durch ein Verständnis von Hegels Logik als eines privilegierten, vollständig bestimmten Begriffssystems abgesichert würden. Bei aller Zuneigung Brandoms für die metaphysische Problematik könne er sich doch nicht von dem aus der pragmatistischen Tradition stammenden antimetaphysischen Affekt befreien. Nach Knappik stehen wir also mutatis mutandis ähnlich wie bei Horstmann vor der Wahl, entweder mit Hegel die Kombination von starkem Begriffsholismus und ontologischem Monismus zu verteidigen, oder aber mit Brandom in pragmatistische Beliebigkeit abzudriften.²⁵⁵ Wenn man nun nicht, wie Knappik es fordert, den gesamten normativ-pragmatistischen Anweg in Sachen Metaphysik für gescheitert erklären möchte, sollte man angesichts des Befundes zunächst versuchen, sozusagen zu retten, was zu retten ist, nämlich zu erläutern, dass – ganz unabhängig von Hegel – Brandoms Kritik an einer bestimmten Weise von Metaphysik keinen Widerspruch zu seiner eigenen Metaphysik darstellt. In einem zweiten Schritt gilt es dann, mehr Zutrauen zu Hegels Logik zu entwickeln, also Brandoms Kritik an Hegels System als überzogen abzuweisen. Zum ersten Schritt: Brandoms brüske Erwiderung auf den Einwand, er missachte die ontologische Dimension der Wissenschaft der Logik, bedeutet keine Ablehnung von Metaphysik überhaupt. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich Brandoms Aussagen als die Kritik einer falschen Form von Metaphysik – und lassen so durchscheinen, inwieweit seine eigene, in dieser Arbeit herauspräparierte Metaphysik die richtige Form darstellt. Was Brandom ablehnt, ist, mit der Ontologie anzufangen, von ihr auszugehen, bevor man sich über semantische Fragen verständigt hat. Denn dies würde heißen, von etwas auszugehen, das unabhängig von unserem Begriffsgebrauch schon fertig vorläge. Der Mythos des Gegebenen ist es, der die Alarmglocken auslöst. Brandom tut hier nichts anderes, als was er durchgängig tut, nämlich die Umkehrung der Erklärungsreihenfolge von Repräsentation und Inferenz zu fordern und umzusetzen. Das ist und bleibt seine kopernikanische Wende. Die Besonderheit der hier besprochenen Stelle besteht darin, dass Brandom offenlegt, wie der Mythos des Gegebenen seine schädliche Wirksamkeit auf zwei
Vgl. nochmals Knappik, Reich der Freiheit, 270 – 287, 503 f.
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unterschiedlichen Ebenen entfalten kann. Er manifestiert sich im Vorliegen von Dingen bei einer vorausgesetzten Ontologie. Und er manifestiert sich im Vorliegen von Begriffen in einem festumrissenen privilegierten Vokabular. In beiden Fällen wird suggeriert, dass Bedeutung ohne Gebrauch einfach so zu haben sei. Und in beiden Fällen wird suggeriert, dass alles schon feststehe – sei es die Struktur der Wirklichkeit, sei es das Begriffssystem. Es ist dieselbe Kritik, die Brandom an beiden Auffassungen gleichermaßen übt.²⁵⁶ Für Brandom ist also eine Metaphysik verdächtig, die vorgibt, unabhängig von der Analyse der Verwendung von Begriffen aus dem Boden wachsen zu können – die vorgibt, dass sie ein festumrissenes privilegiertes Vokabular bereitstellt, auf dessen mangelnde Legitimierung sie gar nicht reflektiert hat. In der oben eingeblendeten Diskussion hat Brandom auf Between Saying and Doing verwiesen. Bereits in der Einleitung habe ich angeführt, dass er in diesem Buch vor allem den Naturalismus als eine solche illegitime Metaphysik vor Augen hat. Hingegen ist für Brandom eine Metaphysik möglich – und wie wir gesehen haben, ist sie sogar eine notwendige Konsequenz – wenn sie im Ausgang von der Analyse der Verwendung von Begriffen gewonnen wird. Diese Metaphysik ist nicht statisch und abgeschlossen, sondern dynamisch und unerschöpflich.²⁵⁷ Angesichts dessen stimme ich der folgenden Charakterisierung, die von ihrem Autor als eine abgeschwächte Variante von Brandoms Theorie des Begrifflichen intendiert worden ist, nicht nur in der Sache zu, sondern würde sie auch als auf Brandom durchaus zutreffend bezeichnen: „Für rationale Wesen […] ist die Welt stets bestimmt und unbestimmt zugleich; ihr Wissen ist von Horizonten des Nichtwissens umgeben, und darüber hinaus von Fissuren des Nichtwissens durchzogen. Dies ist freilich nicht der Fall, weil die Welt eine verborgene (Ding-an-sich-hafte) Verfassung hätte, sondern weil sie an nahezu jedem Punkt begrifflich immer weiter und außerdem in relevanten Hinsichten auch immer wieder anders bestimmt werden kann oder könnte“ (Seel, Martin, Perspektivität und Objektivität. Überlegungen mit Rücksicht auf Robert Brandom, in: Hartmann, Martin, Liptow, Jasper, Willaschek, Marcus (Hg.), Die Gegenwart des Pragmatismus, Berlin 2013, 151– 165, 164). Das ist einer der Punkte, an denen Brandom dem Pragmatismus james’scher Prägung nahekommt, insofern dort ein Gegensatz zwischen einer statischen und einer dynamischen Weltsicht aufgemacht wird. Für James geht es dabei freilich wiederum um den Kampf zwischen Rationalisten auf der einen und Pragmatisten auf der anderen Seite: „Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Pragmatismus und Rationalismus liegt uns nun in ihrer ganzen Tragweite vor Augen. Der wesentliche Gegensatz ist der, dass die Welt für den Rationalisten bereits abgeschlossen und von Ewigkeit vollendet ist, während sie für den Pragmatisten immer noch gemacht wird und er ihre endgültige Ausgestaltung erst von der Zukunft erwartet. Für die einen befindet sich die Welt bereits in vollkommener Sicherheit, während sie sich für die anderen immer noch in Abenteuer stürzt“ (James, Pragmatismus, 161). James bringt dies auch mit den Begriffen von Monismus und Pluralismus in Verbindung, wobei diese sehr schillernd sind: „Aus pragmatistischer Sicht gibt es nur eine Welt, und diese Welt ist unvollendet und an allen Ecken und Enden im Wachsen begriffen, insbesondere dort, wo denkende Wesen am Werk sind“ (162). Pragmatisten
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Eine solche mögliche Metaphysik traut Brandom Hegel einerseits zu, andererseits nicht. Er traut sie Hegel zu in der in dieser Arbeit dargelegten Gestalt. Als Scharnier zwischen Kant und Hegel fungiert dabei jener Gedanke, dass Kant die reinen Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft bloß als ein festes Set „aufgefunden“ zu haben meinte, während für Hegel Begriffe nicht von ihrer Anwendung und somit von der Praxis wechselseitiger Anerkennung losgelöst gedacht werden könnten (vgl. 3.1.1). Wie ich im weiteren Verlauf gezeigt habe, bedeutet die Betonung der Anerkennungspraxis jedoch nicht den Verzicht darauf, Aussagen über die objektive Struktur der Wirklichkeit zu machen; sie läuft vielmehr notwendig auf eine idealistische Metaphysik hinaus (vgl. 3.2.2 und 3.2.3). Eine solche mögliche Metaphysik traut Brandom Hegel allerdings nicht zu mit Blick auf den Gedankengang der Wissenschaft der Logik. Denn er unterstellt der Logik dasselbe, was er an Kants erster Kritik monierte: ein festes Set von logischen Begriffen zu präsentieren, die unabhängig von ihrer Anwendung Bestand hätten. Dasselbe Argument also, das am systematischen Anfang von Brandoms HegelRezeption stand und dort gegen Kant und zugunsten Hegels sprechen sollte, wird nun an ihrem systematischen Ende gegen Hegel gewendet. Bei dieser Distanzierung von Hegel handelt es sich wiederum um einen strategischen Schachzug Brandoms. In der Reihenfolge, der ich in Teil 1 meiner Arbeit folge, ist es der vorletzte Schachzug. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sich Brandom durch ihn einer Chance beraubt. Daher folgt nun der angekündigte zweite Schritt, die vertrauensbildende Maßnahme mit Blick auf Hegels eigenen logischen Pragmatismus. Wie Jana Falkenroth, Attila Karakus und David Schweikard in ihrer Kritik an Brandoms Bewertung von Hegels Konzeption empirischer und logischer Begriffe angemerkt haben, führt Brandom nirgends einen Beleg dafür an, wo und wie Hegel jene Thesen über Unabgeschlossenheit und Abgeschlossenheit aufstelle.²⁵⁸ Die Behauptung, dass die Wissenschaft der Logik ein statisches System sei, scheint eher der Abschreckung dienen zu sollen, um zugleich für Making It Explicit Werbung zu machen. Diese neue Logik verdanke sich zwar maßgeblich intensiver Hegel-Lektüre,²⁵⁹ am Ende aber habe sie jenes überkommene Buch erklärterma-
sind bei James also Monisten und Pluralisten zugleich. Demgegenüber behaupten die Rationalisten zwar einen Monismus, sind in Wirklichkeit aber Dualisten bzw. schlechte Pluralisten, weil sie zwischen einer „édition de luxe“ (162) der wahren Welt und vielen verzerrten falschen Welten unterscheiden. Vgl. Falkenroth / Karakus / Schweikard, Brandom’s Reading and Hegel’s Enterprise, 104 f. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 292 f.
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ßen zu ersetzen.²⁶⁰ Das könnte sich allerdings als eine voreilige Verabschiedung entpuppen. Gerade die Eigenart der Logik bietet nämlich die Gelegenheit, Hegel als Pragmatisten zu profilieren. Brandoms Interpretation könnte so unterfüttert und abgedichtet werden. Dina Emundts hat vorgeführt, wie das aussehen könnte. Als wesentliches Charakteristikum einer pragmatistischen Methodik sieht sie das Anwenden und Ausprobieren von Begriffen an. Die Möglichkeit des Scheiterns gehört notwendig dazu. Auch Brandom ist dieser Auffassung, wie oben dargelegt. Diese pragmatistische Methode entdeckt Emundts nun in der Tat bei Hegel, allerdings nicht etwa nur in der Phänomenologie, sondern ebenfalls in der Logik: „Even in the Logic the method includes testing and using concepts. Although testing and using is here part of conceptual explication, and not of life-practice, we still detect the pragmatist idea of praxis as relevant to Hegel’s project“²⁶¹. Im Unterschied zu Kant präsentiere Hegel in der Logik gerade keine vorliegenden reinen Verstandesbegriffe. Sein Pragmatismus, der die Bedeutung von Begriffen durch ihren Gebrauch bestimmt, beziehe sich nicht etwa nur auf empirische Begriffe, sondern auch auf logische Basisbegriffe wie z. B. „Kausalität“ und „Substanz“. Emundts sagt das explizit mit kritischem Blick auf Brandom.²⁶² Ich halte dies ebenfalls für einen der Punkte, der gegen das, was Brandom schreibt, vorzubringen ist – in der Absicht, seine eigentliche Sache zu verteidigen. Die Wissenschaft der Logik stellt die logischen Begriffe nicht so vor, als ob sie aufgefunden würden, sondern entfaltet sie, als ob sie selbst aktiv wären. Das bedeutet aber in der Tat, dass sie durch nichts anderes als ihre Anwendung bestimmt werden. Gerade die von Brandom beäugte „Genealogie“ der Begriffe steht für diesen Pragmatismus. Mit ihr ist keine mysteriöse „Kette der Wesen“ postuliert, sondern das, was Brandom vorschwebt: die Anwendung und Selbstanwendung von Begriffen, die harte semantische Arbeit, die zu leisten ist und bei der wir merken, dass Begriffe nie vollständig bestimmt, aber auch nie völlig unbestimmt sind. Emundts versteht auch ihre weiteren Ausführungen, die deutlich machen, dass der Pragmatist Hegel ein kritischer Metaphysiker ist, in Abgrenzung zu Brandom.²⁶³ Am Ende dieses ersten Teils meiner Arbeit vertrete ich indes die Auffassung, dass eine größere Konvergenz zwischen Emundts’ und Brandoms Hegel-Deutung besteht. Dass nämlich Hegel die Vermittlung von Begriffen und Gegenständen sowie die zusammenhängende begriffliche Struktur der einen Welt Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 270. Emundts, Hegel as a Pragmatist, 620. Vgl. Emundts, Hegel as a Pragmatist, 621. Vgl. Emundts, Hegel as a Pragmatist, 622– 629; für die Bemerkung zu Brandom vgl. Emundts, Hegel as a Pragmatist, 628.
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(„conceptual monism“²⁶⁴) zu erläutern versucht, entspricht, wie ich zu zeigen versucht habe, dem, was Brandom über Hegel denkt. Aus der Kontrastierung von Brandoms Vorgehensweise mit Emundts’ Text über Hegels Pragmatismus lässt sich daher abschließend in folgender Weise Profit schlagen. Brandom kann zugestimmt werden – gegen Knappik –, dass kein prinzipieller Widerspruch zwischen Pragmatismus und idealistischer Metaphysik besteht. Gerade der normativpragmatistische Zugang darf sich auf Hegel berufen und im Verbund mit ihm eine solche Metaphysik aufbauen. Mit Emundts sollte aber – gegen Brandom – betont werden, dass dies nicht um eine fragwürdige Abgrenzung von der Wissenschaft der Logik erkauft werden muss.Vielmehr ist sie es, die Brandoms Projekt absichert und zum Ziel führen kann. Wie ein solcher Einsatz der Logik aussehen könnte, werde ich in Kapitel 5 exemplarisch vorführen.²⁶⁵ (3) Brandom vollzieht noch eine letzte Volte – einen letzten strategischen Zug – zur Klärung dessen, was er mit Hegel in metaphysischer Absicht will und was nicht.²⁶⁶ Er hat dies als eine Ablehnung des Rechtshegelianismus apostrophiert.²⁶⁷ Nach dem zuvor Dargelegten ist interessant, dass Brandom diese Ablehnung mit der Unterscheidung von logischen und empirischen Begriffen in Verbindung bringt – mit deren Hilfe er nun pro Hegel argumentiert. Was ist das Problem des – historischen wie des jüngeren – Rechtshegelianismus? Für Brandom ist es die „Fehllektüre, […] den hegelschen Geist als eine Art göttlichen Geist [zu] verstehen, als ein soziales Subjekt, das in einer (mehr oder weniger) cartesischen Weise selbstbewusst“²⁶⁸ sei. Das Absolute werde dabei zu einer „Art überindividuellem Denker“²⁶⁹. So hätten die britischen Idealisten gedacht, und es stelle „immer noch einen Teil des populären Hegel-Bildes von NichtPhilosophen dar“²⁷⁰. Der prinzipielle Fehler dieser Deutung bestehe darin, unter Geist bzw. Selbstbewusstsein, im endlichen wie im absoluten Falle, eine besondere mentale Entität zu verstehen – im Gegensatz zu der von Hegel tatsächlich offerierten „nicht-mentalistischen und nicht-psychologischen, normativen Kon Emundts, Hegel as a Pragmatist, 627. Dabei werde ich u. a. auch auf die Beweglichkeit der von Emundts genannten logischen Basisbegriffe „Kausalität“ und „Substanz“ eingehen: speziell dazu vgl. 5.2.2. Vgl. Brandom, Robert B., Zur Versöhnung zweier Helden: Habermas und Hegel, in: Hogh / Deines, Sprache und Kritische Theorie, 253 – 274, insbesondere 266 – 271. Dass er damit nicht zu einem Linkshegelianer in dem Sinne wird, dass er eine kritische Theorie der Gesellschaft oder gar eine revolutionäre Praxis vorantreiben würde, sollte u. a. in 3.1.2 deutlich geworden sein. Brandom, Versöhnung zweier Helden, 266. Brandom, Versöhnung zweier Helden, 266. Brandom, Versöhnung zweier Helden, 266.
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zeption von Selbstbewusstsein als einer sozialen Errungenschaft, die außerhalb des Schädels des einzelnen Organismus stattfindet“²⁷¹. Die Kritik an der rechtshegelianischen Vorstellung von einem göttlichen Denker verbindet Brandom mit der Kritik, die er gegenüber einer Konzeption der Logik als festem Set von Begriffen geübt hat. In beiden Fällen würde vorgegeben, dass „das Ende unserer begrifflichen Entwicklung im Vorhinein und unabhängig von unseren Entscheidungen oder unserem Tun festgelegt ist“²⁷². Zwar spreche Hegel „bedenklicherweise“²⁷³ vom „absoluten Wissen“, das durch die Phänomenologie und die Logik erreicht werden solle. Dies sei aber nicht so zu verstehen, dass alle Begriffe ein für alle Mal feststünden. Auch nach getaner logisch-explikativer Arbeit bleibe es bei einer „prinzipielle[n] Instabilität“²⁷⁴ der Begriffe. Das absolute Wissen lege uns nicht darin fest, „welche alltäglichen basalen Begriffe wir haben, oder welche theoretischen und praktischen begrifflichen Festlegungen wir eingehen sollten. Das Forschen und Überlegen muss weitergehen wie bisher, mit dem einzigen Unterschied, dass wir nun wissen, was wir tun, wenn wir forschen und überlegen“²⁷⁵. Dieser letzte strategische Zug, mit dem Brandom Hegel vor einer „rechtshegelianischen“ Fehldeutung retten möchte, erlaubt eine Präzisierung dessen, was ich als seine Metaphysik profiliert habe. Brandom verbindet die Ablehnung der Vorstellung von einem abgeschlossenen statischen Begriffssystem mit der Ablehnung der Vorstellung von einem mit Bewusstseinsstrom ausgestatteten höheren Wesen, das in seiner Allwissenheit alles durchschaut und festgelegt hätte. Um ein solches kann es bei seinem metaphysischen Normativitätsmonismus in der Tat nicht gehen. Brandoms metaphysischer Normativitätsmonismus ist vielmehr ständige Kritik nicht nur am Naturalismus, sondern auch am Supranaturalismus.
Brandom, Versöhnung zweier Helden, 266 f. Brandom,Versöhnung zweier Helden, 267. Dieselbe Kritik trifft an dieser Stelle übrigens das teleologische Geschichtsbild des Marxismus. Brandom, Versöhnung zweier Helden, 267. Brandom, Versöhnung zweier Helden, 268. Brandom, Versöhnung zweier Helden, 267 f.
4 Zusammenschau: Brandoms Metaphysik In Teil 1 der vorliegenden Arbeit habe ich aufgezeigt, wie Brandom Kant und Hegel interpretiert und wie er diese Interpretation und die aus ihr gewonnenen Argumente strategisch einsetzt, um eine monistische Metaphysik zu etablieren, in der sowohl Subjekte als auch Objekte nur aufgrund ihrer Rolle in dem einen System begrifflicher Gliederungen zu verstehen sind. Philosophiegeschichte wird hier genutzt, um die Überlegenheit des normativen Pragmatismus und Inferentialismus gegenüber Empirismus und Naturalismus performativ vorzuführen. Gleich zu Beginn dieses Teils ist aufgezeigt worden, dass strikt deflationäre Lesarten der klassischen deutschen Philosophie, die auf jegliche metaphysische Aussagen verzichten wollen, sowie die damit gepaarte Annahme eines „schwachen Naturalismus“ nicht hinreichen, um sich gegen die Herausforderungen durch einen reduktiven Naturalismus zu behaupten. Brandom hat diese Problematik eingesehen und unternimmt es daher, der Forderung nach stärkeren metaphysischen Annahmen nachzukommen (vgl. 1.1). Der entfremdenden, unfrei machenden Genealogie, die der reduktive Naturalismus erzählt, will er eine befreiende Genealogie der sich diachron – also auch im Modus der Philosophiegeschichte – vollziehenden Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen entgegensetzen (vgl. 1.2). Brandom beginnt seinen philosophiegeschichtlichen Parcours mit Descartes, um von ihm aus zu Kant weiterzuschreiten (vgl. 2.1.1 und 2.1.2). Descartes wird in plakativer Abgrenzung gegenüber Ähnlichkeitstheorien der mittelalterlichen Epistemologie als derjenige eingeführt, der als Erster gefragt habe, was es überhaupt bedeute, dass wir repräsentierende Wesen sind – was also die Welt des Repräsentierenden von der Welt des Repräsentierten unterscheide. Auch wenn Descartes diese Einsicht zu unglücklichen ontologischen Konsequenzen verleitet habe, so sei doch ihr epistemologischer Ertrag aufgrund der inferentialistischen Implikationen wegweisend. Denn es gehe nun um den Zusammenhang der Welt des Repräsentierenden und um die Rolle, die einzelne Repräsentationen in diesem Zusammenhang spielten. Diese Einsicht Descartes’ sei von Spinoza und Leibniz weiter ausgebaut worden. Brandom versteht diese rationalistische Tradition als inferentialistische Frühgeschichte. Letztlich bedeutet für ihn Rationalismus nichts anderes als Inferentialismus. Gegner dieser Entwicklung sind für Brandom die britischen Empiristen. Sie fragen nicht nach dem inferentiellen Zusammenhang, sondern bleiben einer atomistischen Konzeption verhaftet. Brandom verfolgt mit dieser Darstellung eine Strategie, die über den direkten historischen Bezug hinausgeht. Er nimmt die große Scheidung zwischen der via moderna des Inferentialismus und dem düsteren Mittelalter des Empirismus vor. https://doi.org/10.1515/9783110707526-007
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Die Entwicklung des Inferentialismus von Descartes über seine rationalistischen Nachfolger bis schließlich zu Kant wird von Brandom als eine Geschichte des Fortschritts und der Selbstkritik verkauft. Die britischen Empiristen und mit ihnen alle anderen, die nicht rechtzeitig die Seite gewechselt haben – exemplarisch habe ich auf James und Russell hingewiesen, Brandom denkt zudem an diverse Vertreter der aktuellen analytischen Philosophie – sollen demgegenüber als ewiggestrig dastehen. Der entscheidende Schritt, den Kant innerhalb der rationalistischen Tradition markiert, besteht in der Wende von einem theoretizistischen Zuschnitt zu einer Analyse der Erkenntnispraxis und einem damit verbundenen normative turn (vgl. 2.2.1 bis 2.2.3). Brandom konzentriert sich auf die Verstandeslehre der „Analytik der Begriffe“ der Kritik der reinen Vernunft, während er die transzendentale Ästhetik mit ihrer Würdigung der Sinnlichkeit erklärtermaßen ignoriert. Entscheidend ist für Brandom unsere Selbstbindung an die Begriffe, die wir in unserer Sprach- und Erkenntnispraxis verwenden, oder wie er es auch sagt: der Zugriff dieser Begriffe auf uns. Er unterstreicht also Kants Lehre von der Diskursivität des Verstandes bzw. der Regelhaftigkeit unseres Begriffsgebrauchs. Eine wichtige metaphysische Konsequenz dieser Einsicht in den normativen Charakter des Geistigen ist die Vermeidung eines cartesischen Dualismus, der in der Trennung von zwei ontologisch voneinander geschiedenen Ebenen, einer physikalischen und einer mentalen, verharrt. Bereits in Making It Explicit hatte Brandom diskutiert, ob diese Lehre Kants einen intellektualistischen Regulismus bedeute, der Wittgensteins RegelregressArgument zum Opfer falle, oder einen behavioristischen Regularismus, der nicht mehr zu bieten habe als Wittgenstein selbst. Seine damalige Lösung bestand in der Behauptung, dass Kant einen interessanten Mittelweg anbiete. Allerdings blieb Making It Explicit in dieser Frage relativ vage. Ebenso vermischte Brandom dort die Kritik der reinen Vernunft mit der Kritik der praktischen Vernunft: Eigentlich wollte er über die erste Kritik reden, faktisch zitierte er die zweite. Wie ich dargelegt habe, stellen Brandoms historisch-rekonstruktive Studien einen wichtigen Schritt über Making It Explicit hinaus dar und tragen in Sachen Kant zu den nötigen Klarstellungen bei. Sie sind die nachträgliche Bestätigung dafür, dass Kant von Wittgenstein unangefochten bleibt. Mehr noch: Durch sie wird Kant zu Brandoms bevorzugtem strategischen Partner, der neben dem verbreiteten Empirismus der analytischen Philosophie auch einen postmodernen Quietismus in der Nachfolge des späten Wittgenstein abzuwehren hat. Zudem hat insbesondere die Semantische Sonate verdeutlicht, wie Brandom mit Blick auf Kant das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie bestimmt. Anders als in Making It Explicit behandelt er nun klar unterschieden zunächst Kants theoretische, erst am Ende die praktische Philosophie. Dabei hat Brandom keinesfalls
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einen Primat des Praktischen im Sinne, wie Kant selbst ihn verstand. Während Kant von der Überordnung der praktischen über die theoretischen Interessen des Menschen ausging, besteht Brandoms Sorge in der Erhellung des Begrifflichen schlechthin. Er präsentiert es als einen Primat des Pragmatischen, der theoretische und praktische Philosophie umgreifen soll. Allerdings handelt es sich letztlich doch um einen Primat der theoretischen Philosophie, weil Brandom der Auffassung ist, dass sich aus der Durchdringung des Wesens theoretischer Begriffe die Erklärung des Wesens praktischer Begriffe als unmittelbare Zugabe ergibt. Für Brandoms Kant-Rezeption ist die Bestimmung des Verstandes als des Vermögens zu urteilen zentral. Brandom überträgt Kants eher juridische Ausdrucksweise in eine Sprache der Verantwortlichkeit (vgl. 2.2.3). Mit der Äußerung eines einzelnen Wortes ohne weiteren Zusammenhang, so liest Brandom Kant, kann ich keine Verantwortung übernehmen. Erst mit einem Urteil, also mit einer Aussage, einer Behauptung, einer Festlegung, übernehme ich Verantwortung für einen bestimmten Inhalt. Hierin besteht der eigentliche normative turn in Brandoms Erzählung. Ich habe dargelegt, wie Brandom im Anschluss an Kant vier Aspekte des Urteilens bzw. des Übernehmens von Verantwortung unterscheidet.¹ Die Reaktion auf die Frage, wer für ein Urteil verantwortlich sei, ist das Zeigen auf sich selbst in der Gestalt des kantischen „Ich denke“. Gegenüber wem ich verantwortlich bin, wird durch die Formel vom „Gegenstand = X“ angezeigt. Darin besteht die repräsentationale Dimension des Urteilens, oder wie Brandom auch sagt, seine „Von-Intentionalität“. Davon unterscheidet er die expressive Dimension der „Dass-Intentionalität“, also den Gehalt einer Aussage, für den ich verantwortlich bin. Schließlich fokussiert Brandom auf die Frage, wie die Übernahme von Verantwortung funktioniert. Ihre Beantwortung findet er in Kants Gedanken von der Integration neuer Erkenntnisse in die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption. Damit führt uns Brandom mitten in die Diskussion von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe hinein. Dieser Diskussion habe ich mich in Abschnitt 2.2.4 ausführlich gewidmet. Brandom macht das Herzstück der Kritik der reinen Vernunft auch zum Herzstück dessen, was er mit seiner KantRezeption vorhat. Ein wichtiger Ertrag der vorliegenden Arbeit ist, die zentrale Bedeutung der transzendentalen Deduktion für Brandoms Projekt herausgearbeitet und seinen Umgang mit ihr als eine rationale Rekonstruktion profiliert zu haben, die derjenigen Strawsons an Stringenz und Legitimität nicht nachsteht. Gerade mit Blick auf die Deduktion konnte vorgeführt werden, wie notwendig es
Vgl. Tabelle 1 auf S. 68.
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ist, die Einbettung in einen größeren Debattenkontext vorzunehmen, um überhaupt verstehen zu können, was Brandom tut und was er mit seinem Tun und Unterlassen erreichen will. Mit der transzendentalen Deduktion werden der subjektive und der objektive Pol des „intentionalen Nexus“ thematisiert. Die subjektive Seite besteht in der Tätigkeit der Integration neuer Wissensansprüche in das bisher unterhaltene Wissensganze einer Diskursteilnehmerin. Das ist die Verantwortung, der ein Subjekt nachzukommen hat: eine „task-responsibility“. Es darf nicht passiv bleiben, sondern hat diese tätige Aufgabe zu erfüllen. „Integration“ ist dabei Brandoms Übertragung der kantischen „Synthesis“. Sie kann als ein dreistufiger Prozess der Kritik einer neuen Behauptung und des bisherigen Wissensnetzes, der Erweiterung dieses Netzes sowie der nachträglichen Rechtfertigung dieses Vorgangs beschrieben werden. Behauptungen, die material miteinander vereinbar sind, dürfen im Wissen eines Subjekts miteinander koexistieren, während material nicht miteinander kompatible Behauptungen aussortiert werden. Dieser subjektiven korrespondiert die objektive Seite. Behauptungen beziehen sich auf einen Gegenstand oder Sachverhalt in der Welt. In den materialen Inferenzen, die ein Subjekt vornimmt, ist stets ein repräsentationaler Anspruch enthalten. Behauptungen beziehen sich nicht auf irgendetwas oder auf gar nichts, sondern sie richten sich auf diesen oder jenen Sachverhalt, diesen oder jenen Gegenstand. Sachverhalte sind Gebilde, über die prinzipiell etwas ausgesagt werden kann. So wird im Ausgang von der subjektiven Tätigkeit auch die Objektwelt als inferentiell gegliedert erkannt. Auch die Objektwelt ist strukturiert nach Beziehungen des materialen Ein- und Ausschlusses. Subjekte und Objekte haben prinzipiell dieselbe Struktur. Der Unterschied besteht laut Brandom darin, dass Subjekte weniger zuverlässig beim Ein- und Ausschließen sind. Sie sollen dies tun, tun es aber nicht in jedem Fall. Objekte hingegen können nicht anders, als andere Objekte material ein- oder auszuschließen. Brandom verwendet für die subjektive Seite den Begriff der deontisch-normativen materialen Beziehungen, für die objektive Seite denjenigen der alethisch-modalen Beziehungen. Brandoms Interpretation von Kants transzendentaler Deduktion habe ich mit anderen diesbezüglichen Forschungsbeiträgen ins Verhältnis gesetzt. Bezüglich der subjektiven Seite hat sich dabei insbesondere die Konfrontation mit Peter Strawson als hilfreich erwiesen. Bei seinem Versuch, die Kritik der reinen Vernunft für die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts zu retten, verzichtete Strawson insbesondere darauf, dem Gedanken der Synthesis irgendetwas abgewinnen zu wollen. In Kants Deduktion gehe es lediglich um die Frage der Selbstzuschreibung mentaler Episoden. Jede weitere Analyse der Verstandestätigkeit drohe, in eine unhaltbare transzendentale Psychologie abzudriften.Wie ich gezeigt habe, führt aber genau dieser ängstliche Verzicht auf den Begriff der
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Synthesis in den Mentalismus. Demgegenüber gelingt es Brandom weit besser als Strawson, Kants Einsicht treu zu bleiben und sie auf plausible Weise zu erläutern. Gerade das Beharren auf der Tätigkeit der Synthesis bzw. ihre Reformulierung als Integration material kompatibler und Abstoß material inkompatibler Überzeugungen verhelfen dazu, bei der epistemologischen Sache zu bleiben und nicht zu einer wie auch immer gearteten Lehre über die Erlebnisse der Seele oder das ontologische Refugium eines „mind-stuff“ Zuflucht zu nehmen. Darüber hinaus wurde durch die Konfrontation von Brandom und Strawson der jeweilige Status der Intersubjektivität präzisiert. Zum einen kann man festhalten, dass sich beide Autoren in dieser Frage (noch weiter) von Kants Text entfernen. Zum anderen verfolgen sie dabei entgegengesetzte Absichten. Für Strawson spielt Intersubjektivität deshalb eine Rolle, weil durch sie die für die Deduktion angeblich so zentrale Selbstzuschreibung stärker im empirischen Boden verankert werden könne. Selbstzuschreibung sei nämlich nur dann erfolgreich, wenn die Person, die sich selbst etwas zuschreiben will, mittels Kriterien, die der drittpersönlichen Fremdzuschreibung zugänglich sind, identifiziert werden könne. Damit macht Strawson die Erkenntnistheorie von einer empiristisch verbürgten atomistischen Ontologie abhängig. Brandom hingegen hat die Einheit der Apperzeption über den Aspekt der Rechtfertigung zur intersubjektiven Welt hin geöffnet. Daran mag einiges problematisch sein, wie sogleich in Kapitel 5 diskutiert werden wird. Brandom bleibt aber zumindest in der Hinsicht auf Kants Seite, als dass er keine fertige Ontologie voraussetzt. Metaphysik kann aus seinem normativen Pragmatismus nur folgen. Auf diese Weise hat Brandom sein anti-fundationalistisches Bild von Wissen, das er in Making It Explicit mittels einer Vorschuss- und Anfechtungsstruktur beschrieben hat, weiter ausgemalt. Seine Kant-Rezeption unterstreicht die Endlichkeit dieses Unterfangens. Wissen besteht nicht in einem restlosen Durchschauen, und auch das Wissen um sich selbst zeichnet sich durch ein chiaroscuro aus. In dieser Hinsicht besitzt Brandoms Philosophie durchaus eine existentielle Dimension. Sie steht allerdings nicht im Vordergrund seines Interesses und wird durch seinen späteren Umgang mit Hegel sogar eher eingeschränkt. Es kann aber festgehalten werden, dass Brandom das Subjekt in seiner notwendigen Funktion für die Möglichkeit von Wissen wie auch in der Endlichkeit dieser Funktion affirmiert. Die Kontextualisierung von Brandoms Umgang mit dem objektiven Pol der transzendentalen Deduktion hat weit in die mittlerweile klassische Diskussion um ihre Beweisstruktur hineingeführt. Diese Diskussion ist vor allem mit dem Namen Dieter Henrichs verbunden. Es hat sich schnell gezeigt, dass Brandom den ersten Beweisschritt Kants akzeptiert, dass die reinen Verstandesbegriffe dem Verstand und nicht der Sinnlichkeit entspringen, den zweiten Beweisschritt aber
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ignoriert, der die Angewiesenheit auf die Sinne als Stofflieferanten betrifft. Ich habe jedoch darüber hinaus dafür argumentiert, dass Brandom trotz dieses Vorgehens dennoch das Anliegen der gesamten Deduktion abdeckt. Die kantische Sorge, in einen transzendenten Gebrauch der Kategorien zu entschwinden, der sich bloß auf Gedankendinge, nicht aber auf in der Welt existierende Dinge bezieht – in Brandoms Fall handelte es sich wohl eher um den Verdacht eines konstruktivistischen Sprachspiels ohne jeden Außenweltbezug –, kann er damit ausräumen. Brandoms gesamter Einsatz der Deduktion zielt auf nichts anderes als auf den Ausweis der Objektivität unserer Behauptungen. Sein Argument dafür ist, dass Inferenz notwendigerweise einen repräsentationalen Anspruch impliziert. Der deontisch-normativen Strukturierung unserer Begriffsverwendung entspricht die alethisch-modale Struktur der objektiven Welt. Obwohl Brandom in seiner „offiziellen“ Erzählung behauptet, er verliere kein Wort über Kants oft gescholtenen transzendentalen Idealismus, konnte herausgearbeitet werden, dass er durch sein faktisches Vorgehen zumindest eine Variante der Interpretation und dadurch sogar der Verteidigung dieser Lehre Kants anbietet. Beleg dafür ist seine Verwendung von Kants Begriff des transzendentalen Gegenstandes bzw. des „Gegenstand = X“. In ihr kommt zum Ausdruck, dass ein zunächst völlig unbestimmtes X existiert, dem nach und nach mittels des Einsatzes von Begriffen eine inhaltliche Bestimmung zugeschrieben wird. Jene pure Existenz ist das Einzige, was Brandoms – und in seiner Perspektive auch Kants und Hegels – normativem Pragmatismus gegeben ist. Brandoms Schwerpunkt liegt auf der theoretischen Philosophie Kants. Für den Übergang von Kant zu Hegel, so wie er ihn meistens erzählt, macht er allerdings einen Ausflug in die praktische Philosophie. Ich habe in den Unterkapiteln 2.3 und 3.1 dafür argumentiert, dass es sich tatsächlich nur um einen Abstecher handelt; im Anschluss an ihn schwenkt Brandom wieder in seine theoretische Geschichte ein. Im Vordergrund dieses Abstechers stehen die Begriffe der Autonomie und der Anerkennung. Durch sie sei ein neues Verständnis von Freiheit in die Welt gekommen, das neben der negativen Freiheit-von vor allem die positive Freiheit-zu umfasst. Kants Begriff der Autonomie als Selbstgesetzgebung beinhalte die bewusste Anerkennung von Regeln als Regeln – d. h. nicht mehr die Unterwerfung unter innerlich nicht akzeptierte Gesetze wie in der Zeit vor der Aufklärung – sowie die Eröffnung neuer Möglichkeiten durch freie und reife – „volljährige“ – Selbstbindung. Brandom diagnostiziert bei Kant indes noch einen Mangel, nämlich eine Asymmetrie zwischen der Kraft einer selbstbindenden Festlegung und ihrem Inhalt. Die freie Selbstbindung könnte willkürlich und somit inhaltlich beliebig bleiben, wenn sie völlig subjektivistisch verstanden würde. Ich habe darauf hingewiesen, dass Brandom diesen Vorwurf der Beliebigkeit weniger mit Blick auf Kants praktische Philosophie erhebt, son-
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dern ihn vor allem auf das Leitfadenkapitel der Kritik der reinen Vernunft bezieht. Es sei dann Hegel gewesen, der in dieser Frage Abhilfe geschaffen habe, indem er den Prozess der Selbstbindung intersubjektiv eingebettet habe: Nicht ich allein verfüge über den Inhalt einer Festlegung, sondern es sind andere, die ebenfalls auf diesen Inhalt zugreifen und mich entsprechend zur Verantwortung ziehen können. Brandom kommt zu dem Ergebnis, dass subjektive Autonomie notwendige Bedingung, wechselseitige Anerkennung aber hinreichende Bedingung für die Instituierung normativer Status sei. Durch die Interpretation der ersten Hälfte des Selbstbewusstsein-Kapitels der Phänomenologie des Geistes wird der Anerkennungsbegriff weiter geschärft. In Hegels Analyse der Dimensionen der animalischen Begierde entdeckt Brandom die Möglichkeit, den Übergang vom Reich der Natur zum Reich des Normativen in einer nicht-dualistischen Weise zu erzählen. Begierde fordert Anerkennung, weil sie sich ihrer Objekte vergewissern will. In der natürlichen Konkurrenz zwischen begehrenden Wesen eröffnet sich der Raum für eine normative Konzeption ihrer Tätigkeiten und Ziele. Diese hat für Brandom wiederum eine subjektive und eine objektive Seite. Zum einen ermöglicht sie Selbstbewusstsein im Sinne der Identifikation mit dem, was zu mir gehört, und der transformierenden Konstitution dessen, wer ich sein will. Zum anderen zielt sie auf die Objektivität der Welt, in der ich mich bewege. Durch die Kontrastierung mit Axel Honneths Anerkennungstheorie habe ich unterstrichen, dass Brandom ein theoretisches Interesse an dieser Frage hat. Honneth plädiert für einen Vorrang des existentiellen Anerkennens vor dem theoretischen Erkennen, was er mit einer Kritik der vielfältigen Formen von Verobjektivierung bzw. Verdinglichung im privaten Leben wie in der Gesellschaft zu verbinden weiß. Brandom hingegen setzt das Anerkennungstheorem dazu ein, die Objektivität von Behauptungen rechtfertigen zu können. Sein Umgang sowohl mit Kant als auch mit Hegel belegt, dass die Behandlung von Fragen der praktischen Philosophie bei Brandom größtenteils ausfällt – in den historisch-rekonstruktiven Studien noch mehr als in Making It Explicit. In der Hinsicht bleibt ein ambivalentes Bild zurück. Brandom steht für ein bemerkenswertes Ethos der Begriffsverwendung. Aber er scheint doch relativ harmonisierend über die Verwerfungen hinwegzusehen, die Honneth thematisieren kann. Hier hat sich Brandom Potential entgehen lassen, seine Theorie des Begrifflichen tatsächlich auf praktisch relevante Felder auszudehnen. Als Ergebnis im Rahmen dieser Arbeit lässt sich indes festhalten, dass der Autonomiebegriff zunächst zum Anerkennungsbegriff führt, dieser aber, weil es bei ihm nicht um soziale Fragen oder die Kritik gesellschaftlicher Pathologien, sondern um die Vergewisserung über Objekte geht, zurück zum Begriff der Apperzeption aus der transzendentalen Deduktion führt. Auf dem theoretischen
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Boden von Kants Deduktion erfolgt dann die weitere Auseinandersetzung mit Hegel. In den Abschnitten 3.2.1 und 3.2.2 ist herausgearbeitet worden, wie Brandom in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes Hegels Fortführung der kantischen Einsichten aus der Deduktion entdeckt. Wie schon bei der Interpretation der Deduktion selbst geht es ihm darum, sowohl den subjektiven als auch den objektiven Pol des intentionalen Nexus in den Blick zu nehmen. Für den subjektiven Pol greift Brandom auf Hegels Begriff der Erfahrung zurück. Nachdem Brandom Kant strategisch dafür eingesetzt hat, eine Theorie von Rationalität und Normativität zu entwickeln, die sich entschieden vom Empirismus distanziert, kann er nun mit Hegel eine anti-empiristische Konzeption von Erfahrung starkmachen. In ihr wird Kants normativer Pragmatismus in geschichtlicher Perspektive weiterbestimmt, wohlgemerkt im Rahmen des epistemologisch-metaphysischen Großprojekts. Erfahrung wird hier verstanden als ein Prozess der Begriffsverwendung und -präzisierung, in dem Subjekte Schritt für Schritt Neues über die Welt lernen. In diesen Fortschritt ist die Erfahrung des Irrtums integriert: Gerade die Einsicht in die Unangemessenheit vormaliger Überzeugungen und Begriffsverwendungen erlaubt ihre Korrektur für die Zukunft. Diese Konzeption ist nicht-psychologisch, weil sie Erfahrung nicht als einen inneren Bewusstseinsstrom auffasst, sondern als handfeste Arbeit der Anwendung von Begriffen auf Gegenstände und Sachverhalte in einem gemeinsam geteilten Raum der Gründe. Von diesem mit Hegel zurückgewonnenen Erfahrungsbegriff bleibt der Begriff der Wahrheit abhängig.Wahrheit ist das, was sich im Prozess der Erfahrung nach und nach ergibt bzw. was man sich nach und nach erarbeitet. Entsprechend ist dieser Wahrheitsbegriff graduell, nicht klassifikatorisch. Der objektive Pol, der dem subjektiven Pol der Erfahrung korrespondiert, ist ein neues Bild der Wirklichkeit. Brandom verkauft es unter den Titeln Begriffsrealismus und objektiver Idealismus. Der Begriffsrealismus besteht in der Überzeugung, dass sowohl Subjekte als auch Objekte mittels begrifflicher Gliederungen – deontisch-normativ die einen, alethisch-modal die anderen – zu verstehen sind. Dieser Begriffsrealismus ist eine Weiterentwicklung dessen, was im Rahmen der vorhergehenden Diskussion der transzendentalen Deduktion zum Vorschein kam. Hegel habe diesen Aspekt über Kant hinaus weit systematischer beschrieben, indem er den Ausschluss materialer Inkompatibilitäten unter dem Stichwort der „bestimmten Negation“ und den Einschluss materialer Kompatibilitäten unter dem der „Vermittlung“ operationalisiert sowie ihn ausdrücklich für die Durchdringung der objektiven Welt veranschlagt habe. Brandoms Argument dafür, diesem folgenreichen Zug zuzustimmen, ist ebenfalls eine Konsequenz seiner Interpretation der Deduktion. Es besteht darin, dass wir mit unseren Inferenzen einen repräsentationalen Anspruch erheben. Wenn die Wirklichkeit nicht begrifflich gegliedert wäre, wäre es unmöglich, in begrifflicher Gliederung etwas
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Bedeutsames über sie auszusagen. Einzig auf diese Weise kann die skeptizistische Bedrohung abgewehrt werden, einer im Letzten unerkennbaren Welt opaker Dinge an sich gegenüber im Gehäuse des Unwissens verharren zu müssen. Es ist wichtig zu betonen, dass ein solcher Begriffsrealismus nicht bedeutet, die objektive Welt wieder in etwas in starrer Weise Vorliegendes zu verkehren.² Deshalb handelt es sich z. B. bei dem von Markus Gabriel und anderen erhobenem Vorwurf eines Restnaturalismus um eine Fehldeutung von Brandoms Theorie. Der normative Pragmatismus – durchaus mit seinen konstruktivistisch zu nennenden Aspekten, man denke an den Wahrheitsbegriff – wird durch den Begriffsrealismus nicht nachträglich dementiert. Der Begriffsrealismus ist vielmehr nur durch diesen Anweg erreicht worden und bleibt von ihm abhängig. Er ist deshalb selbst im Modus einer Dynamik des Ein- und Ausschließens konzipiert. Darin besteht Brandoms entscheidender Zug gegen eine naturalistische Ontologie, die vom faktischen Vorliegen von Dingen und Sachverhalten ausgeht. Brandom unterstreicht den bleibenden Vorrang der subjektiven vor der objektiven Seite, indem er zusätzlich zum Begriffsrealismus auch vom objektiven Idealismus spricht. Dieser Titel ist angesichts der besagten Absicht etwas irreführend. Wichtig ist, was Brandom darunter versteht: Das deontisch-normative Vokabular soll als das pragmatische Metavokabular für die alethisch-modale Betrachtungsweise verstanden werden. Wir könnten keine Aussagen über die begrifflich strukturierte Wirklichkeit treffen, wenn wir nicht in der Lage wären, mit begrifflichen Inferenzen umzugehen. Es handelt sich immer wieder um dieselbe Erklärungsrichtung: Repräsentation ist nur mittels Inferenz zu verstehen. Wir können den gegebenen Dingen keine starren Strukturen ablesen, sondern alle begriffliche Gliederung ist nur aus der Perspektive unserer eigenen normativ durchzogenen Praktiken heraus verständlich. Eine weitere Klarstellung, die Brandom im Rahmen dieser Überlegungen macht, besteht darin, dass er die Art von Idealismus, die er mit Hegel verteidigen möchte, einen Idealismus des Sinns, nicht der Referenz nennt. Der Letztere würde die Existenz der Dinge von ihrem Gedachtwerden abhängig machen. Brandom gründet aber nur ihre Bestimmtheit auf seinen normativ-pragmatistischen Anweg, nicht ihre Existenz. Ich habe auch das als Fortführung einer im Kontext der Diskussion der transzendentalen Deduktion gewonnenen Einsicht gedeutet, die sich am Gebrauch der Formel vom „Gegenstand = X“ kristallisiert hat, nämlich die Einsicht in Kants Lehre vom existentiellen Sein. Sie wird in Brandoms Lesart auch von Hegel gewahrt.
Ich danke Achim Vesper für einen Einwand, der mir geholfen hat, diesen Punkt an mehreren Stellen der Arbeit deutlicher herauszuarbeiten.
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Bis zu diesem Punkt hat Brandom mit Hegels Hilfe drei große Fragen bearbeitet, die im Rahmen der Diskussion von Kants transzendentaler Deduktion bereits aufgekommen und zu deren Lösung dort wichtige Ansätze bereitgestellt worden waren: die Öffnung der transzendentalen Apperzeption hin zur Intersubjektivität mittels des Begriffs der Anerkennung, die begriffliche Gliederung sowohl des subjektiven als auch des objektiven Pols des intentionalen Nexus sowie die zuletzt genannte Klarstellung bezüglich des Verhältnisses von Begrifflichkeit und Existenz. Dabei ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, zunächst Brandoms Einsatz von Kant durchdrungen zu haben, um im Anschluss daran seine Hegel-Lektüre einordnen zu können. In Abschnitt 3.2.3 habe ich herausgearbeitet, wie Brandom mit Hegel schließlich über Kant hinausgeht und in einen metaphysischen Abschlussgedanken hineinsteuert. Dieser Abschlussgedanke tritt unter dem Namen Begriffsidealismus auf bzw. wird mittels der „idealistischen These“ zum Ausdruck gebracht, die besagt, dass die Einheit und Struktur des Begriffs dieselbe wie die Einheit und Struktur des Subjekts sei. Brandom versteht diese These, die er an zwei Zitaten aus der Wissenschaft der Logik festmacht, sowohl bezüglich einzelner Begriffe als auch bezüglich des einen holistischen Systems aller Begriffe. Die einzelnen Begriffe nehmen teil am großen Wechselspiel von Bestimmen und Bestimmtwerden innerhalb dieses Systems, so wie einzelne Subjekte an dem einen Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen teilnehmen. Dieses System kann selbst als der Begriff oder das Subjekt (oder auch die Idee) angesprochen werden, weil dieses Wechselspiel eben das ist, was Begriff und Subjekt definiert. Und weil den vorherigen Abschnitten zufolge deutlich geworden ist, dass dies keinen Subjektivismus meint, sondern vielmehr den Ausgriff auf und den Einschluss von Objektivität, kann gesagt werden, dass in dem Subjekt, dem Begriff, der Idee die gesamte Wirklichkeit, subjektive wie objektive, umfasst ist. Dies ist nun alles andere als eine deflationäre Auffassung. Brandom ist davon überzeugt, dass diese Form von Idealismus und sein normativer Pragmatismus notwendig zusammengehören. Darin besteht das weitreichende Resultat des ersten Teils meiner Arbeit: Brandom vertritt auf der Basis und aufgrund seines normativen Pragmatismus einen revisionären metaphysischen Monismus. Dieser ist die Konsequenz der Entwicklung einer robusten Alternative zur vorherrschenden Allianz von Empirismus, Atomismus und reduktivem Naturalismus. Gewonnen hat Brandom diese Position als Abschluss seines strategischen, selektiv-interessierten Einsatzes der Philosophiegeschichte, der sich um Kants transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und Hegels darauf aufbauende Theorie von Erfahrung und Wirklichkeit dreht. In einem letzten Schritt ist schließlich in Abschnitt 3.2.4 erläutert worden, wie dieser erreichte Abschlussgedanke auch trotz einer von Brandom vorgebrachten Hegel-Kritik haltbar bleibt. Diese Kritik richtet sich gegen die vermeintliche Ge-
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schlossenheit des Begriffssystems der Wissenschaft der Logik. Brandom muss diese Geschlossenheit allein schon deshalb ablehnen, weil er andernfalls mit seiner selektiven Lektüre de re an ihr abprallen würde. Die Kritik kann freilich auf ein Maß gedrosselt werden, das es ermöglicht, die Kopplung von Pragmatismus und Metaphysik nicht aufzugeben. Ihr Kern besteht nämlich in nichts anderem als dem vielfach erwähnten Beharren auf der richtigen Erklärungsreihenfolge. Wenn man mit einer gegebenen, fertigen Ontologie anfängt und von ihr die Epistemologie abhängig macht, gelangt man nie dazu, das Wesen unserer normativen Praktiken von innen her nachvollziehen zu können. Wenn man aber mit der Analyse dieser normativen Praktiken beginnt, dann muss nicht ausgeschlossen sein, ja vielmehr erweist es sich als eine notwendige Konsequenz, auch ihre metaphysische Dimension zu erschließen. Dass Brandom die erste Variante, die von einer fertigen Ontologie und einem davon abhängigen starren Begriffssystem ausgeht, bekämpft und der zweiten Variante folgt, die unsere lebendigen begrifflichen Praktiken ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist mit dem gesamten ersten Teil dieser Arbeit ausführlich dargelegt worden. Dass die zweite Variante mit ihren starken metaphysischen Konsequenzen nicht bedeutet, zu einer „rechtshegelianischen“ Lesart Zuflucht zu nehmen, die den gesamten zurückgelegten Weg von einem übernatürlichen Wesen abhängig machen will, auch darauf ist abschließend hingewiesen worden. Diese Ablehnung erfolgt aus dem gleichen Grund wie die Ablehnung des Naturalismus: von unseren lebendigen begrifflichen Praktiken auszugehen und sie nicht einzufrieren durch ein vorausliegendes, feststehendes Dekret. Der metaphysische Zug gegen den Naturalismus führt also nicht etwa in den Supranaturalismus. Auch dies ist ein nennenswerter Aspekt des von Brandom kraft einer nicht-psychologischen Konzeption des Begrifflichen etablierten Normativitätsmonismus.
Teil 2: Anwendung und Variation: zwei Fallstudien zu einem systematischen Einsatz philosophiegeschichtlicher Positionen
5 Irreduzible Normativität? Auftakt zu einer Lektüre von Hegels subjektiver Logik 5.1 Der kritische Ausgangspunkt 5.1.1 Methodischer Übergang von Teil 1 zu Teil 2 In Teil 1 habe ich Brandoms Interpretation von Kant und Hegel sowie die Strategie, die er mit Hilfe dieser Interpretation und Rezeption verfolgt, dargestellt, eingeordnet und versucht, ihre eigentümliche Stringenz plausibel zu machen. Ich habe verdeutlicht, wie Brandom mittels dieser Rezeption seinen inferentialistischen Pragmatismus zu einem Normativitätsmonismus, verstanden als eine revisionäre, gegen einen reduktiven Naturalismus gerichtete Metaphysik, erweitert. Auf diesem Wege führt er zugleich performativ vor, welche Bedeutung der Einsatz von Philosophiegeschichte haben kann: Die lebendige diachrone Entwicklung von Argumenten – hier insbesondere im Übergang von Kant zu Hegel – ist bereits eine Stellungnahme und selbst ein treffendes Argument für die Realität des Spiels des Gebens und Nehmens von Gründen, die von keinem Naturalismus eingeholt werden kann. In der Einleitung sind im Anschluss an Dina Emundts mehrere Arten unterschieden worden, wie man mit Positionen aus der Philosophiegeschichte sinnvollerweise umgehen kann. Emundts sieht neben einer Interpretation, die im historischen Kontext verbleibt und diesbezüglich sorgfältige philologisch-philosophische Arbeit leistet, zwei Möglichkeiten, Positionen aus der Philosophiegeschichte in aktuelle Debatten einzubringen: die synthetische Variante, die einzelne Argumente aus ihrem alten Kontext herauslöst und sie als Bausteine in die aktuelle Debattenlandschaft hineinversetzt (sie mit neuen Argumenten „synthetisiert“), sowie die systematische Variante, die zum einen über die Qualitäten des historischen Zugangs verfügen muss, um eine getreue und zusammenhängende Interpretation zu bieten, welche dann als Gesamtvorschlag in eine aktuelle Debatte eingebracht wird, und sei es zum Zwecke der kritischen Verfremdung. Ich habe vorgeschlagen, die synthetische Vorgehensweise nochmals aufzufächern, und zwar in ein eher instrumentelles Aufgreifen fremder Ideen zu eigenen Zwecken und in eine eher interessierte Variante, für die zwar immer noch die aktuelle Diskussion und das Vorankommen in ihr den Maßstab abgeben, zugleich aber versucht wird, zumindest einige Positionen der historischen Autorin vor dieser Folie für ein heutiges Publikum plausibel zu machen. Unter diese synthetischinteressierte Variante fällt als Paradebeispiel Strawsons „rationale Rekonstruktion“ der Kritik der reinen Vernunft. https://doi.org/10.1515/9783110707526-008
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Legt man die nunmehr vier genannten Vorgehensweisen zugrunde, bewegt sich Brandom – so meine These in Teil 1 bzw. dessen Ergebnis – zwischen der synthetisch-instrumentellen und der synthetisch-interessierten. Die Profilierung seiner Interpretation der „Analytik der Begriffe“ als eine alternative rationale Rekonstruktion neben derjenigen Strawsons und das Nachzeichnen der Linien von diesem kantischen Lehrstück zur Interpretation Hegels haben verdeutlicht, dass Brandom mit diesen beiden Autoren keineswegs völlig beliebig verfährt, wie manchmal insinuiert wird, und auch nicht rein instrumentell einzelne Bausteine aus ihren Positionen herausbricht, sondern dass er daran interessiert ist, sich auf die Dynamik der jeweiligen Denkentwicklung – zumindest für eine gewisse Wegstrecke – einzulassen. Im nun folgenden zweiten Teil meiner Arbeit möchte ich mich methodisch von Brandom lösen und in Kapitel 5 und Kapitel 6 zwei Fallstudien für einen – im Sinne des genannten Rasters – systematischen Einsatz von Texten aus der Philosophiegeschichte durchführen. Die Position Brandoms spielt dabei freilich nach wie vor eine Rolle, weil sie eben einen Standpunkt innerhalb einer aktuellen Debatte markiert, zu der die systematischen Rekonstruktionen ihrerseits etwas beitragen wollen. Wie das konkreter zu verstehen ist, wird im Laufe dieses Unterkapitels 5.1 sogleich ersichtlich werden. Indem ich ein bestimmtes Defizit in Brandoms Theorie benenne, das eine weitere Diskussion erfordert, leite ich aus inhaltlichen Gründen her, warum sich der formale Umstieg auf die systematische Rekonstruktion einer philosophiegeschichtlichen Position – in diesem ersten Fall derjenigen Hegels – lohnen kann.
5.1.2 Ein Einwand gegen Brandom: Reduktion von Normativität auf Sozialität In Teil 1 ist mehrfach darauf hingewiesen worden, wie Brandom seine metaphysische mit seiner „sozialen“ Erzählung verknüpft. Sowohl mit Blick auf Kant als auch auf Hegel ist herausgearbeitet worden, dass es Brandom dabei nicht um praktische, sondern um theoretische Probleme geht. Doch selbst wenn dies erkannt und akzeptiert wird, bleiben Fragen. Ich möchte eine konkrete Stelle nennen, die zum Ausgangspunkt für dieses Kapitel 5 werden soll. Zur Untermauerung seiner idealistischen These (vgl. oben 3.2.3) hat Brandom zwei Stellen aus Hegels Wissenschaft der Logik zitiert: Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, daß die E i n h e i t , die das We s e n des B e g r i f f s ausmacht, als die u r s p r ü n g-
5.1 Der kritische Ausgangspunkt
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l i c h - s y n t h e t i s c h e Einheit d e r A p p e r c e p t i o n , als Einheit des: I c h d e n k e , oder des Selbstbewußtseyns erkannt wird. (GW 12,17 | Z. 36 – GW 12,18 | Z. 2)¹ Hiernach rechtfertigt es sich durch einen Hauptsatz der Kantischen Philosophie, daß, um das zu erkennen, was der B e g r i f f sey, an die Natur des I c h erinnert wird. Umgekehrt aber ist hiezu nothwendig, den B e g r i f f des Ich aufgefaßt zu haben. (GW 12,19 | Z. 3 – 6)
Zusätzlich zu Hegels eigenen Hervorhebungen hat Brandom beim Zitieren auch das „Ich“ im letzten Satz durch Kursivschreibung markiert. Ebenso hat er darauf verwiesen, dass wir ja schon wissen würden, was zum Verständnis dieses Ichs vorauszusetzen sei, nämlich der soziale Prozess wechselseitiger Anerkennung.² Für Brandom ist ausgemacht, dass mit dem hier in der Logik aufgerufenen Ich ein soziales Ich gemeint sei, jenes Ich nämlich, das am Ende des intersubjektiven Anerkennungsgeschehens im Selbstbewusstsein-Kapitel der Phänomenologie des Geistes zutage getreten ist. Bei aller sonstigen Differenz zum Deflationismus Pippins folgt Brandom hier ohne Abstriche der Devise, die jener 1989 ausgegeben hatte: „The subjectivity presupposed by the Logic, the subject presumably determining for itself […] its own fundamental Notions is supposedly the Spirit introduced and developed in the PhG, a collective, socially self-realizing subject“³. Brandoms Propagierung einer sozialen Theorie des Ich ist auf Widerspruch gestoßen. Er soll hier zunächst in einer starken Version vorgestellt und dann auf ein Maß reguliert werden, aus dem sich ein produktiver Ertrag für die zur Debatte stehende Frage erzielen lässt. Für die starke Version steht Markus Gabriels Kritik an den „Normativitäts-Hegelianern“ im Allgemeinen und an Brandom im Besonderen.⁴ Dass – wie in Teil 1 dargelegt – die Auseinandersetzung mit der Rolle, die die ursprünglich-synthetische Einheit des Selbstbewusstseins spielt, für Brandom entscheidend ist, hat auch Gabriel gesehen. Er kann jedoch in der Präsentation des Weges von Kant zu Hegel keine konsistente Entwicklung erblicken. Vielmehr bemängelt er eine schlechte „Umdeutung“⁵ von Kants originärer
Die Quellenangaben zu Hegel und Kant erfolgen in Kapitel 5 nun fortlaufend im Text, im Falle Hegels zusätzlich mit Zeilenangabe. Vgl. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 280 – 282. Pippin, Hegel’s Idealism, 170. Brandom gibt diese Abhängigkeit von Pippin auch zu, verbunden mit dem zweifelhaften Kompliment, dass man an diesem Punkt „am meisten von ihm lernen“ (Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 277) könne. – Wie bereits erwähnt hat Pippin seine Interpretation von Hegels Logik mittlerweile stark modifiziert. Dazu gehört, dass er jenen aus der Phänomenologie entlehnten „sozialen“ Zugang zur Subjektthematik der Logik nicht mehr verfolgt, sondern weit näher an Kants Argumentation in der transzendentalen Deduktion ist: vgl. insbesondere Pippin, Realm of Shadows, 112– 114. Vgl. Gabriel, Absolute Identität und Reflexion; Gabriel, Erkenntnis der Welt, 280 – 311. Gabriel, Erkenntnis der Welt, 301.
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Einsicht. Die von Kant für den Erkenntnisprozess als unverzichtbar veranschlagte transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins werde schlichtweg sozialisiert, das „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, in eine gesellschaftliche Masse aufgelöst, das individuelle Subjekt dem „kommunitaristische[n] Primat der Gemeinschaft“⁶ unterworfen. Das sei Brandoms Fehler, es sei aber auch schon Hegels Fehler gewesen. Man sehe „leicht, wie Brandoms Semantik von Kant auf Hegel umstellt: An die Stelle des ‚Ich denke‘ tritt das ‚Wir denken‘, das ‚Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist‘. Die transzendentale Apperzeption übernimmt nicht mehr die Führung in Synthesisfragen, sondern wird allenfalls zur Zugangsbedingung zum ‚Wir denken‘ herabgestuft. Damit stellt sich Brandom […] in die amerikanische Tradition der pragmatistischen Aufhebung des Subjekts“⁷. Gabriel kritisiert diese Operation vehement.⁸ Hier ist eine wichtige Frage angesprochen: Geht, wenn Hegel ins Spiel kommt, das Subjekt verloren, das für Kant die entscheidende Rolle spielt? Als oben die ebenfalls von Gabriel gestellte Frage nach dem „Restnaturalismus“ diskutiert wurde (vgl. 3.2.2), war es auf der Basis dessen, was Brandom tatsächlich geschrieben hat, relativ leicht möglich, den erhobenen Vorwurf zu entkräften. In Sachen Verdrängung des Subjekts und der damit einhergehenden Reduktion von kantianischer Normativität auf hegelianische Sozialität verhält es sich anders. Denn diesbezüglich wandelt Brandom auf einem schmalen Grad. Einerseits argumentiert er an einigen Stellen ausdrücklich gegen eine Reduktion von Normativität auf Sozialität,⁹ andererseits spielt er mit Formulierungen, die eine solche Reduktion nahelegen. Die besagte Überblendung von Logik und Phänomenologie folgt also durchaus einem Muster.¹⁰
Gabriel, Erkenntnis der Welt, 301. Gabriel, Erkenntnis der Welt, 302. Kritik dieser Art findet sich auch bei anderen Autoren – interessanterweise auch bei solchen, die von Gabriel eigentlich neben Brandom mitgemeint sind. So hat McDowell die Theorie von Making It Explicit einen „transzendentalen Soziologismus“ (McDowell, Welt im Blick 305 f.) genannt. Selbst Pinkard wirf Brandom eine Hegel nicht entsprechende Reduktion von Normativität auf Sozialität vor: vgl. Pinkard, Terry,Was Pragmatism the Successor to Idealism?, in: Misak, Cheryl (Hg.), New Pragmatists, Oxford 2007, 142– 168, 164– 166. So schon an diversen Stellen in Making It Explicit wie bei der Ablehnung des Regularismus (vgl. dazu Abschnitt 2.2.2) oder bei der Kritik an Crispin Wright und dessen Verabsolutierung der Sprachgemeinschaft (vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 83 – 86, 103 – 105). Es könnte sein, dass es auch in dieser Frage eine Entwicklung gegeben hat, die von Making It Explicit zu den historisch-rekonstruktiven Studien führt. Wie erwähnt verstärkt die Gewichtung von A Spirit of Trust die „soziale“ Erzählung, verbunden mit gewissen restaurativen Tendenzen. Umso wichtiger erscheint es mir, eine andere Geschichte zu erzählen.
5.1 Der kritische Ausgangspunkt
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5.1.3 Eine Lösungsperspektive: noch einmal von Kant zu Hegel Der Vorwurf der Reduktion von Normativität auf Sozialität ist für sich genommen gewichtig. Die Art, wie Gabriel ihn vorträgt, hat jedoch einen Nachteil. Er begeht nämlich denselben Fehler, den er Brandom unterstellt: unter Hegels Theorie der Subjektivität nichts anderes als eine soziale Anerkennungstheorie zu verstehen. Gabriel lehnt Brandoms Erzählung ab, weil er ihr glaubt. Der Weg von Kant zu Hegel wäre in diesem Fall eine Sackgasse. Anders verhält es sich mit der Perspektive, die Andrea Kern in ihrer Auseinandersetzung mit Brandom entwickelt.¹¹ Schon Gabriels Kritik konnte man eine kantianische Rückfrage auf die zur Debatte stehende hegelianische Antwort nennen. So ist es auch bei Kern. Sie möchte Brandom noch stärker auf Hegels kantianisches Erbe festlegen. Kerns entscheidender Kritikpunkt ist Brandoms Verständnis der Autonomie-These, die er Kant unterstellt und von der ausgehend sein Schritt zu Hegel erfolgt.¹² Laut Brandom handelt es sich um ein Defizit, dass Kant die soziale und geschichtliche Dimension der Anwendung und somit Bestimmung von Begriffen nicht hinreichend berücksichtigt habe. Zwar habe er Autonomie als Selbstbindung und somit als aus Überzeugung erfolgende Akzeptanz von Normen verstanden. Aber ob diese Normen wiederum Objektivität beanspruchen könnten und nicht auf purer Willkür beruhten, darauf habe Kant keine Antwort gegeben. Erst Hegel habe mit seinem Gedanken wechselseitiger Anerkennung den entscheidenden Schritt getan. In Kerns Diagnose sieht Brandom auf der einen Seite etwas Richtiges: „Indeed, Kant provides no account of intentionality which reduces intentionality to a phenomenon that can be understood independently of the phenomenon to be understood“¹³. Gemeinschaft und Geschichte spielen in Kants Erklärung der spezifischen Normativität unseres Begriffsgebrauchs keine Rolle. Dies sei Kants „insight into the irreducible nature of intentionality“¹⁴. Auf der anderen Seite bestehe Brandoms Problem gerade darin, diese Position Kants als defizitär zu betrachten. Somit reihe er sich in die Schar derer ein, die Kants Erkenntnistheorie subjektivistisch lesen wollen. Kern kritisiert diese subjektivistische Lesart der Autonomie-These nicht nur als eine verfehlte Interpretation Kants. Darüber hinaus – und das ist der eigentliche
Vgl. Kern, Review of Tales of the Mighty Dead. Dass es sich dabei tatsächlich um eine Schwachstelle in Brandoms Erzählung handelt, ist im Übergang von 2.3 zu 3.1 thematisiert worden. Für Kern, die in dem hier zitierten Beitrag nur die Aufsätze der Tales, aber noch nicht die Sonate vor sich hat – mithin, wie sie selbst kritisch anmerkt, keinen eigenen Aufsatz zu Kant –, muss diese Schwachstelle noch eklatanter wirken. Kern, Review of Tales of the Mighty Dead, 303 f. Kern, Review of Tales of the Mighty Dead, 304.
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Trumpf in ihrer Argumentation – wende sich eine solche Lesart gegen Brandom selbst. Einerseits brauche er das kantianische Defizit, um sein weiteres Vorgehen, d. h. die Einführung Hegels in seine Erzählung, zu motivieren. Andererseits könne er sie so nicht bis ans Ziel führen, weil Hegels vermeintliche Lösung von Kants Problem und damit Brandoms eigene Theorie durch diese Art der Anknüpfung ihrerseits im Subjektivismus verbleibe.¹⁵ Durch wechselseitige Anerkennung soll für Brandom eine objektive Gültigkeit erzielt werden, die über beliebige subjektive Zustimmung hinausgeht. Kern weist indes darauf hin, dass auch diese nun angeblich hegelianische Fassung der Autonomie-These immer noch subjektivistisch bleibe, und zwar „in the sense that it considers the idea of a subject who acknowledges a norm to be more fundamental than the idea of a norm. Norms are understood as the products of acts of acknowledgement between subjects“¹⁶. Auch wenn sie zusammenspielten, seien es immer noch einzelne Subjekte, die Normen hervorbrächten. Mit anderen Worten: Normen blieben eine subjektive Setzung. Normativität werde nicht als Normativität verstanden. Es würden lediglich subjektive Standpunkte zusammenaddiert. Kern verteidigt also Kant gegen Brandoms Zugriff und benennt die Gefahr, die sich für Brandoms eigene Theorie ergibt. Allerdings wendet sie diese Kritik ins Positive (das unterscheidet sie von Gabriel). Wenn wir Brandoms Stilisierung des subjektivistischen Defizits bei Kant nicht mitmachten und stattdessen Kants Ablehnung der Erklärung von Normativität durch das Zusammenspiel empirischer Subjekte ernst nähmen, wenn wir also, so Kern, mit ihr den Schritt zurück von Brandoms Hegel zu einem authentischen Kant machten, dann könnten wir wiederum einen neuen Schritt nach vorn zu einem authentischen Hegel wagen. Dies wäre ein Hegel, der a fortiori Kantianer ist. Bei diesem Hegel wäre von Anfang an klar, dass es ihm mit Kant um die normative Eigenart des Begrifflichen überhaupt geht und nicht nur um die Deskription der sozialen Aushandlung konkreter Begriffe. Selbstverständlich behandelt Hegel weit mehr als Kant die Fragen nach der gesellschaftlichen und geschichtlichen Verfasstheit des Menschen. In der Deutung Kerns ist das aber nicht die Lösung eines Problems, an dem Kant noch gescheitert wäre, sondern schlicht die Behandlung zusätzlicher Themen. Durch diese Entkopplung werde erstens die philosophische Durchdringung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Fragen von ihrer Begründungsfunktion für die Objektivität begrifflicher Normativität entlastet und viel stärker in ihrer Eigenbedeutung gewürdigt. Zweitens werde eine Perspektive auf Hegel eröffnet, „according to which the step from Kant to Hegel is not understood as the consum-
Vgl. Kern, Review of Tales of the Mighty Dead, 305 f. Kern, Review of Tales of the Mighty Dead, 304.
5.1 Der kritische Ausgangspunkt
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mation of a Brandomian explanatory project, but as the radicalized carrying through of the idea that every kind of reductive explanation of intentionality must fail“¹⁷. Also nicht nur die Rückkehr zu Kant, sondern auch der neue Weg von Kant zu Hegel soll dazu führen, die Irreduzibilität des normativen Charakters von Intentionalität zu verteidigen, ja diese Verteidigung sogar zu radikalisieren. Kern zeichnet die Linie vor, der ich in 5.2 folgen möchte. Aufgabe ist also, zumindest exemplarisch vorzuführen, wie Hegel in der hier verhandelten Frage das kantianische Erbe zu bewahren und zuzuspitzen sucht. Anders gesagt: Brandoms Erzählung der Geschichte von Kant zu Hegel, wie sie in Teil 1 rekonstruiert worden ist, zu kontrastieren mit der Geschichte von Kant zu Hegel, wie Hegel selbst sie inszeniert hat. Wichtig ist mir dabei, dass diese Entscheidung nicht bedeutet, aus dem bisherigen Verlauf dieser Arbeit auszusteigen. Es geht nicht darum, den normativ-pragmatistischen Zugang zu Hegel scheitern zu lassen. Was sich von nun an aber ändert, ist, wie angekündigt, die Methode. Eine Stelle, an die zu besagtem Zweck exemplarisch anzuknüpfen wäre, hat Brandom selbst ins Schaufenster gestellt, indem er jene beiden in 5.1.2 genannten Zitate aus der Wissenschaft der Logik mit Hegels hohem Lob für Kant zu einem zentralen Beleg für seine Theorie gemacht hat. Präziser gesagt stammen die Zitate aus der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ zu Beginn der subjektiven Logik. In der Tat geht Hegel nirgendwo sonst so explizit affirmierend auf Kants transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ein. Brandom ist unmittelbar davon ausgegangen, dass die von ihm verwendeten Zitate aus der Logik über die Struktur-Identität von Begriff und Ich die aus der Phänomenologie vertraute Anerkennungstheorie voraussetzen. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie sind in der Tat voraussetzungsreich, aber sie beziehen sich erklärtermaßen nicht auf jene Anerkennungstheorie. Hegel sagt es in einem Halbsatz, der das Zitat abschlösse, wenn er von Brandom nicht abgeschnitten würde: Es sei „hiezu nothwendig, den B e g r i f f des Ich aufgefaßt zu haben, wie er vorhin angeführt worden“ (GW 12,19 | Z. 5 f.)¹⁸. Vorhin, also: kurz zuvor, nirgendwo anders als in derselben Passage „Vom Begriff im allgemeinen“, in der Hegel die genannte tiefe und richtige Einsicht Kants über die Struktur-Identität von Begriff und Ich diskutiert. Diese Diskussion hat Brandom bisher ignoriert. Daher dürfte eine systematische Interpretation der genannten Passage eine vielversprechende Kandidatin dafür sein, im Sinne Kerns den Weg von Kant zu Hegel noch einmal neu zu gehen. Selbstverständlich wäre es sinnvoll, darüber hinaus die gesamte subjektive Logik heranzuziehen, um Hegels radikalisierten Kantianismus zu verdeutlichen. Dies
Kern, Review of Tales of the Mighty Dead, 306. Kursive Hervorhebung T.H.
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erforderte offensichtlich ein eigenes Buch. „Vom Begriff im allgemeinen“ soll hier pars pro toto stehen. Das geschieht in der nicht unbegründeten Hoffnung, dass in diesem Textabschnitt argumentative Weichenstellungen vorgenommen werden, die Gang und Ergebnis der subjektiven Logik zwar nicht lückenlos vorwegnehmen, aber entscheidend präfigurieren. Eine solche Lektüre Hegels wird erlauben, gegenüber einer Überstrapazierung der sozialen Komponente die Irreduzibilität begrifflicher Normativität zu verteidigen.
5.2 Objektivität kraft Subjektivität: Hegels logischer Anschluss an Kant (Kommentar zur Passage „Vom Begriff im allgemeinen“) 5.2.1 Die Funktion der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ im Rahmen des Projekts der Wissenschaft der Logik Es folgt nun ein Kommentar zum Abschnitt „Vom Begriff im allgemeinen“ aus der subjektiven Logik, der von Hegels Text ausgeht und ihn mit philologischer Sorgfalt zu interpretieren sucht.¹⁹ An einigen Stellen blende ich in diesen Kommentar
Solch einen ausführlichen Kommentar zur Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ gibt es meines Wissens bisher nicht. In Kommentaren, die sich der gesamten Wissenschaft der Logik widmen, wird sie oft nur gestreift. Explizit wird auf sie eingegangen bei Arndt, Andreas, Die Subjektivität des Begriffs, in: Ders., Iber, Christian, Kruck, Günter (Hg.), Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, Berlin 2006, 11– 23, 13 – 19; Düsing, Klaus, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik, Bonn 1976, 228 – 243; Ders., Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 170 – 173; Iber, Christian, Hegels Konzeption des Begriffs, in: Koch, Anton Friedrich, Schick, Friedrike (Hg.), Klassiker auslegen: G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Berlin 2002, 181– 201, 182– 189; Jaeschke, Walter, Die Unendlichkeit der Subjektivität, in: Menegoni, Francesca, Illetterati, Luca (Hg.), Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. Hegel-Kongreß in Padua und Montegrotto Terme 2001, Stuttgart 2003, 103 – 116, 105 f.; Koch, Anton Friedrich, Hegel: Die Einheit des Begriffs, in: Brachtendorf, Johannes, Herzberg, Stephan (Hg.), Einheit und Vielheit als metaphysisches Problem, Tübingen 2011, 177– 198, 182 f.; Koch, Anton Friedrich, Subjektivität und Objektivität. Die Unterscheidung des Begriffs, in: Ders., Schick, Friedrike,Vieweg, Klaus, Wirsing, Claudia (Hg.), Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg 2014, 209 – 221, 213 f.; Longuenesse, Hegel’s Critique of Metaphysics, 13 – 29; Pippin, Robert B., Hegels Begriffslogik als die Logik der Freiheit, in: Koch, Anton Friedrich, Oberauer, Alexander, Utz, Konrad (Hg.), Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, Paderborn u. a. 2003, 223 – 237; Pippin, Realm of Shadows, 120 – 127, 252– 259; Quante, Michael, Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin 2011, 165 – 168; Schick, Friedrike, Hegels
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Reflexionen ein, die zur Diskussion von Brandoms Interpretation zurückführen, um zu verdeutlichen, wie die rekonstruierte Position aus der Philosophiegeschichte systematisch in eine aktuelle Debatte eingebracht werden kann. Wozu schreibt Hegel die Passage „Vom Begriff im allgemeinen“? Diese Frage lässt sich zunächst ganz praktisch beantworten: Sie ist die Einleitung in ein neu publiziertes Buch. Zwischen der Publikation des ersten Teils der Wissenschaft der Logik, der aus Seins- und Wesenslogik bestehenden objektiven Logik, und dem zweiten Teil, der Begriffslogik bzw. subjektiven Logik, lagen immerhin gute dreieinhalb Jahre. „Vom Begriff im allgemeinen“ ist zwar etwas völlig anderes als die kurze zeitgebundene Notiz des „Vorberichts“. Aber sie ist erst einmal nichts anderes als eine Hinführung und Einladung zur Lektüre eines neu publizierten Bandes, eben der subjektiven Logik. Dadurch erklärt sich auch ihr teils salopper Tonfall. Jedoch ist „Vom Begriff im allgemeinen“ noch mehr – und deswegen nenne ich diesen Textabschnitt am liebsten eine „Passage“. Sie kann nämlich in die subjektive Logik nicht anders einleiten als auf die Art, dass sie sie mit der objektiven Logik verbindet. „Vom Begriff im allgemeinen“ ist konzipiert als Verbindungs- und Gelenkstelle, als Passage zwischen objektiver und subjektiver Logik. Sie verdankt sich dem bisher zurückgelegten Weg – nur so kann sie einweisen in das, was auf sie folgt. Diese Funktion im größeren Kontext der Wissenschaft der Logik zu beachten, ist sehr wichtig. Denn durch sie wird dieser Text, der als Einleitungstext nach Hegels eigener Auffassung neben der eigentlichen logischen Entfaltung steht,²⁰ zu einem gehaltvollen Statement über diese logische Entfaltung selbst. „Vom Begriff im allgemeinen“ thematisiert und affirmiert die Auffassung, dass die eigentliche Argumentation in der Abfolge der Kapitel der Logik vollzogen werden muss. Insbesondere besagt diese Passage, dass die Argumentation, aus der sie selbst zehrt, am Ende der Wesenslogik vollzogen worden ist. Darüber hinaus aber besagt sie, dass sie selbst notwendig ist, um deutlich zu machen, was mit dieser Argumentation tatsächlich erreicht worden ist. Erreicht worden ist nämlich der Punkt, Wissenschaft der Logik – metaphysische Letztbegründung oder Theorie logischer Formen, Freiburg im Breisgau, München 1994, 55 – 59, 193 f., 208; Dies., Die Lehre vom Begriff. Erster Abschnitt. Die Subjectivität, in: Quante, Michael, Mooren, Nadine (Hg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2018, 457– 558, 460 – 472; Zambrana, Rocío, Subjectivity in Hegel’s Logic, in: Moyar, The Oxford Handbook of Hegel, 291– 309, 294– 300. – Vgl. ferner zwei meiner eigenen Texte, die Vorstufen zu diesem Kapitel 5.2 darstellen: Hanke, Thomas, Das Wesen im Begriff. Über den Zusammenhang von objektiver und subjektiver Logik in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“, in: Arndt, Andreas, Kruck, Günter (Hg.), Hegels „Lehre vom Wesen“, Berlin, Boston 2016, 159 – 179; Hanke, Thomas, „Subjektivität“ bei Hegel. Ein Panorama und ein Vorschlag, in: Ders. / Viertbauer, Subjektivität denken, 57– 83. Für diese Einschätzung vgl. GW 11,15 bzw. GW 21,27.
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an dem der Begriff der Substanz mit dem Begriff des Begriffs wie des Subjekts ohne weiteren Zwischenschritt identifiziert werden kann. Somit ist die Basis erreicht, von der aus es möglich ist, eine Logik des Begriffs auszuführen. Ohne die objektive Logik und speziell die wesenslogische Analyse dessen, was mit Substanz gemeint sein könnte, wären wir nach Hegel zur subjektiven Logik gar nicht berechtigt. Mit dem richtigen Verständnis von Spinoza jedoch, so stilisiert es Hegel in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“, haben wir auch das richtige Verständnis von Kant erworben – und umgekehrt. Hier erfolgt die Konkretisierung der self-fulfilling prophecy vom Beginn der objektiven Logik, dass es bereits diese sei, die Kants transzendentaler Logik „zum Theil“ (GW 11,31 | Z. 2 bzw. GW 21,47 | Z. 2) entspreche, d. h. sie beerben und ersetzen wolle.²¹ Der Rest, der nach diesem Teil noch übrig ist, wird durch die subjektive Logik erarbeitet werden. „Vom Begriff im allgemeinen“ kann in vier Abschnitte eingeteilt werden. Der erste (GW 12,11– 16, bis Z. 22) handelt rückblickend von der „i m m a n e n t e [ n ] D e d u c t i o n“ (GW 12,16 | Z. 29 f.) des Begriffs aus der Wesenslogik, speziell aus dem Substantialitätsverhältnis. Den zweiten Teil (GW 12,16 – 19, bis Z. 11) nennt Hegel „eine Bemerkung, die für das Auffassen der hier entwickelten Begriffe dienen kann, und es erleichtern mag, sich darein zu finden“ (GW 12,17 | Z. 5 f.). Dies leistet sie in konstruktiver Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. An diese erste „Bemerkung“ schließen sich „einige weitere Bemerkungen“ (GW 12,19 | Z. 13) an, zwei, um genau zu sein, die die Kant-Diskussion weiter vorantreiben, dieses Mal stärker in kritischer Absicht: Im dritten Teil der Passage (GW 12,19 – 23, bis Z. 28) geht es um das Verhältnis von Logik und Realphilosophie, im vierten Abschnitt (GW 12,23 – 28) um einen Begriff absoluter Wahrheit als Movens und Ziel der Logik.
5.2.2 Die Generierung des terminus technicus des Subjekts aus dem der Substanz (1) Hegel eröffnet die Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ mit einer Kritik der Unmittelbarkeit. Es wäre falsch, wenn wir so täten, als ob wir ohne Voraussetzung in die subjektive Logik einsteigen könnten. Denn die Behauptung einer solchen Voraussetzungslosigkeit ist in Wirklichkeit nichts anderes als die Auslieferung an die Gefahr, falsche Voraussetzungen in den Gedankengang einzuspeisen. Im Falle Brandoms ist genau das geschehen, nämlich durch seine unmittelbare Behauptung, das Ich in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ sei das durch Aner-
Zu dieser Frage vgl. insgesamt GW 11,31 f. bzw. GW 21,46 – 49.
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kennung produzierte Ich aus der Phänomenologie. „Was d i e N a t u r d e s B e g r i f f e s sey“ (GW 12,11 | Z. 3), so beginnt derweil Hegel, das könne vielmehr nicht „unmittelbar angegeben“ (GW 12,11 | Z. 3) werden. Diese Behauptung richtet sich zunächst gegen die Übernahme der geometrischen Methode in die Philosophie, die Definitionen und Axiome ohne ersichtliche Begründung an den Anfang stellt, um daraus alles weitere abzuleiten. Sie richtet sich aber auch gegen jede andere Form von letztlich „subjective[r] Voraussetzung“ (GW 12,11 | Z. 11). Hegel will hingegen den Begriff als „a b s o l u t e G r u n d l a g e“ (GW 12,11 | Z. 12) erweisen bzw. der Begriff müsse „sich zur Grundlage g e m a c h t“ (GW 12,11 | Z. 13) haben. Axiome erscheinen zwar als voraussetzungslos, aber sie sind es nicht, denn sie sind im Hinblick auf eine Wirklichkeit, die sie erklären sollen, zu Axiomen gemacht worden. Der Begriff soll von nichts und niemandem zu dem gemacht worden sein, was er ist, außer von ihm selbst. Er soll von nichts und niemandem abhängig sein, alles andere hingegen soll von ihm abhängen und ohne ihn nicht in einen letztgültigen Zusammenhang gebracht werden können. Das ist das Programm. Hegel meint, dass er genau dieses Programm bereits in der objektiven Logik verfolgt und umgesetzt hat. Der Begriff war implizit schon in ihr tätig: Seyn und Wesen sind insofern die Momente seines We r d e n s ; er aber ist ihre G r u n d l a g e und W a h r h e i t , als die Identität, in welcher sie untergegangen und enthalten sind. […] Die o b j e c t i v e L o g i k , welche das S e y n und We s e n betrachtet, macht daher eigentlich die g e n e t i s c h e E x p o s i t i o n d e s B e g r i f f e s aus. (GW 12,11 | Z. 20 – 25)
Hier wird die gesamte objektive Logik als „g e n e t i s c h e E x p o s i t i o n d e s B e g r i f f e s“ angesprochen, welcher wiederum die „G r u n d l a g e und W a h r h e i t“ der gesamten objektiven Logik sein soll. Diese wechselseitige Beziehung und Durchdringung kennzeichnet das Großprojekt der Wissenschaft der Logik. Speziell ist der dritte Abschnitt der Wesenslogik angesprochen, der von der Problematik des Absoluten bzw. der spinozistischen Substanz ausgeht, und noch spezieller dessen drittes Kapitel, in dem, wie Hegel nun sagt, die „d i a l e k t i s c h e B e w e g u n g d e r S u b s t a n z durch die Causalität und Wechselwirkung hindurch“ und somit „die unmittelbare G e n e s i s d e s B e g r i f f e s“ (GW 12,11 | Z. 30 – 32) erfolgt ist. Wenn Hegel generell die geometrische Methode ablehnt, wird er mindestens diesen Punkt auch an Spinoza kritisieren. Dass die Substanz am Anfang der Ethica steht, ist für Hegel eine unerlaubte Setzung. Aufgabe der Logik ist es, dieser Setzung auf den Grund zu gehen. Das Werden des Begriffs ist nichts anderes als die Begründung der Substanz. Im Begriff drückt sich aus, was die Substanz eigentlich meint: „[S]ie ist das a n s i c h , was er als m a n i f e s t i r t e s ist“ (GW 12,11 | Z. 29 f.).
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Hegel kündigt hier schon an, dass diese Einsicht nicht ohne Unterscheidung und Verwandlung zu haben ist: „So ist der Begriff die W a h r h e i t der Substanz, und indem die bestimmte Verhältnißweise der Substanz die N o t h w e n d i g k e i t ist, zeigt sich die F r e y h e i t als die W a h r h e i t d e r N o t h w e n d i g k e i t , und als die Ve r h ä l t n i ß w e i s e d e s B e g r i f f s“ (GW 12,12 | Z. 3 – 6). Hegel wird darin eine Korrektur, aber keine Verwerfung Spinozas sehen. (2) Nach diesen einleitenden Hinweisen bietet Hegel eine Zusammenfassung der am Ende der Wesenslogik geleisteten Begründung der Substanz.²² Er tut dies, indem er den Ausgangspunkt benennt – die Substanz als „das A b s o l u t e“ (GW 12,12 | Z. 16) –, um dann die „Bewegung der Substantialität“ (GW 12,12 | Z. 19 f.) nachzuvollziehen. Unter Substanz versteht Hegel die grundlegende Kategorie der Wirklichkeit. Sie ist „das an- und für sich-seyende Wirkliche“ (GW 12,12 | Z. 16). In ihr ist alles inbegriffen, alles enthalten: alles Wirkliche, alles Mögliche. An sich betrachtet ist die Substanz diese „einfache Identität“ (GW 12,12 | Z. 17) von allem. Zugleich zeichnet sich damit die Struktur des Für sich ab: Die Substanz ist völlig auf sich selbst bezogen. Sie ist „absolute M a c h t“ (GW 12,12 | Z. 18 f.), die alles zusammenhält, und „schlechthin sich auf sich beziehende N e g a t i v i t ä t“ (GW 12,12 | Z. 19), weil sie nichts von sich ausschließt. Dieser Substanzbegriff wird nun einer genaueren Analyse unterzogen. Dabei stellt sich heraus, dass er in sich widersprüchlich ist. Die Behauptung der absoluten Identität gerät in Konflikt mit der absoluten Macht der Substanz. In der Identität zeichnet sich ein Spalt ab. Wird die Wirklichkeit so verstanden, dass in der beschriebenen Weise alles in der einen Substanz inbegriffen ist, dann kommen in dieses Gedankengebäude die Momente von Aktivität und Passivität hinein, von Zusammenhalten und Zusammengehaltenwerden. Die behauptete Identität der Substanz ist komplexer, als bisher gedacht. Die sich auf sich beziehende Negativität bezieht sich gar nicht einfach nur auf sich, sondern indem sie das machtvoll tut, ist ein Anderes vorausgesetzt, welches diese Macht erleidet. Hegel treibt in seiner Begriffsanalyse diesen Spalt so weit in die Identität der Substanz hinein, dass er von einer „p a s s i v e n Substanz“ (GW 12,12 | Z. 24) spricht, die der „a c t i v e [ n ] Substanz“ (GW 12,12 | Z. 26) als Material zur Verfügung steht.²³
Ich folge hier dieser Zusammenfassung, ohne eine Konfrontation mit dem Text der entsprechenden Kapitel in der Wesenslogik vorzunehmen. Vgl. dazu Iber, Christian, Übergang zum Begriff. Rekonstruktion der Überführung von Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung in die Verhältnisweise des Begriffs, in: Koch / Oberauer / Utz, Der Begriff als die Wahrheit, 49 – 66. Es ist wichtig, diese Innenperspektive der Analyse zu bewahren. Die passive Substanz wird nicht von außen bzw. wie zufällig der aktiven gegenübergestellt. Für diese wenig glückliche
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Die vermeintlich statische Substanz ist also in Bewegung geraten. Was aber passiert mit den beiden Spaltprodukten? Aktive und passive Substanz liegen nicht nur vor. Die aktive Substanz setzt die passive voraus. Aber sie tut das, indem sie sich zugleich auf sie bezieht. Sie übt ihre Aktivität an ihr aus. Sie wirkt auf sie ein. Das Verhältnis von aktiver und passiver Substanz ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung, mit anderen Worten: Kausalität. Auch dieses Kausalitätsverhältnis kann weiter analysiert und aufgeklärt werden. Es ist wiederum nicht statisch. Kausalität verändert. Und zwar verändert sie sowohl dasjenige, auf das eingewirkt wird, als auch das, was sich als einwirkende Macht präsentiert. Die erste Seite dürfte naheliegen: „[D]ie Ursache wirkt auf die passive Substanz, sie v e r ä n d e r t deren Bestimmung“ (GW 12,13 | Z. 10 f.). Die Macht macht etwas mit dem Ohnmächtigen. Sie überträgt sich auf es. Die Wirkung ist daher nicht nur ein fest umrissenes, abgeschlossenes Produkt, sondern sie wird selbst „zur Ursache, Macht und Thätigkeit“ (GW 12,13 | Z. 13). So steht Ursächlichkeit plötzlich auf beiden Seiten. Die passive Substanz ist ihrerseits nichts anderes als aktive Substanz. Deshalb kann auch von der Letzteren gesagt werden, dass sie sich im Kausalitätsverhältnis verändert. Sie überträgt ihre Macht in die passive Substanz, welche zunächst als „ihr a n d e r e s “ (GW 12,13 | Z. 17) vorausgesetzt werden musste. Im Vollzug dieses Übertragens aber stellt sich heraus, dass dieses Andere kein fremdes Gegenüber mehr ist, sondern ebenfalls Aktivität und Ursache. Aus der Kausalität, die ein Gefälle von der Ursache zur Wirkung zu besagen scheint, ist mithin ein gleichberechtigtes Verhältnis geworden: die Wechselwirkung. Mit diesen Operationen hat Hegel ein reicheres Verständnis der Substanz gewonnen. Ausgangspunkt war ein statisches Substanzkonzept. Dieses ist in der Analyse zerbrochen. Im Durchgang durch die Kategorien der Kausalität und Wechselwirkung gelingt aber eine Reformulierung der Substanz als komplexer, dynamischer Struktur. Sie bleibt nicht gespalten in aktive und passive Substanz(en). Von diesen gilt nämlich: Nach beyden Seiten […], des identischen sowohl als des negativen B e z i e h e n s d e r a n d e r n a u f s i e , wird jede das G e g e n t h e i l ihrer selbst; diß Gegentheil aber wird jede [so], daß die andere, also auch jede, i d e n t i s c h m i t s i c h s e l b s t bleibt. – Aber beydes, das identische und das negative Beziehen, ist ein und dasselbe; die Substanz ist nur in ihrem Gegentheil identisch mit sich selbst, und diß macht die absolute Identität der als zwey gesetzten Substanzen aus. (GW 12,13 | Z. 20 – 26)
Sichtweise vgl. hingegen Michelini, Francesca, Sostanza e assoluto. La funzione di Spinoza nella „Scienza della logica“ di Hegel, Bologna 2004, 150. Michelini kommt dann auch zu dem Schluss, dass es sich bei Hegels „Substanz“ nicht mehr um die „Eine Substanz“ handle (vgl. 169).
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Dieses Ergebnis sieht Hegel mit dem Ende der Wesenslogik als erreicht an. Die Wechselwirkung restituiert die Substanz als sinnvolles und unverzichtbares Grundkonzept zur Beschreibung der Wirklichkeit. Deswegen spricht er hier, zu Beginn der subjektiven Logik, auch von der errungenen „Vo l l e n d u n g d e r S u b s t a n z “ (GW 12,14 | Z. 3 f.). Unter dieser vollendeten Substanz sei nun allerdings etwas „höheres“ (GW 12,14 | Z. 5) zu verstehen, als man sich normalerweise unter dem Substanzbegriff vorstellt. Deshalb sollte man ab sofort besser einen anderen Namen dafür verwenden, um die Assoziationen der Statik und der unterschiedslosen Identität ein für alle Mal vom Tisch zu haben. Substanz in ihrer dynamischen Komplexität verstanden ist für Hegel nichts anderes als „der B e g r i f f , das S u b j e c t “ (GW 12,14 | Z. 5). (3) Nachdem Hegel den Substanzbegriff derart aufgewertet hat, sieht er sich veranlasst, noch einmal direkt Stellung zu Spinoza zu beziehen. Bereits in der Wesenslogik, am Ende des Kapitels über „Das Absolute“, war er explizit auf ihn eingegangen (vgl. GW 11,376 – 378). Dort geschah es vor allem in kritischer Absicht, um sich von einem statischen Substanzbegriff abzugrenzen. Auch die Abwehr eines Verschwindens des Endlichen im Unendlichen fand sich dort – eine Kritik an Spinoza, die Hegel auch in anderen Zusammenhängen wiederholt hat, bis hin zur Geschmacklosigkeit.²⁴ In der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“, erfolgt der Spinoza-Einschub indes im Anschluss an die Restitution des Substanzbegriffs durch die Bewegung der Wechselwirkung. Schon diese Wanderung Spinozas vom Anfang zum Ende der wesenslogischen Herleitung des Begriffs mag stutzig machen. Deshalb wird es nötig sein, ein besonderes Augenmerk darauf zu verwenden, was genau Hegel mit Spinoza im Endeffekt vorhat und wovon bzw. von wem er Abstand nehmen will.²⁵ Unter Spinozismus bzw. unter dem „S y s t e m d e s S p i n o z a“ (GW 12,14 | Z. 11) versteht man für gewöhnlich jene „Philosophie, welche sich auf den Standpunkt der S u b s t a n z stellt und darauf stehen bleibt“ (GW 12,14 | Z. 10 f.). So hat es auch Hegel im Kapitel über „Das Absolute“ in der Wesenslogik getan. Er hat sich dort sozusagen an den allgemeinen Sprachgebrauch angepasst, ein Vorurteil
Vgl. die Bemerkungen zum Tod Spinozas in den Vorlesungen: GW 30,164 und GW 30,419 f. Ich werde dafür argumentieren, dass Hegel Spinoza im Wesentlichen positiv aufgreift. Damit stellt meine Interpretation eine Alternative zu zwei anderen wichtigen Studien zu dieser Frage dar, nämlich zu Michelini, Sostanza e assoluto, und zu Sandkaulen, Birgit, Die Ontologie der Substanz, der Begriff der Subjektivität und die Faktizität des Einzelnen. Hegels reflexionslogische ‚Widerlegung‘ der Spinozanischen Metaphysik, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5 (2007), 235 – 275. Vgl. auch Sandkaulen, Birgit, Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019, 317– 335.
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aufgegriffen. Ein statisches Verständnis der Substanz stellt in der Tat einen „M a n g e l“ (GW 12,14 | Z. 12) dar. Für Hegel ist dieser Standpunkt jedoch der Ausgangpunkt einer Bewegung geworden, wie sie soeben rekapituliert worden ist. Auf diese Weise wird deutlich, dass Spinoza nicht einfach falsch liegt, sondern dass er vielmehr die entscheidende letzte Etappe auf dem Weg zum Begriff in Gang bringt. Das möchte Hegel unmissverständlich festhalten: „Aus dem Zusammenhange, in welchem hier das Spinozistische System vorkommt, geht von selbst der wahre Standpunkt desselben und der Frage, ob es wahr oder falsch sey, hervor“ (GW 12,14 | Z. 18 – 20). Hegel möchte Spinoza von dem verbreiteten Vorurteil, das er zunächst selbst perpetuiert hat, befreien. Im Zusammenhang seiner Logik soll, wie er sagt, sowohl der Sinn des Spinozismus als auch der Sinn der Frage nach dessen Wahrheit und Falschheit erhellen. Fangen wir mit dem zweiten Punkt an. Denn mit ihm kommt eine dritte Person ins Spiel, die das Problemfeld vorgibt, und das ist Friedrich Heinrich Jacobi. Jacobi ist allseits gerühmt worden, dass er es wie niemand anderes verstanden habe, den Geist des Spinozismus zu fesseln.²⁶ Spinoza habe ein in sich völlig konsequentes System vertreten, das nicht zu widerlegen sei. Es laufe allerdings auf einen rationalistischen Fatalismus hinaus. Dem widerspreche jedoch die Freiheit, die wir in uns spüren und die wir in unserem Handeln in Anspruch nehmen. Wenn wir uns als Personen ernst nähmen, dann müssten wir dem Spinozismus trotz all seiner philosophischen Stringenz abschwören und statt seiner das Feld der Nicht-Philosophie, des nicht auf Denken zu reduzierenden Lebens betreten. Beides zusammen gehe nicht, wir müssten uns entscheiden: entweder/ oder.²⁷ In diesem Sinne hat Jacobi die Frage nach Wahrheit und Falschheit des Spinozismus vermessen. Ihn hat Hegel vor Augen, wenn er sagt:
Diese Formulierung findet sich in Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus: vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff.; Reihe 1, Bd. 3: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795) etc., hg. von Hartmut Buchner, Wilhelm G. Jacobs und Annemarie Pieper, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, 82. Für prägnante Stellen, die sich insbesondere in der 1. und 2. Auflage der Spinoza-Briefe finden, vgl. Jacobi, Friedrich Heinrich, Werke. Gesamtausgabe, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 ff.; Bd. 1.1: Schriften zum Spinozastreit, hg. von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Pinske, Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 16 – 30, 120 – 125, 259 – 263. – GW 12 verweist in den Anmerkungen auch auf Schellings Philosophische Briefe sowie Fichtes Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, die jeweils mit einem unüberbrückbaren Gegensatz von Kritizismus bzw. Idealismus auf der einen, Dogmatismus bzw. Spinozismus auf der anderen Seite operieren: vgl. GW 12,339. Der genannte Text Fichtes, nicht aber die Bedeutung Jacobis, wird diskutiert bei di Giovanni, George, Hegel’s Anti-Spinozism. The
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Ferner muß die Widerlegung [von Spinozas System; T.H.] nicht von aussen kommen, d. h. nicht von Annahmen ausgehen, welche ausser jenem Systeme liegen, denen es nicht entspricht. Es braucht jene Annahmen nur nicht anzuerkennen; der M a n g e l ist nur für den ein Mangel, welcher von den auf sie gegründeten Bedürfnissen und Foderungen ausgeht. Insofern ist gesagt worden, daß wer die Freyheit und Selbstständigkeit des selbstbewußten Subjects nicht für sich als entschieden voraussetze, für den könne keine Widerlegung des Spinozismus Statt finden. (GW 12,14 | Z. 34 – GW 12,15 | Z. 3)
Wer im Spinozismus nur ein isoliertes statisches System erblickt, wird sich ihm aller Voraussicht nach in der Tat entgegensetzen wollen, so wie Jacobi es getan hat. Doch dann besteht die Gefahr, dass es keine gemeinsame Basis mehr für eine Diskussion gibt. Ich muss mich entscheiden bzw. habe mich schon entweder so oder so entschieden. Das bedeutete aber, dass das „entgegengesetzte selbst ein einseitiges“ (GW 12,14 | Z. 31 f.) wäre. Hier offenbart sich also „der wahre Standpunkt […] der Frage, ob es [sc. das spinozistische System; T.H.] wahr oder falsch sei“. Die vermeintlichen Freunde der Freiheit verkrampfen in ihrer Frontstellung gegen Spinoza. Sie akzeptieren, was sie ihm vorwerfen. Denn sie halten den Gegensatz zwischen dem „absolute[n] Selbstbestehen des denkenden Individuums“ und der „Form des Denkens, wie es in der absoluten Substanz mit der Ausdehnung identisch gesetzt wird, seinerseits steif und fest“ (GW 12,15 | Z. 10 – 12). Was ist nun Hegels Alternative zu Jacobis Szenario? Was ist der „wahre Standpunkt“ des spinozistischen Systems? Laut Hegel erkenne ich ihn, wenn ich nicht beim Spinozismus stehenbleibe, oder besser gesagt: Wenn ich das Vorurteil aufgebe, er sei statisch und unverbesserlich. Hegel schlägt vor, sich dem Spinozismus nicht einfach entgegenzusetzen, sondern ihn als notwendige Basis für die weitere Diskussion zu akzeptieren. Er ist „ein n o t h w e n d i g e r S t a n d p u n k t , auf welchen das Absolute sich stellt“ (GW 12,14 | Z. 22 f.), und „insofern ist das System vollkommen wahr“ (GW 12,14 | Z. 26 f.). Gegen Jacobis Vorschlag, Widerlegen durch Widersprechen zu ersetzen,²⁸ sieht Hegel die „einzige Widerlegung des Spinozismus […] darin […], daß sein Standpunkt zuerst als wesentlich und nothwendig anerkannt werde, daß aber zweytens dieser Standpunkt a u s s i c h s e l b s t auf den höhern gehoben werde“ (GW 12,15 | Z. 15 – 18). Als wesentlich und notwendig anerkennen, das heißt: Ich brauche die monistische Perspektive, die Spinoza gebahnt hat, wenn ich nicht aus dem logischen Prozess aussteigen möchte. Ich brauche die Eine Substanz als grundlegende Kategorie der Einen Wirklichkeit, wenn ich nicht nur zusammenhanglose Einzelteile vor mir haben
Transition to Subjective Logic and the End of Classical Metaphysics, in: Carlson, David G. (Hg.), Hegel’s Theory of the Subject, Basingstoke, New York 2005, 30 – 43. Vgl. Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, 21, 290.
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will. Widerlegt werden muss, dass das eine statische Konzeption ist. Aus sich selbst heraus muss das geschehen, das heißt: durch nichts anderes als die selbstkritische Analyse des Substanzbegriffs. Genau das ist es, was Hegel am Ende der Wesenslogik vollzogen und was er soeben in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ wiederholt hat. Er hat den Spalt in der absoluten Identität entdeckt, der zum absoluten Verhältnis der Wechselwirkung führt. Das ist in Hegels Augen die Widerlegung eines falsch verstandenen Spinoza gewesen, und es soll, wie er nun zugibt, Ehre für den wahren Spinoza sein.²⁹ Hegel fasst sein Vorgehen zusammen: Die im letzten Buch enthaltene Exposition der Substanz, welche zum B e g r i f f e überführt, ist daher die einzige und wahrhafte Widerlegung des Spinozismus. Sie ist die E n t h ü l l u n g der Substanz, und diese ist die G e n e s i s d e s B e g r i f f s , deren Hauptmomente oben zusammengestellt worden. (GW 12,15 | Z. 20 – 23)
Der Weg von der vermeintlich statischen zur in sich bewegten Substanz lässt sich auch beschreiben als Umgestaltung von Notwendigkeit in Freiheit. Das erklärt sich wiederum vor der Kontrastfolie Jacobis. Genau die starre, fatalistische Notwendigkeit Spinozas und Jacobis eigenes Postulat einer lebendigen Freiheit, der wir uns als Personen gewiss sind, waren es ja, die als unvereinbar schroff entgegengesetzt wurden. Wenn Hegel konsequent sein möchte, dann muss er auch diesen Gegensatz verwinden und den Begriff der Freiheit auf dem der Notwendigkeit als seiner wesentlichen Basis aufsatteln. Das tut er mit wenigen Sätzen und einigen plakativen Formulierungen – was die Gefahr mit sich bringt, sie eben als plakative abzuhaken. Es steckt in ihnen jedoch einige Brisanz. Denn hier wird kein Freiheitsbegriff vorausgesetzt, über den alle angeblich schon einig wären. Der Freiheitsbegriff wird vielmehr an dieser Stelle erst generiert. Und er hat nichts In dieser Bewertung besteht ein Dissens mit Sandkaulens Deutung. Sie kritisiert Hegels Verwendung von zwei verschiedenen „Versionen“ des Substanzbegriffs scharf und erblickt darin eine Inkonsistenz (und nicht eine Entwicklung), die den gesamten Übergang von der objektiven zur subjektiven Logik infiziere. Hegel mache sich eines bloß strategischen Einsatzes Spinozas schuldig. Mein Eindruck ist allerdings, dass Sandkaulen nicht minder strategisch verfährt, indem ihre Kritik an Hegel nur vordergründig Spinoza, in Wirklichkeit aber Jacobi verteidigen soll. – Dass es sich um zwei Versionen des Substanzbegriffs handelt, ist natürlich unbestritten: vgl. dazu auch Iber, Hegels Konzeption des Begriffs, 182. Iber benennt die Schwierigkeiten in Hegels Vorgehen, deutet es jedoch insgesamt als „immanente und konstruktive Kritik an Spinoza“ (183). Hegels ursprüngliche Einsicht – wenn auch nicht sein Erfolg im Zusammenhang des Systems – wird ebenfalls positiv bewertet bei Arndt, Andreas, „Enthüllung der Substanz“. Hegels Begriff und Spinozas dritte Erkenntnisart, in: Waibel, Violetta L. (Hg.), Affektenlehre und amor Dei intellectualis. Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühromantik und in der Gegenwart, Hamburg 2012, 231– 242.
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mit dem zu tun, was Jacobi Freiheit nannte und was wir auch heute noch umgangssprachlich darunter verstehen, nämlich nach Belieben das eine zu wählen und das andere zu lassen. Die Notwendigkeit der als statisch verstandenen Substanz nennt Hegel eine „i n n r e“ (GW 12,15 | Z. 25). Das war ja die Minimalbestimmung von Substanz, dass sie alles in sich enthält, also kein Außen zulässt. Mit Hilfe der weiteren wesenslogischen Operationen ist deutlich geworden, dass die Eine Substanz nicht ohne Ausdifferenzierung, nicht ohne Einbezug des Anderen zu denken ist. Die „E i n h e i t der Substanz“ (GW 12,15 | Z. 24) darf nicht einfach so vorausgesetzt, sondern sie muss unter Einbezug des Anderen, in der Wechselwirkung, errungen werden; „indem sie durch das Moment der absoluten Negativität s i c h s e t z t , wird sie m a n i f e s t i r t e oder g e s e t z t e I d e n t i t ä t , und damit die F r e y h e i t , welche die Identität des Begriffs ist“ (GW 12,15 | Z. 25 – 27). Das Wort „Freiheit“ meint hier also nicht Wahlfreiheit. Es wird eher im Sinne einer Nicht-Verschlossenheit, einer Offenheit für Anderes verwendet. „Freiheit“ bezeichnet an dieser Stelle die Struktur erfolgter und erfolgreicher Wechselwirkung.³⁰ „Freiheit“ ist das Synonym für die komplexe Identität des Einen mit Anderem als mit sich selbst. Beide Pole sind gleichberechtigt und benötigen einander gleichermaßen. Insofern ist Notwendigkeit in diesem Begriff der Freiheit nach wie vor basal. Freiheit ist nicht durch einen äußerlichen Gegensatz zur Notwendigkeit bestimmt worden. Im Blick zurück heißt das allerdings auch etwas für den Begriff der Notwendigkeit. Wo nicht gesehen wird, dass „Notwendigkeit“ Basis dessen ist, was „Freiheit“ heißen wird, beispielsweise in einem statischen Verständnis von Substanz bzw. Spinozismus, da haftet ihr etwas „blindes“ (GW 12,15 | Z. 30) an, da fehlt ihr etwas, da ist sie noch nicht „zur sich selbst durchsichtigen K l a r h e i t geworden“ (GW 12,16 | Z. 4). Das ist also Hegels logischer Begriff der Freiheit, oder auch der „B e g r i f f d e s B e g r i f f e s“ (GW 12,16 | Z. 23), wie er kurz darauf sagen wird. Die plakativen Formeln von der „z u m B e g r i f f e b e f r e y t e [ n ] S u b s t a n z“ (GW 12,16 | Z. 6) oder davon, dass sich im „B e g r i f f e […] das Reich der F r e y h e i t eröffnet“ (GW 12,15 | Z. 35) habe, wollen das unterstreichen. Isoliert betrachtet, ohne die Herleitung, wären sie vollkommen irreführend. Die Freiheit des Begriffs und somit die subjektive Logik wie einen Deus ex machina der objektiven Logik überzustülpen, wäre das Gegenteil von dem, was Hegel will.³¹ Dasselbe gilt für Hegels Verwendung des spinozistischen Begriffs der causa sui (vgl. GW 12,16 | Z. 5). Einige Interpretationen folgen erstaunlicherweise eher Jacobi, wenn sie Notwendigkeit und Freiheit, objektive und subjektive Logik einander entgegensetzen. So liest z. B. Theunissen den Gegensatz zwischen einem Herrschaftsdenken einerseits und einem Freiheits- oder Liebesdenken
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(4) Auch wenn Brandom mit der Nähe zum metaphysischen Monismus Spinozas kokettiert (vgl. oben 3.2.3), hat er nicht die direkte Diskussion von Hegels Anverwandlung des Substanzbegriffs gesucht.³² Darin kann man einen Unterlassungsfehler sehen. Denn aus der Perspektive, die Hegels Logik darbietet, handelt es sich beim Durchdenken der „Bewegung der Substantialität“ um die argumentative Herleitung der Definition des fortan verwendeten terminus technicus des Subjekts. Hegel wird nicht müde zu betonen, was er hier im Übergang von der objektiven zur subjektiven Logik geleistet hat. Die „E n t h ü l l u n g der Substanz“ ist für ihn die „G e n e s i s d e s B e g r i f f s“! Diese Herleitung ist völlig unabhängig von einer Subjektphilosophie im engeren Sinne geführt worden, wenn man darunter die kritische Analyse von Selbstbewusstsein verstehen möchte, wie sie von Dieter Henrich und Manfred Frank exemplarisch betrieben worden ist.³³ Sie ist aber ebenfalls völlig unabhängig von der Untersuchung der Entwicklung von Selbstbewusstsein im sozialen Raum wechselseitiger Anerkennung, wie sie für Brandom oder auch Honneth entscheidend ist. Hegels Begriff des Subjekts bzw. des Begriffs wird in der Logik als eine metaphysische Kategorie eingeführt. Mit ihm soll die dynamische Struktur der Wirklichkeit beschrieben werden. Sie ist charakterisiert als eine und allumfassende sowie als Identität von Fremdbezug und Selbstbezug, wobei dieses Bezugnehmen explizit als Tätigkeit und Wirksamkeit beschrieben wird. Allerdings fällt auf, dass es zumindest eine Analogie zwischen der Herleitung dieser metaphysischen Struktur und dem aus der Phänomenologie bekannten Prozess des Anerkennens zwischen Herr und Knecht gibt.³⁴ Die aktive Substanz andererseits in die Logik hinein – wie er zugibt, durchaus aus konfessionellen Gründen (vgl. Theunissen, Michael, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1980, 49 f., 61 f., 65). – Einen fundierten Gegenentwurf, für den Hegels nicht-wahlbasierter Freiheitsbegriffs zentral ist, bietet nun Knappik, Reich der Freiheit. Auch diesbezüglich stimmt Brandom mit Pippin überein, der über das Ende der Wesenslogik sowie über „Vom Begriff im allgemeinen“ schreiben kann, ohne das Substantialitätsverhältnis oder Hegels Beziehung zu Spinoza auch nur zu erwähnen: vgl. Pippin, Hegel’s Idealism, 230 – 235; Ders., Realm of Shadows, 245 – 259. Vgl. beispielsweise Henrich, Denken und Selbstsein; Frank, Manfred, Subjektivität und Selbstbewusstsein, in: Hanke / Viertbauer, Subjektivität denken, 87– 117. Vgl. in diesem Sinne auch Braitling, Petra, Hegels Subjektivitätsbegriff. Eine Analyse unter Berücksichtigung intersubjektiver Aspekte, Würzburg 1991, 205 f. Braitling geht aber sofort darüber hinweg zugunsten der von ihr favorisierten Anerkennung zwischen Subjekten, die sie als eigene logische Figur einführen möchte. Sie spricht jeweils von der „Symmetrisierung“ eines zuvor asymmetrischen Verhältnisses, zunächst zwischen zwei Relata (aktiver und passiver Substanz), dann zwischen zwei Relationen (zwei selbstbezüglichen Subjekten). Meine These ist hingegen, dass wir es in der Logik lediglich mit dem ersten Fall zu tun haben, während das Anerkennungsgeschehen zwischen Subjekten in der Realphilosophie zum Tragen kommt.
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tritt in der Logik als absolute Macht auf, welche die passive Substanz zunächst unterwirft, ganz auf sie einwirkt, bevor diese sich durch das Ertragen jenes Einwirkens als ebenso machtvoll und aktiv erweist.³⁵ Wenn man hier bildhaft von einem Kampf des Anerkennens sprechen wollte, dann wäre sein Ergebnis die Figur der gleichberechtigten Wechselwirkung, des Begriffs, des Subjekts. Selbstverständlich hat Hegel das Anerkennungstheorem früher und in einem anderen Kontext entwickelt, der in der Tat intersubjektiv und sozial anmutet.³⁶ Aber man kann sagen, dass er nun seine logische Fundierung nachliefert. Die Gesetzmäßigkeit der rein logischen Entwicklung ist nicht der soziale Prozess der Anerkennung, sondern liegt diesem voraus und gibt ihm die Struktur vor. Mit anderen Worten: Die Normativität der Anerkennungspraxis gründet systematisch in der Normativität des logischen Prozesses. Die Differenz zwischen beiden besteht darin, dass es sich beim Letzteren um eine Bewegung zwischen zwei Polen handelt, während es beim phänomenologischen Kampf zwischen Herr und Knecht nicht nur um ein Geschehen zwischen diesen beiden Gestalten geht, sondern wesentlich etwas Drittes hinzukommt, die Dinge nämlich, die der Knecht bearbeitet, wodurch er seine Bildung erfährt (vgl. GW 9,113 – 115). In der Logik handelt es sich um die innere Entfaltung des Substanzbegriffs; in der frühen Phänomenologie wie in der späteren Realphilosophie bewirkt das Anerkennungsgeschehen die konkrete Öffnung zur Welt, die uns menschliche Lebewesen umgibt.³⁷ Das Motiv der Öffnung zur Welt spielt in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ allerdings auf andere Weise eine Rolle. Für den Fortgang der Logik wird es entscheidend sein, dass jegliche subjektivistische Assoziation vom Begriff des Subjekts ferngehalten wird. Es wird darum gehen, mit Hilfe des Begriffs des Subjekts bzw. des Begriffs den Begriff der Objektivität zu generieren. In der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ wird das präludiert und angepeilt. Der erste Schritt in diese Richtung ist bereits durch die Analyse des Substanzbegriffs getan,
Interessanterweise taucht das Stichwort „absolute Macht“, das in der Wissenschaft der Logik natürlich vor allem eine Spinoza-Reminiszenz darstellt, bereits in „Herrschaft und Knechtschaft“ auf: vgl. GW 9,114. Die Mehrheit der Interpretationen des Selbstbewusstsein-Kapitels der Phänomenologie dürfte auf ein intersubjektives Verständnis hinauslaufen. Für einen Überblick über diverse Lesarten in der Tradition der Hegel-Auslegung vgl. Gloy, Karen, Bemerkungen zum Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985), 187– 213. Für eine andere, nämlich intrasubjektive Lesart, vgl. Stekeler, Pirmin, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 1: Gewissheit und Vernunft, Hamburg 2014, 633 – 719. Der realphilosophische Kampf um Anerkennung erweist sich also als weitaus „verschlungener“: vgl. dazu Khurana, Leben der Freiheit, 451– 464.
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die ergeben hat, dass die im beschriebenen Sinne dynamisierte Substanz den Fremdbezug als ihr inneres Eigenes anerkannt hat bzw. dass ihr, die von nun an besser Begriff und Subjekt genannt wird, Freiheit im Sinne einer Nicht-Verschlossenheit, einer Offenheit für Anderes und einer Integration von Anderem, eigne. Brandom hat, als er die idealistische These anhand zweier Zitate aus der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ erläuterte, behauptet, dass Hegel zufolge Subjekte bzw. „Selbste durch wechselseitige Anerkennung synthetisiert“³⁸ würden. Dazu musste er die Anerkennungstheorie der Phänomenologie voraussetzen. Meine bisherigen Ausführungen, die allein auf der Passage zwischen objektiver und subjektiver Logik selbst basieren, verdeutlichen nun, in welchem Sinne eine solche Behauptung stimmt und in welchem nicht. Die „E n t h ü l l u n g der Substanz“ ist für Hegel die „G e n e s i s d e s B e g r i f f s“. Wenn diese poetisch-plakative Gleichsetzung wie dargelegt verstanden wird, dann heißt das in der Tat, dass Hegels „Subjekt“ durch eine Art von wechselseitiger Anerkennung synthetisiert wird. Diese Protoform der Anerkennung ist jedoch gerade keine Zuschreibung in einem intersubjektiven und sozialen Kontext. Sie findet nicht zwischen verschiedenen Subjekten statt, denn Subjekte gibt es an dieser Stelle noch nicht. Der Begriff des Subjekts ist erst ihr logisches Resultat. (5) Im Zusammenhang des Weges von der Substanz zum Begriff bietet Hegel „sogleich folgende nähere Bestimmung“ (GW 12,16 | Z. 7) an. Wenn der Begriff die Struktur besitzt und manifest macht, die in der Wechselwirkung erreicht worden ist, dann ist er zugleich, so haben wir gesehen, absolutes Bestimmen und absolutes Bestimmtsein. Beide Seiten gehören notwendig zusammen. Hegel nennt sie das Allgemeine und das Einzelne. Der Begriff ist das Allgemeine, weil er sich nur auf sich selbst bezieht, weil er von nichts anderem abhängt, weil er die Negation von jedem ihm Äußerlichen ist. Und der Begriff ist zugleich das Einzelne, weil er mit diesem negativen Ausschließen alles Äußerlichen das andere als ihm zugehörig affirmiert hat, nicht unbestimmt, sondern bestimmt ist. Allgemeines und Einzelnes beschreiben nicht zwei voneinander getrennte Ebenen. Es liegt nicht auf einer unteren Ebene eine wirre Mannigfaltigkeit von Einzelteilen vor, auf die eine in ihrer Begründung unabhängige Schablone des Allgemeinen gepresst wird. Was umgangssprachlich – ebenso wie in der traditionellen Logik³⁹ – „als vollkommener Gegensatz erscheint“ (GW 12,16 | Z. 19 f.), erweist sich im Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik als eine „Zweyheit“ (GW 12,16 | Z. 18 f.), die zugleich
Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 282. Vgl. Schick, Die Lehre vom Begriff, 468 f.
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Identität ist. Ohne Allgemeines kein Einzelnes, ohne Einzelnes kein Allgemeines: „[I]ndem das eine begriffen und ausgesprochen wird, [ist] darin das andere unmittelbar begriffen und ausgesprochen“ (GW 12,16 | Z. 20 – 22). Hegel beschränkt sich auf wenige Zeilen zu diesem nicht unwichtigen Thema. Interessant ist, dass er hier auf die Kategorie des Besonderen verzichtet. Er hatte sie zusammen mit Allgemeinem und Einzelnem auf der letzten Seite der Wesenslogik eingeführt (vgl. GW 11,409), und alle drei werden im Subjektivitätsabschnitt der Begriffslogik ausführlich zum Einsatz kommen. In der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ nennt er nur die beiden Aspekte, die er für seinen nächsten Schritt braucht.
5.2.3 Hegels Affirmation und Zuspitzung von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (1) Nach den bisherigen Ausführungen ist Hegel einerseits recht zufrieden. Das „so eben vorgetragene“ sei „als der B e g r i f f d e s B e g r i f f e s zu betrachten“ (GW 12,16 | Z. 23). Die aus der Wesenslogik importierte Analyse des Substanzbegriffs war erfolgreich. Aus ihr hat sich der terminus technicus des Begriffs wie des Subjekts ergeben. Er ist zunächst völlig unabhängig vom Phänomen menschlicher Subjektivität und ihrer gesellschaftlichen Einfassung gewonnen worden. Im Rahmen einer Logik, die sich nicht von außer-logischen Voraussetzungen abhängig machen will, muss das so geschehen: „[I]n der Wissenschaft des Begriffes kann dessen Innhalt und Bestimmung allein durch die i m m a n e n t e D e d u c t i o n bewährt werden, welche seine Genesis enthält, und welche bereits hinter uns liegt“ (GW 12,16 | Z. 28 – 31). Mit diesem Punkt also ist Hegel zufrieden. Andererseits sieht er ein, dass er mit dem so hergeleiteten Begriff des Begriffs wie des Subjekts eine krasse Minderheitenposition einnimmt. Nicht nur das, „was man sonst unter Begriff verstehe“ (GW 12,16 | Z. 24 f.), also die umgangssprachliche oder traditionell-logische Bedeutung von Begriffen als feststehende allgemeine Bezeichnungen, die vom Einzelnen unabhängig wären, ist weit weg von der komplexen metaphysischen Struktur der „z u m B e g r i f f e b e f r e y t e [ n ] S u b s t a n z“. Zu allem Überfluss ist neben dem Ungenügen dieser traditionellen Sichtweise auch noch die neumodische Philosophie seiner Zeit dafür verantwortlich zu machen, dass man nach dem Begriff des Begriffs gar nicht mehr fragt. Es sei üblich geworden, „auf den B e g r i f f alle üble Nachrede zu häuffen, ihn, der das höchste des Denkens ist, verächtlich zu machen und dagegen für den höchsten sowohl scientifischen als moralischen Gipfel das U n b e g r e i f l i c h e und das N i c h t - B e g r e i f f e n anzusehen“ (GW 12,17 | Z. 1– 4). Die Situation ist also alles andere als zufriedenstellend. Deshalb sieht sich Hegel gezwungen,
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seine Position weiter zu erläutern – und das ist gut so, denn erst das, was jetzt folgt, macht plausibel, warum der Begriff der Substanz für den weiteren Verlauf der Logik sinnvollerweise durch denjenigen des Subjekts ersetzt werden soll. (2) Hegel betritt das Feld der weiteren Auseinandersetzung um Begriff und Subjekt mit ungewohntem Understatement: „Ich beschränke mich hier auf eine Bemerkung, die für das Auffassen der hier entwickelten Begriffe dienen kann, und es erleichtern mag, sich darein zu finden“ (GW 12,17 | Z. 5 f.). Mit dieser Überleitung ist zunächst ein klares Gefälle angezeigt. Eine Hilfe zum „Auffassen“ ist ja eigentlich etwas, das man nicht unbedingt benötigt, sondern eine illustrierende Zugabe. Im Vorübergehen wird so nochmals erwähnt, dass die wesenslogische Deduktion der Begriffsstruktur das Entscheidende war. Allerdings, so hat der kurze zeitdiagnostische Abschnitt zuvor gezeigt, muss Hegel wohl zugeben, dass man die folgende Hilfe zum „Auffassen“ angesichts der philosophischen Prägung seiner Gegenwart und der Dringlichkeit des Themas doch mehr oder weniger braucht. Für die Interpretation ergibt sich daraus eine doppelte Herausforderung. Erstens ist die unverzichtbare Herkunft der subjektiven aus der objektiven Logik nicht aus den Augen zu verlieren. Was bei Hegel folgt, bleibt überschrieben, eine illustrative „Bemerkung“ zu sein. Auf diese Weise wird von vornherein unterbunden, durch die ausgiebige Rede vom Subjekt in eine allzu subjektivistische Lesart zu verfallen. Zweitens jedoch würde man dieser „Bemerkung“ Unrecht tun, wenn man sie aufgrund ihrer Überschrift nicht ernstnähme. Ausgehend von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe wird in ihr nämlich eine eigenständige, diffizile Argumentation entwickelt. Dass Hegel zuvor überhaupt das Wort „Deduktion“ verwendet hat, dürfte kein Zufall sein. Er weist damit auf die kommende Verbindung von Substanz und Subjekt voraus, auf den Zusammenhang, den er zwischen Spinoza und Kant stiften möchte.⁴⁰ In der Weise, wie er es tut, ist jedoch bereits eine Differenz zu Kant erkennbar. Für diesen waren das Auffinden der Kategorien im Leitfadenkapitel der Kritik der reinen Vernunft und der nachträgliche Ausweis der Berechtigung der Kategorienanwendung in der transzendentalen Deduktion zwei verschiedene Schritte. Hegel ist hingegen der Überzeugung, dass das Auffinden der Kategorien und ihre Rechtfertigung ein und dasselbe sind. Zumindest sagt der Text, der hier kommentiert wird, genau das: Was bisher im Ausgang von Spinoza gezeigt worden ist, ist dasselbe, was nun im Ausgang von Kant gezeigt werden soll. Der Text sagt auch etwas über den Begriff der Deduktion selbst. Darunter
Ich habe nicht den Eindruck, dass er beide gegeneinander ausspielen will (gegen Sandkaulen, Ontologie der Substanz, 237).
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verstehen wir heutzutage eine exakte, unwiderlegliche Herleitung. Wenn Hegel mit Blick auf die Schritte am Ende der Wesenslogik von Deduktion spricht, so ist diese Redeweise der heutigen ziemlich ähnlich. Er ist der Auffassung, den Begriff des Begriffs exakt und unwiderleglich aus dem Substantialitätsverhältnis hergeleitet zu haben. Mit Blick auf die folgende Auseinandersetzung mit Kant sieht es derweil so aus, dass Hegel dessen Sprachgebrauch, Deduktion als eine nachträgliche Rechtfertigung zu verstehen, nahekommt. Denn das möchte er jetzt leisten: für die, die es noch nicht verstanden haben, eine nachträgliche Rechtfertigung des bisherigen Vorgehens zu liefern. Bei genauerem Zusehen lässt sich allerdings der kantische – und damit der klassische – Deduktionsbegriff auf das gesamte Projekt „Vom Begriff im allgemeinen“ ausdehnen. Bis einschließlich Kant bedeutete „Deduktion“ das Belegen eines Rechtsanspruchs mittels der Darstellung seiner Genese.⁴¹ Und die „G e n e s i s d e s B e g r i f f s“ darstellen, das war es ja, was Hegel mit der Rekapitulation des Endes der Wesenslogik zu Beginn der Begriffslogik beabsichtigt hatte. Bereits die ersten Sätze seiner „Bemerkung“ machen deutlich, wie Hegel Motive aus Kants Kritik der reinen Vernunft und solche aus seiner eigenen Wissenschaft der Logik ineinanderflicht. Er setzt die Kenntnis beider voraus, wenn er schreibt: Der Begriff, insofern er zu einer solchen E x i s t e n z gediehen ist, welche selbst frey ist, ist nichts anderes als I c h oder das reine Selbstbewußtseyn. Ich h a b e wohl Begriffe, das heißt, bestimmte Begriffe; aber Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum D a s e y n gekommen ist. (GW 12,17 | Z. 7– 10)
In diesem Satz steckt mindestens dreierlei. Hegel unterscheidet nochmals seine eigene Verwendung des Wortes „Begriff“ von der umgangssprachlichen Redeweise. Mit der Formulierung „das reine Selbstbewußtseyn“ ruft er die kantische Position auf. Und schließlich verweist Hegel weit zurück auf die Logik des Daseins, genauer auf die Kategorie des „Etwas“. Bei dieser ist nämlich zum ersten Mal eine solche Struktur angedeutet worden, wie sie nun beim Ich bzw. beim Begriff vollends offenbar wird. Bereits in der ersten Auflage der Seinslogik ist ein solcher Vorgriff erkennbar (vgl. GW 11,65 f.). In der Neuauflage von 1831, den Zielpunkt nun besser vor Augen, wird Hegel noch deutlicher: Das Etwas ist die e r s t e N e g a t i o n d e r N e g a t i o n , als einfache seyende Beziehung auf sich. Daseyn, Leben, Denken u.s.f. bestimmt sich wesentlich zum D a s e y e n d e n , L e b e n d i g e n , D e n k e n d e n (Ich) u.s.f. […] – Das Negative des Negativen ist als E t w a s nur
Der begriffsgeschichtliche Hintergrund ist von Dieter Henrich erhellt worden: vgl. oben 2.2.4.
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der Anfang des Subjects, – das Insichseyn nur erst ganz unbestimmt. Es bestimmt sich fernerhin zunächst als Fürsichseyendes und sofort [sc. und so fort; T.H.] bis es erst im Begriff die concrete Intensität des Subjects erhält. Allen diesen Bestimmungen liegt die negative Einheit mit sich zu Grunde. (GW 21,103 | Z. 12– 26)
Ausgehend von der Logik des Daseins führt ein Weg zum „Begriff im allgemeinen“ – über die Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit, über das Fürsichsein, über die Reflexionsbestimmungen des Wesens und schließlich, wie gesehen, das Substantialitätsverhältnis.⁴² Man könnte die jeweiligen Konzeptionen auch „Stufen zum Begriff“ nennen. Zu Beginn der subjektiven Logik trifft dieser lange Weg schließlich auf Kant mit seiner Lehre vom Selbstbewusstsein, der sozusagen von der anderen Seite aus aufgebrochen war. Kant bestimmt das Ich als Tätigkeit des Denkens, als ursprünglich-synthetische, d. h. synthetisierende Einheit des Selbstbewusstseins. Es ist der erklärtermaßen „höchste Punkt“ (KrV B 134) der Transzendentalphilosophie, die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass es zusammenhängende Erkenntnis und damit Wissenschaft geben kann. Der Grund dafür: [D]ie mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesammt m e i n e Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesammt zu einem Selbstbewußtsein gehörten, d.i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung nothwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen k ö n n e n , weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden. (KrV B 132 f.)
Nur weil in einem und persistenten Ich die vielen Eindrücke zusammenkommen bzw. von ihm nach Regeln zusammengesetzt werden, gibt es Wissen. Das Ich bzw. das Selbstbewusstsein ist nach Kant also wesentlich Anderes-nach-Regeln-inBeziehung-Setzen. Es ist jedoch streng unterschieden von der isolierten Selbstbeziehung der Introspektion, die er mit dem Namen „innerer Sinn“ umschreibt und die am besten mit „Selbsterkenntnis“ wiederzugeben wäre (vgl. KrV B 152– 159 und B 406 – 413). Diese ist nämlich auf empirische Eindrücke angewiesen und setzt ihrerseits das transzendentale Selbstbewusstsein voraus.⁴³ Zum Zusammenhang von Seins-, Wesens- und Begriffslogik vgl. Horstmann, Rolf-Peter, Hegel über Unendlichkeit, Substanz, Subjekt. Eine Fallstudie zur Rolle der Logik in Hegels System, in: Menegoni / Illeterati, Das Endliche und das Unendliche, 83 – 102. Der Begriff selbstbezüglicher Subjektivität wird „von denen der Unendlichkeit und der Substantialität getragen“ (92); „Selbstbeziehung ist für Hegel nicht primär an den Vollzug von Leistungen der [bewussten; T.H.] Selbstdifferenzierung und der Selbstidentifikation gebunden, sondern ist bereits ein notwendiges Ingredienz des Gedankens von Gegenständlichkeit überhaupt“ (95). Vgl. dazu oben 2.2.4.
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Ähnlich wie Kant in der transzendentalen Deduktion sieht sich Hegel in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ an einem Dreh- und Angelpunkt seiner Logik angekommen. Doch während Kant das „Ich denke“ zwar treffend, aber ad hoc einführt, ist diese Aktion bei Hegel von langer Hand vorbereitet. Allerdings ist sie in einer Weise vorbereitet, die einerseits Kants Bestimmung des Selbstbewusstseins aufgreifen kann, andererseits die Trennung von Anderes-nach-Regelnin-Beziehung-Setzen und Selbstbeziehung von Anfang an unterläuft. Seine Argumentation dafür, dass das Ich (oder das Subjekt, von dem er zuvor sprach) der zum Dasein gekommene reine Begriff sei, geht in zwei Schritten vor. Im ersten Schritt wird die spezifische ontologische Verfasstheit des Subjekts untersucht, die ihrerseits in zwei Aspekten besteht. Im zweiten Schritt wird seine epistemische Funktion, die sich bereits im ersten Schritt als entscheidend herausgestellt hat, weiterverfolgt und auf ihr Ziel hin fokussiert. Der erste Schritt besteht in der Darlegung der spezifischen ontologischen Verfasstheit des Subjekts. Hier sieht sich Hegel plötzlich im Verbund mit dem alltäglichen Sprachgebrauch. Die „Natur des Ich“ sei „etwas Bekanntes, d. i. der Vorstellung geläuffiges“ (GW 12,17 | Z. 11 f.). Vermutlich sollte man hinzufügen, dass es sich um eine durch Kant-Lektüre geschulte Vorstellung handelt. Die „Natur des Ich“ ist die Kombination von zwei Aspekten, die Hegel säuberlich nummeriert auflistet. Zunächst nennt er den folgenden Punkt: I c h aber ist diese e r s t l i c h reine sich auf sich beziehende Einheit, und diß nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahirt, und in die Freyheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es A l l g e m e i n h e i t ; Einheit, welche nur durch jenes n e g a t i v e Verhalten, welches als das Abstrahiren erscheint, Einheit mit sich ist, und dadurch alles Bestimmtseyn in sich aufgelöst enthält. (GW 12,17 | 12– 18)
Mit diesen Sätzen greift Hegel Kants Lehre vom Subjekt auf und affirmiert sie. Er versucht mit eigenen Worten zu sagen, wie er die synthetisierende Tätigkeit des „Ich denke“ versteht. Das Subjekt ist demnach in erster Linie die Instanz, die die Welt der Objekte bestimmt und zusammenhält. Hegel beschreibt diese Instanz als eine selbstbezügliche Einheit, die, wie er sagt, sich nicht unmittelbar auf sich bezieht, sondern, was man ergänzen muss, vermittelt über ihre Objekte, die sie in sich integriert. Nur mittels dieser Integration bezieht sie sich auf sich selbst. Diese Integration der Objekte macht den Selbstbezug des Subjekts aus.⁴⁴ Sie scheint auf Ähnlich die Interpretation von Walter Jaeschke, der bezüglich derselben Stelle formuliert: „Die Einheit des Subjekts ist nicht etwas an sich Vorhandenes, Vorausgesetztes. Sie ist aber auch nicht das Resultat einer bewußten Selbstbeziehung, die das Ich durch einen Akt der Freiheit erst herstellte, und sie wird deshalb auch nicht durch einen Akt konstituiert, der einer Introspektion
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den ersten Blick eine Abstraktion zu sein, die den Inhalt der Objekte vermeintlich verliert. In Wahrheit aber bedeutet dieses „n e g a t i v e Verhalten“ die eigentliche Zusammensetzung und Bestimmung der Objektwelt. In der Gewährleistung zusammenhängender Fremdbeziehung durch die alles bestimmende Beziehung auf sich selbst erblickt Hegel eine Wiederholung der Struktur der „Allgemeinheit“, wie er sie zuvor in der Analyse des Substanzbegriffs entwickelt hat. Was also die ontologische Verfasstheit des Subjekts zuerst ausmacht, ist seine epistemische Funktion. Mit ihr müssen wir anfangen, weil die Rede vom Subjekt sonst keinen Sinn ergibt. Subjekte liegen nicht vor, sondern Subjekte sind charakterisiert durch ihre Erkenntnistätigkeit. Das bedeutet offensichtlich zugleich eine Kritik der vormaligen Ontologie. Diese Position übernimmt Hegel von Kant. Im Rahmen ihres jeweiligen Gesamtprojekts einer Logik verfolgen sie in dieser Frage dieselbe Absicht. Sie bieten keine Untersuchung von Subjektivität als einem isolierten Phänomen, sondern sie sind einzig an der Erzeugung von Objektivität kraft Subjektivität interessiert. Neben die Affirmation dieser grundlegenden Einsicht Kants stellt Hegel aber sogleich eine Kant-Korrektur. In erster Linie gehört zur ontologischen Verfassung des Subjekts in der Tat seine epistemische Funktion. Hinzu kommt aber Folgendes: Z w e y t e n s ist Ich eben so unmittelbar als die sich auf sich selbst beziehende Negativität, E i n z e l n h e i t , a b s o l u t e s B e s t i m m t s e y n , welches sich anderem gegenüberstellt, und es ausschließt; i n d i v i d u e l l e P e r s ö n l i c h k e i t . (GW 12,17 | Z. 18 – 21)
Um Missverständnisse zu vermeiden, hatte Kant die transzendentale Funktion der Einheit des Selbstbewusstseins bzw. des Subjekts scharf von der empirischen Selbsterkenntnis einer individuellen Person bzw. Persönlichkeit abgegrenzt.⁴⁵ Dass beides zu unterscheiden sei, sieht auch Hegel. Er betont nun aber zugleich ihren Zusammenhang. Es ist immer ein endliches Ich, ein Individuum, das die transzendental-logische Struktur des „Ich denke“ in Anspruch nimmt (und nehmen muss), ein Individuum neben und unter anderen Individuen. Individualität
zugänglich wäre. Sie liegt allen Zirkeln voraus, in die das Subjekt sich bei seinem Versuch, sich zu begreifen, verstricken könnte. Das Ich geht nicht auf seine Selbsterkenntnis aus, sondern es geht aus seiner Verwicklung mit Anderem immer wieder in sich selbst zurück – oder richtiger: Es ist aus seiner Bestimmtheit durch Anderes immer schon ‚in die Freyheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst‘ zurückgegangen“ (Jaeschke, Die Unendlichkeit der Subjektivität, 105 f.). Die moderne Rede von „Person“ ist begriffsgeschichtlich eher der Ethik zuzuordnen, während mit „Persönlichkeit“ die Individualität eines Menschen im emphatischen Sinne gemeint ist: vgl. dazu Jaeschke, Hegels Philosophie, 191– 208.
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impliziert Andersheit. Das gilt offensichtlich für das Verhältnis eines Individuums zu anderen Individuen, denen es sich „gegenüberstellt“. Es gilt aber auch für die Andersheit der individuellen Persönlichkeit gegenüber dem transzendentalen Subjekt, in dessen Einheit sie zugleich aufgenommen ist. Es ist geradezu die Sinnspitze von Hegels Aufzählung der beiden Aspekte, dass das Subjekt nicht nur (transzendentales) Subjekt, sondern ebenso (empirisches) Individuum ist. Denn der erste Aspekt ist von Kant her vertraut, der zweite geht über Kant hinaus. Auch wenn Hegel nicht zum Angriff übergeht, sondern verschweigt, dass hier ein Dissens besteht, so ist er doch der Auffassung, dass Kant diese zweite Seite unterbewertet und kontraintuitiv die logische Struktur des „Ich denke“ von mir als einzelner Persönlichkeit abgelöst habe.⁴⁶ Verfechter der individuellen Persönlichkeit auf Kosten des transzendentalen Subjekts ist hingegen Jacobi.⁴⁷ Insofern nimmt Hegel hier eine Mittelposition zwischen Kant und Jacobi ein, wobei deutlich ist, dass er von der Position Kants, nicht derjenigen Jacobis ausgeht. Auch zu diesem Schritt sieht sich Hegel durch die vorherige Analyse des Substanzbegriffs berechtigt, mit dem der terminus technicus des Subjekts generiert worden ist. Beziehung und Wechselwirkung von Allgemeinem und Einzelnem sind bereits ausgewiesen worden. Das ist der Grund, warum Hegel an der hier besprochenen Stelle die individuelle Persönlichkeit mit nur einem Satz in die Diskussion der transzendentalen Deduktion einführen kann. Einheit und Struktur der zur Wechselwirkung gewordenen Substanz werden so auf Einheit und Struktur dessen abgebildet, was Subjekt (oder „Ich“) genannt wird. Diese Überblendung mutet fast wie ein Zirkel an: Das Argument aus der Substanz stellt die Struktur bereit, die im Subjekt wiederentdeckt werden kann – die im Subjekt entdeckte Struktur soll illustrieren, was zuvor über die Substanz gesagt worden ist. Um den Eindruck des Zirkulären zu vermeiden, sollte man wohl von Hegels Deklaration dieses Abschnitts als einer bloßen „Bemerkung“ zum besseren Verständnis Abstand nehmen. Es ist richtig, dass er das Argument aus der Substanz zum Einsatz bringt, um die Struktur des Subjekts auf Anhieb zu erläutern. Das gilt es festzuhalten. Durch das Aufgreifen der Subjektthematik aus der Deduktion kommt aber noch mehr ins Spiel. Die Kombination von ontologischer Verfasstheit und epistemischer Funktion des Subjekts machen ja überhaupt erst einsichtig, warum der Substanzbegriff für das Programm der Logik sinnvol-
Hegels Sprachregelung ist somit eine andere ist als die von Dieter Henrich. Dieser unterscheidet zwischen dem „Subjekt“ als perspektivisch unvertretbarem Gegenüber zur Welt und der „Person“ als einem Individuum inmitten einer Unzahl anderer Personen und Dinge: vgl. Henrich, Denken und Selbstsein, 63 – 67. Hegel versteht hingegen unter „Subjekt“, wie oben dargelegt, beide Aspekte. Man könnte sagen, dass Henrich in dieser Hinsicht näher an Kant bleibt. Vgl. dazu maßgebend Sandkaulen, Jacobis Philosophie, 95 – 117.
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lerweise durch den Subjektbegriff ersetzt werden kann und dies, wie sogleich ausführlicher gezeigt wird, auch sollte. Darüber hinaus kann man hier angedeutet sehen, dass es möglich ist, neben dem weiteren Weg innerhalb der Logik direkte Abbiegungen und Abkürzungen in die Realphilosophie zu nehmen, sofern man das möchte.⁴⁸ Die beschriebene Verfasstheit des Subjekts kann auch in anderen Zusammenhängen, in denen von ihm gehandelt wird, zur Geltung gebracht werden. Zu dieser Verfasstheit – es sei noch einmal gesagt – gehört beides: notwendiger Selbstbezug im Fremdbezug (transzendentales Subjekt) und notwendiger Fremdbezug im Selbstbezug (individuelle Persönlichkeit). Oder etwas malerisch gesagt: epistemische Einverleibung des Fremden (um ihm freilich so seine positive Bestimmung zu geben) und ontologische Entdeckung des Fremden am und im eigenen Leib. Damit sind wir an einem neuralgischen Punkt von Brandoms Interpretation angelangt. Hegel betont ausdrücklich, dass das Subjekt nicht nur als Subjekt im Sinne eines Allgemeinen, sondern ebenso sehr als Individuum, als Einzelnes, verstanden werden solle. So wie Brandom mit seinen Zitaten aus „Vom Begriff im allgemeinen“ umgeht, besteht hingegen die Tendenz, das logische Subjekt ausschließlich auf ein (intersubjektives) Allgemeines festzulegen. Die von Gabriel an Brandom geübte Kritik hat diesbezüglich also durchaus ihre Berechtigung – allerdings hat sie diese, insofern mit Hegel argumentiert wird, nicht gegen ihn. Der Einwand gegen Brandom gilt auch für den nächsten Gedankenschritt, der darin besteht, „Subjekt“ und „Begriff“ für strukturidentisch zu erklären. Um diese Identifikation geht es Brandom mit seinen Hegel-Zitaten, die er für die Untermauerung seiner idealistischen These heranzieht. Aber diese Identifikation nimmt Hegel ausschließlich eingedenk der oben dargelegten Doppelstruktur vor: Jene absolute A l l g e m e i n h e i t , die eben so unmittelbar absolute Ve r e i n z e l u n g ist, […] macht ebenso die Natur des I c h , als des B e g r i f f e s aus; von dem einen und dem andern ist nichts zu begreiffen, wenn nicht die angegebenen beyden Momente zugleich in ihrer Abstraction und zugleich in ihrer vollkommenen Einheit aufgefaßt werden. (GW 12,17 | Z. 21– 27)
(3) Wie sieht dieser nächste Gedankenschritt genauer aus und zu welchem Zweck unternimmt ihn Hegel? Nachdem er zuerst die ontologische Verfasstheit des Subjekts dafür in Anspruch genommen hat, ein Beispiel für die Einheit und Struktur des Begriffs zu sein, geht er im weiteren Verlauf ausführlicher auf die epistemische Funktion ein. Dies ist der zweite Schritt in der Begründung, warum das Subjekt für den Begriff stehen kann. Man kann darin zugleich eine Weiter-
Darauf bin ich ausführlicher eingegangen in Hanke, „Subjektivität“ bei Hegel.
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führung des oben genannten ersten Aspekts des ersten Begründungsschrittes sehen. Hegel unterscheidet zwei Arten, wie das Wesen des Begrifflichen verstanden werden kann. Die erste Möglichkeit besteht darin, Begriffe als feststehende Bezeichnungen zu betrachten, derer sich der Verstand bei Bedarf bedient. Dieses Sich-Bedienen wäre freilich letztlich etwas Passives, ein Hinnehmen von etwas, das bereits vorliegt. Das Hingenommene wiederum bliebe dadurch stets etwas Äußerliches, das nie in einem wirklichen Zusammenhang mit dem Subjekt stünde: „Nach dieser Vorstellung h a b e Ich Begriffe und den Begriff, wie ich auch einen Rock, Farbe und andere äusserliche Eigenschaften habe“ (GW 12,17 | Z. 32– 34). Dies sei zwar die „gewöhnliche[ ] Weise“ (GW 12,17 | Z. 28), wie Begriffe verstanden werden würden, aber es sei auch die falsche. Hegel verwirft ein solches äußerliches Verständnis unter erneuter Berufung auf Kant und dessen Auszeichnung des transzendentalen Selbstbewusstseins: Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, daß die E i n h e i t , die das We s e n d e s B e g r i f f s ausmacht, als die u r s p r ü n g l i c h - s y n t h e t i s c h e Einheit der A p p e r c e p t i o n , als Einheit des: I c h d e n k e , oder des Selbstbewußtseyns erkannt wird. (GW 12,17 | Z. 36 – GW 12,18 | Z. 2)
Hegel akzeptiert also die kantianische Wende in Sachen Begriffsgebrauch, die Brandom so unterstrichen hat: dass Begriffe und ihre Beziehungen zu Gegenständen nicht fertig vorliegen, sondern dass Begriffe wie die durch sie repräsentierte Wirklichkeit erst durch ihren regelgeleiteten Gebrauch bestimmt werden. Begriffe sind nicht nach dem Modell vorliegender Dinge zu verstehen, vielmehr sind andersherum die Dinge nach der Maßgabe der Begriffe aufzufassen. In dieser Umkehrung der Erklärungsreihenfolge erblickt Hegel den Kerngedanken der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und affirmiert ihn. Diesen Teil des Zitats hat Brandom mithin völlig legitim für die Etablierung der aus seinem normativen Pragmatismus folgenden idealistischen These in Anspruch genommen. Hegel zitiert dann seinerseits Kant, nämlich aus § 17 der Deduktion. Dabei macht er eine interessante Auslassung, die noch zur Sprache kommen wird. In Hegels Version heißt es: O b j e c t , sagt Kant, Kritik der r. V. S. 137. 2te Ausg. ist das, in dessen B e g r i f f das M a n n i c h f a l t i g e einer gegebenen Anschauung v e r e i n i g t ist. Alle Vereinigung der Vorstellungen erfodert aber E i n h e i t d e s B e w u ß t s e y n s in der S y n t h e s i s derselben. Folglich ist diese E i n h e i t d e s B e w u ß t s e y n s dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre o b j e c t i v e G ü l t i g k e i t , ausmacht, und worauf selbst d i e M ö g l i c h k e i t d e s Ve r s t a n d s beruht. (GW 12,18 | Z. 8 – 14)
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Dieses Erbe Kants möchte Hegel antreten: dass die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins als notwendige Grundlage der Bestimmung von Objekten und damit von Erkenntnis angesetzt wird – womit andersherum aber auch gesagt ist, dass die Einheit des Selbstbewusstseins auf die Objekterkenntnis hin finalisiert ist. Beides gehört zusammen: Objektivität kraft Subjektivität und Subjektivität mit Blick auf Objektivität. Interessant daran ist freilich, dass Hegel ausgerechnet die Präzisierung in dem Zitat unterschlägt, die von „Erkenntnis“ spricht. Bei Kant heißt es nämlich im letzten Satz: „Folglich ist diese Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objective Gültigkeit, folglich daß sie Erkenntnisse werden ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht“ (KrV B 137; kursive Hervorhebung T.H.). Diese Auslassung ist auf den ersten Blick erstaunlich. Warum verzichtet Hegel auf eine Formulierung, die doch so gut zu seiner Absicht passen würde? Meines Erachtens erklärt sich das durch seinen nächsten Schritt. Statt vom Erkennen wird er dabei vom Begreifen sprechen. Was umgangssprachlich nahe beieinander liegt, bezeichnet in kantischer Terminologie zwei verschiedene bzw. zwei aufeinander aufbauende Tätigkeiten des Geistes. Auf den ersten Seiten der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant Verstand und Vernunft voneinander und ordnet dem Verstand das Erkennen, der Vernunft aber das Begreifen zu (vgl. KrV B 349 – 368 / A 293 – 311).⁴⁹ Während der Verstand durch sein Zusammenwirken mit der Sinnlichkeit einzelne Erkenntnisse erzeugt, ordnet die Vernunft diese vom Verstand produzierten Erkenntnisse und bringt sie in einen größeren Zusammenhang. Die Vernunft bezeichnet somit einerseits eine höherstufige Tätigkeit. Sie leistet mehr als der Verstand. Begreifen besteht entsprechend darin, mit erworbenen Erkenntnissen kreativ und konstruktiv umzugehen. Andererseits leistet die Vernunft weniger als der Verstand, Begreifen ist weniger als Erkennen, in dem Sinne nämlich, dass hier „bloß ein subjectives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrathe unseres Verstandes“ (KrV B 362 / A 306) zum Einsatz komme, welches nicht wie das Erkennen Gegenstände bestimmen könne. Die Vernunfteinheit des Begreifens ist lediglich regulativ, „ohne daß man deswegen […] jener Maxime zugleich objective Gültigkeit zu geben […] berechtigt wäre“ (KrV B 362 f. / A 306). Die begrifflichen Umformungen und Zuordnungen der Vernunft bleiben für Kant etwas Sekundäres, das nicht im direkten Kontakt mit der sinnlichen Dimension
Dieser Punkt ist in Hanke, Wesen im Begriff, und Ders., „Subjektivität“ bei Hegel, noch nicht hinreichend benannt. Ich danke Karen Koch, die mir diesbezüglich und bei vielen anderen Fragen zur Verhältnisbestimmung von Kant und Hegel wichtige Impulse gegeben hat.
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der Erfahrung steht und damit immer in der Gefahr ist, vom Boden der Tatsachen abzuheben. Daraus ergibt sich die Ausgangslage der transzendentalen Dialektik als einer Logik des Scheins, die sich der Problematik der Vernunftbegriffe stellt, welche nun nicht mehr wie die Verstandesbegriffe „Kategorien“, sondern „Ideen“ heißen (vgl. KrV B 368 / A 311). Diese Unterscheidung Kants hat Hegel im Hinterkopf. Im dritten Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ wird er explizit darauf eingehen und sie kritisieren (vgl. dazu 5.2.4). An der Stelle innerhalb des zweiten Abschnitts, an der wir uns hier noch befinden, kaschiert er den Dissens und geht stillschweigend vom Verstand zur Vernunft und vom Erkennen zum Begreifen über. Für Hegel führt die transzendentale Deduktion an ein Ziel, das nicht mehr nachträglich eingeschränkt werden muss. Er affirmiert ihre Absicht und ihr Vorgehen, mittels der Einheit des Selbstbewusstseins Objektivität zu verbürgen. Hegel schließt seine Kant-Wiedergabe und übersetzt sie in seine eigene Logik wie folgt: Nach dieser Darstellung ist die Einheit des Begriffs dasjenige, wodurch etwas nicht blosse G e f ü h l s b e s t i m m u n g , A n s c h a u u n g oder auch blosse Vo r s t e l l u n g , sondern O b j e c t ist, welche objective Einheit, die Einheit des Ich mit sich selbst ist. – Das B e g r e i f f e n eines Gegenstandes besteht in der That in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu e i g e n macht, ihn durchdringt, und ihn in s e i n e e i g e n e F o r m , d. i. in die A l l g e m e i n h e i t , welche unmittelbar B e s t i m m t h e i t , oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt. (GW 12,18 | Z. 22– 29)
Der Bezug auf einen fremden Gegenstand verbleibt nicht im Subjektivismus. Seine objektive Bestimmung erhält der Gegenstand, indem er unter Begriffe gebracht wird, d. h. indem er der Einheit des Selbstbewusstseins zugeordnet wird. Das Subjekt eignet sich etwas an, das ihm zuvor fremd war. Soweit ist die Beschreibung des Erkenntnisprozesses kantianisch. Hegels Zutat besteht darin, die Struktur des Erkenntnisprozesses, die für ihn über Kant hinaus zugleich die Struktur des Begreifens ist, mit der oben dargelegten Struktur des Selbstbewusstseins, des Subjekts, zu identifizieren. Das Subjekt war bestimmt worden als allgemeine transzendentale Funktion und zugleich als ihr Anderes, als einzelnes Individuum im Wechselspiel mit Anderem. Beides gehört zusammen. Eine entsprechende Kombination von Allgemeinheit und Einzelheit taucht nun beim Begreifen wieder auf, wenn nämlich der einzelne Gegenstand in die Allgemeinheit der Einheit des Selbstbewusstseins überführt wird und so seine Bestimmung erhält. Das bedeutet: Im Begreifen eines Gegenstandes affirmiert das Subjekt seine eigene Struktur. Und umgekehrt ist das Begreifen – oder substantiviert eben der „Begriff“ – die Zielvorgabe, auf die hin sich Subjektivität realisiert, indem sie nämlich Objektivität erzeugt. Diese Objektivität wird nun ihrerseits nicht als bloßes Vorliegen im Gegenüber zum Subjekt verstanden, sondern als von Sub-
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jektivität durchdrungene und bestimmte. Hegel beschließt seine Ausführungen mit dem Ergebnis: Diese Objectivität hat der Gegenstand somit im B e g r i f f e , und dieser ist die E i n h e i t d e s S e l b s t b e w u ß t s e y n s , in die er aufgenommen worden; seine Objectivität oder der Begriff ist daher selbst nichts anderes, als die Natur des Selbstbewußtseyns; hat keine andere Momente oder Bestimmungen, als das Ich selbst. (GW 12,18 | Z. 37 – GW 12,19 | Z. 2)
Soweit also geht Hegels „Bemerkung“ zum leichteren „Auffassen“, welche die immanente Deduktion des Begriffs des Begriffs aus der Wesenslogik durch die Diskussion von Kants transzendentaler Deduktion flankieren sollte. Ich halte auch die stärkere Formulierung für erlaubt, dass Hegel hier, nach der wesenslogischen Herleitung aus dem Verhältnis der Substanz, nochmals den Begriff des Begriffs gewonnen hat. Auch wenn diese Partie als lediglich illustrativ deklariert worden ist, also eigentlich nichts Neues zu der ersten Argumentation hinzufügen soll, dürfte doch erst sie einsichtig machen, warum statt von der Substanz überhaupt vom Subjekt und vom Begriff geredet werden sollte. Hegel übernimmt den Anspruch der kantischen Philosophie, Objektivität kraft Subjektivität zu erzeugen und zu rechtfertigen. Erst damit gibt er der Metaphysik der Substanz die entscheidende logische Wendung. Mit ihr wird das Tor aufgetan, durch das man in die weitere Entwicklung der subjektiven Logik eintreten kann.⁵⁰ Hegel zieht das Fazit, das von Brandom, wie oben dargelegt, in die Irre führend verstanden worden ist: „Hiernach rechtfertigt es sich durch einen Hauptsatz der Kantischen Philosophie, daß, um das zu erkennen, was der B e g r i f f sei, an die Natur des Ich erinnert wird. Umgekehrt aber ist hierzu notwendig, den B e g r i f f des Ich aufgefaßt zu haben, wie er vorhin angeführt worden“ (GW 12,19 | Z. 3 – 6). Allerdings hat er offensichtlich gar nicht die Möglichkeit vor Augen, die Rede vom Subjekt bzw. Ich könnte intersubjektiv umgedeutet werden. Für Hegel droht eher eine andere Gefahr, nämlich der Rückfall in einen metaphysischen Dualismus mit von der körperlichen Welt separierten Seelensubstanzen. Diesbezüglich äußert er sich unmissverständlich: Wenn bey der blossen Vo r s t e l l u n g des Ich stehen geblieben wird, wie sie unsrem gewöhnlichen Bewußtseyn vorschwebt, so ist Ich nur das einfache D i n g , welches auch S e e l e genannt wird, dem der Begriff als ein Besitz oder Eigenschaft i n h ä r i r t . Diese Vorstellung,
In dieser Frage besteht eine Differenz zu Braitling, Hegels Subjektivitätsbegriff. Braitling beendet die Lektüre der subjektiven Logik mit dem oben besprochenen zweiten Abschnitt von „Vom Begriff im allgemeinen“, um sie dann in eine Logik der Intersubjektivität zu überführen. Dadurch geht aber die Ausrichtung auf die Objektivität unseres Begreifens verloren. Diese Ausrichtung scheint mir hingegen das eigentliche Thema von Hegels Logik zu sein.
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welche sich nicht damit einläßt, weder Ich noch den Begriff zu begreiffen, kann nicht dazu dienen, das Begreiffen des Begriffs zu erleichtern oder näher zu bringen. (GW 12,19 | Z. 6 – 11)
5.2.4 Subjekt in Logik und Realphilosophie (1) Nachdem Hegel die Adaption der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe im Verbund mit großem Lob für Kant vollzogen, ihr aber auch bereits einen eigenen Drall gegeben hat, wendet er sich „noch zwey Seiten“ (GW 12,19 | Z. 12) von Kants Begriffslehre zu, die er als äußerst problematisch beurteilt und angesichts derer er nicht mit Spott geizen wird. Zunächst kritisiert Hegel die Verwechslung der Logik mit einer Theorie menschlichen Bewusstseins, die auf sinnliche Anschauung als dessen Basis setzt. Er bezichtigt Kant, in dieser Angelegenheit inkonsequent gewesen zu sein, womit er dazu beigetragen habe, die Logik bzw. den Begriff als etwas Leeres zu missdeuten, dem der Reichtum der sinnlich erfahrbaren Welt gegenüberstehe. Als zweites bringt Hegel den üblichen Vorwurf gegen Kant in Stellung, sich mit der Rede von der Nicht-Erkennbarkeit der Dinge an sich den eingeschlagenen Weg zur Objektivität bzw. zur Wahrheit selbst verbaut zu haben. Ziel der Logik sei hingegen genau diese: absolute Wahrheit. Beide Kritikpunkte werden kurz benannt und dann nacheinander abgehandelt. Ihnen entsprechen hier die Unterkapitel 5.2.4 und 5.2.5. Wie soeben gezeigt, ist Hegel mit Kant einer Meinung, dass die Philosophie des transzendentalen Subjekts nichts zu tun hat mit der alten Auffassung von einer separaten Seelensubstanz. Hegel teilt Kants Kritik an der rationalen Psychologie der vormaligen Metaphysik. Zugleich macht er ihm den Vorwurf, dass im Gedankengang der Kritik der reinen Vernunft – insbesondere durch die Angewiesenheit des Verstandes auf die Sinnlichkeit – dennoch Logik und, wie er nun ausdrücklich sagt, „P s y c h o l o g i e “ (GW 12,19 | Z. 29) bzw. „P h ä n o m e n o l o g i e des Geistes“ (GW 12,19 | Z. 31) miteinander vermischt würden. Hegel stellt klar, dass die „Gestalten von A n s c h a u u n g , Vo r s t e l l u n g und dergleichen dem s e l b s t b e w u ß t e n G e i s t e angehören, der als solcher nicht in der logischen Wissenschaft betrachtet wird“ (GW 12,19 | Z. 39 – GW 12,20 | Z. 2). Hier haben wir bereits die Dreiteilung der enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes vor uns.⁵¹ In der Anthropologie wird der Begriff der Seele zentral sein, und
Die Ausarbeitungen zur Wissenschaft der Logik und der ersten Auflage der Enzyklopädie erfolgen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang (entsprechend zitiere ich in diesem Kapitel aus der ersten Auflage). Der Vorbericht zur Logik des Begriffs datiert auf den 21. Juli 1816, und zu Beginn des Wintersemesters 1816/17 teilt Hegel bereits die ersten Bögen des Skripts zu seiner enzyklopädischen Vorlesung aus. Laut Jaeschke ist im Lauf des Semesters wohl nur noch eine
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dazu gehört die Kritik an der Vorstellung der Seele als „D i n g “ (GW 13,184 | Z. 10) bzw. am Leib-Seele-Dualismus. Auf diese Anthropologie folgt die Phänomenologie als Lehre von der Genese und Konstitution des Bewusstseins und auf sie die Psychologie als Lehre von den geistigen Vermögen. In „Vom Begriff im allgemeinen“ ist bei der Aufzählung von Phänomenologie und Psychologie die Reihenfolge noch vertauscht. In der späteren Einleitungspassage zum Kapitel „Die Idee des Erkennens“ erfolgt dann die Skizzierung des erstmals ausdrücklich benannten Dreischritts Anthropologie – Phänomenologie – Psychologie (vgl. GW 12,197 f.), wiederum eingebettet in bissige Kant-Polemik.⁵² Sowohl an dieser späteren Stelle der Wissenschaft der Logik (vgl. GW 12,198 f.) als auch innerhalb der enzyklopädischen Darlegung (vgl. GW 13,206 f.) verbindet Hegel seine Erläuterungen zur Philosophie des subjektiven Geistes mit derselben doppelten Kritik, welche im dritten und vierten Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ verhandelt wird: Er kritisiert die Vermengung der – in ihrem eigenen Bereich völlig legitimen – realphilosophischen Überlegungen mit denjenigen der Logik; ebenso kritisiert er den sich daraus ergebenden Verzicht, objektive Wahrheitsansprüche zu erheben (bzw. zu klären, was es mit objektiven Wahrheitsansprüchen auf sich hat). Die Logik ist keine Philosophie der subjektiven Erfahrung oder gar aus Introspektion gewonnen. Vielmehr ist sie die strukturelle Voraussetzung für die späteren Durchführungen der Realphilosophie.⁵³ Hegel schreibt dazu: Die reinen Bestimmungen von Seyn, Wesen und Begriff, machen zwar auch die Grundlage und das innere einfache Gerüste der Formen des Geistes aus […]. Allein diese concreten Gestalten gehen die logische Wissenschaft so wenig an, als die concreten Formen, welche die logischen Bestimmungen in der Natur annehmen […]. Eben so ist hier auch der Begriff, nicht als Actus des selbstbewußten Verstandes, nicht der s u b j e c t i v e Ve r s t a n d zu betrachten, sondern der Begriff an und für sich, welcher ebensowohl eine S t u f f e der N a t u r , als des G e i s t e s ausmacht. […] Von jener ungeistigen aber sowohl, als von dieser geistigen Gestalt des Begriffs ist seine logische Form unabhängig. (GW 12,20 | Z. 2– 18)
letzte Redaktion vorgenommen worden, woraus folgt, dass die Enzyklopädie „im wesentlichen in Nürnberg verfaßt“ (Jaeschke,Walter, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart,Weimar 3 2016, 239) wurde. An dieser Stelle findet sich mit Blick auf Hegels Anthropologie die weitere inhaltliche Klärung, dass sie zwar die Seele als den Begriff bedenkt, wie er in seine Unmittelbarkeit versunken ist – dass sie aber gerade keine Restauration der rationalen Psychologie darstellt: „Aber auch ihr muß jene Metaphysik fremd bleiben, worin diese Form der U n m i t t e l b a r k e i t , zu einem S e e l e n d i n g , zu einem A t o m , den Atomen der Materie gleich wird“ (GW 12,197 | Z. 22– 24). Vgl. in diesem Sinne auch Braitling, Hegels Subjektivitätsbegriff, 89 f., 117, 183; Nuzzo, Angelica, Hegel’s Metaphysics. The Absence of the Metaphysical Subject in Hegel’s Logic, in: de Laurentiis, Hegel and Metaphysics, 119 – 133, 129 – 132.
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Aus dieser Rang- und Reihenfolge ergibt sich jedoch nicht, dass der Logik etwas fehlen würde. Hegel möchte das in Abgrenzung sowohl gegen den common sense als auch wiederum gegen Kant klargestellt wissen. Er zielt hier auf dessen Lehre von Sinnlichkeit und Verstand als den zwei voneinander unterschiedenen Stämmen menschlicher Erkenntnis. Dabei hat er u. a. die berühmte Formulierung vom Anfang der transzendentalen Logik im Ohr (vgl. KrV B 75 / A 51), dass Begriffe ohne Anschauungen leer seien (vgl. GW 12,19 | Z. 16). Als deskriptive „Erzählung“ (GW 12,22 | Z. 8) über Vorgänge im menschlichen Erkenntnisapparat möge es ja richtig sein, wenn Kant davon ausgehe, dass unsere Erkenntnis von den Sinnen her anfange. Die logische Durchdringung der Wirklichkeit sei jedoch etwas anderes. Indem Kant Sinnlichkeit und Verstand so strikt voneinander trenne, scheide er den Stoff vom Denken. Alle Vielfalt, aller Reichtum, alles Dasein werde durch die Sinne gegeben – der Verstand sei angesichts ihrer nur die „leere F o r m“ (GW 12,20 | Z. 30). Eigentlich habe Kant Wichtiges geleistet, indem er die Einheit des Verstandes als Tätigkeit des Synthetisierens angesetzt habe: K a n t hat diese Betrachtung durch den höchst wichtigen Gedanken eingeleitet, daß es s y n t h e t i s c h e U r t h e i l e à p r i o r i gebe. Diese ursprüngliche Synthesis der Apperception ist eines der tiefsten Principien für die speculative Entwicklung; sie enthält den Anfang zum wahrhaften Auffassen der Natur des Begriffs. (GW 12,22 | Z. 24– 28)
Es müsse Kant aber vorgehalten werden, dass seinem guten „Anfange […] die weitere Ausführung wenig“ (GW 12,22 | Z. 30 f.) entspreche – gerade weil er noch in der Deduktion an der nicht-logischen Trennung von Sinnlichkeit und Verstand festgehalten habe und so über ein äußerliches Verständnis von Synthetisieren nicht hinausgelangt sei. Auf diese Weise sei Kant aber „bey dem psychologischen Reflexe des Begriffs stehen geblieben“ (GW 12,22 | Z.34) und habe somit lediglich einen „psychologischen Idealismus“ (GW 12,22 | Z. 38 f.) präsentiert. Dies sei umso bedauerlicher, weil er der Lösung so nahegekommen war, als er den Begriff des Begriffs mittels des Begriffs der Synthesis fasste. Wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, hat Kant dadurch eigentlich ein Instrument an die Hand gegeben, um Allgemeines und Einzelnes nicht mehr als zwei Größen auf völlig disparaten Ebenen zu betrachten, sondern beide als Momente einer Selbstdifferenzierung und Selbstbestimmung. Der Begriff, verstanden als Synthesis, hat „die Bestimmtheit und den Unterschied in sich selbst. Indem sie die Bestimmtheit des Begriffs, damit die a b s o l u t e B e s t i m m t h e i t , die E i n z e l h e i t , ist, ist der Begriff, Grund und Quelle aller endlichen Bestimmtheit und Mannichfaltigkeit“ (GW 12,23 | Z. 3 – 6). Das Einzelne ist dann nicht etwas Unlogisches, kein factum
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brutum, das dem erkennenden Subjekt durch die Sinne gegeben werden müsste, wie Kant zu meinen schien. Nachdem Kant diese Einsicht zwar knapp, aber entscheidend verfehlt habe, sei auch sein nachträglicher Rettungsversuch zum Scheitern verurteilt gewesen. Er habe sich zwar darum bemüht, den Fehler aus der transzendentalen Analytik in der Dialektik zu beheben, indem er unter dem Stichwort der „Ve r n u n f t“ (GW 12,23 | Z. 8) eine höherstufige Einheitsperspektive eröffnet habe. Doch durch ihre Restriktion auf den regulativen Gebrauch würden auch hier die Erwartungen „getäuscht“ (GW 12,23 | Z. 11): Am Ende der Dialektik bleibe nur das „u n e n d l i c h e N i c h t s“ (GW 12,23 | Z. 13 f.) zurück, und „so verliert die unendliche Einheit der Vernunft, auch noch die Synthesis und damit jenen Anfang eines speculativen, wahrhaft unendlichen Begriffs“ (GW 12,23 | Z. 14– 16). (2) Im Unterschied zu den beiden vorherigen Abschnitten hält sich Hegel in diesem dritten Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ mit Argumenten zurück und bleibt eher plakativ. Dennoch kann auch dieser Abschnitt systematisch aufgeladen werden, indem er mit der durch Brandom aufgeworfenen Problematik in Verbindung gebracht wird.⁵⁴ Hegel kritisiert an Kant, dass er zum einen Logik und Bewusstseinslehre miteinander vermischt, zum anderen die Logik ihres Gehalts beraubt habe. Diese beiden Punkte möchte ich unter Absehung von den sie begleitenden aggressiven Tönen rekonstruieren. Zu diesem Zweck drehe ich ihre Reihenfolge um und frage zunächst nach dem Gehaltvollsein bzw. der Selbstgenügsamkeit der Logik. Im zweiten Abschnitt hat Hegel entscheidende Gedanken aus der transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft aufgegriffen. Im dritten Abschnitt wird nun thematisiert, was zuvor im Vorübergehen geschah: das Kassieren der Unterscheidung dessen, was Kant in der Deduktion leistet und was er in der Dialektik problematisiert, der Unterscheidung von Erkennen und Begreifen, von Verstand und Vernunft. Die Deduktion führt für Hegel zum Begreifen. Was bedeutet das? Zunächst ist damit die Behauptung verbunden, dass, noch in kantischer Terminologie gesagt, die Einheit, auf die die Vernunft aus ist, konstitutiv, nicht bloß regulativ zu verstehen ist. Auch die Vernunft zielt auf objektive Gültigkeit. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Verstandesund Vernunftbegriffen bzw. der Normativität des Verstandes und derjenigen der Vernunft. Oder anders formuliert: Es gibt kein geistiges Vermögen des Subjekts, Dies ist also ein Beispiel dafür, dass „Standpunktwechsel in beide Richtungen mit zu der Arbeit [gehören], die man leisten muss“ (Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 879; Hervorhebung T.H.), wenn man historische und aktuelle Positionen in eine fruchtbare systematische Beziehung setzen möchte.
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das nicht auf Objektivität aus wäre. Darauf zielt alle Normativität, durch die das Subjekt definiert ist, all sein Handeln nach Gesetzen, sein Synthetisieren und begriffliches Operieren. Deswegen ist das Subjekt gleichzusetzen mit Begreifen überhaupt, mit dem Begriff. Mit der Auflösung der Differenz von Verstand und Vernunft ist die Abkopplung von der Sinnlichkeit als Stofflieferantin verbunden. So wie sich laut Kant die Vernunft nicht auf Anschauungen bezieht, sondern auf bereits durch den Verstand produzierte Erkenntnisse, um diese zu koordinieren, so bezieht sich die Vernunft bei Hegel nun ihrerseits nicht auf Anschauungen, aber auch nicht auf den Verstand, sondern einzig auf sich selbst. Bei Kant wie bei Hegel ist die Vernunft als „Vermögen zu schließen“ (KrV B 386 / A 330) gedacht. Über Kant hinaus ist dieses „Vermögen zu schließen“ bei Hegel freilich nicht mehr nur regulativ, sondern erfüllt den durch seinen Einsatz der Deduktion als rechtmäßig ausgewiesenen Anspruch auf Objektivität. In dieser Hinsicht besteht eine Übereinstimmung zwischen Hegel und Brandom. Beide identifizieren Erkennen und Begreifen. Brandom benennt mehrfach, dass er im Verbund mit Hegel die kantische Differenz von Verstand und Vernunft aufheben möchte und in dieser Aufhebung die endgültige Etablierung des Inferentialismus erblickt.⁵⁵ Zugleich kann uns Brandom an dieser Stelle dabei helfen zu verdeutlichen, dass es bei der Rede von der Selbstgenügsamkeit der Vernunft nicht um einen transzendenten Gebrauch der Kategorien bzw. ein Verstricken in Hirngespinste jenseits unserer Erfahrungswelt geht. Wir können hier die unter 2.2.4 erarbeiteten Argumente importieren, ebenso die in 3.2.2 vorgenommene Klarstellung, dass es sich bei dem im Anschluss an Hegel vertretenen Idealismus um einen solchen des Sinns, nicht der Referenz handle. Brandoms Inferentialismus leugnet nicht die Einbettung in eine Welt, die unabhängig von menschlichen Erkenntnisvorgängen existiert. Es gibt auch für ihn die Wahrnehmung von etwas, das von außen kommt. Solche Wahrnehmungen aber sind, wie er sagt, als Inferenzeingangszüge zu verstehen, als nicht mehr und nicht weniger. Erst dadurch, dass Wahrnehmungen in einen begrifflichen Begründungszusammenhang versetzt werden, in Beziehungen materialer Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit, wird ihnen ihr bestimmter Inhalt zugesprochen. Es sind die Begriffe, die den Wahrnehmungen Bedeutung geben. Dieser Position Brandoms korrespondiert Hegels Verweis darauf, dass die „Erzählung“ des faktischen Erkenntnisvorgangs von uns Menschen durchaus bei den Sinnen anfängt – dass aber erst durch die Umkeh-
Vgl. beispielsweise Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 94, 108, 232, 279 f.; Brandom, Hegelian Ideas, 5.
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rung in die Logik des Begriffs hinein klar wird, worum es eigentlich geht, was inhaltliche Bestimmung ausmacht und wie sie erzeugt wird.⁵⁶ In der Absicht, die Selbstgenügsamkeit des Begrifflichen zu verdeutlichen, kommen der zweite und der dritte Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ überein. Im dritten Abschnitt wird die Identifikation von Verstand und Vernunft, Erkennen und Begreifen explizit gemacht, die im zweiten Abschnitt bereits wirksam war. Dabei bietet Hegel mehr als eine Polemik gegen den vermeintlich kalten Verstand der Aufklärung, wie sie aus anderen Stellen bekannt ist. Seine Sprachregelung ist nicht beliebig oder lediglich darauf aus, den eigenen Standpunkt auf- und andere abzuwerten. Vielmehr transportiert sie die dargelegten Argumente für den Inferentialismus. Wenn wir von diesem Punkt aus auf Hegels Umgang mit der transzendentalen Deduktion zurückblicken, können wir eine Ergänzung über das in 5.2.2 Gesagte hinaus vornehmen. In 2.2.4 ist ausführlich dargelegt worden, dass Brandom nur das erste Beweisziel der Deduktion übernimmt. Das Gleiche gilt für Hegel. Er stimmt Kant allein darin zu, dass die Kategorien a priori in der Tätigkeit des Verstandes gründen. Wie Brandom, der sich in dieser Hinsicht in der Tat als Hegelianer erweist, unterschlägt schon Hegel das zweite Beweisziel: dass die Kategorien nur durch den in der sinnlichen Anschauung gegebenen Stoff Erkenntnis konstituieren können. Für Hegel wie für Brandom gibt es nur einen Kerngedanken der transzendentalen Deduktion: die nicht von etwas Gegebenem ableitbare Normativität des Begrifflichen, die alle Bestimmtheit verbürgt. Im Rückblick erweisen sich der zweite und der dritte Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ als ein zusammenhängender Gedankengang. Mit dem Verzicht auf den zweiten Beweisschritt der Deduktion, d. h. mit der Suspendierung der Sinnlichkeit als Stofflieferantin, wird auch die Differenz von Erkennen und Begreifen, von Verstand und Vernunft hinfällig. Und mit dem Einreißen dieser Differenz wird die inferentielle, logische Vernunft als selbstgenügsam deklariert und der Input durch die sich ergebende sinnliche Wahrnehmung auf das pure, inhaltlose Dass der Existenz beschränkt. (3) Soweit kann also eine Konvergenz der Argumentationen Hegels und Brandoms festgestellt werden. Sie verzahnen sich und stützen sich gegenseitig. Es kann allerdings mittels dieses dritten Abschnitts der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ auch ein wesentlicher Unterschied hervorgehoben werden – ein Unterschied, der es ermöglicht, das Defizit, das in Kapitel 5.1 bei Brandom eruiert
Vgl. dazu auch die Klarstellung zum Verhältnis der Logik zur menschlichen Erfahrung bei Emundts, Hegel as a Pragmatist, 620 – 622.
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worden ist, mit Hegel zu beheben. Dies kann geschehen, indem dessen Kritik an dem Umstand, dass Kant Logik mit Bewusstseinslehre vermischt habe, für unsere systematischen Zwecke ausgebeutet wird. Wie dargelegt, hat sich Hegel sowohl generell zum Verhältnis von Logik und Realphilosophie geäußert als auch speziell zum Verhältnis der Logik zu den drei Stufen der Philosophie des subjektiven Geistes. Der logische Begriff sei von seinen Realisierungen in den Sphären der Natur und des Geistes unabhängig, so lautet sein generelles Statement. Nicht zuletzt sei dies mit Blick auf die speziellen Themenbereiche der Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie zu betonen. Auf diese Weise aber hat Hegel eindeutig Stellung bezogen, was die von Brandom favorisierte Anerkennungstheorie betrifft. Denn diese ist in der enzyklopädischen Phänomenologie enthalten (vgl. GW 13,201– 203). Es ist also gar nicht nötig, sich Gedanken über die prinzipielle Nähe der Phänomenologie von 1807 zur Wissenschaft der Logik zu machen, wie Brandom es tut. Offensichtlich ist es für unsere Diskussion ebenfalls nicht nötig, Hypothesen über die Wanderungen bestimmter Lehrstücke aus der Phänomenologie von 1807 an diverse Stellen des späteren Systems aufzustellen. Es bleibt lediglich festzuhalten, dass Hegel die logische Rede von Begriff und Subjekt sehr deutlich von der „Erzählung“ über die Genese von Selbstbewusstsein in intersubjektiven Anerkennungsverhältnissen unterscheidet.⁵⁷ Diese Unterscheidung erfolgt nicht willkürlich, sondern aus gutem Grund: um die Selbständigkeit des Begrifflichen gegenüber der Wahrnehmung zu verteidigen, die Unabhängigkeit des Gehaltvollseins von Begriffen von einem vermeintlich von außen gegebenem „Stoff“. Nur wenn ich Logik und Realphilosophie unterscheide und nicht jene von dieser abhängig mache, so unterstreicht Hegel, kann ich das Wesen des Begrifflichen als solches verstehen.⁵⁸ Hegel mischt sich hier in Brandoms eigene inferentialistische Argumentation ein. Mit Hegel kann Brandom der Vorwurf gemacht werden, dass er die Basis seines normativen Pragmatismus untergräbt, wenn er die Logik des Begriffs und die phänomenologische Anerkennungstheorie gleichsetzt. Was Hegel gegen Kant ins
Vgl. in diesem Sinne auch Iber, Christian, In Zirkeln ums Selbstbewußtsein. Bemerkungen zu Hegels Theorie der Subjektivität, in: Hegel-Studien 35 (2000), 51– 75, 68. Die entsprechende freiheitstheoretische Folgerung hat Knappik gezogen: „Die Entfaltung jener synthetischen Produktion bestimmten begrifflichen Gehalts ohne Rekurs auf gegebene Anschauung bildet eine eigene Form von logischer Freiheit, die die Voraussetzung realer Freiheit darstellt: Wir müssen notwendig über die durch sie erzeugten Gehalte verfügen, um reale Freiheit zu erarbeiten; und der explizite Vollzug der logischen Freiheit muss zumindest möglich sein, wenn der ‚reale‘ Vernunftgebrauch nicht letztlich doch auf Gegebenem oder auf Willkür beruhen und somit durch unauflösliche Formen von Unfreiheit geprägt sein soll“ (Knappik, Reich der Freiheit, 155).
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Feld führt, dass er „bey dem psychologischen Reflexe des Begriffs stehen geblieben“ (GW 12,22 | Z. 34) sei, würde dann auch für Brandom gelten, mit der Modifikation, dass wir es bei ihm mit einer „Sozialpsychologie“ zu tun hätten. Dies aber wäre der Rückfall in den Mythos des Gegebenen. In alltäglichen Realisierungen sind normative Status selbstverständlich soziale Status. Für die Logik aber muss die Normativität ursprünglich sein, wenn sie nicht ganz verschwinden soll. Wenn Brandom sagt: „Because the space of reasons is a normative space, it is a social space“⁵⁹, dann hat er recht, das Begründungsverhältnis besteht genau in dieser Richtung. Wie in der transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft logische Prozesse nicht mit zeitlichen Prozessen gleichgesetzt werden,⁶⁰ so behandelt auch die Wissenschaft der Logik Prozesse, die zeitlichen bzw. geschichtlichen Entwicklungen voraus- und zugrunde liegen.⁶¹ Die expressive Rolle der Logik besteht bei Kant wie bei Hegel darin, explizit zu machen, was im alltäglichen Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen bereits wirksam ist. Der Vorwurf gegenüber Brandom kann allerdings auch in eine These gewendet werden, die sein Anliegen unterstützt. Eine solche Lösung sieht wie folgt aus. Die Engführung von Logik des Begriffs und phänomenologischer Anerkennungstheorie, die sich am deutlichsten an Brandoms problematischem Umgang mit dem oben ausführlich diskutierten Zitat aus dem zweiten Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ kristallisiert, ist ein Fehler nicht nur de dicto, sondern auch de re. Er kann korrigiert werden, indem in die Dynamik der Logik des Begriffs so eingestiegen wird, wie es anhand der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ in diesem Kapitel exemplarisch vollzogen worden ist. Als entscheidend hat sich die Kombination der Argumente aus der Erzeugung des Begriffs des Begriffs bzw. des Subjekts aus der Analyse des Substantialitätsverhältnisses mit denjenigen aus der Adaption der transzendentalen Deduktion erwiesen. Der Begriff bzw. das Subjekt sind als dynamische selbstbezügliche Struktur bestimmt worden, in der Allgemeines und Einzelnes zusammenkommen, das Fremde zum Eigenen gehört. Dabei wurde eine Überbetonung des Intersubjektiven abgewehrt und hervorgehoben, dass vielmehr der Aspekt des Individuellen eine prominente Rolle spielt. Die Unterscheidung von Logik und Realphi-
Brandom, Reason in Philosophy, 4. Vgl. dazu Henrich, Identität und Objektivität, 90 f. Hegel erweist sich also wiederum als Kantianer, was angesichts seiner Polemik in diesem Abschnitt festgehalten werden sollte. Düsing hat vermutet, dass Hegel Kant deswegen des „psychologischen Idealismus“ bezichtigt, weil er davon ablenken wolle, dass seine eigene Theorie Gefahr laufe, zu einem solchen zu werden (vgl. Düsing, Problem der Subjektivität, 241– 243). Das Gegenteil scheint mir plausibler zu sein: Hegel spricht das schroffe Verdikt über Kant aus, um zu verschleiern, wie nahe sie sich im logischen Verständnis sind.
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losophie ist notwendiges Implikat dieser Lesart. Wenn sie akzeptiert wird, dann hat sich Brandom mit seiner Berufung auf Hegel einen Verbündeten ins Boot geholt, der ihm hilft, den gewichtigen Vorwurf der Reduktion von Normativität auf Sozialität abzuwehren.⁶²
5.2.5 Die Wahrheit der Logik: Movens, Ziel und Neuanfang (1) Hegel beschließt die Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ mit Ausführungen zum Begriff der Wahrheit. Abermals dient ihm dabei die Kritik der reinen Vernunft als Anhaltspunkt und Kontrastfolie. Hegel wiederholt seine generelle Einschätzung, dass Kant zwar den richtigen Weg eingeschlagen, ihn sich aber auch selbst wieder verbaut habe. Die Einsicht in die alles entscheidende Rolle der auf Objektivität gehenden Synthesisleistung des Subjekts sei Kants große Leistung, fatal hingegen die Bindung an die Sinnlichkeit als Stofflieferantin. Dieser letzte Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ bietet Aufschluss über den normativen Charakter der Logik sowie ihr Verhältnis zur Realphilosophie. Die Aufgabe, „das Ve r h ä l t n i ß […] des B e g r i f f s und s e i n e r W i s s e n s c h a f t zur W a h r h e i t selbst“ (GW 12,23 | Z. 32 f.) zu bestimmen, ist eine direkte Folge aus den vorherigen Ausführungen über die Selbstgenügsamkeit der inferentialistischen Vernunft. Hegel geht wie Kant von der klassischen Definition aus, nach der Wahrheit „die Uebereinstimmung der Erkenntniß mit ihrem Gegenstande sey“ (GW 12,26 | Z. 7 f.).⁶³ Diese Definition sei „von grossem, ja von dem höchsten Werthe“ (GW 12,26 | Z. 8 f.). Wie Hegel in zwei Durchgängen erläutert, sind beim Einsatz dieser Definition freilich Missverständnisse auszuschließen. Die beiden Durchgänge münden jeweils in Reflexionen darauf, was die Logik sein und leisten soll – sowie darauf, was sie nicht leisten kann. Hegel beginnt den ersten Durchgang mit dem Rückgriff auf das, was zuvor anhand der transzendentalen Deduktion dargelegt worden ist. Objekte erhalten ihre jeweilige „Einheit […] d u r c h d i e E i n h e i t d e s S e l b s t b e w u ß t s e i n s“ (GW 12,23 | Z. 35 f.). Subjektivität bewirkt Objektivität, einen anderen Weg gibt es nicht: „Die O b j e c t i v i t ä t d e s D e n k e n s ist also hier bestimmt ausgespro-
Man könnte also die (in der Einleitung zitierte) generell zutreffende Bemerkung von Dina Emundts, dass es Brandom bei der Verteidigung seiner eigenen Position „letztlich egal sein“ könne, ob er „Hegel immer gerecht“ werde, abwandeln und sagen, dass es Brandom, wenn er seine Position in dieser speziellen Frage wirklich verteidigen will, doch nicht egal sein sollte, was Hegel dazu beizutragen hat. Die Ausweisung dieser Definition als „klassisch“ gilt mit eingeschränktem Recht: vgl. dazu 6.1.2.
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chen, eine Identität des Begriffs und des Dinges, welche die W a h r h e i t ist“ (GW 12,23 | Z. 36 – 38). Wahrheit ist die Chiffre für die kraft Subjektivität erzeugte Objektivität, für getanes, erfolgreiches Begreifen, so wie es in 5.2.3 beschrieben worden ist. Sie bemisst sich nicht an dem, was vorliegt, so als ob darin schon alle Eigenheit enthalten wäre. Das, was vorliegt, wird vielmehr einer „Veränderung“ unterzogen, indem es „aus einem sinnlichen zu einem gedachten gemacht“ (GW 12,24 | Z. 1) wird. Aber durch diese „Veränderung“ wird der Gegenstand nicht etwa verfehlt – es ist nicht eine Veränderung, wie Hegel sie in der Einleitung der Phänomenologie angesichts der Vorstellung vom Erkennen als einem Werkzeug kritisiert hat (vgl. dazu oben 3.2.1). Vielmehr wird der Gegenstand gerade durch diese in der Logik beschriebene Veränderung in seiner Eigenheit erkannt und gewürdigt. Denn er wird begriffen. Er wird in die ursprünglich-synthetische Einheit des Selbstbewusstseins integriert. Er wird in den Raum der Gründe gestellt. Auf diese Weise wird, Schritt für Schritt, Wahrheit produziert. Ganz ähnlich argumentiert Hegel im zweiten Durchgang bezüglich des geforderten „Criterium[s] der Wahrheit“ (GW 12,26 | Z. 36). Dies besteht nicht in einem vorliegenden „Inhalt“ (GW 12,26 | Z. 35) jenseits des Begreifens, sondern, formuliert in Treue zu der klassischen Wahrheitsdefinition, in der „U e b e r e i n s t i m m u n g“ (GW 12,26 | Z. 34) von Inhalt und Begriff durch die begreifende Integration in die Einheit des Selbstbewusstseins. Soweit wäre Kant eigentlich gekommen – wenn er nicht immer wieder in sein Mantra verfallen wäre, dass „w i r [ … ] d i e D i n g e d o c h n i c h t e r k e n n e n [ k ö n n e n ] , w i e s i e a n u n d f ü r s i c h s e y e n“ (GW 12,24 | Z. 7 f.), dass „d i e W a h r h e i t [ … ] f ü r d i e e r k e n n e n d e Ve r n u n f t u n z u g ä n g l i c h“ (GW 12,24 | Z. 9) sei. Hegel scheint sich dieses Defizit letztlich nur durch den Gemütszustand des Königsberger Philosophen erklären zu können: An der à priorischen S y n t h e s i s des Begriffs hatte Kant ein höheres Princip, worin die Zweyheit in der Einheit, somit dasjenige erkannt werden konnte, was zur Wahrheit gefodert wird; aber der sinnliche Stoff, das Mannichfaltige der Anschauung war ihm zu mächtig, um davon weg zur Betrachtung des Begriffs und der Kategorien a n u n d f ü r s i c h , und zu einem speculativen Philosophieren kommen zu können. (GW 12,27 | Z. 11– 16)
Die Missverständnisse bei der Rede von „Wahrheit“, die Hegel in zwei Durchläufen ausschließen möchte, liegen also nahe beieinander. Es handelt sich um Variationen des empiristischen Mythos des Gegebenen, der von einem vorliegenden fertigen Inhalt ausgeht, dem sich der Geist anzupassen habe – mit der skeptizistischen Konsequenz, dass dies nie vollends und damit eigentlich gar nicht funktionieren könne, weil immer etwas Fremdes, Unbegreifliches außerhalb des Begreifens übrig bleibe. Im Kontrast dazu entwickelt Hegel einen anderen Begriff von „Wahrheit“. Dieser klebt nicht an einem vermeintlich gegebenen In-
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halt, sondern ist rückgebunden an die Forderung und die Tätigkeit begrifflicher Synthesis. Bezüglich dieser Frage ziehen Phänomenologie und Logik tatsächlich an einem Strang, denn das normativ-pragmatistische Verständnis von Wahrheit, das dort anhand der Rede vom Maßstab im Erfahrungsprozess wirksam war und das von Brandom in seine eigene Theorie eingebaut worden ist (vgl. 3.2.1), kommt nun auch hier zum Zuge. „Wahrheit“ ist kein unerklärter Erklärer, den man sich von außen vorgeben lassen müsste, sondern ist selbst das Ergebnis eines Prozesses der Integration in die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins, das Ergebnis des Prozesses des Begreifens. Dieses Konzept der „Wahrheit“ ist ein normatives Konzept, denn es bezeichnet eine Forderung. Es ist ebenso ein pragmatistisches Konzept, weil es nur ausgefüllt werden kann, wenn jene Forderung in die Tat umgesetzt wird. Die Formulierung, die Brandom mit Blick auf Kants Synthesis-Lehre verwendet (vgl. oben 2.2), kann ohne Einschränkung auf Hegels Begriffslogik bezogen werden: „Wahrheit“ ist der Aufruf und das Kennzeichen für „a task-responsibility, a commitment to do something“⁶⁴. Bei der Rede von Normativität geht es nicht, so ist in dieser Arbeit mehrfach betont worden, um einen Primat der praktischen über die theoretische Vernunft. Einen solchen Primat, der in seinen Augen die Philosophie als ganze deformiert, hat Hegel stets kritisiert.⁶⁵ Vielmehr geht es um den Motor des logischen Prozesses selbst, um den Antrieb, ohne den das Ziel der Logik nicht erreicht werden kann. Auf diese antreibende Normativität hat auch Michael Theunissen treffend hingewiesen.⁶⁶ Er spricht „mit Bedacht recht unhegelisch“ von einem „normativen Ideal“ der Logik, welches „hegelnäher ausgedrückt“ nichts anderes als „Wahrheit“⁶⁷ bedeute. Zwar scheine Hegel großen Wert auf den Wahrheitsbegriff zu legen. Aber gerade „sein inflationärer Gebrauch“ verrate, „daß die spekulative Logik einen spezifischen Wahrheitsbegriff nicht ausgearbeitet hat“⁶⁸. Vielleicht kann man es noch besser so sagen: Hegel arbeitet einen spezifischen Wahrheitsbegriff heraus, aber dessen Spezifikum besteht darin, eigentlich für etwas anderes zu stehen.Wahrheit ist ein Derivat von Normativität. Sie ist Ergebnis einer normativ geregelten Tätigkeit. Das gilt für Hegel wie für Brandom.⁶⁹
Brandom, Reason in Philosophy, 38. Vgl. z. B. seine abweisenden Bemerkungen über den exzessiven Einsatz des „Sollens“ bei Kant und Fichte in GW 21,110 – 123. Wie ich unter 5.2.2 erwähnt habe, beurteile ich andere Aspekte seiner Deutung der Logik als nicht treffend. Theunissen, Sein und Schein, 44. Theunissen, Sein und Schein, 45. Es gilt auch für Anselm, wie in Kapitel 6 zu sehen sein wird.
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(2) Die beiden Durchläufe, in denen Hegel den Wahrheitsbegriff zugleich prominent macht und relativiert, münden jeweils in Reflexionen darüber, was die Logik sei und wohin sie führe. Mit ihnen greift er bereits auf das letzte Kapitel der Wissenschaft der Logik über die „absolute Idee“ aus. Die Logik enthält die Wahrheit nicht wie eine Sache, wie einen Besitz. Vielmehr hat sie an ihrem Ende dem normativen Anspruch an sich selbst ganz entsprochen. Die Einsicht in die Normativität, welche die Logik motiviert, in ihr wirksam ist und durch sie artikuliert wird, bedeutet dann gerade nicht, dass alle Aktivität zum Stillstand kommen würde. Die „absolute Idee“ am Ende der Logik ist das Gegenteil eines Abschlusses. Denn sie ist nichts anderes als „absolute Form“ (GW 12,250 | Z. 11) bzw. „absolute Methode“ (GW 12,249 | Z. 30). Sie ist aus dem gesamten Verlauf der Logik „als d e r s i c h s e l b s t w i s s e n d e , s i c h als das Absolute, sowohl Subjective als Objective, z u m G e g e n s t a n d e h a b e n d e B e g r i f f , somit als das reine Entsprechen des Begriffs und seiner Realität, als eine Existenz die er selbst ist, hervorgegangen“ (GW 12,238 | Z. 2– 5). Auf diese Thematik des letzten Kapitels der Logik verweist Hegel am Ende der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“, wenn er auch dort bereits die Logik als die „Wissenschaft der a b s o l u t e n F o r m“ (GW 12,25 | Z. 32 f.) bezeichnet. Als absolute Methode ist die Idee in zwei Richtungen wirksam. Sie ist zum einen im buchstäblichen Sinne rückwirkend. Am Ende der Logik wird offenbar, dass die Idee der normative Maßstab war, der den ganzen Entwicklungsgang angetrieben hat. Deshalb kann am Ende der Logik der Anfang der Logik beim unmittelbaren Sein als nachträglich gerechtfertigt bezeichnet werden. Denn das pure Dass des Anfangs ist ganz und gar in den Prozess der begreifenden Umwandlung und Bestimmung hineingezogen worden. Wenn das Ende der Logik erreicht worden ist, dann ist mit ihm noch einmal „ein neuer Anfang“ gemacht. Auf diese Rückwirkung der Logik auf sich selbst kommt Hegel in der Tat erst ganz am Ende seines Buches zu sprechen (vgl. GW 12,249 – 253).⁷⁰ Zum anderen ist die Idee als absolute Methode vorauswirkend, und diesen Aspekt unterstreicht Hegel in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“. Die Reflexion auf die Idee als das Ende der Logik bedeutet, das Verhältnis der Logik zu den „W i s s e n s c h a f t e n d e r N a t u r u n d d e s G e i s t e s“ (GW 12,25 | Z. 20) in den Blick zu nehmen. „Gegen diese concreten Wissenschaften“ (GW 12,25 | Z. 29 f.), das heißt: im Verhältnis zu ihnen, in Bezug auf sie, sei die Logik absolute Methode. Nach dem vorherigen Abschnitt, in dem es um die Selbstgenügsamkeit der inferentiellen Vernunft ging, hält Hegel konsequenterweise daran fest, dass die Logik aufgrund
Diese rückwirkende Perspektive wird starkgemacht bei Nuzzo, Angelica, The End of Hegel’s Logic. Absolute Idea as Absolute Method, in: Carlson, Hegel’s Theory of the Subject, 187– 205.
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ihrer Unabhängigkeit vom sinnlichen Stoff nicht etwa inhaltsleer und irreal sei. Wenn die „Logik die Wissenschaft der absoluten Form ist, so muß diß Formelle, d a m i t e s e i n W a h r e s s e y e , an ihm selbst einen I n h a l t haben“ (GW 12,27 | Z. 17 f.). Logische Selbstgenügsamkeit bedeutet jedoch nicht Ignoranz. Die Logik lässt, eben weil sie so ist, wie sie ist, Freiraum für Naturphilosophie und Geistphilosophie: „Diese concreteren Wissenschaften treten allerdings zu einer reellern Form der Idee heraus als die Logik“ (GW 12,25 | Z. 20 f.). Die Logik „könne und solle“ (GW 12,25 | Z. 19) hier nicht vortäuschen, der Realphilosophie das Wasser abzugraben. Diese hat sich in der Tat dem Gegebenen oder besser: dem Gewachsenen und Gemachten in Natur und Kultur zu widmen. Allerdings darf sie dabei nicht so tun, als ob es keine Logik gäbe, um sich in vorgeschützter Naivität dem Gegebenen gänzlich in die Arme zu werfen. Die Realphilosophie sei vielmehr, so sagt es Hegel, die Konsequenz, die sich aus der Logik ergibt, aus der „Erhebung der I d e e zu der Stuffe, von daraus sie die Schöpferin der Natur wird und zur Form einer c o n c r e t e n U n m i t t e l b a r k e i t überschreitet, deren Begriff aber auch diese Gestalt wieder zerbricht, um zu sich selbst, a l s c o n c r e t e r G e i s t , zu werden“ (GW 12,25 | Z. 26 – 29). Ähnlich wie im allerletzten Absatz der Wissenschaft der Logik, wo davon die Rede ist, „daß die Idee sich selbst f r e y e n t l ä ß t , ihrer absolut sicher und in sich ruhend“ (GW 12,253 | Z. 22 f.), um zunächst zur Natur überzugehen und sich dann zum Geist zu erheben, greift Hegel hier zu einer poetisch-drastischen Sprache, die mehr kaschiert, als sie verdeutlicht.⁷¹ In Wirklichkeit geht es nämlich um ein äußerst nüchternes Ergebnis. Das Ergebnis, das am Ende der Logik erreicht und am Ende der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ vorweggenommen wird, besteht in der Selbstrelativierung der selbstgenügsamen Logik. Die These von der Einheit von Subjektivität und Objektivität in der Idee bedeutet schlicht, dass die Welt begreifbar ist. Völlig konsequent folgt dann aus der Vollendung der Logik der „A n f a n g e i n e r a n d e r n S p h ä r e u n d W i s s e n s c h a f t“ (GW 12,253 | Z. 8 f.). Die Logik ist kein Selbstzweck, sondern sie wird, nachdem sie die strukturelle Einheit von Denken und Wirklichkeit und damit die Erkennbarkeit der Welt dargelegt hat, zur Methode für die Realphilosophie. Wenn Hegel absolute Idee sagt, dann hat er Realphilosophie gesagt. Am Ende der Logik geht er eine Selbstverpflichtung ein, und direkt im Anschluss an das Erscheinen der subjektiven Logik beginnt er sie einzulösen, wenn er im Wintersemester 1816/17 seine Lehrtätigkeit in Heidelberg mit Vorlesungen über die Enzyklopädie beginnt.
Für eine Kritik an der Verwendung der genannten Metaphern, die zu einer theistischen Interpretation der absoluten Idee verleiten könnten, vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 232 f.
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(3) Es ist also durchaus möglich, Brandoms normativ-pragmatistische Lesart zu adaptieren und fortzuführen, um sich Stellen aus Hegels Text zu erschließen, die Brandom nicht konsultiert hat. Abermals kann ein so gelesener Hegel aber auch eingesetzt werden, um gewisse Punkte in Brandoms Theorie zu korrigieren. Darauf sei abschließend der Fokus gerichtet. Wie dargelegt erfüllt „Vom Begriff im allgemeinen“ die Funktion einer Passage zwischen der objektiven und der subjektiven Logik. Aus der objektiven Logik herkommend, geht sie von einer monistischen Konzeption der Wirklichkeit aus, die zugleich in sich differenziert ist. Diese Konzeption wird in der Passage so erweitert, dass die eine in sich differenzierte Wirklichkeit begreifbar ist. Zu dem Zweck, diese Begreifbarkeit zu erläutern, ist die gesamte folgende subjektive Logik da. Konkret geschieht der Übertritt von der objektiven in die subjektive Logik durch die Zusammenführung des Begriffs der Substanz mit demjenigen des Subjekts bzw. des Begriffs, d. h. in der Diskussion von Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Mit ihr wird verdeutlicht, dass die Lösung nur in der Erzeugung von Objektivität kraft Subjektivität bestehen kann. Begreifen ist etwas, das zu tun ist. Es besteht in der Integration neuer Verpflichtungen in die Einheit des Selbstbewusstseins. Über Kant hinaus betont Hegel, dass nicht nur Subjekte diese Tätigkeit ausüben, sondern dass es die Begriffe selbst sind, die aktiv handeln und sich so bestimmen. Die Normativität des Begrifflichen manifestiert sich in ihrer Selbstanwendung. Sie ist sich selbst ihr eigener Maßstab, ihr eigenes „normatives Ideal“, welches Hegel „Wahrheit“ oder „Idee“ nennt. Wenn die Logik dies alles ausbuchstabiert und begriffliche Normativität als die Natur des Subjektiven wie des Objektiven, die beide nur gemeinsam zu haben sind, dargelegt hat, dann verpflichtet sie dieselbe begriffliche Normativität dazu, sich nicht mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Vielmehr verpflichtet sie dazu, die erarbeiteten begrifflichen Strukturen an all das anzulegen, was faktisch gegeben zu sein scheint, um auch dieses – die Auswüchse von Natur und Kultur – zu begreifen und zu gestalten. Am Ende der Logik steht ein nüchterner Imperativ des Begrifflichen an sich selbst: Geh raus und bearbeite, so gut es geht, die Welt um dich herum! In dieser Perspektive erklärt sich, warum auch die Realphilosophie – und zwar die ganze, nicht nur ein Teil von ihr – normativ gelesen werden kann. Jener logische Imperativ steht vor der Realphilosophie, um in ihr wirksam zu werden. Hier haben wir also eine erneute Antwort, direkt von Hegel, auf die von Gardner aufgebrachte Problematik des Verhältnisses von Natur und Normativität (vgl. 1.1 sowie 3.1.2, 3.2.2 und 3.2.3). Um Natur beschreiben und verstehen zu können, muss Normativität vorausgesetzt werden. Das bedeutet nicht, dass die Natur von einem göttlichen Geist geschaffen werden müsste, wie Gardner es bei Hegel zu finden meint. Stattdessen kann Brandoms Rede davon, dass er mit Hegel
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einen Idealismus des Sinns, nicht der Referenz vertrete, zur Anwendung gebracht werden. Auch Hegels Bild, dass die Idee zur „Schöpferin der Natur“ werde, ist dem Sinn, nicht der Referenz nach zu verstehen: Die Idee ruft nicht die Existenz der Natur hervor; aber ohne die Idee ist nichts an der Natur zu begreifen. Das halte ich für eine plausible Lesart des Finales der Logik, durch die ein dritter Weg diesseits der schlechten Alternative von Naturalismus und Supranaturalismus möglich wird. Mit dem Ende von Hegels Logik bzw. mit dem letzten Abschnitt der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ lassen sich nun zwei Korrekturen an Brandoms Position anbringen. Zum einen ist mit Blick auf die Problematik, die den Ausgangspunkt für dieses Kapitel 5 darstellt, nochmals zu betonen, dass es gerade die Differenz von Logik und Realphilosophie ist, mit der die irreduzible Normativität des Begrifflichen verteidigt werden kann. Diese kommt nicht erst nachträglich durch intersubjektive Anerkennungsprozesse hinzu, sondern sie liegt ihnen voraus und ist in ihnen bereits wirksam. Logische Normativität hat keinen anderen Ursprung, auf den sie zurückgeführt werden könnte, sondern sie ist der Ursprung ihrer selbst wie aller realphilosophischen Begriffsverwendung. Zum anderen bieten Hegels Ausführungen über die Idee die Möglichkeit, die im Modus einer Kritik vorgetragenen Überlegungen Brandoms zu Hegels System (vgl. 3.2.4) einzuordnen und ins Produktive umzuwenden. Brandoms Hauptkritikpunkt besteht darin, dass Hegel treffende Gedanken über empirische Begriffe angestellt habe, deren Reich unerschöpflich sei, während die logischen Begriffe bei Hegel ein festes, statisches Set ausmachten. Hegel sei ein starker semantischer Pessimist bezüglich empirischer Begriffe, was zu begrüßen sei, aber ein starker semantischer Optimist bezüglich logischer Begriffe, was zu verwerfen sei, wenn man mit seinem geschlossenen System der alltäglichen Praxis nicht die Luft abschnüren wolle. Wie bereits angemerkt, hat Brandom keine Belegstellen für diese Zweigleisigkeit Hegels angeführt, sieht man von seinen Verweisen auf die Rede vom absoluten Wissen ab, welches er mit der absoluten Idee gleichsetzt.⁷² Nach der Lektüre der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ mit ihrem Verweis auf das Kapitel über die „absolute Idee“ ist es derweil so, dass wir eigentlich über eine Belegstelle verfügen, die viel eher Hegels Kritik an einem fixen, abgeschlossenen System verdeutlicht als dessen Festschreibung. Denn die absolute Idee, von der dort die Rede ist, fingiert gerade keinen Abschluss, der das Set der logischen Begriffe zum Gefrieren brächte. Es handelt sich lediglich um den, um es so zu sagen, kurzen Augenblick, an dem die Logik den Atem anhält, weil die Normativität des Begrifflichen den Mythos des Gegebenen gänzlich hinter sich gelassen
Vgl. Brandom, Reply to Falkenroth, Karakus, Schweikard, 180.
5.3 Zwischenfazit: von Brandom zu Hegel und zurück
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hat – nur um sogleich dazu anzutreiben, sowohl die Logik noch einmal neu durchzugehen als auch endlich mit der Realphilosophie ernst zu machen. Die absolute Idee am Ende der Logik bezeichnet die Einsicht in deren eigene Unabgeschlossenheit. ⁷³ So viel „Deflationismus“ sollte man Hegel also zutrauen, wenn man ihn als normativ-pragmatistischen Metaphysiker verstehen möchte. Wenn die absolute Idee die Unabgeschlossenheit der Logik markiert, dann ist in diesem Sinne auch die Rede davon zu verstehen, dass die Vernunft konstitutiv und nicht bloß regulativ sei. Konstitutiv heißt nicht totalitär. Gerade weil konstitutive Erkenntnis bzw. Begreifen möglich ist, kann und soll die Forschungsarbeit nicht zu Ende sein, sondern weitergehen. Und in diesem Sinne ist ebenfalls Hegels Kritik am „unendlichen Progress“ zu verstehen, die er in der Logik immer wieder vorträgt (vgl. insbesondere GW 21,137– 142 bzw. GW 11,83 – 85) und aus der sich schließlich, als Ergebnis des Teleologie-Kapitels, der Begriff der Idee ergibt. Gegenüber der äußeren Zweckmäßigkeit, die gerade nicht zu Zwecken, sondern immer nur zu neuen Mitteln gelangt „und so fort ins unendliche“ (GW 12,168 | Z. 24), ist die „Idee“ durch ihre Selbstbezüglichkeit charakterisiert. Ebenso betont Hegel, dass die absolute Idee als absolute Methode gerade im Gegensatz zu einem unendlichen Progress verstanden werde solle (vgl. GW 12,249 | Z. 29 – 31). Das muss aber eben nicht heißen, dass mit der absoluten Idee alle Begriffe festgeschrieben würden. Vielmehr ist die Selbstbezüglichkeit, die Selbstanwendung die entscheidende Pointe. Die Ablehnung des unendlichen Progresses ist die Weigerung, von vornherein skeptizistisch die Waffen zu strecken, weil man ohnehin nie ans Ziel, zum Begreifen gelangen könne.⁷⁴ Daraus folgt nicht, dass man auch behaupten müsste – oder dass Hegel diese Behauptung aufgestellt hätte –, dass er oder irgendjemand sonst, sei es Mensch oder Gott, alles schon begriffen hätte. Die absolute Idee als absolute Methode – als Normativität, die sich immer wieder von neuem auf sich selbst anwendet – ist das Gegenteil eines solchen begrifflichen Stillstands.
5.3 Zwischenfazit: von Brandom zu Hegel und zurück In diesem Kapitel bin ich von der Diagnose eines Defizits in Brandoms an Kant und Hegel orientierter Theorie der Begriffsverwendung ausgegangen und habe auf sie mit einer textnahen Interpretation von Hegels Passage „Vom Begriff im Vgl. in diesem Sinne auch Pippin, Hegel’s Idealism, 257. Vgl. nochmals die Formulierungen aus der Phänomenologie, die auch Brandom so lieb sind: die Kritik daran, dass „diese Furcht zu irren schon der Irrthum selbst ist“, und dass „das, was sich Furcht vor dem Irrthume nennt, sich eher als Furcht vor der Wahrheit zu erkennen gibt“ (GW 9,54).
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5 Irreduzible Normativität? Auftakt zu einer Lektüre von Hegels subjektiver Logik
allgemeinen“ aus der Wissenschaft der Logik reagiert. Dem Anspruch eines systematischen Umgangs mit Positionen aus der Philosophiegeschichte im Sinne Emundts’ gemäß haben sich dabei Einsichten und Argumente sowohl mit Blick auf Hegel als auch mit Blick auf die durch Brandom markierte aktuelle Debatte über den normativen Charakter des Begrifflichen und seine anti-naturalistische, metaphysische Bedeutung ergeben. Diese Ergebnisse sollen nun nochmals gesichert werden. In Hegels in vier Abschnitte gegliedertem Text wird zuerst aus der Analyse des Substanzbegriffs der terminus technicus des Subjekts bzw. des Begriffs als eine metaphysische Struktur der Einheit von Selbst- und Fremdbezug generiert. Im zweiten Schritt wird dieser terminus technicus mit einem aus der Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Deduktion gewonnenen Begriff des Subjekts bzw. Begriffs zusammengeführt. Jene metaphysische Struktur wird somit auf eine logische Funktion festgelegt: der Gewährleistung von Objektivität durch normative Tätigkeit. Im dritten Abschnitt beharrt Hegel auf der Vorordnung dieser Analyse vor realphilosophischen Instanzen von Subjektivität, seien sie individualpsychologisch oder intersubjektiv verstanden. Schließlich präsentiert er mit dem Ausblick auf die absolute Idee die Abrundung seines Normativitätsmonismus, die zugleich eine Selbstrelativierung der Logik und die Öffnung für die realphilosophische Arbeit bedeutet. Der weite Bogen, den Hegel auf diesen wenigen Seiten spannt, berechtigt dazu, die Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ pars pro toto gelten zu lassen und ihre Interpretation in einem starken Sinn als Auftakt zu einer Lektüre der gesamten subjektiven Logik zu verstehen (also nicht nur, weil sie an ihrem Anfang steht und man üblicherweise von vorne zu lesen beginnt). Andrea Kern hat gegenüber Brandoms ursprünglichem Entwurf eingefordert, den Übergang von Kant zu Hegel nicht als Unterordnung des kantischen Subjekts unter eine vermeintlich hegelianische Konzeption von Intersubjektivität, sondern als Radikalisierung der Einsicht in die irreduzible Funktion des Subjekts für die Erklärung von Intentionalität und Objektivität zu verstehen. In meiner Lektüre habe ist diese Forderung eingelöst und Hegels Kantianismus verdeutlicht. Meines Erachtens sind es mindestens drei Einsichten, die aus der Interpretation von Hegels Text in die aktuelle Debatte eingespeist werden können. Sie hängen alle mit dem Vorwurf zusammen, dass in den Entwürfen Brandoms (und anderer) Normativität auf Sozialität bzw. auf faktisches intersubjektives Geschehen reduziert werde. Sie antworten auf diese Situation, ohne dem normativen Pragmatismus eine prinzipielle Absage zu erteilen. Die erste Einsicht besteht in Hegels eigentlicher Subjektphilosophie, die er in der untersuchten Passage mit raschen, aber präzisen Strichen entwirft (vgl. 5.2.3). Ausgerechnet Hegel, dem gern unterstellt wird, dass er ein monologisches, all-
5.3 Zwischenfazit: von Brandom zu Hegel und zurück
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gemeines bzw. absolutes Subjekt vor Augen habe, das sich alles Einzelne unterwirft und auffrisst, präsentiert hier ein bescheidenes Konzept des Subjekts, mit dem freilich zugleich dessen Unverzichtbarkeit unterstrichen wird. Denn Hegel betont – mit Kant gegen Kant über Kant hinaus –, dass zur ontologischen Verfasstheit des „Subjekts“ beides gehört: transzendentales Subjekt zu sein, notwendig für jede Form objektiver Erkenntnis, und individuelle Persönlichkeit, die durch ihre Einzelheit – und damit auch Andersheit gegenüber anderen – charakterisiert ist. Mit monologischen Allmachtsphantasien hat das also nichts zu tun. Diese Betonung der Irreduzibilität des transzendentalen Subjekts zusammen mit der Unvertretbarkeit der individuellen Persönlichkeit ist allerdings auch ein Veto gegen eine Überbewertung der allein mit der Kategorie des Allgemeinen identifizierten Intersubjektivität, wie sie bei Brandom zu beobachten war. Mit der ersten ist die zweite Einsicht verbunden, nämlich der Perspektivenschwenk von Subjektivität auf Objektivität, und zwar Objektivität im logischen wie realphilosophischen Sinne. Es ist immer wieder betont worden, dass die Auszeichnung des Subjekts nicht auf Kosten des Wegs zur Objektivität geht, der wie herausgestellt für Brandoms Inferentialismus entscheidend ist, sondern dass Hegels Einsatz des Subjekts im Gegenteil auf Objektivität hin finalisiert ist. Mit Kant ist Hegel der Auffassung, dass Objektivität nur kraft der begrifflich-normativen Tätigkeit des Subjekts zu erzeugen ist, freilich verbunden mit der Kritik an Kants Unterscheidung von Erkennen und Begreifen und an der vermeintlichen Unerreichbarkeit der Wahrheit über die Dinge an sich. Nicht nur unser Denken, sondern auch die Welt ist begrifflich gegliedert. Die Welt ist verständlich, weil sie sich verständlich machen lässt. Diese Gedanken hat Brandom zurecht bei Hegel entdeckt, wenn auch mit Bezug auf andere Stellen in seinem Werk, und hat sie unter den Titeln „Begriffsrealismus“ und „objektiver Idealismus“ konzeptualisiert. In dem von mir interpretierten Text schwenkt Hegel mittels dieser Einsicht von einer Subjektphilosophie in die subjektive Logik ein, der es darum geht, die prinzipielle Verständlichkeit der Welt in ihren Grundzügen auszuweisen. In mehrfacher Hinsicht verdeutlicht Hegel dabei, dass in diesem Kontext unter Normativität etwas zu verstehen ist, das nicht auf Sozialität bzw. Intersubjektivität zu reduzieren ist. Dies geschieht zum einen durch die explizite Unterscheidung und Aufgabenteilung von Logik und Realphilosophie, zum anderen durch die Ausrichtung der Logik auf die absolute Idee, die als normativer und selbstkritischer Motor der Realität des Begrifflichen fungiert. Wie in Teil 1 herausgearbeitet wurde, hat Brandom unter dem Titel „Begriffsidealismus“ mit der Einheitsfigur der absoluten Idee operiert. Seinen durch Hegel inspirierten Normativitätsmonismus hat er allerdings mit der Ablehnung eines geschlossenen Systems verbunden, das er bei Hegel vorzufinden meint. Meine Lektüre der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ erlaubt hingegen, den
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5 Irreduzible Normativität? Auftakt zu einer Lektüre von Hegels subjektiver Logik
normativen Zug hin zur absoluten Idee gerade als Kritik an einem abgeschlossenen Begriffssystem zu verstehen. Die Idee am Ende der Logik ist Abschlussfigur und Selbstrelativierung zugleich. Sie steht in der Tat für einen Normativitätsmonismus. Dieser ist aber gerade nicht totalitär, sondern fordert die Unterscheidung von Logik und Realphilosophie sowie den Übergang zur Arbeit an Letzterer. Revisionäre Metaphysik bedeutet nicht den Verlust der endlichen, bedingten Gestalten unseres Lebens und Zusammenlebens. Der selbstgenügsame Inferentialismus hat Platz für mehr als nur für Logik. Er hat beispielsweise Platz für eine praktische Philosophie und echte Gesellschaftstheorie – die Gestalten des „objektiven Geistes“ –, deren Ausfall bei Brandom mehrfach angesprochen worden ist. Damit sind wir beim dritten Punkt, den ich festhalten möchte. Normativität nicht auf das Derivat eines faktischen intersubjektiven bzw. sozialen Geschehens zu reduzieren, sondern Normativität als Normativität zu verteidigen, muss offensichtlich nicht bedeuten, gar nicht mehr über Intersubjektivität und gesellschaftliche Realitäten nachzudenken. In 5.2.2 ist auf die logische Protoform der Anerkennung hingewiesen worden, die sich aus der Analyse des Substanzbegriffs ergibt. Sie kann als Grundlage dienen, diese Struktur auch in faktischen intersubjektiven Zusammenhängen zur Geltung zu bringen. Dieser Aspekt geht also nicht verloren.⁷⁵ Wenn sich bereits in der Logik herausgestellt hat, dass „absolute Macht“ ein in sich widersprüchlicher Begriff ist, ist für eine Gesellschaftstheorie schon einiges gewonnen. Ähnliches gilt mit Blick auf einen Begriff von Freiheit als Unverschlossenheit und Beziehungsfähigkeit, der aus der Kritik an einem Konzept von Freiheit als Willkür entwickelt worden ist. Es sollte die „große Bewährungsprobe“⁷⁶ für Brandoms Hegel-Interpretation darstellen, welchen Sinn der Lehre von der Idee abzugewinnen sei, in die die Theorie über das Wesen des Begrifflichen mündet. Mit Kapitel 5 habe ich es unternommen, diesen Test auf dem Wege einer systematischen Interpretation durchzuführen. Nicht mehr Brandoms Texte zu Kant und Hegel standen dafür im Mittelpunkt, sondern ein Text von Hegel über seinen logischen Kantianismus. Diese Lösung von Brandoms Vorgehen und dieser Neueinsatz mit Hilfe eines klassischen Textes aus der Philosophiegeschichte ermöglichen es, in die aktuelle Debatte modifizierend einzugreifen, um das Projekt des normativen Pragmatis-
Es bleibt freilich die Differenz, dass sich die logische Protoform von Anerkennung in der Analyse des Substanzbegriffs notwendig ergibt, während der faktische Kampf des Anerkennens zwischen verschiedenen Subjekten auch scheitern kann – mit all den pathologischen Folgen, die Honneth ausführlich untersucht hat. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, 312.
5.3 Zwischenfazit: von Brandom zu Hegel und zurück
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mus samt seinen metaphysischen Konsequenzen gegenüber dem Vorwurf einer Reduktion von Normativität auf Sozialität bzw. Intersubjektivität abzusichern. Meine Auslegung dessen, was Hegel mit der absoluten Idee vorhat, ist weit davon entfernt, „rechtshegelianisch“ zu sein. Sie setzt vielmehr Brandoms diesbezügliche Kritik fort, die am Ende von Kapitel 3 thematisiert worden ist. Diese Problematik soll aber noch ausführlicher bedacht werden. Man könnte ja sagen, dass der in dieser Arbeit bisher zurückgelegte Weg von einem normativen Pragmatismus hin zu einer revisionären Metaphysik den Begriff der Normativität zum Begriff des Absoluten qualifiziert hat. Auf welche Weise lässt sich aber die Differenz einer solchen Position zu einem supranaturalistischen Verständnis absoluter Normativität artikulieren? Der weiteren Bearbeitung dieser Frage ist Kapitel 6 gewidmet.
6 Absolute Normativität? Eine Intervention mit Anselm von Canterbury 6.1 Warum Anselm? 6.1.1 Raum der Gründe, diachron durchschritten Brandoms Methode der rekonstruktiven Metaphysik impliziert die These, dass der „space of reasons“ nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Assoziationen hervorruft. Er wird diachron durchschritten: Ein Argument folgt auf ein anderes. Unter dieser Rücksicht hat Brandom Hegels Konzept der „Erfahrung“ gewürdigt, in dem erstmals ein solcher zeitlicher, geschichtlicher Prozess des zugleich epistemischen wie semantischen Fortschritts gefasst worden sei. Brandoms eigenes Beispiel, das er für diesen diachronen Prozess der Begriffsschärfung verwendet, ist das der Kette der Richtersprüche im angelsächsischen common law. Diese Konzeptualisierung der diachronen Dimension des Raums der Gründe macht es Brandom möglich, die Geschichte zu erzählen, der ich in Teil 1 dieser Arbeit gefolgt bin. Es ist die Geschichte des Inferentialismus in der modernen Philosophie. Ihr zufolge wurde der Inferentialismus von Descartes angestoßen, von Kant durch die normative Wende auf das entscheidende Niveau gebracht und schließlich von Hegel so bearbeitet und zugespitzt, dass der Schritt in unsere eigene Gegenwart möglich wird. Diese Geschichte ist so stilisiert, dass sie zur Vorgeschichte von Brandoms eigener Philosophie wird. Bei allen Einsichten, die Brandom positiv zu vermitteln versteht, irritiert sein Gestus der Selbstinszenierung. Dina Emundts und Andrea Kern haben die Indienstnahme der Philosophiegeschichte zum Zwecke einer fragwürdigen Teleologie sowie die damit einhergehende Lernresistenz gegenüber dem, was an den diskutierten Positionen wirklich anders ist, mit Nachdruck kritisiert (vgl. 1.2). Dieser Kritik schließe ich mich mit den folgenden Ausführungen an, indem ich eine uns heute tatsächlich ziemlich fremde Position ins Spiel bringe. Brandom hat sehr zügig die Grenzlinie zwischen der modernen und der vormodernen Epistemologie festgelegt. Zwischen Descartes und dem, was man das Mittelalter nennt, verläuft für ihn ein tiefer Graben. Sei es zuvor darum gegangen, inwieweit eine Ähnlichkeit zwischen dem einzelnen Gegenstand und seinem Abbild in unserem Geist herzustellen sei, gehe es seit Descartes um die Frage, was es überhaupt für ein Wesen heißen könne, Gegenstände zu repräsentieren (vgl. 2.1.1). Brandom hat diese These zwar mit Blick auf Descartes angefangen zu erläutern. Er hat es jedoch nicht für nötig befunden, ein weiteres Wort über mittelalterliche Autoren zu verhttps://doi.org/10.1515/9783110707526-009
6.1 Warum Anselm?
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lieren.¹ Demgegenüber dürfte es angemessen sein, nicht alle Argumente pauschal aus dem Raum der Gründe zu verbannen, die vor Descartes und seiner Zeit ausgetauscht worden sind. Ein solcher Ausschluss könnte bedeuten, das Potential der eigenen Theorie nicht vollends auszuschöpfen. In diesem Sinne stellt also Kapitel 6, in dem ich auf Anselm von Canterbury eingehe, eine Intervention dar, die einen Strich durch Brandoms geschichtsphilosophische Rechnung macht. Ich möchte die Chance nutzen, das Anliegen der rekonstruktiven Metaphysik auch über die Epochengrenze hinweg fruchtbar anzuwenden, um davon für die aktuelle Diskussion zu profitieren. In den Abschnitten, die nun in 6.1 folgen, werde ich darlegen, warum Anselm durch seinen historischen Kontext und die Rolle, die er darin spielt, generell für ein solches Vorgehen in Betracht gezogen werden kann. In 6.2 werde ich auf einen bestimmten Text von Anselm eingehen, nämlich seinen Dialog De veritate. ² Ich werde zeigen, wie Anselm darin Gedanken und Argumente entwickelt, die für die in dieser Arbeit verhandelte Thematik von bemerkenswerter Relevanz sind. Namentlich sind es zwei Thesen, auf die ich ein besonderes Augenmerk verwenden möchte: die These, dass unser Erkennen als eine wesentlich normative Praxis zu verstehen ist, sowie die darauf fußende These, dass sich in diesem Falle auch die Frage nach einer absoluten Normativität stellt, mit entsprechenden metaphysischen Konsequenzen. Wie in Kapitel 5, so soll für Kapitel 6 in Anspruch genommen werden, eine in Emundts’ Sinne systematische Auseinandersetzung mit einem konkreten Zeugnis der Philosophiegeschichte angesichts einer aktuellen Debatte zu leisten. Ich vertraue auf die eigene Kraft von Anselms Text. Bei aller historischen Distanz verhandelt er eine Problematik, die mit derjenigen Brandoms
Für eine weitaus differenziertere Auseinandersetzung mit Descartes, freilich mit anderen Schlussfolgerungen, vgl. Perler, Dominik, Repräsentation bei Descartes, Frankfurt am Main 1996. Zur Abgrenzung Descartes’ von aristotelischen Abbild-Theorien vgl. dort insbesondere 3 – 10 und 65 – 77. Als Quelle dient Anselm von Canterbury, Opera Omnia, hg. von F.S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968. Die Angabe der Fundstellen geschieht im laufenden Text nach folgendem Muster: der abgekürzte Titel von Anselms Schrift samt Kapitelangabe, Angabe des Bandes der Opera Omnia mit Seitenzahl, Zeilenangabe, z. B. De ver. II, Op. 1,178 | Z. 25. Alle Übersetzungen stammen von mir, für wichtige stilistische Hinweise danke ich Heidrun Gunkel.Verglichen habe ich Anselm von Canterbury, De veritate. Über die Wahrheit. Lateinisch-deutsche Ausgabe von F.S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966; Anselm von Canterbury, Wahrheit und Freiheit. Vier Traktate, übersetzt und eingeleitet von Hansjürgen Verweyen, Einsiedeln 1982; Anselm von Canterbury, Über die Wahrheit. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Markus Enders, Hamburg 2001.– Zur besseren Unterscheidbarkeit gebe ich Kapitel aus Anselms Texten mit einer lateinischen Zahl an, während ich Verweise auf Kapitel in der vorliegenden Arbeit nach wie vor mit arabischen Ziffern angebe.
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6 Absolute Normativität? Eine Intervention mit Anselm von Canterbury
verwandt ist, ohne dass dabei Anselms Position in derjenigen Brandoms aufgehen würde.
6.1.2 Anselms eingeschränkte Aristoteles-Kenntnis als Manko und Pluspunkt Zu der Zeit, zu der Anselm wissenschaftlich aktiv war, d. h. von 1059 bis zu seinem Tod im Jahr 1109, war von den Schriften des Aristoteles im lateinischen Europa nur ein kleiner Teil bekannt, nämlich die später sogenannte Logica vetus. ³ Zur Verfügung standen die von Boethius angefertigten lateinischen Übersetzungen der aristotelischen Schriften Peri hermeneias (De interpretatione) und Peri ton kategorion (Categoriae), welche er mit ausführlichen Kommentaren versehen hatte. Zusammen mit ihnen wurde seine Übersetzung der von dem Neuplatoniker Porphyrius verfassten Isagogé in die aristotelische Logik überliefert. Aus dem in der Antike zusammengestellten Corpus Aristotelicum fehlte also allein vom Umfang her der allergrößte Teil. Unbekannt waren die weiteren Texte aus dem logischen Organon – auch von ihnen gab es zwar boethianische Übersetzungen, aber diese kamen erst im Lauf des 12. Jahrhunderts als Logica nova wieder in Umlauf –, und es fehlten alle Texte aus den theoretischen, praktischen und poietischen Wissenschaften. So wurden z. B. die Metaphysik des Aristoteles oder auch De anima erst zwischen 1125 und 1150 von Jakob von Venedig ins Lateinische übersetzt, die Nikomachische Ethik in den Jahren 1246 bis 1248 von Robert Grosseteste. Offensichtlich bedeutet dieser Umstand für Anselm und seine Zeitgenossen im Rückblick ein riesiges Manko. Sie kannten keine je selbständige Fundierung
Für diesen Abschnitt vgl. Brams, Jozef, Der Einfluß der Aristoteles-Übersetzungen auf den Rezeptionsprozeß, in: Honnefelder, Ludger, Wood, Rega, Dreyer, Mechthild, Aris, Marc-Aielko (Hg.), Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter.Von Richardus Rufus bis zu Franciscus de Mayronis, Münster 2005, 27– 43, 27– 32; de Libera, Alain, Die mittelalterliche Philosophie, München 2005; Dod, Bernard G., Aristoteles latinus, in: Kretzmann, Norman, Kenny, Anthony, Pinborg, Jan, Stump, Eleonore (Hg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism (1100 – 1600), Cambridge 1982, 45 – 79; Erismann, Christophe, Latin Philosophy to 1200, in: Marenbon, John (Hg.), The Oxford Handbook of Medieval Philosophy, Oxford, New York 2012, 166 – 191; Honnefelder, Ludger, Das Mittelalter als ‚zweiter Anfang‘ der Philosophie. Die Aristoteles-Rezeption als Leitfaden der Geschichte der Philosophie im Mittelalter, in: Ders., Was ist Wirklichkeit? Zur Grundfrage der Metaphysik, hg. von Isabelle Mandrella und Hannes Möhle, Paderborn 2016, 195 – 216; Marenbon, John, Anselm and the Early Medieval Aristotle, in: Ders. (Hg.), Aristotle in Britain during the Middle Ages, Turnhout 1996, 1– 19; Schulthess, Peter, Imbach, Ruedi, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, Zürich, Düsseldorf 1996, 38 – 53.
6.1 Warum Anselm?
243
von theoretischer und praktischer Philosophie. All die diffizilen Analysen des Verstandes und der Sinnesvermögen, des Willens, der Affekte und der Tugenden, die in der Scholastik des 13. Jahrhunderts im Anschluss an Aristoteles aufblühen sollten, lagen im 11. und frühen 12. Jahrhundert noch in weiter Ferne. Die Autoren dieser Zeit konzentrierten sich stattdessen auf die sprachphilosophisch-logischen Prolegomena. Zumindest im Falle Anselms wird sich dieses Manko aber auch als ein Pluspunkt erweisen. Ganz allgemein kann man sagen, dass der Umstand, keine je selbständige Fundierung von theoretischer und praktischer Philosophie zu kennen, auch positiv als der bewusste Verzicht auf eine prinzipielle Trennung beider Bereiche verstanden werden kann. Mehr noch: Wenn vor die Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie zurückgetreten wird, kann der Blick für die praktische und normative Signatur dessen frei werden, was wir heute zur theoretischen Philosophie zählen würden, für eine Analyse der normativen Praxis des Sprechens und Erkennens. Bei Anselm ist das der Fall. Darin besteht die Verwandtschaft zwischen seinem Vorgehen und demjenigen Brandoms. Dessen pauschale Charakterisierung und Verwerfung der mittelalterlichen Epistemologie als einer an Aristoteles orientierten Abbild-Theorie des Erkennens wird derweil durch Anselm unterlaufen. Anselm kannte davon nicht viel mehr als die Notiz im ersten Kapitel von De interpretatione, nach der die Eindrücke in der Seele eine Ähnlichkeit („similitudo“) mit den äußeren Gegenständen aufwiesen. Wie Aristoteles an derselben Stelle vermerkt, sei darüber ausführlich in De anima nachzulesen.⁴ Dieser Text aber war Anselm wie gesagt nicht zugänglich. Insbesondere bezüglich der Frage, die Anselm im Dialog De veritate untersucht, sind Manko und Pluspunkt festzuhalten. Die heute gern als „klassisch“ apostrophierte Definition der Wahrheit findet sich bei Thomas von Aquin: „Veritas est adaequatio rei et intellectus“⁵. Manchmal wird sie als aristotelisch bezeichnet, auch wenn sie nicht als eigentliche Definition im Werk des Stagiriten vorkommt.⁶ Anselm jedenfalls kannte diese „klassische“ Definition nicht. So gibt Vgl. Aristoteles, De interpretatione vel Periermeneias (Translatio Boethii), in: Aristoteles Latinus, hg. von Laurentius Minio-Paluello, Bd. II 1– 2, Brügge, Paris 1965, 1– 38, 5 | Z. 4– 11. Thomas von Aquin, Von der Wahrheit. De veritate (Quaestio I), ausgewählt, übersetzt und hg. von Albert Zimmermann, Hamburg 1986, 8 (q.1, a.1, responsio). Nach eigenen Angaben hat Thomas die Definition von Isaak ben Salomon Israeli übernommen. Diese Quelle scheint aber nicht bestätigt werden zu können: vgl. David, Marian, Art. „The Correspondence Theory of Truth“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2016 Edition), https://plato.stanford. edu/archives/fall2016/entries/truth-correspondence/, aufgerufen am 19.09. 2017. Vgl. Szaif, Jan, Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike, in: Enders, Markus, Szaif, Jan (Hg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin, New York 2006, 1– 48, 18 – 24.
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6 Absolute Normativität? Eine Intervention mit Anselm von Canterbury
er auch zu Beginn von De veritate ehrlich zu: „Ich erinnere mich nicht, (bisher) eine Definition der Wahrheit gefunden zu haben“ (De ver. I, Op. 1,176 | Z. 21). Am Ende von De veritate wird es hingegen soweit sein (vgl. De ver. XI, Op. 1,191 | Z. 19 f.). Anselm macht also aus der Not eine Tugend – und darf deshalb als derjenige in der Geschichte der lateinischen Philosophie des Mittelalters gelten, der tatsächlich als Erster eine Definition des Wahrheitsbegriffs aufgestellt hat.⁷
6.1.3 Sprachspiel im Kreuzgang: der performative Einsatz der Dialog-Form Anselm war zunächst als Laienstudent an die Klosterschule von Bec gekommen und trat ein Jahr später in das dortige Kloster ein. Nach dem Abschluss des Studiums wurde er selbst Lehrer an der Klosterschule, später Prior des Klosters und schließlich dessen Abt, wobei er die Rolle des Lehrenden nie verließ.⁸ Dass Anselm während seines Studiums und seiner Lehrtätigkeit auf der Logica vetus aufbaut, wird insbesondere an seinem frühesten Werk De grammatico sichtbar. Lehrer und Schüler diskutieren in diesem Dialog die sprachphilosophische Frage, die Aristoteles in den Categoriae aufgeworfen hatte, ob mit dem Wort „grammaticus“ eine Substanz oder eine Qualität benannt werde. Der Dialog De grammatico ist treffend als Anselms Einführung in die Kategorienschrift des Aristoteles bezeichnet worden bzw. als Einführung in die Logik der Sprache überhaupt.⁹ Es handelt sich um einen „teaching text, designed for a student who has learned the basic forms of argument“¹⁰. Dabei ist unterstrichen worden, dass die Dialogform didaktischen Zwecken dient: Es wird keine fertige Lehre referiert, sondern es werden im Gespräch Argumente ausgetauscht und verschiedene Antworten auf ihre Stichhaltigkeit hin ausprobiert und überprüft. Noch in der Lösung des Ausgangsproblems bleibt dieser Weg präsent. Denn sie verdeutlicht nicht nur, was Aristoteles gemeint hat, sondern auch, dass über ihn hinausgegangen werden
Vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 91. Zu Anselms Biographie vgl. Evans, Gillian R., Anselm’s Life, Works, and Immediate Influence, in: Davies, Brian, Leftow, Brian (Hg.), The Cambridge Companion to Anselm, Cambridge 2004, 5 – 31; Southern, Richard W., Saint Anselm. A Portrait in a Landscape, Cambridge 1990. Für eine systematisch orientierte Zusammenschau von Anselms Leben und Wirken vgl. Sweeney, Eileen, Anselm of Canterbury and the Desire for the Word, Washington D.C. 2012. Vgl. Adams, Marilyn McCord, Re-reading De grammatico, or: Anselm’s Introduction to Aristotle’s Categories, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 11 (2000), 83 – 112; Southern, Portrait in a Landscape, 62– 65. Sweeney, Desire for the Word, 80.
6.1 Warum Anselm?
245
muss, wenn man der Vielfältigkeit der Beziehungen zwischen Sprache und Welt gerecht werden will. Häufig wird De grammatico früh datiert und seine Entstehung für die Phase nach 1060 veranschlagt, in der Anselm entsprechende Einführungskurse zu unterrichten hatte. Der Dialog De veritate wäre dann circa zwanzig Jahre später entstanden. Für ihn gilt die Datierung auf die Jahre nach 1080 als gesichert, als Anselm bereits Abt war. Die Rolle Anselms hatte sich in diesen zwanzig Jahren offensichtlich verändert und war mit einem ungemeinen Zuwachs an persönlicher und amtlicher Autorität verbunden. Aber auch in diesem Text, der im Folgenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wird, ist der Hintergrund von Studium und Lehre weiterhin präsent.¹¹ Der Autor Anselm, der sich in De veritate ausdrücklich mit der Rolle des Lehrers im Dialogs identifiziert,¹² geht bei der Abfassung von Erfahrungen aus, die er selbst gemacht hat. Wiederum kommt – im entscheidenden Kapitel II – eine an Aristoteles orientierte Sprachphilosophie zum Zuge, und wiederum wird über sie hinausgegangen. Die Form des Dialogs erweist sich dabei als ihrem Inhalt angemessen. Bei Anselm wird nicht nur über Sprache sinniert, sondern er lässt Personen miteinander sprechen. Im Dialog zwischen Lehrer und Schüler kommt zum Ausdruck, was es heißt, sich auf eine Behauptung festzulegen und über die Prämissen und Konsequenzen, die mit ihr verbunden sind, Rechenschaft abzulegen. Sowohl die unwiderrufliche Selbständigkeit der beiden involvierten Figuren als auch ihre notwendige Angewiesenheit aufeinander wird performativ vorgeführt. Lehrer und Schüler auftreten zu lassen, bedeutet, ein zunächst asymmetrisches Verhältnis zwischen den Gesprächspartnern vorauszusetzen. Der Lehrer hat einen Vorsprung in Wissen und Weisheit. Der Schüler erkennt die Rolle des Lehrers an. Allerdings sind Anselms Dialoge alles andere als Einbahnstraßen, sonst würden sie sich ja ihres soeben benannten Vorteils wieder selbst berauben. Klaus Jacobi hat mit Blick auf die Lehrer-Schüler-Konstellation in mittelalterlichen Dialogen hervorgehoben, „daß die Autoren ein ganzes Spektrum von Varianten, mit der für ihre Dialoge konstitutiven Asymmetrie umzugehen, entwickeln. Daß der Wissendere oder Weisere auch den Gesprächsverlauf bestimmt, ist nur eine Möglichkeit unter anderen. Öfters wird die Konstellation umgekehrt, so daß
Allerdings spiegelt der Dialog keine Lehr-/Lernsituation im engeren Sinne wider. Vgl. dazu generell Jacobi, Klaus, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter, Tübingen 1999, 9 – 22, 10. Daher erklärt sich auch mein Titel für diesen Abschnitt: Es geht um eine Diskussion nicht im Unterrichtsraum, sondern im Kreuzgang, d. h. bei der „Freizeitgestaltung“. In Kapitel I wird der Lehrer vom Schüler als Verfasser des Monologion angesprochen, in Kapitel X bezeichnet er sich selbst als diesen: vgl. De ver. I, Op. 1,176 | Z. 6; De ver. X, Op. 1,190 | Z. 14.
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6 Absolute Normativität? Eine Intervention mit Anselm von Canterbury
zwei Asymmetrien, die Einsichts- und die Aktivitätsasymmetrie, einander gegenläufig sind: Der Schüler fragt und bestimmt so das Dialoggeschehen. […] Andere Autoren legen ihre Dialoge so an, daß die Aktivitäten wechseln“¹³. Wie speziell Anselm in seinen Dialogen die ganze Bandbreite möglicher Verhältnisbestimmungen seiner Figuren durchspielt, haben Lothar Steiger und Eileen Sweeney herausgearbeitet. Steiger bietet eine quantitative Untersuchung des jeweiligen Wortanteils von Lehrer und Schüler in De grammatico und De veritate sowie die qualitative Analyse der Rolle, die der Schüler für das In-Gang-Bringen der Argumentation zu Beginn des jeweiligen Werkes spielt.¹⁴ Im Vergleich der Rollen, die einerseits der Lehrer in Anselms und andererseits Sokrates in Platons Dialogen spielt, votiert Sweeney in Sachen Aufgeschlossenheit und Gleichberechtigung eindeutig für den erstgenannten.¹⁵ Im Anschluss an Überlegungen zu De grammatico hält sie die folgende verallgemeinerte Einsicht fest: Derjenige, der von Sokrates befragt wird, fühlt sich schlußendlich immer fehlgeleitet, in eine Ecke gedrängt, in der er das Absurde verteidigt, eine Ecke, aus der er sich nur befreien kann, wenn er Ignoranz bekennt. Anselm bringt diese Spannung an die Oberfläche des Dialogs und, weit wichtiger, er fordert den Schüler auf, sich ihm, dem Lehrer, zuzugesellen und auf diesem Niveau die Richtung und den Grund der ganzen Diskussion zu verstehen.¹⁶
Jacobi, Einleitung, 16 f. Vgl. Steiger, Lothar, Contexte syllogismos. Über die Kunst und Bedeutung der Topik bei Anselm, in: Schmitt, Franciscus Salesius u. a. (Hg.), Analecta Anselmiana. Untersuchungen über Person und Werk Anselms von Canterbury, Bd. I, Frankfurt am Main 1969, 107– 143, insbesondere 136 – 143. Dieser Vergleich zwischen den Dialogen Anselms und Platons ist etwas, das die heutige Forscherin leisten kann, nicht aber etwas, das Anselm selbst hätte tun können. Die Überlieferungslage im 11. Jahrhundert war zu Platon nicht besser als zu Aristoteles. Es waren nur „Teile des Timaios [bekannt], der von allen Schriften Platons am wenigsten dialogisch ist“ (Jacobi, Einleitung, 10). Deswegen war „Platon kein Vorbild“ (10) für die mittelalterlichen Dialoge und konnte offensichtlich auch keine Negativfolie darstellen. – Für eine generelle Kritik an dem Schema, dass vor der umfassenden Aristoteles-Rezeption des Hochmittelalters das Frühmittelalter im Umkehrschluss als im strengen Sinne von Platon abhängig zu beschreiben sei, vgl. Marenbon, John, Platonism – A Doxographic Approach. The Early Middle Ages, in: Gersh, Stephen, Hoenen, Maarten (Hg.), The Platonic Tradition in the Middle Ages. A Doxographic Approach, Berlin, New York 2002, 67– 89. Marenbon zufolge ist zwischen Motiven aus einem in der Luft liegenden Neuplatonismus und direkten Bezügen zu Platon zu unterscheiden. Bezüglich Anselms hält er fest: „He is usually described, not without some justification, as having a Platonic metaphysical outlook – a position he derived from Augustine, and which reflects some of the thinking of Porphyry, Plotinus and, indeed, Plato himself. But Anselm makes no references to Plato“ (88). Sweeney, Eileen, Anselm und der Dialog. Distanz und Versöhnung, in: Jacobi, Gespräche lesen, 101– 124, 112.
6.1 Warum Anselm?
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Während die Gesprächspartner des Sokrates bestenfalls auf einzelne Lösungsvorschläge positiv reagieren, aber gerade nicht den Gesamtzusammenhang der Argumentation nachvollziehen könnten, werde von denjenigen Anselms „viel mehr verlangt, als nur einzelnen Vorschlägen zuzustimmen. Sie werden herausgefordert, gleichberechtigte Partner in der Diskussion zu werden, mit dem Lehrer gemeinsam vorwärts zu schreiten, anstatt einfach hinterhergeschleppt zu werden“¹⁷. Sokrates lasse seine Kontrahenten am Ende einfach stehen, während Anselms Lehrer bei seinen Schülern bleibe.¹⁸ Zugleich gebe er im Verlauf des Dialogs zu erkennen, dass er der verhandelten Thematik nicht enthoben, sondern selbst angefragt, ja in der Krise sei.¹⁹ Anselms „Lehrer“ bzw. Anselm als Lehrer ist selbst ein Lernender, in intellektueller wie existentieller Hinsicht. Die in ihrer Virtuosität und Intensität einmalige Verwendung der Dialogform durch Anselm führe durchweg vor Augen, wie sehr Anselm die „Versöhnung von Propositionen und Personen“²⁰ erstrebe. Diese treffenden Beobachtungen zur Charakteristik von Anselms Dialogen liefern einen weiteren Baustein für die Beantwortung der Frage, warum ich im Kontext dieser Arbeit auf Anselm zu sprechen komme. Denn die „Versöhnung von Propositionen und Personen“ ist auch das Anliegen, das Brandom verfolgt: Für Logiker hat eine Inferenz typischerweise nur mit Relationen zwischen propositionalen Gehalten zu tun und nicht auch mit Beziehungen zwischen Kommunikationspartnern. Doch die diskursive Praxis, das Geben und Verlangen von Gründen, woraus die inferentiellen Beziehungen abstrahiert werden, schließt beides ein: Dimensionen der Beziehung zwischen Gehalten und interpersonale Dimensionen.²¹
In der Darlegung tritt Brandom mehr als Verfasser eines logischen Traktats auf, als dass er ein wirkliches Gespräch führen würde, und das ist sicherlich angemessen. Dennoch ist es auffällig, dass die sprachlichen Bilder, die er dabei verwendet, zwischen der etwas schnöden Rede vom Kontostand einer Diskursteilnehmerin und dem fast schon zu starken Bild vom Samurai, der lieber sein Leben als seine Überzeugung opfert (vgl. 3.1.2), schwanken. Bei Anselm erscheint alles als weniger künstlich – denn in seinen Dialogen sind es einfach zwei erwachsene Menschen, die miteinander sprechen. Auch wenn diese Dialoge arrangiert und komponiert sind, so bringen sie doch auf plastische Weise die alltägliche Praxis
Sweeney, Anselm und der Dialog, 112. Vgl. in diesem Sinne bereits Flasch, Kurt, Zum Begriff der Wahrheit bei Anselm von Canterbury, in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964– 65), 322– 352, 324. Vgl. Sweeney, Anselm und der Dialog, 123. Sweeney, Anselm und der Dialog, 123. Brandom, Expressive Vernunft, 691.
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des Gebens und Nehmens von Gründen zum Ausdruck. Die „Versöhnung von Propositionen und Personen“ geschieht in Anselms Dialogen ganz im Sinne Brandoms: Durch das, was die involvierten Figuren sagen, bestimmen sie, wer sie sein wollen. Auf diese Weise machen sie das, was in den Hegel-Abschnitten von Teil 1 als zentral herausgearbeitet worden ist: Sie machen Erfahrung und steigen ein in die Revision der Wirklichkeit. Ebenso wohnen wir in Anselms Dialogen dem „Prozess der Selbst-Konstitution und der Selbsttransformation wesentlich selbstbewusster Wesen“²² bei. Auch an den Figuren von Lehrer und Schüler lernen wir: Jeder eingestandene Fehler ist ein Akt der Selbstidentifikation: die Billigung einiger der miteinander unvereinbaren Verpflichtungen, in denen man sich vorfindet, und das Opfer anderer. Erfahrung ist der Prozess, durch den Subjekte sich selbst als Loci der Rechenschaft definieren und bestimmen, indem sie unvereinbare Verpflichtungen praktisch ‚abstoßen‘.²³
Subjekte weisen einige zuvor eingegangene Verpflichtungen „zurück, verfeinern andere, passen gegenseitig an und gleichen aus, welche Behauptungen für wahr gehalten werden, was man zu tun verpflichtet ist und was daraus folgen soll, damit Spannungen entfernt und ausgebessert werden“²⁴. Diese Sätze Brandoms, die auf Hegel gemünzt sind, klingen, als hätte sie eine Anselm-Forscherin wie Sweeney formuliert. Wie Brandom an derselben Stelle betont, lässt sich diese begriffliche Gliederung der subjektiven Seite des intentionalen Nexus unter dem Titel alethisch-modaler Beziehungen auf die Objektseite übertragen (vgl. dazu 3.2.2). Selbst dieser Aspekt wird in der folgenden Anselm-Interpretation zum Zuge kommen.
6.2 Eine pragmatistische Sprach- und Erkenntnistheorie und ihre Prämissen und Konsequenzen (Kommentar zum Dialog De veritate) In diesem Unterkapitel erfolgt die Interpretation von Anselms Dialog De veritate. ²⁵ Einige seiner Stationen werden dabei verkürzt gestreift, doch wie sich zeigen wird,
Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 51. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 51. Brandom, Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution, 52. Für weitere Interpretationen von De veritate vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit; Flasch, Begriff der Wahrheit; Goebel, Rectitudo. Wie im weiteren Verlauf deutlich werden wird,
6.2 Eine pragmatistische Sprach- und Erkenntnistheorie und ihre Prämissen
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können Gründe angeführt werden, warum dennoch die Funktion eines Kommentars zu diesem Text erfüllt wird. Man kann das Folgende eine Anwendung von Brandoms rekonstruktiver Metaphysik auf bisher unbekanntes Terrain nennen. Darüber hinaus soll wie bereits in Kapitel 5 verdeutlicht werden, dass das, was Brandom mit seiner rekonstruktiven Metaphysik vorhat, nicht bei der Art und Weise stehenbleiben muss, in der er selbst operiert, sondern dass es durchaus mit dem Vorgehen kompatibel gemacht werden kann, das von Emundts als systematischer Umgang mit Positionen aus der Philosophiegeschichte bezeichnet worden ist. Zunächst beschreibe ich den Ausgangspunkt des Dialogs, der in der Feststellung eines Konflikts innerhalb des religiös imprägnierten alltäglichen Sprachgebrauchs zu Anselms Lebzeiten besteht sowie in der Auswahl einer bestimmten Methode, um dieses Ausgangsproblem zu beheben (6.2.1). Darauf folgt die Analyse von Anselms Theorie der Praxis des Sprechens und Erkennens, die insbesondere auf Kapitel II von De veritate beruht und eine Schlüsselrolle für das Verständnis des gesamten Dialogs darstellt (6.2.2). Im Anschluss daran lote ich unter dem Stichwort einer „universalen Normativität“ die Konsequenzen aus, die Kapitel II für den weiteren Dialog hat. Dabei werden sowohl die subjektive als auch die objektive Seite jener Praxis zur Geltung gebracht werden (6.2.3). Schließlich diskutiere ich die Dimensionen der Frage nach einer „absoluten Normativität“, die an mehreren Stellen des Dialogs durchscheint und in Kapitel X sowie im abschließenden Kapitel XIII von Anselm eigens auf die Spitze getrieben wird (6.2.4).
6.2.1 Der Ausgangspunkt und die Methode von De veritate (1) Sowohl der erste Halbsatz der Praefatio von De veritate als auch der erste Halbsatz von Kapitel I irritieren heutzutage. Denn beide Male scheint es, als ob das, was Anselm zu bieten habe, Theologie im Sinne von Bibelauslegung sei, nicht aber Philosophie. Er habe drei Abhandlungen in Dialogform verfasst, die „das Studium der Heiligen Schrift betreffen“ (De ver. praefatio, Op. 1,173 | Z. 2) und nun zusammengefügt veröffentlich werden sollten, so beginnt Anselm seine Vorrede. De veritate sei der erste dieser drei Dialoge. Anselm unterscheidet diese drei ausdrücklich von De grammatico, einem Text, der zwar „nicht unnütz für diejenigen“ sei, „die in die Dialektik eingeführt werden sollen“ (De ver. praefatio,
profitiere ich von diesen Studien, grenze mich aber insbesondere von der Deutung ab, die Enders gibt.
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Op. 1,173 | Z. 6), sich so aber auf ein „von diesen dreien unterschiedenes Studium“ (De ver. praefatio, Op. 1,173 | Z. 7) beziehe. Kapitel I beginnt seinerseits sogleich mit dem auf ein Bibelwort anspielenden Glaubensbekenntnis: „Quoniam deum veritatem esse credimus…“ – „Weil wir glauben, dass Gott die Wahrheit ist“ (De ver. I, Op. 1,176 | Z. 4). Es wäre jedoch unangebracht, eine wissenschaftstheoretische Unterscheidung von Philosophie und Theologie, wie wir sie heute kennen, an Anselm und seine Zeit heranzutragen. Erst die Entdeckung des „ganzen Aristoteles“ in den folgenden Jahrhunderten verdeutlichte die Angewiesenheit auf eine Unterscheidung der zwei Disziplinen auf der Basis ihrer jeweiligen Prinzipien. Sie machte diese Unterscheidung freilich auch möglich, wie es am prominentesten am Werk von Albertus Magnus und Thomas von Aquin abzulesen ist.²⁶ Zu Anselms Zeit hingegen gab es zwar durchaus ein differenziertes Studiensystem. Deshalb konnte er sagen, der Dialog De grammatico falle in einen anderen Bereich – er fiel nämlich in die „Einführungsphase“ der Artes liberales, das Trivium. Es gab aber keine als solche grundgelegte und ausgeführte „erste Philosophie“ aus einem Guss, unabhängig von den biblischen Traditionsbeständen. Metaphysische ebenso wie ethische Konzepte und Argumente eignete man sich mittels der lectio biblischer und patristischer Texte an. Dass Anselm die Bibel zitiert und sogar sagen kann, der Dialog De veritate betreffe das Studium der Heiligen Schrift, stellt für ihn selbst also kein Problem dar, welches die philosophische „Reinheit“ seiner Argumentation von vornherein kontaminieren würde. Allerdings könnte es ein Problem für eine vergegenwärtigende philosophische Interpretation darstellen, wie ich sie intendiere. Doch auch in dieser Hinsicht sind wir mit Anselm auf der sicheren Seite. Anselm verwendet nämlich eine Methode, die es möglich macht, die biblischen Einsprengsel in einer bestimmten Weise zu neutralisieren. Diese Methode ist von Lothar Steiger und Markus Enders profiliert worden, verbunden mit dem Ausweis wichtiger Belegstellen, die als Anselms Quellen angenommen werden können.²⁷ Bereits in De grammatico und
Vgl. beispielsweise Burger, Maria, Albertus Magnus. Theologie als Wissenschaft unter der Herausforderung aristotelisch-arabischer Wissenschaftstheorie, in: Honnefelder, Ludger (Hg.), Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, Weilerswist 2017, 97– 114; Honnefelder, Ludger, Wie ist „Erste Philosophie“ möglich? Der zweite Anfang der Metaphysik im Mittelalter, in: Ders., Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters, Berlin 2008, 85 – 113. Für das in diesem Absatz Folgende vgl. Steiger, Contexte syllogismos, insbesondere 119 – 121, 133 – 143 (mit Blick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen De grammatico und De veritate), sowie Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 92– 114.
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wiederum in De veritate – dies ist also eine nicht eigens ausgesprochene Gemeinsamkeit der beiden Dialoge – bedient sich Anselm einer topischen Vorgehensweise. Diese beruht jedoch nicht auf der gleichnamigen Methode des Aristoteles. Pate steht vielmehr Cicero, vermittelt durch die In Topica Ciceronis Commentaria des Boethius. Bei dieser Methode wird zunächst ein Ausgangsproblem festgestellt, eine Art Dilemma, ein „dubium“, das in einer „dubitalis propositio“ auf den Punkt gebracht wird. Darauf folgt das Auf-die-Probe-Stellen, die klärende Diskussion, das „argumentum“. Im Verlauf dieses „argumentum“ werden, daher der Name „topisch“, alle möglichen „Orte“ aufgesucht, die zur Lösung der Ausgangsfrage relevant sein könnten. Am Ende steht die „definitio“, mit deren Hilfe der Gedankengang rekapituliert und zu einem zufriedenstellenden Abschluss gebracht wird. Im Falle von De veritate wird das Ausgangsproblem in Kapitel I durch den Schüler aufgeworfen, und zwar mit Hilfe jenes biblischen Glaubensbekenntnisses. Wie kann nämlich zusammenpassen, dass der christliche Glaube bekennt, dass Gott die Wahrheit ist – „deum veritatem esse credimus“ (De ver. I, Op. 1,176 | Z. 4.) – und dass wir zugleich von allen möglichen Dingen sagen, sie seien wahr? Ist aus dieser Mehrdeutigkeit des Sprachgebrauchs zu folgern, dass „wir überall dort, wo von Wahrheit geredet wird, einräumen müssen, dass sie Gott sei“ (De ver. I, Op. 1,176 | Z. 5 f.)²⁸? Diese Frage stellt die „dubitalis propositio“ dar. Weil der Schüler den Lehrer als Experten anerkennt, fordert er ihn auf, ihm eine „Definition der Wahrheit“ (De ver. I, Op. 1,176 | Z. 20) aufzuzeigen. Sie vereinbaren, sich im Weg durch die verschiedenen Orte, an denen von „wahr“ die Rede ist, auf die Suche nach einer solchen Definition zu machen (vgl. De ver. I., Op. 1,177 | Z. 1– 3). Das geschieht in den Kapiteln II bis einschließlich X. Bereits anhand des Inhaltsverzeichnisses ist gut zu überblicken, dass es sich dabei um einen Weg „von unten nach oben“ handelt, vom Nächstliegenden zum vermeintlich Entferntesten. Kapitel XI formuliert die gesuchte Definition. Kapitel XII und XIII stellen einen Appendix dar, der über die eigentliche topische Methode hinausgeht. Dieser Umstand ist von Steiger und Enders nicht registriert worden. Gerade Kapitel XIII ist aber, über die erreichte „definitio“ hinaus, von entscheidender Aussagekraft für die Klärung der ursprünglichen Frage. Es ist entscheidend festzuhalten, dass es diese von Anselm angewandte topische Methode ist, die es möglich macht, dass ein biblisches Bekenntnis am Anfang des Dialogs steht und er sich aus unserer heutigen Sicht dennoch als ein Der Satz könnte mit einer noch stärkeren religiösen Konnotation übersetzt werden; dann hieße es nicht nur, ob „wir einräumen müssen“, sondern ob „wir zu dem Bekenntnis verpflichtet sind“. Entscheidend ist bei diesem Satz allerdings die Frage nach der Identität von Gott und anderen Wahrheitsorten.
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selbständiger philosophischer Text lesen lässt. Denn der Satz, dass Gott die Wahrheit sei, steht nicht als ein Dogma dort, das nicht hinterfragt werden darf oder aus dem andere Sätze abzuleiten wären. Er steht dort vielmehr als Indiz für ein Problem. Es handelt sich um eine Aussage, die angesichts des sonstigen Sprachgebrauchs zu Zweifeln Anlass gibt. Diese Zweifel bringen die Argumentation des Wahrheitsdialogs erst in Gang. Was zunächst wie ein steiler theologischer Einstieg anmutet, ist in Wirklichkeit die Verzichtserklärung auf dogmatische Vorgaben jeglicher Art. Das sei eigens kritisch gegenüber Enders hervorgehoben, der zwar Anselms Übernahme der topischen Methode herausgearbeitet hat, im Verlauf seiner Interpretation von De veritate jedoch immer wieder explizit dogmatische Zusätze einfließen lässt. Dass der Schüler sich nicht mit Autoritäten zufrieden gibt, seien es solche aus der Vergangenheit oder aus seiner Gegenwart, macht gleich zu Beginn sein Verhalten gegenüber dem Lehrer deutlich. Ich habe gesagt, dass ihn der Schüler als Experten anerkennt. Das stimmt, allerdings auf vertrackte Weise. Nachdem der Schüler die Initiative für den Dialog ergriffen und das Ausgangsproblem formuliert hat, sagt er zum Lehrer: „Auch du nämlich beweist in deinem Monologion durch die Wahrheit der Rede, dass die höchste Wahrheit weder Anfang noch Ende hat“ (De ver. I, Op. 1,176 | Z. 6 f.), um darauf eine lange Passage aus der genannten Schrift zu zitieren. Nach diesem Zitat sagt er: „Deswegen erwarte ich, von dir eine Definition der Wahrheit zu lernen“ (De ver. I, Op. 1,176 | Z. 19 f.). Ohne auf das Argument zu schauen, das der Schüler aus dem Monologion zitiert, können allein durch die Art, wie er den Lehrer anspricht, Rückschlüsse auf die komplexe Gesprächssituation gezogen werden. Der Schüler erkennt den Lehrer erstens als Experten bei der Frage nach der Wahrheit ganz allgemein an, weil er dazu schon etwas veröffentlicht hat. Zweitens kann der Satz, der die Brücke zwischen dem eingangs formulierten „dubium“ und dem Zitat aus dem Monologion bildet, so verstanden werden, dass der Schüler den Lehrer bisher so verstanden hat, als ob dieser die Frage nach der Identität von endlichen Wahrheiten und höchster Wahrheit bejahen würde („Auch du nämlich beweist…“). Der Lehrer selbst hat also den Anstoß für das „dubium“ des Schülers gegeben. Umso mehr sollte er also ein Experte bezüglich dieser Frage sein. Drittens aber reicht dem Schüler das, was er da zitiert, offensichtlich nicht aus. Er sieht darin keine hinreichende Antwort auf seine Frage. Der Schüler hat nach der Lektüre des Monologion immer noch Zweifel. Deswegen bringt er einen neuen Dialog über die Wahrheit in Gang und fordert vom Lehrer eine Definition. Viertens schließlich – und das ist ein bemerkenswerter Schachzug des Autors Anselm – stimmt der Lehrer dem Schüler implizit zu, indem er ihm nicht widerspricht. Bisher habe er in der Tat noch keine Definition der Wahrheit gefunden bzw. gegeben. Deshalb könne man sich jetzt, wenn der Schüler das wünsche, gemeinsam auf die Suche nach ihr machen. Der
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Lehrer also relativiert, zumindest vorerst, sein eigenes früheres Argument. Und da der Lehrer im Dialog mit dem Autor des Monologion identifiziert wird, identifiziert sich der Autor Anselm mit dem Lehrer und nimmt folglich eine Selbstrelativierung vor. Anselm lässt sich in Gestalt des Schülers den Einwand gefallen, dass er bisher die Frage noch nicht hinreichend durchdacht und dargelegt hat. Das Monologion reicht auch ihm nicht. Deswegen verfasst er De veritate. ²⁹ (2) Worin besteht das Argument aus dem Monologion,³⁰ das zu Beginn von De veritate zitiert wird, und wo liegt seine Grenze? Es handelt sich um ein typisches Retorsionsargument. Wenn man behauptet, dass es keine Wahrheit gibt, setzt man voraus, dass zumindest diese Aussage wahr ist, womit sie sich selbst aufhebt. Bei Anselm ist das Argument ins Zeitliche ausgedehnt: Es ist nicht denkbar, dass es eine Zeit gab oder geben wird, in der es keine Wahrheit gab oder geben wird. Denn in diesen Zeiten „davor“ und „danach“ wäre es eben nicht möglich, die wahre Aussage zu treffen, dass Wahrheit nicht existiere. Bei dieser Formulierung ist offensichtlich die Möglichkeit einer Substantivierung des Adjektivs „wahr“ in Anspruch genommen. Aussagen, die die Eigenschaft haben, wahr zu sein, implizieren die Existenz einer sozusagen großgeschriebenen Wahrheit. Diese ist, wie der Titel von Kapitel I sagt, als eine solche zu charakterisieren, die „weder Anfang noch Ende“ hat. Anselm benennt diese Inanspruchnahme als eine Selbstverständlichkeit: „Wahres aber kann nicht ohne Wahrheit existieren“ (Monol. XVIII, Op. 1,33 | Z. 18 = De ver. I, Op. 1,176 | Z. 15 f.). Warum und in welcher Weise jedoch ein einzelnes Wahres – in diesem Fall eine einzelne Aussage – ohne Wahrheit nicht existieren kann, erläutert er nicht. Darin besteht die inhaltliche Grenze des Monologion-Arguments: Es klärt das Verhältnis einzelner, endlicher Instanzen von „wahr“ zu der Einen Wahrheit gerade nicht. Oder wenn man es andersherum sagen und in kaltes metaphysisches Wasser springen wollte: Es klärt nicht die innere Struktur der Einen Wahrheit. Diese inhaltliche Grenze ist nicht zuletzt der Anlage und der Beweisabsicht des Monologion geschuldet. Dort wird die Frage nach der Wahrheit nur en passant behandelt; das obige Argument ist nur ein Mittel zum Zweck. In dieser Schrift geht
Diese Selbstrelativierung, gefolgt von dem Versuch, sich im nächsten Schritt argumentativ zu verbessern und die verwendeten Begriffe weiter zu schärfen, stellt ein durchgängiges Motiv bei Anselm dar. Das Verhältnis mehrerer seiner Werke zueinander kann so bestimmt werden. Am bekanntesten dürfte die Relativierung des Monologion zu Beginn des Proslogion sein, mit welchem nun endlich, nach den vielen Beweisversuchen der früheren Schrift, das „unum argumentum“ für die Gottesfrage gefunden werden solle (vgl. Prosl. Prooemium, Op. 1,93 | Z. 2– 10). Es handelt sich um einen zusammenhängenden Abschnitt aus Monol. XVIII, Op. 1,33 | Z. 11– 22.
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es um die Lösung einer ganz bestimmten Aufgabe, die Anselm von einigen anderen Mönchen gestellt wurde: Er solle das, was von der Kirche über das Wesen Gottes gelehrt werde, mit bloßen Vernunftgründen nachweisen, ohne auf die Autorität der Bibel zurückzugreifen (vgl. Monol. Prologus, Op. 1,7 f.). Als Platzhalter für den Gottesbegriff dient dabei vor allem der Begriff der „summa natura“, der im Verlauf der Schrift entsprechend expliziert wird. Im Rahmen der Beweise, dass diese „summa natura“ ewig sei, findet sich auch der obige Beweis, an dessen Schluss kurzerhand „summa veritas“ und „summa natura“ identifiziert werden (vgl. Monol. XVIII, Op. 1,33 | Z. 22 f.). Das Monologion-Argument ist also eigentlich dazu da, in Kumulation mit weiteren Argumenten und unter der Voraussetzung, dass „summa veritas“ und „summa natura“ identisch sind, die Ewigkeit der Letzteren nachzuweisen. Es handelt sich um einen hemdsärmeligen Gottesbeweis. Jener letzte Satz von Monologion XVIII wird in De veritate I freilich nicht mehr zitiert. Das Argument wird aus seinem ursprünglichen Kontext herausgelöst. Zwar benennt auch De veritate eingangs die Identifikation von Gott und Wahrheit, aber diese Identifikation wird in der Konfrontation mit endlichen Wahrheitsinstanzen gerade zum „dubium“. De veritate fragt, wonach das Monologion nicht gefragt hat, nämlich nach dem Verhältnis, in dem alle Instanzen von „wahr“ zueinander stehen. Entsprechend vereinbaren Lehrer und Schüler am Ende des I. Kapitels von De veritate, sich auf die Suche nach einer Definition der Wahrheit zu machen, indem sie alle die Fälle aufsuchen, in denen man für gewöhnlich von „wahr“ (und „falsch“) spricht (vgl. De ver. I, Op. 1,177 | Z. 1 f.). Die Suche nimmt dabei sinnvollerweise einen Weg, der „von unten nach oben“ verläuft. Am Anfang steht der Fall, der am nächsten liegt, wenn wir von Wahrheit reden, und das ist das Reden selbst. Wir nennen manche Sätze, die wir von uns geben, „wahr“, andere nennen wir „falsch“. Alltäglicher geht es nicht. Daher widmet sich Kapitel II der Wahrheit, die im Sprechen liegt bzw. liegen kann. Fast am Ende des Weges, bevor es in Kapitel XI zur gesuchten Definition kommt, treffen wir in Kapitel X wiederum auf die „höchste Wahrheit“.³¹ Selbstverständlich wird man schlecht leugnen können, dass dies in dem religiösen Kontext, in dem der Wahrheitsdialog angesiedelt ist, ebenso wie im Monologion ein Gottestitel ist. Die Thematisierung der „höchsten
In diesem Zusammenhang bleibt mir unklar, was Enders meint, wenn er von der „Vorbildfunktion“ von Monol. XVIII für De veritate spricht (vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 34, 89 – 92). Es könnte sein, dass er andeuten möchte, dass der Weg von der Wahrheit der Rede als Anfangs- zur höchsten Wahrheit als Endpunkt vom Monologion präfiguriert worden ist. Meines Erachtens ist aber der dargelegte Kontrast zwischen beiden Werken angesichts der Lücke, die De veritate zu füllen beabsichtigt, der bedeutsamere Punkt.
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Wahrheit“ erfolgt in De veritate aber auch völlig konsequent als die letzte Wahrheitsinstanz vor der Definition, weil man diese Bezeichnung ja zunächst einmal in einem formalen Sinne verstehen kann. Nachdem alle anderen Instanzen von „wahr“ besichtigt worden sind, geht es in Kapitel X um die höchste, umfassendste Form von „wahr“. Der topischen Methode zufolge handelt es sich um einen Ort neben den anderen Orten, den man nicht außen vor lassen darf. Es könnte allerdings sein, dass man an diesem Ort nicht einfach das vorfindet, was eine allzu fromme Interpretation, die unvermittelt in die „höchste Wahrheit“ hineinspringen will, dort vermuten würde. Meine These ist vielmehr, dass auch die Konzeption der „höchsten Wahrheit“ von dem Schachzug abhängig bleibt, den Anselm in Kapitel II ausführt. Ihn gilt es nun genauer zu untersuchen.
6.2.2 Anselms normativ-pragmatistische Theorie des Sprechens und Erkennens (1) Von Anselms normativer Erkenntnistheorie und gar von seinem Pragmatismus zu sprechen, mag provokant klingen. Doch vielleicht ist solch eine anachronistische Redeweise angebracht, um einige Eigenheiten Anselms aufzudecken.³² Mit Sicherheit tritt auf den ersten Blick hervor, dass Anselm bei der Klärung des Wahrheitsbegriffs ein umfangreiches praktisches Vokabular verwendet. In Kapitel II von De veritate bietet er den Begriff der „rectitudo“ (De ver. II, Op. 1,178 | Z. 25) zur Lösung des Problems an, den er darauf an allen Wahrheitsorten aufspürt bzw. aufspüren lässt und der schließlich zum entscheidenden Bestandteil seiner Wahrheitsdefinition wird. Der Begriff der „rectitudo“ wird dabei in eine zu erfüllende Forderung, ein „debere“, und in die Erfüllung dieser Forderung durch ein „facit quod debet“ (De ver. II, Op. 1,179 | Z. 2) aufgefächert. Ohne diese Forderung und ohne ihre Erfüllung ist für Anselm Wahrheit nicht zu haben. Der ganze Dialog über die Wahrheit lebt von dieser Spannung zwischen dem normativen Begriff der „rectitudo“ bzw. des „debere“ auf der einen Seite und einer oder mehreren Tätigkeiten, die ihm nachkommen bzw. nachzukommen versuchen, auf der anderen Seite. Diese Spannung hält sich durch bis zur Thematisierung der „höchsten
Dies soll also eine produktive Form des Anachronismus sein, die nicht auf Immunisierung, sondern auf Anschlussfähigkeit aus ist. Vgl. dazu Löhrer, Guido, Anachronismus und Akairie. Wie mit Elemente der philosophischen Tradition umgehen? Beispiel: Anselm von Canterburys Begriff der „rectitudo“, in: Speer, Andreas (Hg.), Anachronismen. Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland (AGPD) vom 3. bis 6. Oktober 2001 in der Würzburger Residenz, Würzburg 2003, 95 – 116, 99 – 101.
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Wahrheit“. Um dieser Spannung gerecht zu werden und sie hervorzuheben, spreche ich von einer normativ-pragmatistischen Theorie. Wie bereits gesagt, widmet sich Kapitel II dem Ort der Wahrheit, der am nächsten liegt, nämlich der Verwendung von „wahr“ in Bezug auf unser Sprechen. Dieser Ort liegt zwar nahe, doch deutet der Titel des Kapitels an, dass sich die Aufgabe als relativ komplex erweisen wird. Kapitel II ist überschrieben mit De significationis veritate et de duabus veritatibus enuntiationis, was übersetzt werden kann mit Über die Wahrheit der Bezugnahme und die beiden Wahrheiten der Aussage. An dieser Stelle ist eine kurze Bemerkung über die termini technici angebracht, die Anselm in diesem Kontext verwendet, und über die Weise, wie sie übersetzt werden können. Der eine Begriff lautet „enuntiatio“. Mit ihm ist eine der grammatischen Form nach verständliche Aussage bzw. ein geäußerter Satz gemeint. Nach dem lateinischen Aristoteles ist die „enuntiatio“ einer der wichtigsten Begriffe, der zu klären ist, wenn man verstehen will, was Verstehen ausmacht.³³ Ein verwandter Begriff wäre „propositio“. Enders hat darauf hingewiesen, dass Anselms Hintergrund hier wiederum Boethius’ Aristoteles-Kommentar ist.³⁴ Auch der Begriff der „significatio“ stammt offensichtlich aus dem aristotelischen Kontext. In De grammatico hat sich Anselm bereits ausführlich der Diskussion dieses Begriffs aus der Kategorienschrift gewidmet.³⁵ In De veritate wird er ihn weiter bearbeiten. Der Begriff „significatio“ kann mit „Bedeutung“ (so Verweyen), „Anzeige“ (so Schmitt und Enders) oder „Bezeichnung“ wiedergegeben werden. Für den Textfluss eignet sich gerade in der Verbform in den meisten Fällen „anzeigen“. In der Regel verwende ich diese Übersetzung. Entscheidend ist jedoch, dass bei diesem Wort zweierlei mitgehört wird. Zum einen steht „significatio“ für Referenz. Das Verb „significare“ meint „anzeigen“ im Sinne von „auf etwas zeigen“, „auf etwas Bezug nehmen“. Deswegen scheint mir eine angemessene Übersetzung für den Titel von Kapitel II in der Tat Über die Wahrheit der Bezugnahme etc. zu sein. Zum anderen wird auch die etymologische Herkunft des „significare“ aus einem „signum facere“ eine wichtige Rolle spielen: Anzuzeigen, zu referieren, geht damit einher, ein Zeichen zu machen. Diese etymologische Verbindung ist verschiedentlich bemerkt worden.³⁶ Soweit ich sehe, hat bisher jedoch niemand ihre systematische Tragweite mit der letzten Konsequenz be-
Vgl. Aristoteles, De interpretatione I, Aristoteles Latinus, Bd. II 1– 2, 5 | Z. 4. Vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 116 f. Eine Zusammenschau zu der dortigen Rolle der „significatio“ bietet Kohlenberger, Helmut, Similitudo und ratio. Überlegungen zur Methode bei Anselm von Canterbury, Bonn 1972, 40 – 44. Vgl. Verweyen, Hansjürgen, Einleitung, in: Anselm, Wahrheit und Freiheit, hg. von Verweyen, 9 – 33, 18.
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dacht. Dies geschieht hingegen im Folgenden mit der Würdigung von Anselms Pragmatismus. Ich werde nun Kapitel II von De veritate in seiner Dynamik und seinen Argumentationsschritten rekonstruieren. Es lässt sich in drei Abschnitte unterteilen, die ich jeweils interpretiere (Punkte 2 bis 4). In einem vierten Schritt nehme ich eine systematische Rekapitulation der wegweisenden Funktion von Kapitel II vor (Punkt 5). (2) Der erste Abschnitt (vgl. De ver. II, Op. 1,177 | Z. 6 – Op. 1,178 | Z. 7) ist wie ein Test aufgebaut. Der Lehrer gibt das Thema vor, die Wahrheit der Aussage zu untersuchen; der Schüler darf auf Nachfragen des Lehrers hin sein Wissen präsentieren. „Wann ist eine Aussage wahr?“ (De ver. II, Op. 1,177 | Z. 9), fragt der Lehrer. Der Schüler gibt die Antwort, die er über Boethius von Aristoteles kennt: Sie ist wahr, wenn sie sagt, was der Fall ist – indem sie entweder bejaht, was der Fall ist, oder verneint, was nicht der Fall ist.³⁷ Aber worin genau besteht die Wahrheit der Aussage? Ist die Wahrheit der Aussage identisch mit der ausgesagten Sache? Das verneint der Schüler. Er verweist dabei auf einen ähnlichen Gedanken, wie er bereits in Kapitel I durch das Monologion-Zitat zum Ausdruck kam, und begründet seine Absage damit, dass „nichts wahr ist, wenn es nicht an der Wahrheit teilhat“ (De ver. II, Op. 1,177 | Z. 16). Die Wahrheit, an der das einzelne Wahre, d. h. hier die einzelne wahre Aussage teilhat, ist aber keineswegs der Gegenstand bzw. Sachverhalt, auf den sich diese bezieht. Die wahre Aussage ist nicht in dem Sachverhalt. Der Sachverhalt ist ihr etwas Äußerliches. Er könne zwar, so der Schüler angelehnt an die Kategorienschrift des Aristoteles, als „causa veritatis“ (De ver. II, Op. 1,177 | Z. 18) verstanden werden.³⁸ Aber er ist nicht die Wahrheit, an der die wahre Aussage partizipieren würde.
Vgl. den Beleg zu Boethius bei Flasch, Begriff der Wahrheit, 324. Es handelt sich um Boethius’ Kommentar zur Kategorienschrift, in dem er aber auch die genannte Wendung aus der Metaphysik überliefert. Anselm teilt also diese Kenntnis mit Thomas, der seinerseits die Stelle aus der Metaphysik zur Unterfütterung seiner Wahrheitstheorie anführt: vgl. Thomas von Aquin, Von der Wahrheit, 2 (q.1, a.1) sowie 8 (q.1, a.1, responsio). Was für Thomas allerdings den Kern seines „objektivistischen Wahrheitsbegriff[s]“ (Flasch, Begriff der Wahrheit, 324) darstellt und zur Definition hinreicht, ist für Anselm lediglich einer der Aspekte von Wahrheit. Die entscheidende Stelle ist Aristoteles, Categoriae vel Praedicamenta (Translatio Boethii), in: Aristoteles Latinus, hg. von Laurentius Minio-Paluello, Bd. I 1– 5, Brügge, Paris 1961, 1– 41, 38 | Z. 12– 14: „est autem verus sermo nullo modo causa subsistendi rem, res autem videtur quodammodo causa esse ut sermo verus sit; nam, quoniam est res vel non est, verus sermo vel falsus dicitur“ / „Die wahre Rede ist aber keineswegs die Ursache dafür, dass der Gegenstand existiert, sondern der Gegenstand kann in gewisser Weise so betrachtet werden, dass er die Ur-
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Fällt die Gegenstandsseite aus, so muss die Aufmerksamkeit auf die Satzseite verlagert werden. Ist dort die Wahrheit zu finden? Hier gerät der Schüler vollends ins Stocken. Wenn nämlich nur der Satz mit seinen Elementen untersucht und zugleich festgehalten wird, er sei durch Teilhabe an der Wahrheit überhaupt wahr, dann könnte nicht mehr zwischen wahren und falschen Sätzen unterschieden werden. Alle Sätze wären automatisch wahr. Der Teilhabegedanke liefert kein Kriterium. So zieht sich der Schüler auf die anfängliche aristotelische Position zurück, eine Aussage sei wahr, wenn sie sagt, dass ist, was ist, und unterstreicht, halb desillusioniert, halb trotzig: „Ich weiß nichts anderes [als dies]“ (De ver. II, Op. 1,178 | Z. 6). In diesem ersten Abschnitt wird also das Feld des Sprechens in verschiedene Richtungen durchschritten. Wir haben Versatzstücke der aristotelischen Sprachphilosophie vor uns: generell die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Gegenstand bzw. Sachverhalt sowie die Einräumung des Vorrangs der Proposition vor dem singulären Terminus. Den außersprachlichen Gegenständen bzw. Sachverhalten wird dabei zwar zugestanden, die Wahrheit einer Aussage zu verursachen, aber abgesprochen, die Wahrheit einer Aussage zu sein. Oder anders gesagt: Sie machen zwar eine Aussage wahr, aber sie machen nicht die Wahrheit der Aussage aus. Die gesuchte Definition fehlt also noch. Auch der Versuch, sich dieser Wahrheit mittels des besagten Partizipationsgedankens zu vergewissern, führt nicht weiter. Dieser mag, in Kapitel I in Form eines Retorsionsarguments vorgetragen, in sich stimmig sein. Aber er liefert gerade keine Antwort auf die Frage, wie unendliche Wahrheit und endliche Wahrheiten zu vermitteln wären. Kapitel I hatte das Problem benannt – gelöst werden kann es nur im Durchgang durch die folgenden Kapitel und insbesondere durch Kapitel II, das als Nadelöhr für die gesamte Argumentation angesehen werden kann. Die meisten Kommentatoren sehen im Partizipationsgedanken einen Ausdruck der neuplatonischen Prägung Anselms. Er zehre relativ unbedarft von „augustinisch-(neu‐)platonischen Versatzstücke[n] der Teilhabelehre“³⁹, so Wolfgang Gombocz, ja „sein ganzes Denken“ sei „Partizipationsmetaphysik“⁴⁰, so Flasch. Für Enders, der diese beiden Zitate ebenfalls anführt, sei „Anselms Denken als eine platonisch bzw. platonistisch bestimmte ‚Partizipationsmetaphysik‘ zu kennzeich-
sache dafür ist, dass die Rede wahr ist. Weil nämlich der Gegenstand ist oder nicht ist, wird die Rede wahr oder falsch genannt“ (Übersetzung T.H.). Gombocz, Wolfgang L., „Facere esse veritatem“, in: Foreville, Raymond (Hg.), Spicilegium Beccense II. Les mutations socio-culturelles au tournant des XIe – XIIe Siècles, Paris 1984, 561– 569, 567. Flasch, Begriff der Wahrheit, 338.
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nen“⁴¹. Es handle sich dabei sogar um die „Grundprämisse seines Beweisganges“⁴². Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt der Herausgeber der Opera Omnia, Franciscus Schmitt.⁴³ Er macht sie zunächst daran fest, dass Anselm die Wörter „participatio“ und „participare“ nur sehr selten verwendet – De veritate II ist eine von sechs Stellen im gesamten Werk Anselms. Für Schmitt handelt es sich um eine „logische Selbstverständlichkeit, die jedem einleuchtet und daher auch nicht eigens bewiesen wird“⁴⁴, wenn der Schüler sagt, dass „nichts wahr ist, wenn es nicht an der Wahrheit teilhat“. Sinngemäß heiße das ja nichts anderes, als dass das Wahre nicht ohne Wahrheit sein könne. Damit sei lediglich behauptet, dass dem Aussagesatz eine bestimmte Qualität zugesprochen werde, nicht aber, dass er Anteil an einer anderen Substanz habe. Der entscheidende Punkt ist für Schmitt allerdings ein anderer: Anselm könne gar kein Neuplatoniker gewesen sein, weil er nämlich Christ war – neuplatonische Partizipationsmetaphysik und christliche Schöpfungslehre würden sich gegenseitig ausschließen. Schmitt trägt das eher apodiktisch vor. Seine ablehnende Haltung scheint also weniger philologisch als vielmehr konfessionell motiviert zu sein. Der Streit zwischen den unterschiedlichen Bewertungen des Partizipationsgedankens kann und sollte an dieser Stelle noch nicht entschieden werden. Sowohl für Kapitel I wie für Kapitel II von De veritate gilt, dass das Argument aus der Partizipation der endlichen Wahrheiten an der unendlichen Wahrheit gerade nicht als den Beweisgang tragend akzeptiert, sondern relativiert und beiseite geschoben wird.⁴⁵ Der Partizipationsgedanke allein reicht nicht hin. Er ist, gegen Enders, nicht die „Grundprämisse“ von Anselms Beweisgang. Am Ende des Beweisgangs wird in der Tat eine transformierte „Partizipationsmetaphysik“ eine Rolle spielen, allerdings wiederum in einem anderen Sinne, als Enders meint. (3) Kehren wir zurück in den Wortwechsel von Kapitel II. An dem Punkt, an dem der Schüler sich verhakt hat, ergreift der Lehrer die Initiative. Er fragt: „Ad quid facta est affirmatio?“ – „Wozu ist die Bejahung / Behauptung gemacht?“
Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 121. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 121. Vgl. Schmitt, Franciscus Salesius, Anselm und der (Neu‐)Platonismus, in: Ders. u. a., Analecta Anselmiana I, 39 – 71, zum Folgenden insbesondere 39 – 41. Schmitt, Anselm und der (Neu‐)Platonismus, 40 f. In diesem Sinne ist übrigens auch Gombocz’ Formulierung von den „Versatzstücke[n] der Teilhabelehre“ gemeint, denn er betont, dass sie „weitgehend unverbunden“ neben Anselms eigentlichen Argumenten aufzufinden seien (Gombocz, Facere esse veritatem, 567).
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(De ver. II, Op. 1,178 | Z. 8).⁴⁶ Mit dieser Frage bringt er eine Perspektive in das Gespräch ein, die bisher nicht beachtet worden ist. Zuvor war nach „Was“ und „Ob“, nach „Wann“ und „Warum“ gefragt worden. Nun ist nach dem „Wozu“ gefragt, nach dem Zweck. Genau hiermit erhält die Diskussion ihren entscheidenden Dreh, der darin besteht, Sprechen als eine Praxis zu analysieren und die in ihr implizite Normativität explizit zu machen. Die Argumentation ist wunderbar in Dialogform gegossen und sei daher am Stück zitiert: L: Wozu ist die Bejahung / Behauptung gemacht? S: Um anzuzeigen, dass ist, was ist. L: Das also soll sie. S: Gewiss. L: Wenn sie also anzeigt, dass ist, was ist, dann zeigt sie an, was sie soll. S: Offensichtlich. L: Und wenn sie anzeigt, was sie soll, dann zeigt sie richtig / in rechter Weise an. S: So ist es. L: Wenn sie aber richtig / in rechter Weise anzeigt, dann ist die Anzeige richtig / recht. S: Daran besteht kein Zweifel. L: Wenn sie also anzeigt, dass ist, was ist, dann ist die Anzeige richtig / recht. S: Das folgt daraus. L: In gleicher Weise [gilt]: Wenn sie anzeigt, dass ist, was ist, ist die Anzeige wahr. S: Wahrhaftig ist sie sowohl richtig / recht als auch wahr, wenn sie anzeigt, dass ist, was ist. L: Es ist daher dasselbe für sie, richtig / recht und wahr zu sein, d. h. anzuzeigen, dass ist, was ist. S: Wahrhaftig dasselbe. L: Folglich ist für sie Wahrheit nichts anderes als Richtigkeit / Rechtheit. S: Ich sehe jetzt klar, dass diese Wahrheit Richtigkeit / Rechtheit ist.⁴⁷ (De ver. II, Op. 1,178 | Z. 8 – 26)
In dem zitierten Abschnitt lotst der Lehrer den Schüler vom Zweck der „affirmatio“ zur Wahrheit der „significatio“. Die „affirmatio“ ist die positive Variante der „significatio“, die sagt, dass ist, was ist. Die negative Variante wäre die „negatio“,
Die „affirmatio“ hat die „negatio“ als Gegenbegriff, bedeutet also Bejahung (so Schmitt und Enders), aber auch Behauptung (so Verweyen) oder Festlegung, wobei natürlich die „negatio“ ebenfalls eine Behauptung und Festlegung ist. Das Demonstrativpronomen im Satz „video veritatem hanc esse rectitudinem“ wird von Enders und Schmitt auf „rectitudinem“ bezogen, von Verweyen und mir auf „veritatem“. Von der Logik der Gesprächsführung ist beides möglich: Im ersten Fall würde damit der obige Dialogteil abgeschlossen (diese Richtigkeit / Rechtheit, die man soeben bedacht hat, kann zur Erklärung der Wahrheit herangezogen werden), im zweiten Fall nimmt man Rücksicht auf den größeren Kontext (diese Wahrheit der Anzeige, über die man bisher gesprochen hat, ist Richtigkeit / Rechtheit, offen ist aber noch die Frage nach der Wahrheit der Aussage, die im Folgenden behandelt wird).
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die sagt, dass nicht ist, was nicht ist. Hierzu könnte der Argumentationsgang analog durchgeführt werden, wie der Lehrer im nächsten Satz festhält (vgl. De ver. II, Op. 1,178 | Z. 27). Wichtig erscheint mir an den Ausführungen zweierlei. Erstens geht es um die Frage der Bezugnahme. Wenn wir sprechen bzw. miteinander reden, beanspruchen wir, etwas über die Wirklichkeit auszusagen. Wir nehmen Bezug auf Gegenstände in der Welt und ihre Beschaffenheit oder auf Sachverhalte, Zustände, Verläufe. Das ist die Absicht, die wir – zumindest ziemlich häufig – im Sprechen verfolgen. Auch in expressiven oder appellativen Sprechakten, die Anselm hier nicht untersucht, kommen wir kaum ohne Bezugnahmen auf die Welt, in der wir leben, aus. Zu Anselms Sprach- und Erkenntnistheorie jedenfalls gehört diese Dimension definitiv hinzu. Zweitens gilt jedoch: Der äußere Gegenstand, auf den ich Bezug nehme, ist nicht der Maßstab unserer Sprachpraxis. Der äußere Gegenstand liegt bloß vor. Der Maßstab findet sich vielmehr im Prozess des Sprechens bzw. Erkennens selbst. Er besteht in dem Anspruch, so gut wie möglich zu bezeichnen, zu erkennen. Diesen Maßstab nennt Anselm „rectitudo“. Nur weil ich ihr zu entsprechen suche, mache ich mich überhaupt daran, den Gegenstand so gut es geht zu bezeichnen. Anselm ist kein Empirist. Er glaubt nicht daran, dass die Wahrheit unvermittelt vom Gegentand in den Kopf springt.Vielmehr ist er davon überzeugt, dass Wahrheit nur in einem Prozess zustande kommt. Wahrheit ist ihrerseits nichts anderes als „rectitudo“, das heißt: Sie kommt zustande, wo diesem Maßstab entsprochen wird; andernfalls wird sie verfehlt. Mehr aber braucht man nicht, um zu verstehen, was Wahrheit ist! Sie ist einzig in dieser formalen Weise eines zu erfüllenden Maßstabs bestimmt. Ein solcher Gedanke scheint Abstufungen zuzulassen, ein Mehr-oder-Weniger statt eines Alles-oder-Nichts. Bezeichnungen können zunächst einmal zutreffen, ohne schon den höchsten Grad der Genauigkeit erreicht zu haben. Die Aussage „Dieser Apfel ist rot“, mit der ich den entsprechenden Gegenstand beschreiben möchte, wird nicht falsch, aber sie wird ggf. verbessert, wenn sie durch die Aussage „Dieser Apfel ist dunkelrot“ ersetzt wird. Ein unter dem Maßstab der „rectitudo“ stehender Erkenntnisprozess ist offen für Korrektur und Fortschritt. Es kann also differenzierend gesagt werden: Wahrheit kommt zustande, wo der Maßstab der „rectitudo“ im besten Fall erreicht, mindestens aber angestrebt wird. Anselm geht in Kapitel II nicht auf solche Abstufungen ein. Es ist aber aus späteren Passagen darauf zu schließen, dass sie in seine Argumentation eingefügt werden können. Einen Hinweis kann das Beispiel in Kapitel IX geben: Angesichts giftiger und gesunder Kräuter, die ich selbst nicht unterscheiden kann, traue ich weniger dem mündlich gegebenen Rat einer kundigen Person als vielmehr dem, was sie tut, nämlich die einen zu essen und die anderen zu meiden (vgl. De ver. IX, Op. 1,189 | Z. 10 – 17). In dem Beispiel ist zwar eine Entscheidungssituation kon-
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struiert, in der es nur ein Entweder/Oder gibt. Es kann aber auch so erzählt werden, dass es ein Mehr-oder-Weniger zulässt, dann nämlich, wenn die kundige Person mit der Situation hadert, in ihrem Tun zögert, also mehrdeutige Signale aussendet. Ebenso könnte ich einer differenzierteren Aussage mehr glauben als einer pauschalen, ohne dass die pauschale gänzlich falsch würde. Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus Anselms Konzeption der „summa veritas“, der „höchsten Wahrheit“. Wie bereits gesagt, kann sie rein formal verstanden werden. Das hieße nun nach Einführung des Begriffs der „rectitudo“: als perfekte Übereinstimmung von „rectitudo“-Norm und ihrer Erfüllung. Ex negativo lässt sich also sagen: Wenn es eine perfekte Übereinstimmung gibt, dann gibt es auch nicht-perfekte, d. h. solche, die die Übereinstimmung mit der Norm anstreben, aber nur teilweise realisieren, endlich sind, und damit ein Mehr-oder-Weniger zulassen. In der dargelegten Weise bestimmt Anselm also die Wahrheit der „significatio“, der Bedeutung bzw. Anzeige, durch die wir zu Erkenntnissen über die Welt gelangen. Sie besteht in dem inneren Maßstab, den er „rectitudo“ nennt, und den Versuchen, diesem Maßstab gerecht zu werden. Der „rectitudo“ gerecht werden kann man durch nichts anderes als durch die Praxis des „significare“ selbst. Dies ist Anselms fundamentale Einsicht, die im Lauf des gesamten Dialogs entfaltet wird, mit Blick auf das Sprechen, Denken, Wollen, Handeln und Existieren. Mit dem „rectitudo“-Begriff ist eigentlich schon alles erreicht. Es muss nur noch diese innere „rectitudo“ von der physischen Geradheit abgegrenzt werden, die im Lateinischen auch gemeint sein könnte, um schließlich in Kapitel XI definieren zu können, dass Wahrheit allein mit dem Verstand erfassbare „rectitudo“ ist (vgl. De ver. XI, Op. 1,191 | Z. 8 – 20). Um die angemessene Übersetzung von „rectitudo“ mit „Rechtheit“ oder „Richtigkeit“ sind vehemente Auseinandersetzungen geführt worden. Exemplarisch steht dafür der Schlagabtausch zwischen Guido Löhrer und Markus Enders.⁴⁸ Enders sorgt sich, dass „Richtigkeit“ im heutigen Sprachgebrauch auf Aussagen beschränkt sei und deshalb ein Gang durch die weiteren Wahrheitsorte von vornherein als unverständlich erscheinen würde. Ferner sei der heutige Sprachgebrauch eine Folge von Hegels Abwertung der „Richtigkeit“ als einer bloß äußerlichen Korrespondenz zwischen Vorstellung und Gegenstand gegenüber der
Die Vorlage gibt Enders, Wahrheit und Notwendigkeit. Für die Attacke vgl. Löhrer, Anachronismus und Akairie, sowie Ders., Ontologisch oder epistemisch? Anselm von Canterbury über die Begriffe Wahrheit und Richtigkeit, in: Recherches de Théologie et Philosophie Médiévales 69 (2002), 296 – 317. Für die Replik vgl. Enders, Markus, Ist Anselms Theorie der Wahrheit in sich konsistent?, in: Ernst, Stephan, Franz, Thomas (Hg.), Sola ratione. Anselm von Canterbury (1033 – 1109) und die rationale Rekonstruktion des Glaubens, Würzburg 2009, 137– 164, 138 – 149.
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„Wahrheit“, die darin bestehe, dass ein Gegenstand seinem Begriff entspreche.⁴⁹ Vor diesem Hintergrund sei es „nicht nur sinnvoll, sondern geboten“⁵⁰, Anselms „rectitudo“ mit „Rechtheit“ zu übersetzen. Löhrer sieht hingegen die Gefahr, dass das Kunstwort „Rechtheit“ nicht nur durch seine ethische Konnotation vom eigentlichen Thema wegführt, sondern zudem ideologisch aufgeladen sei. Seine Einführung durch einen „autoritären Gestus“⁵¹ der Übersetzer sei der Versuch, eine Vorherrschaft über die Sprache zu gewinnen und in unheiliger Allianz mit Hegel, Heidegger und Gadamer sowie der subjektlos waltenden Geistesgeschichte zu entscheiden, was ein höherwertiges und was ein minderwertiges Wort sei. Natürlich sollte man sich für eine Variante entscheiden, wenn man eine lesbare zusammenhängende Übertragung Anselms ins Deutsche vorlegen möchte. Inhaltlich kann man die Sache meines Erachtens jedoch durchaus entspannter sehen. Denn so oder so muss die Übersetzung erläutert werden. Schon „rectitudo“ selbst ist ja ein terminus technicus. Daher habe ich eine leichte Tendenz zur Übersetzung mit „Rechtheit“ (und werde sie im Folgenden verwenden), eben weil es ein ungewöhnliches Wort ist, an dem man sich stößt. Wie die Rekonstruktion, die ich hier vornehme, verdeutlicht, ist „rectitudo“ die Chiffre für eine innere Normativität, die die Erfüllung durch eine Praxis fordert. Sie wird bei Anselm zwar auch in den eigentlich ethischen Ausführungen zum Einsatz kommen. Ihre Einführung erfolgt jedoch unabhängig vom ethischen Kontext. Es handelt sich um eine Normativität, die sowohl den theoretischen als auch den praktischen Bereich durchzieht. (4) Der Abschnitt über die Wahrheit der „significatio“ endet damit, dass der Schüler sein Einverständnis mit der Argumentation des Lehrers signalisiert. Nun aber ergreift der Schüler seinerseits die Initiative und will das Thema weiter differenzieren. Damit fordert er dem Lehrer einen langen Monolog ab, auf den der Schüler zustimmend reagiert. Dieser dritte Abschnitt von Kapitel II reicht von De ver. II, Op. 1,178 | Z. 28 bis zum Ende des Kapitels. Der Schüler formuliert einen Einwand gegen die bisherigen Überlegungen, welcher auf die beschworene innere Normativität und die ihr entsprechende Praxis zielt. Nicht jeder Satz, so wendet er ein, bezeichnet oder will bezeichnen,
Vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 131– 133, sowie Enders, Ist Anselms Theorie konsistent?, 140 f. Auch andere Autoren, die gegen die Übersetzung von „rectitudo“ mit „Richtigkeit“ votieren, führen Hegel als Gewährsmann an: vgl. beispielsweise Flasch, Begriff der Wahrheit, 330 f.; Goebel, Rectitudo, 65 f. Bezogen wird sich dabei meistens auf die „Zusätze“ zu § 172 und zu § 213 der Enzyklopädie von 1830. Enders, Ist Anselms Theorie konsistent?, 141. Löhrer, Anachronismus und Akairie, 108; Ders., Ontologisch oder epistemisch?, 316.
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nicht jeder Satz sagt, dass der Fall ist, was der Fall ist. Unabsichtlich oder absichtlich äußern wir falsche Sätze. Wir sagen nicht immer die Wahrheit. Das ist jedoch nicht einem Defekt der Sätze zuzuschreiben. Sie tun vielmehr ihre Schuldigkeit. Denn, so formuliert es der Schüler, das Sprechen habe gleichermaßen „empfangen anzuzeigen, dass ist, sowohl was ist als auch was nicht ist“ (De ver. II, Op. 1,178 | Z. 30 f.). Wir können Sätze äußern, die sehr geschickt etwas behaupten, was gerade nicht der Fall ist. Die Pointe einer Lüge besteht darin, dass sie genauso daherkommt wie eine wahre Aussage. Auch der Satz, der sagt, dass ist, was nicht ist, tut, was er kann, und tut, was er soll. Auch solche Sätze müssten mithin recht und wahr genannt werden, so folgert der Schüler. Der Lehrer stimmt dem Schüler zu. Ein grammatisch wohlgeformter Satz ist verständlich und hat somit seine eigene Form von Wahrheit, auch wenn er nichts Wahres anzeigt. Ein Beispiel dafür wäre „Einhörner sind weiß“.⁵² Es gibt beim Sprechen eine zweifache Normativität und die Möglichkeit einer zweifachen Wahrheit. Die Formel für die rein sprachliche Ebene, unabhängig vom Bezug auf die Außenwelt, übernimmt der Lehrer vom Schüler: Die Aussage hat „empfangen anzuzeigen“ – „accepit significare“ (De ver. II, Op. 1,178 | Z. 30; Op. 1,179 | Z. 4, 8, 12). Wenn sie das tut, dann erfüllt sie automatisch ihre „rectitudo“, dann ist sie in jedem Fall wahr, unabhängig davon, ob das, was sie aussagt, der Fall ist oder nicht (vgl. De ver. II, Op. 1,179 | Z. 12– 15.). Die andere Ebene ist diejenige, die wir schon kennen: Eine Aussage zeigt an, was tatsächlich der Fall ist. Sie wird mit der ebenfalls bereits bekannten Formel „wozu sie gemacht ist“ – „ad quod facta est“ (De ver. II, Op. 1,179 | Z. 4) – umschrieben. Auf dieser Ebene wird die „rectitudo“ nicht notwendigerweise erreicht, sondern nur von Fall zu Fall. Das Beispiel, das Anselm verwendet, lautet „Es ist Tag“ (De ver. II, Op. 1,179 | Z. 15). Der Satz ist notwendigerweise wahr in dem Sinne, dass er tut, was er grammatisch kann. Hier ist keine Steigerung zu erwarten, eine bessere Grammatik als die gewöhnliche gibt es für Anselm nicht. Der Satz ist aber nur dann im Sinne der Anzeige bzw. der Bezugnahme wahr, sofern tatsächlich Tag ist. Gesprochen bei Nacht ist er als Anzeige falsch. An dieser Stelle ist es abermals möglich, jene Konsequenz aus Anselms Gedanken zu benennen, die er selbst nicht ausgesprochen hat, dass nämlich die Wahrheit der „significatio“ eine abstufende Differenzierung zulässt. Nehmen wir Anselms Beispielsatz „Es ist Tag“. Geäußert bei Morgendämmerung ist dieser Satz im Sinne der Bezugnahme nicht völlig falsch, aber auch nicht völlig wahr. Er wird indes von Minute zu Minute wahrer.
Das Beispiel stammt von mir, nicht von Anselm.
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Nach dieser Analyse enthalten Sätze also eine doppelte Normativität und eine doppelte Wahrheit; Anselm spricht von „duae rectitudines seu veritates“ (De ver. II, Op. 1,179 | Z. 20). Eine Aussage kann doppelt tun, was sie soll: „dupliciter facit quod debet“ (De ver. II, Op. 1,179 | Z. 3). Auch wenn dieser doppelte Einsatz des Wahrheitsbegriffs gegen unseren üblichen Sprachgebrauch ist – wir sind nicht gewohnt, „Einhörner sind weiß“ einen wahren Satz zu nennen –, sieht Anselm darin das expliziert, was wir genau in unserem üblichen Sprachgebrauch implizit in Anspruch nehmen. (5) Versuchen wir eine Zusammenschau dieser Sprachphilosophie. Anselm bietet eine normative Theorie der Grammatik: Wohlgeformte Sätze agieren als Wahrheitsautomaten. Mit der Betonung der zweiten Normativität einer Zweckrichtung von Sätzen im Hinblick auf Gegenstände bzw. Sachverhalte in der Außenwelt wird klar, dass die Satz-Automaten nicht in der Luft hängen. Vielmehr werden sie von menschlichen Akteuren in einer gemeinsam geteilten Welt verwendet. Anselms Anordnung entspricht Davidsons Triangulation. Einerseits ist ein externer Bezug im Spiel: Es werden Urteile über Weltzustände gefällt. Andererseits ist die Qualität dieser Urteile rückgebunden an das, was Subjekte tun und wie andere Subjekte darauf reagieren. Die Praxis des „significare“ ist kein beliebiges Zeigen auf Gegenstände, die bereits mit einer fixen Bedeutung versehen vorliegen würden.⁵³ Sie funktioniert nur, wenn sie als „signum facere“ verstanden wird. Wahrheit liegt nicht isoliert in den Gegenständen bereit, sondern sie erweist sich im Prozess des Sprechens, der so zum Prozess des Erkennens wird. In diesem Prozess macht das Subjekt seine Objekte zu signa veritatis. Es urteilt, so gut es geht, darüber, was sie sind. Es versucht, ihnen gerecht zu werden, indem es – das ist nun das Besondere der anselmianischen Lösung – versucht, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Ohne den Maßstab der „rectitudo“, ohne den Anspruch „significare esse quod est“, und ohne den Versuch, diesem Maßstab zu entsprechen, kämen gar keine wahren Urteile über die Welt zustande. Somit gäbe es aber auch keinen Erkenntnisgewinn. Erkennen ist nach Anselm also eine Tätigkeit des Zeichen-Setzens. Man kann in dieser Hinsicht durchaus sagen, dass Wahrheit konstruiert wird.⁵⁴ Sie wird konstruiert, nicht lediglich konstatiert. Wahrheit wird konstruiert, indem signa veritatis in die Welt gesetzt werden, an ihnen gebaut wird. Es handelt sich dabei Anselm steht in dieser Frage also, obwohl es in seinem Gesamtwerk viele positive Bezüge zu Augustinus gibt, eher auf Seiten von Wittgensteins Kritik an Augustinus’ Theorie über das Erlernen der Sprache: vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 237 f. | § 1. Das ist ein Gedanke, der Enders offensichtlich fremd bleibt. Für eine Deutung, die in dieselbe Richtung zielt wie die meinige, vgl. hingegen Gombocz, Facere esse veritatem.
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um Konstruktionen, die zerbrechlich sind. Es sind freilich zugleich Konstruktionen, die nicht beliebig sind.Wahrheit soll konstruiert werden. Darauf kommt es im Erkenntnisprozess an. Nicht der Maßstab wird konstruiert, wohl aber die einzelnen Akte, die ihm zu entsprechen suchen. Diese Akte haben sich zu bewähren und so erst zu bewahrheiten. In diesem Prozess wird die Welt für erkennende Subjekte nach und nach zum Raum der Wahrheit. Es ist eine Wahrheit, die nicht in den Dingen bereitliegt. Vor diesem Hintergrund spreche ich mit Blick auf Anselm von einem normativen Pragmatismus. Das Gegenbild, von dem er sich abgrenzt, ist ein atomistischer Empirismus. Wenn Erkenntnis nicht im bloßen Konstatieren des Vorliegenden besteht, dann ist der Prozess des Erkennens als ein Prozess des Bestimmens, und zwar des Sich-selbst-Bestimmens zu verstehen. Es sei an die Stelle erinnert, die den Übergang vom ersten zum zweiten Abschnitt von Kapitel II markiert. Als der Schüler mit seinen Antworten vorerst ans Ende seiner Weisheit gekommen ist, fragt ihn der Lehrer: „Ad quid facta est affirmatio?“ (De ver. II, Op. 1,178 | Z. 8). Wenn es um Wahrheit geht, geht es um Affirmation, Bejahung, Festlegung. Ich lege mich fest auf die Wahrheit einer Aussage, eines Urteils. Ich lege mich darauf fest, dass der Fall ist, was der Fall ist. Ich lege mich fest und lasse mich festlegen auf den Maßstab der „rectitudo“. Damit ist zum einen der Raum für den Gedanken der Interaktion mit anderen Subjekten eröffnet. Sich auf Wahrheit festzulegen und sich festlegen zu lassen, geschieht im Medium einer Sprache und eines Miteinander-Sprechens. Dies kann mittels der mündlichen Sprache geschehen oder auch der Sprache des Tuns und Unterlassens.⁵⁵ Zum anderen ergibt sich die Normativität nicht erst am Ende aus der Interaktion, aus etwaigen Wünschen und Imperativen anderer an mich, sondern sie ist als innerer Anspruch bereits in ihr wirksam. In diesem Sinne also wird Wahrheit „gemacht“: indem ich sie mit meinem und in meinem Sprechen affirmiere. Der Begriff der „rectitudo“ tut mithin beides: Er gibt den formalen Maßstab vor und er bezeichnet die Erfüllung dieses Maßstabs. Er benennt ein Sollen, das ein Entsprechen fordert. Die Praktiken, die der Forderung der „rectitudo“ entsprechen, sind einmal, automatisch, das verständige Reden, und dann, mit spezifischer Aussagekraft, alle Formen des Zeichen-Setzens. Mit diesen Praktiken richten sich Subjekte an der „rectitudo“ aus und legen sich auf Wahrheit fest. So
Anselm bezieht das, was er in Kapitel II exponiert, auf alle Formen von Sprache. Die Tätigkeit des „signum facere“ wird vollzogen „in omnibus signis“ (De ver. II, Op. 1,180 | Z. 2). Später wird das beredte Bild auftauchen, dass, wenn man das Wollen und Denken eines anderen Menschen beobachten könnte, es genau so aussähe wie ein Zeigen und Zeichen machen: „significaret tibi ipso opere“ (De ver. IX, Op. 1,189 | Z. 22 f.). Das Beispiel von den heilsamen und giftigen Kräutern ist oben bereits angeführt worden.
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erkennen sie. Hier findet, um die thomasische Wahrheitsdefinition aufzugreifen, adaequatio in eine doppelte Richtung statt: adaequatio ad rem ist für Anselm nicht möglich ohne adaequatio ad rectitudinem. Erkenntnis ist ein Prozess der Angleichung, der einem normativen Soll gerecht zu werden sucht und zu dem deshalb auch die praktisch-existentielle „affirmatio“ gehört. Es geht darum, miteinander zu reden, sich festzulegen, sich über Objekte und Sachverhalte zu verständigen, sich auf das Gesagte und aufeinander verlassen zu können und so letztlich auch sich selbst zu trauen.⁵⁶ Die Praxis des Sprechens und Erkennens ist die Gestaltung der Welt zum Raum der Gründe. Ich sehe in der hier vorgelegten Interpretation des II. Kapitels von De veritate eine angemessene Anwendung und produktive Fortführung von Brandoms rekonstruktiver Metaphysik. Diese Fortführung ist an einem Text vorgenommen worden, der Brandom vermutlich nicht in den Sinn gekommen ist. Zugleich geht sie philologisch sorgfältiger vor, als Brandom es zu tun pflegt. Somit erfüllt sie die notwendige Bedingung für eine systematische Rekonstruktion im Sinne Emundts’. Es geht keineswegs darum, schlicht die eigene Meinung in fremde Texte hineinzuprojizieren. Der Umstand, dass es sich um einen mittelalterlichen Text handelt, der für uns heute fremd und sperrig wirkt, macht umso deutlicher, dass wir nicht einfach über seine Eigenarten hinweggehen können, wenn wir auch nur ein wenig von ihm lernen wollen. Zugleich verstärkt die von Brandom herkommende Versuchsanordnung dieser Arbeit Anselms entscheidende Einsicht in die innere Normativität der Praxis des Sprechens und Erkennens. Sie lässt an Anselms Text etwas hervortreten, das in bisherigen Interpretationen wie denjenigen von Enders, Flasch und Goebel, die völlig zurecht als state of the art der Anselm-Forschung gelten, noch verborgen bleiben musste. Der Begriff der „rectitudo“ ist zwar bereits als rationalistisches Konzept gewürdigt worden, welches das Rückgrat für Anselms Wahrheitsdialog sowie für seine folgenden Dialoge bildet und insofern ein Alleinstellungsmerkmal Anselms ausmacht. Aber zu betonen, dass in diesem Konzept zusammen mit der rationalistischen Strenge die pragmatische Offenheit und das Prekäre unseres argumentativen Tuns und Lassens transportiert werden, ist ein neuer Beitrag durch die vorliegende Arbeit. In der Tat steht und fällt der Wahrheitsdialog mit dem „rectitudo“-Begriff – sofern beide Seiten, die rationalistische wie die pragmatistische, berücksichtigt werden.
Die existentielle Sichtweise wird auch betont bei Dreyer, Mechthild, Veritas – Rectitudo – Iustitia. Grundbegriffe ethischer Reflexion bei Anselm von Canterbury, in: Recherches de Théologie et Philosophie Médiévales 64 (1997), 67– 85. Allerdings votiert sie am Ende ihres Artikels plötzlich gegen Anselm und für Thomas.
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Somit haben wir einen Punkt erreicht, an dem sich Brandoms und Anselms Konzeptionen gegenseitig ins Licht rücken. Zu diesem Zweck sollen systematische Rekonstruktionen da sein. Im wechselseitigen Licht lässt sich zunächst sehen, dass Anselm in einem bestimmten Sinne kein Platoniker ist. Er ist es nämlich nicht in dem Sinne, wie dieses Etikett oftmals in der heutigen Diskussion und auch bei Brandom verwendet wird, wo es die Auffassung markieren soll, dass es einen feststehenden Begriffshimmel gibt, der unberührt von unseren endlichen Praktiken diesen von außen vorschreibt, was eine richtige und was eine falsche Begriffsverwendung ist.⁵⁷ Dieser Auffassung verweigert sich Anselm mit seinem Konzept der „rectitudo“. Normativität ist für Anselm nicht losgelöst von Praxis denkbar. Dieser Anti-Platonismus Anselms, um es so zu nennen, wird in Abschnitt 6.2.4 noch eine Rolle spielen. Eng damit verbunden ist die Relativierung des Wahrheitsbegriffs. Sie mag verwundern, heißt doch der Dialog De veritate. Aber genau eine solche Relativierung – in der Anselm-Forschung meines Wissens bisher nicht beachtet – ist in Kapitel II geschehen, und sie gibt den Takt für die folgenden Kapitel vor. Der Wahrheitsbegriff ist kein Erklärer, sondern muss erklärt werden. Anselm könnte Brandoms provokanten Titel Why Truth Is Not Important in Philosophy unterschreiben. Entscheidend ist nicht „veritas“, sondern „rectitudo“. Wie oben für Brandom und für Hegel gezeigt, so erweist sich auch bei Anselm Wahrheit als ein Derivat von Normativität. Ebenso ist Wahrheit bei Anselm wie bei Brandom und bei Hegel ein gradueller, kein klassifikatorischer Begriff. Es kann für Anselm Sätze geben, die wahrer sind als andere, weil sie z. B. differenzierter sind oder weil sie treffender sind. Wahrheit wird gemacht, und zwar schrittweise, und es ist dabei nicht immer von vornherein zu überblicken, was ein Schritt vor und was ein Schritt zurück ist.⁵⁸ In Anselms Begriff der „rectitudo“ spiegelt sich, was Brandom als task-responsibility bezeichnet hat. Angesichts dieser Verwandtschaft wird zugleich deutlich, worin die Differenz zwischen beiden Konzeptionen besteht. Anselm verfügt nicht über den kantianischen Gedanken der durch inferentielle Regeln geleiteten Integration einer Vielzahl von Wissensansprüchen in die einheitsstiftende Instanz des Subjekts.Wollte man Kants transzendentale Deduktion und ihre Interpretation durch Hegel und Brandom zum Maßstab erheben, könnte man sagen, dass Anselms normativer Pragmatismus in dieser Hinsicht bestenfalls eine Vorstufe zu dessen moderner Variante darstellt. Aber selbst als eine solche Vor-
Vgl. nochmals Brandom, Begründen und Begreifen, 12 f. Ich danke Harmut Westermann, dessen Einwände mich zur Zuspitzung dieser Problematik bewogen haben.
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stufe ist Anselms Theorie bemerkenswert. Positiv könnte man sagen, dass in ihr die Ausformulierung, die im Anschluss an Kants Deduktion möglich ist, bereits implizit in Anspruch genommen wird. Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit hat Anselm gegenüber Brandom sogar etwas voraus. Er hat nämlich eine problematische Weichenstellung nicht vollzogen. Gemeint ist die oben in Kapitel 5 ausführlich thematisierte Reduktion von Normativität auf Sozialität, die bei Brandom droht. Obwohl – oder womöglich gerade weil – Anselm ein waches Gespür für Intersubjektivität im Medium des Gesprächs aufweist, resultiert daraus nicht das Verschwinden, sondern die Würdigung von Individualität.
6.2.3 Universale Normativität (1) Der topischen Methode entsprechend folgt auf die Diskussion der Frage, was es heißen kann, Sätze „wahr“ zu nennen, ein Durchgang durch weitere „Orte“, an denen ebenfalls von „wahr“ die Rede ist. Es handelt sich dabei dem Anspruch nach um einen Durchgang durch alle solche Orte. Dieser methodische Anspruch besagt auch, dass die betreffenden Orte nicht etwa ausgedacht sind. Das Kriterium, um sie aufzufinden, ist der allgemeine Sprachgebrauch. An mehreren Stellen wird in den folgenden Kapiteln auf diesen Umstand hingewiesen. Kapitel III beginnt nahtlos mit der Formulierung, dass es, ebenso wie bei den zuvor behandelten Sätzen, auch bei Gedanken bzw. Überzeugungen üblich sei, dass wir sie „wahr“ nennen (vgl. De ver. III, Op. 1,180 | Z. 7– 9). Später wird explizit auf den „Usus […] communis locutionis“ (De ver. V, Op. 1,182 | Z. 18) verwiesen. Und Kapitel VI beginnt beispielsweise mit der schönen Wendung, dass sich der Schüler plötzlich an etwas erinnert, das bisher noch nicht untersucht worden ist: an die verbreitete Redeweise nämlich, dass es die Sinne sind, die uns Wahres vermitteln oder aber täuschen würden (vgl. De ver.VI, Op. 1,183 | Z. 12– 16). Beim Lesen dieser Kapitel springt allerdings auch ins Auge, dass sich der allgemeine Sprachgebrauch von Menschen im lateinischen Europa des 11. Jahrhunderts von der Weise, wie wir heute reden, unterscheidet. Lehrer und Schüler des Dialogs sind Lehrer und Schüler an einer Klosterschule, mindestens der mit Anselm identifizierte Lehrer ist Mönch, beide leben in einem monastischen Kontext. Formeln und Bilder aus der Bibel umgeben sie mithin Tag und Nacht. Daher wirkt es aus heutiger Perspektive sicher fremd, ist aber eben auch nicht verwunderlich, dass im Lauf des von der Methode her philosophisch argumentierenden Dialogs immer
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wieder Zitate aus der Bibel oder durch sie geprägte Bilder auftauchen.⁵⁹ Sie dienen nicht als Autoritätsargumente, sondern sind Beispiele des alltäglichen Sprachgebrauchs. Für die Zwecke dieser Arbeit ist es nicht nötig, alle Kapitel und die in ihnen bedachten Wahrheitsinstanzen mit derselben Ausführlichkeit zu behandeln. Relevant sind die Punkte, die den in Abschnitt 6.2.2 dargelegten normativen Pragmatismus in systematischer Hinsicht weiter profilieren. Zu ihnen gehören zum einen (Punkt 2) die Erwägungen aus Kapitel III zur Wahrheit der Gedanken bzw. Überzeugungen sowie die Einschränkung des Beitrags der Sinnlichkeit in Kapitel VI, zum anderen (Punkt 3) die den Kapiteln V und VII zugrundeliegende These, dass jedes Verb eine Aktivität zum Ausdruck bringt. Es wird sich herausstellen, dass dies Anselms Weise ist, den subjektiven ebenso wie den objektiven Pol des intentionalen Nexus zu thematisieren. (2) Eine der Einsichten des II. Kapitels von De veritate ist die Lehre von den zwei Normativitätsebenen, die mit Blick auf unser Sprechen unterschieden werden können: die automatisch realisierte Normativität wohlgeformter Sätze sowie der nur von Fall zu Fall bzw. mehr oder weniger erreichte normative Anspruch der Bezugnahme. Wie die Analyse gezeigt hat, setzt beim Sprechen und Bezugnehmen die zweite Ebene die erste voraus. Mit diesen beiden Ebenen operiert Anselm auch in einigen der folgenden Kapitel. Dabei erfolgt die Anwendung des zuvor Erreichten indes mal mehr, mal weniger stringent. Dies wird besonders am Kontrast zwischen Kapitel II und Kapitel III deutlich. Kapitel III ist äußerst kurz, es umfasst in der Edition der Opera Omnia nur zwölf Zeilen. Überschrieben ist es mit De opinionis veritate, was in diesem Kontext mit Über die Wahrheit der Überzeugung oder Über die Wahrheit des Gedankens übertragen werden kann. Der Begriff „opinio“ aus dem Titel wird im Kapitel selbst nicht wiederholt; dort stehen stattdessen Formen von „cogitatio“ sowie die Verben „cogitare“ und „putare“. Obwohl Begriffe wie „opinio“ und „putare“ eher auf ungefestigtes Meinen und Vermuten hinzudeuten scheinen, wird durch Anselms Erläuterung schnell deutlich, dass es ihm an dieser Stelle nicht um psychologische Aspekte, sondern um Logik geht.
Darunter sind Formulierungen wie „Wer die Wahrheit tut, kommt ans Licht“ (De ver. V, Op. 1,181 | Z. 13 f.) oder „dass der Teufel nicht in der Wahrheit ausgeharrt hat“ (De ver. IV, Op. 1,180 | Z. 21 f.), aber auch die ausführliche Erläuterung des Zusammenhangs von Sollen und Nicht-Sollen bzw. Handeln und Erleiden anhand der Kreuzigung Jesu (vgl. De ver. VIII, Op. 1,186 | Z. 29 – Op. 1,188 | Z. 8).
6.2 Eine pragmatistische Sprach- und Erkenntnistheorie und ihre Prämissen
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Argumentativ ist Kapitel III ganz von Kapitel II abhängig, wie durch den Mund des Schülers festgehalten wird: „Dem Grund entsprechend,⁶⁰ den wir bezüglich der Aussage eingesehen haben“ (De ver. III, Op. 1,180 | Z. 11), müsse auch für die Wahrheit der Überzeugung deren Rechtheit veranschlagt werden. Was dann folgt ist eine kurze Wiedergabe dieses Grundes, angewandt auf die „cogitatio“. Es handelt sich dabei aber nicht etwa um alles, was in Kapitel II bezüglich des Sprechens ausgeführt worden ist, sondern lediglich um das Argument für die Wahrheit bzw. Rechtheit der Bezugnahme. Der Begriff der „significatio“ fällt in Kapitel III zwar nicht, aber die Erläuterung ist analog zu dem entsprechenden Abschnitt des vorhergehenden Kapitels. Ein Gedanke bzw. eine Überzeugung ist demnach wahr, wenn er bzw. sie anzeigt, dass ist, was ist, oder dass nicht ist, was nicht ist. Das sei der Zweck von Gedanken bzw. Überzeugungen. Zu diesem Zweck sei es „uns gegeben, dass wir denken können“ (De ver. III, Op. 1,180 | Z. 12 f.). „Wer also der Überzeugung ist, dass ist, was ist, der meint, was er soll“ (De ver. III, Op. 1,180 | Z. 14 f.), so lautet die Folgerung. In der Erfüllung dieses Anspruchs liegt die Rechtheit bzw. Wahrheit der Überzeugung. Das ist alles. Zu diesen Ausführungen des Schülers sagt der Lehrer nur: „Du denkst richtig / auf rechte Weise“ – „Recte consideras“ (De ver. III, Op. 1,180 | Z. 18). Das ist stilistisch ansprechend, weil im Dialog wie beiläufig bekräftigt wird, was zuvor argumentativ entwickelt worden ist – ein Kunstgriff, den Anselm in seinen Dialogen häufig anwendet. An dieser Stelle verwundert jedoch, dass der Lehrer es dabei belässt und nicht versucht, mehr aus dem Schüler herauszuholen. Gegenüber der Analyse des Sprechens erscheint die Analyse des Denkens als unterkomplex. Wie soll man sich vorstellen, was der Schüler beschreibt? Was ist ein Gedanke, der denkt, dass ist, was ist, oder eine Überzeugung, die diesen Inhalt hat? Mit Kapitel II als Kontrastfolie müsste man sagen: Diese Überzeugung ist nicht propositional verfasst. Sie ist kein Urteil. Denn wäre sie es, dann müsste auch für sie gelten, dass es in ihr zwei Ebenen der Normativität gibt: die automatisch realisierte Ebene, wie sie auch bei wohlgeformte Sätzen vorkommt, und die Ebene der Bezugnahme, deren normativer Anspruch nur von Fall zu Fall erfüllt wird. Eine Überzeugung aber, die nicht propositional ist, die kein Urteil ist, stünde in keinem inferentiellen Zusammenhang. Aus ihr würde nichts folgen. Sie wäre nur ein atomistischer Eindruck von einem äußerlichen Sachverhalt. Damit hätte Anselm ein Denken beschrieben, das zwar ziemlich bunt wäre, mit zusammenhängendem Wissen aber nichts zu tun hätte. Hier macht sich bemerkbar, dass ihm der Grundgedanke der transzendentalen Deduktion fehlt.
Die Übersetzung von „Secundum rationem“ mit „Gemäß dem Begriff“ (Enders) bzw. „Nach dem Begriff“ (Verweyen) halte ich demgegenüber für unzutreffend.
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Allein Kapitel III von De veritate für das Verständnis von Anselms Erkenntnistheorie zugrunde legen zu wollen, würde also ein enttäuschendes Ergebnis zutage fördern. Wir hätten in der Tat nicht mehr als die von Brandom pauschal monierte Abbildtheorie vor uns. Anselm ist hier noch nicht einmal auf der Höhe der Logica vetus, in der Aristoteles festhält, dass es sowohl beim Sprechen wie beim Denken auf die propositionale Gliederung ankomme: „circa compositionem enim et divisionem est falsitas veritasque“ – „denn Falschheit und Wahrheit gibt es [nur] bei Zusammensetzung und Trennung“⁶¹. Kapitel III lässt einen Niveauabfall gegenüber Kapitel II erkennen und stellt einen Fehler in Anselms Argumentation dar. Anselm muss mit Anselm selbst korrigiert und ergänzt werden, wenn seine Theorie des Sprechens und Erkennens konsistent bleiben soll. Bezüglich des Denkens muss wie bezüglich des Sprechens im konsequenten Ausgang von Kapitel II Anselms normativer Pragmatismus zur Geltung gebracht werden.⁶² Dass in Kapitel III ein Problem vorliegt, wird noch eklatanter, wenn man Kapitel VI danebenlegt. In ihm wirft der Schüler die Frage auf, was davon zu halten sei, wenn wir sagen, dass in unseren Sinnen Wahrheit sei oder dass sie uns täuschen würden (vgl. De ver. VI, Op. 1,183 | Z. 15 f.). Darauf gibt der Lehrer eine lange Antwort (vgl. De ver.VI, Op. 1,183 | Z. 22 – Op. 1,185 | Z. 3). Deren Quintessenz besteht darin, dass die Sinne tun, was sie sollen, wenn sie uns Sinneseindrücke liefern – dass in ihnen also automatisch Rechtheit und Wahrheit liegt. Hingegen sei die Ursache für das, was wir normalerweise Sinnestäuschung nennen, nicht bei den Sinnen zu suchen, sondern auf der Seite des Denkens. Anselm verwendet zur Bezeichnung der Letzteren wie im Titel von Kapitel III „opinio“ (vgl. De ver.VI, Op. 1,183 | Z. 23) und wie im Corpus von Kapitel III das Verb „putare“ (passim). Zu ihnen kommen nun der „sensus interior“ (passim) in Abgrenzung zum „sensus exterior“ sowie das „iudicium animae“ (vgl. De ver. VI, Op. 1,184 | Z. 30) hinzu. Besonders die letzte Formulierung ist treffend. Denn sie macht in der Profilierung gegenüber der Sinneswahrnehmung deutlich, was sich Anselm unter Denken eigentlich vorstellt: Urteilen. Kapitel II und Kapitel VI nehmen also gemeinsam Kapitel III in die Zange und zwingen zur systematischen Klarstellung. Ein Ge-
Aristoteles, De interpretatione I, Aristoteles Latinus, Bd. II 1– 2, 5 | Z. 14 f. (Übersetzung T.H.). Auch in dieser Frage bleibt Enders auf halbem Wege stehen. Er sieht zwar, dass sich Anselm im Monologion weit ausführlicher geäußert und dort in der Tat das klassische Bild vom Denken als einem inneren Sprechen des Geistes aufgreift: vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 159 – 171. Er sieht ebenfalls, dass das III. Kapitel von De veritate hinter dem II. zurückbleibt. Aber er kaschiert dann diese Diskrepanz mit der euphemistischen Wendung, dass sich Anselm habe kurzfassen wollen: vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 171– 175.
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danke besteht nicht in einem erratischen und damit letztlich unverständlichen Abbild eines Sachverhalts, sondern in einem propositional gegliederten Urteil.⁶³ (3) In Teil 1 dieser Arbeit habe ich herausgearbeitet, wie Brandom in der Rezeption von Kants transzendentaler Deduktion sowohl den subjektiven als auch den objektiven Pol zur Geltung bringt und im Anschluss daran mit Hegel die Eigenart und den Zusammenhang beider Pole vertieft. Brandom unterstreicht die insbesondere bei Hegel angelegte Tendenz, Objekte nach dem Modell des Subjekts zu verstehen. Subjekt- und Objektseite sind jeweils begrifflich gegliedert, wobei die Erste für die Zweite maßgeblich bleibt. Brandoms Titel für diese beiden Aspekte sind Begriffsrealismus und objektiver Idealismus. In Anselms Dialog De veritate ist Ähnliches zu beobachten. Bisher stand der subjektive Pol im Fokus: die Frage, wie Subjekte zu Wissen gelangen. Nun schwenkt die Perspektive um, und es rückt der objektive Pol in den Fokus: die Frage, worüber Subjekte etwas wissen können, und was das für die entsprechenden Entitäten bedeutet. Die Art und Weise, wie Anselm davon spricht, ist einmal mehr für unsere heutigen Hörgewohnheiten fremd. Allerdings ist auch Brandoms in Verbund mit Kant und Hegel vorgetragene These, dass Objekte nach dem Modell von Subjekten zu verstehen seien, extravagant. In diesem Zusammenhang ist bei Anselm wieder die topische Methode relevant. Sie führt zum Aufspüren der strukturellen Verwandtschaft von Subjekten und Objekten. Im Sprachgebrauch des 11. Jahrhunderts können Orte ausgemacht werden, an denen der Wahrheitsbegriff nicht (nur) in Bezug auf Subjekte, sondern auch in Bezug auf Gegenstände, Sachverhalte und Verläufe verwendet wird. Entsprechend der Bindung des Begriffs der Wahrheit an den der Normativität vertritt Anselm die Auffassung, dass diese Normativität sowohl subjektive als auch objektive Instanzen durchzieht. Wir können das seine These von einer universalen Normativität nennen. Im Folgenden erläutere ich sie anhand von Elementen aus den Kapiteln V und VII des Wahrheitsdialogs. Ausgangspunkt stellen zwei Sätze aus der Bibel dar: „Wer böse handelt, hasst das Licht“ und „Wer die Wahrheit tut, kommt ans Licht“. Angesichts dieser Schriftworte ist es für Lehrer wie Schüler selbstverständlich, dass auch von Handlungen gesagt wird, dass sie wahr sein können (vgl. De ver. V, Op. 1,181 | Z. 12– 14). Aus religiöser Perspektive sei dies sogar Glaubensgegenstand. Es ist allerdings interessant, wie Anselm bei der weiteren Analyse des biblischen Anselms Überzeugung, die sogenannte Sinnestäuschung sei „nicht die Schuld der Sinne […], sondern dem Urteil der Seele zuzurechnen“ (De ver. VI, Op. 1,184 | Z. 29 f.), weist wiederum eine gewisse Verwandtschaft mit Kants „Apologie für die Sinnlichkeit“ in AA 7,144– 146 bzw. KrV B 350 / A 293 f. auf.
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„facere veritatem“ in Kapitel V vorgeht. In der Bibel ist diese Formulierung als Zusage und Aufforderung an Subjekte gemeint. Anselm aber bezieht sie gerade nicht nur auf Subjekte, sondern auch auf Objekte. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, was Anselm aus dem „Studium der heiligen Schrift“, von dem er im Vorwort des Dialogs gesprochen hat, de facto macht. Der Bibeltext ist für Anselm nur der Aufhänger. Anselm hält sich nicht bei dem auf, was in einem engeren Sinne exegetisch in ihm steckt, sondern bürstet ihn gegen den Strich, um systematisch mehr aus ihm herauszuholen. Die Formulierung „facere veritatem“ wird für Anselm zum Grundmotiv seiner eigenen, normativ-pragmatistisch induzierten Metaphysik. Die Argumentation, die der Lehrer zunächst vorträgt (vgl. De ver. V, Op. 1,181 | Z. 19 – 28), verläuft wie folgt. Aus der Kombination der beiden Bibelworte „Wer böse handelt, hasst das Licht“ und „Wer die Wahrheit tut, kommt ans Licht“ ergebe sich, dass „böse handeln“ bedeute, nicht die Wahrheit zu tun. Entsprechend sei also „gut handeln“ mit „die Wahrheit tun“ gleichzusetzen. Gut zu handeln wiederum bedeute, das zu tun, was man tun soll (dieser Schritt wird nicht weiter erläutert, sondern vorausgesetzt).Wer tut, was er tun soll – „facit quod debet“, wie in Kapitel II –, tue aber nichts anderes, als die „rectitudo“ zu erfüllen. Und da nach den Ausführungen der vorherigen Kapitel die „rectitudo“ als dasjenige bestimmt wurde, was Wahrheit ausmacht, sei also auch die Wahrheit einer Handlung ihre Rechtheit. Der Lehrer möchte mithin zeigen, dass der Wahrheitsbegriff nicht etwa äquivok gebraucht wird, wenn er sowohl auf das Sprechen oder Denken als auch auf das Handeln angewandt wird. Bis hierher hat er dargelegt, dass, um es so zu sagen, der johanneische Jesus kein dummes Zeug erzählt hat, als er vom „facere veritatem“ sprach. Philosophisch interessanter ist allerdings, was im weiteren Verlauf des Gesprächs zwischen Lehrer und Schüler vor sich geht. Denn nun erfolgt die produktive Analyse dessen, was mit dem Verb „facere“ alles angestellt wird. Es wird ja nicht nur im Hinblick auf das Handeln von Personen angewendet, sondern es kann letztlich als Platzhalter für jedes andere Verb eingesetzt werden. Lehrer und Schüler verdeutlichen das am Beispiel des Feuers (vgl. De ver. V, Op. 1,181 | Z. 30 – Op. 1,182 | Z. 12). Das Feuer wärmt. Das Feuer macht, dass es warm wird. Wärmen ist die Handlung des Feuers. Diese Handlung vollzieht das Feuer automatisch, es kann nicht anders. Es ist natürlich, dass das Feuer wärmt – eine „actio naturalis“ vollzieht, wie es im Titel heißt (vgl. De ver. V, Op. 1,181 | Z. 11) – bzw. es ist nicht die Folge einer rationalen Erwägung, dass das Feuer so handelt – es vollzieht also eine „vernunftlose Handlung“, eine „irrationalis actio“ (De ver. V, Op. 1,182 | Z. 1). Es tut das, was es „empfangen hat“ (De ver. V, Op. 1,182 | Z. 3) zu tun. Wenn es das tut, dann tut es durchaus das, was es tun soll. Also ist auch das vernunftlose, natürliche Handeln des Feuers recht und wahr. Im Un-
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terschied dazu tun Menschen nicht automatisch das, was sie tun sollen. Ihre Handlungen sind nicht von Natur aus recht und wahr, sondern nur gegebenenfalls in Folge rationaler Erwägung und Entscheidung. Sie vollziehen eine „actio non naturalis“ (vgl. De ver.V, Op. 1,181 | Z. 11) bzw. eine „actio rationalis“ (De ver.V, Op. 1,181 | Z. 31). Nachdem Lehrer und Schüler sich über diesen Punkt einig geworden sind, dass man mit gleichem Recht von einem natürlichen wie von einem vernunftgeleiteten Handeln sprechen könne, unterstreichen sie die Universalität ihrer Überlegungen. Jedes Verb bringe die Aktivität des „facere“ zum Ausdruck, auch wenn es ein passives Verb sei. Die Begründung dafür fällt leider spärlich aus (bzw. sie fehlt, um ehrlich zu sein). Der Lehrer führt wieder Beispiele aus der Bibel an, die sich freilich auf das Handeln aus Vernunft beziehen. So sei auch das Erleiden von Verfolgung um der Gerechtigkeit willen selbstverständlich nichts anderes, als Gutes zu tun (vgl. De ver.V, Op. 1,182 | Z. 10 – 17). Der Schüler ergänzt, dass es auch der allgemeine Sprachgebrauch so halte, dass passive Verben eine Aktivität ausdrücken würden (vgl. De ver.V, Op. 1,182 | Z. 18 f.). Beide führen diese Gedanken an dieser Stelle aber nicht mit Blick auf das naturhafte Handeln weiter aus. Dies dürfte ein weiterer Mangel von De veritate sein. Wichtig ist allerdings das abschließende Statement von Kapitel V, das sich auf Kapitel II zurückbezieht: Was dort über die automatische Wahrheit und Rechtheit wohlgeformter Sätze ausgeführt worden ist, sei ein Sonderfall der hier nun thematisierten universalen natürlichen Normativität. Wenn jedes Verb, sei es aktiv oder passiv, ein Tun bezeichnet, dann gibt es kein Ding, das nicht etwas tun würde. Damit stellt sich die Frage, ob jedes Ding, allein dadurch, dass es „da“ ist, durch die Tat dieses Daseins tut, was es soll – ob also jedes Ding durch Normativität gekennzeichnet ist. Diese Konsequenz zieht Kapitel VII, das Über die Wahrheit des Wesens der Dinge reflektiert. Die Thematik wird durch den Lehrer aufgebracht, indem er den Schüler fragt: „Bist du etwa der Meinung, dass es irgendetwas irgendwann oder irgendwo gibt, das nicht in der höchsten Wahrheit wäre und das nicht von dort empfangen hätte, was es ist, insofern es ist, oder das etwas anderes sein könnte, als was es dort ist?“ (De ver.VII, Op. 1,185 | Z. 11– 13). Der Schüler zögert nicht, die rhetorische Frage des Lehrers zu verneinen (vgl. De ver. VII, Op. 1,185 | Z. 14). An dieser Stelle kommt offensichtlich wieder ein starker Partizipationsgedanke ins Spiel. Alles, was ist, ist demnach in der höchsten Wahrheit. Das scheint für den Lehrer wie den Schüler außer Frage zu stehen, denn diese Behauptung wird nicht eigens begründet. Sie wird nun jedoch erläutert, und das stellt einen Schritt dar, der über das zweimalige Aufrufen des Partizipationsgedankens zu Beginn des Dialogs hinausführt. Denn dieser Gedanke kann nun aufgrund der in Kapitel II vorgenommenen Weichenstellung normativ aufgeladen werden. Sehr zügig führt der Lehrer
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durch die Argumentation, während dem Schüler nicht viel mehr bleibt als zuzustimmen: L: Was immer also ist, ist wahrhaft, insofern es das ist, was es dort [sc. in der höchsten Wahrheit, s.o.] ist. S: Unbedingt kannst du schließen, dass alles, was ist, wahrhaft ist, weil es nichts anderes ist, als was es dort ist. L: Es ist also Wahrheit im Wesen aller Dinge, die sind, weil sie das sind, was sie in der höchsten Wahrheit sind. S: Ich sehe, dass dort auf solche Weise Wahrheit ist, dass dort keine Falschheit sein kann. Denn was falsch ist, ist nicht. L: Gut sagst du das. Aber sag (auch): Soll irgendetwas etwas anderes sein, als das, was es in der höchsten Wahrheit ist? S: Nein. L: Wenn also alle Dinge das sind, was sie dort sind, sind sie ohne Zweifel das, was sie (sein) sollen. S: Wahrhaftig sind sie das, was sie (sein) sollen. L: Was auch immer aber ist, was es sein soll, ist in rechter Weise. S: Anders kann es nicht sein. L: Also ist alles, was ist, in rechter Weise. S: Überaus folgerichtig. L: Wenn also sowohl Wahrheit als auch Rechtheit deswegen im Wesen der Dinge sind, weil diese das sind, was sie in der höchsten Wahrheit sind, dann ist sicher, dass die Wahrheit der Dinge Rechtheit ist. S: Die Konsequenz der Argumentation ist überdeutlich. (De ver. VII, Op. 1,185 | Z. 15 – Op. 1,186 | Z. 4)
Kapitel VII lässt einiges an Interpretationsspielraum. Enders nimmt es zum Anlass, um sogleich auf den schöpfungstheologischen Zug aufzuspringen. Der größte Teil seiner Ausführungen basiert dabei freilich nicht auf De veritate, sondern einmal mehr auf dem Monologion. ⁶⁴ Ich werde diese Frage, inwiefern die „höchste Wahrheit“ als Schöpfergott gedacht oder dieser Gedanke besser vermieden werden sollte, um den systematischen Ertrag des Wahrheitsdialogs zu sichern, in 6.2.4 ausführlich diskutieren. Mit Blick auf die den Dingen eigene Normativität, um die es in Kapitel VII geht, würde die klassisch-theistische Lesart lauten: Die Dinge tun das, was sie sollen, wenn sie dem entsprechen, was Gott sich dabei gedacht hat, als er sie schuf. Sie tun, was sie sollen, wenn sie die im göttlichen Geist versammelten Wesensbilder wiederholen. Das scheint mir aber gerade nicht der entscheidende Punkt in De veritate zu sein. Für meine Position kann ich zwei Gründe anführen.
Vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 209 – 237 (direkt zu De veritate 223 – 228).
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Erstens ist es wichtig, die etwas seltsame Weise, mit der in dem oben wiedergegebenen Wortwechsel mehrfach auf die „höchste Wahrheit“ Bezug genommen wird, nicht misszuverstehen. Sowohl der Lehrer als auch der Schüler sprechen von ihr als einem Ort, auf den mit einem „dort“ hingewiesen werden kann. Diesem „dort“ ist jedoch kein „hier“ gegenübergestellt. Mit „dort“ wird in Kapitel VII nicht auf etwas verwiesen, das von „hier“ entfernt wäre. Anstelle eines anderen Ortes bezeichnet „dort“ vielmehr den Raum, in dem sich die Dinge bereits befinden. Alles, was ist, ist in rechter Weise, so lautet die Behauptung. Alles, was ist, ist „dort“, in der höchsten Wahrheit. Damit hängt zweitens zusammen, dass Anselm, obwohl er von der „essentia“, dem „Wesen“ der Dinge spricht, gar nicht in eine Diskussion dieses Begriffs einsteigt. Sein Argument besteht darin, dass die Dinge allein durch ihre Existenz tun, was sie sollen. Es geht nicht um die Erfüllung einer von außen kommenden, inhaltlichen Wesensvorgabe, die vom Existieren der Dinge verschieden wäre. Kapitel VII von De veritate bietet keinen „Exemplarismus“ und bestimmt die Wahrheit nicht „essentialistisch“, wie Enders es nennt. Alle seine Belege dafür hat er aus dem Monologion. ⁶⁵ Freilich muss man zugestehen, dass Anselm in De veritate auch nicht viel tut, um die normative Kennzeichnung des Existierens weiter zu erklären. Was kann es heißen, dass die Dinge durch ihr Dasein einer inneren Norm entsprechen, wenn man nicht bereit ist, den Umweg über eine schöpfungstheologische Voraussetzung zu gehen? Attraktiv wäre es, an dieser Stelle Brandoms Überlegungen zur begrifflichen Gliederung der objektiven Wirklichkeit anhand alethisch-modalen Ein- und Ausschlusses einzuschalten. Das Feuer schließt alethisch-modal aus, dass es kühlt, und es unterliegt der alethisch-modalen Konsequenz, dass es einen trockenen Busch in Brand setzen kann. Der Stein schließt alethisch-modal aus, dass er weich ist, und unterliegt der alethisch-modalen Konsequenz, dass er untergeht, wenn man ihn ins Wasser wirft. Die existierenden Dinge stehen in Relationen solchen Ein- und Ausschließens zueinander. Wenn man das, was Brandom unter Begriffsrealismus und objektivem Idealismus versteht, Anselms Rede von der „Wahrheit des Wesens der Dinge“ unterlegt, wird sie systematisch plausibler, als wenn man sie in ihrer historischen Bedingtheit belässt.
Mit Blick auf das Monologion selbst ist Enders’ Interpretation durchaus angemessen: vgl. nur Monol. IX, Op. 1,24 | Z. 7– 20.
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6.2.4 Absolute Normativität Der Ausgang von der subjektiv-intersubjektiven Sprach- und Erkenntnispraxis und die durch ihre Analyse profilierte Normativität begrifflicher Aktivität hat Anselm zur normativen Kennzeichnung auch des objektiven Pols des intentionalen Nexus geführt.Vor die Folie von Brandoms Metaphysik gehalten, kann auch mit Blick auf Anselm gesagt werden, dass sein normativer Pragmatismus in einen Begriffsrealismus und objektiven Idealismus führt. Noch ist die Frage offen, ob und wie Anselm seine Überzeugung, dass alles, was ist, normativ geprägt ist, auch in eine Einheitsfigur überführen wird – also ein Analogon auch zu Brandoms Begriffsidealismus bzw. Normativitätsmonismus präsentieren wird. Meine These ist, dass Anselm tatsächlich zu einer solchen Lösung gelangt. Um zu verdeutlichen, dass es sich dabei um eine philosophische Konsequenz und nicht um eine theologisch-dogmatische Vorgabe handelt, werde ich zuerst einen defensiven Schritt der Absicherung vornehmen. Ich werde noch einmal kritisch auf die in den bisher besprochenen Kapiteln entfaltete Argumentation zurückblicken und überprüfen, ob und inwieweit sie doch unter dem Eindruck dogmatischer Vorgaben standen, was zu einer erneuten methodologischen Zwischenreflexion Anlass gibt (Punkt 1). Im Anschluss daran nehme ich die Interpretation der für die definitive Beantwortung der Frage relevanten Kapitel X, XI und XIII von De veritate vor (Punkte 2 bis 5). (1) Wie bereits erwähnt gab es für Anselm als Kind des 11. Jahrhunderts noch keine wissenschaftstheoretische Unterscheidung von Philosophie und Theologie. Biblische Bilder und Formulierungen waren Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Es ist letztlich ein Problem der Alltagssprache, das Lehrer und Schüler in De veritate diskutieren. Angesichts der Diskrepanz zwischen dem christlichen Glaubenssatz, dass Gott die Wahrheit sei, und dem Faktum, dass wir im alltäglichen Sprachgebrauch von allerlei Dingen behaupten, sie seien wahr, suchen sie nach einer Lösung. Dazu wählen sie ein topisches Vorgehen: Der Glaubenssatz wird als solcher suspendiert, um „von unten nach oben“ die verschiedenen „Orte“ der Wahrheit durchzugehen und am Ende ein konsistentes Ergebnis präsentieren zu können. Aus heutiger Sicht kann gesagt werden, dass die gewählte Methode eine philosophische ist, weil sie explizit von dogmatischen Vorgaben abstrahiert.⁶⁶
Diese Beobachtung bezüglich der Methode ist natürlich nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, Anselm als Autor bzw. die Figuren innerhalb des Dialogs würden ihren persönlichen Glauben aufgeben.
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In den Einsprengseln biblischer Formulierungen sehe ich also kein generelles Problem, das einer philosophischen Lesart des Dialogs im Wege stünde. Schwerwiegender könnte etwas anderes sein, nämlich ein Gedanke, der einzelne Argumente direkt betrifft. Er ist im oben angepriesenen Kapitel II präsent, und die verdächtigen Zitate sind auch schon gefallen. Die beiden Normativitätsebenen der Aussage sind dort umschrieben worden mit „was sie empfangen hat anzuzeigen“ („quod accepit significare“) und „wozu sie gemacht ist“ („ad quod facta est“). Bisher habe ich eine naheliegende Frage angesichts dieser Wendungen absichtlich ausgeblendet, nämlich die Frage, von wem die Aussage das denn empfangen hat bzw. wer ihr diesen Zweck eingeimpft haben mag. Die Antwort könnte ebenso naheliegend lauten, dass selbstverständlich Gott der Urheber sei. Diese Position vertritt beispielsweise Markus Enders. Entsprechend gibt er in seiner Übersetzung von De veritate „ad quod facta est“ mit „wozu sie geschaffen ist“ wieder und betont den Sinn dieser Übersetzung in diversen Fußnoten. Im Wesentlichen sind es zwei Argumente, die Enders auf seiner Seite hat. Das erste Argument ist ein werkgeschichtliches: De veritate ist einige Jahre nach Monologion und Proslogion verfasst worden. Anselm hat also den Gottesbegriff schon ausführlich bearbeitet, und auch der Schöpfungsgedanke ist „sola ratione“ als vertretbar ausgewiesen worden.⁶⁷ Das zweite Argument ergibt sich spätestens bei der Lektüre der weiteren Passagen des Wahrheitsdialogs, die ich unter 6.2.3 behandelt habe. In ihnen ist noch ausdrücklicher von einer Erschaffung seitens Gottes die Rede. Bei der Analyse des naturhaften Handelns des Feuers in Kapitel V heißt es: „Wenn das Feuer von dem, von dem es das Sein hat, empfangen hat zu wärmen – sobald es wärmt, tut es, was es soll“ (De ver.V, Op. 1,182 | Z. 3 f.). Dieser Schöpfungsgedanke wird zu Beginn von Kapitel VII wieder angesprochen, wenn der Lehrer den Schüler fragt, ob er sich vorstellen könne, dass etwas existieren könne, das „nicht in der höchsten Wahrheit wäre und das nicht von dort empfangen hätte, was es ist, insofern es ist, oder das etwas anderes sein könnte, als was es dort ist?“ (De ver. VII, Op. 1,185 | Z. 11– 13). Spätestens in Kapitel V und VII ist also auch auf der Textbasis von De veritate eine schöpfungstheologische Voraussetzung angedeutet. Sollte sie daher nicht mit Fug und Recht bereits in Kapitel II herangezogen werden? Diesen beiden Argumenten sind allerdings andere Argumente entgegenzuhalten. Zunächst spräche es gegen die von Enders selbst so starkgemachte topische Methode, wenn ein letztlich unausgewiesenes Argument von außen in den Gedankengang von De veritate eingeführt würde. Dies wiegt umso schwerer, weil
Vgl. Monol. III – XIV, Op. 1,15 – 27 und Monol. XXXIII – XXXVII, Op. 1,51– 55. Zu Enders’ Interpretation von Monologion und Proslogion vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 15 – 69.
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die Gottesfrage gerade einen Teil des Ausgangsproblems des Dialogs darstellt. Wenn der Gedanke der Schöpfung tatsächlich eine solch tragende Rolle im Verlauf von De veritate spielen sollte, dann hätte sich Anselm von Anfang an methodisch verheddert. In der Tat kommt hier alles darauf an, sich über die Methode zu verständigen – über Anselms Methode und über die eigene. Es macht einen Unterschied, ob ich die Gedankenwelt des historischen Anselm, die in seinem Gesamtwerk zum Ausdruck kommt, dokumentieren möchte, oder ob ich beabsichtige, die systematische Tragweite seiner in De veritate vorgetragenen normativen Theorie der Wahrheit zu erschließen. Meines Erachtens haben wir hier einen konkreten Fall vor uns, an dem exemplarisch nachvollzogen werden kann, wie sich eine Lektüre de re von einer solchen de dicto unterscheidet – selbst dann, wenn man beansprucht, mit der erstgenannten nicht nur einen synthetischen, sondern einen systematischen Umgang mit einer Position aus der Philosophiegesichte zu betreiben. Es geht in diesem Fall nicht darum, alles wiederzugeben, was Anselm faktisch geschrieben hat. Reflexionen über Gott als Schöpfer und die Kreatürlichkeit der Welt gehören zu diesem faktischen Bestand ohne Frage dazu. Im entsprechenden Rahmen soll man sich gern mit ihnen auseinandersetzen. Diese schöpfungstheoretischen Reflexionen sind aber nicht notwendig, um die Systematik von De veritate zu verstehen. Insbesondere mit Blick auf Kapitel II ist die Einführung eines Schöpfergottes unnötig. Meine Rekonstruktion von Anselms Theorie über das Funktionieren von Sprache und Erkenntnis kam ohne diese Hypothese aus. Die Annahme, dass Gott Sätzen, Dingen usw. normative Muster eingepflanzt hat, mag für den historischen Anselm selbstverständlich gewesen sein. Sie ist aber keine Prämisse im systematischen Sinne, die ich zu akzeptieren verpflichtet bin, wenn ich Anselms normativen Pragmatismus verteidige. Diese Klarstellung scheint mir Anselms Methode nochmals zu würdigen. Wie gesagt würde es dem topischen Vorgehen widersprechen, wenn in einem frühen Stadium des Weges bereits bestimmte Begriffe vorausgesetzt werden, die erst in einem späteren Stadium zu erarbeiten sind. Das gilt nicht zuletzt für den Gottesbegriff. Bevor wir ihn wie Enders von anderswoher einführen, sollten wir besser abwarten, wie Anselm ihn selbst im Verlauf des Wahrheitsdialogs modelliert. Dies tut er nämlich erst zum Ende hin, in den Kapiteln X und XIII. Sie werde ich im Folgenden diskutieren. Nun geht es also um die systematischen Konsequenzen, die sich aus Anselms normativen Pragmatismus ergeben. (2) Eingeführt wird die neue Thematik wieder über den allgemeinen Sprachgebrauch. Ab Kapitel X geht es um den Ort, der „noch übrig“ (De ver. IX, Op. I,189 | Z. 27) ist, so formuliert es der Lehrer vorher zur Überleitung. Alle anderen Bereiche, in denen christliche Europäer des 11. Jahrhunderts das Wort „wahr“ ver-
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wenden, sind bereits behandelt worden. Mit Kapitel X kommt Anselms Durchgang durch die verschiedenen Wahrheitsorte also an ein Ende. Die „höchste Wahrheit“ ist der letzte Wahrheitsort, der aufgesucht wird, bevor in Kapitel XI eine Definition der Wahrheit möglich wird. Das ist bereits interessant: Die „höchste Wahrheit“ wird in einer Reihe mit den anderen Wahrheitsorten behandelt. Sie ist nichts, was jenseits dieser Reihe oder jenseits der abschließenden Definition stünde. Diese Definition soll für alle Wahrheitsorte inklusive der „höchsten Wahrheit“ gelten. Ohne Frage ist „summa veritas“ zunächst ein Gottestitel, der eine Extrapolation biblischer Worte darstellt. Genaugenommen ist es der Gottestitel, der in De veritate verwendet wird. Von „Gott“ redet Anselm in dem Dialog nahezu nicht. Einzig in Kapitel I verwendet der Schüler zweimal das Wort „deus“, wenn er das Dilemma von religiöser Überzeugung und alltäglichem Sprachgebrauch konstatiert (vgl. De ver. I, Op. 1,176 | Z. 4– 6). Am nächsten kommt der religiösen Sprache ein Abschnitt, wiederum aus dem Mund des Schülers, in Kapitel XII, in dem mehrmals Formen von „divinitas“ und „divinus“ vorkommen (vgl. De ver. XII, Op. 1,196 | Z. 2 f.). Sonst ist stets von „summa veritas“ oder in einigen Fällen von „summa natura“ die Rede. Für die Absichten dieser Arbeit gilt es also zu klären, ob der Begriff der „höchsten Wahrheit“ zu stark religiös bzw. dogmatisch vorgeprägt ist oder ob er vielmehr eine philosophische Eigenständigkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Den Takt für Kapitel X gibt der Lehrer mit einer Behauptung vor, der der Schüler ohne Umschweife zustimmt: L: Du wirst nicht leugnen, dass die höchste Wahrheit Rechtheit ist. S: Im Gegenteil, ich kann sie als nichts anderes bekennen. (De ver. X, Op. 1,189 | Z. 31 f.)
Es ist interessant, wie Markus Enders diese beiden Sätze bewertet. In einer Fußnote zu seiner Übersetzung versieht er die Wiedergabe von „non negabis“ mit „du wirst nicht leugnen“ mit der Rechtfertigung, „weil das Verb ‚leugnen‘ im Deutschen die Bedeutung einer Verneinung wider besseres Wissen besitzt, die in diesem Zusammenhang angebracht ist, weil es sich hier, wie aus dem Folgesatz deutlich wird ([…] possum fateri), um eine Aussage des christlichen Glaubensbekenntnisses und nicht der quellenmäßig glaubensunabhängigen Vernunft handelt“⁶⁸. Entsprechend kommt Enders zu dem betrüblichen Schluss: „Im Unterschied zu den zuvor genannten Wahrheiten gibt Anselm für die Identität der
Enders, Markus, Anmerkungen des Herausgebers, in: Anselm, Über die Wahrheit, hg. von Enders, 79 – 105, 98.
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summa veritas mit der rectitudo […] keinen Beweis“⁶⁹. Dieser „offenkundige Beweismangel“ könne „durch eine rein werkimmanente Interpretation nicht behoben werden“⁷⁰. Diese Einschätzung teile ich nicht. „Non negabis“ kann man zwar ohne Bedenken mit „Du wirst nicht leugnen“ übersetzen, und die Begründung, damit werde eine „Verneinung wider besseres Wissen“ angezeigt, durchaus unterstreichen. Allerdings fließt das „bessere Wissen“ an dieser Stelle nicht aus einem Glaubenssatz. Die Semantik von „fateri“ – zu Deutsch: bekennen, zugeben, (ein‐) gestehen – ist nicht in erster Linie religiös, sondern juristisch. Sie geht in die Richtung, dass man überführt worden ist, dass alle Beweise vorliegen, dass man eben nicht mehr leugnen kann, sondern sagen muss, wie es ist.⁷¹ Vor allem aber gilt, dass der Schüler keineswegs ohne Argument dem Satz des Lehrers zustimmt. Das Argument liegt vielmehr im gesamten Verlauf des Werkes. Im Gang „von unten nach oben“ ist immer wieder gezeigt worden, in exemplarischer Weise in Kapitel II, dass und wie Wahrheit als Funktion von „rectitudo“ zu begreifen ist, in der Spannung zwischen Maßstab und seiner mehr oder weniger glückenden Erfüllung. Die „summa veritas“ ist nun nichts anderes als das, was ihr Name sagt: die höchste Form dieser Struktur, das Optimum, die absolute Übereinstimmung von Norm und Praxis. Sie ist nichts anderes als perfekte „rectitudo“. Deshalb leugnet der Schüler nicht, sondern gibt ohne Umschweife zu – bei ansonsten fälliger Strafe des performativen Selbstwiderspruchs –, dass der Lehrer recht hat mit dem, was er sagt. Ich sehe hier also keinen „Beweismangel“, sondern vielmehr die konsequente Fortführung der formalen Bestimmung der Erkenntnispraxis. Im folgenden Wortbeitrag wird das genannte Argument auch gleich ausgesprochen: L: Bedenke: Während alle oben genannten Rechtheiten deshalb Rechtheiten sind, weil jene [sc. Instanzen], in denen sie sind, entweder sind oder tun, was sie sollen [debent], ist die höchste Wahrheit nicht deshalb Rechtheit, weil sie etwas soll. Denn alle schulden [debent]
Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 289. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 289. Aus diesem Grund folgen bei Enders über 200 Seiten zur Interpretation von De veritate X, in denen größtenteils andere Werke als De veritate, nämlich Monologion, Proslogion und vor allem Cur deus homo, untersucht werden. Eigentümlicherweise übersetzt Enders an zwei anderen Stellen (vgl. De ver. I, Op. 1,176 | Z. 6 sowie De ver. XIII, Op. 1,199 | Z. 6) „fateri“ mit „zugeben“ (Anselm, Über die Wahrheit, hg. von Enders, 9) bzw. „eingestehen“ (73), wobei gerade an der ersten Stelle, nämlich bei der Formulierung der Ausgangsfrage des Dialogs, viel eher eine religiöse Konnotation gegeben ist.
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ihr etwas,⁷² sie selbst aber schuldet niemandem irgendetwas; und sie ist aus keinem anderen Grund das, was sie ist, als aus dem, dass sie ist. S: Das sehe ich ein. (De ver. X, Op. 1,190 | Z. 1– 5)
Die „höchste Wahrheit“ ist in dieser Formulierung eine selbstgenügsame, absolute Struktur. Sie ist von nichts außerhalb ihrer abhängig. Sie ist normativer Anspruch, dem nichts an Erfüllung fehlt. Und sie ist nichts anderes als das. Alle anderen Rechtheiten, so formuliert es der Lehrer hier, sind „in“ bestimmten Instanzen. Sie sind relativ, insofern sie in gewisser Weise an ihre Instanzen gebunden sind (ich sage „in gewisser Weise“, weil dieser Punkt im Folgenden noch differenzierter dargestellt werden wird). Es sind diese Instanzen, welche die Normativität, die in ihnen ist, erfüllen sollen und dies, je nach Zuschnitt, tun oder auch nicht tun. Wie wir gesehen haben, gibt es dabei viele Fälle, in denen die Erfüllung nur zum Teil oder bis zu einem gewissen Grad geleistet wird, wie bei Versuchen, mittels Aussagen oder Überzeugungen auf Objekte in der Außenwelt Bezug zu nehmen. Bezugnahmen sind fehlbar, und ihre Wahrheit ist graduierbar. Ihnen ist ihre Relativität und Endlichkeit sozusagen direkt anzusehen. Aber auch wohlgeformte Sätze oder natürliche Handlungen, die für Anselm automatisch „wahr“ sind, weil sie ihren normativen Anspruch notwendigerweise erfüllen, können als relativ und endlich bezeichnet werden, weil sie immer nur einen Ausschnitt aus der gesamten normativ durchzogenen Wirklichkeit verkörpern. Gegenüber allen diesen relativen Manifestationen von Normativität ist die „höchste Wahrheit“ der formale Grenzbegriff. Sie ist Rechtheit ohne Bindung an eine partikulare Instanz. Sie ist „rectitudo“ als „rectitudo“, Normativität als Normativität. Bis mindestens hierher scheint mir der Gedankengang des X. Kapitels ohne Bezug auf einen Schöpfungsgedanken und daher auch ohne Voraussetzung religiöser Überzeugungen rekonstruierbar zu sein. Enders trägt bereits in seine Übersetzung des eben zitierten Abschnitts die Schöpfungsthematik ein.⁷³ In einer Anmerkung zeigt er Verbindungen zum in Cur deus homo verhandelten Schuldverhältnis alles Kreatürlichen gegenüber Gott sowie wiederum zum Schöpfungsbeweis im Monologion auf.⁷⁴ Andernorts hat Enders das ausgeführt und
Ich ziehe vor, „omnia“ hier nicht wie üblich mit „alles“, sondern mit „alle“ zu übersetzen, um die Parallelität mit „illa“ / „jene“ (ebenfalls Nominativ Plural Neutrum) aus dem vorherigen Satz zu bewahren. Er übersetzt „Omnia enim illi debent“ mit „Denn alles (sc. Geschaffene) steht zu ihr in einem Schuldverhältnis“ (Anselm, Über die Wahrheit, hg. von Enders, 47). Vgl. Enders, Anmerkungen, 99.
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kommt zur Unterscheidung von „zwei verschiedene[n] Begriffe[n] von Rechtheit“⁷⁵. Bei allen endlichen Entitäten handle es sich bei der „rectitudo“ um einen „Adäquationsbegriff, der die Angeglichenheit (bzw. Übereinstimmung) einer endlichen Entität an ihre Ziel- oder Zweckbestimmung zum Ausdruck bringt“⁷⁶. Demgegenüber sei „die rectitudo Gottes als der summa veritas ein Begriff, der eine Identität zum Ausdruck bringt, nämlich die Übereinstimmung des göttlichen Willens (und Handelns) mit Gott selbst“⁷⁷. An verschiedenen Stellen spricht Enders daher auch von Gottes „Selbstaffirmation“⁷⁸. Diese Differenz von zwei Begriffen von „rectitudo“ und damit zwischen Gott und allen anderen Entitäten gilt laut Enders freilich „nach Auskunft der christlichen Offenbarung“⁷⁹.Wir hätten es hier mit der „von Anselm schier unendlich oft wiederholten ‚schöpfungstheologischen Prämisse‘ einer göttlichen Schöpfungskausalität und Erhaltung für alles innerweltliche Sein“⁸⁰ zu tun. Ich möchte nicht in Zweifel ziehen, dass solche Erwägungen zur Darstellung des Gesamtzusammenhangs von Anselms Denken hinzugehören könnten. Aber, nochmals, an dieser präzisen Stelle von De veritate X brauche ich einen solchen Rekurs eigentlich nicht, um die Einführung des Begriffs der „summa veritas“ in systematischer Hinsicht zu verstehen. (3) Schwieriger wird es mit dem folgenden Abschnitt. In ihm beschreiben Lehrer und Schüler das Verhältnis von „höchster Wahrheit“ und den verschiedenen endlichen Wahrheiten als eine Staffelung von Ursachen: L: Siehst du auch, auf welche Weise diese [sc. höchste] Rechtheit Ursache aller anderen Wahrheiten und Rechtheiten ist und nichts ihre Ursache? S: Ich sehe und erkenne, dass unter den anderen einige lediglich Wirkungen, andere jedoch Ursachen und Wirkungen sind. Während die Wahrheit, die in der Existenz der Dinge ist, Wirkung der höchsten Wahrheit ist, so ist sie selbst auch Ursache der Wahrheit, die dem Denken zukommt, sowie derjenigen, die in der Aussage ist; und diese beiden Wahrheiten [wiederum] sind keiner Wahrheit Ursache. L: Du bedenkst das gut. (De ver. X, Op. 1,190 | Z. 6 – 13)
Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 289. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 291. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 468. Beispielsweise in der Kapitelüberschrift Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 455. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 325. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 325.
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Wie ist dieser Abschnitt zu deuten? Einerseits lässt die Rede von einer Verursachung schnell an einen göttlichen Schöpfungsakt denken. Andererseits sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass es in diesem Abschnitt nicht um Kausalität überhaupt geht, sondern speziell um die Frage nach der „causa veritatis“.⁸¹ Es wäre ein Kurzschluss, wenn z. B. die Aussage, dass die „höchste Wahrheit“ Ursache der Wahrheit der Dinge sei, mit der Behauptung gleichgesetzt würde, dass Gott schöpferische „causa efficiens“ der Dinge sei. Wenn Anselm von „causa veritatis“ spricht, dann ist das ein terminus technicus, mit dem er sich immer noch auf der Basis der logischen Kategorienschrift, nicht etwa auf derjenigen der Metaphysik und Naturphilosophie des Aristoteles oder der daran anschließenden Scholastik des 13. Jahrhunderts bewegt. Es geht an dieser Stelle um Ursache im Sinne von Wahrmacher. Freilich gilt es ebenfalls anzuerkennen, dass sich die Situation gegenüber dem ersten Aufrufen dieser Terminologie durch den Schüler – ganz zu Beginn der Suche in Kapitel II – verändert hat. Dort war der Gegenstand als Wahrmacher der Aussage benannt und zugleich von ihrer Wahrheit unterschieden worden, welche vielmehr in der Teilhabe an der Wahrheit überhaupt bestehe. Dies geschah noch vor der Einführung des „rectitudo“-Begriffs in die Diskussion. Nun, zum Ende der Suche, unternehmen Lehrer und Schüler offensichtlich den Versuch,Wahrmacher und Wahrheit nicht mehr nur nebeneinanderzustellen, sondern ineinander zu verschachteln, d. h. den Gedanken des Wahrmachers in denjenigen der höchsten Wahrheit zu integrieren. Die Modifikation gegenüber Kapitel II (und gegenüber Aristoteles) besteht zunächst darin, dass nicht mehr der Gegenstand als Ursache für die Wahrheit der Aussage behauptet wird, sondern präziser die innere Normativität des Gegenstandes als Ursache für die innere Normativität der Aussage wie der Gedanken, während wiederum die „höchste“ Normativität die Ursache der Normativität der Gegenstände sein soll. Die Frage, was von Anselms Auffassung von einer die Dinge prägenden Normativität gehalten werden kann, ist bereits in 6.2.3 besprochen worden. In dem neuen Bild von Kapitel X scheint nun mit dem Kausalitätsbegriff noch stärker eine Abhängigkeit der relativen normativen Instanzen von der „höchsten Wahrheit“ mitgesagt zu sein. Wie genau diese Abhängigkeit konzipiert ist, werde ich im Folgenden diskutieren. Dies geschieht weiterhin unter Einbezug des Vorschlags von Markus Enders, gegenüber dem ich bereits eine gewisse Distanz signalisiert habe, aber auch in Abgrenzung gegenüber dem Enders-Kritiker Guido Löhrer.
Aus diesem Grund habe ich die im Deutschen etwas poetische Genitivkonstruktion am Ende der Wortmeldung des Schülers beibehalten.
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Mittels dieser Konstellation soll die Lösung, die ich vorschlagen werde, die nötige Tiefenschärfe erhalten. Enders ist der Meinung, einen „offenkundigen Beweismangel“ innerhalb des Gedankengangs von De veritate entdeckt zu haben. Um ihn zu beheben, wählt er die Strategie, die nötigen Argumente aus anderen Werken Anselms zu gewinnen und sie vor dem Hintergrund der antiken Quellen, die Anselm zur Verfügung standen, zu profilieren. Das gilt auch für die Verwendung von „causa“.⁸² Anselm verbinde den Kausalitäts- mit dem Teilhabegedanken. Unter Kausalität verstehe er „keine Bewegungsursache im aristotelischen Sinne – von einer solchen ist daher in seinem ganzen Werk nicht ein einziges Mal ausdrücklich die Rede –, sondern eine Ursache, die nach Art einer Form- oder Exemplarursache wirkt“⁸³. Ein solches exemplarursächliches Verständnis müsse auch für die „causa veritatis“ in Anschlag gebracht werden. Leider buchstabiert Enders seinen Vorschlag nicht aus. Seine Ausführungen direkt zur inkriminierten Stelle beschränken sich auf kaum mehr als eine Seite und sind letztlich nicht mehr als eine Paraphrase.⁸⁴ Darüber hinaus sattelt Enders auf den Kausalitätsbegriff am Ende doch den biblischen Schöpfungsgedanken auf.⁸⁵ Ist aus seinem Hinweis Nutzen zu ziehen, ohne diesen letzten Schritt mitzugehen? Exemplarursache meint das Bild, das Modell, das ich im Kopf habe und nach dem ich etwas entwerfe. Hier ist wiederum ein Adäquationsgedanke impliziert: Ich versuche den Marmor, den ich behaue, möglichst gut in die Form zu bringen, die mir vorschwebt, z. B. das Bild der Göttin Athene. Auf De veritate X könnte das wie folgt übertragen werden: Die Dinge sind die Exemplare, die ich anzustreben habe, denen ich in der Tätigkeit des Sprechens und Denkens versuche, so gut es geht gerecht zu werden; die absolute Normativität ist das Exemplar, das die Dinge anzustreben haben, ist das formale Optimum. Das könnte in der Tat eine Interpretation der „causa“-Stelle sein. Aber ich habe den Eindruck, dass damit für die Stringenz von Anselms Argumentation noch nichts gewonnen ist. Gegenüber der Analyse des Erkenntnisprozesses in Kapitel II erscheint mir die neue Staffelung eher als Rückschritt. Denn in Kapitel II wurde die Angleichung an die Dinge von dem inneren Maßstab, der im Er-
Vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 468 – 492. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 481. Damit wendet sich Enders ausdrücklich gegen Schmitt, Anselm und der (Neu‐)Platonismus, 41– 44. Schmitt setzt bei Anselm nur die Vertrautheit mit der Kausalitätslehre aus Ciceros Topica voraus, nicht aber die Kenntnis der aristotelischen Lehre aus Boethius’ Cicero-Kommentar und damit auch nicht des Gedankens der Exemplarursächlichkeit. Enders hingegen pocht auf Letztere. Vgl. Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 490 – 492. Vgl. Enders, Anmerkungen, 100.
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kenntnisprozess selbst liegt, abhängig gemacht. In der hier verhandelten neuen Formulierung werden wieder die äußeren Dinge zum Maßstab des Sprechens und Denkens erhoben. Die Ursachen-Staffelung, auch die Staffelung von Exemplarursachen, reduziert die aufgespannte Komplexität des Erkenntnisprozesses auf eine lineare Stufenfolge. Ich muss gestehen, dass an dieser Stelle einer der Punkte ist und vorerst bleibt, an dem Anselms Projekt von De veritate – oder das Projekt, das ich mit De veritate verbinde – auf die Probe gestellt wird. Oder ist doch nur der Weg möglich, den Enders gegangen ist, indem er den Wahrheitsdialog im Gesamtwerk Anselms deutet? Was bleibt dann aber von den vorgetragenen philosophischen Argumenten? (4) Gegen Enders hat Guido Löhrer seine Interpretation von De veritate in Stellung gebracht. Er kritisiert Enders’ Feststellung des „Beweismangels“ in Kapitel X und sein Ausweichen auf andere Schriften Anselms, die sich auf Bereiche erstrecken, die wir heute theologisch nennen würden.⁸⁶ Die Lösung, die er selbst bieten möchte, sieht wie folgt aus. Sein erster Schritt ist die dezidierte Option für die Übersetzung von „rectitudo“ mit „Richtigkeit“. Die Gründe, die für ihn gegen das Kunstwort „Rechtheit“ sprechen, sind oben schon genannt worden. Letztlich entscheidend ist aber, dass er „Richtigkeit“ und damit „rectitudo“ in einer ganz bestimmten Weise verstehen möchte:⁸⁷ Richtig ist, was einer Vorschrift genügt oder einer Regel folgt. Insofern ist Richtigkeit ein Relationsbegriff. Etwas ist richtig in bezug auf eine Vorschrift oder ein Sollen (debere) oder im Lichte dieser Vorschrift bzw. dieses Sollens betrachtet. Die Regel nennt die Richtigkeitsbedingung. Richtiges gibt es nur dann, wenn eine entsprechende Vorschrift existiert. […] Richtig in diesem relationalen Sinn wird dabei dasjenige genannt, was die durch die Vorschrift eingeforderte Relation verwirklicht, nicht das, was die Relation aufspannt.⁸⁸
Diese relationale Richtigkeitskonzeption verbindet Löhrer unter Bezugnahme auf den „causa“-Abschnitt in De veritate X mit dem Gedanken einer absoluten Normativität. Anselm präsentiere hier einen „Ordo der Richtigkeiten“⁸⁹, an dessen Spitze ein Punkt auszumachen sei, der „nur noch Vorschrift ist und entsprechend nicht im Skopus eines Sollens steht“⁹⁰. Aber wie kann man an diesem Punkt
Vgl. Löhrer, Ontologisch oder epistemisch?, 308. Inwieweit er damit die zuvor proklamierte Offenheit dieses Begriffs wieder zurücknimmt, lasse ich dahingestellt. Vgl. Löhrer, Anachronismus, 115 f. und Ders., Ontologisch oder epistemisch?, 317. Löhrer, Ontologisch oder epistemisch?, 301 f. Löhrer, Ontologisch oder epistemisch?, 307. Löhrer, Ontologisch oder epistemisch?, 307.
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immer noch von „Richtigkeit“ sprechen? Löhrer bietet eine Interpretation, die am späten Wittgenstein sowie an Hans Blumenbergs Begriff der „absoluten Metapher“ orientiert ist: Mit dem absoluten, einstelligen Gebrauch des Prädikats ‚richtig‘ im angezeigten nicht schmückenden, sondern unaufhebbar funktional metaphorischen Sinn wird Gottes einzigartige Rolle im ‚Spiel des Regelns‘ gekennzeichnet. Die Rolle ist eine signifikant andere als die des jeweiligen Richtigen und durch Richtigkeitsbedingungen Spezifizierten. Gott ist das, was er ist, nicht kraft einer Norm, sondern – wie es bei Anselm heißt – einfach weil er ist, sprich: der Regelgebende ist. In keiner Weise ist er ein an einer Vorschrift, Regel oder Norm Gemessenes. Er agiert als absoluter und absolutistischer Regelsouverän. Alles Geschaffene hat seine Richtigkeitsbedingungen dagegen nur zu Lehen.⁹¹
Ein solcher „absolutistischer Regelsouverän“ sei freilich nicht der Willkür zu bezichtigen, da er alle Norm begründe und es darum keinen Maßstab gebe, an dem er selbst zu messen sei.⁹² Löhrer beansprucht, dass es ihm im Unterschied zu Enders gelinge, keinen Umweg über theologische Felder zu nehmen, sondern philosophisch zu bleiben. Dabei gelangt er jedoch zu Konsequenzen, die mir als heikel erscheinen, nämlich zu einem extremen Dualismus von Gott und Welt, einschließlich der Behauptung, dass die Erkenntnis dieser Welt ohne einen solchen Gott nicht funktioniere. Abermals wird hier die Deutung der Erkenntnispraxis durch die Einführung eines Gottes verkompliziert. Anselms Weg in De veritate verläuft meines Erachtens aber genau in der entgegengesetzten Richtung: Zuerst machen Lehrer und Schüler die in unserer Sprach- und Erkenntnispraxis implizite Normativität explizit – ganz am Ende verhandeln sie die Frage, inwiefern sich beim Weiterdenken dieser Normativität auch ein neuer Gottesbegriff ergibt. In Anselms Vorgehensweise wird die Erkenntnistheorie nicht von der Gotteslehre abhängig gemacht, sondern umgekehrt diese von jener. Bei Enders und Löhrer, so sehr sie einander als Kontrahenten ausgemacht haben, lässt sich jeweils das gleiche strukturelle Problem feststellen. Es besteht in der Trennung von göttlicher „rectitudo“ und endlichen „rectitudines“. Enders unterscheidet, schöpfungstheologisch angereichert, zwischen „rectitudo“ als Adäquationsbegriff (mit Blick auf das Endliche) und „rectitudo“ als Identitätsbegriff (mit Blick auf Gott) – Löhrer, noch radikaler, zwischen dem einen Regelsouverän und den vielen Regelfolgern. Diese Trennung gründet jeweils in einer Überstrapazierung des „causa“-Wortwechsels im X. Kapitel von De veritate. Sie geht einher mit dem Beiseiteschieben des abschließenden XIII. Kapitels: Quod Löhrer, Ontologisch oder epistemisch?, 309. Vgl. Löhrer, Anachronismus, 107.
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una sit veritas in omnibus veris / Dass die Wahrheit in allen wahren [Instanzen] eine ist. Auf der Basis dieses Kapitels werde ich nun eine Alternative zu den Lesarten von Enders und Löhrer entwickeln. (5) Kapitel X untersucht die „höchste Wahrheit“ als letzten „Ort“, an dem im 11. Jahrhundert von Wahrheit die Rede war. Darauf formuliert Kapitel XI die Definition der Wahrheit als allein mit dem Geist erfassbare „rectitudo“ (vgl. De ver. X, Op. 1,191 | Z. 19 f.). Kapitel XII untersucht die Gerechtigkeit als eine besondere Art der Wahrheit bzw. „rectitudo“. Damit bietet Anselm einen Ausblick auf seine Ethik-Konzeption, die in den folgenden Dialogen ausgebaut werden wird. Auf ihre Behandlung kann im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden. Zur letzten Etappe lädt der Lehrer zu Beginn von Kapitel XIII ein: L: […] lass uns fragen, ob eine einzige Wahrheit in all jenen [Instanzen] ist, von denen wir sagen, dass Wahrheit in ihnen ist, oder ob es so viele Wahrheiten gibt, so viele [Instanzen] es gibt, von denen feststeht, dass Wahrheit in ihnen ist. (De ver. XIII, Op. 1,196 | Z. 30 – Op. 1,197 | Z. 2)
Damit greift der Lehrer die Ausgangsfrage des Schülers aus Kapitel I auf. Sie war dort als ein sowohl religiöses als auch intellektuelles Problem benannt worden. Nun soll sie einer philosophischen Lösung zugeführt werden. Und der Dialog ist tatsächlich erst dann vorüber, wenn diesem Begehr des Schülers Genüge getan ist. Der Lehrer führt den Schüler den Weg eines apagogischen Beweises. Sie untersuchen zunächst gemeinsam, was es heißen würde, dass die Wahrheit bzw. „rectitudo“ an den verschiedenen „Orten“ nicht eine wäre, sondern wir es mit verschiedenen „rectitudines“ zu tun hätten. Indem diese These nicht zu halten ist, soll die Gegenthese der Einzigkeit der Wahrheit bzw. „rectitudo“ erwiesen werden. Verschiedenheit der „rectitudines“ würde bedeuten, dass jeder „Ort“ seine eigene Normativität besäße. Jede Normativität wäre dann abhängig von der jeweiligen Instanz, in der sie verwirklicht ist. Lehrer und Schüler vereinbaren, am Beispiel eines Falles zu klären, ob diese Position zu halten ist. Sie entscheiden sich für die Wahrheit der „significatio“. Wie schon zu Beginn in Kapitel II, so wird sie am Ende in Kapitel XIII wiederum zum Schlüssel, ohne den sich der Dialog nicht erschließt. Noch einmal also: Was hat es mit der Normativität der Bezugnahme auf sich? Wir wissen schon: Wenn die Anzeige anzeigt, dass ist, was ist, oder wenn sie anzeigt, dass nicht ist, was nicht ist, dann tut sie, was sie soll; wenn sie hingegen anzeigt, dass ist, was nicht ist, oder dass nicht ist, was ist, verfehlt sie ihren Zweck. Und wir wissen auch, dass alle diese Varianten vorkommen, dass also manches Mal eine Anzeige tut, was sie soll, ein anderes Mal nicht – bzw. dass wir Menschen in unserer Sprach- und Erkenntnispraxis manches Mal mehr Erfolg
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haben, ein anderes Mal weniger oder auch ungewollt scheitern oder willentlich fehlgehen. Der Schüler macht angesichts dieser Lage den Vorschlag, das Verhältnis von Bezugnahme und Norm analog zum Verhältnis von Körper und Farbe zu beschreiben. So wie die Farbe notwendig am Körper haftet, wenn er existiert, aber ebenso notwendig verschwindet, wenn der Körper aufhört zu existieren, so könnte es auch mit Norm und Bezugnahme sein. Wenn also ein referierender Satz ausgesprochen wird, untersteht er notwendig der Norm, an der er gemessen werden kann, wenn aber kein Satz ausgesprochen wird, gibt es auch die entsprechende Norm nicht (vgl. De ver. XIII, Op. 1,197 | Z. 24– 27.). Der Lehrer lehnt diese Analogie jedoch ab (vgl. De ver. XIII, Op. 1,197 | Z. 28 f.). In seinen Augen lässt sich das Verhältnis von Satz und Norm nicht als das von Substanz und Akzidenz beschreiben. Die „rectitudo“ ist nicht nur eine äußerliche Eigenschaft des Satzes. Das Argument, das er dafür in der Hand hat, ist das folgende: Die Normativität wird nicht erst durch das einzelne Vorkommnis, hier den ausgesprochenen Satz, produziert; sie wird vielmehr im Voraus in Anspruch genommen. Bevor ich einen Satz ausspreche, weiß ich bereits, dass er dieser Norm unterstehen wird. Bevor ich den konkreten Versuch mache, etwas zu bezeichnen, weiß ich bereits, worum es beim Bezeichnen geht. Die Normativität ist immer schon in unserer Sprach- und Erkenntnispraxis impliziert. Anders gewendet, diese implizierte Normativität explizit gemacht, kann Anselm durch den Mund des Lehrers sagen, dass die „rectitudo“ nicht verschwindet, wenn gerade einmal nicht gesprochen wird, sondern dass sie bestehen bleibt (vgl. De ver. XIII, Op. 1,198 | Z. 8 f.). Es ist eine Normativität, „die immer ist“ (De ver. XIII, Op. 1,198 | Z. 13 f.).⁹³ Der Schüler stimmt diesem Argument des Lehrers zu. Und da hier an einem Fall alle Fälle verhandelt worden sind,⁹⁴ einigen sich die Gesprächspartner ebenfalls darauf, dass diese immer seiende Normativität eine für alle ihre Instanzen ist. Es gibt nicht mehrere „rectitudines“, weil es mehrere Gegenstände gibt, so der Schüler (vgl. De ver. XIII, Op. 1,198 | Z. 33 f.). Und der Lehrer fasst zusammen: „Eine und dieselbe ist also die Rechtheit von allem [sc. von allen ihren Instanzen]“ (De ver. XIII, Op. 1,199 | Z. 5). Nach der Logik von De veritate gilt das auch von der „höchsten Wahrheit“. Beim Gang durch die verschiedenen „Wahrheitsorte“ war sie nicht ausgenommen worden. Zugleich war sie dort formal bestimmt worden, als die perfekte Übereinkunft von Norm und ihrer Erfüllung. Mit der letzten Wendung von Kapitel XIII Wie Flasch treffend unterstrichen hat, verdankt sich die Normativität unserer Sprach- und Erkenntnispraxis „nicht dem psychischen Faktum des Bezeichnens“ (Flasch, Begriff der Wahrheit, 339). Vgl. in diesem Zusammenhang wiederum den Hinweis auf die Universalität des Bezeichnens am Ende von Kapitel II sowie in Kapitel IX.
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wird das nochmals bekräftigt. Die „höchste Wahrheit“ spielt keine Sonderrolle. Sie adoptiert keinen anderen Begriff von „rectitudo“ als den, der für alle Wahrheitsinstanzen gilt. Vielmehr ist sie nichts anderes als dieser Begriff der „rectitudo“. Das wird im Schlussplädoyer des Lehrers deutlich. Es sei zwar üblich, dass wir von der Wahrheit dieses oder jenes Gegenstandes sprächen. Entscheidend sei jedoch, dass wir dabei davon ausgingen, dass diese Gegenstände der einen „rectitudo“ gemäß seien, die „immer bei ihnen ist“ (De ver. XIII, Op. 1,199 | Z. 19.). Und mit dem letzten Satz seines Dialogs legt sich Anselm darauf fest, dass diese Norm mit der „höchsten Wahrheit“ identisch ist und entsprechend diese mit jener: L: […] so gehört die höchste Wahrheit, die durch sich selbst besteht, keinem Gegenstand; sondern, wenn irgendetwas ihr gemäß ist, dann wird sie seine Wahrheit oder Rechtheit genannt. (De ver. XIII, Op. 1,199 | Z. 27– 29)
Die Ausgangsfrage, die der Schüler mit dem ersten Satz des Dialogs gestellt hat, ist nun also beantwortet: Ja, in der Tat, immer, wenn wir etwas als wahr bezeichnen, dann reden wir von Gott. Entscheidend ist hier allerdings, dass das, was unter „Gott“ verstanden wird, durch den gesamten Weg der Begründung generiert und modelliert worden ist. Es handelt sich nicht um einen dogmatisch vorausgesetzten Gottesbegriff. Wie bereits erwähnt, ist von „deus“ nur in Kapitel I die Rede gewesen. Am Ende von De veritate ist hingegen von der „höchsten Wahrheit“ als der einen absoluten Normativität die Rede, die alles, was ist, umfasst und durchzieht. Es handelt sich um einen monistischen Abschlussgedanken. Während Kapitel X die „höchste Wahrheit“ als einen Ort neben anderen Wahrheitsorten behandelt hat, thematisiert Kapitel XIII die „höchste Wahrheit“ zugleich als den Raum, in dem alles enthalten ist. Das Motiv der Partizipation endlicher Wahrheitsinstanzen an der unendlichen Wahrheit, von dem zu Beginn des Dialogs die Rede war, taucht nun in der Tat an seinem Ende wieder auf. Es handelt sich aber um eine bestimmte Art der Partizipation, die in dieser Form in dem aus dem Monologion importierten Argument noch nicht ersichtlich war. Indem Kapitel XIII den gesamten Verlauf des Dialogs rekapituliert und zum Abschluss bringt, wird deutlich, dass Partizipation nicht in einem statischen Sinne zu verstehen ist, sondern normativ und pragmatisch. Im Entwurf von De veritate ist die gesamte Wirklichkeit von einer Normativität durchzogen, und jede einzelne endliche Entität – sei es eine Aussage, eine Überzeugung, sogar ein Ding – ist dadurch gekennzeichnet, dass sie durch ihr Tun dieser Normativität zu entsprechen versucht. Die innere Differenzierung der einen Wirklichkeit erfolgt mittels dieser Taten, die eine Vielfalt von Ergebnissen zur Folge haben. Gerade die eine
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absolute Normativität gewährleistet also die Differenz und die legitime Endlichkeit aller Instanzen. Der einzelne Satz kann getrost verklingen. Der einzelne Versuch der Bezugnahme darf es aushalten, nur bis zu einem gewissen Grad Erfolg zu haben. Ebenso gehört es zur Bestimmung des einzelnen Dings, dass es nur bestimmte alethisch-modale Prämissen und Konsequenzen erlaubt und sein Ort und seine Rolle in der Welt dadurch begrenzt sind. Sie können und dürfen das, weil die absolute „rectitudo“, wie Anselm sagt, „immer bei ihnen ist“, oder besser: ihnen immer voraus und sie überdauernd ist, so dass die Praxis des Sprechens und Bezugnehmens, des Denkens und Existierens nicht in sich zusammenfällt. Auch bei Anselm ergibt sich aus einem normativen Pragmatismus ein in sich differenzierter metaphysischer Monismus. Auch Anselm präsentiert uns einen Begriffsidealismus bzw. Normativitätsmonismus. Das Beharren auf dieser Konsequenz macht den Wahrheitsdialog erst verständlich. Enders kann zum Abschluss seiner Rekonstruktion von De veritate nur mit Bedauern festhalten, „daß Anselms ‚Beweis‘ der substantiellen Identität aller von endlich-kontingenten Entitäten sowie deren Handlungen aussagbaren Wahrheiten und der Wahrheit, die Gott selbst ist, streng genommen den Charakter einer petitio principii und damit eine zirkuläre Struktur besitzt: Denn daß überhaupt allen endlichen Entitäten und ihren Handlungen ein Sollen, d. h. ein sie normierender göttlicher Wille, im konstitutiven Sinne vorausgeht, wird zumindest im Rahmen von De veritate nicht mehr rational begründet, sondern mit dem christlichen Glauben bereits vorausgesetzt“⁹⁵. Es ist aber Enders selbst gewesen, der diesen Zirkel in die Geschichte eingebaut hat, als er die „rectitudo“ ganz von dem Willen eines theistischen Gottes und dessen Schöpfungskausalität abhängig machte. Ich bin der Auffassung, dass Anselm mit seinem Dialog De veritate in eine bemerkenswerte systematische Richtung weist. Er bietet eine normativ-pragmatistische Konzeption menschlichen Sprechens und Erkennens. Wenn diese konsequent und vollständig expliziert wird, fordert sie die Klärung der Frage nach einer absoluten Normativität. Diese wird schließlich als eine Theorie des Absoluten vorgetragen, ohne in einen theologischen Absolutismus abzudriften. Meine Lesart dieser abschließenden Figur des Dialogs habe ich gegen die Interpretationen von Markus Enders und Guido Löhrer verteidigt. Die Differenz zu Enders wie zu Löhrer besteht in meinem Beharren auf Anselms Normativitätsmonismus. Absolute Normativität und ihre endlichen Instanzen sind gerade nicht voneinander zu trennen: nicht in Regelsouverän und Regelfolgende (Löhrer), nicht in Verursacher und Verursachte (Enders). Eine solche normative Theorie des Abso-
Enders, Wahrheit und Notwendigkeit, 550.
6.2 Eine pragmatistische Sprach- und Erkenntnistheorie und ihre Prämissen
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luten mag aus religiöser Sicht minimalistisch wirken. Gerade dieser Umstand aber ist das metaphysisch Interessante an De veritate.
7 Zusammenschau: Deduktion statt Reduktion Kapitel 6 dürfte einen gewissen Verfremdungseffekt hervorgerufen haben, bedenkt man die Ausgangssituation der vorliegenden Arbeit. Von Anselm ist in der sogenannten Hegel-Renaissance und in sich mit ihr überlappenden Diskussionen normalerweise keine Rede. Aber gerade diese Verfremdung kann weiteren Aufschluss über Brandoms Methode der rekonstruktiven Metaphysik bzw. ihre kritische Fortbestimmung geben. Unter Punkt (5) in Abschnitt 6.2.2 und Punkt (1) in Abschnitt 6.2.4 waren bereits methodologische Zwischenreflexionen eingeschaltet, in denen ich darauf hingewiesen habe, dass wir durch die Anwendung auf Anselm zugleich etwas zurückspiegelt bekommen, was die angewandte Methode selbst in einem helleren Licht erscheinen lässt. Dies möchte ich abschließend unterstreichen und im Rückblick auf den gesamten Verlauf der vorliegenden Arbeit verallgemeinern. Was haben wir prinzipiell über den Einsatz philosophiegeschichtlicher Positionen in aktuellen Debatten gelernt? (1) Zunächst haben wir gelernt, dass wir etwas über jene Positionen selbst lernen können. Aus dem teils großen Zeitenabstand zwischen aktuellen und historischen Debatten folgt keine absolute Inkommensurabilität und Sprachlosigkeit, so dass man puristisch (aktuelle) Philosophie und Philosophiegeschichte voneinander trennen könnte oder sollte.¹ Zumindest anhand einiger Stellen von Brandoms Werk kann verdeutlichet werden, dass er nicht nur ein instrumentelles, sondern ein interessiertes Verhältnis zu seinen Referenzautoren Kant und Hegel hat. Auch wenn ihr Einsatz strategisch erfolgt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, möchte er sie nicht nur benutzen, sondern er möchte sie verstehen und verständlich machen. Dies habe ich in Kapitel 2 durch den Ausbau seines Zugriffs auf Kants „Analytik der Begriffe“ und speziell auf die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zu einer rationalen Rekonstruktion vorgeführt. In dem besagten Abschnitt der ersten Kritik steckt ein philosophisches Potential, das auch und gerade dann gehoben werden kann, wenn man auf die Restriktionen des transzendentalen Idealismus (in seiner gewöhnlichen Interpretation) verzichtet. Dieses Potential kann in aktuellen Diskussionen zur Geltung gebracht werden. Und es kann, wie es bei Brandom selbst und in den Kapiteln 3 und 5 der vorliegenden Arbeit geschieht, den philosophischen Weg von Kant zu Hegel – oder zumindest von der Kritik der reinen Vernunft zur Wissenschaft der Logik – plausibler machen. Brandom sieht Hegel als Kantianer, und es gibt in der Tat gute
In diesem Sinne vgl. auch Saporiti, Wozu überhaupt Geschichte der Philosophie?, 130 – 136. https://doi.org/10.1515/9783110707526-010
7 Zusammenschau: Deduktion statt Reduktion
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Gründe dafür, Hegel als Kantianer zu sehen, auch wenn man sich von Brandoms konkretem Vorgehen wieder löst, wie in Kapitel 5 geschehen. Insofern ist der Auftakt zu einer Lektüre der subjektiven Logik in seiner Durchführung und mit seinem in 5.3 festgehaltenen Ertrag sowohl eine kritische Ergänzung und Variante gegenüber Brandom als auch ein Beitrag zur HegelForschung. Vergleichbares gilt mit Blick auf Kapitel 6, mit dem Anselm zum Spiel des Gebens und Forderns von Gründen hinzugebeten worden ist, zu dem Brandom ermuntert hatte. Durch die innovative Anwendung des begrifflichen Instrumentars von Brandoms Inferentialismus ist es möglich gewesen, Anselms entscheidende Einsicht in die Normativität unserer Sprach- und Erkenntnispraxis in einer Weise zu profilieren, wie es in der Anselm-Forschung bisher nicht geschehen ist. Es ist gelungen, in seinem Dialog De veritate eine systematische Stringenz herzustellen, die aus diesem Text mehr macht als ein bemerkenswertes historisches Denkmal für einen Genius des 11. Jahrhunderts. Durch – wie ich hoffe – akkurate Arbeit am Originaltext ist gezeigt worden, dass eine solche Herstellung systematischer Stringenz nicht auf Kosten der historischen und philologischen Sorgfalt gehen muss. (2) Es lässt sich nun besser bewerten, was es mit der Selektivität des Rückgriffs auf Positionen aus der Philosophiegeschichte auf sich hat. Selektivität ist offensichtlich und erklärtermaßen bei Brandom selbst im Spiel. Das ist, wie Emundts festgestellt hat, bei einem synthetischen Umgang mit Positionen aus der Philosophiegeschichte auch legitim. Durch die in Teil 1 dieser Arbeit vorgenommene Analyse der Strategie, die Brandom mit seiner Lektüre de re verfolgt, sowie der Erläuterung ihrer Schwerpunktsetzungen und auch ihrer Lücken, habe ich darüber hinaus gezeigt, dass Selektivität nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden sollte. Es ergibt durchaus einen Sinn, was Brandom mit Kant und Hegel tut; es ergibt einen Sinn, so habe ich argumentiert, weil so sein normativ-pragmatistischer Ansatz konturiert und dessen metaphysische Konsequenzen ausgelotet werden. Dem Eindruck einer gewissen Laxheit in Brandoms Umgang mit seinen Quellen hat sich aber auch meine wohlwollende Interpretation nicht gänzlich entziehen können. Entsprechend bestand der Anspruch von Teil 2 darin, Brandoms Vorgehen mit Hilfe von systematischen Rekonstruktionen von Positionen aus der Philosophiegeschichte methodisch zu kontrastieren und inhaltlich zu ergänzen. Kapitel 5 begann konkret mit der Kritik einer philologischen Detailfrage, die Brandoms Projekt zu beeinträchtigen drohte. Im Ausgang von der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“, in deren Zusammenhang jene Detailfrage zu verorten ist, habe ich eine alternative Deutung von Hegels Theorie des Subjekts und des Begreifens entwickelt, um der bei Brandom selbst drohenden Gefahr der
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Reduktion von Normativität auf Sozialität zu entgehen. Die Interpretation dieser Passage habe ich zugleich als Auftakt einer Lektüre der subjektiven Logik bezeichnet (welche ihrerseits auf Fortsetzung in der Realphilosophie verweist). In Kapitel 6 wurde mit der Interpretation von Anselms Dialog De veritate von einer ganz anderen Seite aus angesetzt, um schließlich das Verhältnis von Normativitätsmonismus und Supranaturalismus zu diskutieren. Dem Anspruch einer systematischen Rekonstruktion gemäß durfte dabei der Umgang mit den Referenzautoren bzw. ihren Texten nicht lax sein. Jedoch kann schlecht geleugnet werden, dass ich in Teil 2 eine bestimmte Auswahl getroffen habe: zum einen eine relativ kurze Passage aus Hegels Logik, zum anderen einzelne Kapitel aus De veritate, auf die ich einen besonderen Schwerpunkt gelegt habe, unter Verzicht auf den Rückgriff auf andere Texte Anselms. Darf also auch die systematische Rekonstruktion einer Position aus der Philosophiegeschichte selektiv vorgehen? Ich meine, dass dem so ist. Emundts’ Aussage, dass sich die systematische Rekonstruktion „an dem orientiert, was die rekonstruierte Position selbst angenommen hat oder annehmen könnte oder sollte – also quasi in Verbindung mit allen anderen ihren Behauptungen und in diesem Sinn systematisch“², würde ich daher leicht modifizieren: Es muss nicht die Verbindung zu allen anderen Behauptungen gesucht werden, sondern nur zu denen, die in einem inferentiellen Zusammenhang stehen. Das hat sich insbesondere bei der Anwendung auf Anselm gezeigt. Aus Kapitel 6 ergibt sich ein methodologisches Regulativ für den systematischen Umgang mit Positionen aus der Philosophiegeschichte. Auch dieser Ansatz kennt einen Unterschied zwischen einer Lektüre de re und einer Lektüre de dicto, weil dadurch ja eine aktuelle Debatte der Sache nach bereichert werden soll. Das methodologische Regulativ lässt sich wie folgt formulieren: Eine historisch gut informierte und philologisch akkurat arbeitende systematische Rekonstruktion ist als eine Lektüre de re dazu verpflichtet, die inferentiellen Prämissen und Konsequenzen der herangezogenen Positionen ihrer Referenzautorinnen und -autoren aufzuspüren und zu übernehmen – oder ggf. die zitierten Positionen mit ihren inferentiellen Prämissen und Konsequenzen explizit zu verwerfen. Sie ist nicht verpflichtet, andere Annahmen zu übernehmen, die zwar faktisch gemeinsam mit den zitierten Positionen vorgetragen wurden, aber nicht in einem solchen inferentiellen Zusammenhang mit ihnen stehen. In diesem Sinne darf und soll sie selektiv verfahren.
Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 878.
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Auf diese Weise kann zum einen Emundts’ Mahnung zur Kosten-NutzenAbwägung Rechnung getragen werden.³ Zum anderen verdeutlicht die soeben formulierte Maßgabe die differentia specifica zwischen systematischer und historischer Rekonstruktion. Letztere soll gerade so breit und so detailliert wie möglich vorgehen, unter Einbezug auch von ansonsten weniger beachteten Positionen und Diskussionsverläufen und ohne Hinordnung auf ihre etwaige Verwertbarkeit für heutige Debatten.⁴ Im methodologischen Zuschnitt der vorliegenden Arbeit ist auf eine solche umfassende historische Zugangsweise mit Absicht verzichtet worden, da durch Brandoms Gedanken einer rekonstruktiven Metaphysik die Frage nach dem Einbringen von Positionen aus der Philosophiegeschichte in aktuelle Debatten, und zwar zu ganz bestimmten Zwecken, von Anfang an auf dem Plan stand. (3) Brandom verfolgt mit seinem strategischen Einsatz von Kant und Hegel das Ziel, seinen normativen Pragmatismus so zuzuspitzen, dass er eine Theorie liefert, die sowohl unsere subjektiven bzw. intersubjektiven Praktiken des Gründefordens und -gebens als auch die Struktur der objektiven Wirklichkeit, auf die wir Bezug nehmen, verständlich macht. Erklärtermaßen will Brandom einen Mittelweg zwischen hartem Naturalismus und dualistischem Supranaturalismus weisen und findet ihn in seinem revisionären Normativitätsmonismus. Diesen Weg bin ich in Teil 1 nachgegangen und habe ihn in Teil 2 modifiziert. Der Anti-Reduktionismus, den Brandom besonders im Kontrast zum naturalistischen mainstream profiliert, ist dabei unterstrichen und auf weitere Felder ausgedehnt worden: Sowohl Kapitel 5 als auch Kapitel 6 richten sich gegen die Reduktion von Normativität auf etwas anderes bzw. jemand anderen, nämlich gegen die Reduktion von Normativität auf Sozialität und gegen die Reduktion von Normativität auf das willkürliche Dekret eines theistisch konzipierten Gottes. Die verfremdende Intervention von Kapitel 6 erweist sich so im Nachhinein nochmals als treffend, weil sie genau das Problem thematisiert, das mit den Beobachtungen und Thesen von Sebastian Gardner in Kapitel 1 aufgerufen wurde. Dort war die Gefahr benannt worden, bei dem Versuch, dem harten Naturalismus eine robuste Alternative entgegenzusetzen, in einen „platonischen“ Supranaturalismus abzudriften. Zwar scheint es für viele – unter ihnen Brandom – ausgemacht zu sein, dass dies nicht geschehen dürfe bzw. nicht geschehen werde. Auf eine eigentliche Diskussion dieser Problematik wird aber weitgehend verzichtet.
Vgl. Emundts, Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte, 888 f. Vgl. dazu die treffenden Ausführungen bei Marenbon, John, Why We Need a Real History of Philosophy, in: Proceedings of the British Academy 214 (2018), 36 – 50.
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Ausgerechnet der Rückgriff auf eine Position aus einer weit zurückliegenden, untergegangenen Epoche hat sich als hilfreich erwiesen, die Kritik an einer supranaturalistischen Konzeption von Normativität in Worte zu fassen. Wenn es in dieser Arbeit um die metaphysischen Konsequenzen eines normativen Pragmatismus ging, hat Kapitel 6 nochmals konturiert, welche Form von Metaphysik gemeint ist und welche nicht. Die anti-reduktionistische Grundhaltung, die die unterschiedlichen Kapitel dieser Arbeit prägt und ihren Zusammenhang garantiert, manifestiert sich nicht nur auf inhaltlicher, sondern ebenso auf methodologischer Ebene. Es ist gerade der Akt des Aufgreifens von Positionen aus der Philosophiegeschichte – durch Brandom wie durch mich –, der den Anti-Reduktionismus performativ vorführt, weil er zeigt, wie sich das Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen diachron und zwischen Personen vollzieht. Es verweigert sich der geschichtslosen naturalistischen wie supranaturalistischen Reduktion. Für diese These von der anti-reduktionistischen Performanz der Philosophiegeschichte ist es nicht nötig, dieser eine weitergehende teleologische Konzeption unterzuschieben, wie es bei Brandom selbst noch geschieht und von Emundts, Kern und Pippin zurecht kritisiert worden ist. In der vorliegenden Arbeit habe ich gerade nicht auf geschichtsphilosophische Texte zurückgegriffen – was ja zumindest im Falle Hegels leicht möglich gewesen wäre –, sondern auf im weiteren Sinne logische Texte, auf Theorien zum Begriffsgebrauch. Als treffend hat sich hingegen Brandoms Gedanke einer gutartigen Genealogie erwiesen, die Menschen nicht von ihrer begrifflichen Eigenart entfremden, sondern zu ihr befreien will. Der kantianische Terminus dafür ist „Deduktion“: das Dartun der Legitimität eines Anspruches aus seiner Herkunftsgeschichte. In Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ebenso wie in Hegels „Genesis des Begriffs“ ist das selbstverständlich strikt logisch gemeint. Es kann am Ende dieser Arbeit aber auch mit Blick auf den Rückgriff auf die Philosophiegeschichte von einer Deduktion gesprochen werden: Ein solcher Rückgriff tut dar, dass wir Menschen nicht bloß eine Vergangenheit haben wie andere natürliche Dinge, sondern eine Geschichte, die wir uns aus dem Verwenden von Begriffen erarbeitet haben. Daher lässt sich auch unser aktueller Begriffsgebrauch nicht auf natürliche Begebenheiten reduzieren, und er fällt auch nicht vom Himmel. Der Rückgriff auf die Philosophiegeschichte tut dar, dass unsere Existenz als Wesen, die Begriffe verwenden, in dieser Welt Legitimität beanspruchen kann.
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Personenregister Adams, Marilyn McCord 244 Adorno, Theodor W. 11, 55, 105 Albertus Magnus 242, 250 Allison, Henry E. 80, 92, 95 – 97 Anselm von Canterbury 22 f., 136, 230, 240 – 296 Aris, Marc-Aielko 242 Aristoteles 6 f., 20, 22, 44, 111, 161, 241 – 246, 250 f., 256 – 258, 272, 285 f. Arndt, Andreas 194 f., 203 Augustinus 22, 161, 246, 258, 265 Auinger, Thomas 145, 148 f. Ayer, Alfred J. 51 Bacin, Stefano 81, 88 Baier, Kurt 53 Barth, Christian 3, 49, 69, 76 f. Baumanns, Peter 91, 93 Beaney, Michael 14 Beiser, Frederick 4, 158, 162 Berkeley, George 44, 143 Bertram, Georg W. 125 Blumenberg, Hans 288 Boethius 22, 242 f., 251, 256 f., 286 Bowman, Brady 7, 149 Brachtendorf, Johannes 194 Bradley, Francis Herbert 46 Braitling, Petra 205, 219, 221 Brams, Jozef 242 Brandom, Robert B. 1 – 23, 27, 31 – 89, 92 – 183, 187 – 193, 195 f., 205, 207, 215 f., 219, 223 – 228, 230, 233 – 243, 247 – 249, 267 – 269, 272 f., 277 f., 294 f., 297 f. Buchner, Hartmut 201 Burger, Maria 250 Burkhardt, Frederick H. 64 Butterfield, Herbert 38 Carl, Wolfgang 87 f., 93 Carlson, David G. 202, 231 Carnap, Rudolf 14, 35, 51 Cicero 22, 251, 286 https://doi.org/10.1515/9783110707526-012
Clifford, William Kingdon Cohen, Hermann 111
64
Danz, Christian 148 f. David, Marian 243 Davidson, Donald 133 f., 265 Davies, Brian 244 de Laurentiis, Allegra 4, 221 de Libera, Alain 242 De Vos, Lu 33 Deines, Stefan 105, 171 Deligiorgi, Katerina 4 Derrida, Jacques 125 Descartes, René 40 – 43, 46 – 51, 137, 139, 173 f., 240 f. Dewey, John 45, 51 di Giovanni, George 201 Dod, Bernard G. 242 Dohrn, Daniel 49, 60 – 62, 77, 88 Dreyer, Mechthild 242, 267 Düsing, Klaus 194, 227 Emundts, Dina 13 – 18, 20 – 23, 33, 38, 132 f., 158, 170 f., 187, 223, 225, 228, 236, 240 f., 249, 267, 295 – 298 Enders, Markus 22, 241, 243 f., 248 – 252, 254, 256, 258 – 260, 262 f., 265, 267, 271 f., 276 – 289, 292 Engelhard, Kristina 61 Erismann, Christophe 242 Ernst, Stephan 262 Evans, Gillian R. 244 Falkenroth, Jana Elisa 165 f., 169, 234 Fichte, Johann Gottlieb 105, 201, 230 Flasch, Kurt 247 f., 257 f., 263, 267, 290 Fodor, Jerry 69 Foreville, Raymond 258 Förster, Eckart 88, 91 Foucault, Michel 37, 125 Frank, Manfred 83, 97 f., 205 Franz, Thomas 262 Frege, Gottlob 53, 69, 107, 137 – 139
314
Personenregister
Freud, Sigmund 37 Fuhrmann, André 46 Gabriel, Markus 21, 132, 145 – 149, 151, 158, 181, 189 – 192, 215 Gadamer, Hans-Georg 263 Galilei, Galileo 41 – 43 Gardner, Sebastian 27 – 34, 119 f., 149, 158, 160, 233, 297 Gerhard, Myriam 33 Gerhardt, Volker 95 Gersh, Stephen 246 Gimmler, Antje 55, 128, 158 Glock, Hans-Johann 16 Gloy, Karen 206 Goebel, Bernd 22, 248, 263, 267 Gombocz, Wolfgang L. 258 f., 265 Grosseteste, Robert 242 Grüne, Stefanie 69 Gunkel, Heidrun 241 Haag, Johannes 11, 77, 88, 96, 145 Habermas, Jürgen 11 f., 105, 125, 135, 145, 147, 159, 171 Halbig, Christoph 30, 112 Halfwassen, Jens 6 Hammacher, Klaus 201 Hammer, Espen 4, 27 Hanke, Thomas 125, 158, 195, 205, 215, 217 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2 – 8, 10 – 14, 16 – 21, 23, 27, 30 – 39, 46, 50 f., 55 f., 68 f., 76, 79, 84, 86 f., 97 – 101, 105 – 173, 177 – 183, 187 – 240, 248, 262 f., 268, 273, 294 – 298 Heidegger, Martin 263 Heidemann, Dietmar H. 61 Henrich, Dieter 76 f., 83, 86, 90 – 92, 159, 177, 205, 210, 214, 227 Herzberg, Stephan 194 Hetzel, Andreas 55 Hoenen, Maarten 246 Hofer, Michael 76 Hogh, Philip 105, 171 Honnefelder, Ludger 242, 250 Honneth, Axel 39, 111, 119, 121 – 125, 179, 205, 238 Hoppe, Hansgeorg 79
Horkheimer, Max 55 Horstmann, Rolf-Peter 95, 162, 166 f., 211 Houlgate, Stephen 7 Hume, David 44, 54, 61, 102 Iber, Christian 194, 198, 203, 226 Illetterati, Luca 194 Imbach, Ruedi 242 Isaak ben Salomon Israeli 243 Jacobi, Friedrich Heinrich 200 – 204, 214 Jacobi, Klaus 245 f. Jacobs, Wilhelm G. 201 Jaeschke, Walter 33, 194, 201, 212 f., 220 f., 232 Jakob von Venedig 242 James, William 7, 44 – 46, 51, 64, 136, 158, 168 f., 174 Jesus von Nazareth 270, 274 Kant, Immanuel 2 – 8, 10 – 21, 23, 27, 32 – 37, 40, 45 – 113, 117, 119, 125 – 127, 129, 131, 134 f., 137 – 139, 143 f., 149 f., 153 – 155, 158, 162 f., 166, 169 f., 173 – 182, 187 – 194, 196, 208 – 230, 233, 235 – 238, 240, 268 f., 273, 294 f., 297 f. Karakus, Attila 165 f., 169, 234 Kenny, Anthony 242 Kern, Andrea 21, 38, 191 – 193, 236, 240, 298 Kertscher, Jens 55 Khurana, Thomas 120, 206 Klemme, Heiner F. 78 f., 93 Knappik, Franz 12 f., 34, 56, 135, 158, 167, 171, 205, 226 Koch, Anton Friedrich 147, 194, 198 Koch, Karen 217 Kohlenberger, Helmut 256 Kopernikus, Nikolaus 41, 43, 49, 67, 167 Kötz, Hein 136 Kreines, James 7, 20 Kretzmann, Norman 242 Kruck, Günter 194 f. Kühn, Wilfried 19 Langenfeld, Aaron Langthaler, Rudolf
158 76
Personenregister
Lanwert, Laura 136 Lauer, David 77 Leftow, Brian 244 Leibniz, Gottfried Wilhelm 42 – 44, 46, 51, 147, 173 Locke, John 44 Löhrer, Guido 255, 262 f., 285, 287 – 289, 292 Longuenesse, Béatrice 7, 33, 80, 93, 194 Lütterfels, Wilhelm 61 Mandrella, Isabelle 242 Marenbon, John 242, 246, 297 Marx, Karl 37 McDowell, John 5, 9, 12, 22, 33, 56, 68, 77, 82, 88, 93, 95, 99 f., 148, 150 f., 190 Menegoni, Francesca 194, 211 Michelini, Francesca 199 f. Minio-Paluello, Laurentius 243, 257 Misak, Cheryl 190 Möhle, Hannes 242 Mohr, Georg 79, 81, 83, 88, 92 f., 95, 111 Moore, George Edward 35, 46 Mooren, Nadine 195 Moyar, Dean 6 f., 195 Müller, Tobias 37 Neuser, Wolfgang 149 Nietzsche, Friedrich 37 Nuzzo, Angelica 4, 221, 231 Oberauer, Alexander Odysseus 101 Olsson, Erik J. 46
194, 198
Perler, Dominik 241 Pieper, Annemarie 201 Pinborg, Jan 242 Pinkard, Terry 4, 27, 30 f., 33, 111, 120, 160 – 162, 190 Pinske, Irmgard-Maria 201 Pippin, Robert B. 3 f., 6 f., 20 f., 33, 38 f., 100, 111, 135, 150 – 152, 189, 194, 205, 235, 298 Platon 6, 246 Plotin 246 Porphyrius 242, 246
315
Pouchet, Robert 22 Prauss, Gerold 90 Prien, Bernd 165 Quante, Michael
14, 30, 112, 194 f.
Raulet, Gérard 83 Reck, Erich H. 14 Redding, Paul 4, 6, 43 Rinaldi, Giacomo 4 Rödl, Sebastian 100 Rölli, Marc 55 Rorty, Richard 10 f., 14, 16, 64 Rosefeldt, Tobias 81 f. Rosenhauer, Sarah 158 Rousseau, Jean-Jacques 101, 103 Russell, Bertrand 35, 46, 174 Sandbothe, Mike 45, 55 Sandkaulen, Birgit 200, 203, 209, 214 Saporiti, Katia 38, 294 Sartre, Jean-Paul 97 Schellenberg, Susanna 10 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 97, 201 Schick, Friedrike 194, 207 Schlösser, Ulrich 88 Schmidt, Thomas M. 37 Schmitt, Franciscus Salesius 241, 246, 256, 259 f., 286 Schneewind, J.B. 14 Schubert, Klaus 44 Schulthess, Peter 242 Schumacher, Ralph 95 Schweikard, David P. 165 f., 169, 234 Sedgwick, Sally 7 Seel, Martin 105, 135, 168 Sell, Annette 33 Sellars, Wilfrid 10 f., 35, 56 f., 71, 77, 84, 104 Sharp, Kevin 84 Siep, Ludwig 31, 112 Skinner, Quentin 14 Sokrates 44, 246 f. Southern, Richard W. 244 Speer, Andreas 255 Spinoza, Baruch de 6 f., 42 f., 46, 51, 161 f., 173, 196 – 206, 209
316
Personenregister
Spree, Axel 44 Stamm, Marcelo 87 Steiger, Lothar 246, 250 f. Steiner, Stephan 158 Stekeler, Pirmin 206 Stern, Robert 7 Stolzenberg, Jürgen 81, 88, 148 f. Strawson, Peter F. 13 – 17, 50, 76 f., 79 – 84, 86, 88, 91, 93 f., 99, 159, 175 – 177, 187 f. Stump, Eleonore 242 Sturm, Holger 3, 11, 49, 69, 145 Sweeney, Eileen 244, 246 – 248 Szaif, Jan 243 Taylor, Charles 4 Tetens, Holm 37 Thein, Christian 11, 148 Theunissen, Michael 204 f., 230 Thomas von Aquin 243, 250, 257, 267 Tuschling, Burkhard 90 Utz, Konrad
194, 198
van Reijen, Willem 83 Verweyen, Hansjürgen 241, 256, 260, 271 Vesper, Achim 181 Viertbauer, Klaus 125, 195, 205 Vieweg, Klaus 11, 121, 149, 194 Waibel, Violetta L. 203 Wandschneider, Dieter 149 Welsch, Wolfgang 11, 121 Westermann, Hartmut 268 Wild, Markus 88 Willaschek, Marcus 81, 88, 95, 97, 168 Wirsing, Claudia 194 Wittgenstein, Ludwig 16, 35, 57 – 60, 69, 107, 153, 174, 265, 288 Wood, Rega 242 Wright, Crispin 190 Zambrana, Rocío 195 Zimmermann, Albert 243 Zöller, Günter 81, 96 f. Zweigert, Konrad 135
Sachregister Einige wichtige Schlagwörter tauchen in diesem Register nicht auf, weil sie so gut wie omnipräsent sind, wie z. B. „Begriff/begrifflich“, „Erkennen/Erkenntnis“, „Normativität“, „Objektivität“, „Subjektivität“, „inferentiell“, „pragmatistisch“.
Anerkennung 17, 39, 58, 72, 101 f., 105 – 128, 144, 154 f., 169, 178 f., 182, 189 – 192, 205 – 207, 238 – „Kampf um Anerkennung“ 114, 123 – 125, 206, 238 – siehe auch: Intersubjektivität, Interpersonalität; Sozialität Antike 40, 44, 224, 286 Apperzeption 50, 67 – 89, 92 f., 96, 102 – 105, 109, 126 f., 131, 134, 138 f., 154, 175, 177, 179, 182, 190, 222 – „Ich denke“ (i.S.v. Kant) 65 – 68, 76 – 79, 82, 84, 86, 96, 138, 154, 175, 190, 212 – 214 – siehe auch: Deduktion Atomismus 41, 43, 65, 69, 83, 157, 173, 177, 182, 266, 271 Aufklärung 39, 55 f., 101 – 103, 110, 157 f., 178, 225 Aussage, Proposition 9, 12, 36, 64 – 69, 88, 133, 140, 149 f., 163, 169, 175, 181, 247 – 266, 271 – 273, 279, 283 – 285, 291 – propositio, enuntatio 251, 256 Autonomie 40, 48, 50, 61 f., 101 – 112, 119, 125 f., 134, 144, 155, 178 f., 191 f. Autorität 8, 56, 66, 101 – 103, 109, 117 f., 125, 127 f., 156 f., 245, 252, 254, 263, 270 Bedeutung (von Begriffen) 1, 36, 47, 65, 70, 108, 115 f. 153, 168, 170, 208, 224, 256, 262, 265 Begierde 113 – 126, 154, 179 Begriffsgebrauch, Verwenden von Begriffen 2, 8 – 11, 36, 47 f., 50 – 56, 63, 70, 73 f., 77, 80, 83, 87, 94, 96, 102 f., 108, 117, 120 f., 125, 128, 130, 134, 140, 142, 145, 147 f., 156, 163, 165, 167, 174, 178 – 180,
https://doi.org/10.1515/9783110707526-013
191, 216, 234 f., 253, 255 f., 265, 268, 273, 298 – Menschen als Begriffsverwender 2, 8, 10 f., 37, 63, 67, 82 f., 87, 102 f., 108, 110, 247, 265 f., 274 f., 289 f., 298 – siehe auch: Sprachgebrauch, Alltagssprache Behaupten, Behauptung 8 f., 15, 36 f., 52 – 55, 66, 73 f., 85 f., 94, 104, 107 – 110, 121, 124, 127, 130 f., 136, 140, 142 f., 175 – 179, 245, 248, 259 f., 264, 278, 285, 296 common law 128, 135, 240 Deduktion 19 f., 37, 65 – 107, 112, 125 – 127, 134, 138, 144, 175 – 182, 189, 193, 196, 208 – 229, 233, 236, 268 f., 271, 273, 294, 298 – siehe auch: Apperzeption Deflationismus 4 f., 12, 27 – 34, 111 f., 133, 150, 160, 173, 182, 189, 235 diachron 52, 88, 173, 187, 240, 298 Ding(e) an sich 94 f., 138, 141, 146, 150, 168, 181, 220, 237 Diskursivität 35, 47, 49 – 54, 62 f., 67, 69, 81, 85, 87, 94, 103 f., 110, 127, 130, 135, 148, 174, 176, 247 Dualismus 9, 10, 22, 33, 49, 56, 63, 64, 79, 87, 89, 119, 120, 129 f., 137 – 139, 146, 148 f., 159 – 161, 169, 174, 219, 221, 288, 297 Einzelding 40, 69, 83, 146, 147, 159 Empirismus 8 f., 34 f., 41, 43 – 45, 50 f., 56, 60, 79 – 83, 85, 89, 93 f., 120, 135 f., 159, 173 f., 177, 180, 182, 229, 261, 266 Endlichkeit, Endliches 22, 81, 85 – 87, 118, 143, 161, 163, 171, 177, 200, 211, 213, 222, 238, 252 – 254, 258 f., 262, 268, 283 f., 288, 291 f. Entfremdung 18, 27, 36 – 39, 173, 298
318
Sachregister
Erfahrung 45, 49 f., 61, 79 – 83, 86, 88 – 95, 99, 107, 120 – 122, 124 – 137, 139 – 142, 144, 146, 153 – 156, 163, 180, 182, 218, 221, 225, 240, 248 Erlebnis 45, 78 – 80, 132, 177 existentielle Dimension 16, 36, 86, 121, 123 – 125, 177, 179, 247, 267 Existenz 9, 32, 86, 91, 97, 99 f., 110, 143 f., 178, 181 f., 225, 231, 234, 253, 277, 284, 298 – existentielles Sein 97, 100, 106, 144, 181 Festlegung, Affirmation 12, 35, 54, 57, 85, 101, 103 f., 114, 126 f., 172, 175, 178 f., 191, 207, 218, 260, 266 – affirmatio 259 f., 266 f. Fortschritt 21, 38, 43, 46, 51, 118, 128 f., 131 – 133, 142, 152, 156 f., 174, 180, 240, 261 Freiheit, Befreiung 34, 37 – 39, 46, 55 f., 62, 101 – 105, 110, 120, 173, 178, 201 – 205, 207, 212, 226, 238, 298 „Gegenstand = X“ 65, 68, 95 – 99, 138, 175, 178, 181 Geist, mind, spirit 2, 18, 30 – 33, 39 f., 48 f., 63 f., 87, 108, 110, 113 – 115, 118 – 120, 124 f., 137, 143, 146, 149, 154, 157, 159 – 161, 171, 174, 189, 217, 220 f., 223, 226, 229, 232 f., 238, 240, 272, 276, 289 – siehe auch: Mentalismus, Psychologismus Genealogie 18, 27, 34, 37 f., 46, 91 f., 95, 164 f., 170, 173, 298 Geschichtsphilosophie 38, 241, 298 Gott 22, 143, 160, 171 f., 233, 235, 250 – 254, 276, 278 – 281, 283 – 285, 288, 291 f., 297 – Gottesstandpunkt 159 Gründe – Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen 1 f., 8, 37, 51 f., 55 f., 80, 83, 85, 87, 94, 113, 118, 136, 173, 182, 187, 227, 247 f., 295, 297 f. – Raum der Gründe 8, 51 f., 78, 83, 87, 116, 123 – 125, 140, 161, 180, 227, 229, 240 f., 267 Handeln, Handlung 8, 43, 45, 48, 54 f., 57 f., 62, 65, 72 f., 86, 101 – 104, 109, 117,
120, 143, 154, 163, 201, 224, 233, 262, 270, 273 – 275, 279, 283 f., 292 Holismus 35, 42, 72, 148, 153, 156, 158, 162, 167, 182 Idealismus 12, 27 – 33, 51, 97, 100, 105 f., 120, 138 f., 149 – 151, 160, 169, 171, 201 – transzendentaler Idealismus 17, 49 f., 89, 93 – 100, 178, 294 – subjektiver / psychologischer Idealismus 99, 143, 222, 227 – Begriffsrealismus 138 – 152, 157 – 160, 167, 180 f., 237, 273, 277 f. – objektiver Idealismus 138, 142 – 152, 157 – 160, 167, 180 f., 237, 273, 277 f. – Begriffsidealismus 138, 152 – 160, 167, 182, 237, 278, 292 – idealistische These 153 – 158, 182, 188, 207, 215 f. – Idealismus des Sinns (nicht der Referenz) 98, 143 f., 150, 160, 181, 224, 234 Idee (i.S.v. Hegel) 156 f., 165, 182, 231 – 239 Individuum, Individualität 81 – 84, 97, 109 f., 118, 156, 160, 190, 202, 213 – 215, 227, 237, 269 – siehe auch: Person, Persönlichkeit Individuation 73, 75, 89, 98 Intentionalität 47 f., 65 – 68, 73 – 75, 88, 115, 122, 139, 157, 175 f., 180, 182, 191 – 193, 236, 248, 270, 278 Intersubjektivität, Interpersonalität 81, 84 – 86, 100, 103, 106, 116, 122, 134, 144, 155, 177, 179, 182, 189, 206 f., 215, 219, 226 f., 234, 236 – 239, 247, 269, 278, 297 – siehe auch: Anerkennung; Sozialität Introspektion 52, 78, 211 f., 221 Irrtum 62, 116, 129 – 132, 138, 142, 163, 180, 235 Kantianismus 3, 6, 7, 11, 13, 17, 19 f., 23, 35 f., 63, 68 f., 104, 106, 144, 150, 162, 190 – 193, 216, 218, 236, 238, 268, 298 Kausalität 117, 143, 170 f., 197, 199, 284 – 287, 292 kopernikanische Wende 43, 49, 67, 167 mentale Episoden 70, 72, 87
Sachregister
Mentalismus, Psychologismus 80, 137, 149, 171 f., 177 – mind-stuff 64, 78, 84, 86, 113, 177 Metaphysik – rekonstruktive Metaphysik 1 f., 13, 106, 166 f., 240 f., 249, 267, 294, 297 – revisionäre Metaphysik 19, 37, 137, 159 f., 162, 182, 187, 238 f., 248, 297 – Partizipationsmetaphysik 257 – 259, 275, 285 f., 291 Methode, Methodologie 1, 9, 13 – 16, 18, 20, 23, 29, 35, 37, 44, 54, 83, 91, 159, 165 f., 170, 187 f., 193, 197, 231 f., 235, 240, 249 – 252, 255, 269, 273, 278 – 280, 294 – 298 – absolute Methode 231, 235 – topische Methode 251 f., 255, 269, 273, 278 – 280 – methodologisches Regulativ 296 Mittelalter 1, 22, 40 f., 43 f., 60, 173, 240, 243 – 246, 267 Moderne, Neuzeit 28, 40, 43 f., 46, 56, 60, 101, 173, 213, 240, 268 Monismus 152, 154, 158 – 162, 166 – 169, 171 – 173, 182 f., 187, 202, 205, 233, 236 – 238, 278, 291 f., 296 f. – Normativitätsmonismus 152, 159 f., 172, 183, 187, 236 – 238, 278, 292, 296 f. Mythos des Gegebenen 56, 98, 111, 136, 148 f., 159, 167 f., 227, 229, 234 Naturalismus 1 – 3, 5, 9, 18, 21, 27 – 39, 41, 63, 79, 87, 116, 120, 146, 148 f., 151, 159 – 161, 165, 168, 172 f., 181 – 183, 187, 190, 234, 297 f. – Restnaturalismus 146, 148 f., 151, 165, 181, 190 – Anti-Naturalismus 1 – 3, 8 f., 13, 18, 20 f., 23, 27, 32, 36 – 38, 63, 79, 87, 119, 124, 173, 182 f., 187, 236, 294 – 298 Neuzeit: siehe Moderne normativer Anspruch, Maßstab, normatives Ideal 48, 53, 57, 61, 66, 74 f., 96, 109, 140 – 142, 176, 178, 180, 224, 230 – 233, 261 f., 265 f., 270, 271, 282 f., 286 – 290 Performanz, Performativität 1 f., 18, 23, 34, 36, 37 f., 51, 57 f., 104, 173, 187, 244 f., 282, 298
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Person, Persönlichkeit 16, 64, 77, 81 – 86, 122 – 124, 160, 177, 201, 203, 213 – 215, 237, 245, 247 f., 261 f., 274, 278, 298 – siehe auch: Individuum, Individualität Philosophiegeschichte 1 – 3, 10, 13 – 18, 20, 23, 34, 37 f., 43 f., 46, 51, 173, 182, 187 f., 195, 236, 238, 240 f., 249, 294 – 298 – Rezeption 1 f., 17, 20, 22, 34, 101, 124, 169, 175, 177, 187, 242, 246, 273 – Aktualisierung, Vergegenwärtigung 13 – 18, 20, 22, 27, 35, 38, 152 f., 158, 187 f., 195, 223, 236, 238, 241, 250, 294, 296 f. – Lektüre de re 13, 14, 16, 166, 183, 227, 280, 295, 296 – Selektivität 15 – 17, 20, 22, 35, 76, 80, 166, 182 f., 295 f. Platonismus 5 f., 9, 32 f. 53, 57, 160, 224, 246, 258 f., 268, 297 – Platonismus im historischen Sinn (inkl. Neuplatoniker) 6, 224, 246, 258 f. – Platonismus im plakativen Sinn 5, 9, 32 f., 53, 57, 160, 268, 297 Postmoderne 37, 39, 60, 125, 174 Psychologismus: siehe Mentalismus Quietismus 58, 60, 165 f., 174 Rationalismus 43 – 46, 49 – 52, 60, 93, 107, 136, 168 f., 173, 174 f., 201, 267 Realphilosophie 162, 196, 205 f., 215, 220 f., 226 – 228, 231 – 238, 296 Rechtshegelianismus 171 f., 183, 239 rectitudo, „Rechtheit“ 22, 255, 260 – 268, 271 – 276, 281 – 285, 287 – 292 Referenz, Bezugnahme 1, 47, 66, 73 – 76, 83, 88 f., 94, 97, 121, 134, 138, 143, 205, 256, 261, 264, 270 f., 283, 287, 289, 290, 292 – significatio, „Anzeige“ 256, 260 – 266, 271, 279, 289 Regeln 8, 16, 36, 48, 52 f., 56 – 62, 73, 98, 101 f., 107 f., 135, 144, 174, 178, 211 f., 216, 230, 256, 268, 287 f., 292 – Regelfolgen 16, 58, 101, 292 – Regelregress 57, 59, 174 – Regularismus 57 – 59, 61 – 63, 101, 174, 190
320
Sachregister
– Regulismus 57 – 59, 62 – 64, 101, 174 – Regelsouverän 288, 292 regulativer Gebrauch 28, 36, 217, 223 f., 235 Rekonstruktion – rationale Rekonstruktion 14 – 19, 40, 50, 52, 64, 70, 76, 100, 127, 175, 187 f., 294 – systematische Rekonstruktion 15, 18 – 23, 188, 267 f., 295 f. Repräsentation, Repräsentationalismus 41 – 43, 47 f., 66 – 69, 73 f., 76, 88, 94 – 96, 127 f., 130, 134, 137, 140, 144, 167, 173, 175 f., 178, 180 f. Seele 177, 219 – 221, 243, 272 f. Sinnlichkeit 7 f., 49, 62, 78 f., 83, 90 – 94, 96, 98, 100, 127, 135, 148, 174, 177, 217, 220, 222 – 225, 228 f., 232, 270, 272 – Sinnesdaten 61, 98 – Sinnestäuschung 62, 272 f. Skeptizismus 47 f., 54, 129 – 131, 136 f., 140, 147, 159, 181, 229, 235 Sozialität 11, 20 f., 30, 32, 39, 85, 86, 106 – 111, 118, 121, 126, 128, 134, 145 – 149, 154 – 158, 161, 171 f., 179, 188 – 192, 194, 205 – 207, 227 f., 236 – 239, 269, 296 f. – Gemeinschaft 39, 81, 83 – 87, 109 f., 117 f., 125, 127, 154 – 156, 190 f. – Gesellschaft 39, 121, 123 – 125, 158, 171, 179, 190, 192, 208, 238 – siehe auch: Anerkennung; Intersubjektivität, Interpersonalität Spinozismus 7, 161 f., 197, 200 – 204 Sprachgebrauch, Alltagssprache 163, 172, 200, 210, 212, 249, 251 f., 254, 262, 265, 268 – 270, 273, 275, 278, 280 f. – siehe auch: Begriffsgebrauch Substanz, Substantialität 49, 64, 72, 82, 110, 152, 156 f., 161, 170 f., 196 – 215, 219 f., 227, 233, 236, 238, 244, 259, 290, 292
Supranaturalismus, Ontotheologie 4 – 7, 9, 18, 21 – 23, 29, 31 – 34, 172, 183, 234, 239, 296 – 298 Synthesis, Synthetisieren (i.S.v. Kant), Integrieren (i.S.v. Brandom) 49, 67 – 94, 102 – 105, 109, 112, 126 – 128, 131, 134, 138 f., 154 – 159, 175 – 177, 189 f., 207, 211 f., 217, 222 – 230, 233, 268, 280 Teleologie 38, 172, 235, 240, 298 Triangulation 146, 265 Urteil, Urteilen 36, 48 – 56, 59 – 78, 86 – 88, 92, 95 f., 102, 107 – 109, 111, 121, 128, 132, 135, 138, 140 f., 156, 163, 175, 265 f., 271 – 273 Verantwortung, Verpflichtung 8, 11, 17, 52 – 55, 65 – 78, 95, 97 f., 102 – 104, 107 – 109, 117, 125 – 133, 138 – 140, 143, 148, 153 f., 157, 175 f., 179, 208, 232 f., 248, 251, 280, 296 – task-responsibility 53, 70, 176, 230, 268 Wahrheit, veritas 9, 22 f., 126, 129, 132 – 137, 157, 180 f., 196, 220 f., 228 – 233, 237, 243 f., 250 – 292 – adaequatio rei et intellectus 243, 267 – causa veritatis 257, 285 f. – Redundanztheorie der Wahrheit 136 – graduelle Theorie der Wahrheit (des Erkennens, des Begrifflichen) 129 – 133, 136, 180, 229, 261 – 264, 268, 270, 282 f., 289 f. Wissen, Wissensansprüche 1, 10 f., 47 f., 51, 62, 70 f., 78, 81, 84 – 86, 98 f., 107, 116, 123 f., 128 – 133, 168, 176 f., 211, 245, 268, 271, 273 – Wissen-dass 1, 57 – Wissen-wie 1, 57 – siehe auch: Begriffsgebrauch – absolutes Wissen 157, 164 f., 172, 234